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Peter Sloterdijk

Du mußt dein Leben ändern


Über Anthropotechnik

Suhrkamp
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INHALT

Einleitung: Zur anthropoteehnisehen Wende, . . . . . . . . .. 9

Der Planet der Übenden

, /,3) 1 Der Befehl aus dem Stein


Rilkes Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
Nietzsches Antikeprojekt. ... ... ... ... . . .... ... , 52
3 Nur Krüppel werden überleben
U nthans Lektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69
4 Letzte Hungerkunst
Kafkas Artistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Pariser Buddhismus
Ciorans Exerzitien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 118
Übergang: Religionen gibt es nicht
© d' Erste Auflage 2009
Von Pierre de Courbertin zu L. Ron Hubbard . . . .. 133
leser Ausgabe S h k V I
u r amp er ag Frankfurt am Main 2009
in b d Alle Rechte vorbehalten
s es On ere das der Üb d .. ' .
sowie der Üb ersetzung, es offenthchen Vortrags I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
ertragung ~ureh Rundfunk und Fernsehen
. , auch eInzelner Teile, ' Für eine akrobatische Ethik
d KehIn Tell des Werkes darf in irgendeiner Form
( ure Fotografie, Mikrofilm d d
ohne schriftliche Genehmigung ~ese~an ere Verfahren) Programm ... ... .......... . .. ... ...... . . ...... 173
l 1 Höhenpsychologie
oder Unter Verwendung elekr :r ahges reproduziert
' romse er Syste
verar belter, vervielfältigt oder v b . me Die Hinaufpflanzungslehre und der Sinn von » Über« 176
S er reitet werden
atz: Jouve Germany, Kriftel ' 2 »Kultur ist eine Ordensregel«
Druc~: Pustet, Regensburg Lebensformen-Dämmerung, Disziplinik . .... .. .. 208
Pnnted in Germany
ISBN 97 8-3-5 1 8-4 1 995-3
3 Schlaflos in Ephesos
Von den Dämonen der Gewohnheit und ihrer
3 4 5 6 - 14 13 12 11 Zähmung durch die Erste Theorie . . . . . . . . . . . . .. 253

-
10 09
4 Habitus und Trägheit
Von den Basislagern des übenden Lebens .. . ...... 276
Cur homo artista
Von der Leichtigkeit des Unmöglichen ... .. . .. .. 29 8

1I Übertreibungsverfahren
Appamädena sampädetha.
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit . .. .. . . . 32 9 In Wachsamkeit strebt voran!
6 Erste Exzentrik
Von der Absonderung der Übenden und ihren Mahaparinibbana Sutta, 6,7.
Selbstgesprächen . ... ... ... . ..... . . .... .. ... . 33 8
7 Vollendete und Unvollendete
Wie der Geist der Perfektion die Übenden Vor Allem und zuerst die Werke!
in Geschichten verstrickt . . ...... . .. . ....... . . 379 Das heisst Übung, Übung, Übung!
8 Meisterspiele Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen,
Von den Trainern als Garanten der Übertreibungskunst 42 4 - dessen seid versichert!
9 Trainerwechsel und Revolution
Über Konversionen und opportunistische Kehren. 4 67 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe

I I I Die Exerzitien der Modernen

Perspektive: Wiederverweltlichung des zurück-


gezogenen Subjekts .. . ...... . .. . .. . ............. 493
10 Kunst am Menschen
In den Arsenalen der Anthropotechnik . . . . . . . . . . 519
I I Im auto-operativ gekrümmten Raum
Neue Menschen zwischen Anästhesie und Biopolitik 582
12 Übungen und Fehlübungen
Zur Kritik der Wiederholung . . ......... . ...... 639
Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 I
Von der Wiedereinbettung des Subjekts zum
Rückfall in die totale Sorge
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 699
Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . ........... . ... . . 71 5
9

EINLEITUNG
ZUR ANTHROPOTECHNISCHEN WENDE

Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt - das Gespenst


der Religion. Landauf, landab wird uns von ihr versichert,
nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der
modernen Welt zurückgekehrt, man tue gut daran, mit ihrer
neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Anders als das Gespenst
des Kommunismus, der im Jahr 1848, als sein Manifest er-
schien, kein Wiederkehrer war, sondern eine Neuheit unter
den drohenden Dingen, wird der aktuelle Spuk seiner wie-
dergängerischen Natur vollauf gerecht. Ob er nun tröstet
oder droht, ob er als guter Geist begrüßt oder als irrationaler
Schatten der Menschheit gefürchtet wird, sein Auftritt, ja
schon dessen bloße Ankündigung, verschafft sich Respekt,
wohin man sieht - sofern man die Sommeroffensive der Gott-
losen von 2007 außer Betracht läßt, der wir zwei der ober-
flächlichsten Pamphlete der jüngeren Geistesgeschichte ver-
danken, gezeichnet: Christopher Hitehens und Richard
Dawkins. Die Mächte des alten Europa haben sich zu einer
pompösen Willkommensfeier verbündet - auf ihr versam-
meln sich ungleiche Gäste: der Papst und die islamischen Ge-
lehrten, die amerikanischen Präsidenten und die neuen
Kremlherren, alle Metterniche und Guizots unserer Tage,
die französischen Kuratoren und die deutschen Soziologen.
Bei der versuchten Wiedereinsetzung der Religion in ihre
ehemals verbrieften Rechte kommt ein Protokoll zum Tragen,
das von den neu Bekehrten und frisch Faszinierten die Beichte
ihrer bisherigen Verkennungen fordert. Wie in den Tagen des
ersten Merowingers, der sich aufgrund einer gewonnenen
Schlacht zum Kreu.z bekannte, sollen auch heutigen Tags die
Kinder der banalisierten Aufklärung verbrennen, was sie an-
Einleitung Zur anthropotechnischen Wende II
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1
beteten, und anbeten, was sie verbrannten. Bei dieser Um- lichen Chance bestimmen die Lage. Die über sich selber ins
kehr setzen sich versunkene liturgische Intuitionen in Szene. Bild gesetzte Aufklärung hat ihre Paradoxien offen gelegt, sie
Sie verlangen von den Novizen der postsäkularen »Gesell- ist bis in die Bezirke vorgedrungen, wo die Dinge, um einen
schaft« eine öffentliche Distanzierung von den religionskriti- bekannten Erzähler zu zitieren, »kompliziert und traurig
schen Lehrsätzen der aufklärerischen Jahrhunderte. Diesen werden«. Vom alten unbedingten Vorwärts sind nur noch
war die menschliche Selbstbestimmung allein zu dem Preis müde Reste in Gebrauch. Es fehlt nicht mehr viel, und die
erlangbar erschienen, daß die Sterblichen ihre an die Überwelt letzten Hoffnungsheger aufklärerischen Stils ziehen sich aufs
verschwendeten Kräfte zurückfordern und sie zur Optimie- Land zurück, als wären sie die Amish der Postmoderne. An-
rung der irdischen Verhältnisse einsetzen. Man mußte von dere ewig Progressive folgen den Rufen von Nicht-Regie-
»Gott« große Quanten an Energie abziehen, um endlich für rungsorganisationen, die sich der Rettung der Welt verschrie-
die Menschenwelt in Form zu kommen. In dieser Kraftüber- ben haben. Fürs übrige deuten die Zeichen der Zeit auf Revi-
tragung gründete der Elan des Zeitalters, das sich dem großen sion und Regreß. Nicht wenige enttäuschte Zeitgenossen
Singularwort »Fortschritt« verschrieben hatte. Die humani- möchten sich an den Herstellern und Vertreibern ihrer pro-
stische Angriffslust ging soweit, die Hoffnung zu einem Prin- gressiven Illusionen schadlos halten, als ob es möglich wäre,
zip zu erklären. Aus dem Proviant der Verzweifelten sollte das einen Verbraucherschutz für Ideen anzurufen. Der juristische
primum mobile besserer Zeiten werden. Wer sich zu dieser Archetypus unseres Zeitalters, der Schadensersatzprozeß,
ersten Ursache bekannte, wählte die Erde zum Einwande- springt auf weite Lebensbereiche über. Hat man nicht an
rungsland, um dort und nur dort sich zu verwirklichen. Ab seinen amerikanischen Spielformen gelernt, wie man am An-
nun hieß es, die Brücken zu den Sphären da droben abzubre- fang exorbitante Summen fordern muß, um am Ende des
chen und alle frei gewordenen Kräfte in die profane Existenz Advokatenkriegs auch nur halbwegs befriedigende Abfin-
zu investieren. Wenn es Gott gäbe, er wäre damals die ein- dungen zu erhalten? Ganz offen sinnen die Nachkommen
samste Größe im U niver;um geworden. Die Abwanderung der Himmelsvertriebenen auf üppige Reparationen, ja, sie
aus dem Jenseits nahm Züge einer Massenflucht an - die ak- wagen es, von epochalen Wiedergutmachungen zu träumen.
tuelle demographisch ausgedünnte Lage Osteuropas erscheint Ginge es nach ihnen, sollte die Enteignung der Überwelt ins-
daneben wie Überbesiedlung. Daß die breite Masse, von Im- gesamt rückgängig gemacht werden. Manche neureligiösen
manenzideologien unbeirrt, auch in den Tagen der triumphie- Unternehmer würden die stillgelegten metaphysischen Pro-
renden Aufklärung sich ihre heimlichen Ausflüge über die duktionsstätten am liebsten von heute auf morgen wieder in
Grenze gestattete, steht auf einem anderen Blatt. Betrieb nehmen, als habe man eine bloße Rezession hinter
Inzwischen haben ganz andere Antriebslagen die Oberhand sich gebracht.
gewonnen. Kompliziertere Wahrnehmungen der mensch- Europäische Aufklärung - eine Formkrise ? Ein Experi-
ment auf der schiefen Ebene zumindest, und im globalen
I Incende quod adorasti et adora quod incendist~: Nach der Chro.nik Horizont gesehen eine Anomalie. Die Religionssoziologen
des Gregor von Tours soll der Bischof von .Re,ms, RemIglus, ~I~se sagen es unverblümt: Überall auf der Welt wird weiterhin
Worte gesprochen haben, während Chlodwlg 1., der ~ra~kcnkolllg,
kräftig geglaubt, nur bei uns hat man die Ernüchterung ver-
»wie ein neuer Constantin«, nach der Schlacht von Zulp Ich von den
Sieghelferwirkungen Christi überzeugt, ins Taufbad stieg. herrlicht. Tatsächlich, warum sollten allein die Europäer
Einleitung Zur anthropotechnischen Wende 13
12

metaphysisch Diät halten, wenn der Rest der Welt unbeirrt an anthropologische als eine »religiöse« Spitze - es ist, um es mit
den reich gedeckten Tischen der Illusion tafelt? einem Wort zu sagen, die Einsicht in die immunitäre Verfas-
Ich darf daran erinnern: Marx und Engels hatten das Kom- sung des Menschenwesens. Nach mehrhundertjährigen Ex-
munistische Manifest in dem Vorsatz geschrieben, das Mär- perimenten mit neuen Lebensformen hat sich die Einsicht
chen von einem Gespenst namens Kommunismus durch eine abgeklärt, daß Menschen, gleichgültig unter welchen ethni-
angreiferische Selbstaussage des wirklichen Kommunismus schen, ökonomischen und politischen Bedingungen sie leben,
zu ersetzen. Wo bloße Geisterfurcht vorgeherrscht hatte, soll- nicht nur in »materiellen Verhältnissen«, vielmehr auch in
te begründete Furcht vor einem realen Feind des Bestehenden symbolischen Immunsystemen und rituellen Hüllen existie-
entstehen. Auch das vorliegende Buch widmet sich der Kritik ren. Von deren Gewebe soll im folgenden die Rede sein. War-
eines Märchens und ersetzt es durch eine positive These. In um ihre Webstühle hier mit dem kühlen Ausdruck »Anthro-
der Tat, dem Märchen von der Rückkehr der Religion nach potechniken« bezeichnet werden, mag sich im Gang der Dar-
dem »Scheitern« der Aufklärung muß eine schärfere Sicht auf stellung selbst erläutern.
die spirituellen Tatsachen entgegengestellt werden. Ich werde
zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowe~ig Den ersten Schritt zur Rechtfertigung des Interesses an diesen
möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem em- Gegenständen möchte ich tun, indem ich an Wittgensteins
fachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religio- bekannte Forderung erinnere, dem »Geschwätz über Ethik«
nen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssy- ein Ende zu machen. Es ist inzwischen möglich, den Teil des
steme, ob diese nun in Kollektiven - herkömmlich: Kirche, ethischen Diskurses, der kein Geschwätz ist, in anthropo-
Ordo, Umma, sangha - praktiziert werden oder in personali- technischen Ausdrücken zu reformulieren. Die Arbeit an die-
sierten Ausführungen - im Wechselspiel mit dem »eigenen ser Übersetzung bildet - wenn auch noch unter anderen Na-
Gott«, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern. men - seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die kon-
Damit wird die leidige Unterscheidung zwischen »wahrer fuse Mitte der modernen »Kulturstudien«. Für einen
Religion« und Aberglauben gegenstandslos. Es gibt nur mehr Augenblick war das ethische Programm der Gegenwart
oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbrei- scharf ins Blickfeld gekommen, als Marx und die Junghege-
tungswürdige Übungssysteme. Auch der falsche Gegensatz lianer die These artikulierten, der Mensch selbst erzeuge den
zwischen den Gläubigen und Ungläubigen entfällt und wird Menschen. Was dieser Satz besagte, wurde im Nu von einem
durch die Unterscheidung zwischen Praktizierenden und anderen Geschwätz verstellt, das von der Arbeit als der einzig
Ungeübten bzw. anders Übenden ersetzt. wesentlichen Handlung des Menschen sprach. Wenn aber der
Tatsächlich kehrt heute etwas wieder - doch die geläufige Mensch tatsächlich den Menschen hervorbringt, so gerade
Auskunft, es sei die Religion, die sich zurückmelde, kann nicht durch die Arbeit und deren gegenständliche Resultate,
kritische Nachfragen nicht befriedigen. Es handelt sich auch auch nicht durch die neuerdings viel gelobte »Arbeit an sich
nicht um die Rückkehr einer Größe, die verschwunden ge- selbst«, erst recht nicht durch die alternativ beschworene »In-
wesen wäre, sondern um einen Akzentwechsel in einem nie teraktion« oder »Kommunikation«: Er tut es durch sein Le-
zertrennten Kontinuum. Das wirklich Wiederkehrende, das ben in Übungen.
alle intellektuelle Aufmerksamkeit verdiente, hat eher eine
Einleitung Zur anthropotechnischen Wende

Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Untersuchungen hervorgehen. Gewiß, von jeher gleicht die
Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung Ideengeschichte einem Asyl für mißgeborene Begriffe - und
der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei nach dem folgenden Gang über die Stationen wird man nicht
sie als Übung deklariert oder nicht. 2 nur das Konzept »Religion« hinsichtlich seines verunglück-
ten Designs durchschauen, ein Konzept, das an Schiefheit
Wer von der Selbsterzeugung des Menschen spricht, ohne allein durch den Hyperpopanz »Kultur« übertroffen wird.
von seiner Formung im übenden Leben zu reden, hat das Man wird dann auch verstehen, warum es angesichts der ver-
Thema von vorneherein verfehlt. Wir müssen folglich prak- änderten Expositionen ebenso sinnlos wäre, für die negative
tisch alles, was über den Menschen als Arbeitswesen gesagt Bigotterie Partei zu ergreifen, die sich in unseren Breiten seit
wurde, suspendieren, um es in die Sprache des Übens bzw. nahezu zwei Jahrhunderten als plakativer Atheismus präsen-
des selbstformenden und selbststeigernden Verhaltens zu tiert - ein Geßlerhut, den elegante Intellektuelle gerne grüß-
übersetzen. Nicht nur der ermattete homo [aber, der die Welt ten, sooft sie an ihm vorbeikamen, nicht ohne bei dieser Ge-
im Modus »Machen« vergegenständlicht, hat seinen Platz im legenheit das Prädikat »intellektuell redlich«, wahlweise:
Zentrum der logischen Bühne zu räumen, auch der homo »kritisch« oder »autonom «, für sich in Anspruch zu nehmen.
religiosus, der sich mit surrealen Riten an die Überwelt wen- Es gilt jetzt, die ganze Bühne um 90 Grad zu drehen, bis sich
det, darf den verdienten Abschied nehmen. Gemeinsam tre- das religiöse, spirituelle und ethische Material unter einem
ten Arbeitende und Gläubige unter einen neuen Oberbegriff. aufschlußgebenden neuen Winkel zeigt.
Es ist an der Zeit, den Menschen als das Lebewesen zu ent- Die Einsätze sind hoch, ich wiederhole es. Wir haben ge-
hüllen, das aus der Wiederholung entsteht. Wie das 19. Jahr- gen eine der massivsten Pseudo-Evidenzen der jüngeren Gei-
hundert kognitiv im Zeichen der Produktion stand, das 20 . im stesgeschichte anzugehen: gegen den seit erst zwei- oder
Zeichen der Reflexivität, sollte die Zukunft sich unter dem dreihundert Jahren in Europa grassierenden Glauben an die
Zeichen des Exerzitiums präsentieren. Existenz von »Religionen«, mehr noch, gegen den ungeprüf-
Die Einsätze, um die gespielt wird, sind nicht niedrig. Es ten Glauben an die Existenz des Glaubens. Der Glaube an die
geht in unserem Unternehmen um nicht weniger als um die Gegebenheit von »Religion« ist das Element, das Gläubige
Einführung einer alternativen Sprache, und mit der Sprache und Nicht-Gläubige heute wie gestern vereint. Er ist von
einer veränderten Optik, für eine Gruppe von Phänomenen, einer Unbeirrbarkeit, der jeden Präfekten der römischen
für welche die Tradition Ausdrücke wie »Spiritualität«, Glaubenskongregation vor Neid erblassen lassen müßte.
»Frömmigkeit«, »Moral«, »Ethik« und »Askese« anzubieten Die Ökumene der Mißverständnisse hat die modernen Zeiten
pflegte. Gelingt das Manöver, so wird der herkömmliche Re- unangetastet überstanden. Kein Überwind er der Religion hat
ligionsbegriff, jener unselige Popanz aus den Kulissenhäu- an der Existenz der Religion gezweifelt, so sehr man ihr jedes
sern des modernen Europa, als der große Verlierer aus diesen einzelne Dogma streitig machte. Keine Ablehnung hat dem
Abgelehnten die Frage vorgelegt, ob es seinen Namen zu
2 Ausführungen zum Übungsbegriff finden sich unten in den Ab-
schnitten über dic Entdeckung der Pädagogik, S. 309f., über Habi- recht trüge und ob es als solches überhaupt Bestand habe.
tllsbildung, S. 287f., über den circulus virtuosus, S. 50 If., sowie in den Allein aufgrund der Gewöhnung an eine Fiktion vergleichs-
emen drei Abschnitten des 12. Kapitels, S. 639-651. weise jungen Datums - sie kam erst seit dem 17. Jahrhundert
16 Einleitung Zur anthropotechnischen Wende 17

in Gebrauch - kann heute von einer »Wiederkehr der Reli- losophie auf das apothekarische Niveau mißverstanden wor-
3 den sein,4 wer sie mit der gebührenden Aufmerksamkeit stu-
gion« die Rede sein. Es ist der ungebrochene Glaube an die
Religion als einer konstanten und universellen Größe, die diert, kann in ihnen die seminalen Ideen zu einer umfassenden
gehen und wiederkommen kann, der der aktuellen Legende Theorie des übenden Daseins entdecken.
zugrunde liegt. Die hier vorgeschlagene Übersetzung der religiösen, spi-
rituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik
Während die Psychoanalyse auf dem Theorem von der Wie- der allgemeinen Übungstheorie versteht sich als ein aufklä-
derkehr des Verdrängten aufbaute, geht eine Ideen- und Ver- rungskonservatives Unternehmen - ja sogar ein konservato-
haltensanalyse wie die hier vorgelegte auf das Theorem von risches in der Sache selbst. Ein doppeltes Bewahrungsinter-
der Wiederkehr des Unverstandenen zurück. Rotationsphä- esse liegt ihm zugrunde: Zum einem bekennt es sich zu dem
nomene dieses Typs sind unvermeidlich, solange das, was da Kontinuum kumulativen Lernens, das wir Aufklärung nen-
war, untertaucht und wieder emporkommt, in seiner Eigenart nen und das wir Gegenwärtigen, allen Gerüchten von neu-
nicht zureichend begriffen wurde. Bei dem Vorhaben, der erdings eingetretenen »post-säkularen« Verhältnissen zum
Sache selbst auf den Grund zu gehen, ist nur voranzukommen, Trotz, als den inzwischen schon vier Jahrhunderte überspan-
wenn man den Gegenstand weder bejaht noch ablehnt, viel- nenden Lernzusammenhang moderner Zeiten weitertragen;
mehr mit einer tiefer ansetzenden Explikation beginnt. Dies zum anderen nimmt es die zum Teil jahrtausendealten Fäden
ist ein Projekt, das durch eine Vorhut von Forschern des 19· auf, die uns an frühe Manifestationen menschlichen Übungs-
und frühen 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde, und Beseelungswissens binden, vorausgesetzt, wir sind be-
wenngleich mit Mitteln, deren Unzulänglichkeit längst ins reit, explizit an ihnen anzuknüpfen.
Auge springt - ich denke an Autoren wie Feuerbach, Comte,
Durkheim und Weber. Immerhin, in ihren Untersuchungen Damit ist das Schlüsselwort für alles, was man von hier an
nahmen die sogenannten Religionen als symbolisch geordnete lesen wird, hingeschrieben. Das Wort »explizit«, auf die be-
Verhaltenssysteme nach und nach bestimmtere Konturen an- zeichneten Gegenstände angewendet, enthält das folgende
freilich wurden die Übungs natur des »religiösen« Verhaltens Buch in nuce . Die erwähnte Drehung der geistesgeschichtli-
und seine Fundierung in autoplastischen Prozeduren noch chen Bühne bedeutet nichts anderes als ein logisches Manö-
nirgendwo angemessen formuliert. Erst der spätere Nietzsche ver zur Explizitmachung von Verhältnissen, die in den Über-
hat in seinen diätologischen Überlegungen der achtziger Jahre lieferungsmassen unter »impliziten«, sprich: in sich eingefal-
_ man denke an die entsprechenden Seiten in seiner Selbst- teten und zusammengedrängten Formen vorliegen. Wenn
kreuzigungsschrift Ecce homo - Ansätze zu einer Lebens- 4 Typisch hierfür Oswald Spengler in: Der Untergang des Abend-
übungslehre bzw. einer allgemeinen Asketologie vorgelegt. landes, München 1979, S. 462, der in Nietzsches Wende zum Le-
Mögen sie auch von flüchtigen Lesern als Rückzug der Phi- benskunstbewußtsein ein Symptom für das »Klimakterium der Kul-
rur« (ibid., S. 459) erkennen wollte. Er sah darin ein Beispiel für die
3 Als Gründervater der später so genannten Religionsphilosophie Dekadenz, die ihm zufolge das »zivilisatorische« Stadium der Kul -
kann Edward Herbert von Cherbury (I 583-1648) mit seinen Schrif- turen bezeichnet: In dessen Verlauf verfallen die erhabenen meta-
ten De Veritate (1624), De Religione Gentilium und Dc Religione physischen Weltanschauungen zu Ratgebern für Einzelne in ihren
Laici (1645) gelten. Alltags- und Verdauungssorgen.
18 Einleitung Zur anthropotechnischen Wende

Aufklärung in technischer Hinsicht das Programmwort für Auseinanderfaltung des Bekannten in größere, hellere, pro-
den Fortschritt im Bewußtsein der Explizitheit darstellt, darf filreichere Oberflächen. Sie kann infolgedessen nie im abso-
man ohne Scheu vor großen Formeln sagen, daß die Expli- luten Sinn innovativ sein, sie bildet stets auch die Fortsetzung
zitmachung des Impliziten die kognitive Form des Schicksals des kognitiv Vorhandenen mit anderen Mitteln. Dabei laufen
ist. Wäre es anders, hätte man zu keiner Zeit glauben dürfen, Neuheit und höhere Explizitheit auf eins hinaus. Daher gilt:
das spätere Wissen müsse zugleich das bessere sein - auf die- Je höher der Explikationsgrad, desto tiefer die mögliche, ja
ser Annahme beruht bekanntlich alles, was wir seit J ahrhun- unumgängliche Befremdlichkeit des neu erworbenen Wis-
derten mit dem Ausdruck »Forschung« belegen. Nur wenn sens. Daß dieser Tisch aus Kirschholz gemacht sei, habe ich
die eingefalteten »Dinge« oder Sachverhalte von ihnen selbst bisher als eine konventionelle Tatsache gelten lassen. Daß sich
her einer Tendenz unterliegen, sich auszufalten und für uns das Kirschholz aus Atomen zusammensetze, nehme ich mit
verständlicher zu werden, darf man - sofern die Ausfaltung der Duldsamkeit des Gebildeten zur Kenntnis, obschon die
gelingt - von wirklichem Wissenszuwachs sprechen. Allein vielzitierten Atome, diese epistemologischen Zeitgenossen
sofern die »Materien« spontan bereit sind (oder sich durch des 20. Jahrhunderts, in ihrem Realitätswert für mich noch
aufgezwungene Untersuchung nötigen lassen), in vergrößer- immer mit Einhornpulver und Saturneinflüssen auf einer Stu-
ten und besser ausgeleuchteten Flächen ans Licht zu kom- fe stehen. Daß sich die Kirschholzatome bei weiterer Expli-
men, kann man im Ernst - und Ernst meint hier ontologi- kation in einen Nebel aus subatomaren Beinahe-Nichtsen
schen Nachdruck - behaupten: Es gibt Wissenschaft in pro- auflösen: Auch dies muß ich als Endabnehmer der physika-
gress, es gibt reale Erkenntnisgewinne, es gibt Expeditionen, lischen Aufklärung akzeptieren, selbst wenn hierdurch meine
durch welche wir, das epistemisch engagierte Kollektiv, in Annahmen über die Substanzialität der Substanz entschieden
verhüllte Wissens kontinente vordringen, indem wir bisher verletzt werden. Die letzte Erklärung illustriert mir am nach-
Unthematisches thematisch machen, noch Unbekanntes ans drücklichsten, wie das spätere Wissen dazu tendiert, das be-
Licht bringen und nur dunkel Mitgewußtes in ausdrücklich fremdlichere zu sein.
Gewußtes umwandeln. Auf diese Weise mehren wir das ko- In der Fülle der kognitiven Neuheiten unter der modernen
gnitive Kapital unserer Gesellschaft - das letztere Wort hier Sonne gibt es keine, die an Folgenreichtum auch nur von
ohne Anführungszeichen. Früher hätte man wohl gesagt, die ferne mit dem Auftauchen und Bekanntwerden der Immun-
Arbeit des Begriffs münde in eine »Produktion«. Hege! ging systeme in der Biologie des späten 19. Jahrhunderts ver-
so weit, zu erklären, die Wahrheit sei wesenhaft Resultat - sie gleichbar wäre. Seither kann in den Wissenschaften von den
stehe darum unvermeidlich erst am Ende ihres Dramas. Wo Integritäten - den animalischen Organismen, den Arten, den
sie sich in fertiger Gestalt enthülle, feiere der menschliche »Gesellschaften«, den Kulturen - nichts mehr so bleiben, wie
Geist den Sonntag des Lebens. Da ich mich hier nicht mit es war. Erst zögernd hat man begonnen zu verstehen, daß es
dem Begriff des Begriffs befassen möchte und mit dem Kon- die Immundispositive sind, durch welche die sogenannten
zept Arbeit etwas anderes vorhabe, begnüge ich mich mit Systeme erst eigentlich zu Systemen werden, die Lebewesen
einer etwas weniger triumphalen, doch nicht weniger ver- zu Lebewesen, die Kulturen zu Kulturen. Allein aufgrund
bindlichen These: Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne. ihrer immunitären Qualitäten steigen sie auf in den Rang
Die Neuheit des Neuen geht, wie bemerkt, zurück auf die von selbstorganisierenden Einheiten, die sich unter stän-
20 Einleitung Zur anthropotechnischen Wende 21

digem Bezug auf eine potentiell wie aktuell invasive und irri- ligiöses oder spirituelles zu bezeichnen gewohnt ist. Für
tationenträchtige Umwelt erhalten und reproduzieren. Diese jeden Organismus ist seine Umwelt seine Transzendenz,
Leistungen sind bei den biologischen Immunsystemen - de- und je abstrakter und unbekannter die Gefahr ist, die von
ren Entdeckung auf die Forschungen von Ilja Metschnikow der Umwelt her droht, desto transzendenter steht sie ihm
und der Schüler Robert Kochs, namentlich Paul Ehrlich, am gegenüber.
Ende des I9. Jahrhunderts zurückgehen - besonders ein- Jede Geste des »Hineingehaltenseins« ins Offene, um mit
drucksvoll ausgebildet. An ihnen läßt sich die verblüffende Heidegger zu reden, schließt das zuvorkommende Gefaßt-
Idee ablesen, wonach schon relativ einfache Lebewesen wie sein des lebenden Systems auf die Begegnung mit potentiell
Insekten und Mollusken eine Art angeborenes >>Vorauswis- tod gebenden Irritations- und Invasionsmächten ein. »Mit al-
sen« von den insekten- und molluskentypischen Lebensrisi- len Augen sieht die Kreatur/das Offene«, statuien Rilke am
ken in sich tragen. Folglich kann man die Immunsysteme Beginn der Achten Elegie - das Leben selbst ist ein Exodus,
dieses Niveaus als verkörperte Verletzungserwartungen der Inneres auf Umwelt bezieht. Der Zug ins Offene ge-
und als entsprechende Schutz- und Reparaturprogramme a schieht evolutionär mehrstufig: Obwohl praktisch alle Orga-
priori definieren. nismen oder Integritäten in die Überraschungs- und Kon-
Unter diesem Licht gesehen, erscheint das Leben selbst als flikträume erster Stufe transzendieren, die ihnen jeweils als
eine mit autotherapeutischen oder »endoklinischen« Kompe- ihre Umwelten zugeordnet sind (sogar Pflanzen tun dies, und
tenzen ausgestattete Integrationsdynamik, die sich auf einen Tiere um so mehr), erreichen nur die wenigsten - soviel wir
artspezifischen Überraschungsraum bezieht. Ihm kommt ei- wissen allein die M enschen - die Transzendenzbewegung
ne ebenso angeborene wie - bei höheren Organismen - adap- zweiter Stufe. Kraft dieser wird die Umwelt zur Welt ent-
tiv erworbene Zuständigkeit für die Verletzungen und Inva- grenzt, als Integral aus Manifestem und Latentem. Der zweite
sionen zu, die ihm in der fest zugeordneten Umwelt oder in Schritt ist das Werk der Sprache. Diese errichtet nicht nur das
der eroberten Umgebung regelmäßig begegnen. Solche Im- »Haus des Seins« - Heidegger entlieh die Wendung bei Zara-
munsysteme könnte man ebensogut als organismische Vor- t11Ustras Tieren, die dem Genesenden vorhalten: »ewig baut
formen eines Sinns für Transzendenz beschreiben: Dank der sich neu das Haus des Seins«; sie ist auch das Vehikel für die
ständig sprungbereiten Effizienz dieser Vorrichtungen setzt hausflüchtigen Tendenzen, mit denen der Mensch kraft seiner
sich das Lebewesen mit seinen potentiellen Todbrin gern aktiv inneren Überschüsse dem Offenen entgegengeht. Unnötig zu
auseinander und stellt ihnen sein körpereigenes Vermögen zur erklären, warum erst beim zweiten Transzendieren der älteste
Überwindung des Tödlichen entgegen. Solcher Leistungen Parasit der Welt, die Überwelt, in Erscheinung tritt.
wegen hat man Immunsysteme dieses Typs mit einer »Kör- Ich verzichte darauf, schon jetzt die Konsequenzen dieser
perpolizei« oder einer Grenzschutztruppe verglichen. Da es Überlegungen für den Humanbereich anzudeuten. Vorläufig
aber schon auf dieser Ebene um die Aushandlung eines modus genügt es, festzuhalten, daß die Fortsetzung der biologischen
vivendi mit fremden und unsichtbaren Mächten geht - und Evolution in der sozialen und kulturellen zu einer Aufstu-
ferner, sofern diese todgebend sein können, mit »höheren « fung der Immunsysteme führt. Wir haben Grund, bei Men-
und »unheimlichen « Mächten -, liegt hier eine Vorstufe des schen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rech-
Verhaltens vor, das man in menschlichen Kontexten als re- nen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in
22 Einleitung Zur anthropotechnischen Wende

entdeckungs geschichtlicher jedoch an letzter Stelle steht. In sternen heute zu einer Überlebensbedingung der »Kulturen«
der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immun- selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig. 7
systeme, die in starker kooperativer Verschränkung und Wir werden es in diesem Buch naturgemäß vor allem mit
funktionaler Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten: den Manifestationen der dritten Immunitätsebene zu tun be-
Über dem weitgehend automatisierten und bewußtseinsun- kommen. Ich trage Materialien zur Biographie des homo im-
abhängigen biologischen Substrat haben sich beim Menschen munologicus zusammen, wobei ich mich durch die Annahme
im Lauf seiner mentalen und soziokultuellen Entwicklung leiten lasse, hier sei vor allem der Stoff zu finden, aus dem die
zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verlet- Anthropotechniken sind. Ich verstehe hierunter die mentalen
zungsverarbeitung herausgebildet: zum einen die sozio-im- und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen
munologischen Praktiken, insbesondere die juristischen und verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen
solidaristischen, aber auch die militärischen, mit denen Men- und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisi-
schen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen mit fern-frem- ken und akuten Todesgewißheiten zu optimieren. Erst wenn
den Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädi- diese Prozeduren in einem breiten Tableau der menschlichen
gern abwickeln;5 zum anderen die symbolischen beziehungs- »Arbeiten an sich selbst« erfaßt sind, lassen sich die jüngsten
weise psycho-immunologischen Praktiken, mit deren Hilfe gentechnischen Experimente evaluieren, auf die man in der
es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit aktuellen Debatte den 1997 wiedergeprägten Begriff »An-
durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form thropütechnik« gern verengt. 8 Was ich zu diesem Gegenstand
von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen aus heutiger Sicht zu sagen habe, werde ich im Gang der
mehr oder weniger gut zu bewältigen. 6 Es gehört zur Ironie Darstellung ad hoc einflechten. Die Tendenz meiner Stellung-
dieser Systeme, daß sie einer Explikation ihrer dunklen Seite nahme läßt sich bereits am Titel dieses Buchs ablesen: Wer
fähig sind, obwohl sie von Anfang an bewußtseinsabhängig darauf achtet, daß es heißt: >,Du mußt dein Leben ändern!«
existieren und sich für selbsnransparente Größen halten. Sie und nicht: »Du sollst das Leben verändern!«, hat schon im
funktionieren nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sondern ersten Durchgang verstanden, worauf es ankommt. 9
sind ganz in deren intentionales Verhalten eingebettet - '
nichtsdestoweniger ist es möglich, dieses Verhalten besser
7 Zur Überlebensbedeutsamkeit von Kulturwissenschaft im globalen
zu verstehen, als es von seinen naiven Agenten verstanden Kontext siehe den »Ausblick « dieses Buches, S. 699f.
wird. Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich; 8 Vgl. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark (zuerst Basel
und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen Immunsy- 1997), Frankfurt am Main 1999. Im übrigen war der Begriff schon
während der heroischen Jahre der Russischen Revolution in Ge-
brauch; man kann ihn im dritten Band der Großen Sowjetischen
Über das »Rechtssystem als Immunsystem des Gesellschafts- Enzyklopädie von 1926 nachschlagen, wo er vor allem die spekulativ
systems« vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer antizipierten Möglichkeiten biotechnischer Manipulationen an der
allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 509f. menschlichen Erbsubstanz bezeichnete.
6 Mit Problemen dieses Typs hat es u. a. die neue Wissenschaft der 9 Die hierfür einschlägige Antithese von Selbstverbesserung und
Psychoneuroimmunologie zu tun, die sich mit der Verschränkung Weltverbesserung wird unten im dritten Kapitel erläutert, wo von
mehrerer Botenstoffsysteme (Nervensystem, Hormonsystem, Im- der zunehmenden Veräußerlichung des metanoetischen Imperativs
munsystem) befaßt. in der Moderne die Rede ist.
Einleitung Zur amhropotechnischen Wende 25

Der Held der folgenden Geschichte, der homo immunologi- In Wahrheit steht der Übergang von der Natur in die Kul-
cus, der seinem Leben mitsamt dessen Gefährdungen und tur und umgekehrt seit jeher weit offen. Er führt über eine
Überschüssen eine symbolische Fassung geben muß, ist der leicht zu betretende Brücke - das übende Leben. Für ihre
mit sich selbst ringende, der um seine Form besorgte Mensch Errichtung haben die Menschen sich engagiert, seit es sie gibt
- wir werden ihn als den ethischen Menschen näher charak- - vielmehr, es gibt die Menschen erst dadurch, daß sie sich für
terisieren oder besser: als den homo repetitivus, den homo besagten Brückenbau verwenden. Der Mensch ist das ponti-
artista, den Menschen im Training. Keine der kuranten Ver- fikale Lebewesen, das von den ältesten Stadien seiner Evolu-
haltens- und Handlungstheorien ist imstande, den übenden tion an zwischen den Brückenköpfen in der Leiblichkeit und
Menschen zu erfassen - im Gegenteil, wir werden verstehen, denen in den Kulturprogrammen traditionstaugliche Bögen
wieso die bisherigen Theorien ihn systematisch zum Ver- schlägt. Von vorneherein sind Natur und Kultur durch eine
schwinden bringen mußten, egal, ob sie das beobachtete Feld breite Mitte aus verkörperten Praktiken verbunden - in ihr
in Arbeit und Interaktion einteilten oder in Verfahren und haben die Sprachen, die Rituale und die Handgriffe der Tech-
Kommunikationen oder in aktives und kontemplatives Le- nik ihren Sitz, sofern diese Instanzen die universalen Gestal-
ben. Mit einem anthropologisch breit fundierten Übungs be- ten automatisierter Künstlichkeiten verkörpern. Diese Zwi-
griff bekommen wir endlich das Instrument in die Hand, um schenzone bildet eine formenreiche, variabel-stabile Region,
die methodisch angeblich unüberwindliche Kluft zwischen die sich mit konventionellen Ausdrücken wie Erziehung, Sit-
den biologischen und den kulturellen Immunitätsphänome- te, Gewohnheit, Habitusformung, Training und Exerzitium
nen, also zwischen natürlichen Prozessen einerseits, Hand- vorläufig hinreichend klar bezeichnen läßt - ohne daß man
lungen andererseits, zu überbrücken. auf die Vertreter der »Humanwissenschaften« warten müßte,
Daß von der einen Sphäre in die andere keine direkten die mit ihrem Kultur-Getöse für die Verwirrung sorgen, zu
Übergänge offenstehen, ist in endlosen Diskussionen über deren Auflösung sie dann ihre Dienste anbieten. In diesem
die Differenz von Natur- und Kulturphänomenen - und über »Garten des Menschlichen« - um an eine geglückte nicht-
die Methoden ihrer wissenschaftlichen Erschließung - oft physikalische Formel des Physikers earl Friedrich von
genug behauptet worden. Die Forderung nach einem Di- Weizsäcker zu erinnern 10- werden die folgenden Untersu-
rektübergang stellt jedoch eine überflüssige Schikane dar, chungen ihre Gegenstände finden. Gärten sind umfriedete
von der man sich nicht beirren lassen sollte. Auf ihr bestehen Bezirke, in denen Gewächse und Künste zusammentreffen.
bezeichnenderweise vor allem diejenigen, die für die hierzu- Sie bilden »Kulturen« in einem unkompromittierten Sinn des
lande so genannten Geisteswissenschaften ein von metaphy- Wortes. Wer die Gärten des Menschlichen betritt, stößt auf
sischen Zäunen abgeschirmtes Reservat reklamieren. Manche die mächtigen Schichten geregelter innerer und äußerer
Verteidiger der Geisteswel t wollen den Graben zwischen Na- Handlungen mit immunsystemischer Tendenz über biologi-
turereignissen und Freiheitswerken so tief wie möglich aus- schen Substraten. Angesichts der weltweiten Kulturenkrise,
heben - nötigenfalls bis in die Abgründe eines ontologischen zu der auch die eingangs erwähnten gespenstischen neu-reli-
Dualismus, vorgeblich um die Kronkolonien des Geistigen
vor naturalistischen Übergriffen zu bewahren. Wir werden 10 C. F. v. W., Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschicht-
sehen, was hiervon zu halten ist. lichen Anthropologie, München 1978.
q

Einleitung Zur anthropotechnischen Wende

giösen Episoden zählen, ist es kein bloßes akademisches Plai- nun um die reale oder behauptete Gleichheit der Menschen
sir, wenn die Explikation dieses Bereichs auf die Tagesord- vor dem biologischen Gattungserbe handelt oder um die
nung der Zivilisationsparlamente gesetzt wird. 11 virtuelle Gleichwertigkeit der Kulturen vor dem Gerichts-
hof der Überlebenswürdigkeit: Sie muß doch stets der Tat-
Eine übungsanthropologische Studie kann aus Internen sache Rechnung tragen, daß Menschen unumgänglich unter
Gründen unmöglich unengagiert und unparteilich verfahren. vertikalen Spannungen stehen, in allen EpQchen und in
Dies ergibt sich aus dem Umstand, daß jeder Diskurs über sämtlichen Kulturräumen. Wo immer man Menschenwesen
»den Menschen« früher oder später über die Grenzen der begegnet, sind sie in Leistungsfelder und Statusklassen ein-
bloßen Beschreibung hinausgeht und normative Ziele ver- gebettet. Der Verbindlichkeit solcher Hierarchiephänomene
folgt - ob diese nun offengelegt werden oder nicht. Zu keiner kann sich selbst der äußere Beobachter nicht ganz entziehen,
Zeit war das deutlicher zu erkennen als in der frühen euro- sosehr er sich um die Einklammerung seiner Stammesidole
päischen Aufklärung, als die Anthropologie als die ursprüng- bemüht. Ganz offensichtlich gibt es gewisse Meta-Idole,
liche »bürgerliche Wissenschaft« aus der Taufe gehoben wur- deren Autorität sich kulturenübergreifend geltend macht -
de. Damals begann die neue Wissenschaft vom Menschen sich es handelt sich offensichtlich um Universalien der Lei-
als das moderne Paradigma von Philosoprue vor die überlie- stungsrollen, der Status erkennung und der Exzellenz, von
ferten Disziplinen der Logik, der Ontologie und der Ethik zu denen sich niemand emanzipieren kann, beim Eigenen so-
schieben. Wer sich in die Debatte über den Menschen ein- wenig wie beim Fremden, ohne in die Position des Barbaren
schaltete, tat dies, um - »progressiv « - die Gleichung von zu geraten.
Bürger und Mensch geltend zu machen, wobei man entweder Fatalerweise liefert der Terminus »Barbar« das Paßwort,
die Adligen als Sezessionisten der Menschheit abschaffen das den Zugang zu den Archiven des 20. Jahrhunderts öffnet.
wollte oder die Menschheit insgesamt in den Adelsstand zu Es bezeichnet den Leistungsverächter, den Vandalen, den Sta-
erheben suchte, oder um - »reaktionär« - den Menschen als tusleugner, den Ikonoklasten, den Verweigerer der Anerken-
das erbsündige, korrumpierte und labile Tier zu portraitieren, nung für jede Art von Ranking-Regel und Hierarchie. Wer
das man in seinem eigenen Interesse besser nie aus der Hand das 20. Jahrhundert verstehen will, muß stets den barbari-
seiner Zuchtmeister, mittelalterlich gesprochen: seiner correc- schen Faktor im Auge behalten. Gerade für die jüngere Mo-
tores, entläßt. derne war und blieb es typisch, eine Allianz zwischen Barba-
Die unüberwindbare Parteilichkeit der anthropologischen rei und Erfolg vor großem Publikum zuzulassen, anfangs
Theorie ist mit der Natur des Gegenstands intim verflochten. mehr unter der Form von trampelhaftem Imperialismus, heu-
Denn sosehr die allgemeine Rede über »den Menschen « von te in den Kostümen der invasiven Vulgarität, die durch die
einem egalitaristischen Pathos durchdrungen ist, ob es sich Vehikel der Popularkultur in praktisch alle Bereiche vor-
dringt. Daß die barbarische Position im Europa des 20. Jahr-
I I Über erweiterten Parlamentarismus vgl. Bruno Latour, Making hunderts selbst unter den Vertretern der Hochkultur zeitwei-
Things Public. Atmospheres of Democracy, K~.rlsruhe 2005> sowie lig als wegweisend galt, bis hin zu einem Messianismus der
Das Parlament der Dinge. Für eine politische Okologie, Frankfurt
am Main 200r. Zum allgemeinen Programm der Zivilisierung von Unbildung, ja einer Utopie des Neuanfangs auf der leeren
Kulturen vgl. Bazon Brock, Der Barbar als Kulrurheld, Köln 2002. Tafel der Ignoranz, illustriert das Ausmaß der Zivilisations-
Einleirung Zur anthropotechnischen Wende

krise, die dieser Kontinent in den vergangenen einhundert- Parteinahme für den ersten Wert, der im jeweiligen Feld als
fünzig Jahren durchlaufen hat - die Kulturrevolution nach Attraktor gilt, während dem zweiten Pol durchwegs die
unten inbegriffen, die in unseren Breiten das 20. Jahrhundert Funktion eines Repulsionswerts oder einer Vermeidungsgrö-
durchzieht und ihren Schatten auf das 2 I. Jahrhundert vor- ße zukommt.
auswirft. Was ich hier die Attraktoren nenne, sind ihrer Wirkungs-
weise nach die Richtgrößen von Vertikalspannungen, die in
Da die nachfolgenden Seiten vom übenden Leben handeln, psychischen Systemen für Orientierung sorgen. Die Anthro-
führen sie, ihrem Gegenstand entsprechend, zu einer Expedi- pologie darf die Wirklichkeit solcher Größen nicht länger
tion in das wenig erforschte Universum der menschlichen außer Betracht lassen, will sie an den entscheidenden Vekto-
Vertikalspannungen. Der platonische Sokrates hatte das Phä- ren der conditio humana nicht vorbeireden. Nur aus der
nomen für die okzidentale Kultur erschlossen, als er expressiv Wahrnehmung der »von oben« her ansetzenden Zugkräfte
verbis davon sprach, der Mensch sei das Wesen, das potentiell läßt sich begreiflich machen, warum und unter welchen For-
»sich selbst überlegen« ist. 12 Ich übersetze diesen Hinweis in men sich der homo sapiens, den uns die Paläontologen bis in
die Beobachtung, daß alle »Kulturen «, »Subkulturen« oder den Eingangsbereich der geisteswissenschaftlichen Fakultät
»Szenen« auf Leitdifferenzen aufbauen, mit deren Hilfe das anliefern, zu dem aufsteigenden Tendenztier hat entwickeln
Feld menschlicher Verhaltensmöglichkeiten in polarisierte können, als das die Befunde der Ideenhistoriker und der
Klassen unterteilt wird. So kennen die asketischen »Kultu- Weltreisenden ihn mehr oder weniger unisono beschreiben.
ren« die Leitdifferenz Vollkommen versus Unvollkommen, Wo immer man den Angehörigen der humanen Gattung be-
die »religiösen« »Kulturen « die Leitdifferenz Heilig versus gegnet, sie verraten überall die Züge eines Wesens, das zur
Profan, die aristokratischen »Kulturen« die von Vornehm surrealistischen Anstrengung verurteilt ist. Wer Menschen
versus Gemein, die militärischen »Kulturen« die von Tapfer sucht, wird Akrobaten finden.
versus Feige, die politischen »Kulturen« die von Mächtig Der Hinweis auf den Pluralismus der Leitunterscheidun-
versus Ohnmächtig, die administrativen »Kulturen« die von gen soll nicht nur auf die Betriebsbedingungen der vielfälti-
Vorgesetzt versus Nachgeordnet, die athletischen »Kulturen« gen »Kulturen« oder »Szenen« aufmerksam machen. Ein sol-
die von Exzellenz versus Mittelmaß, die ökonomischen cher Pluralismus der Leitunterscheidungen deutet auch eine
»Kulturen« die von Fülle versus Mangel, die kognitiven Erklärung an, wie es in der Geschichte der »Kulturen«, zumal
»Kulturen« die von Wissen versus Unwissen, die sapientalen in ihren heißeren und kreativeren Phasen, zu Überlagerungen
13
»Kulturen« die von Erleuchtung versus Verblendung. Was und Vermischungen der anfangs geschiedenen Bereiche, zu
diese Differenzierungen durchweg gemeinsam haben, ist die Umkehrungen der Wertvorzeichen und Überkreuzungen der
Disziplinen hat kommen können - zu Phänomen mithin, die
12 Siehe hierzu unten S. 26of. den bis heute attraktiven Formen von Spiritualität und Zivi-
13 Vgl. hierzu: Thomas Macho, Neue Askese? Zur Frage nach der lisiertheit zugrunde liegen. Weil die Leitunterscheidungen
Aktualität des Verzichts, in: Merkur 54, 1994/Hcft 7, Stuttgart
aus ihrem ursprünglichen Feld auswandern können, um sich
1994, S. 583-593, worin hinsichtlich der kulturgeschichtlich mäch-
tigen Alternative von Sattheit und Hunger die Leitdifferenz Leer erfolgreich in fremden Zonen einzunisten, gibt es die spiri-
versus Voll erläutert wird. tuellen Chancen, die uns noch immer als die höheren und
3° Einleilung Zur amhropotechnischen Wende 31
höchsten Möglichkeiten des Menschen faszinieren: Dazu nicht, stößt der Theoretiker unweigerlich auf seine eigene
rechnen eine nicht-ökonomische Definition von Reichtum; Verfaßtheit, jenseits von Bejahung und Verneinung.
eine nicht-aristokratische Definition des Vornehmen; eine
nicht-athletische Definition von Spitzenleistung; eine nicht- Dasselbe gilt für das Phänomen der Vertikalspannungen, oh-
herrschaftliche Definition von Oben; eine nicht-asketische ne die es keine absichtsvollen Übungen gibt. Hinsichtlich
Definition von Vollkommenheit; eine nicht-militärische De- Spannungen dieser Art wird der Theoretiker nichts unter-
finition von Tapferkeit, eine nicht-bigotte Definition von nehmen, um seine Befangenheit abzuwehren - von der übli-
Weisheit und Treue. chen Bereitschaft zur Abklärung des Befangenmachenden
Um diese vorbereitenden Bemerkungen abzuschließen, abgesehen. Das anthropologische Studium begreift die Af-
möchte ich ein zusätzliches Wort über die Parteilichkeit des fektion durch die Sache selbst als Zeichen seiner philosophi-
vorliegenden Buchs sagen und einen Warnhinweis auf ein schen Ausrichtung. Tatsächlich stellt die Philosophie den
naheliegendes Mißverständnis geben. Die folgenden Unter- Modus des Denkens dar, der durch die radikalste Form der
suchungen gehen von ihrem eigenen Ergebnis aus: Sie bezeu- Voreingenommenheit geprägt ist - die Passion des In-der-
gen die Erfahrung, daß es Gegenstände gibt, die ihrem Kom- Weit-Seins. Die Leute vom Fach als einzige ausgenommen,
mentator keine vollkommene epoche, keinen Rückzug in die spürt praktisch jeder, daß philosophisch alles ohne Belang
Interesselosigkeit, gestatten, auch wenn die Zeichen auf bleibt, was weniger als dieses Passionsspiel bietet. Für die
Theorie stehen - somit auf Abstinenz von Vorurteilen, Ka- umfassend absorbierenden Beschäftigungen des Menschen
pricen und eifernden Obsessionen. Mit einem solchen Ge- schlagen Kulturanthropologen den schönen Terminus deep
genstand, der seinen Analytiker nicht in Ruhe läßt, haben play vor. Aus der Perspektive einer Theorie des übenden Le-
wir es hier zu tun. Es wäre dem Thema nicht gemäß, wollte bens ist zu ergänzen: Die tiefen Spieie sind diejenigen, die von
sich der Autor ganz hinter dem Zaun der Absichtslosigkeit den Höhen bewegt werden.
verbergen. Die Materie selbst verwickelt ihre Adepten in eine Zuletzt die Warnung vor dem Mißverständnis, von dem
unentrinnbare Selbstbezüglichkeit, indem sie ihnen den ich behauptete, es läge nahe. Es folgt aus dem Umstand,
übenden - den »asketischen«, formfordernden und habitus- daß gegenwärtig eine Vielzahl von »religiös« Interessierten
bildenden - Charakter ihres eigenen Verhaltens vor Augen an einer breit angelegten anti-naturalistischen Mobilmachung
stellt. In seiner Abhandlung über die Götterkämpfe, die dem teilnimmt, mit deren Hilfe die vorgeblichen wie die tatsäch-
antiken dionysischen Theater zugrunde liegen, hatte der jun- lichen Übergriffe der reduktiven Wissenschaften auf die ge-
ge Nietzsehe notiert: »Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, heiligten Bezirke des Erlebten und des qualitativ Empfunde-
dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss! «J4 Auf analoge nen abgewehrt werden sollen. Man versteht unmittelbar, wie
Weise wird eine Anthropologie des übenden Lebens von ih- die Argumente gegen den Naturalismus der epistemologi-
rem Gegenstand infiziert. Beim Umgang mit Übungen, As- schen Frühverteidigung von Glaubenstatbeständen dienen.
kesen und Exerzitien, sie seien als solche deklariert oder Wer das Erlebte in eine innere Burg versetzt, welche die
szientistischen Sarazenen von heute und morgen nicht er-
14 F. N., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, KSA I,
obern können, darf fürs erste glauben, genug getan zu haben,
München 1980, S. 102. um diese empfindlichen Güter unter philosophischen Schutz
Einleitung Zur anthropotechnischen Wende 33
zu stellen. Damit werden, wenn schon nicht die Glaubens- genannten Binnensprachen sind, so läßt sich zeigen, bereits in
inhalte selbst, so doch die Bedingungen der Möglichkeit von den zahllosen »religiös« oder ethisch codierten Übungssyste-
Gläubigkeit überhaupt abgesichert. Was man den Naturali- men enthalten, so daß ihre Explizitmachung keine Überfrem-
sten - heute vor allem durch forsche Neurologen vertreten - dung mit sich bringt. Mit ihrer Hilfe wird das, was die hei-
vorhält, und in der Regel zu Recht, ist ihre vom Fach her ligen Schriften und altehrwürdigen Regeln von sich aus sagen,
vorgegebene Neigung, die Tatsachen des Bewußtseins in in einer dicht anschließenden Alternativsprache noch einmal
funktionaler Verfremdung und äußerer Reflexion aufzufas- gesagt. Wiederholung plus Übersetzung plus Generalisierung
sen, ohne dem unauflösbaren Eigensinn von Vorstellungsin- ergibt, richtig gerechnet, Verdeutlichung. Wenn so etwas wie
halten, wie sie in der Erste-Person-Perspektive auftreten, ge- Progress in Religion existiert: Er kann sich nur als wachsende
recht werden zu können. Explizitheit manifestieren.
An die Adresse derer gerichtet, die mit diesen Denkfiguren
umgehen,15 möchte ich erklären, daß die folgenden Unter-
suchungen in ihrem Kernbereich weder naturalistische noch
funktionalistische Interessen bedienen, obschon mir die
Wahrung der Chance von Anschlüssen an die Ergebnisse
solcher Forschungen auch von der »Geist-Seite« her wün-
schenswert erscheint - insbesondere unter dem bereits er-
wähnten immunologischen Aspekt. Wenn es in meinem Vor-
haben zu einer Verfremdung oder stellenweise provozieren-
den Neubeschreibung der Gegenstände kommt, dann nicht,
weil externe Logiken an sie herangetragen werden, wie man
es etwa beobachtet, wenn Neurowissenschaftler über Chri-
stologie 16 oder Genetiker über die DNA von Monotheisten
spreche nY Die Verfremdung, die von meinen theoretischen
Übungen ausgeht, falls sie als solche empfunden wird, erklärt
sich ausschließlich durch interne Übersetzungen, dank wel-
cher die anthropotechnischen Binnensprachen in den spiri-
tuellen Systemen selbst explizit gemacht werden. Die hier so

15 Exemplarisch Heinz-Theo Homann, Das funktionale Argument.


Konzepte und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung,
Paderborn 1997.
16 Vgl. Detlef Linke, Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn,
Rowohlt 2003 .
17 Vgl. Dean Hamer, Das Gottes-Gen. Warum uns der Glaube im Blut
liegt, München 2006, s. 207f.
Der Planet der Übenden
37

I DER BEFEHL AUS DEM STEIN


RILKES ERFAHRUNG

Ich stelle zunächst ein ästhetisches Exempel vor, um das


Phänomen der Vertikalspannungen und ihre Bedeutung für
die Reorientierung der konfusen Existenz moderner Men-
schen zu erläutern: Rainer Maria Rilkes bekanntes Sonett Ar-
chaiScher Torso Apollos, das den Zyklus Der Neuen Gedichte
Anderer Teil aus dem Jahr 1908 eröffnet. Der Ansatz bei einem
dichterischen Text scheint günstig - abgesehen davon, daß ich
aus ihm den Titel dieses Buchs entliehen habe -, weil ein sol-
cher wegen seiner Zugehörigkeit zum künstlerischen Feld we-
niger gefährdet ist, jene anti-autoritären Reflexe zu provozie-
ren, die sich heute bei Berührungen mit dogmatisch Gesagtem
oder aus der Höhe Gesprochenem nahezu zwanghaft einstel-
len - »was heißt schon Höhe! « Am ästhetischen Gebilde, und
nur an ihm, haben wir gelernt, uns einer nicht-versklavenden
Form von Autorität, einer nicht-repressiven Erfahrung von
Rangdifferenz auszusetzen. Das Kunstwerk darf sogar uns,
den der Form Entlaufenen, noch etwas »sagen«, weil es ganz
offensichtlich nicht die Absicht verkörpert, uns zu beengen.
»La poesie ne s'impose plus, elle s'expose.«l Was sich selbst
ausgesetzt und in der Prüfung bewährt hat, gewinnt unange-
maßte Autorität. Im ästhetischen Simulationsraum, der zu-
gleich der Ernstfallraum für Gelingen und Mißlingen des
künstlerischen Gebildes ist, kann die machtlose Superiorität
der Werke auf Beobachter einwirken, die ansonsten empfind-
lich darauf achten, keinen Herrn über sich zu haben, keinen
alten und keinen neuen.

1 Paul Celan, in: ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden, Dritter


Band, Frankfurt am Main 1983, S. 18I.
Der Planet der Übenden [ Der Befehl aus dem Stein 39

Rilkes Torso-Gedicht ist auf besondere Weise geeignet, die einer Rückkehr zu glaubwürdigen Sinnerfahrungen eröffnen.
Frage nach der Quelle der Autorität zu stellen, weil es von Es vermochte dies, indem es die Sprache an den Goldstandard
sich her ein Experiment über das Sich-etwas-sagen-Lassen des von den Dingen selbst Mitgeteilten band. Wo Beliebigkeit
darstellt. Wie man weiß, hatte Rilke unter dem Einfluß Au- ausgeschaltet wird, soll Autorität aufleuchten.
guste Rodins, dem er zwischen 1905 und 1906 als Privatse- Es liegt auf der Hand, daß nicht jedes beliebige Etwas in
kretär in Meudon zur Hand gegangen war, sich von der ju- den Rang eines Dings befördert werden kann - ansonsten
gendstilhaften, sensibilistisch-atmosphärischen Dichrungs- wäre erneut alles und jedes sprechend, ja, das Geschwätz
weise seiner Anfangsjahre abgewandt, um eine stärker vom würde sich von den Menschen auf die Sachen ausdehnen.
>>Vorrang des Objekts« bestimmte Kunstauffassung zu ver- Rilke privilegiert zwei Kategorien von »Seienden«, um es in
folgen. Das proto-moderne Pathos, dem Gegenstand den der pergamentenen Diktion der Philosophie zu sagen, die für
Vortritt zu lassen, ohne ihn in der Far;on der alten Meister die hohe Aufgabe, botschaftliehe Dinge zu sein, in Frage
»naturgetreu « abzubilden, führte bei Rilke zum Konzept des kommen - die Artifizien und die Lebewesen -, wobei die
Ding-Gedichts - und hierdurch zu einer vorübergehend letzteren von den ersten her ihre besondere Note erhalten,
überzeugenden neuen Antwort auf die Frage nach der Quelle als wären die Tiere die höchsten Kunstwerke des vormensch-
ästhetischer und ethischer Autorität. Von nun an sollen es die lichen Seins. Beiden ist eine botschaftliehe Energie inhärent,
Dinge selbst sein, von denen alle Autorität ausgeht - oder die sich nicht von selber aktiviert, sondern des Dichters als
besser: von diesem jeweils aktuellen singulären Ding, das sich Decoders und Überbringers bedarf. Hierin hat die Kompli-
an mich wendet, indem es ganz den Blick beansprucht. Dies zenschaft zwischen dem sprechenden Ding und der Rilke-
ist nur möglich, weil Ding-Sein jetzt von sich her nichts an- sehen Dichtung ihren Grund - so wie nur wenig später die
deres bedeuten soll als: etwas zu sagen haben. Heideggerschen Dinge mit der »Sage« einer besinnlichen
Rilke führt auf seinem Gebiet und mit seinen Mitteln eine Philosophie konspirieren, die keine bloße Schuldisziplin
Operation aus, die man philosophisch als die »botschaftliehe mehr sein will.
Transformation des Seins« (vulgo linguistic turn) umschrei- Mit diesen etwas akzelerierten Hinweisen ist ein Rahmen
ben könnte. »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, umrissen, innerhalb dessen wir eine kurze Lektüre des Torso-
wird Heidegger sagen - was umgekehrt die These impliziert: Gedichts versuchen können. Ich gehe davon aus, daß der
Sprache, die vom »Sein« verlassen ist, gerät zum Geschwätz. Torso, von dem im Sonnett die Rede ist, ein »Ding« im emi-
Dann und nur dann, wenn das Sein sich in privilegierten nenten Sinn des Worts verkörpern soll, und zwar gerade des-
Dingen zusammenzieht und auf dem Umweg über diese Din- wegen, weil er bloß den Rest einer vollständigen Skulptur
ge sich an uns wendet, besteht Grund zu der Hoffnung, der darstellt. Aus Rilkes Biographie wissen wir: Er brachte von
anschwellenden Beliebigkeit zu entgehen, ästhetisch wie phi- seinem Aufenthalt bei den Werkstätten Rodins die Erfahrung
losophisch. Angesichts der galloppierenden Inflation des Ge- mit, auf welche Weise die moderne Plastik zur Gattung des
schwätzes mußte eine solche Hoffnung zahlreiche Künstler autonomen Torsos vorgestoßen war. 2 Die Sicht des Dichters
und »Geistige « um 1900 in ihren Bann ziehen. Inmitten der
allgegenwärtigen Geschäfte mit den prostituierten Zeichen 2 Wolfgang Brückle, Von Rodin bis Baselitz. Der Torso in der Kunst
konnte das Ding-Gedicht eine Aussicht auf die Möglichkeit der Moderne, Ostfildern 2001.
Der Planet der Übenden I Der Befehl au s dem Stein

auf den verstümmelten Körper hat darum nichts mit der mene, das in den vierzehn Zeilen beschworen wird, findet
Fragment- und Ruinenromantik des vorangehenden Jahr- seinen Daseinsgrund in dem Umstand, daß es - unabhängig
hunderts zu tun; sie gehört in den Durchbruch der modernen von der Verstümmelung des materiellen Trägers - die Voll-
Kunst zum Konzept des sich mit Autorität selbst aussagen- macht besitzt, eine aus sich selbst appellierende Botschaft zu
den Objekts und des sich mit Vollmacht selbst veröffent- bilden. Diese Appellkraft liegt bei dem hier vergegenwärtig-
lichenden Körpers. ten Gegenstand in exquisiter Weise vor. Vollkommen ist, was
einen ganzen Satz des Seins artikuliert. Nicht mehr und nicht
ARCHAISCHER TORSO ApOLLOS weniger hat das Gedicht zu leisten, als den Satz des Seins im
Ding zu vernehmen und ihn dem eigenen Dasein anzuglei-
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt chen - mit dem Ziel, selber ein Gebilde von ebenbürtiger
darin die Augenäpfel reiften. Aber Botschaftsmächtigkeit zu werden.
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, Der Rilkesche Torso kann als Träger des Prädikats »voll-
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, kommen« erfahren werden, weil er etwas mitbringt, was es
ihm erlaubt, die gewöhnliche Erwartung einer Gestaltganz-
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug heit zu brüskieren. In dieser Geste hat die Wende der Mo-
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen derne gegen das Prinzip Naturnachahmung - im Sinn von
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen Nachahmung von vorgebenen Gestalterwartungen - eines
zu jener Mitte, die die Zeugung trug. ihrer Motive. Sie vermag botschaftliche Ganzheiten und au-
tonome Dingsignale auch dann wahrzunehmen, wenn keine
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz morphologisch integren Figuren mehr vorliegen - ja gerade
unter der Schultern durchsichtigem Sturz dann. Der Sinn für Vollkommenheit zieht sich aus den Natur-
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; formen zurück - wohl deswegen, weil die Natur selbst dabei
ist, ihre ontologische Autorität zu verlieren. Auch durch die
und bräche nicht aus allen seinen Rändern Popularisierung der Photographie werden die Standardan-
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, blicke der Dinge zunehmend abgewertet. Als erste Auflage
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. des Sichtbaren gerät die Natur in Mißkredit. Sie vermag sich
als Absenderin von verbindlichen Botschaften nicht mehr zu
Wer von dem Gedicht bei erster Lesung schon Bestimmteres behaupten - aus Gründen, die letztlich auf ihre Entzauberung
aufnimmt, versteht soviel: Hier wird von einer Vollkommen- durch wissenschaftliche Erforschung und technische Über-
heit gehandelt - einer Vollkommenheit, die um so verbind- bietung zurückgehen. Nach dieser Verschiebung nimmt
licher und mysteriöser zu sein scheint, als es bei ihr um die »vollkommen sein« eine veränderte Bedeutung an: Es heißt,
Perfektion eines Bruchstücks geht. Man darf unterstellen, etwas zu sagen haben, was bedeutsamer ist als das Gerede der
Rilke bedanke sich mit diesem Werk bei Rodin, dem Lehr- geläufigen Ganzheiten. Nun kommen die Torsi und ihresglei-
meister seiner Pariser Zeit, für das Konzept des für sich ste- chen zum Zug, es schlägt die Stunde der Formen, die an nichts
henden Torsos, dem er bei ihm begegnet war. Das Voll kom- erinnern. Die Bruchstücke, die Krüppel, die Hybride bringen
D er Planet der Übenden I D er Befehl aus dem Stein 43
etwas zur Aussprache, was die gewöhnlichen G anzformen haben - sofern sie uns nicht offen lästig werden. Das seins-
und die glücklichen Integritäten nicht mehr zu übermitteln erfüllte Ding hingegen hört nicht auf, uns anzusprechen,
imstande sind. Intensität schlägt Standard perfektion. Hun- wenn sein Moment gekommen ist.
dert Jahre nach Rilkes Wink verstehen wir diesen Hinweis Wir nähern uns dem kritischen Punkt: Seit jeher haben die
wohl noch besser als dessen eigene Zeitgenossen, da unser beiden Schlußzeilen die Leser in ihren Bann gezogen. Sie
Wahrnehmungsvermögen wie das keiner Generation vor wecken Bedeutsamkeitsgefühle, die das lyrische Gebilde im
uns von dem Geschwätz der makellosen Körper betäubt ganzen gleichsam aus den Angeln heben - als wäre es nur der
und ausgeplündert wird. Hinweg zu einem Höhepunkt, um dessentwillen das übrige
Mit diesen Hinweisen dürfte deutlich geworden sein, wie ausgebreitet wird. Tatsächlich haben die zwei Schlußsätze:
das Phänomen des Von-oben-angesprochen-Werdens sich in »denn da ist keine Stelle I die dich nicht sieht. Du mußt dein
einem ästhetischen Gebilde verkörpert. Zum Verständnis ei- Leben ändern.« eine fast selbstständige Karriere angetreten
nes Appell-Erlebnisses solcher Art ist es zunächst nicht nötig, und sich dem Gedächtnis der Gebildeten eingeprägt, nicht
auf die von Rilke akzeptierte Vermutung einzugehen, es nur bei Rilkeverehrern und Lyromanen. Ich gestehe, für dies-
handle sich bei dem von ihm besungenen Torso um das Relikt mal neige ich dazu, dem Bedürfnis, Sätze aus dem Zusam-
einer Götterstatue - damalige Kuratoren meinten zu wissen: menhang zu reißen, recht zu geben, nicht zuletzt deswegen,
eines Apollo. Es ist nicht völlig auszuschließen, bei der weil sich in der populären Vorliebe für schöne Stellen gele-
Skulpturerfahrung des Dichters habe ein Element von ju- gentlich ein gültiges Urteil über authentische Gipfelmomente
gendstilhafter Bildungspietät mitgespielt - Rilke soll der rea- nachweisen läßt. Man muß kein Schwärmer sein, um zu ver-
len Vorlage bei einem Besuch im Louvre begegnet sei n, und stehen, warum die beiden Schlußsätze ein Eigenleben entwik-
soviel man weiß, wäre sie kein archaisches Kunstwerk, son- kelt haben. In ihrer gediegenen Bündigkeit und mystischen
dern eines aus der klassischen Zeit griechischer Bildhauerei Simplizität strahlen sie eine kunstevangelische Energie aus,
gewesen. Was der Dichter jedoch zu dem Torso des mutmaß- wie sie an kaum einer anderen Wendung der jüngeren Sprach-
lichen Apolls zu sagen weiß, ist mehr als eine Notiz über kunst beobachtet wird.
einen Ausflug in den Antikensaal. Es kommt dem Autor Auf den ersten Blick erscheint der vorausgestellte Satz als
nicht darauf an, daß das Ding einen erloschenen Gott zeigt, der geheimnisvollere. Wer ihn versteht oder akzeptiert oder
für den humanistisch Gebildete sich interessieren könnten, im lyrischen Zusammenhang gelten läßt - was im gegebenen
sondern darauf, daß der Gott im Stein ein Ding-Gebilde dar- Fall dasselbe meint -, wird auf der Stelle wie von einer hyp-
stellt, das noch immer auf Sendung ist. Wir haben es mit notischen Suggestion erfaßt. Man gibt, indem man sich im
einem Zeugnis dafür zu tun, wie die neuere botschaftliche >,verstehen" übt, einer sprachlichen Wendung Kredit, die
Ontologie den hergebrachten Theologien über den Kopf das alltägliche Verhältnis zwischen dem Sehenden und dem
wächst. In ihr wird das Sein selbst gegenüber Gott, dem Gesehenen umkehrt. Daß ich den Torso mit seinen gedrun-
machthabenden Götzen der Religionen, als die sprechendere, genen Schultern und seinen Stümpfen sehe, ist das eine; daß
die sendungsmächtigere, die autoritätspotentere Größe ver- ich mir die fehlenden Teile, den Kopf, die Arme, die Beine,
standen. Auch ein Gott kann in modernen Tagen leicht unter das Geschlecht, träumerisch hinzudenke und assoziativ ani-
die schönen Figuren geraten, die uns nichts mehr zu sagen miere, ist ein zweites. Ich kann mir, unter Rilkes Anregung,
44 Der Planet der Übenden 1 Der Befehl aus dem Stein 45
zur Not sogar ein Lächeln vorstellen, das von einem unsicht- Auch der Torso, an dem keine Stelle ist, die mich nicht sieht,
baren Mund bis zu einem verschwundenen Genital reicht. zwingt sich nicht auf - er setzt sich aus. Er setzt sich aus,
Das völlig Andere jedoch, das durch und durch Inkommen- indem er es darauf ankommen läßt, ob ich ihn als Sehenden
surable, besteht in der Zumutung, hinzunehmen, daß der sehe. Ihn als Sehenden auffassen heißt soviel wie an ihn »glau-
Torso mich sieht, während ich ihn betrachte - ja, daß er mich ben«, wobei glauben, wie bemerkt, hier die inneren Opera-
schärfer ins Auge faßt, als ich ihn anzusehen vermag. tionen bezeichnet, die nötig sind, um das vitale Prinzip im
Die Fähigkeit, die innere Geste auszuführen, mit der man Stein als einen Absender von diskreten adressierten Energien
für diese Unwahrscheinlichkeit in sich Platz schafft, dürfte zu denken . Gelingt mir dies irgend wie, so ist es mir auch
ziemlich genau in dem Talent bestehen, von dem Max Weber möglich, dem Stein sein subjekthaftes Glühen abzunehmen.
leugnete, es zu besitzen. Es ist das der »Religiosität«, als mit- Ich akzeptiere versuchsweise sein modellhaft strahlendes Da-
gebrachte Disposition und entwickelbare Begabung verstan- stehen und empfange seinen sternenhaft ausbrechenden
den und hierin zu Recht der Musikalität vergleichbar. Man Überschuß an Autorität und Seele.
kann sie üben, wie man melodische Passagen oder syntakti- Nur in diesem Zusammenhang spielt der Name des Dar-
sche Muster übt. Unter diesem Aspekt ist Religiosität mit gestellten eine Rolle. Was in der vormaligen Apollo-Statue
einer gewissen grammatischen Promiskuität kongruent. Wo erscheint, ist aber nicht ohne weiteres mit dem gleichnamigen
sie am Werk ist, tauschen Objekte mit Subjekten elastisch die Olympier gleichzusetzen, der in den Tagen seiner Vollstän-
Plätze. Mithin: Wenn ich akzeptiere, daß da - an der schim- digkeit für Licht, Kontur, Vorauswissen und Formensicher-
mernden Oberfläche des verstümmelten Steins -lauter »Stel- heit zu sorgen hatte. Er steht vielmehr, wie der Gedichttitel
len« sind, die Augen gleichkommen und die mich sehen: dann ahnen läßt, für etwas viel Älteres, das aus vorzeitlichen Quel-
vollziehe ich eine Operation von mikroreligiöser Qualität - len aufsteigt. Er symbolisiert ein göttliches Magma, in dem
und die man, einmal begriffen, als primäres Modul einer etwas von der ersten Ordnungsrnacht, alt wie die Welt selbst,
»frommen « inneren Handlung auch in den makroreligiös zur Erscheinung kommt. Kein Zweifel, daß hier bei Rilke
ausgebauten Systemen auf allen Ebenen wiedererkennt. Auf Erinnerungen an Rodin und sein zyklopisches Arbeitsethos
der Position, wo üblicherweise das Objekt erscheint, welches wirksam werden. In der Zeit seines Umgangs mit dem großen
ebendarum, weil es Objekt ist, niemals zurückschaut, »erken- Künstler erlebte er, was es bedeutet, die Oberflächen von
ne« ich nun ein Subjekt, das die Fähigkeit besitzt, zu schauen Körpern so lange zu traktieren, bis sie nur noch ein einziges
und Blicke zu erwidern. Ich lasse mich also, hypothetisch Gewebe von durchgeformten, luminosen, gleichsam sehen-
gläubig, auf die Unterstellung eines Subjekts ein, das der be- den »Stellen« bilden. 3 Von Rodins Skulpturen hatte er einige
treffenden Stelle innewohnt, und warte ab, was diese nach- Jahre zuvor geschrieben: »es gab Stellen ohne Ende, und kei-
giebige Wendung aus mir macht. (Wir merken an: Zu mehr als ne, an der nicht etwas geschah.«4 Jede Stelle ist ein Ort, an
habitualisierten Unterstellungen kann auch die »tiefste « oder dem Apollo, der Gestalt- und Oberflächengott, mit seinem
virtuoseste Gläubigkeit es niemals bringen). Der Lohn für
meine Bereitschaft zur Beteiligung an der Objekt-Subjekt- 3 »Menschen redeten nicht zu ihm. Steine sprachen«, heißt es bereits
in dem Essay über Rodin. Rainer Maria Rilke, Werke, Band III, 2,
Umkehrung fällt mir unter der Form einer privaten Erleuch-
Prosa, Frankfurt am Main 1980, S. 369.
tung zu - im vorliegenden Fall als ästhetische Ergriffenheit. 4 Ibid., S. 359·
Der Planet der Übenden I Der Befehl aus dem Stein 47
älteren Gegenspieler Dionysos, dem Drang- und Strömungs- Wollte man alle Lehren der Papyrusreligionen, der Perga-
gott, einen visuell prägnanten und haptisch fühlbaren Kom- mentreligionen, der Stylus- und Federkielreligionen, der kal-
promiß schließt. Daß dieser energetisierte Apollo eine Er- ligraphischen und typographischen Religionen, alle Ordens-
scheinung des Dionysos verkörpert, geht aus dem Hinweis regeln und Sektenprogramme, alle Meditationsanleitungen
hervor, der Stein flimmere wie Raubtierfelle: Rilke hatte und Stufenlehren, alle Trainingsvorschriften und Diätologien
seinen Nietzsehe gelesen. Hier tritt uns das zweite mikro- in eine gemeinsame Werkstatt versetzen, wo sie in einer letz-
religiöse bzw. protomusikalische Modul entgegen: jenes no- ten Redaktion zusammengefaßt werden müßten: Ihr äußer-
torische »Dieses steht für Jenes «, »das Eine erscheint im An- stes Konzentrat würde nichts anderes sagen als das, was der
deren«, »die Tiefe ist in der Oberfläche gegenwärtig« - Figu- Dichter in einem transluziden Moment aus dem archaischen
ren, ohne die kein religiöser Diskurs je zustande kam. An Torso Apollos emanieren läßt.
ihnen kann man ablesen, daß Religiosität eine Form von her- Du mußt dein Leben ändern! - so lautet der Imperativ, der
meneutischer Beweglichkeit ist und eine trainierbare Größe die Alternative von hypothetisch und kategorisch übersteigt.
darstellt. Es ist der absolute Imperativ - der metanoetische Befehl
»Denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt schlechthin. Er gibt das Stichwort zur Revolution in der
dein Leben ändern.« Es bleibt zu zeigen, warum der zweite zweiten Person Singular. Er bestimmt das Leben als ein Ge-
Satz, an dem es scheinbar nichts zu deuten gibt, bei weitem fälle zwischen seinen höheren und niedereren Formen. Ich
der geheimnisvollere ist. An ihm ist nicht nur seine fehlende lebe zwar schon, aber etwas sagt mir mit unwidersprechlicher
Vorbereitung, seine Plötzlichkeit mysteriös. »Du mußt dein Autorität: Du lebst noch nicht richtig. Die numinose Auto-
Leben ändern« - das scheint aus einer Sphäre herzustammen, rität der Form genießt das Vorrecht, mich mit »Du mußt«
in der keine Einwände erhoben werden können. Auch ist anzusprechen. Es ist die Autorität eines anderen Lebens in
nicht zu entscheiden, von wo aus der Satz gesprochen wird, diesem Leben. Diese trifft mich an in einer subtilen Insuffi-
allein seine absolute Vertikalität steht außer Zweifel. Man zienz, die älter und freier ist als die Sünde. Sie ist mein in-
weiß nicht, ob dieses Diktum senkrecht aus dem Boden nerstes Noch-nicht. In meinem bewußtesten Moment werde
schießt, um mir wie ein Pfeiler im Weg zu stehen, oder ob ich vom absoluten Einspruch gegen meinen status qua betrof-
es vom Himmel stürzt, um die Straße vor mir in einen Ab- fen: Meine Veränderung ist das eine, das not tut. Änderst du
grund zu verwandeln, so daß der nächste Schritt, den ich tue, daraufhin dein Leben wirklich, tust du nichts anderes, als was
schon zu dem geänderten Leben, das gefordert wird, gehären du selber mit deinem besten Willen willst, sobald du spürst,
müßte. Es ist nicht genug, zu sagen, Rilke habe die Ethik wie eine für dich gültige Vertikalspannung dein Leben aus
ästhetisierend ins Lapidare, Zyklopische, Altertümlich-Bru- den Angeln hebt.
tale zurückübersetzt. Er hat einen Stein entdeckt, der den Neben dieser ethisch-revolutionären Lesart liegen auch
Torso der »Religion«, der Ethik, der Askese überhaupt ver- etwas handfestere und psychologisch eingängigere Deutun-
körpert: ein Gebilde, das einen Anruf von oben abstrahlt, gen des Torso-Gedichts nahe. Es zwingt uns nichts, den
reduziert auf den puren Befehl, die unbedingte Weisung, die Kommentar auf kunst- und seinsphilosophische Hochlagen
durchlichtete Äußerung des Seins, das verstanden werden zu beschränken. Das Autoritätserlebnis, das den Dichter für
kann - und das nur in Imperativen spricht. einen Moment an di e antike Statue fesselt, läßt sich auf einer
Der Planet der Übenden I Der Befehl aus dem Stein 49

eher sinnlichen, ästhetisch leichter greifbaren Ebene vielleicht zu seinem Modell. Nun möchte ich Rilke gewiß keine nar-
noch plausibler rekonstruieren. Hier wäre von den somati- zißtische Beziehung zu einem im Louvre ausgestellten
schen, genauer: den autoerotischen und maskulin-athleti- Bruchstück altgriechischer Männerkörperkultherrlichkeit
schen Anmutungen der Skulptur zu sprechen, die im Dichter andichten. Plausibel ist jedoch, daß der Verfasser des Sonetts
(in der Sprache seiner Zeit ein Neurastheniker und schwach- aus dem realen Torso, der ihm zu Gesicht kam, etwas von der
leibiger Introvertierter) eine Einfühlung in die antipodische Strahlkraft des antiken Athletenvitalismus und von der mus-
Seinsweise der starken »Körpermenschen« hervorgerufen kulären Theologie der Ringer in der Palästra herausgelesen
haben muß. Dem entspricht eine Tatsache, die Rilke nicht hat. Das Vitalitätsgefälle zwischen dem erhöhten und dem
verborgen war: daß in der unermeßlich reichen Statuenkultur profanen Körper muß ihn selbst angesichts eines bloßen Re-
der Griechen zwischen Göttern und Athleten ein physisches likts verklärter Männlichkeit auf unmittelbare Weise ange-
und psychisches Verwandtschaftswesen herrschte, in dem sprochen haben.
die Verähnlichung bis zur Gleichsetzung reichen konnte. Mit dieser Empfindungsweise wäre der Dichter nicht mehr
Ein Gott war immer auch eine Art Sportler, und der Sportler, und nicht weniger gewesen als ein sensibler Zeitgenosse der
zumal der im Preislied gefeierte und vom Lorbeer gekrönte, europäischen Spätrenaissance, die um 1900 in ein kritisches
auch immer eine Art Gott. Daher bietet sich der Athleten- Stadium eintritt. Ihr definierendes Merkmal ist die Wieder-
körper, der Schönheit und Disziplin zu einer in sich ruhen- kehr des Athleten als der Schlüsselfigur des antiken somati-
den Sprungbereitschaft vereinigt, als eine der verständlich- schen Idealismus. Damit geht der Prozeß des nach-christli-
sten und überzeugendsten Erscheinungsformen von Auto- chen Kulturumbaus, der um I400 als philologische und arti-
rität an. stische Renaissance begonnen hatte, in seine massenkulturelle
Der autoritative Körper des Gott-Athleten wirkt auf den Phase über. Sein stärkstes Kennzeichen ist der Sport, von dem
Betrachter unmittelbar durch seine Vorbildlichkeit. Auch er man nie genug betonen kann, wie tief er in das Ethos der
sagt lapidar: »Du mußt dein Leben ändern! «, und indem er es Modernen eingegriffen hat. Mit dem Neustart der Olympi-
sagt, zeigt er zugleich, an welchem Modell die Veränderung schen Spiele (und mit der exzessiven Popularisierung des
sich zu orientieren hat. An ihm ist ablesbar, wie Sein und Fußballs in Europa und Südamerika) setzt sein Siegeszug
Vorbildlichsein konvergieren. Jede der klassischen Statuen ein, dessen Ende kaum abzusehen ist, es sei denn, die aktuelle
war eine petrifizierte oder in Bronze gegossene Lehrbefugnis Dopingkorruption wäre als Indiz eines bevorstehenden Zu-
in ethischen Angelegenheiten. Was man den Platonismus sammenbruchs zu deuten - freilich weiß heute niemand, was
nannte, ansonsten eher eine ungriechische Affaire, konnte an die Stelle des Athletismus treten könnte. Dem seit I900
in Griechenland nur insofern eine Heimstätte finden, als die explodierenden Sportkult kommt eine überragende geistes-
sogenannten Ideen dort bereits unter der Form von Statuen geschichtliche, besser: ethik- und askesegeschichtliche Be-
eingebürgert waren. Die platonische Liebe war als Trainings- deutung zu, weil sich in ihm ein epochaler Akzentwandel
affekt zwischen den somatisch Vollendeten und den Anfän- im Übungsverhalten manifestiert - eine Transformation, die
gern bei den Übungen schon eine Weile vor Platon populär man am besten als Re-Somatisierung bzw. als Entspirituali-
verankert, und dieser Eros wirkte in bei den Richtungen, vom sierung der Askesen beschreibt. In dieser Hinsicht ist der
Vorbild auf seinen Nacheiferer ebenso wie vom Begehrenden Sport die expliziteste Verwirklichung des Junghegelianismus,
Der Planet der Übenden 1 Der Befehl aus dem Stein

der philosophischen Bewegung, deren Schlüsselwort »Auf- Gib deine Anhänglichkeit an bequeme Lebensweisen auf-
erstehung des Fleisches im Diesseits « gelautet hatte. Von den zeige dich im G ymnasium (gymnos, nackt), beweise, daß dir
beiden großen Ideen des 19. Jahrhunderts, dem Sozialismus der Unterschied zwischen Vollkommenem und Unvollkom-
und dem Somatismus, war offensichtlich nur di e letztere all- menem nicht gleichgültig ist, führe uns vor, daß Leistung -
gemein durchsetzbar, und man braucht kein Prophet zu sein, Exzellenz, arete, virtu - für dich keine Fremdworte geblieben
um zu behaupten, daß das 21. Jahrhundert noch mehr als das sind, gib zu, daß für dich Motive zu neuen Anstrengungen
20. ihr ganz und gar gehören wird . existieren! Vor allem: Gewähre dem Verdacht, der Sport sei
Nach dem Gesagten scheint es mir nicht abwegig, Rilke eine Sache für die Dümmsten, nur soviel Raum, wie ihm zu-
eine Teilhabe an der somatischen und athletischen Renais- kommt, mißbrauche ihn nicht als Vorwand zum Weiterdrif-
sance zuzusprechen, obschon sein Bezug zu ihr naturgemäß ten in deiner gewohnten Verwahrlosung, mißtraue dem Phi-
ein indirekter und über Artefakte, namentlich die oben erläu- lister in dir, der meint, du seist, wie du bist, schon ziemlich in
terte Kategorie der »Dinge«, vermittelter war. Immerhin hat Ordnung! Höre die Stimme aus dem Stein, widersetze dich
Rilke aus seiner Angeregtheit durch Nietzsche kei n Geheim- nicht dem Appell zur Form! Ergreife die Gelegenheit, mit
nis gemacht, ebenso hat er - etwa in dem Brief des jungen einem Gott zu trainieren!
Arbeiters S - die zeitgemäße Rückforderung der Sexualität ge-
gen die verkrüppelnde Tradition des christlichen »Triebver-
zichts« auf seine Fahne geschrieben.

Die Gegenwart des athletischen Mana in dem noch immer


leuchtenden und lehrbefugten Torso beinhaltet ein Element
von Orientierungsenergie, die ich - auch wenn der Ausdruck
fürs erste befremdlich scheinen kann - als Trainerautorität
bezeichnen möchte. In dieser Stellung und Eigenschaft wen-
det er sich mit einer unverkennbar sportethisch gefärbten
Ansprache an die Leibes- und Lebensschwächlinge gegen-
wärtiger Tage. Der Satz: »Du mußt dein Leben ändern!«, ist
jetzt als Refrain einer Sprache des In-Form-Kommens zu
hören. Er rechnet zu einer neuen rhetorischen Gattung,
dem Coach-Diskurs, der Kabinenstandpauke des Trainers
an eine formschwache Mannschaft. Wer mit Mannschaften
redet, muß jeden Einzelnen ansprechen, als spräche er zu
ihm allein. In Gesellschaft können solche Reden nicht gedul-
det werden, für Mannschaften sind sie konstitutiv.

5 Geschrieben im Februar 1921, posthum veröffentlicht 1933 ·


2 Ferner Blick auf den asketischen Stern 53
tor der Genealogie der Moral ist philosophisch der aufmerk-
samste Zeitgenosse der Prozesse, die unter den oben einge-
2 FERNER BLICK AUF DEN ASKETISCHEN STERN
führten Begriff »somatische oder athletische Renaissance« zu
NIETZSCHES ANTIKEPROJEKT
fassen sind. Um von deren Stoß- und Zugrichtung ein ange-
messenes Bild zu gewinnen, ist eine Relektüre seiner Schrif-
ten zur Lebenskunst unumgänglich, und dabei drängt sich die
Der Ausdruck "Spätrenaissance«, den ich zur Charakterisie- Frage nach dem wahren Datum von Nietzsches intellektuel-
rung des immer noch zu wenig verstandenen, nach 1900 auf- ler Existenz aus starken sachlichen Motiven auf.
gebrochenen Sportkultphänomens vorgeschlagen habe, er- Daß der Autor sich selber gelegentlich als einen Renais-
weist sich als hilfreich, wenn es darum geht, die Intervention sancemenschen empfunden hat, den es in eine falsche Epoche
Nietzsches inmitten der Diskurse der in den Modernismus verschlagen hatte, darf man ihm ohne Nachprüfung glauben.
umschlagenden Aufklärung zu datieren. Tatsächlich muß je- Worauf es in unserem Kontext ankommt, ist nicht der Sinn
der Versuch, Nietzsehe zu verstehen, mit einer Reflexion für eine Wahlvergangenheit oder das Heimweh nach einem
über Nietzsches Datum beginnen. Es genügt bei diesem Den- verflossenen Goldenen Zeitalter für Kunst und Rücksichts-
ker nicht, auf seine Geburts- und Sterbedaten zu schauen, um losigkeit. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß Nietz-
zu wissen, wann er gelebt und gedacht hat. Zu den Enormitä- sehe selbst Akteur in einem realen Renaissancegeschehen
ten dieses Autors gehört es, daß es nicht gelingt, ihn als das war, das er wohl nur deswegen nicht als solches identifizieren
Kind seiner Zeit festzustellen. Natürlich kann man das Zeit- konnte, weil sein Begriff von Renaissance noch zu sehr kunst-
typische in seinem Werk leicht dingfest machen. Es läßt sich historisch befangen blieb. Nicht umsonst hatte der junge
zeigen, wie er als Künstler den Übergang von einer bieder- Nietzsehe zu den intensivsten Lesern von Jac ob Burckhardts
meierlich depotenzierten Romantik zu einer spätromantisch epochenmorphologischem Meisterwerk Die Kultur der Re-
gefärbten Moderne vollzieht, als Publizist den Sprung vom naissance in Italien (1860) gehört, einem Werk, in dem der
Wagnerismus zu einem prophetischen Elitismus, als Denker Historiker eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten zu
den Stellungswechsel vom symbolistischen Spätidealismus einem einzigen Wandgemälde zusammengefaßt hat. Vor die-
zum perspektivischen Naturalismus - in Namen ausge- sem Riesenbild zurücktretend, konnte der Rezipient des spä-
drückt: von Schopenhauer zu Darwin. Wäre an Nietzsehe ten 19. Jahrhunderts kaum anders, als sich nach den vergange-
nur das bedeutsam, was seiner Epoche tributpflichtig blieb, nen Zeiten zu sehnen und sich selbst an einer passenden Stelle
so hätte die Rezeption seines Werks spätestens 1914 aufge- in das Gemälde zu projizieren. Alles spricht dafür, daß Nietz-
hört - an dem Wendedatum, seit welchem die Modernen ein sehe solche Übungen nicht fremd waren. Er könnte sich ins
für alle Mal andere Sorgen haben - schon 1927 erhebt Hei- Heerlager Castruccio Castracanis versetzt haben, um heroi-
degger die »anderen Sorgen« in den Rang der Sorge über- schen Vitalismus aus der Nähe zu erleben, er könnte am
haupt, der Sorge sans phrase. Lungotevere spazierengegangen sein, von dem träumerischen
In Wahrheit haben Nietzsches Impulse erst im Zeitalter Vorsatz erfüllt, ein Cesare Borgia der Philosophie zu werden.
der »anderen Sorgen« sich zu entfalten begonnen, und ein Gleichwohl hätte es für den Wanderer von Sils Maria ge-
Ende der Entfaltungsarbeit läßt sich nicht absehen. Der Au- nügt, das kunsthistorisch verengte Schema von Renaissance
54 Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern 55
1
fallenzulassen und zu einem prozeßtheoretischen Renais- schichte in die Arena der Kämpfe um den wahren modus
sancebegriff überzugehen: So wäre er unvermeidlich zu vivendi der Modernen versetzt. Nietzsche in diese Arena
dem Schluß gelangt, das Zeitalter der »Wiedergeburt« sei kei- zu plazieren heißt ihn fürs erste richtig datieren.
neswegs mit den Kunst- und Kulturereignissen des 15. und Mit dieser Ausweitung der Renaissance-Zone ist aber
16. Jahrhunderts erledigt. Aus prozessualer Sicht hätte sich nicht mehr als ein erster Schritt geleistet. Bliebe man bei
Nietzsehe selbst im aktuellen Drehpunkt einer fortgehenden ihm stehen, hätte man Nietzsche allenfalls zur Hälfte richtig
Renaissance erkennen können, die eben im Begriff war, ihre umdatiert. Man hätte ihm zwar Gerechtigkeit widerfahren
bildungsbürgerlichen Definitionen zu sprengen. Diese Bewe- lassen, indem man seine Gegenwart einer Vergangenheit sei-
gung hatte sich, durch die Vermittlung der Aufklärung, von ner Wahl einverleibte. Was jedoch seine radikalere »Chrono-
einer Liebhaberei winziger alphabetisierter Eliten mitsamt politik« angeht, sein Bestreben, aus der Neuzeit als ganzer
ihren Sekretären, von einer prunkvollen Spielerei fürstlich- auszubrechen, hätte man ihn nicht wirklich ernst genommen.
großkaufmännischer Kunstförderer mitsamt ihren meisterli- In diesem Ausbruchsversuch verbirgt sich die um vieles grö-
chen Lieferanten (die ein erstes »Kunstsystem « etablierten6 ) ßere Provokation und der um vieles heftigere Denkanstoß.
in eine nationale, eine europäische, eine planetarische Ange- Zu dessen Bewältigung reicht auch der seit einer Weile ge-
legenheit verwandelt. Wollte die Renaissance von den Weni- läufige Umdatierungsvorschlag nicht aus, dem zufolge
gen auf die Vielen übergreifen, so mußte sie ihr humanisti- Nietzsche nicht in die Moderne, sondern in die Postmoderne
sches Gewand ablegen und sich als Wiederkehr der antiken als einer von deren Gründervätern gehöre. In Wahrheit ist
Massenkultur offenbaren. Die eigentliche Renaissancefrage - Nietzsches Position im Rahmen der Alternative von modern
in Ausdrücken der praktischen Philosophie reformuliert -, und postmodern nicht zu charakterisieren, ja, sie wird auf
nämlich: ob es für uns neben und nach dem Christentum an- diesem Feld nicht einmal sichtbar. Nietzsches Aufbruch in
dere Lebensformen geben könne und dürfe, und zwar vor eine ihm gemäße Epoche führt ihn nicht, wie man vermuten
allem solche, deren Muster aus der griechischen und römi- wollte, in eine Ära »nach der Moderne«, was immer das hei-
schen (vielleicht sogar aus der ägyptischen oder indischen) ßen mag. Was ihm vorschwebt, ist keine Modernisierung der
Antike schöpfen -, diese Frage also war im 19. Jahrhundert Moderne, kein Fortschritt über die Fortschrittszeit hinaus. Er
kein Geheimdiskurs und keine akademische Etüde mehr, betreibt auch keineswegs die Auflösung der einen Geschichte
sondern eine Epochenpassion, ein unausweichliches pro no- in die vielen Geschichten, wie sie kritischen Geistern plausi-
bis. Deswegen muß man sich vor dem Fehlschluß hüten, das bel erschien, die während des späteren 20. Jahrhunderts an
Thema »Lebensreform«, das seit den Romantikern und den der Selbstabklärung der Aufklärung arbeiteten. Nietzsche
Frühsozialisten in der Luft lag, allerdings erst nach 1900 auf geht es um eine radikale Allochronie, eine prinzipielle An-
den Gipfel seiner Ausstrahlung gelangte, für eine sektiereri- derszeitigkeit inmitten der Gegenwart.
sche Schrulle zu halten - mit den »Reformhäusern« als sym- Sein eigentliches Datum ist darum die Antike - und weil es
pathisch altmodischem Relikt. Lebensreform ist vielmehr das Antike in moderner Zeit nur in der Form der Wiederholung
Renaissanceprogramm selbst, aus der bürgerlichen Kunstge- geben kann: die Neo-Antike. Das neo-antike Altertum, in das
sich Nietzsehe selbst datiert, will kein bloßes Programm sein,
6 Vgl. Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, 2 Bände, Köln 2005 . das sich nach heutigen Bedürfnissen auf die Tagesordnung

l
Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern 57
setzen ließe. Eine anberaumte Antike widerspräche Nietz- nach und neben den christlichen Lebens- und Lebensform-
sches Intentionen, weil ihre Vormerkung auf der heutigen definitionen zu entwickeln. Es geht von Nietzsche her gese-
Agenda selbst einen unwillkommenen Modernismus bedeu- hen nicht um die Nachahmung antiker Muster, sondern, vor
tete. Tagesordnungen liefern die Arbeitsformen, unter denen allen inhaltlichen Wiederbelebungen, um die Freilegung der
die Moderne ihre Schritte auf der Zeitlinie in die Zukunft Antike als Modus einer nicht-geschichtlichen, nicht-vor-
anordnet, gleich, ob man sie als ein erfülltes oder leeres Vor- wärtsgerichteten, nicht-progressiven Zeit. Dies verlangt nicht
wärts deutet. Was Nietzsehe im Sinn hat, ist keine Wieder- weniger als die Suspension der christlichen Kulturzeit, gleich,
holung antiker Muster nach dem Vorbild der Mode, deren ob diese als apokalyptische Endbeschleunigung vorgestellt
Altertum jeweils nur ein paar Jahre zurückliegt; die Frage, wird oder als geduldige Pilgerreise durch die Welt - bezie-
ob Moden in Jahrzehnten oder in Jahrtausenden rotieren, hungsweise als kirchenpolitisch kluge Kombination beider
spielt für ihn keine Rolle. Sein Konzept von Allochronie - Modi. Daß die aufklärerische Kulturzeit, die Fortschrittszeit
anfangs noch schüchtern als »Unzeitgemäßheit« eingeführt, und die Kapitalzeit von dieser Suspension mitbetroffen sind,
später zum Austritt aus der Moderne radikalisiert - beruht versteht sich von selbst.
auf der so suggestiven wie phantastischen Idee, daß die Anti- Allein in diesem Zusammenhang hat es Sinn, noch einmal
ke keine von nachkommenden Zeiten inszenierten Wieder- auf Nietzsches übererregte Auseinandersetzung mit dem
holungen nötig hat, weil sie »im Grunde« ständig aus eigener Christentum einzugehen. Sie bildet aus heutiger Sicht ein
Macht wiederkehrt. Anders gesagt: Die Antike - oder das eher unangenehmes Kapitel, zu dem man nur zurückkehrt,
Antike - stellt keine überwundene, allein im kollektiven Ge- weil Gründe dazu motivieren, die stärker wirken als die Be-
dächtnis repräsentierte und von der Bildungswi llkür zitierba- denken. Man könnte es, nicht zuletzt aus Sympathie für den
re Phase der Kulturentwicklung dar. Sie bildet vielmehr eine Autor, als Episode einer fin-de-siecle-Neurose überblättern,
Art von dauernder Gegenwart, eine Tiefenzeit, eine Natur- wenn es nicht zugleich das Vehikel von Nietzsches wertvoll-
zeit, eine Zeit des Seins, die unter dem Gedächtnis- und In- sten und zum Bleiben bestimmten Einsichten wäre. Die anti-
novationstheater der Kulturzeit weiterläuft. Könnte man zei - christliche Polemik zeigt ihre produktive Seite, wenn man sie
gen, wie die Wiederkehr die Wiederholung schlägt und wie in den Rahmen von Nietzsches »Antike-Projekt« versetzt,
der Kreis die Linie zum Narren hält, hätte man nicht nur die das, wie gesehen, einem regenerativ gemeinten Rückgang
Pointe von Nietzsches entscheidender Selbstdatierung be- vor die christliche Ära (und einem Ausbruch aus dem Schema
griffen: Man hätte auch die Voraussetzung erfüllt, unter der Antike-Mittelalter-Neuzeit) gewidmet ist. Vor das Christen-
wir uns ein Urteil darüber bilden können, ob und in welchem tum zurückgehen wollen: das heißt h~er, sich vor einem
Sinn Nietzsehe unser Zeitgenosse ist und ob und inwiefern modus vivendi situieren, dessen Verbindlichkeit für uns ge-
wir seine Zeitgenossen sind oder sein wollen. brochen ist und nur noch in uneigentlichen Adaptationen, in
kulturchristlichen Übersetzungen und mitleidsethischen
Soviel dürfte deutlich geworden sein: Der Ausdruck »Re- (auch mitleidspolitischen, inklusive selbstmitleidspoliti-
naissance« bleibt fruchtbar und anspruchsvoll nur, solange schen) Umstilisierungen wirksam scheint. Wenn Nietzsehe
mit ihm eine folgenschwere Idee bezeichnet wird: Ihr zufolge vor die Kulturzeit des Christentums zurückspringt, nimmt
ist es den Europäern auferlegt, Leben und Lebensformen er keineswegs für dessen humanistische Reform Partei - diese
Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern 59
war das Kompromißprogramm der europäischen Neuzeit ge- zeigt, die Antithese mit einer nahezu karikaturalen Schärfe zu
wesen, die in einer mehrhundertjährigen literarischen, päd- präsentieren. Die Gesunden - ein Wort, das längst zahllosen
agogischen und philanthropischen Arbeit den riesenhaften Dekonstruktionen unterliegt 7 - sind jene, die sich, weil sie
Zwitter »christlicher Humanismus « erschuf - von Erasmus gesund sind, mit guten Askesen steigern wollen; die Kranken
bis T. S. Eliot, von Comenius bis Momessori, von Ignatius bis jene, die, weil sie krank sind, mit schlimmen Askesen auf
Albert Schweitzer. Was il1l1 beschäftigt, betrifft nicht die Rache sinnen.
Bedingungen der Möglichkeit eines Amalgams, es sind die Man kann dies nicht anders als eine haarsträubende Sim-
Voraussetzungen des radikalen Bruchs mit dem System der plifizierung der Sachlage nennen. Nichtsdestoweniger
Halbheiten. Der Ausdruck »Christentum« meInt 1m kommt man um ein Zugeständnis nicht herum: Mittels dieser
nietzscheanischen Gebrauch nicht einmal in erster Linie die gehämmerten Thesen wird etwas ans Licht gehoben, was man
gleichnamige Religion, er zielt eher, einem Codewort gleich, als eine der größten Entdeckungen der Geistesgeschichte
auf einen bestimmten religiös-metaphysisch geprägten Habi- würdigen muß. Nietzsehe ist nicht mehr und nicht weniger
tus, eine asketisch (im büßerischen und verzichtenden Sinn) als der Schliemann der Askesen. Er hatte völlig recht, wenn er
definierte Stellung zur Welt, eine unglückliche Form des Le- inmitten der Grabungsstätten, umgeben von psychopathi-
bensaufschubs, der Jenseitsorientierung und des Zerwürfnis- schem Schutt der Jahrtausende und von den Trümmern mor-
ses mit den säkularen Tatsachen - Nietzsehe hat sich hierüber bider Paläste, die triumphierende Miene eines Entdeckers
in seinem Antichrist mit dem Furor eines Mannes ausgelassen, aufsetzte. Wir wissen heute, daß er an der richtigen Stelle
der die Eckpfeiler der westlichen Religionsüberlieferung gegraben hatte, doch was er ausgrub, war, um im Bild zu
und damit auch der eigenen Existenz zum Einsturz bringen bleiben, nicht das Troja Homers, sondern eine spätere
wollte. Schicht. Auch war ein Gutteil der Askesen, auf die er pole-
Mit dem Gesagten kann ich meine These stützen, die den misch Bezug nahm, gerade kein Ausdruck von Lebensvernei-
Zusammenhang dieser Überlegungen mit dem Thema des nung und metaphysischem Muckertum, es handelte sich viel-
Buchs herstellt: In seiner Eigenschaft als Akteur und Medium mehr um einen Heroismus im spirituellen Incognito. Nietz-
einer anders begriffenen Antike wird Nietzsehe zum Entdek- sches punktuelle Fehldeutungen vermögen die Bedeutung
ker der asketischen Kulturen in ihrer unermeßlichen histori- seiner Entdeckung nicht zu entwerten. Mit seinem Fund steht
schen Ausgedehntheit. Hier spielt die Beobachtung eine Rol- Nietzsche im guten Sinn des Worts fatal am Beginn der mo-
le, daß das Wort askesis (neben dem Wort meUte, das auch der dernen, der nicht-spiritualistischen Asketologien mitsamt ih-
Name einer Muse ist) im klassischen Griechischen schlicht ren Annexen aus Physiotechniken und Psychotechniken, aus
»Übung« oder »Training« bedeutet. Im Gefolge seiner neuen Diätologien und selbstbezüglichen Trainings, mithin a11 der
Scheidung der asketischen Geister stößt Nietzsche nicht nur Formen selbstbezüglichen Übens und Arbeitens an der eige-
auf die fundamentale Bedeutung des übenden Lebens für die nen vitalen Form, die ich in dem Ausdruck »Anthropotech-
Ausbildung von Daseinsstilen oder »Kulturen«. Er legt den nik« zusammenziehe.
Finger auf die ihm zufolge für alle Moralen entscheidende
Verzweigung der Übungslebensformen in die Askesen der 7 Vgl. Aaron Antonovsky, Salutogenese: Zur Entmystifizierung von
Gesunden und die der Kranken, wobei er keine Bedenken Gesundheit, Tübingen 1997.
60 Der Planet der Übenden
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern 6I
Die Bedeutung des Impulses, der von Nietzsches neuer asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hoch-
Sicht auf die asketischen Phänomene ausgeht, dürfte kaum müthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Ver-
zu überschätzen sein. Durch seine Selbstverrückung in eine druss an sich, an an der Erde, an allem Leben gar nicht
»über-epochale« Antike, die unter jeder mittelalterlichen und loswürden und sich selber so viel Wehe anthäten als
modernen Nichtantike, auch unter jeder Zukunft wartet, er- möglich, aus Vergnügen am Wehetun: - wahrscheinlich
langte er das nötige Maß an Exzentrizität, um auf die eigene ihrem einzigen Vergnügen. «8
Zeit, und nicht nur auf sie, einen wie von außen kommenden Mit dieser Notiz präsentiert sich Nietzsche als Pionier einer
Blick zu werfen. Seine alternative Selbstdatierung erlaubte neuen Humanwissenschaft, die man als Kultur-Planetenkun-
ihm einen Absprung aus der Gegenwart, der ihm genug de bezeichnen könnte. Ihre Methode besteht in Beobachtun-
Sehkraft gab, um das Kontinuum der Hochkulturen, das drei- gen unseres Himmelskörpers mit Hilfe von Aufnahmen kul-
tausendjährige Reich der geistigen Übungen, der Selbstdres- tureller Formationen wie aus großer Höhe. Durch die neuen
suren, der Selbsterhöhungen und Selbstversenkungen, kurz- bild gebenden Abstraktionen wird das Leben der Erdbewoh -
um das Universum der metaphysisch codierten Vertikalspan- ner auf allgemeinere Muster hin abgesucht - hierbei tritt der
nungen, in einer unerhörten Synopse zu umspannen. Asketismus als eine geschichtlich gewachsene Struktur zuta-
Hier sind vor allem die Abschnitte aus dem moralkriti- ge, die Nietzsche ganz legitim eine »der breitesten und läng-
schen Hauptwerk Zur Genealogie der Moral zu zitieren, sten Thatsachen, die es giebt«, nennt. Diese »Tatsachen« ver-
die ihrem Gegenstand in einer Diktion von olympischer langen nach einer ihnen angemessenen Kartographie und
Deutlichkeit zu Leibe rücken. An der entscheidenden Stelle einer entsprechenden Erd- und Sachkunde. Nichts anderes
ist von den Übungsformen der Lebensverneinung oder will die Genealogie der Moralen sein. Die neue Wissenschaft
Weltmüdigkeit die Rede, welche nach Nietzsche für den von der Herkunft der Moralsysteme (und eo ipso der moral-
Gestaltkreis der kranken Askesen im ganzen charakteri- gesteuerten Lebens- und Übungsformen) ist die erste Gestalt,
stisch ist. unter der die Allgemeine Asketologie in Erscheinung tritt.
»Der Asket (des priesterlich-kranken Typs, P. SI.) be- Mit ihr beginnt die Explikationsgeschichte der Religionen
handelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich und Ethiken als anthropotechnischen Praxen.
rückwärts gehen müsse, bis dorthin, wo er anfängt; oder Man darf sich nicht durch die Tatsache ablenken lassen,
wie einen Irrthum, den man durch die That widerlege - daß Nietzsche in diesem Passus ausschließlich von den As-
widerlegen solle: denn er fordert, dass man mit ihm kesen der Kranken und ihrer Betreuer, der Priester, spricht.
gehe, er erzwingt, wo er kann, sei n e Werthung des Da- Der asketische Stern, den er sichtet, ist der Planet der Üben-
seins. Was bedeutet das? Eine solche ungeheuerliche den insgesamt, der Planet der hochkulturellen Menschen, der
Werthungsweise steht nicht als Ausnahmefall und Cu- Planet derer, die begonnen haben, ihrer Existenz unter ver-
riosum in die Geschichte des Menschen eingeschrieben: tikalen Spannungen in zahllosen mehr oder weniger streng
sie ist eine der breitesten und längsten Thatsachen, die es codierten Anstrengungsprogrammen Formen und Inhalte zu
giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde viel-
leicht die Majuskel-Schrift unseres Erden-Daseins zu
8 F. N., Zur G enealogie der Moral, Dritte Abh andlung: was bedeuten
dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Ideale? KSA 5, s.
362.
Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern

geben. Wenn Nietzsehe von dem asketischen Stern spricht, so sagen pathogogische Askese ankommt - die kunstgerechte
nicht, weil er lieber auf einem entspannteren G estirn geboren Selbstvergewaltigung einer Elite von Leidenden, kraft wel-
wäre. Sein Antike-Instinkt verrät ihm, daß jeder Himmels- cher sie befähigt wird, andere Leidende zu führen und Ge-
körper, den zu bewohnen sich lohnt, ein - recht verstanden - sunde zum Mit-Kranksein zu verleiten -, legen die letzteren
asketischer, ein von Übenden, von Aufstrebenden, von Vir- sich ihre Reglements nur darum auf, weil sie in ihnen das
tuosen bevölkerter Stern sein muß. Was ist für ihn Antike Mittel sehen, um als Denker und Schöpfer von Werken in
anders als ein Codewort des Zeitalters, in dem Menschen ihr Optimum zu gelangen. Was Nietzsehe das Pathos der
stark genug werden mußten für ein sakral-imperiales Bild Distanz nennt, 9 ist ganz der Scheidung der Askese-Geister
des Ganzen? Den großen Weltanschauungen der Antike gewidmet. Es soll »die Aufgaben aus einander halten« und die
war der Vorsatz inhärent, den Sterblichen aufzuzeigen, wie Übungen, mit deren Hilfe sich Erfolgreiche, Gute und Ge-
sie mit dem "Universum« in Harmonie zu leben vermögen, sunde erfolgreicher, besser und gesünder machen, von jenen
auch und gerade dann, wenn das Ganze ihnen seine Rätsel- Übungen trennen, welcher resolute Versager, Böswillige und
seite, seine Rücksichtslosigkeit gegen die Einzelnen zukehrte. Kranke sich auf Säulen und Kanzeln stellen, sei es um pervers
Was man die Weisheit der Alten nannte, war im wesentlichen erlangter Überlegenheitsgefühle willen, sei es, um sich von
ein tragischer Holismus, ein Sich-Einfügen in großes Ganzes, ihrem quälenden Interesse fürs eigene Kranksein und Schei-
das ohne Heroismus nicht zu erlangen war. Nietzsches Stern tern abzulenken. lo Unnötig zu betonen, daß die Opposition
sollte der Ort werden, dessen Einwohner, die männlichen von Gesund und Krank hier nicht bloß medizinisch zu ver-
zumal, das Gewicht der Welt von neuem ohne Wehleidigkeit stehen ist: Sie dient als Leitunterscheidung einer Ethik, die
tragen - der Maxime des Stoizismus gemäß, es komme allein das Leben mit der »crsten Bewegung« (»sei ein aus sich rol-
darauf an, sich für den Kosmos in Form zu halten. Etwas lendes Rad! «) dem Leben unter dem Vorrang der gehemmten
hiervon tauchte wenig später in Heideggers Lehre von der Bewegung überordnet.
Sorge wieder auf, unter deren Ruf sich die Sterblichen auf Durch die Erweiterung der moralhistorischen Perspekti-
den Lastcharakter des Daseins einzustellen haben - (die ven wird erkennbar, was die These von der athletischen und
Sterblichen sind nach 1918 in erster Linie die Verwundeten somatischen Renaissance besagt. Um die Wende vom 19. zum
und Nicht-Gefallenen, die sich als Anwärter für andere To- 20. Jahrhundert ist das Phänomen, das nach den Sprachrege-
desarten an anderen Fronten bereithalten sollen). Auf keinen lungen der Kunstwissenschaft die »Wiedergeburt der Antike«
Fall durfte die Erde die Anstalt bleiben, in der die Ressenti- hieß, in eine Phase eingetreten, die die Motive unserer An-
mentprogramme von Kranken und die Entschädigungskün- teilnahme an antiken, sogar frühantiken Kulturrelikten von
ste von Beleidigten das Klima bestimmen. Grund auf modifiziert. Es handelt sich dabei, wie gesehen,
Bei seiner Unterscheidung der Askesen setzte Nietzsche um den Rückgang in eine Zeit, in der das Ändern des Lebens
die von ihm mit bösem Blick durchleuchteten priesterlichen
Varianten auf der einen Seite scharf von den disziplinarischen 9 Ibid., S. 37I.
10Ibid., S. 382. Aus diesen Hinweisen hat Alfred Adler seinen indi-
Regeln der geistig Schaffenden, der Philosophen und Künst-
vidualpsychologischen Ansatz der Psychotherapie abgeleitet, bei
ler wie von den Exerzitien der Krieger und Athleten auf der dem die Neurose als kostspielige Hilfskonstruktion zur Sicherung
anderen Seite ab. Wenn es den erstgenannten auf eine sozu- der Überlegenheitstäuschung des Unterlegenen definiert wird.
Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern

noch nicht unter dem Kommando lebensverneinender Aske- ker dazu disponiert war, sich mit dem therapeutischen Sinn
sen stand. Diese »überepochale« Zeit kann ebensogut Zu- der negativen asketischen Ideale zu befassen als mit dem ath-
kunft genannt werden, und was ein Rückgang zu ihr zu sein letischen, diätologischen, ästhetischen, auch »biopolitischen«
scheint, ist auch als Sprung nach vorn zu denken. Die Art und Sinn der positiven Übungsprogramme. Er war zeitlebens
Weise, wie Rilke den Apollo-Torso erfährt, bezeugte dieselbe krank genug, um sich für Möglichkeiten der sinngebenden
Kulturwende, der Nietzsehe auf der Spur war, als er seine Überwindung von Krankheit zu interessieren, und luzide
Reflexionen über die Aufstellung der pri esterlichen, »bio- genug, um die überlieferten Sinngebungen des Sinnlosen ab-
negativen«, spiritualistischen Askesen bis zu dem Punkt vor- zulehnen. Daher verband sich bei ihm die widerwillige
antrieb, an dem der paradoxe Kampf des leidenden Lebens Hochachtung vor der Leistung asketischer Ideale in der bis-
gegen sich selbst sichtbar wurde. Indem er auf die asketolo- herigen Menschheitsgeschichte mit der Unwilligkeit, sie in
gischen Fundamente der höheren menschlichen Lebensfor- eigener Sache in Anspruch zu nehmen. Aus dieser Schwan-
men stieß, sprach er der »Moral « eine neue Bedeutung zu. Die kung zwischen der Anerkennung des gegen sich selbst Zwang
Mächtigkeit der Übungsschicht im menschlichen Verhalten übenden Verhaltens und der Skepsis gegen die idealistischen
ist weit genug gefaßt, um den Gegensatz von bejahenden und Überspannungen solcher Praxen ging bei ihm die neue Auf-
verneinenden »Moralen « zu überspannen. merksamkeit für den Verhaltensbereich Askese, Übung,
Um es noch einmal zu betonen: Diese Offenlegung »einer Sclbstbehandlung insgesamt hervor. Dessen Neubeschrei-
der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt«, betrifft bung in den Ausdrücken einer allgemeinen Theorie der An-
nicht allein die selbstquälerischen Ausgestaltungen des Um- thropotechniken steht jetzt an.
gangs mit sich selbst. Sie umspannt alle Varianten der »Sorge
um sich« ebenso wie alle Formen der Sorge um Angleichung Drei Punkte sind festzuhalten, die die Entdeckung des »aske-
an das Höchste. Im übrigen macht die Zuständigkeit der As- tischen Sterns« so reich an Konsequenzen wie an Problemen
ketologie, als allgemeine Übungstheorie, Habituslehre und machen. Zum einen: Nietzsches neuer Blick auf die Dimen-
Keimdisziplin der Anthropotechnik begriffen, nicht bei den sion Askese war erst in einer Zeit möglich geworden, in der
hochkulturellen Phänomen und den spektakulären Resulta- sich die Askesen post-spirituell somatisieren, die Manife-
ten geistiger oder somatischer Vertikalaufstiege (in die diver- stationen von Spiritualität dagegen auf post-asketische, diszi-
sesten Ausprägungen des Virtuosentums mündend) halt; sie plinferne und informelle Wege geraten. Die Entspiritualisie-
schließt jedes vitale Kontinuum, jede Gewohnheitsreihe, rung der Askesen ist vermutlich das umfassendste, seiner
jedes gelebte Nacheinander ein, das scheinbar formloseste Großformatigkeit wegen am schwersten wahrnehmbare,
Dahintreiben und die verwahrlosteste Entkräftung inbegrif- gleichwohl spürbarste und atmosphärisch mächtigste Ereig-
fen. nis in der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit. Im
Eine ausgeprägte Einseitigkeit läßt sich an Nietzsches spä- Gegenverkehr entspricht dem die Informalisierung der Spi-
ten Schriften nicht verkennen: Er hat seine asketologischen ritualität - begleitet von deren Vermarktung in entsprechen-
Entdeckungen nach der positiven Seite hin nicht mit demsel- den Subkulturen. Die Grenzwerte für beide Tendenzen lie-
ben Nachdruck verfolgt, den er bei seinen Erkundungen des fern die geistigen Landmarken des 20. Jahrhunderts: Für die
morbiden Pols an den Tag legte - ohne Zweifel, weil er stär- erste Tendenz steht der Sport, der zur Metapher der Leistung
66 Der Planet der Übenden 2 Ferner Blick auf den asketischen Stern

überhaupt geworden ist, für die zweite die populäre Neo- Zur Genealogie der Moral, woran sich das menschliche Le-
Mystik, diese devotio postmoderna, die das Leben der zeit- ben nach der Götterdämmerung noch orientieren könne,
genössischen Einzelnen mit unvorhersehbaren Blitzen inne- ganz mühelos. Die Vitalität, als somatische wie geistige ver-
rer Ausnahmezustände überzieht. standen, ist selbst das Medium, das ein Gefälle zwischen
Zum anderen: Auf dem asketischen Stern, nachdem er als Mehr und Weniger enthält. Sie hat daher das vertikale Mo-
solcher entdeckt ist, wird der Unterscrued zwischen denen, ment, das Aufstiege orientiert, in sich, sie braucht keine zu-
die etwas oder viel aus sich machen, und denen, die nichts sätzlichen externen oder metaphysischen Attraktoren. Daß
oder wenig aus sich machen, immer auffälliger. Dies ist eine Gott tot sein soll, macht in diesem Zusammenhang nichts.
Differenz, die in keine Zeit und keine Ethik paßt. Auch keine Mit oder ohne Gott kommt jeder nur so weit, wie seine Form
Soziologie kommt mit ihr zurecht. Im monotheistischen ihn trägt.
Zeitalter galt Gott als derjenige, der alles bewirkt und tut,
weswegen es den Menschen nicht zusteht, aus sich selbst Selbstverständlich war »Gott« in der Zeit seiner effektvoll-
etwas oder viel zu machen. In humanistischen Epochen run- sten kulturellen Repräsentation unmittelbar der überzeu-
gegen gilt der Mensch als derjenige, durch den alles bewirkt gendste Attraktor für Lebens- und Übungsformen, die »zu
und getan wird - dann aber hat er kein Recht mehr, nichts ihm« strebten - und dieses Zu-ihm war unmittelbar identisch
oder wenig aus sich zu machen. üb nun Menschen nichts aus mit "hinauf«. Nietzsches Sorge um die Rettung der Vertikal-
sich machen oder viel - sie begehen nach den überlieferten spannung nach dem Tod Gottes beweist, mit welchem Sinn
Logiken einen unerklärlichen und unverzeihlichen Fehler. für den Ernst der Sache er seine Aufgabe als »letzter Meta-
Immer gibt es einen Überschuß an Unterschieden, der sich physiker« ausfüllte, ohne daß ihm die Komik seiner Mission
in keines der vorgegebenen Systeme der Lebensauslegung entgangen wäre. Als Zeuge für die Vertikale ohne Gott hatte
einfügt. In einer Welt, die Gott gehört, macht der Mensch er seine große Rolle gefunden. Daß er zu seiner Zeit keinen
aus sich zuviel, sobald er den Kopf hebt; in einer Welt, die Rivalen fürchten mußte, gibt seiner Wahl recht. Sein An-
den Menschen gehört, machen diese aus sich regelmäßig zu- spruch, die Höhe des Toten freizuhalten, war eine Passion,
wenig. Daß der Grund der Ungleichheit zwischen den Men- die für nicht wenige Leidensgenossen im 20. Jahrhundert ver-
schen in ihren Askesen liegen könnte - in der Verschiedenheit ständlich blieb: Dies motiviert die bis heute virulente An-
ihrer Stellungnahmen zu den Herausforderungen des üben- teilnahme vieler Leser an Nietzsches Existenz und deren un-
den Lebens: dieser Gedanke ist in der Geschichte der Nach- leb baren Widersprüchen. Hier ist für einmal das Epitheton
forschungen über die letzten Ursachen der Verschiedenheit »tragisch« am Platz. Der Theomorphismus seines Seelenle-
zwischen Menschen nie formuliert worden. Geht man dieser bens hielt den eigenen Gotteszerstörungsübungen stand.
Vermutung nach, eröffnen sie buchstäblich unerhörte, weil Dem Autor der Fröhlichen Wissenschaft war bewußt, inwie-
ungedachte Perspektiven. fern auch er noch fromm war. Zugleich verstand er schon
Zuletzt: Wenn die athletische und somatische Renaissance genug von den Spielregeln, die auf dem asketischen Stern
bedeutet, daß entspiritualisierte Askesen wieder möglich, gelten, daß ihm klar sein mußte, alle Aufstiege beginnen beim
wünschenswert und vital plausibel sind, dann beantwortet Basislager des gewöhnlichen Lebens. Seine Fragen: Transzen-
sich Nietzsches aufgeregte Frage am Ende seiner Schrift dieren, aber wohin?, aufsteigen, aber in welche Höhe?, hätten
68 Der Planet der Übenden

sich von selbst beantwortet, wäre er ruhig auf dem Boden der
asketischen Tatsachen geblieben. Er war zu krank, um seine 3 NUR KRÜPPEL WERDEN ÜBERLEBEN
wichtigste Erkenntnis zu befolgen: daß es die Hauptsache im UNTHANS LEKTION
Leben sei, die Nebensachen ernst zu nehmen. Wo Nebensa-
chen erstarken, wird die Gefahr, die von der Hauptsache aus-
geht, gezügelt. Im Nebensächlichen höher steigen heißt dann
in der Hauptsache vorankommen. Daß das Leben mit dem Zwang verknüpft sein kann, starken
Widerständen zum Trotz voranzukommen, gehört zu den
Grunderfahrungen der Gruppe von Menschen, die man frü-
her mit einer sorglosen Deutlichkeit die Kruppel nannte, ehe
sie von jüngeren, vorgeblich humaneren, verstehenderen,
respektvolleren Zeitgeistern in die Behinderten, die Anders-
begabten, die Sorgenkinder und schließlich einfachhin die
»Menschen«!! umgetauft wurden. Wenn ich im folgenden
Kapitel den älteren, heute schon taktlos wirkenden Audruck
weiter verwende, so ausschließlich aus dem Grund, weil er im
Wortschatz der Zeit, an die ich in diesen Sondierungen erin-
nere, seinen angestammten Platz hatte. Gäbe man ihn auf, um
eine Sensibilität, vielleicht auch nur eine Sensiblerie zu be-
dienen, würde mit ihm ein System von unentbehrlichen Be-
obachtungen und Einsichten verschwinden. Ich möchte im
folgenden die ungewohnte Konvergenz von Mensch und
Kruppel in den Diskursen der Generation nach Nietzsche
herausstellen, um weitere Aufschlüsse über den Strukturwan-
del der menschlichen Steigerungsmotive in neueren Zeiten zu
gewinnen. Hier wird sich zeigen, in welchem Maß die Rede
vom Menschen im 20 . Jahrhundert auf krüppelanthropologi-
schen Prämissen fußt - und wie die Kruppelanthropologie
spontan in eine Trotzanthropologie übergeht. In ihr erscheint
der Mensch als das Tier, das vorankommen muß, weil es von
etwas behindert wird.

11 Zur Erinnerung: Die bekannte Initiative der Deutschen Behinder-


tenhilfe Aktion Sorgenkind, 1964 gegründet, wurde unter dem
Druck des correctness-Zeitgeists ab März 2000 in Aktion Mensch
umbenannt.
7° D er Planet der Übenden 3 Nur Kruppel werden überl eben 7I
Das Verbum »fußen « gibt mir das Stichwort zu dem Refe- batischen Unwahrscheinlichkeit zuteil wurde. Es dauerte
rat, mit dem ich die von Nietzsche angeregten Erkundungen nicht lange, und ein Variete-Unternehmer begann sich für Un-
auf dem Stern der Übenden - und in gewisser Weise auch das than zu interessieren. Ab 1868 begab sich der noch Unmün-
von Rilke eingeführte Nachdenken über Torsi - fortsetze . Im dige auf Konzertreisen, die ihn nach Zwischenstationen in der
Jahr I 92 5, zwei Jahre vor Heideggers Sein und Z eit, drei Jahre deutschen Provinz in die Hauptstädte Europas führten, später
vor Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos, erschien auch nach Übersee. Er spielte unter anderem in Wien, wo er
in Lutz' Memoirenbibliothek, Stuttgart, ein Buch unter dem den Kapellmeistern Johann Strauß und Michael Zierer vorge-
zugleich erheiternden und schockierenden Titel Das Pedi- stellt wurde. In München beeindruckte er den ungarisch-
skript. Aufzeichnungen aus dem Leben eines Arm/osen, mit bayerischen Militärkapellmeister und Walzerkönig Josef
JO Bildern. Es stammte aus der »Feder« von earl Hermann Gungi, indem er ihm dessen soeben komponierten Hydropa-
Unthan, r848 in Ostpreußen geboren, 1929 gestorben - de then- Walzer vorspielte; Gungl war insbesondere über die
facta war es unter Verwendung eines Griffels mit dem Fuß Ausführung der Doppelgriffe mit den Zehen fassungslos .
auf einer Schreibmaschine getippt. Unthan verdient ohne Nach einem Konzert im »überfüllten Redoutensaal« von Bu-
Zweifel einen Platz im Pantheon der Existenzvirtuosen wider dapest soll ihm Franz Liszt, der in der ersten Reihe gesessen
Willen. Er gehört zu denen, die viel aus sich zu machen wuß- hatte, zu seinem virtuosen Spiel gratuliert haben. Er habe ihm
ten, obwohl angesichts der Startbedingungen alles dafür »auf die Wange und Schulter« geklopft und ihm seine Aner-
sprach, daß er nichts oder wenig aus sich würde machen kön- kennung bezeugt. Unthan bemerkt hierzu: »Was war es, das
nen. Im Alter von sechs oder sieben Jahren entdeckte der mich an der Echtheit seiner Begeisterung zweifeln ließ? Wo-
armlos geborene Junge zufällig die Möglichkeit, auf einer durch erschien sie mir so gemacht?«12 Man begreift: Mi t dieser
Geige zu spielen, wenn diese an einem auf dem Boden ste- Notiz rührte Unthan, zur Zeit der Abfassung des Pediskripts
henden Kasten fixiert wurde. Mit einer Mischung aus Naivi- schon über Siebzig, nicht nur an Unwägbarkeiten in den Be-
tät und Zähigkeit vertiefte er sich in die Verbesserung der von ziehungen zwischen älteren und jüngeren Virtuosen. Die Fra-
ihm gefundenen Art und Weise des Geigenspiels mit den gen, ein halbes Jahrhundert nach der geschilderten Szene hin-
Füßen. Der rechte Fuß hatte dabei die Rolle der Hand, die geschrieben, hatten Bedeutung als Symptom: Sie erinnerten
die Finger auf die Seiten setzt, zu übernehmen, während der den Autor an eine ferne Zeit, in der die Illusion, er könne als
linke Fuß den Bogen führte. Musiker und nicht als Kuriosum ernst genommen werden,
Der junge Mann betrieb seine Übungen mit solcher Beharr- noch nicht erloschen war. In Liszts väterlich mitleidiger Geste
lichkeit, daß er nach dem Besuch des Gymnasiums zu Königs- spürte der Verfasser noch nach fünfzig Jahren den kalten
berg in das Konservatorium von Leipzig aufgenommen wur- Hauch der Ernüchterung: Liszt, selber ein einstiges Wunder-
de. Dort erstieg er, ein enormes Übungspensum absolvierend, kind, wußte aus Erfahrung, welche Art von Leben Virtuosen
beachtliche Grade von Virtuosität. Sein Repertoire erweiterte jeder Art bevorsteht. Um so mehr muß er geahnt haben, was
sich und schloß bald auch artistische Höchstschwierigkeiten ein junger Mann vor sich hat, der als Sieger über eine Laune der
ein. Naturgemäß hätte das Geigenspiel des Behinderten, wäre Natur durch die Welt reisen wird.
es in der üblichen Form praktiziert worden, kaum von ferne so
viel Beachtung finden können, wie ihm aufgrund seiner akro- 12 C. H . Unthan, Das Pediskript, a. a. 0 ., S. 73.
Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 73

Ein weit verbreitetes Klischee von Biographen besagt, ihr Weiblichkeiten jeden Alters 1873 in Havanna, ȟber allem lag
Held habe, oft erst nach mühevollen Anfangsjahren, »sich ein Hauch des Verfalls «, auch Negerinnentänze: »wir sahen
die Welt erobert«. Unthan greift im Modus seiner Selbstdar- das denkbar Unerlaubteste «; ein Eidechsenessen in Mexico;
stellung diese Wendung auf, indem er, Anekdote an Anekdo- »ausverkauft« in Valparaiso, »die Sonne senkte sich langsam
te reihend, die Saga seiner erfolgreichen Jahre als einen lang- in den Stillen Ozean. Als würde ihr das Scheiden schwer .. .«
gestreckten Reisebericht vorträgt, von Großstadt zu Groß- Sieben Stunden im Tempo geschwommen, »ohne mich auf
stadt, von Kontinent zu Kontinent. Er rapportiert die den Rücken zu wenden«, heftiger Sonnenbrand infolgedes-
Geschichte eines langen Lebens in ständiger Bewegung: auf sen; Begegnung mit einem armlosen Portraitmaler in Düssel-
Cunard-Dampfern, in Eisenbahnen, in Hotels jeder Katego- dorf, einem Schicksalsvetter, der mit einem Bein malte - »des
rie, in prestigeträchtigen Konzerthallen, in schäbigen Eta- Fragens und Antwortens war kein Ende«, »er war voller Le-
blissements. Den größten Teil seiner Karriere dürfte er auf bensfreude und Übermut. Unser Plaudern ging dennoch zu-
suspekten Varietebühnen zugebracht haben, von deren Ram- meist in die Tiefe. « Der Tod der Mutter: »in mir betete es, was
pen er dem verblüfften Publikum nach dem Ende seiner Dar- es betete, wußte und weiß ich nicht. « Auftritte im Orient, wo
bietungen »Kußfüße«13 zuwarf. Das Grundgeräusch von die Menschen ausgeprägter sind, »die Aufzählung meiner
Unthans öffentlichem Leben scheint der Beifallsjubel der krassesten Erlebnisse allein würde Bücher füllen «. Enttäu-
von seinen Auftritten Überraschten gewesen zu sein. Verfaßt schung am Grab Christi, wo sich »das verworfenste Gelichter
sind Unthans »Aufzeichnungen«, die weder als Autobiogra- der Erde zusammengefunden« zu haben schien; Verhaftung
phie noch als Memoiren zu bezeichnen sind, sondern am in Kairo, Nikotinvergiftung in Wien, Gewehrschießen mit
ehesten unter der Rubrik Merkwürdigkeiten zu registrieren dem Fuß zu St. Petersburg in Anwesenheit des Zaren Alex-
wären, in einer zugleich naiven und sentimentalen Sprache, ander IH., Gastspiel in Managua, »die Stadt Lean trug das
die von fertigen Redewendungen durchsetzt ist, angelehnt an Gepräge des Rückganges «, ein Komet über Kuba; Mit-
die Diktion des Erlebnisaufsatzes aus der Mitte des 19. Jahr- wirkung an einem Film mit dem Titel Mann ohne Arme.
hunderts, gleichsam mit der Zunge im Mundwinkel nieder- An Bord der »Eibe« nach New York, als Mitreisender Ger-
geschrieben. hart Hauptmanns, der eine kurze Konversation mit dem Ar-
Auf jeder Seite des Pediskripts bringt der Verfasser seine tisten führt . Dann die Neue Welt: »der Amerikaner bringt
Überzeugung zum Ausdruck, sein Lebenserfolg verrate sich Außergewöhnlichem ein anregendes Verständnis entgegen«.
in einer überquellenden Sammlung erlebter pittoresker Situa- »>Sie sind der glücklichste Mensch, den ich kenne<, sagte je-
tionen. Wie ein Reiseschriftsteller des bürgerlichen Zeitalters mand, den sie John D. nannten. >Und Sie mit Ihrem Geld,
breitet U nthan seine Schätze aus - das erste Konzert, das erste Herr Rockefeller?<, fragte ich ihn. >Mit all meinem Geld kann
Fahrrad, die erste Enttäuschung. Daneben wimmelt es von ich mir nicht Ihre Lebensfreude kaufen .. .«<
bizarren Beobachtungen: ein Stierkampf, bei dem der Stier Das Pediskript könnte als eine Art von »lebensphilosophi-
mehrere Toreros aufspießte; ein Schwertschlucker, der sich scher« Performance gelesen werden, das Wort im volkstüm-
mit einem Schirm die Kehle verletzte; grell geschminkte lichen Sinn verstanden. Unthan tritt in der Haltung eines
Artisten vor sein Publikum, dessen spezielles Virtuosentum
13 Ibid.>S. 147. auf der Violine, später mit dem Gewehr und der Trompete, in
74 Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überl eben 75
ein Gesamtvirtuosentum, eine alle Lebensaspekte durchdrin- konnte, führt, wie man hört, zu einem »höheren Prozentsatz
gende Lebenskunstübung, eingebettet ist - nicht umsonst il- an Lebensfreude«, als er beim >>Vollmenschen« anzutreffen
. 17
lustriert der Bildteil des Buchs den Autor vor allem bei alltäg- seI.
lichen Verrichtungen wie beim Öffnen von Türen und beim Unthan beendet seine Aufzeichnungen mit einem Resü-
Aufsetzen des Huts. mee, das seine Konfession verkündet:
Wollte man Unthans allgemeinere Intuitionen in eine »Ich fühle mich dem Voll menschen gegenüber in nichts
theoretische Diktion übersetzen, wäre seine Position als die verkürzt . . . Noch nie habe ich einen Menschen gefun-
eines vitalistisch gefärbten »Krüppelexistentialismus« zu be- den, mit dem ich nach Betrachtung aller Umstände
stimmen. Demzufolge besitzt der Behinderte die Chance, hätte tauschen mögen. Gekämpft habe ich redlich,
seine Geworfenheit in die Behinderung als Ausgangspunkt mit mir selbst mehr noch als mit der Umwelt, aber
einer umfassenden Selbstwahl zu erfassen. Damit ist nicht die feinsten seelischen Genüsse, die mir gerade aus
nur die selbsttherapeutische Grundhaltung gemeint, wie sie den Kämpfen infolge meiner Armlosigkeit erwachsen
Nietzsehe in Ecce homo unter der Überschrift Warum ich sind, möchte ich um keinen Preis der Welt herge-
so weise bin im zweiten Abschnitt ausdrückt: »Ich nahm ben. «18
mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder ge- Daß es alles in allem nur darauf ankomme, dem Krüppel freie
sund ... « Unthan bezieht seine Wahl auf die eigene Zukunft. Entfaltung zu gewähren: In dieser These verdichtet Unthan
Dem 2Ijährigen, der sich in die Unabhängigkeit entlassen seine moralischen Intuitionen, die zwischen Emanzipations-
fühlt, legt er den Satz in den Mund: »in die eiserne Faust drang und Teilhabeverlangen schwanken. Unter »freier Ent-
werde ich mich nehmen, alles aus mir herauszuholen . . .«14 faltung« ist hier nicht die Lizenz zu ästhetischen Exzessen zu
Die Behinderung wird von ihm als eine Schule des Willens verstehen, wie die gleichzeitigen Bohemienideologen sie für
gedeutet. »Wer von Geburt an auf eigene Versuche angewie- sich reklamierten. Dem Krüppel »genug Licht und Luft in der
sen ist und nicht daran gehindert wird .. . bei dem entwickelt Entwicklung«19 lassen heißt vielmehr ihm die Chance zur
sich ein Wille .. . der Trieb zur Selbständigkeit . .. reizt zu Teilhabe an der Normalität zugestehen. So kehrt sich für
fortdauernden Versuchen an. «15 den Behinderten das Verhältnis zwischen Bürgern und Arti-
Die Konsequenz ist emotionaler Positivismus, der mit sten um. Er kann nicht wie bürgerliche Ausbrecher aus der
einem rigorosen Melancholieverbot zusammengeht. Unthans Gewöhnlichkeit davon träumen, den Leuten im grünen Wa-
Widerwille gegen jede Art von Mitleid erinnert an analoge gen zu folgen. Wenn er Künstler werden will, dann um Bür-
Setzungen in Nietzsches Moralphilosophie. Nur andauernde ger sein zu können. Für ihn ist Artistik die Quintessenz bür-
Schmerzen seien möglicherweise imstande, einen Behinder- gerlicher Arbeit, und mit dieser seinen Lebensunterhalt zu
ten zu zermürben: »Alle anderen Mißstände kämpft der Wille bestreiten begründet seinen Stolz. Gelegentlich notiert der
nieder und bricht sich Bahn zum Sonnenschein.« 16 Die »son- Autor, er wolle nicht wie seinerzeit Walther von der Vogel-
nige Lebenauffassung« des Krüppels, der sich frei entfalten weide von einem hohen Herren einen Pelz für den Winter
14 Ibid., S. 97. 17 Ibid.
15 Ibid., S. 306. 18 Ibid.
16 Ibid., S. 307. 19 Ibid.
D er Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 77
geschenkt bekommen: »ich würde vorziehen, mir den Pelz und Krüppel, entstanden war, die sich nach I9I8 mit politi-
mit meinen Füßen zu erarbeiten «.2o schen, sozialphilosophischen und anthropologischen Inhal-
Im ethischen Kern von Unthans Kruppelexistenti alismus ten auflud. Während die Franzosen durch die Okkupation
entdeckt man das Paradox einer Normalität für Unnormale. lernten, Existenz (und existentielle Wahrheit) mit Widerstand
Existentialistisch im engeren Sinn des Wortes hieran sind drei und Freiheit im Untergrund zu assoziieren, hatten Deutsche
Motive, deren Ausarbeitung der Philosophie des 20. J ahrhun- und Österreicher zwei Generationen zuvor damit begonnen,
derts vorbehalten war: zum einen die Figur der Selbstwahl, Existenz (und existentielle Wahrheit) mit Trotz und Kom-
kraft welcher das Subjekt etwas aus dem macht, was aus ihm pensationsleistungen gleichzusetzen. Daher ist das Schau-
gemacht wurde; zum anderen die sozial-ontologische spiel der »kontinentalen Philosophie « - um für diesmal die
Zwangslage, in der sich jeder befindet, der unter dem »Blick lächerliche Kennzeichnung des inhaltlichen Denkens durch
des Anderen« existiert: aus ihr ergibt sich der Freiheitsimpuls, Formalisten hinter dem Wasser zu benutzen - in der ersten
sprich der »Anstoß«, sich gegen die feststellende Gewalt, die Hälfte des 20. Jahrhunderts nur zu verstehen, wenn man die
vom fremden Auge ausgeht, zu behaupten; und schließlich die Kontraste und Synergien zwischen dem älteren und umfas-
Versuchung der Unaufrichtigkeit, mit der das Subjekt seine senderen mitteleuropäischen Trotzexistentialismus und dem
Freiheit von sich wirft, um die Rolle eines Dings unter Din- jüngeren politisch verengten westeuropäischen Widerstands-
gen, eines An-Sich, einer Naturtatsache zu spielen. existentialismus im Auge behält. Der erstgenannte hat seine
Quellen in nachmärzlicher Zeit, etwa bei Max Stirner, und
Aus der Sicht des französischen Existentialismus hat Unthan erstreckt sich, nach seiner Kulmination in Nietzsche, bis zu
alles richtig gemacht. Er wählt sich selbst, er setzt sich gegen den Systemen Freuds, Adlers und späterer Kompensations-
das versklavende Mitleid der anderen durch, er bleibt der theoretiker, die in der Bundesrepublik wirksam wurden; der
Täter seines Lebens und wird kein Kollaborateur der vorgeb- zweite nahm, wie bemerkt, unter der Okkupation von I940
lich übermächtigen Umstände. Der Grund jedoch, weswegen bis I944 Gestalt an, nicht ohne eine Vorgeschichte aufzuwei-
er alles richtig macht - womöglich richtiger, als sich im phi- sen, die über den Revanchismus der Dritten Republik bis in
losophischen Jargon ausdrucken ließe -, könnte mit den die Zornsammlungsbewegungen unter den Verlierern der
Denkmitttein der linksrheinischen Reflexion nicht genügend Französischen Revolution zurückreicht, namentlich den
ausgeleuchtet werden. Die Insuffizienz des französischen Frühsozialisten und Frühkommunisten. Hat man das deut-
Ansatzes grundet in dem Umstand, daß der in Frankreich sche Modell erfaßt, so erkennt man es in seinen linksrheini-
nach I940 entstehende Existentialismus eine Philosophie schen Travestien unschwer wieder. Was nach I944 auf der
für politisch Behinderte formulierte (im gegebenen Fall: für Rive Gauche als Lehre vom Gegen die Runde machte, war
Angehörige eines besetzten Landes), indessen in Deutschland die politische Adaptation des deutschen Behindertenexisten-
und Österreich vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an tialismus, dessen Anhänger auf die Ethik des Trotzdem ein-
eine vitalistisch-therapeutisch gefärbte Philosophie für phy- geschworen waren.
sisch und psychisch Behinderte, namentlich für Neurotiker
U nthan gehört zweifellos zur trotzexistentialistischen Strö-
20 Ibid., S. 72. mung älteren Datums. Der Besonderheit seiner Lebensbedin-
D er Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 79

gung wegen vermochte Uthan nicht in dieser Tendenz auf- vorteilhaft, die Rede ist, angestarrt durch ein Publikum, des-
zugehen. Was ihn abhebt, ist eine Sonderform von Trotzdem- sen Neugier sich häufig binnen kurzem in begeisterte Rüh-
Leben, die ihn vom heroistischen Hauptstrom isoliert, um rung wandelt. Wenn sich der Trotzexistentialismus zu seiner
ihn in die Gesellschaft der Artisten zu führen . Sein Helden- Varieteform zuspitzt, tritt der Krüppel-Artist auf, der sich als
tum ist das eines Strebens nach Normalität. Hierzu gehärt die Selbst-Vorzeige-Mensch gewählt hat. In dem stets von neuem
Bereitschaft zu einer freiwilligen Kuriosität, die über die un- zu gewinnenden Wettlauf mit der Schaulust der Normalen
freiwillige hinausgeht. Folglich könnte man seine Position als kommt seine Selbst-Exhibition der bloßen Sensation zuvor.
die eines Variete-Existentialisten bestimmen. An deren An- Die Gegenüberstellung von Kunst und Leben entfällt bei
fang steht die List des Schicksals, die gebietet, aus der Not der ihm. Sein Leben ist nichts anderes als die durch harte Übung
Anomalie eine artistische Tugend zu machen. Von starken erarbeitete Kunst, normale Dinge zu tun, wie Türen öffnen
Ausgangsparadoxien vorangetrieben, möchte der Variete- und sich die Haare kämmen, einschließlich nicht ganz so
Existentialist einen Weg zu einem »anständigen Exhibitionis- normaler Dinge, wie mit dem Fuß Violine spielen und Blei-
mus« finden. Für ihn soll die Normalität zum Lohn der stifte mit einem vom Fuß ausgelösten Gewehrschuß in der
Unnormalität werden. Er muß also, um mit sich selbst im Mitte halbieren. Den Luxus depressiver Stimmungen kann
reinen zu bleiben, eine Lebensform entwickeln, bei der sich sich der Virtuose des Normalseinkönnens selten leisten.
die pathologische Auffälligkeit in die Voraussetzung eines Das Leben im Trotzdem nötigt dem, der zum Erfolg ent-
Anpassungserfolgs umwandelt. Darum durfte der armless schlossen ist, die ostentative Lebensfreude auf. Daß es da
fiddler, wie Unthans amerikanischer Bühnentitel hieß, um drinnen zuweilen anders aussieht, geht niemand etwas an.
keinen Preis als bloßer Krüppel an die Rampe treten, wie es Das Land des Lächelns wird von Krüppel-Artisten be-
im europäischen Zirkus und mehr noch in den Freakshows wohnt.
jenseits des Atlantiks Usus war. Er mußte sich als Sieger über Ich füge die Bemerkung an, daß Hugo Ball, der Mitbe-
seine Behinderung präsentieren und das Gafferturn mit des- gründer des Dadaismus und Mit-Initiator des Zürcher Ca-
sen eigenen Waffen schlagen. baret Voltaire, 1916, neben Franz Kafka der bedeutendste
Diese Leistung erbracht zu haben bestätigt Unthans unge- Variete-Existentialist deutscher Sprache war, sowohl in
wöhnliche Position, die in der Gegenwart erneut durch einige seiner dadaistischen Phase als auch in seiner katholischen
überragende Künstler besetzt wird. Indem sie es schaffen, die Periode. In dem Roman Flametti oder: Vom Dandysmus
Paradoxien ihrer Daseinsweise zu entfalten, können Behin- der Armen von 1918 versammelt er ein Pandämonium mar-
derte zu überzeugenden Dozenten der conditio humana wer- ginaler Gestalten aus dem Schausteller- und Zirkus-Milieu,
den - übende Wesen einer besonderen Kategorie mit einer über die er einen Vorsprecher erklären läßt: Diese Leute seien
Botschaft für übende Wesen im allgemeinen. Was Umhan wahrhaftigere Menschen als die Bürger, denen es scheinbar
für sich eroberte, war die Möglichkeit, als Krüppel-Virtuose gelingt, sich in der Mitte zu halten. Die Variete-Menschen
zu einem Subjekt zu werden, das sich im selben Maß sehen wissen mehr vom »wirklichen Leben«, weil sie an den Rand
und bewundern läßt, wie es vorgezeigt und angestarrt wird - Geworfene, Gestürzte und Angeschlagene sind. Diese »ge-
vorgezeigt in erster Linie durch die Impresarios und die rempelten Menschen« sind es, die, vielleicht als einzige, noch
Zirkusdirektoren, von denen im Pediskript viel, und selten authentisch existieren. In einer Zeit, in der die Normalen sich
80 Der Planer der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 81

dem Wahnsinn verschrieben haben, erinnern sie sich, ihrer sunden: genau das also, wovon Unthan versichert, er leide
Gebrochenheit zum Trotz, an die besseren Möglichkeiten darunter nicht im geringsten. Die Führung eines übenden
des Menschseins. Sie sind die rucht-archaischen Torsi, die Lebens antwortet bei ihnen auf den Stimulus, der in der kon-
sich für unbekannte Aufgaben in Form halten. Dank ihnen kreten Behinderung sitzt - sie liefert den Hemmungsreiz, der
wird der Zirkus zur unsichtbaren Kirche. In einer Welt von zuweilen eine artistische Antwort provoziert. Wie Unthan
Mitläufern beim kollektiven Selbstbetrug sind die Zirkusleu- feststellt, muß man dem Behinderten »Freiheit« in Form
te die einzigen, die nicht schwindeln - wer auf dem Hochseil von »Licht und Luft in der Entwicklung« gewähren, bis der
läuft, kann keinen Augenblick lang so tun als ob. Wenig erlittene Anstoß vom Eigenwillen überformt und in ein Le-
später wird Ball auf die Spuren einer heiligen Akrobatik sto- bensprojekt integriert ist. Mithin: Durch das Phänomen des
ßen, der er in streng stilisierten, neo-katholisch erregten Stu- gehemmten und behinderten Lebens wird die allgemeine As-
dien ein Denkmal setzte: Byzantinisches Christentum. Drei ketelogie vor ihre Feuerprobe gestellt.
Heiligenleben, 1923 - den Glaubenshelden der frühen öst- Nun ist zu zeigen, wie aus der Analytik der Hemmungen
lichen Kirche Joannes Klimax, Dionysios Areopagita und ein ganzes System von Einsichten in die Gesetze der trotzen-
Symeon dem Styliten gewidmet, ein Hauptwerk der asketo- den Existenz hervorging. Hierzu ist eine Exkursion in die
logischen Dämmerungszeit. Katakomben der Geistesgeschichte vonnöten. Tatsächlich
ist das bedeutendste Zeugnis des Trotzexistentialismus deut-
Wir sind mit dem Gesagten auf eine neue Wendung des scher Herkunft, zugleich das Manifest der älteren Krüppel-
Übungsphänomens gestoßen. Indem wir uns den Lebensfor- anthropologie, bei der philosophischen wie der pädagogi-
men von Behinderten zuwenden, kommt unter den Bewoh- schen Zunft restlos vergessen. Ich spreche von dem Buch
ners des asketischen Sterns eine Klasse von Übenden in Sicht, Zerbrecht die Krücken von Hans Würtz, dem nietzscheanisch
bei denen speziellere Motive die Oberhand gewinnen. Sie inspirierten Initiator der staatlichen Behindertenpädagogik,
treiben ihre Askesen nicht um Gottes willen - oder, wenn einem Werk, das zu Beginn der dreißiger Jahre erschien, ohne
sie es tun, wie der zum Kruppel geschossene Ignatius von die geringste Resonanz zu erfahren - aus Gründen, von denen
Loyola, so deswegen, weil ihnen Christus als Leitbild zur gleich zu reden ist. Keine Philosophiegeschichte erwähnt das
Neutralisierung ihres Mangels imponiert. Nicht umsonst Buch, in keinem anthropologischen Lehrbuch wird darauf
wird Christus vom Grunder des Jesuitenordens als Kapitän eingegangen,21 nicht einmal in den Kreisen von Nietzsche-
aller Leidenden zur Nachahmung empfohlen. Nur marginal Experten hat man von seiner Existenz eine Ahnung - und
jedoch gehären die sichtbar Behinderten zu den Kolonnen dies, obwohl gerade Nietzscheaner, ob akademisch oder
der heiligen Selbstquäler, die Nietzsehe wie heisere Pilger- at large, allen Grund hätten, sich mit der Rezeption von
chöre durch die Jahrtausende ziehen sah. Sie sind keine Kran- Nietzsches Ideen in der Krüppelpädagogenszene vor und
ken im üblichen Wortsinn, obschon Nietzsehe ihnen einen nach 1918 zu beschäftigen. Ein angemessenes Nietzsche-
psychologischen Krankheitsverdacht entgegenbrachte - im Verständnis kann aber unmöglich gewonnen werden, ohne
übrigen vermuten auch die Psychoanalyse wie die offizielle
21 Auch in der bedeutendsten jüngeren Arbeit zum Thema: Klaus E.
Kruppelpädagogik der zwanziger Jahre bei den Behinderten Müller, Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae, München
die Disposition zu einem Neidkomplex gegenüber den Ge- 199 6, wird die Arbeit von Würtz nicht erwähnt .
Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben

die Wirkung und Widerspiegelung seines Werks bei Krüp- 37,3 Prozent der Stimmen gewonnen und war zu der mit
peln und ihren Vorsprechern ins Auge zu fassen. Abstand größten Fraktion im Reichstag aufgestiegen. Die
Der Grund für die Verschollenheit des Buchs ist vor allem lautstarke Partei fand bei den Neubehinderten aus dem Er-
in den politischen Implikationen seines Gegenstands zu su- sten Weltkrieg starken Anklang - ihre Zahl wird allein in
chen - und in seinem Erscheinungsdatum. 1932 auf den Deutschland auf 2,7 Millionen geschätzt. Was die Parole
Markt gebracht, war ein Werk mit dem Titel Zerbrecht die Zerbrecht die Krücken angeht, hätte Würtz demnach richtig
Krücken in Deutschland nicht zeitgemäß - jedoch nicht, weil liegen müssen - die deutsche Zeitstimmung wollte ja auf brei-
die Idee des Krückenzerbrechens damals keine Anhänger ge- ter Front nichts anderes, als daß die Menschen fähig würden,
funden hätte, sondern im Gegenteil, weil die Titelparole allzu ohne die lästigen Hilfskonstruktionen aktueller Daseinsvor-
viele Bekenner in ihren Bann zog. Die wollten freilich von sorge zu leben - im Kleineren wie im Größeren und Größten.
den realen Behinderten nichts hören. In größeren Biblio- Die Stunde der Bewegtheiten hatte geschlagen. Als Führer
theken ist das seltene Werk unter der vollständigen Titel- einer sammlungs mächtigen Bewegung konnte nur noch auf-
angabe verzeichnet: Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Proble- treten, wer imstande war, glaubhaft die Zerschlagung herr-
me der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten in Wort schender Behinderungssysteme zu versprechen. Ein Dasein
und Bild, 1932, Leipzig, im Verlag von Leopold Voss. Der in Krückenlosigkeit leuchtete am Horizont auf und wurde zu
Autor, 1875 in Heide, Holstein, geboren, 1958 in Berlin ver- einem Leitbild für all jene, die sich vom Gegebenen gekränkt,
storben, früh verwaist, war anfangs Volkschullehrer in Ham- behindert und beengt fühlten. Die Stunde der Volksanarchis-
burg-Altona, später in Berlin-Tegel. Er wirkte von 191 I an als men hatte geschlagen.
Erziehungsinspektor am Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zeh- Seit seinen Anfängen war der Anarchismus die Philoso-
lendorf, das aus der vormaligen Krüppel-Heil-und-Erzie- phie des Ohne gewesen. Er wollte sein Publikum zu der Ein-
hungsanstalt für Berlin-Brandenburg hervorgegangen war. sicht bringen, wie viele Hilfsmittel man in der modernen
Unter der Leitung des jungen Idealisten entwickelte sich Ordnung der Dinge vorfindet, ohne die man auskommen
die genannte Institution zu einem Mekka der Krüppelfürsor- könnte, wenn man nur fest genug an ein Leben ohne Herrn
ge in staatlicher Trägerschaft und erlangte internationale Re- und Herrschaft glaubt: Ohne den Staat (die politische
putation. Gemeinsam mit Konrad Biesalski, einem Orthopä- Krücke), ohne den Kapitalismus (die ökonomische Krücke),
den, machte Hans Würtz aus der Zehlendorfer Institution ohne die Kirche (die religiöse Krücke), ohne das beißfreudige
einen Fokus dieser neuen Form von philosophischer Praxis. Gewissen (die jüdisch-christliche Krücke der Seele), ohne die
Zwei Jahrzehnte lang behauptete sich die Würtz-Biesalski- Ehe (die Krücke, an der die Sexualität durch die Jahre hinkt).
sche Krüppelanstalt als Hochburg des Trotzexistentialismus Im Kontext der Weimarer Republik meinte das vor allem:
in Deutschland, ehe sie von neuen partei nahen Direktoren ohne den Versailler Vertrag, der für die Deutschen zu einer
auf NS-Linie gebracht wurde. In diesem Institut sollten die zornerregenden Fessel geraten war. Darüber hinaus wollten
Ideen Nietzsches über die Gleichung von Leben und Willen viele zu jener Zeit auch ohne die Demokratie auskommen:
zur Macht auf den Prüfstand des täglichen Umgangs mit Be- Von zahlreichen Zeitgenossen wurde diese für eine Veranstal-
hinderten gestellt werden. tung zur Lächerlichmachung des Volkes durch seine Vertreter
Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 hatte die NSDAP gehalten - warum sollte man es nicht auch einmal mit der
Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben

Lächerlichmachung der Volksvertreter durch die Populisten Traum und ihr großes Trotzdem bestand. Die Inopportunität
versuchen? Das Krückenzerbrechen war im Begriff, zum solcher Bekenntnisse liegt auf der Hand - um von ihrer psy-
Kern revolutionärer Politik zu werden - ja zum Impuls chologischen Unwahrscheinlichkeit nicht zu reden. »Bewe-
der zeitgemäßen revolutionären Ontologie. Jenseits von gungen « dieses Typs leben davon, daß ihr primum mobile in
Politik und Alltag erhob sich der Ruf nach einem Aufstand der Latenz bleibt. Unleugbar war der politische Raum jener
gegen alles, was uns durch sein bloßes Bestehen irritiert. Die Jahre von Abkömmlingen der Krüppel-Problematik durch-
Krückenmüden wollten nicht weniger abschütteln als das drungen - nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, daß die
Joch des Realen. Alle Politik verwandelte sich in Politik Behinderung Wilhelms II. von seinem Biographen Emil Lud-
für Behinderte im Aufruhr. Wer auch immer den Zorn gegen wig 1925 für ein größeres Publikum ins Zentrum der psycho-
das »Gegebene « und »Bestehende« sammeln wollte, konnte politischen Aufmerksamkeit gerückt worden war. Die Öf-
sicher sein, daß ein Großteil der Zeitgenossen bereit war, in fentlichkeit hallte wider von Fragen nach der Sinngebung
allen Manifestationen des Institutionellen Krücken zu er- des behinderten Daseins - und nach der Verträglichkeit von
kennen, die darauf warteten, zerbrochen zu werden. Das Macht und Behinderung. Darf man Behinderte an die Macht
20. Jahrhundert gehört den Volksfronten gegen die Hilfs-
kommen lassen? Was ist überhaupt Macht, wenn Behinderte
konstruktionen. sie erringen können? Was geschieht mit uns, wenn Be-
Natürlich konnte die NSDAP zu keiner Zeit offen unter hinderte sie schon erlangt haben? Nietzsches scheinbar welt-
dem Zeichen des zu lösenden Krüppelproblems antreten, enthobene Meditationen aus den achtziger Jahren des vor-
obschon sie unter wesentlichen Aspekten nichts anderes angegangenen Jahrhunderts waren binnen kurzer Frist in den
war als eine militante Stellungnahme zur Krüppel- und Krük- Glutkern der Politik vorgedrungen. Hans Würtz verstand
kenfrage. Die Partei löste den Widerspruch, den sie verkör- sich darauf, die Gesichtspunkte Nietzsches zu aktualisieren,
perte, indem sie das gefährliche Thema des »lebensunwerten indem er zeigte, wie Behinderung, die richtige »Beschulung«
Lebens« auf ihr Programm setzte: Mit dieser Geste gelang es vorausgesetzt, in ein Surplus an Willen zum Lebenserfolg
ihr, ihr eigenstes Motiv radikal zu externalisieren. Andernfalls münden kann.
hätten sich die Führer der Bewegung selber als verkrüppelte »Das Material ist völlig unbefangen gesammelt«, heißt es
Krüppelführer outen müssen, wie es in derselben Zeit der in der Einleitung des Buchs, das eine enzyklopädische Über-
behinderte Behindertenpädagoge Otto Perl getan hatte. Sie sicht über praktisch alle damals in Europa namentlich be-
hätten offenlegen müssen, mit welcher Kompetenz und auf- kannten behinderten Kulturträger bietet. Deshalb erwähnt
grund welcher Delegationsverhältnisse ausgerechnet sie an Würtz auch seinen Zeitgenossen Joseph Goebbels in seinen
der Spitze der nationalen Revolution stehen wollten: Hitler Übersichten und Tabellen zur Menschheitsgeschichte des
als emotional Behinderter, der in rauschhaften Momenten die Krüppelproblems: Er führt den NS-Propagandisten zweimal
Fusion mit der Volksgemeinschaft suchte, Goebbels als Fuß- unter der Kategorie der Klumpfußkrüppel an - wo er neben
krüppel, der aufs elegante Parkett strebte, Göring als Sucht- Figuren wie Lord Byron nicht apriori eine schlechte Figur
behinderter, der in der NS-Herrschaft die Chance zu einer machen mußte: einmal in der Nationenliste/ 2 einmal in der
großen Sause für sich und seine Ko-Abhängigen witterte - sie
alle hätten anzugehen gehabt, worin jeweils ihr Kampf, ihr 22 WÜrtZ, Zerbrecht die Krücken, a. a. 0., S. 101.
86 Der Pl anet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben

Funktionenliste unter der Rubrik "revolutionäre Politi- hinleitet, heißt bei Würtz zeitgerecht ,>Arbeit« - wir verste-
ker«.23 Der Chef-Agitator der NSDAP verdankt dem Krüp- hen, daß dieses Wort nur eines der Pseudonyme ist, unter
pelpädagogen Würtz die Ehre seiner Erwähnung in einem denen die Emergenz des Übungsphänomens fortgeht.
Who's who der Menschheit, das fast fünfhund ert Namen um- »Ueberwundene Hemmung ist die Mutter aller ent-
faßt, Große und Größte darunter sowie Figuren vom Typus falteten .. . Bewegung. «27 Die Bewegung, die hier die entfal-
Unthans, den Würtz zusammen mit zahlreichen Schicksals- tete heißt, bezeichnet Würtz zufolge nicht bloß die kompen-
verwandten in der breit repräsentierten Kategorie ,> Schau- sierende, sondern die überkompensierende: Bei ihr führt die
24
krüppel und Krüppel-Virtuosen « auflistet. Reaktion über den Anstoß hinaus. Hiermit hatte der Autor
Gemeinsam war den Protagonisten dieses Werk ihre Fä- ein Theorem formuliert, dessen Geltungsbereich sich auf
higkeit, die Philosophie des Trotzdem wahrzumachen. Daß asymmetrische Bewegungskomplexe aller Art erstreckt, or-
in den Listen des Wissenschaftlers Personen wie Jesus, nach ganische wie geistige, psychische wie politische, mochte er
neueren Vermutungen ein »Häßlichkeitskrüppel«, und Wil- sich auch in seinem Buch darauf beschränken, den Lehrsatz
helm II. auftauchen -letzterer ein Armverkrüppelter, in dem am Phänomen der physischen Behinderung zu demonstrie-
zudem ein »Krüppelpsychopath«25 steckte wie die behinder- ren. Diese Anwendungen waren anspruchsvoll genug: Durch
te Puppe in der behinderten Puppe -, zeigt Ausmaß und Ex- intensive Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Grundlage
plosivität der Problematik. Die Nennung solcher Größen sollten sich deutsche Ärzte, Pädagogen und Seelsorger in der
illustrierte die von der Lebens- zur Geistphilosophie über- »Zielsetzungsgemeinschaft der Krüppelhebung« vereinigen.
leitende These, wonach Behinderte sich jenseits ihrer Gebre- Doch so hoch er auch zu greifen versuchte: Das politische
26
chen im Reich überpersönlicher Werte verankern können. Potential seiner Überlegungen blieb Würtz verborgen. Zwar
Tatsächlich hatte Wilhelm II. nicht nur eine unmittelbar neu- hatte er in allgemeinen Ausdrücken statuiert, daß Über-
rotische Politik auf dem Kerbholz, er hatte auch Bühnenbil- schüsse aus der Hemmungsüberwindung in Vorwärtsdyna-
der für die Bayreuther Festspiele entworfen und andere mik münden: »... der gelähmte Ignatius von Loyola und
Übergänge ins Objektive versucht. Was den Durchbruch Götz von Berlichingen waren immer unterwegs «,28 die rast-
von Jesus aus der Sphäre seiner vermuteten Behinderungen losen Epileptiker Paulus und Caesar nicht weniger. Auch
in die geistige Sphäre angeht, so sind ihre Resultate längst in fehlt es nicht an Hinweisen auf den »kleinen schiefhalsigen
die ethischen Grundlagen der okzidentalen Kultur eingear- Alexander den Großen « und den ebenfalls »schiefhalsigen«,
beitet. In der Wertphilosophie Max Schelers, die Würtz ver- »kleinen mongoloid-häßlichen Lenin« sowie auf die klein-
mutlich nicht gekannt hat, war gleichzeitig der Versuch un- wüchsige und hüftlahme Rosa Luxemburg. 29
ternommen worden, die Eigengesetzlichkeit der Wertsphäre Dennoch: »Trauer und Trotz«, die krüppelpsychologi-
gegenüber ihrer »Basis« in den Lebensspannungen herauszu- schen Universalien, behalten für Würtz einen ausschließlich
stellen. Der Inbegriff des Tuns, das zum Überpersänlichen individualpsychologischen Sinn. Ein politischer Aufbruch
wie der völkische Sozialismus von 1933 jedoch, der sich
23 Ibid., S. 88.
24 Ibid., S. 97. 27 Ibid., S. 49·
25 Ibid., S. 3 r. 28 Ibid., S. Ir.
26 Ibid., S. 4. 29 Ibid., S. J 8.
88 Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben

rühmte, vor allem Bewegung, Angriff und Revolution zu sein vierten, und zusätzlich in der Unterklasse »Komplexkrüp-
- was war er, wenn nicht ein externer Anwendungsfall des pel«/' die ins psychologische Feld überleitet.
Kompensationsgesetzes? Ist überwundene Hemmung die Goebbels verfolgte andere Pläne: Auf seine Anordnung
Mutter aller entfalteten Bewegung, welche »Muttertriebe« hin soll die gesamte noch nicht ausgelieferte Auflage von
mögen es dann sein, von denen die Neigung zur Selbst- Zerbrecht die Krücken umgehend eingezogen worden sein.
vergrößerung durch Fest und Terror stammten? Was heißt Der weitere Verlauf der Geschichte spricht für sich. Kurz
es, zu den »Müttern « zu gehen, wenn das Wort das Produkt nach dem Januar I933 wurde Würtz an seinem eigenen In-
aus Hemmung und Überwindung beschreibt? Falls Über- stitut als Volksfeind denunziert, seine Kritiker wollten in ihm
kompensation von Behinderung das Geheimnis des Erfolgs mit einem Mal einen Edelkommunisten und Philosemiten
ist, wäre hieraus zu folgern, die meisten Menschen seien erkannt haben. Aufgrund des zum richtigen Zeitpunkt erho-
nicht behindert genug? Die Fragen mögen rhetorisch sein, benen Vorwurfs des Amtsrnißbrauchs und der Veruntreuung
eines zeigen sie gleichwohl: Der Weg zu einer größeren von Spendengeldern wurde er fristlos und ohne Pensionsan-
Kompensationstheorie ist mit Verfänglichkeiten gepfla- sprüche entlassen - vorgeblich hatte er einige Zuwendungen,
stert. 30 die dem Förderkreis des Oskar-Helene-Heimes zugeflossen
Was Goebbels angeht, so hatte er am Fortgang der Auf- waren, für die Publikaton von Zerbrecht die Krücken ver-
klärung offensichtlich kein Interesse. Für seine Aufnahme ins wendet, als wäre die Herausgabe des Buchs eine Privatange-
Pantheon der Behinderten vermochte er sich nicht zu begei- legenheit des Autors ohne Bezug zu den Aufgaben der von
stern. Daß er mit Größen wie Kierkegaard in eine Reihe ihm mitgeleiteten Institution.
gestellt wurde, auch mit Lichtenberg, Kam, Schleiermacher, Unschwer lassen sich in den Vorwürfen gegen Würtz die
Leopardi, Lamartine, Victor Hugo und Schopenhauer, um Konturen eines Konflikts zwischen den Feldarbeitern in der
nur sie zu nennen, verführte ihn nicht zu einem Outing. Seine Anstalt und dem publizierenden Alphatier ausmachen. Seine
Psyche zu Lebzeiten der Wissenschaft zur Verfügung zu stel- Ankläger, ambitionierte Kollegen, rückten nach seiner Ent-
len war wohl das letzte, das ihm in den Sinn gekommen wäre. fernung aus dem Amt in leitende Funktionen ein - wie um
Auch an dem orthopädischen Leitsatz des Zehlendorfer In- klarzustellen, daß eine erfolgreiche Revolution ihre Kinder
stituts: »Der Stumpf ist die beste Prothese« dürfte er wenig nicht frißt, sondern versorgt. Würtz blieb naiv genug, zu
Gefallen gefunden haben. Bei der Würtzschen Einteilung der glauben, er könne unter den gegebenen Bedingungen seine
Krüppelwelt in die vier Hauptgruppen: Wuchskrüppeltum Unschuld beweisen. Deshalb kehrte er seines Prozesses we-
(Größenanomalien), Mißwuchskrüppelturn (Deformatio- gen aus dem vorübergehenden Prager Exil nach Deutschland
nen), Andeutungskrüppelturn (Fehlhaltungen) und Häßlich- zurück und wurde durch ein Berliner Gericht im Januar 1934
keitskrüppeltum (Entstellung) hätte er sich ohne Zweifel bei zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, die Strafe
der zweiten Klasse eintragen müssen, eventuell auch in der wurde zur Bewährung ausgesetzt. Darauf verließ er Deutsch-
land, um bis zum Ende des Krieges in Österreich Zuflucht zu
finden. 1947 gelang ihm die volle juristische und berufliche
30 Die kleinere Variante der Lehre vom homo compensator ist in der
Bundesrepublik durch die Arbeiten von Joachim Ritter, Odo Mar-
quard und Hermann Lübbe bekannt geworden. 3 J Ibid., S. 67·
D er Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben

Rehabilitierung. Im Waldfriedhof von Berlin-Dahlem wurde des priesterlich-asketischen Ideals an seinem Nachahmer
er im Juli 1958 bestattet. ad personam bewahrheiten. Der Stil der Würtzschen Ver-
Für den Fortgang unserer Überlegungen ist es aufschluß- öffentlichungen, die in Hymnen auf »Siegreiche Lebens-
reich, die Konstellation zwischen Nietzsches Ansätzen zur kämpfer«33 gipfeln, legt es nahe, bei ihm ein Wortführer-Syn-
Analytik des Willens und Würtz' Ausführun gen zur Behin- drom zu vermuten. Dafür spricht die Art und Weise, wie er
dertenpädagogik zu beleuchten. Beide Autoren könnten zur sich an der eigenen Sendung entflammt. Die Nähe zum prie-
Illustration ihrer Axiome jeweils auf den anderen verweisen- sterlichen Typus verrät sich in Würtz' imperial anmutendem
was im Fall des Jüngeren im Verhältnis zum Älteren auch Geschmack, immer größere Teile der Menschenwelt ins Ge-
faktisch geschehen ist. Aus der Sicht des Berliner Krüppel- biet seiner Zuständigkeit zu bringen. Dabei wird auch die
forschers liefert Nietzsche ein Beispiel für sein Konzept der übliche Alphatier-Dynamik sichtbar: aus Nietzsches Sicht ei-
»ueberwundenen Hemmung«. Er klassifiziert den Philoso- ne unverkennbare Manifestation des Willens zur Macht.
phen, ohne dessen Anregung seine eigene Arbeit kaum vor- Gleichwohl, nach allem, was sich heute in Erfahrung brin-
stellbar wäre, einigermaßen kaltblütig als den »psychopa- gen läßt, stand für Würtz die Arbeit am Berliner Oskar-He-
thisch belasteten Wuchskruppel Nietzsche «32. Immerhin lene-Heim im Fokus seines Engagements. An der Ernsthaf-
war diesem, so gesteht er zu - aufgrund der Kompensations- tigkeit seiner lebenslangen Bemühungen um das Wohl seiner
gesetze in Verbindung mit hoher Begabung und harter Arbeit Klienten zu zweifeln kommt äußeren Beobachtern nicht zu-
an sich selbst -, eine partielle Überwindung seiner Behinde- auch wenn man seinen autoritären Ansatz heute wenig gou-
rung geglückt, weswegen sein Werk als Versuch eines Über- tiert und der Papierform nach eher mit dem Selbstbestim-
gangs in die überpathologische Wertsphäre zu würdigen sei. mungsmodell des alternativen Behinderten-Pädagogen Otto
Kehrt man die Perspektive um, ergibt sich ein komplexeres Perl sympathisieren würde. 34 Im übrigen war die Berliner
Bild. Nietzschewürde in dem Berliner Kruppelpädagogen das Anstalt für ihren pädagogischen Inspektor zugleich die Kan-
von ihm beargwöhnte Phänomen des Schülers erkennen, über zel, von der er einem eher widerwilligen Publikum seine Vor-
das hier nicht mehr zu sagen ist, als daß in ihnen regelmäßig schläge zur Lösung des Menschheitsrätsels verkündete. Diese
eher die Schwächen der Meister als ihre Vorzüge in kompro- bestanden hauptsächlich in modalen Umwandlungen: Du
mittierenden Vergrößerungen sichtbar werden. Ein zweiter kannst, was du willst; du sollst wollen, was du mußt - du
Blick würde statuieren, wie sich bei Würtz das von Nietzsehe sollst wollen können und du bist hierzu fähig, vorausgesetzt,
inkriminierte priesterliche Syndrom konkretisiert. Dessen es steht dir jemand zur Seite, der will, daß du willst. Die letzte
Kennzeichen besteht in der bei stärkeren Kranken auftreten- Wendung muß festgehalten werden: Sie definiert nicht nur
den Neigung zum Anführerturn für ein Gefolge aus schwa- die Figur des Willenstrainers für Behinderte, sie bietet die
chen Existenzen. Ob sich bei Würtz persönlich Hinweise auf Definition der Trainerfunktion überhaupt. Mein Trainer ist
eine Behinderung finden ließen, ist der mir bekannten Litera-
tur nicht zu entnehmen, weshalb ich bis auf weiteres nicht 33 So der Titel eines früheren Buchs von Hans Würtz aus d em Jahr
1919, als die Pro blematik der Konstitutio nskrüppel von der der
klären kann, ob sich Nietzsches Diagnosen über die D ynamik
Kriegskrüppel überlagert wurde.
34 Otto Perl , Krüpp eltum und G esellschaft im Wandel d er Z eit, G o-
32 Ibid., S. 37. tha 1926.
92 Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 93
derjenige, der will, daß ich will - er verkörpert die Stimme, Mit dem Auftreten der Trainerfigur - genauer: ihrem Wie-
die mir sagen darf: Du mußt dein Leben ändern! 35 derauftreten nach ihrem Mit-Untergang im Zerfall des anti-
ken Athletentums - gelangt die somatische und athletische
Das Phänomen der Betreuung von Behinderten aus dem Geist Renaissance an der Wende zum 20. Jahrhundert in ihre prä-
einer Willensphilosophie, die den Krüppel zur Arbeit an sich gnante Phase. Man tritt Hans Würtz nicht zu nahe, wenn man
selbst anhält, gehört unverkennbar in den Einzugsbereich des ihn einen Reichstrainer der Behinderten nennt, quasi einen
oben exponierten Großereignisses: der für das I9. und 20. Trappatoni der Krüppel. Er steht in einer Tradition von Trai-
Jahrhundert kennzeichnenden Entspiritualisierung der Aske- ner-Autoren, die bis zu Max Stirner, dem Autor von Der
sen. Dem entspricht auf der »religiösen « Seite ein langfristiger Einzige und sein Eigentum, I844, zurückreicht. Es dürfte
Trend zur Entheroisierung des Priestertums, dem vorüberge- unnätig sein zu betonen, daß Würtz den letzteren mit siche-
hend, von den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts an, rem Sinn für Mannschaftsaufstellungen zu seinen exemplari-
die für den renouveau catholique und den frommen Flügel der schen Klienten zählt. In seiner Eigenschaft als Trainer der
Phänomenologie typische Überhöhung des Heiligen entge- eigenen Einzigkeit war Stirner als eine~ der ersten klar ge-
genwirkt - mit Späteffekten, die bei Autoren wie dem Öko- worden, daß man mit metaphysischem Ubergewicht auf dem
logen Carl Amery und dem parakatholischen Eleganzphäno- Rasen der Existenz eine schlechte Figur macht. Die Entfer-
men Martin Mosebach nachzuweisen sind. nung der ideologischen Sparren im Kopf, die er in seinem
Buch empfahl, war bereits nichts anderes als ein explizites
Indem Würtz als Willenspädagoge auf dem Jargon des He- mentales Fitnessprogramm. Im Blick auf diesen Patriarchen
roismus insistierte, entging ihm ironischerweise der zukunfts- des Egoismus gelingt Würtz eine Generalisierung von einiger
weisende Teil der asketologischen Zeitwende, der sein Werk Reichweite: »Der Krüppel Stirner sieht seiner psychologi-
zuzurechnen ist. Den heroistischen Suggestionen zum Trotz schen Struktur gemäß alle anderen Menschen als unbewußte
ist seine pragmatische Orientierung an einem Programm zur und unwillkürliche Kämpfer um den Ichwert. «36 Für Würtz
Ertüchtigung der Behinderten und Gehemmten ausschlagge- beweist das, was er voraussetzt: Einzigkeitsbewußtsein und
bend. Sein pseudo-priesterlicher Habitus darf nicht zum »Lebenskriegerturn« konvergieren. Heute würde man sich
Nennwert genommen werden. In ihm verbirgt sich ein Sach- vorsichtiger ausdrücken: Aus Behinderungen ergeben sich
verhalt, der sich durch Nietzsches diätologische Thesen an- nicht selten Sensibilisierungen und aus diesen zuweilen erhöh-
gekündigt hatte: Ich nenne ihn die Emergenz des allgemeinen te Anstrengungen; die wiederum münden unter günstigen
Trainingsbewußtseins aus dem Fall der Kranken- und Behin- Umständen in gesteigerte Lebensleistungen. Während die
dertenpädagogik. Zum Training gehört nehen dem Trainie- Stirnersche Einzigkeit, wie Würtz bedauernd feststellt, in
renden und dem Trainingsprogramm naturgemäß der Trainer der Neurose befangen blieb, soll es in der konstruktiven Be-
selbst - es ist diese zukunftsträchtige Figur, die sich unter dem hindertenarbeit darum gehen, den "problematischen Krüppel
spätwilhelminischen, lebens- und willensphilosophischen zum Charaktermenschen zu befreien«.37 In unseren Tagen
Aufputz der Würtzschen Verlautbarungen profiliert.

36 Ibid., S. 50.
35 Zur Meister- und Trainerproblematik siehe unten Kapitel 8, S. 45 5f. 37 Ibid., S. 63·
94 Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überl eben 95

würde man das nicht mehr so formulieren, gleich, ob man über diesen Explikationsgewinn muß man einige heroistische Phra-
vormärzliche Philosophen oder sonstige problematische Na- sen in Kauf nehmen. In der Sache sind sie nur die Maske der
turen spricht. athletischen Renaissance. Im übrigen läßt sich auch in der
Die Hypothese, wonach der Behinderten-Pädagoge sei- Sportgeschichte des 20 . Jahrhunderts die Entheroisierung
nem praktischen und moralphilosophischen Profil gemäß ei- der Trainerrolle beobachten. Allerdings gibt es im Bereich
ne der ersten Ausprägungen des modernen Trainerturns ver- des Sports - analog zu den Entwicklungen auf dem religiösen
körpert, läßt sich durch zahlreiche Äußerungen des Autors Feld - eine Gegenströmung, die man den renouveau athletique
substanzialisieren. Bei Würtz ist klar erkennbar: Der Trainer nennen könnte: In ihr wird der Extremsportier auf den Schild
ist der zeitgemäße Partner in nicht-metaphysischen Vertikal- gehoben, das spirituell entleerte Gegenstück des Heiligen.
spannungen, die dem Leben des Trainierenden ein deutliches
Gefühl für Oben und Unten einflößen. Er ist dafür verant- Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat
wortlich, daß »ärztlich vorgeschriebene Uebungen dieses die Beiträge der Behindertenpädagogik ignoriert - nichtsde-
(vom Klienten erworbene) Können seinen Kräften einwur- stoweniger kam sie aus benachbarten begrifflichen Ausgangs-
zeln«, so daß »auch sein Selbsterhaltungswille einen konkre- lagen zu sinnverwandten Beobachtungen. Die Anthropologie
ten Stützpunkt«38 findet. Mit einer Klarheit, die einer analy- des normalen Menschen bahnte sich mit ihren Mitteln den
tischen Philosophie des Sports Ehre machen würde, erklärt Weg zu einem noch viel allgemeineren Behinderungsbewußt-
Würtz an der trainingstheoretisch entscheidenden Stelle, vom sein, als sich die Sonderpädagogen hätten träumen lassen -
Behinderten sprechend: ihre praktischen Folgerungen jedoch waren denen der heroi-
»Sein Wille gewinnt damit ein inneres Lebensgefälle, schen Krüppeldidaktik diametral entgegengesetzt. Ihre Ma-
wenn er die frühere Ohnmachtslage mit seinem ersieg- xime hieß: Auf keinen Fall die Krücken zerbrechen! Man
ten Können vergleicht und mit dem schon gewonnenen vernimmt diesen Warnruf schon in der Wiener Psychoana-
Erfolgsgewinn an seinem Ertüchtigungsziele mißt. Sein lyse, wenn Freud den Menschen als den »Prothesengott« cha-
Streben gewinnt einen Vorwärtsschwung. Die Ueber- rakterisiert, der ohne die Stützen der zivilisatorischen Da-
windung des früheren Ohnmachtsempfindens ist seinsvorsorge nicht lebensfähig wäre. Im übrigen gelang
gleichzeitig ein ethischer Sieg ... Das sorglich Vermit- Freud mit seiner Ödipus-Legende die Eingemeindung der
telnde der Erziehung darf nicht mit Schonungsangst männlichen Hälfte der Menschheit in die Familie der Klump-
beschwert werden . .. Vom Erzieher der Ohnhänder füße, indessen er an der w eiblichen Hälfte ein genitales Krüp-
verlangen wir daher Lebensbejahung . . . «39 peltum in Form einer angeborenen Penislosigkeit diagnosti-
Es dürfte in der neueren Literatur wenige Äußerungen geben, zierte. Noch lauter hört man den Warnruf in Arnold Gehlens
in denen die post-metaphysische Transformation der Vertikal- Lehre von den haltgebenden Institutionen, der zufolge die
spannung, das heißt des inhärenten Gefälle-Bewußtseins der wahnhafte Grenzenlosigkeit der losgelassenen Subjektivität
Vitalität, ähnlich explizit auf den Punkt gebracht wird. Für allein durch ein schützendes Gerüst aus überpersönlichen
Formen vor sich selbst gerettet werden kann. Hier tauchen
38 Ibid., S. 34. die Krücken als die Institutionen wieder auf, und deren Be-
39 Ibid., S. 36. deutung nimmt um so mehr zu, als die Anarchisten des
Der Planet der Übenden 3 Nur Kruppel werden überleben 97
20. Jahrhunderts von links und rechts zu ihrer Zerschlagung subjektive Abweichung den Beweis ihrer Wiederholbarkeit
allzu erfolgreich aufgerufen hatten. Gehlen war äußerst be- erst erbringen, wenn sie denn hieran interessiert sind. In den
unruhigt, als er in den sechziger Jahren unter den Jugendli- mutationsfeindlichen traditionalistischen Systemen geht man
chen des Westens eine neue Ohne-Bewegung aufkommen allerdings von vorneherein davon aus, es lohne sich nie, auch
sah. In seiner anthropologischen Rechtfertigung der Institu- nur den Versuch eines Beweises für die Brauchbarkeit von
tionen kulminiert der Anti-Rousseauismus des 20. Jahrhun- Neuem zuzulassen. Epochen mit erhöhter Innovationsoffen-
derts, kondensiert in der Mahnung, der Mensch habe immer heit setzen hingegen auf die Beobachtung, selbst nach tief
sehr viel mehr zu verlieren als seine Ketten. Er stellt die Frage, eingreifenden moralischen Umwertungen und technischen
ob nicht alle politische Kultur mit der Unterscheidung zwi- Neuerungen seien hinreichende Stabilisierungen möglich,
schen Ketten und Krücken beginnt. Seine dramatischste die unseren modus vivendi ins Angenehmere umlenken - doch
Form erreicht das Bekenntnis zur Krückenpflichtigkeit des müssen die Neuerungen stets unter dem Gesichtspunkt ge-
Daseins in den Aussagen der biologischen Paläoanthropolo- prüft werden, ob sie den Stabilitätsbedürfnissen von Systemen
gie bei Louis Bolk und Adolf Portmann: Ihnen zufolge ist der allgemeinen Frühgeburtlichkeitskrüppelpflege (vulgo
homo sapiens konstitutiv ein Frühgeburtlichkeitskrüppel, ein Kulturen) entsprechen.
zur ewigen Unreife bestimmtes Geschöpf, das aufgrund die- Wo auch immer der Mensch auftritt, sein Krüppelturn ist
ses Merkmals, das Biologen Neotenie (Festhalten an juveni- ihm zuvorgekommen: Diese Einsicht bildet den Refrain der
len und fötalen Zügen) nennen, nur in den Inkubatoren der philosophischen Reden vom Menschen im vergangenenJahr-
Kultur zu überleben imstande ist. 40 hundert, gleichgültig, ob man wie die Psychoanalyse vom
In diesen hoch generalisierten Aussagen moderner An- Menschen als Hilflosigkeitskrüppel spricht, der seine Ziele
thropologie wird das holistische Pathos funktional expliziert, nur erhinken kann,41 ob man ihn wie Bolk und Gehlen für
das für ältere Kulturen charakteristisch war, jener Kulturen, einen neotenischen Krüppel hält, dessen chronische Uner-
die unnachgiebig auf dem Vorrang von Tradition und Sitte wachsenheit nur durch starre Kulturhüllen kompensierbar
(des bewähren Inkubators) vor den Launen neuerungslusti- ist, oder wie Plessner für einen exzentrischen Krüppel, der
ger Einzelner beharrten. Jede Orthodoxie, ob sie sich religiös chronisch neben sich steht und sich leben sieht, oder wie
oder durch Altehrwürdigkeit und Anciennität begründet, ist Sartre und Blumenberg als Sichtbarkeitskrüppel, der sich
ein System zur Verhinderung von Mutationen an den stabi- zeitlebens einen Reim auf den Nachteil, gesehen zu werden,
litätverleihenden Strukturen. In dieser Hinsicht ist das Alter machen muß.
des Alten selbstbegründend. Während eine Tradition, falls sie Darüber hinaus kommen nicht nur konstitutive, sondern
nur alt genug erscheint, allein durch ihr Bestehen den Nach- auch historisch erworbene Krüppeltümer in Sicht, und zwar,
weis ihrer Lebensfähigkeit und ihrer Verträglichkeit mit an- wenn man Edmund Husserl Glauben schenken darf, vor al-
deren Bestandsgütern liefert, müssen der neue Einfall und die lem bei den modernen Europäern. Durch ihre Bemühungen
um die intellektuelle Eroberung des Wirklichen haben diese
40 Diese Ansätze werden im dritten Band meines Sphären-Projekts zu
einer allgemeinen Theorie der Existenz in insulierten Räumen fort-
geführt. Vgl. P. SI., Sphären III, Schäume. Plurale Sphärologie, 4 1 Peter Schneider, Erhinken und erfliegen. Psychoanalytische Zwei-
Frankfurt am Main 2004, S. 309-500. fel an der Vernunft, Göttingen 200r.
1
Der Planet der Übenden 3 Nur Krüppel werden überleben 99
sich im Laufe der letzten Jahrhunderte zwei gefahrenträchti- ihre Art, Grund und Anlaß, ihr Dasein als Anreiz zu korri-
ge Fehlhaltungen riesenhaften Ausmaßes zugezogen - Hus- gierenden Exerzitien zu begreifen.
serl nennt sie in nahezu pathographischer Ausdrucksweise Ich darf daran erinnern, daß kleinwüchsige Menschen im
den physikalistischen Objektivismus und den transzendenta- Schema der Würtzschen Krüppeltümer als Wuchskrüppel
len Subjektivismus. 42 Beides sind Modi des denkenden In- klassifiziert wurden. In späteren Zeiten hießen dieselben Per-
der-Weh-Seins, die auf umfassende Weh- und Wirklichkeits- sonen »hinsichtlich des Größenwachstums Behinderte«. Als
verfehlungen hinauslaufen. Zieht man in Betracht, daß unser auch der Ausdruck Behinderung anstößig wurde, wandelten
Dasein in der »Lebenswelt« das ursprüngliche Verhältnis bil- sich die Kleinwüchsigen zu den formatmäßig Andersbefähig-
det, das man seit Heidegger das In-der-Welt-Sein nennt, so ten. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
gewinnt man die ironische Einsicht: Aufgrund von mühevoll haben amerikanische Korrekte den aktuellsten Namen für
erworbenen Fehlprägungen verwechseln wir chronisch die Menschen, die oft nach oben schauen müssen, gefunden, in-
erste Welt mit der zweiten Welt der Physiker, Philosophen dem sie sie die vertically challanged people nannten. Den
und Psychologen. Diese prekäre Sicht auf die zivilisierten Ausdruck kann man nie genug bewundern. Er stellt eine Be-
Europäer als Weltverfehlungskrüppel hatte der alte Husserl griffsschöpfung dar, die ihren Erfindern über den Kopf
indirekt von seinem abtrünnnigen Schüler Heidegger über- wuchs, ohne daß sie bemerkten, was ihnen gelungen war.
nommen, für den der Mensch zunächst und zumeist als Unei- Wir dürfen bei dieser Wendung zweimal lachen, einmal über
gentlichkeitskrüppel beginnt - und als solcher endet, wenn er die korrekten Preziösen und einmal über uns selbst. Zu la-
nicht das Glück hat, einem Trainer zu begegnen, der die or- chen haben wir Recht und Grund, weil wir im Plenum derer,
thopädischen Daten des Daseins bei ihm zurechtrückt. Unter die durch die Vertikalität herausgefordert sind, die absolute
den erworbenen Behinderungen hat der Neo-Phänome- Mehrheit besitzen. Die Formel ist gültig, seit wir es üben,
nologe Hermann Schmitz jüngst auch die habituelle Ironie leben zu lernen - und man kann, wie ich zeige, nicht nicht
aufgedeckt: Sie beraubt den Ironiker der Fähigkeit, in ge- üben und nicht nicht lernen zu leben. Auch ein schlechter
meinsamen Situationen aufzugehen - hier gerät ein Distanz- Schüler zu sein will gelernt sein.
krüppelturn in den Fokus der Betrachtung, das aus der Be- Kurzum, man mußte über die Behinderten, die anders Ver-
hinderung der Teilhabekompetenz durch den Zwang zu faßten, reden, um auf einen Ausdruck zu stoßen, der die all-
chronischer Eleganz hervorgeht. Tatsächlich ist die Rolle gemeine Verfassung von Wesen unter Vertikalspannung aus-
der Ironie in der Geschichte der Wirklichkeitsverfehlungen spricht. »Du mußt dein Leben ändern!«, das heißt, wir sahen
bisher nie ausreichend gewürdigt worden. es anläßlich des Rilkeschen Torso-Gedichts: Du sollst auf die
Die Konsequenzen aus diesen Feststellungen sind so ver- innere Senkrechte achten und prüfen, wie der Zug vom obe-
schiedenartig wie die Diagnosen selbst. Nur eines haben sie ren Pol her auf dich wirkt! Es ist nicht der aufrechte Gang,
gemeinsam: Wenn Menschen ausnahmslos auf verschiedene der den Menschen zum Menschen macht, es ist das aufkei-
Weisen Krüppel sind, haben sie, jeder und jede auf seine und mende Bewußtsein des inneren Gefälles, das im Menschen die
Aufrichtung bewirkt.
42 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phä-
nomenologische Philosophie (zuerst 1936), Hamburg 1996.
raa 4 Letzte Hungerkunst ror

Ideale keineswegs das Verschwinden des positiven Übungs-


lebens nach sich zieht. Möglicherweise zeigt erst die Aske-
4 LETZTE HUNGERKUNST
tendämmerung, als die wir die Wende zum 20. Jahrhundert
KAFKAS ARTISTIK
deuten, rückwirkend und unter stark veränderter Beleuch-
tung das dreitausendjährige Reich der metaphysisch moti-
vierten Askesen in seiner ganzen Ausdehnung. Vieles spricht
Die zeittypische Neigung der Anthropologen, die Wahrheit dafür: Wer Menschen sucht, findet Asketen; wer Asketen
über homo sapiens bei den Behinderten zu suchen, spiegelt beobachtet, entdeckt Akrobaten.
sich in der Literatur der Moderne auf breiter Front. Daß es in Zur Substantialisierung dieses Verdachts, dessen erste For-
einzelnen Fällen vom Existentialismus der Behinderten zu mulierungen auf die moral archäologischen Grabungen des
dem der Akrobaten nur ein Schritt ist, belegt unser Hinweis anderen Schliemann zurückgehen, möchte ich Franz Kafka
auf den armlosen Geiger Unthan. Zu zeigen bleibt, warum als Zeitzeugen aufrufen. Hinsichtlich seines Forschungsan-
der Übergang von der Kondition der Behinderten zum Akro- satzes liegt die Vermutung nahe, er habe den Impuls, der
batismus nicht bloß eine Idiosynkrasie von Marginalen war, von Nietzsehe kam, schon in jungen Jahren aufgenommen
wie U nthan sie in Reaktion auf den angeborenen Stimulus und so stark verinnerlicht, daß er die Herkunft seiner Frage-
ausbildete oder wie sie sich bei Hugo Ball, dem Autor der stellung vergaß - weswegen es in Kafkas Werk praktisch nir-
christlichen Asketen-Biographien, einstellte, als er versuchte, gendwo eine explizite Bezugnahme auf den Verfasser der
die geistigen Deformationen der Weltkriegsära durch eine Genealogie der Moral gibt. Er hat die Anregungen in Rich-
»Flucht aus der Zeit« zu übersteigen. Bei diesem Aufstand tung einer fortschreitenden Absenkung des heroischen Tonus
gegen das Jahrhundert geriet er in die Gesellschaft der Eremi- weiterentwickelt, bei gleichzeitiger Verstärkung des Sinns für
ten, die eintausendfünfhundertjahre zuvor aus ihrer Zeit ge- die universelle asketische und akrobatische Dimension
flohen waren. menschlicher Existenz.
Ich erläutere im folgenden, zunächst an einem literarischen Um den Augenblick des Stabwechsels von Nietzsehe zu
Modell, später in psychologischen und soziologischen Kon- Kafka zu markieren, erinnere ich an die bekannte Seiltänzer-
turen, auf welche Weise der Akrobatismus ein immer weitere Episode im 6. Teil des Prologs von Also sprach Zarathustra, in
Kreise erfassendes Merkmal moderner Reflexion über die der Zarathustra den zu Tode gestürzten Akrobaten als seinen
conditio humana wurde: Dies geschah, als man auf den Spu- ersten Schüler annimmt - oder wenn nicht als Schüler, so als
ren des allgegenwärtigen Nietzsehe im Menschen das nicht seinen ersten Geistesverwandten unter den Menschen der
festgestellte, das entsicherte, das zu Kunststücken verurteilte Ebene. Er tröstet den Sterbenden, indem er ihn darüber auf-
Tier erkannte. Mit der Blickwende zum Akrobaten kommt klärt, warum er nichts mehr zu fürchten habe - kein Teufel
ein weiterer Aspekt der epochalen Kehre zum Vorschein, die werde ihn holen und ihm das Leben nach dem Tode sauer
ich als Trend zur Entspiritualisierung der Askesen beschrei- machen. Worauf der Gestürzte dankbar erwidert, er verliere
be. Von Nietzsehe haben wir den Hinweis auf die asketolo- c nicht viel, wenn er nur das Leben verliere:
gisehe Dämmerung übernommen und uns davon überzeugt, CD »Ich bin nicht viel mehr als ein Tier, das man tanzen
daß der wünschenswerte Untergang der repressiv asketischen I gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen. «
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102 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst 1°3

Man hat in dieser Äußerung die erste Konfession des akro- (von Max Brod später unter dem Titel Betrachtungen über
batischen Existentialismus vor sich. Diese minimalistische Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg ediert), lautet
Aussage gehört unzertrennlich zu Zarathustras Antwort, der erste Eintrag:
die dem Verunglückten einen noblen Spiegel vorhält: »Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der
»>Nicht doch<, sprach Zarathustra, >du hast aus der Ge- Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden.
fahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verach- Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als be-
ten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will gangen zu werden.«44
ich dich mit meinen Händen begraben. <<< Niemand wird behaupten, diese Notiz verstehe sich auf An-
Man kann die Pointe des Dialogs nicht mißinterpretieren. Er hieb von selbst. Die beiden Sätze werden transparent, wenn
hat die Bedeutung einer Urszene, da in ihr eine communio man sie als Fortsetzung der von Nietzsehe eröffneten Szene
neuen Typs konstituiert wird: kein Gottesvolk mehr, sondern begreift - fortgesetzt allerdings in einer Richtung, die von
ein fahrendes Volk, keine Gemeinschaft der Heiligen, son- Nietzsches heroischen und aufstiegsfreudigen Intentionen
dern eine der Akrobaten, nicht Beitragszahler in einer ver- entschieden abweicht. Zwar wird der »wahre Weg« weiterhin
sicherten Gesellschaft, sondern Mitglieder des Vereins der mit dem Seil verknüpft, es ist jedoch aus der Höhe in Boden-
gefährlich Lebenden. Das animierende Element dieser bis nähe versetzt. Es dient weniger als Gerät, auf dem Akrobaten
auf weiteres unsichtbaren Kirche ist das Pneuma der bejahten ihre Trittsicherheit demonstrieren, denn als Stolperfalle. Das
Gefahr. Der vom Seil gefallene Akrobat ist nicht zufällig der scheint zu besagen: Die Aufgabe, den wahren Weg zu finden,
erste unter denen, die sich auf Zarathustras Lehre zubewegen. ist bereits schwierig genug, weswegen Menschen nicht in die
In seiner letzten Lebensminute fühlt sich der Seiltänzer von Höhe steigen müssen, um gefährlich zu leben. Das Seil soll
dem neuen Propheten verstanden wie von keinem zuvor - als nicht mehr deine Fähigkeit testen, auf der schmalsten Basis
das Wesen, das, selbst wenn es beinahe nur ein Tier war, das die Balance zu halten, es hat dir eher zu beweisen, daß du,
man tanzen gelehrt hat, aus der Gefahr seinen Beruf gemacht wenn du zu sicher daherkommst, schon beim Geradeausge-
hatte. hen stürzen wirst. Dasein als solches ist eine akrobatische
Kafka hat nach diesem Prolog zum Roman des Akrobaten Leistung, und niemand kann mit Gewißheit sagen, welche
die nächsten Kapitel verfaßt. Bei ihm ist die Akrobatendäm- Ausbildung die Voraussetzungen liefert, um sich in dieser
merung schon um einige Helligkeitsgrade klarer, weswegen Disziplin zu bewähren. Darum weiß der Akrobat nicht mehr,
man die Szenerie in einem tagesnahen Licht erkennt. Es er- welche Übungen ihn vor Absturz bewahren - die ständige
übrigt sich hier, näher darauf einzugehen, daß Kafka in eige- Aufmerksamkeit ausgenommen. Diese Schwundstufe von
ner Person ein Anhänger turnerischer Übungen, vegetari- Artistik zeigt keineswegs einen Bedeutungsverlust des Phä-
scher Diäten und zeitüblicher Hygiene-Ideologien war. 43 In nomens an, sie verrät im Gegenteil, wie die artistischen
dem Konvolut von Sätzen, die er aus seinen Oktavheften ex- Motive auf alle Lebensaspekte übergreifen. Das große Thema
zerpierte und in einer numerierten Liste zusammenstellte der Künste und Philosophien des 20. Jahrhunderts - die

43 VgJ. Rainer Stach, Franz Kafka. Jahre der Entscheidungen, Frank- 44 Franz Kafka, Sämtliche Werke, hg. von Peter Höfle, Frankfurt am
furt am Main 2002. Main 2008, S. 1343.
1°4 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst

Entdeckung des Gewöhnlichen - zieht seine Energie aus der Das Seil kann als Metapher des Akrobatismus nur fun-
Akrobatendämmerung, die sich in eins mit ihm vollzieht. gieren, sofern man es als gespanntes vorstellt - daher gilt es,
Nur weil die Esoterik unserer Zeit die Identität von Gewöhn- auf die Spannungsquellen, ihre Verankerungen und die Mo-
lichkeit und Akrobatik enthüllt, bringen ihre Forschungen dalitäten der Kraftübertragung zu achten. Solange die Seil-
nicht-triviale Ergebnisse zutage. spannung unter metaphysischem Vorzeichen erzeugt wurde,
Auch Kafkas hermetische Notiz läßt sich dem Komplex mußte man einen Zug von der Überwelt her annehmen, um
der Entwicklungen zuordnen, die ich die Entspiritualisierung die ihr eigene Intensität zu erklären. Diesen Zug von oben
der Askesen nenne. Sie belegt die Zugehörigkeit des Autors erfuhr die durchschnittliche Existenz durch das allgegenwär-
zu der großen Herausdrehung der Modernen aus einem über tige Beispiel der Heiligen, denen aufgrund von Anstrengun-
Jahrtausende wirksamen System von religiös codierten Ver- gen, die man gern übermenschlich nannte, zuweilen die An-
tikalspannungen. Zahllose Menschen waren in diesem Welt- näherung an das Unmögliche gewährt wurde. Man vergesse
alter zu Akrobaten der Überwelt ausgebildet worden, geübt nicht: superhomo ist ein erzchristliches Wort, in dem das hohe
in der Kunst, mit der Balancierstange der Askese über den Mittelalter sein intensivstes Anliegen aussprach - es wurde
Abgrund der »Sinnenwelt« hinwegzugehen. Zu ihrer Zeit am Ende des 13. Jahrhunderts erstmals für den französischen
repräsentierte das Seil den Übergang aus der Immanenz in König Ludwig den Heiligen verwendet! Die Entkräftung ei-
die Transzendenz. Was Kafka mit Nietzsehe verbindet, ist nes solchen jenseitigen Pols zeigt sich in erster Linie darin,
die Intuition, daß beim Verschwinden der Überwelt das ge- daß immer weniger Menschen auf das Hochseil streben. Ei-
spannte Seil zurückbleibt. Warum das so ist, wäre völlig un- nem egalitären und nachbarschaftsethischen Zeitgeist gemäß,
verständlich, wenn sich nicht eine tiefere raison d'etre für die begnügt man sich jetzt mit einer amateurischen, allenfalls
Existenz von Seilen nachweisen ließe, eine Begründung, die bodenturnerischen Auslegung des Christentums. Selbst ein
von ihrer Funktion als Brücke zur Überwelt zu trennen wäre. heiliger Hysteriker wie Padre Pio hatte zu der transzendenten
Tatsächlich existiert eine solche Begründung: Das Seil steht Herkunft seiner Wundmale so wenig Vertrauen, daß er allem
bei beiden Autoren für die Einsicht, daß der Akrobatismus Anschein nach der Versuchung erlag, die blutenden Flächen
im Vergleich zu den üblichen religiösen Formen des »Hin- an seinen Händen mit Hilfe von ätzenden Säuren hervorzu-
übergehens « das resistentere Phänomen bildet. Auf ihn ist bringen und bei Bedarf aufzufrischen.45
Nietzsches Wendung von einer der »breitesten und längsten Seit dem 19. Jahrhundert steht die Montage eines alterna-
Thatsachen, die es giebt«, übertragbar. Mit der Blickwende tiven Generators zum Aufbau existentieller Hochspannung
von der Askese zur Akrobatik wird ein Universum von Phä- auf der Tagesordnung. Tatsächlich wird dieser in Stellung
nomenen aus dem Hintergrund gehoben, das die größten gebracht, indem man eine äquivalente Dynamik im Inneren
Gegensätze auf dem Spektrum zwischen Geistesfülle und der sich selber richtig verstehenden Existenz nachweist.
Körperkraft mühelos umspannt. Hier finden Wagenlenker
und Gelehrte, Ringkämpfer und Kirchenväter, Bogenschüt- 45 Diese Enthüllungen, die der Enttarnung eines Dopingbetrugs
zen und Rhapsoden zusammen - vereint durch gemeinsame gleichkommen, werden dargelegt in dem Buch von Sergio Luzzat-
to: Miracoli e politica neII'Italia del Novecento, Turin 2007. Vgl.
Erfahrungen auf dem Weg zum Unmöglichen. Das Weltethos Dirk Schümer, Ein Säurenheiliger, Frankfurter Allgemeine Zei-
wird auf einem Konzil der Akrobaten formuliert. tung, 26. Oktober 2007.

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106 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst 1°7

Erneut muß der Name Nietzsches fallen, da er es war, dem es Kafka hat seine Intuitionen zur Bedeutung von Akrobatik
gelang, im »Leben« als solchem ein zugstarkes Gefälle apriori und Askese in drei klassisch gewordenen Erzählungen objek-
zwischen Können und Mehr-Können, Wollen und Mehr- tiviert: Ein Bericht für eine Akademie, 1917 (erstmals in der
Wollen, Sein und Mehr-Sein aufzudecken - auch legte er von Martin Buber edierten Zeitschrift Der Jude); sodann:
die aversiven oder bionegativen Tendenzen offen, die nicht Erstes Leid, 1922 (zuerst in der Zeitschrift Genius), und
selten unter dem Vorwand der Demut auf das Wollen des schließlich: Ein Hungerkünstler, 1923 (Erstveröffentlichung
Nicht-Wollens und des Immer-weniger-sein-Wollens zielen. in der Neuen Rundschau).
Die inzwischen allzu gängigen Reden vom Willen zur Macht Die erstgenannte Erzählung enthält die Autobiographie
und vom Leben als ständiger Selbstüberwindung liefern die eines Affen, dem die Menschwerdung auf dem Weg der
Formeln für die inhärente Differentialenergetik des an sich Nachahmung gelang. Was Kafka vorlegt, ist nicht weniger
arbeitenden Daseins. Mögen die kuranten Entspannungs- als eine Neudarstellung des Hominisationsprozesses aus der
ideologien auch alles tun, um diese Verhältnisse unkenntlich Perspektive eines Tiers. Das Motiv der Menschwerdung fin-
zu machen - die modernen Protagonisten der Suche nach det sich nicht wie üblich in einer Kombination aus evolutio-
dem »wahren Weg« sind nicht müde geworden, an die ele- nären Anpassungen und kulturellen Neuerungen. Es ergibt
mentaren Tatsachen des von oben geforderten Lebens zu sich aus einer fatalen Faktizität: dem Umstand, daß die Fän-
erinnern, wie sie sich vor ihrer Verdeckung durch Trivialmo- ger des Zirkus Hagenbeck den Affen in Afrika festnehmen
ralen, humane Kumpaneien und Wellnessprogramme darstel- und in die Menschenwelt verschleppen. Die mitklingende
len. Daß Nietzsehe sie in heroistischen Codierungen präsen- Frage wird nicht expressis verbis angeschnitten: wieso der
tierte, während Kafka die niederen und paradoxalen Figuren Mensch am aktuellen Ende seiner Entwicklung sowohl zoo-
bevorzugte, ändert nichts an der Beobachtung: Beide ziehen logische Gärten als auch Zirkusse einrichtet? - vermutlich,
am gleichen Strang. üb Zarathustra in seiner ersten Anspra- weil er an beiden Orten das vage Gefühl bestätigt findet, er
che sagt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier könne an ihnen etwas über sein eigenes Sein und Werden in
und Übermensch ... « oder ob Kafka das Seil als Stolperfalle Erfahrung bringen.
für Selbstgerechte knapp über dem Boden gespannt sein läßt Für den Affen wird schon an Bord des Fangschiffes, das
- es handelt sich beide Male zwar weder um dasselbe Seil ihn nach Europa bringt, evident, es komme, was seine wei-
noch um dasselbe Kunststück, aber um Seile aus derselben teren Schicksale angeht, angesichts der Alternative Zoo oder
Fabrik, die seit ältester Zeit Zubehör für Akrobaten herstellt. Variete allein das letztere in Frage. Nur dort erkennt er eine
Den technischen Hinweis, daß Nietzsehe zur Kraft- und Fül- Chance, einen wie auch immer geringen Rest seines Erbes zu
le-Abrobatik neigte, während Kafka der Schwäche- und bewahren. Es lebt in ihm fort als das Gefühl, es müsse für
Mangelakrobatik den Vorzug gab, brauche ich hier nicht wei- einen Affen immer einen Ausweg geben - Auswege sind der
ter zu verfolgen. Der bezeichnete Unterschied könnte nur im animalische Rohstoff für das, was Menschen unter dem hoch-
Rahmen einer allgemeinen Theorie der guten und schlechten trabenden Wort Freiheit verhandeln. Im übrigen traf der Affe
Gewohnheiten und einer Betrachtung über die Symmetrien in der Menschenwelt nicht im Vollbesitz seiner natürlichen
zwischen stärkenden und schwächenden Trainings erläutert Beweglichkeit ein: Zwei Schüsse beim Fang hatten ihn ge-
werden. zeichnet - einer im Gesicht, der eine den Namen Rotpeter
108 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst

verursachende rote Narbe an der Wange hinterließ, ein an- ner Stoizismus: Der hält Kandidaten von ),verzweiflungsta-
derer unterhalb der Hüfte, der ihn zum Krüppel machte und ten« - Rotpeters Ausdruck - ab.
ihm nur einen leicht hinkenden Gang erlaubte. Hans Würtz Die nächsten Kunststücke führen weiter aus, was im ersten
müßte Rotpeter neben Lord Byron und Joseph Goebbels in angelegt war: Rotpeter lernt, Menschen zum Spaß ins Gesicht
der Klasse der »Mißwuchskrüppel «, der Hinkenden und De- zu spucken und sich über ihr Zurückspucken gutmütig zu
formierten, einordnen, episodisch auch neben Unthan, dem amüsieren. Dem folgt das Pfeiferauchen und schließlich der
armlosen Geiger, der an einer Stelle seiner Erinnerungen zu Umgang mit Schnapsflaschen, die seine alte Natur auf die erste
Protokoll gab, er habe zeitweilig ohne organischen Grund zu größere Probe stellen. Die Tendenz der beiden letztgenannten
hinken begonnen, sich diese Fehlhaltung jedoch durch inten- Lektionen ist klar: Ohne Stimulantien und Narkotica kann
sives Training wieder abgewöhnt. der Mensch nicht werden, was er in seiner Sphäre darstellen
Weil der Varieteweg allein noch offen ist, führt die soll. Von da an verschleißt Rotpeter auf seinem Weg zur Höhe
Menschwerdung des Affen ohne Umwege auf die akroba- der Varietefähigkeit eine ganze Reihe von Lehrern - d~runter
tische Spur. Das erste Kunststück, das Rotpeter lernt - noch einen, der infolge des Umgangs mit seinem Zögling so In Ver-
ohne zu wissen, daß damit seine Selbstdressur einsetzte -, wirrung geriet, daß er in eine Heilanstalt gebracht ~er~en
ist der Handschlag, die Geste, mit der die Menschen ihren mußte. Zuletzt hat er es »durch eine Anstrengung, dIe sIch
Artgenossen zu verstehen geben, sie achteten sie als ihres- bisher auf der Erde nicht wiederholt hat«, zur Durchschnitts-
gleichen. Während Sozialphilosophen vom Schlage Kojeves bildung eines Europäers gebracht, was einerseits gar nichts,
die Menschwerdung auf das Duell zurückführen, bei dem anderseits doch etwas bedeutet, insofern es ihm den Ausweg
die Kontrahenten aus einer Regung, die man unzulänglich aus dem Käfig, diesen »Menschenausweg«, eröffnete. Resü-
Übermut nennt, ihr Leben riskieren, begnügt sich Kafkas mierend legt der Menschgewordene Wert auf die Festst.~llu~g,
akrobatische Anthropologie mit dem Handschlag, der das sein Bericht sei eine tendenzlose Wiedergabe des tatsachhch
Duell überflüssig macht. "Handschlag bezeugt Offen- Geschehenen: ),ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von
heit . . .« In dieser Geste verwirklicht sich die erste Ethik der Akademie, habe IC 'h nur b enc
' htet.« 46
- ein Affe mußte sie ausführen, damit die Herkunft des Auf der nächsten Stufe von Kafkas variete-existentialisti-
Ethischen aus der Dressur explizit wurde, im gegebenen sehen Untersuchungen tritt das menschliche Personal in den
Fall einer Annäherungsdressur. Noch vor dem Handschlag Vordergrund. In der kurzen Erzählung Erstes Leid, von K~fka
hatte Rotpeter eine psychische Haltung erworben, die die in einem Brief an Kurt Wolff eine »widerliche kleine GeschIch-
Grundlage für alles weitere Lernen abgeben sollte - die te« genannt, ist von einem Trapezkünstler die Rede, der es sich
erzwungene Seelenruhe, die auf der Einsicht basierte, ein angewöhnt hat, nach seinen Darbietungen nicht mehr aus der
Fluchtversuch würde die eigene Lage nur verschlechtern. Zirkuskuppel herabzusteigen. Er richtet sich unter dem Zelt-
Wer erkannt hat, daß der Eintritt in die Menschheit den dach ein und nötigt seine Mitwelt dazu, ihn in der Höhe zu
einzigen Ausweg für das versetzte Tier bietet, darf mithin versorgen. Aufgrund seiner Gewöhnung an die bodenentruck-
alles tun, was er möchte, nur keinesfalls die Krücken zer- te Existenz werden ihm die Umzüge zwischen den Städten, in
brechen, an denen er seinem Ziel entgegenhinkt. Zwischen
der Affenfreiheit und der Menschwerdung liegt ein sponta- 46 Kafka, Sämtliche Werke, a. a. 0 ., S. 877f.
IIO D er Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst III

denen der Zirkus seine Gastspiele gibt, mehr und mehr zur der Komposition religiöser Systeme selten fehlt: Es umfaßt
Qual, weswegen sein Impresario versucht, ihm die Übergänge die inneren Operationen, die das Unmögliche als vollbring-
nach Möglichkeit zu erleichtern. Dennoch verstärkt sein Lei- bar vorstellen - ja es als vollbracht behaupten. Wo immer sie
den sich zusehends. Nur in den schnellsten Autos oder im Ge- vollzogen werden, fällt die Grenze zwischen dem Möglichen
päcknetz von Eisenbahnabteilen hängend kann er die unum- und dem Unmöglichen. Mittels dieses dritten Bausteins wird
gänglichen Reisen überstehen. Eines Tages überrascht er seinen ein hybrider Schluß eingeübt, wonach gilt: Daß X unmöglich
Impresario mit der Forderung, er benötige künftig um alles in ist, beweist seine Möglichkeit. Auf eigentümliche Art wieder-
der Welt ein zweites Trapez - ja, er fragt sich unter Tränen, wie holt der Artist, der nach der zweiten Stange verlangt, das
er es jemals mit bloß einer Stange habe aushalten können. Dar- credo quia absurdum, mit dem Tertullian im 3· Jahrhundert
aufhin schläft er ein, indessen der Impresario im Gesicht des die neue Schlußfigur formalisiert hatte. 48 Unnötig zu sagen,
Schlafenden erste Falten entdeckt. daß dies das eigentlich surrealistische Religionsmodul dar-
In dieser Erzählung werden auf engstem Raum Grundaus- stellt. Zu seinem Vollzug gehört eine innere Operation, die
sagen des Variet<:-Existentialismus zusammengedrängt. Sie von Coleridge - im ästhetischen Kontext - als willing suspen-
betreffen durchwegs die interne D ynamik des artistischen sion of disbelief bezeichnet wurde, die »willentliche Außer-
Daseins, beginnend mit der Beobachtung, daß der Artist zu- kraftsetzung des Unglaubens «.49 Mit ihr sprengt der Gläubi -
nehmend die Beziehung zur Bodenweit verliert. Indem er ge das System der empirischen Plausibilität auf und tritt ein in
sich ausschließlich in der Sphäre einrichten will, in der er die Sphäre des real existierenden Unmöglichen. Wer diese
seine Kunststücke vollbringt, löst er das Verhältnis zum Rest Figur intensiv trainiert, erlangt die für Artisten charakteristi-
der Welt auf und zieht sich in seine prekäre Höhe zurück. sche Beweglichkeit im Umgang mit dem Unglaublichen.
Solche Sätze lesen sich wie eine ernste Parodie auf die Idee der Die entscheidende Entdeckung gelingt Kafka in Form ei-
Anachorese, des religiös motivierten Bruchs mit der profanen nes impliziten Hinweises. Er deckt die Tatsache auf, daß es
Welt. Kafkas Trapezkünstler löst so die Spannung auf, die das keine Artistik gibt, die nicht aufgrund ihrer einseitig absor-
Doppelleben als »Künstler und Bürger« mit sich bringt - wie bierenden Trainingspflichten ein unmarkiertes zweites Trai-
man sie aus den zeitlich und sachlich eng benachbarten Äuße- ning nach sich zieht. Während das erste auf Ertüchtigungs-
rungen Gottfried Benns und Thomas Manns kennt. Er setzt übungen beruht, kommt das zweite einem Ent-Tüchtigungs-
auf die völlige Absorption seines Daseins durch das Eine. Die training gleich. Es formt den Artisten auf dem Seil zugleich
Forderung nach dem zweiten Trapez bezeichnet die jeder zu einem Virtuosen der Lebensunfähigkeit. Daß er als solcher
Radikalartistik innewohnende Tendenz zu immer weiterge- ebenso ernst genommen werden muß wie in seiner ersten
hender Erhöhung des Niveaus. Der Drang zur Steigerung ist Funktion, geht aus dem Verhalten des Impresarios hervor:
der Kunst inhärent wie der religiösen Askese der Wille zum Er versorgt seinen Schützling in beiden Hinsichten mit dem
Überwirklichen: Perfektion ist nicht genug. Was weniger ist Benötigten, auf der einen Seite mit neuem Gerät für seine
als das Unmögliche, befriedigt nicht. Performance in der Höhe, auf der anderen Seite mit all dem
Wir stoßen hier auf ein weiteres mentales Modul,47 das bei
48 Zu Tertullian siehe unten S. 323f.
49 In: Biographia Litereria, 18 I 7. Dem Autor zufolge kreiert dieser
47 Siehe die Beschreibung der bei den ersten Module oben S. 43 f f. Akt poetic faith.
112 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst 113

Zubehör der Lebenserleichterung, das insbesondere in den gar den Wächtern auf eigene Rechnung ein üppiges Frühstück
kritischen Übergangsmomenten zur Anwendung kommt. servieren, um ihnen seine Dankbarkeit für ihre Dienste zu
Von diesem Zubehör verstehen wir jetzt: Auch es besitzt bezeugen. Nichtsdestoweniger gehörte der Argwohn gegen
die Qualität von Übungsgeräten, Geräten, an denen der seine Kunst zu deren ständigen Begleitern.
Künstler seine fortschreitende Lebensferne übt. Über diese In den guten Tagen konnte die Hungerdarbietung als
zweite Annäherung an die Unmöglichkeitsgrenze sich Sor- selbständige Sensation in den größten Häusern der Welt ge-
gen zu machen, mochte der Impresario allen Grund haben. zeigt werden. Für die einzelne Hungerphase hatte der Im-
Andererseits stellt sie das radikale Künsdertum des Artisten presario eine Höchstzeit von vierzig Tagen festgesetzt, nicht
unter Beweis - ein Künstler, der lebenstüchtig bliebe, verriete wegen biblischer Analogien, sondern weil sich erfahrungsge-
ja nur, daß er neben seiner Kunst Zeit für Affairen mit der mäß das Publikumsinteresse in den Großstädten nur über
Nicht-Kunst hatte, womit er automatisch aus der Gruppe der eine solche Zeitspanne aufstacheln ließ, während es bei länge-
Großen ausscheidet. Kafka kann demnach als Anreger einer ren Perioden zurückging. Der Hungerkünstler selbst war mit
negativen Trainingstheorie verstanden werden. dieser Fristbeschränkung stets unzufrieden, da er den Drang
Am bedeutendsten sind die Vorstöße des Dichters in der in sich trug, zu beweisen, er sei in der Lage, »auch noch sich .
kurzen Erzählung Ein Hungerkünstler. In ihr fügt er seinen selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche«.51 Wenn er nach
Beobachtungen zur Existenz der Artisten eine Aussage über der Beendigung seiner vierzigtägigen Kunstausübung zusam-
ihre künftigen Schicksale hinzu. Schon der Anfangssatz der menbrach, dann keineswegs, weil er vom Fasten erschöpft
Erzählung stellt die Tendenz klar: »In den letzten Jahrzehn- gewesen wäre, wie sein Impresario unter Verkehrung von
ten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegan- Ursache und Wirkung behauptete, vielmehr aus Verzweif-
gen.« Das zeitgenössische Publikum kann den Darbietungen lung darüber, daß man ihm auch diesmal nicht erlaubte, die
solcher Virtuosen nicht mehr viel abgewinnen, während es Grenzen des für möglich Gehaltenen zu überschreiten.
früher ganz in deren Bann stand. In den Glanzzeiten der Als nun der eingangs festgestellte Rückgang des Interesses
Kunst gab es Abonnenten, die tagelang vor dem Käfig saßen, an Hungerkunst beim allgemeinen Publikum eintrat, mußte
ja, die ganze Stadt beschäftigte sich mit dem Asketen, und der Künstler nach einigen vergeblichen Versuchen, das ster-
»von Hungertag zu Hungertag stieg die Anteilnahme«.50 Bei bende Genre zu reanimieren, sich dazu entschließen, seinen
der Demonstration seiner Kunst trug der Fastende ein Impresario zu entlassen und sich von einem großen Zirkus
schwarzes Trikot, durch das die Rippen mächtig hervortra- engagieren zu lassen, wo er, wie er wußte, keineswegs als
ten. Er wurde in einem mit Stroh ausgelegten Gitterkäfig Glanznummer auftreten würde, sondern als eine Kuriosität
gehalten, um die Vollkommenheit der Kontrolle über seine am Rande. Man stellte seinen Käfig in der Nähe der Ställe auf,
Tätigkeiten zu garantieren. Wächter sorgten Tag und Nacht in der die Zirkustiere untergebracht waren, damit die Besu-
für die strenge Einhaltung der Hungerregeln, damit er nicht cher, die in den Pausen zu den Tieren strömten, nebenbei
etwa heimlich etwas zu sich nähme. Er dachte freilich nicht einen Blick auf den ausgemergelten Asketen warfen. Er muß-
daran, unlautere Mittel einzusetzen. Gelegentlich ließ er so- te sich mit den Tatsachen abfinden, auch mit der bittersten:

50 Kafka, Sämtliche Werke, a. a. 0., S. 888. p Ibid., S. 891.


Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst

daß er nur noch »ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen« tephilosophie begann, kann nun zu einer Explikationsform
war. Zwar konnte er jetzt, weil er unbeobachtet blieb und der klassischen Askesen entfaltet werden. Verantwortlich
folglich von niemandem zurückgehalten wurde, so lange hierfür ist die Wahl der Disziplin: des Hungers. Dieser ist
hungern, wie er es von jeher gewollt hatte, doch sein Herz keine artistische Disziplin wie jede andere, sondern die meta-
war schwer: denn »er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog physische Askese par excellence. Von alters her stellte er die
ihn um seinen Lohn«. In seinem Stroh verborgen stellte er Übung dar, durch die, wenn sie gelingt, der gewöhnliche, dem
Rekorde auf, die niemand bemerkte. Hunger unterworfene Mensch erfährt - oder an anderen be-
Als er sich dem Tod nahe fühlte, legte der Hungerkünstler obachtet -, wie man die Natur auf ihrem eigenen Terrain be-
vor dem Aufseher, der ihn zufällig zusammengeschrumpft siegt. Das Hungern der Asketen ist die Könnensform des
unter dem Stroh gefunden hatte, seine künstlerische Konfes- Mangelleidens, das überall sonst nur passiv und unfreiwillig
sion ab: erfahren wird. 53 Dieser Sieg über den Mangel ist nur denje-
>>>Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewun- nigen gegönnt, denen ein größerer Mangel zu Hilfe kommt:
dert . ... < >Wir bewundern es auch<, sagte der Aufseher Wenn die alten Askesemeister davon sprechen, der Hunger
entgegenkommend. >Ihr sollt es aber nicht bewundern<, nach Gott oder Erleuchtung müsse jedes andere Verlangen
sagte der Hungerkünstler. >Nun, dann bewundern wir beiseite räumen, falls er je gestillt werden solle, setzen sie
es also nicht<, sagte der Aufseher, >warum sollen wir es schon eine Hierarchie der Entbehrungen voraus. Das fromme
denn nicht bewundern?< >Weil ich hungern muß, ich Sprachspiel greift die Möglichkeit auf, die oralen Enthalt-
kann nicht anders<, sagte der Hungerkünstler. >Da sieh samkeiten zu verdoppeln, um dem profanen Hunger einen
mal einer<, sagte der Aufseher, >warum kannst du denn heiligen gegenüberzustellen. In Wahrheit ist der heilige Hun-
nicht anders?< >Weil ich ... nicht die Speise finden konn- ger kein Verlangen nach Füllung, er bedeutet vielmehr die
te, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, Suche nach der Homöostase, für welche "Stillung des Hun-
ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen gers« nur eine spiritualrhetorisch bewährte Metapher bietet. 54
wie du und alle.« <52 Entscheidend ist an Kafkas Askese-Parabel das Geständnis
Nach seinem Tod wurde der Käfig einem jungen Panther des Artisten, er habe Bewunderung nicht verdient, weil er bei
zugeteilt, der sich darin prachtvoll hin und her warf. Von seinem Fasten nichts anderes getan habe, als was seiner in-
ihm teilt der Erzähler das Wesentliche in dem Satz mit: nersten Neigung oder besser: seiner tiefsten Abneigung ent-
»Ihm fehlte nichts.« sprach - er gehorchte immer nur der Aversion gegen die
Ich habe nicht vor, das vielfach interpretierte Meisterwerk Zumutung, die vorfindbaren Nahrungsmittel zu sich zu neh-
hier unter künstlerischen Aspekten zu kommentieren. In un-
serem Zusammenhang genügt eine amusische Lektüre, die 53 Über die asketische Revolte gegen den Hunger siehe unten S. 65 8f.
den Text als geistesgeschichtliches Zeugnis nimmt. Worauf 54 Die Metapher ist in der Sache irreführend, weil sie auf der Ver-
es ankommt, ist die Zuspitzung der Kafkaschen Reflexion wechslung von oralen und prä-oralen Suchintentionen beruht. Die
für die hungrige Welt gültige Leitdifferenz Leer versus Voll deckt
zu einem allgemeinen asketologischen Modell. Was als Varie-
nicht das gesamte Feld der Suche ab: Für die spirituell An-
spruchsvollsten unter ihnen gilt eher die Leitdifferenz Homöosta-
52 Ibid., S. 895· tisch-jenseits-der-Sorge versus Unruhig-in-der-Sorge.
116 Der Planet der Übenden 4 Letzte Hungerkunst

men. Der Satz »Ihr sollt es aber nicht bewundern« ist das vergangen und erledigt. Nun soll die Zeit derer kommen,
spirituellste Wort Europas im letzten Jahrhundert - noch denen nichts fehlt, ob es nun Panther sind, Bewohner von
vermißt man das analoge: Ihr sollt es aber nicht heiligspre- Arbeiter- und Bauernrepubliken oder Anhänger der sozialen
chen. Was Nietzsche allgemein als den Negativismus der vital Marktwirtschaft. Was die spirituellste unter den Askesen war,
Behinderten beschrieben hatte, kehrt nun spezifisch als Wi- ist jetzt tatsächlich nur noch »ein Hindernis auf dem Weg zu
derwille gegen Nahrung wieder. Kafkas Artist überwindet den Ställen«.
sich also niemals selbst, er folgt einem Widerwillen, der für
ihn arbeitet und den er bloß zu übertreiben braucht. Die Zehn Jahre nach dem Erscheinen von Ein Hungerkünstler hat
extremste Artistik erweist sich in letzter Analyse als eine Ge- Josef Stalin das Ende der Hungerkunst mit anderen Mitteln
schmacksfrage. Nichts schmeckt mir hier, lautet das Urteil, besiegelt, als er im Winter 1932 auf 1933 eine Unzahl von
das im Jüngsten Gericht des Gaumens über die Angebote des ukrainischen Bauern - die Zahlenangaben schwanken zwi-
Daseins verhängt wird. Die Nahrungsverweigerung geht schen 3,5 und 8 Millionen - durch eine Hungerblockade in
noch weiter als das Rühr-mich-nicht-an, das Jesus, der Auf- den Tod schickte, Unzeitgemäße auch sie, Hindernisse auf
55
erstandene, nach Johannes 20,17 an Maria Magdalena adres- dem Weg zur Fülle.
sierte. Sie artikuliert gestisch ein Dring-nicht-in-mich-ein Selbst Stalin hat die Profanierung des Hungers nicht ganz
oder Stopf-mich-nicht-voll. Sie geht vom Berührungsverbot zu erzwingen vermocht. Es hat zu seiner Zeit den Hunger-
zur Stoffwechselverweigerung über, als sei jede Kollabora- künstler wirklich gegeben, nicht in Prag, jedoch in Paris, we-
tion mit den einverleibenden Tendenzen des eigenen Körpers nige Jahre nach Kafkas Tod, nicht als Mann im schwarzen
ein verworfenes Wagnis. Trikot mit hervorspringenden Rippen, sondern als sehr mage-
Was Kafkas erzählerisches Experiment bedeutsam macht, res Fräulein in blauen Strümpfen. Auch sie war eine Artistin
ist sein konsequentes Arbeiten unter der stumm angenomme- auf dem Feld des Abnehmens um des ganz Anderen willen:
nen Gott-ist-tot-Prämisse. Ihretwegen kann die Hunger- die größte Denkerin der Antigravitation, die das 20. J ahrhun-
kunst enthüllen, was vom metaphysischen Begehren bleibt, dert kennt, 1909 geboren, Anarchistin aus jüdischem Eltern-
wenn dessen überweltliches Ziel getilgt ist. Es zeigt sich eine haus, zum Katholizismus konvertiert, eine Eingeweihte auf
Art von geköpfter Askese, bei der die vermeintliche Zugspan- allen Zauberbergen der Weltlosigkeit, zugleich Sucherin nach
nung von oben sich als Aversionsspannung von innen erweist. der Verwurzelung in der authentischen Gemeinschaft, Wi-
Der Rumpf ist dann die ganze Sache. Kafka experimentiert derstandskämpferin und Trotzexistentialistin, die an der Seite
mit dem Weglassen der Religion - um eine letzte Religion des der Arbeiterschaft hungern wollte, um ihre Appetitlosigkeit
Weglassens all dessen, was sie bisher ausmachte, zu erproben: zu nobilitieren und ihre Nobilität zu demütigen. Simone Weil
Was bleibt, sind die artistischen Übungen. Daher redet der brachte es dahin, im Alter von 34 Jahren im britischen Exil an
Hungerkünstler redlich, wenn er bittet, nicht bewundert zu einer doppelten Todesursache zu sterben: an Tuberkulose
werden. Die Abkehr des Volksinteresses von seinen Darbie- und an freiwilligem Verhungern.
tungen erfolgt genau im richtigen Moment, als gehorche die 55 Durch das Zusammenwirken von Hungergenozidpolitik, Zwangs-
Menge, ohne es zu wissen, den Eingebungen eines Zeitgeists, kollektivierung und Kulakenverfolgungen forderte die Politik
der über die Hungerwelt das Schlußwort sprechen möchte: Stalins allein zwischen 1929 und [936 14 Millionen Todesopfer.
118 ) Pariser Buddhismus

liehe Unerfreulichkeit jeder ins Detail gehenden Biographie


5 PARISER BUDDHISMUS großer Männer. Mehr noch bezeichnet sie die psychologische
und moralische Unwahrscheinlichkeit einer aufrichtigen
CIORANS EXERZITIEN
Selbstdarst~llung. Zugleich macht sie die Bedingung namhaft,
unter der eIne Ausnahme möglich wäre: Tatsächlich könnte
man in Cioran den Prior des von Nietzsehe in Aussicht ge-
stellten Ordens erkennen. Seine heilige Tollkühnheit ent-
Auch die letzte Gestalt, die ich in diesen einführenden Über-
springt einer Gebärde, die Nietzsehe für die unwahrschein-
legungen präsentieren möchte, der 191 I geborene rumäni-
lichste und am wenigsten wünschbare hielt - dem Bruch mit
sche Aphoristiker Emile M. Cioran, der von 1937 bis 1995
den Normen der Diskretion und des Takts, um vom Pathos
in Paris lebte, ist der großen Drehung zuzuordnen, die hier
der Distanz nicht zu reden. Nietzsehe kam dieser Position in
zur Verhandlung gebracht wird. Er ist für uns ein wichtiger
eigener Sache nur einmal nahe, als er in den »physiologi-
Informant, weil sich bei ihm beobachten läßt, wie die Infor-
schen« Passagen von Ecce homo den zur aufrichtigen Selbst-
malisierung der Askese voranschreitet, ohne daß die vertikale
darstellung nötigen »Cynismus« praktizierte - er reklamierte
Spannung aufgegeben würde. Auf seine Weise ist Cioran
für diese Geste umgehend das Prädikat »welthistorisch«, um
ebenfalls ein Hungerkünstler: ein Mann, der metaphorisch
das Gefü~l der Peinlichkeit durch die Größe des Anliegens zu
fastet, indem er sich fester Nahrung für die Identität enthält.
kompenSIeren. Er brachte es allerdings eher zu einem barok-
Auch er überwindet sich nicht, vielmehr folgt er, wie Kafkas
ken Selbstlob als zu einer Indiskretion gegen sich selbst, falls
Protagonist, seinem stärksten Hang, dem Abscheu vor dem
nicht für diesmal das Selbstlob die tiefere Form der Bloßstel-
vollen Selbst. Als metaphorisch Hungernder tut er zeitlebens
lung bedeutete. Im übrigen blieb Nietzsehe ein scheuer Pro-
nichts anderes, als die Basis der Großen Weigerung auszuar-
phet, der die Enthemmungen, die er kommen sah, nur durch
beiten - dabei demonstriert er die Entfaltung der Skepsis von
den Türspalt wahrnahm.
der Zurückhaltung des Urteils hin zu einer Reserve gegen die
Wer sich, wie Cioran, nach Nietzsehe datierte, war dazu
Versuchung des Existierens.
verurteilt, weiterzugehen. Der junge Rumäne folgte Nietz-
Man kommt dem Phänomen Cioran am nächsten wenn
sches Hinweis nicht nur, indem er sich an die Spitze des Or-
man zwei Äußerungen Nietzsches zum Leitfaden wählt:
dens der heiligen Tollkühnheit setzte, zusammen mit anderen
"Wer sich selbst verachtet, achtet sich immer noch dabei
Selbstentblößern wie Michel Leiris und Jean-Paul Sanre; er
als Verächter.«56
verwirklichte auch das Programm, die letzte Möglichkeit von
),Moral: welcher kluge Mann schriebe heute noch ein
Selbstachtung auf die Verachtung seiner selbst zu gründen. Er
ehrliches Wort über sich? - er müsste denn schon zum
konnte dies tun, weil er der scheinbaren Ungewöhnlichkeit
Orden der heiligen Tollkühnheit gehören.«57
seines Vorhabens zum Trotz den Zeitgeist im Rücken hatte.
Die letztere Bemerkung bezieht sich auf die fast unvermeid-
Die epochale Drehung zur Explizitmachung des Latenten
zog ihn in ihren Bann und ließ ihn Dinge zu Papier bringen,
56 F. N., Jenseits von Gut und Böse, S. 78.
57 F. N., Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung: was bedeuten
vor denen wenige Jahre zuvor noch jeder Autor zurückge-
asketische Ideale, KSA 5, S. 386. schrecktwäre. In dieser Drehung gelangte das »ehrliche Wort
120 Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus 121

über sich«, das Nietzsche postuliert und praktisch ausge- Mystik der allgemeinen Mobilmachung und am politischen
schlossen hatte, zu einer Offensivkraft ohne Beispiel. Aus Vitalismus, den man als Heilmittel gegen Skepsis und über-
bloßer Ehrlichkeit wird eine Schreibweise der Rücksichtslo- zogenes Innenleben anpries. Dies alles lud dazu ein, die Ret-
sigkeit gegen sich selbst. Man kann nicht mehr Autobiograph tung im Phantasma der »Nation« zu suchen - einem nahen
sein, ohne Autopathograph zu werden - das heißt: ohne seine Verwandten des Gespensts, das heute als »wiederkehrende
Krankenakte zu veröffentlichen. Ehrlich ist, wer zugibt, was Religion« umgeht.
ihm fehlt. Cioran war der erste, der an die Rampe trat, um zu Cioran blieb auf dieser Position - falls es je eine war - nicht
erklären: Mir fehlt alles - und aus demselben Grund ist mir lange stehen. Der zunehmende Ekel vor seinen hysterischen
auch alles zuviel. Ausflügen in die Positivität gab ihm mit der Zeit die Hell-
Das 19. Jahrhundert hatte das Genre des »ehrlichen sichtigkeit zurück. Als er 1937 nach Paris übersiedelte, um es
Worts« nur ein einziges Mal auf die Spitze getrieben: in Do- nahezu sechzig Jahre lang wie ein Eremit zu bewohnen, war
stojewskijs Au/zeichnungen aus dem Kellerlach von 1864. er von der Versuchung, an großer Geschichte teilzunehmen,
Nietzsches Reaktion auf dieses Stück ist hinlänglich bekannt. zwar noch nicht ganz geheilt, doch er entfernte sich zuneh-
Cioran verfaßte ein halbes Jahrhundert lang seine Aufzeich- mend von den Exaltationen seiner Jugend. Die aggressiv-
nungen aus der Mansarde, in denen er mit bewunderswerter depressive Grundstimmung, die ihn von Anfang an geprägt
Monotonie sein einziges Thema bearbeitete: Wie man weiter- hatte, brachte sich nun in anderen Formen zur Geltung.
macht, wenn einem alles fehlt und einem alles zuviel ist. Er Während dieser Phase gelang es Cioran, in der Gattung des
erkannte schon früh seine Chance als Autor darin, sich die »ehrlichen Worts über sich« definitiv Fuß zu fassen.
von Nietzsche angebotene Jacke anzuziehen - bereits in sei- "Durch die Unmöglichkeit zu töten oder mich zu töten,
nen rumänischen Jahren schlüpfte er in sie hinein, um sie nie habe ich mich in die Literatur verirrt. Einzig diese Un-
wieder abzulegen. Wenn Nietzsche die Metaphysik als fähigkeit hat aus mir einen Schreiber gemacht.«58
Symptom des Leidens an der Welt und als Hilfswerk zur Nie würde er die Sprache des Engagements wieder verwen-
Weltflucht gedeutet hatte, so akzeptierte Cioran diese Dia- den, die er in seinen rumänischen Tagen mit dem Talent des
gnose ohne den geringsten Versuch einer Gegendarstellung. pubertären Imitators aufgegriffen hatte. Auch die blinde Be-
Was er ablehnte, war Nietzsches Flucht in die entgegenge- wunderung, die er einst für Deutschland und seinen brutalen
setzte Richtung: die Bejahung des Unbejahbaren. Der Über- Aufbruch gehegt hatte, fiel von ihm ab. »Wenn ich von einer
mensch ist für ihn eine puerile Fiktion, ein aufgeblasener Krankheit geheilt bin, dann von dieser.«59 Zum ehrlichen
Hausmeister, der seine Fahne aus dem Fenster hängt, indes- Wort über die eigene Krankheit gehört für den Genesenen
sen die Welt so unannehmbar ist wie immer. Wer redet von das Geständnis, sich mit unehrlichen Mitteln haben heilen zu
der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wenn einmal existieren wollen. Von diesem Übel ein für alle Mal befreit, widmete er
schon ein Mal zuviel ist. sich der Aufgabe, den Schriftsteller Cioran zu erfinden, der
In seinen Studentenjahren hatte Cioran eine Weile mit den
58 Emile Cioran, Cahiers, 1957-1972, Paris 1997, S. 14 (eigene Über-
zeitüblichen revolutionären Bejahungen experimentiert und
setzung).
sich im Dunstkreis des rumänischen Rechtsextremismus her- 59 Zitiert nach Bernd Mattheus, Cioran. Portrait eines radikalen Skep-
umgetrieben. Er fand Geschmack an der damals modischen tikers, Berlin 2007, S. 83.
122 Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus 12 3

mit dem psychopathischen Kapital, das er als Jugendlicher in biographischen Äußerungen in deutscher Sprache den Titel
60
sich entdeckt hatte, ein Unternehmen gründen sollte. Die Cafard. Als praktizierender Parasit knüpfte Cioran am
Figur, die sich damals selbst erschuf, hätte eine Romangestalt griechischen Sinn des Wortes an: pardsitoi, Beisitzer am ge-
von Hugo Ball sein können: Sie stellt einen »gerempelten deckten Tisch, nannten Athener jene Gäste, die man einlud,
Menschen« vor, den Variw!heiligen, den philosophischen damit sie zur Unterhaltung der Gesellschaft beitrügen. Solche
Clown, der das Verzweifeln und Nichts-Werden-Wollen Erwartungen zu erfüllen fiel dem rumänischen Emigranten in
zur Nummernrevue ausbaut. Paris nicht schwer. In einem Brief an seine Eltern konstatierte
An Ciorans »Lebenswerk« lassen sich die Verweltlichung er: »Wenn ich von Natur aus schweigsam gewesen wäre, wür-
des Askesen und die Informalisierung der Spiritualität mit de ich schon seit langem an Hunger gestorben sein.«61 An
höchstmöglicher Prägnanz beobachten. Bei ihm übersetzte anderer Stelle: »Alle unsere Demütigungen beruhen darauf,
sich der mitteleuropäische Trotz-Existentialismus nicht in daß wir uns nicht entschließen können, Hungers zu sterben. «62
engagierten Widerstandsexistentialismus, wie er bei den Die Aphorismen Ciorans lesen sich wie ein Kommentar
Mandarinen von Paris zu beobachten war, sondern in eine mit praktischer Anwendung zu Heideggers Lehre von den
endlose Serie von Akten des Degagements. Das CEuvre dieses Stimmungen, das heißt den atmosphärischen Imprägnierun-
Refus-Existentialisten besteht in einer Folge von Absage- gen des individuellen und des kollektiven »Thymos«, die der
schreiben an die Versuchungen, sich zu involvieren und Posi- Existenz eine prä-logische Tönung apriori »verleihen«. We-
tion zu beziehen. Hierdurch kristallisiert sich sein Zentralpa- der Heidegger noch Cioran machten sich die Mühe, über den
radox immer klarer heraus: die Stellung des Mannes ohne Verleih und den Verleiher (bzw. die Verleiherin) der Stim-
Stellung, die Rolle des Akteurs ohne Rolle. Schon mit dem mung mit der Ausführlichkeit zu sprechen, die der Bedeu-
ersten seiner Pariser Bücher, Pricis de decomposition, 1949, tung des Phänomens angemessen gewesen wäre - wohl auf-
erreichte Cioran als Stilist die meisterliche Ebene - unter dem grund der Tatsache, daß der eine wie der andere dazu neigten,
Titel Lehre vom Zerfall übersetzte Paul Celan es 1953 ins die psychologische Analyse abzubrechen, um schnell in die
Deutsche. Gewiß hatte Cioran den Geist der Ohne-Epoche Sphäre der Existenzaussagen überzugehen. Tatsächlich ak-
mit bleibenden Resultaten in sich aufgenommen, die Krücken zeptiert Cioran seine aggressiv-depressive Gestimmtheit als
jedoch, die er zerbrechen wollte, sind die der Identität, der das atmosphärische Urfaktum seines Daseins. Er nimmt es als
Zugehörigkeit, der Folgerichtigkeit. Überzeugt war er nur Verhängnis hin, daß ihm die Welt primär in dystonischen
von einem Grundsatz, nach welchem es darauf ankommt, Klangfarben gegeben ist: Überdruß, Langeweile, Sinnlosig-
von nichts überzeugt zu sein. Von Buch zu Buch setzte er keit, Geschmacklosigkeit, rebellischer Zorn gegen alles, was
seine existentialistische Bodenakrobatik fort, deren Nähe zu der Fall ist. Freimütig bestätigt er Nietzsches Diagnose, wo-
den Übungen der Kunstfiguren Kafkas ins Auge springt.
Festgelegt war seine Nummer von Anfang an: Es ist die des 60 Emile Cioran, Cafard. Originaltonaufnahmen 1974-1990, heraus-
verkaterten Marginalen, der sich nicht allein in der Stadt, viel- gegeben von Thomas Knoefel und Klaus Sander, mit einem Nach-
mehr im Universum als Obdachloser (sans abri), Staatenloser wort von Peter Sloterdijk (Audio-CD), Köln 1998.
61 Bernd Mattheus, Cioran, a. a. 0., S. 13 0.
(sans papier) und Schamloser (sans gene) durchschlägt. Nicht 62 Emile Cioran, Lehre vom Zerfall, in: ders., Werke, Frankfurt am
umsonst trägt die eindrucksvolle Sammlung seiner auto- Main 2008, S. 852.
Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus I25

nach die Ideale der Metaphysik als die geistigen Niederschlä- Dies alles könnte man als eine bizarre Züchtung in den
ge von physischer, auch psychophysischer Krankheit zu deu- Biotopen des Parisianismus nach I 94 5 auf sich beruhen las-
ten sind. Indem er auf der Linie des »ehrlichen Worts über sen, wenn hier nicht eine allgemein bedeutsame Tendenz zum
sich« weitergeht, als je ein Autor vor ihm, gibt er offen zu, es Vorschein käme, die einen radikalen Wandel der Zustände auf
sei ihm darum zu tun, die Gegenrechnung für die »verfehlte dem Planet der Übenden erzwingt. Cioran ist, wie bemerkt,
Schöpfung« aufzumachen. Denken heißt nicht danken - wie ein Kronzeuge für den asketologisch folgenreichen Um-
Heidegger suggerierte, es heißt: sich rächen. bruch, den wir als Emergenz der Anthropotechnik themati-
Erst Cioran hat verwirklicht, was Nietzsche hatte entlar- sieren. Durch ihn werden wir auf die Informalisierung der
ven wollen, als habe das Phänomen von alters her existiert: Spiritualität aufmerksam, von der ich sagte, sie sei als kom-
eine Philosophie des reinen Ressentiments. Wenn aber eine plementäre Gegentendenz zur Entspiritualisierung der Aske-
solche erst unter Nietzsches Anregung möglich geworden sen zu begreifen. Cioran ist ein Übender neuen Typs, dessen
wäre? In ihr wandelt sich der Trotz-Existentialismus deut- Originalität und Repräsentativität sich darin zeigt, daß er sich
scher Herkunft - unter Umgehung des Widerstandsexisten- darin übt, jedes zielgerichtete Üben zu verweigern. Metho-
tialismus französischer Prägung, den Cioran als flache Mode dische Übungen sind bekanntermaßen nur möglich, wo ein
verachtete - zu einem Existentialismus der Unheilbarkeit verbindliches Übungsziel vor Augen steht. Genau dessen
krypto-rumänischer und dakisch-bogumilischer Färbung. Autorität wird von Cioran bestritten. Ein Übungsziel zu ak-
Erst an der Grenze zum asiatischen Inexistentialismus mach- zeptieren, das hieße ja schon wieder: glauben - wobei »glau-
te diese Kehre halt. Cioran spielte zwar, vanitas-europäisch, ben« hier die mentale Handlung bezeichnet, mit welcher der
zu allen Zeiten seines Lebens mit dem Gefühl einer umfas- Anfänger das Ziel vorwegnimmt.
senden Unwirklichkeit, er konnte sich jedoch nicht entschlie-
ßen, dem Buddhismus zu folgen, wenn dieser die Wirklich- Mit diesem Vorlaufen-in-das-Ziel ist das vierte Modul des
keitsthese fallenläßt, und in eins mit ihr, die Gottesthese. »religiösen« Verhaltenskomplexes gegeben.64 Die Vorweg-
Diese dient bekanntlich dazu, die Wirklichkeit, die wir ken- nahme geschieht in der Regel so, daß auf einen Vollendeten
nen, durch eine »letzte Wirklichkeit«, die uns verborgen ist, geschaut wird, von dem man ungläubig-gläubig die Botschaft
zu garantieren. 63 Obschon er sich vom Buddhismus angezo-
gen fühlt, will Cioran dessen Ontologie nicht mitvollziehen. 64 Ich erinnere en passant an die drei zuvor genannten Module des
Nicht nur verabscheut er die Realität der Welt, er hat zugleich religoiden inneren Operierens: die Unterstellung eines Subjekts am
vor, sich an ihr schadlos zu halten, und muß daher, wäre es Ort des Dings; die Annahme einer Metamorphose, dank welcher
Dieses in Jenem »erscheint«; die modale Setzung, wonach aus der
auch nur sophistisch, die Realität der Realität akzeptieren.
Unmöglichkeit einer Sache ihre Möglichkeit folgt. Das hier ge-
Weder will er sich selbst erlösen noch sich erlösen lassen. Sein nannte vierte Modul ist das eigentlich artistische. Es läßt sich eben-
Denken ist eine einzige Reklamation gegen die Zumutung, so auf künstlerische Vervollkommnungsideen wie auf die Ideale der
Erlösung zu benötigen. Heiligkeit beziehen. Das fünfte Modul besteht in der Vergegen-
wärtigung des Überwältigenden, das heißt in den inneren Opera-
tionen, mit denen man die Vernichtbarkeit der eigenen Existenz
63 Vgl. Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach und ihren Untergang im Übergroßen meditiert. Näheres hierzu
Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2 00 7. unten S. 52 If.

11
126 Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus

empfängt, man könne es ihm eines Tages gleichtun. Wir wer- der Übungsdimension: Denn indem er übt, wo kein geeig-
den in späteren Kapiteln sehen, wie unter dem Einsatz dieser netes Instrument ist, entwickelt der »Anti-Prophet« eine
inneren Operation über Jahrtausende hin Armeen von Üben- informelle Version von Meisterschaft.
den in Bewegung gesetzt wurden. 65 Ohne das Modul des Er wird der erste Meister des Es-zu-nichts-Bringens. Wie
Vorlaufens-in-das-Ziel keine vita contemplativa, kein Or- Kafkas Hungerkünstler macht er aus seiner Aversion eine
densieben, kein Schwarm von Aufbrüchen zu anderen Kü- Virtuosenübung und bildet zu seinem cafard die entsprechen-
sten, kein So-werden-Wollen, wie einmal ein Größerer gewe- de Könnensform aus. Auch in dieser vernimmt man den
sen ist. Man kann daher nie genug betonen: Die effektivsten Appell, der in jeder Artistik wiederkehrt: »Immerfort wollte
Anthropotechniken entstammen der Welt von gestern - und ich, daß ihr es bewundert ... « Während Kafkas Hungernder
die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik bis zuletzt wartet, um die Gegenaufforderung »ihr sollt es
wird für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab aber nicht bewundern« auszusprechen, liefert Cioran von
beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Um- Anfang an das Material zur Entzauberung seiner Kunst, in-
fang dieser Phänomene gemessen nur eine Anekdote bleiben. dem er sie fast auf jeder Seite als Sich-Gehen-Lassen unter
Das gläubige Vorlaufen in die Vollendung ist Ciorans dem Zwang der Grundstimmung offenlegt. Die Stimmung
Sache nicht. Er »interessiert« sich wohl leidenschaftlich spricht, wenn Cioran bemerkt: »Ich bin außerstande, nicht
für die religiösen Schriften, in denen von Vollendung und zu leiden.«67 »Meine Bücher drücken keine Vision, sondern
Erlösung die Rede ist, aber die gläubige Operation als sol- ein Lebensgefühl aus.«68 Gegen die Möglichkeit, Lebensge-
che, die Vorwegnahme des eigenen Später-auch-so-weit- fühle therapeutisch zu modifizieren, hegte er einen verach-
Seins, wird er nicht vollziehen. Sein Nicht-Glauben hat tungsvollen Argwohn - er lebte schließlich von den Produk-
demnach zwei Seiten - die eines Nicht-Könnens, weil die ten seiner Gestimmtheit und hätte sich einen Versuch, sie zu
eigene Grundstimmung die zur Annahme der Vollendung ändern, kaum leisten können.
nötige Naivität zersetzt,66 und die eines Nicht-Wollens, Mit seinem Beitrag zu der Entdeckung, daß sogar das Sich-
weil er die Haltung des Skeptikers eingenommen hat und Gehen-Lassen kunstfähig, und, falls der Wille zum Können
dieses definitive Provisorium nicht zugunsten einer Position dazukommt, auch trainingspfIichtig ist, hat Cioran dem Or-
aufgeben möchte. Ihm bleibt daher nichts anderes als ein den der heiligen Tollkühnheit zu einer Regel verholfen. Sie
Experimentieren mit den Resten. Er sieht sich gezwungen, wird in dem Precis de decomposition aufbewahrt, diesem
auf einem Instrument zu spielen, auf dem eine ziel gerichtete Buch der seltsamen Übungen, von dem ich zeigen will, wie
Ausbildung sinnlos wäre - dem verstimmten Instrument des es die eigentliche Charta der modernen »Kultur« als Aggregat
eigenen Daseins. Doch gerade sein Spiel auf dem unbespiel- aus nicht-deklarierten Askesen formuliert - ein Buch, das
baren Instrument zeigt die ununterdrückbare Universalität jeden Einband sprengt. In welchem Maß Cioran sich seiner
Rolle bei der Übersetzung des spirituellen Habitus in die
65 Vgl. unten Kapitel 7. profane Verstimmung und deren literarische Bewirtschaftung
66 Er definiert gelegentlich die Klarsicht als »Impfstoff gegen das
Absolute«, nicht ohne zuzugeben, daß er sich hin und wieder
vom erstbesten Mysterium ergreifen lasse. Vgl. Syllogismen der 67 Bernd Mattheus, Cioran, a. a. 0., S. 210.
Bitterkeit, Religion, in: Werke, a. a. 0., S. 927. 68 Ihid., S. 219.
128 Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus 12 9
bewußt war, zeigt die seine Reputation begründende Lehre zustände des manisch-depressiven Spektrums - ein Verfah-
vom Zerfall (wobei die Widergabe des Titels mit »Leitfaden ren, das die spätere Verherrlichung der derive, des Treibens
der Zersetzung« ebenso möglich gewesen wäre). Ursprüng- durch den Tag bei den Situationisten der fünfziger Jahre, vor-
lich sollte diese Sammlung »Negative Übungen« (Exercises wegnimmt. Das bewußte Leben in der Drift kommt einer
negatifs) heißen - was sowohl Verneinungsübungen als auch übenden Verstärkung des Diskontinuitätsempfindens gleich,
Anti-Exerzitien meinen kann. Was Cioran vorlegte, war nicht zu dem Cioran aufgrund seiner Launenhaftigkeit disponiert
weniger als eine Regel, die ihre Adepten auf den Weg zur war. Der Verstärkungseffekt wird zusätzlich dogmatisch
Unbrauchbarkeit führen sollte. Wenn es ein Ziel dieses Weges überhöht durch die angriffslustige These, Kontinuität sei eine
gäbe, es würde lauten: »Unbrauchbarer sein als ein Hei- »Wahnidee«70 - es hätte genügt, sie ein Konstrukt zu nennen.
· . . .«69
l Iger Dasein heißt nun: sich in immer neuenJetzt-Punkten unwohl
Die Tendenz der neuen Regel ist anti-stoisch. Während der fühlen.
stoische Weise alles daran setzt, für das Universum in Form Dem Punktualismus der Cioranschen Selbstbeobachtung,
zu kommen - der römische Stoizismus war ja vor allem eine die zwischen Momenten der Kontraktion und der Diffusion
Beamtenphilosophie und attraktiv für Leute, die glauben pendelt, entspricht die literarische Form des Aphorismus und
wollten, es sei ehrenhaft, als »Soldat des Kosmos« auf dem das publizistische Genre der Aphorismensammlung. Der Ver-
von der Vorsehung angewiesenen Posten auszuharren -, muß fasser errichtet schon früh ein relativ simples und stabiles Git-
der Cioransche Asket die Kosmosthese als solche zurück- ter aus sechs oder acht Themen, mit dessen Hilfe er seine Zu-
weisen. Er weigert sich, das eigene Dasein als Bestandteil stände in der Drift durchkämmt, um jeweils von einem Erleb-
eines gut geordneten Ganzen zu akzeptieren, es soll vielmehr nispunkt auf einen entsprechenden thematischen Knoten zu
die Mißlungenheit des Universums belegen. Die christliche kommen. Mit der Zeit bilden die Themen - wie Teilpersön-
Umdeutung des Kosmos als Schöpfung wird von Cioran nur lichkeiten oder nebeneinander arbeitende Redaktionen - ein
insoweit akzeptiert, als dabei Gott als der anklagbare Verur- Eigenleben aus, aufgrund dessen sie sich selbstfortsetzend
sacher eines totalen Fehlschlags ins Spiel kommt. Für einen weiterentwickeln, ohne auf einen Anlaß im Erlebnis warten
Augenblick gerät Cioran in die Nähe von Kants moralischem zu müssen. Der »Autor« Cioran ist lediglich der Chefredak-
Gottesbeweis, obschon mit umgekehrtem Vorzeichen: Die teur, der die Produkte seiner Schreibstuben als Editor bear-
Existenz Gottes ist mit Notwendigkeit zu postulieren, weil beitet. Er setzt zu Büchern zusammen, was seine inneren Mit-
Gott sich für die Welt entschuldigen muß. arbeiter routinemäßig abliefern. Sie legen in unregelmäßigen
Das Procedere, das Cioran für seine Anti-Exerzitien ent- Sitzungen das Material vor - Aphorismen aus der Abteilung
wickelt, beruht auf der Erhebung des Müßiggangs zu einer Gotteslästerung, Bemerkungen aus dem Studio Misanthropie,
Übungsform der existentiellen Revolte. Was er »Müßiggang« Sticheleien aus der Sektion Desillusionierung, Verlautbarun-
nennt, ist in Wirklichkeit eine bewußte und durch keine Art gen aus dem Pressebüro des Zirkus der Einsamen, Thesen aus
von strukturierter Arbeit behinderte Drift durch die Gemüts- der Agentur für Hochstapeleien über dem Abgrund und Gifte

69 Emile Cioran, Syllogismen der Bitterkeit, Religion, in: ders., Wer- 70 Vgl. E. M. Cioran, Ein Gespräch mit SylvieJoudeau, Sankt Gallen
ke, a. a. 0., S. 925. 1992, S. 29.
I3° Der Planet der Übenden 5 Pariser Buddhismus I3 I

aus der Redaktion für die Verächtlichmachung der zeitgenös- Dumpfheit, die den Radikalismen anhaftet. Was er sagt und
sischen Literatur. Nur die Formulierung des Gedankens an tut, dient dazu, sein Leiden auf die ihm entsprechende Kön-
den Selbstmord verbleibt in der Kompetenz der Chefredak- nensstufe zu heben. Ciorans Werk erscheint um vieles weni-
tion. Dieser beinhaltet ja die Übung, von der alle übrigen Wie- ger selbstwidersprüchlich, sobald man in seinen zahlreichen
derholungsreihen abhängen. Er allein erlaubt, von Krise zu Paradoxien die Emergenz des Übungsphänomens wahr-
Krise, die Wiederherstellung des Gefühls, im Elend souverän nimmt - noch einmal also »eine der breitesten und längsten
zu bleiben - ein Gefühl, das dem verstimmten Leben ein Mi- Thatsachen, die es giebt« in einer ungewohnten Deklination.
nimum an Halt gewährt. Im übrigen wissen die Zuständigen Mochte er seiner Grundstimmung nach ein »passiv-aggressi-
für die Themen, was jeweils die benachbarten Redaktionen ver Bastard« gewesen sein - wie sich Gruppentherapeuten in
produzieren, so daß sie sich zunehmend gegenseitig zitieren den siebziger Jahren gelegentlich ausdrückten -, seinem
und aneinander angleichen. Der »Autor« Cioran erfindet nur Ethos nach war er ein Mann der Exerzitien, ein Artist, der
die Buchtitel, die das Genre andeuten - Syllogismen, Flüche, noch aus der Trägheit eine Nummer machte - aus der Ver-
Grabsprüche, Geständnisse, Heiligenleben, Leitfäden des zweiflung eine apollinische Disziplin, aus dem Sich-Gehen-
Scheiterns. Von ihm stammen zudem die Zwischenüberschrif- Lassen eine Etüde in beinahe klassischer Manier.
ten, die einer ähnlichen Logik gehorchen. Im Alltag ist er viel Die Wirkungsgeschichte von Ciorans Büchern verrät, daß
weniger ein Schreibender als ein Lesender, und wenn es eine er auf der Stelle als ein paradoxer Exerzitienmeister erkannt
Tätigkeit in seinem Leben gab, die von ferne einer geregelten wurde. Naturgemäß sprachen sie nur eine geringe Zahl von
Arbeit oder einem förmlichen Exerzitium glich, so war es das Lesern an, stießen bei diesen jedoch auf eine tiefe Resonanz.
Lesen und Wiederlesen von Büchern, die ihm als Quellen des Die kleine Schar der intensiven Rezipienten entdeckte in den
Trosts und als Anlässe für Widerspruch dienten. Das Leben Schriften des verruchten Autors sogar etwas, dessen Existenz
der heiligen Teresa von Avila las er fünf Mal im spanischen dieser wohl geleugnet hätte - eine bruderschaftliehe Schwin-
Original. Die zahlreichen Lektüren werden in den Prozeß der gung, eine verborgene Neigung, dem »Trappistenorden ohne
Anti-Exerzitien eingefügt und bilden zusammen mit den Glauben«, dem er sich kokett und verantwortungslos zurech-
Erinnerungen an Selbstgesagtes ein Knäuel aus Wechselwir- nete, eine etwas dichtere Konsistenz zu verleihen. Es gab bei
kungen der n-ten Potenz. ihm eine geheime Bereitschaft, Verzweifelten, die noch hilf-
Die »negativen Exerzitien« des rumänischen »Dreigro- loser waren als er selbst, Rat zu spenden - und eine sehr viel
schenbuddhisten« - so bezeichnet er sich selbst in den Syllo- weniger verheimlichte Neigung, für seine Weltfluchtübungen
gismen - sind Landmarken in der jüngeren Geschichte des berühmt zu werden. Mochte er der tentation d'exister mehr
spirituellen Verhaltens. Sie bedürfen nur noch ihrer Explika- oder weniger resolut widerstanden haben - sogar in den Bor-
tion als gültige Entdeckungen - jenseits der Grundstim- dellen, sogar in mondäner Gesellschaft-, der Versuchung, ein
mungskumpanei, die in der bisherigen Cioran-Rezeption Vorbild zu werden, war er in aller Diskretion zu erliegen
den Ton angibt. Die Skepsis, die man dem Autor im Einklang bereit. Es ist daher nicht abwegig, in Cioran nicht bloß den
mit manchen seiner eigenen Sprachspiele nachsagt, ist alles Praktikanten einer informalisierten Askese, sondern auch ei-
andere als »radikal «, sie ist virtuos, sie ist elegant. Was Cioran nen informellen Trainer zu sehen, der mit seinem eigenen
betreibt, mag monoton erscheinen, es führt aber nie in die modus vivendi auf andere aus der Ferne einwirkt. Während
Der Planet der Übenden 133

der gewöhnliche Trainer - wir fanden oben seine Definition -


derjenige ist, »der will, daß ich will «/ ' fungiert der spirituelle ÜBERGANG
Trainer als derjenige, der nicht w ill, daß ich nicht will. Er ist RELIGIONEN GIBT ES NICHT:
es, der mir abrät, wenn ich aufgeben möchte. Für das übrige VON PIERRE DE COUBERTIN
begnüge ich mich mit dem Hinw eis, daß Ciorans Bücher für
ZU L. RON HUBBARD
eine unbestimmte Anzahl von Lesern eine effektvolle Selbst-
mordprophylaxe boten - dieselbe Wirkung wird persönli-
chen Gesprächen mit ihm nachgesagt. Die Ratsuchenden mö-
gen geahnt haben, auf w elche Weise er die gesündeste Art,
unheilbar zu sein, entdeckt hatte. Es ist an der Zeit, aus den gegebenen Hinweisen die Kon-
Ich lese Ciorans Werk der »negativen Übungen« als einen sequenzen für eine anthropotechnische Neubeschreibung
weiteren Hinweis darauf, daß bei der Hervorbringung von der religiösen, ethischen und asketisch-artistischen Phäno-
»Hochkultur«, was immer das im Detail heißen mag, ein un- mene zu ziehen. Deshalb setze ich noch einmal bei den bei-
verzichtbarer asketischer Faktor am Werk ist. Nietzsche den übungs- und mentalitäts geschichtlichen Haupttenden-
machte ihn sichtbar, indem er an das immense System rigider zen des letzten Jahrhunderts an: bei der Heraufkunft des
Dressuren erinnerte, das die Basis zum Überbau der Moral, neo-athletischen Syndroms um 1900 und der Explosion der
der Kunst und aller ,>Disziplinen« bildet. Dieser Asketismus informellen Mystik, gleich ob diese sich privatissime oder in
tritt erst in die vordere Sichtlinie, wenn die augenfälligsten der Netzwerkarbeit der psychotechnischen Sekten manife-
Standardübungen der Kultur, »Traditionen« genannt, in die stiert. Von beiden Erscheinungen her läßt sich die These über
Verlegenheit des Kafkaschen Hungerkünstlers geraten: die gespenstische Natur der »Wiederkehr der Religion« prä-
Sobald man sagen kann, das Interesse an ihnen »sei in den zisieren. Ich werde zunächst am Beispiel der von Pierre de
letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen«, werden die Be- Coubertin initiierten neu-olympischen Bewegung zeigen,
dingungen der Möglichkeit ihres Bestehens eigens auffällig. wie eine als Kultreligion gestiftete Unternehmung ihrem
Wenn das Interesse an einer Lebensform abebbt, wird da und religiösen Design entwuchs, um sich zur umfassendsten
dort der Boden freigelegt, über dem sich die sichtbaren Par- Organisationsform für menschliches Anstrengungs- und
tien der Aufbauten erhoben. Übungsverhalten zu entwickeln, die je außerhalb von Ar-
beits- und Kriegswelten zu beobachten war - selbst die
Pilgerzüge des Mi ttelalters und die Exzesse der spanischen
Klosterkultur im 17. Jahrhundert (als ein gut Teil des Lan-
des in die Zellen strömte, um sich nach den Regeln der
Kunst zu entselbsten) besitzen gemessen am Volumen des
neu-olympischen Sportkults nur episodischen Charakter.
Anschließend gehe ich am Beispiel der von dem Science-
Fiction-Autor Lafayette Ron Hubbard gegründeten Church
71 Siehe oben S. 9If. sowie Kapitel 8, S. 455f. of Scientology der Frage nach, was daraus zu lernen 1st,
134 Der Planet der Übenden Übergang 135
wenn eine Firma zum Vertri eb von altbekannten Autosug- springt, wie das Zugrunderichten der physischen Immunität
gestionsmethoden zu einem weltweit operierenden psych- nicht selten als Königsweg zur Hebung der metaphysischen
agogischen Konzern mit Religionsanspruch ausgebaut wer- Immunität (Unsterblichkeit) angepriesen wurde - ich erinne-
den konnte. re an Franz von Assisis gezielte Zermürbungsübungen für
Die Konklusionen schicke ich voraus: Die Schicksale des den »Bruder Esel« - so pflegte der Heilige seinen Körper
Olympismus und der Betrieb der szientologischen »Kirche« zu nennen - und an gewisse para-suizidale Praktiken, für
lassen erkennen, daß »Reli gion« in dem Sinn, wie die Exploi- die der tibetische und mongolische Buddhismus bzw. Lama-
teure des Begriffs ihn verstehen, nicht existiert - und nie exi- ismus berüchtigt waren.
stiert hat. De Coubertin wie Hubbard sind einer modernen In Ciorans Syllogismen der Bitterkeit finde ich unter der
Luftspiegelung erlegen, deren Untersuchung Aufschluß ge- Rubrik »Religion« folgenden Eintrag:
währt über die Fabrikation und Konstitution von »Religion« »Wäre die Ironie nicht wachsam, wie leicht fiele es, eine
im allgemeinen. Beide wollten etwas gründen oder stiften, Religion zu gründen! Es würde genügen, den Schau-
was es nicht geben kann und was daher, einmal »gestiftet«, lustigen zu gestatten, sich um unsere geschwätzigen
sich als etwas anderes erweisen muß, als es dem Willen der Verzückungen zu scharen. «
Gründer zufolge hätte sein sollen oder werden wollen. Die Die Notiz ist aufschlußreich, da sie, trotz ihres modernen
beiden Stifter unterlagen demselben Irrtum mit entgegenge- Sarkasmus, für ein vormodernes Verständnis des Phänomens
setztem Vorzeichen: Der reale Olympismus weigerte sich, die »Religion« zeugt. Mit seiner Mikrotheorie von der Ent-
von de Coubertin geplante Religion zu werden, während die stehung der Religion aus dem Auflauf um die Ekstase setzt
Scientology-Bewegung sich sträubt, nur als der Psychotech- Cioran, Sohn eines orthodoxen Priesters, die Linie alteuro-
nikkonzern angesehen zu werden, den sie der Sache nach päischer Angebotstheorien des Religiösen fort. Die beiden
darstellt. Bei der Analyse der bei den Weigerungen verdeutli- Komponenten oder »Rohstoffe«, aus deren Verbindung die
che ich in einem ersten Anlauf, worum es bei meiner Behaup- Religion gefertigt wird, sind hiernach eine ekstatische Darbie-
tung geht, daß Religion nicht existiert. Womit wir es tatsäch- tung durch einen Einzelnen und eine entsprechende Neugier
lich zu tun haben - in Dimensionen, deren Vermessung kaum seitens der Menge. Die erste behauptet naturgemäß den Vor-
begonnen hat -, sind mehr oder weniger mißinterpretierte rang, weil sie das kostbarere Element enthält. Legt man Cio-
anthropotechnische Übungssysteme und Regelwerke zur rans Hinweis weiter aus, so käme es zu ·einer Religion dann
Selbstformung im inneren wie äußeren Verhalten. Unter und nur dann, wenn das Seltene, die ekstatische Offerte, auf
dem Obdach solcher Formen arbeiten die Praktizierenden das Häufige, die profane Neugier, zugeht und dieser erlaubt,
an der Verbesserung ihres globalen Immunstatul 2 - wobei, sich um es zu versammeln. Es ist offenkundig, daß Cioran
auf europäischem Boden wie in Asien, das Paradox ins Auge hier, obschon auf einem vergröberten Niveau, die Überzeu-
gung der klassischen Monotheismen wiedergibt, wonach in
letzter Instanz Gott selbst, und er allein, es ist, der die Auf-
72 Ich erinnere an die in der Einleitung (S. 2If.) erläuterte These, daß
es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren
läufe, die man in geronnenem Zustand Kirchen nennt, pro-
drei, wobei der religiöse Komplex fast ganz in den Funktionskreis voziert und zuläßt. Er organisiert den Auflauf, indem er, wie
des dritten Immunsystems fällt. man sagt, sich den Menschen offenbart.
Der Planet der übenden Übergang 137

In typologischer Sicht entspricht die angebotstheoretische zeigt, welche Ansprüche sie stellen dürfen. Wer will, kann
Auslegung des religiösen Phänomens der katholischen Posi- hierin eine demokratische Wende erkennen. Sie zieht die Auf-
tion, sofern diese auf einer strikt hierarchischen, von Gott zu gabe nach sich, den Auflauf als Nachfrage zu deuten und mit
den Menschen, von den Priestern zu den Laien herabsteigen- einem passenden Angebot darauf zu antworten. Um diese
den Linie der Angebotsübermittlung beruht. Der Primat des Stellung zu beziehen, ist es nötig, den Glauben als Aktualisie-
Gebers und der Vorrang der Gabe bleiben in diesem Univer- rung einer dem menschlichen Dasein inhärenten Disposition
sum unantastbar. Die Gläubigen tauchen hier ausschließlich zu deuten. Im übrigen liegt auf der Hand, wieso beim Vor-
auf der nehmenden Seite auf, wie die Hungrigen vor einer rang der Nachfrage die anbietende Seite sich flexibel zeigen
Armenküche. 73 In klerikokratischen Zeiten war das »Wort muß und sich drohender Töne zu enthalten hat.
Gottes « nicht nur ein erhabenes Geschenk, es stellte zugleich Wir geraten damit ins Feld der protestantischen Praxen,
das Muster eines Angebots dar, zu dem man nicht nein sagen bei denen summa summarum die Bedienung von N ach-
kann. Daher insistieren die katholischsten der Katholiken fragen - etwa nach einem gerechten Gott, nach einer Adres-
noch heute auf der lateinischen Messe, weil diese den diaman- se für das metaphysische Bedürfnis oder nach einem Helfer
tenen Kern der Angebotsreligion vor Augen stellt. Sie fragt zum Lebenserfolg - im Zentrum steht. 74 Das gilt allerdings
nicht, was Menschen verstehen können, sondern was Gott weniger in empirischer als in typologischer Sicht, denn
zeigen will. Für ihre Anhänger ist der Höchste am gegenwär- faktisch hat der frühe Protestantismus, besonders in seiner
tigsten, wenn der Priester mit dem Rücken zur Gemeinde puritanischen Variante, die apokalyptischen Kommunika-
sein lateinisches Mysterienspiel vollzieht - Kirchenlatein ist tionen geliebt, wie sie für herzhaft dreinschlagende Ange-
die versteinerte Form der »geschwätzigen Verzückung«. Cio- botsreligionen charakteristisch sind. Tatsächlich war die
ran gibt ziemlich offen zu verstehen, daß er selbst oft in Zu- Reformation als Restauration des angebotstheologischen
ständen war, aus denen naivere Naturen kirchenstiftende Motivs gegen den katholischen Schlendrian in Gang gekom-
Konsequenzen gezogen hätten. men. Sie kehrte ihren nachfragetheologischen Zug erst her-
Den Boden der Moderne betreten wir bei den nachfrage- vor, als die Gemeinden sich zu einem religiös interessierten
theoretischen Deutungen des religiösen Phänomens. Hier Publikum wandelten. Überdies ist der modernen protestan-
rückt, um im Bild zu bleiben, der Menschenauflauf an die tischen Theologie - man denke an Kar! Barth - die radi-
erste Stelle, und es stellt sich die Frage, womit man den Be- kalste Formulierung des Angebotsprinzips zu verdanken,
dürfnissen der Menge am besten entgegenkomme. Nun ist verbunden mit der härtesten Absage an die human und
keine Rede mehr davon, daß man von oben her dem Häufigen undogmatisch zerfließende Nachfragereligiosität, wie sie
gestattet, bei den Erscheinungen des Seltenen dabeizusein. seit dem 18. Jahrhundert das Bild bestimmt. In Schleierma-
Vielmehr geht es darum, den vielen zu geben, wonach sie cher, dem Werber um die Gebildeten unter den Religions-
verlangen - oder was sie verlangen werden, wenn man ihnen verächtern, hatte Barth den Meistertheologen der Nach-

73 Thomas Macho hat in dem erwähnten Aufsatz (Neue Askese,


Merkur 1994) die These vertreten, das katholische Christentum 74 Das würde heißen, daß der Protestantismus keine »Hungerreli-
sei essentiell eine »Hungerreligion«, die um die Frage organisiert gion« mehr ist, sondern eine »Fitnessreligion«, ein spirituelles Sur-
ist: Was sättigt? plus für Gesättigte.
Der Planet der Übenden Übergang 139

fragereligion oder, noch schlimmer: der Begabungsreligion Warum seine These falsch war, erklärt sich aus der näheren
erkannt und ihm seine entschiedenste Opposition gewid- Untersuchung des Motivs »senkrecht von oben«. Wir wissen
met. 75 aus dem oben Dargestellten, daß der gesamte Komplex der
Es war derselbe Karl Barth, der zu der in ihrer Zeit uner- Vertikalität in der Moderne eine Neufassung erfährt, die ein
hörten These vordrang, das Christentum sei keine Religion, vertieftes Verständnis der Emergenz von verkörperter Un-
denn: »Religion ist Unglaube. « Er hatte damit das Richtige wahrscheinlichkeit gestattet - an deren Entwicklungen nahm
getroffen, doch mit falscher Pointe und mit der untauglich- Barth jedoch nicht ausreichend Anteil. Er erlag dem Trug-
sten aller möglichen Begründungen: daß nämlich das» Wort schluß, dem Theologen ex officio zu erliegen gehalten sind,
Gottes« das Gewebe der Kulturmachenschaften senkrecht nämlich: die Dimension der Vertikalspannungen umstandslos
von oben durchschlägt - indessen die bloße Religion immer für den christlich entschlüsselten »Anruf von oben« zu ver-
nur ein Teil des von unten her zurechtgemachten Systems aus einnahmen.
Menschlichkeiten, Allzumenschlichkeiten sei. Das Argument Dennoch hat Barth nach Nietzsche als der wichtigste jün-
mochte als katastrophentheologische Zuspitzung der Lage gere »Beobachter« der Vertikalität zu gelten. Ihm gelang eine
nach 1918 eindrucksvoll wirken, als Wort zur Gesamtlage neue Präsentation der christlichen Lehre, in der vom absolu-
war es irreführend - denn die Moderne ist nun einmal nicht ten Vorrang der Selbstdarstellung Gottes ausgegangen wird.
dafür bekannt, eine Zeit zu sein, in der sich Gott den Men- Hiernach kann die Lage des Menschen nur aus der steilsten
schen aus der Vertikalen zeigt. Die Erde wurde auch in die- Senkrechten verstanden werden: Der wahre Gott ist jener, der
sem Jahrhundert von Meteoren getroffen, die von ganz außen den Menschen bedingungslos überfordert, während der Teu-
und oben herabstürzten, Götter jedoch waren nicht darunter. fel ihn auf seiner Ebene abholt. Allerdings bestritt auch Barth,
Träfe Barths These zu, so wäre er mit seiner Entschlossenheit, als er die Nicht-Religion Christentum den »Religionen« ge-
alle natürlichen Theologien zu befehden, im Recht gewesen. genüberstellte, nicht die These von deren Existenz. Ihm ent-
Jede Ableitung der Religion aus den Strukturen des Bewußt- ging, daß das, was er so bezeichnet, ebensowenig »Religio-
seins hätte er mit guten Gründen verwerfen dürfen - ebenso nen« sind wie die christliche Hausmarke. Ob christlich oder
wie jede Auflösung des Christentums in aufgeklärte Ethik. nicht-christlich, sie bilden allesamt materialiter wie formali-
ter nichts anderes als Komplexe von inneren und äußeren
75 Vgl. Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Handlungen, symbolische Übungssysteme und Protokolle
Göttingen Wintersemester 1923124, hg. von Dietrich Ritschl, zur Regelung des Verkehrs mit höheren Stressoren und
Zürich 1978. Darin verhöhnt der Autor seinen Intimfeind als einen »transzendenten« Mächten - mit einem Wort Anthropotech-
Parlamentär, der mir der weißen Fahne in der Hand zu den Ge-
niken im impliziten Modus. Sie sind Gebilde, denen man aus
bildeten über die Religion redet, statt sich als Christ zu bekennen
(S. 438); nicht ohne Verachtung zitiert er dessen Definition des rein pragmatischen Gründen - anfangs aus römisch-christli-
Christseins: in der Kirche »die schlechthinnige Leichtigkeit und cher Opportunität, später infolge von protestantischer
Stetigkeit frommer Erregungen« suchen; nicht ohne Sarkasmus Konfessionspolemik und aufklärerischer Systematik - den
zitiert er Schleiermachers frühe Selbstaussage, er sei ein »Virtuose
aus dem Jahrtausend der Latinität mitgeschleppten Namen
der Religion«, und läßt ihn als einen Zwitter aus Paganini und
Jeremias auftreten. Zu Schleier machers Definition der Religion religio anhängte - unter ebenso zwanghaftem wie willkürli-
siehe unten S. 5Hf. chem Rückbezug auf die Sprach- und Kultspiele der römi-
Der Planet der Übenden Übergang

schen Staatsbigotterie. 76 Was religio (wörtlich »Sorgfalt«) bei erfahren wir über die »Religion« im allgemeinen, wenn wir
den Römern meinte, bevor ihnen Augustinus das Wort aus die Blaupausen der neu gegründeten Kulte studieren und ih-
dem Mund nahm, um von vera religio zu reden, erfährt man ren modus operandi im längerfristigen Betrieb beobachten?
am ehesten aus einem Detail: daß einige der wichtigsten rö- Diese Fragen stellen sich natürlich nicht nur hinsichtlich der
mischen Legionen den Ehrenbeinamen pia fidelis tragen durf- beiden hier bevorzugten Beispiele. Sie können mit gleichem
ten, nach dem Muster der in Nordafrika stationierten Legio Recht an jedes einzelne aus der großen Zahl der jüngeren
tertia Augusta, die von der Mitte des 1. vorchristlichen Jahr- Religionsexperimente gerichtet werden, die seit der Franzö-
hunderts an bis zum 4. nachchristlichen bestand, sowie der sischen Revolution von sich reden machten - vom Kult des
in Mainz, später in Pannonien angesiedelten Legio prima Höchsten Wesens von 1793 77 über den Saint-Simonismus,
adiutrix, die von den Tagen Neros an bis in die Mitte des Auguste Comtes soziologische Religion, den Mormonismus,
5. Jahrhunderts existierte. Dank christlicher Sinnverschie- die Theosophie, die Anthroposophie bis hin zu den neo-hin-
bungen werden aus den Fromm-Treuen des Caesars die Le- duistischen Kultbricolagen und den vielfältigen Netzwerken
gionäre Christi, die man im Französischen bis heute les der psychotechnischen Sekten, die heute den Globus um-
fideles nennt. spannen. All diese Unternehmen sind schon unter dem Auge
Bei der Erinnerung an Pierre de Coubertins Neo-Olym- der Aufklärung entstanden und hätten in vivo und in vitra
pismus und Ron Hubbards Church of Scientology drängen studiert werden können, wenn ein entsprechendes Interesse
sich mehrere Fragen auf: Was ist überhaupt Religion, wenn mit den geeigneten Optiken und Methoden sich ihnen hätte
Leute von nebenan eine solche stiften können? Was bedeutet zuwenden wollen.
sie, wenn ein hellenophiler Pädagoge, der für Männerkörper
im Kampf schwärmte, und ein strahlender Schlaumeier, bis Was den Coubertinschen Neo-Olympismus angeht, so ist
dahin vor allem als Verfasser von abgekochten Weltallkrimis seine Geschichte zu oft erzählt worden - zuletzt aus Anlaß
bekannt, allen Ernstes und Unernstes in der Überzeugung der Centennarfeiern für die Olympischen Spiele der Neuzeit
lebten, vor unseren Augen eine solche ins Leben gerufen zu imJahr 1996 -, als daß ich hier mehr als Elementares wieder-
haben? Besteht dann nicht die sicherste Methode, alle »Reli- geben müßte. Auch hat man die drei Quellen und drei Be-
gionen« bloßzustellen, darin, selber eine zu gründen? Was standteile von Coubertins sportreligiösem System sattsam
gewürdigt: Sie sind zu finden in John Ruskins gymnophilo-
76 Nachdem das Mittelalter von religio nur gesprochen hatte, um die sophischen Ideen zur sogenannten Eurhythmie/ 8 in Doktor
Tugend der Gläubigen und die Lebensform der Berufsasketen in Brookes neo-hellenistischen Olympian Games im englischen
den Orden zu bezeichnen, nahm die Reformation das Wort »Re-
ligion« in Gebrauch, um den Katholizismus als Fälschung der Shropshire (die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts abgehalten
»wahren Religion« zu brandmarken . Die Aufklärung generalisierte wurden) und in Richard Wagners Bayreuther Festspielen, bei
schließlich den Begriff »Religion«, um den Wirrwarr der Konfes- denen sich der Archetypus eines modernen elitär-kommuni-
sionen, der im Dreißigjährigen Krieg kulminierte, und die Vielfa.lt
der Kulte, die von den Seefahrern rapportiert wurden, vernünftIg 77 Franr;ois-Alphonse Aulard, Le culte de la Raison et le culte de
zu ordnen. Um »die Religion« zur Privatsache erklären zu können, l'Etre Supreme (1793-1794) (zuerst Paris 1892), Aalen 1975.
mußte sie sie zuvor zu einer anthropologischen Konstante verall- 78 De Coubertin nennt den Olympismus gelegentlich einen ruskia-
gemeinern und als eine natürliche Begabung definieren. nisme sportif
Der Planet der Übenden Übergang

tären Erbauungskults in voller Artikulation aufgreifen ließ - mus bei der Definition des Sports; die Gleichberechtigung
sechstausend Fuß jenseits von Industriealltag und Klassen- der Sportarten; den Ausschluß der Kinder; das Prinzip der
spaltung. Darüber hinaus hat man auf die inspirierende zirkulierenden Spiele; den Amateurismus (der jedoch um-
Wirkung der Pariser Exposition universelle von 1889 hinge- stritten blieb und 1976 suspendiert wurde); den Internatio-
wiesen, um den Transfer des totalisierenden Impulses zu er- nalismus und das Prinzip der pax olympica. Darüber hinaus
läutern. Unter diesem Licht gesehen, erscheint der Olympis- wurden Athen als Austragungsstätte der ersten und Paris als
mus als zeitgerechte Sportglobalisierung in Aktion. 79 Ort der zweiten Spiele bestimmt, um auf die Geburtsstätte
Schon der berühmte Sorbonne-Kongreß für die »Wieder- wie die Wiedergeburtsstätte der Spiele gebührend hinzuwei-
einsetzung der Olympischen Spiele« von 1894 versammelte sen - man ahnte nicht, daß die Pariser Spiele von 19°0 den
diese Ingredienzen - bereichert um de Coubertins eigene so- Tiefpunkt in der Geschichte des Oly mpismus markieren soll-
zialtherapeutische und pädagogische Motive - zu einer ef- ten: Sie gingen am Rande der gleichzeitigen Exposition Uni-
fektvoll en Mischung. De Coubertin berichtet in seinen Me- verselle unbemerkt unter. Man lernte daraus: Zwei Weltfeste
moiren, wie bei der Eröffnungssitzung in der Sorbonne am zur gleichen Zeit sind nicht praktikabel.
16. Juni die von Gabriel Faun: eigens zum Anlaß komponier- Tatsächlich wurden die ersten Olympischen Spiele der
te Hymne an Apoll für Chor, Harfe, Flöte und 2 Baßklari- Neuzeit zu Athen schon zwei Jahre später unter der Schirm-
netten (Opus 64>, nach einer kurz zuvor am athenischen herrschaft des griechischen Königs mit großem zeremoniel-
Schatzhaus in Delphi aufgefundenen Inschrift, vor zweitau- len Apparat eröffnet - als ein rein andrologisches Fest, vom
send »bezauberten Hörern « uraufgeführt wurde: Frauensport hielt der begeisterte Baron bekanntlich wenig, er
»Eine Art abgestufter Erregung breitete sich aus, wie wollte die Rolle der Frau bei den Spielen auf den Moment
wenn die antike Eurhythmie durch die Ferne der Zeiten beschränkt sehen, in dem sie dem Sieger den Olivenzweig
hindurchscheine. Der Hellenismus fand auf diese Weise überreicht oder ihm den Kranz aufs Haupt setzt. Daß de
Eingang in den weiten Raum.«8o Courbertin sein taceat mulier in arena nicht durchsetzen
Zugleich legte der Pariser Kongreß die grundlegenden Merk- konnte, war nur der Anfang einer Reihe von Niederlagen
male der Spiele und der sie tragenden Organisation fest: den bei der praktischen Verwirklichung seiner »Muskelreligion«.
vierjährigen Turnus, der wie ein neuer religiöser Kalender die Zu den folgenreichsten Resultaten der ersten Spiele zählt die
Zeit für alle Zukunft gliedern sollte; die aufgeklärte Diktatur Tatsache, daß dank der Spende eines Großmäzens das pan-
der IOC-Präsidentschaft - später durch die Wahl de Couber- athenäische Stadion von Athen aus der Zeit, als Griechenland
tins zum Präsidenten auf Lebenszeit gefestigt; den Modernis- römische Provinz war, restauriert und wieder in Betrieb ge-
nommen werden konnte - dies gab den Auftakt zu der Sta-
79 Vgl. Walter Borger, Vom ,World's Fair<zum olympischen Fair Play dion- und Arena-Renaissance des 20. Jahrhunderts, die bis
- Anmerkungen zur Vor- und Entwicklungsgeschichte zweier heute immer neue Event-Architekturen auf der Linie der an-
Weltfeste, in: Internationale Einflüsse auf die Wiedereinführung tiken Primärformen nach sich zieht. 81 Sogar die Mönche vom
der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin, herausgegeben
von Stephan Wassong, Kassel 2005, S. 125f. 81 VgJ. Peter Sloterdijk, Sphären III, Schäume. Plurale Sphärologie,
80 Pierre de Coubertin, Olympische Erinnerungen. Mit einem Vor- Frankfurt am Main 20°4, S. 626-646: »Die Kollektoren: Zur Ge-
wort von Willi Daume, Frankfurt/Beriin 1996, S. 23. schichte der Stadion-Renaissance«.
Der Planet der Übenden Übergang

Berg Athos sollen Geld für die olympische Subskription bei- Kronprinzen liefen die letzten Meter der Strecke unter dem
gesteuert haben, als seien sie der Eingebung gefolgt, im fernen eskstatischen Jubel von nahezu 7°000 Menschen neben dem
Athen beträten die modernen Nachbilder ihrer eigenen ver- Läufer her und trugen ihn, nachdem er die Ziellinie überquert
wischten Urbilder wieder die Bühne - hatten die ersten Mön- hatte, auf ihren Armen vor den König, der sich von seinem
che des östlichen Christentums sich nicht die »Athleten Chri- Stadionthron erhoben hatte. Hätte man den Beweis erbringen
sti« genannt und sich in Trainingslagern zusammengetan, die wollen, ein Zeitalter der Hierarchieumkehrungen habe be-
asketeria hießen? gonnen, man hätte ihn nicht effektvoller inszenieren können.
Den so denkwürdigen wie unvorhergesehenen Höhe- Einen Augenblick lang wurde ein sportiver Schafhirte zum
punkt der Athener Spiele bildete der erste Marathonlauf. König des Königs - man sah erstmals, wie die Majestät, um
Die Idee hierzu geht auf den französischen Altphilologen nicht die Macht zu sagen, vom Monarchen auf den Sportler
und Philhellenen Michel Breart zurück, der auf dem Schluß- überging - in späteren Jahrzehnten verstärkte sich sogar der
bankett der Sorbonne-Konferenz die Stiftung eines Mara- Eindruck, die Schafhirten und ihresgleichen strebten die AI-
thon-Pokals für den ersten Sieger in der neuen Disziplin leinregierung an. Eine anhaltende Rauschwelle ging über
gelobt hatte. Als der Sieger des Laufs, ein 23iähriger griechi- ganz Griechenland hinweg, ein begeisterter Barbier ver-
scher Schafhirte namens Spiridion Louys, mit der Volks- sprach dem Sieger, ihn sein Leben lang umsonst zu rasieren.
tracht, der Fustanella, bekleidet, am 10. April 1896 in das Ein Olivenzweig und eine Medaille aus Silber waren die of-
weiß leuchtende Marmorstadion einlief (die Siegeszeit wurde fiziellen Ehrenzeichen, eine Flut von Geschenken folgte.
mit 2 Stunden 58: 50 angegeben), trat etwas ein, was durch den Wie Spiridion Louys sich die nötige Kondition verschafft
Begriff »Ausnahmezustand« nur mit Mühe beschrieben wird. hatte, ist nach wie vor unklar; der Schäferjunge soll als Or-
Es war, als ob eine neue Energieart entdeckt worden wäre, donnanzläufer oder Wasserträger eines Offiziers tätig gewe-
eine Form von emotionaler Elektrizität, ohne die man sich sen sein und sich dabei an längere Strecken gewöhnt haben.
den way o[ li[e der folgenden Ära nicht mehr würde vorstel- 14 Tage vor den Spielen war er bei einem Probelauf Fünfter
len können. Was an jenem glühend heißen Nachmittag gegen geworden. Das Wort Training dürfte er bis dahin kaum ge-
fünf Uhr im Panathenaion-Stadion geschah, muß man als eine hört haben - ich werte das als Beleg für meine These, daß sich
neuartige Epiphanie einstufen. Eine bis dahin unbekannte der größte Teil allen Übungsverhaltens in der Form von
Kategorie von Augenblicksgöttern stellte sich damals dem nicht-deklarierten Askesen vollzieht. 83 Für die Brüder vom
modernen Publikum vor - das sind die Götter, die keinen Berg Athos mochte es wie eine Bestätigung ihrer Intuitionen
Beweis nötig haben, weil sie nur für die Dauer ihrer Mani- gewesen sein, wenn bald darauf das Gerücht zirkulierte, der
festation existieren und nicht geglaubt, sondern erlebt wer- Läufer habe die Nacht vor dem Rennen im Gebet vor Ikonen
den. In dieser Stunde wurde ein neues Kapitel der Emhusias- verbracht - sogar de Coubertin nahm diesen Hinweis ernst
mus geschichte aufgeschlagen - wer von ihr nicht reden will, genug, um an sie erste Reflexionen über die psychischen und
muß vom 20. Jahrhundert schweigen. 82 Die griechischen geistigen Komponenten sportlicher Höchstleistung zu knüp-
82 Zum Phänomen der Augenblicksgötter vgl. Hermann Usener,
fen. Wie Friedrich Nietzsehe, Carl Hermann Unthan und
Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbil-
dung (zuerst 1896), Frankfurt am Main 2000, S. 279f.
14 6 Der Planet der Übenden Übergang

Hans Würtz meinte auch der Gründer der Spiele zu wissen, des Körperkults zusammen, um ein modernen Ansprüchen
daß es in letzter Instanz der Wille ist, der Erfolg und Sieg genügendes Amalgam zu bilden.
erzeugt. Deshalb machte de Coubertin keinen Hehl aus sei- Was de Coubertin von einer wirkungsvollen neuen »Reli-
ner Abneigung gegen den Positivismus der Sportmediziner, gion« erwartete, geht aus einer Memoirennotiz über einen
die zu »banausisch« dächten, um die höheren Dimensionen Besuch der Festspiele in Bayreuth hervor. In ihr zieht er Par-
des Sports im allgemeinen und der neuen Bewegung im be- allelen zwischen den scheinbar getrennten Sphären:
sonderen zu erfassen. 84 »Musik und Sport sind für mich immer die vollkom-
Was Pierre de Coubertin unter dem Namen des Olympis- mensten >Isolatoren< gewesen, die fruchtbarsten Mittel
mus beschwor, sollte in seinen Augen nicht weniger bedeuten der Besinnung und des Schauens ebenso wie mächtige
als eine vollgültige neue Religion. Zugunsten dieser Auffas- Anreize für die Ausdauer und ,Massagen der Willens-
sung meinte er sich auf die religiöse Einbettung der Alten kraft<. Mit einem Wort: Nach Schwierigkeiten und
Spiele berufen zu können. Diese waren im Laufe ihres über Gefahren erweisen sich alle unmittelbaren Besorgnisse
eintausendjährigen Bestehens immer coram Deis abgehalten als zerstreut.«85
worden, ja, sie vollzogen sich nicht nur im Angesicht der Mit dem bemerkenswerten Wort »Isolator« deutet de Cou-
Götter, sondern auch mit deren Billigung und wer weiß, ob bertin auf das Vermögen der »Religion«, die Realität in ge-
nicht auch mit ihrer Beteiligung - sofern man die Siege der wöhnliche und außergewöhnliche Situationen zu spalten. Wo
Athleten im Stadion und in der Palaistra als Ereignisse deu- Sport und Musik sind, da ist für ihn darum auch Religion -
tete, die nie ohne die Zustimmung der Himmlischen, und sofern deren Merkmal: die alltagssprengende und sorgenbre-
warum nicht auch durch deren Eingreifen, zustande kamen. chende Wirkung, gegeben ist. Entwickelt man den Ausdruck
De Coubertins neu zu schaffende »Religion des Athleten« »Isolator« weiter, ergibt sich der Satz: Religiös ist, was den
knüpfte allerdings nicht direkt an der griechischen Mytho- Ausnahmezustand herbeiführt. Religion ist für de Coubertin
logie an - der Gründer der Spiele war zu gebildet, um nicht zu die Herstellung des anderen Zustands mit sportlichen Mitteln
wissen, daß die Götter des Hellenismus tot sind. Ihr Aus- - hier beginnt einer der Pfade, die in die E vent-Kultur führen.
gangspunkt war die moderne Kunstreligion Wagnersehen Wie bei grenzwertigen Zuständen üblich, müssen diese
Typs, die als Weihehandlung zur Versöhnung der zerrissenen zugleich ausgelöst und unter Kontrolle gehalten werden -
modernen »Gesellschaft« entworfen worden war. Da es in beides wären die Aufgaben der voll ausgebildeten Athleten-
jeder kompletten Religion neben Dogma und Ritual einen Religion. Die athletischen Übungen bereiten den Ausnahme-
ordinierten Klerus gibt, fiel dessen Verkörperung den Athle- zustand in den Wettkämpfen vor, der Stadion-Kult lenkt
ten zu. Sie waren es, die der entrückten Menge die muskulä- dann die aufschäumenden Erregungen in die vorgeschriebe-
ren Sakramente spenden sollten. Dies ist mein Leib, mein nen Bahnen. Im »Isolator« von Bayreuth wurde de Coubertin
Kampf, mein Sieg. So trafen in Coubertins olympischem entgültig klar, warum nur eine neu gestiftete Religion seinen
Traum die romantische Graecophilie sowie das pädagogische Intentionen gerecht werden konnte. Wie Richard Wagner
Pathos des 19. Jahrhunderts mit dem ästhetischen Heidentum wollte er die Menschen für einige inkommensurable Momen-

