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Universität Potsdam

Elisabeth Flitner, Philippe Merle

"Solange kein Fall bis zum Ende durchschaut


ist..." : die Psychoanalyse im Konflikt mit
Freuds Verführungstheorie

first published in:


Forum der Psychoanalyse 5 (1989), S. 249-262, ISSN 0178-7667

Postprint published at the Institutional Repository of the Potsdam University:


In: Postprints der Universität Potsdam
Humanwissenschaftliche Reihe ; 199
http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2010/4600/
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:517-opus-46006

Postprints der Universität Potsdam


Humanwissenschaftliche Reihe ; 199
„Solange kein Fall bis zum Ende durchschaut i s t . . . "
Die Psychoanalyse im Konflikt
mit Freuds Verführungstheorie

Elisabeth Flitner, Villars-sur-Gläne, und Philippe Merle, Paris

Zusammenfassung. Die Verführungsdiskussion, die von feministischen Au-


torinnen ausging und in der Psychoanalyse aufgenommen wurde, blockiert
sich selbst in der Alternative „Phantasie oder Realität?". Unsere These ist,
daß es sich dabei aus der Perspektive der Freudschen Theorie um eine falsche
Alternative handelt, die in Freuds ersten Entwürfen einer Verführungs-
theorie schon überwunden ist. Wir stellen Freuds Verführungstheorie aus
den Jahren 1894-1897 anhand aller einschlägigen Texte dieser Epoche dar.
Im Zentrum steht dabei das Konzept der „posthumen Wirkung des Traumas".
Anschließend diskutieren wir theorie-immanente Gründe für die Aufgabe
der Verführungstheorie.

Seit einigen Jahren ist eine Auffassung vom Trauma wieder im Schwange, die
unter Trauma ein Kindheitserlebnis versteht, das den Menschen fürderhin
prägt. Dieses traumatische Erlebnis werde unter dem Druck und Unverständnis
der Erwachsenen ins Unbewußte verdrängt. Im Grenzfall stammen sowohl das
Erlebnis als auch die Gründe seiner Verdrängung direkt aus äußeren Bedingun-
gen und brauchen keine Beteiligung eigener psychischer Mechanismen des Sub-
jekts . Einige Autoren halten Freud zugute, er habe vor 1897 diese Bedeutung
1

des Traumas anhand von Fällen manifester sexueller Ausbeutung erkannt.


Später habe er die Häufigkeit und Bedeutung von realen Traumen wieder ge-
leugnet und statt dessen Triebe, Phantasien und kindliche Sexualität zur Erklä-
rung der Neurose herangezogen. Damit wird aber dem frühen Freud eine Auf-
fassung des Traumas zugeschrieben, die er nie vertreten hat.
So verschiedene Autoren und Autorinnen wie Miller, Masson, Knill, Rush
u.a. sehen bei Freud eine „Verführungstheorie", die er 1897 aufgegeben habe,
1
In diesem Sinne verlangt Alice Miller, man solle die Inhalte des Unbewußten nicht mehr
länger als „Schäume" und „Phantasien" betrachten, sondern als das anerkennen, „was sie
sind, nämlich Wahrnehmungen der Realität aus der Zeit der frühen Kindheit" (1981, S. 291),
einer Realität, die durch die Gewalt- und Ausbeutungshandlungen der Erwachsenen be-
stimmt war.
250

und die es heute wieder zu beleben gelte. In ihrer theoriegeschichtlichen Fest-


stellung sind sie hier von der orthodoxen Geschichtsschreibung der Psychoana-
lyse gar nicht so weit entfernt. Auch Kris und Jones sehen 1897 als Bruch in der
Entwicklung der Freudschen Theorie an: vorher die Epoche der Verführungs-
theorie, danach der Beginn der eigentlichen psychoanalytischen Theorie. So
haben sich die „Orthodoxen" für die Texte Freuds von vor 1897 konsequenter-
weise nicht interessiert. Erstaunlicherweise tun das aber auch die „Kritiker"
kaum, die doch bedauern, daß die frühe Verführungstheorie aufgegeben wor-
den sei. Wir verdanken zwar Masson (und Gerhard Fichtner, der sie entziffert
hat) die vollständige Ausgabe der Fließ-Briefe . Trotzdem gibt es offensichtlich
2

eine Art stiller Übereinkunft unter den „Kritikern", von Freuds frühen Texten
nur die „Ätiologie der Hysterie" (1896c) zu zitieren. Und auch deren Inhalt
wird überwiegend als „ätiologische Formel" dargestellt; Freud sage hier, daß
sexuelle Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit häufig seien und daß „solche
Ereignisse das Kernstück jeder schweren Neurose" bildeten (Masson 1984,
S. 219). Nirgends wird der Text insgesamt untersucht, in dem Freud zeigt, daß
die pathogene Abwehr sich nicht gegen ein Ereignis, sondern gegen eine Erinne-
rung richtet. Und nirgends werden die anderen Texte derselben Epoche syste-
matisch herangezogen , in denen Freud sich nicht mit einer „ätiologischen For-
3

mel" begnügt, sondern eine ziemlich ausgearbeitete Theorie der Verführung


vorlegt.
Auf die Bedeutung dieser Texte für die Trauma-Diskussion weist der französische Psycho-
analytiker und Freud-Forscher Jean Laplanche schon seit langem hin (Laplanche u. Pontalis
1967; Laplanche 1970). Laplanches Thema, auch der Gegenstand seines kürzlich in deutscher
Übersetzung erschienenen Sammelbandes über „Die allgemeine Verführungstheorie" (1988),
ist die Auflösung der unproduktiven Entgegensetzung von „Realität" und „Phantasie", in der
sich auch die eben angesprochene Debatte wieder verfängt, wenn sie Freud bezichtigt, er
habe die Realität des sexuellen Mißbrauchs unterschlagen und entsprechende Berichte seiner
Patientinnen zu Phantasien erklärt. Zum Vorwurf kann das natürlich nur dann werden, wenn
man „Phantasien" abwertend als „Einbildungen ohne Verbindung zur Wirklichkeit" betrach-
tet. Das ist aber nicht die psychoanalytische Auffassung von „Phantasie", deren Interesse ge-
rade darin besteht, die Beziehung zwischen realen Erlebnissen und deren Verarbeitung in der
Vorstellung zu untersuchen. Wenngleich Freud diese Auffassung nicht immer mit Entschie-
denheit durchhält, so ist sie doch, wie später, auch in seinen Schriften vor 1897 schon präsent.
Der Bruch zwischen „vorher" und „nachher" ist nicht so total, wie er oft dargestellt wird.
Freuds Trauma-Theorie war von Anfang an eine Theorie über die Verarbeitung realer Erfah-
rungen in Vorstellungen bzw. Phantasien.