84 De Coubertin, Olympische Erinnerungen, a. a. 0., S. 45· 85 Ibid., S. 65·


Der Planet der Übenden Übergang

te aus ihrem gewöhnlichen Leben heraussprengen, um sie Adels bewegte, hatte gleichwohl begriffen, daß die Moderne
verwandelt, gehoben und geläutert wieder in die Welt zu die Ära der Neu-Reichen und Neu-Wichtigen ist. Für die
entlassen. In dem esoterischen Klima der Wagner-Festspiele letzteren insbesondere bot seine Bewegung ein ideales Betäti-
fand de Coubertin die Bestätigung seiner Grundhaltung. So gungsfeld. Neben den ehrgeizpolitischen Anreizen wurden
wie in Bayreuth die steilste Angebotsform der Kunstreligion die gierhaften Belohnungen nicht vergessen - aus dem O lym-
zu Hause war, sollte im Olympismus die analoge Ausprägung pismus sind viele neue Vermögen hervorgegangen, einige auch
der Sportreligion ihre Heimstatt finden. Einem Malraux des dadurch, daß Spenden von Bewerberstädten direkt auf die
19. Jahrhunderts vergleichbar, dozierte de Coubertin, das 20. Konten von IOC-Mitgliedern flossen. Das pragmatische
Jahrhundert werde olympisch sein oder es werde nicht sein. Strombett für beide Antriebsarten waren die Vereine, die na-
Vor diesem Hintergrund läßt sich begreifen, in welchem türlichen Matrizen der sportlichen Übungen und der Allian-
Sinn die Erfolgsgeschichte der olympischen Idee zugleich zen zwischen Trainern und Übenden; ihre effektvollste Insze-
die Mißerfolgsgeschichte von de Coubertins ursprünglichen nierung erfuhren sie in den Kampfspielen selbst. Für diese
Absichten bedeutete. Man kann den Triumph des Olympis- Ordnung der Disziplinen waren die Verhältnisse offensicht-
mus interpretieren, wie man will: Er brachte jedenfalls alles lich reif. Wenn die Zeit der Wettbewerbswirtschaft gehört,
andere hervor als den Dreiklang von Sport, Religion und dann ist der Wettkampfsport der Zeitgeist selbst.
Kunst, den de Coubertin aus der Antike in die Neuzeit trans- Das Gesamtresultat von de Coubertins Bemühungen hätte
ponieren wollte. Sein Scheitern als Religionsgründer ist ein- also nicht ironischer ausfallen können: Als Religionsgründer
~~ch auf den Begriff zu bringen: Er hatte ein System von ist er gescheitert, weil er als Initiator einer Übungs- und Wett-
Ubungen und Disziplinen ins Leben gerufen, das wie geschaf- kampfbewegung über jedes erwartbare Maß reüssiert hat.
fen war, die Existenz der »Religion« als einer separaten Kate- Dem Initiator der Spiele entging, was für die Funktionäre
gorie menschlichen Handeins und Erlebens zu widerlegen. der nächsten Generation das Alpha und Omega der weiteren
Was wirklich ins Leben trat und immer massivere Konsistenz Unternehmungen bildete: die völlig evidente Tatsache, daß
erlangte, war eine Organisation zur Stimulierung, Lenkung, die ~~ympische Idee nur als säkularer Kult ohne ernstgemein-
Betreuung und Bewirtschaftung primär thymotischer (stolz- ten Uberbau würde überleben können. Das wenige an Fair-
und ehrgeizhafter), an zweiter Stelle erotischer (gierhafter, neßpathos, Jugendfeier und Internationalismus, das man pro
libidinöser) Energien. Die ersteren stellten sich keineswegs forma beibehalten mußte, ließ sich auch ohne größeren See-
nur bei den Sportlern ein, sondern ebenso bei den neu geschaf- lenaufschwung zusammenbringen. Vom noblen Pazifismus
fenen Funktionären, ohne die der neue Kult nicht zu prakti- de Coubertins blieb bei seinen pragmatischen Erben oft nicht
zieren war. Für sie, die unentbehrlichen Parasiten des Sports, mehr als ein Augenzwinkern. Die Spiele mußten sich in die
brach ein Goldenes Zeitalter an, weil die olympische Bewe- überbordende Massenkultur integrieren und sich bei jeder
gung spontan das wichtigste aller Organisationsgeheimnisse Wiederholung noch entschiedener in eine profane Eventma-
beachtete: so viele Funktionen und Ehrenämter schaffen wie schine verwandeln. Auf keinen Fall durften sie zu hoch da-
möglich, um die thymotische Mobilisierung und pragmati- herkommen - schon gar nicht mit dem »katholischen « oder
sche Bindung der Mitglieder an die erhabene Sache zu garan- angebots theologischen Zug, der de Coubertins Ansatz cha-
tieren. De Coubertin, der sich gern in den Kreisen des alten rakterisierte. Wo Höheres sich nicht ganz vermeiden ließ, wie
Der Planet der Übenden Übergang I5I
in der obligaten Eröffnungsfeier, sollte es beim festlichen Ein- hierarchisierten Verwaltungs akten, routinisierten Vereinsbe-
zug der Athleten, der Hymnne, der Flamme und dem Appell ziehungen und professionalisierten Medienrepräsentationen.
an die Jugend der Welt bleiben. Bei den Nachkriegsspielen Von den Strukturmerkmalen einer ausgebauten »Religion«
von Antwerpen 1920 wurde erstmals ein separates Hochamt bleibt nichts zurück außer der Hierarchie der Funktionäre
in der Kathedrale abgehalten, mit einem Moment des Schau- und einem System von Exerzitien, die ihrer säkularen Natur
ers, als die Namen der im Krieg getöteten Olympioniken entsprechend Trainingseinheiten heißen. Der IOC-Vatikan
verlesen wurden. Als »heidnische« Form einer Angebotsre- von Lausanne hat keine andere Aufgabe, als die Tatsache zu
ligion von oben hatte die olympische Idee nie eine Chance. verwalten, daß Gott auch olympisch tot ist.
Zum Gipfeltreffen der Athleten entzaubert, wurde sie als In dieser Hinsicht kann man behaupten, daß die »Religion
Massen -Attraktor unwiderstehlich. des Athleten« das einzige Phänomen der Glaubensgeschichte
Die pragmatische Wende verlangte von ihren Akteuren darstellt, das sich mit eigenen Mitteln selbst entzaubert hat-
nicht einmal einen Verrat an de Coubertins Vision. Es ge- nur einige intellektuelle Spielarten des Protestantismus in
nügte völlig, die hohen Absichten des alten Herrn nicht zu Europa und den USA haben es nahezu gleich weit gebracht.
begreifen. Bald wußte kein Mensch mehr, was dessen Traum Als die Nicht-Religion, nach welcher zahllose Menschen ver-
von einer religiösen Synthese aus Hellenismus und Moderni- langten, vermochte sich die athletische Renaissance über gro-
tät bedeutet hatte. Man geht nicht zu weit, wenn man behaup- ße Teile der Welt auszubreiten. Ihre Entwicklung zeigt den
tet, die olympische Idee habe gesiegt, weil ihre Anhänger auf Wandel eines Eifers in eine Industrie. Kein Wunder, daß die
allen Ebenen, von den Vorstandsmitgliedern des IOC bis in junge Sportwissenschaft keine Lust an den Tag legte, die
die Ortsvereine, binnen kurzem keine Ahnung mehr von ihr Theologie dieser, kaum gestiftet, schon entgeisterten Kultbe-
hatten - selbst dann nicht, wenn bei den Siegerehrungen die wegung zu werden. Doch auch die Anthropologen blieben
Tränen rannen. Der wackere Willi Daume, der als langjähri- eher reserviert, sie interessieren sich bis heute weder für die
ger Vorsitzender des deutschen Nationalen Olympischen artifiziellen Stämme der praktizierenden Sportler noch für
Komitees Zugang zu den Quellen besaß, konnte über die die Tatsache, daß mit den Sponfunktionären eine neue Sub-
ideellen Motive der olympischen Sache nur den Kopf schüt- species aufgetreten ist, die nicht weniger Aufmerksamkeit
teln. Auf die »Religion des Athleten« anspielend, bemerkt er verdiente als der Mensch des Aurignacien.
in makelloser Funktionärsprosa: »Hier geht es dann schon
etwas in die Verwirrung. «86 Für die schon mehrfach bezeichnete Tendenz zur Entspiri-
Durch ihre Entspiritualisierung beweist die olympische tualisierung der Askesen gibt es im 20. Jahrhundert kein stär-
Bewegung des 20 . Jahrhunderts, wie eine »Religion« sich keres Beispiel als die olympische Bewegung. Was die Gegen-
spontan auf das Format ihres wirklichen Gehalts zurückzu- tendenz angeht, die weltliche Aneignung des Spirituellen, so
entwickeln vermag - auf die anthropotechnische Basis, wie liefert die Church o[ Scientology des Romanciers und Do-it-
sie sich in einem System gestufter Übungen und diversifizier- yoursel[-Psychologen Ron Hubbard zwar nur ein Beispiel
ter Disziplinen verkörpert, integriert in einen Überbau aus unter vielen, doch ein überragend informatives. Ich möchte
im folgenden den Erfinder der Dianetik als einen der großen
86 Ibid., S. 10. Aufklärer des 20. Jahrhunderts würdigen, da er unser Wissen
152 Der Planet der Übenden Übergang 153
über das Wesen der Religion entscheidend vermehrt hat, ob- unter den Glaubensschwachen erheben den Zweifel selbst
schon überwiegend auf unfreiwillige Weise. Er hat sich seinen zum Organ des Glaubens, aus einem asketologisch plausiblen
Platz im Pantheon von Wissenschaft und Technik verdient, Grund: Chronisches Zweifeln ist die wirksamste Übung, um
da ihm ein psychotechnisches Experiment mit gesamtkul- das Bezweifelte am Leben zu halten.
turell bedeutsamen Ergebnissen gelang. Nach Hubbard Die zweite Annahme, unter der eine neue Religion ge-
steht ein für allemal fest: Die effektivste Weise, zu zeigen, startet werden kann, besagt, daß die bisherigen Religionen
daß es Religion nicht gibt, besteht darin, selbst eine in die ungenügend sind, weil sie zu sehr an ihren Inhalten haften,
Welt zu setzen. während es künftig darauf ankomme, die Form oder die
Wer eine Religion stiften möchte, kann dies prinzipiell »Stimmung« der Religion in den Vordergrund zu stellen.
unter zwei verschiedenen Annahmen tun. Die erste besagt: Bei dieser Zuwendung zur Formseite ist eine dramatische
Es existieren zwar schon viele Religionen, die wahre ist aber Bifurkation zu beobachten: Entweder entsteht die neue Re-
noch nicht darunter. Neue Einsichten machen es jetzt endlich ligion als frei flottierende Meta-Religion, die keine dogma-
möglich und nötig, sie ins Leben zu rufen . Nach diesem tischen Sätze mehr kennt, jedoch bona fide die Dimension
Schema hat Paulus das Christentum vom Judentum abge- des Religiösen »an sich« inhaltsneutral bewahren möchte -
setzt, so wie später Augustinus es vom Manichäismus und so etwa verhalten sich die meisten modernen Bekenntnislo-
vom römischen Kult abgehoben hat und noch später Moham- sen, die glauben, an dem, woran sie nicht glauben, sei doch
med den Islam von den beiden Vorgängermonotheismen. In etwas dran. Der Vorteil dieser Position besteht darin, daß sie
analoger Weise gingen die Aufklärer vor, die seit dem 17· die Spannungen zwischen Heilswissen und säkularem Wis-
Jahrhundert die »Religion der Vernunft« durch Ablösung sen bzw. zwischen Theologie und Ethik entschärft. Bereits
von den historischen Religionen gründen wollten.87 Solche der romantische Protestantismus kam der Selbstauflösung
Initiativen berufen sich auf die vorangeschrittene Enthüllung der positiven Religion in polyvalenter Gefühlskultur nahe,
der Wahrheit - diese gibt den Inhalt vor, für den die ange- wenn etwa Schleiermacher in seiner zweiten Rede Über die
messene Form gefunden werden muß. Der neue Inhalt liegt in Religion erklärt: »Nicht der hat Religion, der an eine heilige
einer Botschaft, die nach dem Glauben der Gründer mehr Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl
Heilsmacht in sich trägt als die bisher bekannten Kulte. selbst eine machen könnte. « Oder die neue Religion greift
Man kann diesen Typus von Religionsstiftung daher inhalts- ausschließlich die Formseite der Religion auf, um einen
religiös nennen. Ihre Akteure sind in der Regel naiv, in einem fremden Inhalt zu transportieren. Das war unter anderem
wertneutralen Sinn des Worts. Sie meinen zu glauben, daß sie bei Pierre de Coubertin der Fall gewesen, der den Inhalt
glauben, was sie glauben. Sind sie nicht naiv, wären sie es Sport an die Form Religion binden wollte - wir sahen,
gerne und bereuen ihre Glaubensschwäche. Die Klügeren mit welchem Ergebnis.
Geht man auf dem formreligiösen Weg einen Schritt wei-
87 VgJ. Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen ter, so zeigt sich, wie man die Religion als bloße Vehikelfunk-
des Judentums (zuerst 1919), Wiesbaden 1988; Mark Lilla hat die tion einsetzen kann, um mala fide fremde Inhalte zu realisie-
moderne Religion der Vernunft jüngst als Kult einer Totgeburt
beschrieben: The Still born God. Religion, Politics, and the Modern ren. Das unumgängliche Beispiel hierfür bieten die neuer-
West, New York 2007. dings wieder viel beachteten »politischen Theologien«,
154 Der Planet der Übenden Übergang 155

durch welche die Religion als psychosoziales Hilfswerk für vierziger Jahre, die für den Autor zugleich eine Periode per-
den Staatserfolg herangezogen wird. Wer diese Haltung sönlicher Rückschläge markierte. Zu dieser Zeit durfte der
durch Beispiele verdeutlichen möchte, denkt etwa an Päpste, Autor einen Markt für Lebensberatungs- und Selbsthilfe-
die an der Spitze ihrer Truppen den Kirchenstaat vergrößer- Literatur mit starken Wachstumspotentialen voraussetzen.
ten oder an französische Kardinäle, die mit den islamischen Auf ihm wirkten psychoanalytische, lebensphilosophische,
Türken Bündnisse schlossen, um den christlichen Herrschern seelsorgerliche, unternehmens beraterische, psychagogische,
Österreichs zu schaden. Auch ganze Völker und Nationen religioide, diätetische und fitnesspsychologische Motive
traten in älterer wie in jüngerer Zeit im Gewand von Heils- durcheinander. Hubbards ingeniöser Ansatz bestand darin,
gemeinschaften auf. Wie sich revolutionäre Bewegungen diese Nachfragen in einem einzigen Punkt zusammenzuzie-
messianisch garnieren können, wird durch die politische Em- hen. Er stellte sich in die Tradition der modernen Scharlatane,
pirie des 20. Jahrhunderts bis zum Überdruß illustriert - als auch dieses Wort im wertneutralen Sinn genommen, die mit
hätten die Aktivisten die leichtfertige These Friedrich Engels' einem einzigen Arzneimittel gegen alle Krankheiten vorge-
aus dem Jahr 1844: »Alle Möglichkeiten der Religion sind hen - oder mit einer Lösung gegen alle Probleme. Dieser
erschöpft« Lügen strafen wollen. ss Sobald die formreligiöse Habitus läßt sich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert in zahl-
Auffassung sich radikalisiert, schreitet die Abstraktion bis zu losen Konkretisierungen verfolgen - vom Nullpunkt-Den-
dem Punkt voran, an dem potentiell jeder beliebige content ken der modernen Philosophie bis zur politischen Idee der
ein religoides Design anzunehmen vermag, sofern der content totalen Revolution. Die Kunst der Künste besteht den großen
provider es wünscht. Religion erscheint dann als ein rheto- Scharlatanen zufolge von jeher darin, das eine Mittel, die
risch-ritueller Modus und als Immersionsverfahren, das je- Panazee, das All-Agens zu destillieren, egal, ob dies in phy-
dem Projekt, sei es politisch, künstlerisch, industriell, sport- sischen oder moralischen Kolben geschieht. Die Destillation
lich oder therapeutisch, als Medium der Selbstverbreitung erbringt in der Regel eine einfache Substanz, ein letztes Ele-
dienen kann. Es läßt sich ohne weiteres auf alte Inhaltsreli- ment bzw. eine einfache Handlung und eine letzte Operation.
gionen zurückübertragen. 89 Wer sie hat oder kann, kann und hat alles.
Hubbards Produkt wurde als mentale Panazee konzipiert
Ich zeige im folgenden, wie Lafayette Ron Hubbards unter- und auf den aufgewühlten Lebensberatungsmarkt gebracht.
nehmerisches und literarisch-rabulistisches Genie das form- Auf den ersten Blick schien seine »Dianetik« von 1950 nicht
religiöse Verfahrensprinzip in seiner abstraktesten Ausprä- mehr zu sein als ein mit großem Aufwand angepriesenes
gung bei der Promotionskampagne für ein im Jahr 1950 lan- neues Mittel, um die 'beschlagenen Scheiben des Bewußt-
ciertes Produkt namens Dianetik fruchtbar machte, um es seins zu reinigen - immerhin ein Produkt, das mit beacht-
nur wenig später, dank eines religioiden U pgrading, in die lichen Verkaufs erfolgen schon im ersten Jahr bewies, daß
scientologische »Kirche« umzuwandeln. Der Ausgangspunkt US-Amerikaner, fünf Jahre nach dem Abwurf der ersten
für Hubbards Kampagne liegt in der Kulturkrise der späten Atombomben, auf breiterer Front bereit waren, auch geistige
Vorschläge zur einfachsten Lösung von Weltproblemen auf-
88 Kar! Marx/Friedrich Engels, Werke, Band I, Berlin 1976, S. 544. zugreifen. Für komplizierte Esoterik, hörte man vom Autor,
89 Wie eine Reihe von Bibel-Themenparks in den USA beweisen. sei keine Zeit mehr, man müsse die Welt von Grund auf um-
15 6 Der Planet der Übenden Übergang 157
wandeln, und zwar so rasch, »daß uns die Bombe nicht zu- Diese Lösung, so wird versichert, wird nicht mehr auf die
vorkommt«.90 Survival war zum Hauptwort der Lebensbe- Problemseite zurückfallen - darum können nur bösartige
ratung geworden. Es bildet das amerikanische Gegenstück Menschen und Geisteskranke ein Interesse an der Verhinde-
zur frühchristlichen Metanoia angesichts knapp werdender rung der Dianetik haben. Man verfügt somit von jetzt an über
Zeit. Vor dem Hintergund des beginnenden nuklearen Wett- ein neu es Kriterium zur raschen Diagnose von psychopathi-
rüstens zwischen den USA und der Sowjetunion eröffnet die schen Anlagen: die Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit ge-
»Dianetik« einen alternativen Wettlauf - zwischen ihr selbst gen die Angebote der Dianetik. Eine maßlose Polemik gegen
und dem Weltsystem des Krieges, der Geisteskrankheit und das, was Hubbard die konventionelle Psychiatrie nennt,
der Kriminalität. Wer wollte sich angesichts eines solchen durchzieht als roter Faden sein gesamtes Werk - und das
Szenarios nicht in das Lager derer begeben, die selbstsicher seiner Schüler. Ohne Zweifel ahnte er, was Leute vom Fach
behaupteten, die Lösung der Weltprobleme zu besitzen? über ihn und sein Agieren sagen würden. Er ließ sie für seine
Die Lösung liegt im Namen der Methode: Dianetik soll auf Ahnungen teuer bezahlen.
91

die zwei griechischen Wortkomponenten dia (durch) und In der Sache bietet die Dianetik zunächst nicht mehr als
nous (Geist) zurückgehen und die Wissenschaft von dem, eine simplifizierte und technifizierte Variante der psychoana-
was >,durch den Geist« geschieht, bezeichnen - gelegentlich lytischen Grundannahmen: Sie ersetzt die Freudsche Unter-
wird auch ein Wort wie dianoua als Quelle genannt, das es im scheidung der Systeme bzw. Feldzustände bw und ubw (be-
Griechischen leider nicht gibt. Man ahnt die Pointe, der zu- wußt/unbewußt) gutgelaunt durch die Hubbardsche Unter-
folge alles durch den Geist geschieht - wobei der Sinn von scheidung von analytischem Geist (mitsamt seiner klaren
>,durch« bis auf weiteres offen bleibt. Noch kann man dem Gedächtnisbank) und reaktivem Geist (mitsamt seiner patho-
System nicht ansehen, wie es den alten Gegensatz von Geist logischen Gedächtnisbank). Im letztgenannten liegt die Sum-
und Materie neu montiert - an der Oberfläche »wissenschaft- me aller Probleme verborgen, während im ersten die Lösung
lich«, in der Tiefenstruktur gnostisch. Ohne falsche Beschei- aller Probleme gefunden wird. Bei dieser Ausgangslage er-
denheit stellt sich Hubbards neue Hyper-Methode als die
»moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit« vor und 9 1 Aus Dokumenten, an deren Authentizität zu zweifeln kein Grund
verspricht, die einfachste Lösung aller bisher unlösbar erkennbar ist, geht hervor, daß er im Jahr 1943, als er bei der Navy
scheinenden Probleme zu bringen. Wie ein kalifornischer einen Innendienstposten wahrnahm, unter psychotischen Zustän-
den in Form von schweren Depressionen mit Selbstmordtendenzen
Avatar vonJohann Gottlieb Fichte preist Hubbard seine Wis- gelitten und deswegen bei einer militärärztlichen Behörde um Be-
senschaft vom Wissen als das Ende der Ära bloßer Vorver- handlung angesucht hatte. Durch eine Granate soll er kurz vor
suche. Während die überlieferten Lösungen selber wieder Teil Kriegsende schwer verwundet worden sein; er sei da9urch vorüber-
der Probleme wurden, gleich ob sie als Religionen, Philoso- gehend erblindet, habe si~h jedoch selbs.t geheilt. Uber seine R.e-
konvaleszenz und über die Methoden semer Selbstbehandlung Ist
pien, Therapien oder Politiken auftraten, verkündet die Dia- nichts Genaueres in Erfahrung zu bringen, sie sollen jedoch seine
netik die Lösung aller Probleme in einer definitiven Klarheit. Überzeugung, daß der Geist die Materie formt, mitbegründet
haben. Ein von australischen Sachverständigen verfaßtes Gutach-
ten aus den sechziger Jahren bestätigt Hubbards Vorahnungen: Es
90 L. Ron Hubbard, Die Wissenschaft des Überlebens. Vorhersage bescheinigt ihm eine abnorme Persönlichkeitsstruktur mit ausge-
menschlichen Verhaltens, Kopenhagen 1983, S. XLVIII. prägten paranoiden und schizophrenen Zügen.
15 8 Der Planet der Übenden Übergang 159

scheint es als die natürliche Aufgabe des analytischen Geists, verfremdende Energie geht von einem technikgeschichtli-
den reaktiven Geist zu entrümpeln, bis nur noch klare Vor- chen Ereignis aus, in dem man den tiefsten Einschnitt seit
stellungen vorhanden wären. Wer den pathologischen Spei- der Durchsetzung der vokalalphabetischen Schriften um
cher geleert hätte, würde die Alleinherrschaft des analyti- 700 vor Christus erkennen muß: Die Rede ist hier von der
schen Geistes erreichen und dürfte sich geklärt (clear) nen- Computerkultur. Ihre Entfaltung um die Mitte des 20. Jahr-
nen. Alles »Processing« geschieht unter der Maxime: Wo hunderts erzwingt eine Revison der klassischen Geist-Kör-
reaktiver Geist war, soll analytischer Geist werden. Nichts per-Unterscheidung, indem sie durch die Konstruktion von
anderes als die Herstellung von Geklärtem ist die Aufgabe Rechnern bzw. »Geist-Maschinen« zeigt, daß ein Gutteil der
der dianetischen Prozeduren. Durch sie werden die Klienten, Phänomene, die man bisher der Geist-und-Seele-Seite des
gleich über welche Beschwerden sie klagten, auf inneren Seinsganzen zugeschrieben hatte, in Wahrheit auf die mecha-
»Zeitbahnen« zu den »Engrammen« in ihrem pathologischen nisch-materielle Seite gehären. Reflexion ist eine Eigenschaft
Gedächtnis zurückgeführt - wobei oft die »Schlösser« (lacks) der Materie und kein Privileg der menschlichen Intelligenz.
vor den pathogenen Speicherinhalten entriegelt werden Die Neuverteilung der Welt unter dem Druck der neuen
müssen. Die Zurückführungen erfolgen in der mehr oder kybernetischen Mitte bestimmt seither das Drama des zeit-
weniger fabelhaften Annahme, durch Erinnerung (recall) genössischen Denkens. In diesem Prozeß wird offenkundig,
würden die alten Engramme »gelöscht« und die von ihnen warum die Idole stürzen. Die Philosophie der Kybernetik
bewirkten »Aberrationen« behoben - eine Annahme, die zur macht es mäglich, eine allgemeine Theorie der Götterdäm-
Zeit von Hubbards Anfängen durch die Psychoanalyse und ·
merungen zu f ormu1leren. 92

Alfred Hitchcock populär gemacht worden war, obschon sie Das Phänomen Hubbard gehärt unverkennbar in die Tur-
es nie zu mehr als einer Scheinplausibilität zu bringen ver- bulenzen, die durch den Einbruch der Kybernetik in die Do-
mochte. mänen der metaphysischen Klassik ausgelöst wurden. Als
Wäre mit diesem Resümee des Hubbardschen Ansatzes Zeitgenosse der ersten Generation von Kybernetikern und
schon alles gesagt, so könnte man sich mit der Feststellung als Autor von Science-Fiction-Romanen (von Kennern des
begnügen, die Dianetik sei ein mehr oder weniger amüsantes Genres einigermaßen geschätzt) hatte er einen privilegierten
Kapitel im Epos von der Amerikanisierung der Psychoanaly- frühen Zugang zur neuen Welt der inneren Technologien. Man
se. In dem wird berichtet, wie die Parteigänger der Ich-Psy- muß sich vor dem Trugschluß hüten, Hubbards »Vorleben« in
chologie sich an der Psychologie des Unbewußten schadlos der Science-Fiction-Szene als einen Makel zu betrachten.
hielten - oder wie die gesunde Seele der esoterischen West- Gotthard Günther, noch immer der bedeutendste philosophi-
küste den Sieg über die morbide Psyche der Ostküste davon- sche Interpret des Ereignisses Computer, hat mit guten Grün-
trug. In Wahrheit jedoch gehört die Episode Dianetik/Scien- den dafür plädiert, in der Gattung des Science-Fiction-Ro-
tology in eine breitere geistesgeschichtliche Strömung, die ich mans das Laboratorium für die Philosophie des technischen
als die techno-gnostische Wende der westlichen Psychologie Zeitalters zu sehen - eine These, die im Blick auf das CEuvre
bezeichnen möchte. Für sie ist eine neuartige, bis in die letz-
92 Gotthard Günther, Seele und Maschine, in: ders., Beiträge zur
ten Elemente durchschlagende technologische Verfremdung Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Erster Band,
geistiger und seelischer Traditionsbestände bezeichnend. Die Hamburg 1976, S. 75f.
r60 Der Planet der Übenden Übergang 16r

von Autoren wie Stanislaw Lern und Isaac Asimow, um nur Elan, der ihn zur ersten Entgrenzung der Science-Fiction ge-
die Größten zu nennen, völlig legitim erscheint. tragen hatte, vollzog er die zweite und eröffnete nach der
Alles spricht dafür, daß der Romancier Hubbard das Gen- psychotherapeutischen die religiöse Front. Die Rückmel-
re nie gewechselt, sondern nur ausgeweitet hat. Mit größter dung aus dem Realen zeigte an, daß es auch diesmal "funk-
Folgerichtigkeit führt ihn sein erster Schritt über die Grenzen tionierte« - die Religion-Fiction materialisierte sich in kür-
der Science-Fiction zur Dianetik, die ihrem kognitiven Status zester Zeit und nahm die Form einer real existierenden " Kir-
nach nichts anderes als Psychology-Fiction darstellt. Hierzu che« an. Unverkennbar war hierbei ein Element von Flucht
paßt die von Nahestehenden berichtete Tatsache, daß Hub- nach vorn im Spiel, da Hubbard nach dem übergroßen Erfolg
bard das 500-Seiten-Buch Dianetik in Bayhead, New Jersey, seines Selbsthilfe-Therapie-Buchs die Reaktion der organi-
in bloß einem Monat niederschrieb - und zwar ausschließlich sierten Ärzteschaft fürchten mußte. In dem Maß, wie die
»aus dem Kopf«, off the top of his head, ohne jeden Rückhalt Zunft seinen "magischen« Methoden jegliche Wirksamkeit
in wissenschaftlicher Forschung. Die experimentelle Basis, absprach und ihm unverantwortlichen Umgang mit den
auf die er sich beruft, "Hunderte von Fallstudien«, ist selber Hoffnungen von Leidenden, darunter vielen Unheilbaren,
Teil der Erfindung. Von dieser Beobachtung her fällt rück- vorwarf, lag es nahe, in die Unbelangbarkeit der religiösen
wirkend Licht auf die Systeme Freuds und C. G . Jungs. Hat Sphäre auszuweichen. Im übrigen machte man im inneren
man das Schema der Psychology-Fiction einmal umrißklar Zirkel der damaligen Organisatoren nie ein Geheimnis aus
aufgefaßt, erkennt man seine Züge auch in den alternativen der Tatsache, daß die kirchliche Camouflierung der neuen
Versionen wieder. anti-professionellen Heilungsmethode ein Weg war, die
In unserem Kontext ist Hubbards zweiter Schritt beson- Steuerbehörden in die Irre zu führen.
ders informativ: Es ist die Bewegung, mit der die dianetische Hubbard setzte bei der Ausgestaltung der Church ofScien-
Psychology-Fiction zur scientologischen Religion-Fiction tology nach 1954 die formreligiösen Strategien ein: Er umgab
aufgestockt wird. Wer diesen Übergang beobachtet, wird den profanen Inhalt Dianetik®, später auch die Inhalte Hub-
Zeuge, wie die Religion des technischen Zeitalters debü- bard-Bücher, Hubbard-Reden, Hubbard-Beratungstechni-
93
tiert. Als Hubbard durch den Erfolg seines Buchs Dianetics. ken usw., mit dem religionsüblichen sakraltechnischen Appa-
The Modern Science of Mental Health die Rückmeldung aus rat. Ihr Fundament ist ein Gründerkult ohne Grenzen: Die
dem Realen erhielt, daß angewandte Fiktion »funktioniert«, Feier des Meisters als Erweckers der Menschheit durchzieht
sah er für seine Ambitionen grünes Licht. Mit demselben die gesamte scientologische Mediasphäre. Sie stellt eines der
dichtesten selbst-lobenden Systeme der jüngeren Geistesge-
93 Daß dies kein absolutes Debut ist, zeigen analoge, oft geistreichere
schichte dar - in ihm werden wie auf einer Raumstation die
Projekte in den Avantgardebewegungen der Russischen Revolu-
tion, insbesondere die Schriften der Immortalisten und Biokosmi- systemeigenen Betriebsdaten recycliert. Ergänzend trat eine
steno Vgl. Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russ- scharfe Dringlichkeitspropaganda hinzu - die strategische
land zu Beginn des 20. Jahhrunderts, herausgegeben von Boris Version der Apokalyptik: Sie erläuterte den Klienten die un-
Groys, Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der ausweichliche Wahl zwischen Scientology und Selbstmord.
Heiden, Frankfurt am Main 2005. Sie sind im übrigen als Beweis-
stücke dafür zu lesen, daß der Kommunismus seinerseits eine Form Damit war die totale Immersion in Hubbards Themenpark
von angewandter Social-Science-Fiction war. gewährleistet. Zusätzlich schuf die Sekte zahllose interne
r62 Der Planet der Übenden Übergang

Funktionsrollen, »Auditoren«, »Registrare «, »Ethik-Offizie- Aura bei seinem Religionsartefakt bereitete ihm offensichtlich
re«, und jede Menge neue Wichtigkeiten in Form von Su- keine Sorgen. Was der neuen Kirche an Altehrwürdigkeit fehl-
pervisions- und Kontrollaufgaben - die phantasievollen te, machte sie wett durch die Unbekümmertheit, mit der sie
Repliken einer kirchlichen Hierarchie - sowie Seminare, sich als den spät, aber doch rechtzeitig eroberten Gipfel der
Business-Center, Kliniken, ja sogar Hochschulen, bei denen Menschheitssuche nach Wahrheit präsentiert. Freimütig ge-
man heterodoxe akademische Grade erwerben konnte, dar- stattet die scientologische Theologie den Religionsgründern
unter auch den des Doktors der Theologie. Man kann nicht der Vergangenheit, zu ihm, dem Vollender, aufzuschauen -
behaupten, für die N eu-Wichtigen und jene, die sich zu ihnen Buddha, Lao Tzu, J esus, Mohammed, aber auch Autoren
gesellen wollten, sei in diesem weitsichtigen Unternehmen wie Aristoteles, Kant, Schopenhauer, Freud, Bergson und
nicht gesorgt worden. Für den internen Verkehr wurde eine wer sonst in der bunten Liste der Vorläufer kandidieren darf.
Insider-Sprache eingeführt, durch deren Gebrauch der Gra- Sie alle dürfen sich darüber freuen, daß in Hubbard erreicht
ben zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen die er- ist, wonach sie selbst mit noch untauglichen Mitteln strebten.
wünschte Tiefe erreichte. Ein System gegenseitiger Kontrol- Auch ein gewisser Dharma soll vorzeiten der Wahrheit ganz
len stabilisierte den Betrieb; die diskrete Überwachung der nahe gewesen sein, vorgeblich ein asiatischer Mönch des Al-
Mitglieder zur Früherkennung von Skepsis rundete das Pa- tertums. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt - findet man denn
ket der Kirchennachahmungsmaßnahmen ab. Originell war nicht auch im Neuen Testament Angaben, die historischer
nicht zuletzt das Design der scientologischen Gemeinde: Kritik nicht standhalten? Ich bin nicht sicher, ob man Hub-
Dieses sieht vor, daß mit jedem neuen Gläubigen ein neuer bard unterstellen darf, er habe mit seinen weniger geglückten
Kunde gewonnen wird - man muß bis zum katholischen Ab- Auslassungen zeigen wollen, zu einer kompletten Kirche ge-
laßhandel des r6. Jahrhunderts zurückgehen, um eine ähnlich hörten auch die Zeichen ihrer Fehlbarkeit. 11
enge und elegante Beziehung zwischen Heils- und Geldge- Die Frage, ob Hubbard über die Psychology-Fiction und
schäften zu beobachten. 9 4 die Religion-Fiction hinaus auch eine Form von Politics-Fic-
Schon allein für diese Leistungen bei der nachbauenden tion 95 hat kreieren wollen, soll in diesem Rahmen unbe-
Rekonstruktion des Phänomens Kirche muß man Hubbard antwortet bleiben. Je nach Gesinnung und Stimmung wird
höchste Anerkennung zollen, da er mit seinem formreligiösen man die entsprechenden Äußerungen des Meisters - beson-
Imitationsverfahren wertvolle Aufklärung über die allgemei- ders die berüchtigte Gleichsetzung von Demokraten und
nen Bedingungen von Religionsbildungen, seien sie historisch Affen - entweder als dadaistisch oder präfaschistisch ein-
gewachsen oder aktuell synthetisiert, lieferte. Der Verlust der stufen. Durch das ganze Spektrum der scientologischen
Themen läuft ein radikal parodistischer Zug, der nichts, was
94 Nur in einem Punkt stellt die Church of Scientology einen Ana- Hubbard jemals anfaßte, unverändert und unverrückt ließ.
chronismus dar: Sie wiederholt die historisch überwundenen For- Was immer er aus der symbolischen Überlieferung auf-
men der Zwangsmitgliedschaft in einem Kultkollektiv, ja, sie stei- griff, tauchte als technisch wiederhol bares Phänomen wieder
gert diese bis an den Punkt, an dem die Organisation ihre
Mitglieder quasi kannibalisch konsumiert. Hingegen ist auf dem 95 Der Ausdruck Politics-Fiction ist in anderem Kontext von Philippe
offenen Markt die »religiöse Erfahrung« selber eine Art von Event- Lacoue-Labarthe verwendet worden. Vgl. ders., Die Fiktion des
Ware oder ein konsumierbarer Spezial effekt geworden. Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart 1990.
Der Planer der Übenden Übergang

auf. Offenkundig eignet sich nichts so sehr wie die »Religion «, anders sein, weil Scientology das Muster für formreligiöse
ins Universum der technischen Bilder übersetzt zu werden, da Inszenierung eines fremden Inhalts bietet.
sie von sich her auf die Erzeugung von Spezialeffekten aus ist. Der Europäische G erichtshof für Menschenrechte hat im
Als Religionsparodist hat Hubbard Überragendes gelei- April 2007 das Recht von Scientology, ihrer nicht immer
stet, nicht zuletzt als Parodist des Hierarchieprinzips - man seriösen, ja zuweilen manifest kriminellen ökonomischen
denke an seine erheiternden »operierenden Thetane« erster Aktivitäten ungeachtet,97 als religiöse Gemeinschaft auf-
bis achter Stufe -, aber auch als Parodist des mystischen Ge- zutreten, bestätigt. Dieses Urteil verdient höchste Auf-
dankens, wonach die Seele (neuerdings Thetan) in ihrem In- merksamkeit, weil es ein beunruhigendes Zeugnis für die zu-
nersten Gott erkenne. Für die Erkenntnis, daß man brüchige nehmende illitteracy unserer Rechtswesen in »religiösen «
Psychen durch hochklassige Thetan-Implantate ersetzen Angelegenheiten darstellt. Dem Augenschein zum Trotz be-
kann, hätte Hubbard einen Nobelpreis verdient. Von hohem inhaltet es keine Aussage über die religiöse Qualität des Un-
parodistischem Wert ist auch der Umgang von Scientology ternehmens. Es stellt nur das unentäußerliche Recht von
mit ihren Abtrünnigen - hierbei wird die klassische Verdam- jedermann fest, sich zu einer funktionierenden Fiktion zu
mung der Gottesleugner in systematische Belästigungen von bekennen. Die Richter nahmen der scientologischen Organi-
Ex-Thetanen travestiert. Die wären noch komischer, bedeu- sation ihren Anspruch, spirituelle, »religiöse« und humani-
teten sie für die Angegriffenen nicht üblen Psychoterror. Das stische Ziele zu verwirklichen, zum Buchstabenwert ab.
Prinzip der alten missionierenden Kulte, wonach man das Bei Licht betrachtet bedeutet das Straßburger Urteil lediglich
Volk gewinnt, sobald man den König bekehrt hat, ergibt, in eine Aussage des Gerichts über sich selbst, insofern es sich in
heutige Verhältnisse übersetzt, die Einsicht, man müsse an Parodiefragen für nicht urteilsfähig erklärt. Nach einer ver-
erster Stelle die Celebrities umgarnen. 96 wandten Logik sind die Security-Angestellten an Flugplätzen
Mit Hilfe dieser Techniken hat Hubbard binnen weniger gehalten, einem Spaßvogel, der vorgibt, er habe eine Bombe
Jahrzehnte aus Zitaten ohne Grenzen ein geistesgeschichtli- im Handgepäck, den Zugang zum Abflugbereich kategorisch
ches Las Vegas geschaffen. Er hat die »Kirche « ins Zeitalter zu verwehren, da den Kontrolleuren nicht zuzumuten ist,
ihrer technischen Herstellbarkeit geführt. Das Unbehagen eine Äußerung anders als wörtlich zu verstehen.
angesichts dieses Komplexes aus bloßstellenden Imitationen Höchstrichterlich ist somit statuiert, daß der Tatbestand
mag einer der Gründe sein, warum die Angehörigen der Religion in unserer Zeit durch die Behauptung eines Unter-
»Originalreligionen« ihm lieber aus dem Weg gehen. Um so nehmens, eine Religion zu sein, erfüllt ist. Wer Religion im
gründlicher kümmern sich die Organe des Verfassungsschut- Handgepäck hat, darf zum Gate gehen. Die Überlegung, Je-
zes in Deutschland um die mehrdeutige Organisation - in den sus hätte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen-
USA war sie auch zeitweilig im Visier des FB!. Daß sie ver- rechte keine Klage auf Zulassung als Religionsmann einrei-
dächtig erscheint, folgt aus ihrem Design, da sie ihr Herstel-
97 L. Ron Hubbard selbst ist 1979 von einem französischen G ericht in
lungsprinzip fast offen vor sich her trägt. Dies kann nicht Abwesenheit wegen Betrugs zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt
I1
worden. Auch das FB! ist in den Geschäftsakten der Sekte fündi g
96 Vgl. Dana Goodyear, Chateau Scientology. Inside the Church's geworden. Hubbards Ehefrau wurde in den siebziger Jahren in den
Celebrity Center, In: The New Yorker, 14. Januar 2008. USA zu einer mehrjähri gen Gefängnisstrafe verurteilt.
166 Der Planet der Übenden Übergang

ehen können, weil er das Wort »Religion « nicht kannte, kam gen inzwischen schon wenige Jahre, um pseudo-transzenden-
den Richtern nicht in den Sinn. Jesus stand auch das Konzept te Effekte zu bewirken.
der Menschenrechte nicht zur Verfügung, schon gar nicht das Resümierend bleibt festzuhalten: Die indirekt aufkläreri-
für die Modernen unantastbare Recht auf freie Illusionsaus- sche Dynamik von Hubbards scientologischer Lehre, mehr
übung. Die Straßburger Richter ahnen nicht, wie nahe sie bei aber noch die lehrreichen Implikationen seiner Organisati-
Ron Hubbard stehen: Wenn er eine Religion gründen konnte, onskunst, hängen mit der beispiellosen Ungeniertheit seines
dann können sie auch eine zulassen. Immerhin haben die Eklektizismus zusammen. In diesem Punkt stellt Hubbard
Richter - falls keine getarnten Scientologen unter ihnen sind selbst den weiß Gott nicht schüchternen Rudolf Steiner in
- bone lide Recht zu sprechen versucht, indessen Hubbard den Schatten. Sein skrupelloser Trieb zur Montage trägt in-
seine »Kirche « sehenden Auges über einem Abgrund von soweit die Signatur einer Zeit, als er auf seine Weise den Über-
lronien gründete. Darüber hinaus arbeiten die Scientology- gang von der »Wahrheit des Denkens zur Pragmatik des Han-
Anwälte seit Jahnehnten daran, das Rechtssystem ihrer gast- dels «99 vollzieht. Das Hubbard-System versteht von dem,
gebenden Länder in einen Schauplatz für Jurisdiction-Fiction was in der Tradition Geist oder Seele hieß, nur so viel, daß
umzuwandeln - mit Erfolgen, die sich sehen lassen können. jetzt auch diese Größen Spielfelder von survival sein sollen.
Ohne die Klagefreudigkeit des amerikanischen Anwalts- Der survival-Gedanke hat bei ihm das Jenseits durchdrungen
wesens, das nach Europa übergreift, wäre Scientology gewiß und sich alles untergeordnet, was je zuvor als geistiger Über-
schon längst vom Markt verschwunden. schuß über das physische Leben galt. Damit bietet Sciento-
Ich schließe aus dem Streit um den Religionsstatus dieser logy Pragmatismus von drüben für hier und umgekehrt. In
psychotechnischen Übungsgruppe, er habe endgültig gezeigt, eins damit liefert sie die metaphysische Rechtfertigung der
daß es Religion nicht gibt. Sieht man dem Fetisch Religion auf Gier nach höheren Positionen im Pyramidenspiel des Lebens.
den Grund, erkennt man ausschließlich anthropotechnische Bei Spielen dieser Art zahlen stets die Neuen die Kosten für
Prozeduren (das gilt analog für den zweiten Großfetisch der den Aufstieg der Älteren. Daß das Böse auch unmittelbar das
Gegenwart: »Kultur«). Der Ausdruck Religion ist, hier wie Gute sei, diese von Nietzsehe vorbereitete gefährliche Ein-
anderswo, nach innen hin ein Paßwort, um die nachgiebige- sicht, gelangt bei solchen Spielen zu voller Entfaltung. In
ren, von Ausbeutung gefährdeten Zonen der Psyche aufzu- ihnen hat die gnostische Ironie, wonach alles nur ein Spiel
schließen, nach außen hin ein Badge, den man beim Einlaß in sei, ihre Grundlage. In Los Angeles, wo Scientology am tief-
die Welt des respektablen Scheins vorzeigt. Im Kontext einer sten verankert ist, übersetzt man das in die These: Alles ist nur
genetischen Kulturtheorie würde man diesen Effekt als Pseu- ein Film, der sich auf frühere Filme bezieht. Worauf es an-
do-Transzendenz bezeichnen. Diese entsteht, sobald die Ur- kommt, ist, im Lager der Produzenten zu stehen.
sprünge mentaler Fabrikationen hinter einem »Schleier des Führt man diese »Religion « auf ihre Essentials zurück,
Nichtwissens « verschwinden und von den Klienten wie ein zeigen sich drei nicht weiter reduzierbare Komplexe, von
al tehrwürdiges Erbe rezipiert werden. 98 Wie man sieht, genü- denen jeder einen klaren Bezug zur Dimension Anthropo-
98 Über die Rolle von Pseudo-Transzendenz im modernen Kunst- 99 Vgl. Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse. Aus dem
system vgl. Heiner Mühlmann, Countdown. 3 Generationen, Wien Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Kurt Klagenfurt,
2008. München, Wien 2000, S. 277.
168 Der Planet der Übenden Übergang

technik aufweist. Zuerst, nach der dogmatischen Seite: ein zu sein, das Tier, dessen Zahl 666 ist. Ob Crowleys Spiele mit
straff organisierter Illusionsübungsverein, dessen Mitglieder okkulten Traditionen nicht auch als eine verwilderte Version
im Lauf der Zeit immer tiefer mit den Konzepten des Milieus der Rehabilitation der Matiere verstanden werden könnten,
imprägniert werden. Sodann, nach der psychotechnischen möchte ich hier nicht untersuchen - die Analogie zwischen
Seite: eine Trainingsanleitung zur Ausbeutung aller Chancen Schwarzer Magie und Historischem Materialismus liegt eini-
im transzendenten Überlebenskampf. Wendet man sich zu- germaßen offen zutage.
letzt der Spitze der Bewegung zu, so sieht man alles, nur Von diesem infernalischen Quartett war das jüngste Mit-
keinen »Religionsgründer«: Vor uns steht ein zu allem ent- glied sicher das erfolgreichste. Nach einer Aussage von Hub-
schlossener, radikal ironischer, allseitig beweglicher Busi- bards ältestem Sohn, Ron Hubbard jr., war sein Vater schon
ness-Trainer, der seinem Nachwuchs vormacht, mit welchen früh von Crowley fasziniert. Durch einen von dessen Schü-
Techniken man im Dschungelkampf der Egoismen überlebt. lern, dem Raketenwissenschaftler Jack Parsons vom Califor-
Das schließt im übrigen nicht aus, daß die Sache gelegentlich nian Institute of Technology, war er mit dem berüchtigten
auch einen Charme hat. In ihr können sogar gutwillige und Ordo Templi Orientalis in Berührung gebracht und in
nicht ganz unintelligente Leute zeitweilig ein Zuhause schwarzmagische Denkweisen eingeweiht worden. tOO Hier
finden, solange sie fest entschlossen sind, ihre Zweifel ein- soll er gelernt haben, daß der Wille alles ist und alles darf.
zuklammern - die »willentliche Außerkraftsetzung des Aus dieser Schule brachte er die geheimste der Erleuchtungen
Unglaubens«, um nochmals Coleridge zu zitieren, ist stets mit, die sein System trugen: Jeder kann siegen, keiner muß
der intimste Beitrag der Gläubigen zum Überleben suspekter sterben. Wer Gott sein will, kann es in wenigen Sitzungen
Konstrukte. Aus systemischer Sicht belegt das die Regel, wo- werden. Hubbard wußte aus erster Hand, daß in diesen Sät-
nach ein perverses Ganzes sich die relative Integrität der Teile zen die Stimme des Tiers aus der Tiefe spricht - in freier
zu eigen machen kann, ohne sie ganz zu korrumpieren. Ohne Übersetzung: die Rache der Materie für dreitausend Jahre
diesen Effekt ist freilich die gesamte Religionsgeschichte der Verkennung und Verübelung. Nach dem Tod Crowleys
Menschheit nicht vorstellbar. 1947 soll Hubbard geglaubt haben, dessen Platz sei vakant
und warte auf einen würdigen Nachfolger.
Um mit einem Argument ad personam zu enden, möchte ich Ron Hubbard jr., ein kenntnis reicher, wenn auch nicht
bemerken, daß es in der jüngeren Geistesgeschichte nur drei untendenziöser Zeuge, behauptet ferner, sein Vater, mit dem
Figuren gibt, denen Hubbard in typologischer Perspektive er während der Gründungsjahre der »Kirche« in allem zu-
zur Seite gestellt werden kann: dem Marquis de Sade, dem sammengearbeitet hatte, sei von den mittleren sechziger Jah-
Pionier der Philosophy-Fiction, die der Freisetzung eines ren an ein psychisches und körperliches Wrack gewesen, ein
sexualisierten Machtwillens das Wort redete; dem russischen Opfer der eigenen Fiktionen und eine Ruine seiner Drogen-
Wunderheiler und Bohemien-Mönch Rasputin, dessen Maxi- und Medikamentensucht. Darum verbarg er sich vor seinem
me lautete: »die Kraft ist die Wahrheit«, und dem britischen Gefolge auf einer Luxusyacht und steuerte seinen Konzern
Okkultisten Aleister Crowley, der sein Leben mit Bosheits-
experimenten und Drogenexzessen zubrachte und für sich 100 Vgl. John Carter, Raumfahrt, Sex und Rituale. Die okkulte Welt
reklamierte, Satan, der Antichrist, die Bestie der Apokalypse des Jack Parsons, Albersdorf 2003.
Der Planet der Übenden

viele Jahre lang von hoher See aus. Während seiner letzten
Lebensjahre sei er in der von ihm selbst gebauten Falle ge-
sessen, verloren wie ein Gefangener in einer explodierenden
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Feuerwerksfabrik, von H ypochondrie geplagt, von choleri- Für eine akrobatische Ethik
schen Anfällen überwältigt, erfüllt von Vernichtungswün-
schen gegen »umerdrückerische Personen«, die es wagten,
sein Werk zu kritisieren. Er habe sich nie mehr in der Öffent-
lichkeit gezeigt, um seinen Anhängern nicht vor Augen zu
führen, bis wohin man es mit seinen Methoden bringen kann.
173

PROGRAMM

». . . durch den brennenden Reifen der Welt springen« Nach der teils erzählenden, teils analytischen Annäherung
an den »Planet der Übenden« dürfte das Terrain der folgen-
Ingeborg Bachmann den Untersuchungen im groben Umriß ausreichend gesich-
tet sein. Es ist nun an der Zeit, das asketologische Feld ge-
nauer zu vermessen. Das setzt voraus, zu den Schimären der
»philosophischen Anthropologie« auf Distanz zu gehen -
gleich, ob diese mit Scheler »die Stellung des Menschen im
Kosmos« erklären möchte oder sich, auf den Spuren von
Blumenberg, vornimmt, den Menschen als das Tier, das sich
gesehen sieht, ins rechte Licht rücken. Ich sage nicht, daß
jemand, der Schimären sieht, gar nichts gesehen hätte. Aber
er erkennt nur, was seine Methode wahrzunehmen erlaubt -
die Fachinteressen in vermenschlichter Gestalt: den Philo-
sophieprofessor selbst, der sich als Muster der gesamten Evo-
lution von der Savanne ins Seminar schwingt. Und wenn
Scheler sagt, der Mensch sei der Catilina der Natur, der ewige
Unruhestifter, rerum novarum cupidus, so bringt ein solcher
Blick sogar politisch und kriminologisch Farbe in die Ange-
legenheit, man erwartet unmittelbar den Auftritt Ciceros, der
den ewigen Menschen fragen wird, wie lange er noch unsere
Geduld mißbrauchen will.
Eine materielle Anthropologie auf der Höhe des gegenwär-
tig Wißbaren kann nur in Form einer allgemeinen Anthropo-
technologie entwickelt werden. Diese beschreibt den Men-
schen als das Wesen, das im Gehege der Disziplinen lebt, der
unfreiwilligen wie der freiwilligen 1 - auch Anarchismen und

I Einen vorläufigen Hinweis auf das Gehege der Schriftkultur und


seine Sprengung durch postliterarische Techniken habe ich im Jahr
1997 mit der Metapher »Menschenpark« gegeben.
174 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Programm 175

chronische Disziplinlosigkeiten sind aus dieser Sicht nichts ken auf den Denkenden, die Gefühle auf den Fühlenden zu-
anderes als Disziplinen in alternativen Gehegen. Das Wort rückwirken. Alle diese Arten des Rückwirkens haben, be-
Anthropotechnik verweist auf ein Universum, über das Auto- haupte ich, asketischen, das heißt übungshaften Charakter -
ren wie Arnold Gehlen (mit seinem Beharren auf der Notwen- obschon sie, wie gesagt, zum größten Teil den nicht-dekla-
digkeit der Bindungen des von Verwilderung bedrohten Ein- rierten und unbemerkten Askesen bzw. den okkultierten
zelnen an die »Institutionen «), Jacques Lacan (mit seiner Par- Trainingsroutinen zuzurechnen sind. Es sind erst die aus-
teinahme für die vaterrechtlich verstandene »symbolische drücklich übenden Menschen, die den asketischen Zirkel
Ordnung«) und Pierre Bourdieu (mit seiner Aufmerksamkeit der Existenz explizit in die Sichtbarkeit heben. Sie schaffen
für die Grundlegung des klassenspezifischen Verhaltens im die selbstbezüglichen Verhältnisse, die den Einzelnen auf die
»Habitus «) bereits wichtige Teilansichten formulierten. Auch Mitwirkung an seiner Subjektivierung verpflichten. Sie alle
von Wittgenstein inspirierte Ethno- Linguisten, strukturalisti- haben für uns in anthropologischen Fragen Autorität, gleich,
sche Ritualforscher und foucaultianische Diskurs-Historiker ob sie Bauern, Arbeiter, Krieger, Schreiber, Yogi, Athleten,
haben seit längerem einen Fuß auf das Terrain gesetzt. Rhetoren, Zirkuskünsder, Rhapsoden, Gelehrte, Instrumen-
Von diesen Autoren nicht lernen zu wollen wäre unklug. talvirtuosen oder Modelle sind.
Wer aber mit Nietzsche begonnen hat, sich von der Ausdeh-
nung einer der »breitesten und längsten Thatsachen, die es
giebt«, einen Begriff zu machen, kommt nicht umhin, das
gesamte menschliche Feld im Licht der Allgemeinen Asketo-
logie zu re-examinieren. Deren Gegenstand, das implizite
und explizite Übungsverhalten der Menschen, bildet den
Kern sämtlicher historisch manifesten Anthropotechniken -
und ob die Genetik jemals mehr als eine externe Modifikation
dieses an Mächtigkeit seit langem praktisch konstanten Felds
beisteuern wird, ist auf unabsehbare Zeit fraglich. Wenn ich
für die Ausweitung der Übungszone plädiere, so geschieht
das angesichts der überwältigenden Evidenz, wonach Men-
schen - diesseits und jenseits von »Arbeit und Interaktion«,
diesseits und jenseits von »tätigem und betrachtendem Le-
ben« - auf sich selber einwirken, an sich selber arbeiten, an
sich selber Exempel statuieren.
Ich werde im folgenden die autoplastische Verfaßtheit der
wesentlichen Humantatsachen zeigen. Mensch sein heißt in
einem operativ gekrümmten Raum existieren, in dem die Ak-
tionen auf den Akteur, die Arbeiten auf den Arbeiter, die
Kommunikationen auf den Kommunizierenden, die Gedan-
I Höhenpsychologie

Über dich hinaus sollst du bauen. Aber erst mußt du


I HÖHENPSYCHOLOGIE mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.
Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hin-
DIE HINAUFPFLANZUNGSLEHRE
auf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe.
UND DER SINN VON» ÜBER«
Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Be-
wegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden
sollst du schaffen.
Ehe: so heisse ich den Willen zu zweien, das Eine zu
Die Ehe, evolutionär gedacht
schaffen, das mehr ist als die, die es schufen . ... «
Wie immer bei der Lektüre des Zarathustra darf man sich
Es dürfte niemanden, der bereit war, meine Überlegungen bis
auch hier von dem evangelischen Ton nicht in die Irre führen
hierher zu begleiten, verwundern, wenn ich das erste Stich-
lassen. Wir haben es in der Sache nicht mit neu-religiösen In-
wort für die Ausarbeitung einer übungsanthropologischen
struktionen zu tun, vielmehr mit neu-asketischen Trainer-
Sicht auf den Komplex der Humantatsachen erneut bei
anweisungen. Sie betreffen im gegebenen Fall nicht ei.ne gy~­
Nietzsche finde, dem Wiederentdecker des asketischen Fel-
nastische oder athletische Leibesübung, vielmehr bezIehen sIe
des in seiner ganzen Breite und Schichtung.2 In dem Gesang
sich auf die sexuelle Diät, genauer die innere Haltung, die er-
Von Kind und Ehe aus dem ersten Teil von Also sprach Zara-
reicht sein sollte, bevor die natürlichen Folgen menschlichen
thustra, 1883, versucht sich der neue Prophet in der Rolle des
Fortpflanzungshandelns zu bejahen wären. Was Nietzsches
Lebensberaters für höhere Menschen:
prophetisches Double vorbringt, ist nicht weni~er als ,eine Kr~­
»Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie
tik der linearen Generationenfolge. Demnach smd Kll1der, die
ein Senkblei werfe ich die Frage in deine Seele, dass ich
ihren Eltern im status quo ähneln, überflüssig, genauer: über-
wisse, wie tief sie sei.
flüssige Repliken überflüssiger Originale. Von dem Grund
Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber
ihrer Überflüssigkeit wird man gleich Näheres hören.
ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich
Aus der Sicht des neuen Prokreationstrainers hat jede Ehe
wünschen darf?
als Mesalliance zu gelten, in der sich bloß die Naturautomatik
Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Ge-
oder die Sozialmechanik des Kinderwunschs durchsetzt. Da
bieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage
der Mann, wie Nietzsche zu wissen meinte, für das »echte
ich dich.
Weib« bislang nur das Mittel zum Kind war, muß dem wo?l-
Oder redet aus deinem Wunsch das Thier und die
dressierten Frauenversteher, diesem düpierten Erfüller weIb-
Notdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mi t dir?
licher Wünsche, künftig ein Ratgeber zur Seite treten, der ihn
Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach
zur Ausschau nach anderen Frauen ermuntert: nach ~ben­
einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du
bürtigen, die den Gatten nicht zur »Magd el~es WeIbes«
bauen deinem Siege und deiner Befreiung.
machen wollen, sondern mit ihm eine Gememschaft zur
2 Siehe oben den Abschnitt: Ferner Blick auf den asketischen Stern, Verfolgung noblerer Ziele bilden. Daß das primäre ~iel der
S. 52-68. besseren Ehegemeinschaften einige Verse später mit dem
I. Höhenps)' h I gie f79

Was heiße: Hinauf? Für ein Kn·tik der ertikalen

m ietz he Spezialität, die Auf-


ruhi n. rtika li tär in den menschlichen
Wert-, Ran - und ei run v rhältnissen, auf effektvolle
Wei e in pi 1. n ihr u ehend la cn ich di e Leitfragen
der All emeinen A ker I ie l1 ärfer fo rmulieren: Was heißt
d nd trei b t man da Ge chäft des übenden
Leben? In \V I kem inn kann hierb i zwi ehen Horizonta-
lität und Vertik lilät um r hi d n werden, ob es sich nun
um di auf rei nde Lini nd n - It rn zu den Kindern im
besonderen hand In 11 der um die G radation zwischen den
Ebenen d e ü nden b n im allgemeinen? Woher bezieht
Nietz che ein Ü berzeugun , im Bewegungsindex »Fort«
liege ein gerin r r W rt al in .. Hinauf« ? Au welchen Quel -
len ge ~ innt er in i n dariib r, wa. in olchen Angele-
genheiten b n un U nten bedeuten ? Wie und wodurch
kann überhaupt auf die em Feld eine Lei tun ,eine Lebens-
form, ei n ein we i e über ein er and er n tehen? W her
stammen die Kri terien für :» Über,,- Urteile? Sind ie den Ver-
hältnis en imm, n · nt der werld n ie '10n außen herangetra-
gen? Warum i t für iet hc da \)' eit rma hen in der Ebene
ramm. nicht mehr der h·· h te ~ ert - ~ ie für da Gros esta ndener
lun en 2'.U denken ibt. i t Traditi n mcn hen all r Z iten und Völker -, und welche
F rtpflanzun und Hinau p n?un. i Motive be cim men eine Überzeugu n , eine Fortsetzung
cik der bl ßen Wiederh lun einher- des Spiel d r Replik;lrionen ei nur dann bejahbar und
künftig ni ht m hr enü cn, wenn E lt·rn, ~ ie m Ln nicht-tri vial, wenn ie ine tei erung mit ich bringt?
ihren Kindern . wlederk nren . . ma ein R ht. u n u- Die e ra n ma h n klar: hn ei.ne .. Kritik der Vertika-
k mmenheit geben, ei n R ht uf Trivial i~ä't b· I : kt ni ht. 11 Über! n en zum Wesen der
Übun richrun cn ni hr w itcr. cnn bei der pädagogischen,
3 der athleti ehen, derakr b. ti hen, der künstlerischen, letzt-
lich a1 mb li h n d r »kulturell « vermittelten
Lnterp rec.lti n der W " rt er lt ben und .Ü ber« wird offen-
upe rorgani m, ichtli h in Z ~ it er Rau01 - inn an~ ~ pr hen d r d ie pri-
· Wahrend der er te Satz bei Nietz-

~ 1I n Men ehen, ob man sie nun


hri hr h" rt d r als E an elium begrüßt -,
folgt auf den zweiten, dem alten Ritualg erz zuf Ige, die
Proklamation: .. E lebe der K " ni !« Au h N ieusche ordnet
sich die em e erz unter, ni hr ohne es auf eine abstraktere
Stufe zu h ben. Zwar hab n die empiri hen Könjge aufge-
hört, eindru k 11 zu in, lind teh n nur noch im Sinne des
PrOtokoll und de B ul eva rd .. ob n , die Königsfunktion
als olche j d h al Attraktion pol des reinen Oben, Über
und Hinauf er rand n, bleibt ihrer Zerrüttung im Realen
ungeachtet bei vi. len lndj- idu n imaginär intakt und verlangt
nach einer n uen [nt rprctation. ie rsetzung der Könige
durch Prä id m n und Pr mil1cnte bi tet für die bezeichnete
Auf abe keine L" Ull. ie rc elt da Problem an der Ober-
fläche, hne au h nur die N tw ndigkeit zu bemerken, das
Prä der Präsiden z und das Pr der Pr minenz neu zu defi -
Rleren.

Artist 1J zeir:

Allein im Rahmen incr umfa nd n R f Tm des Vertikal-


systems unter ämtlichen p emantischen und kulturdy-
nami ehen A peklen kann die za rathu tri ehe Kritik der pro-
fanen Fortpflanzung an emes en ewürdigt werden. Mit
,. GOtt« i tau h in a 311, der bi h eri e Men eh, gestorben,
und wer einen Na hf I r pr kl:tmieren 11, hat zur Kennt-
nis zu n hm en, daß d er M n h, d er herk"mmliche Reprä-
senr3.n t der von nesvo r tellun en ge teuerten symbolic
species,4 ,. r r bl ibr«. Will m n das Rirualgesetz befolgen

.. V I. Tcrrcn c W. ca n, Thc
of Lanu a "nd Ih ßr. in,
ihr Bezin er z ~ i hen dem Ab rund re h und dem Ab-
grund Link dahin
rur in die ute wb . ma d r min ·· e Übermensch im
übrigen oe haffen ein, ~ ie er ~ ill er bringt Merkmale mit,
die ihn on den Altm n hen unter heid n, wie sich der
Seiltänz r n cl 11 Zu hau rn umer IUed. Im übrigen hat
sch n Th ma ann in dem Pari_er Zi rku -Kapitel seiner
Bekenntniss d S HochSTaplers Fe/ix Krull durch den Mund
de Pr tag 01 teo die Z ugeh ·· ri k it" der Artisten zum ge-
wähnli hen Men hen hl e ht vehemem geleugnet. Von
der Trapezkiin Ü rin Andr 1113 h , der ..Tochter der Luft «,
wird don e a t, ie ci weder eine Frau im landläufjgen Sinn
des W rt n h üb rhau t in men cWiche We ,en. Ihrer
wahren alur 11. h ci i ein ,.ernster En el der Tollkühn-
heit «, Ähnli ch Jeal1 en t : ,.Wer, wenn er n rmal und bei
Ver rand i t, eht h n uf einem ei l der druckt sich in
Ver co au ? Mann cl r rau? Auf alle FäHe Unge heuer. ,,5
Da ,. Übere in " Übermensc h deutet zunächst allein auf
die H ·· hc, in der ' cin eil übcr den K ·· pfen v n Zuschauern
ge panne wird . I h d nk e, man tritt Nietz ehe nicht zu nahe
mit der e -ce llun ,daß i h unter der r manti chen Ma ke
sein - mei tzitierten cda nken fürs er r njchrs alilderes als
eine Pr min ' nz-Ph n rbir t - fern man unter Promi-
nenz di e Kat
sehenswürdi unt r Kriterien, ü er die zu reden bleibt. Ob die
Hervor- teher und H erau -Ra er (lateini eh: prominere, her-
vorstehen, emin r , h rau ra en) ü er H h eile, Laufstege
oder r te Teppi he ehen, i r nur eine re hni ehe Differenz.
Worauf e ank mrnt, i t di P iti n des Monstrums (von
lateinisch monen! ein Malm zei hen aufrichten), bei dem das
in trenge n Trainin e tei erle K ··nnen und dessen Expo-
sition in t taler iehtbarkeit zu einem einz.igen Komplex

5 Jean cnel, Brie t: :ln R er Blin. cr jlränzer, Hambur [967


s. 7).
wrakl-ob Lik t1Itf dem Mount fmprobable

Die er Einwand en di arti ci h -akrobatische Lesart des


Begriff "Ü bermen h . i t nicht stichhaltig, und zwar des-
wegen ni h~, weil die Dimensi. n de Arti cis hen sich der
verbrauchten Trennun v n Natur und Kultur nicht fügt.
Die Evoluti n bi I gie ma ht ihr r eirs nur Sinn, wenn sie
als eine L hre v n cl r Arri rik der Natur betrachtet wird.
Unter der ptik arwin erwandelt sich die Natur selbst
in einen Zirku , in dem di· Arten dur h unab~ässige Wieder-
holun der einfa h t n Pr zeduren, bekannt als Variation,
Selektion, Vererbung, i h zu d nun lau blich ten Darbietun-
gen emp r hrauben und di in d er Regel ko-evolutionär,
ko-opportuni ci h, in art-über reifenden Ensembles - man
denke all in an di 900 Arten v n Fei en die es weltweit gibt:
Von die en be itz t jed einzelne ine nur zu ihr gehörige Spe-
eie v n ei enfli cn, di in den rüchten leben und ohne
welche kein der -ei en3rten si h fortpflanz.en könnre. 6
Nietz ehe erwähnt um r den arti ci hen Erfindungen der
Kultur I he die dem arurk un twerk "Weibe Busen «
gleichkommen, die cm Mei .,erstÜ k v rm nschlicher Evolu-
tionsart.i tik d. zu 1 i h - nützli h und angenehm. sej. 7 Was
man Leben nennr, i t dur h da. pern la der Evolutions-
the rie betra I1tet ni ht alldere al ein UfI rmeßlich formen -
reiche Variete, in d m jede Kun I. parte, das heißt jede Spe-
eie, da Kun rü k der Kun rü ke zu vollbringen versucht,
das Überleben he ißt. E ibt k ine Sp ie, die nicht auf ihre
Weise, d m ei ltänzer Nict"l. h ana10, die Gefahr zu ihrem
Beruf gema hr h"nc. Wenn man v n Narurhistorikern hört,
weit über 90% der za hll en je entstandenen Arten seien aus-
gestorben (b i pi I wei all in in den letzten Jahrhunderten

sapiens pr - 6 Siehe Dca 11,. Thc mb li pe ics, a.a . ., . }1.s - }p .


h n? 7 F. N., Al pr:t h Zlr:tlhu Ir:t 111, n allen und neuen Tafeln, S. 11..
cn wird. Ab r b man den Weg zum Gipfel als
der 3.1 ein Hebun des ganzen Massivs auf-
c hi In rhält in die er Betrachtung von sich
her eine imm n m . rti t j he imensioll. Der Ausdruck
lt Überieben . i t ein d 'i rr für Naturakrobatik. Immer-
hjn. di.e rag, wer der Natur bei ihren Kunsts tücken zusieht,
ist aus men hli her i ht ni ht zu beantworten - der ei.nzige
Beobac hter, den 'i ir dingfe t liI1a hen k " onen können, ist der
Biologe, d h die er betria da Theater der Evolution mit
einer Ver pärun v n Hunderten vo n Milli nen Jahren.
Nach dem e aren li t n. he das .. Über« in ,. Über-
leben .. wie da .. Über. in "Ü bermen ch auf die Dimension
der wa h end en Unwahr heinli hkeiten zu beziehen. Wäh-
rend da Au (erben "rc da wahr cheiniichere Resulat der
Leben ver u he eine r pe ie 'i äre und da Stagnieren des
Men ehen in iner . ndf nn n Men eh ei n allemal den
wahr chei nli her n Au klang der Menschheit geschj chte
darstellte - für den im übri 'e o dieertreter eines vorgebli-
chen ,. Re hts uf Un IIk mmenheit nicht hne Selbstge-
fälJi gkeit eintreten -. rk " rpern das Ü berleben und die
Überhumani i run cmein am die Te ndenz zum Aufstieg
vom Wahr hei nli h n in weni er Wanrs heinliche. Eine
überlebende pe i erk " rperr da aktuelle Gli d in einer
Kette v n Rcplik..t i n n d r i t.abili ierung ihrer Un-
wahrscheinli hk i.t d un en i t. Nimmt man an, daß eine
stabili j ru Um ahr heinli hkeit um eh nd zum Basislager
weiterer Auf riege wird. hat Inan die Gru ndlag,en zum
Verständni d r luti närcn rift in Richtun auf den Gip-
fel de Mount f mprobabl ew nßcn.
r Die Rede de Bi 1 cn" n den G ipfeln des Unwahr-
luti nären scheinlichen ibr mir auf die oben gestel lte Frage nach
heiniich _ dem Sinn de .. Hi.n3uf. in Zara hu tra Gebot - .. Nicht nur
fort oll r du di h pOanzen, nd ~ rn hinauf! « - eine im Kon-
L nd n 1996; deut h umer dem TItel: ip d d text aktu -11 n Wi co pI. u"ibJ AIl~'\I rr. Na h ihr geht es in
lichen. Wunder der' IUli n, Rein k bei mbu der E lu n n:11 1 her immer h n »hinauf« in dem Sinn,
I Höhenp

diesem Punkt an hneller teit. Das einz.ige Privileg der


Kultur nüb r cl r Natur e 1 ht in ihrer Fähigkeit, die
Evoluti n al KI n. rpartie auf d m Mount Improbable zu
beschleuni , n. B im Üb rgan n der enetischco zur sym-
boli ehen d r . kulrur li en Ev lution akzeleriert sich der
GestaJtpr z.eß bi zu dem Pu:nkt., an dem die Menschen auf
die Er heinun de N u J1 zu i enen Lebz.eiten aufmerk-
sam werden. 10 :n da an n hmen Men ehen zu ihrer eigenen
Inno ati n fähi keit: ' 't eilung - und z.war bis vor kurzem fast
immer ablehnend.

Primär r Konscroarisml4.S und Neophilie

Während der letz t n vi rz:igtau end Jahre der Humanev,o lu-


tion bestand dicta nd ardreakti n auf das Auffälligwerden
von zu ätz.licher Unwahr h in li hkeit oweit man sieht,
in, bedin ung I er Abwehr., An ihren habituellen Oberflä-
chen ind alle alt n Kulrur n. bi z uru k z.u den paläolithi-
nn schen Frühf l"mCn, k nscrvati"er als kOIl ervaov. Sie schein-
en von incr vi z. 'ralcn hmovati n feinds haft durchdrun-
gen, vermutli h weil j v Il der Aufgabe, ihre bewußten
Inhalte, ihre ymb lis hen und t hni hen Konventionen
leisrun , k n tant au , die f J nd Ji\ Generati nell zu über-
tragen, renle ihre V rmögens beansprucht
werden., Kultur n.1 Ihn lje t dur hwegs der Grundwi-
derspruch zwi ehen der ererbten ne philen Ei.nstellung von
homo sapiens und der z unä h tunvermeidlich neophoben

I ben 10 Von diesem M mcnt an kann d ie mcraphysi ehe Mißdeutung des


tdlt Lang amen, .eine Ab hiebu ng in die Tmn z;end enz, aufgeg,e ben
werden. Vgl. Heiner Mühlma.nn. -Die konomiema chine «, in:
5 C deo Ar hitcklUr. Paranoia und Ri ik in Zeilen de Terrors,
inen H " k r in , in r Kur" •
herall gegeben \Ion erd d Sm n, Ba cl / BostonfBerlin, 2006,
.2'1.7. ben : (>eIer 1 tcrdiik, ne ifer. V m Kampf der drei
9 1. Mon thei mcn. " r. nk un am Main 1007, . 1 8-20.
gic

Position, au cl her ie dem Inn vati n rausch der umge-


bend n Zi ili ati n n h kaum zu f I n im rande sind. Die-
ser Wandel bri hr mit d r Maje tär de Alten und überträgt
die Köni funkti n ,ruf jen , die da ue bringen. Wer jetzt
,.Es lebe der K " ni ! ru t, mu Inn ato ren, Autoren, Ver-
mehrer d kultur _lien Patrim nium mein n. Nur w eil die
W lralter d r eröffnet hat, konnte

geren em
en erl an e, wenn es, wie Nietz-
,das in wird, da mehr ist als
die zwei di iejeni en, di.e da nicht wollen.
heißen letzt M n hen.

Ardst nmet4physik

Die e lun nären rau t'Lun n fü r di e Wende sind


cn deutlich zu benennen •• u h w nn die F 1 en unabsehbar blei-
nk- ben: Si li n in den n latri h n Wcrtun en der europäi-
orm. schen R n i an di letztli h auf die Umdeutung der
Ma.n kann nie nu nen, wi e t; r d i jün er ,Im ur _ christlich n Trinität zu un w n de h" pfer-Geists und auf
päi chen (s· Jahrhundert ein eu nde P irivierun de die V r hi ung der inliratio hristi ur imitatio Patris Spi-
euen Ln d ie m ntal en k feme der hw llem, ' lker ein- rilusque zurü kg hen. V r di em Hinter rund brauchte
11
geschnitten hat. ie k mmt d r Um ~ nun aller ene Ni,e rz_ he ni hr vi I mehr z.urun, a1 \I nd m zu seiner Zeit
gleich, w il ie di ält t Zi ili ad n para • ie, " nach schon oll au eb ild eten Kult d. - Neuen die konventi.oneUen
neophile Individuen in ne ph ben zi I trukruren lebr,cn. Hüllen herabz ureißen und ich zum Dogma der Innovation
auf den K pf ge teIlt hat. 1m L uf r Jahrhunderte drängte ohne Grenzen zu b -kcnnen. AI ei ner der er ten war er fähig
ie die mei ten Men hen in ein unfreiwilli e ne phobe wahrzun ehme n, w ie der Molttlt /mprobable aus dem Nebel
[rat. In dem eiben M menr wurde ihm die Relativität der
JI Zum take-off der Inn V3ti n bejahun in d r ur p"i neo Re- Höhe bewußt Weil er bemerkt: Au h hohe Bergrücken
na.i an e iehe Un! n . !24f. erscheinen fl a h, wenn man auf ihnen ht und steht. Nur
193

nnt er z u der An i ht k mm d r einem metaphy ischen Rollenauf-


h ni hr h e cn elb r ein ibrierender Berg
hei nli hk ei t · n i t, kann man eine Bejahung
n mit nur b w · n,. indem man ihn n h h·· her türmt. Darum soll
die Hinaufpla.nzun ein n haffende n chaHen. Indem man
zusätzli h rh ·· her dUnwahr h tnl.i hen Ln die Welt
setzt, akklamiert man der namik der Unwahrscheinlich-
erfla- keitserhö hun in e amt. aher di,e Forderung nach einem
uI ihm z u w bne~ Men ch n, ci r üb r in i nen L ben hindernisse gesiegt
bäne und " m Re entiment e en die Kreativität befreit
w he bier wäre.. ur ein I her Meneh würde nj ht mehr ich seIbst
als Rieht r ·· für d:l Werden der f I enden Generation set-
zen - ge hw i d nn C1I1 rfahrcn. Nur r k ·· nnte ohne
G bir en artiku li rt di neophobe Reflexe d n cda nkc n bejah · n, wonach das kul-
Konfe ion v rzudrin en turelle Unwahr hcinli hkei cbi rge künftig in jeder Gene-
ruf · h ·· her auf fa irer werden oll. E r würde

be reifli h wie wi llkom-

eine primiti
de Leb n .
1.2 F. N ., AI pra h Zar.llhu tra, J\ hen und neu -n Tafeln, . I Superlati
lensgymna tik und d n für di I enen Kräfte.
Nietz eh faßt 'f ür m rali he Tugenden
tärk im Worthalten-

n eht e bei der ,.Ver-

Die A k tik . TU riir'; lJ -n

w h t halt

; hl 1/118 heur r ls d r Me17scb:

E -i I nz ;n der Höhe

Die Si htw i l mmt Ili ht ant. n h ure. Sie ist in den


traute: älteren Wei hei "lircr3rur 11 "r bi.ld t - im europäischen
,.lch will auch die A ketik wieder f!1atürli
an teile der Ab icht a.uf Vemeinun die
Ver tärkun ... « 1
Da Da ein de Men hen v n m r n
und Bcwe liehkcit e rundet ein, ei n d-

13 Nielzs he. imtli h W rkc:. K All, '


197

Soph kle brin t hi r in Prinzip zur Sprache, wonach die


Unterwanderu n , d r Men hi ichkeit im Inneren des Men-
schen elb { in [zr - man hat e z.umeL t, der Konvention
fol gend, d Prinz.ip . ' ,bri enannL Diese Deutung ist kurz-
sichtig, um ni ht: bi n zu _ en, weil ie zwanghaft am Lob
der Mirt ri nti rr bl ibr - Ola au h da nuson wie die
Alten e auffa tco ova ganz. :l.I1der wesen sein als das,
was man h u unt r Mitte rst ht. immerhin bi,crct sie den
Vorteil, di v m men hl'ichen a ein unabtrennbare Verti-
kalspannung zur pra h zu bringen - obschon nur in der
Weise, daß i d n Men h n al da dur h schlechte Höhe
gefährdete We cn be tim mt. D i alteuropäische H ybris-Kri-
tik verk" rp rt d m ge mäß di Grundf rm d essen, was man im
20. Jahrhundert ,. Höh I1p h I ie« genannt hat. In der
Mod rne hat fr,ei li h die H ,bri ihren An atz gewechselt:
Sie kommt ni 111 mehr al Überhebun daher, sondern als
Anmaßun iner iedrigk it, auf die, bei Licht betrachtet,
niemand An pru h erheben kann.
Max hel r geriet in ,d en z.wam~i ge r Jahren de y,erga nge-
nen Jahrhund ertS :Iuf den Au dru k . Höhenpsychologie«,
um sein U:n enü en an der n r ud , Jun und anderen
lancierten P h i i d U nbewußtcn au zudrücken, die
bekanntl i h z. i N iJ i llntcr dem Titel ..Tiefcnspychologie«
betrieb n -.; urd . Na h hder An i ht hatte man in ihr den
einem eil tan Zt .1 7
Menschen. ein iti II n. h um 11 « in Richtung auf den
p ychi hell. M lun i mu rk lärt., ob triebtheoretisch, ob
neurotech ni h.1 ei ner Übcrzeugu ng zufol ge haben die
P yeh I ien der M ~ d ern cl n Menchen übermäßig bio-

18 Schelcrs geisfrl'i her Au dru k w urde p!ircr o n der Logotherapie


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I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen I Höhenpsychologie 1 99


logisiert und seine Teilhabe an einem Register metabiologi- »Über« von Überheblichkeit, im hyper von hybris, im super
scher Realitäten, an der Sphäre der geistigen »Werte «, ent- von superbia; es verbirgt sich im »Akro« von Akrobatik.
weder zu gering veranschlagt oder ganz verkannt. Das Wort Das Wort »Akrobatik« verweist auf den griechischen Aus-
»Geist« wird von Scheler als Hinweis auf die partielle Frei- druck für das Gehen auf Zehenspitzen (von: akro, hoch, zu-
lassung des Menschen aus dem Absolutismus des organismi- oberst und bainein, gehen, schreiten). Es benennt die einfach-
schen Lebens gedeutet: Was idealistische Philosophen vor- ste Form der natürlichen Gegennatürlichkeit. Vor dem 19.
mals »Teilhabe« nannten, meinte ja nichts anderes als den Jahrhundert wurde der Begriff fast ausschließlich für die
Zugang zu höheren Objekten bei Fortbestand der organi- Hochseil-Akrobatik verwendet, danach auf die meisten an-
schen Fessel. In diese »andere Welt«, die geisthafte oder deren Formen der körperlichen Verblüffungskunst ausgewei-
metabiologische (manche Autoren sagen: »bionegative«) tet, einschließlich avancierter Gymnastik und entsprechender
Wert-Zone, ragt der Mensch hinein, insofern er sich mit na- Zirkusdarbietungen, während die Athletismen und die Ex-
türlichen Mitteln an Mehr-als-Natürlichem versucht. Scheler tremsportarten, aus Gründen, die zu erforschen blieben, die
hatte unter Nietzsches Einfluß begriffen, daß beim Übergang Nähe zur Akrobatik eher zu meiden suchten, so sehr die
in das höhere Register der Körper mitgenommen werden Verwandtschaft sich aufdrängt - um von der breiten gemein-
muß - das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Spiritua- samen Front im Feldzug zur Erhöhung des Unwahrschein-
listen und Dualisten. lichkeitsgebirges zu schweigen.
Er wußte zudem: Der moderne Höhenpsychologe steht
vor dem Gegenteil der Aufgabe, die seinen alteuropäischen
Vorläufern vorgeschrieben war. Während die Alten den »ver- Jakobs Traum oder: Die Hierarchie
stiegenen« Menschen ins meson, die gute Mitte, zurückzu-
führen hatten, müssen die Neuen den modernen Menschen Die artistische Unterwanderung oder besser: Überwanderung
an die Region Höhe als solche erinneren, sofern er der der Menschlichkeit findet ihr Hauptdokument noch weit vor
Mensch ist, der sich im Durchschnitt und darunter am wohl- den sophokleischen Hinweisen auf die techno-hybride Ver-
sten fühlt. Wo er seinem Hang dazu überlassen bleibt, ent- faßheit der Menschensphäre. Ich spreche von dem Traum-
schuldigt er sich chronisch nach unten und folgt am liebsten gesicht Jakobs, wie es in den Vätergeschichten des I. Buchs
Vorbildern, die beweisen, daß Wege bergab eher erfolgreich Moses (Bereschit bzw. Genesis) im 28. Kapitel erzählt wird:
sind als steile Aufstiege. Daher ist der moderne Mensch nur »10 Jakob aber ging fort von von Beerseba und reiste
noch von der Höhe her, aus dem Über-Grund, zu »unter«- nach Charan. 11 Da erreichte er einen Ort, wo er über-
wandern. Der verborgene overground liegt jedoch - und das nachtete, denn die Sonne war gerade untergegangen.
ist neu - mehr in der Artistik als in der »Religion «, insofern Er nahm einen von den Steinen des Geländes und legt
die »Religionen«, wie angedeutet, viel eher für die Artistik ihn sich zu Häupten; dann schlief er an jenem Platze.
(mit ihren Zweigen Asketik, Ritualistik, Zeremonialistik) 12 Und er träumte: Eine Leiter stand auf der Erde, ihre
vereinnahmt werden können als umgekehrt. Artistik ist Sub- Spitze berührte den Himmel. Gottes Engel stiegen auf
version von oben, sie überwandert das »Bestehende«. Das und nieder. 13 Oben stand der Herr und sprach: >Ich bin
subversive Prinzip, besser: das supraversive, steckt nicht im der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott
200 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen I Höhenpsychologie 201

Isaaks; das Land auf dem du schläfst, will ich dir und Darum ergibt es guten Sinn, wenn Jakob das erste Gottes-
deinen Nachkommen schenken ... «< haus, Bethel, genau an der Stelle errichtet, wo der Fuß der
Die alteuropäische Überlieferung kennt kein Bild zur Ausle- Engelsleiter die Erde berührte. Als ersten Baustein hierzu
gung menschlicher Bindungen an Vertikalkräfte, das in seiner verwendete er den Kopfkissenstein, auf dem er in der kriti-
Wirkungsmächtigkeit mit diesem zu vergleichen wäre. Auch schen Nacht geruht hatte. Wenn sich ein altes Wandervolk
hier ist von Übermenschen die Rede, jedoch nicht von jener territorialisiert, dann am besten an einem Ort, von dem aus es
Species, die aus Menschen entsteht, sondern jener, die von in der Vertikalen weiter geht.
Gott als solche geschaffen werden. Was die Engel hier tun, Wo Traumhierarchie war, soll Realhierarchie werden. Wie
ist Akrobatensache von Anfang an - sie steigen auf einer Lei- die Engel übereinanderstehen, in neun Rangstufen, von den
ter, nach anderen Übersetzungen: auf einer Treppe, zwischen anbetenden Seraphinen bis zu den Exekutivengeln des ein-
Erde und Himmel auf und nieder. Daß sie das tun, soll eine in fachen Kurierdiensts, so sollen nach Dionysios Pseudo-
aller Schlichtheit zu statuierende Gegebenheit bezeugen: Die Areopagita die Angehörigen der real existierenden Kirche
Sphäre der menschlichen Lebensvollzüge bildet die Mitte übereinanderstehen - desgleichen die Funktionäre der realen
zwischen Welten darunter und Welten darüber. Jede mensch- Verwaltungen und der allzu realen Beamtenkörperschaften,
liche Operation, auch die gekonnteste und bedeutsamste, pro- und ob nicht auch noch das alteuropäische neunstufige Gym-
fan oder sakral, wird überspannt von einer Überwelt aus tran- nasium eine ferne Projektion der neoplatonisch-christlichen
szendenten Handlungen, deren Agenten die Engel sind. Alles Chorstufen enthält, mag eine offene Frage bleiben. 20 Was
menschlich Gekonnte wird auf übermenschlicher Ebene bes- Jakob, der Patriarch der Hierarchie-Denker, erträumt, ist eine
ser gekonnt. So tragen die Engel von alters her das Ihre zu einer artistische Pyramide aus subtilen Körpern. Deren Anblick
artistischen Überwanderung des Menschlichen bei. löst nicht wie im Zirkus schon Applausstürme aus, wenn
Es gibt gute Gründe, zu behaupten, die Geschichte Alt- sie eine Minute lang hält, sie soll jahrtausendelang Bestand
europas sei unter vielen Aspekten die Geschichte der Über- haben - so hat zumindest Dionysios die Leitervision in sein
setzungen der Jakobsleiter aus der Traumsphäre in die Tages- System übersetzt. Daß der Pseudo-Areopagit hiermit zu-
kultur. Sie macht die gemeinsame Geschichte von Hierarchie gleich ein Symbol für die Akrobatisierung der himmlischen
und Akrobatik aus - sofern man das anfängliche akro bainein, wie der ekklesialen Hierarchien geschaffen hat, kann aber erst
das »Hoch-Gehen auf Zehenspitzen« in das Gehen und Stehen vom aktuellen Pol der Geschichte her bemerkt werden, nach-
auf den Stufen einer Leiter zwischen der Erde und dem Höch- dem die Auflösung der überlieferten hierarchischen Systeme
sten sowie auf die vielen adligen Ränge überträgt, die zwischen eine neue Reflexion über die Gründe, Wirkungsweisen und
Volk und König vermitteln. Im übrigen bildet die Leiterakro- Metamorphosen von Vertikalität provoziert.
batik des Zirkus eine Übergangsform zur Luftakrobatik - Von der Mächtigkeit der Leiter-Überlieferung zeugt die
ganz wie bei den Engeln, die man sich nicht nur als Sprossen- Tatsache, daß selbst Nietzsche noch unter ihrem Einfluß
19
steiger, sondern ebenso als fliegende Truppe vorstellt. steht, wenn er Zarathustra zu seinen Freunden sagen läßt,
19 Vgl. Thomas Macho, Himmlisches Geflügel - Betrachtungen zu
einer Motivgeschichte der Engel, in: Engel, herausgegeben von 20 Vgl. Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels: Über Engel,
Cathrin Pichler, Wien/New York 1997, S. 83-100. Frankfurt am Main 2007.
202 1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen I Höhenpsychologie 2°3
.. 21 •
er wolle ihnen »alle die Treppen des Ubermenschen« zeI- bereicherten: Marx spricht von Überbau und Überproduk-
gen. Bemerkenswert ist hier die paradoxe Konstruktion, wo- tion, sein Schwager Lafargue von Überkonsum, Darwin von
.. .. 22
nach die Treppe fortbestehen soll, auch wenn sich oben nichts Uberleben, Nietzsche von Ubermensch, Freud von Über-
mehr findet, woran sie sich anlehnen könnte. Mysteriös über- Ich, Adler von Überkompensation, Aurobindo vom Über-
lebt das mächtigste Vertikalitätssymbol der alten Welt die geist oder dem Supramentalen. Einem klugen Nuklearstrate-
atheistische Krise. Es bezeichnet weiterhin eine von der Hö- gen verdankt man den Ausdruck Overkill, einem obskuren
he ausgehende Spannung, obgleich kein transzendentes Ge- Medikus das Wort Hypertonie, einem obskuren Demogra-
genlager sie mehr konsolidiert. Auch im Ausspruch Zarathu- phen das Wort Überbevölkerung, einem obskuren Großhänd-
stras, der Mensch sei ein Seil, geknüpft zwischen Tier und ler das Wort Supermarkt, einem obskuren Journalisten das
Übermensch, kehrt das problematische Motiv des am Gegen- Wort Superstar. Man muß bis ins 5. Jahrhundert zurückgehen,
pol nicht fixierbaren Transzendenzgeräts wieder - ob Leiter, um einen analogen Schub an neuen Vertikalitätswörtern zu
ob Seil, man weiß bei dieser Bildlichkeit nicht mehr, woher beobachten: Sie stammen fast ausschließlich von dem Meister-
die Spannung nach oben kommen soll. Diese Verlegenheit denker des Hierarchismus, dem erwähnten Dionysios, der
bliebe auf der Ebene der überlieferten Imaginationen unauf- dank seiner zahlreichen Neuprägungen mit Hilfe des Präfixes
lösbar, ja, sie müßte die gesamte Struktur ruinieren, hätte »hyper« den christlich-platonischen Theologenwortschatz
Nietzsche nicht implizit längst auf die völlig anders geartete für ein Jahrtausend aufmischte. 23
Logik der evolutionären Steigerung von Unwahrscheinlich- Wenn es ein Wort gibt, das im Lexikon des 20. Jahrhunderts
keit umgestellt. Mit ihrer Hilfe gelingt die Umwandlung der fehlt, obwohl die Sache selbst allgegenwärtig war, dann ist es
Engel in Artisten fast unbemerkt. Wie jene als Boten Gottes das Wort Übermörder - es würde die Gruppe der Diktatoren
ihren Dienst taten, so fungieren diese als Boten der Kunst. Sie bezeichnen, die aus den vertikalitätsblinden und antihierar-
verkünden die gute und erschreckende Nachricht, man sei chischen Affekten der Massenkultur große Politik machten,
dabei, Gebirge aus immer höheren und heiligeren Bergen auf- zumeist unter Verwendung sozialistischer Vorwände. Was
zutürmen. Nietzsches ominösen Übermenschen angeht, komme ich
nicht umhin, meine Überlegungen zu diesem Konzept mit
einer ironischen Notiz zu beenden. Ein Sachverhalt liegt auf
Über- Wörter der Hand: Sein Urheber ist hinsichtlich der Datierung des
Übermenschzeitalters der größten aller möglichen optischen
Zum Schluß ist darauf hinzuweisen, daß Nietzsche, wenn er
22 Daneben gibt es bei Nietzsche ca. 20 weitere Wortprägungen mit
auch der radikalste Interpret der neu aufgebrochenen Verti- dem Präfix "über«.
kalitätsproblematik ist, in seiner Epoche nicht allein steht. 23 Noch Martin Luther hat in dem Areopagiten den Feind, den Trai-
Man kann behaupten, die zeitgemäßesten Denker seien im ner der ekklesialen Hochakrobatik, gewittert. In seinen frühen
Schriften versucht er ihn noch, für seine eigene, von der Theologia
19. und 20. Jahrhundert diejenigen gewesen, die den Vertika-
deutsch inspirierte simple Dunkelheitsmystik zu vereinnahmen:
litätswortschatz der Moderne um mindestens einen Ausdruck "Unde in Dionysio frequens verbum est hyper quia super omnem
cogitatum oportet simplicter in caliginem entrare.« Später versteht
21 F. N ., Also sprach Zarathustra I, Prolog S. 9· Luther, daß es für Dionys ios nicht um den schnellen Eintritt ins
2°4 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Höhenpsychologie
I 2°5
Täuschungen erlegen - was erstaunlich ist, weil nichts. so of- baren Konstrukt überhöhte. Das Motiv hierzu ist in dem
fenkundig zu sein scheint wie die Tatsache, daß die Ara des Umstand zu sehen, daß Nietzsehe, obschon er nicht vorhatte,
Übermenschen nicht in der Zukunft, sondern in der Vergan- eine eigene Religion zu stiften, das überlieferte Christentum
genheit liegt - sie ist identisch mit der Epoche, in der sich mit heiligem Furor ent-stiften wollte.
Menschen einer transzendenten Ursache zuliebe mit den ex- Gerade die von Nietzsehe wiedereröffnete asketologische
tremsten Mitteln über ihren physischen und psychischen Sta- Sicht läßt die Kontinuität beim Übergang von der »heidni -
tus erheben wollten. An dem Wort Übermensch besitzt das schen« Antike zur christlichen Welt deutlich hervortreten,
Christentum unabstreitbare Urheberrechte, aus denen selbst ganz besonders in dem hier maßgeblichen Bereich: der Über-
bei antichristlichen U mwendungen Tantiemen fällig werden?4 tragung des athletischen und philosophischen Asketismus auf
den monastischen und ekklesialen modus vivendi. Wäre es an-
ders, hätten sich die frühen Mönche Ägyptens und Syriens -
Kein Sklavenaufstand der Moral: unter Berufung auf paulinische Bilder vom Agon der Apostel
christlicher Athletismus - nicht die »Athleten Christi« genannt. Und wäre die mona-
stische Askese nicht eine Verinnerlichung des Regimes phy-
Meine wichtigste Abgrenzung von Nietzsches Hinterlassen- sischer Kämpfer sowie eine Übernahme der philosophischen
schaften betrifft seine Deutung der Differenz von Herrenmo- Lebenskunstlehren unter christlichem Vorzeichen gewesen,
ral und Sklavenmoral. Ich gebe zu, ich bin nicht sicher, ob ein so hätte die Mönchskultur, vor allem in ihren weströmischen
Großereignis wie der von Nietzsche so heftig beschworene und nordwesteuropäischen Ausprägungen, unmöglich zu der
»Sklavenaufstand in der Moral « jemals stattgefunden hat. Kraftentfaltung an allen Kulturfronten führen können, carita-
Eher neige ich zu der Ansicht, es handle sich bei dieser an- tiv, architektonisch, administrativ, ökonomisch, intellektuell,
geblichen Umwertung aller Werte und dieser massivsten Um- missionarisch, wie sie zwischen dem 5. und dem 18. Jahrhun-
fälschung aller natürlichen Richtigkeiten in der Geschichte dert beobachtbar ist. Was also wirklich stattfand, war eine
des Geistes um eine Fiktion des Autors, mit der er einige sehr Athletismusverschiebung von den Arenen in die Klöster- all-
bedeutsame und richtige Beobachtungen zu einem unhalt- gemeiner gesprochen eine Tüchtigkeitsübertragung von der
zerfallenden Antike auf das beginnende Mittelalter, um hier
fromme Dunkel, sondern um eine für Religionsvirtuosen geschaf- nur die Epochennamen zu benutzen und nicht die alten und
fene Stufenlogik mit harten Exklusivitätsmerkmalen geht - von da neuen Kompetenzträger, die aretologischen Kollektive von
an ist ihm der Gründer der negativen Theologie ein Horror und gilt 25
damals und später, im einzelnen zu benennen.
ihm mehr als Platoniker denn als Christ. Vgl. Thomas Reinhuber,
Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, De
Gruyter 2000, S. 102. Ein Wort wie »Hypermarxismus«, das Fou- 25 Was keine einfache Aufgabe wäre: Für die Antike, weil die Über-
cault zur Kennzeichnung der französischen Ideologie in den sech- lieferung zu den gymnastischen und agonalen Disziplinen zwar
ziger und siebziger Jahren gepägt hat, war hingegen von Anfang an ausreicht, um vom enormen Umfang der Athletismus-Phänomene
satirisch gemeint. eine Vorstellung zu erlauben, aber zu fragmentarisch ist, um ein
24 Vgl. Ernst Benz, Das Bild des Übermenschen in der europäischen authentisches Bild zu geben; für das Mittelalter, weil die Geschichte
Geistesgeschichte, in: Der Übermensch. Eine Diskussion, heraus- des Monastizismus an Breite und Detailreichtum die Kapazität
gegeben von Ernst Benz, Stuttgart 1961, S. 21-161. jedes Darstellungsversuchs überschreitet.
206 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen I Höhenpsychologie 2°7
Hugo Ball hat von diesen Verschiebungen das Wesentliche aristokratie durch, deren einzige Leistung in der identischen
erfaßt, wenn er in einem Entwurf zum Vorwort seines Buchs Übertragung ihres aufgeblähten Selbstbewußtseins auf
Byzantinisches Ch ristentum, 1923, betont, der geistige He- gleichnichtsnutzige Nachkommen bestand, oft über viele
roismus der Mönche beinhalte einen überlegenen Gegenent- Jahrhunderte hinweg. Von dieser chronischen Schande Euro-
wurf zum »Naturheroismus« der Kämpfer. 26 Daß es bei die- pas, dem Erbadel, macht sich einen Begriff, wer die Verhält-
sem großen Transfer zu Verzerrungen unter dem Einfluß des nisse der alten Lernkultur China dagegenhält, das seit mehr
Ressentiments kam, ist offensichtlich. Doch selbst ein so ten- als zweitausend Jahren den Erbadel durch einen Bildungsadel
denziöser, und von Nietzsche gnadenlos entlarvter Satz wie: zurückdrängte. Durch die bezeichnete Umwertung der
»Viele Erste aber werden Letzte sein, und Letzte Erste« Werte gelangten nicht die Ressentiments kranker kleiner
(Matthäus 19, 30)27, ließe sich auch im Sinn der großen Are- Leute an die Macht, wie Nietzsche suggerierte, es wurde viel-
te-Verschiebung lesen. Er könnte besagen, das Ranking, das mehr die Mischung aus Faulheit, Ignoranz und Grausamkeit
sich aus Gewalt- und Besitzverhältnissen ergibt, solle nicht bei den Erben lokaler Macht zu einer psychopolitischen Grö-
die einzige erlaubte Sicht, ja nicht einmal die maßgebliche auf ße ersten Ranges ausgebaut - der Hof von Versailles war nur
geistige Rangverhältnisse bleiben. die Spitze eines Archipels nobler Unbrauchbarkeit, der Eu-
rapa überzog -, und erst die von Bürgern und Virtuosen ge-
tragene neo-meritokratische Renaissance zwischen dem 15.
Aristokratie oder M eritokratie und dem 19. Jahrhundert hat dem Erbadelsspuk in Europa
allmählich ein Ende bereitet, sofern man von den immer noch
Ein Sklavenaufstand der Moral fand im alten Europa, ich virulenten Phantomen der Yellow Press absieht.
wiederhole es, aus meiner Sicht zu keiner Zeit statt. In Wahr- Erst seither läßt sich wieder sagen: Politik als europäische
heit vollzog sich eine Umwertung der Werte bei der Tren- Lebensform bedeutet den Kampf und die Sorge um das Rah-
nung von Macht und Tugend (arete, virtit), wie sie bei den menwerk der Institutionen, in denen sich die wichtigste aller
Griechen noch undenkbar gewesen wäre, eine Trennung, die Emanzipationen vollziehen kann - die Emanzipation der
bis in die verblasenen Endspiele der europäischen Aristokra- Differenzen, die durch Leistungen entstehen und kontrolliert
tie im 19. Jahrhundert weiterwirkte. Die wirkliche Sünde werden, von den Differenzen, die durch Unterwerfung,
wider den Geist der positiven Asketik beging die alteuro- Herrschaft und Privileg geschaffen und weitergegeben wur-
päische Gesellschaftsordnung nicht durch ihre Christianisie- den. Unnötig zu betonen, daß die erwähnte Gruppe der
rung, sondern durch den Teufelspakt mit einem Stände- Übermörder keine Politiker waren, sondern Exponenten ei-
system, in dem vielerorts ein Adel ohne virtit obenauf kam. nes orientalischen Machtkonzepts, das neben der Unterwer-
Dabei setzte sich eine nicht-meritokratische Ausbeutungs- fungskunst keine zweite Disziplin anerkennt. Sie wollten von
der europäischen Definition des Politischen nichts wisssen,
26 Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte da sie vom Wesen der Differenzen nur so viel zu sehen be-
Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
kamen, wie Klassen- und Rassentheorien erklären. Solche
Hans Burkhard Schlichting, Frankfurt am Main 1984, S. 301.
27 Nach der Übersetzung von Vinzenz Hamp, Meinrad Stenzei, Josef Theorien sind seit jeher mit Blindheit geschlagen, sobald es
Kürzinger, Wien/St. Pälten 1966. um die Genese der Differenz aus Tüchtigkeitsstufen geht.
208 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 2°9
gruppen zu verstehen. Auch die Stufungsphänomene inner-
2 »KULTUR IST EINE ORDENSREGEL« halb der Welten von Wissenschaft, Verwaltung, Schule,
LEBENSFORMEN-DÄMMERUNG, DISZIPLINIK
Gesundheitswesen und politischen Parteien, um nur diese
Bereiche zu nennen, liegen weit außerhalb dessen, was man
mit den plumpen Greifarmen einer von Herrschaftsunterstel-
lungen gesteuerten Theorieanordnung zu fassen bekommt.
Nicht-herrschaftliche Stufungen Zur allgemeineren Bestimmung der stufenbildenden Kräfte
als Figuren im Feld einer politischen Psychologie des thym6s
Nach den ersten Exkursionen ins Vorfeld einer Analyse der (Stolz, Ambition, Geltungswille) habe ich vor kurzem in
Vertikalspannungen dürfte nachvollziehbar sein, warum jede meinem Buch Zorn und Zeit halbwegs ausführliche Unter-
Kulturtheorie für einäugig zu halten ist, die nicht auf die suchungen vorgelegt. 28 Die neo-thymotische Analyse, in die
Tendenzen des kulturellen Lebens zur Ausbildung interner platonische, hegelianische und individual psychologische
Mehrstöckigkeit achtet - und zwar nicht nur in Abhängigkeit Motive einfließen, beschreibt das soziale Feld als ein ebenso
von politischen Hierarchien. Ich will mit dieser These nicht sehr stolzbewegtes wie gierbewegtes System. Zwar können
die leidige Debatte um die sogenannten »Hochkulturen« Stolz (thym6s) und Gier (eros) ihrer antithetischen Natur
wieder anfachen, um die es in den letzten Jahrzehnten aus zum Trotz erfolgreiche Bündnisse miteinander schließen,
verschiedenen Gründen auffällig ruhig geworden ist. Viel- die Stolzprämien jedoch, Prestige und Selbstachtung, und
mehr ist mir daran gelegen, eine ethisch kompetentere und die Gierprämien, Aneignung und Genießen, fallen in deutlich
empirisch adäquatere Alternative zu der grobschlächtigen getrennte Bereiche.
Herleitung aller Hierarchie-Effekte oder Stufenphänomene
aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung zu entwik- Ich zeige im folgenden umrißhaft, wie die Umstellung von
keln. einer Theorie der Klassengesellschaft (mit Vertikaldifferen-
Ein solches Unternehmen drängt sich auf, seit die moderne zierung durch Herrschaft, Repression und Privileg) zu einer
»Gesellschaft« nach zweihundert jährigem Experimentieren Theorie der Disziplinengesellschaft (mit Vertikaldifferenzie-
mit egalitären wie neo-elitären Motiven in ein Stadium ein- rung durch Askesis, Virtuosität und Leistung) vollzogen wer-
getreten ist, in dem es möglich wird, aus der Versuchsreihe im den kann. Als philosophische und ideenhistorische Mentoren
ganzen Konsequenzen zu ziehen und ihre Resultate zu be- dieser Operation ziehe ich im ersten Durchgang Ludwig
werten. Paradigmatisch für die neue Lage ist das Auftauchen Wittgenstein und Michel Foucault hinzu - den einen, weil
des Sportsystems im 20. Jahrhundert - die oben so genannte er mit seiner Aufmerksamkeit auf die Einbindung der Spra-
»athletische Renaissance« -, das eine Fülle von Schlüssen che in Verhaltensfiguren (»Sprachspiele«) der modernen So-
auf eine nicht-herrschaftliche Stufungsdynamik ermöglicht. ziologie ein wirksames Instrument zur Offenlegung manife-
Ebenso stimulierend wirkt die Ausbildung einer nicht-aristo- ster und latenter Ritualstrukturen an die Hand gegeben hat,
kratischen Prominenzökonomie, ohne deren Untersuchung den anderen, weil ihm bei seinen Untersuchungen über die
man keine Chance hat, die im öffentlichen Raum wirksamen
Antriebskräfte zur Vertikaldifferenzierung moderner Groß- 28 Frankfurt am Main 2006.
210 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 211

Verschränkung von Diskursen und Disziplinen der Durch- sche Arbeiten gezeigt haben, in welchem Maß Wittgensteins
bruch zu einem Verständnis von Macht jenseits der simplen Leben von religiösen Motiven durchdrungen war und wie tief
Denunziation gelungen ist - und damit der Ausstieg aus einer seine Bestrebungen nach ethischer Vollkommenheit reichten.
langen Geschichte ideologischer Mißverständnisse, die letzt- »Natürlich will ich vollkommen sein!« soll er in jungen Jah-
lich auf pathogene Hinterlassenschaften der Französischen ren auf eine kritische Frage einer Freundin geantwortet ha-
Revolution zurückweisen. Unter dieser doppelten Anregung ben. 30 An Paul Engelmann, den Freund der Wiener Jahre,
klärt sich zugleich die Richtung, in welche die nächsten schrieb er in einem Brief zu Neujahr 192 I: »Ich hätte mein
Schritte zu tun sind: über Wittgenstein hinaus, indem man Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden. Ich
von der Sprachspieltheorie zu einer universellen Übungs- bin aber auf der Erde sitzen geblieben und nun gehe ich nach
und Askesetheorie weitergeht, über Foucault hinaus, indem und nach ein. «31 Nach dem Zeugnis von Bertrand Russell hat
man seine Analyse der diskursiven Formen zu einer ent- Wittgenstein um 1919 mit dem Gedanken gespielt, in ein
grenzten Disziplinik fortbildet. Kloster einzutreten - er hatte den Tractatus ein Jahr zuvor
beendet und begriffen, daß er kaum Resonanz erwarten durf-
te. 1926 arbeitete er - nach seinem demütigenden Scheitern
Wittgensteins Ordensregel als Volkschullehrer in der österreichischen Provinz - für eine
Weile tatsächlich als Gärtner im Kloster der »Barmherzigen
Brüder« in Hütteldorf bei Wien. Die bezeichnendste Aussage
Den Ausgangspunkt finde ich in einer kurzen, für den ersten Wittgensteins zu religiösen Dingen findet sich in einer Notiz
Blick etwas mysteriösen Notiz, die Wittgenstein im Januar aus dem Jahr 1948:
1949, zwei Jahre vor seinem Tod, einem seiner Hefte anver- »Der ehrliche religiöse Denker ist wie ein Seiltänzer. Er
traute: »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine geht, dem Anscheine nach, beinahe nur auf der Luft.
Ordensregel voraus. «29 Das Auftauchen eines Worts wie Sein Boden ist der schmalste, der sich denken läßt.
»Ordensregel« im Vokubular des Philosophen könnte fürs Und doch läßt sich auf ihm wirklich gehen. «32
erste befremdlich wirken. Es gibt in seiner Lebensweise in Ich füge diese zerstreuten Beobachtungen zu der These zu-
Cambridge wenig Anhaltspunkte für monastische Analo- sammen, es handle sich bei Wittgenstein um den seltenen Fall
gien, es sei denn, man wollte die unverweslichen akademi- eines inversen Akrobaten, dem das Leichte schwieriger er-
schen Rituale als solche gelten lassen. Der aparte Ausdruck schien als das Unmögliche. Naturgemäß bewegte sich auch
erscheint etwas weniger erstaunlich, seit jüngere biographi- seine Kunst auf einer Vertikalachse, jedoch gehört der Den-
ker, falls man ihn auf der Jakobsleiter plazieren dürfte, ganz
29 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl
aus dem Nachlaß, herausgegeben von Georg Henrik von Wright, eindeutig zur Gruppe der abwärtssteigenden Engel- die ge-
neu bearbeitet durch Alois Pichler, Frankfurt am Main 1994, S. 149·
Vgl. Thomas Macho, »Kultur ist eine Ordensregel.« Zur Frage 30 Eckhard Nordhofen, Der Engel der Bestreitung. Über das Ver-
nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texten, in: Gerhard Neu- hältnis von Kunst und negativer Theologie, Würzburg 1993, S. 144.
mann, Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissen- 3 I Paul Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen,
schaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, Wien/München 1970, S. 32.
S.223- 244· 3 2 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 141.
2I2 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel « 2I3

fallenen bleiben hier außer Betracht. Wenn der J2jährige Wie sehr sich Wittgenstein zu einer bodenturnerischen
Autor im Brief an Engelmann schrieb, er hätte ein Stern wer- Auslegung ?es Daseins überreden wollte, zeigt ein Eintrag
den sollen, darf man statt »werden « vielleicht »bleiben« lesen. von I937: »Ubcr sich schreibt man, so hoch man ist. Da steht
Wer würde ein Stern werden wollen, wenn er nicht von ir- man nicht auf Stelzen oder auf einer Leiter sondern auf den
gendwoher die Überzeugung mitbrächte, ein solcher einmal bloßen Füßen.« 35 Andererseits kann sich der Autor vorstel-
gewesen zu sein? Dieser starke Beobachter kommt von sehr len, wie es wäre (von der Sünde, der Realität, der Schwer-
weit oben - er begreift mit der Zeit, daß es ein Fehler ist, sich kraft) erlöst zu sein: Dann würdest du nicht mehr auf der
an eine zu hohe Herkunft zu erinnern, wenn man nun einmal Erde stehen, sondern am Himmel hängen - was freilich ein
in der Ebene existieren soll. externer Beobachter nicht ohne weiteres unterscheiden
Was Existenz in der Ebene bedeuten kann, verrät ein Satz könnte, da das Hängen am Himmel und das Stehen auf der
aus einem Brief an Engelmann aus dem Jahr I925: »Wohl Erde von außen praktisch dasselbe Bild ergeben. 36 Daß es
fühle ich mich nicht, aber nicht, weil mir meine Schweinerei darauf ankomme, nach dem Abstieg in die Existenz so glück-
zu schaffen machte, sondern innerhalb der Schweinerei.«33 lich zu werden, wie es einem zur Verzweifung Berufenen
Die vielzitierte Wittgensteinsche »Mystik« ist die Spur eines möglich ist, bleibt Wittgensteins Überzeugung bis zuletzt:
Ankunftsbefremdens, das nie ganz aufhört - in der unelegan- »Steige nur immer von den kahlen Höhen der Gescheitheit
ten Terminologie der Psychiatrie wäre vermutlich von einer in die grünenden Taler der Dummheit.«37 Solche Prämissen
schizoiden Struktur zu sprechen. Einem solchen Zugewan- erlauben kein philosophisches Projekt im üblichen Sinn des
derten erscheint an dem, was hier der Fall ist, nicht dieses und Worts mehr, sofern die Philosophen bis dahin immer den
jenes erstaunlich, sondern die Gesamtheit dessen, was vor- aufsteigenden Engeln auf der Leiter Gesellschaft leisten woll-
liegt. Seine Daseinskurve beschreibt den langen Kampf um ten. Für Wittgenstein war das evident - es wäre zu wünschen
eine erträgliche Ankunft auf dem Boden der Tatsächlichkeit- gewesen, seine Plünderer in den Hochburgen der Analyti-
ohne allzu großen Verlust an mitgebrachter Luzidität. Die schen Philosophie hätten das ebenso klar gesehen.
Dinge, wie sie sind, zu erfassen, und die unvermeidlichen Fragt man unter diesen Voraussetzungen, was der Satz
Lebensvollzüge auszuführen, wie sie nach der lokalen Gram- »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordens-
matik eben auszuführen sind, ohne noch tiefer in »Schweine- regel voraus« - geschrieben von der Feder eines 60jährigen -
rei« zu geraten - darin mag Wittgensteins Übungs ziel bestan- bedeutet, so fällt zunächst auf, wie sorglos, um nicht nach-
den haben. Daher die trotzig resignierte Notiz aus dem Jahr lässig zu sagen, der Au tor hier das Wort » Kultur« verwendet
I930: »Wenn der Ort zu dem ich gelangen will nur auf einer ausgerechnet er, der überall sonst einen siebenten Sinn zu;
Leiter zu ersteigen wäre, ich gäbe es auf dahin zu gelangen. Aufspürung von verborgenen Mehrdeutigkeiten unter
Denn dort wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich gleichlautenden Oberflächenformulierungen an den Tag leg-
schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist interessiert te. Alles spricht dafür, daß es ihm im Augenblick nicht so sehr
mich nicht.«34 auf das Wort »Kultur« ankam, unter dem er die Hohlräume

33 AllanJanikiStephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München 1984, 35 Ibid ., S. n


S·3 16 . 36 Ibid., S. 74f.
34 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 31. 37 Ibid., S. 145·
21 4 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel « 21 5

sofort gespürt hätte, wenn er hätte nachfragen wollen, son- gen, die Versammlungen zum Gebet, die Arbeit in den
dern um den Ausdruck »Ordensregek Auf diesen fällt trotz Schreibstuben, die Anlage der Vorratsräume und der Speise-
seines aparten Klangs unmißverständlich der stärkere analy- säle und so weiter - die konkreten Regeln sind eingebettet in
tische Akzent. Sein Sinn stand Wittgenstein klarer vor Augen: die Regel aller Regeln, wonach der Mönch nicht den kleinsten
Eine solche Regel drückt eine der suggestivsten Annäherung Handgriff bloß aus dumpfer Gewohnheit ausführen dürfe,
an das aus, was er unter einer Grammatik versteht - sie bildet sondern in jedem Moment auf die Unterbrechung der Ab-
einen Set von nicht weiter begründungsfähigen Vorschriften, läufe durch einen aktuellen Befehl des Oberen gefaßt sein
deren Summe eine Lebensform, den monastischen way oifife, müsse - als ob er jederzeit damit rechnete, daß der Erlöser
ergibt, sei es im pachomischen, augustinischen, cassianischen, das Gelände betritt. Johannes Cassian insistierte darauf, ein
benediktinischen, franziskanischen Stil usw. Will man begrei- Schreibermönch, den sein Oberer zur Tür ruft, schreibe den
fen, was es heißt, eine Regel zu befolgen - und das ist für den begonnenen Buchstaben nicht zu Ende: vielmehr springe er
späteren Wittgenstein die chronisch wiederkehrende Frage-, auf, um ganz für den neuen Auftrag bereit zu sein. 38
genügt es, sich vorzustellen, wie man leben würde, träte man Das Ordensleben unterscheidet sich vom gewöhnlichen
in einen religiösen Orden ein. Was dessen Spezifik prägt und Leben also in dreifacher Hinsicht: Zum einen impliziert der
wie die Regel auf die Praktiziernden wirkt, erschließt sich nur Eintritt in einen Orden die Zustimmung zu dem Kunstsy-
dem, der sie sich zu eigen macht, indem er selber die mön- stem aus sorgfältig hingeschriebenen Regeln, die das mo na-
chische Lebensweise wählt. Der Wittgensteinsche Mönch stische Leben dieser oder jener Observanz animieren. Hin-
bliebe allerdings dazu verurteilt, die Rolle des Ethnologen gegen wächst man in die gewöhnliche Kultur hinein, ohne je
seines Ordens zu übernehmen, weil er aus psychischen Grün- gefragt zu werden, ob man sich ihren Regeln unterziehen
den unfähig bliebe, in der kollektiven Lebensform aufzuge- möchte - ja, meistens ohne jemals darüber nachzudenken,
hen. Er wäre zudem ein Ethnologe, dem von den Eingebo- ob es überhaupt eine regula für die lokalen Lebensformen
renen ein Streich gespielt wird - er schlösse sich ja einem gebe. Zum anderen erzeugt das Leben hinter Klostermauern
Stamm an, in dem es keine Eingeborenen gibt, sondern nur ein aus Wachsamkeit und Bereitschaft zu beliebigen Aufga-
beigetretene Mitglieder wie ihn selbst. ben gebildetes Sonderklirna, das so in keiner Lebensform der
Die Besonderheit einer Ordensregel - und damit fängt nicht-monastischen Sphäre anzutreffen ist - »Gehorsam«
Wittgensteins Satz an, problematisch zu werden -liegt darin, und »Frömmigkeit« sind Metaphern für totale Verfügbarkeit.
daß sie den Mönchen (an Nonnen wird der Autor kaum ge- Der Grundrhythmus der klösterlichen Existenz wird aus ei-
dacht haben), egal um welche Vorschrift es sich im einzelnen nem kalkulierten Wechselspiel von praktischen Aufgaben
handelt, auferlegt, jeden Schritt, jeden Handgriff mit medita- und kultischen Unterbrechungen erzeugt - auf diese Weise
tiver Bedachtsamkeit zu tun und jedes Wort mit Besonnen- bezeugen die Hände die kloster kommunistische Maxime: Ar-
heit zu sprechen. Ob es um die Form der Tonsuren geht, die beiten ist gut, beten ist besser. Schließlich fällt in der Kloster-
Kleiderordnung, die Küchendienste, die Tätigkeiten in den kultur das stärkste Merkmal der profanen Kultur beseite, die
Klostergärten, die Anordnungen über die Einrichtung der Arbeitsteilung der Geschlechter und die Sorge um die Über-
Schlafsäle und das Verhalten der älteren und jüngeren Mön-
che darin, die Einteilung der Schlafzeiten, die heiligen Lesun- 3 8 VgJ. Thomas Macho, »Kultur ist eine Ordensregel «, a. a. 0., S. 229.
2I6 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 21 7

tragung der bestehenden Lebensformen auf die kleinen Bar- der Exerzitium wird. Den Grund für diesen Wandel findet
baren, die aus dem Verkehr der Geschlechter hervorgehen. man in seinem sezessionistischen Kulturbegriff. Ohne Mühe
ist aufzuzeigen, daß er zu Wittgensteins nie aufgegebenem
österreichischem Erbe zählte.
Kultur entspringt aus Sezession Was eine Sezession ist, wußte Wittgenstein von Kinder-
tagen an, da die Abspaltung der Künstlergruppe um Gustav
Wittgenstein wollte offensichtlich auf etwas anderes hinaus. Klimt, Koloman Moser und J osef Hoffmann von dem histo-
Wenn er notiert: »Kultur ist eine Ordensregel«, ist die Bedeu- ristisch geprägten konservativen Wiener Künstlerverein im
tung von »Kultur« auf einen fein gesiebten Rest zusammen- Jahr 1897 eines der Hauptereignisse des Wiener Fin-de-siecle
geschrumpft. Auf keinen Fall darf alles, was überhaupt an gebildet hatte. Karl Wittgenstein, 1847- 19 I 3, der Vater des
Lebensformen in »Gesellschaften« vorkommt, Kultur hei- Philosophen, ein Stahlindustrieller und Musikmäzen, rech-
ßen, sondern nur das, was in puncto Explizitheit, Strenge, nete zu den wichtigsten Sponsoren der Sezession, nicht nur
Wachsamkeit und Reduktion aufs Wesentliche mit dem Da- bei der Errichtung des Gebäudes am Karlsplatz, sondern
sein unter einer Ordensregel verglichen werden kann - und auch durch die persönliche Förderung einzelner Künstler.
was einen modus vivendi erlaubt, für den die Entlastung von Als Klimt 1905 mit seiner Trennung von der Sezession eine
den Folgen der Sexualität das erste und letzte Kriterium aus- zweite Absetzbewegung inszenierte, war der junge Wittgen-
macht. Es spielt hier keine Rolle, daß die sakral klaren und stein sechzehn Jahre alt, zum Zeitpunkt des Erscheinens von
elitär deutlichen klösterlichen Regeln letztlich ebenso in Adolf Loos' epochemachender Schrift Ornament und Ver-
Willkür gründen wie die Festsetzungen einer beliebigen brechen neunzehn. Man darf annehmen, spätestens von die-
Grammatik natürlicher Sprachen. Entscheidend ist allein sem Moment an sei der Begriff Kultur unwiderruflich mit
die separatistische Dynamik des Lebens unter der Regel. dem Phänomen Sezession verschmolzen, bei dem jungen
Wittgensteins Verwendung des Begriffs »Kultur« läßt keinen Mann nicht anders als in der jungen Wiener Kulturszene.
Zweifel aufkommen: Kultur im anspruchsvollen Sinn des Dazu gehärt die Erfahrung, daß eine Sezession nicht genügt,
Wortes entsteht in seinen Augen erst durch die Absonderung um dem Impuls zur Absetzung vom Gewohnten treu zu blei-
der wirklich Kultivierten von der sonstigen sogenannten ben. Nur das ständige Weitergehen in der Distanzierung vom
»Kultur«, diesem konfusen Aggregat aus besseren und Elend der Konventionen kann die Reinheit des modernisie-
schlechteren Gewohnheiten, die in ihrer Summe kaum mehr renden Projekts bewahren - daraus geht die Dauersezessions-
als die übliche »Schweinerei« ergeben. rhythmik der Kunst des 20. Jahrhunderts hervor, die solange
Von hier aus ist leichter zu erklären, wieso Wittgenstein zu in Gang bleibt, bis nichts mehr übrig ist, wovon man seze-
einem der wenigen Autoren der Moderne zählt - vielleicht dieren könnte. Tatsächlich war Loos schon früh einer der
dem einzigen von Rang in der Zeitspanne zwischen Nietz- schärfsten Kritiker der ersten Sezessionsästhetik. Er sah in
sehe und Foucault, Heidegger ausgenommen -, bei dem die ihr nicht mehr als die Ersetzung eines Kitschs durch einen
Rückverwandlung der Philosophie von einem Schulfach in anderen - des vulgären Ornaments durch ein gesuchtes.
eine engagierende Disziplin zu beobachten war. An seinem Wie Allan Janik und Stephen Toulmin gezeigt haben, wa-
Beispiel ist abzulesen, was geschieht, wenn aus Studium wie- ren der Wiener Moderne insgesamt sezessionistische Motive
218 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 21 9

im weitesten Sinn des Worts eigen. Für ihre Protagonisten diesem Unterschied erst die Kultur Spielraum hat. Die
bestand die kulturstiftende Geste im Austritt aus dem System andern aber, die Positiven, teilen sich in solche, die die
der Konventionen, in denen das aristokratisch-bürgerliche Urne als Nachttopf, und die den Nachttopf als Urne
Publikum der Reichshauptstadt schwelgte. Gleich, ob es gebrauchen.« 41
um Architektur, Malerei, Musik oder Sprache ging, auf jedem Die späte Notiz »Kultur ist eine Ordensregel« setzt immer
Feld konstituierte sich die Gruppe der Modernen durch eine noch die angreiferische Reduktionsethik und die zukunftpo-
sezessionistische Operation - durch die Absetzung der Puri- stulierende Stimmung des formalen Purismus der frühen Wie-
sten von den Ornamentierern, der Konstruktivisten von den ner Moderne voraus. Die bizarren Nebentöne der Wittgen-
SchweIgern, der Logiker von den Journalisten und der Gram- steinschen Bemerkung klären sich auf, wenn man das Paradox
matiker von den Schwätzern. Was die neuen Künstler verbin- edaßt, auf dem die sezessionistische Grundhaltung beruht:
det, ist die Aversion gegen jede Art von Zuviel. In ihren Au- Demnach ist ein glaubhafter Aufstieg in der Kultur allein
gen können Kultur und Kunst nur vorankommen dank einer durch den Abstieg zu den elementaren Formen zu erreichen.
radikalen Opposition gegen die von Kar! Kraus so bezeich- Für diese Form-Eiferer steht das Einfache über dem Kompli-
nete »Verschweinung des praktischen Lebens durch das Or- zierten. Das Weglassen des Überflüssigen ist die ethische Tat.
nament, wie Adolf Loos sie nachgewiesen hat«.39 Die Gleich- Die Rufe: »zu den Sachen«, »zu den elementaren Lebensfor-
setzung von Ornament und Verbrechen, die Loos in seiner men«, »zum realen Gebrauch« sind für die Teilnehmer am
Schrift vollzieht, bringt das neue Ethos der vom wirklichen großen Exodus aus der »verschweinten« Sphäre gleichbedeu-
Gebrauch der Dinge bestimmten formalen Klarheit vollendet tend. Durch diese Kampagnen, die phänomenologische wie die
zum Ausdruck - sie erinnert im übrigen daran, daß der Funk- funktionalistische, die reduktionistische wie die positivi-
tionalismus anfangs ein Moralismus war, genauer eine aske- stische, fallen ganze Welten aus »Ornamenten« - oder wie
tische Praxis, die dem Guten durch das Weglassen des nicht man die Überflüssigkeiten nennen möchte - beiseite. Was
Verantwortbaren näherzukommen suchte. Es würde nicht künftig zählt, ist das Studium der primären Formen, der Gram-
schwer fallen, den Loos-Faktor im logischen Habitus Witt- matiken und ihrer konstruktiven Prinzipien. Die Teilnehmer
gensteins en detail nachzuweisen, etwa wenn der Philosoph an dem Studium, das »Kultur« im neuen Sinn ermöglicht und
notiert: »Ich behaupte, daß der Gebrauch die Form der Kul- rechtfertigt, bilden eine Gruppe von Künstler-Asketen, die
tur ist, die Form, weIche die Gegenstände macht ... «40 Die unter einer expliziten RegeIleben. Für sie deuten Ethik, Ästhe-
polemische Atmosphäre, in der sich die Suche nach der tik und Logik in dieselbe Richtung. Die Wiener Ordensregel ist
»Form der Kultur« vollzog, bezeugt ein Aphorismus von für die Entstehung einer neuen »Kultur« nur darum maßgeb-
Kar! Kraus: lich, weil sie in jeder einzelnen Bestimmung gegen die Vor-
»Adolf Loos und ich, er wörtlich, ich sprachlich, haben macht der verschweinten Verhältnisse Stellung bezieht. Der
nichts weiter getan als gezeigt, daß zwischen einer Urne Stil ist quasi neo-zisterziensisch, depourvu, begründet durch
und einem Nachttopf ein Unterschied ist und daß in die Trinität von Klarheit, Einfachheit und Funktionalität.
41 Kar! Kraus, Nachts (zuerst 1919), in: Ich bin der Vogel, der sein
39 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, a. a. 0., S. 129. Nest beschmutzt. Aphorismen, Sprüche und Widersprüche, Wies-
40 Ibid. baden 2007, S. 363.
220 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 221

ist, da sind die Reformer am Ende ihrer Geduld mit den vor-
Form und Leben gefundenen Tatsachen. Sie wollen weder die gewohnten Ver-
hältnisse mehr sehen noch ihre Abbilder. Die Stunde der
Ich bräuchte an diese Zusammenhänge nicht zu erinnern, Zuwendung zu den Vorbildern hat geschlagen. Das Vorbild
wenn nicht die Figur der Sezession, unabhängig von ihrer bildet das Leben nicht ab, es geht ihm voraus. Man kann
Wiener Geschichte, für alles bedeutsam würde, was im fol- geradezu von der Geburt der Philosophie aus dem Geist
genden über die Organisationsformen des übenden Lebens der Sezession zu den Vorbildern sprechen - nicht ganz zufäl-
auch in seinen älteren und ältesten Manifestationen gesagt lig lag Platons im Jahr 387 gegründetes athenisches Lehrhaus
wird. In der Sezessionsgeste als solcher drückt sich bereits - dessen Betrieb bis zur Zerstörung durch Sulla im Jahr 86. v.
der Imperativ aus, ohne den es keinen »Orden«, keine Re- ehr. stetig fortgeführt wurde - dezentral, eine knappe Meile
form, keine "Revolution« je hätte geben können: Du mußt nordwestlich von der Innenstadt entfernt, sehr passend frei-
dein Leben ändern! Hierbei wird die Voraussetzung gemacht, lich neben einer größeren Sportstätte, dem Gymnasion, das
das Leben habe etwas an sich, zu dessen Veränderung der offenkundig bald in den Lehrbetrieb einbezogen wurde.
Einzelne eine Kompetenz besitzt - oder erwerben kann. Eine Schulgründung impliziert die Absage an den Schick-
1937 notierte Wittgenstein: »Daß das Leben problematisch salskitsch - sei er spätathenisch oder späthabsburgisch. Sie er-
ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. fordert die Umwandlung von Schicksalsfragen in Aufgaben der
Du mußt dann dein Leben verändern, & paßt es in die Form, Disziplin. Schon Platon hatte die Tragödie abgelehnt, weil er in
dann verschwindet das Problematische.«42 ihr die moralische ,Nerschweinung« witterte: Statt anderen
Dem Glauben an die Möglichkeit einer besseren "Pas- Leuten bequem und sentimental beim Untergang in ihren Ver-
sung« zwischen Form und Leben liegt ein Form-Begriff zu- strickungen zuzusehen, wäre es verdienstvoller, sich um die
grunde, der sich bis in die Gründungsphase der Philosophie eigenen Fehler zu kümmern und diese, einmal bewußt ge-
bei Sokrates und Platon und in die Frühzeit brahmanischer macht, nach bestem Wissen zu korrigieren. Man darf geradezu
Askesen zurückverfolgen läßt. Er drückt die Überzeugung sagen, die Schule beruhe auf der Erfindung des »Fehler~ « - der
aus, es gebe eine »gute Form« des Lebens, gleich ob sie aus Fehler ist ein säkularisiertes, revidierbares Verhängms, und
den Wiener Werkstätten, aus der Athener Schule oder den Schüler ist, wer durch Fehler lernt und sich an ihrer Eliminie-
Klöstern von Benares stammt, eine Form, deren Übernahme rung versucht. In diesem Punkt springt die Konvergenz zwi-
zur Entstörung der Existenz führen müsse. Die gute Form zu schen der sokratischen Grundhaltung, wie sie Nietzsche in
finden ist eine Design-Aufgabe, zu der ein moralisch-logi- seinen frühen Schriften herausgearbeitet hat, und Wittgensteins
sches Exerzitium gehört. Nur weil die Philosophie selbst Ansatz bei der fortgehenden Selbstklärung ins Auge. Auch für
von Anfang an eine solche Aufgabe impliziert, kann sie den Sprachanalytiker gibt es keine Tragik, »und der Konflikt
»Schule machen « - die Schule als solche ist bereits ein Sezes- wird nicht zu etwas Herrlichem, sondern zu einem Fehler«.43
sionsphänomen, bei Platon, dem Gründer der Akademie,
kaum anders als bei den Wiener Modernen. Wo Sezession 43 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 35. Zum Ver-
hältnis zwischen Wittgenstein und der sokratischen Lehre vgl.
Agnese Grieco, Die ethische Ü?ung. Ethik und Sprachkritik bei
42 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 62. Wittgenstein und Sokrates, Berhn I996.
222 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 "Kultur ist eine Ordensregel« 223

Sprechen wir offen aus, worauf diese Überlegungen zielen: in diesem Punkt ausweichend antwortet, ist weniger akzepta-
Mit dem Nachweis, daß sich in Wittgensteins Kulturbegriff bel. Dadurch verschweigt sie, wie in den meisten Sprachspie-
ein scharf sezessionistisches Verständnis der »Arbeit« an den len die Nachahmung der »schweinischen« Üblichkeiten an-
persönlichen Fehlern und an den Fehlern der kollektiven Be- gelegt ist, indessen das Wesentliche, die Teilnahme an der
findlichkeit geltend macht, entfallen alle Möglichkeiten, ihn Sezession, zumeist unausgesprochen und unverstanden
für die egalitaristische und relativistische Ideologie zu verein- bleibt. Mit dem gewöhnlichen Sprachspiel übt man das ei-
nahmen, die mit den diversen Varianten der anglo-amerika- gentlich nicht Übenswerte ein. Man übt es nolens volens, in-
nischen Analytischen Philosophie einhergeht. In Wirklich- dem man tut, was alle tun, ohne nachzudenken, ob es wert ist,
keit dürfte Wittgensteins »Werk« die härteste Ausprägung getan zu werden. Ein gewöhnliches Sprachspiel ist das alltäg-
des ethischen Elitismus verkörpern, die das 20. Jahrhundert liche, als solches nicht deklarierte Training der »Schweine«
kannte - Simone Weil vielleicht als einzige Reform-Elitistin und somit derer, denen es gleichgültig bleibt, ob ihre Lebens-
von ebenbürtiger Statur ausgenommen. Sein sezessionistisch- form einer Prüfung standhält.
elitärer Ansatz reicht in solche Tiefen, daß der Autor sich am Nur in den seltensten Fällen wird die Fähigkeit, an Sprach-
liebsten sogar von sich selbst und seinen vermischten spielen teilzunehmen, durch den freiwilligen Anschluß an
»Schweinereien« zurückgezogen hätte, wäre dies möglich ge- eine geklärte sezessionäre Lebensform erworben. Eine solche
wesen. Ist Wittgensteins unerbittlicher Elitismus offengelegt würde, wie Wittgenstein in der zweiten Satzhälfte betont,
- der im übrigen so radikal ist, wie er unpolitisch und ahisto- eine explizite »Ordenregel« voraussetzen - wobei das Wort
risch ist -, so affiziert dies nicht nur das Verständnis seines »explizit« auf ein Form-Wissen oder Askese-Wissen Bezug
erfolgreichsten Theorems, der Lehre von den »Sprachspie- nimmt, das entweder im Lauf von langen Experimenten mit
len«, auch auf Wittgensteins Rolle als Lehrer fällt ein stark dem übenden Leben destilliert wurde (wie in der Ära der
verändertes Licht. Regula-Verfasser von Pachomius bis Isidor von Sevilla oder
in den brahmanischen und yogisehen Traditionen) oder das
inmitten einer Kulturkrise (wie im Wiener Fin-de-siecle)
Sprach spiele sind Exerzitien: durch radikalisiertes Design neu entwickelt werden mußte.
Die Ordinary-Language- Täuschung Dann allerdings und nur dann heißt üben: sich mittels dekla-
rierter Askesen das Übenswerte einverleiben. Übungen die-
Nun wird unmittelbar einsichtig, daß die bis zum Überdruß ses Niveaus führen zu Sprachspielen und Lebensformen für
zitierten »Sprachspiele« in Wahrheit Askesen oder besser: Nicht-Schweine. Sie sind, so elementar sie scheinen mögen,
mikro-asketische Module darstellen, das heißt sprachlich ar- die vollkommene Imprägnierung des Alltags durch die Arti-
tikulierte praktische Übungen, deren Ausführung üblicher- stik. Die perfekte Darstellung der Normalität wird hierdurch
weise durch Nachahmung erworben wird - ohne daß uns zur akrobatischen Übung. Für Wittgenstein vollzieht sich auf
gesagt würde, ob es sich lohnt oder ob es wünschenswert dem Gipfel des Mount Improbable das ethische Wunder: daß
sei, diese Spiele auszuführen. Evidenterweise klären die Kul- Lebensformen durch logische Analyse und technische Re-
turen selbst uns darüber nicht auf - sie sind in diesen Fragen konstruktion geklärt werden können.
zur Affirmation verurteilt. Daß auch die Sprachspiel-Theorie Man muß dem späteren Wittgenstein all seinen Bemühun-
224 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 "Kultur ist eine Ordensregel« 225

gen um Demut zum Trotz ein gewisses Maß an Heuchelei von dem, was er eigentlich vormachen wollte - die Lebens-
attestieren, weil er meistens so tat, als wüßte er nicht, daß form des Heiligen. Was an Wittgensteins Lehre »sich zeigt«,
seine Sprachspiel-Theorie eine trübe Konzession an die Exi- ist, daß er nicht zeigt, worum es ihm geht - im übrigen auch,
stenz in der trivialen und »schweinischen« Dimension ent- daß er nicht kann, wie er möchte, und nicht aufhört, zu wol-
hielt, von der sich fern zuhalten er gleichwohl nie aufgehört len, was er nicht kann. Die gängige Wittgenstein-Hagiogra-
hatte. In eigener Sache schielte er nach den geklärten Ordens- phie räumt seit langem ein, ihr Held sei in seiner Rolle als
regeln, unter denen Ausnahmemenschen seines Schlags und Volksschullehrer in Österreich 1920-1926 mehr oder weniger
Sezessionisten gleichen Ranges würden leben wollen - und kläglich gescheitert. Aber daß Wittgenstein als Hochschul-
im Einklang mit ihren Ansprüchen vielleicht auch würden lehrer ebenso und noch schlimmer, nämlich folgenreich, ge-
leben können. Diese Formen nennen sich zwar ebenfalls scheitert ist, wagt niemand auszusprechen - vermutlich des-
»Sprachspiele«, aber man spürt, die Kutten sind aus dem wegen, weil man den Autor insgeheim psychologisch exkul-
feinsten Stoff. Wenn sich die vor Jahren modische Ordinary piert und im übrigen der Meinung ist, er habe, indem er global
Language Philosoph)' auf Wittgenstein berief, erlag sie einer prominent wurde, ohnehin mehr erreicht, als ein homo aca-
Täuschung, an der der Meister selbst alles andere als unschul- demicus zu träumen wagen durfte. Wenn Wittgenstein kurz
dig war. An der »gewöhnlichen Sprache« interessierte ihn nie vor seinem Austritt aus dem Lehrbetrieb 1946 schrieb: »Ich
ihre Gewöhnlichkeit. Das Kunststück hätte darin bestanden, zeige meinen Schülern Ausschnitte aus einer ungeheuren
durch das Wort ordinar)' hindurch etwas vom Perfektionis- Landschaft, in der sie sich unmöglich auskennen können«,44
mus der Wiener Werkstätten zu spüren. Man hatte vergessen, gab er implicite zu, sein Publikum über seine wirklichen Prä-
die englischen Patienten darauf hinzuweisen, sie sollten sich ferenzen im unklaren zu lassen. Er hätte zur Erhellung der
über das Lob des Gewöhnlichen nicht zu früh freuen. Es war Landschaft, soweit es ihn betraf, mehr tun können, doch er
Geist vom Geiste der großen Reform, daß man »gewöhnlich« zog es vor, noble Desorientierung anzubieten - als ob in
sagte, wenn man »außergewöhnlich« meinte. Man hätte den Cambridge sein christlicher Perfektionismus eine ebenso un-
Interessierten erklären müssen, was die Suche nach der quint- gestehbare Privatsache gewesen wäre wie seine zu jener Zeit
essentiellen Gebrauchsform bedeutet, auf die Gefahr hin, den wenig geschätzte Homosexualität.
Ordinaristen die Party zu verderben. Wer je seinen Mantel an
einen Adolf-Loos-Garderoben-Haken gehängt hat, besitzt
einen Maßstab, der sich nicht vergißt. Sieht man dann, woran Was sich zeigt
die britischen und amerikanischen Kollegen ihre Sachen hän-
gen, kann man sie nie wieder ernst nehmen. Das Fehlen einer expliziten Kritik an Wittgensteins Rolle als
Ohne Zweifel ist die subtile Verlogenheit der Sprachspiel- Hochschullehrer stellt in meinen Augen ein Indiz dafür dar,
Theorie das Geheimnis ihres Erfolgs. An ihr wird überdies daß seine Schüler über die Zweideutigkeit des Lehrers hin-
etwas deutlich, was ansonsten nur an Wittgensteins Habitus wegsahen und sich mit der halben Lektion begnügten. Was
als »Lehrer« »sich zeigt«. Zwar weiß er, daß Lehren Vorma- man mit der halben Lektion erreichen konnte, zeigen die seit
chen heißt, aber was er als Virtuose vorzumachen imstande
ist, die sprachlogische Analyse, ist himmelweit verschieden 44 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. I Ir.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 227

mehr als fünfzig Jahren dominierenden Trends in der neueren chischen Welt verlor er jeden Zusammenhang mit den The-
Universitätsphilosophie diesseits und jenseits des Atlantiks. men der Gegenwart und navigierte in einem Raum aus un-
Überall hat das Paradigma des vor Scharfsinn strotzenden datierten und unadressierten Problemen - hierin vielleicht
Denksportlers und des präpotenten Epistemologen, das Witt- nur Emile Cioran vergleichbar, der nach seinem Bruch mit
genstein durch seine akademische Persona mitbegründet hat- den hysterischen Übertreibungen der frühen »engagierten«
te, die Oberhand gewonnen, während das, was dem Denker Phase ebenfalls zu einer Art von exiliertem und dekontex-
wirklich am Herzen lag, aus den Themenlisten der analyti- tuiertem Widerstand gegen die Üblichkeiten des Daseins
schen Seminare so gut wie völlig verschwunden ist. Wittgen- übergegangen war. Es würde sich lohnen, Wittgenstein und
stein muß selbst bemerkt haben, daß auf dem Weg des >,Es Cioran unter dem Blickwinkel ihrer anachronistischen Exer-
zeigt sich« etwas ganz anderes als das Gewünschte ans Licht zitien nebeneinanderzustellen - beide erfinden etwas, wofür
kam. Das Ideal der direkten Vorbildwirkung war längst kol- der Jüngere mit seinem ursprünglichen Buchtitel Exercises
labiert, als er 1947 notierte: »Am ehesten könnte ich noch negatifs den richtigen Begriff gefunden hatte. 46 Was Wittgen-
dadurch eine Wirkung erzielen, daß, vor allem, auf meine stein in seinen britischen Jahren 1929 bis 19P zustande
Anregung hin eine große Menge Dreck geschrieben wird, & brachte, bildet in der Summe ein tragisches Zeugnis für das
daß vielleicht dieser die Anregung zu etwas Gutem gibt.«45 kriegsbewirkte Stehenbleiben der kakanisehen reformatio
Man sucht in der Geschichte der Philosophie vergeblich mundi.
nach einem zweiten Beispiel dafür, daß ein Denker seine Wir- Seit der Amputation seiner Welt ist Österreich ein Land
kung so präzise vorhersah. Zugleich resümiert der Satz die ohne Wirklichkeit und Wittgensteins re-importierte Philoso-
intellektuelle Katastrophe der zweiten Hälfte des 20 . Jahr- phie seine Lebenslüge. Wittgensteins Übertritt vom spät-
hunderts. Der »Dreck«, von dem Wittgenstein weiß, daß er habsburgischen Österreicherturn in ein Designer-Christen-
ihn bald oder posthum provozieren werde, ist nichts anderes tum a la Tolstoj mochte vor 1918 einen Teil der von den
als die »Schweinerei«, der er mit seiner offiziellen späteren Besten verspürten Unumgänglichkeit einer radikalen Re-
Theorie, der pseudo-neutralen Sprachspiele-Lehre, in die form symbolisieren. Nach 1918 war eine solche Option
Hände arbeiten sollte. Wittgensteins späte Zweideutigkeit nur noch ein Teil des nahezu universellen Versagens vor
drückt freilich nicht nur einen privaten Komplex aus. Sie be- der Aufgabe, die Regeln für das Leben in einer nach-dyna-
zeugt eine objektive Verlegenheit, die er nicht übersteigen stischen Welt zu formulieren. Hätte Wittgenstein damals
konnte. Für ihn, den Überlebenden der späthabsburgischen schon geglaubt, Kultur sei eine Ordensregel, er hätte im
Welt, waren die Uhren im November 1918 stehen geblieben- Blick auf die Not der Zeit versucht, eine solche zu verfassen
sie bewegten sich zeit seines Lebens nie mehr weiter. Bis da- oder an ihrer Redaktion mitzuwirken - wäre es auch nur in
hin war er wie die übrigen Protagonisten der Wiener Moder- der uneleganten Form eines Parteiprogramms oder eines Er-
ne seiner Zeit voraus gewesen - eingebunden in die asketisch- ziehungskonzepts für nach-feudale Generationen. Er wich
formalistische Problemgemeinschaft derer, die zu der großen lieber in die überholte Welt der österreichischen Land-
Reform aufbrachen. Nach dem Zusammenbruch der österrei- Volksschulen aus - ein Narodnik, der sich im Jahrhundert

45 Ibid., S. I2 1 f. 46 Siehe oben S. 127f.


228 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel «

geirrt hatte. Später trug er durch seine philosophischen heiten handeln. Dennoch kann Besessenheit von einer unbe-
Analysen dazu bei, den österreichischen Modus des Aus- wußt oder halbbewußt befolgten Regel nicht gut die richtige
weichens vor der Realität auf dem Umweg über Großbritan- Art und Weise sein, wie Menschen sich zum Wahren und
nien zu popularisieren. Die Sprachspiel-Lüge begann ihren Richtigen verhalten. Daß die Bedeutung eines Worts sein rea-
Siegeszug durch die Seminare der westlichen Welt, ohne daß ler Gebrauch ist, mag ja sein, entscheidend ist die Läuterung
irgend jemand bemerkte, worauf die Täuschung beruhte. Es des Gebrauchs. Hat nicht Adolf Loos das Eigenleben der
war, als hätten amerikanische Baumärkte ausschließlich Pro- Alltagsdinge minutiös studiert, um dann die trivialsten Ge-
dukte des aristokratischen Formalismus a la Loos vertreiben genstände durch Utensilien von raffiniertester Vereinfachung
sollen - ohne Rücksicht darauf, daß Baumärkte unvermeid- und höchster Materialgediegenheit zu ersetzen? Und Witt-
lich nur das Baumarkt-Übliche im Angebot führen. Durch genstein selbst - hat er nicht in dem Haus in Wien, das er
die Art seines Stehenbleibens im Jahr r9 1 8 hat Wittgenstein für seine Schwester entwarf, sogar die scheinbar definitiv
das geistige Stehenbleiben der Anglowelt nach 1945 ideolo- gegebenen Formen der Türklinken verworfen und eigene,
gisch mitbegründet: Nach außen die scheinbare Gleichwer- neu gezeichnete an ihre Stelle gesetzt, Klinken, die durch
tigkeit aller Lebensformen, analytische Fitness und liberales ihre Form verrieten, ob die Tür nach außen oder nach innen
anything goes, nach innen Heimweh nach den grünen Tälern öffnet?
der Dummheit und Hierarchie-Gefühle einer Elite aus ver- Die Konsequenzen aus diesen Analogien reichen weit: Tat-
gangenen Zeiten. sächlich können und sollen eine Vielzahl der nicht-deklarier-
ten Übungen in deklarierte umgewandelt und dabei geklärt
werden. Das Gefälle zwischen der nicht-deklarierten und der
Deklarierte Übungen deklarierten Übung gehört selbst zu den ersten ethischen Tat-
sachen. Diese Differenz rechtfertigt Wittgensteins - gegen die
Ich möchte diese Diagnosen nicht als destruktive Kritik miß- aufklärerische Instrumentalisierung der Klarheit zugunsten
verstanden sehen, im Gegenteil: Die von Wittgenstein ausge- des »Fortschritts« gerichtete - These von 1930: »Mir dagegen
henden Verzerrungen zu korrigieren ist keine unlösbare Auf- ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit Selbstzweck.« 47 Der
gabe. Es genügt, an die sezessionistische Dynamik der Suche vorgebliche Selbstzweck ist in Wirklichkeit das Medium, in
nach der guten Form zu erinnern, um zu begreifen, daß die dem die Umwandlung von besessenen Regelanwendungen in
Sprachspiel-Theorie eigentlich eine Trainingstheorie dar- freie Übungen stattfindet.
stellt, die auf dem - seinerseits nicht deklarierten - Unter-
schied zwischen deklarierten und nicht-deklarierten Askesen Der ethische Ur-Satz: »Du mußt dein Leben ändern!« kann
beruht. Die einzelnen Sprachspiele sind mikro-asketische darum fürs erste nur dadurch befolgt werden, daß die Üben-
Module, die üblicherweise von den Spielern ausgeführt wer- den sich ihre Übungen als Übungen, das heißt als den Üben-
den, ohne daß sie wissen, geschweige denn bedenken, was sie den engagierende Lebensformen, bewußt machen. Der
tun. Wenn sie handeln, wie man es ihnen beigebracht hat, sind Grund für diese Forderung ist evident: Wenn die Spieler sel-
sie gewissermaßen von der Grammatik Besessene, mag es sich
auch nur um die milde Besessenheit durch Satzbau-Gewohn- 47 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 3I.