Freuds frühe Theorie der Verführung

Für Freud nimmt die Erfahrung sexueller Angriffe in der Kindheit zwischen 1894
und 1897 einen zentralen Platz in der Erklärung der Neurose ein; ein „caput
nili der Neuropathologie" habe er mit der Entdeckung dieser Beziehung ge-
2
Es ist bedauerlich, daß diese „ungekürzte Ausgabe" um das wichtigste Manuskript, den
„Entwurf einer Psychologie" gekürzt ist!
3
Vor allem „Studien über Hysterie" (1895), „Weitere Bemerkungen über die Abwehrneuro-
psychosen" (1896b), „L'Heredite et l'6tiologie des nevroses" (1896a), und die Briefe an Fließ
mit ihren zahlreichen Manuskripten, auch dem „Entwurf einer Psychologie".
251

funden (1896c, S. 439). Er diskutiert zwei mögliche Einwände dagegen. Einem


ersten Einwand: Sexuelle Angriffe seien von den Hysterischen wahrscheinlich
nachträglich erdichtet, und man solle sich doch hüten, „derlei Reminiszenzen
den Kranken durchs Examen aufzudrängen" (1896b, S.381), begegnet er mit
dem Hinweis auf die psychoanalytische Methode und die Echtheit ihrer Resultate
(ebd. und 1896c, S.440). Aber in beiden Texten hebt er einen anderen Ein-
wand hervor, der ihm offenbar wichtiger ist: Daß sexuelle Angriffe in der Kind-
heit zu häufig seien, um als Ursache der Neurose in Frage zu kommen, und
„daß solche Erlebnisse gerade darum wirkungslos bleiben müssen, weil sie ein
sexuell unentwickeltes Wesen betreffen" (1896b, S. 381). Freud betont diesen
Einwand, der ihm erlaubt, seine Theorie einer „posthumen Wirkung" des
Traumas zur Geltung zu bringen. Die Formulierung „posthume Wirkung" des
Traumas kehrt in allen Schriften dieser Periode wieder, Briefe und Manu-
skripte („Entwurf") eingeschlossen. Der Gedanke, der darin enthalten ist, wird
in den „Weiteren Bemerkungen" ebenso wie in der „Ätiologie" oft wiederholt:
Daß „nicht die Erlebnisse selbst traumatisch wirken, sondern deren Wiederbe-
lebung als Erinnerung" (ebd.). Hierzu müssen drei Punkte ausgeführt werden:
der Charakter der Initialszenen; die Beziehung zwischen ihnen und weiteren
Szenen und ihre nachträgliche pathogene Wirkung.

Die Initialszene
Unter der Initialszene versteht Freud immer eine zwischen Erwachsenen und
Kindern. Wenn er eine Verführung unter Kindern erwähnt, fügt er regelmäßig
hinzu, daß hier eine Szene zwischen dem verführenden Kind und einem Er-
wachsenen vorausgegangen sei. Das bedeutet, daß er sexuelle Aktivität eines
Kindes - die aktive Verführung bei der Zwangsneurose, die Masturbation bei
der Hysterie - immer als sekundär, als Folge einer Erfahrung des Kindes mit
einem Erwachsenen ansieht. Entscheidendes Merkmal der „Urszene" ist also, 4

daß das Kind ein passives sexuelles Erlebnis hat — ein „initiales Erlebnis von
Passivität" (1896b, S. 386) oder ein Erlebnis „sexueller Passivität in vorsexuelleh
Zeiten" (ebd., S.380).
Daß es auf die Passivität entscheidend ankommt, zeigt sich am Problem der
Zwangsneurose. Im Oktober 1895 erklärt Freud die Neurosenwahl aus den
unterschiedlichen Affekten, die ein „primäres Sexualerlebnis" begleitet haben:
„Abneigung und Schreck" bei der Hysterie, „Lust" bei der Zwangsneurose
(Brief 75, S. 146 und die folgenden Briefe). Schon drei Monate später fügt er
aber hinzu, daß diesem (aktiven) Lusterlebnis immer ein passives Erlebnis vor-
angegangen sei:
„In allen meinen Fällen von Zwangsneurose fand ich in sehr frühem Alter, Jahre vor dem
Lusterlebnis, ein rein passives Erlebnis, was kaum zufällig ist. Man kann sich dann denken,
daß es das spätere Zusammentreffen dieses passiven mit dem Lusterlebnis ist, welches zur
Lusterinnerung die Unlust hinzufügt und die Verdrängung ermöglicht" (Manuskript K, S. 172;
die klinische Beobachtung ebenso in 1896a, S. 421; die theoretische Bemerkung zur Verbin-
dung zwischen Verdrängung und Passivität ebenso in 1896b, S. 386).

4
„Urszene" bedeutet zu dieser Zeit noch eine reale Verführungsszene, hauptsächlich mit dem
Vater. Erst von der Krankengeschichte des „Wolfmannes" an wird der Begriff dann für den
vom Kind beobachteten Geschlechtsverkehr der Eltern gebraucht (vgl. Freud 1986, S. 253).
252

Die anfänglichen Erlebnisse oder Initialszenen sind sexuell für den Erwachsenen,
und nicht sexuell im Erleben des Kindes. Das drückt Freud in der scheinbar
paradoxen Formulierung vom „präsexuellen Sexualschreck" (Brief 76, S. 147)
oder auch in der Formulierung „Erlebnisse vorzeitiger sexueller Erfahrung"
(1896c, S.439) aus. Der „Sexualschreck", von dem er hier spricht, ist selbst
keine sexuelle Reaktion. Denn der erste Angriff durch einen Erwachsenen trifft
beim Kind auf einen noch „infantilen Zustand der psychischen Funktionen wie
des Sexualsystems" (1896c, S.449). Das Kind erlebt einen Schreck, der eine
Erinnerungsspur hinterläßt, ohne Abwehr bzw. Verdrängung zu provozieren.
Weil in diesem Stadium, wo alles von außen kommt, das Erleben also rein
„passiv" ist, noch keine psychischen Mechanismen entwickelt sind, die einen
Abwehrkonflikt konstituieren könnten, hat das Erlebnis für sich genommen
keine traumatische Wirkung.

Beziehungen zwischen mehreren Szenen


Im Verlauf einer psychoanalytischen Kur werden „Ketten assoziierter Erinne-
rungen" (1896c, S. 433) freigelegt, die - so Freuds Ansicht in dieser frühen
Periode — auf ihr Ende in einer traumatischen Szene aus der ersten Kindheit
zulaufen. In der Kur ist die Chronologie der Szenen meist umgekehrt gegen-
über der Realität: jüngere Szenen tauchen zuerst auf, ältere später. Als ein
solches Fortschreiten von Szene zu Szene ist der Vortrag „Zur Ätiologie der
Hysterie" in seinem ersten Teil aufgebaut. Aufbau und Inhalt bezeichnen die
Komplexität der Beziehungen zwischen Symptomen und Szenen sowie zwi-
schen den Szenen selbst. Die psychoanalytische Kur schreitet von neueren zu
älteren Szenen fort. Das bedeutet für Freud gleichzeitig von aktiven zu passiven
Szenen, und von Szenen, die „sehr disparat und ungleichwertig" wirken (ebd.,
S. 436), zu solchen „von gleichförmiger und bedeutsamer Art" (ebd. S. 438).
Der Weg von einer Szene zur anderen wird für die Psychoanalyse gangbar,
in dem sie die Verbindungen entdeckt, die zwischen ihnen bestehen. Die Be-
5

schaffenheit dieser Verbindungen hat Freud auch schon in den „Studien zur
Hysterie" ganz besonders interessiert. Im Kapitel vier widmet er einen Teil der
Frage der „Organisation des pathogenen psychischen Materials". Die Perspek-
tive der Szenen, der Traumata, deren Realität zu dieser Zeit außer Frage steht,
und die Perspektive einer „Vorstellungsdynamik" (1895, S. 290) widersprechen
einander nicht, sondern werden gemeinsam entwickelt . — Auch im „Entwurf",
6

im Fall Emma, arbeitet er daran, zu verstehen, wie verschiedene Szenen durch


ganze Netze von Beziehungen miteinander verbunden sind. Laplanche (1970,
S. 62) zeigt, wie diese Szenen — im „Entwurf" sind es nur zwei, ein vereinfach-
ter Fall — durch ein Netz von Beziehungen miteinander verbunden sind wie ma-
nifester und latenter Inhalt eines Traums.
5
Z . B . die „Knotenpunkte" (ebd., S.434)
6
Es stimmt zwar, daß Freud nach 1897 der Verführung als materieller Realität nicht mehr den
systematisch zentralen Platz einräumte wie zuvor, dafür „psychische Realität" in den Mittel-
punkt rückt. Aber der „Umkehrschluß", er habe vor 1897 der „psychischen Realität" und der
„szenischen Struktur der Erlebniswelt" keine konstitutive Bedeutung eingeräumt, ist ein (von
der Psychoanalyse-Geschichtsschreibung genährtes) Vorurteil.
253

Neben der Verbindung der Szenen ist etwas zweites wichtig: Ihre Trennung
in der Zeit. Die verschiedenen Szenen sind getrennt nach den Lebensaltern, in
denen sie sich ereignet haben. Im Fall Emma aus dem „Entwurf" bildet die
Pubertät, der Eintritt körperlicher sexueller Reife, die Schwelle zwischen dem
Lebensalter, in dem die erste, und dem Alter, in dem die zweite Szene sich kon-
stituiert. Diese Schwelle der Pubertät wird aber sogleich auch zur Präpubertät
hin relativiert, wie eine Anmerkung zu den „Weiteren Bemerkungen" zeigt:
„Ich bemerke noch, daß die hier in Betracht kommende Zeit der .sexuellen
Reifung' nicht mit der Pubertät zusammenfällt, sondern vor dieselbe (achtes
bis zehntes Jahr)" (1896b, S.384). Wenig später teilt Freud im Vortrag über
„Ätiologie der Hysterie" den Kollegen mit, daß er sich mit der Frage der zeitli-
chen Lokalisierung von Traumen befasse, daß er sich indes noch nicht getraue,
„über die Natur (des) psychischen Infantilismus und über seine zeitliche Be-
grenzung Näheres auszusagen" (1896c, S. 450).
Zugleich notiert er in einem Brief an Fließ jedoch schon präzise Aussagen
über zeitliche Begrenzungen. Es handelt sich darum, mit Hilfe zeitlicher Über-
legungen die Neurosenwahl zu erklären. Er verbindet diese Wahl mit demjeni-
gen Lebensalter, in dem das entscheidende sexuelle Trauma vorgefallen ist:
„Die einzelnen Neurosen haben nun ihre Zeitbedingungen für die Sexualszenen."
Die Szenen der Hysterie fallen in der ersten Kindheitsperiode vor (bis vier
Jahre), die Szenen der Zwangsneurose gehören dem Alter bis zu acht Jahren an
etc. (Brief 98).
Im selben Brief schreibt er aber auch im Blick auf die Hysterie, es sei
„gleichgiltig", ob die entscheidende Szene im Alter von acht bis zehn Jahren
oder im Pubertätsstadium „erweckt" werde. Wichtig ist, daß eine gewisse Zeit
zwischen einer ersten und einer zweiten Szene verstreichen muß. Er vermutet,
daß eine kontinuierliche Fortsetzung von Szenen (beispielsweise andauernde
sexuelle Angriffe über längere Zeit hinweg) ihre Verdrängung verhindert. Er
betont damit noch einmal, daß die Fähigkeit einer ersten Szene, Abwehr und
psychischen Konflikt zu bewirken, davon abhängt, daß zwischen ihr und einer
zweiten eine „Pause" eingeschoben ist.

Die posthume Wirkung des Traumas


Die Erinnerung wird anläßlich eines Erlebnisses geweckt, das für die Person
irgendwelche Verbindungen zur ersten Szene hat. Dabei kann die zweite Szene,
vom Standpunkt eines äußeren Beobachters gesehen, auch harmloser Natur
sein . In der Zwischenzeit hat jedoch sowohl eine physiologische Reifung der
7

Sexualität als auch eine Entwicklung der psychischen Funktionen stattgefun-


den. In den Fließ-Briefen bedeuten die Ausdrücke „in der Zeit vor der Puber-
tät" und „vor der Zeit des Verständnisses" ganz dasselbe. Mit dieser Reifung
und dem gewachsenen Verständnis wird an Stelle des Schrecks bei einem ersten
passiven Sexualerlebnis, des Schrecks, der damals von außen verursacht war,
7
„Die späteren Traumen können nach Intensität und Beschaffenheit variieren..., von wirk-
licher sexueller Überwältigung bis zu bloßen sexuellen Annäherungen und zur Sinneswahr-
nehmung sexueller Akte bei anderen oder Aufnahme von Mitteilungen über geschlechtliche
Vorgänge" (1896b, S. 383).
254