I
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23° I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 23 1
ber unausweichlich von dem geprägt werden, was sie spielen der Schweige-Regel und ein durch die Jahrzehnte verzettel-
und wie sie es spielen (und wie man ihnen zu spielen ein- tes Sprechen über das Was und Wie des Sprechens gewesen
gebläut hat), dann kommen sie nur auf die Kommandobrük- wäre.
ke ihrer Selbstveränderung, indem sie die Spiele, in die sie Von dem Schweige-Gerede bleibt nur soviel übrig, wie
verstrickt sind, als das klären, was sie sind. Folglich ist die nötig ist, um einem Übenden klarzumachen, es komme dar-
Sprachspiel-Theorie kein Ausdruck von »therapeutischem auf an, die Übung auszuführen und nicht über sie zu raison-
Positivismus«, wie der amerikanische Philosoph Brian Farell nieren. Einen Diskuswurf bringt man nur zustande, indem
1946 mit der Instinktlosigkeit des Baumärkte-Kunden be- man den Diskus wirft - und kein Gerede über Diskusse und
hauptete - man versteht, wieso Wittgenstein über diese Defi- über die richtige Art, sie zu werfen, kann den Wurf ersetzen;
nition »aufs höchste verärgert war«.48 Sie ist die Arbeitsform auch die Biographie der Werfer und die Bibliographie der
des transformierenden Asketismus, und somit ethischer Se- Wurf-Literatur führen keinen Schritt weiter. Das ändert nicht
zessionismus in Aktion. Sie wird praktiziert mit dem Ziel, aus das geringste daran, daß »Diskologie« eine Disziplin werden
dem Durcheinander der vorgegebenen, unter situativem könnte, die nach dem Stand der Kunst auszuüben wäre, falls
Zwang einverleibten und unvermeidlich »schweinerei«nahen es sie gäbe. Bei ihr bestünde die Ausführung darin, die
Lebensformen eine Auswahl an Spielen zu treffen, die in die Sprachspiele, die zu dieser -logie gehören, lege artis zu prak-
geklärte »Ordensregel« übernommen werden. »Sprachspiel« tizieren - warum nicht an einem Sonderforschungsbereich
ist alles, der lebende Kristall und die Schweinerei, es kommt für Wurf-Forschung und Human-Projektilkunde? Ob es
auf die Nuance an. nun besser wäre, ein Diskurswerfer oder ein Diskologe zu
sein, ist eine andere Frage. Sie zwingt zur Wahl zwischen
zwei Disziplinen, von denen jede auf ihre Weise gekonnt
\Vovon man nicht schweigen soll werden will - oder sie resultiert in einer Fächerverbindung
und führt zur Entstehung des athleta doctus.
Damit erü brigt sich das unter Wi ttgensteinianern grassierende Die Wittgensteinsche Schweigerei enthält für sich genom-
Gerede über das Schweigen, das vorgeblich bei allem, worauf men keinen tieferen Sinn als Erich Kästners Vers »Es gibt
es im Leben wirklich ankommt, gewahrt werden müsse. Man nichts Gutes / Außer: Man tut es «. Wer will, könnte sie auch
schweigt nicht, wenn es um Präferenzen geht. Auch in diesem mit der Benediktusregel assoziieren, in der es im Abschnitt
Punkt führt die Suche nach der Quelle der Verwirrung zu Wie der Abt sein soll heißt: »Wer also den Abtsnamen ange-
Wittgenstein selbst. Er war in diesem sensitiven Punkt auf nommen hat, muß seinen Schülern mit doppelter Belehrung
seine eigene Ideologie hereingefallen, indem er den für ihn vorstehen; das heißt, er hat alles Gute und Heilige mehr durch
schon früh attraktiven jesuanischen und monastischen Werke als durch Worte zu zeigen.«49 »Religiös« aufgeladen
Schweige-Habitus suggestiv mit seiner logisch schwächeln- wird der Wittgensteinsche Habitus dadurch, daß in ihm
den Leugnung der Möglichkeit von Meta-Sprachen amalga- die Urszene des »Schweigend-die-Wahrheit-Verkörperns«
mierte - als ob nicht sein ganzes Werk ein einziges Brechen
49 Die Benediktusregel, Lateinisch/ D eutsch, Beuron 2006, 2 , I 1-12,
S. 84/85: id est omnia bona et saneta factis amplius quam verbis
48 JanikiToulmin, Wittgensteins Wien, a.a.O., S. 295. ostendat.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 233

durchscheint, wie sie das Dastehen von Jesus vor Pilatus kohärenter Studien zur Abklärung des Zwecks von übendem
verkörpert. Das Verhalten des Philosophen wird vielleicht Verhalten. Merkwürdigerweise klafft in seinem aktiven Vo-
verständlicher, w enn man sich vorstellt, wie er permanent kabular an der entscheidenden Stelle eine Lücke - ich kenne
vor Pilatus steht. Dadurch ergibt sich ein bildlicher Kom- jedenfalls keinen Passus in seinen Schriften, an der das Wort
mentar zu dem Satz: »Wittgenstein aber schwieg. « In Wirk- »üben« in mehr als beiläufiger Weise verwendet wird. Auch
lichkeit schwieg er nicht, er hielt im Gegenteil Vorträge durch finde ich keinen Hinweis darauf, daß Wittgenstein sich der
ein Verhalten, wie es sich für einen Mann gehört, der über- etymologischen Identität von »Askesis« und »Übung« be-
zeugt ist, die Welt sei der ideale Ort, um etwas zu zeigen. wußt war. Deshalb kann man vielleicht sagen, Wittgensteins
Über den Inhalt des zu Zeigenden wurde er sich nie so richtig »Werk« sei um einen blinden Fleck, den fehlenden Grund-
klar. Weder konnte er den Schritt zu einer förmlichen Do- begriff »Askesis «, angeordnet. Sein expliziter Sinn für Gram-
zenten- und Trainer-Rolle tun, noch sich zu einer manifesten matisches ist von seinem impliziten Verständnis für Asketi-
Guru- und Messias-Rolle entschließen. Er blieb im wichtig- sches nicht zu trennen.
sten Punkt unentschieden, zum einen aus psychischen Grün- Wittgensteins Untersuchungen zur Vielfalt der Sprach-
den, zum anderen, weil er innerhalb seiner Lehre vom spiele sind darum als Beiträge zur allgemeinen Asketologie
schweigenden Zeigen die bei den Aufgaben nicht trennte: zu lesen - als gesammelte Hinweise auf die Allgegenwart des
die des Beispielgebens als technischer Meister und die des praktisch-übenden Motivs in sämtlichen Feldern menschli-
Sich-zum-Beispie1-Gebens als Lebenslehrer. chen Verhaltens. Die Mikro-Askese ist immer aktuell. Sie
bleibt an allem beteiligt, was Menschen tun - ja sie reicht
bis in die vorpersonale Zone, in die Idiolekte aller Körper-
Asketologische Dämmerung und Fröhliche Wissenschaft teile, von denen jeder seine eigene Geschichte hat. Vor den
Spielen und den Sprachspielen gibt es kein Entkommen - weil
Wittgensteins Unfähigkeit, den Unterschied zwischen Aske- dem Gesetz des Übens nichts entgeht, ob es nun intentional
tik und Ethik zu explizieren - und die dadurch bedingte Ver- geschieht oder in ich-fernen und absichtslosen Wiederho-
wechslung von zeigendem Vormachen einer Übung mit lungsreihen. Daß Alltag und Übung identisch sind, gehört
schweigender Verkörperung des »Ethischen« -, hat zwar zu den stärksten Intuitionen des Sprachspiel-Denkens. Aber
ein halbes Jahrhundert lang für Konfusion im Lager des ana- daß nicht alles Alltägliche per se in Ordnung ist und daß nicht
lytischen Opportunismus gesorgt, aber sie bedeutet an sich jede Wiederholung eines eingeschliffenen Sprachspiels den
kein unheilbares Gebrechen. Um es in den Ausdrücken des Übenden voranbringt oder auch nur ihm nützt, gilt es gegen
hier entwickelten Versuchs zu sagen: Wittgensteins Werk den Hauptstrom des nivellierten Sprachspiel-Geredes zu ver-
gehört, wie das aller bisher behandelten Autoren, zu der im deutlichen. Im übrigen ist es nicht wahr, daß die Philosophie
späteren 19. Jahrhundert einsetzenden Bewegung, die ich die eine Erkrankung der Sprache wäre, die durch den Rückgang
asketologische Dämmerung nenne. Aus ihr müssen die Kon- auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch geheilt werden könne.
sequenzen gezogen werden - ich wiederhole meine Behaup- Das Hinhorchen auf die gewöhnliche Sprache lehrt eher das
tung, daß sie auf eine allgemeine Anthropotechnik hinaus- Gegenteil - sie ist häufig um vieles kränker als die Philoso-
laufen. Was der Autor hinterläßt, ist eine Fülle kohärent in- phie, der sie vorgeblich Heilung bringt.
234 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 » Kultur ist eine Ordensregel « 235
Alles, was Wittgenstein als Sprach-Ethiker und logischer ihm untersuchten Disziplinen performative Systeme sind als
Reformer zu Papier brachte, ergibt aus meiner Sicht nur »Widerspiegelungen« der Wirklichkeit. Wenn er für die
Sinn, wenn es als die bis dahin ernsteste Neuaufnahme des Gruppe der Disziplinen, an denen er die Performativität
Nietzscheschen Programms der Fröhlichen Wissenschaft des wissenschaftlichen Wissens bzw. der Wissens effekte er-
verstanden wird. Fröhlich ist diese Wissenschaft in dem läutert, in seinem Buch Les mots et les choses ausgerechnet
Maß, wie sie zum Schaden der Dummheit ihre Klärungen den Ausdruck episteme gebraucht, haben wir es mit einer
vorantreibt, ohne der Neigung zur fundamentalistischen exquisiten Ironie zu tun - diesbezüglich nur mit dem Wort
Grämlichkeit zu erliegen, die sich üblicherweise mit reformi- »Rationalisierung« vergleichbar, durch das die Psychoanalyse
stischem Polemismus verbindet. Ich erlaube mir daher, Witt- die unter Wunschdiktat erfolgten logischen Zurechtlegungen
gens tein für einen okkulten Nietzscheaner zu halten, nicht der Neurotiker charakterisiert. Analog hierzu bilden die Dis-
nur auf der taktischen oder formalen Ebene, da er wie der ziplinen der episteme die diskursiven Zurechtlegungen der
Autor von Menschliches, Allzumenschliches den besten Teil Theorie-Machthaber, gleich, ob sie als Psychiater, als Ärzte,
seiner Erkenntnisse in Kleinattacken notierte, sondern auch als Biologen, als Ökonomen, als Gefängnisdirektoren oder
strategisch, insofern er wie Nietzsche der Philosophie eine als Juristen praktizieren. Infolge ihres performativen Status
Guerilla-Form verlieh und eine existentiell verbindliche sind die »Diskurse« zu jeder Zeit der Praxis-Machtgeschichte
trans formative Analyse entwarf, mit dem Ziel, durch die klä- ein Amalgam aus Wissenseffekten und exekutiven Kompe-
rende Veränderung der Form des Lebens das Leben selbst von tenzen.
Grund auf zu verwandeln. Deshalb könnte man Foucaults Arbeiten, wie sie sich von
den späten fünfziger Jahren bis in die mittleren siebziger Jah-
re entwickelt haben, einen mit Heidegger potenzierten - und
Foucault: Ein Wittgensteinianer mit Surrealismen hochgezogenen - Wittgensteinianismus
nennen, der kurioserweise ohne nähere Kenntnis der deut-
Wenn Wittgenstein ein okkulter und unfreiwilliger Nietz- schen und britischen Quellen entstand, wie insgesamt die
scheaner war, so trat Michel Foucault von Anfang an als des- französische Kultur nach 1945 den Ideen der analytischen
sen manifestes und freiwilliges Gegenstück hervor. Nichts- Tradition keinen Nährboden bot. Mit der Modeströmung
destoweniger kann man sagen, Foucault habe die Arbeit dort des Pariser Strukturalismus hatten Foucaults Versuche natur-
aufgenommen, wo Wittgenstein sie liegengelassen hatte - bei gemäß wenig zu tun - von gewissen Gemeinsamkeiten in der
dem Nachweis, daß ganze Wissenschaftszweige bzw. episte- Frontstellung gegen die Diktate des »Hypermarxismus«50
mische Disziplinen nichts anderes sind als komplex zusam- abgesehen.
mengesetzte Sprachspiele, alias Diskurse bzw. diskursive
Praktiken. Wie Wittgenstein mit dem kognitivistischen Vor-
urteil in der Sprachtheorie gebrochen hatte, um zu zeigen,
wieviel mehr das Sprechen ein Handeln ist als ein Wissen,
so brach Foucault mit dem epistemistischen Vorurteil in der
Wissenschaftstheorie, um darzulegen, wieviel mehr die von 50 Siehe oben Fußnote 23, S. 204·

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23 6 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen »Kultur ist eine Ordensregel «
2 237

recht verstanden habe, ob sie überhaupt etwas machen. Aber


Tragische VertikaLität Intellektuelle, nie.« 51
Kaum je ist in den Turbulenzen der Foucault-Rezeption
Sein Werk ist jedoch zu vielfältig und zu flamboyant, um nach dem Durchbruch von Les mots et les choses, 1966,
unter einem einzigen Gesichtspunkt resümiert werden zu bemerkt worden, daß die Manifestation des Autors zwölf
können. Ich beschränke mich auf zwei Aspekte, die einen Jahre zuvor mit einem anti-psychoanalytischen Pauken-
evidenten Bezug zu unseren Fragestellungen aufweisen: schlag begonnen hatte: Erstaunlich selbstbewußt schob er
zum einen auf Foucaults lakonische, weit vorausdeutende die Deformationsmechanik der Freudschen Traumanalyse,
frühe Beiträge zu einer Neubestimmung der Vertikaldi- die sogenannte »Traumarbeit«, beiseite, um den Traum als
mension in der menschlichen Existenz, zum anderen seine die entscheidende Manifestation der tragischen Wahrheit
reich verzweigten späten Studien zu den autoplastischen über den Menschen zu statuieren:
oder selbstskulpturalen Lebenstechniken der Antike. Das »Der Traum ist der Träger der tiefsten menschlichen
erste relevante Dokument finde ich in Foucaults großer Bedeutungen nicht, indem er deren verborgene Mecha-
Einleitung zu Ludwig Binswangers Buch Traum und Exi- nismen und unmenschliche Räderwerke aufdeckt, son-
stenz, 1954, worin er die »tragische Vertikalität« des Da- dern im Gegenteil: indem er die ursprünglichste Freiheit
seins zur Sprache bringt; die übrigen Quellen gehören der des Menschen ans Licht bringt.«52
Gruppe von Arbeiten an, die der Denker in der Zeit Während der Schlaf den Tod leugnet, indem er ihn simuliert,
seines Schweigens als Autor zwischen 1976 und 1984 vor- sagt der Traum - besonders der Traum vom Tod - die Wahr-
antrieb und die den posthum edierten Werkkomplex um heit. Er vollbringt damit eine Art von »Selbsterfüllung«, in-
Figuren wie »Selbstsorge«, »Selbstkultur« und »Kampf dem er das »Auftauchen des Individuellsten im Individuum«
mit sich selbst« organisieren. bewirkt. 53 »In allen Fällen ist der Tod der absolute Sinn des
An beiden Polen ist die »akrobatische« Dimension - als Traums. «54
Stellungnahme der Existenz angesichts des Auftauchens der Wenn dies zutrifft, kann die Struktur der Existenz nur von
ihr inhärenten Vertikalspannung - unübersehbar. Die Fou-
caultschen Überlegungen zu den horizontalen Phänomenen,
den vielzitierten historischen Formationen der »Diskurse«, 5I Michel Foucault, Der maskierte Philosoph. In: Von der Freund-
schaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984,
lasse ich hier beiseite, weil sie für unsere Fragestellung uner- S. 9-24. Im übrigen ist die Zuordnung der »Diskurse« zur Horizon-
giebig sind und weil sie dieselbe verführerische Zweideutig- talen ein Gedanke, den Foucault wahrscheinlich bei Binswanger
keit wie Wittgensteins Sprachspiel-Theorem aufweisen - sie gefunden hatte. Dieser weist in seinem ~ufsatz über ~Versti.egen­
haben die Wirkung von Fallen, in die Intellektuelle gern lau- heit« von 1949, den Foucault ohne Zweifel kannte, die »Dlskur-
sivität« dem Dasein im Horizontalraum zu, während er die schi-
fen, um ihre kritischen Reflexe zu bestätigen, als hätte nicht zophrene Verstiegenheit zu den Pathologien der Vertikalität
gerade Foucault betont, er habe noch nie im Leben einen rechnet.
»Intellektuellen« getroffen, sondern immer nur Leute, die 52 Zitiert nach: Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Pravu Ma-
Romane schreiben, Leute, die mit Kranken arbeiten, Leute, zumdar, München 1998, S. 94.
53 Ibid., S. 95 ·
die lehren, Leute, die malen, und Leute, »bei denen ich nie so
54 Ibid., S. 97·
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 "Kultur ist eine Ordensregel« 239
der Analyse des Traums her erhellt werden - aber keineswegs Kraft der Selbstgestaltung, in der sich die ethische Kompe-
im Sinne Freuds. Im Traum betritt der Mensch das eigentliche tenz des Individuums verdichtet. So wie der junge Foucault-
dionysische Theater, jedoch nicht, um ein neuer Ödipus zu der mit Anfang Zwanzig zwei Selbstmordversuche überlebt
werden. Wir bewegen uns beim Träumen in einer gerichteten hat - den Selbstmord als die wiedergefundene Ursprungs-
Räumlichkeit, die ursprünglicher ist als die der Geometrie geste deutet, »in welcher ich mir Welt mache«56 (wie man
und der übersichtlichen Anordnung der Dinge im hellen sich Luft macht, indem man an die Quelle der Freiheit zu-
Raum. In der existentialen Räumlichkeit des Traums besitzt rückgeht), so entdeckt der späte die übende Selbstgestaltung
die Vertikalachse eine völlig andere Qualität als in der Ma- als die aus der eigensten Daseinsmöglichkeit entspringende
thematik oder der Architektur. Sie gibt der Begeisterung die Bewegung: mit sich über sich hinaus.
Richtung ihres Aufstiegs vor - bis zur Ruhe auf dem Gipfel, Diese Entdeckung begeistert den Denker vor allem darum
in der Nähe des Göttlichen. Zugleich kann die so sehr, weil sie ihm erlaubt, die Karten auf den Tisch zu legen
»vertikale Achse auch der Vektor einer Existenz sein, und sich als Mann der Vertikalen zu bekennen, ohne in den
die auf Erden ihre Heimat verloren hat und die - wie der Verdacht zu geraten, er wolle insgeheim wieder auf die aus-
Baumeister Solness - dort droben ihren Disput mit Gott getretenen Pfade der Allerweltstranszendenz christlich-pla-
aufnimmt; dann markiert sie die Flucht in die Maßlo- tonischen Stils zurückkehren. 57 Im selben Verfahren klärt er
sigkeit und birgt von Anfang an den Taumel des Stur- sein Verhältnis zu Nietzsehe, indem er die von ihm ausgehen-
zes.«55 de Verführung zum Exzeß durch dessen eigene späte Asketik
Schon Binswanger hatte den anthropologischen Vorrang der korrigiert - genauer: durch deren vorchristliche Muster, von
vertikalen Dimension statuiert, weil sich für ihn in den denen Nietzsehe geträumt hatte, als er erklärte, er wollte die
Dramen des Aufstiegs und des Sturzes die wesentliche Zeit- Asketik wieder »vernatürlichen«.58 Foucault hatte verstan-
lichkeit der Existenz enthüllte. Von Heidegger übernimmt den, daß der Dionysiker scheitert, wenn man ihm nicht einen
Foucault die Bestimmung des »Transzendierens« auf der ver- Stoiker einpflanzt. Dieser räumt das Mißverständnis aus, wo-
tikalen Achse als »Losreißung von den Fundamenten der nach das Außer-sieh-Geraten auch schon ein Über-sieh-Hin-
Existenz «; die komplementäre Bewegung zeigt sich als tragi- ausgehen sei. Das »Über« im übenden Über-sich-hinaus-Ge-
sche »Transdeszendenz«, als Absturz von einem Gipfel, des- hen ist nur noch dem Anschein nach das gleiche wie das, von
sen einziger Sinn es zu sein scheint, den Verstiegenen die für dem bei der frühen Entdeckung der tragischen oder ikari-
fatale Stürze nötige Fallhöhe zu geben.
Es werden rund fünfundzwanzig Jahre vergehen, bis Fou- 56 Ibid., S. 10 5.
57 Der tocus classicus hierfür ist Augustinus, Von der wahren Religion,
caults Denkwege wieder an die Stelle gelangen, die er in sei-
XXXIX, 72: »Geh nicht nach draußen, kehr in dich selbst zurück,
nem Binswanger-Kommentar berührt hatte. Dann weiß er: im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine
Die Arbeit an der Vertikalität ist nicht nur eine Sache der Natur noch wandelhaft findest, geh auch über dich selbst hinaus
ursprünglichen Einbildungskraft, von der in den frühen (transcende et te ipsum). Denke aber daran, wenn du über dich
hinausgehst, daß es die Vernunftseele ist, die über dich hinausgeht.
Überlegungen die Rede gewesen war. Sie bedeutet jetzt eine
(Sed memento cum te transcendis, ratiocinantem animam te tran-
scendere.)« .
55 Foucault, S. [01. 58 Siehe oben S. [94·
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel«

schen Vertikalität die Rede gewesen war. 59 Es ist in Wahrheit Wenn er in demselben Gespräch, an seine Anfänge in der
das »Über« der überlegenen Reife, erworben auf den Spros- abstrakten Revolte erinnernd, sentenzhaft formulierte: »wir
sen der Übungsleiter. 6o wollten völlig andere sein in einer völlig veränderten Welt«,62
Der transgressive Kitsch, d en Foucault bei Bataille viele spricht er schon als ein wirklich Veränderter, der sich, Licht-
Jahre zuvor aufgelesen hatte und zu dem er dank seines mi- jahre von seinen Anfängen entfernt, an das konfuse Verlangen
metischen Talents selbst einige prekäre Exempel beisteuerte, nach totaler Andersheit erinnert. Mit dieser Wendung steht
tritt in d en Hintergrund. Er wird im Rückblick nicht mehr als er jenseits der Ironie, sogar jenseits des Humors. Auf seine
eine Episode auf dem Weg z um allgemeineren Verständnis Weise wiederholte Foucault die Entdeckung, daß man das
der selbstformenden Verfassungen übenden Lebens bedeu- »Bestehende« nicht unterwandern kann - nur überwandern.
ten. Unnötig zu sagen, daß jetzt auch die letzten Verbindun- Er war ins Freie getreten und bereit geworden, etwas wahr-
gen zum Milieu der ressentimentgetriebenen Linken in zunehmen, was für eine in französischen Schematismen kon-
Frankreich durchtrennt wurden. Deren Fabrikationen war ditionierte Intelligenz strikt unsichtbar ist: die Tatsache, daß
Foucault schon seit längerem ferngestanden, und wenn er in die Menschen in ihren Ansprüchen an Freiheit und Selbst-
einem Gespräch aus dem Jahr 1980 erklärte: »nichts ist mir bestimmung durch die Disziplinen, die Regime und die
fremder als der Gedanke eines Herrn, der Ihnen sein eigenes Macht-Spiele nicht unterdrückt, sondern ermöglicht werden.
Gesetz aufzwingt. Ich akzeptiere weder die Vorstellung der Die Macht ist kein behindernder Zusatz zu einem ursprüng-
Herrschaft noch die Universalität des Gesetzes «,61 so sprach lich freien Können, sie ist für das Können in allen Spielarten
er eine Überzeugung aus, die ihn seit mehr als zwei Jahrzehn- konstitutiv. Sie bildet überall das Erdgeschoß, über dem ein
ten von den stalinistischen, trotzkistischen und maoistischen freies Subjekt einzieht. Man darf daher auch den Liberalismus
Flügeln der französischen Intellektuellenszene entfremdet als ein System von disziplinarischen checks und balances be-
hatte - um nur einige Verbindungen zu anarcho-liberalen schreiben, ohne ihn im geringsten zu verherrlichen, aber auch
und linksdionysischen Strömungen zu bewahren. ohne ihn zu denunzieren. In der gelassenen Härte eines
Wichtiger noch war, daß er sich jetzt auch von den para- Zivilisationstrainers erklärte Foucault: »Natürlich konnte
noiden Resten seiner eigenen Macht-Untersuchungen freige- man die Individuen nicht befreien, ohne sie zu dressieren.«63
macht hatte. Erst aus der spät erworbenen Haltung methodi-
scher Gelassenheit gelang es ihm, einen Begriff von Regimen,
Disziplinen und Macht-Spielen zu formulieren, in dem sich Sprach spiele, Diskursspiele, Allgemeine Disziplinik
keine zwanghaft antiautoritären R eflexe mehr ausdruckten.
Damit war der Weg zu einer Allgemeinen Disziplinik frei.
59 Vgl. Jacques Lacarriere, L'envol d'Icare suivi de Traite des chutes, Foucault hat ihn ein Stück weit beschritten, indem er in einer
Paris 1993. Serie von minutiösen Neulektüren mehrheitlich stoischer Au-
60 Über Höhenphantasien im allgemeinen vgl. Gaston Bachelard, toren das Universum der antiken philosophischen Askesen
L'Air et les songes. Essai sur I'imagination du mouvement, Paris
1943·
61 Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit 62 Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. 0., S. 37·
Ducio Trombadori, Frankfurt am Main 1996, S. 117. 63 Ibid., S. II6.

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I Die Erobe rung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist ei ne Ordensregel « 243

neu durchmaß - unbehindert durch die überall aufgerichteten Differenzen zwischen den beiden Denkern des übenden Le-
Barrieren des kritischen Kitschs, der in jeder Form von bens werden hingegen bewußt, wenn man ihre Deutungen
»Selbstbeherrschung« die Unterwerfung wittert und bei des Aufenthalts auf der Höhe des Mount Improbable ver-
jeder Disziplin in der Lebensführung sofort die Selbstrepres- gleicht. Während Wittgenstein es erstaunlich genug findet,
sion unterstellt, mit der eine äußere Repression verdoppelt wenn Lebensformen so weit geklärt werden können, bis das
würde - man erinnert sich, um eines der bekanntesten Bei- Dasein auf der Hochebene dem Aufenthalt in einem von
spiele zu erwähnen, an die Ungereimtheiten, die Adornos und Logikern bewohnten tibetischen Bergkloster gleicht, stürzt
Horkheimers Dialektik der Aufklärung in das Sirenen-Kapi- sich Foucault in die Rolle des Bergbauingenieurs, der mit
tel der Odyssee hineinlas, um aus dem griechischen Seefahrer Tiefenbohrungen an verschiedenen Stellen die Höhe des Ge-
einen triebunterdrückten Bourgeois zu machen, der überdies birges und die Zahl seiner verborgenen Faltungen offenlegt.
umgehend zum Prototypus des europäischen »Subjekts« Für ihn ist der Berg des Unwahrscheinlichen ein Archiv, und
avanciert. Mit Beklemmung denkt man an die Zeit zurück, die plausibelste Art und Weise, ihn zu bewohnen, ist das Ein-
in der solche Plumpheiten einer Generation jüngerer Intellek- dringen in die alten Korridore, um die Physik des Archivs zu
tueller als Nonplusultra des kritischen Denkens erschienen. studieren. Sein Gefühl freilich sagt ihm, der Berg kulminiere
Der Reiz der Schriften des späten Foucault liegt in dem in jedem einzelnen Individuum, das auf ihm lebt, weshalb die
unverhohlenen Ausdruck der Verwunderung darüber, in wel- Ethik dieser Studien klarmachen will, daß das, was wie ein
che Gegenden ihn sein Studium antiker Autoren geführt hat. Massiv aussieht, in Wahrheit eine Ansammlung aus jeweils
Er reklamiert für seine Expedition in die Geschichte der As- singulären Kulminationen ist - auch wenn diese sich zumeist
kesen bzw. der »Selbsttechniken« den Status einer »philoso- nicht als solche spüren. Der Imperativ: »Du mußt dein Leben
phischen Übung«: ändern! « heißt hier: Du selber bist der Berg des Unwahr-
»Das ist die Ironie der Anstrengungen, die man macht, scheinlichen, und wie du dich faltest, so ragst du empor.
um seine Sichtweise zu verändern ... Haben sie wirk- Die sachlichen Parallelen zwischen Wittgenstein und Fou-
lich dazu geführt, anders zu denken? Vielleicht haben cault sind eindrucksvoll, auch wenn wir die psychodynami-
sie höchstens dazu geführt, das, was man schon dachte, sche Seite der bioi paralleloi zweier homosexueller Frühbe-
anders zu denken, und unter einem anderen Gesichts- gabter, denen nach einer Phase weit getriebener Selbstzerstö-
winkel und in einem klareren Licht wahrzunehmen, rungsversuche eine Art von Selbsttherapie gelang, außer
was man ohnehin tat. Man meinte sich zu entfernen, Betracht lassen. Die Notiz Wittgensteins aus dem Jahr
und findet sich in der Vertikale seiner selber.,,64 194 8: »Ich bin zu weich, zu schwach & darum zu faul, um
Die Nähe zwischen der Wittgensteinschen Form-Klärung Bedeutendes zu leisten. Der Fleiß der Großen ist, unter an-
und der Foucaultschen philosophischen Übung ist frappie- derem ein Zeichen ihrer Kraft, abgesehen auch von ihrem
rend. Auch die Analogien zwischen den »Sprachspielen« und inneren Reichtum «, ist meines Wissens bisher nicht im Licht
den »Wahrheitsspielen« drängen sich auf. Die wesentlichen von Foucaults Studien über Geständnispraktiken untersucht
worden. Man kann sich gut vorstellen, diese Zeilen wären
64 Foucault, ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar, nach einer Begegnung Wittgensteins mit Foucault geschrie-
a.a.O., S. 465f. ben worden - allerdings hätte Wittgenstein Foucaults Arbei-
244 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel«

ten bis 1975 mehr verabscheut als bewundert, weil er seinen


frühen und mittleren Stil unerträglich gefunden hätte. Die Philosophischer Mehrkampf
posthumen Schriften hätte er wohl als die Wunderwerke an Das Subjekt als Träger seiner Übungsreihen
manierismusfreier Klarheit gelesen, die sie sind.
Ihre stärkste Verwandtschaft zeigen jedoch beide Denker In Wirklichkeit hatte er den Durchbruch zu einer Konzep-
aus der Sicht ihrer Wirkungsgeschichten. Beim einen wie tion der Philosophie als Exerzitium vollzogen und die letzten
beim anderen bildet der Punkt der höchsten Nachahmbarkeit Reste an surrealistischem Übergewicht abtrainiert. Ihm war
den Auslöser ihres akademischen Erfolgs, weil er in beiden klar geworden, daß Ästhetizismus, aktivistische Romantik,
Fällen den Punkt der suggestivsten Mißverständlichkeit dar- Dauerironie, Transgressionsgerede und Subversionismus
stellt. Bei Wittgenstein haben wir gesehen, wie aus der Sprach- nur träumerische Trägheiten sind, die mit Mühe einen Mangel
spiel-Theorie die Ordinary-Language-Irreführung wurde; an Form kaschieren. Längst hatte er verstanden: Wer von
im Fall Foucaults ist ohne Mühe nachvollziehbar, wieso seine Unterwanderung redet und vom Werden schwärmt, gehört
Diskurs-Theorie dem kritischen Konformismus eine leichte in die Anfängerklasse. Foucault hatte sich selbst zu etwas
Beute schien. Kein Mensch ahnte, was für eine Art von Exer- gemacht, wovon Nietzsehe in seinen späten »physiologi-
zitien in der Horizontalen der seltsame Archivar absolvieren schen« Notizen einen ersten Begriff gegeben hatte: zum
mußte, bevor er zu einer nicht mehr tragischen Vertikalität Träger einer Intelligenz, die reiner Muskel, reine Initiative
zurückkehren konnte. Man hielt all diese Studien über Asyle, geworden war. Deshalb die völlige Abwesenheit von Manie-
Kliniken, Psychiatrien, Polizeien und Gefängnisse für eine rismen in seinem späten Stil. Die Ersetzung der Verstiegen-
etwas verquere Form von Gesellschaftskritik und zollte ihrer heit durch die Manieriertheit - das mit Binswanger zu ent-
lyrisch gedopten Akribie hohes Lob. Daß sie immer auch schlüsselnde Geheimnis seiner mittleren Periode - war
asketische Selbstformungsübungen anstelle eines dritten überflüssig geworden.
Selbstmordversuchs waren, begriff kein Leser, und mögli- Nach Foucault darf die Philosophie wieder daran denken,
cherweise war der Autor selbst sich hierüber nicht immer zu werden, was sie gewesen war, bevor das kognitivistische
im klaren. Sein Beharren auf der Anonymität der Autorschaft Mißverständnis sie aus der Bahn warf - ein Exerzitium der
zielte in die gleiche Richtung: Wo Niemand ist, kann sich auch Existenz. Als Ethos des luziden Lebens ist sie reine Disziplin
niemand umbringen. Die Ratlosigkeit war darum groß, als der und reiner Mehrkampf - sie bringt auf ihre Weise die Wieder-
späte Foucault mit der Ironie des Losgelösten einen Haken herstellung des antiken Panathlon mit sich, ohne sich auf eine
schlug und das Gefolge der Kritischen und Subversiven ab- abgezählte Gruppe von Agonen festzulegen. Die Analogie
schüttelte. Wer dann immer noch auf seinen Spuren bleiben zwischen Sportarten und Diskurs- und Wissens arten muß
wollte, tröstete sich mit der oft wiederholten Versicherung, möglichst buchstäblich genommen werden. Die philosophi-
die Philosophie sei keine Disziplin, sondern eine Aktivität, sche Intelligenz übt die Disziplin, die sie ist, vor allem in den
die die Disziplinen »durchquert«. Dadurch bot er dem an- Einzeldisziplinen, in die sie sich versenkt, wenn es sein muß
archo-kritizistischen Kitsch - um die Wahrheit zu sagen: sogar in die >,Philosophie«. Vor dem »Durchqueren« muß
der Faulheit, die glauben möchte, sie sei eine subversive Kraft gewarnt werden: In neunundneunzig von hundert Fällen
- eine letzte Zuflucht an. bleibt es bei Anfängerfehlern stehen. Eine Metadisziplin gibt
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 247
es naturgemäß nicht - daher auch keine Einführung in die »ungeheuren Landschaft, in der sie sich unmöglich ausken-
Philosophie, die nicht schon von Anfang an selber die maß- nen können«.66 Es ist die unfaßbar weite Landschaft der
gebliche Übung wäre. Disziplinen. Ihre Summe macht die Routinenbasis aller Kul-
Man wird Foucault, schei nt mir, nur gerecht, wenn man turen und aller trainierbaren Kompetenzen aus. Hier haben
seinen Impuls mit dem Pierre de Coubertins zusammen- wir de facta und de iure die »breiteste und längste Thatsache,
denkt. 65 Die Vollendung der Renaissa nce durch die Wieder- die es giebt« vor Augen. Der von Foucault exemplarisch be-
kehr des Athleten um 1900 schließt die Wiederkehr des gangene Weg führt, wird er weit genug fortgesetzt, zu einer
Weisen ein: Im Allkampf der Intelligenz trägt dieser das Seine Allgemeinen Disziplinik als einer Enzyklopädie der Kön-
zur Klärung der Frage bei, in welcher Form die Renaissance nensspiele.
heute sich fortsetzt. Wie immer die Antwort lauten wird: Der Von diesen bilden die durch Foucault untersuchten Dis-
Ausdruck läßt sich nicht mehr auf seine kunstgeschichtlichen kursformationen und Wissensspiele nur ein schmales Seg-
und bildungsbürgerlichen Bedeutungen reduzieren. Er indi- ment, jedoch eines von hoher paradigmatischer Energie.
ziert eine unabsehbar weitreichende Entfesselung von Kön- Die Reichweite der Foucaultschen Anregungen wird man
nens- und Wissensformen jenseits der alteuropäischen Zünf- erst ermessen, wenn es eines Tages eine ausgearbeitete Form
te- und Ständegesellschaften. Indem die aktuelle »Renais- der Allgemeinen Disziplinik geben sollte - man dürfte für
sance« neue Konfigurationen zwischen Kontemplation und ihre Entwicklung ein Jahrhundert veranschlagen. Ihre Im-
Fitness hervorbringt, ermöglicht sie neue Festivals auf dem plantierung erforderte eine zeitgemäße Transformation der
Hochplateau des Bergs der Unwahrscheinlichkeiten. Wer je Universitäten und Hochschulen, sowohl was die Gliederung
an einem solchen teilgenommen hat, weiß, daß es keine der sogenannten »Fächer« oder »Studiengänge« angeht, als
»Wissensgesellschaft« gibt, auch keine »Informationsgesell- hinsichtlich der Grundanahmen der Hochschulpädagogik -
schaft«, soviel die neuen Mystifikateure hiervon auch reden. diese hält wider besseres Wissen noch immer an der Koffer-
Was seit der Renaissance permanent entsteht, ist eine multi- und Kisten-Theorie fest, wonach Lehren und Lernen nichts
disziplinäre und multivirtuose Welt mit expandierenden anderes als das Umfüllen von Wissen aus dem Professoren-
Könnensgrenzen. koffer in die Studentenkisten sei, indessen seit geraumer Zeit
bekannt ist, daß Lernen ausschließlich durch direkte Teilnah-
me an den Disziplinen stattfindet. Die Durchsetzung eines
Aussicht auf eine ungeheure Landschaft sachlich und methodisch disziplinenbasierten Hochschul-
systems wäre zugleich die einzige Art und Weise, wie der
Hat man sich von dem Phantom einer »philosophischen Ak- Verkümmerung des Bildungswesens, ein realistischer Wider-
tivität« jenseits von Disziplin und Disziplinen befreit, kann stand entgegenzusetzen wäre, fundiert in einer reformierten
man in Foucaults Welt den Moment erleben, in dem die gan- Idee von den Gegenständen und Aufgaben eines Großen
ze Szene offen daliegt. Man beschreibt ihn am besten mit Hauses des Wissens.
Wittgensteins Wendung von der den Schülern zu zeigenden Im Gang einer solchen Umstellung würde die effektive

65 Siehe oben S. 141-151. 66 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. I I I.


r Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine Ordensregel« 249
Geologie des von Menschen gemachten Mount lmprobable Nicht-Selbst-Techniken (wobei die Unterscheidung zwi-
ans Licht treten. Diese universitas der Disziplinen verkörpert schen deklarierten und nicht-deklarierten Meditationen ins
die reale Kulturwissenschaft nach der Auflösung der Kultur- Spiel kommt), des weiteren die (10) Ritualistik (da ja der
Phantome in die Fülle der Kompetenz-Systeme und der Mensch, nach Wittgensteins Behauptung, ein zeremonielles
übungsfähigen Könnenseinheiten. Die überdiskutierte Frage Tier ist und die Zeremonien die trainingsfähigen Verhal-
nach dem Subjekt reduziert sich auf den kompakten Hinweis: tensmodule bilden, deren Träger als >>Völker« auftreten - wes-
Subjekt ist, wer sich als Träger eine Serie von Übungen betä- wegen die Sprachwissenschaften, wie die Theorie der Spiele
tigt - woraus im übrigen folgt, daß zeitweilig beliebte Denk- und der sogenannten Religionen, eine Unterdisziplin der Ri-
figuren wie Exzeß, Dezentrierung und Tod des Subjekts be- tualistik ausmachen), die (I1) Sexualpraxiskunde, die (I2)
stenfalls parasitäre Nebenübungen zu den qualifizierenden Gastronomik und schließlich die (13) offene Liste kulti-
Übungen sind - sie lassen sich unter der Rubrik Fortgeschrit- vierungsfähiger Aktivitäten, deren Offenheit die Unab-
tenenfehler ablegen. schließbarkeit des disziplinenbildenden und damit Subjekti-
vierungen ermöglichenden Feldes selbst bedeutet. Man sieht
Nur höchst vorsichtig kann ich hier andeuten, welche Gegen- auS dieser Aufstellung, daß Foucaults Interventionen die Fel-
stände in der Allgemeinen Disziplinik zusammenkommen. der 1,3,4, 5,8,10 und 11 berühren. Gewöhnliche Philoso-
Diese wäre auf jeden Fall nicht mehr bloß eine Theorie der phen beschränken sich auf das Feld 5, mit gelegentlichen
Diskurse oder der Aussagen-Gruppen, zu denen entspre- Ausflügen nach 8 oder T und 3, womit über Foucaults pan-
chende Askesen und Exekutiven gehören. Sie würde das athletische Qualitäten genug gesagt ist.
Spektrum der aus Wissen und Ausübungen komponierten Ich weise vorsorglich darauf hin, daß in dieser ersten Schau
Fähigkeitssysteme integral umspannen. Dieses reicht von auf das 13köpfige Ungeheuer der Disziplinik die für das all-
der (I) Akrobatik und Ästhetik, einschließlich des Systems tägliche Bewußtsein imposanten Phänomene Krieg und »Re-
der Kunstarten und Gattungen - nota bene, im post-univer- ligion« fehlen. Das hat einen guten methodischen Grund: Der
sitären Haus des Wissens bildet nicht die Philosophie, son- Krieg ist keine Disziplin für sich, sondern eine bewaffnete
dern die Artistik das studium generale -, über die (2) Athletik Sophistik (die Fortsetzung der Kunst, Recht zu behalten,
(allgemeine Sportartenkunde) bis zur (3) Rhetorik bzw. So- mit anderen Mitteln), in die Elemente der Athletik, der Ri-
phistik, sodann zur (4) Therapeutik in all ihren fachärztlichen tualistik sowie der Maschinentechnik einbezogen werden.
Verzweigungen und zur C5) Epistemik (einschließlich der Ebensowenig ist die »Religion« eine wohlabgegrenzte Diszi-
Philosophie) und weiter zur (6) Allgemeinen Berufe-Kunde plin, sondern - wie bereits angedeutet - ein Amalgam aus
(einschließlich der »angewandten Künste«, die man dem Feld Rhetorik, Ritualistik und Administrativik unter gelegentli-
der Arts et Metiers zurechnet) und der (7) maschinistischen cher Hinzunahme von Akrobatik und Meditation.
Techniken-Kunde. Es inkludiert weiterhin die (8) Admini-
strativik, die den statischen Unterbau des Politischen bzw.
des Gouvernementalen sowie das Universum der Rechtssy-
steme ausmacht, ferner die (9) Enzyklopädie der Meditati-
onssystcme in ihrer Doppelgestalt als Selbst-Techniken und
I Die Eroberun g des Unwahrscheinlichen 2 »Kultur ist eine O rdensregel« 251

Für ihren Erfolg war der Umstand entscheidend, daß sie


Zw ischen den Disziplinen präzise alternative Disziplinen einführten und diese mit posi-
tiven Wertschätzungen umgaben. Hingegen sind manche
Schließlich möchte ich anmerken, wie die Frage nach der heutige Zeitgenossen der Meinung, man solle die parlamen-
Dimension der »Kritik« jedem der Felder inhärent ist und tarische Demokratie oder die Schulmedizin oder die Groß-
jedes von ihnen überschreitet: Auf jedem einzelnen Gebiet städte abschaffen, weil aus alledem nichts Gutes kommt.
vollzieht sich eine ständige praktische Krise, die zur Schei- Diese Kritiker werden sich nicht durchsetzen, weil sie nicht
dung zwischen dem Richtigen und Unrichtigen bei der Aus- zeigen, was statt dessen zu tun wäre. Die operative Unter-
führung der Disziplin führt - häufig mit immanent umstrit- scheidung ist hier die von Gut und Böse. Vom Bösen gilt, es
tenen Ergebnissen. Daher besitzt jede Einzeldisziplin eine solle nicht sein. Man kann es nicht verbessern, man hat es
nur ihr eigentümliche und nur aus ihrem Inneren verständli- auszuschalten. Wie die erste Unterscheidung mit Wertentzug
che Vertikalspannung. Auch sagt der Status eines Leistungs- arbeitet, so die zweite mit Seinsentzug.
trägers in einem gegebenen Feld nichts über sein Ranking in Daß für den Diszipliniker nur die erste Unterscheidung
anderen Gebieten. In moralphilosphischer Hinsicht ist ent- von Bedeutung ist, li egt auf der Hand. Ihm bedeutet die Fülle
scheidend, daß die feldinternen Differenzen die Dimension der Disziplinen selbst den Mount Improbable - und Gebirge
bilden, für welche Nietzsches Unterscheidung zwischen Gut kritisiert man nicht, man besteigt sie oder läßt es bleiben.
und Schlecht zuständig ist - was zugleich heißt: Intradiszi- Nietzsche war wohl der erste, der begriffen hatte, was der
plinär gibt es wohl Schlechtes, Böses hingegen keinesfalls. gewöhnliche Moralismus ist: di e Kritik des Gebirges durch
Andererseits findet eine ständige externe Beobachtung der die Nicht-Bergsteiger. Man kann sich in der Tat vornehmen,
Disziplinen durch disziplinferne Instanzen und Individuen der »Welt« als dem Inbegriff der unbejahbaren Übungen den
statt. Die schätzen oder mißbilligen die Ergebnisse von Rücken zu kehren, um etwas anderes als das Leben "in der
Übungen in fremden Sphären nach eigenen Maßstäben. Was Welt« bis zur Perfektion zu üben - nichts anderes hatten die
Athleten tun, kann äußeren Beobachtern unwichtig erschei- spätantiken Weltflüchter im Sinn. Gleichwohl gibt es in die-
nen, was Juweliere tun, überflüssig, ohne daß die Juroren sich sem Punkt zwischen frühen Christen und modernen Radika-
darum kümmern müßten, ob die Athleten oder die Juweliere len einen nennenswerten Unterschied. Die christlichen Bi-
die besten ihres Fachs sind. Externen Beobachtern steht es schöfe schrieben Ordensregeln für das Leben auf anderen
sogar frei zu sagen, es solle diese oder jene Disziplin, sogar Bergen, Regeln, unter denen 1500 Jahre lang gelebt werden
einen ganzen Komplex aus Disziplinen besser nicht geben - konnte, zum Teil bis heute. Die letzteren stehen bei allem,
ja, das Bestehen mancher Disziplinen als solchen sei eine ver- was der Fall ist, daneben und finden es unfair. Für sie sind alle
werfliche Verirrung. So waren frühe Christen überzeugt, Berge böse.
Gladiatorenkämpfe seien böse, selbst wenn die Kämpfer Mei-
ster ihres Fachs wären, und das ganze System von Brot und Foucault hatte erfaßt, daß Subversion, Dummheit und Un-
Spielen bedeute nichts anderes als eine widerwärtige Perver- fitness drei Wörter für dieselbe Sache sind. Als ihm zwei
sion. Mit diesen negativen Wertschätzungen setzten sie sich Journalisten von Les Nouvelles Litteraires 1984 die Fragen
a la langue durch - was meines Wissens niemand bedauert. vorlegten: »Wirkt Ihre Rückkehr zu den Griechen an einer
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 253
Untergrabung des Bodens mit, auf dem wir denken und le-
ben? Was haben Sie zerstören wollen?«, antwortete er den
3 SCHLAFLOS IN EPHESOS
Subversionspapageien lakonisch: »Ich habe gar nichts zerstö-
VON DEN DÄMONEN DER GEWOHNHEIT UND
ren wollen! «67 Zusammen mit der Erklärung von 1980: »So
gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat IHRER ZÄHMUNG DURCH DIE ERSTE THEORIE
eines unbedingten Optimismus ... Ich sage alles, was ich
sage, damit es nützt«68 bildet diese Absage an eine zweihun-
dertjährige Folklore der Zerstörung Foucaults philosophi-
sches Testament. Diese Antwort von 1984 war fast buchstäb- Heilmittel gegen Verstiegenheit: Diskursanalyse
lich sein letztes Wort. Wenige Tage nach dem Ende Mai
geführten Gespräch brach er in seiner Wohnung zusammen Ludwig Binswanger war vermutlich der einzige Psychiater,
und starb drei Wochen später am 25. Juni im Krankenhaus von dem sich Foucault verstanden, um nicht zu sagen vorher-
der Salpetriere, deren frühere Funktionen er in seinem Buch gesehen wußte - in dem Sinn, daß er in dessen Schriften die
Wahnsinn und Gesellschaft beschrieben hatte. wichtigsten Elemente zu einer Sprache für das gefährdete
Leben fand, im allgemeinen wie im eigenen Fall. Bei ihm
hat er die tragische Deutung der Vertikalität kennen gelernt,
nach der die ,>Verstiegenheit « des Daseins ein Festsitzen auf
einer zu hohen Sprosse der existentiellen Leiter bedeutet. Von
ihm übernahm er offensichtlich auch den Hinweis auf Henrik
Ibsens 1892 uraufgeführtes Theaterstück Baumeister Solness-
es handelt von einem manischen Architekten, der »höher
baut als er zu steigen vermag« und sich zuletzt von der un-
69
leb baren Höhe seines Turms in den Tod stürzt. Vor allem
verdankte Foucault Binswanger die frühe Einsicht in das
Grundproblem der eigenen Existenz, das der von Heidegger
inspirierte Psychiater in raumanalytischen Ausdrücken re-
sümiert hatte: als eine Disproportion zwischen Weite und
Höhe - oder Diskurs und Flug. Dieses Mißverhältnis kann,
wie Binswanger in seinem Essay Verstiegenheit von 1949 dar-
legte, entweder als manische Sprunghaftigkeit und ideen-

67 Die Rückkehr der Moral. Gespräch mit Gilles Barbedette und 69 Vgl. Foucaults Anspielung auf Solness in seiner Einleitung zu:
Andre Scala, in: Michel Foucault, ausgewählt und vorgestellt Traum und Existenz, oben S. 238 . Ob Foucault Binswangers Buch:
von Pravu Mazumdar, a. a. 0., S. 485 . Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst,
68 Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. 0., S. 117. Heidelberg 1949, rezipiert hatte, ist mir nicht bekannt.
I Die Ero berung d es Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos 255
flüchtiges Schweifen in den vols imaginaire/ o in Erscheinung bens - »immer schon« in ein Feld oder ein Milieu eingetaucht
treten oder sich als ein schizoides Erklimmen von Höhen sind, aus dem sie mit grundlegenden Nachbarschaften, Stim-
manifestieren, die in keinem sinnvollen Verhältnis zur Enge mungen und Richtungsspannungen versorgt werden. Des-
des Erfahrungshorizonts stehen 71 - in diesem Sinn ist Ver- halb ist Ethik die Theorie von den ersten Erschlossenheiten
stiegenheit die Krankheit des begabten Jugendlichen. Die und Ergriffenheiten - und insofern Erste Wissenschaft. Die
Therapie besteht in einer Art von Bergwachtintervention: ersten Dinge sind keine Gegebenheiten, sondern Tendenz-
Es gilt, den verirrten Kletterer ins Tal zurückzubringen und züge zwischen Extremen: Erschwerungen, Erleichterungen,
ihm das Gelände zu erklären, bis er imstande ist, bei seinen Engungen, Weitungen, Hinneigungen, Abneigungen, Sen-
nächsten Aufstiegen die Verhältnisse zu respektieren. Zum kungen, Hebungen. Sie bilden - als Matrix der »Stimmun-
Verständnis derselben gehört die Relation zwischen dem gen«, die Heidegger für die Philosophie erschloß - einen
Schwierigkeitsgrad des Hangs und dem Ausbildungsgrad Komplex aus vorlogischen Aufschlüssen und Orientierun-
des Gipfelstürmers. gen, in welche die logischen, gegenständlichen und werten-
Die daseinsanalytische Therapeutik ist also mehr eine den Weltbezüge eingehängt sind.
Ethik als eine Heilkunde - sie bietet Anleitung zum propor-
tionenbewußten Verhalten im existentiellen Raum. Existen-
tiell strukturiert ist dieser Raum, insofern Vertikalität und Erste ethische Unterscheidung bei Heraklit
Horizontalität hier eine ethische, nicht geometrische Bedeu-
tung haben: So steht das Horizontale für Erfahrung und Den frühesten Hinweis auf ein Denken im alteuropäischen
»Diskursivität</2 - möglicherweise hat Foucault hier die Idee Raum, bei dem eine Ethik im angedeuteten Sinn zur Sprache
einer Diskurs-Analyse als Erwerb von Navigationsfähigkeit findet, entdeckt man in dem Konvolut von Fragmenten, die
im Horizontalraum geschöpft -, das Vertikale für Ranghöhe dem an der Wende vom 6. zum 5· vorchristlichen Jahrhundert
und Dezisivität, sofern existentielle Höhe die Dimension lebenden ionischen Protophilosophen Heraklit zugeschrie-
Entscheidungsfähigkeit impliziert. ben werden. Ich denke hier vor allem an das so bekannte
73
Damit kommt ein Begriff von Ethik in Sicht, bei dem nicht wie rätselhafte, von Stob ai os tradierte Fragment 102 : ethos
Werte, Normen und Imperative im Zentrum stehen, sondern anthropo daimon, das in der philologisch anspruchslosen und
elementare Orientierungen im »Feld « der Existenz. Beim philosophisch abstinenten Übersetzung von Jaap Mansfeld
orientierungsethischen Zugang zu dem Wie, Wohin und Wo- mit »Des Menschen Verhalten (oder: Charakter) ist sein
zu des Daseins wird davon ausgegangen, daß die »Subjekte« _ Schicksal« wiedergegeben wird. Bekanntlich hat sich Heideg-
die Existierenden als Könner und Nicht-Könner ihres Le- ger in seinem an Jean Beaufret adressierten Brief über den
»Humanismus« von 1946 mit dieser Trivialübersetzung nicht
70 Der Ausdruck spielt eine Schlüsselrolle in Gaston Bachelards zufriedengeben wollen. Er wirft ihr vor, sie sei modern, aber
Werk: L'air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement, nicht griechisch gedacht - ein Einwand, der auch dann noch
Paris 1943.
7 1 Ludwig Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstie- 73 Nach der Zählung von Jaap Mansfeld, In: Die Vorsokratiker I,
genheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen 19S6, S. 6. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1983, S. 27S . Bei Diels Fragment
7 2 Ibid., S. 4.
II9·
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos 257

gelte, wenn der Satz auf die etwas modifizierte, leicht schwä- »Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe
belnde Version gebracht wird: »Seine Eigenart ist dem Gottes. «74
Menschen sein Dämon«. Um die Angelegenheit zurecht- Obwohl ich diese erste Übersetzung Heideggers für miß-
zurücken, hält Heidegger es für nötig, schweres funda- lungen halte, philologisch wie philosophisch, besitzt sie ein
mentalontologisches Geschütz aufzufahren. Er behandelt stimulierendes Element. In der Nähe des Gottes wohnen
die bescheiden anmutenden Ausdrücke ethos und daimon, heißt ja wohl, eine Form der vertikalen Nachbarschaft ent-
als wären sie auf einer ideengeschichtlichen Bank deponierte decken, in der es noch wichtiger ist, einen modus vivendi mit
Guthaben, die selbst bei niederster Verzinsung nach mehr als dem Einwohner der oberen Wohnung zu finden als mit den
zweieinhalbtausend Jahren zu riesenhaften Vermögen an- Nachbarn nebenan. Mit diesem Hinweis kann man weiterar-
wuchsen. Allein die Fundamentalontologie ist ihm zufolge beiten, auch wenn das übrige nicht überzeugt. Doch damit
auf diesem antiken Sinn-Konto abhebungsberechtigt, weil nicht genug: Heidegger unterbreitet einen zweiten Überset-
nur sie zugleich vorsokratisch und nachmetaphysisch zu den- zungsvorschlag, mit dem er zum Problematischen das Gro-
ken imstande sei. Inwiefern er mit dieser Suggestion nicht teske hinzufügt, indem er das Motiv Nachbarschaft um das
ganz unrecht hatte, ihrer Überspanntheit ungeachtet, möchte der Unheimlichkeit ergänzt. Die drei kleinen Wörter ethos
ich nun zeigen. anthropo daimon sollen jetzt besagen:
»Der (geheure) Aufenthal t ist dem Menschen das Offene
für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren). </s
Heideggers List Wäre das wirklich der Sinn dieser Äußerung, rückte Heraklit
in den Rang des tiefsinnigsten Heidegger-Kommentators auf,
Um an den Sinn-Schatz heranzukommen, wendet Heidegger den das alte Griechenland hervorbrachte.
einen hermeneutischen Trick an: Er bringt den Ethos-Dai- Nichtsdestoweniger hat Heidegger einen wichtigen As-
mon-Satz mit der von Aristoteles kolportierten Anekdote pekt an dem heraklitischen Sinnspruch richtig erfaßt. Das
zusammen, wonach Heraklit, der Philosoph von Ephesos in Wort ethos, das man wohl etwas bodenständiger nehmen
Kleinasien, eine Gruppe von zögernden Fremden, die ihn und etwas weniger preziös mit »Verhalten« oder »Gewohn-
aufsuchen wollten und ihn am Backofen sich wärmend vor- heit« wiedergeben sollte, wird durch die Zusammenstellung
fanden, zum Eintreten aufgefordert habe mit den Worten: mit dem Wort daimon »nach oben« in Spannung versetzt.
»Auch hier sind Götter.« Die kontextuierende Strategie ist Hierbei genügt es, statt an »den Gott« an eine geisthafte Grö-
so einfach wie effektvoll. Wie die Ofenanekdote daran erin- ße zu denken, von der nicht ausgemacht ist, ob sie zum Guten
nern soll: auch im Gewöhnlichen scheint das Ungewöhnliche oder Bösen lenkt.76 Auch grenzt diese Gewalt an den
durch, selbst im Unscheinbarsten ist das Göttliche präsent, menschlichen ethos-Komplex nicht bloß äußerlich an, sie ist
soll das zu deutende Fragment ausdrücken, daß im Bekann-
ten das Unbekannte und im Alltäglichen das Überwirkliche 74 Martin Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: ders., Weg-
marken, Frankfurt am Main 1978, S. 35 I.
gegenwärtig sind. Also hieße der Spruch, falls man ethos mit
75 Ibid., S. 35 3· . . .'
»Aufenthalt« oder »Wohnort« (was problematisch ist) über- 76 Es ist zuz~geben, daß Hel~egg~rs Wiedergabe von datm~n Im
setzt und daimon mit »Gon« (was wohl etwas zu hoch greift): Singular mit » GOll « durch die seit H omer belegte Synonymie von
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos 259

imstande, ihn von innen her zu überwältigen und aufzusau- er in seinem durchschnittlichen ethos steckt, besitzt der
gen. Mensch nichts, was ihn ans Obere anschließt. Sollte Frag-
ment 102 zum »Ort« oder »Aufenthalt« des Menschen im-
Was der Daimon bew irkt: plicite Stellung nehmen, es würde besagen: Da, wo wir sind,
Die ethische Unterscheidung kollidiert die viehische Beschränktheit der Vielen auf ihre
Gewohnheiten mit der Offenheit der Wenigen für den Logos.
Setzt man die kuriosen Momente bei Heideggers Annäherun- Dies paßt vollkommen zu der Tendenz zahlreicher anderer
gen an Heraklit beiseite, bleibt von seinen Bemerkungen et- Heraklit zugeschriebener Aussagen, die keinen Zweifel daran
was zurück, das mehr ist als eine Projektion: In jedem Kom- lassen, wie er, den die Tradition als Melancholiker und eo ipso
plex menschlichen Verhaltens ist eine gewisse Spannung zwi- als Distanzmenschen portraitiert, die Lebensformen der
schen Höhe und Tiefe wirksam. Sie besteht, wenn das Bild Menge beurteilte. Daß dieser »menschenverachtende« Den-
erlaubt ist, in einer ontologischen Zweistöckigkeit, die von ker »den Menschen« als solchen und seiner gewohnheitsmä-
jetzt an explizit bemerkt wird - sofern man bemerken und ßigen Einrichtung nach als für das Göttliche offenstehend
beschreiben gleichsetzen darf. Sie bringt es mit sich, daß das bezeichnet haben sollte, wie Heidegger suggeriert, ist, mit
Untere, das habituelle Fundament, und das Obere, das Dä- einem Wort, undenkbar.
monische, imstande sind, sich gegenseitig zu absorbieren - Nichtsdestoweniger hatte Heidegger recht, in Heraklits
wohlgemerkt in beiden Richtungen: zum einen, wenn ein Verwendung des Worts ethos den Hinweis auf eine fundamen-
schlechtes ethos den Menschen kakodämonisch abwärts tale Vertikalitätsproblematik zu bemerken. Die betrifft nicht
zieht, bis er den Schweinen Gesellschaft leistet, wie Heraklit das vorgebliche Transzendieren »des Menschen« zum Gött-
in einer Reihe von krassen Tiervergleichen zu erklären nicht lichen hin, gleichgültig, ob man dieses als Über-Ich, Über-Du
müde wird - das Sprachspiel »Mensch gleich Schwein« läuft oder Über-Es vorstellt. Heraklit ist nicht Anthropologe, son-
offenbar durch von Heraklits Ephesos bis in Wittgensteins dern Ethiker. Die erste Ethik bearbeitet einen Unterschied im
Wien -, zum anderen wenn ein gutes ethos ihn agathodämo- Menschen, der durch das Denken, man sollte vielleicht besser
nisch emporhebt, so daß erder Sphäre des Göttlichen (theion) sagen: durch das Aufmerksamwerden für die Dimension Lo-
nahekommt. Dies stimmt mit dem von Kelsos überlieferten gos, erstmals explizit wird. Die heraklitische Menschenver-
Spruch Heraklits (Mansfeld 101) überein, wonach das ge- achtung ist der Fanfarenstoß, der die Explikation eröffnet.
wöhnliche menschliche Verhalten (ethos anthropeion) über Sie zeigt, wie der Unterschied im Menschen sich als Unter-
keine gültigen Einsichten (gnomas) verfüge, das Göttliche schied zwischen den Menschen darstellt. Wenn Heraklit die
(theion) besitze solche hingegen durchaus. Wenigen und die Vielen hart einander gegenüberstellt, dann
Also keine Rede davon, daß der vertraute menschliche nicht, weil er eli tär denkt, sondern weil er zu den ersten gehört,
»Aufenthalt« von sich her schon zum» Ungeheuren« hin die auf das Denken, das seit jeher, doch als solches unbemerkt
transzendiere. Heraklits Meinung ist hier doch eher: Sofern in uns geschieht, eigens aufmerksam wurden - und die eben
damit den Unterschied zwischen den Denkenden, genauer:
daimon und theos gestützt wird. Im gegebenen Kontext scheint mir den auf den Logos Aufmerkenden, und den anderen, den Un-
diese Übersetzung jedoch wenig plausibel. aufmerksamen, erst aktualisieren. Dies könnte er nicht tun,
260 [ Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos

hätte er nicht zuvor das Nicht-Denken bei sich selber unter die Stelle herleiten könnte, was unter diesen »Begierden« ge-
Vorherrschaft des Denkens gebracht, besser: des Verständig- nannten »epithymischen« Regungen und was hier unter
Seins (sophronein), von dem das Fragment 109 daher behaup- »Herrschaft« zu verstehen ist. Dann macht Sokrates auf die
tet, es sei die größte Tugend (arete megiste). Merkwürdigkeit des damit bezeichneten Selbstverhältnisses
Genau aus dieser Geste, der Unterordnung des Nicht-Ver- aufmerksam: Wenn Besonnenheit mit Herrschaft über Affek-
ständig-Seins unter das Verständig-Sein, entsteht die Ethik als te oder Leidenschaften verwandt oder wesensgleich ist, mani-
Erste Theorie. Folglich kann die Ethik nur die Form eines festiert sie ein inneres Gefälle im Menschen: eine dramatische
Duells des Menschen mit sich selbst annehmen - dieses Duell Verschiedenheit des Menschen von sich selbst, vor welcher er
jedoch ist als Provokation an die Ausweichenden externali- zwar ausweichen, die er aber nicht neutralisieren kann. Dafür
sierbar. Die erste Ethik handelt bereits mit ihrem ersten Wort zeugt die Redensart, jemand sei »stärker als er selbst« (kreitto
von der Differenz zwischen dem, was oben ist, und dem, was autou) - was man auch mit »sich selbst überlegen« übersetzt.
unten ist und doch zumeist danach strebt, obenauf zu gelan- Auf den ersten Blick scheint eine solche Sprechweise lächer-
gen. Diese »Ethik« als primäre Orientierung hat unmittelbar lich, meint Sokrates, und paradox obendrein: »Denn wer stär-
»ontologischen« Sinn, sofern sie die These: »es gibt sophro- ker als er selbst wäre, wäre doch offenbar auch schwächer als er
nein « enthält. Es hieße allerdings diesen Satz theoretizistisch selbst, und der Schwächere stärker« - da ja beides von ein und
verkürzen, sollte er nicht mehr ausdrücken, als sein proposi- derselben Person gesagt wird. In Wahrheit ist die lächerliche
tionaler Gehalt besagt. Er ist ein autoritativer, anspornender Redensart das Symptom der ernstesten Sache: Es gibt offenbar
und tonischer Satz, der seinen Adressaten mit der Heraus- »im Menschen selbst« (en auto to anthr6po) hinsichtlich seiner
forderung konfrontiert: »Gewähre dem sophronein den Vor- Seele (peri ten psychen) ein Besseres und ein Schlechteres. Die-
ra~g! « Bereits die älteste Fassung des metanoetischen Impe- se Sache, mit der nicht zu spaßen ist, emergiert in actu auf
ratIvs verlangt von den Menschen, in ihnen selbst das Obere doppelte Weise - in den hier angestellten Überlegungen und
und das Untere zu unterscheiden. in den Lebensverhältnissen, mit denen sie sich befassen.
Herrscht nun das von Natur aus (physei) Bessere über das
Schlechtere, so nennt man das Stärkersein als man selbst oder
Sich selbst überlegen sein Überlegenheit über sich selbst und lobt dieses Verhältnis, wie
es sich gehört. Kommt es aber umgekehrt dahin, daß das
Daß in dem vorsokratischen Wort sophronein der ethische Schlechtere, das zugleich das Zahlreichere ist, das Bessere,
Urs atz »Du mußt dein Leben ändern! « virulent wird, und das naturgemäß kleiner ist, überwältigt, so spricht man von
zwar in manifest übungstheoretischer Tendenz läßt sich an Schwächersein als man selbst oder sich selbst unterlegen Sein
einer Überlegung erläutern, die Platon hunde:t Jahre nach und tadelt es dementsprechend. Die weiteren Anwendungen
Heraklit in einer viel bewunderten Passage des 4. Buchs der dieser Überlegung ergeben sich aus der Maxime aller politi-
Politeia (430e-432b) anstellt, worin von der Besonnenheit schen Psychologie: Wie in der Psyche also auch in der Polis?6
(sophrosyne) im Einzelnen und in der Polis die Rede ist. Dort 76 Die ontologischen und theologischen Variationen der politischen
wird Besonnenheit zunächst als »Herrschaft über die Begier- psychologie heißen: Wie im Sein, so in der Stadt, und: Wie im
den« (epithymion egkrateia) definiert - ohne daß ich an dieser Himmel, so auf Erden.

-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos

Zwei Momente sind für das Verständnis dieser philoso- eine Metapher, die wörtlich zu nehmen die Eigengesetzlich-
phiegeschichtlich schicksalhaften Stelle entscheidend. Zum keit übertragener Rede verkennen hieße. Tatsächlich emer-
einen: Es gelingt Platon in diesem Passus, den Affekt der giert in der paideia eine Erscheinungsform von Vertikalität,
Verachtung, der bei Heraklit in grober Äußerlichkeit her- die sich nicht auf politische Herrschaft abbilden, geschweige
vortrat, in die Struktur der Psyche zu integrieren, so daß denn reduzieren läßt. Daß damit die Sache selbst von ihrer
die Verachtung zu einem regulativen Prinzip der Person Trägern, den Operateuren und Patienten der Erziehung,
und einem Agens ihrer Selbststeuerung wird. Wer sich selbst auch schon begriffen wäre, kann freilich nicht behauptet
verachten kann, dem ist im Entscheidenden schon geholfen. werden.
Zum anderen: Sokrates stellt klar, wieso die Machtübernahme Die Basiskonfusion der griechischen Ethik wie der zu ihr
des Schlechteren nur nach »schlechter Erziehung« erfolgen gehörigen Erziehungskunst entspringt dem Umstand, daß sie
kann - deren Kriterium besteht darin, etwas, das der Zügel nie imstande war, den Unterschied zwischen Leidenschaften
bedarf, und, wenn es mit rechten Dingen zugeht, ohne wei- und Gewohnheiten in der nötigen Klarheit herauszuarbei-
teres zügelbar wäre, ungezügelt (akolaston) zu lassen. Geht ten - weshalb sie den korrespondierenden Unterschied zwi-
man davon aus, für die Griechen habe die paideia ein Kon- schen Herrschaft und Übung ebenfalls nie deutlich auf den
glomerat aus Einsicht und Dressur bedeutet - anders ausge- Begriff brachte. Die Konsequenzen zeigen sich in der mehr
drückt: die Resultierende aus intellektueller Belehrung und als zweitausendjährigen Zweideutigkeit der europäischen
physischem Drill -, so ist aus der Rede über die drohende Pädagogik. Diese erstickte ihre Zöglinge anfangs oft unter
Machtergreifung des Schlechten unmißverständlich die For- herrschaftlicher Disziplin, indem sie sie wie Untertanen be-
derung nach mehr Dressur bzw. die Klage über eine versa- handelte, um sie zuletzt immer öfter wie falsche Erwachsene
gende Dressur herauszuhören. anzusprechen und aus jeder Disziplin und Übungsspannung
Man könnte hier natürlich im Stil der noch immer übli- zu entlassen. Daß Schüler zunächst und zumeist werdende
chen Soziologisierungen einwenden, die platonische Rede Athleten sind, um nicht Akrobaten zu sagen, die es in Form
vom Sich-selbst-Überlegensein sei eine Projektion der grie- zu bringen gilt, wurde wegen der moralistischen und politi-
chischen Klassenverhältnisse in die Psyche - dann dürfte schen Mystifikation der Pädagogik nie mit der in einer so
man im Modus des nicht mehr ganz so üblichen Utopismus bedeutenden Sache gebotenen Explizitheit herausgestellt.
hinzufügen, in einer klassenlosen Gesellschaft würden die
Selbstverhältnisse der Psyche umgebaut, und zwar zu fla- Fürs erste scheint nichts einfacher als die Überlegung, daß
chen Hierarchien, wenn nicht gar völlig anarchisch, sprich schon vorhandene Leidenschaften, zerstörerische Heftigkei-
ohne nennenswerte Oben-Unten-Differenz. Diese Einwän- ten oder Obsessionen nach Zügelung - also Herrschaft - ver-
de verfehlen das Wesen der paideia. Die Idee der Zügelung langen, während Gewohnheiten nicht apriori gegeben sind,
entspringt aus der Verinnerlichung der Differenzen zwi- sondern in längeren Dressuren und Übungen aufgebaut wer-
schen Lehrer und Schüler bzw. Trainer und Athlet, allenfalls den müssen; sie wachsen durch mimetisches Wiederholungs-
auch der zwischen Reiter und Pferd, die nichts mit Herr- verhalten heran, um von einem bestimmten Punkt der Ent-
schaft im üblichen Sinn zu tun haben. Für diese Verhältnisse wicklung an in willens gestützte Eigenanstrengung überzu-
liefert die Beziehung zwischen Aristokratie und Pöbel nur gehen. Doch so elementar die Unterscheidung zwischen
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos

Gewohnheiten und Leidenschaften erscheinen mag, in der Läßt man diese semantischen Überlegungen zur Aufhel-
Geschichte des ethischen Denkens führt die Assoziation lung der beiden dunklen Termini gelten, so entstehen für den
der beiden Größen zu den vielfältigsten Konfusionen. Man Satz Heraklits zwei neue Übersetzungsmöglichkeiten. Die
könnte so weit gehen zu sagen, die Zweideutigkeiten in der erste heißt: »Beim Menschen sind die schlechten Gewohn-
Auffassung von askesis stellen neben den Askesen selbst die heiten das Überwältigende. « Die zweite lautet: »Neue gute
»breiteste und längste Thatsache« dar, die es auf dem »aske- Gewohnheiten können beim Menschen der heftigsten Lei-
tischen Stern« »giebt«. In Europa sind die Askesen und die denschaften Herr werden. « üb Heraklit dieses oder jenes
Askesemißverständnisse praktisch gleich alt - das ungleich sagen wollte, ist naturgemäß unentscheidbar. Seine Logik
tiefer durchdachte Universum der indischen asanas zeigt war archaisch, insoweit das Archaische die zusammenge-
uns zugleich, daß es sich bei dieser langwährenden Konfusion drängte Verkörperung des Noch-Nicht-Unterschiedenen,
um ein regionales Schicksal, kein universelles Gesetz handelt. des Präkonfusen, bedeutet. Während das Konfuse bereits ent-
Ist das begriffen, so versteht man, warum die Emanzipation faltete Alternativen wieder verwirrt, liegen im Präkonfusen
des Übens von den Zwangs strukturen der alteuropäischen noch nicht entfaltete Alternativen contracte ineinander. Hier
Askese - ich deutete es eingangs an - möglicherweise das gibt es noch weniger Wörter als Gedanken, die zum Aus-
wichtigste geistes- und körpergeschichtliche Ereignis des druck zu bringen wären. Daher bleibt ungesagt oder »ein-
20. Jahrhunderts bedeutet. gefaltet«, ob das Dämonische sich in Form von schlechten
Gewohnheiten oder noblen Passionen manifestiert. Es er-
übrigt sich zu erklären, wieso das Prestige der Vorsokratiker
Zwischen zwei Überwältigungen: gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Gipfel erreich-
Der besessene Mensch te: Zu keiner Zeit war das Heimweh der europäischen Intelli-
genz nach ihren präkonfusen Anfängen lebhafter als damals.
Gehen wir von Platons Hinweisen auf die vertikale Unter- Zugleich war dieses Heimweh nie einer stärkeren Versuchung
scheidung im Menschen selbst zu Heraklits Ethos-Daimon- ausgesetzt, die Konfusion durch Ausweichen in ungeeignete
Satz zurück, so erhellt, wie der Denker von Ephesos dassel- Simplifikationen zu steigern.
be Problem mit einer noch ganz elementaren, quasi mittel- Die ursprüngliche ethische Konfusion der europäischen
losen Logik behandelt. Deutlich sieht man jetzt, wie dieses Philosophie manifestiert sich in zwei komplementären alt-
archaische Drei-Worte-Wunder ethos anthropo daimon ehrwürdigen Irrtümern, die die Geschichte des Nachdenkens
selbst formal anzeigt, wovon es redet: Das Wort »Mensch« über die Frage, wie Menschen leben sollen, durchziehen: Der
steht in der Mitte zwischen den beiden allzu verwechselba- erste verwechselt die Zügelung der Leidenschaften mit der
ren ethischen Größen: Gewohnheiten links, Leidenschaften Austreibung von niederen Dämonen, der zweite verwechselt
rechts. Egal, was ethos sonst noch bedeuten kann, hier stellt die Überwindung der schlechten Gewohnheiten mit der Er-
es unmißdeutbar den Bezug zum Gewohnheitsmäßigen, leuchtung durch höhere G eister. Für den ersten Irrweg sind
Sittlichen und Üblichen her, während das Wort daimon die die stoischen und gnostischen Strömungen mit ihrem Streben
höhere Kraft, das Überwältigende, Übergewohnheitsmäßige nach Apathie bzw. schnellem Entkommen in die Überwelt
bezeichnet. repräsentativ, für den zweiten die platonischen und mysti-
266 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos

schen Überlieferungen mit ihrer Neigung zur Abtötung des gration des Besatzers lllS eigene Selbst. Die Mehrheit der
Fleisches bzw. zum Überfliegen des verkörperten Daseins. Menschen nimmt seit jeher nur die letztere, die psychistische
Daß diese attraktiven Irrwege nicht zu Hauptströmungen oder leidenschaftliche Seite der Besessenheit zur Kenntnis
gerieten, ist dem Widerstand der pragmatischen Ethiken zu (wie sie in den antiken Vorstellungen von Begleitdämonen,
verdanken, denen die anonyme Weisheit der Alltagskulturen Invasionsdämonen, persönlichen Genien und bösen Geistern
zu Hilfe kam. Beide sind Quellen, aus denen das Erbe euro- reich bebildert auftauchen); mit Sorge beachtet sie deren Ne-
päischen Lebenskunstwissens schöpft - Michel Foucaults gativ, die Entseelung, die Entgeisterung, die Depression. Hin-
späte Studien bieten hierfür das aktuellste Zeugnis. Den an- gegen richten die frühen Philosophen, die ersten Gurus und
ti-extremistischen Projekten aristotelischer, epikuräischer Pädagogen im Morgenlicht ihrer Kunst das Augenmerk mehr
und skeptischer Herkunft gelang es zumeist, die vertikale und mehr auch auf die zweite Front, die »gewohnheitstieri-
Passion, die Zügelung der Leidenschaften, mit der horizon- sche« Seite der menschlichen Kondition. Man könnte hier
talen Bemühung, der Nachahmung und Pflege guter Ge- von den habituellen oder hexischen Formen der Besessenheit
wohnheiten, in einen fruchtbaren Ausgleich zu bringen. Sie sprechen (von lat. habitus, Gewohnheit, und griech. hexis,
sichteten das schwierige Gelände, in dem die beiden primären Habe, Ge-habe, innerer Besitzstand, Gewohnheit). Sie re-
Bewegungsrichtungen, die Ausbreitungen und die Aufstiege, präsentiert die Besessenheit durch einen Nicht-Geist, eine
ihre Forderungen erheben. Inbesitznahme des Menschen durch den verkörperten Me-
Liest man den Ethos-Daimon-Satz direkt neben der Rede chanismus.
des Sokrates über die Zügelung der Leidenschaften, versteht
man besser, auf welchen Pfaden das alteuropäische Denken
vor die Fragestellung geriet, die in religiösen Kontexten un- Paideia: Der Griff an die Wurzeln der Gew ohnheit
ter dem Titel »Besessenheit« verhandelt wurde. Das Wort
daimon erinnert in seiner älteren Verwendung daran, daß Um zu begreifen, wie sich die Aufhebung der doppelten Be-
Menschsein und Besessensein anfangs praktisch dasselbe be- sessenheit des Menschen durch die ethisch-asketische Auf-
deuten. Wer keinen daimon hat, hat keine Seele, die ihn be- klärung vollzog, ist zu bedenken, daß die Geschichte des an-
gleitet, ergänzt und bewegt, und wer keine solche Seele hat, thropologischen und pädagogischen Denkens in Europa in
ist kein Existierender, vielmehr ein wandelnder Toter, allen- the lang run identisch war mit einer progressiven Säkularisa-
falls eine menschförmige Pflanze. Werden nun die Ausdrücke tion der Psyche - das heißt mit der Überführung der Beses-
ethos und daimon so dicht zusammengerückt, daß anthropos senheitslogik in Disziplinprogramme: In deren Verlauf wer-
direkt dazwischen steht, so sieht man, wie der Mensch prin- den die Besessenheiten des ersten Typs in Enthusiasmen um-
zipiell zwischen zwei Arten der Besessenheit eingespannt ist. formuliert und in vorteilhafte - man denke an Platons
Von Gewohnheiten und Trägheiten besessen, erscheint er un- Aufzählung der vier guten Begeisterungen im Phaidro/ 7-
terbeseelt und mechanisiert; von Leidenschaften und Ideen und schädliche sortiert. Unter den letzteren ragen Zorn,
besessen, ist er überbeseelt und manisch übersteuert. Form
77 Das prophetische Wahrsagen, die vom Gott eingegebene Heil-
und Grad seiner Beseelung sind demnach ganz vom Modus kunst, der von den Musen befeuerte Wahn (man{a) der Dichter,
und Tonus seiner Besessenheit abhängig - und von der Inte- die von den Göttern gesendete Liebe. Vgl. Phaidros 244a-245b.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos
Ruhmsucht und Habgier hervor, die in christlicher Zeit auf einschließt: Der Mensch, der von seinen Gewohnheiten ge-
der Liste der sieben Laster Platz finden .78 Da sie keine offi- habt wird, müsse es dahin bringen, die Besitzverhältnisse um-
ziellen Besessenheiten mehr sind, nur deren funktionale zukehren und das ihn Habende als eigene Habe unter Regie
Nachfolger, werden sie nicht mehr exorzistisch ausgetrieben, zu nehmen. Dies gilt in erster Linie für die schlechten Ge-
sondern disziplinarisch gezügelt, notfalls mit groben und wohnheiten, die man durch gute ersetzen soll. So sagt Tho-
gröbsten Mitteln. mas a Kempis noch ganz in der Tradition der ersten Pädago-
In dieser progredierenden Linie lassen sich, neunhundert gen: »Gewohnheit wird nur durch Gewo~.nheit überwun-
Jahre nach Heraklit, auch die Aussagen des Aurelius Augu- den.«80 In den radikaleren spirituellen Ubungssystemen
stinus anordnen, wenn er in seiner Schrift Über die wahre wird noch heute die Forderung nach Brechung der habituel-
Religion die Christen auffordert, »Männer« zu werden, die len Prägungen auf die neutralen und selbst die sogenannten
die »Frauen« in sich selbst, diese »Blendwerke und Belästi- guten Gewohnheiten ausgeweitet - etwa in der Schauspiel-
gungen der Begehrlichkeit«, unters Joch zu bringen (subiu- pädagogik von Konstantin Stanislawski oder an dem seit Ok-
garei) - eine Aufgabe, die sich für Frauen in analoger Weise tober 1922 in Fontainebleau ansässigen »Institut zur harmo-
stellt, weil sie »in Christus« ebenfalls Manns genug sein sol- nischen Entwicklung des Menschen« von Georg Ivanowitsch
len, um die Weiberlüste (jemineas voluptates) in sich zu un- Gurdjieff. Aus der Sicht der Radikalen ist die Habitus-Basis
terjochen. Noch hält Augustinus unbeirrt am Schema der der menschlichen Existenz insgesamt nicht mehr als ein spiri-
platonischen Affekt-Psychagogik fest: Beherrschen, was an- tuell wertloses Marionettentheater, in das nachträglich und
dernfalls uns beherrscht; in unseren Besitz (in nostram pos- durch höchste Anstrengung eine freie Ich-Seele implantiert
sessionem) bringen, was ansonsten uns besitzt. 79 Für ihn werden soll. Gelingt dies nicht, so erlebt man bei Menschen
bleibt aufgrund seiner teufelstheologischen Einbettung die allgemein einen Effekt, den man von vielen Sportlern und
Neigung zur Re-Dämonisierung der Leidenschaften stets ak- Models kennt: Sie wirken optisch vielversprechend, klopft
tuell. Man kann hier mit Händen greifen, wie der repressive man jedoch an, ist niemand drin. Die Distanzierung vom
Askesebegriff, als Diktatur über »innere Natur«, zu seinem Mitgebrachten ist diesen Doktrinen zufolge ~~lein möglich,
Siegeszug durch die christlichen Jahrhunderte ansetzt. wenn der Adept sein Leben einem rigorosen Ubungsregime
Was die Besessenheiten des zweiten Typs, die Gewohnhei- unterwirft, durch das er sein Verhalten in allen wichtigen
ten, angeht, so führt deren Säkularisation zu dem Konzept Dimensionen de-automatisiert. Zugleich muß er sein neu ge-
der Selbsterziehung, das einen dezenten Selbstexorzismus lerntes Verhalten re-automatisieren, damit ihm das, was er
78 Diese Leidenschaften werden noch bei Dion Chrysostomos (2. Jh. sein oder darstellen möchte, zur zweiten Natur wird .
n. ehr.), dessen Darstellung des Streits zwischen Diogenes und
Alexander von Foucault in Diskurs und Wahrheit, 1983, ausführ-
lich referiert wird, als Dämomen beschrieben, obschon nur meta-
phorisch. Vgl. Plutarch, Des Sokrates Daimonion, in: Moralia,
Leipzig 1942, S. 238f., wo die Wiederaufbereitung der Dämonen
im Jenseits geschildert wird.
79 De vera religione/Über die wahre Religion, Lateinisch/Deutsch,
Stuttgart 1983, S. 133-135. 80 Imitatio Christi, S. 53 ·
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos

Sollte man mit einem Satz sagen, was Denken im ionischen


Denken und Wachen Zeitalter war, die Antwort wäre: Denken heißt schlaflos sein
in Ephesos - die Nächte opfern in Milet. Man darf dies bei-
Für Heraklit, den Dunklen, Frühen, Präkonfusen sind solche nahe buchstäblich verstehen, weil die Nähe der Ionier zu den
Differenzierungen und Komplikationen inexistent. Bei ihm chaldäischen Traditionen nächtlicher Himmelsbeobachtun-
dürfen die Leidenschaften und die Gewohnheiten noch in ei- gen auch bei ihnen eine Neigung zur geistigen Nachtarbeit
ner Klasse beisammen bleiben - enthalten in der Vagheitsdi- hervorgerufen haben könnte - die Verachtung der Wachen-
mension, die im Fragment ror das ethos anthropeion (Men- den für die Schlafenden gehört zum Grundbestand des gei-
schenverhalten) genannt wird. Ihr stehen die übermenschli- stigen Athletismus. Wie Heraklits Fragmente zu verstehen
chen Größen gegenüber, das Göttliche, das vernünftige Feuer, geben, tangiert die Unterscheidung von Tages- und Nachtak-
die unermeßliche Psyche und der allesdurchdringende Logos. tivität nicht das wachende Denken. Das mit dem Denken
An ihnen gemessen, gleicht, wie man liest, selbst der klügste vereinte Wachen vollzieht die einzige Askese, die der ersten
Mensch dem Affen. Von paideia kann da noch keine Rede sein, Philosophie hilft, in Form zu kommen. Als wachendes Den-
und doch taucht bei Heraklit bereits ein Satz (Fragment 33, ken ist sie pure Disziplin - eine Akrobatik der Schlaflosigkeit.
nach Stobaios) auf, derwie im Hohn das 2 500jährige Reich der Vereint sie den Denker mit dem immerwachen Logos nicht
Pädagogen ankündigt: wonach es im Prinzip allen Menschen, geradezu, so bringt sie ihn doch eng mit ihm zusammen. Es ist
die einsichtslosen Vielen eingeschlossen, gegeben wäre, sich kein Zufall, wenn einige der härtesten Sprüche Heraklits von
selbst zu erkennen und verständig zu sein. der Schlafbefangenheit der gewöhnlichen Menschen handeln.
Ein noch größeres Privileg fällt Heraklit zu, wenn er auf Für ihn sind hoi pol/oi niemand anders als die Leute, die am
der »geistigen Seite« seiner Doktrinen beisammen lassen Morgen nicht zum Gemeinsamen (koinon) erwachen, son-
darf, was in einer späteren Rationalitätskultur auseinander- dern in ihrer Privatwelt, ihrer Traumidiotie bleiben, als hätten
gelegt werden muß, ja sich sogar auf verschiedene Diszi- sie aparte Einsicht (idian phronesin). Es sind dieselben, die
plinen verteilt - das Wachsein, das Verständigsein und das auch in religiösen Dingen sozusagen durchschlafen - sie mei-
Horchen auf den Logos. Spätere Generationen und fernere nen sich zu reinigen, indem sie sich mit Blut besudeln, »wie
Epochen werden das Wachen - neben den Phänomenen wenn einer, der, in den Schmutz getreten, sich mit Schmutz
Schlaf und Traum - der Psychologie und den Sicherheits- abwüsche«.81 In ihren Eigenwelten befangen, hören die Men-
diensten zuteilen, das Verständigsein hingegen an die prak- schen nicht, was ihnen die Nichtschläfer zu sagen haben.
tische Philosophie bzw. die Ethik abgeben und die Emp- Redet man zu ihnen von dem Logos, der durch alles wirkt,
fänglichkeit für den Logos der Logik, der Mathematik und zucken sie mit den Schultern. Von dem Einen sehen sie nichts,
den Strukturtheorien reservieren. Wenn es ein starkes Merk- obschon sie in es eingetaucht sind. Sie tun, als suchten sie den
mal des Vorsokratismus gibt - sofern dieser nicht nur eine Gott, obwohl er vor ihnen steht.
Erfindung moderner Kompilatoren darstellt, wofür manches
spricht -, mir scheint, es läge in der pathetischen Gleich-
setzung von Wachen und Denken.
81 Fragment 21.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos 273

dem östlichen Pfad eher ein Wachen ohne Wissenschaft zum


Denken ohne Wachen, Wachen ohne Denken: Zug, das Erleuchtungen ohne begriffliche Präzisierungen
Ost-West-Gegensätze anstrebte - angelehnt an einen Staatschatz von Weisheits-
figuren, der mehr oder weniger allen Meistern gehört. Hei-
Unter den Denkern des 20. Jahrhunderts war es zuerst Hei- deggers Versuch, die Alternative von Szientismus und Illu-
degger, der durch seine Sezession von der zweieinhalbtau- rninismus in neo-vorsokratischer Haltung zu unterlaufen,
sendjährigen philosophischen Überlieferung die Privilegen erbrachte ein Konzept von »Denken«, das deutlich näher
des präkonfusen (kontrakt-symbolischen) Denkens zurück- beim meditierenden Wachen als bei der Konstruktion oder
gewinnen wollte. Auf seine Weise versuchte er, gegen die Dekonstruktion von Diskursen lag. Seine späte Pastorale
eigene Zeit und doch in mancher Hinsicht auf ihrer Höhe, des Seins, die mehr einem Exerzitium als einer diskursiven
das Philosophieren in den »vorsokratischen« Zustand zu- Praxis gleicht, weist auf das Unternehmen hin, die Bewußt-
rückzuversetzen, in dem vorübergehend eine Einheit von seinsphilosophie nach ihrem aufrüttelnden Durchgang
Wachen und Denken möglich gewesen war. Der Zerfall der durch die Existenzphilosophie in eine welthaltige Wach-
präkonfusen Einheit hatte sich schon vor 2500 Jahren als heitsphilosophie zu verwandeln. 82 Man darf wohl anneh-
unaufhaltsam erwiesen; die raschen Fortschritte in der Be- men, der Mensch unterstehe als »Hüter des Seins« einem
griffsbildung spalteten die alten Grundwörter in viele Schlafverbot. Allerdings wird bei Heidegger nicht recht
Teilbedeutungen auf. Nicht jedes Wort überlebte diese Ent- klar, wie der Zeitplan beim Hüten des Seins geregelt ist.
wicklung unbeschädigt - insbesondere verlor das archaische Auch wie die Hüter die Nachtarbeitserlaubnis in den La-
Verbum sophronein, verständig sein, das eleganteste Lei- boren der Spitzenforschung bekommen, ist nicht leicht zu
stungswort der alten Welt, bei seiner Gerinnung zu dem Sub- erkennen. Die Wette ist so plausibel wie anspruchsvoll: Es
stantiv sophrosyne, das die Tugend der Besonnenheit inmitten gilt jetzt, die von Heidegger in Aussicht genommene Ver-
einer Gruppe anderer Tugenden bezeichnet, seine durchdrin- wandlung des Denkens in eine Wachheitsübung ohne Rück-
gende Energie und intime Appellwirkung. Allerdings enthält schritte hinter das Niveau der modernen Rationalitätskultur
die Heideggersche Deutung dieses Geschehens - die Erstar- vorzunehmen.
rung der Verben zu Substantiven und die Überführung der Ob Heidegger selbst dies gelungen ist, muß man aus einer
Ereignissehau in Begriffsmachwerk - als Geschick der Reihe von Gründen bezweifeln. Zu sehr ist seine späte Lehre
»Seinsvergessenheit« eine unannehmbare Übertreibung, die zu einer Idylle im Ungeheuren geraten. Vor Heidegger hatte
zur Überwindung der damit angedeuteten Verlegenheit nicht nur Os wald Spengler einige vorläufige, doch nicht unbedeu-
viel beiträgt. tende Skizzen zu einer Kritik des rationalistischen Weltzu-
Aus den asymmetrischen Zerfallsprodukten ergaben sich griffs mittels einer allgemeinen Wachheitslehre vorgetragen-
die tiefreichenden Differenzen zwischen den Rationalitäts- diese aber nicht weiterverfolgt, sondern in eine spekulative
kulturen bzw. den »Ethiken« des Okzidents und des psychologie der Hochkulturen übersetzt und damit philoso-
Orients. Während sich auf dem westlichen Pfad, um sum-
82 Über die Suspension der Liaison von Denken und Wachen in der
marisch zu reden, ein Denken ohne Wachen durchsetzte, Anästhesiepraxis des 19. und 20. Jahrhunderts siehe unten Kapi-
das sich dem Ideal der Wissenschaft verpflichtete, kam auf tel 11, S. 60of.

1
274 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 3 Schlaflos in Ephesos 275

phisch neutralisiert. Überdies entstellte er seine subtilen Hin- angenommen und mit seinem Werk bewiesen hat, wie Wa-
weise auf die Angst-Verfassung des wachen Daseins - die chen und Denken in einem zeitgenössischen existentiell-in-
zehn Jahre später in Heideggers Antrittsvorlesung Was ist tellektuellen Projekt wieder in eine überzeugende Verbin-
Metaphysik? von 1929 wieder auftauchen - durch die Grob- dung gebracht werden können. Aus dem Kreis der deutschen
heit seines pragmatistischen Glaubens an den Vorrang der Denker, die unter Heideggers Anregungen bis zu den Gren-
"Tatsachen«.83 Aufs Ganze gesehen versagt die Philosophie zen des aktuell Möglichen gingen, ist vor allem earl Friedrich
des 20. Jahrhunderts vor dem Imperativ der Wachheitskultur von Weizsäcker zu nennen. Er dürfte dem paradoxen Ideal
mehr oder weniger kläglich. Nicht ohne Grund hat sie den eines Präsokratismus auf der Höhe des zeitgenössischen Wis-
größten Teil ihrer virtuellen Klientel an die psychothera- sens am nächsten gekommen sein. Sein spätes Hauptwerk,
peutischen Subkulturen verloren, in denen neue lebbare Sti- Zeit und Wissen, möglicherweise das tiefste naturwissen-
lisierungen des Verhältnisses von Wachheit und Wissen ent- schaftlich-philosophische Buch des zu Ende gehenden 20.
standen sind, nicht selten zum Mißfallen der verbeamteten Jahrhunderts,85 wurde von der Öffentlichkeit wie der Zunft
Theoriepfleger. ignoriert, auch von denen, die von sich nicht der Meinung
Vor dem Hintergrund theosophischer Traditionsamalgame sind, sie amüsierten sich zu Tode.
aus orientalischen und platonischen Quellen hat Jiddu Krish-
namurti, 1895-1986, die radikalste im 20. Jahrhundert zu hö-
rende Wachheitslehre entwickelt. Indem er sich von seinen
frühen Indoktrinationen distanzierte, verkündete er die The-
se, es sei jederzeit möglich, von einem Augenblick zum an-
deren aus den Konstrukten der Verstandeswelt auszusteigen
und alle Vorstellungen in der »Flamme der Aufmerksamkeit«
zu verbrennen. Krishnamurti weigerte sich aus nicht ganz
durchsichtigen Gründen, den Zusammenhang zwischen der
Fähigkeit zur konstanten Wachheit im Augenblick und der
übenden Arbeit an sich selbst bzw. der kathartischen Klärung
der Psyche näher zu untersuchen und die möglichen Er-
gebnisse solcher Studien in seine Lehre zu integrieren, ob-
schon seine eigene Klärungsgeschichte zu den dramatischsten
und am besten belegten Dokumenten in der Historie der
spirituellen Übungen zählt. 84
Nach Heidegger war es vor allem Foucault, der die Wette

83 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. 0.) S. 557-


579·
84 Vgl. Pupul Jayakar, Krishnamurti - Leben und Lehre, Freiburg
199 2 . 85 München/Wien 199 2 .
4 Habitus und Trägheit 277

Anwendungsfall des heraklitischen: »Der Weg hinauf und


der Weg hinab sind derselbe«, sondern ein Absturz - ich
4 HABITUS UND TRÄGHEIT habe dieses Verhältnis unter dem von Pravu Mazumdar aus
VON DEN BASISLAGERN DES ÜBENDEN LEBENS Binswangers Schriften übernommenen Stichwort »tragische
Vertikalität« behandelt. Binswanger kommentiert im übri-
gen den naheliegenden Einwand nicht, wonach es auch im
Horizontalen eine Art von Sturz gibt, nämlich wenn der
Noch einmal: Höhe und Weite- Schritt in die Weite zu einem rückkehrlosen Vorwärts gerät,
Anthropologische Proportionalität wie es der Ewige Jude und der Fliegende Holländer ver-
körpern.
Aus den voranstehenden Überlegungen zu Nietzsche, Witt- Die tragischen Asymmetrien, die der Psychiater bei den
genstein, Foucault, Heidegger und Heraklit bringen wir vertikalen Bewegungen feststellt, beziehen sich nicht auf die
eine Reihe von Beobachtungen mit über die von Binswan- Höhe als solche, weder im physischen noch moralischen
ger artikulierte »anthropologische Proportion«. Es war die- Sinn. Sie betreffen eher das unzulängliche Können des Agen-
ser von Heidegger angeregte Pionier der psychiatrischen ten, der die Höhe erklimmt, ohne fähig zu sein, sich in ihr zu
Anthropologie, der das Grundphänomen der existentiellen bewegen. Im allgemeinen sollte man annehmen, dasse~be
Gerichtetheit zu einer elementaren Raum- oder Proportio- Können, das einen Aufsteigenden hinaufgelangen läßt, bnn-
nen-Ethik entfaltete - besonders in seiner weitgehend un- ge ihn auch wieder hinunter, ohne daß dabei eine Spur von
beachteten Ibsen-Studie von 1949. Darin erläutert er, wie »tragischer Vertikalität« ins Spiel käme. Nur wenn ~as
sich die menschliche Selbstverwirklichung im gewöhnlichen Nicht-Können oder das Nicht-Bedenken von Randbedlll-
Leben vor allem in der polarischen Bedeutungsrichtung von gungen des Könnens sich .ei~mischen, wie beim Ikar~s-Flug,
Enge und Weite vollzieht, während die Dramen der geisti- werden Stürze wahrschemhch. Im anderen Fall reicht das
gen und künstlerischen Selbstverwirklichung sich überwie- Können auch für den Abstieg mehr oder weniger vollkom-
gend in der Dimension Tiefe und Höhe abspielen. 86 In bei- men aus. Die Praxis der Luftfahrt belegt das jeden Tag, die
den Fällen macht sich eine kinetische Grundtendenz des doch gewiß eine nicht-ikarische Kunstform ist, der diszipli-
Lebens bemerkbar, von der Goethe gelegentlich notierte, nierte Alpinismus ebenso. Nur beim Vordringen .ins Unge~
»wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung an ge- konnte und Ungesicherte tritt die SturzproblematIk auf - sei
wiesen«.87 Während die existentielle Beweglichkeit in der es, daß der Akteur auf eigene Gefahr etwas unternimmt,
Horizontalen durch relative Symmetrie von Hinweg und wozu er die Technik nicht besitzt, sei es, daß er Neues ver-
Rückweg beherrscht wird, tritt bei der Vertikalbeweglich- sucht, was aufgrund seiner U nerprobtheit nicht gek~nnt
keit oft eine Asymmetrie auf, dann nämlich, wenn der Ab- werden kann. Ich verzichte hier auf die Ausführung dieser
stieg keine bloße Spiegelung des Aufstiegs ist, also kein Beobachtungen hinsichtlich der Situation des Künstlers, des
Verbrechers, des Diktators und des Merchant Adventurer.
86 Ludwig Binswanger, Henrik Ibsen und das Problem der Selbst- Sie alle befinden sich in einer Lage, die ohne .~en inhäre~ten
realisation in der Kunst, a. a. 0., S. 48. Zug zum Scheitern nicht zu denken ist - freilich auch mcht
87 Ibid., S. 50.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit 279
ohne die Chance zum Lernen in der Situation. In bezug auf schen!88 Darauf hat Zarathustra keine Antwort. Er unterteilt
sie darf man an das Oliver Cromwell zugeschriebene Wort die Menschen von da an in Publikum und Freunde. Zum
erinnern, nie steige ein Mann höher, als wenn er nicht weiß, Publikum gehört, wer fähig wäre zu fragen: Und was habe
wohin er geht. ich davon, wenn ich über mich hinausgehe?
Nietzsches Rede über den Letzten Menschen liefert die
erste Fassung des Basislager-Problems. Es tritt auf, sobald
1m Basislager: Die Letzten Menschen es möglich wurde, programmatisch zu behaupten, Basislager
und Gipfel seien dasselbe - genauer gesagt, wenn allen Ern-
Aus Binswangers Ausführungen zur »anthropologischen stes die Meinung geäußert werden kann, der Aufenthalt im
Proportionalität« leite ich den Hinweis auf das von mir so Basislager und dessen Prolongation mache jede Art von Gip-
genannte »Basislager-Problem« ab. Als dessen Entdecker felexpedition überflüssig. Wie solche Auslegungen des Da-
kann - unvermeidlich - wieder Nietzsche gelten. Es taucht seins auf dem Hochplateau des Mount Improbable seit dem
in dem Moment auf, in dem Zarathustra, der Prophet des 19. Jahrhundert plausibel werden - im Darwinismus wie im
nicht mehr platonisch zu konzipierenden menschlichen Auf- Marxismus -, habe ich schon indirekt erläutert: Sie folgen aus
stiegs über sich selbst hinaus, gleich zu Beginn seiner Mission den Standarddeutungen der Evolutionstheorie, nach welchen
auf die Tatsache stößt, daß die große Mehrheit der Menschen der Mensch im status qua die Endstation des Werdens ver-
nicht daran denkt, mehr werden zu wollen, als sie sind. Er- körpert - zu regeln bleibt nur noch die Umverteilung von
mittelt man die Durchschnittsrichtung ihrer Wünsche, ergibt Endstationserrungenschaften. Dafür plädieren die entspre-
sich der Befund: Sie wollen, was sie haben, nur komfortabler. chenden sozialpolitischen Programme. Das ganze 20. Jahr-
Auf diesem Stand der Wunschkultur setzt Zarathustras Rede hundert wird durch ideologisch verschieden begründete
vom Letzten Menschen zur Attacke auf das Publikum an. Gleichsetzungen von Basislager und Gipfel markiert - von
Sein impovisierter zweiter Gesang - der erste hatte den Über- den frühen Proklamationen des Designs für den verwandel-
menschen verkündet - soll das verächtlichste Geschöpf unter ten Alltag bis zum totalen Nebeneinander der Lebensformen
der Sonne beschreiben, den Menschen ohne Sehnsucht, den im Postmodernismus. In sinnverwandtem Geist hat die Ana-
finalen Spießer, der das Glück erfunden hat und beim Son- lytische Philosophie die normale Sprache zur letzten Sprache
nenbad am Pool den vorbeigehenden Frauen nachschaut - erklärt, und der Liberalismus das Amalgam aus Konsum und
aus welchem anderen Grund blinzelte er sonst? Allerdings Versicherung zum letzten Horizont. Mag sein, daß der Öko-
verrechnet sich Zarathustra bei seiner Ansprache - man logismus, der dabei ist, zum aktuellen Leitdiskurs zu werden,
könnte sie übrigens das erste virtuelle Pop-Ereignis der Phi- die Fortschreibung dieser Tendenz ins 21. Jahrhundert ver-
losophiegeschichte nennen. Beim Versuch, zum Stolz der körpert, indem er die Ökosysteme und die Arten als letzte
Hörer zu sprechen, gelangt er zu der Feststellung: Sie haben Naturen ausruft und dadurch die Unantastbarkeit ihres zur
keinen mehr und sind nicht daran interessiert, ihn wiederzu- . h ten Zustan ds statUIert.
Zeit errelC . 89
erlangen. Deswegen das begeisterte Echo aus dem Publikum,
das nach Zarathustras mißlungener provokationstherapeu-
88 Prolog 5·
tischer Intervention lautet: Gib uns diesen Letzten Men- 89 Vgl. Slavoj Zizek, Unbehagen in der Natur. Warum unser Realitäts-
280 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, könnte man folglich sich mit dem Hinweis auf die Wünschbarkeit der »anthropo-
sagen, im besonderen unter ihren sozialphilosophischen Aus- logischen Proportionalität«. Da er einerseits mit dem späten
prägungen, bietet aus den angedeuteten Gründen nichts Heidegger sympathisierte, andererseits als aktives Mitglied
anderes als eine Serie von Stellungnahmen zum Basislager- der psychiatrischen Bergrettung die >>Verstiegenen« zurück-
Problem. Auch die zitierten Autoren haben ihr Votum hierzu zuholen versuchte, darf man ihn wohl zu den Außenposten
abgegeben - zumeist in der Form eines Sowohl-als-auch unter des Basislagers rechnen, die von Berufs wegen noch Verständ-
Betonung der basalen Seite. Von den Genannten ist Nietzsehe nis für die Dynamik der Vertikalität aufbrachten.
der einzige, der ein bedingungsloses Bekenntnis zum Primat
der Vertikalen ablegte. Für ihn besteht die Rechtfertigung des
Basislagers ausschließlich darin, den Ausgangspunkt für Ex- Bourdieu, Denker des Letzten Lagers
peditionen zu immer höheren und unbekannteren Gipfeln zu
bilden. Ihm kommen der frühe wie der späte Foucault am Unter den Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
nächsten, ebenso der heroistisch gestimmte frühe Heidegger, ragt Pierre Bourdieu durch den problematischen Vorzug her-
der noch nicht verstanden hatte, daß die nationale Revolution, aus, daß bei ihm die Abwendung vom jedem Gedanken an
mit der er ins deutsche Schicksal »aufbrechen« wollte, nichts Gipfelexpeditionen dogmatische Ausmaße annahm. Er ist,
anderes war als ein wildgewordenes Basislager. Auch beim um es zugespitzt auszudrücken, der Soziologe des definitiven
Wittgenstein der Tractatus- Periode, als der Autor die bekann- Basislagers - und fungierte sogar für eine Weile als sein in-
te Wegwerf-Leiter benutzte, tauchen Spuren der Hoffnung tellektueller Präfekt, hierin Jürgen Habermas vergleichbar,
auf, das horizontale Universum der Sachverhalte sei durch dessen Publikationen zur Theorie des kommunikativen Han-
eine vertikale Handlung zum ethischen Gipfel übersteigbar. delns ebenfalls wie Merkblätter zum Endausbau von Basis-
Beim späteren Wittgenstein hingegen, beim mittleren Fou- lagern in ebenen Gegenden gelesen werden können. Bour-
cault und beim späten Heidegger ist das Einschwenken in dieus Eintritt in die intellektuelle Szene Frankreichs hatte
die Horizontale kaum zu verkennen. Sie vollziehen, jeder sich in den frühen sechziger Jahren vollzogen, als das theo-
auf seine Weise und aus sehr verschiedenen Gründen, eine retische »Feld« - um eines seiner bevorzugten Konzepte
Art von resignatio ad mediocritatem. Das Spielen der Sprach- aufzugreifen - nahezu restlos von marxistisch codierten For-
spiele, das nochmalige Durchgehen der Diskurse früherer men der Gesellschaftskritik okkupiert war. Als vorüberge-
Machtspiele und das spätpietistische Warten auf ein neues Zei- hender Assistent Raymond Arons und als Leser Max Webers,
chen des Seins - das alles sind Attitüden in einem Lager, von Emile Durkheims und Alfred Schütz' konnten ihm die Un-
dem aus es offensichtlich nicht mehr weitergeht, mögen auch zulänglichkeiten der marxistischen Ansätze nicht verborgen
die Autoren Reste von Aufstiegsaspirationen bewahrt haben. bleiben, insbesondere in deren fatalen Fortschreibungen
Was Binswanger anbelangt, so entwickelt er in der kritischen durch Lenin und Stalin. Wollte er sich im Erfolgsfeld der
Frage, scheint mir, keine eigene Meinung, sondern begnügt französischen Kritikkultur einen Platz erobern, mußte er
die unglaubwürdigen Sprachspiele der Verelendungs- und
glaube uns blind macht für die Umweltkrise, in: Lettre Internatio- Ausbeutungskritik beiseite lassen und deren verlorene Of-
nal Nr. 78, 2007. fensivkraft durch eine Zusatzanstrengung auf dem Gebiet
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

der Herrschaftskritik kompensieren. Dies ließ sich nur errei- ehen nur mittels einer alternativen Auslegung von Wirklich-
chen durch den Übergang von einer Theorie direkter Herr- keit als »Praxis« erreichen. Es galt demnach, bei der Defini-
schaft zu einer Logik der Herrschaft ohne Herrscher. Es wa- tion der »Praxis« neu anzusetzen und zu zeigen, daß diese
ren jetzt anonyme und präpersonale Agenturen, die den Rang nach anderen Gesetzen funktioniere, als sie im ökonomisch
eines repressiven Souveräns erhielten. Aus dieser Konstella- beschränkten Standardmarxismus beschrieben wurden. Prak-
tion ergaben sich sämtliche Wendungen und Innovationen, tikabel wurde dies nur durch die Tieferlegung der Basis, und
die für die Bourdieusche Variante von »kritischer Theorie« wer an dieser Stelle tiefer gehen wollte, mußte von der Ebene
charakteristisch sind - und »kritische Theorie« ist, wie deut- der Produktionsprozesse auf die der psychophysischen Rea-
sche Leser wissen, ein Pseudonym für einen vom Glauben an litäten herabsteigen. Der Zeitgeist tat das Seine, um dieses
die Möglichkeit der Revolution verlassenen Marxismus. In Vorhaben zu unterstützen: Aus theoriegeschichtlicher Sicht
dieser Konjunktur wird die Theorie selbst - zusammen mit beginnt die Konjunktur des »Körpers« in den sechziger Jah-
einer immer subversiver sich gerierenden Kunst - zum ren des 20. Jahrhunderts, als der Spätmarxismus begriff, wie
Revolutionsersatz. sehr sein Überleben vom Nachweis einer Ersatz-Basis ab-
Das starke Merkmal des Marxschen Denkens bestand in hing. In Deutschland vollzog sich die Wende überwiegend
der Einführung einer anti -idealistischen Wirklichkeitshierar- in Form von Studien zum deformierten »subjektiven Fak-
chie. Dieser zufolge besitzt die Basis, als politisch-ökonomi- tor«, in Frankreich setzte sich eine Art von ethnologischer
sche »Praxis« aufgefaßt, mehr Wirklichkeitsgehalt - mehr Feldforschung über die Inkorporierung der Klassenmentali-
Macht zur Zeitigung von Wirkungen und Nebenwirkungen täten durch. Tatsächlich war Bourdieu seit seinen 1958 be-
- als alle übrigen »Sphären«, weswegen sich diese mit der gonnenen Untersuchungen in den nordalgerischen Bauern-
Rolle eines von der Basis bestimmten »Überbaus« zufrie- gesellschaften der Kabylei auf den tiefgehenden Unterschied
denzugeben hatten. Da diese Versetzung in die Zweitrangig- zwischen einer Ökonomie der Ehre und einer Ökonomie des
keit den Staat, das Rechtssystem, das Schulwesen und alle Tauschs aufmerksam geworden und gewann hierdurch die
übrigen Artikulationen der »Kultur« betraf, erzeugte die Anregung, nach einer neuen Antwort auf die »Basis«-Frage
politische Ontologie des Basalen einen tiefen Einschnitt in zu suchen.
die tradierte Ökologie des Geistes. Die konsequenteste Ver- An dieser Stelle kommt Bourdieus wichtigste begriffliche
wirklichung des Ansatzes war im Stalinismus zu beobachten, Innovation, das Habitus-Konzept, ins Spiel. Es stellt ohne
dessen modus operandi auf die einfache Formel zu bringen Zweifel eines der fruchtbarsten Instrumente der zeitgenössi-
wäre: >>Vernichtung des Überbaus durch seine Kurzschlie- schen Soziologie dar, obschon es, wie ich zeigen werde, in
ßung mit der Basis«. Bourdieus Handhabung nur stark verkürzt zum Einsatz
kommt. Die größte Tugend des Habitus-Begriffs zeigt sich
darin, daß mit seiner Hilfe die beiden innerhalb des konven-
Habitus: Die Klasse in mir tionellen Marxismus unlösbaren Rätsel zu einer prima vista
befriedigenden Antwort finden: zum einen, wie sich die so-
Wer nach 1945 eine »kritische Theorie« begründen wollte, genannte Basis im sogenannten Überbau widerspiegeln kön-
konnte dies mit Blick auf die unter Stalin vollendeten Tatsa- ne; zum anderen wie die »Gesellschaft« in die Individuen
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

eindringt und sich in ihnen präsent hält. Die Lösung lautet: freigelassene Sklave, auf semen Gastmählern unvornehm
Aufgrund von klassenspezifischen psychosomatischen Dres- protzt, erkennen die Angehörigen der alten Elite in ihm
suren nistet sich das Soziale in den Einzelnen als erzeugt- den typischen Sklaven. Wenn hingegen Bourdieu vom Enkel
erzeugende Disposition ein, um in diesen ein zwar erfah- eines armen mitayer und Sohn eines Postangestellten aus
rungsoffenes und lebensgeschichtlich bewegtes, im letzten dem Bearn zum Meisterdenker und Herrn des akademischen
Grunde aber unauslöschlich durch die Vergangenheit gepräg- soziologischen »Feldes« in Frankreich aufsteigt, so hilft ihm
tes Eigenleben zu entfalten. der Gedanke an den unauslöschlichen Habitus seiner Klasse
Sofort springt die Analogie zwischen Habitus und Sprache den Verdacht beschwichtigen, er habe durch seine Karriere
ins Auge, da auch sie auf ihre Weise eine in den Sprechern seine Herkunft verraten. Unter diesem Gesichtspunkt be-
sedimentierte strukturierend-strukturierte soziale Wirklich- trachtet, bietet die Habitustheorie den unschätzbaren Vor-
keit bildet. Der strukturalistische Zeitgeist der sechziger Jah- zug, der moralischen Beruhigung ihres Urhebers zu dienen:
re mochte dafür gesorgt haben, daß Bourdieu sich vorüber- Selbst wenn ich die eigene Klasse verraten wollte - ich könnte
gehend mit dem Werk Ferdinand de Saussures befaßte, in es nicht, weil ihre Einverleibung in meinen alten Adam die
dem der bezeichnete Sachverhalt unter dem Begriff langue Grundlage meines sozialen Seins bildet. Davon abgesehen
thematisiert wurde. De facta hat sich Bourdieu auf eine Ana- hilft die Theorie ihren Benutzern in der akademischen Welt
logie zwischen seinem Habitus-Konzept und Chomskys Idee wie auf den offenen intellektuellen Märkten, den kritischen
der Grammatik berufen, sofern man diese als System kon- Schein zu wahren, indem sie ihnen ein Mittel an die Hand
ditionierter Spontaneitäten versteht, die auf physisch veran- gibt, die vielfältigen Vertikaldifferenzierungen der »Gesell-
kerten Tiefenstrukturen beruhen. Die Möglichkeit des Ver- schaft« auf die simple Matrix von Herrschaftsprivilegien ab-
gleichs ergibt sich auf der einen Seite aus klassenbedingten zubilden, seien es Männervorrechte, seien es Kapitaleigner-
Verhaltensdispositionen, auf der anderen aus grammatikbe- vorrechte, materielle wie symbolische.
dingten Konditionierungen der Rede. Der Habitus ist quasi Der Preis, den Bourdieu für die Einsenkung der Basisdi-
die Erstsprache der an mir vorgenommenen Klassendressur, mension in die psychophysischen Strukturen der Einzelnen
und soviel die Einzelnen sich im Lauf ihres Lebens auch um zu entrichten hat, ist sehr viel höher, als ihm selber bewußt
neue Inhalte und Kompetenzen bemühen, sie bleiben in wurde. Zum einen gibt er, wie eben angedeutet, mit diesem
Bourdieus Augen muttersprachlich geprägt, und, weil ge- Habitus-Konzept die besseren Mittel preis, um das Spiel der
prägt, auch weiter prägend. Vertikalspannungen in den zahllosen disziplinischen Feldern
des sozialen Raums in ausreichender Sachnähe zu beschrei-
ben. De facta ist Bourdieus schriftstellerische Arbeit originell
Basis und Physis oder: Wo steckt die Gesellschaft? und fruchtbar, beispielsweise in der Analyse der Distinkti-
onskämpfe um »die feinen Unterschiede« und in der Ethno-
Der Habitus ist demnach das somatisierte Klassenbewußt- graphie des Homo academicus, nicht primär durc~ die -!'-n-
sein. Er haftet uns an wie ein nie verschwindender Dialekt, wendung des Habituskonzepts, sondern dank der llltenslven
den selbst Henry Higgins Fräulein Doolitte nicht würde aus- außenseiterischen Aufmerksamkeit des Autors für rivalitäts-
treiben können. Wenn Trimalchio, der zu Reichtum gelangte erzeugte Rankingmechanismen, bei denen die Klassenprä-
286 I Die Eroberun g des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

gungen zwar eine Rolle spielen, aber nicht den Ausschlag Agenten, die unter der Nötigung stehen, ihre Programme in
geben. Wo Bourdieu am besten ist, schreibt er eine Satire den Spielräumen des Feldes zu realisieren.
ohne Lachen über Neureiche und Ambitionierte; wo er am Wer Vorschläge dieser Art für akzeptabel hält, kann es
tiefsten denkt, rührt er an den tragischen Rest der conditio zuletzt auch plausibel finden, wenn in La distinction, Bour-
humana. dieus erfolgreichstem Buch, nachgewiesen werden soll, der
Eine weitere Schwäche des so gelesenen Habitus-Kon- Vollzug von ästhetischen oder kulinarischen Geschmacksur-
zepts zeigt sich darin, daß es die individualisierten Formen teilen stelle ein Reproduktionsmedium von »Herrschaft« dar.
existentieller Selbst-Entwürfe nicht erfassen kann. Die Bour- Unter Soziologen dürfte sich herumgesprochen haben, daß
dieusche Analyse verbleibt notwendigerweise im Typischen, man in diesen Dingen mit einer eher horizontal als vertikal
Präpersonalen und Durchschnittlichen, als ob der homo 50- differenzierenden Milieu-Theorie, in Kombination mit ei-
ciologicus in allem das letzte Wort behalten sollte. In gewisser nem Instrument zur Beobachtung mimetischer Mechanis-
Weise parodiert Bourdieu die Man-Analyse aus Heideggers men, zu wesentlich präziseren Aussagen gelangt als mit einer
Sein und Zeit unter Umkehrung der Vorzeichen. Während für Theorie anonymer Herrschaft. Was das Basis-Überbau-Sche-
Heidegger das menschliche Dasein »zunächst und zumeist« ma als solches angeht, ist es zu oft widerlegt worden, um
an die Anonymität des Man verfallen ist und erst durch einen weitere Kommentare zu verdienen. Ich füge hinzu, es würde
Akt der Entschlossenheit in die Eigentlichkeit gelangt, liegt nur geringen Aufwand kosten, zu zeigen, daß das Hinzu-
für Bourdieu die Eigentlichkeit des Daseins im Habitus, über kommende oft ebenso wirklichkeitsmächtig ist wie das, zu
dem sich ein mehr oder weniger zufälliger Überbau an Am- dem es hinzukommt, gelegentlich mächtiger. Wäre es anders,
bitionen, Kompetenzen und Distinktionsattributen ansam- wären Menschen nur dem Anschein nach veränderbare und
melt. Diese Umkehrung der Man-Analyse ergibt sich fast lernende Wesen.
zwangsläufig aus der Zustimmung zur politischen Ontologie
des Praxisdenkens, der zufolge die Basis wirklicher ist als das,
was überbaulich hinzukommt. Folglich wäre der Mensch im- Vom Genius der Gew ohnheit. Aristoteles und Thomas
mer dort am meisten er selbst, wo seine Prägung durch den
Habitus ihm zuvorgekommen ist - als ob das Echteste an uns Die entscheidende Schwäche des Habitus-Konzepts in Bour-
die einverleibte Klasse wäre. Was an uns nicht wir selbst sind, dieus Redaktion besteht aber darin, daß es das, was es zu
sind wir selbst am meisten. Die Habitus-Theorie liefert eine erklären vorgibt, die Region »Gewohnheit«, in keiner Weise
klandestine Kreuzung aus Heidegger und Lukics, indem sie angemessen abbildet. Die große Tradition des philosophi-
von jenem die Idee eines im Man zerstreuten Selbst, von schen und psycho-physiologischen Nachdenkens über die
diesem das Konzept des KIassenbewußtseins übernimmt. Rolle der Gewohnheiten bei der Formung menschlicher Exi-
Sie baut die beiden Figuren so zusammen, daß die vorbewuß- stenz schrumpft bei diesem Autor auf einen für die Zwecke
te Klasse »an sich« in uns zum eigentlichen Selbst wird. Dazu der Herrschaftskritik verwendbaren Rest zusammen. Statt in
paßt die von Bourdieu vorgenommene Zerlegung des sozia- das Panorama der effektiven Subjektbildungen durch Übung,
len Raums in diverse» Felder« - in diesen können naturgemäß Training und Gewöhnung einzutreten, begnügt sich die
keine »Personen« auftreten, sondern nur habitus-gesteuerte Habitus-Theorie a la Bourdieu mit dem engen Segment der
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

Gewohnheiten, die die Sedimente der »Klasse in uns« ausma- Vom klassischen habitus-Konzept übernahm er jedoch ein-
chen - sie betrügt ihre Benutzer um die Fülle dessen, worauf seitig nur die Elemente, die sich seiner Version der »Basis«
ihr Name hinweist. Natürlich war sich Bourdieu, der den einfügen ließen, die, wie gesagt, das vorbewußte Wirken der
Ausdruck aus Erwin Panofskys Studie Gotische Architektur »Klasse in uns « bedeutet.
und Scholastik, 1951, übernommen hatte, über seine philoso- Aristoteles wie Thomas von Aquin war es hingegen um die
phische Vorgeschichte summarisch im klaren.9o Er wußte, Erklärung der Möglichkeit des »Tüchtigen in uns « gegangen,
daß der habitus-Begriff bei Thomas von Aquin und der he- wenn nicht sogar des >, Guten in uns«. Sie begriffen die Ge-
xis-Begriff bei Aristoteies einen guten Teil der Last einer wohnheit, sofern sie gute Gewohnheit ist, als eine verkörper-
Ethikbegründung im Rahmen einer aretologischen Anthro- te Disposition, die den Handelnden zu tugendhaften Hand-
pologie (das heißt einer Theorie, die den Menschen als das zu lungen bereitmacht - gewiß auch, bei schlechten Gewohn-
Tugenden fähige Lebewesen portraitiert) zu tragen hatten, heiten, zu schlechten Taten, doch diese stehen nicht im Focus
jedoch ignorierte er bewußt die weite Fassung der habitus- ihrer Untersuchung. D ie hexis bzw. der habitus haben für die
Doktrin, um sich allein auf die für seine Zwecke brauchbaren Klassiker der praktischen Philosophie ständig Bereitschafts-
Aspekte zu beschränken. dienst: Sie sollen bei eintretender Gelegenheit aufspringen,
Schon bei den älteren Autoren findet man die gut entwik- um das an sich Gute und Wertvolle auszuführen, als sei es
kelte Figur des Habitus als eines elastischen Mechanismus das Leichteste von der Welt. Indessen kann es leicht nur er-
von zweiseitiger, passiv-spontaner Qualität. Die »Macht der scheinen, wenn und weil eine anhaltende Übung die Unwahr-
Gewohnheit« wird bei den Alten nicht bloß als Überwältigt- scheinlichkeit des Guten im voraus weggearbeitet hat. Als
sein durch Routinen verstanden, sondern als präpersonal ver- Erläuterungen für den anspruchsvollen Sachverhalt, daß
ankertes generatives Prinzip des Handelns. Wenn die Schola- Menschen, sofern sie moralisch und ästhetisch agieren, immer
stiker vom habitus reden, meinen sie eine janusköpfige Dis- schon durch habendes Gehabtsein, prägendes Geprägtsein,
position, die mit dem einen Gesicht auf die Serie der disponierendes Disponiertsein, handelndes Gehandelthaben
vergangenen ähnlichen Handlungen zurückschaut, in der bestimmt sind, bilden hexis und habitus alles andere als bloße
sie Gestalt angenommen hat, während sie mit dem anderen Hilfsbegriffe einer kritischen Soziologie. Sie sind anthropo-
auf die nächsten Anlässe vorausblickt, in denen sie sich von logische Konzepte, die einen scheinbar mechanischen Prozeß
neuem bewähren soll. Der habitus bildet somit eine aus frü- unter den Aspekten der Beharrung wie der Steigerung be-
heren Akten geformte »Potenz«, die sich in erneuten Akten schreiben, um die Inkarnation des Geistigen zu erläutern.
»aktualisiert«. Ein solches Konzept konnte Bourdieu natur- Sie identifizieren den Menschen als das Tier, das kann, was
gemäß sehr gut gebrauchen, weil er als Soziologe nach Be- es soll, wenn man sich rechtzeitig um sein Können geküm-
griffen Ausschau hielt, die das menschliche Verhalten in eine mert hat. Zugleich sehen sie die erreichten Dispositionen zu
plausible Mitte zwischen übermäßiger sozialer Determina- neuen Steigerungen weiterwachsen.91 Dazu braucht Thomas
tion und bodenloser individueller Spontaneität plazieren. keine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen-

90 Erwin Panofsky, Gotische Architektur und Scholastik: Zur Ana-


logie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln 9 1 Die Bedeutung der Gewohnheit als Ausgangspunkt für immer
19 89. neue Verschiebungen innerhalb des Systems unserer konstituierten
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit

geschlechts zu schreiben - begriffliche Klärungen über die Auch wenn wir heute über »das Gute« so nicht mehr denken
Anleitung des Könnens zur Bereitschaft für das Gute reichen können, bleibt die klassische Analyse des habitus aktuell; sie
völlig aus. ist mutatis mutandis leicht in die Sprache der zeitgenös-
Tatsächlich ist es möglich, schon die klassische hahitus- sischen Trainingspsychologie, der Neurokybernetik und der
Lehre als Trainingstheorie zu lesen. Wer richtig geübt hat, Pragmatik übersetzbar. Mit ihrer Hilfe lassen sich die psy-
überwindet die Unwahrscheinlichkeit des Guten und läßt chophysischen Bedingungen der Möglichkeit von richtigem,
die Tugend wie eine zweite Natur erscheinen. Zweite Naturen angemessenem und gekonntem Handeln auf hohem Niveau
sind Könnensdispositionen, dank deren sich der Mensch als gegenstandsnah erläutern. Sie soll gewiß nicht, wie die kryp-
Artist der virtus auf der Höhe zu halten vermag. Er tut das fast ta-marxistische Deutung der »Basis« es möchte, erklären, wie
Unmögliche, das Beste, als sei es das Leichte, Spontane, Na- das Soziale in den Körper kommt. Sie sagt vielmehr, wie die
türliche, das sich nahezu von selbst einstellt. Das Gute, nota Disposition zum Vollbringen des Guten, Richtigen und An-
bene, wird hier noch nicht als »Sollen«, erst recht nicht als gemessenen dem menschlichen Dasein einverleibt werden
»Wert« verstanden, der von meiner Setzung und Schätzung kann. Ich füge hinzu: »Gut«, »richtig« und »angemessen«
abhinge. Es ist das von Gott gespannte Seil, über das die Ar- sind Namen für das Außerordentliche, in dessen Natur es
tisten der Überwindung gehen - und Überwindung heißt liegt, im Gewand des Normalen zu erscheinen.
stets: das Wunderbare als das Mühelose ausgeben. 92 Darum Die ältere habitus-Theorie ist also Teil einer Lehre von der
gab Jean Genet in seinen kryptokatholisch inspirierten Rat- Inkorporation und In-Formation der Tugenden. Sie ist an ge-
schlägen für den Seiltänzer diesem die Empfehlung mit: sich wandte Aretologie, ausgeführt in Form einer tiefen Analyse
immer bewußt zu halten, daß er dem Seil alles verdankt. 93 der in den tätigen Menschen wirkenden Kraft, die zum Akt
strebt. Eine »informierte Energie« dieser Art trägt ihr selbst-
Vermögen wird besonders von dem französ ischen Philosophen verstärkendes Prinzip in sich. Ihrer Optimierung ist von
Felix Ravaisson hervorgekehrt. Vgl. F. R., Die Gesetze der Ge- außen keine Grenze gesetzt. Selbst den Heiligen, sagt Prosper
wöhnung, in: Im Netz der Gewohnheit. Ein philosophisches Lese- von Aquitanien, »bleibt immer noch etwas, worin sie wach-
buch. Herausgegeben von Michael Hampe und Jan-Ivar Linden, sen können sollen« (superest qua crescere passim). Wer die
Hamburg 1993, S. 135f.
habitus-Theorie in ihrem bei Thomas erreichten Stand auf-
92 Genau das wird von der modernen Sollensethik abgelehnt. Wie
entschieden Kant in seiner Ethik von der Sorge ums Können auf das greift, hat mehr als die Hälfte des Weges zu einer Deutung des
reine Sollen umstellte, zeigt unter anderem seine Verwerfung der Menschseins als einer Artistik des Guten zurückgelegt. Mit
Idee eines bei der Ausübung der Pflicht mithelfenden Habitus. ihr ist uns ein anthropologisches Konzept für die Wirk-
Denn da wäre die Tugend "bloß Mechanism der Kraftanwendung;
samkeit innerer Technologien zuhanden, das die jedem Kön-
. . . Tugend (hingegen) ist die moralische Stärke in Befolgung seiner
Pflicht, die niemals zu Gewohnheit werden, sondern immer ganz nensbereich inhärente Vertikalspannung subtil auf den Be-
neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll. « griff bringt. Sie erläutert, wie es möglich ist, daß gerade das,
Immanuel Kant,Werke XII, Frankfurt am Main 1977, S. 436. Wenn was schon recht gut gelingt, den Sog des Besseren verspürt,
der Mensch allein durch die Pflicht gerettet wird, fallen Hilfen
und warum das vorzüglich Gekonnte im Attraktionsfeld
seitens der Disposition und der Neigung beiseite.
93 Jean Genet, Der Seiltänzer, a. a. 0., "Nicht du wirst tanzen, son- eines noch höheren Könnens steht. Die authentische Form
dern das Seil. « der habitus-Theorie beschreibt den Menschen in aller Dis-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit 293

kretion als Akrobaten der virtus - man könnte auch sagen: als voll ist, wie hierdurch Distinktionsgewinne in der Kritiksze-
Träger einer moralischen Kompetenz, die in soziale und ne zu erzielen sind. Daher die Erfolge Bourdieus in dem von
künstlerische Leistungskraft übergeht. Das ist die weit geöff- den »Konformisten des Andersseins « bevölkerten Milieu. 95
nete Tür, durch welche die Denker der Renaissance bloß zu Wir haben die Basis gefunden, sagen die Lager-Bewohner und
gehen brauchten, um die Heiligen in die Virtuosen zu ver- blinzeln.
wandeln. Es dürfte sich auch hier erübrigen zu betonen, daß diese
Einwände nicht als destruktive Kritik mißverstanden werden
dürfen. Bourdieus direkte und indirekte Beiträge zum Ver-
Homo bourdivinus: ständnis des menschlichen Übungsverhaltens sind in man-
Der andere Letzte Mensch cher Hinsicht ebenso wertvoll wie Wittgensteins Sprach-
spiel-Theorie und Foucaults Diskursanalysen - aber wie jene
An diesem Standard der Analyse gemessen, erscheint die Entwürfe bedarf auch die Habitus-Theorie in der bei Bour-
Bourdieusche Aneignung des Habitus- Begriffs wie eine mut- dieu gefundenen Ausbildung einer Drehung, die ihr Anre-
willige Verarmung. Sie ähnelt einer Regression in einen un- gungspotential für eine allgemeine Theorie der Anthropo-
freiwilligen Vorsokratismus, in dem die Auseinanderlegung technik freisetzt. Es genügt hierzu, den Habitus-Begriff zu
der Besessenheiten in be zähmbare Leidenschaften und form- entzerren, ihn von der Fixierung auf Klassenphänomene zu
bare Gewohnheiten 94 noch nicht vollzogen ist. Der homo lösen und ihm den Bedeutungsreichtum zurückzugeben, den
bourdivinus gleicht einem von der Klasse Besessenen, der er in der aristotelischen und später in der empiristischen Tra-
auf dem Hexenbesen des Habitus habend-gehabt im Kreis dition besaß. Zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entfaltet er
reitet. Er ist der Mensch, der im Basislager agiert, als läge dort sich jedoch erst, wenn man ihn mit Nietzsches Programm
das Ziel der Expedition. Für ihn ist die Reise nach oben been- verknüpft, die Askesen zu »positivieren« - so hat man wohl
det, bevor sie begonnen hat. Man hat diesem jüngsten Bruder den von Nietzsche gebrauchten, eher ungeeigneten Ausdruck
des Letzten Menschen drastisch vor Augen gestellt, sämtliche »vernatürlichen« im heutigen Kontext wiederzugeben.
Distinktionen, die er erwerben mag, seien nie mehr als Zu- Dies verlangt, die von Bourdieu fingierte Singularität »Ha-
sätze zum Habitus, pseudovertikale Differenzierungen inner- bitus« - ein Kopf, ein Habitus - aufzulösen und die in jedem
halb der Lagerpopulation. Was Bourdieu die Klassengesell- Einzelnen akkumulierte Fülle diskreter habitueller Hand-
schaft nennt, ist ein Basislager, in dem alle Aufstiege intern lungsbereitschaften offenzulegen. So kommt die unresümier-
stattfinden, indessen Aufstiege zu externen Zielen strikt aus- bare Vielheit der elaborierbaren »Gewohnheiten« bzw. der
geschlossen sind. Da Bourdieu, wie jeder Angehörige einer trainierbaren Könnensmodule zum Vorschein, aus denen
nicht-utopischen Linken, im stillen sehr gut weiß, daß es die die realen Individuen »bestehen «. Bourdieus »Habitus« ist
»klassenlose Gesellschaft« aus einer Reihe starker Gründe das seit der 6. These über Feuerbach gut bekannte, nicht mehr
nicht geben kann, beschränkt sich die Kritik im Basislager als abstraktes »Wesen « zu denkende »Ensemble der gesell-
darauf, den Schein der Kritik zu wahren - was solange sinn-
95 Vgl. Norbert Bolz, Die Konformi sten des Andersseins. Ende der
94 Siehe oben S. 264f. Kritik, München 1999·
294 1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit 295

schaftlichen Verhältnisse«, das dem Individuum »inne- Menschen nicht umstandslos den Weisungen ihrer neuen
wohnt«. Freilich hatte schon Marx dieses Innewohnen nicht ethischen Direktoren zu folgen fähig sind. Wenn man unter
angemessen konzipiert, weil er den Schablonen der Herr- den ersten Philosophen-Pädagogen obsessiv über Gewohn-
schaftskritik in noch höherem Maß als Bourdieu unterlag. heiten sprach, dann also im Rahmen einer Widerstandsanaly-
Wenn sich in dem Ensemble der Disziplinen und Übungs- se: Mit ihrer Hilfe sollte verständlich werden, wie das in den
komplexe, die de facta das ausmachen, was dem Einzelnen Menschen schon Vorhandene, die hexis, der habitus, die doxa
leibhaft »innewohnt«, auch klassenspezifische Züge manife- (im 18. Jahrhundert kommt das Vorurteil hinzu), die Aufnah-
stieren, tant mieux für uns, wenn wir bei Bourdieu gelernt me des Neuen, des philosophischen Ethos, des expliziten
haben, sie zu entziffern. Diese Schicht des Einverleibten als Logos, der gereinigten Mathesis und der geklärten Methode
»Basis « zu privilegieren, ist eher eine Sorge für Ideologen. erschwert oder unmöglich macht. Die »Gewohnheit«, als
Wort wie als Sache> steht für die faktische Besessenheit der
Psyche durch einen Block von schon erworbenen und mehr
Lehrersein als Beruf" Der Angriff auf die Trägheiten oder weniger irreversibel verkörperten Eigenschaften> zu de-
nen überdies die zähe Masse der mitgeschleppten Meinungen
Bei diesem Stand der Überlegungen kann deutlich werden, gerechnet werden muß. Solange der Block unbeweglich ver-
warum und in welcher Absicht hier und in der älteren Tradi- harrt, kann die neue Belehrung nicht beginnen. Daß Beob-
tion die Rede auf Gegenstände wie Gewohnheit, hexis und achtungen dieser Art auch in der asiatischen Welt gesammelt
habitus gebracht wurde. Die Explikation des Ge-Habes, des und festgehalten wurden, zeigt die bekannte Anekdote von
Gewohnheitsmäßigen, des psychosomatisch Einverleibten dem Zen-Meister, der beim Eingießen von Tee in eine Tasse
ist, wie mit den Hinweisen auf die Ethik als Erste Theorie zum Erstaunen seines Schülers nicht haltmachte, als die Tasse
angedeutet wurde, ein Teilphänomen des Vorgangs, den ich voll war, sondern fortfuhr einzugießen: Damit sollte gezeigt
die Aufteilung der Besessenheit in die Leidenschaften und die werden, man könne einen vollen Geist nichts lehren. Das
Gewohnheiten genannt habe. Diese Wandlung vollzog sich Studium besteht dann im Nachdenken über die Frage, was
unter dem Druck der ersten Pädagogen, die naturgemäß die zu tun sei> um die Tasse zu leeren. Ob die neu gefüllt werden
entschiedensten Träger des ethisch-asketischen Angriffs auf soll oder ob die Leere, einmal erreicht, als Eigenwert gepflegt
die bestehenden psychosozialen Verhältnisse waren. wird, ist ein anderes Thema.
Was die seit zweieinhalb Jahrtausenden anhaltende Die frühen Schulen sind in der Regel Basislager, deren
Menschheitsbelästigung durch Lehrer eigentlich bedeutet, Vorstände imposante Gipfelambitionen hegen, auch wenn
ist erst zu begreifen, wenn man betrachtet, unter welchem die Gipfel schulspezifisch definiert werden. Jeder Schulbe-
Winkel die Wissenden die Noch-nicht-Wissenden angreifen. trieb entwickelt spontan eine interne Vertikalität und bildet
Nur dort, wo die Säkularisation der Psyche auf der Tages- früher oder später ein Stufensystem aus, das eine »Klassen«-
ordnung stand, bei den Einzelnen wie den Kollektiven, wur- gesellschaft sui generis ergibt - wobei man die Herkunft des
den für die Lehrenden die inneren Trägheitsverhältnisse bei Begriffs »Klasse« aus nicht-politischen Stufenbildungen noch
den zu Belehrenden thematisch. Sie sind es, die, wie man jetzt recht gut erkennt. Jedoch behält die frühe Schule bis auf wei-
zu verstehen begann, dafür verantwortlich zeichnen, daß teres eine natürliche Extravertiertheit. Sie orientiert sich an
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 4 Habitus und Trägheit 297
Aufgaben, die ihrem Betrieb transzendent sind - sei es an der me dessen garantiert, was mich besitzt. Die Identischen neh-
Qualifizierung der Schüler für Berufe und Ämter, sei es an men sich als Ready-made und treten mit sich selber in der
einer überschulischen Vollendung: Persönlichkeitsbildung, Dokumentenmappe unter das weite Dach der Werte mit
Erleuchtung, Philosophenherrschaft - oder wie die großen Bewahrungsanspruch. Sie stellen sich als Trägheitssysteme
Schüsse ins Blaue sonst heißen. Die späte Schule hingegen vor und fordern für diese die Verklärung, indem sie dem in
räumt mit den transzendenten Prätentionen auf und wehrt ihnen abgesetzten Inerten den höchsten kulturellen Wert zu-
die Vorstellung ab, es könne ein reales Außerhalb der Schule sprechen. Mochten die Stoiker der Antike ihr Leben dem
geben. Sie wird dann zu dem Basislager, in dem nur noch für Versuch gewidmet haben, durch stetiges Üben in sich die
Umzüge innerhalb des Lagers gelernt wird - genau wie es Statue aufzustellen, die in unsichtbarem Marmor ihr bestes
Bourdieus primärer Intuition entsprach, wenn er die Ambi- Selbst herausarbeitete - die Modernen finden sich als fertige
tionsspiele in der Klassengesellschaft als pseudovertikale Trägheitsplastik vor und stellen sich im Identitäten-Park auf,
Bemühungen um mehr oder weniger illusorische Distink- gleich, ob sie den ethnischen Flügel wählen oder das indivi-
tionsvorteile beschrieb. dualistische Freigelände bevorzugen.
Neben dem Habitus ist darum die Identität der Leitwert
der Basislagerkultur - und wenn zur Identität ein Trauma
Identität als das Recht auf Faulheit hinzukommt, steht der Verklärung des Wertkerns nichts
mehr im Weg. Entscheidend ist, daß der Gedanke an neue
Die Welt der Pseudovertikalität ist der Tummelplatz der Höhen verpönt sein muß - würden solche erklommen, könn-
Identitäten. Eine »Identität«, ob sie sich als persönliche oder te eine Wertminderung bei den eingelagerten Beständen ein-
als kollektive präsentiert, kann ja nur attraktiv und wertvoll treten. Wenn und weil im Basislager das bisher Erreichte als
werden, wenn Menschen sich voneinander unterscheiden solches unter Kulturschutz gestellt wird, bedeutete jedes
wollen, ohne sich hierarchisch voneinander abheben zu dür- Expeditionsprojekt in der Vertikalen einen Frevel, eine Ver-
fen. In dieser Sicht bildet der in der zeitgenässsischen Sozio- höhnung aller gerahmten Werte. Im Identitäten-Regime wer-
logie kurante Identitätsbegriff das verallgemeinerte Gegen- den sämtliche Energien devertikalisiert und der Registratur
stück zu Bourdieus Habituslehre. Mit ihm wird die Trägheit übergeben. Von dort aus geht es direkt in die permanente
von einem zu korrigierenden Mangel zu einem Wertphäno- Sammlung, in der es weder »progressive Hängung« noch evo-
men erhoben. Meine Identität besteht in dem Komplex mei- lutionäre Stufung gibt. Im Horizont des Basislagers ist jede
ner unrevidierbaren persönlichen und kulturellen Trägheiten. Identität jede andere wert. Identität liefert folglich den Super-
Während Sartre behauptete: »ich bin das, was ich habe« - »die Habitus für alle, die so sein wollen, wie sie aufgrund ihrer
Totalität meiner Besitztümer reflektiert die Totalität meines lokalen Prägungen wurden, und meinen, das sei gut so. Auf
Seins«,96 wollen die Identitätsinhaber sagen: Ich bin das, was diese Weise stellen die Identischen sicher, außer Hörweite zu
mich hat. Die Wirklichkeit meines Seins wird durch die Sum- sein, sollte unvorhergesehen wieder irgendwo der Imperativ
»Du mußt dein Leben ändern! « zu hören sein.
96 In dem Kapitel Handeln und Haben aus Das Sein und das Nichts,
Versuch einer phänomenologischen Anthropologie, Reinbek bei
Hamburg 1993, S. 1012.
5 Cur homo artista 299
licher, als daß Menschen »in Gewohnheiten verstrickt« sind.
5 CUR HOMO ARTISTA Nichts versteht sich jedoch weniger von selbst, als daß Ein-
zelne, die für ihre Kollektive nicht selten später als Pioniere in
VON DER LEICHTIGKEIT DES UNMÖGLICHEN
Fragen der Weltorientierung fungieren, in eine Sezession von
den Gewohnheiten geraten. Ebendies ist die Bewegung zum
Übergewöhnlichen hin, die sich an den antiken Geburtsstät-
Katapulte ten des Philosophierens, in Griechenland wie in Indien und
China, beobachten läßt. Von Kulturhistorikern wird dieser
Im Gang der Untersuchungen scheint ein Punkt erreicht, an Vorgang mit Phänomenen wie Urbanisierung und Arbeits -
dem es sinnvoll wird, den zurückgelegten Weg zu resümieren. teilung assoziiert - was zur Erläuterung der Sache wenig bei-
Er führt, um es pointiert zu sagen, von anekdotischen An- trägt. Was wirklich zu denken gibt, ist vielmehr die Frage, wie
näherungen an den Planeten der Übenden zur Emergenz der im Verlauf dieser Sezession der Komplex der erworbenen
Region »Gewohnheiten« - und weiter vom Auftauchen der Gewohnheiten als solcher thematisch und wie der Gedanke
Gewohnheiten zu den Aufschwüngen ins Übergewähnliche. an Übergewähnlichkeiten in einzelnen Menschen mächtig
Mit diesem Ausdruck ist nicht die durchschnittliche Unwahr- werden konnte.
scheinlichkeit von natur- und sozialgeschichtlichen Speziali- Was auch immer man hierauf antwortet: Erst in dieser
sierungen auf dem Hochplateau des Mount Improbable ge- Absetzung entdeckt sich der hochkulturelle Mensch als das
meint, sondern die überdurchschnittliche Unwahrscheinlich- gespaltene, das gespiegelte, das neben sich selbst versetzte
keit, die erreicht wird, sobald einzelne Menschen, sei es allein, Tier, das nicht bleiben kann, wie es war. Die Differenz im
sei es in der Gesellschaft Mitverschworener, beginnen, sich Menschen wird nun als Differenz zwischen Menschen
aus den Habitusgemeinschaften, denen sie zunächst und zu- scharf gemacht. Sie zertrennt die »Gesellschaften« in Klas-
meist angehören, herauszukatapultieren. Hat man die jähe sen, von denen die Theoretiker der Klassen»gesellschaft«
und unheimliche Sezession der Gesteigerten von den Bewoh- nichts wissen. Der oberen Klasse gehören die Hörer des
nern der Basislager in ihrer Schicksalhaftigkeit erfaßt, wird Imperativs an, der sie aus ihrem alten Leben katapultiert,
evident, daß Kulturtheorie sinnvollerweise nur als Beschrei- den anderen Klassen all die, die in eigener Sache hiervon nie
bung von Katapulten betrieben werden kann. etwas gehört oder gesehen haben - das sind in der Regel
Hier zeigt sich erneut die explizitmachende Bewegung, Leute, die mit der Bewunderung schnell bei der Hand sind,
von der wir wissen, daß sie den Weg der Zivilisationen zur um klarzustellen: Höhere Anstrengungen können aus-
kognitiven Selbstdarstellung antreibt und begleitet. Explika- schließlich eine Sache der Bewunderten, auf keinen Fall
tion bricht das in konfuser Erschlossenheit Vorgefundene auf der Bewunderer sein.
und fügt dem Aggregat des schon Entdeckten weitere Ent- Diese nicht-politische Klassenspaltung inauguriert die Ge-
deckungen hinzu. Dabei verschieben sich die Grenzen zwi- schichte des inneren Zeugen oder des »Beobachters«. In dem
schen dem Üblichen und dem Ungewöhnlichen - die Men- Wasser des Habitus, der Lebensformen, der Diskurse und
schen werden mehr und mehr zu Urhebern selbstvollbrachter Sprachspiele mitzuschwimmen ist eine Sache; aus ihm her-
Mirabilien. Wie jeder zugeben wird, ist nichts selbstverständ- auszusteigen und den Mitmenschen vom Rand aus beim
300 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista 3°1

Schwimmen im Habitus-Pool zuzusehen ist eine andere. So- Trägheitsmacht, sprich als Komplex der Gewohnheiten, die
bald diese Differenz eine eigene Sprache ausbildet, um Lehre sich in mir sedimentiert haben. Die Säkularisation der Psy-
und Lebensform zu werden, distanzieren die Uferbasierten che, von der im sei ben Zusammenhang die Rede war, besteht
sich von den Schwimmenden. Wenn also die alten Inder den in nichts anderem als in der Hervorbringung einer neuen
Beobachter bzw. das Zeugenbewußtsein entdecken und ihn Handhabungskunst, dank welcher aus Besessenheiten mani-
mit Atman, . dem subjektiven Weltprinzip, gleichsetzen, pulierbare Dispositionen werden. In diesem Übergang ent-
schaffen sie Zugänge zu einem Überschuß an Aufmerksam- zaubern die Zauberer sich selbst und verwandeln sich in
keit, der die Meditierenden zugleich stillsteIlt und mobi- Lehrer. Sie sind die Provokateure der Zukunft, die die Kata-
lisiert. Und wenn Heraklit sagt, es sei unmöglich, zweimal pulte für Würfe ins Übergewähnliche bauen.
in denselben Fluß zu steigen, mag dies vielleicht beiläufig auf
die irreversible Strömung des Werdens hinweisen - so hat
man das Diktum in bequemer Analogie zu »alles fließt« oft AchsenzeiteJJekt:
gelesen. In Wahrheit erinnert der dunkle Satz an eine tiefere Die Menschheit der zwei Geschwindigkeiten
Irreversibilität: daß nämlich, wer einmal aus dem Wasser ge-
stiegen ist, nicht mehr zu der ersten Art des Schwimmens Die Entdeckung der Leidenschaften wie der Gewohnheiten
zurückkehrt. bildet das psychologische Gegenstück zu dem schon länger
Mit der Emergenz des Bewußtseins von der Gewohnheits- gut bekannten Vorgang, den man unter Philosophen und
natur menschlichen Verhaltens ist die Schwelle erreicht, die, Philologen die »Entdeckung des Geistes« genannt hat. Kar!
sobald sie sichtbar wird, auch schon überschritten werden Jaspers hat diesen Komplex unter dem etwas mysteriösen
muß. Man kann die Gewohnheiten nicht entdecken, ohne Titel »Achsenzeit« zusammengefaßt und fünf Orte des
zu ihnen auf Distanz zu gehen - anders gesagt, ohne mit »Durchbruchs« benannt: China, Indien, Persien, Palästina,
ihnen in einen Zweikampf zu geraten, in dem ermittelt wird, Griechenland. Sie bilden die Schauplätze, an denen sich der
wer Herr im Ring sei. Nicht alle wollen diesen Kampf ge- hochkulturelle Fortschritt in der Vergeistigung zuerst und
winnen, Konservative aller Zeiten stellen sich schwach, um mit unvergeßlichen Fernwirkungen vollzogen habe. In der
von der Gewohnheit besiegt zu werden - und dann der Sieg- Zeitspanne zwischen 800 bis 200 vor Christus hätten die
reichen dienen zu dürfen, als sei sie die Unüberwindliche. Menschen in den bezeichneten Kulturen den »Schritt ins
Andere hingegen sind überzeugt, die Gewohnheiten seien Universale« getan, den wir mit allem fortsetzen, was wir bis
Fremdherrscher, unter denen es kein richtiges Leben gibt. heute in authentisch zivilisatorischem Sinne tun. Was später
Diese Position ist diejenige, die Foucault in seinen späten Vernunft und Persönlichkeit hieß, sei damals in ersten Um-
Studien über die »5elbstsorge« bei antiken Autoren ans Licht rissen offenbar geworden. Vor allem aber wuchs die Kluft
gehoben hat: Die »Sorge um sich« ist die Haltung derer, die in zwischen den am höchsten gesteigerten Individuen und den
sich selber auf den Gegner aller Gegner gestoßen sind - den Vielen seither ins Unermeßliche. Jaspers:
doppelköpfigen daimon, von dem wir sahen, wie er den Men- >,Was der Einzelne erreicht, überträgt sich keineswegs
schen besessen hält: einmal als Impulsmacht, das heißt als auf alle. Der Abstand zwischen den Gipfeln mensch-
Komplex der Affekte, die in mir aufwallen, ein andermal als licher Möglichkeiten und der Menge wird damals au-

1
3°2 [ Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista 3°3
98
ßerordentlich. Aber was der Einzelne erreicht, verän- veloziferische Kraft der Schriftübung, die zusätzliche be-
dert doch indirekt alle. «97 schleunigende Disziplinen nach sich zieht, macht die Träg-
Indem die Extremisten auf dem Hochseil der Menschwer- heit des in die durchschnittlichen Körper eingesenkten alten
dung ihre Übungen vorantreiben, führen sie für die übrigen Ethos spürbar. Wo das akzelerierende Üben seine Effekte
die Pflicht ein, das kleine Akrobaticum abzulegen, um in durchsetzt, spaltet sich die kulturelle Evolution. Das Resul-
der Übungsgemeinschaft der Menschgewordenen zu ver- tat ergibt eine Menschheit der zwei Geschwindigkeiten.
bleiben. Die einfachen Leute erhalten ihr Zertifikat, wenn Diese Stärung ist es, die die Sezession einer Elite aus Ler-
sie zugeben, daß ihnen schon beim Zuschauen schwindlig nenden und Übenden aus den alten Gemeinsamkeiten er-
wird. zwingt. Sie führt zur Konstruktion eines neuen Himmels über
In Wirklichkeit ist die Entdeckung der Leidenschaften und der alten Erde und eines neuen koinon über den alten Kom-
der Gewohnheiten von der Entdeckung der Meinungen nicht munen. Das zu erobernde koinon, jenes Gemeinsame, in dem
zu trennen, da dieselbe Unterbrechung, die den Menschen seit den Milesiern die Sterne, der Logos und die Polis ein
aus dem Fluß der Emotionen und Gewohnheiten steigen läßt, und dieselbe Ordnung bezeugen sollen, ist viel zu erhaben
ihn auch auf die Sphäre der mentalen Routinen aufmerksam und liegt zu weit abseits der Alltagsintuitionen, um allen zu-
werden läßt. Diese Unterbrechung, mit welcher der Beob- gänglich zu sein. Daraus entwickelt sich die Basisparadoxie
achter auf den Plan tritt, schafft irreversibel neue Stellungen sämtlicher Universalismen: daß ein für alle Gemeinsames auf-
zur Gesamtheit der Tatsachen, innen und außen. Aus dem gerichtet wird, an dem die meisten nur im Modus des Nicht-
Fluß steigen, das heißt: die alte Habitus-Sicherheit in der Verstehens beteiligt sein können. Das Paradigma hierfür ist die
ererbten Kultur preisgeben und aufhören, ein Gewächs der seit dreitausend Jahren dominante, seit kaum zweihundert
ersten Kulturgemeinschaft zu sein. Jetzt gilt es, vom Ufer aus Jahren partiell revidierte Spaltung der Menschheit in ihre al-
eine neue Welt mit neuen Einwohnern zu gründen. phabetisierten und nicht-alphabetisierten Fraktionen. Virtu-
Der Achsenzeiteffekt beruht darum nicht so sehr auf ei- ell könnten ja alle Menschen des Schreibens kundig sein, nur
nem weltweit plötzlich auftretenden Interesse an erhöhter wenige aber schreiben tatsächlich - und unbeirrbar werden die
Vergeistigung. Er geht aus der riesenhaften Habitus-Störung Wenigen glauben, sie schrieben für alle übrigen. Dasselbe gilt
hervor, die auf die vom Uferstandort aus mögliche Ent- für sämtliche Figuren des logischen, ethischen, medialen So-
deckung der in den Menschen verkörperten Trägheiten folg- zialismus. Wer will, könnte die Aufstellung der Universalis-
te. Verantwortlich ist hierfür - in ihrem wichtigsten Teil -
die von den frühen Schriftkulturen ausgelöste innere 9 8 Vgl. Manfred Osten, »Alles veloziferisch« oder Goethes Entdek-
kung der Langsamkeit, Frankfurt am Main 2003. Der von Goethe
Beschleunigung. Sie war dafür verantwortlich, daß die Ge-
geprägte Ausdruck deutet auf die. Tatsache hin, daß am Beginn des
hirne der Schreibenden den Habitus der Nichtschreibenden 19. Jahrhunderts an ein zweiter Uberholvorgang einsetzte, in dem
überholen - so wie die Körper der Asketen, Athleten und nicht-skripturale Pacemaker die klassische schriftbasierte Huma-
Akrobaten die Körper der Alltagsmenschen überholen. Die nitas zurücklassen. Daß diese aus der Sicht vor-alphabetischer Le-
bensformen selbst schon eine Beschleunigungsteufelei gewesen
war, können Humanisten nicht sehen. Siehe auch P. SI., Regeln
97 Kar! Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (zuerst 1949), für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief
München [963, S. 22f. über den Humanismus, Frankfurt am Main 1999·
I Die Eroberun g des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo arrisra

mus-Falle die geistige Seite des Eintritts in die Klassengesell- werden, sondern um logisch stabile Ideen zu entwickeln. Das
schaft nennen - das unterscheidende Kriterium freilich be- Denken beginnt, wenn das Affentheater der Assoziationen
steht hier nicht mehr in der Herrschaft eines bewaffneten aufhört, das neuerdings als Wettbewerb der »Merne « um freie
Herrn über den waffenlosen Knecht: Es liegt in der Aufrü- Rechenkapazitäten der Neocortex beschrieben wird. Dieser
stung der übenden Individuen gegen die Trägheiten in ihnen dreifache Seitenwechsel bildet das ethische Programm in all
selbst - durch Schrift, Logik, Gymnastik, Musik und Kunst im den Aktivitäten, die Platon unter dem Kunstwort »Philoso-
allgemeinen. In dieser übungskulturellen Wende werden die phie« zusammenfaßte.
Vorbildfiguren der achsenzeitlichen Spiritualität konstituiert: Das Wort »Philosophie« enthält ohne Zweifel eine ver-
die Weisen, die Erleuchteten, die Athleten, die Gymnosophen, deckte Anspielung auf die bei den wichtigsten Athletentugen-
die heiligen und die profanen Lehrer. Mit Gestalten dieses den, die sich zur Zeit von Platons Intervention breitester Zu-
Typs haben es die Menschen der Hochkulturen in den näch- stimmung erfreuten. Es verweist zum einen auf die aristokra-
sten Jahrtausenden zu tun (von Künstlern im modernen Sinn tische Haltung der »Philotimie«, der Liebe zur time, dem
ist anfangs noch nicht die Rede). Sie werden dafür sorgen, daß ruhmvollen Ansehen, wie es den Siegern in Wettkämpfen
Kulturzeit die Zeit geistiger Vorbilder sein wird. versprochen ist, zum anderen auf die »Philoponie«, was die
Liebe zu ponos, Mühe, Last, Strapaze meint. Nicht umsonst
hatten sich die Athleten auf Herakles als ihren Schutzpatron
Auf die andere Seite kommen: Philosophie als Athletik berufen, den Voll bringer der zwölf Taten, die ein Weltalter
lang als Urbilder der ponoi in Erinnerung gehalten wurden.
Um weiter im Bild vom Aus-dem-Fluß-Steigen zu bleiben: Wie sich die Philosophen nach Platon als Freunde der Weis-
Der Mensch, der sich auf die Explikation der Trägheit in sich heit ausgeben werden, so präsentierten sich schon lange zu-
selbst eingelassen hat, sieht sich durch den Gang der Erfah- vor die Gymnasten und Ringkämpfer als Freunde der Bela-
rung gezwungen, gleich dreimal auf die andere Seite des stung, die den Mann zum Manne macht, und als Liebhaber
Selbstbefunds zu wechseln. Indem er bemerkt, wie die Lei- der harten, langen Mühe, die die Götter vor den Sieg gesetzt
denschaften in ihm arbeiten, begreift er, daß es darauf an- haben. Später nahmen insbesondere die Kyniker Herakles
kommt, auf die andere Seite der Passion zu gelangen, um gern als ihren Ahnherrn in Anspruch, um ihre These zu un-
die Leidenschaften nicht nur zu erleiden, sondern zu einem termauern, wonach allein sie, die philosophischen Totalaske-
Könner des Leidens zu werden. Indem er bemerkt, in wel- ten, die wahren Athleten seien, indessen die Sportler nur
chem Ausmaß die Gewohnheiten ihn beherrschen, sieht er dekadente Muskelprotze wären, die vergänglichen Erfolgen
unmittelbar ein, daß es ausschlaggebend wäre, auf die andere nachjagen, ohne jede Idee von solider Tugend und kosmos-
Seite der Gewohnheiten zu kommen, um nicht nur von ihnen gema"ß er Vernun f t. 99
besessen zu sein, sondern um sie zu besitzen. Und indem er
bemerkt, daß seine Psyche von konfusen Vorstellungen be- 99 VgJ. Michel Foucaulrs Vorlesung über das philosophische Duell
zwischen Diogenes und Alexander nach der Darstellung des Qua-
siedelt wird, geht ihm ein Licht auf, wie wünschenswert es
si-Kynikers Dion Chrysosromos in dessen Buch: Von der Herr-
wäre, auf die andere Seite des Vorstellungsgetümmels zu ge- schaft; M. E, Diskurs und Wahrheit, Berkeley-Vorlesung 19 83,
langen, um nicht bloß von wirren Gedanken heimgesucht zu Berlin 1996, S. 128f.
306 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista

Der Imperativ: »Du mußt dein Leben ändern !« ertönt also im tigt sah, über ihren Schatten zu springen - genauer: die drei
alteuropäischen Raum seit dem 5. Jahrhundert vor Christus Schatten, die ihnen in Form von Leidenschaften, Gewohn-
nicht nur aus den zahllosen Statuen, die die Griechen wie von heiten und unklaren Ideen anhängen. Im Blick auf diesen
einem entfesselten Bild-Zwang besessen in Tempelbezirken Klärungs- und Übungszwang, dieses Drei-Schatten-Sprin-
und auf Plätzen errichteten, als hätten sie zum sterblichen Po- gen, das am Anfang höherer Kultur auftaucht, ist es gerecht-
lisvolk ein Volk aus Statuen hinzufügen wollen, vermutlich, fertigt, Nietzsches Aussage zuzuspitzen und von der Erde als
um auf die Ähnlichkeiten zwischen Göttern und Siegern auf- dem akrobatischen Stern zu sprechen. Dieser Ausdruck böte
merksam zu machen. loo Er geht mehr noch aus den neuen zudem den Vorteil, Nietzsches wichtigster moralphilosophi-
Wissensverhältnissen hervor, besser: aus der veränderten Stel- scher Intuition noch besser gerecht zu werden: Wenn er den
lung der Wissenden zu ihren Lebensaufgaben. Sein Leben än- Begriff askesis mit aller Macht von den düsteren Spektakeln
dern heißt nun: durch innere Aktivierungen ein Übungssub- der christlichen Buß-Askese lösen wollte, um endlich wieder
jekt heranbilden, das seinem Leidenschaftsleben, seinem Ha- auf die so unverstandenen wie unentbehrlichen Ertüchti-
bitusleben, seinem Vorstellungsleben überlegen werden soll. gungs- und Steigerungsaskesen der alten Eliten hinzuweisen,
Subjekt wird hiernach, wer an einem Programm zur Entpassi- gab er das Startsignal für eine strikt artistische Auslegung der
vierung seiner selbst teilnimmt und vom bloßen Geformtsein menschlichen Tatsachen. Sieht man von der irrtümlichen Pro-
auf die Seite des Formenden übertritt. Der ganze Komplex, jektion des »Übermenschen« in die Zukunft ab, wird evident,
den man Ethik nennt, entspringt aus der Geste der Konversion was Nietzsche erfaßt hatte: daß seit dem Eintritt der Völker in
zum Können. Konversion ist nicht der Übergang von einem die Hochkulturphase jeder Leistungsträger akrobatisch unter
Glaubenssystem zu einem anderen. Die ursprüngliche Bekeh- Spannung gerät.
rung geschieht als Austritt aus dem passivischen Daseinsmo-
dus in Tateinheit mit dem Eintritt in den aktivierenden. 101 Daß
die Aktivierung und das Bekenntnis zum übenden Leben das- Asketik und Akrobatik
selbe bedeuten, liegt in der Natur der Sache.
Mit diesen Hinweisen wird präziser faßbar, was Nietzsche Akrobatik ist überall im Spiel, wo es darum geht, das Un-
gesehen hatte, als er in seinen Überlegungen Zur Genealogie mögliche wie eine leichte Übung erscheinen zu lassen. Es
der Moral die Erde als den asketischen Stern charakterisierte. genügt also nicht, auf dem Seil zu gehen und in der Höhe
Die Askesis war von dem Augenblick an unumgänglich ge- den salto mortale zu schlagen. Die entscheidende Botschaft
worden, in dem eine Avantgarde von Beobachtern sich genö- des Abrokaten an die Mitwelt liegt in dem Lächeln, mit dem
er sich nach dem Auftritt verbeugt. Noch deutlicher spricht
IOD Vgl. Babette Babich, Die Naturgeschichte der griechischen Bron- sie in der nonchalanten Handbewegung vor dem Abgang,
ze im Spiegel des Lebens. Betrachtungen über Heideggers ästhe- jener Geste, die man für einen Gruß an die oberen Ränge
tische Phänomenologie und Nietzsches agonale Politik. In: Inter- halten könnte. In Wirklichkeit übermittelt sie eine morali-
nationales Jahrbuch für Hermeneutik, Val. 7, herausgegeben von sche Lektion, die soviel besagt wie: Für unsereinen ist der-
Gümer Figal, Tübingen 2008, S. 127-19°.
101 Über die Differenz von Konversion und opportunistischer Kehre gleichen gar nichts. Unsereiner - das sind diejenigen, die das
siehe unten Kapitel 9, S. 467f. Fach Unmöglichkeit belegt haben, mit Eindruckmachen im
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artisra

Nebenfach. Manche von ihnen verbleiben bis zum Ende ih- des 20. Jahrhunderts gern mit bedeutsamer Betonung zu sa-
rer Laufbahn in den Arenen und den Stadien, andere wech- gen, der Mensch könne eben nicht einfach dahinleben, son-
seln in die asketeria über und geben dem Steigen auf religiö- dern müsse sein Leben »führen« .lo2 Das ist nicht falsch und
sen Leitern den Vorzug, viele setzen sich ab in die Wälder drückt eine wichtige Einsicht aus - sie wäre noch wertvoller,
und Wüsten, eine weitere Fraktion versucht es mit den bil- könnte man auch erklären, warum es nicht anders sein kann
denden und musikalischen Künsten, wieder andere speku- und wie es kommt, daß dennoch unzählige Menschen, vor
lieren auf höheren und höchsten Staatsdienst. Platon hatte allem in den Suchtzonen des Westens, eher einen unführen-
bekanntlich zeigen wollen, daß auch die Kunst der Staaten- den und ungeführten Eindruck machen.
Lenkung bis zur Perfektion erlernbar sei, sofern die politi-
schen Artisten sich in einem vierzigjährigen Lehrgang, vom
zehnten bis zum fünfzigsten Lebensjahr, auf das Unmögliche Anthropotechnik: Die Macht der Wiederholung
vorbereiten. Die Fähigkeit, den Staat nach Ideen zu lenken gegen die Wiederholung wenden
und nicht nur, wie üblich, wie ein Machtclown von einer
Situation zur nächsten zu stolpern - auch sie könnte, wäre Die Antwort ist durch den Hinweis auf die Emergenz der
der Wille hierzu gegeben, bis zu einem meisterlich be- Anthropotechnik in der Achsenzeit des Übens zu geben. So-
herrschten Handwerk vorangetrieben werden. Man muß bald man weiß, daß man von selbstläufigen Programmen -
nicht wie der Pharao als Gott geboren sein, um es auszu- Affekten, Gewohnheiten, Vorstellungen - besessen ist, wird
üben. Es genügt, daß sich ein aufgeklärter Grieche unter es Zeit für besessenheitsbrechende Maßnahmen. Deren Prin-
richtiger Anleitung psychotechnisch zum pharaonischen Ni- zip besteht, wie bemerkt, im Übergang auf die andere Seite
veau emporübt. der Wiederholungsgeschehnisse. Ein solcher Übergang er-
Seine Einsichten zur Konvergenz von Asketik und Arti- scheint nach präzisen Regeln vollzieh bar, seit man in der Wie-
stik zeigen Nietzsehe im Einklang mit den Tendenzen des derholung selbst den Ansatzpunkt für ihre Beherrschung ent-
späteren 19. Jahrhunderts, die ich durch Kennwörter wie deckt hat. In dieser Entdeckung feiert die anthropotechnische
»athletische Renaissance« und »Entspiritualisierung der As- Differenz Premiere.
kesen« umschreibe. Hat man diese Bewegungen wahrgenom- Die Erklärung hierfür liegt in der Zwiespältigkeit der Sache
men, ist leichter einzusehen, warum am Anfang asketischer selbst: Mit der Macht der Wiederholung wird zugleich die
Selbstsorge-Regungen keinesfalls die büßerische Selbstdemü- Doppelnatur der Wiederholung als wiederholte Wiederho-
tigung steht. Das frühe Übungswesen nahm seinen Ausgang lung und wiederholende Wiederholung begriffen. Das hebt
von der elementaren Intuition, es komme um alles in der Welt die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv im Subjekt
darauf an, auf die andere Seite der drei Automatismen zu der Wiederholung pathetisch hervor. Man versteht jetzt: Es
gelangen. Nur auf diese Weise geriet »der Mensch« in den gibt nicht nur den affizierten Affekt, sondern auch den affi-
Focus der Übungsreihen, die seine »Natur« verändern, um zierenden; nicht nur die geübte Gewohnheit, sondern auch die
seine »Natur« zu verwirklichen. Hier wird er zu dem Tier:
das zum Lenken, Üben, Denken verurteilt ist. In Kreise~ 102 Vgl. jüngst Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen
philosophischer Anthropologen pflegt man seit dem Beginn über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007·

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310 [ Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Cur homo artista 3 1I
übende; nicht nur die vorgestellten Vorstellungen, sondern Man darf geradezu behaupten, vor dieser Wende zur »Kna-
auch die vorstellenden. Die Chance liegt jedesmal im Partizip benlenkung« seien Kinder kulturell unsichtbar gewesen. Erst
Aktiv Präsens: Unter dieser Form wird der aktivierte Mensch nach der Entdeckung der Region Gewohnheit gewinnen sie
als eigentätig Fühlender, Übender und Vorstellender gegen- ein Sichtbarkeitsprivileg, das sich zeitweilig abschwächen
über dem Gefühlten, Geübten, Vorgestellten auf den Schild kann, wie im europäischen Mittelalter, jedoch nie mehr ganz
gehoben. Dadurch setzt sich allmählich ein Subjektmensch verlorengeht. Nun werden die Jungen zu Objekten einer Sor-
vom Objektmenschen ab - falls man diese ungeeigneten, zu ge, die sich zu einer veritablen Kunst entfaltet: der Kunst,
neuzeitlich und zu kognitiv gefärbten Ausdrücke hier ver- Gewohnheitsentstehungen zu steuern und komplexe Kompe-
wenden dürfte. In der zweiten Position bleibt der Mensch, tenzen auf einem Sockel automatisierter Übungen aufzubau-
wie er war, das Passive, Wiederholte, kampflos Überwältigte, en. Der Vorteil des Kindseins allerdings, seine relative Unge-
in der ersten hingegen wird er der Post-Passive, der Wieder- prägtheit und Prägungsoffenheit, muß mit einem natürlichen
holende, der Kampfbereite. Aus der Wahl des ersten Wegs Nachteil bezahlt werden, der starken Emotionalität und
geht der »erzogene Mensch« hervor, von dem noch Goethe Spontaneität der Jungen - die frühen Erzieher hätten sich aber
wußte, daß er ein ehemaliger Geschundener ist. I03 Was dieser nicht "Pädagogen« genannt, wären sie nicht der Meinung ge-
im Aufstieg zur Bildung zurückläßt, ist die Naivität, die vor- wesen, hiermit auf die Dauer zurechtzukommen. Hinter dem
mals auch die seine war - mitsamt der doppelten Stellungnah- Pädagogen erkennt man hier, noch kaum verhohlen, die Ge-
me zu ihr: als Verachtung für das überwundene Klischee und stalt des Dompteurs - wie ja hinter aller Belehrung die Dressur
als Heimweh nach dem Ungebrochenen. steht. Darum erzählt die wahre Geschichte der Pädagogik
Die Entdeckung der »eingefleischten« Gewohnheit als ei- auch die gemeinsame Geschichte von Kindern und Tieren.
nem belehrungsresistenten Trägheitsprinzip ruft also die Doch wenn der Dompteur es dahin bringt, Elefanten auf ei-
Summe der Maßnahmen hervor, die wir als die folgenschwer- nem Seil gehen zu lassen, wie Plinius in seiner Naturgeschichte
ste Innovation der alten Welt noch heute verspüren und wei- berichtet,I 04 oder sie mit dem Rüssel griechische und lateini-
tertragen: die Wendung zur Erziehungskunst alias paideia - sche Wörter schreiben zu lassen, wie ein anderer Autor er-
was fü rs erste wohl so etwas wie »Kunst am Kind« oder »Tech- wähnt, soll der Pädagoge seine Zöglinge über die bloße Ab-
nik der Knabenzurichtung« bedeutet. Tatsächlich konnten richtung hinaus befähigen, unter der Fülle möglicher Lauf-
Kinder als Kinder erst nach der Emergenz der Gewohnheiten bahnen die ihren zu erkennen und zu wählen.
methodisch in den Blick geraten: Als die Noch-nicht-von-
Gewohnheiten-Besessenen ziehen sie die Aufmerksamkeit
der munter gewordenen Übungsleiter auf sich. In der Lehrer- Pädagogik als angewandte Mechanik
dämmerung, die zugleich eine anthropologische Dämmerung
ist, wandelt sich das Kind von einem bloßen Nachwuchsphä- Kurzum: Weil in der Pädagogendämmerung des ersten Jahr-
nomen zu einem Akteur im Drama der Erziehung. tausends vor Christus die Trägheitsqualität des Habituellen
explizit begriffen worden war, drängte der Vorsatz sich auf,
103 Vgl. das Motto von Dichtung und Wahrheit: Ho me dareis an-
thropos ou paideuetai: Der nicht geschundende Mensch wird nicht
erzogen. 104 Plinius, Historia naturalis, 8,4 f.
312 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Cur homo artista

die Gewohnheit in statu nascendi in den Griff zu nehmen, um Die Entdeckung dieser Mechanik löst die Euphorien aus,
aus dem vormaligen Widerstandsprinzip einen Koopera- die die spirituellen Schulen in statu nascendi prägt, in Asien
tionsfaktor zu machen. nicht anders als in Europa. Daher der für das frühe Schul- und
Hier rühren wir an das Prinzip aller älteren Anthropotech- Übungswesen typische steile Ansatz der Ausbildungsziele,
nik. Jeder technische Umgang mit Menschen - und nichts an- wie man ihn im esoterischen Kern des Platonismus wie in
deres ist Pädagogik zunächst - beruht auf der U ridee der klas- den meisten Formen des brahmanischen Trainings und in
sischen Mechanik, die Trägheitskräfte in den Dienst der Träg- der taoistischen Alchemie findet. Natürlich bedeutet Schul-
heitsüberwindung zu stellen. Diese Vorstellung feiert in der betrieb immer auch Exoterik und Vorbereitung auf Ämter.
Entdeckung des Hebel-Prinzips ihren ersten Triumph. Die Im heißen Kern der Lehre steht aber die Hinführung der
kleinere Kraft kann, wenn sie mit dem längeren Weg multi- Adepten zu der senkrechten Wand, an der sie den Aufstieg
pliziert wird, die größere bewegen - ein ähnlicher Ansatz liegt zum Unmöglichen versuchen sollen. Hinter den Thesen des
dem der Antike bekannten Flaschenzug zugrunde. M echane, Werbeprospekts für die Schule, in dem es heißt: »Tugend ist
griechisch: die List, bedeutet daher nichts anderes als die erlernbar«, verbirgt sich ein esoterischer Radikalismus, re-
Überlistung der Natur mit ihren eigenen Mitteln. lOS Die päd- sümierbar in der (auf westlichem Boden unaussprechlichen)
agogische mechane erwächst aus dem überlegten Entschluß, Botschaft: »Das Göttliche ist erlernbar.« Wie, wenn der Auf-
die Gewohnheit zu ihrer eigenen Aufhebung einzusetzen - stieg zu den Göttern nach sicheren Methoden gemeistert wer-
man könnte auch sagen: Sie gebraucht das Wahrscheinliche als den könnte? Wenn die Unsterblichkeit nur Übungs sache wä-
Medium zur Erhöhung von Unwahrscheinlichkeit. Man re? Wer das glaubt, glaubt auch mit Platon, den indischen
nimmt der Gewohnheit ihre Widerstandseigenschaften und Lehrern und den Unsterblichen des Taoismus, ein Mandat
spannt sie vor den Wagen ansonsten unerreichbarer Ziele. zu besitzen, das Unmögliche zu lehren, obschon nie jenseits
Dies gelingt, wenn der Pädagoge in der Lage ist, an den länge- eines kleinen Kreises von Geeigneten. Der Lehrauftrag
ren Hebel zu gelangen - das heißt an die Wurzel der Kon- schließt den Einsatz sämtlicher zur Überwindung der Träg-
ditionierung durch übende Wiederholungen. Von da an gilt: heit geeigneten Mittel ein. Bis wohin das geht, zeigt die lange
Repetitio est mater studiorum. Die kleinen menschlichen Reihe der spirituellen und athletischen Extremisten, die in
Kräfte können Unmögliches bewirken, wenn sie mit dem den vergangenen Jahrtausenden das Bild der Menschheit be-
106
längeren Weg der Übung multipliziert werden. stimmen.

105 Vgl. P. SI., Der andere Logos oder: Die List der Vernunft. Zur
Ideengeschichte des Indirekten. In: Achim Hecker, Klaus Kam-
merer, Bernd Schauenberg, Harro von Senger (Hg.), Regel und Vgl. Heiner Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, Wien/New York
Abweichung: Strategie und Stratageme. Chinesische Listenlehre 20 0 7, wo gezeigt wird, wie die memoaktive Fitness eines Kollektivs
im interdisziplinären Dialog, Berlin 2008, S. 87-112. durch gemeinsam vollzogene Tötungsdramen (Opfer) erhöht wer-
106 Neben der pädagogischen Erziehung durch aufgeklärte Wieder- den kann. Die christliche Messe erscheint im Licht dieser Analyse
holungen verfügen die Kulturen von alters her auch über die als Doppeleinprägungsform: einerseits als ständig wiederholtes
Technik der Erziehung durch den Schrecken bzw. der Einprägung Tötungsdrama, andererseits als Einübung in die Ersetzung des
einer Norm durch schockhaftes Einbrennen einer sakralen Szene. Blutopfers durch das symbolische Spiel.
314 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo anista

puren Überschuß lernen. Beim Studium des potenzierten Le-


Didaktische Himmelfahrt: bens trifft man auf die vita vitalis, die senkrecht zur Achse des
Lernen fürs Leben des Lebens empirischen Daseins steht. Das gibt dem primären Surrealis-
mus die Richtung vor - jenem in allen Hochkulturen wirk-
Doch gleichgültig ob sich die frühe Schule exoterisch oder samen Vertikalzug, den man im Westen mit dem mißratenen
esoterisch präsentierte, sie hielt sich selbst nie für das Ziel Ausdruck »Metaphysik « belegt hat: Vielleicht wäre »Meta-
ihres Betriebs. Noch die Maxime mittelalterlicher Schulmei- biotik« der angemessenere Terminus gewesen oder auf latei-
ster non scolae sed vitae discimus 10 8 wollte offenkundig sagen: nischem Boden der Ausdruck "Supravitalistih, obschon
Wir lernen nicht für das Basislager, was zählt, ist allein die man zugeben muß, beide Wörter hätten es auf der Stelle ver-
Expedition. Aber so bieder dieses Bekenntnis klingen moch- dient, an ihrer Häßlichkeit zugrunde zu gehen. Der Ausdruck
te, in seinen Auslegungen nahm es monströse Dimensionen »Metaphysik« hielt sich an der Spitze unserer Lehrpläne, bis
an. Das Wort vita meint zwar in erster Lesung nicht mehr als die andere begriffliche Mißgeburt, die für die Modernen maß-
Bewährung an der äußeren Front, in den Berufen und Äm- gebliche Lehre vom survival, die Oberhand gewann.
tern. Jedem Beteiligten an dem hohen Spiel war dennoch klar,
daß damit nur ein Anfangsschritt bezeichnet war. Seinem
tieferen Design nach war "für das Leben lernen« eine Parole Sterbe-Performance: Tod auf der metaphysischen Bühne
zugunsten der steilsten Aufstiegsprojekte - Projekte, für die
das Göttliche gerade hoch genug lag. Die schwerste Bewährungsprobe für das neue Subjekt der
Eine solche Gleichsetzung von Gott und Leben war geeig- Übungsmacht stellt der Tod dar, da er die Instanz bildet,
net, die exzessivste Vertikalspannung aufzubauen. Sie zwang die Menschen am stärksten in die Passivität drängt. Wer also
dazu, die gewöhnlichen Vorstellungen über den Sinn von den Tod herausfordert, um ihn dem Herrschaftsbereich des
»Leben« radikal zu revidieren. Mit einem Mal wurde es mög- Könnens einzugliedern, wird im Fall des Erfolgs den Beweis
lich, zum Prädikat »lebendig« einen Superlativ zu bilden und geliefert haben, daß es im Radius des Menschenmöglichen
das Nomen »Leben« mit sich selbst zu multiplizieren. Wer liegt, Unüberwindliches zu überwinden - oder mit Schreck-
»Leben« sagt, wird früher oder später auch »Leben des Le- lichem eins zu werden. Darum münden alle Übungen, die
bens« sagen. Dann aber heißt »für das Leben lernen« für den sich zunächst gegen die Fremdsteuerung der Seele durch die
heftigen Affekte, die ungeprüften Gewohnheiten und die
108 Sie ist die Umkehrung des satirischen Satzes von Seneca: non Trugbilder des Stammes und des Forums richten, zuletzt
vitae, sed scholae discimus. Epistolae morales ad Lucilium 106,
unvermeidlich in Maßnahmen gegen die Unterwerfung der
12. Dieser konstatiert die Dekadenz der Schule zum Wissensbe-
trieb. Das eigentliche Schulprogramm, das Erlernen des Göttli- Unterwerfungen, die Besessenheit aller Besessenheiten - die
chen, muß darum auf andere Medien umkopiert werden, zum Untertänigkeit des Menschen unter der Macht des Todes.
Beispiel den Briefwechsel des Philosophen mit einem jüngeren Dies kann auf zwei verschiedene Weisen geschehen: Zum
Freund. Es ist also wahrscheinlich, daß Seneca ein älteres, nicht
einen durch eine Askese, die zu einer artifiziell erworbenen
belegtes Sprichwort umgedreht hat - womit die Rückkehr der
Schulmänner des Mittelalters zur non-scholae-sed-vitae- Version Haltung des Sterbenkönnens führt: So hat man es an der
völlig gerechtfertigt wäre. philosophischen ars moriendi abgelesen, die im Tod des So-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista 31 7
krates ihre U rszene besitzt, der folgenreichsten Sterbe-Perfor- genschwere Urszene, in der sich die Emanzipation der geistig
mance der alteuropäischen Welt; so haben es die indischen Übenden von der Tyrannei des Todes auf höchster Höhe be-
Asketen vorgemacht, die die Kunst des Den-Körper-Verlas- obachten ließ. In beiden Pass ions geschichten liegt der Akzent
sens in zahlreichen Varianten deklinierten; und so hat es die auf der Umwandlung von Müssen in Können, ein Können,
japanische Selbsttätungs(seppuku)- Kultur demonstriert, in das um so eindrucksvoller ausfällt, als die Umstände den Op-
der es immer höchst bedeutsam war, sich vom Leben zu tren- fern eine doppelte Passivität aufzwingen: die erste gegenüber
nen, sobald Gefahr bestand, das Leben könne länger dauern dem Unrecht der Todesurteile, die zweite hinsichtlich der
als die Ehre. Die Emanzipation von der Tyrannis des Todes Grausamkeit der Hinrichtungen more Romano. Bei Sokrates
kann aber auch durch die Formulierung eines Mythos gesche- wird besonders deutlich, wie das Können des Weisen sich den
hen, der die Zugehörigkeit der Seele zum Reich des lebendigen äußeren Zwang aneignet, indem der formal rechtens, sachlich
Gottes behauptet. In solchen Fällen - die äpyptischen Jen- unrechtens zum Tode Verurteilte das Urteil in seinem Willen
seitslehren und der christliche Platonismus liefern die bekann- rezipiert, um mit der auferlegten Prozedur zu kooperieren,
testen Beispiele - wird das Rückkehrrecht der Seele nicht so als wäre er selbst der Spielleiter des ihm widerfahrenden Pas-
sehr durch asketische Zusatzanstrengungen als durch integre sionsdramas.
Lebensführung gesichert. Die Überordnung der Freiwilligkeit über das Müssen ver-
Das Klima auf dem akrobatischen Stern unterliegt also seit körpert sich am glänzendsten in dei· Allegorie der Gesetze,
der Heraufkunft der hochkulturellen Surrealismen einem per- die in dem Dialog Kriton zu Sokrates reden. Die personifi-
manenten Wandel, einer Erderwärmung durch ständig stei- zierten Gesetze sagen dem Todeskandidaten dort sinngemäß
gende moralische Emissionen vergleichbar. Das erzwingt die folgendes: Alles spricht dafür, lieber Sokrates, daß es dir hier
Wende vom »Dahinleben« im Strom des Kollektivhabitus zur in Athen zeitlebens am besten gefallen hat. Wir, die Gesetze,
Lebensführung unter dem Einfluß individualisierender Schul- und diese Stadt, die wir regieren, haben dir bisher offensicht-
rnächte. Die neuartige Führung bewirkt eine Verfremdung das lich vollständig genügt. Nie bist du auf Reisen gegangen, wie
Daseins bis an den Punkt, an dem die Vorstellungen über die viele Leute es tun, um andere Städte und andere Gesetze ken-
Bereiche Schule und Leben zu dem bizarren Dogma ver- nenzulernen. Wie kein zweiter hast du das Schicksal geprie-
schmelzen, das Leben selbst sei nichts als ein großes Pädago- sen, unter unserer Leitung zu existieren, ja noch vor Gericht
gicum und müsse wie ein esoterisches Schulfach gelernt wer- hast du dich damit gebrüstet, den Tod der Verbannung vor-
den, und mit dem Leben zugleich die Kunst, es exemplarisch zuziehen. Siebzig Jahre lang hattest du Zeit, uns und dieser
zu beenden. Aus diesem Grund bildet die von den Griechen so Stadt den Rücken zu kehren, doch du zogst es vor, bei uns zu
genannte euthanasia, die Kunst des schönen Todes, die gehei- bleiben. Wolltest du also jetzt, angesichts deiner von uns ver-
me Mitte der akrobatischen Revolution - sie ist das Seil über fügten Hinrichtung, vor uns fliehen, wie könntest du anders-
einem Abgrund, über das die Übenden zu gehen lernen, um wo jemals wiederholen, was du hier zu sagen nicht müde
vom Leben ins Meta-Leben zu gelangen. wurdest: daß nämlich der Mensch die Tugend und die Ge-
Die alteuropäische Überlieferung besitzt neben dem von rechtigkeit höher als alles andere achten müsse? Folge daher
Platon beschriebenen Tod des Sokrates mit dem in den Evan- nicht dem Rat des Kriton, die Flucht zu ergreifen, sondern
gelien geschi lderten Tod J esu eine zweite thanatologisch fol- dem unsrigen, der lautet: Bleibe hier und gehe deinen Weg zu
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista

Ende! - Daraufhin zieht der Weise die für ihn einzige mög- So altehrwürdig diese Übersetzungen sein mögen, so wenig
liche Konklusion: werden sie dem Geist der johanneischen Hinzufügung ge-
»Diese Worte, mein lieber Kriton, glaube ich zu verneh- recht. Was Johannes, der griechische Apostel, an dieser Stelle
men, so wie die korybanthisch Verzückten Flötenklän- unternimmt, ist ja nicht weniger als eine Athletisierung des
ge zu hören glauben; und ihr Schall ertönt in meinem Erlösertodes - weswegen das letzte J esuswort eher mit: Es ist
Innern und macht mich unempfindlich gegen alle an- geschafft! Oder gar: Am Ziel! wiedergegeben werden müßte,
deren Reden . .. Gehen wir den Weg, den der Gott uns mag eine solche Wendung auch den Konventionen christli-
führt. « 109 cher Passionsbetrachtung zuwiderlaufen. Das Ziel der Ope-
ration ist unvermißverständlich: Jesus soll vom zufälligen
Opfer der jüdisch-römischen Justizwillkür in den Vollbrin-
Inwiefern Jesus recht hat zu sagen: Es ist vollbracht ger einer von der göttlichen Vorhersehung verfügten Mission
verwandelt werden - und dies gelingt nur, wenn das Erlittene
Die Absorption des äußeren Zwangs in den eigenen Willen restlos ins Vorhergesehene, Beschlossene und Gewollte »auf-
wird auch in der Golgatha-Erzählung der Evangelien macht- gehoben« wird. Dasselbe Wort tetelestai, mit dem Jesus am
voll in Szene gesetzt, und dies um so eindrucksvoller, als man Kreuz sein Leben aushaucht, wird von Johannes unmittelbar
bei einer Hinrichtung römischen Stils vom zivilisierten De- davor verwendet, um die »Erfüllung« bzw. Ins-Ziel-Brin-
kor griechischer Sterbekunst so weit wie irgend vorstellbar gung der Schriftvorhersagen durch das golgathaische Proto-
entfernt ist. Die jesuanische Passion übertrifft, was die Unter- koll zu konstatieren. Entscheidend ist, daß Jesus selbst am
werfung des Opfers unter äußere Zwangshandlungen angeht, Kreuz die »Erfüllung« der Mission erkennt und für vollzogen
die Passion des Sokrates bei weitem, und doch sollte gerade hält (sciens Jesus quia omnia consummata sunt), so daß sein
an ihr die Umwandlung des Müssens in ein unveräußerliches Schlußwort tatsächlich eine skriptural-messianisch-athleti-
Können am folgenreichsten demonstriert werden. sche Leistungsfeststellung enthält.
Die Szene des letzten Augenblicks am Kreuz wird bei den Die akrobatische Revolution des Christentums erschöpft
Evangelisten selbst zunehmend mit beispielgebenden Ener- sich nicht in der am Kreuz erwiesenen Überwindung der
gien aufgeladen. Während es bei Markus 15,37 und bei Mat- Todespassivität. Der Triumph des Könnens über das Nicht-
thäus 27, 50 noch heißt, Jesus sei, nachdem er vom Essig- Können vollzieht sich zwischen Karfreitagabend und Oster-
schwamm getrunken habe, mit einem lauten Schrei verstor- morgen - der pathetischsten aller Fristen. In dieser Zeit prak-
ben, hat Lukas 23, 46 für dieselbe Szene bereits ein latent tiziert der getötete Jesus das schlechthin Unerhörte, das akro
könnensgetöntes Übergangswort: »Vater, in deine Hände be- bainein in der Hölle - auf Zehenspitzen durchquert er das
fehle ich meinen Geist«, et haec dicens expiravit. Johannes 19, Totenreich. Mit der Auferstehung »am dritten Tag« feiert in
30 fügt dem ein vollends der Sphäre des Könnens angehöriges ihm die Antigravitation ihren größten Sieg: Das ist, als hätte
Wort hinzu: tetelestai, was auf lateinisch mit consummatum Christus, der Erste unter den Akrobaten Gottes, ein Vertikal-
est, auf deutsch mit »Es ist vollbracht!« wiedergegeben wird. seil zu fassen bekommen, das ihm und den Seinen den Zugang
zu einer bis dahin verschlossenen oder nur mythisch ge-
109 Kriton, 54d. ahnten absoluten Senkrechten eröffnete. Durch seinen salto
32° I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista 321
vitale sprengt der Auferstandene die Weltform auf, die vom verfaßte der Nordafrikaner Tertullian seine Trostschrift Ad
Glauben an die Vormacht der tödlichen Unterbrechung ge- M artyros, einen stark rhetorisch stilisierten Text, der das
prägt war. Von diesem Moment an ist alles Leben akrobatisch, ganze Arsenal der antiken Asketologie aufbietet, um den Ge-
ein Tanz auf dem Seil des Glaubens, wonach das Leben selbst fangenen in den Kerkern von Vienne und Lyon die Vergleich-
ewig sei - und zwar in einem unwiderruflich proklamierten barkeit ihrer Lage mit der von Soldaten vor der Schlacht,
Ab-Jetzt. mehr noch der von Athleten vor dem Agon, bewußtzuma-
Klaus Berger bemerkt über die athanasische Theologie des chen. Nicht ohne Zynismus erinnert der Afrikaner seine gal-
Evangelisten: »An die Stelle des Starrens auf den Tod tritt das lischen Brüder und Schwestern daran, daß sie, im Kerker
Sich-Einfügen in den Zug derer, die über den Tod hinaus- sitzend und ihre Hinrichtung in der Arena erwartend, eigent-
wandern. Denn auch der leibliche Tod wird überstiegen, er lich von Glück reden können, da für einen wahren Christen
ist nur ein unwesentliches Stück in der Sequenz der Ereig- die Außenwelt ein viel schwererer Kerker sei.
nisse.« 11 0 Der Tod, ein »unwesentliches Stück« im Gang der »Schaffen wir den Namen Kerker ganz ab, nennen wir
Dinge - die Menschheit hat lange warten müssen, ehe sie ihn einen Ort der Zurückgezogenheit.« 112
solche Frivolitäten hören durfte, oder soll man sagen: solche Die Erwartungen an die Märtyrer haben sich bei diesem ro-
deliranten Freisprüche vom Bann der Endlichkeit? Sobald busten Tröster schon so weit verspordicht, daß er von seinen
eine Doktrin wie diese in der Welt ist, hat das psychopoliti- Glaubensbrüdern in der Arena nichts anderes als Höchstlei-
sehe ancien regime, die normale Depression alias Realismus, stungen erwartet. Diese Glaubensathleten sind es Christus
es spürbar schwerer. Der stetige Fortgang der antidepressiven schuldig, ihren Henkern ein großes Match zu liefern.
Kampagne provoziert die Geschichte: Sie unterliegt dem Ge- »Ihr seid dabei, euch in einen guten Kampf (bon um
setz der Verlangsamung des Wunders. Aus ihm ergibt sich, agonem) zu begeben, in welchem der lebendige Gott
was Alexander Kluge den immensen »Zeitbedarf der Revo- (Deus vivus) selbst der Ausrichter der Spiele (agonothe-
lutionen«!!1 nennt. tes), der Heilige Geist der Stadionvorsitzende (xystar-
ches) ist. Euer Siegeskranz ist die Ewigkeit, eure Beloh-
nung die Engelsnatur, das Bürgerrecht (politia) im
Todesathleten Himmel und der Ruhm für immer. Deshalb wollte euer
Trainer und Mannschaftsführer (epistates vester) Jesus
Die bei Johannes angedeutete Athletisierung des christlichen Christus, der euch mit dem Geist gesalbt und in diese
Todeskampfs erreicht einen ihrer Höhepunkte während der Kampfgrube (scamma) geführt hat, daß ihr euch vor
durch Marc Aurel eingeleiteten, von seinen Nachfolgern fort- dem Tag des Agons von der freieren Lebensweise zu
geführten Christenverfolgungen in Südgallien, die unter Se- härterem Vorbereitungstrainung zurückzieht (ad durio-
verus gegen 202 wieder heftiger aufflammten. Zu dieser Zeit rem tractationem), damit in euch die Kräfte wüchsen. So
sondern sich auch die Athleten zu strengerer Übungs-
I IO Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theolo-
gie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, S. 661. II2 TertuIIians private und katechetische Schriften. Neu übersetzt,
I I I Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue mit Lebensabriß und Einleitungen versehen von D. K. A. Hein-
Geschichten, Frankfurt am Main 2006, S. 34If. rich Kellner, Kempten und München 1912, S. 218.
32 2 I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista 32 3

klausur (disciplina) ab, um ganz für ihre Kraftübungen


frei zu sein ... Sie bezwingen sich, sie quälen sich, sie Certum est quia impossibile:
erschöpfen sich (Coguntur, cruciantur, fatigantur) ... Nur das Unmögliche ist gewiß
Und das alles, wie der Apostel sagt, um einen vergäng-
lichen Siegeskranz zu erringen. Wir aber, die einen ewi- Tertullians unerschrockene Traineransprache an die Adresse
gen Kranz anstreben, deuten den Kerker als unsere Trai- der Morituri von Lyon verrät mit einer nirgendwo sonst je
ningshalle (pro palaestra), damit wir in Bestform (bene wieder erreichten Klarheit die Logik des christlichen Akro-
exercitati) ins Stadion, das zugleich Gerichtsplatz ist, batismus. Es ist der gute Wille zum strikt Absurden, zum
treten (ad stadium tribunalis) .. .«113 grenzenlos Widersinnigen, zur vollendeten Unmöglichkeit,
Tertullian führt seine Überlegungen fort, indem er daran er- der die Theologie zur Theologie macht. Er allein hindert sie
innert, wie schon profane Menschen aus heidnischen Völkern daran, in eine gewöhnliche Ontologie zuruckzugleiten. Was
dem Tod getrotzt und mutwillig schwerste Qualen auf sich im Sein als Diskontinuität erscheint, ist im Reich Gottes pure
genommen haben, so etwa der Philosoph Heraklit, von dem Kontinuität. Ist Christus auferstanden, dann ist die Welt, in
es heißt, er habe sich mit Kuhmist bedeckt und verbrannt, der niemand auferstehen kann, widerlegt. Wenn wir hier aber
oder Empedokles, der in die Flammen des Ätna gesprungen niemanden je auferstehen sehen, sollten wir den Schauplatz
sei. In gewissen Heidenstädten lassen die jungen Männer sich wechseln und dorthin gehen, wo geschieht, was hier nicht
auspeitschen bis aufs Blut, nur um zu demonstrieren, was zu geschieht - hier sein ist gut, dort sein ist besser. Kein Christ,
ertragen sie fähig sind. Wenn diese Menschen für bloße Glas- der auf sich hält, würde Tertullian zufolge in einem Circus
perlen einen solchen Preis bezahlten, um wievielleichter soll- auftreten, der weniger als das Gegenteil dessen präsentiert,
ten dann Christen den Preis für die echte Perle entrichten was die Profanen für möglich halten. Wer glaubt, muß das
können! Spießerturn epatieren. In bester Angriffslaune brachte der
Zugegeben, gefolterte Christen in römischen Provinzthea- Autor die Angelegenheit anläßlich seiner Verteidigungs-
tern repräsentieren alles andere als das Ideal des philosophi- schrift gegen die Markioniten Vom Fleische Christi auf den
schen savoir mourir. Doch sogar durch die unerbittlichsten Punkt:
Zuspitzungen der tertullianischen Rhetorik dringt ein Echo »Gekreuzigt wurde Gottes Sohn: das ist keine Schande,
der agonalen Ethik, nach welcher sich dank askesis und Härte weil es eine Schande ist; gestorben ist der Sohn Gottes:
(sklerotes) gegen sich selber auch Überschweres in Leichtes das ist glaubwürdig, weil es abgeschmackt ist. Und be-
verwandelt. graben wurde er und erstand auf: Das ist gewiß, weil es
unmöglich ist. «114
Auf diesem certum est quia impossibile beruht praktisch alles,
was Europäer seit zweitausend Jahren von vertikalen Dingen
wissen. Noch durch Simone Weils großartige Übertreibungs-

I 13 Tertullian, An die Märtyrer, a. a. O. II4 Tertullian, De carne Christi, 5·


I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen 5 Cur homo artista
32 5
1
these: »La vie humaine est impossible « 15 - das menschliche wie man ihn in den puritanischen Spielarten des Protestantis-
Leben ist unmöglich - weht der Wind einer Gewißheit, die mus und in den jüngsten Metamorphosen der American Re-
116 b
aus der Unmöglichkeit entspringt. Was wir Wahrheit nennen, ..
/ zgzon eo b ac h tet. S'
e1l1 Symptom war der übermütige
ist die Resultierende aus dem Streit zwischen Erdenschwere Transvitalismus. Wo dieser sich geltend machte, mußte das
und Antigravitation. Der von Christen beschworene Heilige depressive Realitätsprinzip, der Glaube an die Vorherrschaft
Geist war die Weisheitskunst, die dafür sorgte, daß die Ver- des Todes, seinen schwersten Rückschlag hinnehmen. Der
stiegenheit der Märtyrer durch die Erinnerung an horizontale Glaube an die Gegenschwerkraft war es, der die Tragödie
Lebensmotive gemildert wurde. In diesem Sinn stellte der suspendierte und das Seil zwischen den beiden Zuständen
Heilige Geist den ersten Psychiater Europas dar - und die des Lebens so straff spannte, daß viele den tollkühnen Plan
frühen Christen waren seine ersten Patienten. Zu seinen Auf- faßten, die Überquerung zu wagen.
gaben gehört die Entschärfung der religiösen Immunparado- Noch der abgestürzte Seiltänzer aus dem Prolog zu Nietz-
xien, die in dem Moment aufbrechen, in dem die entfesselten sches Also sprach Zarathustra profitierte von der Spannung
Glaubenszeugen ihre physische Immunität schwächen, weil zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Seilveranke-
sie ihrer transzendenten Immunität allzu sicher sind. rung. Und obschon die neuere Lehre besagt, es gebe für das
Was in den Arenen der römischen Massenkultur geschah, Leben keinen Halt am Jenseitsufer mehr, findet man in der
war jedenfalls kein Sklavenaufstand in der Moral, um noch Immanenz
..
immer noch Seile, gespannt genua, 0
um die Schritte
einmal an Nietzsches problematisches Theorem zu erinnern- von Uberquerenden zu tragen. Auf ihnen geht man »dem
es war die Überbietung der Gladiatoren durch die Märtyrer. Anscheine nach nur auf der Luft«. Sie bilden einen Boden
Hier vollzog sich die Übertragung der physischen Agone in dem alle Eigenschaften des soliden Bodens fehlen . » Und doch
ein athletisches FesthaIten an dem Bekenntnis: ego sum Chri- läßt sich auf ihm wirklich gehen. «ll7 Auf dem Seil muß jeder
stianus - selbst wenn die Bekenner den bei den Römern so Schritt zehntausend Mal geübt sein, zugleich ist jeder Schritt
beliebten blonden Bestien, den Löwen, vorgeworfen wurden. dort oben zu setzen, als ob es der erste wäre. Wer für das Seil
Auch wer dem Märtyrertum mißtraut und in ihm die funda- lernt, unterzieht sich einer paideia, die den Bodengewohn-
mentalistische Sturheit von Menschen wittert, die mit ihrem heiten die Grundlage entzieht. Auf dem Seil gehen heißt alles
Leben nichts Besseres anzufangen wissen, als es mit dem Ge- Gewesene in der Gegenwart sammeln. Nur so läßt sich der
stus des schlagenden Beweises wegzuwerfen, muß zugeben, Imperativ: Du mußt dein Leben ändern! in tägliche Übungs-
daß in den Märtyrerakten der Verfolgungszeiten gelegentlich serien verwandeln. Die akrobatische Existenz detrivialisiert
etwas vom Geist des ursprünglichen christlichen Akrobatis- das Leben, indem sie die Wiederholung in den Dienst des
mus wahrzunehmen ist. Noch spürt man in manchen alten Unwiederholbaren stellt. Sie verwandelt alle Schritte in erste
Leidenszeugnissen den Willen zum Hinübergehen, wie man Schritte, weil jeder der letzte sein könnte. Es gibt für sie nur
ihn in den Trainingslagern des höheren Lebens zu üben be- eine ethische Handlung: die Überwanderung aller Verhält-
gonnen hatte. Der Wille zum Glauben wurde hier noch nicht nisse durch die Eroberung des Unwahrscheinlichen.
mit dem Willen zum -diesseitigen Lebenserfolg gleichgesetzt,
116 Vgl. Harold Bloom, The American Religion. The Emergence of
the Posr-Christian Nation. Ncw York crc. 1992.
115 Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1953. 117 Wittgenstein, Vcrmischte Bcmerkungen, a. a. 0., S. 141.
II Übertreibungsverfahren
II Üb ertrei bungsv erfahren
PROSPEKT:
RÜCKZÜGE IN DIE UNGEWÖHNLICHKEIT

Ein wirklich eifriger Mensch ist zu allem bereit. Sollte man in einem einzigen Satz den wesentlichen Unter-
Gewiß erfordert der Kampf gegen die Leidenschaften schied zwischen der modernen und der antiken Welt re-
mehr Schweiß und Anstrengung als körperliche Arbeit. sümieren und mit demselben Satz die beiden Weltzustände
Wache über dich, ermuntere dich, ermahne dich. bestimmen, er müßte lauten: Modern ist das Zeitalter, das
Du wirst genau so viel Fortschritte machen, als du dir die höchste Mobilmachung der menschlichen Kräfte unter
selbst Gewalt antust. dem Vorzeichen von Arbeit und Produktion zustande
brachte, während antik alle Lebensformen heißen, in denen
Gerhard GrootelThomas von Kempen die äußerste Mobilmachung im Namen von Übung und
De imitatione Christi Perfektion geschah. Daraus geht hervor: Das europäische
»Mittelalter« stellt, anders als sein Name sagt, keine eigen-
ständige Mitte zwischen Antike und Moderne dar, sondern
Der Weg des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit. bildet ganz unverkennbar einen Teil der Antike, obschon es
aufgrund seiner christlichen Tönung in oberflächlicher Sicht
William Blake, Proverbs of Hell als nach-antik oder gar gegen-antik gelten könnte. Weil das
christliche Mittelalter viel mehr eine Epoche der Übung als
der Arbeit war, besteht aus aktivitätstheoretischer Sicht an
seiner Zugehörigkeit zum antiken Regime kein Zweifel. In
der Antike leben und nicht an den Vorrang der Arbeit oder
des Wirtschaftslebens glauben - das sind nur zwei verschie-
dene Formulierungen für denselben Sachverhalt. Selbst das
benediktinische labora, das man zuweilen als ein dem Gebet
abgerungenes Zugeständnis an den Geist der Arbeit mißver-
stehen wollte, bedeutete in Wahrheit nur eine Ausdehnung
des meditativen Übens auf den materiellen Gebrauch der
Hände. Was Arbeit im neueren Sinn des Worts meint, konn-
te kein Mönch begreifen, solange die Ordensregel für die
Symmetrie zwischen orare und laborare sorgte. Im übrigen
muß man wissen, daß der Akzent auf dem labora in der
Benediktregel (die der Überlieferung zufolge anläßlich der
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33° II Übertreibungsverfahren Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit 33 1
Gründung des Kl osters von Monte Cassino zwischen 52 5 stellen wollte, 1 auch nicht in dem des Arbeitens, HersteI -
und 529 entstand) die Konsequenzen aus jahrhundertelan- lens und Wirtschaftens, sondern im Sinne einer Assimila-
gen Beobachtungen an mönchischen Pathologien zieht: tion an das niemals müd e universale oder göttliche Sein-
Während die Modernen durch Kuren und Ferien ihre Ar- Nichts, das mehr tut und mehr leidet, als jede endliche
beitskrankheiten kompensieren, setzten die Mönche das Ar- Kreatur zu tun und zu leiden imstande wäre. Allerdings
beiten ein, um Abhi lfe gegen ihre Kontemplationskrankhei- kennt sie, wie jenes, auch eine Art von stets in sich blei-
ten zu schaffen. bender, erfüllender und unstörbarer Ruhe, die nach den
Die These, die Antike stehe praktisch im Zeichen des Angaben der Eingeweihten in keiner Weise der profanen
Exerzitiums, die Moderne hingegen in dem der Arbeit, Erschöpfungsruhe gleicht.
behauptet einen Gegensatz wie einen inneren Zusammen- Es ist natürlich kein Zufall, wenn die Wiederentdeckung
hang zwischen Übungswelt und Arbeitswelt, Perfektions- des übenden Lebensmodus genau zu dem Zeitpunkt einsetz-
welt und Produktionswelt. Hierdurch nimmt das Konzept te, in dem die Vergötzung d er Arbeit (bis hinauf zum
Renaissance eine stark veränderte Bedeutung an. Wenn es deutsch-kaiserlichen »Wir alle sind Arbeiter«) ihren Höhe-
tatsächlich ein Phänomen wie die Wiedergeburt der Antike punkt erreicht hatte. Ich spreche hi er vom letzten Drittel des
in einer spät- oder nach-christlichen Welt oder vielmehr in 1 9. Jahrhunderts, für das ich Chiffren wie )' athletische Re-
einer Nach-Arbeitswelt geben sollte, es müßte sich durch naissance« und »Entspiritualisierung der Askesen « vor-
die Revitalisierung der Motive übenden Lebens bemerkbar schlug. Die beiden Formeln deuten auf Tendenzen, die über
machen. Hierfür fehlt es nicht an Indizien. Was beide die Ära des Produktivismus hinausweisen. Seit der Tätigkeits-
Regime auszeichnet, ist ihr Vermögen, menschliche Kräfte typuS Übung - zusammen mit dem ästhetischen Spiel - aus
in Anstrengungsprogramme größten Ausmaßes zu inte- dem Schatten der Arbeit heraustritt, entwickelt sich auf mo-
grieren, was sie trennt, ist die radikal divergente Ausrich- dernem Boden ein neuartiges Ökosystem von Aktivitäten, in
tung der Mobilisationen. Im einen Fall werden die ge- dem der absolute Vorrang des Produktwerts zugunsten von
weckten Energien ganz dem Primat des Objekts bzw. des Übungswerten, Performanzwerten und Erlebniswerten revi-
Produkts untergeordnet, letztlich sogar dem abstrakten diert wird.
Produkt, das Profit heißt, oder dem ästhetischen Fetisch, Niemand kann heute daher ein glaubwürdiger Zeitgenosse
der als »Werk« exhibiert und gesammelt wird. Im anderen sein, der nicht spürt, wie die Dimension Performanz an der
Fall fließen alle Kräfte in die Intensivierung des übenden Dimension Arbeit vorbei zieht. So hat sich das System des
Subjekts, das sich im Gang der Exerzitien zu immer höhe- Sports zu einem Multiversum mit Hunderten von Neben-
ren Stufen einer rein performativen Seinsweise entfaltet. welten entfaltet - darin fei ern die selbstbezügliche Bewe-
Was man die vita contemplativa genannt hat, um sie der gung, das nutzlose Spiel, di e überflüssige Verausgabung, der
vita activa gegenüberzustellen, ist in Wahrheit eine vita simulierte Kampf eini germaßen mutwillig ihr Dasein, in
performativa. Sie ist auf ihre Weise so tätig wie das tätigste
Leben. Allerdings drückt sich dies nicht im Modus des I Hannah Arendt, The Human Condition, 19 58, deutsch: Vita activa
oder Vom tätigen Leben, S[U[(gart 1960. Kritisch dagegen ein
politischen H andeins aus, das Hannah Arendt auf den Spu- Arendt-Schüler; Ri chard Sennett, Handwerk, München 1008,
ren von Aristoteies an die Spitze der aktiven Lebensformen S. 9f.; siehe auch unten S. 45 8.
Ir Übertreibungsverfahren
329

PROSPEKT:
RÜCKZÜGE IN DIE UNGEWÖHNLICHKEIT

Ein wirklich eifriger Mensch ist zu allem bereit. Sollte man in einem einzigen Satz den wesentlichen Unter-
Gewiß erfordert der Kampf gegen die Leidenschaften schied zwischen der modernen und der antiken Welt re-
mehr Schweiß und Anstrengung als körperliche Arbeit. sümieren und mit demselben Satz die beiden Weltzustände
Wache über dich, ermuntere dich, ermahne dich. bestimmen, er müßte lauten: Modern ist das Zeitalter, das
Du wirst genau so viel Fortschritte machen, als du dir die höchste Mobilmachung der menschlichen Kräfte unter
selbst Gewalt antust. dem Vorzeichen von Arbeit und Produktion zustande
brachte, während antik alle Lebensformen heißen, in denen
Gerhard GrooteiThomas von Kempen die äußerste Mobilmachung im Namen von Übung und
De imitatione Christi Perfektion geschah. Daraus geht hervor: Das europäische
»Mittelalter« stellt, anders als sein Name sagt, keine eigen-
ständige Mitte zwischen Antike und Moderne dar, sondern
Der Weg des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit. bildet ganz unverkennbar einen Teil der Antike, obschon es
aufgrund seiner christlichen Tönung in oberflächlicher Sicht
William Blake, Proverbs of Hell als nach-antik oder gar gegen-antik gelten könnte. Weil das
christliche Mittelalter viel mehr eine Epoche der Übung als
der Arbeit war, besteht aus aktivitätstheoretischer Sicht an
seiner Zugehörigkeit zum antiken Regime kein Zweifel. In
der Antike leben und nicht an den Vorrang der Arbeit oder
des Wirtschaftslebens glauben - das sind nur zwei verschie-
dene Formulierungen für denselben Sachverhalt. Selbst das
benediktinische labora, das man zuweilen als ein dem Gebet
abgerungenes Zugeständnis an den Geist der Arbeit mißver-
stehen wollte, bedeutete in Wahrheit nur eine Ausdehnung
des meditativen Übens auf den materiellen Gebrauch der
Hände. Was Arbeit im neueren Sinn des Worts meint, konn-
te kein Mönch begreifen, solange die Ordensregel für die
Symmetrie zwischen orare und laborare sorgte. Im übrigen
muß man wissen, daß der Akzent auf dem labora in der
Benediktregel (die der Überlieferung zufolge anläßlich der
33° Il Übertreibungsverfahren Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit 33 I

Gründung des Klosters von Monte Cassino zwischen 525 stellen wollte,' auch nicht in dem des Arbeitens, Herstel-
und 529 entstand) die Konsequenzen aus jahrhundertelan- Iens und Wirtschaftens, sondern im Sinne einer Assimila-
gen Beobachtungen an mönchischen Pathologien zieht: tion an das niemals müde universale oder göttliche Sein-
Während die Modernen durch Kuren und Ferien ihre Ar- Nichts, das mehr tut und mehr leidet, als jede endliche
beitskrankheiten kompensieren, setzten die Mönche das Ar- Kreatur zu tun und zu leiden imstande wäre. Allerdings
beiten ein, um Abhilfe gegen ihre Kontemplationskrankhei- kennt sie, wie jenes, auch eine Art von stets in sich blei-
ten zu schaffen. bender, erfüllender und unstörbarer Ruhe, die nach den
Die These, die Antike stehe praktisch im Zeichen des Angaben der Eingeweihten in keiner Weise der profanen
Exerzitiums, die Moderne hingegen in dem der Arbeit, Erschöpfungsruhe gleicht.
behauptet einen Gegensatz wie einen inneren Zusammen- Es ist natürlich kein Zufall, wenn die Wiederentdeckung
hang zwischen Übungswelt und Arbeitswelt, Perfektions- des übenden Lebensmodus genau zu dem Zeitpunkt einsetz-
weIt und Produktionswelt. Hierdurch nimmt das Konzept te, in dem die Vergötzung der Arbeit (bis hinauf zum
Renaissance eine stark veränderte Bedeutung an. Wenn es deutsch-kaiserlichen »Wir alle sind Arbeiter«) ihren Höhe-
tatsächlich ein Phänomen wie die Wiedergeburt der Antike punkt erreicht hatte. Ich spreche hier vom letzten Drittel des
in einer spät- oder nach-christlichen Welt oder vielmehr in 19. Jahrhunderts, für das ich Chiffren wie »athletische Re-
einer Nach-Arbeitswelt geben sollte, es müßte sich durch naissance« und »Entspiritualisierung der Askesen« vor-
die Revitalisierung der Motive übenden Lebens bemerkbar schlug. Die beiden Formeln deuten auf Tendenzen, die über
machen. Hierfür fehlt es nicht an Indizien. Was beide die Ära des Produktivismus hinausweisen. Seit der Tätigkeits-
Regime auszeichnet, ist ihr Vermögen, menschliche Kräfte typus Übung - zusammen mit dem ästhetischen Spiel - aus
in Anstrengungsprogramme größten Ausmaßes zu inte- dem Schatten der Arbeit heraustritt, entwickelt sich auf mo-
grieren, was sie trennt, ist die radikal divergente Ausrich- dernem Boden ein neuartiges Ökosystem von Aktivitäten, in
tung der Mobilisationen. Im einen Fall werden die ge- dem der absolute Vorrang des Produktwerts zugunsten von
weckten Energien ganz dem Primat des Objekts bzw. des Übungswerten, Performanzwerten und Erlebniswerten revi-
Produkts untergeordnet, letztlich sogar dem abstrakten diert wird.
Produkt, das Profit heißt, oder dem ästhetischen Fetisch, Niemand kann heute daher ein glaubwürdiger Zeitgenosse
der als »Werk« exhibiert und gesammelt wird. Im anderen sein, der nicht spürt, wie die Dimension Performanz an der
Fall fließen alle Kräfte in die Intensivierung des übenden Dimension Arbeit vorbeizieht. So hat sich das System des
Subjekts, das sich im Gang der Exerzitien zu immer höhe- Sports zu einem Multiversum mit Hunderten von Neben-
ren Stufen einer rein performativen Seinsweise entfaltet. welten entfaltet - darin feiern die selbstbezügliche Bewe-
Was man die vita contemplativa genannt hat, um sie der gung, das nutzlose Spiel, die überflüssige Verausgabung, der
vita activa gegenüberzustellen, ist in Wahrheit eine vita simulierte Kampf einigermaßen mutwillig ihr Dasein, in
performativa. Sie ist auf ihre Weise so tätig wie das tätigste
1 Hannah Arendt, The Human Condition, 195 8, deutsch: Vita activa
Leben. Allerdings drückt sich dies nicht im Modus des
oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. Kritisch dagegen ein
politischen HandeIns aus, das Hannah Arendt auf den Spu- Arendt-Schüler: Richard Sennett, Handwerk, München 2008,
::en von Aristoteles an die Spitze der aktiven Lebensformen s. 9f.; siehe auch unten S. 458.
332 II Übertreibungsverfahren Prospekt: Rückzüge in die Un gewähnlichkeit 333

deutlichstem Gegensatz zum utilitären Objektivismus der ihre Weise ein Geheimnis von Handwerkern und Fetischma-
Arbeitswelt, mochte auch eine verdumpfte Soziologie noch ehern alten Schlages, wonach in das gut gemachte Ding im-
so oft behaupten, der Sport sei nur das Trainingslager für die mer die »Seele« ihres Urhebers einfließt, während dieser sein
Fabrik und die Vorschule der kapitalistischen Konkurrenz- Metier nur meistert, wenn er ständig auf Stimmen des Mate-
ideologie. Immerhin ist zuzugeben, daß die im antiken Sinn rials hört.
»zirkus«haftesten Teile der Sportwelt, vor allem im Umkreis Daneben haben die zahllosen psychotherapeutischen Sy-
des olympischen Geschäfts sowie in den professionalisierten steme, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts entfaltet haben,
Segmenten von Fußball und Radsport, inzwischen selber ei- die antiken Praktiken der übenden Introspektion wieder zum
nem Resultatfetischismus unterliegen, der dem zwanghafte- Leben erweckt, in der Regel ohne sich der Verwandtschaft
sten Produktdenken der ökonomischen Sphäre in nichts mit den alten Modellen bewußt zu sein. Nietzsche hatte mit
nachsteht. Aber was bedeutet das, wenn andererseits die Sta- seiner Forderung, seine Leser dürften, wollten sie ihn wirk-
tistiken besagen, daß in diesen Bereichen der Sportwelt auf lich verstehen, keine modernen Menschen, sondern müßten
einen Professionellen zehntausend Amateure und mehr kom- Meditanten oder »Wiederkäuer« sein, die Rückwendung von
men? der Arbeitslogik zum Exerzitium eingeläutet. Wenn Foucault
Noch klarer artikuliert sich die Tendenz zur Exhibition des hingegen um 1980 den antiken Diskurs um die »Selbstsorge «
selbstbezüglich-übenden Tuns im Kunstbetrieb des letzten ins gegenwärtige Gespräch zurückbrachte, war dies ein Si-
Jahrhunderts: Die ästhetische Moderne ist die Ära, in der sich gnal, die Ära der therapeutischen Ideologien abzuschließen.
das Performative von den Prozeduren und Zielen der Arbeits- Was seither auf der Tagesordnung steht, ist die Wiedergewin-
welt ablöst, um zahllose Bühnen für völlig eigenwertige Dar- nung eines verallgemeinerten Übungsbewußtseins aus den
bietungen zu errichten. Längst hat die Emanzipation der Quellen antiker Philosophie und neuzeitlicher Kunst- und
Kunst von ihrer Arbeitsförmigkeit auch systemimmanent Körperpraxis. Hier und da beginnt man zu begreifen, daß
den Punkt erreicht, an dem das Werk wieder in den selbst- der Therapeutismus des 20 . Jahrhunderts seinerseits nur ein
bezüglichen Prozeß des Übens, besser in den Gestaltwandel Deckphänomen einer Tendenzwende mit epochalen Zügen
der kreativen Energien, eingeschmolzen wird. Es steht oft war. Ich darf daran erinnern: Das psychoanalytische Schlüs-
nicht mehr als autonomes Resultat in der Welt, von seinen selwort »durcharbeiten« beruht auf der diskreten Übernah-
Entstehungsbedingungen für immer abgekoppelt und durch me eines stoischen Übungsprinzips, dem Hin- und Herwen-
das Prädikat »fertig« in die Sphäre reiner Objektivierung ver- den einer Vorstellung oder eines Affekts in der Meditation,
setzt, sondern als momenthaft fixierter Übungskristall- Index das in der griechischen Terminologie der Schule anapolein
einer Drift von einem performativen Zustand zum nächsten. bzw. anap6lesis hieß, lateinisch: in animo versare. Es bezeich-
Andererseits haben große Künstler wie Rodin von ihrer net den modernen Zeitgeist, daß man auch Sport und Medita-
unaufhörlich übenden, obschon stets am gegenständlichen tion gern als »Arbeit« präsentiert.
Produkt orientierten Tätigkeit als höchster Form von »Ar- Die folgenreichste Unterwanderung des Arbeits- und Pro-
beit« geredet: toujours travailler, wie um klarzustellen, daß duktionsglaubens vollzog sich auf seinem eigenen Terrain, als
die Kunst, ihrer Selbstbezüglichkeit zum Trotz, die ernsteste die Kommunistische Partei der Sowjetunion nach der Okto-
wie die selbstloseste Sache bedeute. Sie verrieten damit auf berrevolution 1917 der noch überwiegend agrarischen Öko-
334 II Übertreibungsverfahren Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit 335
nomie des vormaligen Zarenreichs eine Modernisierungskur mich mit Umrißzeichnungen und anekdotischen Kolorierun-
verordnete. In diesem Umbruch wurden die motivationalen gen begnügen. Ich beginne, dem Gang der Sache selbst fol-
Grundlagen der modernen Erwerbsarbeit, der Zwang zur gend, mit der seit der Antike zu beobachtenden Heraustren-
Schuldenbedienung im Kreditsystem der Eigentumswirt- nung der Übenden aus dem sozialen Lebenskontinuum und
schaft und das persönliche Streben nach Wohlstand so tiefge- ihrer Fixierung in einer systematisch zu festigenden Exzen-
hend zerrüttet, daß sich im gesamten Wirkungsbereich kom- trik gegenüber ihrem bisherigen, von Gruppenzwängen und
munistischer Herrschaft zu keiner Zeit so etwas wie eine ef- organischen Trägheiten diktierten Dasein. Dieser Rückzug
fiziente Arbeitskultur modernen Typs ausbilden konnte. Da aus der kollektiven Identität - praktische Matrix jeder geisti-
die Orientierung am eigenen Vorteil apriori suspendiert war, gen epoche - bildet ein Merkmal des asketischen modus vi-
blieb den sowjetischen Werktätigen nur die Wahl zwischen vendi, das von Helmuth Plessner, dem Urheber der Doktrin
den Haltungen des freiwilligen Rekordproduzenten oder des von der »exzentrischen Positionalität« des Menschen, in
selbstironischen Roboters - in beiden Attitüden wurde die sympathischer Übertreibung zu einem allgemeinen Grund-
Orientierung der Arbeit am Vorrang des Ergebnisses unter- zug der conditio humana stilisiert wurde, als ob alle Einzel-
miniert und in eine mehr oder weniger selbstbezügliche nen apriori neben sich stünden und wie Schaupieler des All-
Übung verwandelt. Im Grunde war die Sowjetwirtschaft tags, Naturhysteriker oder Public-Relations-Manager in ei-
ein Kompositum aus einer feudalen Tempelökonomie, in gener Sache ihr Leben von jeher vor dem Spiegel führten.
der ein zynischer Staatsklerus das Mehrprodukt absorbierte, Indessen sollte man daran erinnern, daß Spiegel, obschon in
und einer Gurdjieff-Gruppe: Bekanntlich arbeiten Adepten seltenen Exemplaren schon vor mehr als 2000 Jahren in Ge-
solcher Veranstaltungen Tag und Nacht bis zur Erschöpfung brauch, erst vor annähernd zweihundert zu allgemeinerer
an irgendwelchen vom Gruppenleiter gestellten Aufgaben, Verbreitung gelangten; als schließlich vor hundert Jahren
um dann zu erleben, wie das Produkt vor ihren Augen zer- die Sättigung des Spiegel markts erreicht war, rief ihre Allge-
stört wird - vorgeblich, um ihre innere Loslösung zu fördern. genwart eine gewisse diskrete Exzentrik in den Selbstverhält-
In diesem Sinn gilt: Der Kommunismus hat mit seinen Po- nissen von jedermann und jeder Frau hervor. Sie verführen
pulationen eine quasi-spirituelle Übung durchgeführt, die ihre Benutzer zu dem Glauben, sie seien schon immer reflexiv
unter dem Vorwand des Arbeitskults die Arbeit ad absurdum »neben sich« gewesen, indessen die Spiegel in historischer
führte: Er hat das Leben von drei Generationen für die Her- Sicht ihre Rolle als egotechnische Leitmedien des modernen
stellung eines politischen Ornaments verbraucht, über das die selbstbildabhängigen Menschen ganz unverkennbar erst vor
Geschichte hinwegging. Sein Schicksal erinnert von fern dar- sehr kurzem zu spielen begannen.
an, wie tibetische Mönche große Mandalas aus farbigem Sand
ausführen, die dazu bestimmt sind, am Tag nach ihrer Fertig- Im nächsten Abschnitt zeige ich, auf welche Weise die Innen-
stellung vom Fluß weggespült zu werden. welt der Übenden von idealen Vorbildmächten durchwirkt
wird, und weiter, wie die Intuition einer fernen und doch
In diesem Teil rekonstruiere ich einige Grundzüge des expli- verbindlichen Vollkommenheit zum Aufbau von starken Ver-
eite übenden Lebens. Angesichts der Ungeheuerlichkeit des tikalspannungen führt - das erzeugt ein Reich von ideenbe-
Materials, das hier zur Sprache kommen müßte, muß ich feuerten Aufschwüngen und subtilen Attraktoren, von de=-_::=-_
II Übertreibungsverfahren Prospekt: Rückzü ge in die Ungewöhnlichkeit 337

die Modernen in der Regel nur noch so viel wissen, wie durch wie bei dem Sprung des Paulus vom jüdischen Zeloten turn ins
die unter dem Begriff »Narzißmus « zirkulierenden Karikatu- apostolische Eifern - keinen wirklichen Konversionscharak-
ren sichtbar wird. Hieraus ergeben sich Einblicke in die Zeit- ter aufweist.
formen eines Daseins unter dem Zug des Vollendungsgedan-
kens. Aus der Zeitstruktur des Seins-zur-Vollendung, sei es in
alteuropäischen, sei es in asiatischen Varianten, sind Auf-
schlüsse über die Macht des Perfektionismus zu gewinnen,
ohne den man die Verführbarkeit der Modernen durch die
Phantome der Geschichtsphilosophie nicht verstehen kann.

Nach einigen historischen und systematischen Hinweisen auf


die unentbehrliche Figur des Trainers, den man je nach Re-
gion, Tradition und Laune als Meister, Guru, Vater, Heiler,
Genius, Dämon, Lehrer oder Klassiker bezeichnet, nehme
ich das religionswissenschaftlich gut bearbeitete Phänomen
der Konversionen neu ins Visier, um zu erläutern, wie Üben-
de nicht selten in die Verlegenheit geraten, mit einem anderen
Trainer weiterarbeiten zu müssen. Dabei zeigt sich: Viele
Fach- und Niveauwechsler hatten zuerst mit einem falsch
formatierten »Gott« trainiert, einem zu erfolglosen, wie Wo-
tan, dem zu gegebener Zeit Christus den Rang abläuft, oder
einem zu ernsten, wie sich beim neuzeitlichen Übergang vom
immer leidenden Christus zur fröhlichen Fortuna beobach-
ten ließ. Wir werden sehen, wieso ein entlassener Trainer
immer eine gute Chance hat, im Seelenhaushalt seines ehe-
maligen Schützlings ein zweites Leben als Götze, Dämon
oder cattivo maestro zu führen. Damit wird eine Revision
in der Königsdisziplin der Religionssoziologie, der Theorie
der Konversionen, fällig. Ich möchte Zweifel an dem gängi-
gen Modell der Konversion anmelden (auch wenn ich Os-
wald Spenglers These, es gebe keine wirklichen Konversio-
nen, nicht unterstütze), indem ich zeige, daß die eigentliche
Bekehrung allein beim Eintritt in eine hochkulturelle Diszi-
plin des übenden Lebens geschieht (die ich die Sezession nen-
ne), indessen der bloße Disziplin- und Konfessionswechsel-
6 Erste Exzentrik 339

lieh, schaurig, gewesen, sagt das mehr über das Klima antiker
6 ERSTE EXZENTRIK Geistigkeit als jedes esoterische Geflöte. Hatte nicht Epiktet
tatsächlich gelehrt, wer sein Kind küsse, solle ihm dabei in-
VON DER ABSONDERUNG DER ÜBENDEN
nerlich zurufen: »Morgen wirst du sterben«, damit man sich
UND IHREN SELBSTGESPRÄCHEN
im Nicht-Haften übe und eine angenehme Vorstellung durch
eine unangenehme Gegenvorstellung ausgleiche?3 Dieselbe
Härte erklingt in den Reden des Buddha, der die mönchische
Vollkommenheit in die Formel faßt:
Entwurzelung aus dem ersten Leben: »Wer nicht für andere sorgt, für den es keine Verwand-
Spiritueller Sezessionismus ten gibt, wer sich bezähmt, wer in der Wahrheit befe-
stigt ist, in dem die Grundübel erloschen sind, wer den
Der Schritt ins übende Leben erfolgt durch die ethische Haß von sich geworfen hat: den nenne ich einen Brah-
Un~erscheidung.2 Die vollzieht, wer es wagt oder wem es
manen.«
zufallt, aus dem Lebensstrom zu steigen und das Ufer als Wie tief der Bruch reicht, der aus den Worten des Erwachten
Aufenthalt~ort zu wählen. Der Herausgestiegene pflegt eine
spricht, begreift nur, wer sich erinnert, daß noch wenige Ge-
kampfbereIte Aufmerksamkeit für das eigene Innere und be- nerationen zuvor das Heil des Brahmanen allein aus der Ver-
wahrt einen feindseligen Argwohn gegen das neue Außen wandtschaft kam, genauer: aus der väterlichen Deszendenz
das bis dahin die tragende Welt schlechthin bedeutet hatte: und aus den in der Familie gehüteten Opferkünsten. Man
~lle Steigerungen geistiger und leiblicher Art beginnen mit muß demnach immer berücksichtigen: Der Extremismus
e~ner Sez:ssi~n von der Gewöhnlichkeit. Diese geht zumeist bei Stoikern, frühen Christen, Tantrikern, Buddhisten und
eI.nher mIt emer heftigen Abstoßung der Vergangenheit - anderen Verächtern der Wahrscheinlichkeit ist kein illegiti-
mcht selten unter Mithilfe von Affekten wie Ekel, Reue mer Zusatz, den spätere morbide Scharfmacher erfunden hät-
und völliger Verwerfung des früheren Seinsmodus. Was ten, um uns eine an sich gesunde und milde Lehre zu vergäl-
ma~ ~eut: ~ft mit einem .etwas zu pietätvollen Zungenschlag len. Er geht überall von den Quellen selbst aus.
» Spl:ltuahta~« nennt, gleIcht anfangs eher einer heiligen Per- Um die Originalsprache der radikalen Sezessionsdynamik
versI~~ al~ emer allgemein respektablen geistigen Praxis. Die zu hören, genügt es, Matthäus 10, 37 nachzulesen:
ur$prunghche Ehrfurcht vor spirituellen »Werten« ist stets »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner
durchsetzt. von Perversionsfurcht und Grauen angesichts nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als
d~r Mystenen der Widernatürlichkeit, gleich, ob es sich um
mich, ist meiner nicht würdig.«
dIe monströsen Darbietungen der indischen Fakire und die Das ist der loeus classicus aggressiver Vertikalsprache in der
Versteinerungsübungen der Stoiker handelt oder die Him- westlichen Hemisphäre, ein performativer Blitz aus einem
m~lfahrtsübungen ch~i~t1icher Extremisten. Wenn sogar ein Himmel, der Apokalypsen zeitigt und Abschiede erzwingt.
mIt der Stoa s~mpath.Islerender Autor wie Horaz über Epik-
tet bemerkt, dIeser seI aufgrund seiner Strenge atrox, entsetz- 3 Paul Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Anti-
ke, München 1954, S. 137, nach Epiktet, Encheiridion 3· Dasselbe
2 Siehe oben S. 25 sf. Motiv bei Mare Aurel, Selbstbetraehtungen I I, 34·
34° II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 34 1
Die Geschäftsbasis für den Bruch mit dem ersten Leben wird vairagya beschrieben, was wörtlich »Loslösung« heißt und
in einem Dialog offengelegt, von dem Markus 10, 28-30 be- eine abscheu getönte Gleichgültigkeit gegen alltägliche Ge-
richtet. Petrus: »Du weißt, wir haben alles verlassen und sind nüsse und Sorgen bezeichnet.
dir nachgefolgt.« Darauf Jesus: Auch der griechisch-römische Stoizismus kennt und lobt
»Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums den Bruch mit den Anhänglichkeiten und Aversionen des
willen Haus und Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, ersten Lebens - wer sich gegen das Schicksal eine harte Haut
Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfa- wachsen lassen will, muß sich als erstes die natürliche Bevor-
che dafür empfangen.« zugung des Angenehmen abgewöhnen. In leise parodisti-
Auf dieser Grundlage muß die Entwurzelung geübt werden, schem Ton bemerkt Nietzsche hierzu:
bis der Adept begreift: Die Trivialität des früheren Lebens ist »Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm,
die abscheulichste Ketzerei; die Wirklichkeit als solche ist Glassplitter und Skorpione zu verschlucken und ohne
eine Seuche. Der G laube an sie und ihr herrschendes Prinzip Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen
ist ein Versunkensein im Miasmus. alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüt-
Ist es monströs, so hat es doch Methode: Der Sezessionis- tet .. . «5
mus der großen transformativen Ethiken will ein für alle Mal Mehr noch als auf die Gleichgültigkeit des Magens zielt die
statuieren, daß im ersten Leben kein Heil liegt. Die anfäng- stoische Übung auf die Gleichgültigkeit der Augen gegen
lichen Bindungen erweisen sich als Fesseln, die die Seelen an beliebige Anblicke, der Ohren gegen beliebige Töne und
unrettbare Zustände binden. Ist die Region Besessenheit, Ver- des Geistes gegen beliebige Vorstellungen - das geht, wie
fallenheit, Heillosigkeit erst einmal aufgedeckt, darf die Aus- Marc Aurel in seinen Mahnsprüchen An sich selbst notiert,
treibung der Geister vor nichts zurückschrecken. Bei den bis zu der prinzipiellen Weigerung, sich über irgend etwas zu
Radikalen genügt es darum nicht, Dorf, Acker und Netze wundern.
zu verlassen, auch das alte physische und psychische Selbst »Es hieße lächerlich und ein Fremdling in der Welt sein,
hat zurückzubleiben. Bei Pantanjali, dem mythischen Verfas- wenn man über irgendein Ereignis in seinem Leben
ser des Yoga-Sutra aus dem 5. oder 4. Jahrhundert vor Chri- staunen wollte.«6
stus, der häufig mit dem gleichnamigen Grammatiker aus Diese Maxime, kaltblütig, wie sie klingen wollte, läßt die an-
dem 2. Jahrhundert identifiziert wurde, rufen die der Medita- thropotechnische List durchscheinen, wonach es dem Stoiker
tion vorangehenden asketischen Reinigungen (tapas) beim bei seiner gezielten Gleichsetzung von Überraschungen und
Kontemplanten einen heilsamen Abscheu vor dem eigenen Verletzungen darauf ankommt, sich durch Immunisierung
Körper hervor und drängen ihn zur Unterbrechung jeder
F. N ., Die Fröhliche Wissenschaft 306. Analog Marc Aurel, Selbst-
Berührung mit den übrigen Körpern. 4 Sobald mir die Welt betrachtungen 10, 3 I: Alles Menschliche soll dir wie ein Rauch, ein
als ein Tümpel voll Schmutz erscheint, ist die Hälfte des We- wahres Nichts erscheinen und das Nachdenken über alle Gegen-
ges ins Freie bewältigt. Die Haltung des richtig Übenden stände als »Übungsmittel für die Vernunft« dienen. Man soll mit
gegenüber seinem früheren Dasein wird im Hinduismus als gründlichem Naturforscherblick auf die Dinge schauen, bis man sie
sich angeeignet hat, »gleichwie ein starker Magen sich gewöhnt, alles
zu verdauen ... «
4 Pamanjali, Yoga-Sutra II, 41. 6 Marc AureI, Selbstbetrachtungen 12, 13.

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Il Übertrei bungsverfahren 6 Erste Exzentrik 343

gegen die ersten zugleich das nötige Maß an Wetterfestigkeit worden sind. Wo immer Universalismen auftreten: Sie leisten
gegen die zweiten anzueignen. durch große Umarmungsgesten mehr oder weniger trügeri-
sche Wiedergutmachungen für den Angriff der Radikalen. Die
Errungenschaften der Minderheiten, behaupten sie regelmä-
Die Spaltung des Seienden durch den Feldzug ßig, sind keine Privilegien für wenige, sondern Eroberungen
gegen das Gewöhnliche für alle. Die Wahrheit ist, daß Universalismus nie mehr errei-
chen kann als die Umformatierung einer Auserwählungs-
Noch einmal: Ins ethische Denken eintreten heißt mit dem gruppe. Diese zieht früher oder später ihre Kreise weiter
ganzen eigenen Dasein einen Unta-schied machen, den zuvor und gruppiert einen größeren Kranz von Neubekehrten und
niemand vollzog. Gäbe es einen hierzu gehörigen Sprechakt, Sy mpathisanten um den harten Kern. An solchen Peripherien
er hieße: »Hiermit trete ich aus der gewöhnlichen Wirklich- gedeihen die Träume von absoluter Inklusivität. Aufs Ganze
keit aus.« Die Sezession von der Gewohnheitswelt als erste gesehen, bleibt der abstrakte Universalismus - wie »der
ethische Operation führt eine unbekannte Spaltung in die Mensch« in Sartres Definition - eine vergebliche Passion,
Welt ein. Sie zertrennt nicht nur die Menschheit asymme- den Untrainierten ein Trost und den Trainierten ein Trugbild.
trisch in die Gruppen der Wissenden, die weggehen, und Die Sez,.ession vollziehen heißt die Welt spalten. Der Ope-
der Unwissenden, die am Ort des vulgären Verhängnisses rateur ist derjenige, der, indem er weggeht, die Weltfläche in
bleiben, sie impliziert unvermeidlich die Kriegserklärung zwei zunächst unversöhnbar entfremdete Regionen zer-
der ersten an die zweiten. Daraus resultiert der unblutige schneidet - in die Zone der Weggehenden und die der Blei-
Krieg der als Lehrbefugte Zurückkehrenden gegen alle übri- benden. Durch diesen Schnitt erfahren beide Seiten zuerst,
gen, die nun erfahren, daß sie Schüler sind - und in der Regel daß die Welt, die zuvor eine allen Menschen gemeinsame,
schlechte Schüler, verlorene Schüler, ja Unerziehbare, die mit vielköpfige, doch unzertrennliche und unkonfrontierbare
der Verdammnis spielen, ohne es zu wissen - Menschen von Einheit zu sein schien, in Wahrheit eine spaltbare und kon-
gestern, aus einer Zeit vor der Entdeckung des großen Unter- frontierbare Größe ist. Der Rückzug der Asketen ist das Mes-
schieds. Zugleich fehlt es in allen Kulturen, in denen der ser, das den Schnitt ins Kontinuum setzt. Danach erscheint
logisch-ethische Bürgerkrieg losbrach, nicht an Vermittlern, die Welt in einem völlig veränderten Licht - ja, vielleicht kann
die den Bruch zu überbrücken suchen. Sie nähern die vom vom Bestehen einer »Welt« im Sinne der hochkulturell co-
Logos Erniedrigten, von den Edlen Wahrheiten Beleidigten, dierten moralisch-kosmischen Ausgriffe aufs Ganze erst die
von den heilsamen Übungen Ausgeschlossenen durch senti- Rede sein, nachdem sie von der neuen Klasse der Verneiner
mentale universalistische Versöhnungsformeln der Partei der entzweit und auf einer höheren Ebene wieder zusammenge-
Angreifer an - ja vielleicht stellen die sogenannten großen setzt worden ist. Bildete das Totum zuvor eine konfuse Viel-
Religionen mitsamt ihren klerikalen Apparaten, ihren Netz- heit von multiplen Kräften vor vagem Einheitsgrund, gerät es
werken organisierter Weltflucht und ihren weltzugewandten jetzt zu einer angestrengten Sy nthese über den vom Schnitt
Schulen, Kliniken und Diakonien insgesamt nichts anderes erzeugten ungleichen Teilen. Was Heidegger die »Zeit des
dar als Unternehmen zur Abmilderung der kränkenden Weltbilds« nannte, beginnt nicht erst mit den modernen G ~ ::­
Überspannungen, die durch ihre Gründer in die Welt gesetzt ben und Atlanten, sondern bereits mit den achsenzei tlicL :-

7
344 Ir Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 345
Kosmos- und Reichsvisionen. Eine Welt, vor der die ethisch sion erzeugt reale Räume. Sie richtet Grenzen auf, hinter
Besten fliehen, kann kein mütterlicher Behälter für alle Le- denen ein wirklich andersartiger Daseinsmodus seinen Wil-
bensformen mehr sein. Infolge des Auszugs der Asketen, der len diktiert.
Meditanten, der Denker wird sie zum Schauplatz eines Dra- Wo Sezessionisten sich aufhalten, gelten die Regeln des
mas, das ihre Fähigkeit, ethisch erregte Einwohner angemes- real existierenden Surrealismus. Ein Kloster, ob am Fuß des
sen zu beherbergen, von Grund auf in Frage stellt: Was ist Himalaya oder am Rande der Sketischen Wüste, ein paar Ta-
diese Welt, wenn die stärkste Aussage über sie in der Abkehr gesmärsche südlich Alexandrias, hat nichts mit einer ge-
von ihr besteht? Das große Welttheater handelt von dem träumten Insel im Atlantischen Ozean gemeinsam - es ist
Duell zwischen den Sezessionisten und den Seßhaften, den ein konkretes Biotop, bevölkert von hartgegerbten Surreali-
Weltflüchtern und den In-der-Welt-Bleibern. Wo aber Thea- sten, die einem strikten Regime gehorchen. Gleiches gilt von
ter ist, tritt die Figur des Beobachters auf den Plan. Wenn die den Höhlen der ägyptischen Eremiten, von den Wald- und
ganze Welt eine Bühne wird, so deswegen, weil es die Sezes- Berg-Refugien der indischen Samnyasins und von allen übri-
sionisten gibt, die vorgeben, hier nur Besucher, nicht Mit- gen Stützpunkten des meditativen Retreats oder der asketi-
spieler, zu sein. Reine Theorie ist die Rezension der Welt schen Weltverlorenheit - auf paradoxe Weise sogar von den
durch reservierte Besucher. Ihr Erscheinen erzeugt die ethi- luftigen Camps der syrischen Styliten, die auf den Plattfor-
sche Herausforderung des »Bestehenden« durch eine Beob- men an der Spitze ihrer Gebetssäulen jahrelange Scharaden
achtung aus quasi-transzendenter Position: Von der »Grenze über die Redewendung »dem Himmel näher kommen« in-
der Welt« aus wollen diese Beobachter bezeugen, was an dem szenierten - Weltverachtungstheater vor den Augen eines
erstaunlichen Lokal der Fall ist. wundersüchtigen Pöbels, der aus den Städten zu den Ruinen
in der Wüste strömte, um endlich einmal etwas zu sehen, bei
dessen Anblick man seinen Augen nicht mehr trauen durfte.
Rückzugsräume der Übenden Darum scheint es plausibler, für die raumbildenden Re-
sultate der ethischen Sezession einen Ausdruck wie »Hetero-
Mit diesen Hinweisen deute ich eine spirituelle Raumord- tapie « zu verwenden, den Michel Foucault in seinem wenig
nung an, die tiefere Grenzen verhandelt, als irgendeine Geo- bekannten, im Jahr 1967 vor Architekten gehaltenen Vortrag
politik erfassen kann. Die von den Sezessionen geschaffenen Des espaces autres geprägt hat. Heterotopien sind ihm zufolge
Räume - man denke fürs erste an die Einsiedeleien, die Klö- »andersortige « Raumschöpfungen, die einerseits dem Gefüge
ster, die Akademien und andere Ortstypen des asketisch-me- sozialer Stellen (emplacements) einer bestimmten Kultur an-
ditativen und philosophischen Rückzugs - hätte man in den gehören, andererseits aus dem trivialen Kontinuum heraus-
besseren Tagen des Kulturmarxismus zweifellos als mundane fallen, weil in ihrem Inneren eigensinnige, der Logik des Gan-
Stützpunkte des »Geists der Utopie « bezeichnet. Da aber zen oft zuwiderlaufende Regeln gelten. Als Beispiele für
Utopien im präzisen Wortsinn nur erzählerisch evozierte Bil- Heterotopien werden Friedhöfe, Klöster, Bibliotheken, Edel-
der besserer Welten sind, die an keinem Ort der Wirklichkeit bordelle, Kinos, Kolonien und Schiffe genannt. Man könnte
existieren, ist dieser Ausdruck zur Charakterisierung der se- die Liste mühelos verlängern um Phänomene wie Sport-
zessionär geschaffenen Ortschaften ungeeignet. Die Sezes- stätten, Ferieninseln, Wallfahrtsorte, Mirakelhäfe, Parkhäu -

'iO
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 347

ser 7 und verschiedene Arten von no-go-areas. Unter den he- des Stammes, der Tradition und des Theaters, kurzum im
terotopen Raumerfindungen des späten 20. Jahrhunderts Leben unter dem Bann der Anfänge, das Heil unmöglich zu
düdte die Raumstation zu den wichtigsten Innovationen ge- finden sei, müsse der Mensch, der dies begreift, mit seinen
hören - es wäre im übrigen leicht, zu zeigen, daß sich dort alten Solidaritäten brechen.
eine spezifische Form von Astronautenspiritualität heraus- Hauslosigkeit und pilgernde Existenz schaffen exzentri-
gebildet hat, deren Rückwirkung auf die Bewohner der Erd- sche Räume durch Flucht, so daß der Hausverlassende, der
oberfläche zu studieren bliebe. 8 Pilgernde, der Weltfremdling ständig seine eigene Wüste, sei-
Die erste reale Heterotopie ist der Raumtyp, den ich aus- ne Eremitage, sein Alibi mit sich führt. Ein Aufenthalt am
gehend vom heraklitischen Bild des Flusses, in den man nicht Tatort des gewöhnlichen Lebens kommt für diese noblen
zweimal steigt, das Ufer genannt habe. Orte mit Ufer-Qualität Ausweichenden nicht mehr in Frage. Wer seinen Fluchtraum
lassen sich an sämtliche Ränder der bewohnten Welt projizie- immer um sich hat, muß andererseits nicht mehr physisch
ren - de facto entstehen sie überall, wo die zur Sezession ent- weggehen. Die Metaphorisierung der Wüste machte es mög-
schlossenen Übenden aus dem Gewohnheitsstrom steigen. Sie lich, den Extremismus der ersten Sezessionäre abzumildern
bilden die ersten Brückenköpfe der Exzentrik. Wo die Flucht und eine bürgerliche Variante von Rückzug für jedermann in
aus der Mitte sich affirmativ erklärte, bildeten sich die großen Umlauf zu bringen. Diesen Trend unterstützt die erbauliche
Thesen über die Heilsnotwendigkeit der Entwurzelung her- Literatur, vor allem nach der Ersetzung der schweren Codi-
aus, etwa die buddhistische Doktrin des Hausverlassens oder ces durch das kleine Buch, das es vom 14. Jahrhundert an dem
die christliche Pilgedahrt-Ethik. In einer Sutra des Digha Ni- Leser erlaubt, seine Taschenwüste mit sich zu tragen. 9 Tat-
kaya (der »Längeren Sammlung«) heißt es über den Buddha: sächlich stellen die literarischen Medien der beginnenden
»Wenn er aber aus dem Haus in die Hauslosigkeit zieht, Neuzeit in Europa den Laien ein starkes Übungs medium
wird er heilig werden, auferwacht, der Welt den Schleier zur Verfügung. Schlage ein Buch auf, lies einen Satz - und
wegnehmen. « die Minuten-Anachorese ist verwirklicht. Seit Jahrhunderten
Was die christlichen Topoi vom Leben als peregrinatio und dient dem Besinnlichen das Buch als Vehikel zum Rückzug
vom Gläubigen als homo viator angeht, sind sie noch heute so »in das Landheim seiner selbst«.l o
bekannt (zudem durch die aktuelle Pilgermode reaktualisiert Was Helmuth Plessner »dem Menschen« im allgemeinen
und spiritualtouristisch aufgewertet), daß ein Hinweis auf zuschreibt, die »exzentrische Positionalität« seines Selbstbe-
ihre Entstehung aus dem Bruch mit dem status quo genügt. zugs, ist in Wahrheit ein Effekt des Gebrauchs egotechnischer
Entscheidend ist an solchen Figuren allein die sezessionisti- Medien in der Neuzeit, Medien, die im Lauf weniger Jahr-
sche Pointe: Da in der ersten Sozialisation, unter der Beses- hunderte praktisch jeden Einzelnen mit dem erforderlichen
senheit durch den alten Habitus, im Leben unter den Idolen Zubehör für ein mildes chronisches Außersichsein ausgerü-

7 Vgl. Jürgen Hasse, Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und 9 In diesem Zusammenhang ist an Petrarcas bekannten Brief vom
Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007. 26 . April 1336 zu erinnern, in dem er behauptet, er habe auf dem
8 Vgl. Peter Sloterdijk, Starke Beobachtung. Für eine Philosophie der Gipfel des Mont Venroux eine Taschenausgabe von Augustins
Raumstation, in: Stefan Dech u. a., Globaler Wandel: Die Erde aus Confessiones bei sich gehabt und darin gelesen.
dem All, München 2008 . 10 Vgl. Rabbow, Seelenführung, a. a. 0., S. 93.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 349
stet haben: Gebetsformel, Beichtspiegel, Roman, Tagebuch, Dinge radikal neu aufgeteilt wurden. Ja, man kann behaup-
Portrait, Photographie, Zeitungen und Funkmedien und ten, daß »der Mensch« aus dieser kosmischen Refom hervor-
nicht zuletzt: Spiegel von allen Seiten. Mit diesem Equipment gegangen ist und daß er als Träger einer Heilschance erst
an Selbsttechniken ausgestattet, entwickeln die Individuen durch sie geschaffen wurde. »Der Mensch« entsteht aus der
wie unbemerkt eine zweite Einstellung gegenüber der ersten kleinen Minderheit asketischer Extremisten, die aus der Men-
Position. Kaum einer der Modernen, die das Menschenrecht ge treten, um zu behaupten, sie seien eigentlich alle.
auf einen »eigenen Raum« reklamieren, ahnt noch etwas von Die Spaltung der Welt durch die Sezessionäre setzt also
der Herkunft dieser Forderung aus einer weit zurückliegen- eine tiefere Unterscheidung voraus, in Folge welcher die Ab-
den Revision der sozialen Topologie. setzung der anderswo Übenden von den am alten Ort Weiter-
machenden erst ihre ganze Radikalität erlangen konnte. Diese
Unterscheidung läßt sich mit dem Ausschneiden einer Figur
Die tiefere Unterscheidung: aus einem größeren Bild vergleichen - oder mit dem Heraus-
Selbstaneignung und Weltpreisgabe stanzen eines geformten Stücks aus einem ausgewalzten Teig.
In der Tat bildet sich die primordiale Differenz durch eine
Gleichwohl: Für eine philosophische Evaluierung der ur- Art von Subtraktion, bei der sich der Denkende und Übende
sprünglichen Exzentrik erweisen sich die bisherigen Hinwei- aus seiner ersten Umgebung ethisch, logisch und ontologisch
se auf die Spaltung der Welt durch die ethisch-asketische Se- herausnimmt - wäre es anders, könnte er sich von dieser nicht
zession als unbefriedigend. Zwar gehen sie von der unbe- auch physisch und affektiv entfernen wollen. Dieses Sich-
streitbaren Beobachtung aus, wonach vor etwa dreitausend Herausnehmen beruht auf dem Vollzug der Unterscheidung
Jahren in einer Anzahl höherer Kulturen eine Serie geistes- zweier radikal verschiedener Wirkungskreise im Seienden:
geschichtlich folgenreicher Absetzungsbewegungen in Gang des Wirkungskreises meiner eigenen Kräfte von dem Wir-
kam, getragen von einem bis dahin unbekannten Typus aske- kungskreis aller übrigen Kräfte. Für den ersten Blick muß
tischer Eliten. Dennoch vermögen diese FesteIlungen es dies eine radikal asymmetrische, für mich selbst nahezu ver-
nicht, das Agens der Sezessionen hinreichend deutlich her- nichtende Teilung ergeben, da ja meine Kraft und meine Be-
vorzuheben. Dieses Ungenügen hat einen methodischen deutung, verglichen mit der aller anderen Kreise und Kräfte,
Grund: Wie es zu einer solchen Abspaltung kommen konnte, evidentermaßen gegen Null gehen.
läßt sich in soziologischer Anschauung allein unmöglich er- Andererseits weist mir diese Unterscheidung eine Bedeu-
läutern. Prinzipiell: In äußerer Sicht bleibt der Antrieb des tung, obschon nicht automatisch auch eine Kraft, zu, die ge-
Sezessionsgeschehens unauffindbar. Dessen logische Quelle gen Unendlich tendiert, weil hier zum ersten Mal meine Ei-
wird erst evident, wenn man die Opposition zwischen den gensphäre als Gegengewicht zur Sphäre des Nicht-Eigenen
Asketen und der übrigen Welt unter den Kriterien einer on- gesetzt wird, ganz so, als sollte ich dazu überredet werden,
tologischen Analyse rekonstruiert. Nur sie wird imstande mich und das Meine gegen den »Rest der Welt « zu stellen. Die
sein, zu verdeutlichen, wie die Gesamtheit des Seienden einer Winzigkeit des Eigenen wird durch die ethische Teilung in die
Art von Gebietsreform unterlag, in deren Verlauf die Zustän- Verlegenheit gebracht, dem ungeheuren Block des Nicht-E-
digkeiten »des Menschen« für sich selbst und die übrigen genen die Waage halten zu sollen. Man kann diesen Vorg:;.:--s
35° II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik
35 1
nennen, wie man will - die Erfindung des inneren Menschen, Verhältnisse, liefert. Dieser Schnitt zerteilt das Universum in
den Eintritt in die Innenwelt-Illusion, die Verdoppelung der zwei Bereiche, von denen der Operateur naturgemäß allein
Welt durch Introjektion, die Geburt des Psychologismus aus die für ihn maßgebliche eigene Hälfte wählt. Daher beginnen
dem Geist der Verdinglichung des Äußeren, die metakosmi- die typischen Merksätze der Stoiker mit »Es liegt in deiner
sche Revolution der Seele oder den Triumph der höheren Macht . .. «.
Anthropotechnik - in der Sache bedeutet er die Erfindung Wie sich ein Praktikant im Workshop der Selbstaneignun g
des Individuums durch die isolierende Hervorhebung seines aus der Welt ausschneidet und sich durch bewußte D e-Parti-
Wirkungs- und Erlebenskreises aus dem Kreis aller anderen zipation vom Trubel der Tagesthemen abkoppelt, zeigt eine
Welttatsachen. Ich setze hier für das Agens, das sich als Ei- berüchtigte Passage aus Epiktets ÜbungsanJeitungen:
genes selbst ausschneidet, den Ausdruck »Subj ekt« und für »Gleich morgens gehe aus, und was du siehst, was du
den Ausschnitt als solchen den Terminus »Subjektivität« ein, auch hörst, prüf es, antworte wie auf eine Frage. Was
ohne diese Begriffe mit Anleihen beim Deutschen Idealismus sahst du? Einen Schönen oder eine Schöne. Lege den
oder mit Erinnerungen an die Heideggersche Kritik des neu- Kanon an: dem Willen zuhörig, ihm nicht zugehörig?
zeitlichen »Subjektivismus« zu belasten. Es genügt, unter Nicht zugehörig. Fort damit! Was sahst du? Jemanden,
Subjekt, wie oben erläutert, den Träger von Übungsreihen der jammert über seines Kindes Tod. Lege den Kanon
zu verstehen. Die subjekt bildende Basisübung, von der im an: der Tod ist nicht dem Willen zugehörig. Fort damit!
folgenden die Rede sein wird, ist offenkundig keine andere Begegnet dir ein Konsul; lege den Kanon an: das Kon-
als der methodisch betriebene Rückzug aus dem Komplex der sulat, was ist es? Dem Willen zugehörig, ihm nicht zu-
gemeinsamen Situationen, die man »das Leben« oder »die gehörig? Nicht zugehörig. Fort damit, wirfs weg, geht
Welt« nennt. Von nun an soll »in der Welt sein« heißen suum dich nichts an! Und wenn wir uns so übten, vom Mor-
tantum curare: Sich gegen alle Zerstreuung ins Nicht-Eigene gen bis zur Nacht, dann käme etwas heraus, ja bei den
um das Eigene kümmern und nur um dieses. Göttern. Statt dessen lassen wir uns gleich von jeder
Indem ich meine Kraft und ihr Zuständigkeitsgebiet von Vorstellung gefangennehmen . .. «11
allen anderen Kräften und Zuständigkeiten trenne, erschließt »Fort damit! « ist der Schlüsselsatz des ersten Methodismus.
sich für mich eine eng definierte Wirkungs sphäre, in der mein Die anthropotechnische Arbeit an sich selbst beginnt mit der
Können, mein Wollen, vor allem jedoch mein Gestaltungs- Evakuierung des Innenraums durch Ausräumung des Nicht-
auftrag hinsichtlich meines eigenen Daseins gewissermaßen Eigenen. Wir sehen jetzt, was mit dem oben gebrauchten Bild
zur Allein-Regierung aufsteigen. Die kritische Unterschei- von der ontologischen »Gebietsreform « gemeint ist: Es zeigt
dung, die diese Promotion ermöglicht, erscheint auf west- die Hinwendung zu dem, was von mir abhängt, und die Ab-
lichem Boden expressis verbis zuerst bei den Stoikern, die ihre wendung von allem übrigen. Der Weisheitsschüler geht von
ganze Energie aufboten, um die Trennung zwischen den Din- der Intuition aus, daß seine Chance auf der Trennung der
gen, die von uns abhängen, und den Dingen, die nicht von uns beiden Seinsregionen beruht. Deren klare und deutliche Un-
abhängen, in einem immerwährenden Exerzitium durchzu-
führen. Eigen oder nicht-eigen - das ist die Frage, die den I I Epiktet III, 3, 14; zitiert nach Rabbow, Seelenführung, a. a. 0 ..
scharfkantigen Kanon, den Maßstab zur Nachmessung aller S. 135·
352 II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 353
terscheidung gewinnt für sein Tun und Lassen in jeder Situa- Marc Aurel: »Die sinnlichen Gegenstände sind außer uns,
tion die höchste Bedeutung. einsam stehen sie sozusagen vor unserer Tür.«14 Unter der
Vorzeichnung von schlechter Sinnlichkeit und dürrer Gegen-
Die erste bildet die Region des Eigenen - bei den lateinischen ständlichkeit bleibt dem »Äußeren« wirklich nichts anderes
Platonikern wird man sie das Gebiet des »inneren Menschen« übrig, als am Eingang zum abgespaltenen Ich haltzumachen.
nennen und behaupten, in ihm allein sei die Wahrheit zu Es taugt nur noch zum Gegenpol von Rückzug, Flucht und
Hause: in interiore homine habitat veritas,12 zumeist unter Verachtung (anachoresis, fuga saeculi, contemptus mundi) -
Ausschluß des eigenen Körpers, indessen die Yogi und Gym- allenfalls wird es Objekt von zersetzenden und entzaubern-
nosophen des Ostens diesen in die Innenwelt einschlossen. den Untersuchungen. In einem späteren Zustand, wenn das
Innerhalb meiner Enklave darf mir schlechthin nichts gleich- Ideal des Rückzugs in die zweite Reihe tritt, wird man es
gültig sein, weil ich hierfür selbst bis ins Kleinste die Verant- vielleicht auch als Zielgebiet von Fürsorge, Mission und
wortung trage - es kommt für mich nur darauf an, nichts zu geistiger Eroberung »wiederentdecken«. Entscheidend ist,
begehren, was mir versagt ist, und nichts zu meiden, was mir daß die Vergleichgültigung des Äußeren, die aus der sezessio-
bestimmt ist. nären Unterscheidung folgt, im Individuum einen ungeheu-
Das zweite Gebiet umfaßt die gesamte übrige Welt, die mit ren Überschuß an Selbstbezüglichkeit freisetzt. Diesen in
einem Mal das Äußere, das saeculum, heißt und mir wie ein Beschäftigungsprogramme einzubinden ist der Sinn des Da-
von Beliebigkeiten bevölkertes Exil gegenübersteht. Was so seins in der ethischen Abspaltung. Tatsächlich: Ist die äußere
beginnt, ist der lange Marsch der Seele durch eine »Außen- Welt erst einmal von mir abgetrennt und ferngerückt, bleibe
welt«, von der niemand mehr so recht begreift, worin der ich all ei ne übrig und entdecke mich selbst als unendliche Auf-
Grund ihrer Abrückung ins Befremdliche besteht - nämlich gabe.
in der ontologischen Abspaltung des Nicht-Eigenen und in
der Gerinnung der vormals gemeinsamen umschließenden
Situation zu einem Aggregat aus ferngerückten und vergleich- Geburt des Individuums aus dem Geist
gültigten Gegenständen. In Wahrheit tun die Akteure der der Rezession
großen Sezession alles, um die Welt zu alienieren - aber sie
bleiben außerstande, nachzuvollziehen, wie ihre eigenen Bei- Was ich in diesen Überlegungen unter dem Ausdruck Sezes-
träge dafür sorgen, daß im Panorama der sinnlichen Wahrneh- sion diskutiere, gründet somit in einer inneren Handlung, die
mung die »Gegenstände« hervortreten und aus der Summe der ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als Rezession
Gegenstände ein Alienum namens Außenwelt entsteht. 13 bezeichnen will. Das meint zunächst den Rückzug des Ein-
zelnen von der im Strombett welthafter Bewandtnisse ein-
12 Aurelius Augustinus, De vera religione, 39, 72. getauchten Seinsweise oder, um das schon mehrfach verwen-
13 Wie die philosophische Gegenbewegung zur Epoche des Objekti- dete Bild noch einmal aufzunehmen: den Ausstieg aus dem
vismus und der Außenweltillusion aussehen könnte, habe ich in
Fluß des Lebens, um einen Platz am Ufer zu gewinnen. Erst
meinem Sphären-Projekt (Blasen, Mikrosphärologie 1998, Globen,
Makrosphärologie 1999, Schäume, Plurale Sphärologie, Frankfurt
am Main) ausgeführt. 14 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 9, 15·

1
354 II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 355
durch die rezessive Selbstinsulierung entsteht der Komplex tet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetro-
an Verhaltensweisen, den Foucault, vom stoischen Terminus gen, und läßt mich nun stehen?«15
cura sui ausgehend, die »Sorge um sich« (souci de soi) genannt
hat. Diese kann sich nur entfalten, wenn der Gegenstand der
Sorge, das Selbst, schon aus dem Situations strom des sozialen Das Selbst in der Enklave
Lebens herausgetreten ist und sich als Region sui generis eta-
bliert hat. Wo der Rückzug in sich vollzogen wurde - ob der Der Mensch in der Rezession zu sich selber bildet eine Form
Übende nun die Brücken hinter sich abbricht, wie es die von Enklaven-Subjektivität aus, in der er es vorrangig und
Mönche aller Couleurs in der Regel tun, oder sich im tägli- permanent mit sich und seinen inneren Zuständen zu tun hat.
chen Hin und Her zwischen Selbstpol und Weltpol einrichtet, Er verwandelt sich in einen Kleinstaat, für dessen Einwohner
wie es für die Weltweisen stoischen Typs charakteristisch die richtige Verfassung gefunden werden soll. Niemand hat
ist -, verstärkt er die Entstehung einer Enklave im Seienden, das Rezessionsgebot, das zur Selbstverwaltung des eigenen
für die ich, im Bild bleibend, den Ausdruck Ufer-Subjektivi- Lebens durch den Lebenden auffordert, so deutlich ausge-
tät verwende. sprochen wie Mare Aurel:
Seit Jahrtausenden ringt diese Subjektivität auf ihrer pre- »Denke also cndlich daran, dich in jenes kleine Gebiet
kären Position am Ufer des verfremdeten Flusses um eine zurückzuziehen, das du selbst bist, und vor allem zer-
ihrer irritierenden Selbsterfahrung angemessene Sprache. Ih- streue dich nicht .. .«16
re Artikulationsversuche schwanken zwischen extremen Po- Hiermit ist der Ursprung aller Sammlungsgebote bezeichnet,
len: der spirituell-heroischen Überkompensation auf der ei- ohne die die hochkulturelle Subjektivität, sofern sie ein Kon-
nen Seite, bei der die Fremdheit der Außenwelt durch die zentrationsprodukt ist, niemals ihre bekannten Ausprägun-
Allianz des Inneren mit dem Göttlichen bezwungen werden gen hätte annehmen können. Zugleich liegt es in der Natur
soll- wie Heraklit in seinen triumphalischen Momenten und der Dinge, daß die Mikropolis, die ich bin, auf lange Zeit mit
die Inder der Upanishadenzeit es vormachen -, und der einer Übergangsregierung auskommen muß. Diese Polis
Flucht in die Zerknirschung auf der anderen, als ob die Un- wird ja üblicherweise von ihrem Alleinbewohner in einem
möglichkeit, im Strom des Lebens zu bleiben, sich nur durch zerrütteten, nahezu unregierbaren Zustand übernommen.
eine tiefe eigene Schuld erklären ließe - dies ist der Pfad, den Spiritualität beginnt mit Aufräumarbeiten in einem inneren
das alte Judentum zuerst beschritt, bevor das Christentum failed state, einer gescheiterten Seele - nicht umsonst hat der
ihn zur Allee ausbaute. Am ehesten kommt die in sich zu- junge Gautama, der spätere Buddha, seinen Weg in die Aske-
rückgezogene Subjektivität der Wahrheit über ihre Lage na- se begonnen, als sein Jünglingsweltbild nach der Begegnung
he, wenn sie Fragen stellt, die ihrer Verlegenheit im zu äuße- mit dem Leiden der Welt zusammengebrochen war. Oder war
ren Tatsachenkomplexen erstarrten Ganzen auf den Grund dieser Zusammenbruch nur eine fromme Erfindung - und an
gehen wollen. So fragt Sören Kierkegaard alias Constantin der Wurzel der Sezession des später Erwachten hätte die as-
Constantius stellvertretend für eine mehrtausendjährige Pro-
zession von Ufersubjekten: 15 Sären Kierkegaard, Die Wiederholung, Düsseldorf 1955, S. 70 f.
»Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeu- 16 Mare Aurel, Selbstbetraehtungen 4, 3·
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzenrrik 357

ketische Revolte gegen die Idiotie des kriegeradeligen Lebens von dem man annimmt, ihm sei die ethische Reform bereits
gestanden?17 gelungen. 1B Um die Enklavierung durchzuhalten, ist eine
Wem ein zeitgenössisches Zeugnis glaubwürdiger er- ständige Überwachung der Grenzen und die tägliche Kon-
scheint als eine antike Legende, kann nachlesen, wie Bernard trolle der Infiltrationen aus dem Äußeren unentbehrlich. Tat-
Enginger, 1923-20°7, ein junger Franzose am Rande des Ner- sächlich liegt der schwierigste Teil der Aufgabe des zurück-
venzusammenbruchs, den seine Erlebnisse in einem deut- gezogenen Subjekts in der Unterbrechung des Informations-
schen Konzentrationslager moralisch und psychisch zerrüt- stroms, der den Übenden an die frühere Umwelt anschließt.
tet hatten, durch die Begegnung mit Sri Aurobindo und der Dabei sind insbesondere zwei Schwachstellen im Auge zu
»Mutter« (Mira Richard) zu einer neuen spirituellen Gefaßt- behalten, von denen eine ständige Gefährdung ausgeht:
heit gelangte - und zu einem zweiten Namen: Satprem. Wer zum einen die sensorischen Öffnungen, zum anderen die
auch immer den Pfad der philosophischen Übung oder des sprachlichen Verbindungen zur Mitwelt. Ohne die strikte
Dharma oder der christlichen exercitationes spirituales be- Kontrolle beider Krisengebiete ist jeder Versuch einer vita
tritt, tut dies nicht im Vollbesitz der Selbstbeherrschung, son- contemplativa von vornherein zum Scheitern verurteilt. Beim
dern aus Einsicht in den Mangel hieran, freilich zugleich in Thema sensorische Kontakte lassen mehr oder weniger alle
der von realen Vorbildern unterstützten Hoffnung, es eines Kontemplationssysteme erkennen, wie sie an der Unterbre-
Tages zur Meisterschaft in der Kunst der Selbstregierung chung des Wahrnehmungskontinuums arbeiten - sie ver-
(enkrateia) zu bringen. Der hinduistische Titel swami (von schließen vor allem die visuellen Kanäle (um von den oralen
Sanskrit svämi, eigen, selbst; vgl. lateinisch suus), der in pro- oder taktilen zu schweigen) und verordnen dem Übenden
fanen Kontexten einen Chef bezeichnen kann, meint in spi- einen systematischen Rückzug von allen Sinnenfronten, bis
ritueller Hinsicht den »Herrn über sich selbst«, den Asketen, die völlige Desaffektion erreicht ist.
der es auf dem Übungsweg zur vollständigen Kontrolle der Hier hat das horazische nil admirari 19 seinen Sitz im Le-
eigenen Kräfte gebracht hat. ben, vorausgesetzt, Leben und exercitatio gelten bereits als
Synonyme. Seneca spricht gelegentlich davon, der Anblick
einer Hinrichtung müsse uns so gleichgültig werden wie
Im Mikroklima des übenden Lebens die Aussicht auf eine reizlose Landschaft. An solche Rat-
schläge zur Apathisierung konnten sich Bilder wie die »in-
Die enklavierte Subjektivität konstituiert sich somit als ein nere Zitadelle« oder die »innere Statue« anschließen, mit de-
Provisorium, in dem die Selbstsorge an die Macht kommt. nen dem Meditanten Zielvorstellungen für seine plastische
Die übende Lebensform gleicht einem inneren Protektorat Selbstvollendung vor Augen gestellt wurden. Ohne eine ge-
mit einer vorläufigen Regierung und einer introspektiven wisse erworbene Herzlosigkeit sind spirituelle Haltungen
Aufsichtsbehörde. Praktisch läßt sich dieser modus vivendi wie Apathie, Seelenruhe oder Nicht-Haften nicht realisier-
nur durch den asketischen Pakt mit einem Lehrer etablieren, bar. Die hochkulturelle Ethik erzeugt eine künstliche Un-

18 N äheres hierzu in Kapitel 8, S. 434-444·


=7 Siehe unten S. 417. 19 Episteln I, 6, I.

J.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 359
menschlichkeit, zu deren Kompensation eine ebenso künst- seinem vorläufigen Zustand selbst erträgt. Daß die erste Vor-
liche Allfreundlichkeit aufgeboten wird. 20 aussetzung sich keineswegs von selbst versteht, obschon sie
Von noch größerem Gewicht ist die Herauslösung des in Kreisen der Übenden seit langem eine Art von common
Subjekts aus dem Sprachenstrom der ersten Gesellschaft, weil sense bildet, zeigt die Geschichte der fatalistischen Denksy-
es dadurch noch tiefer als durch die Sinnesöffnungen an die steme. Für ihre Anhänger ist eine spirituelle Absonderung
Fremdherrschaft der Alltagsvorstellungen und -affekte ange- vom Volksleben zwar nicht völlig ausgeschlossen - auch Fa-
kettet bliebe. Daher bilden alle Übungsgemeinschaften sym- talisten können Asketen sein -, jedoch wäre ihnen zufolge
bolisch ventilierte Mikroklimata aus, innerhalb welcher die eine effektive Rezession ein Ding der Unmöglichkeit. Illuso-
Asketen, die Meditanten, die Denkenden grundsätzlich An- risch erscheint ihnen die Spaltung der Welt in die Dinge, die
deres zu hören bekommen und zu sagen lernen als auf dem von uns abhängen, und jene, die nicht von uns abhängen: Für
Dorfplatz, dem Forum oder in der Familie. Das bedeutet den konsequenten Fatalismus ist alles absolut unabhängig
nicht, daß sich aufgrund der Rezession immer eine Geheim- von uns selbst, sogar das eigene Dasein, das die pure Gewor-
sprache entwickeln müßte, obschon es an Ansätzen hierzu in fenheit durch das Fatum bedeutet. Jede menschliche An-
vielen spirituellen Subkulturen nicht fehlt?! Sogar dort, wo strengung um Loslösung und Befreiung ist zur Wirkungslo-
die spirituellen Lehrer mit aufgeklärter Schlichtheit die Spra- sigkeit verurteilt. Man mag diese Position trotzig und düster
che des Volkes verwenden - wie man es Buddha oder Jesus nennen, sie entbehrt nicht einer eindrucksvollen Konse-
nachrühmte -, ist die Tendenz zur Ausbildung geschlossener quenz. 22
Sprachspielkreise unverkennbar. Es ist gewiß nicht nur ein Zufall, daß der stärkste Lehrer
einer streng deterministischen Verhängnis-Doktrin, der soge-
nannten niyati-Philosophie, auf indischem Boden ebenjener
Absage an die Selbstsorge: Konsequenter Fatalismus Maskarin Gosala war, der seinen Zeitgenossen Gautama
Buddha zu der einzigen spürbar zornigen Polemik provozier-
Das rezessive Subjekt kann sich nur unter zwei Bedingungen te, die zu dessen Lebzeiten bekannt wurde. Buddha erkannte
eine lebbare Verfassung erarbeiten: Zum einen muß es von in den Lehren des Rivalen die gefährlichste Provokation sei-
der Überzeugung durchdrungen sein, die ethische Sezession ner eigenen, ganz auf der Heilsmacht der Eigenanstrengung
könne tatsächlich eine Zone erfolgreicher Selbstsorgetätig- aufbauenden Predigt und bezeichnete den Determinismus
keiten erschließen, zum anderen muß es einen Modus finden, der niyati-Doktrin als ein spirituelles Verbrechen, das ihre
wie es unterwegs mit sich im Gespräch bleibt und sich in Anhänger ins Verderben locke. Aufgrund von Gosalas An-
satz würden die Spaltung der Welt und die Ausgrenzung des
rezessiven Subjekts unmöglich, weil ihm zufolge keine Krea-
20 Dies wäre besonders an der Evolution des Buddhismus und an der
Umstellung vom Arhat- Ideal des Hinayana zum Bodhisattva-Ideal 22 Johann Gottlieb Fichte hat die deterministisch-fatalistische Posi-
des Mahayana zu erläutern. tion im ersten Teil seiner Schrift über die Bestimmung des
21 Über »Rätselsprache« oder »intentionale Sprache« im Tantrismus Menschen, 1800, in einer perfekten Simulation vorgeführt, um
vgl. Mircea Eliade, Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, a. a. 0., die Verzweiflung zu evozieren, die zum praktischen Idealisrr:..:s
S. 25 8f. vorwärtstreibt.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik

tur, auch nicht der heilsuchende Mensch, einen originalen schwüngen der Dinge mitgetragen werden, wie der Felsbrok-
Willen haben kann: ken auf dem unmerklich fließenden Gletscher. 24
»Alle Wesen, alle Individuen ... alle lebenden Dinge Die Doktrin des rigorosen Determinismus muß ihren
sind ohne Willen, ohne Kraft, ohne Energie. Sie entwik- Adepten eine verführerische Genugtuung verschafft haben,
kein sich (ausschließlich) durch die Wirkung des Ge- da sie in der Bewegung der Ajivika-Asketen nahezu zwei-
schicks .. .«23 tausend Jahre lang überliefert wurde, ehe sie im 14. Jahrhun-
Wer einen Beweis dafür suchte, daß auch die buddhistische dert erlosch. Was ihren Reiz ausmachte, läßt sich wohl den-
Lehre, hierin der stoischen präzis analog, auf der ontologi- ken. In allen Kulturen gibt es Individuen, die eine Art von.
schen »Gebietsreform« beruht, die das durch mich Voll bring- dunkler Satisfaktion empfinden, wenn ihnen bewiesen wird,
bare strikt von allem übrigen trennt, hält ihn mit dem Hinweis daß sie nichts tun können - außer hinnehmen, was ist, und
auf Buddhas Polemik gegen Gosalas Lehre in der Hand. Nach zusehen, wie die Dinge gehen. Die Askese von Gosalas Ge-
dieser schreiten alle Wesen völlig automatisch durch sämtliche fährten bestand darin, ihren Streik gegen jede Regung von
Stadien der Evolution - durch die notwendigen 84000 Inkar- Wollen und Können ein Leben lang durchzuhalten. Die all-
nationen, nach anderen Darstellungen sogar durch ebenso gemein-indische Absage an die Phantome des Ich mag ihnen
viele Mahakalpas oder Weltzyklen. Jede Lebensform und dabei zu Hilfe gekommen sein. Nicht ohne Verwunderung
Daseinsstufe zeigt durch sich selber an, wie weit bei ihr der nimmt man zur Kenntnis, das alte Indien sei der Schauplatz
Prozeß gediehen ist - Askese kann daher bestenfalls die Folge gewesen, auf dem die ersten Positivisten ihren Auftritt feier-
von Entwicklung sein, niemals ihr Grund. Dies konnte der ten.
Buddha auf keinen Fall gelten lassen. Indem er Gosalas In-
einssetzungvon Sein und Zeit bzw. von Faktizität und Schick-
sal angriff, sicherte er den Spielraum für seine entgegengesetz- Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir!
te Lehre, die auf dem Erwerb von Erlösungswissen aufbaute-
und damit für die Beschleunigung der Befreiung. Nur so Auch die zweite der genannten Voraussetzungen für die Exi-
konnte er die Vernichtung des ontologischen Blocks durch stenz in rezessiver Subjektivierung, die Sprachkontrolle, muß
Erkenntnis verkünden. Unnötig zu sagen, daß der Buddha streng gehandhabt und immer von neuem bestätigt werden,
durch seine Insistenz auf der Möglichkeit schnellerer Befrei- da der Adept seine Mühen auf dem Weg zur Selbstregie-
ung den geistigen Bedürfnissen seiner Epoche entgegenkam. rung nur durchhält, wenn ihm fortwährend stabilisierende
Von da an sollte die Zeit der inneren Anstrengung die träge Informationen aus dem geschlossenen Sprachspielkreis des
Weltzeit überholen. Wo die höhere Kultur beginnt, kommen Heils- und Übungswissens zufließen. Dieses Erfordernis wird
Menschen in den Vordergrund, die hören wollen, daß sie etwas
anderes tun können als warten. Sie suchen nach Beweisen 24 Unter diesem Aspekt ist der Buddha »gleichzeitig« mit der griechi-
dafür, daß sie sich selbst bewegen und nicht nur von den U m- schen Sophistik, die man ihrer Stoßrichtung nach vor allem als ein
humanistisches Ertüchtigungsprogramm ansehen muß. Ihr gilt das
in Hilflosigkeit (amechania) versunkene Sich-Gehen-Lassen als das
23 Zitiert nach Mircea Eliade, Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, schlechteste Verhalten und der Fatalismus als ein Attentat gegen (E ~
a.a.O., S. 198. arete, die Bereitschaft zur Selbsthilfe.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik

durch die Einrichtung einer methodisch geregelten Selbstge- zentration auf das, was nun das Wesentliche heißt. Der
sprächspraxis erfüllt. Hier läßt sich übrigens einfach aufzei- grundlegende Zug der einsamkeitstechnischen Prozedur be-
gen, daß und warum das übende Leben, anders als beliebte steht, wie Macho nachweist, in der »Selbstverdoppelung« des
Klischees von der mystischen oder überrationalen Qualität Kontemplanten. Sie liefert ein unentbehrliches Strategem für
spiritueller Vorgänge suggerieren, zu einem sehr großen Teil alle Übenden auf halbem Wege: Sie zeigt ihnen ein Verfahren,
von nach innen verlegten rhetorischen Phänomenen abhängt nach dem Rückzug aus der Welt in guter Gesellschaft zu sein,
und daß mit dem Stillstand der endorhetorischen Funktio- in besserer jedenfalls, als sie dem Zurückgezogenen zur Ver-
nen - seltene Zustände meditativer Trance wie der samadhi fügung stünde, bliebe er unverdoppelt mit'sich allein.
ausgenommen - das spirituelle Leben als solches zum Erliegen Die Selbstverdoppelung ergibt nur Sinn, wenn aus ihr
kommt. Die sogenannte Mystik ist zum größten Teil eine en- nicht zwei symmetrische Hälften entstehen - in diesem Fall
dorhetorische Praxis, bei der den raren Momenten, in denen begegnete der Kontemplant seinem eineiigen Zwilling, der
nicht geredet wird, die Aufgabe zukommt, endlose Reden von ihm seine Verworrenheit in einer überflüssigen Spiegelung
den Wundern des Nichtberedbaren zu befeuern. noch einmal vor Augen stellte. Die erfolgreich Übenden ar-
Aus dem Universum der endorhetorischen Praktiken - zu beiten ausnahmslos mit einer asymmetrischen Selbstverdop-
denen in den theistischen Übungssystemen die Gebete, die pelung, bei der ihnen der innere Andere als überlegener Part-
Ritualrezitationen, die Monologien (Ein-Wort-Litaneien) ner assoziiert ist, einem Genius oder einem Engel vergleich-
und die magischen Evokationen hinzukommen, die uns hier bar, der sich wie ein geistiger Monitor in der Nähe seines
nichts angehen - möchte ich drei Typen hervorheben, ohne Schützlings aufhält und ihm die Gewißheit vermittelt, ständig
die die Existenz von rezessiv stabilisierten Übungsträgern gesehen, geprüft und streng beurteilt, im Krisenfall jedoch
unvorstellbar ist. Auf all diese Redeformen ist der von Tho- auch unterstützt zu werden. Während der gewöhnliche De-
mas Macho geprägte Begriff der »Einsamkeitstechniken« an- pressive durch Vereinsamung in den Abgrund seiner Bedeu-
zuwenden - damit sind Verfahren bezeichnet, dank welcher tungslosigkeit versinkt, kann der gut organisierte Eremit von
Menschen im Rückzug sich selbst Gesellschaft zu leisten ler- einem Beachtlichkeitsprivileg profitieren, da ihm sein nobler
nen. 25 Mit ihrer Hilfe gelingt es den rezessiv Vereinzelten, Beobachter - Seneca nennt ihn gelegentlich seinen custos,
wie die Geschichte der Eremiten und zahlloser anderer Se- Wächter - fortwährend mit der Empfindung versorgt, in gu-
zessionäre zeigt, ihre mehr oder weniger rigide Selbstaus- ter, ja bester Begleitung zu sein, freilich auch unter strenger
grenzung aus der Welt nicht als Verbannung zu erleben. Eher Aufsicht. In der Benediktusregel werden die Brüder daran
gestalten sie ihre Anachorese zu einer heilsträchtigen Kon- erinnert, der Mönch müsse sich zu jeder Stunde von Gott
im Himmel beobachtet (respici) wissen, er habe zu bedenken,
25 Thomas Macho, Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: jede seiner Handlungen werde von einem göttlichen Beob-
Aleida und Jan Assmann (Hg.), Einsamkeit. Archäologie der lite- achtungspunkt wahrgenommen (ab aspectu divinitatis videri)
rarischen Kommunikation VI, München 2000, S. 27-44. Macho hat und fortwährend von den Engeln nach oben gemeldet (re-
seine Thesen über Einsamkeit als medial gestützte Entzweiungs- . ') 26
technik und als Form der sozialen bzw. gegensozialen Raumbil- nunttarz .
dung in einer aufsehenerregenden Vorlesung im Wintersernester
1995-1996 an der Humboldt-Universität Berlin entwickelt. 26 Regula Benedicti 7, 13 und 7, 28.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik

Dadurch wird plausibel, wie sich die rezessive Subjektivi- Übenden bekämpfen, in die Erlebnisweise der Weltkinder
tät zu einem Forum für intensive Gespräche, ja leidenschaft- zurückzufallen. Es liegt auf der Hand, daß die Position der
liche Zweikämpfe zwischen dem Selbst und seinem intimen exklusiven Selbstsorge existentiell um vieles unwahrscheinli-
Anderen entwickeln kann. Da der Große Andere erst durch cher und daher bei weitem pflegebedürftiger ist als die vor-
den Rückzug aus der Vielfalt der Tagesthemen zu deutliche- mals praktizierte Lebenshaltung des naturwüchsigen par-
rer Präsenz gelangt - eine Prozedur, von der im 20 . Jahrhun- tizipativen Pluralismus, in der die Einzelnen sich in der
dert auch die Psychoanalyse und verwandte therapeutische Gruppendrift, der kollektiven Neugier und der mediokren
Techniken profitierten -, gewinnt der Zurückgezogene an Zerstreuung entlasten durften. Heidegger hat bekanntlich,
psychischer Prägnanz, indem er sich selber monothematisch an Kierkegaards Beispiel einer philosophischen Publikums-
isoliert. Wer er selbst sein soll, erfährt er von seinem inneren beschimpfung27 anschließend, in der Man-Analyse aus Sein
Anderen; wie es um ihn steht, entnimmt er der täglichen und Zeit den modus essendi dieser Selbstform beschrieben:
Selbstprüfung. Allerdings ist zuzugeben, daß er in dieser An- Jeder ist der andere und keiner er selbst. Er begab sich auf die
ordnung bis auf weiteres ein gespaltenes Subjekt bleibt - er Suche nach einem Weg zur Eigentlichkeit, der nicht mehr
lebt als Einsamer wenn nicht geradezu coram Deo, so doch über den Rückzug in die Enklavierung, sondern über ein
unter dem Auge des Meisters oder des Engels, den zu ent- erneutes Mitgehen mit dem zum Ruf des Seins erhobenen
täuschen er sich fürchtet. Von der Einswerdung mit dem Gro- historischen »Ereignis« führen sollte. Solange jedoch der
ßen Anderen oder der Aufhebung der Dualität zwischen rea- spirituelle Appell zum Rückzug gilt, ist nichts so heftig zu
lem und idealem Selbst, wie sie im Neoplatonismus und in bekämpfen wie die immer wieder auftauchende Neigung, das
den indischen Nicht-Zweiheit-Schulen gelehrt wird, kann gewöhnliche Leben und seine kleinen Fluchten wie kom-
auf dieser Stufe der Sorge um sich keine Rede sein. munitäre Narkosen attraktiv zu finden. Wer nach dem Aus-
stieg doch wieder von den Wonnen der Gewöhnlichkeit
träumt, ist spirituell verloren. Daß freilich durch die zuge-
Endorhetorik und Ekelübungen spitzte Rezession die primitive Wahrheit des Daseins in
Normalsituationen, die partizipative Einbettung in die natur-
Es sind im wesentlichen drei Formen von Reden, die bei den haften und mitmenschlichen Umstände (wie die postmeta-
psychogymnastischen Exerzitien des rezessiven Subjekts auf physische sphärologische Analyse sie in umfangreichen Be-
dem inneren Forum gehalten werden: zum einem die Tren- schreibungen expliziert), geopfert werden muß, gehört zum
nungsreden, die sich der Rezessionsverstärkung widmen; Preis des Lebens unter erhöhter Vertikalspannung. Hier wird
zum anderen die Ertüchtigungsreden, mit denen der Übende immer die Denaturierung der Normalität und die Verwand-
sich um die Verbesserung seiner spirituellen Immunsituation lung des Unwahrscheinlichen in zweite Natur verlangt.
bemüht; und schließlich die Visionsreden, dank welcher der Was gegen Anwandlungen von Heimweh nach der verlo-
Kontemplant seinen Blick aufs Ganze und in die Höhe lenkt- renen Normalität hilft, sind endorhetorische Übungen vom
und aus imaginärer Höhe zurück auf die Niederungen.
Für die Stabilisierung der Rezession sind die Reden des 27 Sören Kierkegaard, Eine literarische Anzeige (zuerst 1846), Gü-
ersten Typs besonders wichtig, weil sie die Neigung der tersloh 2002 .
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik

Typus der Verekelungsanalyse. Sie sind wirksam, weil sie die »J edes Sinnenwesen, das du betrachtest, stelle dir als
Versuchung, die zurückgelassene äußere Welt hin und wieder schon in Auflösung, Verwandlung, gleichsam Verwe-
schön zu finden, an der Wurzel bekämpfen. So notiert Marc sung oder Zerstreuung begriffen vor; bedenke, daß jedes
Aurel: Ding nur geboren ist, um zu sterben.,,30
»Was siehst du beim Baden? Öl, Schweiß, Schmutz, In diesem Kontext läßt sich die Leistung Ovids, die poetische
klebriges Wasser - lauter widerliche Dinge. Von eben Rettung der Verwandlungsphänomene, verständlich machen.
der Art ist jeder Teil des Lebens und alles, was darin Es war die Ehre der Poesie, den Normalitätsraum vor der
vorkommt.«28 Verwüstung einer zu weit getriebenen Ernüchterungsanalyse
Dies zeigt sehr suggestiv, wie zur Genesis des Äußeren auch zu schützen. Daneben gibt es eine Fülle von Selbstermahnun-
ethische und affektive Distanzmechanismen gehören. Der gen zu dem Zweck, jede affektive Anhänglichkeit an Nicht-
sinnlichen Verekelung der Äußerlichkeit kommt die Ernüch- Eigenes durch ständige Trennungs- und Desaffektionsübun-
terungs- und Entzauberungsanalyse zur Hilfe: gen zu verunmöglichen - ich verweise noch einmal auf die
»Siehe denn also im ganzen genommen das Menschliche Empfehlung Epiktets an Eltern, ihr Kind nicht zu küssen,
jeder Zeit als etwas Flüchtiges und Wertloses an! Was ohne dabei zu denken, sie könnten es schon am Tag darauf
gestern noch im Keimen war, ist morgen schon einbal- durch den Tod verlieren. Solche Sprüche zur Selbstermah-
samiertes Fleisch oder ein Haufen Asche. «29 nung und Selbstdressur mußte der Übende Tag und Nacht
In diesem Kontext finden die antiken Atomtheorien ihren wie einen spirituellen Erste-Hilfe-Kasten »griffbereit« ha-
moralischen Ort: Sie zeigen, wie alles phänomenale Leben ben - in der Terminologie der Schule hieß solches mental
auf momenthaften Zusammensetzungen der Partikel beruht. Zuhandene das procheiron, und wer noch in unseren Tagen
Gegenüber der Vanitas des Partikel-Gestöbers kann nur die davon spricht, er habe dies oder das "parat«, zitiert von ferne
geistige Seele sich auf Dauer stellen. Unnötig zu sagen, wie- die Usancen einer versunkenen Übungskultur.
viel der Buddhismus dem Gebrauch der Atomtheorie und
allgemeiner der Analytik des Zusammengesetzten verdankt- Endorhetorische Wendungen von vergleichbarer Tendenz
und wie heftig in ihm die obligaten Verekelungs- und Er- bieten die Übungssysteme des Hinduismus, des Buddhismus,
nüchterungsmotive wirksam sind. Auch die für ihn so cha- des Christentums, des spirituellen Islam usw. im Übermaß.
rakteristische Lehre vom Nicht-Selbst (anatman) hat weniger Jeder kennt Bilder von indischen sadhus, die neben Scheiter-
theoretischen als aversiven Sinn: Sie überredet ihre Adepten, haufen an den Leichenverbrennungsplätzen (shmashana) me-
einzusehen, daß, selbst wenn es so etwas wie Selbst und Seele ditieren. Für die berüchtigen Aghori, die auf Leichen sitzend
gäbe, diese zu den auflösbaren Größen zählten - womit uns in die Versenkung fallen, symbolisiert der Friedhof die »To-
die Sache von vorneherein verleidet sein sollte. talität des psychomentalen Lebens, das vom Ichbewußtsein
Die Kontemplation der organischen Metamorphosen tut genährt wird« .31 Die shivaitischen Extremisten bestehen dar-
ein übriges: auf, aus Brahmanenschädeln zu essen und zu trinken - und

28 Selbstbetrachtungen 8, 24. 30 Selbstbetrachtungen 10, 18.


29 Selbstbetrachtungen 4, 48. 3 1 Eliade, Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, a. a. 0., S. 304.
II Übcrtreibungsvcrfahrcn 6 Erste Exzentrik

hiervon lärmend Zeugnis abzulegen. Was sie in ihren inneren in dem jede Verletzung und Beschmutzung durch Seinswir-
Gesprächen auf dem Totenfeld zu sich selbst sagen, läßt sich kungen aufhörte.
leicht imaginieren: "Über das alles mußt du hinausgehen.« Um solche Ideen von Auflösung, Übergang und letzter
Katholisch Erzogene erinnern sich an die ignatianischen Stillstellung existentiell für plausibel halten zu können, müs-
Exerzitien, die eine einzige strikt rhetorisch gegliederte Über- sen die Übenden sich unaufhörlich ihre Endlichkeit verge-
redung des Meditanten zur Teilnahme an der Passion Christi genwärtigen und deren Aufhebung in die absolute Immunität
und zur Abkehr vom Leichtsinn der Weltlichkeit darstellen. je nach den Konventionen ihres Kulturkreises endorheto-
Auf protestantischer Seite; namentlich im Puritanismus, wird risch vorwegnehmen. Sie reden dabei mit sich selbst aus der
der Tag des Gläubigen durch Mahnungen zum Rückzug aus Position der vollendeten Lehrer, die sich an diesen Schüler
weltlichen Versuchungen gegliedert. Aus dem schiitischen wenden, als wäre es der einzige. Die rezessive Subjektivität
Iran kennt man die düsteren Prozessionen, bei denen erwach- nimmt immer Privatuntericht beim Universum, bei Gott,
sene Männer klagend und blutend durch die Straßen der Städ- beim Nirvana. Die drei Absoluta wären schlechte Lehrer,
te ziehen und sich in monoton quälerischen Selbstgesprächen wenn sie den Schülern nicht Mut machten, das Unmögliche
breite Messer auf den Kopf schlagen, um des Martyriums wie etwas zum Greifen Nahes anzusehen; sie wären es aber
Husseins zu gedenken. auch, wenn sie ihnen nicht hin und wieder damit drohten, den
Unterricht einzustellen, falls sie demnächst keine deutlich
Es erübrigt sich hier, für die Praktiken der Immunisierungs- besseren Leistungen zeigten.
und Ertüchtigungsreden sowie der Visions- und Weltanschau- Das übende Leben bildet somit ein Kontinuum aus Akten
ungsreden an die Adresse des eigenen Intellekts ausführliche der Selbstüberredung. Ohne sie kann bei den Übenden nicht
Beispiele anzuführen. Beide hängen eng miteinander zusam- das geringste geschehen, auch nicht bei denen, die sich einem
men, weil das Streben nach der transvitalen, den Tod über- überwiegend averbalen Modus des Übens verschrieben ha-
greifenden Selbstsicherung unmittelbar den Übergang in das ben, wie es in der Mehrzahl der asiatischen Schulsysteme der
höchststufige symbolische Immunsystem zum Ziel hat. In Fall ist. Viele Doktrinen betonen unaufhörlich die riesige
den stoischen Doktrinen wird dieses als die Allnatur präsen- Differenz der angesteuerten inneren Zustände zur Ebene
tiert: Sich in ihr aufzulösen ist als höchste Integration zu des Verstandes und seiner sprachlichen Anhaltspunkte.
denken, auch wenn sie mit dem Zerfall des Konglomerats Nichtsdestoweniger driftet der Kult der nicht-verbalisierba-
aus Atomen einhergeht, das ich vorläufig als meinen Körper ren Zustände auf einen endlosen Strom von Reden über Stu-
empfinde. Im Christentum hingegen wird der Tod als Über- fen und Nuancen des Aufstiegs zu. Alle Exerzitien, ob sie nun
gang vom jetzigen ins ewige Leben verstanden. In den vom yogischer, athletischer, philosophischer oder musikalischer
Karma-Gedanken dominierten Sphären wird die letzte Im- Art sind, können nur stattfinden, wenn sie von endorhetori-
munität durch die Still stellung des schuldgetriebenen Kau- sehen Prozessen getragen werden, in denen Akte der Selbst-
salimpetus erreicht, weshalb nur das Leben, das völlig aufge- ermahnung, der Selbstprüfung, der Selbstevaluierung unter
hört hätte, Leid zu erzeugen, nicht mehr von den Rückwir- den Kriterien der jeweiligen Schultradition und unter stän-
kungen des Erzeugten eingeholt werden könnte. In diesem digem Hinweis auf die ans Ziel gelangten Meister eine ent-
Sinn bezeichnet nirvana weniger einen Ort als einen Zustand, scheidende Rolle spielen. Wäre es anders, fiele die rezessiv
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 37 1

abgegrenzte Subjektivität in kürzester Zeit in ihre diffuse wird. Die autoplastische Wirkung des Übens sorgt dafür, daß
Ausgangslage zurück und vermischte sich wieder mit den sich das Zeugen bewußtsein immer tiefer in das Körperge-
unkultivierten Umständen. dächtnis des Kontemplanten einprägt. Indem sich das An-
fangs-Ich mehr und mehr von seinen pathologischen Zügen
befreit und, was dasselbe ist, sich entdinglicht bzw. entobjek-
Der innere Zeuge tiviert, zieht es die bedingungslose Präsenz des Zeugen auf
seine Seite. So kann es mit der Zeit den seinerseits patholo-
Zu den Besonderheiten der enklavierten Subjektivität gehört, gischen Habitus des Gesehen-werdens-durch-den-Großen-
wie bemerkt, die Technik der Selbstentzweiung, derentwegen Anderen ablegen. Bei Fortgeschrittenen reicht dies bis zu
sich die Anachorese zum Grenzfall einer nach innen gezoge- dem Punkt, an dem es ihnen scheinen mag, ihr erstes Ich sei
nen Kunst, in guter Gesellschaft zu sein, ausbildete. Eine abgestorben und durch ein zugleich überpersönlicheres und
vertiefte Selbstanalyse des zurückgezogenen Subjekts zeigt eigentümlicheres Selbst ersetzt worden.
allerdings, daß es bei einer Verdoppelung des Übungsträgers Gewiß ist jedenfalls: Nur die Stärkung des Zeugen führt
in das beobachtete Selbst und den beobachtenden Großen zur Integration des Meditierers und verhindert seine Regres-
Anderen nicht bleiben kann. Die dyadische Relation zwi- sion in die Besessenheit durch den Großen Anderen. Die
schen der rezessiv isolierten Seele und ihrem inneren Partner Geschichte der Fanatismen zeigt, daß solche Regressionen
erweist sich ihrerseits als eine Figur auf einem Grund von auf der Tagesordnung der »Religionen« stehen. Der Fanatis-
anonymem Bewußtsein, das beide Pole unterspannt. Zu mus läßt das triadische Feld implodieren - wobei das patho-
dem Zwiegespräch zwischen dem Ich, das sich der Übung logische Ich den Zeugen ausschaltet, indem es sich direkt die
unterwirft, und seinem Mentor, der die Übung überwacht, Position des Großen Anderen aneignet, um in seinem Namen
ist der innere Zeuge hinzuzurechnen, der als dritte Instanz zu agieren. Im Licht dieser Diagnose wird evident, mit wel-
dem Austausch der beiden immer schon beiwohnt. Mit der chem Recht hier behauptet wird, »Religion« sei zunächst und
Entdeckung der triadischen Struktur des mentalen Raums zumeist nichts anderes als ein mißverstandenes mentales
beginnt zugleich die Integration oder Transfusion des Gro- Übungssystem, oft überdies ein psychodynamisch entglei-
ßen Anderen ins Ich. Dieser stünde ja dem Ich-Pol der Dyade stes, beruhend auf einer Askese zum halben Preis, bei der
für immer uneinholbar gegenüber, wenn es nicht ein über- Anfängerfehler und Merkmale der pathologischen Subjekti-
leitendes Drittes gäbe, eben jenes feldförmige Zeugen-Be- vität zum Wesen der Sache überhöht werden. Gefährdet von
wußtsein, das sich von Anfang an neutral über die Pole der solchen Fanatismen sind naturgemäß besonders die beiden
inneren Dyade verteilt. expansionistischen Monotheismen, wenn und weil sie ihre
Durch die kontinuierliche Übung unter dem Auge des Qualität als Übungssysteme gegenüber ihren Adepten nicht
Großen Anderen gewinnt das pathologische Ich des anacho- angemessen zum Ausdruck bringen. Häufig stellen sie sich an
retischen Anfängers, der sich zunächst selbst nur ein Ärger- ihrer didaktischen Oberfläche als eine reine Bekenntnissache
nis, eine Leidensquelle und ein quasi-äußerlicher Gegenstand dar und öffnen damit dem pathogenen Irrtum Tür und Tor:
sein kann, zunehmend Anteil an der Präsenz des Zeugen. Sie Dann führt die Fahnenflucht aus der gescheiterten Ichb~! ­
ist es, die in den meditativen Übungen der Adepten verstärkt dung geradewegs in die Besessenheit durch den Großen -~_:-_-
6 Erste Exzentrik 373
37 2 Il Übertrei bungsverfahren

deren. Wo man den monotheistischen Populismus am Werk Zweifel zuerst und vor allem im Umkreis der hier beschrie-
sieht, hat ein mentales Übungs system wieder einmal ver- benen egotechnischen Prozeduren - und erst in zweiter Linie
schwiegen, was es der Sache nach ist: Erneut hat sich ein auf der Seite der Weltmenschen, die in den Sog von Macht-
Trainingsprogramm als »Religion « verkauft. Dann ist es nicht und Geltungsspielen geraten.
verwunderlich, wenn die Agitation der Introversion den Das vielzitierte Ego ist selbst der Schatten der Enklavie-
Rang abläuft. Ja, man kann sich fragen, ob nicht der moderne rung - und dieser tritt plausiblerweise ins Blickfeld, weil nach
Effekt »Religion« erst dadurch entsteht, daß ein ethisches der ontologischen Gebietsreform das ausgeschnittene Selbst
Übungsprogramm zu Zwecken kollektiver IdentitätsbiIdung als solches auffällt. Sobald das rezessiv isolierte Subjekt sich
umfunk~.ioniert wird - auf diese Weise wandelt sich die spi- umdreht, wird es auf seinen Schatten aufmerksam - er fällt ,
rituelle Ubung von der anspruchsvollen Rückzugsform in die wie man leicht begreift, auf den gesamten »Rest der Welt«.
billige Besessenheitsform, die man die Konfession nennt. Wird das bemerkt, kann es nicht ausbleiben, daß der Einzelne
Dieser »Glaube« ist Hooliganismus im Namen Gottes. erschrocken den Vorwurf an sich richtet, einen derart mon-
strösen Schatten zu werfen. Sobald Priester und Lehrmeister
sich dieser Beobachtung bemächtigen, wird der Vorwurf an
Inquisition gegen das Ich alle Sterblichen weitergereicht, auch an die Mehrheit der ar-
men Teufel, die noch gar nicht auf den Gedanken gekommen
In demselben Zusammenhang läßt sich ein gemeinsames sind, ein Ich zu haben.
Merkmal sämtlicher aus der Position der rezessiven Subjek- Was die gewöhnliche Eitelkeit der Sterblichen angeht, die
tivierung entwickelten Übungssysteme erläutern - ich denke den Spirituellen so sehr ins Auge springt, so ist sie in der
an die allenthalben vorgebrachte pathetische Warnung an die Regel kein Hinweis auf erhöhten Ich-Bezug, sie deutet viel-
Praktikanten vor der Versuchung durch überwertigen lch- mehr auf die Besessenheit der Individuen durch Kollektiv-
Bezug. Man könnte geradezu von einer weltweiten Inquisi- Idole und ihre mehr oder weniger naiven Anstrengungen,
tion sprechen, die den mittelmeerischen und vorderorienta- sich diesen anzugleichen. Der phänomenal auffällige »Ego-
lischen Monotheismen wie den indischen und ostasiatischen ismus « von Weltmenschen zeigt in Wahrheit eine Überwälti-
Systemen gemeinsam ist. Seit die hochzielenden existentiellen gung der Psyche durch ein Trugbild des Anderen an - er
Akrobatiken in Erscheinung traten, wird unter bemerkens- bildet daher zumeist nur eine unverstandene Form von inva-
wertem Gleichlaut in Ost und West die Gefahr beschworen sivem Altruismus, ein besessenes Glänzenwollen in den Au-
der Mensch könne an seinem Ego, man sagt auch gern: a~ gen der Eltern oder der Stammesältesten.
seinem kleinen Ich, haftenbleiben und dadurch seinen wah- Die wirklich riskanten Egoismusprogramme hingegen ver-
ren Platz in den kosmischen Hierarchien wie den sozialen bergen sich in den auf der Enklavierung aufbauenden spiri-
Zusammenhängen verfehlen. Die spirituelle Weltverschwö- tuellen Übungssystemen als solchen - bis hin zu den Syste-
rung gegen das Ego ist nicht ohne Pikanterie, weil sie von men des »subjektiven Idealismus«. Kein Wunder, daß sie in
den Bewegungen ausgeht, die das Egophänomen als solches ihrem ersten Jahrtausend nur unter dem Schutz der archai-
hervorgetrieben haben. Wenn es so etwas wie ein sich selbst schen Ständeordnung gedeihen konnten - am offenkundig-
zum Maß aller Dinge setzendes Ich je gegeben hat, dann ohne sten im alten Indien, wo die Neigung zur Flucht aus d 2::
374 II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 375

sozialen Zwängen schon früh epidemische Ausmaße annahm liehe, das Universum, das Ganze, die universelle Lebensrno-
und nur durch die Integration des spirituellen Ausstiegs in nade, das Nichts usw. nicht länger unter der problematisch
den Normallebenslauf, gleichsam als dessen Rentenalter, ru- gewordenen Form des Äußeren vorgestellt werden. Das de-
higgestellt werden konnte: So sah der brahmanische Lebens- mutfordernde Große kann jetzt nur noch von der Selbstseite
lauf vor, daß der Ehevater oder die Hausmutter, nachdem sie her auftauchen, als Gott von innen, als Kosmos von innen, als
ihre Pflichten als Schüler und Eltern erfüllt hatten, sich in Nicht-Selbst von innen.
ihrer dritten Lebensphase zum »Aufbruch in den Wald « (va- Daher die typische Zweistufigkeit von Subjektivität im
naprastha) bereitmachten, um zu guter Letzt das Leben eines hochkulturellen Raum. In ihr muß ein alltägliches und illu-
wandernden Bettlers (bhikshu) zu führen. sorisches Klein-Ich von einem wahren und wirklichen Groß-
In christlichen Zeiten mußten die Evasionen der rezessiven Ich abgehoben werden, und selbstverständlich soll das erste
Subjektivität durch starke kommunitarische Gegengewichte im zweiten »untergehen«. Wenn die als solche titulierte Au-
kompensiert werden, insbesondere durch die obligaten De- ßenwelt überhaupt noch eine Rolle spielt, dann als Gleichnis
mutsübungen, deren basales Paradox - durch Erniedrigung für die Macht der allesbewirkenden Lebensmonade, als Quel-
an die Spitze zu führen - nur zu gut bekannt ist. Zur internen le für transzendente Kraftmetaphern und als Sparringspart-
Stabilisierung der spirituellen Egoismen war es darum unent- ner für die Seele, die testen will, was alles sie schon kaltläßt -
behrlich, daß sie von Anfang an resolut, ja fanatisch leugne- so prahlten manche Mönche gern damit, sie könnten eine
ten, solche Programme zu sein. Als Symptom dieser Leug- ganze Nacht neben einer jungen Frau liegen, ohne in Versu-
nung läßt sich das Bettelwesen entziffern, das im Osten wie chung zu geraten. Sobald die Psyche dem Imperativ, ihr Le-
im Westen für die antisozialen oder »hauslosen« Lebenswei- ben zu ändern, entsprochen hat, indem sie in die Rezession zu
sen charakteristisch wurde. In diesem historischen Kompro- sich selbst aufbricht, hört sie den Korrekturbefehl, die Än-
miß zwischen dem Rückzug von der Menschenwelt und der derung zu ändern. Darum dürfen Erfolge bei der Bemühung
Teilhabe an ihren Überschüssen hatten die radikal Übenden um Heiligkeit nicht allzu tief ins Selbstbewußtsein der Hei-
die Form gefunden, sich selbst zu überreden, ihre methodi- ligen eindringen, weil sie sonst ihre Vorbildlichkeit für andere
sche Heraushebung sei in Wahrheit ein Modus des allerde- verlören. Das Paradox dieser Position wird allenthalben sy-
mütigsten Lebens. stematisch abgedunkelt: daß der Heilige nicht wissen darf,
Ganz folgerichtig setzt mit dem Ausschneiden des inneren wie es um ihn steht, obschon er der erste ist, der es wissen
Gebiets aus dem Kontinuum des Seienden ein pathetisches müßte. Heiligkeit scheint nur um den Preis der psychischen
Kompensationsprogramm gegen den spirituellen wie den Flachheit erlangbar, da sie mit reflektierter Individualität
profanen Egoismus ein, ohne das die ethische Sezession we- nicht kompatibel ist - ein Merkmal, das, wie man einem Hin-
der für sich noch in sozialer Hinsicht glaubwürdig oder auch weis Luhmanns entnehmen kann, der Heilige mit dem Hel-
nur tolerabel geworden wäre. Kurzum: Kaum ist das rezes- den des neuzeitlichen Romans teilt. 32
sive Subjekt erfolgreich ausgegrenzt und in seine ontologi-
3 2 Vgl. Niklas Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Selbst-
sche Sonderstellung erhoben, wird es einer unermüdlichen
thematisierung und Selbstzeugnis: Bekennnris und Geständnis,
Demütigungs- und Entselbstungspropaganda unterworfen. herausgegeben von Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt am
Hierbei darf das, worunter es sich demütigen soll, das Gött- Main 1987, S. 64f.
II Übertreibungsverfahren 6 Erste Exzentrik 377
gefangenen deprimierten Kameraden im Kerker exaltierten
Den Egoismus rehabilitieren Tons seine eigene Zukunft vorhergesagt: Er selber sei nicht
niedergedrückt, denn »es kommt eine Zeit, da ich als Heiliger
Ich schließe diese Überlegungen zur ursprünglichen Heraus- in der ganzen Welt verehrt werde«.33 Um weitere solche
bildung des Übungsraums durch die sezessionären Bewegun- Zeugnisse spiritueller Karriereträumereien zu vermeiden,
gen und die rezessive Abhebung des Subjekts als Übungsträ- war, en passant gesagt, die Stigmatisierung mit den Wundma-
ger mit einer Erinnerung an Nietzsches Bemühungen um die len des Herrn, nach Franz von Assisis großem Beispiel, die
Rehabilitation des seit Jahrtausenden angeschwärzten Egois- einzige tolerable Form der Prätention auf Heiligkeit zu Leb-
mus. Zu diesen trugen vor allem zwei kritische Beobachtun- zeiten, weil sie den Status der Heiligung, gewissermaßen am
gen bei, die in der Geschichte der Inquisition gegen das Ich Selbstbewußtsein des Kandidaten vorbei, wie eine objektive
regelmäßig beiseite gelassen wurden: Zum einen, daß hin- Passionstatsache präsentierte. Die Frage nach dem Eigenbei-
sichtlich der meisten Menschen die Egoismuskritik viel zu trag des Stigmatisierten zur Erzeugung der sakralen Zeichen
früh kam, weil sie noch gar nicht in der Verlegenheit waren, blieb im Inneren der frommen Zirkel seit jeher tabu. 34
ein Ich auszubilden, das einen schlechten Schatten hätte wer- Sobald man begreift, daß das Subjekt selbst nichts anderes
fen können. Zum anderen, daß auch bei denen, die es durch ist als der Träger seiner Übungsreihen - nach der passiven
rezessive Selbstübernahme zu einem Ich gebracht hatten, die- Seite hin ein Aggregat aus individuierten Habituseffekten,
ses keineswegs immer die Demütigung verdiente, die ihm von nach der aktiven ein Kompetenzzentrum, das die Klaviatur
den Agenten der Anti-Egoismus-Inquisition auferlegt wur- aufrufbarer Dispositionen bespielt -, kann man mit Nietz-
de.
Diese Inquisition bedeutet, wie wir jetzt verstehen, nichts 33 Das Leben des heiligen Franziskus von Assisi. Beschrieben durch
den Bruder Thomas von Celano, Basel 1921, S. lOS.
anderes als eine unentbehrliche Maßnahme zur Abdunkelung 34 Kritiker des Stigmatisierungswunders haben die tabubrechende
der basalen Paradoxie, wonach der Heilige nicht wissen soll, Frage formuliert, wieso die Handwundmale bei Franz und seinen
daß er ein Heiliger ist, technisch gesprochen: wonach der Nachahmern in den Handflächen auftraten und nicht, wie es hi-
religiöse >>Virtuose« alten Stils - um Schleiermachers fatalen storisch richtig wäre, an den Handwurzelknochen. Ihre Antwort:
Weil Franz seinerseits die gemalten und skulpturalen Kruzifixe
Ausdruck aufzunehmen - dazu verurteilt bleibt, sein Virtuo-
seiner Zeit nachgeahmt hat, bei denen die Handflächennagelung
senturn vor sich selbst zu verbergen. Vielleicht muß eine längst zur Konvention geworden war. Damit ist noch nicht di e
rechte Hand nicht wissen, was die linke tut - doch das Ge- Frage beantwortet, ob die Wundmale durch fromm en Betrug, in-
hirn, das wußte, was die Linke tat, hat immer schon auch die folge von Selbstverletzung entstanden, oder ob sie auf einer phy-
siologisch nicht erklärbaren autoplastischen Eigenleistung des
Aktivitäten der Rechten überblickt. frommen Körpers beruhen. Für die erste Version votiert in bezug
Dennoch konnten die Heiligen vom Selbstbezugsteufel auf Franz von Assisi Christoph Türcke, der den Heiligen für den
geplagt werden, ohne seine Präsenz zu bemerken. Das verrät größten Schauspieler bzw. den resolutesten Simulanten des Mittel-
eine Passage aus Thomas von Celanos zweiter Lebensbe- alters hält: Vgl. ders., Askese und Performance. Franziskus als
Regisseur und Hauptdarsteller seiner selbst, in: Neue Rundschau
schreibung des heiligen Franz (1246/47): Demnach habe der
412000, S. 3 5f. Von dem Verehrer der Großen Mutter Ramakrishna
junge Mann, noch »unbekehrt«, nach einem Scharmützel wurde analog behauptet, er habe von ihr das Gnadenzeichen der
zwischen den Bürgern von Assisi und Perugia vor seinen Menstruation erhalten.