jetzt eine wirkliche sexuelle Empfindung, die von innen, aus dem Subjekt selbst
kommt, möglich. Bei einem zweiten Ereignis wird die Erinnerung an das erste
geweckt, und „hier ist die einzige Möglichkeit verwirklicht, daß eine Erinne-
rung nachträglich stärker entbindend wirkt als das ihr entsprechende Erlebnis
gewirkt hatte. Es braucht dazu nur das eine, daß zwischen dem Erlebnis und
seiner Wiederholung in der Erinnerung die Pubertät sich einschiebt, die den
Effekt der Erweckung so sehr steigert" (Manuskript K, S. 170).
Laplanche hat diese Theorie des zweizeitigen Traumas in „Leben und Tod" ausführlich
kommentiert (Laplanche 1970, S. 53-67) und kommt in der „Allgemeinen Verführungstheorie"
(Laplanche 1988, S. 207) darauf zurück: „Die erste Zeit, jene des Schrecks, setzt ein nicht vor-
bereitetes Individuum einer sexuell höchst bedeutsamen Handlung aus, deren Bedeutung je-
doch nicht assimiliert werden kann. Die Erinnerung an sich - in Abwartesteilung — ist weder
pathogen noch traumatisch. Sie wird es nur durch ihre Wiederbelebung bei einer zweiten
Szene, welche in assoziative Resonanz mit der ersten tritt. Aber aufgrund der neuen Reak-
tionsmöglichkeiten des Individuums ist es die Erinnerung selbst und nicht die neue Szene,
welche als innere, „auto(selbst)-traumatische" Libidoenergie-Quelle wirkt."

Die „posthume Wirkung des sexuellen Kindertraumas" (1896b, S. 384) besteht


also in der auto(selbst)traumatischen Wirkung, die es als Erinnerung zu einem
späteren Zeitpunkt gewinnt. Um diese autotraumatische Wirkung zu verstehen,
muß man den zeitlichen Aspekt dieser Theorie mit den topischen und dynami-
schen Aspekten in Beziehung setzen, die unbedingt dazugehören.
In der „Ätiologie der Hysterie" bemerkt Freud, daß bei der „bis dahin ge-
sunden Person infantile Sexualszenen als unbewußte Erinnerungen vorhanden
sind" (1896c, S.447). Aber diese Erinnerungen sind nicht Gegenstand eines
„Abwehrbestrebens des Ichs" (ebd., S.448) gewesen; sie sind nicht verdrängt
worden. Wenn er sie „unbewußt" nennt, meint er das in einem deskriptiven
Sinne. Entscheidend ist die Unfähigkeit der Person, diese Erfahrungen zu inte-
grieren, zu verarbeiten, zu assimilieren. Sie bleiben für die Psyche ein „Fremd-
körper" . Ein interner Fremdkörper, extern-intern sozusagen, nach dem glei-
8

chen Paradox, das auch dazu führt, das ursprüngliche Erlebnis als sexuell-prä-
sexuell zu bezeichnen. Wenn nun ein Erlebnis in der Pubertät die Erinnerungs-
spur der ersten Szene aktiviert, verbindet die Person die sexuelle Erregung, die
mit der Erinnerung verbunden ist, mit der aktuellen Wahrnehmung. Freud er-
klärt, warum das von innen angegriffene Ich jetzt keine normale Abwehr pro-
duzieren kann:
„Die Aufmerksamkeit ist auf die Wahrnehmungen eingestellt, welche sonst zur Unlustentbin-
dung Anlaß geben. Hier ist es keine Wahrnehmung, sondern eine Erinnerungsspur, die un-
vermuteter Weise Unlust entbindet, und das Ich erfährt davon erst zu spät" („Entwurf",
S.438).
Das Ich greift dann zur Verdrängung, die für Freud zu dieser Zeit eine patholo-
gische Abwehrform darstellt. Hier Hegt der Ausgangspunkt eines Abwehrkon-
flikts und der Symptome . 9

Agent der Abwehr ist auch schon in dieser frühen Theorie das Ich; das tritt
besonders in „Die Abwehrneuropsychosen" (1894) und in den „Studien über
8
Nach der Bezeichnung aus den „Studien über Hysterie"
9
Wie unbekannt diese Verführungstheorie noch ist, zeigt ihre Darstellung bei Knörzer (1988,
S. 100).
255

Hysterie" (S. 269) hervor. Im „Entwurf" nimmt Freud an, daß es zur Zeit der
ersten Szene unreif, unfertig sei: „Die allerersten (Traumata) entgehen
überhaupt dem Ich" (S. 438). Das erklärt, warum das Ich bei der zweiten Szene
überrascht wird.
In dieser frühen Theorie setzt im übrigen die topische Differenzierung, die
Abspaltung eines verdrängten Unbewußten, den psychischen Konflikt voraus.
Die Konstitution der Instanzen ist mit dem dynamischen Aspekt untrennbar
verbunden. Allerdings handelt es sich hier um ein pathologisches Unbewußtes,
das aus einer pathologischen Abwehr entsteht, welche — denken wir an die
äußere Realität der Verführung, die Freud hier im Auge hat — ihre letzte Ur-
sache (das „Caput nili") in der Pädophilie oder im Inzest findet, beim Vater der
Hysterischen. Im Manuskript K bemerkt Freud, unter welcher Bedingung eine
Person von „Abwehrneurosen" freibleiben könne: Es werde „zur Bedingung
der Freiheit von Abwehrneurosen, daß keine ausgiebigere sexuelle Irritation
vor der Pubertät stattfinde" (S. 170). Diesem Gedanken widerspricht eine
Feststellung im „Entwurf": "Jede adoleszente Person hat Erinnerungsspuren,
10

welche erst mit dem Auftreten von sexuellen Eigenempfindungen verstanden


werden können, jede sollte also den Keim zur Hysterie in sich tragen" (S. 435).
Diese Feststellung könnte den Weg zu einer Verallgemeinerung der Theorie
freimachen, weil Freud hier schon bemerkt, daß es eine Kindheit ohne irgend-
welche sexuelle „Irritationen" offenbar nicht gibt, und es dann naheläge, zu
prüfen, ob solche „Irritationen" als allgemeine Entstehungsbedingungen der
Sexualität in Frage kommen. So knüpft Laplanche an. 11