J..
II Übertreibungsverfahren
379
sche wieder gelassen zugeben, was über Jahrtausende unaus-
sprechlich war: Der Egoismus ist oft nur das verruchte
7 VOLLENDETE UND UNVOLLENDETE
Pseudonym der besten menschlichen Möglichkeiten. Was un-
ter dem Licht der humilitas-Hysterie wie ein lasterhaft über-
WIE DER GEIST DER PERFEKTION DIE

triebener Selbstbezug erscheint, ist meistens nicht mehr als ÜBENDEN IN GESCHICHTEN VERSTRICKT
der natürliche Preis der Konzentration auf eine seltene Lei-
stung. Wie anders soll der Virtuose sein Niveau erreichen und
halten, wenn nicht durch das Vermögen, sich selbst und den
Stand seiner Kunst triftig zu evaluieren? Nur wo der Selbst- In der Z eit der Vollendung
bezug im Leerlauf dreht, darf man von einer entgleisten
Übung sprechen. In solchen Fällen liegt eher eine Verirrung Die Umformung des Menschen in den höheren Kulturen zu
als eine Sünde vor, mehr eine Fehlbildung als eine Bosheit. Trägern expliziter Übungsprogramme erzeugt nicht nur den
Das von den theologischen Autoren so hoch eingestufte Bö- exzen~rischen Selbs~.bezug des Daseins in spirituellen Enkla-
seseinwollen um des Bösen willen - die oft zitierte augusti- ven. SIe prägt den Ubenden auch einen radikal veränderten
nische incurvatio in seipsum inbegriffen - ist vermutlich Sinn für Zeit und Zukunft auf. Tatsächlich besteht das Aben-
ebenso selten wie die vollendete Heiligkeit. Wo man den teuer der ~o~hkul:uren darin, aus der kosmischen allgemein-
Egoismus vermutete, um ihn in flüchtigen Bösesprechungs- samen ZeIt eIne eXIstentielle Zeit herauszulösen. Nur in die-
Verfahren zu verdammen, findet man bei genauerem Hinse- sem Rahmen kann man die Menschen zum Übertritt aus den
hen die Matrix der herausragendsten Tugenden. Ist dies of- eb~nmäßigen Jahren des Seins in die Dramatik einer Projekt-
fengelegt, sind die Demütigen an der Reihe, zu erklären, wie zelt auffordern. Für die existentielle Zeit ist die Beschleuni-
sie es mit dem Hervorragenden halten. gung charakteristisch, dank welcher sich das Dasein von den
Trägheiten des Weltlaufs abkoppelt. Wer ins übende Leben
aufbricht, will schneller sein als das Ganze - sei es, daß er die
Befreiung noch »in diesem Leben « anstrebt, sei es, daß der
Aufstieg zur »himmlischen Erhöhung« (exaltatio caelestis)
noch in vita praesente gelingen soll. Wenn selbst Benedikt
von Nursia, der Meister des westlichen Mönchswesens, von
einem raschen Emporkommen zu Gott sprach, verriet dies
nicht sein persönliches Ungestüm. Er verhielt sich ganz den
Regeln des Lebens in der Zeit des spirituellen Projekts gemäß.
Seine Anweisung zum seligen Leben zog nur die Konsequenz
auS dem apokalyptischen Bald (mox )36 und dem apostolischen
Rasch (velociter)37. Weil die rezessiv abgesonderte Existenz

36 Regula Benedicti 7,67.


37 Regula Benedicti 7, 5·
.3 0 11
.3 I

elb t ramm b d 11 b i wel hem di e Un-


rheb rn z urü kkehre11; im zweiten
pei hert c U nre ht ma . Ib t d 11 la ng amen
kaJ'mischen Pr zcß ran, d r ~ i in p fm3ncnte Stand-
recht dafür orge, daß i h in jed m inzell ben die morali -
sche Bilanz einer Taren \ ährcnd d r früheren Verkörperun -
die e Leben zu führen, al ein gen au druckt. In be iden Fällen la n i h die Leben ze iten
die chrt d iche oktrin, jüdi ehe und mitt Ime ri h Den- einigermaßen pbu ibel in den P r zeß d er morali ierten \'(/elt-
ken zu ammenfa end, ihren Adept en die Üb neu ung ein zeit einhängen.
d ie e Leben ci da ei nzi c, d i je ha b n werd n und jeder
Ta e in~ilderletzt nChan . Ich will im ( I enden erläutern, wie die eHerleitung der
existen.ri lien Zeit <tu der Ra he pannung bzw. aus der tran-
Ich habe an anderer tell zu zeigen er ucht, ~ ie da Ver- szendent über h "hten F rd run g nach L iden ausgleicb
langen nach Gerechti keit und Leiden au leich im er ten durch eine z~ eite rl itun au der Übungsspannung
vorchri dichen Jahrtau end zur tifrung iner neuartig ge- bzw. der Anti z ipari n der ollendung er änzt werden muß.
spannten Temporalstruktur eführt hat, die im Zeichen der Dies ist nur m ·· li b, wenn ich in den we entliehen Übungs-
verzögerten Rache land. 9 Die er Zeitb gen ird ge pannt, proze sen eine klare, die L b n zeit des Übenden durchgrei-
indem der durch erlitt ne Um ht ent tanden S hmerzein fende FinaliL1c nachwei en läßt. Die e Bedingung wird von
individuelle wie kulturelle Gedä htni erzeugt, da alles den kla i hen F r m n dc übend en Lebens unmißver länd-
daransetzt, dem Urheber de Unre h · einen äquivalenten Lich erfülle. ie d i · Zeit der Ra he trukruriert wird durch
Straf chmerz zuzufü cn. Hierdur h ent teht eine exi tentia- die Vorwegnahm e de erfüllt n Au ge nbli ks, in welchem der
lisierte Zeit mit einer klaren rä heri ehen Finalität. Da sich Schmerz inen erur:l he r einholt so wird die Zeit des
aber nicht jeder Unr chd idende ei en händi au
fakti n Üben trukturicn dur h die ima ginäre Vorwe nahme der
ve r chaffen kann, muß ein Gr ßteil d r Ra he-E nergie na h Ankunft d Übend n im entfernten Übung ziel - ob das
obenabge b nund v neiner g " ttli hen kon miede L i- nun Virtu ität heißt oder Erleuchtung oder Angleichung
den au glei h in Regie gen mmen werden. arau resultie- an da h " h t u t . Zur Z irform des übenden Lebens ge-
ren die moralisierten Wcltzcitcnrwürfe des Christentums und hören unabdin bar di mehr d r weniger zuständlich oder
des Hinduismus. Im er ten Sys tem drängt ich die Weltzeit gegenständlich au ema lten Ankunftsphantasien, ohne die
auf die relativ kurze Spanne zwi ehen der S höpfung und sich kein Anfän er auf den Weg begeben und kein Fortge-
schrittener auf ihm halten könnte. Kann man die Zeitstruktur
38 Darum tauchen in der Regula Benedi ti 73 , 2 und 73, 8 di e '\ en- des Leb nunter räche ri hem Vorsatz als Sein-zur-Rache
dungen auf: ·zur Vollk ommenheit de kl ö terli ehen Lebens eilen-
und ,.zum himmlischen Vaterland eilen. (ad patrinm caelestem beschreiben, i t für d n temp ralen Modu des übenden
[estinare). Lebens ein Sein-zu rn-Ziele anzusetzen - oder geradewegs ein
39 P. 51., Zorn und Zeit. P Sein-zur-Vollendun . Für ein "Ziel .. im antiken Sinn d: ,
am Mai n 2006, S. of. Wortes ist es charakteristi eh, chan von weitem sichtbar :__

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3 2 11 Ilvollendelc

ein - daher der ri hih Au dru k skopos, d r ach- ideal der da cr pre hen lOe unwider tehlichen Sie-
dru k au di Erk ennbarkeit cle ,. Auenmer: .. u räße- gesprei - dem ath/on v r lei hbar um d J1 di Ti hi ehen
rem Ab tand t:Zt. i Ir nie der Ziel, i h b i Annäherung Athleten ran n. a die hri tlic hen Märtyrer den i e-
zu enr e en ündlichen wird übli herwei cer t den Fortge- kranz, st.i phanos (au h Kr n , piirer Bi h f mütze), nann-
chrirtenen erkr·rt. ten, kommt ein r Ihn Präm i I i h. Die rientierung
des eigenen Hand IlI1s an einem mori ierenden Prei kommt
nirgendwo d udi her zum Au dru k al in den bekannten
Ergriffenheit dur h da Ziel Athl eten-G leichni en dc Paulu • der im Bli k auf eine apo-
stoli ehe Be egtheit im r ten Brief an die Korinther 9, 26
Für die Struktur de übenden und ifernden L ben 10 eIDer statuiert;
Anfang pha ei t bez ihnend, au b liebi w iter Entfer- .. Darum laufe ich ni hr wie ei ner, der ziello läuft, und
nung on einemZi 1,- BiJd -r ri en ein:z.uk "" nnen. EsLiefert kämpfe mit der au t ni ht wie iner der in die Luft
da an chaulich te Bei picl für da , ,a in der ri totelisehen schlägt.«
Lehre on den Ur achen al der vierte Kau aIr pu (na h den Hier wird die hri di he Ziel r1 ht eh it mit erblüHender
Material-, Form- und Wirkur a hen) auf führt 0;: ird - die Direktheit zur ath leti hen Ff I rientierung in Bezug ge-
Zielur ache der causa finalis: Währ nd die übri en causae ,s etzt. Die bedeutet ni ht, daß Paulus mir den Gepflogenhei-
die Wirkun gl ich am »tra en der r ich her chieben ten de Athlet nwc en b nder vertraut ewe en wäre; er
kommt der finalen Ur ä hli hkeit die i en haft zu, den zu griff ledigli h da {/(hlon-M ti auf, um einen Mitgläubigen
vollbringenden Effekt durch eine v n ben der vorne her die ungew hnte r teil un g ein ullSterbli h n Siegesprei es
wirkende Zug pannun zu fördern. Nach die er Logik sind so pla ti h wie m ,. li h zu erkl ären,
Ziele so etwa wie Ma n te, die eignete bjekte in ihrem
Attraktion bereich unwid er t hlich z.U ih_nen hin b wegen.
Die läßt ich _3chlich nur 0 denken, daß das Ziel auf dunkle Ober den nr rschi d z ischen einem Weisen
Weise bereits in die zu ihm hingezogenen Körper eing,e - und einem Apost I
pflanzt ist - seie durch die n Ari toteies ° benannte,
den rganismen jeweil ci entümliche entelecheia (was Was ins G wi ht fällt, i t di Tat a he, daß der Apo tel selbst
wörtlich "lnnenzicl trebigkeit « bedeutet und eine Bewegt- nicht vom err ihlen Ziel her pri ht,ond ern aus der Posi-
heit apriori bezeichnet), ei e dadurch, daß einem begeh- tion eine Übend n auf halb m We - der um modern zu
rensfähigen We en in lnem g b neo Aug nbli k ein ihm reden: eine Engagierten - der vom Ziel fast ebenso weit
bis dahin nicht bekanntes oder nieht bewußtes Ziel gezeigt entfernt ist wie jene, an die er ich als pi ritueller Monitor
wird, auf das es in der Folge wie auf ein nicht mehr auf eb- wend t. Um na hdrü kJi her le t er Zeugnis ab für die
bares Ideal zustrebt. Bedeutung d E r riffen ein v n d r Zielvor teilung. Was
Diese zweite Art von Zielgerichtetheit, das E rgriff nwer- das frühe Chri rcnrulll unter .. Glauben « (pistis) verstand,
den durch eine Ziel-Erkenneni a posleriori, impliziert 0 et- war zunä h t ni bt and ere .a l das orauslaufende Sich-Fest-
was wie die Akrivierung eines latenten Vollkommenheits- machen an einem rbild der einem Ideal, über dessen Er-
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

reichbarkeit damit noch nicht entschieden war. Der Glaube re Bedürftigkeit den Apostel inspirierenden Mitglieder der
ist ein purer Antizipationseffekt insofern, als er schon wirk- jungen Gemeinde von Korinth.
sam wird, wenn er aufgrund der Antizipation die Existenz Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß mit dieser pri-
der Antizipanten zielwärts mobilisiert. Man müßte dies, in mitiven Stufenlogik, die die einfachste Hierarchie vorzeich-
Analogie zum Placebo, den Movebo-Effekt nennen. Genau net, eine Projektskizze gegeben ist, die in real gelebter Zeit
hierauf nimmt Paulus Bezug in seiner Aufforderung an die zur Ausführung kommen soll. Was im Anschauungsbild
korinthischen Leser seines ersten Briefs: »Nehmt mich zum übereinanderliegt, wird auf die Zeitachse projiziert, wonach
Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme. « (I Kor 1 I, I) die Anfängerposition mit dem Jetzt, die Fortgeschrittenen-
Die Nachahmungswürdigkeit des Vorsprechers liegt hier position mit dem Später und die Position der Vollkommen-
nicht in seinen erreichten Erfolgen, sondern in seiner Ergrif- heit mit dem Zuletzt identifiziert werden kann. Vorwärts und
fenheit vom Ziel. Wer einen solchen Nachahmer Christi aufwärts bedeuten von nun an dasselbe. Man darf sagen, um-
nachahmt, läuft hinter einem Laufenden her. 40 greifende Übungs geschichten sind nicht nur teleologisch ge-
Mit diesem Ansatz ist das Minimum einer Übungskultur richtet, sie weisen eine latent eschatologische Struktur auf.
vorgezeichnet. Er impliziert die elementare Dreistufigkeit, Auf diesem Feld zeigen imaginäre Ziele und letzte Dinge
ohne die es keine organisierte Hinführung von Übungsan- die Neigung, miteinander zu verschmelzen. Sobald es dem
fängern zu höheren Zielen gibt. An der Spitze des Feldes steht Übenden nicht nur um ein Handwerk oder eine Kunstlehre
naturgemäß der ganz ans Ziel Gelangte, der Vollendete, im geht, die mit dem Erwerb der Meisterschaft abgeschlossen
aktuellen Fall der Gottmensch, Christus in Person, an dessen werden kann, sondern um die existentielle Kunst, bei der
Vollkommenheit zu »glauben« auch schon gleichbedeutend das Leben insgesamt nach Erhöhung und Verklärung strebt,
ist mit dem Glauben an seine relative Nachahmbarkeit - da rühren Tod und Vollkommenheit unvermeidlich aneinander.
glauben und vorwegnehmen, wie bemerkt, in diesem Zu- Dieses Merkmal ist den spirituellen Übungswegen in den
sammenhang dasselbe bedeuten. Über das Paradox der unterschiedlichsten Kulturen gemeinsam; was sie unterschei-
hochkulturellen Pädagogik, daß sie die Nachahmung des Un- det, sind die Codierungen des Höchsten und Letzten, die
nachahmlichen lehrt, wird weiter unten ausführlicher gespro - Modi der Annäherung, die Anzahl der zu durchlaufenden
chen. 41 Im Mittelfeld findet man hier wie überall die Figur Stufen und die Ausformung der mehr oder weniger ausge-
des Fortgeschrittenen, im gegebenen Fall den Apostel, der prägten Härten, mit denen die Fortgeschrittenen zu kämpfen
sich als Nachfolger ersten Grades vor das Hauptfeld spannt, haben. Das Sein-zum-Tode, das der frühe Heidegger allein
bestehend aus Anfängern und Nachahmern zweiten Grades, vom Endlichkeitsbewußtsein des geworfenen Daseins able-
hier die spirituell labilen, weisungsbedürftigen und durch ih- sen wollte, war Praktikanten des Rückzugs seit jeher be-
kannt - freilich verstanden sie es als das Sein-zur-Vollendung.
40 Diese dynamisierte Mimesis wird in der späteren mystischen Theo- Folgerichtig hieß ihr Existential nicht Geworfenheit - die gilt
logie Gregor von Nyssas zu der These überhöht, wonach das bekanntlich nur für die der Welt Verhafteten. Ihr Dasein
christliche Begehren, we il es einem grenzenlosen Gegenstand folgt,
stand ganz im Zeichen der Hingezogenheit zum Höchsten.
niemals zur Ruhe kommen könne, sondern in eine paradoxe Ein-
heit von Lauf und Stillstand münde. Die Aufforderung des Paulus an die Korinther, sie mögen
41 Siehe S. 426f. seine Nachahmer sein, so wie er Christus nachahme, macht
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

deutlich, wie die Stufenbildung von der Mitte her gesteuert sophische Dozentur entdeckt und sich vom Jahr 62 an eben-
wird. Mitte ist, was das Vollkommene über sich, die Anfänge falls als Verfasser von Lehrepistein hervorgetan. Diese rich-
hinter sich hat. Anders aber als die indische Welt, in der die teten sich der Form nach an einen gewissen Lucilius, einen
Lehrbefugnis an die Bedingung der vollkommenen Realisa- jüngeren Mann von unklarer persönlicher Kontur, der sich
tion des Meisters geknüpft ist, kennen der Stoizismus und das zum Leben gemäß den philosophischen Übungen bekehrt
Christentum das Phänomen des unvollkommenen Lehrers, hatte, sie zielten aber von Anfang an über dessen Kopf hin-
der sich über seine Schwächen hinwegsetzt, indem er sie weg auf ein größeres Publikum. Formaliter näherte Seneca
zum Teil der Lehre macht. Sofern Paulus meinte, lehren zu sich seinerseits einer apostolischen Sprechrolle an, indem er
können, was er selbst nicht besaß, konnte er sich den Mit- als Mittelsmann einer Vollendungslehre das Wort ergriff;
gläubigen nur insofern als Vorbild präsentieren, als er ein auch er schöpfte aus Erfahrungen auf halbem Wege, um den
besonders engagierter »Läufer« war. Dies spricht weniger Anfänger in die exercitationes spirituales der Schule zu initiie-
für die ihm gelegentlich unterstellte Nähe zu den Denkfor- ren und mit ihm zugleich eine breitere Leserschaft anzuwer-
men des griechischen Sports, der ihm als gebildetem Zeloten ben. Ihm war bewußt, selber noch unterwegs zur Perfektion
eher ein Greue! gewesen sein muß, als für seine Begabung, zu sein und ein gutes Stück Wegs vor sich zu haben. Gleich-
sich selbst beim Schreiben in seine Empfänger zu verwandeln. wohl erlaubte ihm sein fortgeschrittener Reifegrad, mit Au-
Hier also, da er zu Griechen sprach, wurde er probeweise torität über das höchste Gut zu sprechen, das jenseits seines
zum Griechen, so wie er Römer wurde, wenn es zu Römern aktuellen Status lag. So stellte er die Frage: »Was kann zum
zu reden galt. Im übrigen war ihm völlig klar, daß die Voll- Vollkommenen noch hinzukommen?«, um sogleich selbst die
kommenheit, ohne die der Zielmagnetismus nicht wirksam Antwort zu geben: »Nichts - es sei denn, das, zu dem es
wird, nicht von seiner Person ausgehen konnte, sondern al- hinzukam, war nicht vollkommen. « »Sich steigern zu können
lein von dem großen Vorbild, dem er selbst nacheiferte - ist Merkmal von etwas Unvollkommenen.«42 Wenn schon
weswegen er sein Magisterium stellvertretend im Namen des- das Wachstum auf Unvollkommenheit schließen läßt, so die
sen ausübte, der wirklich hätte lehren dürfen, wäre er, nach Minderung erst recht.
der Auferstehung, noch fähig und willens gewesen, in prae-
sentia zu wirken. Paulus war sein Mangel an persönlichem
Charisma schmerzlich bewußt, und er vergaß nie, daß seine Todesexamen: Weisheitslehre als Training
schmächtige Erscheinung auf Anwesende wenig Eindruck für das Theater der Grausamkeit
machte. Folgerichtig verlegte er seinen Autoritätsanspruch
in hysterisierte apostolische Sprechakte aus der Ferne. Solche Senecas Begriff von Weisheit als Vollkommenheitsziel ist bis
ließen sich in seinen Lehrbriefen, die man auf die Jahre zwi- in die letzten Fasern vom römischen Realitätsprinzip durch-
schen 48 und 60 nach Christus datiert, unwidersprochen un- drungen, das die Wirklichkeit des Wirklichen als Härte des
terbringen. Lebens versteht. Erziehung zur Wirklichkeit bedeutet daher

Auf analoge Weise hat Seneca die Position des Fortgeschrit- 4 2 Epistolae morales ad Lucilium, 66,9. Crescere posse imperfectae rei
tenen als literarisch fruchtbare Ausgangslage für eine philo- signum est.
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

stets die Vorbereitung auf eine Prüfung im Ertragen von stare ubi omnes iacent«.44 Das einzige Übel, das unter der
Grausamkeiten. Wird römische Macht als Kollaboration Folter droht, ist, daß sie das Organ des aufrechten Stands,
mit dem Fatum ausgeübt, kann römische Weisheit nur als den Geist, beugen könnte. Der vollkommene Weise aber ist
unbeugsamer Widerstand gegen die Macht des Schicksals be- die Unbeugbarkeit selbst: »Aufrecht steht er da unter jeder
wiesen werden - das betrifft insbesondere jene Art von beliebigen Last. Nichts macht ihn kleiner, nichts von dem,
Schicksal, die Menschen durch die Willkür anderer erleiden. was man tragen muß, mißfällt ihm . .. er weiß, daß er lebt, um
Keine andere Kultur hatte sich je so darauf verstanden, den eine Bürde zu tragen. «45
Schrecken zu theatralisieren und die Auslöschung von Leben Seneca bedarf wie Paulus um der Glaubwürdigkeit seiner
ins Zentrum öffentlicher Rituale zu stellen. An welchem an- Botschaft willen der soliden Verkörperung des Vollkomme-
deren Ort konnte man wie hier die Einheit von Entertain- nen in einem exemplarischen Individuum, obschon er nicht
ment und Massaker beobachten? wie der Apostel auf einen Meister der Beständigkeit verwei-
Wo man die Welt unter dem Bild eines Theaters der Grau- sen kann, dessen stabilitas über den Tod hinausreichte. Dar-
samkeit konzipiert, läßt sich der Weise nur als Schauspieler um begnügt sich der Autor mit der Beschwörung des Ideals,
auf einer solchen Bühne vorstellen. Auf ihr sind keine Simu- das auch dann für uns verbindlich bliebe, wenn es nie einen
lationen gestattet, da die Spiele realer als das Leben selbst in vollkommenen Weisen gegeben hätte. Die stoischen Siege
Szene treten. Pflegt dieses nur okkasionell grausam zu sein, so über den Tod nehmen die Teilhabe des Übenden an einem
erhebt die römische Arena die Grausamkeit zum Prinzip und alternativen Modus von Perfektion in Anspruch, sie zielen
zur Routine, bis hin zu den tatsächlichen Schlächtereien im auf ein nicht-christliches savoir mourir. Ihr Appell richtet
Sand und den wirklichen Foltern an der Rampe. Auf einer sich an ein summum bon um, das im entfalteten menschlichen
Weltbühne dieses Typs gibt es nur einen Unterschied, der Geist (mens) residiert. Solange sich dieser noch nicht bis zur
einen Unterschied macht - der zwischen den Stehenden, die völligen Selbstsicherheit durchgearbeitet hat, kennt er weiter
auch am Ende sich noch aufrecht halten, und den Fallenden, U ngewißheit und Flüchtigkeit (volutatio). Ist er vollkom-
die liegen bleiben. 43 Folglich kann Weisheit hier nur unter men, geht er in eine bleibende unbewegliche Festigkeit ein
dem Bild des Aufrechtstehens beschworen werden - wenn (immota stabilitas)46 - und stabilitas heißt im römischen
es je vor Hegel eine Substanz gab, die als Subjekt zu ent- Kontext, wie bemerkt, immer Folterfestigkeit beim Todes-
wickeln gewesen wäre, dann jene, die sich in der Figur des examen. Allein an diesem Kriterium ist der Unterschied zwi-
stoischen Stehers präsentierte. Darum sagt Seneca: Daß ein schen einem vollendeten Weisen (sapiens) und einem Fort-
Ungeprüfter seelenruhig vor sich hin lebe, ist nicht weiter geschrittenen (proficiens) festzumachen. Wenn sich Seneca
verwunderlich. Aber staunen darfst du, wenn »jemand dort zur Gruppe der letzteren rechnet, so ohne Zweifel, weil er
sich aufrichtet (extolli), wo alle sich niederhalten lassen (de- auf Jahrzehnte ernsthaften philosophischen Übens zurück-
primuntur), dort stehen bleibt, wo alle am Boden liegen: ibi blickte. Doch selbst nach so langer Zeit ist er genötigt zu
gestehen, daß er sich bisher nur selber einreden (suadere)

43 Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären II, Globen, Makrosphärologie, 44 Epistolae moral es ad Lucilium, 7 1 ,25 .
~rankfurt am Main. 1999, S. 326-339.: Exkurs I: Später sterben 45 Ibid., 71 , 26. Seit se esse oneri ferendo.
Im Amphitheater. Uber den Aufschub, römisch. 46 Ibid., 7 1 , 27·
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 39 1

konnte, was das Beste für ihn wäre. Zu einer gänzlichen (profectus) aufweisen, obschon noch viel zum Höchsten fehlt
Überredung (persuasio) vermochte er es in all der Zeit nicht (multum desit a summo), und schließlich die dritte Art (ter-
zu bringen. Ja, selbst im Fall geglückter Selbstüberredung tium genus), deren Angehörige die vollendete Weisheit schon
wäre er, wie er wußte, immer noch nicht am Ziel, weil dieses in Griffweite (in ictu) haben - »sie sind noch nicht auf trok-
erst erreicht wäre, wenn die Weisheitslehre ihm gänzlich in kenem Boden, aber schon im Hafen« (nondum in sicco, iam in
Fleisch und Blut übergegangen und ihm in jeder Lebenslage, portu). Mit jedem Grad des Aufstiegs kommt der Übende
auch der widrigsten, verfügbar (parata) wäre. Es genügt dem summ um bonum näher, von dem es heißt, unser Begeh-
nicht, betont er, den Geist mit Weisheit zu tünchen (colorare), ren halte unweigerlich bei ihm inne, »weil über dem Höch-
er muß in ihr gleichsam gebeizt (macerare), von ihr durch- sten ... kein Platz mehr ist« (quia ultra summum non est
tränkt (inficere) und restlos von ihr verwandelt werden. locus).48 Je höher der Aufstieg zur Vollkommenheit, desto
Das Zeugnis Senecas gewährt nicht nur einen Einblick in stabiler die Verankerung in einer letzten Immunität.
die endorhetorischen Prozeduren der lateinischen Stoa. Es Die stoische Theologie greift in ihrer Lehre von den letz-
zeigt auch den Ansatz zu einer Stufenlehre mit der üblichen ten Lebenszielen Elemente der platonischen Geisttheorie auf,
Dreigliederung von Anfängern, Fortgeschrittenen und Voll- wonach der Mensch als Teilhaber an der noetischen Sphäre an
kommenen - wobei der Gipfel der letzten Stufe von Wolken deren Unzerstörbarkeit teilnimmt. Die Übungsarbeit bezieht
verhüllt ist. Wie üblich fällt auch hier das operativ Wesentli- sich allein auf die Aufgabe, aus einer trüben Teilhabe einen
che in die Mitte, denn nur in dieser kann sich die Arbeit an der klaren Mitbesitz zu machen und den Anteil des Korruptiblen
Einverleibung des Unwahrscheinlichen vollziehen. gegenüber dem Nicht-Korruptiblen zu minimieren. Die
Der Lehrer Seneca ist charmant genug, seine eigene Un- Chance des Menschen ist die Umwandlung einer labilen
vollkommenheit mit der seines Schülers zusammenzufassen. Methexis (Teilhabe) in eine stabile Hexis (Habe, Gewohn-
Daher die an sie beide gerichtete Ermahnung: »Mehr, als wir heit). Er soll an die höhere Sphäre nicht nur gelegentlich
schon bewältigt haben, ist noch übrig, doch hochwichtig für rühren, sondern sich fest und unumkehrbar in ihr heimisch
das Vorwärtskommen ist der Wille, vorwärts zu kommen.« machen. Wie das gelingen kann, wird durch den üblichen
Der Weg ist weit, weil, was wir gewinnen wollen, nicht Siege Perfektionszirkel erklärt: Wir könnten uns niemals vervoll-
in Perserkriegen sind, sondern Siege über die Mächte, die die kommnen, wenn wir nicht schon an der Vollkommenheit
größten Völker besiegt haben, die Habsucht, die Ambition, teilhätten; ja, wir könnten uns dem summum bonum nicht
die Todesfurcht. 47 einmal nähern wollen, wenn es als Zielbild nicht schon in
An anderer Stelle (insbesondere im 72. und im 75. Brief)
4 8 Epistolae morales ad Lucilium, 71, l l . Während die stoische Dok-
entwickelt Seneca die Umrisse einer fünfstufigen Pyramide, trin keine Vollkommenheit konzipieren kann, ohne diese als sta-
indem er bei den fortgeschritten Strebenden in der Mittel- tisch und sättigend zu denken, eröffnet die christliche Mystik die
zone (medii) noch einmal drei Gruppen und Stufen (gradus) Aussicht auf eine Perfektion ohne Erlöschen des Begehrens. So
unterscheidet: diejenigen, die wie Rekonvaleszenten auf die statuiert Kar! Rahner in seinem Resümee von Gregor von Nyssas
Aufstiegsmystik: » Nur das ist ein wirkliches Sehen Gottes, das der
Beine kommen, diejenigen, die schon größeren Fortschritt
Sehnsucht keine endgültige Sättigung bietet. « Vgl. Marcel Viller/
Karl Rahner, Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein Abriß der
47 Ibid., 7 1 , 37· frühchristlichen Spiritualität, Freiburg/BasellWien 1989, S. 144.
39 2 II Überrreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 393

uns wäre, obgleich nur getrübt und gebrochen. Es ist der Sinn Leiter annimmt - wobei insbesondere bei den indischen
aller Übung, die Brechung zu brechen, die Trübung aufzu- Übungsformen immer auch die Fortschritte im Feld der sub-
klären und die vom Schicksal verhängte Abweichung des tilen Physiologie in Rechnung gestellt werden müssen. Doch
Vollkommenen ins Unvollkommene zu korrigieren. gleichgültig, ob man auf östliche oder westliche Systeme
blickt, überall ist evident, daß der Akt des Rückzugs als sol-
cher nur den ersten Beginn einer Laufbahn bezeichnet. Die
Vita apriori wirklichen Schwierigkeiten des Daseins am Ufer der Beob-
achtung enthüllen sich in der Ausarbeitung der curricularen
Der Weise ist also kein Künstler, dem Neues vorschwebt, Stufen. Diese sorgen für die Einteilung des übenden Daseins
sondern ein Restaurator auf der Suche nach dem Originalzu- in sinnvoll erlebbare Sequenzen und für die Gliederung der
stand. Seine Leidenschaft gilt der Wiederherstellung eines Annäherung an das hohe Ziel in mit der Selbsterfahrung des
verdeckten Urbildes. Ob die Restauration gelingt, steht auf Aspiranten kongruente Teilstrecken. Was im gelebten Leben
einem anderen Blatt, da den westlichen Praktikanten der cura (und in den biomimetischen Sportereignissen, den Turnieren
sui nur ein Bruchteil der den Orientalen bekannten Mittel zur und den großen Radrennen) die Zwischenrunden und Tages-
Verfügung steht - sie müssen ihr Heil hauptsächlich in der etappen sind, entspricht in der Vita den Kapiteln.
durch zahllose Wiederholungen gesicherten Automatisie- Sobald das Motiv des Seins-zur-Vollendung die Existenz
rung suchen, durch die der unwahrscheinliche Habitus der ergreift, bewirkt es die Projektion des vertikalen Leiter-Sche-
Seelenruhe ins Körpergedächtnis eingeprägt werden soll: Ob mas auf die Zeitachse. Deswegen kann sich der Aufstieg als
dies den Ansprüchen einer ars moriendi, die diesen Namen Fortgang, die Bewegung auf der scala als Lebenslauf begrei-
verdiente, genügt, bleibt ungewiß - in extremis kommt doch fen. Das Sein-zur-Vollendung wird so zum machtvollsten
vor allem die psychophysische Konstitution zum Tragen, und »Biographiegeneraror« - um einen terminus technicus der
nur mitwirkend greift die ein Leben lang geprobte Gewohn- jüngeren Literaturwissenschaft aufzugreifen. 49 Er bewirkt
heit ein, die Todesfurcht zu unterdrücken und den Phantasien curriculare Effekte nicht bloß in dem Sinn, daß aus asketi-
nicht zu erlauben, die Dinge noch schlimmer zu machen, als schen Projekten tatsächlich hin und wieder im Rückblick
sie sind. erzählenswürdig scheinende Viten hervorgehen. Vielmehr
Schon die einfachen Drei-Stufen-Schemata geben zu er- bezieht sich die generative Energie der perfektionsgetriebe-
kennen, wie die Lebensläufe der Übenden in Aufstiegspläne nen Lebensprojekte schon auf die kommenden Lebensläufe,
integriert sind. Die rezessiv ausgegrenzte Subjektivität kann als seien diese im voraus erzählt. Der Übende bräuchte dem-
an den gewöhnlichen Lebensläufen der Weltkinder nicht nach nur noch seinen Eigennamen bzw. seinen geistlichen
mehr ohne weiteres teilnehmen und ist daher auf curriculare Namen und die lokalen Besonderheiten seines Übungs lebens
Sonderwege angewiesen. Da die Schicksale des äußeren Men- in das biographische Formular einzusetzen. Die Schematie-
schen vergleichgültigt werden sollen, indessen die innere Ent- rung des Daseins in den Stufensystemen der Übungswege
wicklung alle Aufmerksamkeit fordert, verwundert es nicht,
wenn das übende In-der-Welt-Sein durchwegs die Form eines 49 VgJ. Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Ge-
Aufstiegs auf einer spirituellen bzw. anthropotechnischen ständnis, a. a. 0., S. I2f.

......
I
394 II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 395
reicht so weit, daß der Einzelne seiner Geschichte allein ein für alle Mal aus den Naturgeschichten und Volksgeschich-
durch das Geständnis seines Scheiterns oder durch die Aus- ten heraus und plaziert sie unter den Stern der Vollendung.
malung seines Versagens vor den Anforderungen der Askese Dieser mochte in einigen spirituellen Gemeinschaften auch
eine individuelle Note verleihen könnte. Im übrigen wirkt als der Stern der Erlösung bezeichnet werden - es ist derselbe
der »Weg«, den er betreten hat, wie eine Vita apriori. Sie Himmelskörper, und die Annäherung an ihn gehorcht dem-
muß nur noch real gelebt werden, um ihren faktischen Inhalt selbem Gesetz des Daseins in der Vertikalen. Auf einen Stern
mit dem Schema abzustimmen. zugehen - nur dieses! - ist also das Grundwort der Existenz
in der Vollendungszeit. Heidegger allerdings - dem die ge-
Unnötig zu sagen, daß das Übergewicht des Schemas über das nannte Wendung zu verdanken ist - hatte in seinem Früh-
gelebte Leben keineswegs ein Spezifikum der spirituellen werk den Stern hinter einer undurchdringlich scheinenden
Biographien darstellt, es tritt in den Lebensläufen der übrigen Wolkendecke verborgen und das indirekte Zugehen auf ihn
»Stände« ebenso regelmäßig auf. Seit Menschengedenken unter der pseudo-fatalistischen Formel des »Seins-zum-To-
wurde in ständisch geschichteten Gesellschaften die Erfül- de« camoufliert. In Wahrheit hatte schon der jüngere Heideg-
lung des Typus zugleich als Erfüllung des Einzelnen ver- ger den noblen Tod, der dem Einzelnen als Vollendungstod
standen. Erst wo neue Schicksalsgeneratoren wie erhöhte ver- begegnet, nicht ganz aus den Augen verloren, und das einzige
tikale Mobilität, ausdifferenzierte Bildungswege, soziale wesentliche Zugeständnis an die Sinnzusammenbrüche der
Unruhen und epidemischer Neurotizismus (mit seiner Ne- Moderne, das er im Schatten des Weltkriegs zu machen bereit
benwirkung: dem Zwang zur kompensatorischen Selbsterfin- war, bestand darin, daß er die undurchdringliche Faktizität
dung) auf der Seite der gelebten Leben für stärkere Variation des Endes ebenso betont hervorkehrte wie die des Anfangs:
sorgen, können die erzählten Leben vom Schematismus der Wo Geworfene sind, da sind auch Gefallene. Folglich sprach
Voraus-Biographien zunehmend abweichen. Der Akzent- er dem verfrühten und veräußerlichten Tod einen gewissen
wandel zeigt sich im Ausgang des europäischen Mittelalters Vollendungssinn zu, so daß an jedem Tod implicite ein Ele-
durch die Emanzipation der Novelle von der Legende. Es war ment von vollendeter Unvollendung oder unvollendeter
vor allem der moderne Roman, der zwischen dem 17. und Vollendung sichtbar wurde. 50
dem 20. Jahrhundert die Ansprüche der Einzelnen auf nicht-
schematische Biographien artikulierte - nicht ohne seinerseits Den älteren Traditionen gemäß vollzog sich das Zugehen auf
Schemata für abweichende Lebensgeschichten zu erzeugen, den Stern der Vollendung (oder der Aufstieg zur Höhe der
die dann erneute Distinktionen provozierten. Vollkommenheit - ad celsitudinem perfectionis51 ) unter ei-
Wo Individuen sich dem Ruf des Seins-zur-Vollendung nem Protokoll, für welches die vielfältigen Ordensregeln
unterwerfen, konkretisiert sich der absolute Imperativ: »Du und Exerzitienbücher der christlichen Hemisphäre ebenso
mußt dein Leben ändern!« zum asketischen bzw. zum per-
fektionistischen Imperativ: »Verhalte dich jederzeit so, daß 50 Das bislang letz te Exempel für eine Existenz unter dem Stern der
Vollendung liefert die Autobiographie Jean-Paul Sartres, Les mots,
die Nacherzählung deines Werdegangs als Schema einer ver-
1964: In ihr wird die Flucht des jungen Sartre in die Künstlervita
allgemeinerbaren Vollendungsgeschichte dienen könnte!« apriori als eine neurotische Fabrikation dekonstrui ert.
Dieser Ruf zum exemplarischen Leben hebt seine Adressaten 5I Regula Benedicti 73, 2.
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 397
zeugen wie die unüberblickbar variantenreichen spirituellen an einem Beispiel aus der Frühzeit des westlichen Mönchswe-
Curricula der indischen Welt, gleich ob diese zu den yogi- sens erläutern. Benedikt von Nursia hat in dem entscheiden-
schen, den tantrischen oder den vedantischen Schulen zu den 7. Kapitel seiner Regula, das Von der Demut handelt,
rechnen sind. In beiden Universen nimmt das übende Leben einen 12stufigen Entselbstungskurs vorgezeichnet, den er als
per se die Form einer Großen Erzählung an. Hier wie dort klösterliche Analogie zu der Jakob im Traum erschienenen
geht es immer nur um das Eine - die Assimilation des ab- Leiter präsentiert. Die Demutsübung wird als eine paradoxe
gespaltenen Einzelnen an das Absolute. Treppe beschrieben, auf welcher der Mönch aufsteigt in dem
Maße, wie er sich selbst - vielmehr den natürlichen Menschen
in sich - herabzusetzen lernt. Während auf Jakobs Leiter auf-
Benedikts Leiter der Demut steigende wie absteigende Engel zu sehen sind, der Verschie-
denheit der angelischen Funktionen gemäß, setzt Benedikt
Solche Verähnlichungen vollziehen sich in zwei Arten von mit erheblicher Willkür die absteigenden Engel den hochmü-
asymptotischen Bewegungen - einerseits auf der via perfec- tigen Seelen gleich - von denen dann der ältesten spirituellen
tionis durch die ständige Steigerung der Kräfte, die uns dem Suggestion folgend behauptet werden kann, die Bewegung
summum bonum oder der letzten Lebensrnonade bzw. der hinunter sei die gerechte Strafe für die Superbia - kein Gedan-
Leere ähnlich machen, andererseits auf der via humilitatis, ke mehr daran, daß absteigende Engel selbstlose Boten im
bei welcher der Adept sich seiner selbst entledigt, in der An- Außendienst sein könnten. Die einzige wahre Vertikalität ist
nahme, an der Stelle des alten Ich werde früher oder später hingegen diejenige, die den Übenden durch Selbsterniedri-
das absolute Selbst oder Nichts Platz nehmen. Die erste Be- gung aufsteigen läßt (humilitate ascendere).52
wegung übersetzt sich in einen Leistungsroman mit ausge-
prägt vorwärtsstrebender Finalität - Elemente hiervon habe Auf der ersten Stufe wird - in Furcht und Zittern - der Pakt
ich oben in den beiden großen Sterbeszenen Alteuropas, beim mit dem jenseitigen Beobachter geschlossenen und der Vor-
Tod des Sokrates und der Kreuzigung Christi in der johan- satz zum Ablassen vom Eigenwillen entschieden gefaßt. Auf
neischen Redaktion, nachzuweisen versucht; die zweite muß der zweiten wird mit der Absage an den eigenen Willen (pro-
hingegen, gewissermaßen rückwärts gehend, als die Ge- pria voluntas) ernst gemacht. Auf der dritten wird die innere
schichte einer progressiven Selbst-Evakuierung erzählt wer- Unterwerfung des Adepten unter den Oberen ganz und gar
den. Während nach dem ersten Formular der unter der Maske vollzogen - einer ersten Rate der imitatio Christi vergleich-
trivialer Menschlichkeit verborgene Gottmensch »realisiert« bar. Die vierte Stufe dient der Verschärfung des Gehorsams
werden soll, geht es im zweiten darum, den sinnlichen oder auch in den Situationen, in denen das natürliche Selbst auf-
empirischen Menschen bis an den Punkt zu bringen, an dem grund ungerechter Behandlung zur Rebellion neigt. Auf der
sein »Eigenes« ganz verschwunden wäre, um an seiner Statt fünften werden dem Abt alle bösen und niederen Regungen
den Großen Anderen bzw. das große Nicht-Selbst zu beher- des Herzens gestanden - Anfang der sakralen Psychoanalyse.
bergen. Auf der sechsten ist der Moment erreicht, wo der Mönch
Wie der Austausch des profanen Subjekts gegen das höhere
Selbst in der christlichen Tradition gedacht wurde, möchte ich 52 Regula Benedicti 7, 7·
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 399
zufrieden ist mit dem Gedanken, er sei der Niedrigste und An dieser Stelle - um die Kulmination zu bezeichnen - fällt
Letzte unter allen. Nun wiederholt er mit einem ersten Licht der anthropotechnische Hauptbegriff: bona consuetudo - gu-
von Einsicht die Worte des Propheten: »Zu nichts bin ich te Gewohnheit. Von Erleuchtung, Vollendung oder Verklä-
geworden und verstehe nichts .. ." (Ad nihilum redactus rung hört man im Schlußstück dieser Vollkommenheitslehre
sum et nescivi). Die siebente Stufe sieht den monacus ganz bezeichenderweise kein Wort. Das Prädikat »perfekt« kann
durchdrungen von der Wahrheit, die er auf der sechsten mit gar nicht mehr auf den menschlichen Träger angewendet wer-
den Lippen bekannte. Jetzt sagt er offen heraus: »Ich bin ein den, sondern nur auf dessen wichtigste Qualität, die Gottes-
Wurm und kein Mensch« (sum vermis et non homo). Auf der liebe (caritas dei), von der es heißt, sie weise, da sie vollkom-
achten Stufe hat der Mönch gelernt, nur noch ein Organ des men sei (perfecta), alle Furcht von sich. Der Ausdruck timor
Klosterlebens zu sein: Er tut allein, was die Regel verlangt - steht für die Summe der pathologischen Affekte, von denen
nicht im Modus des Dienstes nach Vorschrift, sondern im sich der Anfänger besessen fühlte. Der ans Ziel Gelangte wird
Geist hochmotivierter Verfügbarkeit. Auf der neunten, zehn- von ihnen keine Spur mehr in sich entdecken. Er hat aufge-
ten und elften Stufe - von Benedikt bemerkenswert hastig hört, der Psychopath Gottes zu sein, er ist nun selber gott-
und ohne Sinn für wirkliche Progression hintereinanderge- ähnlich durch leichteste Verfügbarkeit, reine Freundlichkeit
schrieben, vermutlich, weil er diese Passagen, wie einige der und gesammelte Spontaneität - gleichwohl bleibt er aufgrund
vorangehenden, etwas mechanisch aus den analogen Ab- des unerbittlichen taciturnitas-Gebots um die schöpferische,
schnitten der Regula Cassians übernahm - wird betont, wie die expressive Dimension verkürzt.54 Wenn er dem Höchsten
wichtig es sei, die Schweigsamkeit zu bekräftigen und das ähnlich geworden ist, dann nicht nach der Seite des Vaters,
ungebärdige Lachen zu unterdrücken. Das heißt: Wer auf sondern des bis zuletzt gehorsamen Sohns. Die Verwandlung
die imitatio Christi Wert legt, muß seine Rede reduzieren, des Mönchs in die lebende Statue des Büßers garantiert, daß
bis nur noch Heilsnotwendiges und Exemplarisches aus sei- er den höchsten gradus auf der scala ersteigt, ohne vom
nem Mund kommt. Hochmut gefährdet zu werden. Das ist die Stufe, auf der
Am Ziel schließlich, auf der zwölften Stufe, ist der aus der das Unmögliche leicht geworden ist, das Wunderbare zur
benediktinischen Gußform hervorgegangene Mönch gänz- Gewohnheit, die Loslösung Alltäglichkeit: velut naturaliter
lich zu einem Ebenbild des Mönchtums geworden, immer lebt nun der Mönch schon hier, als wäre er drüben.
den Blick zu Boden gesenkt, in jeder Stunde Angeklagter
und Sünder, gebeugt und erniedrigt, incurvatus et humilia-
tus. 53 Und doch soll am Ende des Kurses die Liebe die Furcht Scala Paradisi: Die anachoretische Psychoanalyse
vertrieben haben; an die Stelle von ständiger Anstrengung
wäre die Leichtigkeit des Losgelösten getreten. Diese liefert Man hat vielleicht zuwenig darauf geachtet, in welchem Maß
die Signatur des geistlichen Erfolgs. Wo Furcht und Zittern die benediktinische Regel einer Einpflanzung des Orients in
war, soll Mühelosigkeit werden. Man fürchtet die Hölle nicht den Weg des Westens Vorschub leistete. Durch die unermeß-
mehr, sondern hält Freundschaft mit dem Herrn.
54 Zur Verschwiegenheit des Mönchs vgl. Regula Benedicti 6, 1-8; 7,
53 Regula Benedicti 7,66. 9-r r.
l
400 II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 4°1
lichen Erfolge dieser Mönchsregel kam es zu jener Trans- etwa von 580 an Abt des Klosters auf dem heiligen Berg der
lation der Wüste, ohne die sich die ältere europäische Sub- Exodusvölker, der Verfasser der plakes pneumatikai, zu
jektivitätskultur nicht denken ließe. Erst die Reformation deutsch: der Geistigen Tafeln, denen schon die ersten Ab-
Luthers hat den Orient aus dem neueren Christentum ausge- schreiber den Namen klimax, die Leiter, gaben, woraus in
trieben - und mit diesem zugleich den Vorrang der monasti- der lateinischen Wiedergabe die scala, will sagen die scala
schen Heilsbemühung vor der Laienspiritualität. Durchaus Paradisi, wurde. Das Werk ragt aus der Flut der Mönchslite-
orientalisch war die Anachorese des Patriarchen Antonius ratur nicht nur durch seine Sprachgewalt und Begriffssicher-
gewesen, der die Wüste in eine geistliche Palästra verwandelt heit hervor, sondern mehr noch durch seine souveräne Zu-
hatte, eine Trainingshalle des Dämonen-Agons; orientalisch sammenschau der mönchischen Psychagogik. Es bietet nicht
waren die gymnosophischen und semi-yogischen Exzesse der weniger als eine Summe der anachoretischen Psychoanaly-
syrischen Säulensteher, deren Ruf bis nach Britannien und sen, wie sie sich im christlichen Osten unter der Anregung
Indien reichte; orientalisch war die Umwandlung des Eremi- der Antoniusvita des Athanasius in einem mehrere Jahrhun-
tentums in das rigide Klosterkasernen-System der frühen derte umspannenden Lernprozeß entfaltet hatten. In den
Coenobiten (von: koinos bios, gemeinsames Leben), das die psychagogischen Analysen dreht sich alles um die Aufdek-
Matrix des devoten Kommunismus lieferte;55 orientalisch kung und Zuspitzung des Sündenbewußtseins, den Kampf
war die Idee des bedingungslosen Gehorsams, die aus der mit dem Hochmutswiderstand, die Vermeidung von Depres-
Transformation des geistlichen Lehrers in den Dominus, sion (akedia) und Gier (gastrimargia, gula) sowie die Ge-
den Alleinherrscher der Seele, folgte; und orientalisch war nesung der Seele durch die völlige Ausrottung der patholo-
nicht zuletzt die überschwengliche Idee der Heilserzwingung gischen Furcht. Daß die Vollendung auch hier mit dem Aus-
zu Lebzeiten, wie sie sich in den zeitüblichen krypto-ange- druck apatheia bzw. transquillitas animi bezeichnet wird,
listischen Konzepten verriet, wonach es möglich sei, am Ende zeugt für die Kontinuitäten, die das monastische Übungswe-
von langwierigen Askesen das profane Ich gegen eine heilige sen an die asketischen Künste der vorchristlichen praktischen
Selbsthaftigkeit auszutauschen. Philosophie und des metaphorisierten Athletismus zurück-
Der Meister des frühkatholischen Orientalismus ist ohne binden. Hier wie dort bleibt das Leben der Vollendeten eine
Zweifel Johannes vom Sainai', ca. 525-625, alias Climacus, Anabasis zum Tode. 56
Wie an kaum einem anderen Dokument des Altertums läßt
55 Auf die Ähnlichkeiten der frühen asketeria (d. h. des Mönchstrai- sich an diesem ablesen, daß der christliche Methodismus aus
ningslagers) mit einer militärischen Einrichtung weisen schon Mar- der Wüste kommt, anders als der hellenische, der in der Palä-
cel Viller und Kar! Rahner in ihrem Werk Aszese und Mystik in der
stra, im Stadion und und den Schulen der Rhetoren zu Hause
Väterzeit, a. a. 0 ., S. 92f. hin. Von da aus ergibt sich eine zweite
Ableitung des Gehorsamsideals aus dem religiös übercodierten war; anders auch als der römische, der seine Herkunft vom
Soldatentum. In einer dritten Ableitung wäre von der imperialen
und ekklesialen Funktionärserhik zu sprechen; zur ekkJesialen Sei- 56 S. Joannis Abbatis vulgo Climaci Opera Omnia editore et inter-
te vg!. Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels. Über Engel, preto Mattheo Radero (1633), in: Patrologiae Cursus Completus,
Frankfurt am Main 2007; zur imperialen Seite vg!. Peter Slaterdijk, accurante Jacques-Paul Migne, Series Graeca 88, Turnhaut ca.
Sphären II, Globen - Makrosphärologie, Frankfurt am Main 1999, 1967, co!. 1152. Ich verwende im fol genden sowohl das griechische
S. 729f. Original als auch die lateinische Übersetzung.
II Übertrei bungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

Marsfeld nie verleugnete - nicht umsonst hat u. a. schon Ci- ne noch kurzerhand La religieuse, und das heißt: eine Person,
cero auf den Zusammenhang zwischen dem Namen des Hee- die Weltentsagung als Beruf gewählt hat - im gegebenen Fall
res, exercitus, mit seinem spezifischen Üben, dem Exerzieren mit tragischen Konsequenzen. Wenn es etwas gibt, was auf
(exercitatio), hingewiesen. Natürlich kann hier der Bezug zu dieser Stufe beginnender Loslösung von der Trivialwelt
Jakobs Traumbild zu Bethel nicht fehlen. Auch in den Gei- schlechthin verpönt sein muß, so ist es jede Anwandlung
stigen Tafeln kommt das monastisch-mystische Narrativ von von Heimweh nach Ägypten. Will einer der Welt fremd (xe-
der langen Wanderung der Seele zum Einsatz, beginnend mit nos) werden, so sieht er diese als eine umfassende Fremde an.
dem obligatorischen Auszug aus Ägypten - und Ägypten ist Wer sich umdreht, wird wie Lots Weib in eine Bildsäule ver-
überall dort anzutreffen, wo es eine begrifflich, moralisch wandelt. 59
und emotional alienierte »Außenwelt« gibt -, endend mit Haben die drei einführenden Logoi über die heilsame Se-
»der Auferstehung der Seele vor der allgemeinen Aufer- zession von der Außenwelt gehandelt, so überreicht der Au-
stehung«57 und ihrer Entrückung in den Himmel der Apa- tor seinem Leser mit dem vierten Kapitel die Einberufung in
thie, im höchstmöglichen Maß angenähert an die Gottähn- das Trainingslager Gottes: Dies kann unter keiner anderen
lichkeit (homoiosis theou, similitudo Dei). Überschrift geschehen als der vom »seligen Gehorsam « (de
Die dreißig Logoi bzw. Kapitel der scala wurden schon beata obedientia). Bei diesen Darlegungen handelt es sich
früh mit den Stufen (gradus) der Himmelsleiter gleichgesetzt, nicht wirklich um eine Stufe in einem Curriculum, sondern
und dies, obschon die Reihenfolge der Kapitel sich nicht um die Plattform für das gesamte Dasein dieser »Faustkämp-
immer zu einem planvoll fortschreitenden Curriculum zu- fer und Athleten Christi«, denen es darum geht, »den eiser-
sammenfügt - andernfalls wäre es kaum vorstellbar, daß das nen Brustpanzer der Gewohnheit (zu) zerschmettern«.6o
Gebet, von dem Johannes Exaltiertes zu sagen weiß, erst auf Hier zeigt sich, daß Weltflucht unzulänglich bleibt, wenn
der drittletzten Stufe ausführlich Erwähnung findet. Wie in ihr nicht die Selbstflucht zu Hilfe kommt. Gehorsam lautet
dem Demutskapitel der Benediktusregel bildet die scala der das monastische Codewort für den Inbegriff der Techniken,
sinaltischen Mönche eine Erniedrigungsleiter, deren erste die geeignet sind, die Lossagung vom alten Menschen nach
Sprossen im Verzicht auf das weltliche Leben, im Abwerfen den Regeln der Kunst zu vollziehen. Die Beispielesammlung,
sozialer Sorgen und im Aufbruch zur Pilgerfahrt bestehen - die Johannes in diesem Kapitel ausführt, dem bei weitem
die peregrinatio wird hier kurzerhand mit der Flucht aus der umfangreichsten des Buches, zeugt für das prozedurale Be-
Zeit (juga saeculi) und dem Eintritt ins »religiöse Leben« wußtsein der alten Äbte, denen die Aufsicht über die mona-
gleichgesetzt 58 - womit im übrigen erneut sichtbar wird, stischen Metamorphosen anvertraut war. Hier zeigt sich, wie
daß es ausschließlich um den monastischen und asketischen sehr das alte Selbsterfahrungswissen kumulativ verfaßt ist:
modus vivendi geht, wenn die älteren Autoren das Beiwort Nach zweihundertfünfzig Jahren psychagogischer Experi-
religiosus benutzen, indessen der moderne Popanz »Reli- mente in der Wüste war das Schatzhaus der mönchischen
gion« in weiter Ferne liegt; selbst bei Diderot heißt die Non- Empirie bis unters Dach gefüllt. Den Verwaltern dieses Wis-

57 Ibid., co!. 1147. 59 Ibid., coI. 674·


58 Ibid., co!. 663 . 60 Ball, Byzantinisches Christentum, a. a. 0., S. 26.
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

sens stand klar vor Augen, alle weiteren Aufstiege ihrer Seine-Besorgen (sua tantum curare) erhält im monastischen
Adepten würden von den Weisungen abhängen, die ihnen Code seinen gebührenden Platz; es stellt sicher, daß, wer sich
im ersten Semester der Himmelsstudien erteilt wurden - da- allein um sich kümmert, niemanden außer sich selbst ver-
her ihre aus heutiger Sicht unfaßbare Strenge, in der Un- dammt. Daß der sechste Schritt auf der paradoxen Leiter
menschliches und Übermenschliches aneinander rührten. direkt zur Meditation des Todes führt, versteht sich aus der
Wenn es in der Leiter des Johannes an einer Stelle eine Logik der Zerknirschung. Die vorauseilende Vernichtung des
zwingende Progression gibt, dann am ehesten beim Über- Vernichtbaren verspricht diesen verlorenen Arbeitern an der
gang von der vierten zur fünften Stufe, auf welcher von der Vollkommenheit die Annäherung ans Ziel, aus wie großer
Buße und vom Karzer gehandelt wird. Zeitgenössische Leser Ferne auch immer. Den ersten Vorschein einer Aufhellung
kommen nicht umhin, bei der Schilderung der Bußübungen bietet hingegen die auf der siebenten Stufe angesiedelte Be-
Analogien zu den heftigen Formen moderner Gruppenthera- trachtung über den Jammer (penthos, luctus), der die Freude
pien zu bemerken, während das Pathos der Abschnitte über schafft. Unnötig zu sagen, daß die Klage über die eigene Kor-
den Karzer am ehesten an zeitgenössische Regressionsverfah- ruption den Weg des Mönchs bis auf die höheren Stufen be-
ren wie Primal Scream Therapy, Rebirthing und dergleichen gleiten wird.
denken lassen - wobei man hier wie dort das psychische Zer-
brechen der Patienten am Übermaß der Prüfungen mit from-
mer bzw. pseudoerlöserischer Skrupellosigkeit in Kauf Der theomimetische Glanz
nimmt. Auch hinsichtlich der Bedeutung von Tränen sind
sich die alten und die modernen Kathartiker seltsam nahe; Ich möchte auf die weitere Ausführung der scala verzichten
schon die Wüstenväter haben die Gabe der Tränen als eine (die auch im weiteren eher ein Handbuch der monastischen
heilversprechende Mitgift gefeiert. 61 Sünde, so erfahren wir, Psychologie als ein glaubwürdiger Roman einer Seelenreise
ist kein vereinzelter Sachverhalt, der ganze alte Mensch muß bleibt) und begnüge mich mit einem kurzen Blick auf die
62
so heißen. Im übrigen begegnen uns hier durchwegs die aus Endstufen. Auf der 27. Sprosse des Aufstiegs ist von der hei-
athletischen und philosophischen Kontexten bekannten Be- ligen Seelenruhe die Rede (peri hieras hesychfas), die nach
griffe dskesis und p6nos 63 wieder. Auch das stoische Nur-das- dem Abstreifen der profanen Ichheit erreicht werden soll.
Auf diesen Zustand deutet die Redewendung »im Geiste
61 Zugleich kannten die monastischen Psychagogen den Unterschied wandeln«. Gleichwohl ist immer noch Wachsamkeit geboten;
zwischen den falschen Tränen des Selbstmitleids und den wahren begründete Furcht vor dem Rückfall umgibt sogar die Zellen
der Reue bzw. der Hingabe. Analog: Milindapaiiha. Die Fragen des der fortgeschrittensten Übenden. Es folgen Ausführungen
Königs Milinda. Zwiegespräche zwischen einem Griechenkönig
und einem buddhistischen Mönch, herausgegeben und teilweise über das Gebet, von denen, neben ihrer überhöhten Tonart,
neu übersetzt von Nyanaponika Thera, Interlaken 1985, »Zweierlei vor allem ihr spätes Auftreten bemerkenswert scheint, als ob
Tränen«. den Adepten dieses machtvolle Instrument nur in letzter Mi-
62 '" All' halos ho palaios anthropos hamartia kaleitai. Non enim
nute in die Hand gegeben werden dürfte - und doch prakti-
unum est peccatum, sed totus vetus homo peccatum appellatur.
Co!. 781/82. zieren die Mönche es vom ersten Tag an. Auf der 29. Stufe
63 Joannis Climaci, Scala Paradisi, a. a. 0., col. 782. gelangt das Grundwort der monastischen Anthropotechnik:
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

Vollkommenheit (telei6tetes, perfectio), zu seinem Triumph. gelisierung eines Menschen mit seiner Enthebung aus der
Kein anderer Ausdruck kann zu ihrer Definition mehr bei- conditio humana und seiner Überführung ins transhumane
tragen als die schon im Titel dieses gradus auftretende Wen- Seinsregister gleichbedeutend. Zugleich bedeutet die ange-
dung von der »theomimetischen Apathie« - der Seelenruhe, !ische Individuation, wenn es nach den spirituellen Autoren
die Gott nachahmt. Allein im Blick auf diesen Zustand kann ginge, nicht mehr als die Rückkehr des Menschen zu dem,
sich Johannes dazu verstehen, den so konventionellen wie was er, wenn nicht die Korruption seiner Natur durch die
überschwenglichen Ausdruck von der »Einwohnung Gottes« imitatio diaboli dazwischengekommen wäre, immerzu hätte
in dem sterblichen Gefäß Mensch zu verwenden,64 nicht oh- sein und bleiben sollen.
ne sich an der paulinischen Formel für den integralen Sub-
jektwechsel rückzuversichern: »Ich lebe, doch lebe nicht ich
selbst, sondern Christus lebt in mir.« 65 Die Apathie führt zur Perfektionismus und Historismus
Loslösung nicht bloß von menschlichen Angelegenheiten je-
der Art, sondern selbst von der Erinnerung an diese. In voll- Nach diesen gewiß viel zu eiligen Hinweisen auf einige Aus-
endet platonischer Manier gewährt sie die Gabe, in der prägungen der »abendländischen Teleologie «68 ist eine Tatsa-
Schönheit die Unsterblichkeit zu sehen. 66 che offenkundig: Die Orientierung an Vollkommenheit be-
Der dreißigsten und letzten Stufe bleibt eine Meditation traf in der Frühzeit des Perfektionsmotivs ausschließlich die
über die Dreiheit der evangelischen Tugenden Glaube, Hoff- Lebensläufe der Weisen und der Heiligen.69 Wie es dazu kam,
nung und Liebe vorbehalten. Hier verwandelt sich der daß die perfektionistische Tendenz auf das »Volk« und das
menschliche Leib in eine lebende Monstranz. »Denn wo Menschengeschlecht im ganzen, ja gelegentlich auf das Uni-
das Herz erheitert ist, blüht das Gesicht.«67 Manche Mönche versum ausgedehnt wurde, müßte an anderer Stelle mit ge-
vergessen auf dieser Stufe Essen und Trinken. Wie Moses, der bührender Ausführlichkeit erörtert werden. Zur Stunde fehlt
das Vorrecht, Gott zu sehen, genoß, sind sie von der Glorie ein kritisches Referat über die gemeinsame Geschichte von
umflossen. Überschwemmt von der göttlichen Liebe, geht Perfektionismus und Universalismus. Andeutungen hierzu
von dem ganzen Menschen ein heller Glanz aus. Nun darf sind seit zweihundert Jahren unter Tendenzbegriffen wie
sogar das Wort vom status angelicus fallen, das den christli- »Aufklärung« oder »Evolution« und in den entsprechenden
chen Suprematismus resümiert - es erklärt zugleich, wie großen Erzählungen in Umlauf. Kaum jemand ahnt, daß in
Höchstes in Nicht-Höchstem anwesend zu sein vermag. Weil diesen Ausdrücken anonyme Perfektionsideen weiterwirken,
die ontologische Differenz zwischen Gott und Mensch bis
zuletzt in Kraft bleibt, braucht es ein Mittleres, um die Teilha- 68 Vgl. Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Zürich 1947,
Neuausgabe Berlin 2007.
be des Unteren am Oberen sicherzustellen. Sofern die Engel 69 Die entsprechende Literatur leistet wohl Lippendienste an die Mög-
näher bei Gott stehen als bei der Menschenwelt, ist die An- lichkeit der »Vollkommenheit außerhalb des Mönchstums«, doch
wenn man sieht, in welcher Kürze selbst Autoren wie die oben
64 Ibid.> col. I 149/II 50. mehrfach zitierten Jesuiten Viller und Rahner in ihrem Abriß früh-
65 Galater 2, 20. christlicher Spiritualität mit diesem Thema fertig sind (§ 36), weiß
66 Joannis Climaci, col. I I 53/54. man, wie es um die Sache steht. Vor dem Beginn der devotio moderna
67 Ibid., col. II57/58. gilt praktisch: Außerhalb der Orden nulla salus.
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

die unter strikt individuellem, auf die Einzelseele bezogenem und in dem - frühdemokratisch - die christlichen Mehrheiten
Vorzeichen in der christianisierten Wüste erbrütet worden für das Paradies nach behandelt werden. 71 Hier gewinnt eine
waren. Nur weil die Seele dort eine Geschichte gewonnen transzendente Übergangsgesellschaft erste Konturen. Die
hatte, konnte die Kirche, die Fähre zum Jenseits, eine analoge Aufklärung schließlich erfindet die fortschrittliche »Ge-
Geschichtlichkeit erobern. Da die Kirchengeschichte ihr Per- schichte« als innerweltliches Purgatorium, um in ihm die
fektionsgeheimnis nicht für sich behalten konnte, wurde es an Bedingungen der Möglichkeit einer perfektionierten »Gesell-
die Weltgeschichte verraten und von der Philosophie publi- schaft« zu erarbeiten. Nun waren die Voraussetzungen er-
ziert. 70 »Beeilen wir uns, die Philosophie populär zu machen« füllt, unter denen die offensive soziale Theologie der Neuzeit
- Diderots Slogan sollte zum Kennwort der Anonymen Per- der politischen Theologie der Reichsepochen den Abschied
fektionisten werden, die unter dem Namen von Aufklärern geben konnte. Was war die Aufklärung ihrer Tiefenstruktur
eine Erzählform alten Datums weitertrugen. nach anderes als ein Versuch, den antiken Reim von Lernen
Was man den Historismus nennt, wäre demnach nur an der und Leiden - mathein pathein - ins Kollektive, Gattungswei-
Oberfläche die Betrachtung aller Dinge unter dem Blickwin- te zu übersetzen? Wollte sie nicht die Vielen dazu überreden,
kel des Werdens; seiner tieferen Bedeutung nach ist er we- sich den Übergangsleiden auszusetzen, die der großen Opti-
sensgleich mit der progressiven Ausdehnung der perfektio- mierung aller Dinge vorhergehen?
nistischen Infektion auf größere Einheiten - bis hin zum real Die Erfahrungen mit der »Geschichte« und ihrer Göttin
existierenden Maximum, ob es nun Volk heißt oder Mensch- »Gesellschaft« sind allerdings so wenig ermutigend, daß man
heit oder Universum. Da das zur Vollkommenheit führende die antiteleologische Reaktion, die den postmodernen (oder
Curriculum aus einer Sequenz von Reinigungsleiden besteht, postperfektionistischen) Zeitgeist durchdringt, in jeder Hin-
ist die Ausdehnung der Perfektionsidee vom Einzelnen auf sicht verständlich finden kann, ihre Übertreibung bis zum
das Kirchenvolk und von diesem auf die Gattung gleichbe- Rausch der ziellosen Drift inklusive. Vor dem Hintergrund
deutend mit der stetigen Größerformatierung des kathartisch dieser Entzauberung läßt sich Chateaubriands tiefe Bemer-
zu prüfenden Kollektivs. Es sind anfangs die Eremiten, die kung würdigen: »Das Purgatorium übertrifft an Poesie den
die Wüste als Schaubühne des Individualpurgatoriums ent- Himmel und die Hölle, weil es eine Zukunft darstellt, die
decken; ihnen folgen die Coenobiten als Erfinder des Grup- diesen beiden fehlt.«72 Zukunft bedeutet in den Augen des
penpurgatoriums, das man die asketeria, später das monaste- Romantikers die Dimension, in der sich die Poesie der Un-
rium und das Kloster nennt - das erste Trainingslager der vollkommenheit entfaltet. Anteil hieran gewinnt, wer der
Vollkommenheit in der Gruppe und Herd des religiösen Versuchung durch Vollendung ebenso widersteht wie der
Kommunismus; das hohe Mittelalter popularisiert dann die Versuchung durch Trägheit - der höllischen Parodie der An-
Vorstellung eines jenseitigen »dritten Orts« (Martin Luthers kunft. Ist es noch nötig zu sagen, daß Nietzsche der letzte
Ausdruck), der nun amtlich den Namen Purgatorium trägt wahre Historist gewesen war? Er war es, der das eremitische
Geheimnis, das Individualpurgatorium, das den größeren
70 Hi erzu noch immer maßgeblich: Kar! Löwith, Weltgeschichte und
Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Ge-
schichtsphilosophie (zuerst I 949/r9 53), in: ders., Sämtliche Schrif- 71 Vgl. Jacques le Goff, La naissance du purgatoire, Paris 198r.
ten, Band 2, Stuttgart 1983, S. 7-239. 72 Von Jaques Le Gaff, a. a. 0., S. 7 als Motto zitiert.
II Überrreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

Menschen erzeugt, inmitten eines Jahrhunderts verflachter sehen als die griechischen Verhältnisse. 73 Die Folge der gött-
Allgemeinbildung hütete. lichen Überbevölkerungen ist, daß Elemente des vorstel-
lenden Denkens die reine Gewärtigung des Zeugen-Selbst
überlagern. Unwillkürlich schiebt sich das theologische
Indische Teleologie Phantasma vor die bildlose Präsenz der All-Seele in der Ein-
zelseele. Solche Überlagerungen abzubauen und die Rück-
Ich möchte abschließend einen summarischen Blick auf die stände der pathologischen Individualität aus den früheren
elementaren Formen des indischen Perfektionismus und sein Leben und aus der aktuellen Kindheit in der »Flamme der
Verhältnis zu den Zeitstrukturen des übenden Daseins wer- Aufmerksamkeit« zu verbrennen ist der deklarierte Sinn all
fen. Wenn es je ein Denken gegeben hat, das selbst die Zu- der auf indischem Boden entfalteten spirituellen Techniken,
spitzungen des abendländischen Seins-zum-Ziele noch hinter von deren Formenreichtum, Gipfeln und Nuancen sich in
sich ließ, so ist es die orientalische Teleologie, wie sie auf dem extenso einen angemessenen Begriff zu machen für Inder
Boden des indischen Subkontinents zur Entfaltung kam. Man wie Nicht-Inder ein nahezu gleich hoffnungsloses Unterfan-
spricht eine Trivialität aus, wenn man feststellt, daß der Ma- gen sein dürfte.
gnetismus der Vollkommenheit in keiner Zivilisation so
mächtige Wirkungen auszuüben vermochte wie in der des Die Anfänge der indischen Anthropotechnik weisen auf ei-
alten und neuen Indien. Die indische Spiritualität ist die pla- nen archaischen mentalen und psychagogischen Athletismus
netarische Kornkammer des N arzißmus - vorausgesetzt, man zurück, der sich bis in die vor-arische Epoche verfolgen läßt.
darf diesen von der Psychoanalyse geprägten, obschon nicht Nicht umsonst lautet hier einer der ältesten Namen für den
mehr monopolisierten Begriff für eine Neubeschreibung spi- Asketen shramana, der Sich-Abmühende - ein WOrt, das un-
ritueller Selbstverhältnisse im allgemeinen freimachen. mittelbar die Erinnerung an den griechischen ponos und die
Während sich N arziß, der ego technisch nicht aufgeklärte Athleten wachruft, die sich ihrer philoponia rühmten. Das
Jüngling, über den Rand des Wassers neigt und sein reizendes Wort ashramas, das von der Sanskrit-Wurzel shram hergelei-
Spiegelbild umarmen möchte - woraufhin er das Gleichge- tet wird und das die vier Stadien des brahmanischen Lebens-
74 ..
wicht verliert, vornüberfällt und ertrinkt, beugt sich der in- wegs zusammenfaßt, soll anfangs die Ubungen der Asketen
dische Kontemplant über sein Inneres - und beginnt aufzu- und Walderemiten bezeichnet haben - hiervon scheint auch
steigen. Er hält sich nicht lange mit den Spiegelungen auf, die der Begriff» Ashram« abhängig zu sein, der ursprünglich eine
ihm entgegenschauen, vielmehr möchte er das Feld seines Einsiedelei, das heißt den Übungsort eines Asketen, meinte,
Bewußtseins tunliehst für die Präsenz des transzendenten ehe er auf alle möglichen Einrichtungen des meditativen
Zeugen öffnen, obschon dieser auch hier zunächst und zu- Retreats einschließlich der klosterartigen Siedlungen in der
meist mit der Figur des Großen Anderen amalgamiert wird. Nähe eines spirituellen Lehrers ausgedehnt wurde. Die Ana-
In einer Kultur, in der die Zahl der Götter die der Menschen
überstieg, mußte das geistige Leben zu einem unaufhörlichen 73 Romain Rolland deutet in seinem Buch La vie de Ramakrishna,
Paris 1929, auf den Augenblick demographischer Parität zwischen
Turnier der Großen Anderen geraten - das vorsokratische 300 Millionen Göttern und ebenso vielen lebenden Indern.
Diktum, alles sei voll von Göttern, trifft viel eher die indi- 74 Vgl. oben S. 360f.
4 I2 II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

logien zu den (mehr als eintausend Jahre jüngeren) Phänome- Verschwinden; Enthaltung von Tat und Arbeit; Ablassen von,
nen des christlichen Eremitismus drängen sich auf - wobei Aufgeben von, Verzichten auf; Einstellen von weltlichen
die hier wie dort gegebene Affinität des athletisch-somati- Handlungen und Gefühlen; Gemütsruhe, Weltabgeschieden-
schen Übens zur yogisehen und spirituellen Selbstsorge mit heit; Ruhe, Frieden, Glückseligkeit.«75
Händen zu greifen ist. Auch die Hochachtung, die man in Möchte man die Entwicklung der indischen Übungskul-
Indien (wo der heilige Mann muni, der Stumme, genannt turen unter der Optik hoher Abstraktionen verfolgen, so wä-
wird) wie in den ägyptischen Wüsten dem Schweigen entge- re auch hier nach dem Modus zu fragen, in dem sich die ur-
genbrachte, deutet in dieselbe Richtung. An beiden Zentren sprüngliche asketische Sezession und die Ausbildung von
der Askese hatte man verstanden, daß jede Art des gewöhn- Kulturen rezessiver Subjektivierung vollzogen. Die Schick-
lichen Sprechens einer Profanierung gleichkommt, durch die sale der indischen Anthropotechnik unterscheiden sich von
sich die Seele wieder in das verstrickt, wovon sich zu befreien ihren westlichen Gegenstücken nur in einem Punkt ganz
den Sinn ihres Rückzugs ausmacht. grundlegend: Aufgrund des Kastensystems fällt den ältesten
Wie radikal die indische Spiritualität auf der Elaborierung Brahmanen die Sezession gewissermaßen als familiäres Erbe
von Sezessionsmotiven aufbaut, verrät schon ein kurzer Blick zu und braucht daher fürs erste nicht durch eine individuali-
auf den Wortschatz, mit dem die Kontemplanten dort von sierte Reaktion auf den absoluten Imperativ erworben zu
alter Zeit her ihre geistigen Ziele artikulieren. Die vier werden. Die Antwort auf den Appell »Du mußt dein Leben
Grundworte des geistigen Lebens moksha, apavarga, nirvrit- ändern!« liegt in der brahmanischen Lebensform als solcher
ti und nivriui sind ausnahmslos dem Wortfeld des Rückzugs, vor, die in ihrer Summe nichts anderes als eine kollektive
der Abwendung, des Verschwindens, des Ablassens und des Sezession repräsentiert. Sie bedeutet ihrem Wesen nach die
Erlösehens zuzurechnen - zu jedem von ihnen gehört ein Implantierung einer Kaste von Gottmenschen oder besser
umfangreicher Apparat anthropotechnischer Prozeduren, von Menschengöttern inmitten und oberhalb der nicht-brah-
denen die Einverleibung der rezessiven Qualitäten obliegt. manischen Populationen. Unter diesem Blickwinkel be-
Ich folge ohne weiteren Kommentar der Übersicht Heinrich trachtet, verspricht die älteste brahmanische Existenz ein
Zimmers über die Sinnfelder der höchsten Ziel-Worte: ruhiges Hineinwachsen in eine fest etablierte Struktur erb-
»Moksha, aus der Wurzel muc, >lösen, freimachen, gehenlas- licher Übermenschlichkeit. Wie der gewöhnliche Mensch des
sen, entbinden, entfesseln, befreien; verlassen, zurücklassen, Westens, um ein Bonmot Shakespeares aufzugreifen, als eine
hinterlassen<, bedeutet >Befreiung, Flucht, Freiheit, Erlösung, wohlorganisierte »Republik von Fehlern« definiert werden
Errettung; letzte Loslösung der Seele<. Apavarga, vom Verb könnte/ 6 die den Zuzug keiner einzigen Tugend duldet, wäre
apavrij, >abwenden, zerstören, zerstreuen; abreißen, auszie- der modus vivendi des brahmanischen Menschengotts als
hen, wegnehmen<, bedeutet >Abwerfen, Fortschleudern (ei- eine stabile Republik von unergänzbaren Vorzügen zu be-
ner Wurfwaffe), Abladen, Aufgeben; Vollendung, Ende<; schreiben.
auch das >Erfüllen oder Vollbringen einer Tat<. Nirvritti heißt
,verschwinden, Vernichtung, Rast, Ruhe, Frieden, Vollen-
75 Heinrich Zimmer, Philosophi e und R eligion Indiens, Frankfurt am
dung, Erfüllung, Befreiung vom weltlichen Dasein, Befrie- Main 1973, S. 50.
dung, Glück, Seligkeit<; und nivritti: Stillstand, Beendigung, 7 6 Much Ado About Nothing, 5. Akt, Zweite Szene.
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvoll end ete

Fortpflanzungspflichten, nach der Weitergabe des göttlichen


Das Geheimnis der zweiten Sezession: Geheimnisses an den Nachkommen, sondern schon in der
Karma- Verdunkelung und Streben nach Befreiung ersten Hälfte, unter Verwerfung des pro kreativen Drangs
und unter Absehung von der bis dahin alles beherrschenden
Gleichwohl stellt sich auch in einer solchen Kultur die Frage Weitergabe des heiligen Feuers vom Vater auf den Sohn.
nach der persönlichen Aneignung des Erbes - vor allem in der Hierdurch vor allem - mehr noch als durch die in Indien
Zeit sozialen Wandels, als in den frühen Städten die erste von alters her bedrückende reale Misere - konnte die pessi-
Individualisierung einsetzte. Wie die Abstammung aus einem mistische Trübung des Urteils über die Gesamtheit der Exi-
Pfarrhaus die geistigen Probleme der Pfarrersöhne im Pro- stenz die Oberhand gewinnen.
testantismus nicht automatisch regelte, so konnte auch die Allein in diesem Zusammenhang läßt sich die ansonsten
Herkunft aus einer Brahmanenfamilie nicht alle Ungewißhei- kaum erklärliche Öffnung der indischen Kultur für die den
ten aus der Welt räumen, die mit der Existenz eines Brahma- vedischen Sängern noch unbekannte Vorstellung vom Rad
nensprößlings gegeben sein mochten. Die damit verlangte der Wiedergeburten begreiflich machen. Der mysteriöse Er-
Individualisierung des ständischen Hochgefühls ist der Logik folg der Wiedergeburtslehre ist nur zu würdigen, wenn man
der Sache gemäß nur durch eine zusätzliche Sezession des in ihr das von den Asketen gewählte Mittel sieht, die fällige
Einzelnen von der sezedierten Gruppe zu leisten. Dieser Verdunkelung des Weltbilds im Geist der zweiten Sezession
Zwang zur zweiten Sezession treibt den evolutionären Motor voranzutreiben. Sie liefert dem Asketismus der Frühausstei-
der altindischen Kultur an. Deren Ausgangsparadoxie war ger die ontologische Grundlage. Nur dieser konnte ein Inter-
dadurch bezeichnet, daß sie einen unübertreffbar scheinen- esse daran haben, das Universum als eine Seelenfalle, ja als
den Gipfel als Startpunkt weiterer Differenzierungen vorgab. eine Straf- und Illusionsanstalt zu beschreiben, in der die Ge-
Folglich lag die einzige Dimension der brahmanischen Exi- zeugten und Geborenen allesamt Wiedergezeugte und Wie-
stenz, die sich für Steigerung und Überbietung anbot, im Be- dergeborene sind, die von Gefangenschaft zu Gefangenschaft
reich der negativen Stellungnahmen zu Welt und Leben ins- vorrücken. Aus dieser Perspektive artikuliert die Lehre von
gesamt. Zwar war ein gewisses Maß an Weltentrückung auch den Wiedergeburten nicht nur eine sublime Metaphysik der
schon dem frühesten Brahmanenturn vertraut. Diese ergab fortzeugenden Schuld - hierin das funktionale Äquivalent der
sich schon durch den Akzent auf dem ekstatischen Heraus- ägyptisch-christlichen Gerichtsmythologie, folglich auch in
treten aus der Sinnenwelt - von alters her als Königsweg zur gewissem Maß ein Vehikel des metaphysizierten Ressenti-
Erfahrung der letzten Wirklichkeit gepriesen - , doch die prie- ments -, sie ist ebenso die conditio sine qua non für die Sezes-
sterlichen und familiären Bindungen der brahmanischen sion einer Klasse von jungen Berufsasketen. Diese Rebellen
Haushahsvorstände setzten, zusammen mit ihrem göttlichen machten sich die chronische Auflehnung gegen das Verhäng-
Selbstbewußtsein, der verwirklichten Weltflucht spürbare nis der Fortpflanzung zu eigen, seit es ihnen in den Sinn
Grenzen. Wer sich von den Jüngeren das ekstatische Erbe gekommen war, diese unmittelbar als die Fortpflanzung des
vertieft aneignen wollte, wurde somit wie von selbst auf die Verhängnisses zu begreifen. Von da an kann die Wirklichkeit
Radikalisierung des Rückzugs verwiesen - nicht erst in der des Wirklichen nicht allein durch das Elend definiert werden,
zweiten Lebenshälfte, nach Ableistung der brahmanischen das sich die Menschen synchronisch gegenseitig antun, sie
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

macht sich ebenso diachronisch als Proliferation gespeicher- gegen die Ideen der progressiven Heilspolitik haben ihr west-
ter Schuld geltend. Das große Leitwort Befreiung (maksha) liche Ideologen durch das Prädikat »ahistorisch« vergolten.
bezeichnet von da an weniger die Möglichkeit der Wiederan-
knüpfung an der ursprünglichen Ekstase, es wandelt sich zum Vor diesem Hintergrund läßt sich der anschwellende Nega-
Paßwort für die Flucht aus dem unreinen und heillosen Sein. tivismus begreifen, der sich von den Tagen der frühen vedi-
Man erkennt, wie unter solchen Bedingungen die Befrei- schen Menschengötter an der indischen Spiritualität be-
ung zu einem Phänomen der langue duree mutieren mußte. mächtigte, um schließlich in der Generation Buddhas und
Als solches eignete sie sich noch nicht zur Zuspitzung in ein Mahaviras (nach jüngeren Datierung im vierten vorchristli-
existentielles Projekt - denn »existentiell« ist immer syn- chen Jahrhundert) zu den vollendeten Systemen allseitig re-
onym mit »in diesem Leben bewältigbar«. Solange die Ein- flektierter Welt- und Lebensverneinung zu reifen. Zur Zeit
zelnen auf den langen Bahnen der karrnischen Zeit wandern, dieser großen Lehrer hatte der Impuls zur asketischen Sezes-
herrschen bei der Pilgerfahrt zur Befreiung die trägen Rhyth- sion längst auch auf die übrigen Kasten übergegriffen und sie
men vor. Zwar ist nach dem Eindringen der Wiedergeburts- mit dem Geist der radikalen Negation affiziert - gewiß stets
lehre alle wesentliche Zeit als Zeit der Erlösung erkannt - und vor dem Hintergrund der alten, allgemein indischen Sorge
Erlösung ist stets strikt einzelseelisch zu denken -, doch erst um Reinigung von Tatfolgen und Berührungen. Naturgemäß
die Lehre des historischen Buddha wird die träge karrnische liegt solchen Wertungen immer auch ein Anteil authentischer
Maschine sprengen und für ihren Stillstand in diesem Leben existentieller Gestimmtheit zugrunde. Man muß die Erschüt-
sorgen wollen. Entscheidend ist jedoch, daß die indische terung des jungen Siddhartha bei seinen ersten Ausgängen aus
Askese, wie die der christlichen Wüste, letztlich nur indivi- dem väterlichen Palast, als er die Übel der Welt in Gestalt des
dualpurgatorische Prüfungen und individualeschatologische Kranken, des Alten und des Toten erstmals mit eigenen Au-
Erlösungen kennt. Wäre sie imstande, so etwas wie eine gen sah, nicht in Abrede stellen, ebensowenig wie seine Fas-
Welterlösungszeit zu konzipieren, so am ehesten vielleicht zination durch den Asketen, dem er angeblich zuletzt be-
unter dem Bild eines dicken Seils aus zahllosen karrnischen gegnete, als er den Palast durch das Nordtor verließ, und
Einzelfäden von verschiedener Länge, Farbe und Gediegen- durch dessen Anblick er auf den Pfad der Erlösung gezogen
heit. Die Immunität Indiens gegen die Versuchung durch die wurde. Es muß hingegen erlaubt sein zu vermuten, er habe
Idee einer allen gemeinsamen Geschichte beruht darauf, daß zuerst den Asketen gesehen und infolge dieser Erscheinung
seine Meditationskultur das Phantom der allgemeinsamen einen Hinweis auf die Notwendigkeit erhalten, sich von
Weltzeit schon früh in Abermillionen von individualisierten Krankheit, Alter und Tod zu befreien. Kein Prinz außerhalb
Erlösungsgeschichten auflöste - eine Operation, die den so- der Legende käme je auf den Gedanken, den Anblick armer
zialholistisch verzauberten Europäern mutatis mutandis erst oder kranker Leute auf sich selbst zu beziehen. Dergleichen
durch die Nachaufklärung des 20. Jahrhunderts in den Ho- tut nur, wer aufgrund des schon geweckten Interesses an As-
rizont kommen sollte. Obschon eine zutiefst perfektionisti- kese auf der Suche ist nach empirischen Argumenten zu deren
sche und in diesem Sinn historistische Kultur, kam die indi- Gunsten. Ein Fürstensohn fragt nicht nach Impfstoffen gegen
sche niemals auf den Gedanken, Kollektivperfektionen als die Übel des Daseins, er interessiert sich für einen Kampf, den
ernsthafte Optionen gelten zu lassen. Ihre Gleichgültigkeit zu gewinnen ihm nobler erscheint als ein fürstliches Erbe. Es
II Überrreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

geht bei den großen Systemen des Pessimismus auch weniger hayana-Buddhismus nimmt der Autor keine Kenntnis, ver-
um idiosynkratische Tendenzen, die der existentiellen Ge- mutlich, weil er in der Erhebung des Mitleids zu einem Le-
stimmtheit der Protagonisten entspringen, als um die Gesetz- bensziel höchsten Ranges ein der indischen Grundtendenz
mäßigkeit der ethischen Sezession zweiten Grades bzw. des fremdes Element wahrnimmt.) Im allgemeinen dürfte gelten,
Bruchs mit dem Weltleben aus der nicht-brahmanischen Po- daß ein Übungs system um so entschiedener für die erste Op-
sition. Für Asketen, die diese Geste gewählt hatten, war der tion eintritt (die typologisch mit der stoischen apatheia kor-
Weg in die Negativierung der Existenz allein noch offen. respondiert), je stärker die Motive der Weltverneinung und
Diese Verhältnisse schlagen sich in sämtlichen Ausgestal- der Erlösung vom Daseinszwang in ihm ausgebildet sind,
tungen indischer Vollkommenheitsprojekte der nach-vedi- während die welt- und lebensbejahenden Tendenzen natur-
schen Epochen nieder. Das höchste Ziel - die Vereinigung gemäß die größere Nähe zur Kulmination der Askese in einer
mit der absoluten Wirklichkeit, ob diese nun als letztes Selbst göttlichen, übergöttlichen Verzückung aufweisen. Desglei-
oder Nicht-Selbst gefaßt wurde (in systemischer Verfrem- chen ist die Affinität der negativ erlösenden Systeme zur
dung: das Streben nach totaler Immunität im Sein oder im schnellen, noch in diesem Leben zu erreichenden Lösung
Nichts) - steht apriori fest, und entsprechend stereotyp tritt ebenso plausibel wie die Verträglichkeit der Lehren von fina-
die Behauptung auf, dem Menschen dürfe zu seiner Erlan- ler Seligkeit mit dem langsamen Vorrücken der Seelen auf den
gung keine Mühe zu groß sein. Darum ist es mehr als berech- Schulbänken der Reinkarnation.
tigt, von der »orientalischen Teleologie« zu sprechen. Wo ein Hinsichtlich der Zeitprofile übenden Lebens weist kein
so hohes Maß an Zielbewußtheit, ja an suprematistischem System so extreme Variationen auf wie der Buddhismus:
Furor zu den Grundmerkmalen einer Übungskultur gehört, Wo er sich, wie in Tibet, mit Überlieferungen archaischer
bleibt es nicht aus, daß die Zielvorstellungen sich differen- schamanischer Magie vermischt, erreicht er Exzesse an aske-
zieren. tischer Negativität, die weltweit ihresgleichen suchen - hier-
bei verliert die erlöserische Ungeduld des frühen Buddhismus
praktisch jeden Einfluß, indessen sich der Wiedergeburtsfa-
Die langsamen und die schnellen Wege talismus triumphal zurückmeldet, durchsetzt von den dun-
kelsten Ausprägungen einer lebenverschlingenden Opfer-
Die fundamentale Spaltung des indischen Denkens hinsicht- gesinnung. Sogar die extremsten Kontemplanten, darunter
lich der Konzeption letzter Ziele hat Mysore Hiriyanna auf lebend Eingemauerte und andere Athleten der Selbstauslö-
den schlichtesten Begriff gebracht: »Soweit das Wesen des schung, sehen sich hier vor die Aussicht auf zahlreiche Wie-
Lebensziels berührt ist, kann man die indischen Systeme in derkehren gestellt. Auch bei härtester Askese geht es da nur
zwei Klassen unterteilen - jene, die in ihm nur die absolute in kleinen Schritten voran. Am anderen Pol der Skala findet
Freiheit von Elend sehen, und jene, die in ihm auch Seligkeit man die für den Zen-Buddhismus charakteristischen Über-
erkennen wollen.«77 (Von der altruistischen Kehre des Ma- legungen zu der Frage, ob die Erleuchtung plötzlich und bald
oder allmählich und spät eintrete: Dazu heißt es im Podium-
77 Mysore Hiriy anna, Vom Wesen der indischen Philosophie (zuerst Sutra des chinesischen Meisters Hui-Neng (636-713):
Landan 1949), München 1990, S. 145. "Verehrte Zuhörer, ursprünglich gibt es in der Lehre der
II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete 4 21
4 20

Wahrheit weder plötzlich noch allmählich. Aber in der Dispositionen - insbesondere die beiden ersten, die einer mo-
Natur der Menschen gibt es gescheit und dumm, schnell ralischen Propädeutik gleichkommen, und die drittte und
und träge. ,,78 vierte, die so etwas wie die Grundschule der physischen
Die Überlegung läßt allein die Frage offen, ob die Loslösung Selbstbeherrschung liefern - in die häherstufigen Übungen
innerhalb von Minuten oder von Jahrzehnten stattfindet. mitgenommen und liefern für diese den Sockel, der in actu
Doch gleich, ob eine Schule des Zen-Buddhismus die plötz- athematisch bleiben kann und soll.
liche oder die allmähliche Linie favorisiert, die Strömung ins- Analoge Aufstiege sind aus der buddhistischen Selbsttech-
gesamt erweist sich aufgrund ihrer therapeutischen und nologie bekannt, wie sie im Potthapada-Sutta erläutert wer-
atheoretischen Grundhaltung als ungeduldig genug, um für den. 80 Dieses neunstufige Itinerarium des Geistes ins Nirvana
die spirituellen Aspirationen westlicher Menschen, die das führt über die vier elementaren jhana, d. h. Meditationen
Leben nur als Finale kennen, attraktiv zu sein. (Reinigung, Konzentration, Entleerung, Reinheit), sowie
Es hätte im gegebenen Kontext keinen Sinn, auf prozedu- die vier höheren samapatti oder »Erlangungen« bis zu dem
rale Details der indischen Selbsttechnologien einzugehen, letzten Zustand, der als Stillstand in absolut leerer Enstase
zum einen, weil sich angesichts dieses Themas ein Ozean an beschrieben wird. 81 Naturgemäß macht sich in den stets zu
Differenzierungen auftäte, dessen Erforschung mehr Zeit Übertreibungen bereiten indischen Stufensystemen das Es-
und Energie erfordert, als einem sterblichen Interessenten kalationsgesetz bemerkbar, wonach jede noch so hoch getrie-
zur Verfügung steht, zum anderen, weil mit fast jedem termi- bene Formulierung einer Endstufe durch zusätzliche Schika-
nus technicus auf diesem Feld für westlichen Beobachter nen, Iterationen und Aufstockungen der Abstraktion weiter
kaum überwindliche semantische Probleme verbunden sind. gesteigert werden kann, ohne daß jemand imstande wäre,
Was an den indischen Übungslehren dennoch vertraut anmu- nach wenn schon nicht überprüfbaren, so doch mitteil baren
tet, ist die Tatsache, daß auch sie wie ihre westlichen Pendants Kriterien anzugeben, ob den hinzuerfundenen Höhengraden
praktisch überall in Stufensystemen angeordnet sind - unter noch irgendein zuständlicher Gehalt zugeordnet werden
diesen haben es, um nur ein Beispiel zu erwähnen, die acht könne. Im mongolischen Lamaismus soll sogar der samadhi,
angas oder »Glieder« aus Patanjalis Yoga-Sutra zu besonde- der hier freilich nur nominell an den sagenumwobenen End-
rer Reputation gebracht: I. Die Bezähmungen (yama), 2. die zustand indischer Versenkungsübungen erinnert, in II6 Stu-
Disziplinen (niyama), 3. die KörpersteIlungen (asana), 4. die fen auseinandergelegt worden sein - ein Beschäftigungspro-
Atemkontrolle (pranayama), 5. der Rückzug der Sinne von gramm für viele prallvolle Reinkarnationen. 82 Der Verdacht
den Objekten (pratyahara), 6. die Konzentation (dharana), drängt sich auf, manchen Vollkommenen sei die Vollkom-
7· die Meditation (dhyana), 8. die enstatische Trance (sama- menheit zu langweilig geworden, um nach ihrer Erlangung
dhi).79 Wie in allen Systemen progressiver Habitualisierung die Hände in den Schoß zu legen. Wie die westliche Welt den
werden auch hier die auf den früheren Stufen erworbenen Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt (der soziologische Na-

7 8 Hui-Neng. Das Sutra des Sechsten Patriarchen. Das Leben und die 80 Vgl. Digha Nikaya, Die längeren Reden Buddhas, Neunte Rede.
Zen-Lehre des chinesischen Meisters Hui-neng, Bern 1989, S. 67. 8r Vgl. Eliade, Yoga, a.a.O., S. 176-1 82.
79 Vgl. den ausführlichen zeitgenössischen Kommentar von B. K. S. 82 A . M. Podzncjcv, Dhyana und Samadhi im mongolischen Lama-
lyengar, Lumiere sur le Yoga Sutra de Patanjali, Paris 2003. ismus, Hannover 1927.
422 II Übertreibungsverfahren 7 Vollendete und Unvollendete

me der Depression), so die östliche den Horror der Übungs- kampflos von der Sphäre des Ausdrucks abgekoppelt hat -
losigkeit. Was liegt da näher, als die Verklärung aufzustok- das spricht für ihre Überwältigung durch den immunitären
ken? Nichts scheint einfacher, als nach dem Nirvana ein Nir- Imperativ, vulgo durch die »Religion«, der man, wie gesehen,
vana und ein halbes zu »erreichen«. Ein anderes Movens für überall begegnet, wo das Interesse an Letztversicherung die
die Aufblähung der Perfektionen ist ohne Zweifel in der psy- affektive und ästhetische Besetzung der vorletzten Dinge sa-
chodynamischen Instabilität der Endzustände zu sehen, von botiert. Wie die Alternative hierzu hätte aussehen können,
welcher auch die westliche Mönchsliteratur unter den Stich- läßt sich am ehesten beim Hören der klassischen indischen
worten >>Versuchung«, »Prüfung« und »Rückfall« einiges zu Musik erahnen. In ihr findet man die suggestivste Analogie zu
sagen hatte. der Chromatik der Erleuchtungen, sofern sie sich ganz aus
Was die semantische Seite der indischen Übungstermino- einer Dynamik von Stimmungen, Schwellungen, Katarakten
logie angeht, so reichen ihre Komplikationen weit über die und Beruhigungen entwickelt. Obschon es keine griffigen
bekannte Kluft zwischen Wahrnehmung und Kommunika- Notationen für die artifiziell erzeugten inneren Zustände
tion hinaus. Die Welt der meditationstechnisch induzierten der Asketen gibt, liegt doch auf der Hand, daß sich in ihnen
Zustände ist ein weites Land oder besser: eine Galaxis mit vielfältige Endosphären verbergen, die uns so unzugänglich
ungesicherten Routen und von unbestimmten Grenzen. bleiben wie die Träume von Fremden. Von denen wüßten wir
Wer in ihr unterwegs ist, kann nie sicher sein, ob andere schlechthin nichts, wären wir nicht selber des Träumens und
Reisende dieselben Sterne in denselben Milchstraßen gesehen des Gleitens zwischen den Tonarten des mentalen Lebens
oder betreten haben. Zwar versichern die Meister, sie besäßen fähig.
zuverlässige Karten für die Weiten des meditativen Raums,
doch ist über ihre Kunst, Karten zu lesen, nur Widersprüch-
liches bekanntgeworden. Es hieße einer Mystifikation erlie-
gen, wollte man annehmen, die Fahrpläne zur Vollendung
führten letztlich alle zu demselben Ziel. Tatsächlich eröffnet
die Meditation, dem Traum vergleichbar, eine Sphäre nicht
beobachtbarer Beobachtungen, so daß man hier, wie beim
Traum und seiner Deutung, auf sekundäre Mitteilungen
und tendenziöse Nachbearbeitungen angewiesen bleibt. Für
die mystischen Zustände ist überdies charakteristisch, daß
ihre Träger das Schweigen als Form der Mitteilung privilegie-
ren. Es wäre gewiß ein Fehler, vom Schweigen auf die Er-
leuchtung zu schließen. In puncto Nichtmitteilbarkeit kann
es jede Dumpfheit mit der Entrückung in den dritten Himmel
aufnehmen.
Vielleicht war es das Unglück der indischen Spiritualität,
daß sie die Kultur der inneren Zustände zu früh und zu
8 Meisterspiele

Aus realitätsgeeichtem Gutdünken verfügt sie über die bei-


8 MEISTERSPIELE den wichtigsten Kategorien der praktischen Vernunft - das
VON DEN TRAINERN ALS GARANTEN DER Ernstfallurteil und das Prioritätsurteil. Das heißt, sie erkennt
Ausnahmezustände und entscheidet über die Reihenfolge, in
ÜBERTREIBUNGSKUNST
der die wichtigsten Dinge zu erledigen sind. Daß Fehlbarkeit
zu ihren Arbeitsbedingungen gehört, entwertet die Tätigkeit
dieser Urteilskraft in keiner Weise.

Cura und cultura


Die »Pflege«-Dimension von cultura bezieht sich hier auf die
Sorge um die ewige Wiederkehr des Ähnlichen in den Nach-
Der Begriff »Kultur« bezeichnet in seiner am wenigsten kon-
kommen. Wo cura und cultura, Sorge und Pflege, auftreten,
fusen Definition Dressur-Systeme zur Ubertragung von re-
stehen sie fürs erste im Dienst der Ähnlichkeit. Sie verlangt
gionallebenswichtigen kognitiven und m?ralischen Gehalten
von den Mitgliedern einer Population, sich immer so zu ver-
auf folgende Generationen. Weil di~se Ubert~agu.ng allent-
halten, daß aus der Summe der Handlungen in der Gruppe
halben die Quelle ernsthafter IntellIgenzarbeIt bIldet,. ent-
hinreichend ähnliche Junioren hervorgehen können. Wer sich
wickeln alle real erfolgreichen, hinreichend reprodukuons-
hier sorglos oder nicht-pflegend verhält, läßt Wildwuchs zu,
fähigen Kulturen eine Art von ontologischem Zentralo~gan,
der öfter dekadent als originell erscheinen muß. In diesem
in dem das Urteil über die Lebenswichtigkeit oder NIcht-
Zusammenhang ist erneut an die neophobe Grundstimmung
Lebenswichtigkeit von »Dingen« gefällt wird - sechstausend . 84 D as Wun d er der spaten,
..
der älteren Kulturen zu ennnern.
Fuß jenseits der philosophischen Unterscheidung zwisc~1en
liberal aufgebrochenen Zivilisationen läßt sich vor diesem
Substanziellem und Akzidentiellem. »Dinge« sind daher Im-
Hintergrund noch einmal ausdrücklich bezeichnen: Es be-
mer schon Verhandlungssachen auf dem Forum der Überle-
deutet die Möglichkeit, daß eine gegebene Population ihrer
bensintelligenz - in verwandtem Sinn hat Bruno Latour den
Reproduktionsfähigkeit, ihrer didaktischen Techniken und
»Ding«-Begriff für die Agenda einer Welt pluraler Parlame~­
der Attraktivität ihres Lebensmodus hinreichend gewiß ge-
te zukunftweisend reformuliert. 83 In diesem Organ, das ..tn
worden ist, um es sich leisten zu können, auf die altherge-
älterer Zeit durchgehend presbyterokratisch, das heißt in AI-
brachte Unterdrückung von unwillkommener Variation zu
testenräten, in jüngerer Zeit tendenziell demokratisch, das
verzichten und sich statt dessen zu dem neuen, riskanten
heißt aus einer Mischung aus Institutionenintelligenz, Exper-
Habitus breiter Variationstoleranz zu bekennen. Daraus er-
tenmeinung und Mehrheitsmeinung, verwaltet wird, residiert
geben sich die typischen Spätkulturprobleme, die uns heute
eine unspezialisierte »totipotente « Urteilskraft, die schon
täglich beschäftigen - sie erwachsen aus der nicht-friedens-
lange vor dem Auseinandertreten der Realitätsfelder in Ethi-
fähigen Koexistenz von variationsfeindlichen und variations-
sches, Politisches und Ästhetisches ihren Aufgaben nachgeht.
freundlichen Gruppen innerhalb einer zivilisatorisch Ull-
gleichzeitigen Staatsbevälkerung.
83 Vgl. Makin g Things Public. Atmospheres of Democracy. C am-
bridge und London, ed. by Bruno Latour, Peter Weibel a. a. 0.,
bes. Kapitel 4: From Objects to Things, S. 250-295. 84 Siehe oben S. r89f.
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele

des sportlichen Agons zu denken, also an die Helden des


Stabilisierte Unwahrscheinlichkeit: Schlachtfelds, die Gottmenschen in den Wäldern und im röt-
Die Aufrichtung der Leitbilder lichen Staub der Feldwege, die Heiligen der Wüste und des
Klosters und die Athleten in der Palästra, im Stadion und in
Um so erstaunlicher erscheint vor demselben Hintergrund der Arena. Sie alle haben noch etwas von der Aura ihrer Vor-
das Auftauchen der frühen Hochkulturen. Zu deren Defini- gänger um sich, den Wundermännern archaischer Zeiten, den
tion greife ich auf meine Ausführungen über die Stabilisie- Zauberern und magischen Diplomaten, die mit den Kräften
rung hoher Vertikalspannungen in sezessionär isolierten und den Dämonen verhandelten - sie waren die ersten gewe-
Gruppen zurück. Hiernach bedeutet Hochkultur nichts an- sen, die als Rebellen gegen den Block der Realität ihre Mit-
deres als ein System zur Reproduktion hyperbolischer oder welt in Bann zogen. Erst in sehr viel späterer Zeit kommen zu
akrobatischer Funktionen in Rückzugsräumen für Eliten - dieser Liste die Künstler hinzu, ein jeder in seinem eigenen
deren allgemeine Form in einer Ethik stabilisierter Unwahr- Genre ein Mirabilien-Macher und damit ein Blasphemiker
scheinlichkeit erscheint. Darum rückt der Akrobat, im buch- gegen das Prinzip Unmöglich.
stäblichen wie im übertragenen Sinn des Worts, als Träger Mit diesen Figuren sind die Rollen und Räume hochkul-
einer auf Dauer gestellten Beinahe-Unmöglichkeit ins Zen- turell stabilisierter Unwahrscheinlichkeit klar genug umris-
trum der Aufmerksamkeit - im übrigen auf Kosten der kon- sen. Sind sie erst einmal etabliert, müssen die Modi erklärt
ventionellen Gleichsetzung von Aristokratie und Elite. Es werden, nach denen sich in jedem einzelnen Bereich die
war Nietzsche, der zuerst bemerkte, wirkliche Aristokratie Übersetzung des Unwahrscheinlichen und Unwiederholba-
zeige sich darin, wie beim spirituellen Führer die »ungeheure ren ins Wahrscheinliche und Wiederholbare - mithin die Er-
Unmöglichkeit seiner Aufgabe« sich in eine verfeinerte Kör- richtung des ursprünglichen schulischen Feldes - geschehen
per haItllng u··b ersetze. 85 kann. Gewiß ist hier zunächst nur eins: Was man in späteren
Wir wissen freilich, daß sich die Stabilisierung von Zeiten Schule nennt, ist anfangs weniger ein pädagogisches als
Höchstunwahrscheinlichkeiten im allgemeinen nur über die ein thaumaturgisches Phänomen. Zuerst das Wunder, dann
Aufrichtung von Leitbildern vollziehen kann. Diese sind be- die Erziehung. Daher die enge Liaison zwischen Ethik und
greiflicherweise nicht bloß innerfamiliär transferierbar, son- Artistik. Wenn Platon und AristoteIes versichern, am Anfang
dern müssen über das kollektive Imaginäre, das heißt durch der Philosophie stehe das Staunen (thaumazein), so erfassen
die mentalen Übungs- und Rankingsysteme einer Kultur, tra- sie gerade noch das letzte Ende einer Ordnung, in der alle
diert werden (Shortcuts gibt es allein in den Milieus, wo Fa- höheren Leistungen am Maßstab des Unglaublichen gemes-
milie und Hochkultur ineinanderfallen: bei den Brahmanen, sen wurden - erst sehr viel später konnten Trivialisierungen
den Rabbinern, den protestantischen Pfarrhäusern). Wenn und Nachahmungen zum halben Preis die Tagesordnung dik-
von Leitbildern die Rede ist, hat man vor allem an die exem- tieren. Die Einführung ins Unwahrscheinliche hat fürs erste
plarisch verkörperten Typen des heroischen, des sakralen und jedenfalls nichts mit Kinderführung zu tun, sie wendet sich an
Erwachsene, die auf halbem Lebensweg begreifen, daß das
85 Friedrich Nietzsehe, Morgenröthe. G edanken über moralische gewöhnliche Menschsein nicht mehr genügt. Am Anfang
Vorurteile, Erstes Buch, 60. war nicht Erziehung, sondern die Verführung durch das Er-
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele

staunliche. Von der Schule des Wunders allein gehen die Wir- ner »Seele«, eines ba, einer psyche, eines atman, allgemeiner
kungen aus, die Menschen zur Sezession bewegen. gesprochen einer dauerreflexiv irritierten Innenwelt antwor-
ten können.

Paradoxien und Passionen: Die Entstehung der Innenwelt Die Seele emergiert als die Instanz, in der das Unmögliche
durch chronische Überspannung wie eine ständig zu bedenkende Möglichkeit vergegenwärtigt
werden muß. »Seele« im Sinne eines innenweltlichen oder
Daher ist Hochkultur keineswegs bloß, wie Oswald Spengler mikrokosmischen Organs zur Verdoppelung des Seienden
dozierte, die Resultierende aus der Begegnung zwischen einer im gan zen ist keineswegs eine überzeitliche Instanz, in der
Landschaft und einer Gruppenseele - oder das Amalgam aus sich das Für-sieh-Sein der Menschen aller Zeiten und Völker
einem Klima und einem Trauma. Sie ist aber auch nicht ein- manifestiert hätte. Sie entsteht erst als das Symptom einer
fach »Reichtum an Problemen«, um Egon Friedells geistvolle Überreizung durch ein unausweichliches Paradoxon - durch
Definition von Kultur im Sinn von Bildung zu zitieren. Viel- eine Forderung, die sich weder erfüllen noch ignorieren läßt.
mehr wurzelt jede Hochkultur in ihrem robusten Eigentum Das »menschliche Innere« hört dann auf, nur der Transitraum
an einem überlieferungsfähig gemachten Paradoxon. Sie ent- von »aufwallenden« Affekten zu sein, wie man es etwa in der
springt aus der grausamen Naivität, mit der sich das basale homerischen Ansicht vom thym6s noch deutlich erkennt;86
Paradoxon in seinen frühen Stadien verkörpert. Grausam ist auch ist es nicht mehr nur die Rezeption für die Besuche von
die Naivität der frühen Hochkulturen in dem Maß, wie sie Dämonen, Träumen und >,Ideen «. Es gleicht eher einer chro-
ihre Forderung nach der Ermöglichung des Unmöglichen nischen Entzündung der Selbstwahrnehmung, provoziert
gegen ihre Adepten durchsetzt. Erst wenn solche harten Aus- durch die Zumutung, daß sich das Begehren der Einzelnen
gangsparadoxien sich zu Problemen entspannt haben, kön- an unmöglich nachzuahmenden Beispielen ausrichten soll.
nen sie wie Reichtümer genossen und wie Bildungsgegen- Die paradoxe Entzündung und das stabilisierte Für-sich sind
stände gesammelt werden. In ihren frühen Zuständen werden gleichaltrige Größen. Umgekehrt wird die hochkulturelle
Paradoxien nicht als Schätze erlebt, sondern als Passionen Ethik nur dadurch attraktiv, daß sie es lernt, mit den höchsten
erlitten. Faszinationen, dem physisch und moralisch Wunderbaren,
Sprechen wir aus, worin die Basisparadoxie aller Hoch- für sich zu werben. Das Wunderbare ist das Lächeln des Un-
kultur besteht: Sie folgt aus ihrer Orientierung an hyper- möglichen.
bolischen oder akrobatischen Exzessen, die stets unter der Allein durch die Verwandlung des Unglaublichen ins Vor-
Annahme betrachtet werden, sie seien zur Nachahmung bildliche kann das Arbeitsklima der Hochkultur sich stabili-
und Normalisierung geeignet. Indem die Hochkulturen Aus- sieren: Wenn sie zu den Ihren spricht, dann nie ohne den
nahmeleistungen zu Konventionen erheben, erzeugen sie ei- Hinweis auf die Vollendeten zu vergessen, die gerade da-
ne pathogene Spannung, eine Art von chronischer Höhen- durch, daß sie Nicht-Nachnahmbares geleistet haben, zur
krankheit, auf welche die hinreichend intelligenten Teilneh-
mer an dem paradoxen Spiel nur noch durch die Ausbildung 86 Vgl. Bruno Snell, Die Auffassung des Menschen bei Homer, in:
ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des
eines internen Ausweich- und Simulationsraums, mithin ei- europäischen Denkens bei den Griechen, H amburg 1946, S. ) 5-37.
43° II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 43 I

Nachahmung empfehlbar werden. Sobald das akro bainein, nachahmlichen Anderen angesammelt hat. Daher sind die
das blickebannende Wandern auf dem Seil über dem Ab- frühen Anläufe zu den Hochlagen der Unwahrscheinlichkeit
grund, vom physischen aufs moralische Feld überspringt, psychodynamisch keineswegs hilflos. Alle expliziten Hoch-
ist das Paradoxon im Spiel: Die Vertikalspannungen der über- kulturen setzen zu ihrer Befeuerung eine mimetische Mobil-
schwenglichsten Art entstehen durch die Erhebung des Un- machung ein, die nichts Geringeres im Sinn hat als die Ent-
nachahmlichen in den Rang des Exemplarischen. eignung des Vorbilds. Auch hierin ist Stillschweigen die erste
Betriebsbedingung: So wie es bei ungestörtem »Kulturbe-
trieb « nie in Frage kommt, das basale Paradoxon offenzule-
Trainerdämmerung gen, so bleiben auch die im Nacheifern wirkenden Antriebe
ungestehbar.
Vor diesem Hintergrund läßt sich die Figur des Trainers als
des Führers in die Unwahrscheinlichkeit begründen. In sy- Nur unter diesen Prämissen kann man die Auftritte der ersten
stemischer Sicht fällt ihm die Aufgabe zu, das Paradoxon der Trainer mit der gebührenden szenographischen Aufmerk-
Hochkultur unsichtbar zu machen, wonach gerade das un- samkeit ins Auge fassen. Für eine solche Rolle kommen zu-
möglich Nachzuahmende als Ansporn zur intensivsten nächst nur die Ausnahmemenschen selbst in Frage, denen die
Nachahmung eingesetzt wird. Hierbei bewährt sich die von Selbstmirabilisierung, die Verwandlung in die real existieren-
Edgar Allen Poe in The Purloined Letter dargelegte Strategie, de Monstrosität, gelungen ist. Von ihnen geht die numinose
wonach das beste Versteck in der sichtbarsten Oberfläche Aura aus, von der die höchsten Magisterien umgeben sind.
liegt. Es ist für den heroisch-heilig-athletischen Komplex be- Weil auf dieser Stufe der Lehrer in seiner mirabilischen An-
zeichend, daß er seine Verführung zum Unmöglichen unter dersheit die Lehre selbst ist, legt er eine neue Art von Auto-
einem aufwendigen legendarischen Lärm verbirgt: In erster rität an den Tag - es ist nicht mehr die Gravität der Ältesten,
Instanz hat dieser keine andere Aufgabe, als die bei gelassener sondern die Leuchtkraft der reinen Ausnahme, die sofort
Betrachtung sofort bemerkbare Widersprüchlichkeit seiner verführt, sobald sie gesehen und empfunden wird. Das ergi bt
Botschaft durch Überbelichtung und Überbetonung unsicht- den neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Pädagogik:
bar und unhörbar zu machen. In zweiter Reihe soll er die »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben «;87 »Ich und
mimetischen Instinkte mobilisieren, die es nicht dulden, der Vater sind eins«;88 »Ich bin ich, aber auch der andere ...
daß Vorzüge an anderen gelobt werden, die am eigenen Da- Von Ehre und Unehre und von Eigenschaften bin ich frei. Ich
sein ganz fehlten sollten. Die aretologische Propaganda er- bin Shiva.Von Einheit und Zweiheit und von Gegensätzen
füllt ihren Sinn, wenn sie auf die Frage: »Was hat der Andere, bin ich frei. Ich bin er.«89 Um die Erstgeborenen des Uner-
was ich nicht auch haben können soll?« die Antwort: »Wir hörten sammelt sich bald eine Corona aus Schülern, die das
werden sehen! « provoziert. Die Bewunderung ist das große Privileg verkörpern wollen, direkt aus der Ausnahme zu ema-
Fahrzeug der Eifersucht. Die duldet keine absoluten meren.
Bevorzugungen - und wenn es etwas gibt, war ihr zutiefst
87 Johannes 14,6.
gegen die Natur geht, so ist es ein Privateigentum an Siegen 88 J ohannes 10, 30.
über die Unmöglichkeit, das sich bei einem vorgeblich un- 89 Maitreya Upanishad 120, 125 .
432 1I Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele
433
Schon in der ersten Runde des Übertragungsexperiments zuerst den Guru der brahmanisch-hinduistischen Tradition
tritt ein Phänomen auf, das alle Schulbildungen als deren sodann den Meister der buddhistischen Befreiungslehre, da~
quasi tragischer Schatten begleitet - die Trennung der Geeig- nach den Apostel bzw. den Abt als imitatores Christi, schließ-
neten von den Ungeeigneten. Der effiziente spirituelle Trai- lich den Philosophen als den Zeugen der Wahrheitssuche und
ner entwickelt nicht nur die Klugheit des antiken Arztes, der zuletzt den Sophisten als Poly techniker der ars vivendi. Es
von unheilbaren Fällen die Finger läßt, er bildet auch die dürfte kaum nötig sein zu erklären, warum jeder dieser Typen
spezifische Witterung des Menschenfischers aus, der unter eine Ausprägung von Lehrbefugnis an der enthusiastischen
den bloßen Interessenten die Besitzer einer natürlichen Affi- Fakultät unseres anthropologischen Polytechnikums verkör-
nität zum Geist der Lehre herausfühlt. Man wird sie in scho- pert. In einem noch rascheren Durchgang möchte ich diesen
lastischen Zeiten die Talentierten, in bürgerlichen die Be- Figuren eine analoge fünfgliedrige Reihe von pragmatischen
gabten nennen - und aus verständlichen Gründen wird das bzw. artistischen Trainern zur Seite stellen - den Athleten-
abstrakt universalistische Ressentiment eines Tages gegen den trainer, den Meister eines Handwerks oder einer virtuosen
Begriff »Begabung« überhaupt Sturm laufen. 90 Nicht bloß Kunstübung, den akademischen Professor, den profanen Leh-
die alte Manto liebt den, der Unmögliches begehrt,91 jeder rer und den Aufklärungsschriftsteller. Warum bei dieser
Verkörperer des Hochkulturelans tut das. Wichtiger, als den Gruppe von Lehrbefugten von vorneherein mit flacheren
absurd Begehrenden zu lieben, ist es jedoch, ihn aus den und anonymeren Ausprägungen der Vertikalspannung zu
Zahllosen herauszufinden, bei denen es verlorene Liebes- rechnen ist, ist evident: Sie alle haben es mit der Popularisie-
mühe wäre, in ihnen den Eros des Unmöglichen heranbilden rung und Standardisierung von Mirabile-Effekten zu tun und
zu wollen. Wie Charon, der Unterweltfährmann, den nach sind auf die eine oder andere Weise schon unterwegs zu dem,
Helena brünstigen Faust übersetzt, so begleitet jeder der gro- was die Moderne - nach den triumphalen Anfangserfolgen der
ßen Trainer die Schüler, die von ihrem Begehren nicht ab- allgemeinen Alphabetisierung - unter dem Begriff Allgemein-
lassen, »hinüber«. bildung auf ihre Fahnen schreiben wird. Nichtsdestoweniger
praktizieren auch diese Lehrenden eine wenn auch zuneh-
mend begründungsbedürftige Vorstellung von Spitzenlei-
Zehn Typen von Lehrern stungen: Demokratie, so dozieren sie implicite, ist als solche
kein gültiger Grund, warum alle Arten von Vertikalspannun-
Ich werde im folgenden fünf Typen des spirituellen Trainer- gen außer Kraft gesetzt werden dürften. Sie bleiben, obschon
wesens summarisch portraitieren, von denen ein jeder auf sei- in verändertem Modus, in Geltung, und wäre es nur aufgrund
ne Weise die Aufgabe wahrnimmt, prima vista unlebbare, ins der kräfte-ökologischen Tatsache, daß selbst in einer strikt
Überwirkliche zielende Übertreibungen mit dem Anschein egalitär verfaßten Welt nicht alle alles können könnten, schon
von Realisierbarkeit und Lebbarkeit zu umkleiden. Ich nenne gar nicht alles gleich gut.

90 Symptomatisch hierfür der Aufsatz des marxistischen Bildungs-


theoretikers und Psychologen Lucien Seve, Les >dons<n'existent
pas, in: L'Ecole et la Nation, Oktober 1964.
91 Faust II, Vers 7488.

I
~
434 II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 435

beruht - genau dies ist das Merkmal, durch welches das guru-
Der Guru zentrierte Studienmodell des alten Indien für die neuzeitliche
Lernkultur des Okzidents unannehmbar wird. Wir haben
In dieser Aufzählung soll die Figur des indischen Guru an Einführungen in dieses oder jenes Wissensgebiet anzubieten,
erster Stelle angeführt werden - ein Name, der im zeitgenös- wir lassen jedoch keine Einweihungen zu - ganz abgesehen
sischen westlichen Kontext kaum jemals ohne Ironie ge- davon, daß in unseren Breiten Erleuchtung als Studienab-
braucht wird, als wolle man damit eine Person bezeichnen, schluß nicht vorgesehen ist. Auch unterstellen wir bei unseren
die ihren Anhängern Gelegenheit bietet, sie zu überschätzen, Studenten die Kontinuität der Person von der Einschulung
und dies wohl nicht ohne sich zuvor der Selbstüberschätzung über die Immatrikulation bis zum Examen, während das Ler-
hingegeben zu haben. Natürlich besagt diese gewohnheits- nen bei einem Guru zwei diskontinuierliche Momente kennt,
mäßige Ironie nicht das geringste über indische Verhältnisse, den einen bei der Initiation in den modus essendi des Schülers,
sehr viel jedoch über den antiautoritären Mentalitätswandel die eine Art von symbolischem Tod impliziert, den anderen
bei den Okzidentalen im allgemeinen und über den Anse- bei der eventuellen Erlangung des höchsten Ziels, welches
hensverfall ihrer Lehrberufe im besonderen. Sie verrät die nach indischer Konvention als die psychosomatisch-zuständ-
in der Alten Welt seit geraumer Zeit epidemisch verbreitete lich vollzogene Einsicht in die Identität von Einzelseele und
Skepsis hinsichtlich der Vorstellung, irgendein Sterblicher Allseele beschrieben wird. Darin zeigt sich, wie das initiati-
könne irgendeinem anderen an Einsicht in die Grundverhält- sehe Lernen, über seine Fac;onierung durch die Erzählform
nisse von Welt und Leben etwas voraushaben - und zwar der Stufenvita hinaus, seiner dramaturgischen Form nach in
nicht bloß im Sinne eines zufälligen Mehrwissens aufgrund ein Wiedergeburtsschema eingehängt ist - weswegen sein Ziel
längerer Erfahrung, sondern dank einer tieferen Durchdrin- weniger in einer Qualifikation als in einer Transformation zu
gung von verhüllten Strukturen der Existenz. So wie in Eu- suchen bleibt.
ropa der Begriff des Meisters ruiniert ist, der maestro des
Musikbetriebs einzig ausgenommen, so hat auch die Idee ei- Noch skandalöser als die initiatische Allianz, die mit dem
ner höheren Lehrbefugnis in existentiellen Angelegenheiten indischen Meister-Schüler-Verhältnis einhergeht, ist für das
praktisch jeden Kredit verloren. Wenn Martin Heidegger, westliche Empfinden seine konviviale oder geradezu promis-
über Meister Eckhart sprechend, gelegentlich noch mit ern- kuitive Verfaßtheit. Das Bekenntnis zu einem Meister impli-
ster Miene den Ausdruck »Lese- und Lebemeister« verwen- rzierte in der Regel, sofern es sich um ortsfeste brahmanische
dete, war der archaisierende Ton schon zu seiner Zeit nicht zu Verhältnisse handelte, den Eintritt in dessen Hausgemein-
überhören. Er verstieß damit sehr spürbar gegen den neueren schaft, üblicherweise für eine Periode, die kaum kürzer als
consensus, wonach die Disziplin Leben unter keinen Umstän- zwölf Jahre sein konnte - so lange dauerte zumeist schon das
den meisterschaftsfähig sei. Memorieren der vedischen Schriften, deren Einverleibung
Das Skandalon der Guru-Funktion läßt sich einfach auf den von den Adepten erwartet wurde, gleichgültig mit welchen
Begriff bringen: Sie impliziert einen Modus des Lehrens und praktischen Übungen (asanas) man an die psychophysische
Lernens, der auf einer Initiation und damit auf dem Übertritt Transformationsarbeit heranging. Dieses hausgemeinschaft-
in die Sphäre des sakralen oder nicht-öffentlichen Wissens liehe Element der Meister-Schüler-Beziehung implizierte ein
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 437
offen psychofeudales Abhängigkeitsverhältnis. Hierbei hatte zu Lebzeiten und die Verwandlung in den jivanmukti, den
der Schüler in bezug auf den Meister nicht nur empfangende, hier und jetzt Erlösten, zu verwirklichen. Der Guru und sein
sondern auch dienende Rollen zu spielen - daher der Sans- Schüler gehen so miteinander eine Allianz wenn nicht auf
kritnahme des Schülers antevasin: »derjenige, der den Guru Leben und Tod, so doch auf Leben und Hyperleben ein.
begleitet und der ihm aufwartet«. Noch häufiger heißt der Im Licht des jüngeren okzidentalen psychologischen Wis-
Schüler shisia oder ehe/a, was sinngemäß den »zu Füßen des sens betrachtet, handelt es sich bei diesem singulären Verhält-
Meisters Sitzenden« bezeichnen soll - ein Wort, das die Er- nis um einen magnetopathischen bzw. einen psychoanalyti-
innerung an eine versunkene Welt vor der Erfindung des an- schen rapport - das heißt um einen stabilisierten Ausnahme-
thropotechnischen Universalgeräts der Moderne namens zustand des seelischen Felds, in dem sich der Meister als
Schulbank wachruft. In attitüdengeschichtlicher Sicht ist Proj ektionsfläche für die intensivsten Idealisierungen sei tens
Moderne übrigens gleichbedeutend mit der Abhängigkeit des Schülers zur Verfügung stellt. Anders aber als in der ma-
vom Stuhl oder anderen Sitzmöbeln und eo ipso dem Aus- gnetistischen oder psychoanalytischen Situation, in der, den
sterben der Fertigkeit, auf dem Boden zu sitzen, ohne den gängigen Nüchternheitsnormen gemäß, langfristig an der
eigenen Körper als Last zu empfinden. Auflösung der idealisierenden Übertragung gearbeitet wird,
Die wirkliche Bedeutung des guru-zentrierten Lernmo- zielt die Guru-Antevasin-Beziehung nicht auf die Aufhebung,
dells besteht freilich nicht in den häuslich-gemütlichen Mo- sondern auf die abklärende Steigerung der Idealisierung - zu-
menten, die von ferne an die Lebensformen mittelalterlicher gleich eine identifikatorische Intensivierung, die bei orthodo-
Handwerkerhaushalte in Europa erinnern. Daher im übrigen xer und sachgerechter Durchführung bis ins überbildliehe,
auch die Androhung schrecklicher Folgen für den Schüler, präobjektive und präpersonale Register voranzutreiben ist.
der es sich einfallen lassen sollte, mit der Gattin des Meisters Aus der Sicht des Gurus gehen die idealisierenden Antizipa-
ein Verhältnis anzufangen - obschon dies nicht ganz so fern- tionen des Schülers nicht darin fehl, daß sie zu hoch ansetzen,
liegend schiene, da hier eine informelle Minne-Situation be- vielmehr ist der Schüler nur insofern zu einer Art von unent-
steht: hohe Dame, niederer Aspirant, auf engstem Raum behrlichem Irrtum verurteilt, da er noch nicht wissen kann,
durch ein starkes Tabu voneinander getrennt und aufeinander um wieviel das reale Ziel höher liegt, als seine träumerischen
aufmerksam gemacht. Ihr Sinn enthüllt sich erst, wenn man Vorwegnahmen zu vermuten imstande sind. Nichtsdestowe-
den psychodynamischen Aspekt des Meister-Schüler-Ver- niger ist die Identifikation die wichtigste affektive Ressource,
hältnisses in Betracht zieht: Es handelt sich hierbei ja um mit welcher die transformative Arbeit zu wirtschaften hat -
nicht weniger als einen Vertrag zur Regelung einer hyperbo- weswegen es zum Handwerk der Guru-Pädagogik gehört, das
lischen Transaktion. Sobald der Guru einen antevasin oder Feuer der Anfängerillusion so lange wie nötig am Brennen zu
ehela in sein Gefolge aufnimmt, hat er mit ihm implicite eine halten. Daß eine institutionalisierte Kunst des Unmöglichen
Art von Perfektionierungskontrakt geschlossen. Dieser be- nicht an den Maßstäben der westlichen Trivialontologie und
deutet ein zugleich metaphysisches und pragmatisches Bünd- der entsprechenden psychologischen Normalitätskonstrukte
nis mit dem Ziel, zumindest einige Schritte auf dem Weg zur zu messen sein kann, ist immerhin einsichtig.
real existierenden Unmöglichkeit voranzukommen, wenn Solche Hinweise auf die hyperbolische Dimension im Ver-
nicht gar das magnum opus als solches, die Vergöttlichung wandlungsvertrag zwischen Meistern und Schülern können
Il Überrreibungsverfahren 8 Meisterspiele 439
die Skepsis gegen die guru-zentrierte Form von Studien na- Biographie der letzten Jahrzehnte deutlicher beobachten als
turgemäß nicht entkräften. Es ist daher alles andere als zu- an der des indischen Erleuchtungspredigers und Sekten-
fällig, wenn ein großer Teil der westlichen, jedoch auch der gründers Bhagwan Shree Rajneesh, 1931-199°, alias Osho,
anschwellenden einheimischen Literatur über das Guru-Phä- der neben Ramana Maharshi, Jiddu Krishmamurti und Sri
nomen - nicht selten aus der Feder von irritierten Psychia- Aurobindo Gosh, seiner Umstrittenheit zum Trotz, die vierte
tern, engagierten Sozialpsychologen und nervösen Sektenbe- weltweit ausstrahlende Gestalt indischer Spiritualität im 20.
auftragten 92 - dem Problem der falschen Meister und des Jahrhundert darstellt. Seine Ausnahmestellung verrät sich vor
psychischen Mißbrauchs Abhängiger gewidmet ist. Ihre Ver- allem an der Übernahme westlicher Performance-Techniken
fasser postulieren durchwegs die Stärkung der Qualitätskon- in die überall sonst in frommer Routine versunkenen Formen
trolle für Produkte auf den Religionsmärkten. In ihren Augen spiritueller Unterweisung. Wie ein Duchamp des spirituellen
stellen sich die Dinge zumeist so dar, als sei im Gang der Feldes verwandelte er alle einschlägigen Traditionen in reli-
Globalisierung auch der spirituelle Weltmarkt in Umbruch gionstechnische Spielsachen und mystische Ready-mades.
geraten. So wie heute manche gefährlichen Erreger von den Für seine Luzidität sprach nicht zuletzt, daß er auf dem
Reiseerleichterungen des Weltverkehrs profitieren, können Höhepunkt des Erfolges sich selbst in ein Ready-made um-
auch die Meme des »Gotteswahns« sich leichter über die formte und sich mit klarem Gespür für den Umschwung des
Grenzen ihrer Ursprungs gebiete ausbreiten. Noch beunruhi- Zeitgeistes von seiner hinduisierenden Vergangenheit abstieß.
gender ist die Anmutung, die Psychose sei übermütig gewor- Allzusehr war diese, wie er noch rechtzeitig erkannte, an die
den und wolle sich von einer klassifizierten Krankheit in eine Mentalitätswelle der europäisch-amerikanischen Nach-68er-
mißverstandene Form von Fitness umtaufen lassen. Am Romantik gebunden gewesen. Indem er 1989 den japanisie-
provozierendsten freilich ist die Epidemie des mystischen renden Namen Osho annahm - »the joke is over« -, griff er
Amoralismus, die sich aufgrund der Missionserfolge hindui- geistesgegenwärtig die neuere neoliberal-buddhophile Stim-
sierender Meister in der allzu aufnahmebereiten westlichen mung im Westen auf und erfand für sich ein zukunftsträchti-
Hemisphäre auszubreiten begann. Der Virus, der sich seither geres Label. Mit dieser Geste setzte er ein Zeichen, wonach
in entsprechend disponierten Klienten eingenistet hat, be- nun auch auf dem Gebiet der guru-zentrierten Anthropo-
steht in der gefährlichen Einsicht, daß Gewissenlosigkeit techniken das Zeitalter des Re-Branding begonnen hat.
und Erleuchtung unter einem bestimmten Blickwinkel gese-
hen identisch sind.
Die Wahrheit ist wohl: Auch die Welt der Erleuchtungs- Der buddhistische Meister
spiele ist von der Mediatisierung erfaßt worden, und das Auf-
treten von Performance-Talenten unter den Lehrern der Was die buddhistischen Ausprägungen des Lehrerbildes an-
wohltemperierten Unmöglichkeit konnte unmöglich lange geht, so nehmen sie an zwei evolutionären Umschwüngen
ausbleiben. Dieser Umschwung ließ sich an keiner Guru- teil, die den Sinn der Lehre profund modifizieren: in antiker
Zeit schon an dem Akzentwechsel von der elitären Selbst-
92 Auch spöttische Journalisten fehlen nicht: vgl. Gita Mehta, Karma erlösungskunst des Hinayana (Kleines Fahrzeug) zum barm-
Cola: Marketing the Mystic East, New York 1994. herzigen Populismus des Mahayana (Großes Fahrzeug); in
II Überrreibungsverfahren 8 Meisterspiele

Jungerer Zeit an der epochalen Umstimmung von einer Wenn die buddhistischen Trainer, die Vorsteher der Klöster
Grundhaltung der radikalen Welt- und Lebensverneinung und die Berater von Hilfesuchenden von ferne gesehen nur
zu der einer prinzipiellen Welt- und Lebensbejahung. Die die Fortsetzung des Guru-Wesens mit geringfügig anderen
wichtigste Information über das Profil des ersten Lehrers Mitteln zu verkörpern schienen, so zeigt sich doch bei nähe-
auf dem Pfad der neuen Lehre stammt wohl aus der Erleuch- rer Betrachtung, daß sie in vielen Punkten dessen Gegenteil
tungslegende selbst, wie sie in einer ceylonesischen Redak- darstellten. Sie betreten die Bühne der Geistesgeschichte als
tion erzählt wird: Hiernach habe der Erwachte sieben Tage eine Bewegung von Therapeuten, denen es, ihrer heilenden
schweigend und von allem unangerührt unter dem Bodhi- Mission gemäß, nicht so sehr um die Übermittlung einer re-
Baum ausgeharrt, »das selige Gefühl des Erwachens nach- ligiösen Doktrin, einer esoterischen Weltanschauung oder ei-
empfindend«, habe sich dann erhoben, um sich unter einem ner mystischen Visionskunst zu tun ist. Was sie im Sinn haben,
anderen Baum für weitere sieben Tage in seine Loslösung zu ist allein die Aufhebung der Bedingungen des Leidens - re-
versenken, und dasselbe noch einmal unter einem dritten solut mit der eigenen Verstrickung in die leiderzeugenden
Baum. Die Botschaft der Erzählung ist unmißverständlich: mentalen Prozesse beginnend. Indem sie das seit 500 vor
Was hier geschehen ist, liegt jenseits aller Lehrbarkeit. Zu Christus in ganz Nordindien vorherrschende Erlösungsmotiv
einem solchem Ziel führt kein beschilderbarer Weg, das Er- auf die Spitze treiben, unterwandern sie, den Zeitgeist ganz
eignis hat den Versuch, es zu erzeugen, überholt. Zwischen auf ihrer Seite verspürend, die kastenmäßigen Grundlagen des
Wahrheit und Methode ist das Band zerrissen. Brahmanismus und dessen metaphysischen »Überbau «. Nur
Nichtsdestoweniger knüpft sich an diese Episode und an hinsichtlich der zivilisatorischen Haupttendenz, die zu pro-
den späteren Entschluß des Buddha, als Lehrer wirksam zu gressiver Verinnerlichung und Subtilisierung des Opfers
werden, das verzweigteste scholastische Phänomen der Zivi- strebt, kann der Buddhismus auch als evolutionäre Entfaltung
lisationsgeschichte. Die Lehre erwächst aus dem paradoxen spätbrahmanischer Potentiale angesehen werden. Wenn es in
Akt eines Schweigenbrechens im vollen Bewußtsein der Tat- älterer Zeit stets um die Gleichung von Mensch und Opfer
sache, daß die gesprochenen Worte nie bloß bei ihrem pro- ging,93 so wird das Opfer jetzt ganz ins Innere verlegt - in
positionalen Wert genommen werden dürfen, sondern über- letzter Instanz werden sich die Dinge so darstellen, als sei gar
wiegend als therapeutische Direktiven zu gelten haben. Die nichts geopfert worden: Denn wenn der Mensch seine An-
Sätze des geistlichen Lehrers sind »indirekte Mitteilungen« haftungen preisgibt, trennt er sich von etwas, das ohnehin zu
von eher hygienischer als dogmatischer Tendenz. Mit einer keiner Zeit sein substantieller Besitz war. Man könnte hierin
Ausgangsparadoxie von solcher Mächtigkeit ausgestattet, hat eine Verinnerlichung des herkömmlichen asketischen Nudis-
der Buddhismus sich, indem er die Saaten des Unmitteilbaren mus sehen, bei der nicht der Körper im Luftkleid umhergeht,
ausstreuen wollte, zu einer der redefreudigsten Strömungen wie die digambara es praktizierten, sondern die Seele, die als
der spirituellen Weltkultur entfaltet. Nacktgehende paradox ihr Nicht-Sein enthüllt.
In seinem ersten halbenJ ahrtausend bleibt er, was er seinen Freilich erliegen nicht wenige von Buddhas Schülern
Anfangsbedingungen gemäß allein sein konnte - eine Ange-
93 Vgl. hierzu das Kapitel: Das Heil der Identifikati onen, in: Axel
legenheit für die Wenigen, die gleichwohl unter indischen Michaels, D er Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München
und hinterindischen Bedingungen zahlreich werden mußten. 199 8, S. 357-377.

,
........
44 2 Il Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 443
schon wenige Generationen nach seinem Tod dem massivsten Um schematisch zu sprechen, könnte man sagen, der Guru
Fetischismus hinsichtlich der Auslegung der Mönchsregel - initiiert den Schüler in die einfach kontraintuitive Wahrheit,
die erste größere Schulspaltung vollzog sich bekanntlich un- wonach das große Selbst der Welt und das kleine Ich-Selbst
ter anderem anläßlich einer erbitterten Debatte zwischen identisch sind - eine Erkenntnis, die zweifelsohne intensive
Klostervorstehern über Fragen wie: üb ein Mönch Salz in Modifikationen auf der Seite des Lernenden zur Vorauset-
einem Büffelhorn aufbewahren darf - was einem Verstoß ge- zung hat. Hingegen steht der buddhistische Lehrer vor der
gen die Aufbewahrungsregel für Lebensmittel gleichkam - Schwierigkeit, dem Schüler eine doppelt kontraintuitive
oder ob die Schlafmatte des Mönchs Fransen haben darf - Wahrheit plausibel zu machen: die Identität von Welt-
was im Fall einer positiven Antwort die Regel hinsichtlich Nicht-Selbst und privatem Nicht-Selbst. Der Vollzug dieser
der Mattengröße verletzt hätte. 94 Auch Streitfragen philoso- Gleichung ist gleichbedeutend mit der Erleuchtung more
phischer Art gaben zu Schulspaltungen Anlaß, so daß schon buddhistico. Ihrer Natur gemäß erfordert sie eine Art von
wenige Jahrhunderte nach dem Ableben des Meisters die be- Unterricht, bei dem die Schüler ständig auf die selbstbezüg-
kannten achtzehn »Klassischen Schulen« Konturen annah- liche Struktur ihrer Suche zurückgeworfen werden. Sie haben
men' eine jede von ihnen aufgegliedert in zahlreiche Unter- zu lernen, das befreiende Nichts in sich selbst zu finden,
gruppierungen und sektiererische Ränder, die sich gemäß den sodann auch die Welt als ein Nichts zu durchschauen und
universellen Gesetzen des Narzißmus der kleinsten Differenz schließlich die beiden Nichtse als ein und dasselbe zu erken-
aneinander abarbeiteten. nen. Jede Begegnung soll ihnen Gelegenheit zu einem Ab-
Ich beschränke mich hier allein auf die Frage nach der Art schied sein. Wo andere sich niederlassen und sammeln, sol-
und Weise, wie buddhistische Meister und Schüler ihre Ver- len sie lernen, wegzugeben und weiterzugehen. Daher der
träge über das Unmögliche handhaben. Grundsätzlich kehren abundante Gebrauch von Paradoxien, den man bei vielen
hier alle Motive wieder, die wir von der Beziehung des Guru buddhistischen Lehrern beobachtet. Wenn religiöse Ortho-
zu seinem Jünger her kennen, verkompliziert durch den Ne- doxien sich ex officio an der Entparadoxierung und Vernünf-
gativitätszuwachs, der die buddhistische Lehre gegenüber der tigmachung ihrer Lehre interessiert zeigen - jüngstes Beispiel
brahmanischen auszeichnet. Während der Guru über weite die vielbeachtete Regensburger Rede von Benedikt XVI. -,
Strecken als Komplice der Projektion des Schülers agieren erkennt man die buddhistische Unterweisung - soweit sie
kann, obliegt dem buddhistischen Lehrer die Aufgabe, die nicht ihrerseits religoid korrumpiert ist - häufig an ihrem
Projektion von seiner Person abzulenken und sie auf das Bemühen, ihren paradoxen Charakter bis an die Grenze des
Dharma, die Heilslehre, umzuleiten, wie es der Lehre vom Selbstdementis hervorzukehren, nicht selten bis an den
Nicht-Selbst entspricht. Die Erfüllung des Unmöglichkeits- Punkt, an dem das Dharma als bloße Luftspiegelung bezeich-
kontrakts wird hier um eine Dimension abgründiger, weil das net wird. 9 5 Die verbalen Paradoxien sind allesamt Projektio-
schulische Pensum von den Adepten einen noch tieferen nen des asketischen Basisparadoxons, mittels dessen man
Bruch mit ihren volksontologischen Intuitionen fordert.
95 Vgl. die Sammlung von Aussprüchen von Kodo Sawaki (18 80-
1965), eines der markantesten Zen-Meister der jüngeren Zeit, unter
94 Vgl. Michael von Brück, Einführung in den Buddhismus, Frankfurt dem Titel: Zen ist di e größte Lüge aller Zeiten, Frankfurt am M ain
am Main 2007, S. 188- 189_ 2°°5·
444 Il Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 445

dem Adepten die Botschaft vermittelt, es sei gar »nichts zu buddhistischen Traditionen kennt. In ihr wird die Wesens-
erlangen« - um das zu begreifen, müsse er aber zunächst drei gleichheit zwischen der Selbstlosigkeit der Welt und der Ab-
mal zehn Jahre meditierend sitzen, am besten vierzehn Stun- wesenheit einer substantiellen Seele im Individuum »reali-
den am Tag. siert«.
Neben dem Paradoxon dürfte die Tautologie das markan- An beiden Mustern hat die jüngere Analyse nun etwas
teste Stilmittel des jüngeren Buddhismus sein, insbesondere Entscheidendes auszusetzen: An der ersten Variante ist zu
in seinen japanischen Ausprägungen, die dem zeitgenössi- beanstanden, daß sie der Welt mehr Intelligenz und Seele
schen Individualismus des Westens weit entgegenkommen- unterstellt, als ihr zukommt. Was die anorganische Sphäre
vermutlich jedoch nur, weil wir dazu neigen, die Tautologien angeht, wird man ihre Teilhabe an psychischen und geistigen
unseres Positivismus mit denen des Negativismus in der Leh- Vermögen sehr zurückhaltend beurteilen. Aber auch die or-
re vom Nicht-Selbst zu verwechseln. Daß eine Rose eine ganische Welt ist, nach allem, was man von ihr zu sehen be-
Rose ist: das zelebriert im okzidentalen Kontext die Einwer- kommt, eher ein Schlachtfeld von konfus verteilten Lebens-
tigkeit, man könnte auch sagen: die Idiotie des Seins, in der willenspunkten als ein vernunftvoll beseeltes Totum. Wenn
sich der Intellekt ausruht. Daß diese Kirschblüte da diese man ihr so etwas wie eine umfassende Beseelung zusprechen
Kirschblüte ist, bedeutet hingegen, daß eine Gestalt des konnte, so nur kraft einer durchschaubaren Projektion. Diese
schwachen Nichts, eine rosa Vergänglichkeit, in diesem Au- geschah, indem man von der selbstevidenten Beseeltheit der
genblick ein vergängliches Auge streift, eine andere Gestalt animalisch-noetischen Sphäre bei Mensch und Tier ein Dar-
des schwachen Nichts, beide vor den Hintergrund des star- lehen nahm und dieses, im Imaginären mit dem Wert »unend-
ken Nichts gesetzt. lich« multipliziert, an das Weltganze auslieh. In dieser Hin-
sicht sind das alte Indien und Alteuropa Bündnispartner, die
sich untereinander blind verstehen: Sie wollen beide in puncto
Intermezzo: Kritik der Erleuchtung Seele seit jeher zuviel, und sie stürzen sich in tolle Unkosten,
um die willkommene Verwechslung von Totalität und All-
Ich darf in Parenthese anmerken, warum der Begriff der Er- Beseeltheit am Leben zu halten. Auf der anderen Seite sieht
leuchtung für die Philosophen der europäischen Moderne man, wie der Buddhismus, von der teilweise plausiblen
seinen Sinn verloren hat. In typologischer Sicht sind bislang Selbst- und Seelenlosigkeit der Weltmaschine ausgehend,
nur zwei philosophisch beachtliche Typen von Erleuchtung die ihm dank seiner nüchternen Sicht auf das Spiel der Zu-
bekanntgeworden: Auf der einen Seite die Erleuchtung des sammensetzungen und Auflösungen für eine ausgemachte
»substanz«- bzw. geist-ontologischen Typs, wie sie in den Tatsache gilt, die Selbst- und Seelenlosigkeit des menschli-
hinduistischen Systemen sowie im Platonismus und seinen chen Inneren postuliert. Dies sieht nach einem komplemen-
christlichen Derivaten vorliegt: Hier wird die Gleichsetzung tären Fehlschluß aus: Wie man im ersten Fall beim mensch-
zwischen der Allseele und der Einzelseele bzw. zwischen dem lichen Selbsterlebnis Seele borgte, um sie ohne ausreichende
unendlichen und dem endlichen Intellekt mehr oder weniger Sicherheiten an den »Kosmos« auszuleihen, borgt man im
gründlich vollzogen. Auf der anderen Seite begegnet uns die zweiten Fall bei der »äußeren« Welt Nichtselbsthaftigkeit,
Erleuchtung des nirvanologischen Typs, wie man sie aus den um sie aufs menschliche Selbstverhältnis zu übertragen, auf
II Übertreibungsverfahren 8 Meisrerspiele 447
die Gefahr hin, dessen kostbarste Eigenart, die endliche Be- die Caritas von der ganzen menschlichen Person Besitz ergrei-
seeltheit, zu verfehlen und sie zu Spekulationen zu verleiten, fen. Was den größten Performance-Künstler des hohen Mit-
bei denen sie nur verlieren kann - sofern nicht Gewinne an telalters, F ranz von Assisi, auszeichnete, war seine Entschlos-
anderer Stelle, etwa hohe ethische Sensibilisierungen, die Ver- senheit, die beiden Extreme der imitatio in seiner Person zu
luste kompensieren. Ich schließe diese Digression mit der vereinigen, was nur durch die Gleichsetzung des Lebens in
Bemerkung: Für eine zeitgenössische philosophische Psy- völliger Armut mit dem Märtyrer-Agon zu erzielen war.96
chologie scheint nur der mittlere Weg noch offen, gleich weit Die allgemeine Form des christlichen lmitatio-Kontrakts
entfernt von der hinduistischen und platonischen Überbesee- ist in der Wahl der apostolischen Existenz als solcher zu se-
lung wie von der buddhistischen Über-Nichtbeseelung. Da- hen, die stets auf einer Art von Subjektwechsel aufbaut. Des-
her rät sie vom Sprung ins Sein ebenso ab wie vom Sprung ins sen Schema hat Paulus in dem Spruch aus Galater 2,20: »Ich
Nichts. Statt für das Selbstopfer nach der einen oder anderen lebe, nun aber nicht ich, sondern lebt Christus in mir« vor-
Seite zu werben, plädiert sie für die Verbindung von Anstren- gegeben. Dadurch wird die imitatio als ein Zwei-Seiten-Ver-
gung und Selbsterfahrung. Aus dieser Allianz entspringen die hältnis ausgewiesen, in dem sich eine imitatio subiectiva und
Wege zur Steigerung und Verwandlung, auf denen die Mo- eine imitatio obiectiva unterscheiden lassen. Mittels der sub-
dernen ihre Optimierungen suchen. jektiven Nachahmung bezieht sich der Nachahmer auf Chri-
stus selbst bzw. auf einen Christusnachahmer ersten Grades,
etwa einen Märtyrer oder einen wundermächtigen Heiligen.
Der Apostel Indem er Unnachahmliche nachahmt, kann der christliche
Eiferer selber Objekt von Nachahmung durch Dritte werden.
Vor solchem Hintergrund läßt sich die dritte Figur des spiri- Auf der Position des nachahmlichen Nachahmers folgt er
tuellen Trainerwesens, die für die christliche Transmission des dem Ruf zur Vorbildlichkeit und ordnet die eigene Existenz
Unmöglichen auf immer neue Generationen von Adepten ver- dem Formgesetz des exemplarischen Lebens unter. In diesem
antwortlich zeichnet, ohne größeren Aufwand verständlich Sinn zitiert Eugippus in seiner Einleitung zur Vita Sancti
machen. Ihre Grundform ist die der apostolischen Sukzession, Severini, des Heiligen von Mautern bei Krems an der Donau
innerhalb welcher die als »Glauben« codierte Kunst der Un- aus dem 5. Jahrhundert, das Wort des Petrus an seine Diako-
sterblichkeit weitergegeben wird. Wie oben am Beispiel des ne: »Ihr sollt Vorbild für die Herde sein« (jorma estote gregi )
Paulus illustriert wurde, ist hierzu keine Erleuchtung voraus- ebenso wie das Pauluswort an Timotheus: »Du sollst Vorbild
zusetzen, es genügt die Resultierende aus Ergriffenheit und für die Gläubigen sein« (jorma esto fidelibus) - die griechi-
Engagement. Die bei den Höchstformen der imitatio Christi schen Originale haben hier an Stelle von forma den Ausdruck
sind einerseits das Martyrium, das von seinen Beobachtern als typos. Der christliche Lehrer ist folglich dazu bestimmt, nicht
direkter Übergang in das Reich Gottes verstanden wurde nur selbst ein Nachahmer Christi zu sein, sondern auch die
(weswegen nach einzelnen Autoren die Märtyrer von jeder Position des Nachahmbaren einzunehmen und sich den Ge-
Art eventueller Nachläuterung im Jenseits ausgenommen wä- meinden als »Formant«, als prägender »Typus«, zur Verfü-
ren), andererseits die christomorphe Verwandlung des Men-
schen, die bis an den Punkt führen soll, an dem der Logos und
II Übertreibungsverfahren 8 Meisrerspiele 449
gung zu stellen. Daher das Diktum: Christ ist, wer andere zu logischen Aufstiege über die physische Welt, als Vertreter des
Christen macht. Die säkularen Abzüge von diesem Klischee dritten Typs zur Seite zu stellen. Hadot verdanken wir auch
führen zu den Thesen, gebildet sei nur, wer andere zur Bil- eine klare Rekonstruktion des sokratischen Verfahrens als
dung anleitet, und aufgeklärt sei allein, wer Aufklärung ver- Verführung im Dienste des Ideals: Indem der Meister mit
breitet. Dank der zweiseitigen imitatio nimmt die apostoli- verantwortbarer Ironie so tut, als liebe er den Schüler, ge-
sche Sukzession die Form eines Pyramidenspiels an, in dem winnt er dessen Gegenliebe - und lenkt diese sodann von
jeder Teilnehmer zugleich Nachahmender und Nachgeahm- seiner Person auf die Weisheit als solche um. 98 Er selbst kann
ter ist, die einfachen Gläubigen an der Basis ausgenommen, ausschließlich »aufwärts« lieben und möchte diese Art des
die nur nachahmen, ohne nachgeahmt zu werden - ihr Vor- Liebens als die allein wahrheitsgemäße lehren. Während die
recht ist es, die Fortgeschrittenen durch materielle Zuwen- Schüler mit dem Meister trainieren, trainiert der Meister mit
dungen zu fundieren. Sie sind naturgemäß am weitesten von dem agathon. Indem er die Liebe zur Liebe des Unbedingten
der Spitze der Pyramide entfernt, wo sich die Fortgeschritte- vermittelt, gleicht er von ferne gewissen Psychoanalytikern,
nen in der Kunst des Unmöglichen drängen. Unter diesen die ihre Patienten weltimmanent zu ihrer verrückten Liebe
findet man neben den deklarierten Heiligen und Wundertä- befreien möchten. Daher: »Liebe dein Symptom wie dich
tern auch den »Typus « des Abtes, von dem es in der Bene- selbst«99 und: »Niemals von seinem Begehren zurückwei-
diktusregel heißt, er habe die Aufgabe der Menschenführung chen« (Lacan). Die erotische imitatio philosophi konnte nur
(animas regere) übernommen und müsse eines Tages in in dem Maß angeregt werden, wie der Meister einen hinrei-
Furcht und Zittern für seine Schutzbefohlenen Rechenschaft chend eindrucksvollen typos des philosophischen Lebens dar-
ablegen. Die Staatskunst des Klosterführers bestehe darin, stellte. In diesem Sinn dürfte man von der Geburt der Philo-
zur richtigen Zeit das Richtige zu tun, das heißt: die Schmei- sophie aus dem Geist der Performance sprechen -der Tod des
chelei mit dem Schrecken und die Strenge des Herrn mit der Sokrates bestätigt diese Diagnose vollkommen.l oo Während
Güte des Vaters zu verbinden. 97 aber die moderne ästhetische Performance in der Regel so
selbstbezüglich wie folgenlos bleibt und die Nachahmung
kaum ermutigt, 101 ist die klassische ganz auf Exemplarität
Der Philosoph angelegt. Noch Nietzsche konnte sagen, ein Meister nehme
sich selbst nur in bezug auf seine Schüler ernst.
Werfen wir nun einen Blick auf die vierte Trainerfigur unserer
Liste, die durch den Philosophen repräsentiert wird, so fällt 98 Pierre Hadot, La figure de Socrate, in: Exercises spiritueIs et
philosophie antique, deuxieme edition revue et augmentee, Paris
sofort ihre Zersplitterung in den erotischen, den statuarischen
1987, S. 77-116.
und den gnostischen Typus ins Auge. Wie Pierre Hadot sehr 99 Slavoj Ziiek, Liebe dein Symptom wie dich selbst! : Jacques La-
sehön gezeigt hat, verkörpert Sokrates den ersten, Mare Aurel cans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991.
den zweiten - diesen wäre allenfalls Platin, der Meister der roo Siehe oben S. 3 I 5.
[01 Als zeitgenössische Ausnahme wäre der sokratische Perfor-
mance-Philosoph Bazon Brack zu nennen; vgl. P. SI., Der Jahr-
97 Regula Benedicti 2, 24: miscens temporibus tempora, terroribus hundertmensch, in: Bazon Brack, Lustmarsch durchs Theoriege-
blandimenta, dirum magistri, pium patris ostendat affectum. lände. Musealisiert Euch! Köln 2008, S. 6-24.
45° II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 451

Noch deutlicher treten die Konturen der philosophischen


Mimesis bei den statuarischen Philosophen ans Licht, die sich Der Sophist als universaler Könner
großteils der stoischen Richtung zurechnen - Seneca nennt
sie üblicherweise einfach »die Unseren«. Sie verkörpern den Es mag befremdlich scheinen, wenn in dieser summarischen
Typus von praktischer Philosophie antiken Stils, der beim Übersicht über Trainerfiguren im Feld des Unmäglichkeits-
Publikum den tiefsten Eindruck hinterließ: das Charakter- elans an letzter Stelle auch die Gestalt des Sophisten zur Spra-
bild des asketischen Weisen, der vor dem Hintergrund einer che kommen soll. Diese Irritation ist leicht zu beheben, so-
Ontologie der Weltgöttlichkeit an der Gleichung von Leben- bald man sich vergegenwärtigt, daß die Sophisten, geht man
und Sterbenkönnen arbeitet. Im Stoizismus war es schließlich von ihrer Leistung und von ihrem Selbstverständnis aus, kei-
auch, wo dank der metaphorischen Gleichsetzung von phi- neswegs nur die intellektuellen Leichtgewichte gewesen sind,
losophischer Sorge um sich und bildhauerischer Arbeit an der als welche sie in der platonischen Gegenpropaganda erschei-
inneren Statue ein regelrechtes Trainingsbewußtsein ent- nen sollten. Setzt man die Karikaturen beiseite, so zeigt sich,
stand. I D2 Seneca nimmt die Erfolge dieser Arbeit nicht bloß daß die Sophistik ihrem Wesen nach eine Artistik des Wis-
für seine eigene Person in Anspruch, er reklamiert zugleich, sens, ja sogar eine Kunstlehre des Alles-Könnens und Alles-
nur halb humoristisch, ein Urheberrecht an den geistigen Wissens gewesen ist, ohne die sich die Attraktivität der phi-
Fortschritten seines Schülers, ja, er sagt ihm ins Gesicht: me- losophischen Lebensform für die Menschen der Antike nicht
um opus es, »du bist mein Werk«.!03 Darum mache der Schü- ohne weiteres erklären ließe. So widersprüchlich es klingen
ler nichts falsch, wenn er sich selbst dem Lehrer als »großes mag: Indem sie auf ihre Weise das Unmögliche lehrbar ma-
Geschenk« (ingens munus)!04 offeriere. Zugleich erinnert er chen wollte - weit über das sokratisch-platonische Verspre-
den Schüler an den Grundsatz, die Lehrer seien nicht unsere chen hinaus, die Tugend (arete) schulisch einzufangen -, hat
Herren, sondern Führer (non domini nostri sed duces).!05 An sie, was die westliche Überlieferung angeht, die erste umfas-
der Notwendigkeit, bei einem Meister zu studieren, lassen die sende Trainingswissenschaft im engeren Sinn des Worts her-
stoischen Dozenten kaum je einen Zweifel, obschon bei ih- vorgebracht. Dies tat sie, indem sie die prozeßhafte Seite von
nen - man denke an Marc Aurels An mich selbst - die Ansätze Erziehung (paideia) und Lehre (didaskalia) durchwegs auf
zur Verinnerlichung des Meisterprinzips mit Händen zu grei- die Form des Trainings (dskesis und me/ire) bezog. Damit
fen sind.! 06 Hieran können die moderneren Schulen anschlie- verwies sie energisch auf ein Fortschrittsprinzip: auf die
ßen, die den äußeren Meister bloß zu einem vorübergehenden Allmählichkeit der Leistungssteigerungen und das so un-
Ergänzer des inneren erklären. merkliche wie effektvolle Hineinwachsen in den unwahr-
scheinlicheren Habitus. Weil das Lernen für sie mehr ein Ge-
102 Pierre Hadot, La citadelle interieure. Introduction aux Pensees de prägtwerden durch Umgang und repetitive Übung als ein
Mare Aurele. Paris 1992. aktives mentales Ergreifen der Stoffe bedeutet, haben die So-
103 Epistolae morales ad Lucilium, 34. Brief. phisten wohl als erste den Akzent auf die Früherziehung ge-
1°4 Ibid., S. 194.
105 Ibid., S. 190.
setzt, um die Naturalisierung des Unwahrscheinlichen von
106 Die gleiche Tendenz tritt 1ll manchen jüngeren Schulen des Kindertagen an sicherzustellen.
Buddhismus auf. Alles Können wird damit in einen Tüchtigkeitszirkel ge-
452 II Überrreibungsverfahren 8 Meisterspiele 453
bannt: Man tut nur, was man kann, und man kann nur, was Übung allein nicht vorweggenommen werden kann, die si-
man ständig wiederholt. Bei dieser rein »hexischen«, das tuativen Unwägbarkeiten, lauscht der wahre Könner dem
heißt auf aktive Gewohnheitsbildung abgestellten Analyse Geist des Augenblicks (kair6s) ab, und selbst dieses Balancie-
bleibt allerdings das Agens der Steigerung in der Wiederho- ren auf der Spitze des günstigen Moments ist in Grenzen
lungspraxis, das erst in jüngster Zeit aufgedeckte Netzwerk trainierbar.
neurorhetorischer Regeln, verborgen und wird nur implicite Hierdurch geht die sophistische Erziehung auf ihre Weise
in Anspruch genommen. Bis auf weiteres ist alle Didaktik in über die Physis hinaus - ihr Konzept von »Metaphysik« ist
der Mahnung: Üben, üben, üben! enthalten - ein Slogan, der unmißverständlich als Artistik aufzufassen. Die sophistische
noch in Lenins »lernen, lernen und noch mal lernen« nach- Artistik formuliert die existentielle Antithese zur Hilflosig-
klingt und auf den selbst das sublime toujours travailler Ro- keit. Die Heranbildung von Nie-Hilflosen bildet das Ziel
dins von ferne antwortet. Die sophistische Theorie kann dar- aller paideia nach solchem Muster. Nichts kommt dem prak-
um ihrerseits nur übende Praxis des Denkens und Vorstellens tischen Ideal des Polis-Bürgers und mehr noch des Polis-
sein. Das Paradigma eines Könnens, das ohne Rest in stetige Politikers so nahe wie der Entwurf eines Menschen, der im-
Übung eingebettet ist, liefert die Muttersprache, die wir nicht mer im Training ist und sich in jeder Lage zu helfen weiß. Aus
beherrschten, wären wir nicht immer schon in einen schein- diesem Grund schauen wir, wenn wir richtig hinsehen, auch
bar selbstverständlichen, in Wahrheit durchaus mirakulösen immer gern den Circus-Artisten zu: Sie verbreiten die frohe
Zirkel aus Können und Anwenden, Üben und Bessern ein- Botschaft von der unbesieglichen Beweglichkeit des Kör-
bezogen. An ihr läßt sich das Wunder illustrieren, das hier pers - und aus demselben Grund geht eine gut gebaute und
zum Schulfach werden soll: Zwar reden alle immer schon effektvoll vorgetragene Rede uns immer etwas an. Sie erinnert
irgendwie, doch nur der Sophist redet auf der Höhe seiner uns an das Menschenmögliche aus nächster Nähe. Wo der
Kunst wie niemand sonst - über alles, in jeder Lage, immer untrainierte Mensch in seiner Unbemitteltheit verstummt,
gut und meistens siegreich. Darum gilt es, durch stetiges zeigt der sophistische Lehrer dem Erzogenen, wie er die
Üben mit dem richtigen Lehrer inmitten der Muttersprache Worte findet, mit denen er in jeder Situation das Leiden an
zur All-Sprache aufzusteigen. der amechania, der Unbemitteltheit und Ratlosigkeit, über-
Die Pointe des sophistischen Lernmodells zeigt sich darin, windet. lo7
wie der Sophist den Sprung von der Sprachkompetenz zur Sosehr auch diese Erziehung den Akzent auf das allmäh-
allgemeinen Lebenskompetenz, ja zur angewandten Allwis- liche Hineinwachsen in die artistische Überlegenheit über
senheit vollzieht. Indem der Sophistenzögling ständig mit jede Herausforderung setzt, so sehr ist sie zugleich eine per-
einem Artisten des Könnens überhaupt, dem Rede- und Le- formative, ja theatralische Größe. Das verrät sich nirgendwo
be-Meister seiner Schule, zusammen ist, der insofern alles deutlicher als in einer Anekdote über Gorgias: Dieser soll
weiß, als er über alles redet, ja insgesamt alles kann, was eines Tages in das voll besetzte Theater von Athen gekommen
zum höheren Lebenkönnen gehört, färbt die Übung des AI-
107 Zu dem Komplex sophistischer paidela als Heranbildung zu uni-
leskönnens zunehmend auf den Adepten ab, bis auch er so-
versaler Kännerschaft vgl. Thomas Buchheim, Die Sophistik als
weit ist, als ein pantechnisch durchgeformter Alleswisser und Avantgarde des normalen Lebens, Hamburg 1968, S. 108-127;
Alleskönner ins öffentliche Leben zu treten. Was durch die zum sophistischen Umgang mit dem Kairos dort S. 82f.
454 II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 455
sein, bereit, eine beliebige Rede zu improvisieren, und dem Ich schließe diese Beobachtungen mit dem Hinweis, daß die
Publikum tollkühn zugerufen haben: »Stellt mir irgendein sophistische Idee der AJleskönnerschaft im 20. Jahrhundert
Thema!« (probdllete)108 Was dieser Auftritt bedeutete, ver- eine unerwartete Auferstehung erlebte - und zwar in Gestalt
steht, wer sich klarmacht, daß Gorgias hier zwar äußerst der von Jacques Derrida entwickelten Dekonstruktion. Diese
selbstbewußt, jedoch in keiner Weise unangemessen agierte, stellt ihrem Grundverfahren zufolge nichts anderes dar als
da er tatsächlich bereit und fähig war, in jeder Lebenslage eine eine Wiederherstellung des sophistischen Allwissens unter
Probe seines pansophischen und panrhetorischen Könnens der Form des Allkommentars bzw. der immanenten Allwi-
zu geben. Mit einer ähnlichen Geste traten bis zum Ende derlegung. Bekanntlich hatte der Schlüssel zur sophistischen
des 18. Jahrhunderts manche Pianisten vor ihr Publikum, Allwissenheitskunst in dem Kunststück (mechane) bestan-
um wie Sophisten am Klavier über beliebige »Themen« Spon- den, immer die anderen Redner mit einer These, einer aus-
tandissertationen in Tönen abzufassen - in diesem Sinn war gearbeiteten Rede, ja einer ganzen Theorie in Vorleistung
der junge Mozart einer der großen Sophisten der Musikge- gehen zu lassen und daraufhin die Technik des Widerspre-
schichte, immerhin einer, der sich seine Themen überwiegend chens (antiLegein) einzusetzen - dies war, wie Platon zeigte,
selbst zurief, sofern er den Zuruf nicht den Librettisten über- auch das Verfahren des Sokrates gewesen. Das antiLegein geht
ließ. Auch Franz Liszt, der Erfinder des Solo-Klavierkon- von der durch die Vorlage schon gesicherten, obschon oft nur
zerts (1839), ließ es sich noch nicht nehmen, vor großem Pu- von ihr geborgten Basis des Gleich-gut-Wissens aus, um un-
blikum über spontan aufgegriffene Themen zu improvisieren. mittelbar zur Ebene des Besser-Wissens aufzusteigen. Dieses
Daß bei den Piano-Sophisten das Lernen restlos in die Praxis ist immer leicht gewonnen, wenn man bedenkt, wie einfach
des Übens eingebettet sein mußte, ergab sich aus der Natur der Nachweis unweigerlich vorhandener Schwachstellen im
ihres Metiers und der Art seiner Ausübung. 109 Was die Magie Vortext zu führen ist - solche Stellen findet man selbst in
des von den Sophisten gepflegten pansophischen und pan- Meisterdiskursen quasi mühelos, wenn man an die Selektio-
technischen Habitus angeht, so reichte sie sehr viel weiter, nen erinnert, auf denen jede entschiedene These aufbaut. In
als man nach Platons Abwehrschlachten gegen die sophisti- der Person von Derrida, so scheint es, haben Gorgias, der
sche Herausforderung zu glauben geneigt ist. Es war niemand Allwissende, und Sokrates, der Allnichtwissende, wieder zu-
Geringerer als Aristoteles, der den Prätentionen der Sophi- sammengefunden, um eine neo-akrobatische Form von so-
sten Ehre erwies, indem er mit deren Anspruch, zu allem phistischer Wissenskunst bzw. eine fortwährend zu übende
etwas zu sagen, buchstäblich ernst machte - hierin viel eher und nur in der Übung existente philosophistische Sophistik
ein Nachahmer des Gorgias als Platons. Seinen Tribut an den aus der Taufe zu heben. Daß eine neue akademische Reaktion
eigenen Lehrer entrichtete er, indem er den panrhetorischen sich hiergegen zur Wehr setzen wird, ist so gut wie sicher.
durch den panepistemischen Habitus ersetzte.

Der profane Trainer: Der Mann, der will, daß ich will
108 Ibid., S. II 4.
J 09 Über die Geschichte des Klavierabends und seine zunehmende
Sterilisierung vgl. Kenneth Hamilton, After the Golden Age: Von der Figur des noblen Sophisten - die ich aus den angege-
Romantic Pianism and Modern Performance, Oxford 2007. benen Gründen näher bei den spirituell-artistischen als bei
II Übertreibungsverfahren

den pragmatischen Lehrern plazieren wollte - ist der Weg zur


zweiten Gruppe von Trainern nicht mehr weit. Hier soll in
Kürze von solchen Lehrern die Rede sein, die es mit der
8 Meisterspiele

etwas wollen soll, was zwar nicht ganz unmöglich, aber doch
wenig wahrscheinlich ist: eine nie unterbrochene Folge von
Siegen.
111
Notieren wir die sprachgeschichtliche Merkwür-
457
l
Weitergabe von spezielleren Techniken und praxisbezogenen digkeit, daß die Titel magister und doctor, die bei den Römern
Könnenskomplexen zu tun haben. Hierbei mit dem Trainer zuerst auf dem Feld der militärischen Exerzitien verwendet
der Athleten zu beginnen, drängt sich auf, da dieser die prä- wurden (man nannte beispielsweise den Fechtmeister campi-
gnanteste Gestalt auf dem Feld der technisch vermittelbaren doctor), später auf die Trainer der Gladiatoren und der übri-
Unwahrscheinlichkeiten verkörpert. Wie jeder Trainer prak- gen Zirkuskämpfer übertragen wurden, bevor sie dank einer
tiziert auch der des Athleten im Verhältnis zu seinem Schütz- zweiten Translation ins Akademische übersprangen.
ling ein Unterstützungsverfahren, das man am besten als
»Technik der Motivationsverschränkung« beschreiben könn-
te. Wenn schon jeder Athlet von sich aus eine gute Portion Der Handwerksmeister und die zwei Naturen
Erfolgswillen mitbringt, obliegt es dem Trainer doch, in die- des Kunstwerks
sen Willen einen zweiten Willen einzupflanzen, seinen eige-
nen, der den ersten steigert und über seine Krisen hinweg- Den zweiten Typus auf dem pragmatischen Feld verkörpert
trägt. Indem so ein gewollter Wille den wollenden Willen der Handwerker oder, um philosophisch zu reden: der
überformt, kann der Athlet zu Höhen der Leistung getragen Könner einer beruflich-alltäglichen techne. Könnerschaften
werden, die sich ohne die Verschränkung der beiden Willen dieses Typs sieht man es nach ihrer Routinisierung und Tri-
nie hätten erreichen lassen. Im Athletismus liegt somit das vialisierung (auf griechischem Boden gar nach ihrer »Banau-
ursprüngliche Übungsfeld der gebundenen Spontaneität, sifizierung«) nicht mehr an, daß jede einzelne von ihnen aus
auf dem später - unter monotheistischem Vorzeichen - so einer langsamen kumulativen Revolte gegen die Unbehol-
seltsame Blüten wie die scholastischen Diskussionen über fenheit henrorgegangen ist, einem leisen Aufstand gegen
den freien oder unfreien Willen hervorgetrieben werden (de die Verlorenheit, Unbemitteltheit und Listlosigkeit, für wel-
libero vel servo arbitrio). Auf dem Sportplatz war dieses Pro- che die Griechen das tiefinnige Wort Amechanie geprägt
blem längst gelöst, bevor die Philosophen sich in es verstrick- hatten - Abwesenheit von mechane, Fehlen von Kunststück
ten. Den Theologen, die das Mysterium des Widerspruchs und truc, Hebel und Hilfsmittel. Insofern stellt jedes Hand-
von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht durch- werk ein kollektives und anonymes Gegenstück zu einer der
dringen wollen, indem sie dozieren: wir sollen frei wollen, zwölf Arbeiten des Herakles dar, diesen pantechnischen
wovon Gott will, daß wir es wollen, ist in der Regel nicht Heldentaten, deren Sinn unmißverständlich darin bestand,
mehr klar, daß sie Gott hiermit zu einer Nachfolgerfigur des zu beweisen, daß es in der Natur des Menschen liegt - im
Athletentrainers gemacht haben. Dessen Definition besteht gegebenen Fall des Halbgotts -, mit unlösbar scheinenden
genau darin, daß er will, der Athlet solle wollen, was er, der Aufgaben fertig zu werden. Darum soll, wer von Handwer-
Trainer, für ihn will. 110 Unnötig zu sagen, daß der Athlet
I I I Dem erfolgreichsten Athleten der Antike, Milan von Kroton (ca.
556 - nach 5 IOV. ehr.), gelang es, über ein Vierteljahrhundert, von
: 10 Siehe oben S. 9 I f. der 60. bis zur 67. Olympiade (540-P 2), unbesiegt zu bleiben.
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele 459
kern nichts wissen will, auch von den Helden schweigen. »Einverleibung« oder mit Ravaisson das System der erwor-
Unter dem Gesichtspunkt des Etwas-Tun-Könnens gehören benen Fähigkeiten nennen kann.
die Helden, die Handwerker und schließlich auch die Poli- Daß die Meister nicht vom Himmel fallen, weiß jeder, der
tiker viel enger zusammen, als die zumeist aristokratisch sich an das Curriculum der älteren Handwerksberufe erin-
verkanteten Handlungslehren alteuropäischen Typs zu er- nert. Nach diesem muß ein Lehrling zunächst mindestens
kennen vermochten - sogar Hannah Arendts ansonsten in sieben Jahre in die Handgriffe seines Metiers initiiert werden,
jeder Hinsicht bewundernswertes Buch The Human Condi- bevor er sein Gesellenstück vorlegen darf. Danach vervoll-
tion, zu deutsch: Vita activa, 19571r958, zollte den überlie- kommnet sich der Geselle weitere fünf bis zehn Jahre in
ferten Verzerrungen einen viel zu hohen Tribut, indem es das seiner Kunst, und erst nach zwölf- bis achtzehnjähiger Lehr-
Machen und erst recht das bloße Arbeiten ziemlich kraß und Übungszeit kann er an die Herstellung eines Meister-
gegenüber dem Handeln, sprich dem politischen Auftreten stücks denken. Um ein tüchtiger Handwerker oder ein pas-
der Menschen, mit weitem Abstand in die zweite und dritte sabler Musiker zu werden, sind einer alten Faustregel zufolge
Reihe rückte. mindestens zehntausend Stunden übender »Praxis « vonnö-
Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur als eine akademi- ten; 113 zieht man höhere Grade meisterlichen Könnens in
sche, sondern als eine geistesgeschichtliche Großtat zu be- Betracht, darf man die Zahl getrost verdoppeln, ja verdrei-
zeichnen, wenn Richard Sennett jüngst den Versuch unter- fachen. Was man Genie nannte, war bis vor kurzem nichts
nahm, die Handwerke (crafts) aus ihrer Mißachtung durch anderes als ein Hinweis auf Fälle von spektakulärer Abkür-
die philosophische Theorie zu befreien und diesen unbeach- zung der durchschnittlichen Übungs zeiten - man denke an
teten Grundgrößen den ihnen gebührenden Rang unter den die musikalischen Wunderkinder, ohne die sich die Musik-
Phänomenen der vita activa zurückzugeben. 112 Das Prinzip geschichte der letzten dreihundert Jahre kaum denken ließe.
Handwerk gründet in der Koinzidenz von Herstellen und Schließlich hat eine genieästhetische Pest ganze Populationen
Üben - dies endlich wieder erkannt zu haben macht die Be- von Künstlern befallen, die alles andere als Wunderkinder
deutsamkeit von Sennetts Vorstoß auf aktivitätstheoretischem sind und doch das Abkürzen bis zum völligen Weglassen
Gebiet aus. Wer die Handwerke verteidigt, nimmt eo ipso das der Übung vorantreiben wollen.
repetitive Lernen mitsamt seiner Langsamkeit und seiner Ori- Das Phänomen der handwerklichen Meisterschaft besitzt
ginalitätsferne in Schutz. Eine solche Geste setzt voraus, daß eine paradigmatische Bedeutung für das Verständnis der anti-
man der in der Moderne verleumdeten Wiederholung ein ken wie der neuzeitlichen vita activa, weil mit ihr die Ver-
neues Ehrenzeugnis ausstellt. Wer dies versucht, muß die Ver- alltäglichung des artistischen Mirabile beginnt. Ob es um den
einbarkeit zwischen dem Repetitiv-Mechanischen und dem Schiffsbau geht - eine Disziplin, die Platon gern in seine
Persönlich-Spontanen nachweisen - ein Unternehmen, das Erörterungen über das Wesen der techne einflicht - oder
geradewegs auf das Lob der individuell verkörperten Ge- um Chirurgie oder Töpferei oder Goldschmiedekunst (an
dächtnisse hinausläuft, mithin auf das, was man mit Nietzsehe letzterer findet Sennett als Kritiker der modernen Fragmen-
tierung der Fähigkeiten und der Demoralisieru~g bloßer Job-
I 12 Richard Sennett, Handwerk, München 2008, englisch: The
Craftsman, New Haven und London 2008 . I I3 Ibid., S. 33·
II Überrreibungsverfahren 8 Meisterspiele

Arbeit ein ganz besonderes Gefallen l14 ) -, in jedem Fall sind von der Max Weber in seiner bekannten Studie zuviel Auf-
die hiermit befaßten Handwerker Erzeuger von Artifizien, hebens gemacht hatte, sondern viel mehr mit den schlagenden
die den Kreis der natürlichen Dinge mehr oder weniger auf- Analogien zwischen den klösterlichen Exerzitien und den in
fällig überschreiten. Diese "Kunststücke« haben aufgrund den Werkstätten beheimateten Übungen: Aus dem übenden
ihres typisierten, seriellen und alltäglichen Charakters zu- Arbeiten der Handwerke - das Pariser Livre des metiers zähl-
meist aufgehört, Gegenstand von Bewunderung zu sein, ohne te im Jahr 1268 bereits über einhundert zünftig verfaßte ar-
daß deswegen ihre Herstellung aufhören könnte, ein gutes tisanale »Berufe« auf1 16 - mußte ein Persönlichkeitstypus
Maß an Übung, Erfahrung, Sorgfalt und Wachheit zu erfor- hervorgehen, der sich seiner potentiellen spirituellen Eben-
dern. Diese Tatigkeit auf dem Feld einer anonymisierten und bürtigkeit mit den Berufsklerikalen zunehmend bewußt wur-
degradierten Artifizialität liefert die idealen Voraussetzungen de. Wie für die Mehrzahl der Mönche seit langem das ora et
für die Entstehung eines Typs von Herstellung, der genau auf labora gegolten hatte, so legte sich den weltlichen Brüdern
der Grenze zwischen Fabrikation und Meditation angesiedelt des artisanalen Lebens das zeitgemäßere labora et ara drin-
ist. Er stimuliert ein übendes Arbeiten, bei dem der Agent im gend nahe. Auch sind direkte Übergänge einzelner Handwer-
selben Maß seine eigene Kompetenz, ebendiese Tatigkeit aus- ker von Klosterwerkstätten zu städtischen Werkstätten viel-
zuüben, reproduziert und erweitert, wie er sich in die Her- fach belegt, so daß der Transfer des spirituellen Habitus, die
stellung des Objekts oder die Bewirkung des Effekts ver- Selbstformung des Handelnden im regelmäßigen achtsamen
115
tieft. Tun, auf die handwerklichen Milieus hier und da sogar auf
Hierdurch wird begreiflich, wieso aus jeder gewissenhaft dem kürzesten Weg nachvollzogen werden kann. In diesem
ausgeführten handwerklichen Arbeit ein spiritueller Mehr- Sinn sind die Werkstätten nicht bloß die Orte, wo gediegenes
wert entstehen kann. Wenn sich in den spätmittelalterlichen »Zeug« ins Dasein gerufen wird, sie sind zugleich Pflanzstät-
Städten Europas eine massive Bewegung der Laienreligiosität ten einer zwischen Produktion und Kontemplation schwe-
entwickelte, die in der devotia maderna des 14. Jahrhunderts benden Subjektivitätsform und Prägestöcke selbstgewiß
und in der Reformation des frühen r6. Jahrhunderts kulmi- frommer Singularitäten. Gelegentlich springt dieser Funke
nieren sollte, so hatte das kaum etwas mit der vorgeblichen ins religiöse Feld zurück, wie bei den britischen Methodisten,
Affinität zwischen Kapitalismus und Protestantismus zu tun, die das Handwerk des gläubigen Enthusiasmus auf die eigene
Psyche anwandten. I 17
114 Ibid., S. 79-102. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Sezession der
1 r 5 Diese auf den Übend-Herstellenden rückwirkende Funktion des
Künste von den Handwerken - jenem größten aktivitätstheo-
" handwerklichen« und fabrikarbeiterlichen Tuns hatte schon Lu-
cien Seve in seinen Studien zu einer marxistischen Persönlich-
retisch relevanten Schauspiel der Neuzeit vor dem Einsetzen
keitstheorie erfaßt, obschon er sie durch eine einseitige produk- des einzigen noch größeren Dramas: der Auskristallisierung
tivistische Terminologie praktisch unkenntlich machte. L. 5., der modernen» Arbeit überhaupt, Arbeit sans phrase «, mithin
Marxisme et theorie de la personnalite, Paris 1969, deutsch: Mar- jener Arbeit ohne Eigenschaften, in welcher Marx die sy-
xismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt am Main 1973;
hierin auch bemerkenswerte Anregungen zu einer Theorie des 116 Sennett, Handwerk, a. a. 0., S. 82.
subjektiven Kapitals und der »wachsenden organischen Zusam- 117 Vgl. Roben E. Cushman, John Wesley's Experimental Divinity.
mensetzung der Persönlichkeit«. Srudies in Methodist Doctrinal Standards, Nashville, Tenn. 1989.
....
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele

stemische Definition der proletarischen Kondition als schein- die Wiederherstellung der schöpferischen, quasi göttlichen
freier Selbstverkauf der allseitig disponiblen »Ware Arbeits- Kompetenz innerhalb der Werkstatt - mit der Nebenwir-
kraft« gefunden hat. 11 8 Wie alle Sezessionen steht auch diese kung, daß Europäer seit fast einem halben Jahrtausend einer
im Dienst einer gesteigerten Subjektivierung, im gegebenen ständigen inneren Mission durch Kreativitätstheologen und
Fall: der Aufstockung des Handwerkerkönnens zum Künst- ihre kritischen Diakone ausgesetzt sind, freilich auch einer
lerkönnen. Was die Kunst vom Handwerk unterscheidet, ist etwas später einsetzenden arianischen 119 bzw. humani-
ihre Entschlossenheit, das Kunstkönnen als solches im stisch-materiaistischen Gegenrnission, nach welcher sogar
Werkstück (opus) zur Schau zu stellen. Sennett hat diesen die größten Kunstwerke nur höhere Produkte, sprich Vortäu-
Sprung vom einfachen Gebrauchsgegenstand in die werk- schungen von Höherem seien, und die größten Künstler auch
narzißtisehe Dimension anhand von Benvenuto Cellinis be- bloß Menschen.
rühmtem, für Fran~ois I in mehr als dreijähriger Arbeit her-
gestelltem Salzfaß (der Wiener Saliera, 1540-1543) illustriert.
Solche Objekte dulden keinen alltäglichen Gebrauch mehr, Professoren, Lehrer, Schriftsteller
sie beugen den Benutzer unter den ihnen ein geformten
Zwang zur Bewunderung. Ich schließe diese Übersicht mit einem summarischen Hin-
Es hat langwierige dogmatische Streitigkeiten gekostet, bis weis auf die drei übrigen Typen pragmatischer Lehrbefugnis,
die zwei Naturen des Kunstwerks mit der angemessenen die Professoren der Universitäten, die Lehrer an den Grund-
Klarheit statuiert waren: ganz Handwerk und ganz Mirabile. schulen und höheren Schulen der modernen Nationen sowie
Mit der einen Seite bleibt jedes Werk durch und durch ein die Aufklärungsschriftsteller bzw. die politisch-kulturell en-
Geschöpf des Metiers, mit der anderen bezeugt es den Ein- gagierten Journalisten: Aus historischer Sicht sind diese Lehr-
bruch des Überhandwerklichen in die Werkstatt. Die beiden und Redebefugten zu guten Teilen in ein Drama involviert,
Naturen bestehen unvermischt nebeneinander und werden das man als die progressive Selbstaufhebung des Bildungs-
mit verschiedenen Rezeptionsvermägen erkannt. An diese privilegs oder die Demokratisierung der Eliten beschreiben
Doppelbestimmung sind all die Aufwertungen des Meister- könnte. In einem über mehrere Jahrhunderte zerdehnten
status wie auch des Meisterwerkbegriffs geknüpft, die seit der Prozeß haben sich viele von ihnen - nie, ohne daß gegen-
Renaissance die Reden über Kunst und Künstler animieren. läufige Tendenzen den Gang der Entwicklung verkompliziert
So wie die Kunst die Wiedereroberung des Wunderbaren von und umgebogen hätten - mit zunehmender Explizitheit dem
den Werkstätten aus bedeutet, so impliziert das Künstlertum Vorsatz verschrieben, den Trainer dureh das Training über-
118 Kar! Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie flüssig zu machen. Sie stärken die Tendenz zur Depersonali-
(zuerst 185711858), Wien o. J., S. 25. Marx betont in diesem
Zusammenhang und an derselben Stelle, es sei ein »verteufelter 119 Die Doktrin des alexandrinischen Presbyter Arius (ca. 260-33 6)
Unterschied«, ob unzivilisierte russische Sklaven alles mit sich wurde auf dem Konzil von Nicäa 325 als häretisch verworfen; sie
maehen lassen, »oder ob Zivilisierte (z. B. Amerikaner, P. SI.) sieh behauptete die Gesehaffenheit Christi und seine Unterordnung
selbst zu allem verwenden«. Das ist der Unterschied, zu dessen unter Gott Vater; hieraus leiteten manche Nachfolger die These
Durchleuchtung man Marx zufolge die ganze Entwicklung der von der rein menschlichen, obschon illuminierten Natur Christi
abstrakten Arbeit im Kapitalsystem verstanden haben muß. ab.
II Übertreibungsverfahren 8 Meisterspiele

sierung der ertüchtigenden Übungen, indem sie den Akzent ginn der Neuzeit nicht ohne Grund mit dem Titel res publica
von der Person des Lehrers auf das Lernfeld (die Fakultät, die litteraria alias Gelehrtenrepublik belegte. 12o Sollte man erklä-
Schule, die Presse) verschieben - eine Tendenz, die seit dem ren, worin deren Aufgabe besteht, müßte man zuerst auf die
Aufkommen der Internet-Communities, in denen das Phä- erweiterte Reproduktion der kognitiven Kapitale verweisen,
nomen sich heute am prägnantesten darstellt, auch rück- mit der das akademische Leben befaßt ist. Vielleicht noch
wirkend als eine schon im Gutenbergzeitalter, ja sogar im nachdrücklicher wäre davon zu reden, daß diese res pubLica
Handschriftenzeitalter, latente Möglichkeit besser erkennbar letztlich einen kryptoplatonischen politischen Körper dar-
wird. stellte: die Ersetzung der simplen Pyramide »Philosophen-
Blickt man auf die Figur des alteuropäischen Professors königtum« durch den komplexen Vielflächer ), Philosophen-
zurück, so springt sofort ins Auge, in welchem Maß dieser republik«. Jenes wollte eine Stadt lenken, die mittels einer
seit jeher nur eine Charaktermaske seines Fachs sein sollte abgeschlossenen Prinzipienwissenschaft vor dem Hinter-
und wollte und wie wenig von ihm anfangs ein Originalbei- grund einer statischen Natur regierbar wäre; diese hat es
trag zur Voranbringung seiner Wissenschaft erwartet wurde. mit der Selbstverwaltung eines Gemeinwesens zu tun, das
Ein origineller Professor war bis vor kurzem eine contradictio sowohl in bezug auf die Prinzipien wie in bezug auf die Natur
in adiecto - und ist es eigentlich noch heute, nur haben die einer unabsehbaren Dynamisierung ausgesetzt ist.
Kontradiktionen heute etwas bessere Lebensbedingungen, Ist man bereit, die Fakultät, die Universität, die Gelehr-
zumal in den Geisteswissenschaften, wo die Lehrenden nicht tenrepublik als Kollektivierungen, Anonymisierungen und
nur professoral, sondern auch in Grenzen bekennend und Perfektionierungen der Meisterfunktion zu verstehen - und
expressiv reden dürfen. Schon der Name Professor indiziert das heißt über die »Aufklärung« höher urteilen, als sie ge-
seine Berufung zur Wiedergabe und Weitergabe dessen, was wöhnlich über sich selbst urteilt -, dann darf man auch über
jeweils der Stand der Kunst verlangte, und wenn der Träger die bei den nächsten Stufen der pragmatischen Trainer-
eines solchen Titels den staalichen Ehrensold bezog, dann in funktionen, die der Lehrer sowie die der Schriftsteller und
Würdigung der energischen Unoriginalität, mit welcher er Journalisten, analoge Aussagen treffen. Sie tragen den Er-
sein Fach als ganzes zu referieren wußte. Die Professoren tüchtigungsprozeß, auf dem die res publica der Wissenden
gehören einer Ökonomie des ordinierten säkularen Wissens beruht, zu den jeweils breiteren Ebenen weiter, zuerst in
an, in welcher der strikte Primat des Lehrstuhls vor seinem den Klassenzimmern, aus denen die alphabetisierten Urteils-
Inhaber gilt, so wie auf der nächsthöheren Ebene der Vorrang und Handlungsfähigen von morgen kommen werden, sodann
der Fakultät vor dem Lehrstuhl nie in Frage steht. Die Fakul- in den Publikumsmedien, die der Gesellschaft der Wissenden
tät ist das unpersönliche Selbst einer Disziplin, indessen die von heute zu ihrer Selbstverständigung dienen. In dieser Sicht
einzelnen Professoren de facta und de iure nur als Personifi- sind die Lehrer Charaktermasken des Systems Schule, so wie
kationen eines längst überpersönlich institutionalisierten die Journalisten Personifikationen der Presse sind - auch sie
Lehr- und Lernprozesses fungieren. Blicken die Lehrstuhlin- dienten also, wenn sie sich so verstehen wollten, einer posi-
haber auf zwanzig- bis dreißigjährige Qualifikationsprozesse
120 Res publica liueraria: Die Institutionen der Gelehrsamkeit der
zurück, liegen sie im Durchchnitt ihrer Disziplin. In ihre~
frühen Neuzeit, hg. von Sebastian Neumeister, 2 Bde., Wiesbaden
Gesamtheit bilden sie ein KoIIektivsubjekt, das man am Be- 19 87.
Il Übertreibungsverfahren

tiven Kollektivierungsdynamik, die auf »die Gesellschaft« im


ganzen ein Merkmal auszudehnen bestrebt wäre, von dem 9 TRAINERWECHSEL UND REVOLUTION
man lange hat glauben wollen, es könne nur wenigen Einzel-
ÜBER KONVERSIONEN UND
nen zukommen: das der Meisterschaft, ob sie nun die Bewälti-
OPPORTUNISTISCHE KEHREN
gung einer sachlichen Aufgabe oder die Kunst der Lebensfüh-
rung überhaupt bezeichnet. Doch solange die Kollektivierung
der Meisterschaft - philosophisch: die Selbstbestimmung der
»Gesellschaft« (als ob »Gesellschaft« ein Selbst besitzen
könnte) - auf sich warten läßt, tun die Einzelnen gut daran, Umwendungskunde
weiterhin so zu üben, als wären sie die ersten, die ans Ziel
kommen. Zum Abschluß dieser Untersuchung zur Struktur der ortho-
doxen Rückzüge ins übende und artistisch gesteigerte Leben
möchte ich noch einen kurzen Blick auf ein Phänomen wer-
fen, ohne welches die asketischen Radikalismen, die hier zur
Sprache kommen, unverständlich blieben - ich meine jene
Momente der existentiellen Verdichtung, Sammlung und
Umwendung, die man in religionsgeschichtlicher Sicht die
Bekehrungen nennt. Es dürfte klargeworden sein, daß es sich
hierbei keineswegs bloß um »religiöse« Erscheinungen han-
deln kann. Sie gehören vielmehr zum Gesamtbestand des as-
ketischen Verhaltens aus der rezessiven Position - das heißt
aus der Haltung, die sich in Antwort auf den absoluten Im-
perativ entwickelt. Den »religiösen« Anschein erwecken sie
durch die Verknüpfung des übenden bzw. radikal ethischen
Verhaltens mit den Sprachspielen des Opfers, gleichgültig
ob man diese als äußere oder innere vollzieht. Die Opfer
der ersten Art werden von alters her mit Blut und Feuer
erbracht, die der zweiten als Willensverzicht und Wunschver-
wandlung. 121 Während das Opferdenken den symbolischen
Code für Operationen des gewalthaften Austauschs bereit-

121 Die ersten Opfer gehören zum Universum der älteren Gleichge-
wichtsreligionen, die »theokosmische« Balancierungen bewirken
möchten; in ihnen ist das Weltganze zugleich das erste Immun-
system - daher stammt das kaum unterdrückbare Interesse der
»weltkindlichen« Menschen an einer »heilen Welt«; die zweiten
9 Trainerwechsel und Revolution
II Überrreibungsverfahren

stellt, liefert das übende Leben als solches die Basis zu allen Was ich skizzieren mächte, kann nicht mehr sein als eine
kleine Vorstudie zu der allgemeinen Wendungskunde, die
Zivilisierungen, insbesondere denen, die auf den verinner-
lichten Formen des Opfers beruhen. mit den älteren Radikalismen des übenden Lebens untrenn-
bar verbunden war. Diese Lehre von der philosophischen und
asketischen Konversion gibt den sezessionären und rezessi-
Im folgenden werfe ich einen zweiten Blick auf die Vorgänge,
ven Operationen erst Gegenstand und Richtung vor, und ich
die ich unter den Begriffen Sezession und Rezession, Abset-
verrate kein Geheimnis, wenn ich hinzufüge, daß selbst die
zung von der Mitwelt und Rückzug in sich, beschrieben habe.
modernen Revolutionslehren noch immer die ferneren De-
Bei näherem Umgang mit den Phänomenen zeigt sich nun,
rivate ältester Aussagen über heilsame Kehren und rettende
daß diese Ausdrücke zur Kennzeichnung der ersten ethischen
Richtungsänderungen darstellen. Es gibt hiernach eine Bewe-
Bewegung rucht ausreichen. Die Vorsprecher der großen as-
gung aller Bewegungen, ohne die sich der Begriff Wahrheit,
ketischen Zäsur haben sich nie damit begnügt, ihr Verhalten
dieser Denktradition zufolge, nicht angemessen konzipieren
bloß als Distanzierung, als Zurücktreten (epoche) ans Ufer 122
läßt.
der Beobachtung oder als Ausweichen vor dem Realen zu
Von dieser Bewegung, die nicht nur Rückzug, sondern
benennen, obschon es in ihren Selbstaussagen an Ausdrücken
Drehung ist, hat in der altabendländischen Tradition Platon
dieser Tendenz nicht fehlt - man denkt an weit verbreitete
zuerst Rechenschaft gegeben. Die kritische Bewegung er-
Distanzierungsmetaphern wie Weltflucht (juga mundi),
scheint bei ihm zunächst als ein rein kognitiver Akt, der
Flucht aus der Zeit (juga saeculi), Leidenschaftslosigkeit
von der korrupten sinnlichen Welt zur inkorruptiblen geisti-
(apatheia), Loslösung (vairagya) oder Zuflucht zum Dhar-
gen Welt führen soll. Zu seiner Ausführung ist eine Wende
ma-pfad. Das letzte große Distanzsymbol dieses Typs ist der
des Gesichtsinns aus dem Dunklen ins Helle vonnöten, eine
»Engel der Geschichte« in Walter Benjamins Auslegung, der
Wende, die aber »nicht anders als mit dem gesamten Leibe
vor der Flut des Unheils Schritt für Schritt zurückweicht, den
zugleich« (holo to somati) geschehen kann. 123 Damit ist das
Blick fassungslos auf die Weltszene geheftet. Worum es den
Motiv der integralen Wende erstmals expressis verbis hinge-
entschiedensten Sezessionären zu tun ist, meint nicht bloß
schrieben. In analoger Weise muß man mit der »ganzen Seele«
einen faszinierten Rückzug von einer nicht mehr zur Teilhabe
(h6le te psyche) vom Hinschauen auf das Werdende »abge-
einladenden Wirklichkeit, sondern eine vollständige Um-
führt« (Schleiermachers Aussdruck) werden, bis man gelernt
wendung - eine Abwendung vom vordergründig Gegebenen,
hat, allein auf das immer Seiende zu achten und unter diesem
die mit der Hinwendung zum Besseren, zum Wahren und
das Glänzendste (phanotaton) zu bevorzugen und auszuhal-
höherstufigen Wirklichen identisch wäre.
ten: die Sonne des Guten. Unnötig zu sagen, daß die »gewen-
dete« Seele den ganzen Menschen in ihre subtile Bewegung
rec~nen zum System der Ungleichgewichtsreligionen, die zur
mitnimmt. Diese Reorientierung der Blick- und Daseinsrich-
PreIsgabe der unheilen Welt um des Seelenheils willen aufrufen·
in ihnen schließt die Zuflucht der Seele zu Gott die höchst~
122 Vgl. P. SI., Abst.urz und K:hre. Rede über Heideggers Denken in
Immunallianz; ?i.ese Theozentriker und ihre Nachfolger, die
der Bewegung, m: ders., NIcht gerettet. Versuche nach Heidegger
Agenten des »kntlschen Bewußtseins«, erkennt man nicht zuletzt
Frankfurt am Main 2001, S. 12-81. '
daran, daß sie alles tun, um die bloße Idee einer »heilen Welt«
lächerlich zu machen. 12 3 Politeia (Übersetzung Schleiermacher), 518b.
II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution 47 1
tung soll nun aber nicht zufällig und einmalig geschehen, drehter ist, und zwar der erste seiner Art, kann er sich die
sondern zu einer förmlichen »Kunst der U mlenkung« (techne Aufgabe zu eigen machen, die Umdrehung an andere weiter-
periagoges)124 bzw. einer Asketik der existentiellen Gesamt- zugeben. Bliebe er nur ein Erleuchteter auf eigene Rechnung,
umkehr ausgebildet werden. Diese beruht auf der Annahme, könnte er sich in seinem Privatglück sonnen. Wird er von
die Umzulenkenden brächten zwar den Erkenntnisapparat der Sorge um den Staat ergriffen, muß er vom Privatismus
bereits vollständig mit, dieser sei jedoch bisher »nicht recht abrücken und seine Erleuchtung mit den Vielen zu teilen
gestellt« und blicke aufgrund eines uralten Haltungsfehlers suchen.
zunächst und zumeist in die falsche Richtung. Der Philosoph Pierre Hadot bringt den Überschuß, der aus der radikalen
kennt sich hiermit aufgrund eigener Erfahrung aus, weil er Umwendung fließt, gelassen auf den Punkt: »Alle Erziehung
den Höhlenausgang entdeckt hat. Er versteht, was es heißt, ist Konversion.,, 125 Man muß hinzufügen: Alle Konversion
sich umgedreht zu haben und draußen gewesen zu sein. Was ist Subversion. In der Anleitung zu dieser Bewegung liegt ein
ihm selbst gelungen ist, sollte, wie er meint, den Mitmenschen unausschöpfliches »revolutionäres « Potential, zumindest so-
nicht unmöglich sein. Nie ist er, der erste Orthopäde des lange sie sich nicht mit der individuellen Umkehrung zu-
Geistes, großzügiger und weltfremder, als wenn er hierin friedengibt. Sie mußte anfangs ja - aufgrund des strikten
von sich auf andere schließt. Parallelismus zwischen Psyche und Polis - stets die Univer-
salisierung der Drehung im Sinn haben und virtuell alle Mit-
glieder der zu reformierenden Kommune in die andere Art
Alle Erziehung ist Konversion der Lebensführung einbeziehen wollen. Erst die späteren
Philosophenschulen, die Stoiker, die Epikuräer und die Neu-
Die Konsequenzen aus diesen scheinbar harmlosen Überle- platoniker, haben den Privatunterricht in den Vordergrund
gungen sind buchstäblich ungeheuerlich. Sie stellen nicht we- gerückt. Für sie wurde es Zeichen von Weisheit, sich mit
niger dar als die erste Skizze einer Subversionslehre, der zu- der Bekehrung der Einzelnen zu begnügen und die unver-
folge die Pädagogik more platonico geradezu als integrale besserlichen Vielen verloren zu geben - weswegen es ihnen
Revolutionswissenschaft zu definieren ist. Die Lehrbefugnis zufolge keine Weisheit gibt ohne Resignation und keine
auf diesem Feld wird erworben, indem zuerst ein einzelner Resignation ohne eine gewisse Einwilligung in die »Grau-
Pionier der neuen Sehweise sich aus der Kollektivhähle den samkeit des Lebens«. Sie ließen den Plan fallen, die Seelen
Weg ins Freie bahnt und sich danach - fürs erste unvermeid- und den Staat zugleich reformieren zu wollen - nicht nur weil
lich widerwillig, sich selbst überwindend - bereitfindet, wie- sie an den Parallelismus zwischen den beiden Größen nicht
der zu den falsch Eingestellten im Schattenkino hinunterzu- mehr glauben wollten, sondern auch, weil sie begannen, im
steigen, um auch ihnen den Zugang zu den Befreiungen zu Staat das kalte Ungeheuer zu erkennen, das nach ihrer
erläutern. In diesem Sinn ist die platonische Pädagogik eine Überzeugung unmöglich das gültige Analogon der Seele sein
reine Konversionskunst - revolutionäre Orthopädie. Nur kann.
weil der Philosoph selbst schon ein »Konvertit«, ein Umge-
I25 Pierre Hador, Conversion, in: ders., Philosophie antique er exer-
12 4 Po liteia, 5l8c. eises spiritueIs, a. a. 0 ., S. I76.
47 2 II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution 473
Der individualistische Rücktritt von dem platonischen ben « heißt - freilich besitzt der Ausdruck »das Leben« hier,
Überschwang, diesem Zuviel an Bekehrungswillen, dem die auf antikem Boden, eher noch politische als biowissenschaft-
Neuzeit das Prädikat »utopisch« verleihen sollte, geschah zu liche Bedeutungen. Demgegenüber waren die unpolitischen
seiner Zeit nicht ohne gute Gründe. Tatsächlich war mit der spirituellen Systeme der späteren Antike allemal im Recht,
Lehre von der periagoge, der Umdrehung der Seele (die später wenn sie darauf beharrten, die Einzelnen als Einzelne ernst
häufiger mit dem Ausdruck epistrophe verknüpft wurde), ei- zu nehmen. Nur deswegen war ihnen daran gelegen, sie in das
ne erste explizite Fassung des absoluten Imperativs: »Du Handwerk des Lebens, die Sorge um sich selbst, lege artis
mußt dein Leben ändern! « aufgetreten, gefaßt in die Auffor- einzuführen. Sie heben - einem antiken Vorgriff auf die mo-
derung, sich mit dem ganzen Wesen nach der geistigen Seite derne Beschränkung des Verhaftungsrechts (den Habeas Cor-
umzudrehen. Dieser Imperativ wurde zuerst in einer holisti- pus Amendment Act von 1679) vergleichbar - die Verfallen-
schen Variante abgefaßt, die zu zahlreichen schwerwiegenden heit des Einzelnen an das Ganze auf und statuieren den unab-
Mißverständnissen Anlaß gab. In ihrer Tiefenstruktur war die tretbaren Anspruch des Individuums auf die eigenmächtige
platonische Ethik des Lernens an der Wahrheitssonne noch Führung seines Lebens, sollten sie auch als Häftlinge der
immer eine okkultierte Opfertheorie geblieben - hierin den Realität gewisse Einbußen an ihren Freiheitsrechten hinneh-
gleichzeitigen asiatischen Askesesystemen verwandt -, da men müssen.
sich die Umwendung der Seele letztlich nur als Preisgabe
des Besonderen zugunsten des Allgemeinen bestimmen Es wird anderthalb Jahrtausende dauern, bis mit dem holisti-
ließ. 126 Daraus ergab sich, daß in dieser Fassung des absoluten schen Putsch des christlich-nachchristlichen Neoplatonikers
Imperativs zwei profunde Mißverständlichkeiten zum Tra- Hegel und seines materialistischen Gefolges die Idee der All-
gen kamen: Die erste betraf das Verbum, sofern »ändern« hier Konversion wieder auf die Agenda der Moderne zurückkehr-
soviel wie »sich dem Allgemeinen opfern« bedeutete, die te und die bekannten Folgen zeitigte - überwiegend blutige
zweite das Possessivpronomen, insofern dem Adepten insge- Folgen, die summa summarum auf die Amalgamierung der
heim das Eigentum an »seinem« Leben abgesprochen wurde, graeco-germanischen Befreiungsphilosophie mit den Ideen
um es an das noch zu erzeugende wahre Ganze zu übereig- der Französischen Revolution zurückgehen. Ich werde im
nen. Du bist um des Ganzen willen in der Welt und nicht das I I. Kapitel zeigen, wie dieses Amalgam zu einer Anthropo-
Ganze um deinetwillen, lautet die entsprechende Ermahnung technik führte, mit deren Hilfe der Neue Mensch erzeugt
in Platons Nomoi. »Wir gehören nicht uns selbst«, heißt es bis werden sollte, diesmal als Geschöpf einer politischen Kon-
heute in Traditionen dieses Typs. Hier entspringen die an- version, die den Umbau der Körper nicht ausschloß - be-
thropotechnischen Tendenzen, die den absoluten Imperativ denklicherweise noch immer auf der Linie der holistischen
pervertieren, indem sie »das Leben« lesen, wo es »dein Le- »Gesellschafts«konzepte, bei denen es von der Überhöhung
des Ganzen zur Opferung des Teils immer nur ein kleiner
r26 Vgl. P. SI., Sphären III, Schäume. Plurale Sphärologie, Frankfurt Schritt ist.
am Main 2004, S. 26rff.: »Nicht Vertrag, nicht Gewächs. Annä-
herung an die Raum-Vielheiten, die bedauerlicherweise Gesell-
schaften genannt werden«; Argumente zu einer Kritik des politi-
schen Holismus bes. S. 277f.
474 II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolu tion 475
eine wesentliche Variante, indem dort betont wird, die Be-
Die Katastrophe vor Damaskus gleiter seien sprachlos dabeigestanden, weil sie zwar die Stim-
me hörten, jedoch niemanden sahen (Apg 9, 7).
In der Zwischenzeit war das Motiv der Umkehrung - das Im Blick auf diese Erzählung ist evident: Von den sublimen
anfangs vor allem eine Domäne der politischen Theorie und platonischen Erwägungen über die Umwendung der Seele
der philosophischen Lebenskunst gewesen war - durch reli- und ihre Herausführung aus der Höhle der sinnlichen Kol-
giöse Interpretationen monopolisiert worden. Deren Para- lektivillusionen sind wir hier bereits Lichtjahre entfernt. Kei-
digma liefert die unzählige Male kommentierte Bekehrung ne Rede mehr von den Sorgen des griechischen Rationalismus
des Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Die Erzählung um die Wende zur Wahrheitssonne. Das Licht, das den Eife-
von diesem Einschnitt ist in der Apostelgeschichte zweimal rer auf dem Weg nach Damaskus blendet, ist ein Gemenge aus
überliefert, einmal in autobiographischer Form als Element Mittagsdämon und Halluzination. Die Geschichte spielt be-
der Verteidigungsrede des Paulus vor den Juden in Jerusalem reits ganz auf dem Boden eines magischen Weltbilds (Speng-
(Apg 22), ein anderes Mal in der dritten Person (Apg 9)· In ler ordnete es sogar dem Stimmungsraum der »arabischen
beiden Fassungen wird hervorgehoben, Paulus sei durch das Kulturseele« zu), dessen Atmosphäre von Apokalypsebereit-
Ereignis auf dem Weg nach Damaskus »umgedreht« worden schaft, Erlösungspanik und einer wundersüchtig supranatu-
und habe sich von einem Verfolger der Christen zu einem ralistischen Hermeneutik geprägt ist. Vor allem verrät sich in
Verkünder des Christentums gewandelt. In der personalisier- ihr der Geist eines nach allen Seiten aufbruchs bereiten
ten Version lautet die Geschichte wie folgt: Eifererturns, dem es fast gleichgültig zu sein scheint, ob es
>,Als ich nun unterwegs war (um Anhänger der neuen sich in die eine oder die andere Richtung erhitzt. Vor den
Lehre zu verhaften) und mich Damaskus näherte, da Hintergrund des philosophischen Begriffs von conversio oder
geschah es, daß mich um die Mittagszeit plötzlich epistrophe gesetzt, handelt es sich bei dem Erlebnis des Paulus
vom Himmel her ein helles Licht umstrahlte. 7 Ich in keiner Weise um eine Bekehrung, mit der sich sein persön-
stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu mir sagen: licher Habitus von Grund auf geändert hätte. Auch ging es
Saul, Saul, warum verfolgst du mich? 8 Ich antwortete: keinen Augenblick um Erkennntis, sondern um die Begeg-
Wer bist du, Herr? Er sagte zu mir: Ich bin Jesus, der nung mit einer göttlichen Stimme, die keine Scheu kennt, sich
Nazaräer, den du verfolgst. 9 Meine Begleiter sahen diesseitig zu manifestieren. Aufs Ganze gesehen bedeutet das,
zwar das Licht, die Stimme dessen aber, der zu mir was Paulus widerfuhr, nicht mehr als die »Reprogrammie-
sprach, hörten sie nicht. 10 Ich sagte: Herr, was soll rung « eines Zeloten im präzisen Sinn des Worts. Der Aus-
ich tun? Der Herr antwortete: Steh auf und geh nach druck ist gerechtfertigt, insofern das »Betriebssystem« der
Damaskus, dort wird dir alles gesagt werden ... «127 paulinischen Persönlichkeit nach dem erlebten Umschwung
Die Erzählung derselben Geschichte in der dritten Person, mehr oder weniger unverändert weiterverwendet werden
die sich am Anfang der acta apostolorum findet, enthält nur konnte, nun jedoch für eine außerordentliche theologische
Kreativität freigesetzt.
127 Zitiert nach: Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg/Basel/Wien, J 98 5, Die Bekehrung des Paulus gehört also in eine ganz andere
S. 1597. Kategorie von »Drehungen«, die nicht einen ethisch-»revo-
II Übertreibungsverfahren
9 Trainerwechsel und Revolution 477
lutionären «, sondern einen apostolisch-eifernden Charakter
begreifen, daß sie im Grunde bereits die kohärentere Deu-
aufweisen. Hierfür bietet die theologische Tradition den Ter-
tung der Überlieferung besaßen und daß sie es waren, die dem
minus metdnoia an, den man seiner allgemeinen Tendenz
messianischen Element der jüdischen Lehre die aufregendste
nach am ehesten mit »Gesinnungswandel«, in seiner christ-
aller möglichen Deutungen verliehen hatten.
.
lichen ZUspltzung . Bu ße« wIe
mIt» . d erzuge b en h"atte.128 A us
Was Paulus auf dem Weg nach Damaskus erlebte, war
psychodynamischer Sicht gehört der Ausdruck ins Kraftfeld
demnach eine metanoetische Episode, die zur Reorganisation
der inneren Sammlung, wie sie vor oder nach großen Ereig-
des Bewußtseins von einem neugebildeten Zentrum der
nissen am Platz scheint - sei es nach einer persönlichen oder
höchsten Überzeugtheit her führte. Dies stellt einen Vorgang
politischen Niederlage, die zur Überprüfung des Decorums,
dar, zu dessen Deutung Wil1iam James in den beiden den
der lebensleitenden Maximen, zwingt,129 sei es in der Vor-
»Bekehrungen« gewidmeten Kapiteln seiner klassischen Gif-
wegnahme eines nahe bevorstehenden Ereignisses, das einen
ford Lectures von 1901 Die Vielfalt der religiösen Erfahr~ng
apokalyptischen Schatten vorauswirft. Metanoia ist vor allem ein suggestives allgemeines Schema vorgeschlagen hat: HIer-
ein Panik-Phänomen, sofern sie mit der Geste des Sichzusam- nach bereitet sich im subliminalen Bewußtsein des Subjekts
mennehmens in der Krise und des Ernstmachens vor dem ein neuer epizentrischer Persönlichkeitskern vor, der in ei-
bedrängenden Ende einhergeht. Nicht umsonst war auch nem opportunen Moment mit dem hot spot des operativen
die Ära der europäischen Reformation, in der es vor Men- Selbstbewußtseins verschmilzt und dabei eine intensive
schen wimmelte, die ernst machen wollten, wieder eine Wandlungserfahrung bewlr 'kt. 1~ D'le A nwendung d'leses
Hochzeit des dunklen Sterneneinflußglaubens und der End- Modells auf den Fall des Paulus ergibt unmittelbar ein stim-
zeitangst. Ihr modus operandi ist nicht die Umwendung der
miges Bild. In übungstheoretischer Sicht hatte Paulus bereits
Persönlichkeit, sondern die Sammlung und die Beherzigung eine ganze Weile »mit dem Gegner trainiert«. Er war durch
des längst Gewußten, mit dem man sich in Ermangelung ei- die Befeindungsübung gegenüber den Jesuanern hinreichend
nes zwingenden Anlasses bisher noch nicht in aller Folge- in Form gekommen, um im geeigneten Moment auf die Posi-
richtigkeit befassen wollte. Dies gilt in ganz besonderer Weise tion des bisherigen Opponenten übergehen zu können. Von
auch für Paulus, der während seiner Nachstellungen nach den
dessen Stärken hatte er sich auf vorbewußter Ebene längst
jüdischen Dissidenten, die sich der jesuanischen Sekte ange-
einen klaren, wenn auch noch unwillkommenen Begriff ge-
schlossen hatten, ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, zu
bildet. In diesem Kontext erscheint es signifikant, daß er in
der »autobiographischen« Version der Szene auf dem Weg
128 Über die D ifferenz von epistrophe und metdnoid vgl. Pierre Ha-
dot, Conversion, a. a. 0., sowie Michel Foucault, Hermeneutik nach Damaskus den Sprecher, der ihn aus der Höhe anruft,
des Subjekts. Vorlesung am ColICge de France 1981/82, Frankfurt schon mit dem Titel »Herr« (kyrie) anredet, noch bevor die-
am Main 2004. ser sich als der von ihm verfolgte 1esus zu erkennen gab. Alles
129 Zum einem verallgemeinerten Begriff von Decorum vgl. Hein~r
spricht dafür, seine zweite Person habe auf diesen Zwischen-
Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenen-
schen Theorie, Wien/New York 1996. Zu Metanoia in politischer ruf gewartet.
Perspektive vgl. auch: P. SI., Theorie der Nachkriegszeiten. Be-
130 WiIIiam James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Mit einem Vor-
merkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen nach
wort von Peter Sloterdijk, Frankfurt am Main und Leipzig 1997,
1945, Frankfurt am Main 2008.
Vorlesungen IX und X, S. 2°9-272 .
II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revoluti on 479
Paulus war in dieser Sicht weder ein Konvertit noch gar ein
»Revolutionär«, wie man in jüngeren neo-jakobinischen Es gibt keine Konversion: Das augustinische Paradigma
Deutungen des Paulus-Phänomens lesen kann,131 sondern
ein Opportunist - im Sinne der Lehre Machiavellis von der In diesem Kontext haben wir Gelegenheit, Oswald Spenglers
Gelegenheit (opportunita) -, der sich malgre lui seit geraumer starke These zu re-evaluieren, wonach es im Grunde über-
Weile von den hohen spirituellen Chancen der anfangs be- haupt keine Konversionen gebe, sondern nur Umbesetzun-
kämpften neuen Doktrin überzeugt hatte. Er hatte intuitiv gen zwischen freien Stellen in dem fest strukturierten Optio-
und später explicite verstanden, daß nur ein wirklich ge- nenfeld einer Kultur. 132 Durch alle Oberflächenwendungen
kommener Messias dem politisch aussichtslosen und geistig der Konfession hindurch bleibe die basale Seelenstimmung
stagnierenden Judentum seiner Zeit aus der Verlegenheit hel- eines Hochkulturkomplexes identisch, und was sich in äuße-
fen konnte. Natürlich hat er in keiner Weise »den Universa- rer Sicht wie eine 18o-Grad-Drehung darstelle, könne in
lismus « oder auch nur eine subjektive Variante desselben be- Wahrheit nie mehr sein als eine letztlich beliebige (obschon
grundet bzw. auf den Weg bringen wollen, sondern sich gelegentlich für die Mit- und Nachwelt folgenreiche) Varia-
ausschließlich für die Umformatierung einer Auserwäh- tion innerhalb eines definitiv umrissenen Möglichkeitsraums.
lungsgruppe stark gemacht (genau so wie es die Berufsrevo- Darum soll auch in spirituellen Dingen gelten: plus fa change
lutionäre leninistischen Schlages taten, die stets mehr elitäre plus c'est la meme chose.
Exterministen als inklusionsbereite Universalisten waren, Die Suggestivität dieser These läßt sich vor allem an dem
und wie es noch heute die nicht mehr sehr zahlreichen Nach- zweiten Bekehrungshelden der christlichen Überlieferung,
kommen Robespierres in Frankreich tun). Es ist für »Bekeh- Aurelius Augustinus, erläutern, von dem bekannt ist, wie er
rungen« dieses Typs charakteristisch, daß sie eher im Modus in seinen Confessiones seine gesamte Jugendgeschichte als ein
des Nachgebens gegenüber einer vorbewußt bereits vorhan- langgezogenes Zögern vor der »Konversion« des Jahres 386
denen Evidenz als dem der Übernahme einer gänzlich neuen stilisierte. Gerade im Blick auf ihn scheint Spenglers Theorem
Doktrin geschehen - tatsächlich zitiert James ausführlich aus durchschlagend plausibel. Man kann an seiner Lebensge-
den Zeugnissen von starken Trinkern, denen es durch eine schichte - wie der zahlloser analoger Konfessionswechsler
Art von religiöser Sammlung (zumeist in einem protestanti- und Ernstmacher späterer Zeiten - mühelos zeigen, daß bei
schen Umfeld mit ausgeprägten Konversionsstereotypen) ge- ihm in der Tiefenstruktur seiner Persönlichkeit nie die ge-
lungen war, sich mit ihrem schon bestehenden, doch bisher ringste »Konversion« stattgefunden hat. Vielmehr hat er
ohnmächtigen besseren Wissen zu verbünden und so von nur innerhalb einer seit jeher bestehenden Ausrichtung auf
ihrer Sucht Abstand zu nehmen. die Überwelt mehrfach die Adressen bzw. den Großen An-
deren, den transzendenten Trainer gewechselt - vom Mani-
chäismus zum Platonismus, vom Platonismus zum philoso-
phischen Christentum, vom philosophischen Christentum zu

13 1 Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, 132 Os wald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. 0 .,
München 2002. S. 440f.
II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution

einem theozentrisch nachgedunkelten Unterwerfungskult. bei ihm in doppelter Stärke auf. Im Fall von Augustinus
Hierin war er keine Singularität, da schon seit dem zweiten schien die »Einung« in dem Moment erreicht worden zu sein,
nachchristlichen Jahrhundert unter den Gebildeten der römi- als ihm die Konzentration aller Teilenergien in der Geste der
schen Ökumene »Bekehrungen« zur Philosophie auftraten, christlich-platonischen Selbstaufgabe gelang. Das lange Zö-
die sich organisch in Übertritte zum Christentum fortsetzten gern des Kandidaten beweist im übrigen auch, daß eine voll-
- so etwa im Fall von Justin dem Märtyrer, des katholischen ständige Bekehrung zum Christentum zu seiner Zeit als
Patrons der Philosophen. Eintritt in ein von asketischen Schrecken umwittertes Trai-
Bei diesem mehrmaligen Umbau seines Überzeugungs- ningslager, die oströmische asketeria oder das westliche mo-
haushalts hat Augustinus zu keiner Zeit eine komplette epi- nasterium, vollzogen werden mußte - es ging daher nie allein
strophe vollzogen, sondern nur den schon in den manichäi- um den seit Paulus viel beschworenen »Glauben«, sondern
schen Anfängen vorgezeichneten Bruch mit dem weltlichen viel eher um die totale Unterordnung der Person unter das
Leben Zug um Zug radikalisiert, bis zuletzt eine persönlich harte Übungsgesetz der imitatio mit tödlichem Ausgang -
verdichtete und ohne Rest verkörperbare Form der asketi- oder deren mönchische Metaphorisierung. Darum erscheint
schen Abstoßung von »dieser Welt« erreicht war. Auch das es nur konsequent, wenn sich die anfängliche eutonische Ba-
berühmte »Nimm und lies« enthielt keine neue Entdeckung, lance zwischen Philosophie und Religion in den frühen au-
sondern nur eine Erinnerung an altbekannte Motive, die in gustinischen Schriften mit der Zeit zugunsten der verdüster-
seiner »epizentrischen Persönlichkeit« für die innere Macht- ten Spättheologie auflöste.
übernahme herangereift waren. Er verkörperte hierdurch in Die Originalität der augustinischen »Bekehrung« zeigt sich
idealtypischer Reinheit die Merkmale der »kranken Seele« allein in der Entschlossenheit, mit welcher der Bekehrte die
bzw. des depressiv »gespaltenen Selbst«, von welchem Wil- mit ihm geschehene Wandlung ins Exemplarische em-
liam James gezeigt hat, wie es die Sammlung seiner Kräfte in porzuheben wußte. Seine Confessiones sind das erste Muster
einer allmählichen oder plötzlichen Einswerdung nicht selten christlicher Performance-Literatur - die Verwandlung einer
auch ohne religiöse Kehre erlangt. 133 Was Konvertiten gern Vita in ein Lehrstück der Gnade. Zu dieser performativen
als die Wirkung der Gnade beschrieben, manifestiert sich in Wende verhalf Augustinus vor allem seine christliche Radika-
psychologischer Sicht vor allem als persönlicher Energiege- lisierung der platonischen Lehre von der ursprünglichen
winn infolge der erhöhten Integration. Eine solche tritt auf, Fehlstellung der Psyche. Was bei Platon bloß die faktische
wenn der gesamte psychische Antriebsapparat einer einheit- Fixierung der in der Höhle Gefesselten auf die Schattenspiele
lichen Sinnperspektive untergeordnet wird. Diesem Effekt ist an der Höhlenwand gewesen war- neutral gesprochen: der bei
es zu verdanken, daß nunmehr alle Partialkräfte unter der Weltkindern unvermeidliche Vorrang der empirisch orientier-
Regie eines bis dahin latenten neuen Überzeugungszentrums ten Wahrnehmung vor der reflektierenden Erkenntnis -, wird
zusammenspielen. Ein derart »geeintes« Subjekt erlebt sich bei Augustinus geradewegs zu einer Folge der Erbsünde er-
zugleich als berufen und bewegt - der Movebo-Effekt 134 tritt klärt: zu einer Wiederholung der ersten "Perversion«, kraft
welcher sich das Geschöpf von seinem Schöpfer abkehrte,
133 Jarnes, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, a. a. 0., S. 168f. um sich selbst seinem Ursprung vorzuziehen. Von da an lenkt
134 Siehe oben S. 384. der sündhafte Egoismus alle Schritte, weil Leben in der Per-
4i

II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution

version immer bedeutet: vergötzen, was man benutzen sollte stellt hatte: Weil Weisheit die Emanziption vom falschen
(die sinnlichen und weltlichen Dinge), und benutzen, was man Glauben an die Übermacht der Tyche bzw. der Fortuna im-
verehren sollte (die geistigen und göttlichen Dinge).135 Die pliziert, zielt sie auf ein radikales Schlußmachen mit den ge-
komplementäre Rückwendung, die den dabei entstandenen wöhnlichen Besorgnissen: Wo Götterfurcht war, soll Furcht-
metaphysischen Schaden wiedergutmachen könnte, vermag losigkeit werden. Damit kündigt sich bereits die Aufklärung
das pervertierte Geschöpf, nach Augustinus, nicht mehr aus an - die Bekehrung des Geistes zu einem religiös nicht ein-
eigener Kraft zu vollziehen - es bliebe in der gefallenen Posi- geschüchterten Gebrauch des eigenen Lebens. Die religiös
tion, der Abkehr vom Ursprung, unheilbar fixiert, käme ihm codierten Bekehrungen weisen hingegen zumeist nur den
nicht Gott selbst in der Person Christi entgegen, um ihm die Charakter eines Übertritts in ein alternatives Kultsystem
Re-Konversion zu ermöglichen. mit umgeschichteten Zwängen auf. Diesen Vorgang darf man
Gewiß hatte Oswald Spengler übertrieben, wenn er die sich in der Regel als eine flache Operation vorstellen - auch
Möglichkeit der Konversion innerhalb einer gegebenen Kul- die effektvolle Inversionsfigur des »Verbrenne, was du ange-
tur von vorneherein abstritt, dennoch erhob er seinen Ein- betet hast, und bete an, was du verbrannt hast«137 macht die
wand nicht ohne gute Gründe, da der größte Teil der real Prozedur in keiner Weise innerlicher, sie formuliert lediglich
erlebten Bekehrungen tatsächlich nicht im Modus einer epi- die Anordnung, in Zukunft Christus die rituellen Aufmerk-
strophischen Gesamtumkehrung, sondern des Übergangs zu samkeiten zukommen zu lassen, die man bisher dem Wotan
einer mehr oder weniger naheliegenden Alternative ge- oder irgendwelchen Wald-, Wind- und Berggöttern erwiesen
schieht: Eine wirkliche Umwälzung vollzieht sich letztlich hatte. Auch bei zahlreichen anderen religiös codierten Be-
nur beim Eintritt auf den Hochkulturpfad als solchen, der kehrungen beobachtet man vor allem die metanoetischen Ak-
die Sterblichen auf die hohen Formen der Vertikalspannung zentversetzungen innerhalb eines stark vorstrukturierten
ausrichtet, indem er sie impft mit dem Wahnsinn des Verlan- Feldes. Im übrigen ist noch in der Psychoanalyse des 20. Jahr-
gens nach dem Unmöglichen. hunderts ein Nachhall der antiken conversio zu vernehmen.
Die Freudsche Maxime »Wo Es war, soll Ich werden« verrät
Den individualrevolutionären Charakter dieser Wende bringt von ferne ihre Zugehörigkeit zu den metanoetischen Prak-
Seneca spät, aber deutlich auf den Begriff, wenn er deklariert: tiken, bei denen der Wandel der Lebensgewohnheiten mit
Desinamus quod voluismus velle! >,Laß uns aufhören zu wol- einem Subjektwechsel, das heißt einer Umbesetzung der
len, was wir bisher woll ten!« 136 Der Wille zum Anderswollen Leitfigur auf dem Platz des Großen Anderen, einhergeht.
setzt die permanent gespannte Sorge um die neue, ungewohn- Dabei entspricht das Es typologisch dem trüben Register
te und unwahrscheinliche Haltung in Gang. Ähnliches ließe der dämonischen Besessenheit, das Ich der monotheistischen
sich von der Lehre Epikurs sagen, die auf ihre Weise eine Aufhellung.
Übung des Bruchs mit dem vulgären modus vivendi darge-

135 Über die Verkehrung von uti (benutzen) und frui (genießen) bei
Augustinus vgl. Augustinus-Lexikon, hg. von Cornelius Mayer,
Vol. 3, Fase. 112, Basel 2004, Spalten 70-75.
13 6 Epistolae morales ad Lucilium 61. 137 Siehe oben S. 10.
II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution

Die Deutung der Taufe als Wiedergeburt verleiht dem Akt


Bekehrung als Trainerwechsel: Franziskus und Ignatius eine symbolische Tiefe, der auf der Seite der Einverleibung
keine adäquate Entsprechung gegenübersteht.
In übungstheoretischer Sicht kommen die Bekehrungen des Wie sehr die christliche Metanoia einem Wechsel des
metanoetischen Typs einem Trainerwechsel gleich, da sich die Übungssystems und der Trainerfigur gleichkommt, geht nicht
Bekehrten in der Regel nicht nur einem veränderten morali- zuletzt aus den beiden populärsten Konversionslegenden des
schen Regime - und eo ipso einem neuen Großen Anderen - , hohen Mittelaters und der beginnenden Neuzeit hervor - der
sondern auch einem neuen Übungsplan unterwerfen. Die des Franz von Assisi und der des Ignatius von Loyola. Sieht
Persönlichkeitsstruktur als solche jedoch wird in der Regel man sich die Umkehr des jungen Franziskus näher an, so war
über die Wende hinweg mitgenommen. So hat sich das längst sie alles andere als ein plötzlicher Sprung ins christliche Lager.
habitualisierte Eifererturn des Paulus »nach Damaskus« von Der Jüngling war auf die spätere Wendung, deren akuter Aus-
pharisäischen auf jesuanische Inhalte umgestellt - um sie in löser der bekannte Autoritätskonflikt mit dem Vater war, in
der Folge um christologische Zusätze aus eigener Werkstatt gewisser Weise längst vorbereitet, seit er in seinen formieren-
zu ergänzen. Gewiß macht es einen Unterschied, ob man mit denJahren eine robuste Foim von ritterlichem Idealismus und
Gamaliel, dem rabbinischen Lehrer, trainiert oder mit Jesus, eleganter Minnerhetorik proven~alischen Typs verinnerlicht
dem Auferstandenen. Man täte dem Völkerapostel unrecht, hatte - man verweist in diesem Zusammenhang zumeist auf
wollte man das von ihm in Gang gesetzte opus Christi aus- die französische Herkunft der Mutter. Als Franziskus sich in
schließlich auf einen zelotischen Nenner bringen. Paulus hat der spektakulären Lossagung von der väterlichen Autorität
auf dem Weg des Nachgebens gegenüber der christlichen scheinbar »gegen seine Herkunft« wandte, begann er erst
Lehre in puncto Liebe (agape oder caritas) eine bemerkens- recht mit deren Verwirklichung. Im symbolischen Raum
werte Persönlichkeitserweiterung erfahren. Auch wäre die war es von den hohen Damen der Troubadourlyrik nur ein
Erfolgsgeschichte des Christentums ohne die paulinische Schritt zu der »Dame Armut«, der er nun seinen Dienst wid-
Dehnung des Auserwählungshorizonts (die, wie bemerkt, mete, und von dem eleganten Platonismus für die höheren
nicht mit Universalismus verwechselt werden darf) schlech- Stände, der sich im höfischen Damen- und Ehrenkult verbarg
terdings nicht vorstellbar. (und der sichtlich auf die bürgerlichen Schichten Assisis über-
gegriffen hatte), war der Weg nicht weit zu jenem Platonismus
Für die weitere Entwicklung des Christentums als des wich- für das Volk, den das spätantike und mittelalterliche Christen-
tigsten Übungsfelds und Habitusgenerators im antik-mittel- tum anbot.
alterlichen Übergangsraum sollten sich die metanoetischen Das Novum liegt wieder ausschließlich in der Dezision - in
U mwendungsformen durchwegs als die folgenreichsten er- der Sammlung auf das eine, das die Kraft in dem Punkt sam-
weisen. Neben ihnen blieb das eigentlich intitiatische Sakra- melt, wo »es not tut«. Der junge Franziskus war unverkennbar
ment, die Taufe, eine momenthafte Äußerlichkeit. Eine ef- vom Zeitgeist ergriffen: Das Christentum derfrühen Städtezeit
fektive Neuformung des Menschen hängt nicht von einer ein- suchte den Superstar. Mit der Rolle des Armutstroubadours
maligen Geste ab, sondern kann sich nur infolge von hatte er eine Position gefunden, die es ihm erlaubte, die imitatio
nachhaltigen selbstkuratorischen Bemühungen durchsetzen. Christi in eine Minne-Allegorie zu transponieren. Inderr. Ce:
T

11 Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution

lernte, aus der Bitterkeit Süße zu gewinnen, gewann er Spiel- konnte in diesem Vorstellungsfeld die Wiedererscheinung des
räume für die Entfesselung psychischer Energie, um die Verstorbenen vor einigen Brüdern in verklärter Gestalt nicht
Dauerdepression der kommenden Jahrhunderte zu kompen- ausbleiben: Man erkannte seine Person und die Christi zu ein
sieren: den wachsenden Skandal der unfreiwilligen Armut in und derselben Person verschmolzen - ein Indiz dafür, daß in-
einer Epoche, die sich mehr und mehr dem Reichtum ver- tensive Supranaturalismen feldförmig auftreten und sich in
schrieb. Durch die Entsagungsübung der Herrin Armut zulie- Räumen synchron geübter Suggestibilität entfalten.
be erzeugte er Kraftüberschüsse von der schwächsten Stelle aus
- um einen Preis allerdings, der schon die Zeitgenossen schau- Auch der Fall des Ignatills von Loyola weist all die Merkmale
dern machte. Er entrichtete ihn in der Form einer triumphali- auf, die für einen klassischen Trainerwechsel unter dem Vor-
schen Selbstkasteiung, die nicht zur Ruhe kommen wollte, zeichen der Metanoia sprechen. Zwar sind sie von dem sa-
bevor nicht die totale Imitation, die Nachahmung des Gekreu- kralen Expressionismus des Performance-Künstlers Franzis-
zigten durch die Wundmale, erreicht war. Thomas von Celano kus bereits weit entfernt, jedoch manifestiert sich der Kon-
erfaßte den kritischen Punkt präzise: »seine Seele war seit An- versionsmechanismus auch bei Ignatius in strikt analogen
fang ganz von jenem wunderbaren Kreuze erfüllt«. 138 Hieraus Formen. Die Persönlichkeitsstruktur des jungen Adligen ist
ergab sich für den imitator Christi unweigerlich die Notwen- gemäß dem Ehrencodex seiner Epoche voll ausgebildet - sein
digkeit, nicht älter zu werden als das Vorbild: Ohne den Im- Ambitionshorizont ist gesättigt von den landläufigen Kon-
perativ, dem Herrn auch hinsichtlich des Lebensalters Nach- zepten des ritterlichen Lebens und des Damenklllts. Nach der
folge zu leisten, wäre seine vorsätzliche Selbstzermürbung Katastrophe der Schlacht von Pamplona 152 I, bei welcher
nicht denkbar gewesen. Wie sehr er hierbei noch in den Tra- der Offizier im Alter von 30 Jahren zum Krüppel wird und
ditionen des asketischen Agon und des christlichen Athletis- aus den Rängen der Prätendenten um weltlichen Ruhm aus-
mus dachte, zeigte seine Sterbe-Pantomime: scheidet, ergreift auch ihn der Geist der Zeit, der für dieses
»Als er nämlich von jener schweren Krankheit, die allem Mal eine imitatio Christi in den Formen des Militantismus
Siechtum ein Ende setzte, ganz erschöpft war, ließ er sich nahelegt. Ignatius wechselt den Trainer, indem er von Amadis
nackt auf den nackten Boden betten, damit er in seiner von Gallien, dem Helden des Ritterromans, auf Christus um-
letzten Stunde, da er noch den Feind zum letzten Mal stellt - dieser tritt jetzt unter den Zügen eines göttlichen
reizen könnte, nackt mit dem Nackten (nudus cum nudo) Generals auf, der nur noch von irdischen Elitetruppen nach-
kämpfe. Er erwartete furchtlos den Sieg, und mit gefal- geahmt werden kann.
teten Händen ergriff er die Krone der Gerechtigkeit. « Von den unabsehbaren Konsequenzen der ignatianischen
Die Denkform der imitatio reichte bei ihm und seinem Gefolge Wende für die weitere Geschichte katholischer und allgemein
so tief, daß von der kleinen Gemeinde, die den Sterbenden moderner Subjektivierungsformen habe ich an anderer Stelle
umgab, auch das Abschiedsmal des Herrn zelebriert wurde - ausführlicher gesprochen. 139 Sie sind untrennbar von der Mo-
in gefährlicher Nähe zur blasphemischen Parodie. Natürlich
139 P. SI., Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische
Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main 2006, Kapitel 11:
13 8 Thomas von Celano, Das Leben des heiligen Franziskus, a. a. 0., Die Erfindung der Subjektivität - Die primäre Enthemmung und
S. 171. ihre Ratgeber, S. 93f.
II Übertreibungsverfahren 9 Trainerwechsel und Revolution

dernisierung des Übens - im gegebenen Fall von der Über- Selbstbestimmung entdeckt, als sie die schlechthinnige Ab-
tragung des militärischen Trainingsgedankens auf die neuen hängigkeit von Gott gegen die humane Selbstbehauptung
religionspolitischen Leistungsrollen, die auf den Schlachtfel- austauschten. Wir werden sehen, daß nichts von den wirkli-
dern der Gegenreformation geformt werden. Loyolas Platz chen Verhältnissen weiter entfernt sein könnte.
in der Geschichte der Subjekttechniken ist darum von so
überragender Bedeutung, weil sich in ihr alle früheren
Schichten des autoplastischen Übens in vollkommener Klar-
heit übereinander sedimentiert haben: Was mit dem Exerzie-
ren der griechischen und römischen Soldaten begonnen hatte
und von den Athleten bzw. den Gladiatoren übernommen
worden war, ehe sich die christlichen Eremiten und Coeno-
biten die Askesegeheimnisse dieser Agonisten aneigneten -
das alles kehrte in der Existenz des gescheiterten Soldaten
nach 1521 zurück, um den stärksten Schub neuerer psycho-
technischer Exerzitien auszulösen, diesmal jedoch - dem
neo-rhetorisch aufgebrochenen humanistischen Milieu ent-
sprechend - in der Form eines Imaginationstheaters, bei
dem der Übende sich nach strikter Anleitung von seiner ei-
genen Nichtswürdigkeit und seiner unermeßlichen Schuld
gegenüber dem Erlöser überzeugt. Die jesuitischen Exerzi-
tien, dieses autogene Training der Zerknirschung in dreißig
harten Tagen und Nächten äußerster Sammlung, bilden zu
ihrer Zeit offensichtlich die jüngste Schicht in dem Strati-
gramm der alteuropäischen Übungskulturen, deren alte und
älteste Schichten bis in die Anfänge des Heroismus und Ath-
letizismus zurückführen. Jüngere neurorhetorische For-
schungen zeigen im übrigen, daß die in Übungen erzeugten
»künstlichen« Affekte von den Naturaffekten physiologisch
nicht zu unterscheiden sind.
Der quasi instrumentelle Griff der jesuitischen Technik
nach der gläubigen Psyche, die selbst aus der Meditation
ein Trainingslager machte, kündigt in aller Deutlichkeit das
Zeitalter an, das sich später die »Neuzeit« nennen sollte. Des-
sen Bewohner entwickeln sich zu »modernen Menschen« in
dem Maß, wie sie sich einreden, sie hätten das Geheimnis der
III Die Exerzitien der Modernen
493

PERSPEKTIVE: WIEDERVERWELTLICHUNG
DES ZURÜCKGEZOGENEN SUBJEKTS

Von der Macht der Parole

Denn es ist wirklich Zeit, daß man nach allen »Größeres sowohl erhoffen als auch versuchen«:l Es gehört
vorhergegangenen Jahrhunderten Größeres sowohl zu den Stärken der modernen Welt, daß sie nie in Verlegenheit
erhoffe als auch versuche. war, wenn es galt, durch den Mund ihrer Protagonisten Pa-
rolen zu verkünden, an denen die Teilnehmer exzessiver
Johann Amos Comenius, Feldzüge sich erkannten. Was Lorenzo Ghiberti, der floren-
Vorläufer der Pansophie, tinische Goldschmied und Humanist, zu Beginn des I 5. Jahr-
London I639 hunderts seinen Mitverschworenen beim Beginn der Argo-
nautenfahrt zu den Ufern der universalen Kunst ins Ohr
gesagt hatte: »Die Menschen können von sich aus alles, so-
bald sie wollen«,2 ist zweihundert Jahre später den musischen
und technischen Virtuosen, den modernen Könnensmen-
schen, den Unternehmern des eigenen Lebens sowie den in
Scharen aufziehenden Präfekten für das Leben der anderen
schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Allen peri-
odisch wiederkehrenden Konjunkturen der historischen Ent-
mutigung und des Rufs nach Selbstverkleinerung zum Trotz
wird das stolze Motto der Neuzeit nie wieder ganz vergessen
werden - noch die sowjetischen Pädagogen der Aufbruchs-
zeit um I920 wiederholen die revolutionär-optimistische
These in allen Tonlagen, allenfalls die Ergänzung hinzufü-

I Maiara enim post omnia anteacta saecula et sperandi et tentandi


tempus est. J. A. Comenius, Vorspiele. Prodromus pansophiae. Vor-
läufer der Pansophie, herausgegeben, übersetzt, erläutert und mit
einem Nachwort versehen von Herbert Hornstein, Düsseldorf 1963,
S.69·
2 Zitiert nach: Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in
Italien. Ein Versuch (zuerst 1860), Stuttgart 1988, S. 106.
494 III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 495

gend: vorausgesetzt, es sind, außer dem resoluten Willen zur te. Die Zeiten nach Trotzkij zeigten, daß die Arbeit am Men-
Tat, die sozialen Voraussetzungen gegeben. schen in ganz anderen Behandlungszentren fortging. Das
Der große Comenius, 1592-167°, Kirchenvater der barok- Halbfabrikat Mensch hat seine Tücken, die sich gegen die
ken Pädagogik und Ideengeber zu einem neuzeitlichen Lern- Weiterverarbeitung sträuben, gleich ob zum Bildungsmen-
maschinenbau im Großen, wußte, was es hieß, nach so vielen schen, zum Übermenschen oder zum Neuen Menschen. Im-
verlorenen Jahrhunderten Größeres zu unternehmen: Die merhin, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs pfeifen es die
Gnade ist groß, doch größer ist die auf den Menschen ange- Spatzen von den Dächern: »Der Mensch hat es soweit ge-
wandte Technik; die Erwählung führt weit, weiter jedoch bracht, die Menschheit als Rohstoff zu behandeln. ,,4
führt die neue Erziehungskunst. Wo Ausnahme war, soll Re-
gel werden. Es gilt jetzt, den Buchdruck auf junge Seelen
anzuwenden und Schülerjahrgänge zu publizieren, die wie Der neue Zeitgeist: Experiment mit M ensehen
Prachtexemplare aus einer druckfehlerfreien Menschenverle -
gerei hervorgehen. Der visionäre Pädagoge sprach nicht um- Der Weg ins Zeitalter der Herstellung, die in der Herstellung
sonst von seinem Schulprojekt als einem typographaeum vi- des Herstellers kulminiert, ist lange vor dem 20 . Jahrhundert
vum, einer lebendigen Setzerei, welche die Welt mit Meister- betreten worden. Wann immer es auf dieser Route voranging,
werken des Menschendrucks bevölkern sollte. Er brachte wurde den Zeitgenossen mit großem Pomp verkündet, wie der
damit eine Idee vor, die von den Medientheoretikern des spä- Mensch sich selber »zugänglich« wird. Es scheint, das effek-
ten 20. Jahrhunderts neu gewürdigt werden kann - obschon tive Zentrum neuzeitlicher Aktualitäten bestehe in fortlaufen-
diese weniger vom Druck des Subjekts in einer Presse als von den Berichten davon, auf welche Weise der Radius der Verfü-
seiner psychischen Formatierung sprechen werden. Das frü- gung des Menschen über sich selbst und seinesgleichen
he 20. Jahrhundert verriet seine Anliegen, als Leo Trotzkij im wächst. Solche Neuheiten riefen - unterhalb der Ebene ihrer
Stil des schwärmenden Hardware-Ideologen dozierte: generellen Ablehnung aufgrund ihrer Unheimlichkeit - seit
»Wenn die Menschheit die Kontrolle über die anarchi- jeher bejahende und verneinende Leidenschaften hervor, ja
schen Kräfte ihrer eigenen Gesellschaft (sie) gewonnen man schlug apokalyptische Töne an, wenn wirklich Neues
hat, wird sie sich selber im Mörser und der Retorte des von dieser Front zu melden war, so zuletzt um das Jahr
Chemikers zugänglich werden. Das erste Mal wird sich 2000, als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms be-
die Menschheit selber als Rohmaterial oder höchstens als vorstand. Tempus est, schreibt Comenius im Jahr des Herrn
physisch und psychisch halbfertiges Produkt ansehen. ,,3 r639 mit feurigen Lettern an die Wand: »Es ist an der Zeit« -
Dem revolutionären Wissenschaftskult zufolge konnte die dieser Formel gemäß werden bis heute die Tagesordnungen
Endfertigung nirgendwo anders als in den Prägewerken des für die futurisierte Welt erstellt. Das Dringendste, was auf
Neuen Menschen erfolgen, die der Sowjetstaat erstellen woll- ihnen anberaumt wird, ist die systematische Fertigung von

3 Leo Trotzkij in einer Ansprache an Vertreter einer dänischen Stu- 4 L'homme en estvenu atraiter l 'humanite comme une matiere. Zitiert
demenorganisation am 27. November 1932, zitiert nach: Torsten nach: Lucien Gauthier, Von Momaigne bis Valery. Der geistige Weg
Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinie- Frankreichs. Eine Auswahl französischer Originaltexte mit deut-
rung in Sowjetrussland, München 2002, S. 179f. scher Übertragung, Reutlingen o. J. (ca. I950), S. XXVI.
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 497

Menschen, die den höchsten Ansprüchen an Menschenför- Die neuen Pädagogen glauben zu wissen, wie man in Zu-
migkeit genügen - wir sprechen vom europäischen 17. Jahr- kunft den zufälligen Überdruß des Einzelnen an seinem bis-
hundert, in dem die Zeitgeister des Aufbruchs prägnant wer- herigen Leben überholt: Das ganze System der Menschen-
den, obschon das Wort »Zeitgeist« erst um 1800 ins moderne formung wird von Grund auf metanoetisch ausgerichtet, ja,
Vokabular gelangt. »Menschenförmigkeit« - das bedeutete die Grundordnung der »pädagogischen Provinz« selbst zeugt
damals noch unverkürzte Gottebenbildlichkeit. Sie schließt von dem Impuls, der späten Reue Einzelner durch die frühe
für den entflammten reformatorischen Theologen allseitige Erziehung aller zuvorzukommen. Diese »Anthropogogik «
Belesenheit in den drei Grundbüchern des Seins ein, wie sie verrät einen naiven Perfektionismus, von dessen Elan noch
in der Natur, der menschlichen Seele und der Heiligen Schrift die spätere Aufklärung zehrt. In ihr reimt sich Disziplin auf
niedergelegt sind. 5 Die Menschheit soll jetzt in Serie gehen, Streben nach Vollendung, Pflicht auf freies Entgegenkom-
um jeden Landstrich dieses Erdteils - später des Planeten - mit men, Studium auf inneren Überschuß. In zweiter Reihe erst
Individuen auf der Höhe des Menschenmöglichen zu besie- muß über die Notwendigkeit nachgedacht werden, dem
deln. Die Geduld mit den vorgefundenen Unzulänglichkeiten menschlichen Wildwuchs auch mit den Mitteln des Überwa-
ist aufgebraucht: Der Mensch muß aufhören, ein Gewächs des chens und Strafens entgegenzutreten.
moralischen Zufalls zu sein. Wir, die ungeduldig gewordenen Es ist höchste Zeit, ein von Foucault mitbewirktes Mißver-
Selbst- und Menschenbildner der technischen Jahrhunderte, ständnis zu korrigieren: Es sind nicht die Gefängnisse und die
sollen und wollen nicht länger abwarten, ob dann und wann Orte unterdrückerischer Überwachung, sondern die oft
ein Einzelner sich dazu bequemt, mit seiner gewöhnlichen strengen Schulen und Hochschulen der Neuzeit, daneben
Existenz zu brechen und sich durch Metanoia, Askese und auch die Werkstätten der Handwerker 7 und die Ateliers der
Studium ein zweites, ein gesteigertes, ein exemplarisches Le- Künstler, in denen die wesentliche Human-Orthopädie der
ben zu schaffen. An hohen Spalieren sollen künftig schon die Moderne praktiziert wird, sprich die Formung der Jugend
jungen Kreaturen in den Menschengärtnereien des Barock- nach den Maßstäben christlich-humanistischer Disziplin.
staats zu wohlgeratenen Exemplaren ihrer Gattung aufgezo- Das eigentliche Ziel des Aufbruchs ins Zeitalter der Künste
gen werden. 6 und Techniken ist die Heranbildung immer neuer Generatio-
nen von Virtuosen. Gewiß, im »heterotopischen « Hinter-
Als Quellen der Drei-Bücher-Lehre des Comenius sind einige von grund, den die Scharen der »infamen Menschen « bewohnen
Paracelsus inspirierte Autoren des 17. Jahrhunderts identifiziert (sie bilden im Zeitalter der absolutistischen Bevölkerungs-
worden, namentlich die Verfasser der rosenkreuzerischen Manifeste, politik unvermeidlich eine massive Gruppe), zeigt der diszi-
ferner Johann Heinrich Alsted, Theologia naturalis ([615), sowie
plinäre Imperativ sein zweites Gesicht -von dem muß reden,
Benedictus Figulus, Pandora magnalium naturalium, Straßburg
1608. Vgl. Johann Amos Comenius, Der Weg des Lichts, Via Lucis, wer die »Geburt des Gefängnisses « aus dem Geist der Auf-
eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Uwe
Voigt, Hamburg [997, S. 208. Zu Comenius' pädagogischer Meta- voraus, somit die Verbürgerlichung der Apokalyptik, zugleich ihre
physik im Vorfeld der Aufklärung siehe auch unten S. HIf. °evolutionäre Entschärfung, indessen die Ideologen der Revolution
6 Die Ungeduld des Comenius erklärt sich aus den Endzeiterwartun- die neo-apokalyptische Verschärfung predigen.
gen des ausklingenden Reformationszeitalters; die der Späteren setzt 7 Über die formenden Effekte handwerklicher und instrumentelle~
bereits die Umstellung von Apokalypse auf Geschichtsphilosophie Übungen siehe oben S. 457f.

<;
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 499

sichtspflicht für die Überzähligen rekonstruieren möchte. von Versuch zu Versuch.lO Die Neuzeitmenschen fügten
Absurd wäre es jedoch, den Begriff der Disziplinierung im dem asketischen Experimentalismus der Alten den techni-
allgemeinen auf die pönitentiären, repressiven und überwa- schen und artistischen, schließlich den politischen hinzu.
chungsstaatlichen Bedeutungen festzulegen, die Foucault in Sie nahmen sich allen Ernstes vor, den Text der conditio hu-
den Schriften seiner mittleren Periode mit gezielter Übertrei- mana umzuschreiben - teils mit aktualisierten christlich-hu-
bung hervorkehrte. 8 manistischen Prozeduren, teils gemäß den Richtlinien nach-
Wer die Fertigung des Neuen Menschen in all ihren Sta- christlicher und posthumanistischer Existenzentwürfe. Essay
dien kennenlernen will, muß seine Sonden jedenfalls bis ins und Experiment sind nicht bloß literarische und wissen-
17. Jahrhundert schicken, ja bis in die Turbulenzen der Re- schaftliche Verfahren, sie prägen den Daseinsstil der Moder-
formation und weiter zu deren Präludien in der spätmittel- nen im ganzen - nach 1789 auch den der großen Politik und
alterlichen Mystik. Noch wer wie der junge Gorkij, spürbar der nationalen und globalen Ökonomie. Experimentator ist,
unter Nietzsches Einfluß, den »Menschen mit Großbuchsta- wer es auf jedes Ergebnis ankommen läßt, überzeugt, wie er
ben« schreiben wollte, reihte sich, fast unwissend, in eine ist, daß das Neue immer Recht hat. Unnötig zu betonen, daß
Tradition ein, deren Anfänge sich bei den Rekruten Christi der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, als er 1899
in den ägyptischen Wüstenklöstern sowie den paulinischen the great work 0/ upli/ting mankind beschwor, sich in diesel-
Gemeinden Griechenlands und Kleinasiens zeigen, jenen be Überlieferung stellte, die christliche Weltmission gegen
pneumatischen Aggregationen, an denen der Heilige Geist, den zivilisatorischen Messianismus vertauschend. 11
unterstützt von den Übungen der Fleischeskreuzigung, eine
»neue Schöpfung« 9 bewirken sollte.
Schon die frühen Christen begannen, ihr ganzes Leben Die moderne Unruhe
in ein Experiment umzuwandeln, um sich dem Gottmen-
schen anzugleichen: nos autem in experimentis volvimur, Die Anfänge der Wende ins Größere lagen schon mehrere
schreibt Augustinus in seinen Bekenntnissen - nur Gott Jahrhunderte zurück, als Comenius angesichts der endzeit-
bleibt immer sich selber gleich, wir aber werden gewälzt lich gedeuteten Wirren des Dreißigjährigen Krieges den Feld-
zug der All-Erziehung (Pampaedeia) lancierte. Im Men-
8 Siehe hierzu oben S. 234f. Im übrigen ist die Neigung, den Begriff schenpark der beginnenden Neuzeit war infolge der Großen
Disziplin mit Despotismus zu assoziieren, kein Proprium des Zeit- Pest von 1348 eine Unruhe losgebrochen, die sich nie wieder
geists nach 1945 oder nach 1968. Sie läßt sich schon bei Johann sedieren ließ. Über die Ursprünge des neuen Zeit- und Welt-
Friedrich Herbart entdecken, dem Nachfolger Kants auf dem Kö-
geists ist viel gerätselt worden. Man hat sie in der Mystik der
nigsberger Lehrstuhl, der den von Kant sorglos verwendeten Begriff
der Disziplin verwarf, um ihn durch eine noch problematischere nordwesteuropäischen Städte oder in der frühkapitalistischen
Ersatzbildung wie »Regierung« zu ersetzen, ein Vorschlag, der an Wirtschaftsweise verorten wollen; man hat sie mit dem Auf-
Foucaults Idee des Selbstgouvernements erinnert. Vgl. Christopher kommen der Räderuhren ebenso in Verbindung gebracht wie
Korn, Bildung und Disziplin. Problemgeschichtlich-systematische
Untersuchung zum Begriff der Disziplin in Erziehung und Unter-
richt, Frankfurt am Main 2003, S. 105f. 10 Confessiones, 4· Buch, Kap. 5·
9 Galater 6, 15 und 5, 24. I! Hamilton Club Speech, Chicago, 10. April 1899.
500 III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 501

mit der doppelten Buchhaltung der Venezianer, die Luca Pa- Sich-in-Form-Haltens mit wahrnimmt, wozu ironischerwei-
cioli, der Franziskanerpater, in seinem europaweit gelesenen se auch das Sich-Außer-Form-Bringen durch Fehltraining
Buch über Arithmetik von 1494 propagierte. Man hat die und Unterlassungsübungen gerechnet werden muß. Man wird
faustische Seele beschworen, um der modernen Rastlosigkeit dieses Zugeständnis wohl leichter für Athleten und Mönche
eine metaphysische Quelle anzudichten, und hat umgekehrt einräumen als für Bauern, Fabrikarbeiter und Handlanger.
den Doktor Faustus, den Alleskönner und »weitbeschreyten Und doch: Noch in den massivsten Tätigkeiten vom Typus
Schwarzkünstler«, der seine Seele für erhöhten Seibstgenuß Arbeit ist eine der zahlreichen Masken des übenden Lebens
verpfändete, zur Personifikation des Kredits erklärt, jener zu erkennen. Wer sie lüftet, durchschaut die Mystifikationen
fünften Essenz, die tüchtigen Schuldnern in die Knochen der produktivistischen Ära und überzeugt sich von der All-
fährt, um sie auf stets erweiterten Bahnen über Land und gegenwart des Übungsmoments inmitten der Arbeitsphäno-
Meer zu treiben. Auch hat man die moderne Unruhe mit mene. Dann wird bis ins kleinste Detail demonstrierbar, wie
dem Raumerweiterungsschock in Zusammenhang gebracht, sich die Tätigen durch regelmäßig wiederholte Tätigkeiten
der von der atlantischen Seefahrt und der Entdeckung der selbst modellieren. Es gilt zu begreifen, warum und infolge
Neuen Welt ausging, als habe die globale Beweglichkeit der welcher Rückwirkungen aufs eigene Dasein der Mensch ef-
schwimmenden Kapitale auf den Ozeanen sich bis in die Le- fektiv als Erzeuger des Menschen gelten kann.
bensgefühle der verlorensten Städte auf dem Festland fort-
gepflanzt. »Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die
Erde um die Sonne, sondern daß das Geld um die Erde Autoplastisches Handeln: circulus virtuosus
läuft.« 12
Im folgenden ist zu zeigen, daß die spezifisch neuzeitliche Die Explizitmachung der Basisdaten über die Produktion des
Unruhe im Feld der Menschenbildungen, die in ihren jüngsten Menschen durch den Menschen läuft über das Studium der
Ausläufern noch immer, ja mehr denn je, die unsere ist, vor vita activa - das hatten die Pragmatiker des 19. Jahrhunderts
allem endogenen, das heißt hier: übungsgeschichtlich bzw. begriffen. Indem sie das tätige Leben studierten, deckten sie
asketologisch relevanten Quellen entspringt. Im Rückblick das anthropotechnische Grundgesetz auf: das der autoplasti-
auf die Programme und Werkstätten des übenden Lebens in schen Rückwirkung aller Handlungen und Bewegungen auf
der vormodernen Welt wird begreiflich: Die junghegeliani- den Akteur. Das Arbeiten setzt den Arbeitenden in die Welt
sche und Marxsche Einsicht, wonach »der Mensch den Men- und prägt ihm auf dem kurzen Weg des übenden Sich-For-
schen erzeugt«, läßt sich in aller Konsequenz erst nachvollzie- mens den Stempel seines eigenen Tuns auf. Keine Tätigkeit
hen, sobald man hinter dem Wort »erzeugen«, das einseitig bei entgeht dem Prinzip der rückwirkenden Prägung des Opera-
der modernen Arbeitswelt und ihren industriellen Prozedu- teurs - und was zurückwirkt, wirkt auch voraus. Die Tat er-
ren entliehen wurde, das Universum des übenden Verhaltens zeugt den Tätigen, die Reflexion den Reflektierten, die Emo-
des Trainings und der Routinen bewußten wie unbewußte~ tion den Fühlenden, die Gewissensprüfung das Gewissen
selbst. Die Gewohnheiten formen die Tugenden und Laster,
Gewohnheitskomplexe die »Kulturen«. Die europäische -_
12 P. SI., .lm Weltinne~~aum des Kapitals. Für eine philosophische
TheOrIe der GloballSlerung, Frankfurt am Main 2005, S. 79. Seefahrer, die die Welt umrunden, entdecken noch au~ =-::=-_
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 503

fernsten Inseln Völker mit eigenwilligen, zum Teil bizarren Leistungssteigerungen wird die Hyperkompensation durch
Lebensweisen; die Anthropologen an Bord erkennen in den eine Art von Hyperadaptation ergänzt. Sie bewirkt, daß Ner-
lokalen Sitten die Macht der Übungssysteme und beschreiben ven- und Bewegungssysteme gewissen regelmäßigen Stimu-
diese autoplastischen Menschenformungsregeln, in Analogie lationen unter günstigen Bedingungen durch eine Art von
zu entsprechenden europäischen Phänomenen und in Er- vorauseilender Ausführungsbereitschaft entgegenkommen -
mangelung eines besseren Ausdrucks, als »religiöse« Ri- so können selbst hochunwahrscheinliche Bewegungen wie
tuale. Prestissimo-Läufe am Klavier oder Tricks von Taschenspie-
Doch erschöpft sich das übende Leben nicht in der ein- lern (französisch: prestidigitateurs, wörtlich: Schnellfingerer)
fachen Reproduktion der Handelnden durch ihre Handlun- ins Körpergedächtnis eingeprägt und zu einem virtuosen Ha-
gen. Alle Erweiterungen der Könnenskreise, alle Steigerun- bitus stabilisiert werden. Dabei wird besonders die antizipa-
gen bis zu den letzten Höhen der Artistik vollziehen sich auf torische Intelligenz angeregt. Jüngere Forschungen auf dem
der Basis von Selbstformung durch Übung. Gebiet der Lerntheorie, der Neuromotorik, der Neurorheto-
Das Rätsel, wieso Leistungen unter gewissen Bedingungen rik und der Neuroästhetik konsolidieren und differenzieren
zum Wachstum neigen, ist bis heute nicht ohne Rest auf- didaktische Intuitionen, deren Anfänge aus den frühen Aske-
geklärt, für einige Formen von Aufwärtsspiralen stehen je- sen und Artistiken stammen. Alle höheren Kulturen nutzen
doch präzisere Beschreibungen zur Verfügung. Im Bereich die Beobachtung aus, daß jeder Tatige in der Lauge seiner
physischer Kraftsteigerung beispielsweise hat die explizite Tatigkeiten gefärbt wird, bis sich an ihm das Wunder der
Darstellung des Hyperkompensationsmechanismus in der »zweiten Natur« ereignet: daß ihm das fast Unmögliche
modernen Sportphysiologie für eine einschneidende Verste- gleichsam mühelos von der Hand geht. 14
hensausweitung gesorgt. Die jüngeren Trainingswissenschaf- Der oberste Lehrsatz der expliziten Trainingstheorien lau-
ten vermochten im Detail zu zeigen, wie der muskuläre Ap- tet also: Können, das unter anhaltender Förderspannung
parat nach starken Belastungen sein Kraftreservoir bis zu steht, erzeugt gleichsam »aus sich selbst« gesteigertes Kön-
einem Niveau wiederauffüllt, das über dem vorherigen Fit- nen. Dank exakter Beschreibungen des circulus virtuosus
ness-Status liegt, vorausgesetzt, ihm wird die benötigte Er- wird erklärlich, wie Gelingen in höheres Gelingen mündet,
holungszeit eingeräumt. In den Regenerationsrhythmen Erfolg in erweiterten Erfolg. Das jesuanische »Wer hat, dem
verbirgt sich das Geheimnis der Verausgabung, die zur Erhö- wird gegeben werden«, 15 ist kein Beleg für einen galiläischen
hung des Leistungsniveaus führt. Von alters her erschloß sich Frühkapitalismus, sondern eine der ältesten Formulierungen
dieses Phänomen dem intuitiven Begreifen und wurde schon
anstrengung (jatigue, surmenage) durch exzessive Übunge n ge-
in der Antike für Intensivtrainings ausgenutzt; andererseits
schürt, wohl nicht nur aufgrund ihrer Voreingenommenheit für
haben bereits die Alten Übertrainierungsphänomene ge- Gleichgewichtsvorstellungen, sondern auch, weil sie das Hyper-
kannt, wie sie infolge von Mißachtung der Regenerations- kompensationsprinzip noch nicht verstanden. Vgl. Philipp Sarasin,
rhythmen auftreten. 13 Bei mentalen und feinmotorischen Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914,
Franfurt am Main 2001, S. 317f.
14 Vgl. Peter Sloterdijk, Die Färbung der Bürger, in: Making Things
13 Noch im 19. Jahrhundert haben Vorsprecher populärer Hygiene- Public, a. a. O.
und Gymnastiksysteme die Furcht vor der Ermüdung und Über- 15 Matthäus 25, 29·
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 50 5

des Glückszirkels, der in der Soziologie auch unter dem Na- tung der Subjektivität als Regungsherd von Ausdruck, Re-
men »Matthäus-Effekt« bekannt ist. Wer kann, dem fliegt das flexivität und Innovation ihr relatives Recht bestreiten müß-
weitere Können zu. Nicht umsonst neigen Erfolgsmenschen te. Hat man begriffen, wie jede ausgeführte Geste vom
der verschiedensten Sparten zu der Ansicht, sie könnten aus zweiten Mal an ihren Akteur formt und fortbestimmt, so
der Ferne voneinander lernen. Sie ahnen, daß Virtuosen der weiß man auch, warum es keine bedeutungslose Bewegung
verschiedensten Disziplinen aus vergleichbaren Steigerungs- gibt.
zirkeln hervorgehen. Sie sehen den Menschen an der Kreu- Die Wiederholung hat in der anthropologischen Aufklä-
zung stehen, an der die positiven Rückkopplungen vor- rung ihre Unschuld verloren: Auf ihr ruht, wie man explicite
beirnüssen. Gemeinsam werden sie hierdurch Träger der begreift, der Bestand der Welt - womit gegen das Einmalige
könnenden Tugend, von welcher der Weg zur schenkenden nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man um
Tugend oft nicht weit ist - diese Beobachtung schafft die das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der
Möglichkeit, die mittelalterliche Lehre von der connexio vir- Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein,
16
tutum auf modernen Grundlagen zu bestätigen. Schon all- und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß. Gott
tägliche Intuitionen besagen, daß Nicht-Müßiggang der An- selbst muß das meiste durch die Routinen der Natur tun
fang der Tugenden ist. Umgekehrt hatten die christlichen lassen und kann nur hin und wieder von seiner ontologischen
Mönche in der Trägheit die Mutter der Verzweiflung er- Geheimwaffe, dem Wunder, Gebrauch machen. Kierkegaard
kannt - begleitet von ihren übrigen unattraktiven Töchtern: spricht schon vom Reflexionswissen der Modernen her, wenn
Abschweifung, Verbositas, ziellose Neugier, Unbändigkeit er konstatiert: »Wenn Gott nicht selber die Wiederholung
und Wankelmut. 17 Es ist die tägliche Zeile, die den Künstler gewollt hätte, dann wäre die Welt nie entstanden . . . deshalb
formt, der tägliche Verzicht den Asketen, der tägliche Um- besteht die Welt und besteht dadurch, daß sie eine Wieder-
gang mit den Machtbedürfnissen anderer Menschen den Di- holung ist. Wiederholung, das ist die Wirklichkeit und der
plomaten, die tägliche Freude an der Stimulationsbereitschaft Ernst des Daseins. «18 Dem fügt Nietzsehe hinzu, was er in
der Kinder den Lehrer. langen Selbstversuchen in Erfahrung gebracht hatte: Der Stil
Wer sich Ritualen und Regelmäßigkeiten unterzieht, ent- ist in der Tat der Mensch selbst, vorausgesetzt, man ist sich im
wickelt sich nolens volens zu deren Vermittler. Was ist ein klaren, daß Stil eine Kulturgestalt der Wiederholung bezeich-
Kulturträger, wenn nicht der Hüter der Wiederholung? Wie net. Wer Stil hat, sieht auch im Glück die gute Gewohnheit
Übung den Meister macht, so Training das Subjekt - voraus- des GlÜcklichseins. 19 Selbst das Genie ist nur eine Gruppe
gesetzt, wir verstehen Subjektivität im Licht der allgemeinen guter Gewohnheiten, deren Kollision Funken sprüht.
Übungstheorie als Trägerin ihrer Aktivitätsserien, als Prak-
tikantin der trainierbaren Module und als Inhaberin ihrer 18 Sären Kierkegaard, Die Wiederholung. Ein Versuch in der expe-
habituellen Erwerbungen, ohne daß man der üblichen Deu- rimentellen Psychologie von Constantin Constantius, in: Die Wie-
derholung I Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspie-
16 Vgl. Peter Nicki, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des lerin, Frankfurt am Main, 1984, S. 8.
habitus, Hamburg 2005, S. 48f. 19 Dem widerspricht Sartre mit seiner These: Es gibt keine guten
17 Vgl. Josef Pieper, Über Verzweiflung, in: ders., Werke, Band 4, Gewohnheiten, weil Gewohnheiten als Trägheiten per se schlecht
Hamburg 1996, S. 274-283. sind.
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverwcltlichung des zurückgezogenen Subjekts 507

Möchte man die Matrix alt- und neueuropäischer Menschen-


formungstechniken aufdecken, so muß man zunächst die Die Entdeckung der Welt im Menschen
über den ganzen Kontinent verstreuten Trainingszentren be-
trachten, in denen die mit Christus Übenden sich auf ihre Die Unruhen, die sich vom I4. Jahrhundert an manifestieren,
höchsten Agone vorbereiteten, in Form gebracht von ihren sind vor allem aus den Überschüssen an Subjektenergien
Äbten, ihren Seelsorgern, ihren Heiligen und ihren gelehrten herzuleiten, wie sie in dem tausendjährigen Reich der Rück-
Mentoren. Auch was man seit dem r6. Jahrhundert die ),Pro- züge von »dieser Welt« more philosophico und more christiano
fessoren« nennt, waren anfangs bloß Trainer an Verklärungs- erbrütet wurden. Man könnte geradezu von einer ursprüng-
schulen, und die später so bezeichneten Studenten waren zu- lichen Akkumulation eines Kapitals aus Konzentrationen, In-
nächst die Suchenden, in denen der Eros des Unmöglichen tensitäten, Handlungsbereitschaften sprechen, das sich eines
more academico am Werk war. Sie unterlagen willig der für Tages nach geeigneten Anlageformen umsehen mußte. Tat-
alle Hochkultur unentbehrlichen Tauschung, das Unnach- sächlich gehören die Jahrhunderte nach dem Schwarzen Tod
ahmliche sei nachahmbar und das Unvergleichliche wieder- in Europa einer beispiellos neuartigen Ökonomie, bei der
holbar. Sobald die äußerste Ambition sich in ihnen festsetzte, neue Übungsmittel - Maschinen, Werkzeuge, Medien und
gerieten sie unter den Bann des Paradoxons, ohne dessen
ständige Re-Inszenierung keine Kultur ihren hohen Pol zu dair MacIntyre, Verlust der Tugend, Frankfurt am Main 1995 (Af-
ter Virtue, Notre Dame, Indiana 198 I). Man hielt dem Autor oft
fixieren vermag. Du mußt dein Leben ändern! - das bedeutete zugute, er habe eine heilsam korrigierende Rückkehr zur neo-aris-
darum für sie nichts anderes als die Aufforderung, sich an die totelischen Tugendethik vollzogen - was angesichts der morali-
göttlichen oder gottmenschlichen Vorbilder zu halten, unter schen Konfusion der Modernen durchaus begrüßenswert sei. Zieht
deren Einfluß die Grenzen zwischen dem Möglichen und man jedoch Maclntyres Schlußplädoyer in Betracht, wonach es
gelte, den heiligen Benedikt und Trotzkij in einer Person zu ver-
dem Unmöglichen verschwimmen. 2o Mit dem Anbruch mo- einigen, um eine neue Richtschnur zu gewinnen, wird evident, daß
derner Zeiten ändert der absolute Imperativ seine Stoßrich- von einer Überwindung der Konfusion keine Rede ist. Weder
tung. Künftig besagt er: Du sollst dich jederzeit so verhalten, Benedikt noch Trotzkij können für die Rückkehr zu den Tugenden
daß du in deiner Person die bessere Welt in der schlechten das Geringste leisten. Beide unterliegen dem Eros des Unmögli-
chen, der erste im Modus der Heiligkeit, der zweite im Modus des
vorwegnimmst. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem der Sinn politischen Verbrechens im Dienste des Guten. Man schuldet Mac-
des Satzes sich ganz in eine Anleitung zur »äußeren Anwen- Intyre Dank für die Aufklärung, daß hinter dem neo-aristoteli-
dung« verkehrt: Du mußt die Welt verändern, damit du, schen J uste-Milieu-Diskurs noch immer die Ethik des frühkatholi-
wenn sie im richtigen Sinn umgestaltet ist, dich guten Ge- schen heiligen Exzesses wirksam ist. Keine Figur könnte die
moderne Unschlüssigkeit deutlicher verraten: Der Zwitter Bene-
wissens an sie anpassen kannst. Die Moderne ist die Zeit, in
dikt-Trotzkij wäre nie imstande, sich zu entscheiden, ob er lieber
der die Menschen, die den Appell zur Veränderung hören, im Kloster an der Verbesserung seiner selbst oder mittels terroristi-
nicht mehr wissen, womit sie beginnen sollen: mit der Welt scher Praxis an der Verbesserung der Welt arbeiten soll. Der kon-
21 struktive Impuls, der von MacIntyres Reflexionen ausgeht, läßt
oder mit sich selbst - oder mit beidem zugleich.
sich also nicht durch eine restaurative Tugendethik auffangen.
20 Siehe hierzu oben S. 42M. Was auf der Tagesordnung steht, ist eine Trainingsethik, die auf
21 Dieser Befund läßt sich am klarsten an einem der einflußreichsten den erhabenen metanoetischen Imperativ unserer Tage antwortet.
moralphilosophischen Werke der letzten Jahrzehnte ablesen: Alas- Siehe unten S. 699f.
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 509
Gelder - neue Übungsverhältnisse hervorrufen - an erster und Lebensbejahung des »modernen Individuums« ist zu
Stelle Schulen und nochmals Schulen, dazu Ateliers, Theater, mißtrauen. Nicht wenige unter den Geistreichen der Neuzeit
Konzertsäle, Kasernen, Fabriken, Kliniken, Zuchthäuser, stellten ihr Leben programmatisch unter das Zeichen Sa-
Rednerkanzeln, Märkte, Versammlungsstätten, Stadien und turns - das Gestirn des WeItabstands. Die homines novi, die
Sportstudios. Was mit der Neuzeit beginnt, ist nichts weniger seit dem 14. Jahrhundert, der beginnenden Virtuosenzeit, auf
als ein neuartiges anthropotechnisches Regime im Großen, die Bühne treten, sind keine entlaufenen Mönche, die sich jäh
eine von Grund auf veränderte Schlachtaufstellung der Diszi- den Wonnen des extravertierten Lebens zugewendet hätten,
plinen. Ob es wohl nötig ist, zu wiederholen, daß es Foucault als ob sie ihre tausendjährige Rezession wie eine bedauerns-
war der mit seinen vorbildlosen Studien zur Geschichte der werte Episode vergessen machen wollten. Sie halten an ihrem
neu~eit!ichen Disziplinierungsverfahren unseren Blick auf ontologischen Exil zumeist beharrlich fest, ja, sie reklamieren
dieses zuvor fast unbemerkte Feld geschärft hat? mehr denn je eine noble Exterritorialität gegenüber der
Die entscheidenden Veränderungen beziehen sich vor al- schlechten Gewöhnlichkeit - selbst ein exemplarischer Neu-
lem auf die überlieferte Grundeinteilung in der Welt des mensch wie Petrarca, der als einer der ersten unter den Mo-
übenden Lebens, die ich die »ontologische Gebietsreform« dernen die Dichterkrone trug, das Hoheitszeichen einer Ari-
nenne. In deren Verlauf hatten die Übenden des Altertums, stokratie neuen Typs, wußte sehr gut, warum er sich so viele
die Adepten des philosophischen modus vivendi, später die Jahre in seinem Refugium in der Vaucluse verbarg, einem
Mönche, die Bußkämpfer und Athleten Christi, sich aus den nicht-mönchischen Typus der vita solitaria auf der Spur.
weltlichen Angelegenheiten zurückgezogen, um sich nur Wo sonst sollte er seine noble Krankheit, den Welthaß des
noch dem zu widmen, was ein jeder als »das Seine« ansah. Mannes von schwarzgalliger Konstitution, beherbergen, das
Ihr ganzes Dasein galt der Sorge um das eigene Heil- und Übel, das die Klostervorsteher in der ägyptischen Wüste un-
Ganz-Sein-Können inmitten des unheilträchtigen Jahrhun- ter dem Namen akedia entdeckt und bekämpft hatten, wenn
derts. Ihnen ging es um nicht weniger als um die Letztimmu- nicht in seiner Studierzelle fern von vulgären Sorgen?
nisierung des eigenen Lebens angesichts stets zu gewärtigen- Für die frühen Modernen setzt die Hingabe an die geistige
der Verletzungen und allgegenwärtiger Zerstreuungen. Suum Sphäre noch immer die Verweigerung der Teilnahme am
tantum curare hatte die Heilsformel für die Ära der Selbst- profanen Betrieb voraus. Und doch geraten sie, die Proto-
findung im Rückzug von der Welt gelautet, philosophische Virtuosen, schwankend zwischen den älteren Mönchsklausen
und religoide Lebensentwürfe übergreifend. und den neueren Studios der Humanisten,22 in eine ge-
steigerte Lerndynamik. Sie werden von einer Drift in die
Man kann in keiner Weise behaupten, die Neuzeit habe die Selbstintensivierung erfaßt, die mit den herkömmlichen mo-
weltscheuen und radikal metanoetischen Formen der religiös nastischen Entselbstungsdressuren nur noch eine wider-
oder philosophisch codierten cura sui über Nacht außer Kraft sprüchliche Einheit bildet. Aus diesen Intensivierungen re-
gesetzt. Nichts wäre illusionärer, als zu meinen, in der frühen
Moderne seien aus Weltflüchtern von gestern plötzlich neue 22 Zu den Übergängen zwischen der monastischen und der humani-
Weltkinder geworden, die ihre düsteren Absencen bereuten. stischen Sphäre im 15. und 16. Jahrhundert vgl. Harald Müller,
Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen
Der Legende von der mit einem Mal wiedergefundenen Welt- 2006.
510 ur Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 5I I

sultieren Tendenzen einer bedingten neuen Teilhabe der Spi- eren Rückzüge häufiger mit welthaften Bedeutungen eigenen
rituellen an der Welt. Unter modifizierter Verwendung eines Werts und Umfangs auf, bis der Punkt erreicht ist, an dem die
Ausdrucks des Neo-Phänomenologen Hermann Schmitz be- rezessiv ausgegrenzte Subjektivität in ihrer Selbstsorge-En-
zeichne ich diese Rückwendung als »Wiedereinbettung« des klave als eine Weltgestalt eigenen Rechts hervortritt. Aus der
ausgegrenzten Subjekts. 23 Dank erster Einbettung nehmen methodisch gesuchten Weltfremdheit erblüht eine Virtuosen-
Individuen unmittelbar an ihren Situationen teil, durch Wie- Industrie. Deren Meister greifen sich selbst als Werkstücke der
dereinbettung finden sie nach Phasen der Entfremdung in sie Lebenskunst auf, um sich zu humanen Preziosen zu gestalten.
zurück. Wer das Eintauchen in die Situation bejaht, ist auf Nietzsches Geständnis in Ecce homo: » Ich nahm mich selbst in
dem Weg, zu werden, was Goethe in eigener Sache gelegent- die Hand«, bringt neben dem selbsttherapeutischen Impuls
lich »das Weltkind in der Mitten«24 nannte. eines chronisch Kranken übertöne zum Klingen, die an die
Gleichwohl, die Exile der Übenden werden auch am Be- Hinwendung der Frühmodernen zur Verwandlung ihrer
ginn der Neuzeit so entschieden gewählt wie in der Antike, selbst in lebende Artifizien erinnern. Mag sein, daß die Kutte
als die ethische Unterscheidung ihre Wirkung zu entfalten nicht den Mönch macht, das Studium aber bringt den Gelehr-
begann. Wie anders wäre die Popularität der Hieronymus- ten in Form, die Schriftübung macht den Humanisten zum
Ikone zu erklären, an der man in der frühen Neuzeit die Könner seines Fachs, die virtu läßt den Virtuosen glänzen.
Wonnen des Rückzugs vom Jahrhundert in unzähligen Varia- Inmitten der im Rückschritt zu sich selbst ausgegrenzten Sub-
tionen dekliniert? Noch immer bezeugt der Gelehrte mit dem jektivität entdecken die Übenden eine innere ferne Küste - ein
Löwen zu Füßen die Anziehungskraft des kontemplativen Weltversprechen unbekannten Typs. Mehr als hundert Jahre
Lebens am Rande einer konvivial verwandelten, ja einer ver- vor dem realen Kontinent taucht ein symbolisches Amerika
bürgerlichten Wüste - und das in einer aufgewühlten Zeit, am Horizont auf: An seiner Küste setzen die neuzeitlich
die, wie man denken möchte, von allem etwas versteht, nur Übenden den Fuß in die Kleine Welt, die sie selbst sind.
nicht von Wüsten und Refugien. Doch man beachte: Die Was Jacob Burckhardt, den Spuren Michelets folgend, als
Weltflucht der Neuen ist ebenso dringend motiviert wie in Renaissance-Formel ausgegeben hatte: »die Entdeckung der
den Tagen des frühesten Ekels vor den Verhältnissen. Noch Welt und des Menschen« war also - scheinbar paradox - an-
immer macht sie weltlich Hoffnungslosen Hoffnung, noch fangs ein Innenweltereignis. Sie führt zur Entdeckung der
immer gewährt sie sozial Aussichtslosen Aussicht auf eine Welt im Menschen oder besser zur Entdeckung des Men-
alternative Existenz. Nichtsdestoweniger laden sich die neu- schen als eines Weltmodells, als mikrokosmischer Abbrevia-
tur des Universums. Noch Friedrich Hebbel besaß von dieser
23 Der Ausdruck kommt auch in der englischsprachigen Soziologie
Wendung eine Vorstellung, als er in seinen Tagebüchern no-
vor: Hier redet man von Einbettung, Entbettung und Wiederein-
bettung (embedding, disembedding, reembedding) im Verhältnis tierte: »Große Menschen sind Inhaltsverzeichnisse der
des Einzelnen zu traditionalen Lebensformen. Siehe vor allem Menschheit.« Das Geheimnis des humanen Ganz-Sein-Kön-
Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am nens wird nicht länger allein durch die biblisch beglaubigte
Main 1990.
Gottebenbildlichkeit begründet: Es verweist ebenso auf die
24 Johann Wolfgang Goethe, Dine zu Coblenz im Sommer 1774, in:
ders., Sämtliche Gedichte, Frankfurt am Main und Leipzig 2007, Weltebenbildlichkeit, aufgrund welcher der leidende, tätige
S· 326. und nachdenkliche Mensch sich selbst als Allspiegel und kcs-
III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 5I 3

misches Orakel begreifen darf. Hier setzt sich der Zug in inneren Performance eine äußere machen. Petrarca war genö-
Bewegung, der erst bei der barocken Gleichung von Gott tigt, sein Refugium zu verlassen, als er sich auf dem römi-
und Natur wieder haltmacht- mit dem Menschen als Kopula schen Kapitol zum Dichter krönen ließ - so geschehen am 6.
und lebendem Gleichheitszeichen. Für das Subjekt der Neu- April 134 I, einem Schlüsseldatum in der Geschichte des »mo-
zeit bedeutet dies, daß es sich als wirklichkeitshungriges Po- dernen Ruhms«. Am Outing des geistreichen Menschen auf
tential begreifen soll. Menschsein heißt von da an sich als den neuen Foren der Bewunderung hängt ein Gutteil dessen,
Werkstatt der Selbstrealisierung betreiben. was die herkömmliche Renaissance-Forschung unter dem
Stichwort »neuzeitliches Individuum« vorzubringen wußte -
nicht umsonst hatte schon Burckhardt die Verknüpfung zwi-
Homo mirabile schen Ruhm und Individualitätskultur als Epochenmerkmal
hervorgekehrt. Was man neuerdings »das Archiv« nennt, war
Die Neudeutung der menschlichen Totalitätspotenz bewirkt zunächst nur die Sammelstelle des Ruhms und der Berühm-
die Transformation der Weltflucht in die welthaltigste Seins- ten im kulturellen Gedächtnis - eine Funktion, die aus noch
weise, mit welcher Individuen unseres Kulturkreises bis da- zu klärenden Gründen in die Regie des modernen Staats
hin Bekanntschaft schlossen. Aus der Anreicherung des übergehen mußte - genauer: der semantischen Staats banken,
Rückzugs zu einer Lebensform, die dem extravertierten der Museen und Großbibliotheken, denen die Verwaltung
Dasein an Fülle und Vielfalt in nichts nachsteht, geht die der Bedeutungshaushalte bzw. der »kulturellen Werte« ob-
grenzenlos kultivierbare Selbststruktur hervor, die unter liegt. 25 Was wie ein Jahrmarkt der Eitelkeiten erscheint, ist in
dem anthropologischen Programmwort der Neuzeit: »Per- Wahrheit der Staatsschatz an Prestige und Exzellenz, Keim-
sönlichkeit« angesprochen wird. Die modernen Persönlich- zelle einer neuen Ökonomie kultureller Wertschöpfung. Daß
keiten - das sind die mikrokosmischen Lebenskunstwerke, diese säkularen Sammlungen dem Heilsschatz der Kirche den
die aus der althergebrachten Position rezessiver Selbstbil- Rang streitig machen, spricht für die Attraktivität des neuen
dung entstehen, nun aber nicht mehr im Geist klösterlicher Wertsystems.
humilitas und mystischer Sterbekunst, sondern angetrieben Wir erinnern uns: In der Sphäre der klösterlichen Anthro-
von einer enzyklopädischen artistischen Dynamik, die in un- potechniken hatten die Mönche daran gearbeitet, sich in die
abschließbare Virtuositäten und Virtualitäten mündet, stau- Statue des Mönchs zu verwandeln, die exemplarische Plastik
nenerregende Resultate einer Extraversion nach innen. Der
Imperativ: »Du mußt dein Leben ändern!« impliziert nun: 25 Zur Begründung der nicht-monetären Bankenphänomene vgl. P.
Sioterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch,
sich selbst in die Hand nehmen, um aus dem eigenen Dasein
Frankfurt am Main 2006, S. 20sf. Zur philosophischen Deduktion
einen Gegenstand der Bewunderung zu formen. der Idee des Weltmuseums vgl. Beat Wyss, Trauer der Vollendung.
Wo der Mensch selbst das Mirabile werden soll, das leben- Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der
de Artificium, dem die Bewunderung der Mitwelt gilt (und Moderne, Berlin 1985, Neuausgabe Ostfildern 1997; zur Metaphy-
sik des Archivs vgl. Boris Groys/Thomas Knoefel, Politik der
das ist weit mehr als Achtung, Liebe oder Mitgefühl), kann er
Unsterblichkeit, München 2002; zur Transformation der Unsterb-
nicht dauerhaft in seiner weltflüchtigen Klausur verharren. lichkeit in eine praktische Idee vgl. die untenstehenden Hinweise
Er muß sich eines Tages auf die Bühne bringen und aus der auf Nikolaj Fedorov S. 557 und 624f.
514 III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweldichung des zurückgezogenen Subjekts 5I 5

des dienenden Gehorsams, dcren Legende incurvatus et hu- Menschen bezog - vermutlich ist in heutiger Zeit die Oper die
miliatus sum lautete, ein Beweisstück für die Wirksamkeit des letzte Kunstform, in der die sublime Konfusion überlebt.
Heiligen Geistes am menschlichen Werkstoff 26 Unter der Jeder Festspielsommer beweist, daß die Disposition fortbe-
göttlichen Beobachtung (die Engel melden ja alles nach oben) steht, singenden Göttinnen zu huldigen und die acuti der
und der klösterlichen Kontrolle (der Abt nimmt von jeder Tenöre wie sonore Gottesbeweise zu hören. Das Virtuosen-
Regung seiner Herde Kenntnis) wollten die geistlich Üben- turn modernen Typs entstand aus der Einladung zur Bege-
den sich an das Urbild ihres modus vivendi, den leidenden gnung mit dem menschengemachten Mirabile - es war der
Gottmenschen, assimilieren. Die vollendete Verwandlung in Appell an die willkommene Verwechslung von Kunst und
den Heiligen setzte freilich die Intervention der Überwelt Leben und die ebenso willkommene Vermischung von Hel-
voraus - weswegen hier die Bewunderung nur dem Wunder den, Heiligen und Artisten.
gelten darf, das irdische Regelmäßigkeiten durchbricht. Al- Menschenkenntnis ist jetzt nur noch als Einsicht in die
lein das Jenseits vermochte dem verklärten Menschen eine Komplexitäten des strategisch gefalteten und artistisch ge-
Beglaubigung von oben zu gewähren. steigerten Lebens möglich. Daß der Mensch »strukturell«
Ganz anders lauten die Spielregeln in der Sphäre der hö- sich selbst überlegen ist, daß er ein Gefälle in sich trägt, in
fischen, der humanistischen und der artistischen Anthropo- dem er sich formt und geformt wird: Diese im Lauf der mo-
techniken - um von denen des massenmedialen, des neo- dernen Jahrhunderte konsolidierten Einsichten legen ein
athletischen und des biotechnischen Zeitalters noch zu exzentrisches Potential im Menschen offen, das nicht mehr
schweigen. Sie stehen im Zeichen des gemachten Wunderba- auf die grobstofflichen Daten der politischen »Herrschaft des
ren (mirabile), das sich nicht mehr an den Glauben wendet, Menschen über den Menschen« zurückgeführt werden kann-
sondern an den gebildeten Kunstgeschmack. Sie appellieren um an die verbrauchte Formel der Saint-Simonisten zu erin-
an eine Gläubigkeit zweiten Grades, die sich als Sachver- nern. Im Gang der anthropologischen Aufklärung wird deut-
stand für gekonnte Unglaublichkeiten äußert. lich, in wie hohem Maß jeder Einzelne in Vertikalspannungen
Wenn der Sinn für das Wunder dem Sinn fürs Wunderbare und Hierarchie-Effekten nicht-politischen Typs verfangen ist.
Platz macht, entsteht die moderne »Kultur«. Wie man leicht Wenn Dasein die persönliche Aktualisierung von Könnens-
begreift, kann diese nicht mehr eine Sache der Heiligen und chancen bedeutet, dann bewegt sich jeder immer schon auf
Stillen im Lande sein, die das Höhere als Winke der Überwelt einer Leiter des Mehr oder Weniger, auf der er sich durch die
deuten. In der Wende zum Wunderbaren debütiert die Ge- Ergebnisse seiner Anstrengungen selbst plaziert, ohne daß er
sellschaft des Spektakels, die Guy Debord zu Unrecht ins 20 . die vor ihm Liegenden als Unterdrücker abtun könnte. Das
Jahrhundert datierte. Sie reicht bis ins späte Mittelalter zu- Individuum erscheint nun eher wie ein Trainer, der die Aus-
rück, als die Virtuosen aus dem Schatten der Heiligen heraus- wahl seiner Talente betreut und die Mannschaft seiner Ge-
traten. Das Goldene Zeitalter der Kunstbewunderung konnte wohnheiten antreibt. Ob man dies »Mikropolitik« nennt oder
gerade so lange währen, wie die Bereitschaft zu staunen sich »Lebenskunst« oder »Selbstdesign« oder »Empowerment«,
gleichermaßen auf Kunstwerke wie kunstvollbringende ist bloß eine Geschmacksfrage.