In diesem Rahmen muß nun die psychoanalytische Kur ihr „natürliches


Ende" in der Aufdeckung der ersten Szene finden. Zwar berichtet Freud in den
Texten, die er 1896 veröffentlicht, von dreizehn „vollständigen Psychoanalysen",
die er durchgeführt habe; aber die Briefe an Fließ zeugen davon, daß er sich
dauernd, und mit steigender Ungeduld ob seiner Mißerfolge, wünschte, endlich
einmal bei einem Fall wirklich bis an das Ende zu kommen: „Immer noch ist
niemand fertig; es ist mir, als fehle mir noch wo ein wesentliches Stück. Solange
kein Fall bis zum Ende durchschaut ist, fühle ich mich nicht sicher und kann ich
nicht froh werden" (Brief 113, S. 229). Es gelingt ihm nicht, einen Fall bis zum
„Ende" zu durchschauen, und so nennt er dann im Brief 139 „das Ausbleiben
der vollen Erfolge" als einen der Gründe dafür, daß er an seine „Neurotica"
nicht mehr glaube (S. 283).
Es bleibt festzuhalten, daß die Verführungstheorie außerordentlich produk-
tiv war und daß ihre Aufgabe so einhelligen Beifall nicht verdient, wie ihr bis-
weilen gespendet wurde. Wir benennen noch zwei Entwicklungen, die inner-
halb der Phase der Verführungstheorie stattfanden, eine zur Präzisierung der
„Nachträglichkeit" und eine zu „Phantasien und Impulsen".
Nachträglichkeit
Ende 1896 führt Freud eine Idee zur Frage der „Übersetzung" von Erin-
nerungsresten weiter, zu der er im Frühjahr (Brief 98) schon angesetzt hatte. Im
1 0
Hervorhebung E. F. und P. M.
Freud beschreitet diesen Weg aber nicht, sondern bleibt hier noch im engeren Rahmen der
1 1

Psychopathologie.
256

Brief 112 beschäftigt er sich mit der Entstehung des psychischen Apparats aus
12

verschiedenen aufeinanderfolgenden Niederschriften, die „die psychische Lei-


stung von sukzessiven Lebensepochen darstellen" (S.218). Er entwickelt die
„Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung
entstanden ist, in dem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinne-
rungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt"
(ebd., S.217). Das erlaubt Präzisierungen zum Konzept der Nachträglichkeit.
„Nachträglichkeit" ist nicht etwa eine „deferred action" der Initialszenen als
solche; zum einen, wie schon gesagt, deshalb nicht, weil es eine mit der ersten
verbundene zweite Szene braucht, um die erste zu „erwecken", und zum anderen,
wie man nun hinzufügen kann, weil die Initialszene nicht in einem unbear-
beitet-ursprünglichen Zustand erweckt wird, sondern zwischendurch die Not-
wendigkeit entstanden ist, sie umzuschreiben, in ein anderes Zeichensystem zu
übertragen. „Nachträglichkeit" darf also nicht als Wiederauftauchen einer ver-
gangen Szene „teile quelle" verstanden werden. Nachträglichkeit ist aber auch
nicht dem Jungianischen „Zurückphantasieren" ähnlich, wo die Gegenwart erst
die Vergangenheit produziert, weil Freud an der Echtheit von Initialszenen und
an den Anforderungen, die sie der psychischen Arbeit später auferlegen, fest-
hält.
Mit dem Konzept des Zurückphantasierens war Freud nie einverstanden. Auch im Brief 139,
wo er schreibt, daß er an seine Neurotica nicht mehr glaube, und wo die Annahme des
Zurückphantasierens einen Ausweg bieten könnte, weist er sie zurück: „Es erscheint wieder
diskutierbar, daß erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kind-
heit zurückgreifen, und damit gewinnt der Faktor einer hereditären Disposition einen
Machtbereich zurück, aus dem ihn zu verdrängen ich mir zur Aufgabe gestellt hatte" (S. 284).
Er rekurriert lieber auf die Erbanlagen, später dann auf die angeborene Triebstärke, um,
wenn schon kein Trauma so doch etwas anderes „Handfestes" am Ursprung der Neurose zu
identifizieren, als daß er sich auf die Idee des Zurückphantasierens einließe .
13

Phantasien und Impulse


Die Begriffe „Phantasie" und „Impulse" entwickeln sich vor allem in den Fließ-
Briefen vom Mai/Juni 1897 und in den dazwischen geschalteten Manuskripten
L, M, N. Doch gibt es „Vorformulierungen" dessen, was Freud hier unter
„Phantasie" versteht, schon viel früher, z.B. 1893, wo er Fließ von zwei
Angstneurosen berichtet, hinter denen „Dinge, die sie gesehen oder gehört und
halb verstanden hatten, also reine Affektätiologie" gestanden habe (Brief 24,
S.42). Das sind die Elemente, die später „Phantasien" definieren:
„Die Phantasien stammen aus nachträglich verstandenem Gehörten" (Brief 126, S. 253); oder:
Phantasien „sind hergestellt mitteltst der Dinge, die gehört werden und nachträglich verwer-
tet, und kombinieren so Erlebtes und Gehörtes, Vergangenes... mit Selbstgesehenem" (Ma-
nuskript L, S.255).

Den Laplanche kommentiert, 1988, S. 168 ff. Dabei integriert er selbstverständlich Freuds
1 2

spätere Entdeckung einer kindlichen Sexualität vor der Pubertät.


1 3
Görlich (1988, S. 35) stellt zu Recht die Frage: „Wie verträgt sich das Konzept der Nach-
träglichkeit eigentlich mit den Freudschen Befunden zur infantilen Sexualität?". Daß er sie
aber als „Einspruch" gegen Laplanche formuliert, beruht auf einem Mißverständnis, weil das
nun genau eine der Fragen ist, die Laplanche immer wieder aufwirft und bearbeitet.
257

Dabei unterliegt die Produktion von Phantasien der Funktion, einen ursprüng-
lichen Zusammenhang unkenntlich zu machen:
„Die Phantasien entstehen durch unbewußte Zusammenfügung von Erlebnissen und Ge-
hörtem nach gewissen Tendenzen. Diese Tendenzen sind, die Erinnerung unzugänglich zu
machen, aus der Symptome entstanden sind oder entstehen könnten" (Manuskript M, S. 263).

Freud hat keine Zweifel an ihrem Realitätsgehalt: Die Phantasien „sind natür-
lich in all ihrem Material echt" (Brief 126, S. 253). Sie haben immer die Erin-
nerung an Szenen, Erlebtes und Gehörtes, zur Grundlage, sind aber, versteht
sich, nicht deren Abbild, sondern „Schutzbauten, Sublimierungen der Fakten,
Verschönerungen derselben", „Schutzdichtungen" (ebd.). Das wichtige hieran
ist, daß die Frage nach materieller Realität und Phantasie hier nicht als Alterna-
tive gestellt wird, sondern Freuds Thema ist gerade ihre Beziehung - die
Realität provoziert die Phantasien. Ähnliches gilt für die „Impulse", eine weitere
Entdeckung aus der Zeit der Verführungstheorie.
Neben Phantasien leiten sich auch Impulse von den „Urszenen" ab (ebd.).
Abwehr gegen bestimmte Erinnerungen führt dazu, daß sie sich in „Erin-
nerungsfälschungen und Phantasien" sowie „perverse Impulse" verwandeln,
die ihrerseits wiederum unter typischen Bedingungen ihre Verdrängung not-
wendig machen (Brief 132, S.273). Die Nähe der „perversen Impulse" zur
späteren Auffassung von der kindlichen (polymorph-perversen) Sexualität ist
offensichtlich; entscheidend an ihrer frühen Form ist, daß ihre Entstehung hier
mit der Perspektive der (traumatischen) Szenen in Einklang steht. Freuds
Hypothese zufolge können die Impulse sich ebensogut aus Phantasien wie aus
Erinnerungen an Szenen herleiten (Manuskript N).
Laplanche kommentiert diese Texte mit dem Hinweis, daß der Begriff einer Reizung inneren
Ursprungs, des Drangs, keineswegs die Annahme einer biologischen Quelle voraussetzt, son-
dern ebensogut als Wirkung der Vorstellungen, Erinnerungen und Phantasien verstanden
werden kann (1988, S. 134-136 und 215).

Von der Freudschen Theorie, wie sie sich später etabliert hat und vor-
herrschend wurde, vom Biologismus der Trieblehre oder zumindest der An-
nahme einer endogenen Entwicklung der Sexualität, von der Theorie einer
Phylogenese der Phantasien oder zumindest der Ununterschiedenheit von
Realität und Phantasie, sind wir hier noch weit entfernt. Die Konzepte der
„Phantasie" und der „Impulse", wie sie hier in Verbindung zu ganz realen
Szenen oder Materialien definiert werden, entwickeln sich innerhalb der Ver-
führungstheorie, und werden erst später in einen anderen theoretischen Kon-
text übertragen.

Zum weiteren Schicksal der Verführungstheorie

In seiner Einleitung zur ersten Ausgabe der Fließ-Briefe definiert Ernst Kris,
was er unter der Verführungshypothese versteht, die Hypothese nämlich, daß
„sexuelle Erlebnisse vor der Pubertät für die Neurosenbildung ätiologische Be-
deutung besäßen", daß sie „neurosenauslösend" wirkten (1986, S.543). Er
spricht also nicht von der VerführungstÄeone in dem weiteren Sinne, in dem wir
258

sie dargestellt haben, sondern von einer engeren Hypothese, die nur einen Teil
dieser Theorie darstellt. Kris stützt sich auf Darstellungen seiner früheren Ar-
beiten, die Freud selbst zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend gegeben
14

hat. Er verkleinert also die Bedeutung der Verführungshypothese, wo immer er


sie kommentiert. Symptomatischerweise verkürzt er auch den Zeitraum, in
dem sie wichtig gewesen sein soll und datiert die „Verwerfung der Verführungs-
hypothese" auf den Brief 139 vom September 1897.
Wir zitieren nur drei Beispiele aus den von Kris selbst herausgegebenen
Briefen (also nicht aus solchen, die erst in die Neuausgabe aufgenommen sind),
um zu zeigen, daß diese Datierung nicht haltbar ist. Freud hat die Verführungs-
hypothese noch mindestens zwei weitere Jahre lang in seinem theoretischen Ge-
päck mitgeführt:

- Im Brief 141, also gleich nach der „Verwerfung", schreibt Freud: „Ich kann nur andeuten,
daß bei mir der Alte keine aktive Rolle spielt, daß meine „Urheberin" ein häßliches, älte-
res aber kluges Weib war ..." (S. 288). In diesem Brief spricht er über seine Selbstanalyse, von
der Kris sagt, sie habe ihn zur Aufgabe der Verführungshypothese geführt. Wir sehen, im Ge-
genteil, daß die Selbstanalyse Freud durchaus auch dazu führt, weiterhin nach Erlebnissen in
der äußeren Realität zu forschen (die hier vor dem zweiten Lebensjahr lokalisiert werden),
daß er immer noch die Szenen selbst, die der Geschichte zugrunde Hegen, sucht (S. 299), daß
er in der Analyse eines Traums seine Kinderfrau „meine Lehrerin in sexuellen Dingen" nennt
(S. 290), wobei er Einfälle hat, für die er sogar bei seiner Mutter Erkundigungen zur Bestäti-
gung ihrer äußeren Realität einholt (Brief 142, S. 291).
- Wenn man hier sieht, daß Freud anfängt, die Suche nach den „Szenen" vom pathologischen
Charakter des genitalen sexuellen Mißbrauchs zu befreien (die Kinderfrau hat ihn nicht in
diesem Sinn sexuell angegriffen), zeigt das folgende Beispiel vom März 1898, wie er sich unter
Beibehaltung der Dialektik von extern-intern wieder der Idee eines normalen Unbewußten
nähert. Er bezeichnet die „prähistorische Lebenszeit (1-3 Jahre)" als „Quelle des Unbewuß-
ten" (Brief 160, S. 329) und fährt fort: „Mir ahnt die Formel: Was in der prähistorischen Zeit
gesehen wird, ergebe den Traum, was in ihr gehört wird, die Phantasien, was in ihr sexuell er-
lebt wird, die Psychoneurosen" (S. 330). — Die Unterscheidung dieser drei Arten von psychi-
scher Abstammung stellt einen gewissen Rückzug gegenüber der Definition der Phantasie
dar, wie sie im Manuskript M gegeben wurde ( - da stand Gehörtes und Erlebtes gemeinsam
am Ursprung der Phantasien - ); doch wird ganz offensichtlich die Verbindung von real Er-
lebtem und psychischer Entwicklung im allgemeinen sowie zwischen sexuellen Erlebnissen
und Entwicklung der Neurose im besonderen weiterhin postuliert.
- Das sprechendste Beispiel stammt vom Ende 1899. „Ein Traum" schreibt Freud glücklich
an Fließ, scheine in Erfüllung zu gehen, die „Beendigung" einer Kur. „Scheint, sage ich vor-
sichtig, meine es aber mit größerer Sicherheit. Tief unter allen Phantasien verschüttet fanden
wir eine Szene aus seiner Urzeit (vor [dem Alter von] 22 Monaten) auf, die allen Anforderun-
gen entspricht und in die alle übriggebliebenen Rätsel einmünden; die alles zugleich ist, sexuell,
harmlos, natürlich etc. Ich getraue mir noch kaum, daran ordentlich zu glauben. Es ist, als
hätte Schliemann wieder einmal das für sagenhaft gehaltene Troja aufgegraben" (Brief 229,
S. 430). Der letzte Satz klingt wie ein Echo auf Freuds eigenes Erleben, der nun die Wirklich-
keit der Szenen wiederentdeckt, an der er vorher gezweifelt hat. Die „Szene" findet sich,
nachdem die Phantasien durchquert sind, unter denen sie begraben war; ihre Realität steht
außer Zweifel; sie löst alle Rätsel (der Symptome). Und wieder ist sie „sexuell", nun aber
kein genitaler sexueller Angriff mehr, sondern „harmlos, natürlich", etwas Normales, das all-
gemein vorkommen kann.

Zweifellos ist in diesen Beispielen die „Verführungshypothese" verworfen,


wenn man darunter die Annahme versteht, daß die Erfahrung wirklicher sexueller
Vgl. 1914, S.55 f.; 1925, S. 59 f.
259

Angriffe in der Kindheit - „koitusähnlicher Vorgänge" (1896b, S. 380) - not-


wendige Bedingung für die Entstehung der Neurose sei. Gleichzeitig zeigen die
zitierten Beispiele aber auch, daß Freud keineswegs sogleich ab 1897 die „Kin-
derbegebenheiten" und „-eindrücke" durch eine reine psychische Realität er-
setzt, die auf das „seelische Reich der Phantasie" (1917) reduziert wäre. So will
es Kris, und so will es Freud in späteren Äußerungen, wo er auf seine eigene
theoretische Entwicklung zurückblickt und seinen Übergang von der Verfüh-
rung zur Phantasie als kurz und bündig darstellt . Die historischen Tatsachen
15

sind aber andere; es ist zu beobachten, daß für Freud ab 1897 eine mehrjährige
Phase der Unentschiedenheit begonnen hatte.
Wenn man dem weiteren Schicksal der Verführungstheorie nachgehen will,
ist es wenig sinnvoll, nun all die späteren Passagen zu versammeln, in denen
Freud auf die reale Verführung hinweist. Es geht ja nicht um die Frage, ob
Freud das Phänomen sexueller Angriffe auf Kinder überhaupt vergessen oder
geleugnet hat, — das hat er nicht; die Hinweise darauf sind zahlreich und finden
sich bis in seinen letzten Text von 1938, — sondern um die Frage, welche theo-
retische Bedeutung der „äußeren" Wirklichkeit für die Erklärung der Entwicklung
der Psyche zukommt, wie die Beziehung von „innen" und „außen" konzipiert
wird. Dafür ist es viel interessanter, sich genau diejenigen theoriegeschicht-
lichen Äußerungen Freuds anzusehen, wo er im nachhinein die Anfänge der
Psychoanalyse kommentiert, weil man hier finden kann, welches theoretische
Element später den Platz einnimmt, der früher der Verführung zugedacht ge-
wesen war. Es handelt sich überall um die These von der endogenen Entwicklung
der Sexualität. Diese These erhält ein solches Gewicht, daß sie jedes Interesse
Freuds an der Weiterentwicklung der Verführungstheorie zur einer Theorie
über den Ursprung der Triebe und des Unbewußten verdrängt. Ihr Gewicht ist
sogar davon unabhängig, ob Freud später die Verführungsberichte seiner Pa-
tientinnen als zutreffend oder als erdichtet darstellt. In beiden Fällen wird die
Verführung durch die endogene Sexualentwicklung abgelöst.
In den „Drei Abhandlungen" z.B. gelten die Verführungsberichte noch als
wahr; Freud sagt, daß er auch 1896 Häufigkeit und Bedeutung der Verführung
nicht überschätzt habe, und fährt dann fort, es sei aber „selbstverständlich, daß
es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken"
und spricht von dessen spontaner Erweckung „aus inneren Ursachen" (1905,
S. 91). In der „Selbstdarstellung" bezeichnet er Verführungsszenen als „erdich-
tet", „niemals vorgefallen", kommt aber ganz ebenso zur spontanen Sexualent-
wicklung. Nach der „Aufhellung des Irrtums" sei der Weg zum Studium des in-
fantilen Sexuallebens freigeworden und aus den Daten der Psychoanalyse sei
nun ein „bisher unbekanntes Stück des biologischen Geschehens zu erraten"
gewesen: „Die Sexualfunktion war von Anfang an vorhanden" (1925, S. 60).
Mit der Annahme einer spontanen, endogenen Entwicklung der Sexualität
geht das wichtigste Element der frühen Verführungstheorie unter: die Idee
einer ursprünglichen sexuellen Passivität, die als notwendige Bedingung der
(nachträglichen) Verdrängung und der Entstehung des dynamischen Unbewuß-
15
Z. B. in 1914, S. 56: „Wenn die Hysteriker ihre Symptome auf erfundene Traumen zurück-
führen, so ist die neue Tatsache die, daß sie solche Szenen phantasieren, und die psychische
Realität verlangt neben der praktischen Realität gewürdigt zu werden".
260

ten gedacht war. Indem sie die Wirksamkeit äußerer Ereignisse in die Zeit der
inneren Reaktivierung von Erinnerungen verlegt, enthält diese Theorie einen
Lösungsansatz zum Problem der jeweiligen Bedeutung exogener und endo-
gener Faktoren — einen Ansatz, den Freud allerdings auf den Bereich der
Pathologie beschränkt. Später, z.B. in den „Drei Abhandlungen" und in den
„Vorlesungen", wo die Voraussetzung einer endogenen Triebentwicklung
schon fest etabliert ist, wird die Frage dann mit der Idee der „Ergänzungsreihe"
gelöst, der Idee einer individuell variablen Gewichtung von internen versus ex-
ternen Faktoren.
Für unser hiesiges Thema bleibt jetzt noch die Frage, wie der Beginn der
Aufgabe der Verführungstheorie zeitlich situiert werden kann. Wir kommen
hier zum Jahr 1897 zurück; dies aber nicht wegen des berühmten Briefs 139,
sondern weil sich zeigen läßt, wie sich im Verlauf dieses Jahres die Annahme
einer primär endogenen Triebentwicklung herausbildet:
— Im Manuskript M vom Mai 1897 taucht die Notwendigkeit auf, eine „normale Verdrängung
innerhalb des Systems Unbewußt selbst" in Betracht zu ziehen (S. 265), d.h. es erscheint der
wichtige Gedanke einer normalen Verdrängung, die schon vor der Pubertät stattfindet, und
zugleich der Gedanke der Wirksamkeit eines primären, nicht aus Verdrängung entstandenen
Unbewußten.
- Der Brief 143 vom Oktober 1897 unterscheidet dann „große allgemeine Rahmenmotive"
von „Füllmotiven", von denen nur die letzteren „nach den Erlebnissen des einzelnen wech-
seln" (S.295).
- Im Brief 146 von November 1897 präzisiert Freud, daß an der „Quelle der normalen
Sexualverdrängung" „etwas Organisches" stehe (S. 301/2).
— Vom Brief 151 an, Dezember 1897, wird schließlich die Masturbation, die 1896 als Folge
einer verfrühten Erweckung der Sexualität durch einen sexuellen Aufgriff aufgefaßt worden
war, als „die einzige große Gewohnheit, die Ursucht" bezeichnet (S. 312).

Auch wenn Freuds Unentschiedenheit in bezug auf die „Neurosenlehre" noch


einige Jahre bestehen bleibt, läßt sich doch feststellen, daß die Verführungs-
theorie sich auflöst, wo der Gedanke einer ursprünglichen Passivität, einer er-
sten sexuell-präsexuellen Zeit verlorengeht.
Es wäre nicht richtig, zu sagen, daß Freud erst hier zu biologischen Annah-
men kommt. Was er bisher über die Pubertät gedacht hatte, war ebenfalls „bio-
logisch": sie sei ein körperliches Erwachen der Sexualität. Hier kündigt sich
nun aber die Vorverlegung dieser Annahme in die Kindheit an. Die Entdek-
kung einer kindlichen Sexualität geht damit einher, daß Freud seinen ersten Er-
klärungsansatz aufgibt, der von einer ursprünglichen sexuellen Passivität des
Kindes, einer sexuell-präsexuellen Zeit, ausging. Stattdessen ist nun eine aktive
Sexualität von Anfang an als „biologisches Geschehen" vorhanden und die
organische Basis, die zuvor der pathologischen Verdrängung in der Pubertät zu-
gesprochen wurde, wird nun der neu entdeckten normalen Verdrängung unter-
legt. Der Gedanke einer biologischen Bedingtheit, der auch zuvor schon vor-
handen war, gewinnt mit der Aufgabe der Passivitäts-Annahme nun ein größe-
res Gewicht, wird zur Grundlage.
***

Es gibt, wie sich zeigen ließ, im Werk Freuds eine mehrjährige Phase, in der
sich die Verführungstheorie und die auf Biologisches zurückgreifende Theorie
261

überschneiden. Diese Überschneidung legt nahe, daß die Gründe für die Auf-
gabe der Verführungstheorie nicht vorrangig in der Kindheitsgeschichte Freuds
oder, wie Masson (1984) postuliert, in seinem Konformismus, zu suchen sind.
Die Texte zeigen vielmehr, wie er mit den Schwierigkeiten seiner Forschungen
kämpft: mit Schwierigkeiten einer Theorie, die einerseits schon ziemlich weit
ausgearbeitet ist, andererseits zentrale Pobleme noch kaum streift, geschweige
denn löst; und mit Schwierigkeiten auch mit seinem Material und seinen For-
schungsmethoden, die dieses Material produzieren . 16

Die Diskussion um die Verführungstheorie hat eine Alternative aufgestellt,


in der sie sich selbst blockiert: „Phantasie oder Realität?". Dabei verbessert
auch ein möglicher Kompromiß, der jeder Seite einen gewissen Anteil zuge-
steht, nichts an den Grundlagen der Diskussion. Daß es sich hier um eine
falsche Alternative handeln könnte, zeigt die Freudsche Konzeption von der
posthumen Wirkung des Traumas. Das Konzept der „Nachträglichkeit" enthält
den Gedanken, daß jedes Trauma zugleich von außen und von innen stammt.
Die Aufgabe ist nicht, zwischen Phantasie und Realität zu entscheiden oder
ihre jeweiligen Anteile zu bestimmen, sondern den Verbindungen zwischen
ihnen nachzugehen. Jenseits der „Aufgabe" der Verführungstheorie hegt ihre
weiterführende Bedeutung darin, daß sie einen ersten Entwurf dazu vorgelegt
hat, wie die Verbindung von wirklichem Erlebnis und Vorstellungsdynamik
denkbar ist.

"As long as no case has been seen through to the end..."


The conflict between psychoanalysis and Freud's seduction theory

Summary. In spite of a widespread discussion about "seduction" Freud's seduction theory as


it developped between 1894 and 1897 remains essentially unknown or misunderstood. Exam-
ining all important texts of this period including the Fliess-letters and the manuscripts, we de-
scribe the most significant elements of this theory and propose a series of assumptions as to
when it was abandoned and why.

Literatur
Freud S (1894) Die Abwehrneuropsychosen. GW Bd 1
Freud S (1895) Studien über Hysterie. GW Bd 1
Freud S (1896a) L'heredite et l'etiologie des nevroses. GW Bd 1
Freud S (1896b) Weitere Bemerkungen über die Abwehrneuropsychosen. GW Bd 1
Freud S (1896c) Zur Aetiologie der Hysterie. GW Bd 1
Freud S (1905) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW Bd 5
Freud S (1914) Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW Bd 10
Freud S (1917) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW B d 11

Es sind vor allem drei „Schwachstellen", die ihm hier zu schaffen machen: die Beschränkung
1 6

des psychischen Konflikts auf das Pathologische und, Hand in Hand damit, der Verführung
auf den manifesten sexuellen Mißbrauch; die Illusion, es ließe sich eine erste Szene finden, die
vollständigen Aufschluß über den Sinn der Geschichte des Patienten gibt; schließlich die Tat-
sache, daß ihm zu dieser Zeit noch der Begriff eines normalen Unbewußten und das Konzept
einer Urverdrängung fehlen, auf welche die Verführungstheorie, sollte sie verallgemeinert
werden, sich erklärend beziehen könnte (vgl. dazu Laplanche 1988).
262

Freud S (1925) Selbstdarstellung. GW Bd 14


Freud S (1933) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW Bd 15
Freud S (1950) Entwurf einer Psychologie. In: Bonaparte M, Freud A , Kris E (Hrsg) Sigmund
Freud. Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen
und Notizen. Imago, London S 371-466
Freud S (1986) Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Masson JM (Hrsg)
Fischer, Frankfurt aM
Görlich B (1988) Das Szenische oder: die Sozialität des Triebes. In: Belgrad J, Busch HJ,
Görlich B , Haubl R, Kalck HJ (Hrsg) Sprache - Szene - Unbewußtes. Sozialisations-
theorie in psychoanalytischer Perspektive. Nexus, Frankfurt aM, S 15-68
Knörzer W (1988) Einige Anmerkungen zu Freuds Aufgabe der Verführungstheorie. Psyche
42:97-131
Knill M (1979) Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds unge-
löste Vaterbindung. Beck, München
Laplanche J, Pontalis JB (1967) Das Vokabular der Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt aM
(1972)
Laplanche J (1970) Leben und Tod in der Psychoanalyse. Nexus, Frankfurt aM (1985)
Laplanche J (1988) Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Edition dis-
kord, Tübingen
Masson JM (1984) Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung
der Verführungstheorie. Rowohlt, Reinbek
Miller A (1981) D u sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema. Suhrkamp,
Frankfurt aM (1983)
Rush F (1980) Das bestgehütete Geheimnis: sexueller Kindesmißbrauch. Sub rosa Frauenver-
lag, Berlin (1984)

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