26 Gekrümmt bin ich und gedemütigt; Regula Benedicti 7, 66-70.

I
I
~
51 6 III Die Exerzitien der Modernen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts 5I 7

In der anthropologischen Explikation gerät der Mensch in


Homo anthropologicus eine moralisch und epistemologisch ekstatische - nach Pless-
ner »exzentrische« - Position gegenüber sich selbst. Deren
Aus der unaufhaltsamen Potenzierung der Menschenkennt- Präzisierung ergibt das Bild eines ontologischen Zwitterwe-
nis zur Theorie des Artisten läßt sich der Zug zur Anthropo- sens: Es zeigt einen seit jeher zum übenden Selbstbezug ver-
logie begreiflich machen, die seit dem 18. Jahrhundert die urteilten Spielleiter, der vor der Aufgabe steht, das Skript der
manifeste Mitte des modernen Philosophierens bildet. Das eigenen Existenz auf der Bühne umzusetzen und dabei zu
Phänomen Anthropologie zeigt an und spricht aus: Bei der beobachten, wie andere ihn beobachten. Man kann es nun
technischen Explikation sind Verhältnisse angebrochen, in expressis verbis sagen: Im homo artista sind der Akteur und
denen die Menschen den Menschen von Grund auf neu er- der Beobachter zu einem dynamischen Dual zusammenge-
klärt werden müssen. Es genügt nicht länger, geradezu so zogen. Schon die frühen Asketen hatten diese Verhältnisse
Mensch zu sein, wie man vermeintlich aus der Hand der ausgeleuchtet; die Moderne wollte die entsprechenden Ein-
Natur hervorging - der Traum von einfacher Selbstbegrün- sichten in ihrem diskursiven Stil und mit technischem Zu-
dung aus der Herkunft ist ausgeträumt. Die erste Ausgabe der behör verbindlich machen. Niemand soll noch Mensch sein
Menschlichkeit bleibt nur noch von ethnologischem Interes- können, ohne zugleich Anthropologe, ja Anthropotechniker
se - Rousseaus Ausflüge ins Grüne können daran nichts än- zu werden. Diese Titel erhält, wer für seine Form und Er-
dern. Noch schwerer wiegt, daß auch die seit der Antike scheinung Verantwortung übernimmt. Der anthropologische
bekannten Maßnahmen der asketischen Revolte gegen den Merksatz, wonach der Mensch nicht einfach lebt, sondern
alten, von Gewohnheiten, Leidenschaften und mentalen sein Leben »zu führen hat«, übersetzt sich am Ende des
Trägheiten regierten Adam in uns 27 und die Aufstockungen 20. Jahrhunderts in die aus allen Medien tönende Forderung,
des Menschseins durch religiöse, philosophische und athleti- aus dem eigenen Ich ein Projekt und aus dem Projekt ein
sche Übungen inzwischen nicht mehr zureichen. Die spiritu- Unternehmen zu machen, Selbstkonkursverwaltung inklu-
. 29
ell Interessierten unserer Tage sollten zur Kenntnis nehmen, slve.
daß die großen Lehrer der Menschheit von Lao Tzu bis Gau-
tama Buddha, von Platon bis Jesus, und warum nicht auch Auf dem ersten Höhepunkt des großen subjektiven Rü-
Mohammed, im strengen Wortsinn nicht mehr unsere Zeit- stungszyklus konnte Baltasar Gracian in dem Satz, mit dem
. d.28
genossen sm er sein 1647 unter einem Pseudonym erschienenes Handora-
kel, die klügste Trainingsanleitung für den Mann von Welt,
27 Über die Trias von Gewohnheiten, Leidenschaften und mentalen die auf europäischem Boden formuliert wurde, zum Abschluß
Trägheiten (auch bekannt als »Meinungen«) und ihre Überwin- brachte, noch die umfassende Lebensmaxime aufstellen:
dung durch die erste ethische Unterscheidung siehe oben S. 264. »Mit einem Wort, ein Heiliger sein, und damit ist alles
28 Ich deute weiter unten (S. 666-672) an, warum ihre Lehren durch- auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band
weg auf Verhältnisse des Eisernen Zeitalters im Hesiodschen Sinn
bezogen sind, während die moderne Zivilisation als ein zweites
Silbernes Zeitalter begriffen werden muß: Dieses stellt andere Fra- 29 ~gl. Ulri~h ~r?ckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie
gen und sucht andere Antworten. emer SubJektlvlerungsform, Frankfurt am Main 2007.
51 8 III Die Exerzitien der Modernen
519
aller Vollkommenheiten und der Mittelpunkt aller
Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, um- 10 KUNST AM MENSCHEN
sichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich,
IN DEN ARSENALEN DER ANTHROPOTECHNIK
glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in
jedem Betracht. «30
Man würde in der Literatur der Moderne vergeblich nach
einer Stelle suchen, an der die Wendung »ein Heiliger sein« Passionsspiele
so kunstvoll irreführend verwendet wird wie an dieser. Was
hier der Heilige heißt, ist eine Maske des wiedergekehrten Nach dem Gesagten wird die moralgeschichtliche Zäsur der
Weisen stoischer Provenienz, der seinerseits ein Deckbild Neuzeit prägnant: Dieses Weltalter vollzieht die Umstellung
des noch unbegriffenen modernen Menschen darstellt, des von der individuellen Metanoia zum massenhaften Umbau
Virtuosen, des Erfolgskünstlers, des Unternehmers, ja der conditio humana »von der Wurzel her«. Die Moderne,
schlechthin des Mannes - und der Frau - mit weitreichenden die immer nur radikal sein konnte, säkularisiert und kollek-
Absichten und komplexen Hintergedanken. Es mag im Zeit- tiviert das übende Leben, indem sie die althergebrachten As-
alter der Ich-AGs nicht ohne Interesse sein, daran zu erin- kesen aus ihren spirituellen Kontexten herausbricht, um sie
nern, daß das, was heute Fitness heißt, in der frühen Moderne ins Fluidum der modernen Trainings-, Ausbildungs- und Ar-
unter dem Namen Heiligkeit empfohlen werden konnte. Von beitsgesellschaften aufzulösen. Unnötig zu sagen, daß damit
der wahren Qualität der neuen Persönlichkeitskultur gibt der der altehrwürdigen vita contemplativa der Boden entzogen
erste Satz des Handorakels einen klareren Begriff als der letz- wird. Der Aktivismus der Modernen drängt die monastische
te: Lebensweise an den Rand; die Reformation vertreibt den
»Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht, aber die Orient aus dem Christentum. Reste der Kontemplation über-
Kunst, sich geltend zu machen, den höchsten. Mehr ge- leben im Kunstsystem, wo man das Glauben in Staunen, das
hört jetzt zu einem Weisen als in alten Zeiten zu sieben: Beten in Bewundern umwandelt. Hier lernen die Einzelnen,
und mehr ist gefordert, um in diesen Zeiten mit einem ihr Affiziertwerden durch die Werke großer Meister mehr
einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit oder weniger devot als Kunstgenuß zu erleben. Im 15. Jahr-
einem ganzen Volke. «31 hundert sprang die devotio moderna als popularisierte My-
stik aus den Klöstern in die Städte über. Sie brachte die Idee
zum Ausdruck, auch Bürger sollten künftig ein Recht auf
Kreuzigung neben dem Herrn haben - als Könnensform
des Leidens richtete die Nachahmung des Gottmenschen
auf der via crucis einen erhabenen Attraktor für die Laien
auf. Zu Beginn der Kunstzeit wechselt der Wille zur Passion
30 Baltasar Gracian, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, über-
das Lager. Er drückt sich jetzt als Bewunderung für Artisten
tragen von Arthur Schopenhauer, Frankfurt am Main 1986, S. 130. aus, in deren Darbietungen Leiden und Können ineinander
3 1 Gracian, Hand-Orakel, a. a. 0., S. 11. übergehen. Was ist Kunst, wenn nicht eine Könnensform des
52° III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 52 1
Leidens, die zugleich die Leidensform des Könnens ist? Das in der Luft, sie hatte das Fluidum des Christentums in seinen
Mitleiden und Mitkönnen mit dem Virtuosen wird zur ersten anderthalb Jahrtausenden gebildet/ 3 und sie lieferte
Grundlage des modernen Applauses. Kreuzigungen alten weiterhin die erste Selbstverständlichkeit aller aufgeklärten
Stils bleiben in einer Welt voller Künstler eher unbeachtet. Kommunikationen über den Weltlauf, selbst wenn der Kon-
servatismus mit seinem pessimistischen Leitsatz »der Mensch
Die nachmittelalterliche Welt ist darum von Passionen erfüllt, ist immer derselbe« ihr seit der Französischen Revolution
die ihre Herkunft nicht nennen oder nicht mehr kennen. Die- chronisch widersprach. Nietzsches Intervention bleibt denk-
ser Umstand mag begreiflich machen, warum sich die aske- würdig, weil sie eine Erhöhung der Artikulationsstufe im
tischen Praktiken in der Moderne unter einem dreifachen Prozeß der anthropotechnischen Explikation bewirkte -
Pseudonym verbargen - dem der Kunst, dem der Bildung und diese Explikation, ich wiederhole es, ist für uns die tech-
und schließlich dem der Arbeit, um sich erst im Sport wieder nische und epistemologische Form des Schicksals. Weil der
unter eigenem Namen fast unverhüllt - zum Training mo- Mensch jetzt als das animal technologicum begriffen wird,
dernisiert - zu präsentieren. In diesen Masken setzten sich liegt in jedem weiteren Vorstoß der Technik zur Anwendung
die disziplinarischen Imperative der Moderne an allen Fron- auf ihn selbst ein pro nobis von unausweichlicher Verbind-
ten der menschlichen Selbstintensivierung durch. Die Übun- lichkeit.
gen, die den Künstler, den Bildungsmenschen und den Ar-
beitsmenschen formten, erfüllten bereits die Bedingung, die
Nietzsche formulierte, als er die vermeintlich revolutionäre Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsehe als Immunologe
Aussicht auf die Wieder-Vernatürlichung der Askesen ins
Auge faßte. 32 Wenn der Wanderer von Sils Maria die Abkehr Mit Nietzsehe verbindet sich das wenig verstandene logische
von der christlichen Mortifikations- und Entselbstungs- Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transforma-
übung forderte - wobei wir die Frage offen lassen, ob er tion der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereig-
das Wesen des christlichen Asketismus richtig erfaßt hatte - nis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso
und die Steigerungsaskese, die Selbstbemächtigungsübung, wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heu-
das Entfaltungstraining an ihre Stelle setzen wollte, sprach te gescheitert sind. 34 Durch die Offenlegung von Immunität
er weder als vorauseilender Rufer vom Berge noch als wun- als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu er-
derlicher Prophet vom Rande, sondern aus der Mitte des klärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren
Tendenzstroms, der sich seit dem Anbruch der Virtuosenzeit - Heidegger sagt: In-der-Welt - sichern muß, selbst um den
im europäischen 15. Jahrhundert formiert hatte. Das Ereignis
33 Das erste Vorkommnis des Worts superhomo (nach dem griechi-
Nietzsche bleibt nicht deswegen epochal, weil der Autor schen hyperanthropos) findet sich in einem päpstlichen Dokument
ganz Neues über die menschliche Bedingung gesagt hätte - des späten 13· Jahrhunderts: in der von Bonifaz VIII. veröffentlich-
schließlich lag die Forderung nach der Überhöhung des Men- ten Heiligsprechungsbulle für Ludwig IX. von 1297.
34 Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres meta-
schen, sei sie individuell, sei sie kollektiv, seit antiken Zeiten
biologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre
Grundlagen integriert. VgL N. L., Soziale Systeme. Grundriß einer
32 Siehe oben S. 194f. allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 504f.
520 IIT Die Exerzitien der Modernen ro Kunst aJTl Menschen
5 2I

Leidens, die zugleich die Leidensform des Könnens ist? Das in der Luft, sie hatte das Fluidum des Christentums in seinen
Mitleiden und Mitkönnen mit dem Virtuosen wird zur ersten anderthalb Jahrtausenden gebildet,33 und sie lieferte
Grundlage des modernen Applauses. Kreuzigungen alten weiterhin die erste Selbstverständlichkeit aller aufgeklärten
Stils bleiben in einer Welt voller Künstler eher unbeachtet. Kommunikationen über den Weltlauf, selbst wenn der Kon-
servatismus mit seinem pessimistischen Leitsatz »der Mensch
Die nachmittelalterliche Welt ist darum von Passionen erfüllt, ist immer derselbe« ihr seit der Französischen Revolution
die ihre Herkunft nicht nennen oder nicht mehr kennen. Die- chronisch widersprach. Nietzsches Intervention bleibt denk-
ser Umstand mag begreiflich machen, warum sich die aske- würdig, weil sie eine Erhöhung der Artikulationsstufe im
tischen Praktiken in der Moderne unter einem dreifachen Prozeß der anthropotechnischen Explikation bewirkte -
Pseudonym verbargen - dem der Kunst, dem der Bildung und diese Explikation, ich wiederhole es, ist für uns die tech-
und schließlich dem der Arbeit, um sich erst im Sport wieder nische und epistemologische Form des Schicksals. Weil der
unter eigenem Namen fast unverhüllt - zum Training mo- Mensch jetzt als das animal technologicum begriffen wird,
dernisiert - zu präsentieren. In diesen Masken setzten sich liegt in jedem weiteren Vorstoß der Technik zur Anwendung
die disziplinarischen Imperative der Moderne an allen Fron- auf ihn selbst ein pro nobis von unausweichlicher Verbind-
ten der menschlichen Selbstintensivierung durch. Die Übun- lichkeit.
gen, die den Künstler, den Bildungsmenschen und den Ar-
beitsmenschen formten, erfüllten bereits die Bedingung, die
Nietzsche formulierte, als er die vermeintlich revolutionäre Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsehe als Immunologe
Aussicht auf die Wieder-Vernatürlichung der Askesen ins
Auge faßte. 32 Wenn der Wanderer von Sils Maria die Abkehr Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische
von der christlichen Mortifikations- und Entselbstungs- Hauptereignis des I9. und 20. Jahrhunderts: die Transforma-
übung forderte - wobei wir die Frage offen lassen, ob er tion der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereig-
das Wesen des christlichen Asketismus richtig erfaßt hatte - nis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso
und die Steigerungsaskese, die Selbstbemächtigungsübung, wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heu-
das Entfaltungstraining an ihre Stelle setzen wollte, sprach te gescheitert sind. 34 Durch die Offenlegung von Immunität
er weder als vorauseilender Rufer vom Berge noch als wun- als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu er-
derlicher Prophet vom Rande, sondern aus der Mitte des klärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren
Tendenzstroms, der sich seit dem Anbruch der Virtuosenzeit - Heidegger sagt: In-der-Welt - sichern muß, selbst um den
im europäischen I 5. Jahrhundert formiert hatte. Das Ereignis
33 Das erste Vorkommnis des Worts superhomo (nach dem griechi-
Nietzsche bleibt nicht deswegen epochal, weil der Autor schen hyperanthropos) findet sich in einem päpstlichen Dokument
ganz Neues über die menschliche Bedingung gesagt hätte - des späten 13. Jahrhunderts: in der von Bonifaz VIII. veröffentlich-
schließlich lag die Forderung nach der Überhöhung des Men- ten Heiligsprechungsbulle für Ludwig IX. von 1297.
34 Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres meta-
schen, sei sie individuell, sei sie kollektiv, seit antiken Zeiten
bi ologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre
Grundlagen integriert. Vgl. N . L., Soziale Systeme. Grundriß einer
32 Siehe oben S. 194f. allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 504f.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 523
Preis monströser Bündnisse. Klärungen dieses Typs hätten Schädigung des Lebens, dem unbedingt gewissen, wahr-
den Status der }>Religion« als der (neben dem Rechtswesen) scheinlich gewaltsamen Tod, die Möglichkeit einer Rückver-
umfassendsten immunitären Praxis symbolischen Typs un- sicherung in einem unzerstörbaren Leben entgegen. Um der-
mittelbar affizieren müssen - doch hat es ein ganzes Jahrhun- gleichen versprechen zu können, lag es nahe, sich mit einem
dert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie und todüberwindenden Prinzip zu verbünden. Diese Allianzpra-
Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch xis tauchte unter zahllosen Deklinationen in nahezu allen
machten. Kulturen auf. Sie wurde von den frühen christlichen Theolo-
Dabei waren schon in der deutschen Romantik die Wei- gen mit dem römischen Ausdruck religia recodiert, um das
chen gestellt worden: Wenn Religion nach der halbmodernen Bündnis zwischen dem Menschen und dem Gott, der den Tod
Definition Schleiermachers als »Sinn und Geschmack für das widerlegt hatte, in seine definitive Form zu gießen. Daher
Unendliche« zu begreifen ist, bedeutet dies vor dem Hinter- rührt der Anspruch des Christentum, die »wahre Religion «
grund der immunologischen Kehre nichts anderes als die Op- zu sein: Sie ist die Allianz, die die höchsten Versicherungs-
tion für eine Höchstform symbolischer Immunität, also für leistungen bietet.
eine Version der Letztversicherung, die sich im Größtmögli- Bei Nietzsche, der in der Explikation dieser Phänomene
chen stabilisiert - sie muß also mit dem Umfang der Verlet- einen Schritt vorangegangen war, heißt die Prozedur der
zungen wachsen. Schleiermacher steht der logischen Moder- Infinitisierung: Impfung mit dem Wahnsinn.35 Deren Sinn
ne nahe genug, um zu verstehen, daß dieses Resultat nur lag für ihn allerdings nicht nur in der Absicherung gegen
durch eine neue Operationalisierung der religiösen Akte zu Lebensrisiken, sie bezweckte darüber hinaus die Erhöhung
erreichen ist: gleichsam durch die Impfung mit dem Unend- der Einsätze. Den Menschen mit dem Wahnsinn impfen
lichen. Genau hierin hatte die bewußtseins technische Ent- heißt: die Einzelnen mit ihrem status qua unzufrieden ma-
deckung der Romantik bestanden: Nach der Aussage des chen und in ihnen eine Willensreaktion hervorrufen, dem
Novalis ist Romantisieren identisch mit der Kunst, dem End- trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben. Seit
lichen einen unendlichen Sinn zu verleihen - deswegen galt Nietzsche kann man wissen, warum funktionale Erklärungen
die Religion jetzt als allgemeine Anwendung des romanti- des »religiösen« Phänomens unvollständig bleiben: Wie das
schen Verfahrens. Für Novalis und Kollegen waren die rezi- Übungssystem Kunst reagiert das Übungssystem »Religion«
proken Übergänge von Kunst in Religion und von Religion in nicht bloß auf Defizite. Sie löst keine Probleme, sie manife-
Kunst folgerichtig eine ausgemachte Sache. Rückwirkend stiert Überschüsse, die sich in keiner realen Aufgabe verbrau-
ließ sich nun auch darlegen, was die Menschen bei ihren frü- chen lassen. Die Frommen sagen hierzu: »Es gibt nicht nur
hesten »religiösen « Handlungen bewegte. Diese vollzogen an den Nutzen - es gibt auch den Segen.«36 Die nicht so From-
erster Stelle diplomatische Prozeduren, um Allianzen gegen men übersetzen: Es gibt nicht nur den Mangel, es gibt auch
Schadensmächte zu schließen. Sie handelten Glücksbedin- das Zuviel.
gungen des menschlichen Daseins mit unglückbringenden
Mächten aus. Darum war stets dafür zu sorgen, daß dem Heil 3 5 F. N., Zarathustras Vorrede 3·
36 Vgl. H einz-Theo Homann, Das funktionale Argument: Konzepte
mehr Energie zufließt als dem Unheil: Gott ist größer. Insbe- und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung, Paderborn/
sondere setzte man von alters her der größten annehmbaren München/Wien/ Zürich 1997.
524 Hr Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 525
Der religioide Akt par excellence, den Schleiermacher einigen wesentlichen Aspekten skizziere, so nicht in der Ab-
konventionell den »Glauben« nennt, geht folgerichtig - sicht, die ganze Geschichte der neueren Anthropotechniken
Wahnsinn verpflichtet - mit einer Suspension der Empirie zu erzählen - das wäre ein Projekt, das sich von einem For-
einher. Nur der ist in der Lage zu glauben, der imstande ist, scherte am kaum in Jahrzehnten abarbeiten ließe. Ich kann in
sich gegen die Autorität des Augenscheins zu entscheiden, diesem Kapitel nicht mehr versprechen als einen vorläufigen
im gegebenen Fall gegen den Schein der Endlichkeit, bei Versuch, einige minimale logische und sachliche Vorbedin-
Fichte sogar gegen den Schein der Priorität des Objektiven. gungen für das Verständnis der behandelten Fragen zu be-
Wer nicht in gewissen Grenzen verrückt werden kann, hat nennen.
unter Gläubigen nichts zu suchen - man könnte statt ver- Der Phänomenkomplex, den ich exponieren möchte,
rückt auch kindlich sagen. Warum dies so ist, verdeutlicht zeigt bereits auf den ersten Blick seine entmutigende Kom-
die Einsicht in die Funktion symbolischer Immunsysteme. plexität, auf den zweiten auch seine Unheimlichkeit. Er
Sie trennen die Einzelnen aus dem Kontinuum prosaischer umfaßt nicht weniger als die Umwandlung Europas in ein
Daten heraus. Ihre Basisoperation zielt darauf, das Un- Trainingslager für menschliche Steigerungen an einer Viel-
wahrscheinlichste als das Gewisseste einzuüben. Noch zahl von Fronten, gleich ob es sich um das Schul- und
37
einmal Tertullian: certum est quia impossibile. Ohne Ab- Militärwesen, die Welt der Werkstätten oder um die eigen-
kopplung vom Realitätsprinzip gibt es keine Immunität ge- sinnigen Universen der jüngeren Medizin, der Künste und
gen Rückschläge, ohne den Willen zum Glauben keine Zu- der Wissenschaften handelt. Als vom mittleren 19. Jahrhun-
versicht, die Berge, die heute hier stehen, könnten schon dert an der Sport, begleitet vom Hygienismus und zahl-
morgen an anderer Stelle auftauchen. 38 reichen Gymnastiksystemen, zu dieser Reihe hinzukam, er-
gänzte er die bekannten Praxissphären um eine eigenwertige
Disziplin, die nicht weniger beinhaltete als die Reindarstel-
Das europäische Trainingslager lung des neuzeitlichen Steigerungsverhaltens in spezifischen
Theatralisierungen. Mit dem Sport fand der Geist der kom-
Wenn ich nun das Drama der Explizitmachung menschlicher petitiven Intensivierung des Daseins seine nahezu universal
Existenz durch technische und symbolische Ergänzungen in verständliche, daher weltweit nachgeahmte Ausdrucksform.
Er brachte nicht nur die »Wiedergeburt der Antike« zum
37 Zum christlichen Surrealismus siehe oben S. 323f. Abschluß, er lieferte die handfesteste Illustration für den
38 Trotzkij hat dieses Motiv aufgenommen, um die Stoß richtung der performativen Geist der Moderne, sofern diese ohne die
sozialistischen Technik zu erläutern: »Wenn der Glaube nur ver-
sprochen hat, Berge zu versetzen, so ist die Technik, die nichts >auf
Entspiritualisierung der Askesen nicht zu denken ist. Ent-
Treu und Glauben<hinnimmt, tatsächlich imstande, Berge abzu- spiritualisierte Askese heißt Training39 und korrespondiert
tragen und zu versetzen . . . entsprechend den Erwägungen eines
allgemeinen Produktions- und Kunstplanes.« Zitiert nach: Die
Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn 39 Das Wort, das seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts
des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Boris Groys und Michael nachweisbar ist, macht zusammen mit der Sache von der Jahrhun-
Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt dertmitte an Furore (auf französisch: entrainement, auf deutsch
am Main 2005, S. 417f. zuweilen auch »Trainirung«).
111 Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 527
mit einer Wirklichkeitsform, die von den Einzelnen Fitness Die eben genannten Gruppen von Disziplinen bilden eine
überhaupt, Fitness sans phrase 40 verlangt. Konstellation, die nur im Rahmen einer allgemeinen Ge-
Training ist Methodismus ohne religiösen Bezug. Darum schichte systemischer Intensivierungen zu begreifen ist. Wie
entsprang das Übergewicht des Westens in der Evolution der bemerkt, berührt sich dies mit Foucaults Studien zur Ge-
Weltgesellschaft des 19., des 20. und des beginnenden 2I.Jahr- schichte der Ordnungs- und Disziplinarsysteme, integriert
hunderts nicht nur aus dem zu Recht viel getadelten »Impe- diese jedoch in einen weiteren Horizont. Man kann der Neu-
rialismus«; es besaß einen tieferen Grund in der Tatsache, daß zeit im ganzen nur gerecht werden, wenn man sie auf einen
es die Menschen dieser Weltgegend waren, die aufgrund ihrer bislang nie angemessen dargestellten mentalen, moralischen
Übungsvorsprünge alle übrigen Zivilisationen auf dem Plane- und technischen Wandel bezieht: Das Dasein der Modernen
ten nötigten, sich in die von ihnen eingeleiteten Trainingszy- trägt Züge einer globalen Fitnessübung, bei welcher die oben
klen einzuklinken. Der Beweis hierfür: Unter den abgehäng- so genannte »ethische Unterscheidung«, der intensive Appell
ten Nationen schafften nur diejenigen den Sprung nach vorn, zur Erhöhung des Lebens - in vormoderner Zeit nur von den
die sich darauf verstanden, mittels eines zeitgemäßen Schul- wenigsten vernommen -, in einen universell adressierten und
wesens ein ausreichendes Maß an didaktischem Stress zu im- vielfältig beantworteten metanoetischen Imperativ umge-
plantieren. Das gelang am besten dort, wo> wie in Japan und wandelt wird. Dessen Übermittler sind in erster Linie der
China, ein elaboriertes System feudaler Dressuren den Über- neuzeitliche Staat und die ihm gemäße Schule,42 anfangs ener-
gang zu den modernen Disziplinen erleichterte. Inzwischen gisch unterstützt von der Geistlichkeit aller Konfessionen.
haben die Tigerstaaten des Übens aufgeholt, und während der Daneben haben sich auch andere Agenturen, nicht zuletzt
Modernismus des Westens über Imitation und Mimesis hoch- die Schriftsteller der Aufklärung, Fragmente des Mandats
mütig die Nase rümpft, haben neue Konkurrenten in aller angeeignet, zur Änderung des Lebens aufzurufen. »Kultur
Welt das älteste Prinzip des Lernens zur Grundlage ihres Er- ist eine Ordensregel« - das bedeutet für die Modernen: Sie
folgs gemacht. Was eine alte Großmacht des Übens wie China stehen ständig vor der Aufgabe, sich einem Leistungsorden
ihm verdankt, werden die Okzidentalen wohl erst begreifen, einzufügen, der ihnen seine Regel aufprägt, mit der bemer-
wenn die Konfuzius-Institute der neuen Globalmacht bis in kenswerten Nuance, daß sie dem Orden nicht aus freien
die letzten Winkel des Planeten vorgedrungen sind. 41 Stücken beitreten, sondern in ihn hineingeboren werden. Ob
sie wollen oder nicht, ihre Existenz ist von vorneherein in
40 Zur Verwandtschaft zwischen abstrakter Arbeit und abstrakter allgegenwärtige disziplinäre Milieus eingebettet - dagegen
Fitness vgl. die in Fußnote 1 17 zu Kapitel II zitierte Marxsche kommen Aussteigerbewegungen, Faulheitsromantiken und
These über die Differenz zwischen Sklaverei und Jobberei; der
Große Weigerungen nicht auf. Wie um zu beweisen, daß es
Autor erkennt in dieser Differenz eine geschichtliche Bewegung,
zu deren Deutung der gesamte Apparat einer Kritik der Produk- ihm mit seinem Leistungsimperativ ernst ist, kennt auch der
tionsverhältnisse vonnöten sei; um die Emergenz von abstrakter Leistungsorden, der sich im Gewand der bürgerlichen »Ge-
Fitness zu begreifen, ist nicht weniger als eine umfassende Rekon- sellschaft« verbirgt, so etwas wie Konfirmationen für den Elan
struktion der Übungsverhältnisse erforderlich. der Jungen: Zertifikate, Examina, Promotionen, Prämien.
4 1 Manfred Osten, Konfuzius oder Chinas neue Kulturrevolution, in:
China. Insel-Almanach auf das Jahr 2009, Frankfurt am Main 2009,
S. 266-297. 42 Über die antagonistische Allianz Staat/Schule siehe unten S. 548f.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 529
Sobald der absolute Imperativ in die Breite wirkt, ist das Die großen Aufbrüche des I7. Jahrhunderts zu den pädago-
Weltalter der Propaganda angebrochen. Es ist nicht allein der gischen Utopien dürften die »Sattelzeit« des neuen Lei-
christliche Glaube, der nach universaler Ausbreitung und stungsuniversalismus anzeigen - ja, noch die Einflüsterer
Durchdringung strebt (wie es die berüchtigte, von dem ge- der aktuellen »Informations gesellschaft«, die die Parole »le-
genreformatorischen Papst Gregor xv. im Jahr I622 einge- benslanges Lernen« ausgeben, tun dies in unbewußter Fort-
richtete Congregatio de propaganda fide sich zur Aufgabe setzung der barocken Mobilmachungen. Wer verstehen
setzte), es ist der Imperativ des menschlichen In-Form-Kom- möchte, wieso die Neuzeit sich als die Ära der Technik und
mens im allgemeinen, der die europäischen Populationen, zugleich der anthropologischen Selbsterklärung erwies, muß
angeleitet von ihren kirchlichen und weltlichen Mentoren, auf die Tatsache achten, daß das sozialgeschichtliche oder
unter Trainingsdruck setzt. Auch im Antagonismus der Kon- besser: lebensstilgeschichtliche Hauptereignis dieser Epoche
fessionen war von Anfang an ein Zwang zur Erhöhung des in der Transformation der »Gesellschaften« in übende Ver-
Glaubenstonus wirksam. Die Zugehörigkeit zu einem Glau- bände, in stressgesteuerte Mobilmachungsgruppen und inte-
benslager implizierte, zumal in Kampfzeiten, ein erhöhtes grale Trainingslager besteht - die Ausdifferenzierung der
Maß an Nötigung zu religionspolemischem In-Form-Sein. Teilsysteme übergreifend. Dabei werden ständig erneuerte
Auch die ignatianischen Exerzitien stellten nur eine von vie- Technologien mit Menschen konfiguriert, die ständig über
len Ausprägungen des frühmodernen Fitness-Imperativs auf sich selbst umlernen müssen. Diese Verbände sind »interdis-
religiösem Gebiet dar. Die weit verbreiteten, für ihre Strenge ziplinär« verfaßt, da die diversen Übungssysteme mittels en-
wie für ihre Lehrerfolge berühmten Jesuitenschulen bildeten ger und loser Kopplungen ineinander verschränkt sind - wie
das greifbarste Zeugnis für entsprechende Vorstöße an der die Waffengattungen eines Armeeverbands oder strategische
pädagogischen Front. Rollen innerhalb einer Mannschaft. Was man die arbeitsteili-
Sobald die Erfassung größerer Bevölkerungen durch mo- ge »Gesellschaft« nennt, ist de facta das übungsteilige Kom-
ralisch und artistisch anspruchsvolle Vertikalspannungen auf petenzenfeld eines modernen Leistungskollektivs, das sich
der kulturellen Agenda steht, müssen ungewohnte Wege zur auf das Stressfeld »Geschichte« begibt. Geschichtsschreibung
Popularisierung der Askesen gebahnt werden. Die elitären wird die Berichterstattung von konkurrierenden Schicksals-
Anfänge des Asketismus bleiben dabei auf der Strecke. Darum gemeinschaften unter gemeinsamem Stress. Jedoch darf man
sprengen die Exerzitien der Modernen die Klöster, die Kathe- hierbei nie außer Betracht lassen, in wie hohem Maß die na-
dralschulen, die mittelalterlichen Waffensäle auf und schaffen tionalen Formate der neu-europäischen Leistungskultur vom
neue Übungszentren. Mit der Zeit verwandeln die renovierten anfangs noch selbstverständlichen Internationalismus der
Trainingseinheiten die »Gesellschaft« insgesamt in einen vom Künste, der Literaturen, der Wissenschaften, der militäri-
Steigerungsstress erfaßten Übungsverband - was vormals vor schen Drillverfahren und in jüngerer Zeit auch der sportli-
allem die Weltflüchter betrieben, rückt in die Mitte des Sy- chen Athletismen durchkreuzt wurden.
stems. Eremitagen bezeichnen jetzt galante Rückzugsorte Von der Neuzeit reden heißt somit die kulturelle Erzeu-
oder launische Paläste am Ufer kalter Flüsse, doch dem Zwang gung eines allesdurchdringenden Reizklimas der Leistungs-
Zur Fitness entgehen auch die Herrschaften nicht, die sich steigerung und der Fähigkeitsentfaltung zur Sprache brin-
solche höheren Spielformen der Entspannung leisten können. gen - eines Klimas, das sich in den absolutistischen Staate.':!
53° III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 53!
lange vor der sozialdarwinistischen Proklamation der Kon- subjekts, das sich in langwierigen Askesen an das Gesetz des
kurrenz zum vorgeblich naturgeschichtlichen Gesetz durch- Kosmos assimilieren wollte oder durch Entselbstung in sei-
gesetzt hatte. Es ist durch die stetige Veräußerlichung der nem Inneren für Gott Platz schuf (eine »Ästhetik der Exi-
Übungsziele und die Verwandlung der Sammlung in Fitness stenz «, wie Foucault sie wiederentdeckt haben wollte, hat es
geprägt. in der Antike allerdings nie gegeben, und das Mittelalter kann
Der aktuelle Schlüsselbegriff für diese veräußerlichten dergleichen unmöglich erfunden haben), tritt das Lifestyle-
Steigerungen auf der Linie der äußeren Anwendung heißt Subjekt, das auf die gängigen Attribute zur Darstellung von
enhancement, ein Wort, das wie kein anderes den Akzent- existentieller Souveränität nicht verzichten wil1. 43
wechsel von der vormaligen übend-asketischen Selbstinten-
sivierung (und ihrer bürgerlichen Übersetzung in »Bildung«)
zur chemischen, biotechnischen und chirugischen Erhöhung Zweite Kunstgeschichte: Der Henker als Virtuose
individueller Leistungsprofile zum Ausdruck bringt. Das
zeitgenössische enhancement-Fieber artikuliert den Traum Im folgenden möchte ich Elemente einer zweiten Kunstge-
oder das Trugbild einer Modernisierung, die auch vor ehe- schichte präsentieren, die von angewandter Kunst berichtet.
mals innerlichen Zonen menschlicher Selbstverhältnisse nicht Sie handelt von der Kunst, die den Menschen selbst zum Ma-
haltmacht. Aus der Sicht Arnold Gehlens wäre über diesen terial nimmt - nach Trotzkij: sofern sie den Menschen ,>als
Trend die Diagnose zu fällen, daß das Prinzip Entlastung bis physisch und psychisch halbfertiges Produkt« aufgreift. Ich
in die Kernzonen des ethischen Verhaltens vorgedrungen ist. lasse die naheliegendsten Phänomene der »Kunst am Men-
Durch die Entlastung vom Ich wird die Suggestion unter- schen « beiseite - insbesondere die altbekannten Praktiken
stützt, es sei für den Einzelnen möglich und wünschenswert, der Tätowierung und die vielfältigen Formen von Körperbe-
auf sein eigenes Leben wie auf ein äußeres Datum zuzugrei- malung, Kosmetik und dekorativer Deformation. Auch auf
fen, ohne daß er sich bequemen müßte, sein Dasein selber die phantastische Welt statusbezeugender Kopfbedeckungen
übend zu gestalten. Ein Blick auf die jüngsten Effekte der wie Kronen, Hüte und Helme werde ich hier nicht näher ein-
weltweit operierenden enhancement-Industrie - mit ihren gehen, obschon sie für die Beobachtung von >' aufgesetzter«
Sektionen plastische Chirurgie, Fitness-Management, Well- Kunst am Menschen ergiebig wären. Was den Fundus der
ness-Service und systemisches Doping -läßt rückwirkend die Kleidungsmoden, des Schmucks und der Accessoirs anbe-
Vermutung aufkommen, die Übungen der Modernen hätten langt, begnüge ich mich damit, auf die entsprechende Litera-
möglicherweise seit jeher insgeheim auf nichts anderes gezielt tur zu verweisen. 44 Aus ihr geht, en passant gesagt, hervor, daß
als auf die vollendete Veräußerlichung der »Sorge um sich« die vestimentäre Modernisierung nur als gemeinsame Ge-
und die Umgehung des Subjekts bei der Definition seines schichte von Mensch und Kleiderkasten erzählt werden kann.
Fitness-Status. Wo der enhancement-Gedanke dominiert,
wird die Erhöhung des Leistungsniveaus wie eine Dienstlei- 43 Über den aktuellen Stand der enhancement-Debatte informiert von
einem pragmatischen Blickpunkt aus Bernward Gesang, Perfek-
stung in Anspruch genommen, bei der die Eigenanstrengung
tionierung des Menschen, Berlin/ New York 2007.
des Einzelnen sich auf den Hinzukauf der aktuellsten Pro- 44 V gl. Barbara Vinken, Mode nach der Mode. Kleid und Geist am
zeduren beschränkt. An die Stelle des klassischen Übungs- Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1994.
532 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 533
Statt dessen setze ich am makabren Extrem eines auf den sind. Auf ihnen wird - mit katholisch-königstreuem Trotz ge-
Menschen angewandten Kunsthandwerks an, dem Metier des gen den Geist der Bürgerzeit zielend - an die vergessene und
Henkers. Es dürfte außer Frage stehen, daß Michel Foucault verpönte Strafkunst vorrevolutionärer Epochen erinnert:
die grausamen Strafrituale der frühen Neuzeit im Sinn hatte, »Ein unheilvolles Zeichen wird gegeben. Ein verwor-
als er seine so berühmte wie problematische Definition der fener Diener der Justiz klopft an seine (des Henkers)
Biopolitik in alter und neuer Zeit verfaßte, nach welcher sich Tür und teilt ihm mit, daß man seiner bedarf. Er macht
die Biomacht im klassischen Zeitalter zum Ausdruck brachte, sich auf .den Weg und kommt auf einen öffentlichen
indem sie »sterben machte und leben ließ «, indessen die mo- Platz, auf dem sich eine aufgeregte Menge drängt.
derne vorgeblich »leben macht und sterben läßt«. Nicht um- Man wirft ihm einen Giftmischer, einen Vatermörder,
sonst hat der Autor von Überwachen und Strafen. Die Geburt einen Tempelschänder hin. Er streckt ihn auf ein waa-
des Gefängnisses (auf französisch 1975) seine disziplinenge- gerechtes Kreuz und bindet ihn fest; er hebt den Arm.
schichtlichen Untersuchungen mit einer fasziniert-faszinie- Dann tritt eine fürchterliche Stille ein. Man hört nur
renden Schilderung des opulentesten Hinrichtungskunst- noch das Krachen der unter der Eisenstange berstenden
werks eröffnet, das einem Publikum des 18. Jahrhunderts Knochen und das Heulen des Opfers. Er bindet ihn los,
geboten wurde - der Folterung, Vierteilung und Verbrennung trägt ihn auf ein Rad; die zerschmetterten Glieder ver-
des Königsattentäters Robert Franrrois Damiens imJahr 1757 schränken sich in den Speichen, der Kopf hängt herab,
in Anwesenheit des Hofstaats auf der Pariser Place de Greve. die Haare sträuben sich, und der wie eine Esse geöffnete
Foucaults Darstellung ruft die Erinnerung an die mit dem Mund entsendet nur nur dann und wann einige blut-
Ancien regime untergegangene Ära des chatiment spectacle triefende Worte, die den Tod heischen. Er hat sein Werk
herauf, in der die Strafe als Triumph des Gesetzes über die beendet, sein Herz klopft, aber vor Freude. Er zollt sich
Untat und als Ausschluß der Delinquenten aus der sittlichen Beifall, er spricht in seinem Herzen: >Niemand versteht
Gemeinschaft inszeniert wurde - ein Grund mehr, die »Ge- besser zu rädern als ich< (Nul ne roue mieux que moi).«46
sellschaft des Spektakels« bis in die Zeit der klassischen, sogar Der de Maistresche Henker erscheint als ein Könner seines
der mittelalterlichen, wenn nicht schon der archaischen Staat- Fachs, der den romantischen Künstler vorwegnimmt: Wie
lichkeit zurückzudatieren. 45 dieser muß er die tägliche Geselligkeit entbehren, da seine
Daß dem von Foucault wiederaufgedeckten art de punir Kunst ihn den menschlichen Beziehungen entfremdet; wie
tatsächlich ein Kunstcharakter eigenen Rechts zukam, hat un- dieser (Flaubert: l'impassibilite) entwickelt er eine spezifische
ter den Autoren der Restauration niemand genauer wahrge- Unberührbarkeit, die ihn zur sachlichen Ausführung seines
nommen als J oseph de Maistre - der Verfasser der berüchtigten Metiers befähigt; und wie bei diesem kommt der Selbstbeifall
Seiten aus den Soirees de St. Petersbourg (1821), die dem Hen- dem Urteil der Menge zuvor, vorausgesetzt, er darf seinem
ker, dieser verfemten Stütze der sozialen Ordnung, gewidmet
46 ]oseph de Maistre, Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche
45 Zum Zusammenhang zwischen der symbolischen Ordnung der über das zeitliche Walten der Vorsehung, Wien und Leipzig 2008,
»Gesellschaft« und der Theatralisierung des Rechts vgl. Pierre Le- S. 78; ich habe die schwerfällige Übersetzung von Moritz Lie~ e~
gendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Zwei Es- aus dem Jahr 1824 durch eine jüngere Übertragung von L::::::<.:
says, Wien 2000. Bertelsmann ersetzt.
534 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 535
savoir faire ein geglücktes Werk zuschreiben. Seine Einsam- sondere hinsichtlich des demographischen Haupttrends des
keit reicht tiefer als die des Künstlers, da sie nicht einmal durch europäischen 20 . Jahrhunderts: des jähen Rückgangs der
das Gespräch mit Kollegen durchbrochen wird - er empfängt Reproduktionszahlen, der durch die Wiederkehr der Ver-
keine Besucher, von denen er Hinweise auf die Perfektionie- hütungskunst in Wechselwirkung mit dem neuen Erstarken
rung seines Handwerks erhielte; ihm kann es nicht passieren, privater Fortpflanzungskalküle zu erklären ist.
daß ein »ernster Hergereister« auftaucht, der mehr weiß - Tatsächlich ist der Staat des vorklassischen wie des klassi-
»und zeigt uns zitternd einen neuen Griff«.47 Der Henker schen Zeitalters, und er vor allem, ein lebenmachender Staat,
ist Virtuose einer auf den Menschen angewandten Kunst, und zwar aus dem so einfachen wie fatalen Grund, daß er, als
deren Fokus die Zurschaustellung eines in Qualen gewunde- merkantiler Staat, als Steuerstaat, als Infrastrukturstaat und
nen Körpers bildet. Anthropotechnik ist im Spiel, insofern der als Staat der stehenden Heere, eine Form von Souveränität
Delinquent als Ausgangsmaterial für kunstgerechte Manipu- anstrebt, die bereits die Entdeckung des demographischen
lationen erscheint - ein Halbfabrikat, das binnen weniger Massengesetzes zur Voraussetzung hat: Demgemäß bedeutet
Stunden in ein fatales Endprodukt verwandelt wird. Macht in ihrer jüngeren Deklinationsform vor allem Herr-
schaft über die größtmögliche Zahl von Untertanen - wobei
der Untertan im Rahmen der expandierenden Eigentums-
Beginn der Biopolitik: Schon der klassische Staat macht leben ökonomie schon durchwegs als eine nicht-sklavische Ar-
beitskraft, als ein Regungszentrum von Wertschöpfung und
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, für Foucaults erste als besteuerbare Eigennutz-Zentrale konzipiert wird. Mit
Version der Biomacht-Formel: »sterben machen und leben dieser weiß sich der moderne Staat in einem schicksalhaften
lassen« ließe sich keine überzeugendere Bestätigung denken Bündnis - Makroegoismus gedeiht nicht ohne blühende Mi-
als die Darbietungen jenes »Theaters des Schreckens« in den kroegoismen. Zeitgemäße Machtausübung findet unter sol-
Strafritualen der frühen Neuzeit. 4 8 In Wahrheit hat sich der chen Prämissen in der Weise statt, daß der Staat - unterstützt
frühneuzeitliche Staat gerade nicht damit begnügt, seine Un- durch seine providentielle Komplizin, die Kirche als Hüterin
tertanen »leben zu lassen«. Im Gegenteil, schon der flüchtig- der Familienmoral - die Quelle des Bevölkerungsreichtums
ste Blick auf die bevälkerungspolitischen Dispositionen des unter seine Kontrolle bringt. Er greift in das generative Ver-
16. und 17. Jahrhunderts macht klar, daß der Staat in seiner halten der Untertanen ein, um mittels geeigneter Maßnah-
beginnenden absolutistischen Phase entschlossen war, seine men, speziell durch Terror gegen die Trägerinnen des Verhü-
Untertanen ebensosehr »leben zu machen« - in einem Aus- tungswissens, die Hebammen, für den größtmöglichen
maß, neben dem die sogenannte Biopolitik des 19. und Reichtum an Nachkommen bei der größtmöglichen Zahl an
20. Jahrhunderts, die angeblich »leben macht und sterben Reproduktionsfähigen zu sorgen.
läßt«, wie ein hilfloses Postludium erscheint, hilflos ins be-
Die Maßnahme aller Maßnahmen auf diesem Feld besteht in
47 Vgl. Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch/Das Buch vom mön-
chischen Leben. der staatlich und kirchlich verfügten Maximierung der »Men-
4 8 Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis schenproduktion« - selbst Adam Smith spricht in seinem
und Strafrituale der frühen Neuzeit, München 1995. Hauptwerk von 1776 ruhigen Tons von der production of
ur Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 537
men, die von der »Nachfrage nach Menschen« gesteuert wer- Mit dem Terror gegen Hebammen-Hexen überreicht der
49
de. Sie kommt in Gang durch die systematische Zerstörung frühe Nationalstaat seine Visitenkarte an die sich moderni-
des informellen Gleichgewichts zwischen dem manifesten sierende »Gesellschaft«. Die Frage, ob man den »weisen
Patriarchat und dem latenten Matriarchat, somit durch die Frauen« jener Zeit wirklich ein »hochentwickeltes Experten-
Aufhebung des historischen Kompromisses zwischen den turn« in Verhütungsangelegenheiten zuschreiben darf, mag
Geschlechterparteien, der sich unter dem Deckmantel der unentschieden bleiben; immerhin sollen vor dem Einsetzen
kirchlichen Lebensschutzethik seit der Spätantike in Europa der Repression über einhundert Prozeduren zur Verhinde-
eingespielt hatte und bis ins Spätmittelalter gültig blieb. Da- rung unerwünschten Nachwuchses bekannt gewesen sein -
her die beispiellose Offensive zur Unterwerfung der Frauen Prozeduren, an deren Effektivität im einzelnen Zweifel er-
unter das Reproduktionsgebot und die systematisch betrie- laubt seien. Bald lassen sich jedoch, davon abgesehen, die
bene Zerstörung des Geburtenverhütungswissens, die unter Konsequenzen der »Hexenunterdrückung« mit Händen grei-
dem irreführenden Titel »Hexenverfolgungen« in die Ge- fen - und statistisch darstellen. Während einer langen Periode
schichtsbücher eingegangen ist. Wie Gunnar Heinsahn in rigider Populationspolitik weigert sich der moderne Staat im
Kooperation mit Otto Steiger und Ralf Knieper schon vor Bündnis mit dem christlichen Klerus, die herkömmliche
Jahrzehnten gezeigt hat,SO dürfen die misogynen Exzesse des Kontrollfunktion der Ehefrauen über die »Menschenquelle«
16. und 17. Jahrhunderts in Europa mit ihren zahllosen Le- im geringsten zu dulden, geschweige denn zu respektieren.
bendverbrennungen von Frauen nicht als Rückfall der früh- Den Kindermord erklärt die gelenkte Sensibilität der frühen
modernen »Gesellschaft« in »mittelalterliche Barbarei« ver- Moderne zum exemplarischen Verbrechen gegen die Mensch-
standen werden, auch nicht als epidemische Sexualneurose, heit und zum direkten Angriff auf die Staatsraison - hier ist der
wie psychoanalytische Kommentare üblicherweise unterstel- seltene Fall einer totalen Kongruenz von Familienmoral und
len. Sie sind das Erkennungszeichen der frühen Moderne Staatsmoral gegeben.
selbst, insofern diese ihrem Hauptantrieb gemäß dem neuen Alles andere als zufällig ist es daher, wenn der größte neu-
demographischen Imperativ Folge leistet: dem Gebot der ere Staatsdenker nach Machiavelli, der Jurist Jean Bodin,
entgrenzten Bereitstellung von Untertanenmaterial. I 530- I 596, ein ehemaliger Karmelitermönch, sich als einer
der wütendsten Hexenjäger aller Zeiten hervortat: Der Ver-
49 Im 8. Kapitel des Ersten Buches von The Wealth ofNations heißt es:
». .. the demand of men, like thatof any othercommodity, necessarily fasser der epochemachenden Six Livres de La repubLique, 1576,
regulates the production of men.« Smith hält für einen Markteffekt, signierte zugleich als Autor der brutalsten Hexenverfol-
was in Wahrheit eine Folge von Bevölkerungspolitik ist. gungsschrift aller Zeiten, erschienen zu Paris 1580 unter
50 Gunnar HeinsohniRolf KnieperlOtto Steiger, Menschenproduk-
dem Titel De La demonomanie des sorciers. S1 Was er in seiner
tion. Allgemeine Bevölkerungslehre der Neuzeit, Frankfurt am
Main 1979. Die These der Autoren blieb nicht unwidersprochen, Doppelfunktion als Begründer der modernen Souveränitäts-
insbesondere aufgrund des Arguments, daß die Akten der Hexen-
prozesse eher für die Denunziation der Hexen durch Nachbarn 51 Schon 1591 unter dem Titel: Vom ausgelassenen wütigen Teufels-
und Dorfgenossen als durch staatliche ErmittIer und Inquisitoren heer ins Deutsche übertragen von Johannes Fischart (Nachdruck
sprechen. Dies ändert nichts an der Richtigkeit der Feststellung, Graz 1963)' Vgl. Gunnar HeinsohnlOtto Steiger, Inflation and
wonach die Herstellung des Hexenjagdklimas auf klerikokratisch Witchcraft or The Birth of Political Economy: The Case of Jean
gestützte politische Maßnahmen zurückgeht. Bodin Reconsidered, Washington 1996.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 539

lehre und als Meisterdenker der Inquisition gegen gebär- Form der Verantwortung vor Gott«.53 Dazu mag man beden-
fähige, doch eigenwillige Frauen bewirken wollte, ist klar ken: Der Begriff Verantwortung spielt weder in der Theo-
erkennbar. Den springenden Punkt hatten schon hundert logie noch in der klassischen Moralphilosophie eine Rolle;
Jahre zuvor die Autoren des Malleus Maleficarum alias er ruckt erst im Lauf des 20. Jahrhunderts in die Mitte der
Hexenhammers verraten: »Niemand schadet dem katholi- ethischen Reflexion, als das explosiv angewachsene Problem
schen Glauben mehr als die Hebammen."s2 Katholischer der nicht-intendierten Handlungsfolgen einen Großteil der
Glaube impliziert von nun an die bedingungslose Unterwer- moralischen Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unbestreitbar
fung von Eheleuten unter die Folgen des ehelichen Verkehrs, ist jedoch, daß in der christlichen Sexualethik, namentlich
ohne Rücksicht darauf, ob sie imstande sind, ihren Kindern in ihrer offiziellen katholischen Ausprägung, bis heute ein
ein ausreichendes Erbe und damit eine sinnvolle Zukunft Wille zur Folgenblindheit steckt, der mit Gottvertrauen ver-
zu versprechen, ja selbst ohne Zugeständnis an die Sorge, wechselt werden möchte. De facto fungierten die neuzeit-
ob eigentums losen Arbeitern überhaupt Nachkommen zu- lichen Kirchen aller Konfessionen aufgrund ihres an sich
gemutet werden dürfen. Die Politik der »Reichtumsgewin- sehr ehrenwerten bedingungslosen Eintretens für den Schutz
nung durch Bevölkerungsvermehrung« ging über Bedenken des ungeborenen wie des geborenen Lebens als Erfüllungs-
dieser Art »souverän« hinweg. Tatsächlich wurde die Be- gehilfinnen der zynischsten biopolitischen Operation aller
völkerungsexplosion der Neuzeit gerade durch die exten- Zeiten.
sive Einbeziehung der eigentumslosen Arbeiterschaft, des
nachmals vielbeachteten und regelmäßig falsch erklärten
»Proletariats«, in die Familien- und Fortpflanzungspraxis Menschenüberproduktion und Proletarisierung
der spätaristokratisch-bürgerlichen »Gesellschaft« mit aus-
gelöst. In seinem maßlosen Verlangen nach Untertanen ordnet der
In puncto Fortpflanzung gebärdeten sich die Theologen neue Leviathan die gewaltigste Deregulierung an, die je in der
der Reformation zumeist noch katholischer als das Papsttum. Geschichte menschlicher Reproduktionen zu beobachten
Martin Luther, der mit Katharina von Bora ein halbes Dut- war - die demographischen Explosionen während des 20.
zend Kinder in die Welt setzte, dozierte, vom eigenen Glau- Jahrhunderts in der islamischen Sphäre und einigen Zonen
benselan berauscht, es gehöre sich für einen Christenmen- der vormals so genannten Dritten Welt ausgenommen: Bin-
schen, davon überzeugt zu sein, Gott werde, wenn er den nen weniger Generationen sind, dank konsequenter »Hexen-
Frommen Nachwuchs gibt, ihnen auch die Mittel zu seiner politik« von oben wie von unten in den führenden Nationen
Aufzucht nicht vorenthalten, solange sie den nötigen Fleiß an Europas (die im übrigen noch immer angstvoll auf die Ent-
den Tag legen. Heinsohn und Kollegen haben die Maxime välkerungskatastrophe des 14. Jahrhunderts zurückblicken
solchen Denkens schneidend auf den Begriff gebracht: >,ver- und die periodisch wiederkehrenden Seuchen fürchten), zu-
allgemeinerung individueller Verantwortungslosigkeit in der erst konstant steigende, dann explodierende Geburtenraten
zu verzeichnen. Über eine Zeitspanne von kaum mehr als
52 Johann Sprenger, H einrich Institoris, Malleus Maleficarum (zuerst
1487), deutsch von J. W. R. Schmidt, Der Hexenhammer, Berlin
1906, S. 159. 53 Heinsohn u. a., Menschenproduktion, a. a. 0 ., S. 78 .
III Die Exerzirien der Modernen 10 Kunst am Menschen 54 I
zweihundertfünfzig Jahren summieren sich die Effekte der scheint an der Zeit, ruhig zu konstatieren, daß Foucault, vor
absolutistischen Biopolitik (obschon vorübergehend von allem zu Beginn seiner disziplinologischen Recherchen, ei-
den Folgen des Dreißigjährigen Kriegs gedämpft) zu einem ner enormen optischen Täuschung erlag, indem er die staat-
Menschentsunami, dessen Wellenkamm sich im I9. Jahrhun- liche Erfassung der irrekuperablen überschüssigen Men-
dert überschlägt - eine der Mitbedingungen nicht nur für die schen, deren Dasein oft durch nicht mehr als eine Notiz in
Entstehung eines zur Frustration verurteilten »Proletariats«, den Akten der absolutistischen Administrationen bezeugt
sprich einer Klasse von eigentumslosen Arbeitern, die sich wird,55 auf das Wirken einer prinzipiell repressiven etatisier-
auf Märkten außerhalb der Familienwirtschaften verdingen ten Disziplinarmacht zurückführen wollte. In Wahrheit sind
müssen, sondern auch für einen von Marxisten als »Imperia- die Maßnahmen des frühmodernen Staats an der armmspo-
lismus« mißverstandenen, überbordenden Menschenexport, litischen Front nur als eine mehr oder weniger mechanische
der das Personal zur Neubesiedlung von drei Erdteilen, Süd- Gegenwehr gegen seine eigenen übergroßen Erfolge auf dem
amerikas, Nordamerikas und Australiens, sowie zur partiel- Gebiet der Menschenproduktion verständlich zu machen.
len Okkupation der übrigen Kontinente durch Europäer be- Was aus der Sicht der Genealogie des Gefängnisses wie eine
reitstellt. 54 quintessentielle Manifestation von »Disziplinarmacht« er-
Dieselbe demographische Flutwelle überschwemmt die scheint, ist aus staatsfunktionaler Perspektive bereits als eine
europäischen »Gesellschaften« mit einer Unzahl von Unver- Form der Fürsorgemacht zu begreifen, die den modernen
wendbaren, Unordentlichen und Unglücklichen, die weder Sozialstaat konstituiert 56 - lange bevor das I9. Jahrhundert
durch Arbeitsmärkte noch durch Regimenter zu absorbieren eine kapitalismusspezifische »soziale Frage« aufwirft. Tat-
sind, geschweige denn durch die Marine oder überseeische sächlich enthalten die Maßnahmen zur Disziplinierung der
Destinationen. Sie sind es, die seit dem I7. Jahrhundert die Armen im klassischen Zeitalter bereits das Zugeständnis an
ersten Vorformen des Sozialstaats, des Etat providence, her- den Grundsatz der anthropologischen Aufklärung, wonach
vortreiben und zum Eingreifen provozieren. Auf ihre nicht die Nahrung den Menschen macht, sondern die Ein-
Schicksale stieß Foucault in seinen Studien zur Geschichte beziehung in die symbolische Ordnung - im Jargon des 20.
der modernen Disziplinarsysteme. Man tritt ihm nicht zu Jahrhunderts: die »Sozialisation« . Was ist Sozialisation frei-
nahe, wenn man feststellt, der erklärende Wert seiner Unter- lich anderes als eine der Masken, unter denen sich das üben-
suchungen werde durch die unzureichende Rücksicht auf die de Leben in einer von Arbeit und Herrschaft vehexten Epo-
demographische Dimension seines Gegenstands gemindert - che verbirgt?
ein befremdlicher Befund bei einem Gelehrten, dessen heu- Die kulturpathologischen Konsequenzen der deregulier-
tiges Renommee fast ausschließlich auf seiner vorgeblichen ten Menschenproduktion in Europa zwischen dem I6. und
Entdeckung der Biomachtmechanismen beruht. Was ist Be- dem I9. Jahrhundert sind von unabsehbarer Tragweite. Sie
völkerungspolitik anders als der Ernstfall von Biopolitik? Es
55 Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, herausgege-
54 Für eine makrohistorische Beschreibung der demographischen ben, übersetzt und mit einem Nachwort von Walter Seitter, Berlin
Anomalie Europas zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert 200I.
vgl. Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg 56 Vgl. James L. Nolan, The Therapeutic State. Justifying Govern-
und Fall der Nationen, München 2008. ment at Century's End, New York 1998.

III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 543

summieren sich zu einer Modernisierung der Grausamkeit,


die sogar die geziehen Verrohungstrainings der Antike über- Geburt der Sozialpolitik aus der Verlegenheit
trifft. Gleichwohl darf man auch hier Intentionen und Ne- des Menschenüberschusses
benwirkungen nicht miteinander verwechseln. Gunnar Hein-
sohn und seine Kollegen haben der Bevölkerungspolitik der In unserem Zusammenhang kommt es allein auf die Tatsache
frühen Neuzeit ihre »Unfähigkeit zur Feinabstimmung«57 an, daß die populationistische Politik des frühneuzeitlichen
attestiert, wodurch sie früher oder später ihrer fehlenden Staats auf mittelbare Weise die ungestüme Entwicklung zahl-
Steuerung zum Opfer fallen mußte. 58 Überhaupt ist zu be- reicher konkreter Anthropotechniken ausgelöst hat, gleich,
zweifeln, ob man die Bevölkerungspolitik schon als eine prä- ob sich diese an den bildungspolitischen und pädagogischen,
gnante Form moderner Anthropotechnik bezeichnen darf, da den militärischen, den »policeylichen« oder den wohlfahrts-
sie das Merkmal des Technischen, die Meisterung des Ver- staatlichen Fronten manifestierten. Die an unbedingtem
fahrens, das in diskreten, expliziten und kontrollierten Schrit- Wachstum orientierte Bevölkerungspolitik führte in den mo-
ten das gewünschte Ergebnis erbringt, ganz offenkundig dernetypischen Teufelskreis, in dem die unaufhörliche, bald
nicht besitzt. Daß sie den Menschen zum Rohstoff für poli- schicksalhaft scheinende Menschenüberproduktion eine
tische und sonstige Weiterverarbeitungen macht, steht außer massive Überforderung der erzieherischen Potentiale in den
Zweifel. Ebenso evident ist ihre Verpflichtung auf den bereits Familien und infolgedessen ein erhöhtes Risiko epidemischer
von Nietzsehe diagnostizierten Experimentalstil moderner Kindesverwahrlosung nach sich zog. Gegen diesen Mißstand
»großer Politik«: Ohne einen hohen Va-banque-Faktor sind wurde aus naheliegenden Gründen zunächst und zumeist an
der Dynamismus und Futurismus des neuen Zivilisationsmo- das moderne Schulwesen appelliert, nicht allein, damit es dem
dells nicht zu denken. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist modernen Gemeinwesen die nötigen Zahlen an Leistungsträ-
Bevölkerungspolitik absolutistischen Stils eine Form von gern liefere, sondern auch, damit es aus der Unzahl der Aus-
Projektemacherei im Großen - ein epochentypisches Mittel- sichtslosen und Überflüssigen doch noch so etwas wie nütz-
ding zwischen Technik und Hasard. 59 liche, zumindest unschädliche Mitglieder der Gesellschaft
forme - eine Aufgabe, an der die Pädagogen des frühmoder-
nen Staats nur scheitern konnten. 6o Wo die Ertüchtigungs-
57 Heinsohn u. a., Menschenproduktion, a. a. 0., S. 70-77. disziplinen der Schule und die Integrationseffekte des Berufs-
58 In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, daß Foucault bei lebens versagen, ist ein zweites Auffangsystem erforderlich,
seiner Analyse der »Mikrophysik der Macht« ein Datierungsfehler um die überschüssigen Menschen zu »erfassen«. In diesem
unterlief, den er mit bordeigenen Mitteln, beengt durch die me-
Regime administrativer Härten kommen die Foucaultschen
thodischen Schranken der Diskursanalyse, nicht mehr korrigieren
konnte. Er stellte an das 18. Jahrhundert Fragen, auf die schon das
16. Jahrhundert die Antworten gegeben hatte - darum sind fast 60 Von diesem Scheitern gibt noch Herbart Zeugnis, wenn er in:
alle Aussagen Foucaults über moderne Biomacht an den entschei- Pädagogische Briefe oder Briefe über die Anwendung der Psycho-
denden Stellen durch Anachronismen und Erklärungslücken be- logie auf die Pädagogik (1832) schreibt: »Der Staat (kümmert) sich
lastet. um den minder Tauglichen auch minder . . . Seine Schulen sollen
59 Vgl. Markus Krajewski (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion ihm die Subjekte liefern, die er braucht. Er wählt die brauchbarsten:
von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004. die übrigen mögen für sich sorgen.« (3. Brief)
..

544 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 545


Phänomene, die Verwahrungs-, Sedierungs- und Maßrege-
lungsdisziplinen der klassischen Staatlichkeit zur Entfaltung. Bildungspolitik unter dem absoluten Imperativ
Was man in heutiger Terminologie Sozialpolitik nennt, ist
zunächst nichts anderes als das Kreisen des modernen Staats Die moderne Pädagogik reagiert auf die neue Auftragslage in
in seinem selbstgeschaffenen circulus vitiosus. Zu ihm steuert ihrer Weise: Sie zieht aus der chronischen Not des Staates
der »Kapitalismus« erst nach der Industriellen Revolution Vorteil, indem sie sich dem modernen Gemeinwesen für J ahr-
des späten I8. Jahrhunderts das Seine bei, indem er den im- hunderte unentbehrlich macht. Geistesgegenwärtig schwingt
merwährenden Kreuzzug zur Senkung der Kosten für den sie sich zur Disziplin der Disziplinen auf. Sie verknüpft den
Faktor Arbeit beginnt. Dieser allzu siegreiche Feldzug be- groben bildungspolitischen Imperativ, dem modernen Staat
reitet noch dem postmodernen Therapie- und Umvertei- brauchbare Menschen zu liefern, eigensinnig mit dem zeit-
lungsstaat chronische Sorgen, da er nicht weiß, welchen Reim gemäß abgetönten absoluten Imperativ: »Weil du dein Leben
er sich auf das irritierende Zugleich von hoher Arbeitslosig- nicht erst nachträglich ändern sollst, sollst du dich von An-
keit und niederen Geburtenraten machen soll: De facto deutet fang an durch uns verändern lassen. « Diesem Gebot sind die
das auf den übergroßen Erfolg des Wirtschaftssystems bei Erzieher zu Beginn ihrer Offensive nahezu ausnahmslos ver-
seiner Suche nach Wegen zur Senkung der Arbeitskosten, pflichtet, weil sie fast alle aus kirchlichen Traditionen hervor-
einen Erfolg, der unvermeidlich massenhafte Freistellung gehen - in unserer Übersetzung: aus den institutionalisierten
von Arbeitskraft mit sich bringt, jedoch nur zu Lasten des Übungsformen der ethischen Differenz. Sie wissen aus alt-
Sozialsystems zu erzielen ist. Doch schon der absolutistische ehrwürdigen Quellen und morgendlichen Introspektionen,
Staat, der von Anfang an zuviel »leben machte«, indem daß der Mensch das Wesen ist, das gegen den Strich gebürstet
er durch Kontrolle der sexuellen Rahmenbedingungen be- werden muß. Noch sind die Zeiten nicht angebrochen, in
trächtlich mehr Menschen erzeugte, als er - bzw. die Fami- denen Rousseau und die Antiautoritären ihre Konfusionen
lien, die Schulen und die Manufakturen - mit humanisieren- unters Volk bringen; noch ist niemand auf den Gedanken
den Qualifikationen und wirtschaftlichen Erwerbschancen gekommen, man müsse die Kinder nur in allem ihren Nei-
ausstatten konnte, war dazu verurteilt, seine sich immer hö- gungen folgen lassen, um freie Bürger entstehen zu sehen.
her auftürmenden Pyramiden polytechnischer Virtuosität Auch der schlimmste fouetteur d'enfants - um Rabelais' auf
über einem Substrat von Elenden und Überzähligen zu er- Pierre Tempete gemünztes Wort zu zitieren, den Rektor des
richten. Für sie wies die Zwangsdisziplinierung den einzigen Pariser College Montaigu (an dem Ignatius von Loyola stu-
Weg zu einer wie auch immer kläglichen Abwicklung. Wer dierte), der als Prügelmeister zur Legende wurde - ist uner-
aber nur auf diese Erscheinungen schaut, wird von dem diszi- schütterlich überzeugt, er tue als Christ und Schulmann nicht
plinologischen Abenteuer der Neuzeit im ganzen nichts be- mehr, als was nötig ist, um aus kleinen Bestien charaktervolle
greifen - weder in seinen artistischen und artisanalen noch in Erwachsene zu formen. In der Gewißheit, daß alle Laster aus
seinen gelehrten, epistemologischen und ingenieurstechni- dem Müßiggang entspringen, setzen die frommen Erzieher
schen Dimensionen, um von den neo-athletischen und an- jener Zeit alles in Bewegung, um dem Teufel keine Chance zu
thropopolitischen Aufbrüchen des späten I9. wie des gesam- lassen, den Kopf eines Zöglings unbeschäftigt zu finden.
ten 20. Jahrhunderts hier noch nicht zu reden.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 547
tion entwickelt sich die frühmoderne Schule zur Ambitions-
Emendatio mundi zelle der zu verändernden Welt, ja zum Inkubator aller späte-
ren »Revolutionen«. Sie will nicht nur die bessere Welt in der
Vielleicht konnte nur so das schlechterdings Unerwartbare schlechten vorbereiten, sie möchte die Welt insgesamt auf die
eintreffen: Aus dem Aufbruch des modernen Staats zur Men- bessere Seite ziehen, und zwar durch die Produktion von
schenproduktion emergiert durch das Dazwischentreten der Absolventen, die für die Welt, wie sie ist, zu gut sind. Die
Erzieher die wirkungsmächtigste Idee des vergangenen hal- Schule muß der Ort werden, an dem die Anpassung des Men-
ben Jahrtausends: Die Vorstellung der Weltverbesserung trat schen an die schlechte Wirklichkeit hintertrieben wird. Eine
auf den Plan, als die barocke Schule den Auftrag annahm, die zweite Überproduktion soll die Schäden der ersten wieder-
Humankatastrophe abzuwehren, die der frühmoderne Staat gutmachen.
durch seine Politik der zügellosen Menschenproduktion aus- Die Änderung des Lebens in die Lebensanfänge einpflan-
löste. Weltverbesserung bedeutet in dieser Situation: Men- zen: Dies erfordert fürs erste nicht weniger als die Übertra-
schenverbesserung en masse. Da sie nicht mehr als Selbstver- gung der Klosterdisziplin auf die Schule - um einen gerin-
besserung einer asketischen Minderheit praktikabel ist, bedarf geren Preis ist das Projekt der Moderne nicht zu haben. Von
sie der Verbesserung der Vielen durch erzieherische Institu- Anfang an ging es in ihm um nichts anderes als um die
tionen. Darum wenden die Pädagogen der frühen Moderne Korrektur des fehlerhaften Welttexts, die emendatio mundi.
den metanoetischen Imperativ erstmals unmittelbar auf Kin- Sie besteht in der Ersetzung des aktuell verderbten Wortlauts
der an. Nun erst wird sichtbar, was die These bedeutet, wo- durch eine verschollene, allein von Theologen, Philosophen
nach alle Erziehung Konversion sei. 61 Die späteren totalitären und jetzt auch von Pädagogen wieder lesbar zu machende
Systeme werden die invasiven Schulen beerben und das Vor- Urfassung. Diese Idee, die allein den Setzern und Druckern,
recht der totalen Erfassung der Jugend für sich reklamieren. den Korrektoren und Verlegern des Gutenberg-Zeitalters
Mit dem starken (weil demographisch kompetenten) und und ihren Komplizen, den Schulmeistern und den Erwach-
verlegenen (weil pädagogisch inkompetenten) Menschenpro- senenbildnern, in den Sinn kommen konnte, die sich nur
duktionsstaat im Rücken stellt sich bei den Erziehern am wenig später die Aufklärer nennen, war auf keinen Gegen-
Vorabend der Aufklärung die Einsicht ein, daß sie ihr Amt stand so plausibel anwendbar wie auf die Seelen der Kinder
nur unter einer Bedingung erfolgreich ausüben können: Sie in der beginnenden Buchdruck-Ära. Schon früh erweist sich
müssen im Schüler nach dem ganzen Menschen greifen. Im die Schule als der moralische Destillierkolben der modernen
Kind intendieren sie schon den Bürger. Folglich fassen sie den »Gesellschaft«, da sie den Ort bildet, an dem der metanoe-
Beschluß, der Metanoia, der ethischen Revolution auf halbem tische Appell zum Rückzug von der Welt durch eine säku-
Lebensweg,62 zuvorzukommen, indem sie die Änderung des lare Institution übernommen und auf profane Ziele gelenkt
Lebens in dessen Anfänge legen. Aufgrund dieser Disposi- werden sollte. Den Schein der Unterordnung unter den
staatlichen Auftrag galt es dabei immer zu wahren - keine
61 Siehe oben S. 470f.
62 Nicht zufällig liefert die größte metanoetische Erzählung des eu-
ropäischen Mittelalters, die Divina Commedia, den Hinweis, die nen, daß er sich um die Mitte seines Lebenswegs (nel mezzo ,:?:
Initiation des Dichters in die jenseitigen Dinge habe damit begon- cammin di nostra vita) in einem Wald verirrte.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen
549

öffentliche Schule in der Zeit zwischen Erasmus und Hart- immer auch, zuweilen sogar manifest, am Staat und an der
mut von Hentig hat jemals offen heraus erklärt, sie habe die »Gesellschaft« vorbei. In dem resonanzreichen deutschen
Hervorbringung von sozial unverwendbaren Charakteren Wort »Bildung« kristallisiert sich diese Verfehlung. Der Son-
zum Ziel - oder gar die von modernen Eremiten. Nichts- derstatus von »Kultur« in der modernen Konstruktion von
destoweniger durfte man sämtlichen Pädagogen von Rang Wirklichkeit läßt sich ohne die organisierte Abweichung der
unterstellen, daß sie hinsichtlich der wahren Ziele ihres Me- Erziehung von ihrem äußeren Zweck nicht verstehen. Wer
tiers ganz eigene Gedanken hatten, die nicht ohne weiteres möchte, kann hierin schon eine Spur der beginnenden »Aus-
mit den Erwartungen der Staatlichkeit zusammenfielen. differenzierung der Teilsysteme« wahrnehmen - der verharm-
losende Sinn der Rede von Ausdifferenzierung spränge hier
Dies also erweist sich als die höchste Kunst am Menschen im freilich mehr als anderswo ins Auge. Wie der modernen Be-
Zeitalter des christlichen Humanismus und seiner schuli- völkerungspolitik die Feinabstimmung ihrer demographi-
schen Projektionen: die Verfügung über Prozeduren, die ho- schen Instrumente mißlingt, so mißlingt der etatisierten Päd-
hen Imperative der Menschwerdung in die Erziehung einzu- agogik die Feinabstimmung ihrer Erziehungsmaßnahmen.
bauen und die Wasserzeichen des Ideals unauslöschlich in die Aufgrund der Eigenlogik der Schule wird die moderne Kultur
Seelen der Jüngsten einzuprägen. Die Prämissen dieser Wen- von riesigen Überschüssen nicht anschlußfähiger Idealismen
de liegen in dem dissonanten Bündnis zwischen Staat und überschwemmt - Personalismus, Humanismus, Utopismus,
Schule: Der merkantilistische Staat der frühen Neuzeit iden- Moralismus 63 sind ihre offiziellen Ausprägungen. Dieses
tifiziert die noch immer massiven Ströme klösterlicher Welt- Zuviel provoziert eine Serie von kulturpathologischen Reak-
flucht als eine ihm unwillkommene Tendenz, ja geradezu als tionsbildungen - von Eskapismus und innerem Rückzug bis
subversives Ausweichen potentieller Arbeitskräfte vor dem zu Romantizismus, Revoltismus und Immoralismus. Die
sich ausbreitenden universalen Nützlichkeitsgebot. Er glaubt Charaktermaske des Zynikers erobert vom 18. Jahrhundert
in seinem wohlverstandenen Interesse zu handeln, wenn er an die spätaristokratische und bürgerliche Bühne - schon Mo-
die Pädagogen ermächtigt, die Jungen früh an die Hand zu zarts und da Pontes Opern kommen nicht mehr ohne die Figur
nehmen, um sie von ihren ersten Schritten an in ein Curricu- des abgebrühten Philosophen aus, der - eingehüllt in seine
lum zu allseitiger Verwendbarkeit einzuspannen. Daß er die übelriechende Eselshaut 64 - unter Menschen stets mit dem
Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, wird sich im Lauf der Schlimmsten rechnet. Gleichzeitig entfaltet der moderne Ro-
Jahrhunderte zeigen. Wer auf Pädagogen setzt, um Bürger zu man eine veritable Phänomenologie der aus Enttäuschung
erhalten, muß auf unerwartete Nebeneffekte gefaßt sein.
63 Auf ~ie Tendenz zur Entstehung von intellektueller Hypermoral,
begleItet v?n massenhafter moralisierender Illoyalität gegenüber
dem GemeInwesen hat Arnold Gehlen des öfteren in rüden Tönen
Schulraison versus Staatsraison hingewiesen. Niklas Luhmann spricht von Phänomenen dieses
Typs abgeklärter: Vgl. Die Moral des Risikos und das Risiko der
Moral, in: N . L., Die Moral der Gesellschaft. Herausgegeben von
Die List der pädagogischen Vernunft artikuliert sich darin, Detlef Horster, Frankfurt am Main, 2008, S. 362 -374-
qaß die neuzeitliche Schule ihre Zöglinge zwar nominell auf 64 Vgl. die Pelle di asino-Arie aus dem 3. Akt von Mozarts und :'<..
oe::1 Staat und die »Gesellschaft« hin erzieht, insgeheim aber Pontes Le nozze di Figaro.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 551
böse gewordenen Privatvernunft. Die Hegelsche Philosophie ihnen den ungetarnten Staatswillen wahrnimmt, die Kom-
ist in ihrem didaktischen Kern nichts anderes als eine Maschi- mandohähen der kognitiven Menschenproduktion im Dienst
ne zur Verarbeitung von frustiertem Idealismus, denn was bei der Arbeitswelt und der Machtpolirik zurückzuerobern.
ihm Bildung heißt, ist wesentlich Enttäuschungsmanagement. Hatte nicht schon Wilhelm II. vor deutschen Gymnasial-
Sie meint nicht das dezentrierte Herumschweifen der bürger- lehrern reklamiert, man brauche keine neuen Griechen an
lichen Neugierin diesem und jenem, wie es die heutige Gleich- unseren Schulen, sondern deutsche Jungmänner? Den »Bil-
setzungvon »Kultur« mit Freizeitlaune impliziert. »Bildung« dungsplanern« konnte ihr neu-realistisches Vorhaben natur-
verlangt die harte Nacherziehung des aufbrausenden idealisti- gemäß nur gelingen, wenn sie geeignete Maßnahmen er-
schen Subjekts, das den Wahn aufgeben muß, die Welt schulde griffen, um den noch immer reichlich überschießenden Hu-
ihm ihre Angleichung an seine moralisch überspannten Er- manismus der Fakultäten zu eliminieren, insbesondere den
wartungen. Es dürfte unnötig sein zu betonen, daß der ver- der Geisteswissenschaften - falls nicht die reorganisierten
nünftige Protestant Hegel im Kampf mit der modernen Pro- Fachbereiche das zu ihrer Anpassung Nötige aus eigenem
testkultur auf ganzer Linie unterlegen ist. Antrieb auf den Weg bringen: Vorauseilende Entgeisterung
Wer eine räsonnierte Geschichte der modernen Pädagogik ist seit Jahrzehnten der Zeitgeist selbst. 65
erzählen wollte, käme nicht umhin, sein Augenmerk auf den
tiefsten Systembruch innerhalb der Semantik der Neuzeit zu
richten: das Auseinandertreten von Schulraison und Staats- Die ganze Welt ist eine Schule
raison. In der Pseudosymbiose von Staat und Schule verber-
gen sich einige der rätselhaftesten Dysfunktionalitäten der Wer Unterricht geben will, wird Mitglied bei der mächtigsten
modernen Kultur - sie erzeugt Reibungen, deren Dissonanz- Organisation der modernen Welt: Lehrer ohne Grenzen. Ih-
potential über den alten symbiotischen Dualismus von Staat ren Aktionen ist es zu verdanken, wenn künftig Weltzeit und
und Kirche hinausreicht. Eine Nacherzählung dieser gefähr- Schulzeit konvergieren. Lebenszeiten und Lehrpläne ant-
lichen Liaison müßte nicht nur zeigen, wie zahllose Absol- worten aufeinander. Wie weit die neue Pädagogik vordrang,
venten der modernen Schule bis heute systematisch an den hat kein Autor der beginnenden Lehrer-Epoche elanvoller,
Verhältnissen der »Arbeitswelt« vorbeiträumen; sie hätte umfassender und radikaler formuliert als Johann Amos Co-
auch von den chronischen Versuchen des Staates zu berich- menius. Sein Werk läßt sich lesen, als habe er das Shake-
ten, den Eigensinn der »pädagogischen Provinz« aus pragma- speare-Wort: »Die ganze Welt ist eine Bühne/und alle Män-
tischen und utilitarischen Gründen zu brechen. Anläufe hier- ner und Frauen bloße Spieler«66 zurechtrücken wollen, um es
zu liefern den roten Faden, dem folgend die Geschichte der durch die Gegenthese zu ersetzen: Die ganze Welt ist eine
Schule als Geschichte der Schulreformen zu referieren wäre - Schule - und alle Menschen bloße Schüler. Wir sind Einwoh-
stets von der Idealschule zur Realschule, wie sich versteht. ner einer Schöpfung, in der alles auf Belehrung angelegt ist.
Noch die vielzitierten Hochschulreformen des 20. Jahrhun-
6 5 V gl. Paul Konrad Liessmann, Theorie der Unbildung: Die Irrtümer
derts in Deutschland, ob die von 1933 oder die von den späten
der Wissensgesellschaft, München 2008; zur Implosion der Schule
sechziger Jahren an, um allein die symptomatischsten Zäsu- in der Postmoderne siehe unten S. 674f.
::-~n zu nennen, fügen sich in ein kohärentes Bild, wenn man in 66 Shakespeare, As You Like Ir, H. Akt, 7. Szene.
"'i

552 111 Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 553


2. Daß die Welt zu Recht eine Schule genannt wird, zeigt die ihnen dank der göttlichen Lehrmittelfreiheit geboten
zunächst die Sache selbst . . . denn was ist eine Schule? wurden. Eigensinnig versteiften sie sich auf eingebildetes
Sie wird gemeinhin definiert als Versammlung derer, die Sonderwissen und versanken in Finsternis und ewigem Streit.
Nützliches lehren und lernen. 67 Ist das richtig, dann Infolgedessen ist der Zustand der Welt heillos, in ihm
handelt es sich bei der Welt um eine Schule. Denn in herrscht der Bürgerkrieg zwischen Scheinwissenden und
ihrer Ganzheit besteht sie aus einem Gefüge von Leh- Ignoranten: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Aussa-
renden, Lernenden und Disziplinen. gen blickt Comenius nicht nur auf den Dreißigjährigen Krieg
3. Denn alles, was es in der Welt gibt, das lehrt oder lernt zurück, den er in seiner ganzen Dauer miterlebt hatte, er hat
oder es tut beides wechselweise. auch schon die Anfänge des immerwährenden kalten Krieges
5. Von daher ist alles erfüllt mit Disziplinen, d. h. mit vor Augen, den neue re Völkerrechtler als das im Westfäli-
verschiedenem Rüstzeug zum Ermahnen, Zuraten und schen Frieden etablierte und vom lus publicum europaeum
Antreiben: Deshalb läßt sich die Welt nicht zu Unrecht rationalisierte »europäische Staaten system« schönschreiben.
als ein Haus der Disziplin bezeichnen.68
Die geschaffene Welt bedeutet für den Menschen ein »Vor-
spiel der Ewigkeit«: Sie bietet ein Propädeutikum, das wir Vor-Aufklärung: Weg des Lichts
besucht haben müssen, bevor wir die Zulassung zur himmli-
schen Akademie erlangen. 69 Beim Stoff, den der Mensch Für Comenius, den enthusiastischen Vordenker der böhmi-
während seines Aufenthalts im Haus der Disziplin zu bewäl- schen Brüderunität, ist der Weg zur Heilung der Weltkrank-
tigen hat, hegt Comenius keine Zweifel: Es sind drei elemen- heit nicht auf den Friedenskonferenzen der Potentaten zu
tare Bücher, die der Weltschüler durcharbeiten muß, um aus finden. Vorgezeichnet ist er allein in den Hinweisen der im-
ihnen die Fülle des Wissens zu erwerben: merwährenden Philosophie und der Offenbarung. Der Heils-
»Das erste und größte Gottes-Buch ist die sichtbare weg für die zerfallene Welt kann nur der Weg des Lichts sein -
Welt; sie ist geschrieben mit so vielen Buchstaben, wie so der Titel von Comenius' chiliastischem Manifest von 1668,
es in ihr Geschöpfe zu sehen gibt. Das zweite Buch ist das in seinen wichtigsten Teilen mehr als zwanzig Jahre zuvor
der Mensch selbst, der nach dem Ebenbild Gottes ge- in London entstanden war. In dem epochalen Traktat werden
schaffen ist ... Doch gab ihm Gott noch ein drittes Buch konventionelle neo-platonische Denkfiguren (wie die Lehre
in die Hand .. . die Heilige Schrift.«70 von der dreifachen Aktion des U r-Lichtstroms, der neben
Stellt man die verderbte Natur des Menschen in Rechnung, dem In-sieh-Ruhen das schöpferische Ausströmen und die
verwundert es nicht, wenn die Sterblichen bislang von den genugtuende Rückkehr in die Quelle kennt) im Geist einer
ihnen gereichten Hilfsmitteln in der Mehrheit keinen guten pädagogischen Apokalyptik scharf gemacht. Hier kann man
Gebrauch machten. Sie verschmähten die universalen Bücher, die Hauptmotive der späteren Aufklärung - sofern sie auf
einem kaum verhohlenen Totalitarismus der Schule beruht -
67 Docentium et discentium utilia coetus.
in ihrer christlich-millenarischen Originalgestalt mit Hände::
68 Comenius, Weg des Lichts, Via lucis, a. a. 0., S. 21-22.
69 Ibid., S. 23. greifen.
70 Ibid. In unserem Kontext ist die Beobachtung von Belang, '- .-~
e
554 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen
555
für den großen Schul mann der Weg des Lichts den Weg der Gelehrten geläufigen Ausdruck wohl am besten mit »Allwis-
Schule vorzeichnet, während der Weg der Schule auf die Voll- senheitskunst«. In unserem Jahrhundert, doch vermutlich
endung des Buchs verweist. So beantwortet er die Frage: »Wie schon seit den Tagen Diderots und seiner Kollegen, ist die
läßt sich für die Welt ein größtmögliches Verstandes-Licht Tatsache in Vergessenheit geraten, daß das Weltwissen der
entfachen?«71 mit der Auskunft, es gelte, die drei Lichtquel- Neuzeit seine Reproduktionszyklen unter dem Leitwort All-
len, sprich die sich selbst mitteilende Natur, die angeborenen wissenheit begonnen hatte - einem Wort, an dessen Verfalls-
Begriffe der Menschenseele und die Heilige Schrift, in einer geschichte man die vielzitierte »Abklärung der Aufklärung«
einzigen überhellen Flamme zu vereinigen. Dieses universale ablesen kann. Der Lehrplan des Allwissenheitsschülers (und
Geisteslicht vermag sich durch reflektierte Strahlen schritt- andere Schüler sind im Augenblick nicht der Rede wert) ergibt
weise allen Völkern mitzuteilen: Weil es bereits in den neuen sich aus den genannten Prämissen: Wer lernen will, muß das
Büchern leuchtet und künftig noch heller strahlen wird, so- Ganze lernen, gemäß den drei Totalitätsschlüsseln oder »Bü-
bald verbesserte Bücher vorliegen, können die »unbedingt chern«, die der Schöpfer, der comenischen Quellenlehre zu-
erforderlichen Bücher in die gebräuchlichen Sprachen über- folge, den Menschen an die Hand gegeben hat. Dementspre-
tragen werden«.72 Dank der rechtzeitig erfolgten Erfindun- chend hat jeder Einzelne Zögling sich in ein Allwissenheits-
gen des Buchdrucks und der Hochseeschiffahrt ist die Aus- kunstwerk zu verwandeln, gedruckt in den typographischen
breitung des stärksten und strahlendsten, alle Widerstände Werkstätten der neuen Pan-Disziplinen. Comenius, neben
der Dunkelheit überwindenden Lichts tatsächlich nur zu ei- Athanasius Kireher und Leibniz einer der Großmeister der
ner »Frage der Zeit« geworden: Am Horizont der Gegenwart Pansophie, wird nicht müde, zur Mutterdisziplin ständig neue
leuchten die Vorzeichen künftiger Panharmonie. Zu diesen Sparten und Spielarten hinzuzuerfinden: neben der Pampae-
darf man auch die weit verbreitete Sehnsucht der Menschen deia (Allerziehung) die Panurgia (All technik), die Panglottia
nach einer besseren Welt rechnen. Comenius wäre kein Meta- (Allsprachlehre), die Panorthosia (Allverhaltenslehre), die
physiker klassischer Tradition, wenn er nicht von der Sehn- Pannuthesia (Allermahnung), die Panergesia (Allweckruf),
sucht auf deren Erfüllbarkeit schlösse - Gott hätte das Ver- die Panaugia (Allerleuchtung). Die Definition der Schule im
langen nach dem Guten nicht in uns eingepflanzt, wenn er comenischen Orbis sensualium pictus (»Die sichtbare Welt«,
nicht für seine Erlangbarkeit gesorgt hätte. In analoger Weise Nürnberg 1658, dem ersten Schulbuch der Neuzeit) als einer
galt noch dem letzten naiv-großen Denker der Weltverbesse- »Werkstatt, in der die jungen Gemüter nach der Tugend ge-
rung, Ernst Bloch, die Hoffnung selbst als Agens zur Wahr- formt werden«,73 ist darum unvollständig. Es geht in Anstal-
machung des Erhofften. ten dieser Art längst nicht mehr bloß um die virtus des fürs
Die Höchstform der neuzeitlichen Kunst am Menschen Leben brav gemachten Schulkindes; ihr Ziel ist es, die Schüler-
zeigt sich in dem überschwenglichen Proj ekt, jeden Schüler zu seele in einen sprechenden Totalitätsspiegel zu verwandeln.
einem Zögling der Pansophie heranzubilden. Man übersetzt Das Abitur erlangt, wer zu einem Gesamtkunstwerk des Welt-
diesen seit dem r6. Jahrhundert unter den enzyklopädischen wissens und des Mitwissens von den göttlichen Dingen wurde.

7 1 Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., S. 93. 73 Schola est officina, in qua novelli animi ad virtutem formantur;
72 Ibid., S. 95 . zitiert nach Comenius, Via lucis, a. a. 0., S. 206.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 557
Angesichts derart monumentaler Vorhaben läge es nahe zu Es hätte alles zu enthalten, was dem besonnenen Menschen
vermuten, ihr Urheber selbst hätte die größten Zweifel an zu wissen ansteht, Himmlisches und Irdisches, Natürliches
ihrer Verwirklichbarkeit hegen müssen. Der unentmutigte und Künstliches. 75 In ihm soll das evangelische Potential des
Totalitätspädagoge bestand jedoch darauf, mit allen Mitteln Profanwissens geborgen werden.
zu beweisen, es sei tatsächlich an der Zeit, das »Größere« zu Merkwürdig ist hier, wie das Weltwissen, das ins Weite
hoffen und zu versuchen. Folglich mußte den sechs Lern- ausgreift, und das Heilswissen, das die Beschränkung auf
schritten der Menschheit, die der Autor im 13. Kapitel der das not tuende Eine fordert, mit einem Mal scheinbar wider-
Via lucis zusammenfaßt - einer der frühesten Skizzen zu einer spruchsfrei harmonieren. Tatsächlich kann man das intellek-
Stadientheorie der Gattung von Adam und Eva bis Guten- tuelle Wunder des 17.Jahrhunderts darin sehen, wie es Enzy-
berg und Magellan -, ein siebenter Schritt hinzugefügt wer- klopädismus und Apokalyptik in einer Brust koexistieren
den: der Schritt in die globale Lichtgesellschaft. Unschwer läßt - Vergleichbares wird man erst wieder im spirituellen
läßt sich in dieser Vision der euphorische Originalzustand Wetterleuchten vor der Russischen Revolution beobachten,
der entzauberten »Wissensgesellschaft« erkennen. In dem namentlich bei Nikolaj Fedorov, r829-1903, dem Ideengeher
letzten Manöver sind für Comenius Auftrag und Abenteuer der Biokosmisten, der nicht allein ein allumfassendes Welt-
der Jetztzeit enthalten. Wer es vollzieht, steht dem operie- museum und einen universalen Friedhof für alle Verstorbe-
renden Licht bei seinem aktuellen Werk bei: Er fördert den nen der Menschheit postulierte, sondern auch die Aufer-
Durchbruch zur totalen Didaktik, die ohne falsche Beschei- stehung der Toten aller Zeiten mit Hilfe der hierzu eigens
denheit verspricht, allen alles auf allseitige Weise zu vermit- zu schaffenden Lebenswissenschaften in Aussicht stellte:
teln. Hier hören wir den Schlachtruf des pädagogischen Mil- Für ihn bestand der wahre Universalismus in der Zurück-
lenarismus: omnes omnia omnino, der das comenische Werk weisung des Todes, der die letzte Ursache von Ungleichzei-
durchzieht- vierzig Jahre lang unbeirrt die Balance zwischen tigkeit, Endlichkeit und Unverhundenheit bildet. 76
Enthusiasmus und Methode wahrend.
Der Ruf zur Allerziehung verkündet den apokalyptischen
Ruf zur Tagesordnung für diese »Abendzeit der Welt«: Weil 75 Zu diesem Stichwort bietet Comenius ein para-baconisches Argu-
nur wenig Zeit bleibt, ist es höchste Zeit, das Verstreute ein- ment: »Aber auch das Künstliche darf nicht übergangen werden.
Denn die Künste bringen die Natur zum Ausdruck oder setzen sie
zusammeln und alle Zusammenfassungen in Zusammenfas-
sogar unter Druck und nehmen sie gefangen, wodurch sie dazu
sungen der Zusammenfassungen zu bündeln. 74 Die Agenda gezwungen wird, uns allmählich ihre Geheimnisse zu gestehen.
der Epoche verlangt nach einem neuen Buch der Bücher, ei- Dadurch werden diese Geheimnisse immer bekannter. Zudem die-
ner Hyperbibel, die den Ansprüchen des Gutenbergzeitalters nen die Künste dazu, die Annehmlichkeiten des Lebens zu mehren
(und im Erleuchteten Zeitalter wird es doch eher einen Überfluß als
genügt. Ein Buch dieser Art, gewissermaßen ein Neueres
einen Mangel an solchen Annehmlichkeiten geben müssen). « Weg
Testament, das unsere Fähigkeit, bis drei zu zählen, auch des Lichts, a. a. 0., S. 11 of.
bei den heiligen Schriften unter Beweis stellte, müßte der 76 Vgl. Nikolaj Fedorov, Das Museum, sein Sinn und seine Bestim-
Sache nach das endgültige, wenn nicht das letzte Buch sein. mung, in: Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russ-
land zu Beginn des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Boris
Grays und Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von
74 Ibid., S. 124. der Heiden, Frankfurt am Main 2005, S. 127-232.
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 559
Von ferne Vergleichbares galt auch im apokalyptischen verbesserungsidealismus - genauer: seine Rückbildung zu ei-
Denken des Barock: Christen können und sollen Enzyklopä- ner »traurigen Wissenschaft« . Ist es noch nötig zu sagen, daß
disten sein, seit zwischen dem Theomorphismus der Seele der barocke Idealismus in seinen besten Jahren die Übertra-
und dem Kosmomorphismus des ganzen Menschen kein gung der Reformation von den Glaubensdingen auf die Wis-
grundlegender Widerspruch mehr existiert. Ein Universum, sensdinge vollzog? Nach ihm sollten wir nicht allein durch
ein Buch, eine Psyche: Die Buchförmigkeit der Welt erlaubt den Glauben, sondern auch durch das Wissen gerettet werden.
es der alphabetisierten Seele, sich ganz auf ihre Weltförmig- Die Aufklärung beginnt als pädagogische Gnosis.
keit einzulassen. Dies ist der letztgültige Grund, weswegen Den Menschenkünstlern des I7. Jahrhunderts drängt der
die großen Übenden der Moderne sich nicht mehr in die Auftrag der emendatio mundi eine Fülle weiterer Folgerun-
Wüste zurückziehen. Ihnen genügt es künftig, nach der Regel gen auf: Was eiligst zu schaffen ist, sind universale Bücher
nulla dies sine pagina zu leben. Viele Seiten ergeben das Ka- (der Plural wird hier übrigens nur noch pro forma verwen-
pitel, aus vielen Kapiteln entsteht die Welt. Die Vertiefung der det), universale Schulen, ein universales Kollegium und eine
Gelehrten in das totale Buch erzeugt eine mehrwertige Be- universale Sprache. "Dabei wird kein Winkel der Erde, keine
wegung, in der Rückzug und Exodus ineinanderfallen: Mo- Völkerschaft, keine Sprache und kein Stand vernachlässigt
dernes In-der-Welt-Sein realisiert ein Mittleres zwischen werden .</8 An allen Ecken und Enden des Universums wer-
Flucht in die Welt und Flucht aus der Welt. den die Bücher des Lichtes, die Schulen des Lichtes, die Kol-
In dieser Bewegung, die stets nach vorn und oben weist, ist legien des Lichtes, die Sprachen des Lichtes dringend benö-
die ursprüngliche Geste der Weltverbesserung zu verorten. 77 tigt; der zwanglose Zwang der Evidenz wird überall sich
Die Welt verbessern heißt den korrumpierten Text mit dem durchsetzen, dem comenischen Motto gemäß: Omnia sponte
integren vergleichen und ihn dem Original entsprechend kor- fluant, absit violentia rebus?9 Urlicht und technisches Licht
rigieren. Hat man keinen originalen Welttext vor Augen, müs- engagieren sich in derselben Kampagne: Die Bücher sind die
sen Verbesserer auf die dialektische Annahme setzen, die Ne- Lampen der Welterhellung, die Schulen die Lampenträger,
gation des Schlechten werde per se das Richtige ergeben. Vor die Gelehrten die Lampenanzünder, die Sprachen der Brenn-
diesem Hintergrund leuchtet ein, daß noch die Kritische stoff für die Flamme der universellen Erleuchtung. 80
Theorie der älteren Frankfurter Schule, besonders nach ihrer Noch stehen die Wörter und die Dinge so eng beisammen,
Reduktion zu einer negativen Dialektik, nicht nur ein camou- daß man mühelos von einer Seite auf die andere gelangt. Die
flierter Marxismus ohne Revolutionsperspektive war; sie Welt ist das wohlgeordnete Tableau der Wesenheiten und als
bildete zugleich ein spätes Zerfallsprodukt des barocken Welt- solches im ganzen überschau bar - darum stellen die Enzy-
klopädien der frühen Neuzeit noch eine Art von Atlanten
77 Hannah Arendt hat in ihrem ansonsten bewundernswerten Buch dar, die alle Kontinente und Länder des Seins in anschauli-
Vita activa (The Human Condition, 1958) das modernekonstituie-
rende Verhältnis zwischen Flucht aus der Welt und Flucht in die 78 Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., S. 125.
Welt verkannt und aus ihrer Mißdeutung des neuen Modus von 79 Alles fließe von selbst - Zwang sei den Dingen fern. Hierin wirkt
futurisierter Weltlichkeit die völlig abwegige Folgerung gezogen, die quintilianische Einsicht nach, alles Lernen gründe im Willen,
der Mensch der Moderne leide in beispiellosem Ausmaß unter der jedoch nicht zu zwingen sei.
»Weltlosigkeit«. 80 Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., S. 126.
560 IrI Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen

ehen Karten »topisch« wiedergeben. Gott und Mensch haben der Schöpfung hat es sich auf die Arbeit der Weltdurchdrin-
dasselbe »Weltbild «. Die Lexika des späteren 18. Jahrhun- gung eingelassen, in unseren Tagen tritt das Unternehmen in
derts hingegen lassen das metaphysische Überblicksdenken die letzte Phase. Hat es je eine Klartextversion des »Projekts
fallen und widerspiegeln die Desintegration des Ganzen in der Moderne« gegeben: bei Comenius ist sie nachzulesen.
unzusammenhängenden oder nur schwach vernetzten Stich- Das Postulat des Allwissens erinnert an eine uns längst
wörtern. 81 Daher begnügen sich die neueren »Nachschlage- fremd und befremdlich gewordene Zeit, als unter Wissen
werke« seit Zedlers Universallexikon und der französischen noch fast ausschließlich qualitatives und in der Natur der
Encyclopedie mit der alphabetischen Aneinanderreihung der Sachen fundiertes Wissen verstanden wurde. Es legte sich
Artikel. Den formierenden Effekt der alphabetisch »geord- selbst als Wesenserkenntnis aus und nahm in Anspruch, die
neten« Lexika des 18. Jahrhunderts darf man nicht niedrig durchdringende Einsicht in die Struktur des abgerundeten
einstufen. Sie dienen den Späteren als Übungs medien des In- Essenzenkosmos zu bieten. Es bezog sich auf eine im Prinzip
kohärentismus. Ihre bloße Struktur verstärkt die implizite vollendete, obschon phänomenal in Unordnung geratene,
Überzeugung der Modernen, die Welt sei ein Aggregat aus somit reparaturbedürftige und insofern unfertig scheinende,
isolierten Einzelheiten; kein Holismus kommt bis heute ge- jedoch auch reparable Welt. Weltverbesserer ist zu dieser
gen diese Prägung auf - der ökologische so wenig wie der Zeit, wer der Welt ihre ursprüngliche Vollkommenheit zu-
philosophische. rückgeben möchte - während heute von der Erkenntnis aus-
Das comenische Manifest der pädagogischen Internationa- gegangen werden muß, daß jede Reparatur neue Ungleich-
le deckt wesentliche Prämissen für weltverbesserndes Han- gewichte, neue Unvollkommenheiten nach sich zieht. Die
deln auf: Wer den Weg des Lichts betritt, für den ist Eile ebenso Forderung nach Allwissen schloß bei den Pansophen des
geboten wie die Überzeugung, allseitige Erkenntnis weiter- 16. und 17. Jahrhunderts keine Vermessenheit ein; sie zog
geben zu können. Einhundertjahre später fängt einer der Her- die unausweichliche Konsequenz aus den Grundannahmen
ausgeber der Encyclopedie den von Comenius geworfenen der klassischen Metaphysik, die auf einer Ontologie der per-
Ball. Diderots Elanwort Hatons-nous de rendre la philosophie fekten und überschaubaren Welt beruhte. Zu ihr kann allen-
populaire läßt sich darum ebensogut umkehren: Um die Phi- falls eine Therapeutik hinzutreten, die den Menschen ins
losophie populär und wirksam zu machen, ist Beschleunigung Ganze einheilt.
geboten. Nur aufgrund seiner Eile sieht man es dem Fort- Diese Annahmen hallen nach in der Mahnung der comeni-
schritt noch an, daß er die Apokalyptik ist, die sich ein bürger- sehen Pädagogik, die neue Schule habe auf der Zusammen-
liches Mäntelchen umgehängt hat. Für den philosophischen fassung aller Zusammenfassungen aufzubauen, damit sich
Apokalyptiker ist der Weg zum Licht der Weg des Lichts der künftige Unterricht auf ein All-Buch stütze. Auch All -
selbst - es ist das Absolute in der Geschichte. Seit Beginn wissenheit kann kind gerecht aufbereitet werden. Unver-
kennbar basiert das pan-pädagogische Vorhaben auf anderen
81 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Enzyklopädie und Philosophia Prämissen als die antike Einübung ins Allwissen: Bei den
perennis, in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer
Sophisten entsprang es nicht einer Gesamteinsicht in den
Erforschung, herausgegeben von Franz M. Eybl, Wolfgang Harms,
Hans-Henrik Krummacher und Werner Welzig, Tübingen 1995, durchgezogenen Wissenskreis; es ergab sich aus der Forde-
S. 15f. rung, der Artist im immerwährenden rhetorischen Trainic 2's-
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen

lager müsse über jedes beliebige Thema spontan und sieg- könne demnächst mit dem Nachbau von Naturmaschinen
reich reden können. 79 ernst machen.
Kaum hundert Jahre später waren die menschenförmigen
Automaten aus den Werkstätten des Barons von Kempelen
Exzentrische Positionalität: (der seit 1769 mit seinem vorgeblichen mechanischen Schach-
Der Menschenautomat als Provokation der Anthropologie türken auftrat), von Pierre Jacquet-Droz (der 1774 seine un-
sterblichen Androiden: Der Schreiber, Der Zeichner, und
Die Modernität der comenischen Schulprojekte erhellt nicht Die Organistin vorstellte), und von Friedrich Kaufmann
so sehr aus ihrem grenzenlosen Optimismus, der heute (der dem Publikum seinen automatischen Trompeter präsen-
entschieden veraltet anmutet. Sie geht aus der radikal tech- tierte) in aller Munde. Die romantische Literatur, die Oper
nischen Definition der Schule als einer integralen Lernma- inbegriffen, deliriert von da an über die Verwechselbarkeit
schine hervor. Nicht umsonst hatte Comenius betont, die von Statuen und Menschen, von Puppen und Menschen,
reformierte Schule, diese Werkstatt (officina) der Mensch- von Maschinen und Menschen - und nichts spricht dafür,
lichkeit, müsse wie ein automaton funktionieren. Zum Ver- dieses Motiv könne in der technischen Zivilisation je wieder
ständnis des Ausdrucks ist zu bedenken, daß das 17· J ahr- fallenge1assen werden. 81
hundert begann, Gott selbst als den ersten Automatenbauer
zu verehren. Die spätere Gleichsetzung von Automatismus Die Anthropotechnik eröffnet somit bereits im 17., spä-
und Seelenlosigkeit - ohne Zweifel der größte Erfolg der testens im 18. Jahrhundert eine zweite Front, indem sie den
antimodernen Semantik nach 1750 - liegt den Ingenieuren Impuls der artifiziellen Menschenformung auf androide Ma-
jener Zeit noch fern. Comenius bemühte sich in eigener Per- schinen projiziert. Schon Comenius ließ keine Zwiefel auf-
son um die Konstruktion eines perpetuum mobile. Er war, kommen: Die Schule soll eine Maschine werden. Ihre Aufga-
wie seine Notizen zeigen, entschlossen, ein solches Objekt, be ist es, vollendete Reproduktionen von Menschen in die
sollte ihm die Herstellung gelingen, als einen neuen Gottes- Welt zu setzen - als echte und wohlgeratene Menschen.
beweis aus der Technik an die Öffentlichkeit zu bringen - Wer wissen will, wovon die Pädagogik einmal zu träumen
weswegen er zum Himmel betete, er möge ihm, nicht zuletzt wagte, kann sich die nötigen Aufschlüsse hier besorgen. Im
im eigenen Interesse, die Vollendung der perfekten Maschine übrigen wird damit eine Disposition reaktiviert, die bereits
gewähren. 80 Das Abenteuer der kognitiven Modernisierung den Lehrern der Stoa vertraut war: Wenn sie den Schülern, die
hängt hier an der Identifizierung der Natur als eines Inbe- den philosohischen Weg betraten, die Aufgabe stellten, an der
griffs von gottgebauten Automaten. In ihr gründet die Pro- »inneren Statue« zu arbeiten, enthielt dies die Suggestion, der
gnose, der Mensch, nach Comenius der co-operator Dei, empirische Mensch müsse zugunsten der idealen Figur bei-
seite treten.
79 Siehe oben den Abschnitt über die Sophistik als rhetorische Version Die Konjunktur der Anthropologie seit dem 18. Jahrhun-
der Allwissenheitskunst, S. 45 rf.
80 Vgl. Klaus SchaUer, Die Maschine als Demonstration des leben- 81 Vgl. Klaus Völker (Hg.), Künstliche Menschen. Dichtungen über
digen Gottes: Johann Amos Comenius im Umgang mit der Tech- Golems, Homunculi, Androiden und Liebende Statuen, München
nik, Hohengehren 1997. 197 2 •
III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen

dert wird nicht zuletzt durch die Verdoppelung des Men- Aufführung kamen, dargeboten von Blutgefäßmännern, Ner-
schen in Androiden und ihre menschlichen Beobachter venmännern, Organmännern in allen möglichen Schnitten und
ausgelöst. Wer dem Rechnung trägt, kann nachvollziehen, Projektionen? Trugen die menschlichen Skelette, die in den
warum die Plessnersche »exzentrische Positionalität«, recht naturkundlichen Sammlungen des Adels, später auch als De-
verstanden, nicht bloß das triviale Sich-Versetzen auf den monstrationsobjekte in den bürgerlichen Schulen auftauchten,
Stand- und Blickpunkt der anderen oder das a!tbekannte nicht vor allem eine anthropologische Botschaft, indem sie das
Aus-sich-heraus-Treten des Menschen vor dem Spiegel be- Grundgerüst des Androiden präsentierten ? Und haben die Pla-
deutet. Sie reflektiert nicht nur die Zunahme der Ansprüche stinate des Beuys-Imitators von Hagen, die unter dem Titel
multi-situativer »Gesellschaften« an die Kunst des Rollen- »Körperwelten« seit 1996 weltweit Furore machen, in Wahr-
spiels; auch ist sie nicht auf den von Blumenberg durchleuch- heit nicht nur die Idee der modernen, das heißt der den inneren
teten Nachteil, gesehen zu werden, zu reduzieren, geschwei- Androiden bloßstellenden Statue verdeutlicht?
ge denn auf den Versuch, aus dem Nachteil der Sichtbarkeit Die Plausibilität des anthropologischen Reflexionsmodus
einen Vorteil zu machen - sosehr diese Beobachtung eine seit dem 18. Jahrhundert verdankt sich dem Umstand, daß
plausible Erklärung für die essentielle Theatralität der Kul- nun jeder Zeitgenosse mit der Anregung konfrontiert ist, sich
turen bietet: Theater ist die Flucht aus der Sichtbarkeit als selbst als Kompositum aus dem Androiden und dem echten
Flucht in die Sichtbarkeit. 82 Menschen zu verstehen. 83 Damit präsentiert sich die altehr-
Das Exzentrik-Bewußtsein der Modernen rationalisiert in würdige Körper-Seele-Unterscheidung in einem neuen Ag-
erster Linie den Schock, der von der Fähigkeit zur Herstellung gregatszustand. Die Hochkonjunktur der Körper-Diskurse
von Menschenautomaten ausgeht; es spiegelt zugleich das in Europa seit zweihundert Jahren verdeutlicht diese Kon-
Amüsement, das aus dem Spiel mit den technischen Doppel- stellation bis heute. Nach der Publikation von La Mettries
gängern zu ziehen ist. Daß die Statue lebt, daß sie womöglich L'Homme machine 1748 überzeugen sich die Rezipienten der
von unberechenbaren Intentionen erfüllt ist, daß sie sich auf die physiologischen Aufklärung davon, wie es zugeht, wenn Au-
Menschen zubewegt - ohne diese Suggestionen ist die neuere tomaten sprechen lernen und Maschinen nervös werden.
Theorie des Menschen nicht vorstellbar. Wenn die Modernen Nicht umsonst ist der Somnambulismus - neben der Furcht,
noch immer Standbilder errichten, so nicht mehr nur, um mo- lebendig begraben zu werden 84 - das psychopathologische
ralische und kulturelle Vorbilder aufzustellen; sie tun es auch, Leitsymptom des 19. Jahrhunderts. Der Nachtwandler prä-
weil sie vom Inneren der Statuen Neues wissen wollen. Waren sentiert den inneren Androiden, der nach Abzug des Ich-Be-
nicht schon die anatomischen Karten des Vesalius in Wahrheit wußtseins selbständig agiert, während das Lebendbegräbnis
makabre Statuen, die offenlegten, wie es in der »Fabrik des
83 Jean Paul hat in seiner satirischenjugendschriftvon 1798- Einfältige,
menschlichen Körpers« aussieht - obgleich der Betrachter aber gut gemeinte Biographie einer angenehmen Frau von bloßem
der Vesalischen Tafeln weniger an eine Werkstatt als an einen Holz, die ich längst erfunden und geheiratet - hieraus die Möglich-
Ballsaal denken mußte, in dem modernisierte Totentänze zur keit der legalen Bigamie abgeleitet:" ... jedermann kann zwei Weiber
auf einmal ehlichen, falls eine davon aus bloßem Holz besteht. «
82 Vgl. Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Zitiert nach: Künstliche Menschen, a. a. 0., S. 140.
Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt am Main, 84 Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Bern
2006, Zweiter Teil, Kontingenz und Sichtbarkeit, S. 473-895. 1973, Band J.
566 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen

das komplementäre Phänomen beschwört: das reine Ich, wie zeigen die alltäglichsten Beobachtungen: Nicht nur stellen
es nach der Sarglegung seines Körpers sich selbst erscheint. Menschen bereits seit geraumer Zeit eine verschwindende
Noch die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts (eine Minderheit gegenüber den Bildern dar - auf eine westliche
zeitgemäße Maske des übenden Lebens inmitten einer Welt, Person des 20. Jahrhunderts entfallen zahllose visuelle Er-
in der selbst die Trauer als eine Form von Arbeit beschrieben fassungen und Wiedergaben -, sie sind auch dabei, eine Min-
wird) versucht den Verkehr der beiden Instanzen auf das in- derheit gegenüber den anthropomimetischen kognitionsmi-
terne Verhältnis zwischen Es und Ich abzubilden. 85 metischen Maschinen, den Computern, zu werden.
Im ständigen Hin und Her zwischen den Polen des an-
droidischen Es und des menschlichen Ich entspringt das See-
lendrama der jüngeren Neuzeit, das zugleich ein technisches Der interdisziplinäre Kontinent
ist. Sein Thema ließe sich am besten mittels einer Konver-
genztheorie umschreiben, wonach zum einen der Android Es gehört zu den begriffsgeschichtlichen Mißgeschicken der
seiner Beseelung entgegengeht, indessen immer größere Teile Neuzeit, daß sie den Ausdruck >>Scholastik« für das höhere
des Daseins wirklicher Menschen als höhere Mechaniken Schulwesen des Mittelalters und seine philosophisch-theolo-
entmystifiziert werden. Das Unheimliche (von dem Freud gischen Traktate reservierte. Nach dem Gesagten ist nicht zu
etwas verstand) und das Enttäuschende (von dem er zu verkennen, in welchem Ausmaß die Moderne selbst eine
schweigen vorzog) bewegen sich aufeinander zu. Der Besee- scholastische, von didaktisch-disziplinarischen Impulsen be-
lung der Maschine entspricht strikt proportional die Entsee- stimmte Weltform hervorbrachte, weit jenseits dessen, was
lung des Menschen. Wie die bisher erste und einzige philoso- die mittelalterliche Schulkultur, in ihrer Zeit de facto nicht
phisch durchgebildete Theorie der Technik, die von Gotthard mehr als eine marginale Größe, zu erreichen vermochte. Die
Günther, erläutert hat, macht das Abfließen von transzendent Moderne ist eine Hyperscholastik. Sie beruht auf der univer-
mißverstandener Subjektivität in die äußere Welt das meta- sellen Invasivität der Schule wie auf dem reziproken Diszi-
86
physische Schlüsselereignis der Moderne aus. Wie dadurch plinentransfer zwischen den Teilsystemen der »Gesellschaft«.
die Menschen an zwei Fronten zugleich unter Druck geraten, Von der Übertragung der Klosterdisziplin auf das schulische
Leben war andeutend schon die Rede. Sie hatte die Verschü-
85 Das ist einer der Grunde, warum die Psychoanalyse nur in west-
lichen Kulturen mit historisch gewachsenem Technikbewußtsein lerung des Menschen zur Folge, durch alle zeitbedingten Re-
plausibel scheinen kann, indessen sie in Japan, China oder Afrika, formen der Pädagogik hindurch - die Schulhaßbewegungen
das heißt in Kulturen ohne nennenswerte Es-lch-Polarisierungen des 20. Jahrhunderts inbegriffen.
und ohne eigene Tradition des höheren Maschinenbaus, praktisch
unrezipierbar war.
Eine ausreichend komplexe Zivilisationsgeschichte der
86 Vgl. Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Me- Neuzeit müßte darüber hinaus aufzeigen, wie sämtliche so-
taphysik der Kybernetik (zuerst 1957), Baden-Baden 2002. Für zialen Handlungssysteme sich in einem permanenten Spiel
Günther ist noch unentschieden, ob das Abfließen von Reflexivität des Disziplinentransfers 87 ineinander verzahnen: So über-
in die zweite Maschine als bloße Innenweltentleerung oder als
Vertiefung der Subjektivität dank ihrer Spiegelung in geistmimeti-
schen Maschinen von ständig wachsender Komplexität zu deuten 87 Einen Aspekt hiervon hat Bourdieu in seinen Beobachtungen zum
sei. Siehe auch: G. G., Die amerikanische Apokalypse, a. a. O. Habitustransfer zur Sprache gebracht.

I
~
568 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen

setzt sich nicht nur der monastische modus vivendi in den tuierte Anregungszusammenhang von Selbersehen, autopsia,
schulischen, auch die Militärdisziplin wirkt auf die Religions- und Selbertun, autopragmasia, zerrüttet wird), wäre durch
disziplin zurück - bekanntestes Beispiel: das Amalgam aus eine Analyse von Negativtrainings zu erklären.
Ordenszucht und sublimiertem Kombattanztrainung in den
Kompanien der SocietasJesu. Alle drei Disziplinbereiche, der
klösterliche, der schulische wie der militärische, fungieren als Kunstgeschichte als Askesengeschichte
Matrizen nicht nur für die Ordnungsprojekte der »Policey«
und die professionelle Formung des Beamtentums,88 sondern Ohne das allgegenwärtige Neuzeitfluidum disziplinärer Stei-
strahlen in die Sphäre der Handwerksateliers, der Manufak- gerungseffekte hätte namentlich der Kunstbetrieb der Renais-
turen, Fabriken und Handelsunternehmen aus. Wer in diesen sance und der folgenden Jahrhunderte unmöglich funktionie-
Bereichen die strenge Allianz von Disziplin und Zwang er- ren können. Es wäre an der Zeit, die oft erzählte Geschichte der
fahren hatte, konnte in den Künsten das glückliche Mitein- neuzeitlichen bildenden Künste und der Musik als die Ge-
ander von Disziplin und Freiheit erleben. In diesem Sinn war schichte der artistischen Askesen darzustellen. Hierdurch
Europa seit dem take-off der Virtuositäten im 15. und 16. würde nicht nur das Phänomen Kunst unter einem veränderten
Jahrhundert der interdisziplinäre Kontinent und blieb es bis Licht gezeigt, ein neu es Spotlight fiele auch auf die Kunst der
heute. Als solcher bildet er ein Netzwerk der totalen Beschu- jüngeren Moderne, die unter wesentlichen Aspekten als Pro-
lung. Die permanente Stimulierung der Könner durch Kon- dukt einer zunehmenden Suspension der artistischen und
kurrenten gehört zu den Effekten der zunehmenden Netz- handwerklichen Disziplinen zu begreifen ist. Wenn die hier
dichte. Oft hat man unter Pädagogen übersehen, daß der so genannte »zweite Kunstgeschichte« von Kunst am Men-
wichtigste Lehrer der Rivale ist. schen handelt, insbesondere von der Kunst seiner Weiter-
Die neuen Medien der Gutenbergära tragen das Ihre zu bringung zu höheren Leistungen, so gebührt eines ihrer
den Ausweitungen der Übungszonen bei. Dank voranschrei- wichtigsten Kapitel der Hervorbringung der Künstler im früh-
tender Alphabetisierung entstehen in allen Nationalstaaten modernen »Haus der Disziplin«. Es mag genügen, noch einmal
Lesevölker, die einem penetranten Medienfitnesstraining an Richard Sennetts Ausführungen über das Ethos der Hand-
ausgesetzt sind - in ihnen verkörpert sich die Gleichung werke, namentlich seinen Exkurs über die Goldschmiede der
von Mensch und Leser. Zu ihnen kommen im 20. Jahrhun- Renaissance, zu erinnern. 89
dert die Telefonvölker und die Radiovölker hinzu, die sich Allein im Bereich des Kunstgesangs und der Instrumental-
zuletzt in das Weltvolk des Internets aufheben. Medienfit- musik besteht eine ungebrochene und selbstverständliche
ness ist das Element, in dem moderne Populationen ihre Tradition des Übungsbewußtseins, die alle Wandlungen des
globale wie spezifische Fitness elaborieren. Warum dennoch Stils, des Geschmacks, der Kompositionstechnik und der
passiver Medienkonsum fast unvermeidlich in Unfitness Aufführungstradition von der Renaissance bis zur Postmo-
mündet (technisch gesprochen: wie der von Comenius sta- derne überdauert hat. Ironischerweise sind es die großen In-
strumentalisten, die fast täglich an der Rampe stehen, ge-
88 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, a. a. 0.; Franc;:ois Ewald,
Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main 1993. 89 Siehe oben S. 462f.
57° III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 57 1
schult in »anständiger Dreistigkeit« vor dem Publikum, im werke nicht zu reden. Wer diese Strecke überschaut, dem wird
Applaus baden und so das willkommene Trugbild hoher unmittelbar klar, warum die Kunstgeschichte der Neuzeit
Künstlerfreiheit nähren, an die man zuerst denken möchte, nicht allein als Werkegeschichte verständlich zu machen ist.
wenn von repressiver Diszipliruerung die Rede ist. Aufgrund Sie stellt immer auch die Geschichte von Passionsübungen
ihres erdrückenden Übungspensums scheinen diese Virtuo- und ihrer Umwandlung in Kunstpassionen dar.
sen für foucaultianische Analogien offen wie kaum eine an-
dere Gruppe von Disziplinierten. Vielen von ihnen leuchtet Was ich die zweite Kunstgeschichte nenne, ist also in erster
es ein, wenn man ihre Übungsräume mit Gefangenenzellen Linie für die Verfahren der Schulung von Künstlern in ihren
und ihre Etüdenqual mit Einzelhaft am Instrument ver- Disziplinen zuständig. Sie hat somit auch den Prozeß der
gleicht. 90 Dennoch ist bei ihnen die relative Freiwilligkeit Entdisziplinierung in der jüngeren Kunstgeschichte zum Ge-
des Leidens an der Disziplin nicht zu leugnen. genstand. Mit diesem doppelten Fokus verschiebt sie das Au-
Mag es auch auf den ersten Blick plausibel scheinen, die genmerk vom Kunstwerk auf den Künstler, indem sie die Er-
Geschichte der neueren Instrumentalmusik als einen klassi- zeugung der Kunsterzeuger als eine eigene Dimension der
schen Fall von »Disziplinarrnacht« darzustellen: In Wahrheit Kunstgeschichte definiert - was im übrigen das Gegenteil
bildet sie ein Kapitel in der Metamorphose der Passionen. des gewöhnlichen Biographismus bedeutet. Hierdurch wird
Blickt man von Czernys berüchtigten klavierdidaktischen die umakzentuierte Kunstgeschichte zu einem Zweig der all-
Werken wie Schule der Geläufigkeit, op. 299, Vierzig tägliche gemeinen Übungs- und Trainingsgeschichte. Sie gibt zum
Studien, op. 337, oder Nouveau Gradus ad Parnassum, op. einen technisch präzise Antworten auf die Frage nach der
822, auf die devotionsdidaktischen Schriften des 15 . und 16. Entstehung von hoher Kunst, soweit dies durch die Analyse
Jahrhunderts wie die lmitatio Christi des Thomas von Kem- der Übungsformen zu klären ist. Zum anderen kann sie neue
pen (zuerst anonym um 1418) oder die Exercitationes spiritua- Deutungen für die Paradoxien der Massenkultur anbieten -
les des Ignatius von Loyola (spanisch 1533, lateinisch 154 1) etwa für das Phänomen, daß manche Weltstars der Popmu-
zurück, so geben sie eine Vorstellung von der Spannweite der sikszene auch nach Jahrzehnten auf der Bühne noch immer
Wandlungen, die die Passionsbereitschaft neuzeitlicher Men- nicht singen können - was nur mäßig verwundert, wenn man
schen im Lauf von kaum mehr als vier Jahrhunderten durch- weiß, daß sie in den Gesang bloß einen Bruchteil ihres
messen hat: Sie reichen von der instrumentlosen Passion der Übungspensums investieren, während sie ohne weiteres da-
seelisch Mitgekreuzigten, Mitgestorbenen, Mitauferstande- von ausgehen, weniger als drei Stunden work out im Fit-
nen, die den mystischen Instruktionen folgen, bis zum Instru- nessstudio seien für ihre Bühnenperformance nicht genug.
mentalvirtuosenturn des frühen 19. Jahrhunderts, in dem sich Versetzt man die Geschichte der Kunst in den Rahmen
der romantische Kompromiß zwischen Artistenbravura und einer Geschichte der Askesen, gewinnt man nicht zuletzt eine
Entselbstung vor den Forderungen des Instruments verkör- neue Sicht auf den Phänomenkomplex, den Hans Belting in
pert - um von den interpretativen Ansprüchen der Kunst- seiner Studie Bild und Kult als eine »Geschichte des Bildes
vor dem Zeitalter der Kunst« präsentiert hat. 91 Bei dieser
90 Vgl. Grete Wehmeyer, Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder
Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideolo-
gie, KassellBasellLondon/Zürich 1983, besonders S. 151 - I 80. 91 München 1990.
57 2 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 573
kenntnisreichen Synopse der Ikonenmalerei von der Spätan- Der Monothematismus zeigt an: Das Bild ist allein im Dienst
tike bis zur Renaissance ging es nicht wirklich darum, in eine der Erlösung zulässig. Von einer Freiheit der Motivwahl ist
Zone »vor der Kunst« vorzustoßen - das hieße ja den säku- darum keine Rede. Durch die Begrenzung auf wenige Arche-
laren Künstler delegitimieren und ihm den Priester-Maler typen ist die spirituelle Malerei imstande, die Weltflucht bzw.
überordnen. Belting hat in seinem Ikonenbuch vielmehr die die ethische Sezession zu fördern . Zu keiner Zeit durften
Möglichkeit entdeckt, die Kunstgeschichte als Medium einer Ikonenmaler sich dem Glauben hingeben, das vollkommene
Geschichte kunsttragender Askesen neu zu denken. Aller- Bild fertiggestellt zu haben. Einer satanischen Versuchung
dings zögerte der Verfasser auf halbem Weg und hob die erlägen jene, die glaubten, das jenseitige Urbild habe sie aus-
Kunstgeschichte a contre CCEur in eine allgemeine »Bildge- erwählt, um durch sie diesseitig zu erscheinen. Die Fülle der
schichte« auf - für ihn, einen der wenigen entschiedenen Vollkommenheit kommt nur dem überweltlichen Archety-
Kunstessentialisten der Gegenwart, gewiß nur eine vorläufige pus zu, nicht seiner innerweltlichen Projektion, erst recht
Lösung, bei welcher der Sinn für Qualitäten noch nicht auf nicht dem Maler als untergeordnetem Ikonopoieten, sei er
seine Rechnung kommt. auch seinem Ich noch so sehr erloschen.
In Wahrheit steht nicht die Liquidierung der Kunstge- Ikonenmalerei verkörpert somit Kunst an ihrem asketi-
schichte zugunsten einer allgemeinen Bildgeschichte auf der schen Maximum - und auf dem Minimum an Weltzuwen-
Tagesordnung - sonst wäre die massenhafte Ablichtung von dung. Hat man diesen Punkt fixiert, läßt sich die Kunstge-
allem und jedem die Kulmination der Geschichte der Bild- schichte Europas nach der Ikonenzeit als ein etappenreicher
erzeugungen. Was ins explizite Licht zu rücken wäre, ist die Prozeß der Verschiebung, der Ausweitung, der Lockerung
historische Allianz von Kunst und Askese, von der bislang und der Auflösung der kunstermöglichenden Askesen prä-
stets nur indirekt die Rede war. Akzeptiert man diese The- sentieren. Bei der Aufhebung des Monopols religiöser The-
menstellung, kann die Ikonenmalerei den plausibelsten Aus- men stößt die bildende Kunst der Renaissance buchstäblich
gangspunkt einer großen Erzählung von der Prozession der die Fenster auf. Die Freisetzung des Polythematismus ist die
bilderzeugenden Energien durch die Zeiten abgeben, jedoch wahre Mission der »Kunst der Perspektive«. Perspektivisch
nicht, weil sie als eine Form von kunstloser Bildlichkeit an- sehen meint ja, der Welt die dritte Dimension, die Tiefe, zu-
zusetzen wäre, sondern weil die Ikone das exemplarische gestehen, und mit der Tiefe die Würde der Kontemplierbar-
Werk der Askese verkörpert: Hier ist Kunst angewandte As- keit. Nun ist die Ikone überall, jedes Bild könnte ein heiliges
kese, und hohe Askese zuweilen hohe Kunst. Vor dem heili- sein, jedes Fenster öffnet sich auf eine wahre Erscheinung.
gen Bild wird nicht nur selbstlos gebetet und meditiert; der Erlösung meint nicht mehr Befreiung von der Verführung der
malerische Akt, aus dem es entsteht, ist seinerseits eine der Welt, sondern Befreiung zur Fülle irdischer Mirabilien. Die
konzentriertesten Formen von Gebet, Meditation und Ent- Welt wird alles, was des Zeigens wert ist.
selbstung. Wenn Generationen von Ikonenmalern zeitlebens Wo die elaborierteste Disziplin auf die umfassendste Welt-
ein und dasselbe Motiv ausführen, so aus dem Grund, weil sie zuwendung traf, waren die Voraussetzungen für extreme
im Geist des hellenistisch-östlichen Christentums dazu ange- Kulminationen des Kunstgelingens geschaffen. Die Möglich-
halten sind, sich immer von neuem dem einen transzendenten keit solcher Höhen ist natürlich nicht auf die klassischen
Bild zu unterwerfen, das sich durch sie materialisieren soll. Jahrhunderte beschränkt, sondern prinzipiell in jeder spä : ~-
574 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 575
ren Periode - warum nicht auch in der Gegenwart - möglich, ciceronische Zurückführung des römischen Worts für das
doch wie bekannt bietet diese für neue Gipfelproduktionen Heer, exercitus, auf dessen Hauptfunktion, die tägliche Waf-
ein erschwerendes Umfeld, weil die allesinfiltrierende Mas- fenübung, exercitatio, in Europa nie ganz vergessen. Oben-
senkultur aufgrund ihrer siegreichen Mischung aus Simplifi- drein enthält die Überlieferung aus alter Zeit die Erfahrung,
kation, Respektlosigkeit und Unduldsamkeit jeder norma- daß in der Schlacht die Gruppenfitness, die sich in effektvol-
tiven Vorstellung von Höhe abgeneigt ist, erst recht von len Aufstellungen und kohärenten Kollektivbewegungen be-
Höhen, an denen sie sich messen sollte. währt, die Einzelfitness im Kampf von Mann gegen Mann bei
weitem überwiegt. Obschon das mittelalterliche Militärwe-
Es erübrigt sich nachzuzeichnen, welche problematische Rol- sen diese Hinweise nicht zu ignorieren vermochte, hat das
le die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts bei der Auflösung Rittertum eine völlig anders geartete Vorstellung von Kampf
der »Maßstäbe« spielte, auch und vor allem auf dem hochkul- und Sieg geltend gemacht, und erst die beginnende Neuzeit
turellen Flügel. Eine ihrer Leidenschaften galt ja der Propa- brachte wieder einen aktuellen Typus von Kriegführung auf
gierung einer Kunst ohne disziplinäre Prämissen - das Thema der Basis von resolutem Formationsexerzieren hervor. Ohne
»Duchamp und die Folgen« wird die künftige Kunstkritik dieses lassen sich die beherrschten »Evolutionen « der Trup-
noch lange beschäftigen, und es ist nicht ausgemacht, ob die pen im Feld wie auf dem Übungsplatz zwischen dem 17.
Reputation des Kirchenvaters der Kunst nach der Kunst aus Jahrhundert und den Innovationen des napoleonischen Be-
der Überprüfung unbeschädigt hervorgeht. 92 wegungskriegs nicht verstehen.
Man hat in den gängigen Darstellungen frühneuzeitlicher
Wiederanknüpfungen an griechische und römische Kultur-
Vom militärischen Drill muster auf dem Feld von Architektur, bildenden Künsten
und Literatur oft übersehen, daß fast gleichzeitig - um weni-
Ein bedeutender Seitenzweig der jüngeren Kunst am Men- ge Generationen versetzt - auch eine militärische »Wieder-
schen, der beim heutigen Publikum nur noch auf geringes kehr der Antike« stattfand. Sie ist vor allem mit dem Werk des
Interesse und noch geringere Sympathien stößt, zeigt sich Heerführers Moritz von Oranien (mit Beiträgen Wilhelms
im frühneuzeitlichen Militärwesen. Bekanntlich reicht das von Nassau und Johanns von Nassau) verbunden, das neben
soldatische Üben bis in die frühen Perioden der mesopota- zeitgenössischen militärkundlichen Anregungen vor allem in
mischen und mediterranen Staatenbildungen zurück - die der Wiederbelebung des Interesses an antiken Militärschrift-
berühmte griechische Phalanx und die römischen Legionen steHern gründet. Aufgrund seiner soliden Kenntnis antiker
galten schon den Zeitgenossen als Wunderwerke der Kampf- Sprachen war Moritz imstande, Autoren wie Xenophon,
dressur und der Überwindung der psychologischen Wahr- Polybios und Onasandros sowie Caesar, Livius und Sueton,
scheinlichkeit (sprich der menschlichen Neigung zur Flucht insbesondere jedoch die Taktiken des Ailianos und des by-
angesichts gegenwärtiger Lebensgefahr). Auch hat man die zantinischen Kaisers Leo VI. im Original zu studieren. Aus
diesen Schriften schöpfte er präzise Anleitungen zur Ausge-
92 Über den Zerfall des Imitationsbewußtseins in der bildenden staltung eines zeitgemäßen Exerzierreglements. Insbesondere
Kunst des 20. Jahrhunderts siehe unten S. 686f. übernahm er für seine Heeresreform bei den niederlänc:~ -
57 6 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 577
sehen Truppen im anti-spanischen Freiheitskrieg nach 1589 nomische Präzision erst die Untersuchungen der frühen po-
die von den Griechen erprobten Vorschriften hinsichtlich der sitivistischen Sportwissenschaft im 19. Jahrhundert und die
Aufstellung der Heerhaufen nach Reihen und Gliedern, eine Anleitungen für Fließbandarbeiter in der Ära des Tayloris-
Einteilung, deren Wirkungen noch auf den Kasernenhöfen mus wieder anknüpfen. 93 Übertroffen werden diese Studien
des 20. und 21. Jahrhunderts zu beobachten sind. Die grie- ihrerseits nicht vor dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts,
chische wie die römische Soldateska hatten in einer Art von als in der quantifizierten Sportphysiologie und Trainingswis-
unfreiwilligem Platonismus den Grundgedanken der Politeia senschaft Bewegungsstudien mit bildgebenden Verfahren,
übernommen, wonach der "Staat« nichts anderes als ein Gro- Diagramme zur Erfassung des Stoffwechsels von Hochlei-
ßer Mensch (makranthropos) sei - wobei man den »Staat« stungsathleten und individualisierte Trainingsanleitungen
(polis) unbefangen mit einem disziplinierten Heerhaufen für sportliche Disziplinen aller Art und jedes Niveaus auf
gleichsetzte. Solche Ideen kamen den Intuitionen der Renais- die Tagesordnung kamen.
sancestrategen entgegen, weil sie die Projektion geometri-
scher Figuren und homogener Bewegungen (Evolutionen)
auf größere Massen von »politischen Lebewesen« erlaubte. M enschenausstatter im allgemeinen
Konsequenterweise entnahm Moritz den antiken Taktik-
lehrbüchern die partiell äußerst präzisen Beschreibungen der Wir haben uns davon überzeugt, wie das Privileg, den ab-
»Elementarbewegungen« von Heeresgruppen, zu denen Fi- soluten Imperativ zu übermitteln, zu Beginn der Neuzeit
guren wie Kehrtwendungen, Schwenkungen, Kontremärsche den Inhabern religiöser Sprechämter entgleitet und auf eine
und anderes rechneten. Hier wird der Soldat als der laterali- Anzahl von säkularen Agenturen übergeht. Unter denen ra-
sierte Mensch geprägt, der links und rechts um nichts in der gen hervor: der frühneuzeitliche Fürst als Schirmherr der
Welt verwechseln darf. Überdies hatten schon die Alten die Menschenproduktion, der barocke Pädagoge als Experte
Bedeutung einer einfachen und effektvollen Kommandospra- der pansophischen Menschenformung und der Renaissance-
che entdeckt, durch die sich Befehle unmißverständlich auf Feldherr als der an der Antike geschulte Virtuose massenhaf-
die Truppenkörper übertragen lassen. Unter ihrer Anregung ter Menschenaufstellungen im Formationskrieg. Neben sie
entwickelten alle Armeen der entstehenden europäischen treten im Laufe der Zeit Scharen von Beratern und Einflüste-
Nationalstaaten nach dem Vorbild der Oranier landeseigene rern, die sich an ihre Mitmenschen nicht mehr als Überbrin-
soldatische Codes, bestehend aus knappen Kommandowör- ger des metanoetischen Imperativs wenden, sondern als Ver-
tern, die den Übenden auf den Kasernenplätzen in Fleisch mittler von praktischen Neuerungen, die eher technische
und Blut übergehen sollten, um schließlich im Feldzug be-
93 So ist beispielsweise eine Sequenz von 43 Bewegungen mit ent-
folgt zu werden. In den Abschnitten der neuen Reglements, sprechenden Kommandos für das Exerzieren an der Muskete aus
die dem Waffengebrauch gewidmet sind, vor allen dem der dem frühen 17. Jahrhundert überliefert, wiedergegeben in: Werner
damals noch sehr schwerfälligen Feuerwaffen - einem Sujet, Hahlweg, Die Heeresreform der Oranier und die Antike. Studien
zur Geschichte des Kriegswesens der Niederlande, Deutschlands,
bei dem die Pioniere der oranischen Reform von den Alten
Frankreichs, Englands, Italiens, Spaniens und der Schweiz vom
wenig lernen konnten -, finden sich sogar schon erste Se- Jahre 15 89 bis zum Dreißigjährigen Kriege (zuerst 1941), Osna-
c:.-.::enzierungen komplexer Bewegungsabläufe, an deren ergo- brück 1987, S. Hf.
57 8 III Die Exerzitien der Modernen 10 Kunst am Menschen 579
Vorteile als moralische Besserungen zum Inhalt haben. Ich prothesen der Götz-von-Berlichingen-Zeit bis zu den High-
nenne sie die Menschenausstatter der Neuzeit. Ihnen kommt Tech-Implantaten der Gegenwart, von den Kutschen der Ära
eine hohe Bedeutung für die Formung der »menschlichen Kaiser Maximilians bis zu den Luxusjeeps für die Mobilitäts-
Materie« ihrer Zeit zu, weil sie sich nie auf die für Philoso- elite der letzten Benzinjahre.
phen verführerische Ideologie des unbemittelten, un-beding- Die Menschenausstatter sind keine bloßen Verkäufer
ten Menschen einließen. 94 Die neuen Ausstatter wählen zum oder Marktschreier für Accessoirs zum zeitgemäßen Leben.
Menschen den pragmatischen Zugang. Sie sehen in ihm in Nimmt man ihre Funktion so ernst, wie es angesichts ihrer
erster Linie den Klienten, das heißt den von beschaffbaren Bedeutung für die dingliche Ausstattung der Existenz der
Dingen umgebenen, von Dingen stimulierten, mit Dingen Modernen unbedingt erforderlich ist, bemerkt man, daß ihre
übenden Teilhaber an der Güter- und Sachenwelt. Sie spre- Angebote oft nicht weniger sind als Weltverbesserungen in
chen nie von dem einen, das not tut, solange sie für nützliche diskreten Quanten - man denke an die spätmittelalterliche
Innovationen werben können. Sie legen den Zeitgenossen Erfindung der Brille, ohne die das Lesen und Leben im Gu-
nahe, ihr Leben durch Teilnahme an aktuellen Künstlichkei- tenbergzeitalter unvorstellbar wäre. 95 Schon von Petrarca ist
ten zu verändern und ihren existentiellen Tonus, nicht zuletzt die Notiz überliefert, er habe von seinem sechzigsten Lebens-
ihre Wettbewerbsfähigkeit, durch neue Informationsmittel, jahr an eine solche Lesehilfe in Anspruch genommen. Auch
neue Komfortmittel, neue Distinktionsmittel zu heben. Die- das neuzeitliche Papier fällt in die Kategorie der Weltverbes-
ser neue Markt zersetzt das archaische Entweder-Oder der serungen aus Manufakturen; aus ihm entsteht das Pandämo-
ethischen Differenz. Jetzt können sich Fundamentalisten in nium der Waren, die durch Drucker, Verleger, Zeitungsma-
Kunden verwandeln, aus Gläubigen dürfen Leser werden, aus cher, Kartographen, Schriftsteller, Gelehrte und Journalisten
Weltflüchtern manifeste Medienbenutzer. Wer sein Leben än- an das Neuzeitpublikum gebracht werden. Die Angehörigen
dern will, sieht sich in einen ständig wachsenden Horizont der papierbezogenen Berufe fungieren hier als diskrete Exer-
von Lebensergänzungsmitteln und Lebenssteigerungsmitteln zitienmeister für moderne Menschen. Sie verändern das Leben
versetzt - sie bilden die stärksten Attraktoren in der moder- jedes Einzelnen, ohne nach dessen ganzem Dasein zu grei-
nen Flut der Waren, die man zu Unrecht oft allein unter dem fen.
Konsumaspekt beschreibt. Mit ihrem Erwerb ist die Teilhabe Die anthropotechnischen Wirkungen - die kompetenzhe-
an gehobenen Fitnesschancen und erweiterten Genugtuun- bende Dynamik und die Erweiterung des Operationshori-
gen verknüpft. Das reicht von den ersten Editionen der hu- zonts - dieser Dienste und Produkte wird im allgemeinen
manistischen Autoren bis zu den Flatrate-Zugängen in die nur in den Anfangszeiten uneingeschränkt begrüßt. In der
vernetzte Welt, von Gewürzen aus den Molukken bis zu Par- Frühzeit einer Innovation fällt vor allem die Differenz zwi-
ker-notierten Grands Crus du Midoc, von den groben Hand- schen Benutzern und Nicht-Benutzern ins Auge, indessen in
der Phase der Marktsättigung eher die entropischen und miß-
94 Zur Erläuterung der Gegenthese vgl. Friedrich W. Heubach, Das bräuchlichen Effekte die Blicke auf sich ziehen. Darum kön-
bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit
der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags, München 1987. 95 Vgl. Chiara Frugoni, Das Mittelalter auf der Nase: Brillen, Bücher,
Sowie Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters, München
symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008. 20°3·
5 0 111 5 I

nen Comeniu und Karl gnllm d r ncu z itli haft


Schwanen Kun t ni ht ein r Meinun In. Brin 't man e in explizi te rm t
wenigsten im tande iIld. ZU I n und z u hr ib n, er heint Ti ch n Imperati d r hul nbedi nun : Wirt hafte 0
al]gemeine Alphaberi ierun ie ein m iani he Projekt. daß du dur h c izicnren :' in :u z der R ur en j.e derzeit
Wenn al l dazu in der La e ind, bemerkt man die Kata tro- die Gewißh il ~ cni ßen d3rf r, Kredite fri rg recht zurück-
poe, daß e fast niemand ri hri kann. zahlen z u k " nncn. Der Kredit lre der wa h ende Popula-
Vor d:i em Hint r rund wird ein ' rur die h uti e arurie- tionen n huldnern .i n F rm z.win t, i t in ueJle n
rungspha e mptomaci ehe Ta a he b reifli h: Unzählige lnnovati n bcreit haft, n d r 11 h keine Kreativität -
möchten ich der Allge enwart d r R klam enrLi h n ja, theorie fichei K nntni e;:n mmen hat. bald man r tan -
ihr wie einer Pe t au wei ben . Au h in die em FaJl ist die den hat, daß an der Ba i neuz itli her i ziplinierungen
Unterscheidung von v rher und na hher hilfrei h. Aus der weder di n »I rr und Kne ht« n h der G gen-
Sicht der ent tehend n m demen üt rwelt k nnte man die satz von .. Kapital und Arb ifoc zu finden j t, sond.ern der
Reklame damjt le trimie.ren, da Weit r a en der a hrich- symbiori h Anta läubi er und Schuldner,
ten on der Exi tenz neuer Le b n t i rung mittel ei unab- muß d i Idbewegten »Gesellschaf-
dingbar, da die B völkcruogcn der Handel - und Indu trie- ten « on Grund auf neu e hrieben werden.
narionen ansonSten um w ntli he Wi n tiber di krete
Weltverbe scrun cn betrogen blieben. AI B tschaft rin
neuer Vorteil bring r i t di frühe R klame da allgemeine
Trainingsmedium der aktuelJen Lei tung k 11 kti , die
man in kulturkoo ervariven Milieu lei htferti al ,. Kon-
sumge eil chaften« denunz.iert. Der Widerwille e en die Re-
klame, die die ge ättigt n Info phären der e enwart dur h-
zieht, geht jed h von der ri htigen Intuiti n au w nach ie
in ihren meisten r cheinung formen läng t zu einem Trai -
ning nach unten gehört. Sie agt njcht mehr weiter, " .
Menschen wi sen sollen, um an v rteilhafte Inn vati nen
zu kommen; sie erzeugt Tru bilder von käufli hen Selb ter-
höhungen, die de facto meisten Schwä hun cn brin en.
Zuletz.t wäre von den neuzeitlichen Bankiers zu sprechen,
die sich aufgrund ihrer Tätigkeit al Kredit ber für Men-
schen, die ihre Lage verbe sem wollen und al Wirt hafts-
akteure oft tatsächlich verbessern, als die effekriv (en Moti-
vawren für intensivierende Veränderung erwei en. An ihrer
P raxis ist abzulesen,. wie ein Gurreil der Steigerung impera-
tive, unter denen die' Modernen leben, aus dem ar:c anum ma.-
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5 3
Zeloten y r irlt. treu am
I I IM AUTO-OPERATIV G KRÜMMT RAUM Horizont, dem man in d r nt n aod rt, r!hält
jetzt n uco piriruellcn und m rali hen Wert. I t der Den
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rot, kann e ni hr fal h ein auf ihn Z.Uz.ug h n. Die R, for-
z ISCHE AÄ THE I E UND BIOPOLITIK
mati n h b die p iritu 11 n Pri il ien cl rden lebens auf,
da jeder Punkt i.n der \Y,f Ir v n d r nad I i h weit entfernt
i t. Damit er hi nen die rau twngen fü r den radikalen
Lob der Horizontalen Bruch mit der Welt am en in v [ n Punkt verändert. Sind die
Asketen in d n cr n ,en rden dem Licht nicht näher als die
Der metanoeti che Imper tiv hat ich in der Moderne :w- Laien in den. Ämtern un d W rk täeten k ·· nnen auch diese
nehmend in eine orschrift zur . äußeren Anwendu.ng« ge- sich Chancen au re hnen; auf weltlichen Wegen gejstlich vor-
wandelt. Seine Dissemination au der philosophi ehen und anzukomm n. Dar n k nlltJe di Aufklärung direkt anknüp-
monastischen Sphäre in spätari wkratische und bürgerliche fen. Mehr n eh: ei t den Anfän en d r Lichepolitik, aus der
KIemse, später auch in proletarische und kleinbürgerliche· die [um ieres\ urden, durfte man i h den Weg zur Aufhel-
Schichten er tärkte die Tendenz zur Ent piriruali ierung, lung aller Dine aJ ine Route mit mäßiger Steigung vor-
zur Pragmatisierun und zuletzt zur Polio ierung des Än- steUe~ auf der si h rw ärtsbewe,gte, wer halbwegs guten
derungsgebots. So konnten zahJlo Indi iduen in den Jahr- Willens war und di Zei h n d r Zeit verstand. Ein dunkler
hunderten der Moderni ierun dem Aufruf zur Transfor- Drang von innen 11 nun zum Finden des rechten Wegs
mation ihres Lebens F 1ge lei ten, indem sie den typi hen genügen. W . _ ran it, da i t auch ein Weg nach vorn. Das
Produkten ihrer Zeit die Tür öffneten. Die magi ehen Papier- stetige Au chreiten auf m derat ansteigenden Wegen wird
waren de Gutenbergzeitalter ,Bib In und i ht-Bibeln, ge- vom r8. Jahrhundert an al der authentische Modus des Fort-
langten mit den Jahren, den Jahrzehnten, den Jahrhunderten .schritts ratio l1ali ien. ,,[turn non faci.t salws. 96 Die Welrver-
in viele, wenn chon nicht 0111 Hau halt . Wer mit ihnen besserung ie das Gute, das Zeit braucht.
umging, sehieneo ipso auf d m be eren Weg. Die Druck- Man kann di Fol en der Wende zur Moderierung der
schrihen gewähnt n ihre Benutz r an die für ie elb t noch ethischen An prüch ni h h enu.g einstufen. Durch die
ganz undurchschaubare Dynamik ihres ZeitaIter : daß neue Mäßigun kehrt der inn für di,e moralische Chromatik des
Medien alte Inhalte verbreiten, bis veränderte Verhältnis e Realen zurück. Di thi he UnI r cheidung wandert in die
entstehen, die neue Inhalte liefern. Die werden von den al- Nuance. Sie er tartet nicht l1ur den lauen Christen das gute
ternden Medien in Umlauf gehalten, bis neuere Medien auf- Gewissen zurü k; ie pricht den Weltkindern sogar ein Prius
tauchen, die die alten Medi.en samt ihren alten und neuen bei der u he nach dem guten L ben zu; ja, sie madn es
Inhalten rezyklieren. nach Jahnau enden piritueller Diskrimjnierung möglich,
Entscheidend für da Weitere ist die Beobachtung, daß die das w (die he eben al gute Bewegung in der Horizontalen
Forderung nach Selbstveränderung und Umkehr nicht mehr
nur von oben auf das wandlungsbereite B wußt ein trifft. Es 96 Di:eter lac cn. Da K nkrete und das Abstrakre. Soziologische
mu.ß nicht immer das Licht aus der Senkrechten ein, da.s den Skizzen zur Anthr polgie. fra nkfurl am Main J 994.
111 11 Im aul

zu rehabilitieren, vorau e erzt, e wei { ein i e Ten- rung der ethi ehen Unter h idun - der, w nn man so will:
denz nach oben auf. Wer die e leu -net der für ni btig er- Devertikalii run der xi t nz. G nau die bezeichnet da
kJärt, ist unmittelbar Reaktionär wem ie nicht ,enügt, der ehemaI- roße \VI n F hritt. Di di kre~ pirituelle Sen -
träumt früher der später m - ertlkalen Au ti gau allem sation d er uzeit lie t darin da e nun die mittleren Wege
was horiz.ontal, k ntinuierli h und v rh r a bar er cbeiot: sind, die zum Heil führen 11 n. ie rmäßigun en der For-
von Rev luti n. derungen na h rad ikalem Bru h mit dem alten Adam und
seinem korrupt n Mi li u aben d r Wel,t1ichkeit eine neue
Würde. ie tru ' n da ihr da zu ei di KulrurkJimawende
Fortschritt als Mer.a noia zum halben Preis zuguosten prinzipieller ophi li einzuleiten. Wie die Nei-
gung, das Neu zu be üß n der uze it ihre futurische
So erweist sich der Fort chrin - und Entwicklun edanke in Orientierun verlieh, erübri t . ic h hier zu demonstrieren.
der Moderne al schl imm (er Fei nd der radikaIen Metanoia Was sie der R habil iti run der eugier verdankt, Ist seit
alte n Stils. Er bringt die teile alt-a keti ehe V rtjkale um ihre Hans Blumenber H auptwerk bekannt.97
Plausibilitä.t, er relegiert ie in die E ke des .. Fanatismus «.
Diese Wandlung verbi.r gt sich hinter dem tausendfach wieder- Die neuere Ära war in ihr n ruhi geren Perioden, insbeson-
holten Mißverständnis der Moderne al Ära der Säkularisie- dere v n 164 bi 17 9 und von 1 IS bis 1914, ,d ann wieder
rung. G ewiß, das Christentum verlor eit dem 18 . Jahrhun- von '945 bi heute, in urnmari eher Sic ht ein Weltalter der
den in Europa seine Prädomjnanz, doch nur bei wenigen Metano ia zum hal.ben Prei . In die en Zeiten konnte man
Zeloten der Aufklärung setzte ich eine Art on Mensch-al- getrost mit d r . Enrwi klung - gehen, di e grosso modo vor-
lein-Bewegung durch, die alle Ttiren zum Jenseit zuschlug wärtsstrebte, und d n alt n Adam im bürgerlichen Gewand
und schlechthin alles in die lmmanenz verle en wollte. Die leben las en. E enü te, auf der Höhe der Zeit zu sein und
breite Masse hatte auch in den Jahrhund rten, die man dem sich am F rt hort zu ri ntieren, um glauben zu dürfen,
Säkularismus zurechnet, immer ein va Ce Tran zend en zbe - ma.n gehöre z u den Ger,e huerti ten, den Guten. Von einem
wußtsein bewahrt - William Jame hat fü r die p puläre Nei- kriti ehen Punkt an llre die Umkehrung des Bewußtseins
gung zur gläubig-ungläubigen Vermurun einer höheren sogar grati erfol n, ind em sich der Mensch simpliciter auf
Wirldjchkeit den Ausdruck piecemeal sup ranatl~ralisme­ seine natürliche G üt zurü kb sann: Rou eau brachte es da-
prägt und diesen für sich selbst in An pruch genommen. Di.e- hin, den alten Adam al den wahren Menschen auszurufen
se Disposition vertrug ic h au gezeichnet mit d m pragmati - und ämtliche Ver uche der Zi ilisation, ihn zu bilden, zu
schen Immanentismus der Neuzeit wie mit d en guten 10 i- bessern und na h o ben au zurichten, als Verirrungen zu de-
schen Manjerender Akademia und de gebildeten Publikum, nunzi ren . Man weiß bi heute nicht, wa in den letzten Jahr-
und diese altbekannte Haltung ist es, djc in den heute zlrku ~ hunderten den tieferen Kulturbruch bewirkte - der Rous -
Iierenden Gerüchten vom Auftauchen einer " po -t äkularen seaui mu mit einer ehr, die wahr,e Natur sei umsonst,
Gesellschaft .. wieder einmal auf sic h aufmerksam macht.
Das moralgescruchliche Hauptereigni die er Epoche 97 Han Blumenberg, Die legitimitiir der Neuzeit, Frankfurt am
heißt darum nicht Säkularisierung, sondern E ntradikal.isie- Main 19 8 (Erweiterte Au ga be).
5 6 [JI 11 Im aut c:k.rümmlcn Rlum S 7
oder der Lenini mu mt[ ein r hefti 0 Wled rrun.hebung des men: Ihre leben v ränd rnden lnt nti n n t h n außer F ra-
Pr6 es für die Verän run r W Ir und elen hen. ge; ihr Angriff winkel i. l" a r e w ähl t, daß nje am V:orrang
Die er erzeute Akti i ten, de ren tolz darin beSt nd in gro- der äußeren inwi rku n zu zw if In i t. I er frii he Schuldrill
ß m Ma stab ür da Gut zu ( ' ten, jener verführte zahUo e kommt der i enlei tun d hülers itjeher zu or. Auch
Gebildete de 19. und d 20. J ahrhundertS zu der Vor tei- legen die Lehrpläne di rudi n Ce t, he die Zögli.ng,e auf den
lung mall k" nne cl m Men hen dur h d ,, _egla en der Gedanken k mmen k "nnen, ,ich au. ei enen Stüdc,e n für
kulrurellen Zügelun en und der arti ri hen Überbauten sei- dieses oder jen uj t zu intere ieren; und bei den Abneh-
ne innere Wahrh6t zuru k ben. mern kompetenzerweiternder Apparate fällt ein möglicher
Die Metanoia zum halben Pr i • die d n morali eben eigener Beitra nüber der ei tun der Angebotsseite
modus opertmdi d r fort chrittli hen, emi- äkularen lt Ge- von vorneherein kaum in Gewicht. Jedesmal behalten die
seU chaft.. eit dem Bar k b timmt, rm « li ht den histo- Optimierun n n außen die berhand, selbst wenn die
rischen Kompromiß zwi hen e1b lverbe inneren edimente de Unt rri ches und die Gewohnheiten
erbe erun . Während di er ce na h wi r ganz in die des Gebrauchs n L ben teigerun mineln - Kunstwer-
Kompetenz de wandlung will i en inzelnen fällt, hängt ken, Prothe en, Fahrzeu en, Kommunikationsmedien, Lu-
die letztere vo n den Lei run en d r Lehrer, der rfi nder xusartikeln u w. - den hiHern und Anwendern zur zwei~en
und d er U nternehmer ab, die d oziale eld mit d en Re- Natur werden.
sultaten ihrer Tätigkeit be «lkerten, päda i hen R ul-
taten auf der einen eire, techn.i chen und ök n mi hen
R esultaten auf der anderen. Unter d m A pekt de Metho- \Velt'Verbesserung .a.ls elbstverbessenmg
denwandel fällt dabei auf, wie ich der hwerpunkt o n der
übenden Einwirkung d Einzeln n auf ich sel b t zu- Man kann die e Beobachrun en in eine Unterscheidung über-
nehmend zur qua i on au en k mmenden inw irkun der setzen: 1m üb nden Leb n de pirirueU-a.sketischen, des vir-
Lehrer und Erfinder auf die ielen ver hiebt. Aloe a an ruosen der de athleri chen T ps wirkt der Agent auf dem
seinen einzi en Schüler schrieb: meum opus es,99 war di es kurzen w'e d tä. li hen Trainings elbsrverbessernd auf
kaum mehr al eine an p rnende Wendung und obendrein sieh ei n. Auf dem Weg der Welrverbesserung hingegen wan-
eine charmante Äuße run on päda 0 i hem E r . Er elbst delt er sich z um Anwender sach licher Optimierungsmittel,
wußte am besten, daß auch in der an pruc v U t n Relation die seinen echis hen tarus allenfalls indirekt, obschon rucht
zwischen Meister und Schüler letztlich aB on cl r Selbst- unbedeutend m difizi ren. Oi e Unter cheidung betrifft
formungswilligkeit de letz teren ab hängt. unmittelbar di.e Art und Wei e, wie die Forderung nach Ver-
Anders stehen die Dinge, wenn die neuzeitliche S hule änderung des Lebens die Exi [enz de Einzelnen modifiziert.
und die G ilde der Menscbenau taner ihre Arb it aufneh - Wo der metanoeti he Imperativ zum vollen Preis angenom-
men wird, um bei der kaufmänni chen Sprachregelung zu
98 Vgl. Bernard Yac:k, Thc L ngin r r ~ 131 Rev IUli n: Phil phi
Sources of Social Dis ontenc Cr m Ro u ccau t Marx and ICt2:-
bleiben, ge rät da a ei n, wie gesehen, unter eine steile Ver-
sehe. Berkeley 1986. tikalspannun : Sie prägt dem Leben die Passionsform d es vom
99 E pistolae morale 3d Lu i1ium, H . Brief. Einzelnen gewählten Berei hs auf - sei es die der »religiösen . ,
111 Di ,1 1 Imaut ekrüml11l1cn iUum

der ani Eis hen d r p liti h nun zein eili :lUcn d r port- rAnnahmen - i t es di e
lichen phäre. Wird hin .e. en d r Imperati zum halb n Preis
mitgenommen, wi in den fI heren Au pr" un -en . n Auf- treten, e
klärung Ort hrit d nken und ut:m ~ n h nrum
ein Da ein m u dur h, der i h an - cn rI
Abbau von Vertikal pan nun und Pa _i n ne.n- i h-Op rier n-Las en:
tiert. Das ubjekt in d r auto-operativen Kriimmung
Solange es der ge mäßi t en ~ ndenz . elin t
Vernünftige darzu teilen, da im B grif i t, das Wirkliche Es ist n " ti I auf die en im Prinzi p b kannten und abgeklärten
zu werden, und dah r univer 11 e1tun bean prueht, kann Beobachtun en z u in iticr n weil die K mplikationen, mit
ma.n den Fort ehritt der ~ hnik ini rma n or 10 mit denen wir e im f I enden zu tun bekommen, nur vor ihrem
dem moral i ehen und zialen paralleli ier n i 11 i htogar Hinter rund be reifli h iod. Si betreffen zum ,e inen die
gleichsetzen. Die Bewegun nach r'i ärt und aufwän ist heftigen R ibun n 7..' ihn der tarken und der schwachen
für den üblichen Pro re i mu eine Wand erun • die man Form de metan eci h n [mp rativ in der Moderne, zum
nicht aus ei ener Kraft in oller Länge zurückzulegen anderen d Verhältni zwi ehen den Optimierungen, die ich
braucht; ie gleicht ein m Strom, n d m man ich tra en selb t an mir bewir ke, und d n Lebensv·e rbe serungen, die ich
lassen darf. An fernen uellen emspru n en, hat r anzc als Zeitg n e a an i rter -rfindungen und Dienstleistun-
Weha1ter durchmessen; un er F rt chrins chiff wär nicht gen seiten anderer in An p,r uch nehme. Für die Einwirkun-
schon 0 weit gekommen, triebe nicht eit lan em auf gen, die au de m er ten M du herv rgehen, verwende ich
der Strömung - do h r t it kurze m e elt unter bewuß- den Au druck i h- p rier n; für die, die dem zweiten Mo-
[er Steuerung auf den Hafen zu. in helm, wer Müh hat, dus entspre hen, liegt f 1 li h drAusdruck Sich-Operieren-
sich Ströme vorzu t 11 n die ber auf fli en. Hute n nm Lassen nah . Bei,de bezeichnen miteinander konkurri,e rende
man komplexe Massen in qualifizi rter B w gun ,. Modi anchr p ce hni s h n Verhalt n . 1m ersten werde ich
rende Sy teme ", um da Paradoxo n zu neurrali ieren, das ich als bj kt direkter elb tm difikation durch eigene Maß-
in der Forderung verbirgt., da V rwän lIe zu lei h da nahmen cf roH' im zeit n erze ich mi h der Einwirkung
Hinauf bedeuteo. 'oo Kleinlaut n tieren die P tm dernen dur h di perati n k mpeten z anderer aus und lasse mich
die blassen Reste de Fortschritt unter d r Rubrik ,. Kom- von ihnen f rm en. Im Zu ammen pie! von Sich-Operieren
plexitätssteigerung • . Solange jedoch die frühe Aufklärung, und Sich- peri ren-La en ollzieht sich die gesamte Sorge
die den " positiven Religionen « ir ni eh über die huher des Subjek um j h elb t. IOI
schaut, selbst wie eine Reljgion funktioniert - für rupp n
als illusionst.rainingsverein, für Einzelne al Ühun stern 101 Oie e DiHer nz. heint mir eeignet. die von Foucault vorge-
brachten 013 hlkricis hen Ü berlegungen über die souveränma-
100 Über die Evolutionstheorie al allgemeine F rm d r Plau ibelma- chende Um wcndun n ß eherrs ht-Werden in Sich- Beherrschen
chung kontrai nruitiver Annahmen über den . Str mc d er Ereig- zu er Cl ZCJ1. Ich bin davon überzeugt, mit dieser Übersetz.ung den
nisse siehe oben den Pa su über Niet2. ehe Verbindung von Intentionen des Au tors näher 2.U kommen, als es ihm selbst im
Anistik und Naturtheorie:, S. 191 r. Rahm en seiner Begriffli hk it gelingen konnte. lnsgesamt ist d::,
59° m Die erz.oen dtr Moderm:n tl im aut ekrümmt.en Raum 59 1
Modeme erhä:ltni e zeichn n i h dadur h au daß die
rurich elbt kompetenten inz Inen in tei ende m Maß di.e Das b hand Ite Ibst
operative Kamp tenz cl. r anderen für ihr inwirkun eo auf
sich selb [ in An pru h nehmen. i Rü kb zi hun des hen aTlanten
Sich-Operieren-Lassens auf da i h- p rieren nenne ich n, i h-Unterhalten-Lassen,
die auto-operative Krümmung de modernen ubjekrs. Sie n liefern-La cn, Si h-Erregen-
gründet in einer tarken Evidenz: Wer and ren erlaubt, direkt Lassen, Sieb -Heil n-La eo Si h-Erbau n-La cn Sich-Ver-
etwas an ihm zu tun. rot mittelbar etwa für i h. Dies führt sichern- La en, ich-Tran p roeren-Las co. Sich- ertreten-
zu einem veranderten Modu der Ein hederung de Leidens Lasse~ Si h Brat. n- L en, i h-K rri 'er n-La en. Un-
in das Tun. Das kompetente Subjekt mu nicht nur auf die willkommen Form n n Pa. ivität fügen id1 di.eser Reihe
Erweiterung de Radiu einer ei eDen Handlun cn achten, an: In nenn an :r' ter teUe das i h- rpre en-Las cn -
es ist zugleich gehalten. seine Zu tän.di k il für . Behandlun- etwa dur.eh die v n Marx: herau arbeitete Dimension der
gen« durch andere auszubauen. unvorteilhaft n Ar i't erträ e, an denen der Mehrwert-
Warum dies in einer modemi: ierten Welt nicht anders sein theoretik·e r den Tatb tand ,. Au beutun « ablesen wollte:
kann. ist völlig plausibel. Die Einzdnen sind nicht nur außer- worau im übrig n herv rgeht, daß Ausbeutung, sobald sie
stande, die ganze Arbeit der Weltveränderung auf si.ch ZU chronisch wird, ni hr ohne eine ewis e Bereitschaft der
nehmen, sie vermögen nicht einmal alle zu ihrer persönli- passi n Seite zu lande k mmt. Zul tZt i t da Sich-Betrü-
chen Optimierung Nötige :in eigener Regie hervorzubringen. gen-Las eo anzuführen: E wird in La en aktuell, in denen
Indem sie sich den Effekten des Handelnkö nn n anderer da Subjekt einen B darf an elhsrtäu chung nicht mit eige-
aussetzen. eignen sie sich eine orm on Pa sivität an, die nen Mittel.n d ken kann und sich, um in seinem Begehren
eine umwegige bzw. aufge chobene Wei e on Ei entärigkeit nicht nachzu eb n, an in n au gewie enen IUusionenanbie-
impliziert. Die erweiterte Pa ivitätSk mpel nz der M der- ter wendet, der da Benöti te bereitstellt.
nen äußert sich durch die Bereitschaft zum Sich- peneren- Wa= auch immer da Subjekt mit ich machen läßt: Es
Lassen im eigenen Interes e. eignet sich die .. Behandlun en nicht nur nachträgli.ch an,
es gehtau:s i. nen tü ken auf si zu und integriert, was
Feld der Übungen und der renexiven Praktiken v n den na.iven mit ihm getan wird in da wa es selbst mit sich tut. Sartres
Überpolitisierungen wcgzuriicken, die den gängig n F rmen der ermattete W ndung, e komme darauf an, etwas aus dem zu
Rede von .. Siopolirik .. zugrunde liegen. Zuglei h läßt i h 0 die machen, wa mir un gemacht wurde, ist aus dieser P,erspek-
Kritik an FoucauJrs späten Arbeiten au feminist.i her Perspek-
tive al eine einäugige Fassung der Passiv-Aktiv-Verschrän-
tive abwehren, die sich auf seine miß m ändli he Begriff. wahl
bezieht, ohne auf die für beide Ge chlechter em:lOzipatori he kung zu durch hauen. Wie bekannt setzte Sartre stets den
Perspektive seiner Arbeit zu acbten - Bei pi ele: Lin FomaJl Akzent auf den Akt der Selbstaneignung, die der bisherigen
Pandora Unbound: A Feminist Critique of Foucauks Hi tory Einwill.igun in die Fremdb stimmheit ein Ende bereitet. Mit
of Sexuaüty; sowie: Amy Richlin, Foucaults History of e ualit ' :
ihm reißt ich da Subjekt von seinem Objekt-Sein für andere
A Useful Tbeory for Women?; beide in : David H . J. Lannour
Paul Allen Miller, Charles Platter (cd.), Rethinking e ualiry; los und akruali ierto seine Freiheit; zugleich hebt es die
Foucault and c1a sicaJ anriquity, Princeton 199 -. eigen Unaufri hei k il" auf, au welcher es vorgab., ein ohn-
59 2 1I Imaut 593
mächti e Erw zu ein: Wer in n zu ein werks al Paradi ma ioer li ti -freiwilligen bjektwerdung
behauptet, hat ur prün Li h i h elb r betr n. Un h er für den anderen bcrv r k hn 10 - literarisch lanzvol1,
erkennt man wi hj r M d 11 d r R 'si tAn auf ie pru- sachli h irrefUhrend. a F ld ig n r Int re en an gekonn-
losophischc Exi tcnzanaJ übcrua n wird - und im Hin- ter Pas i. ität i t ehr iel au d hnter al es der perverse
tergrund der Projekti n zeichn t r der dramati che Kontrakt de L iden u her mir einem angestellten Mi:ß-
Schatten der ranzö i hen Re ol.uci n i h b. Im übri cn handler au drü kt; e i t auch um iele breiter, al man unter
bat diese die Wende zur Veräußerli hun d Wandlungs- dem Blickwinkel der Macht- und Herrschaftskritik zu erfas-
gebots be chleunjgt, weil ihr ambival nr r Au gang die sen vermag. Wenn ich mit ein m Transporrumemehmen ver-
modernen Formen de Radikali mu in Leben rief: Die abrede, mich v n A na h B brin eil zu lassen, nehme i.ch den
Unzufriedenheit mit dem r bnj der R luri n erzeugte mir angebot nen ahrdien tal ein pa sables Leiden in Kauf
das konkrete Verlan en nach ihrer Wi derh lun ; die Unzu- - nur an gewi en Ta en werden Fahrten auf gemieteten Ach-
friedenheit mit den Wiederholun n erzeu te da abstrakte sen wirklich zu masoch:i ti ehen Prüfungen. Suche ich mei-
Verlangen nach ihrer Permanenz. :irrre war luzide enug, nen Arzt auf, b rüße ich in der Regel auch die unangeneh-
um die chronische Unzufried nhett on der äu eren Front men Ullter uchun en, die er mir kraft sein.er sachlichen
an d.ie innere zurilckzuv retz n. Di F I n pre hen für Kompet nz an edeihen läßt; i h umerziehe mich invasiven
sich: Wenn Selb tverwirkJichung al ein fortWährend on Behandlun cn, al täte i 11 ie mir letztlich selbst an. Schalte
neuem zu vollziehender Bru h mit d r Pa i itäl r t Llt ich einen v n mir bc rz.ugt n ender ein akzeptiere ich
wird, greift das Irrlicht der permanenten Re lution auf das nolens volens meine Üb r ehwemmun durch das laufende
Selb tverhälm.is des Einzelnen über - ta ä hli h prach Su- Programm. as W rtspicl McLuhans, wonach message
tre unter Bezug auf Trotzkjj von der wahren irclichkeit aJ gleich massage ci r ibr phil phi eh Sinn, sobald man
einer cDnversion permanente. 102 ie er An atz konnt nur darin eine k mpetente rellungnahme zur .. Frage des Sub-
ein Ergebni zeitigen: die yn hr ne Zerstörun der Politik jekts« im Medi enz. italter erkennt. Sich-Massieren-Lassen
und der Moral. symboli iert die La e 311 derer, die auf sich einwirken, indem
Worauf e in Wahrheit ankommt, i t die fr i Kulti i mng sie anderen rlauben, auf . ie einzuwirken.
der passiven Momente im elb tbezug der Einzelnen, wie si An ämtlichen Fällen von freiwillig esuchter Passivität ist
der auto-operativen Verfaßth it m derner xi tenz ent- unschwer ein Rü kb ziehung der pa iven Momente auf die
spricht. Ich muß hierzu keineswegs die perverse Au nutzung Eigentäti keit na hwei bar. Hierzu gehört, daß diese für die
der leidenden Position, den Ma hi mu , wähl n, ei dem Dauer der Fremdeinwirkung suspendiert wird, ohne ·d aß die
die sexuelle Beziehung in ein Unterwerfungsspiel ein ebetter Aussicht auf ihr Wiederein eezen aufgegeben würde. Damit
wird. Same hat die eo Modu von Sich- perieren- Lassen tritt das Phän mco. auf, das ich hier die autO-operari ve Krüm-
auf eLrugen der eindrucksvollsten Seiten seines frühen Haupt- mung des Handeln in inem stark arbeitsteiligen, besser
kompetenzreili cn und übun teiligen Aktionsraum nenne.
102 Vgl. Jean-Paul Sanre, Entwürfe für eine M ralphil phie. Rein-
bek bei Hamburg 2005. S. 28. An der eiben teUe heißt e : - Die
guten Gewohnheiten: ie ind nie mal gut., w il ie G w hnheiten 10 3 Jean-Paul anre, Da. cin und da Nichts. Ver uch einer phäno-
sind.« m n logi hen mol gic, Reinbek 1990, . 66of.
594 IIJ Die Exerzitien der M em n 595
Aus der Si ht de ubjekt marlciert in Einfü un Ln die k har die Figur ,. Pas-
Krümmung in Hand eln dur h L idenk " nn n. i b deutet biet d r Kun rbetrachtung
nmcht di e Beugun unt rH rr haft, nd rn di - Teilhabe an
Fremdkomp tenz. Führt die erlitt n perau n 2-um ge-
wün hten Er ebni , wird da leid nd ubj · kr der M inung menta einri ht t , die er in~wi eh n zum Vierfach-Konzept
sein, es habe für ich selb t eor 'l, indem e da Ge erz des des Diplornkonsum men, des Dipl mparienren, des Diplom-
Handeln an den perateur abgab. An teile de atz ; "Ich wählers und de ipl mrezipienren fortentwickelte.
nahm mich elb t in di.e Hand « tritt di k mple, re Wen-
dung: Ich gab mich au der Hand, um mich nach erfolgter
Behandlung wieder Ib t in di H nd n hmen zu k " nnen. Im operativen Kr is; Medizi7usche Ge&menheit

Diese Figur einer von Eigentätigkeit unter panmen Pas iVltät Eine der wichtig ren Modifikation on Gelassenheit kommt
wär,e als die für die Modeme kon rirucive Ausprägu ng on ins Spiel wenn das Subjekt einen .. behandelnden« Arzt auf-
»Gelassenheit« zu kennzeichnen, laU län die pietisti- sucht. bw hl die neuere Kultur des Erwas-mit-sich-Ma-
schen Konnotationen des Au druck f rn 2.uhalten. Gela en- ehen-La en - da ich hi,e r als allgemeines Sich-Operieren-
heit meint Pa ivltätskomperenz - ie it die kleine Münze de Lassen bezeichne - di Figur des Klienten verallgemeinert
Können, da größere Pas ionen trä . ie k mmt in irua- hat, trin im mediz.ini chen Feld eine ältere Passivitätsform
tionen zum Zuge, in denen da Subjekt ber ir und ... illen i t, auf, für di 'traditi neU der Au druck ,. Patient« reserviert
d:ie Position eines Klienten einzunehm n um om savoi" ist. Es käme ni hr übern ehend, wenn er im Lauf des 21 .
faire de operanten Partner zu profitieren. i i t daher eher Jahrhunderts au dem okabular des Medizinsystems ver-
ein Modus von KJugh it al da m derne ub rinH für Wei - schwände, um nur n h in k n ervativen Subkulruren zu
heil, das Heide ger in ihr eh n wollt . \"'ir erinn rn un : Der überleben, in denen man die Krankheit als Chance und den
Philosoph hatte .. Gela enheit " empfohlen, damit der om UnfaH al Medium der elb terfahrung hegt. De facto ist auch
eigenen Tunkönnen benommene Men h der M derne ich auf diesem Gebier die Klienti ierung seit längerem im Gange,
erneut der Behandlung durch da S in Ib t au etze. In wozu die Juridi ierun des Arzt-Patient-Verhältnisses nicht
Wahrheit gehört das pa ivität k mpctente Verhalten Zur wenig beiträ t. Glei h ülti jedoch, unter welcher Bezeich-
Spielimetligenz von Menschen in einer endaheten Nerzwelt, nung man die Bez.iehung zwischen dem Arzt und seinem
in der ma,n keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht Gegenüber auffaßt ihr Ern rtall tritt ein, wenn der letztere
zugleich mit sicb spielen läßt. Gela enhcit in die em Sinn ist sich dem er t enannten au Anlaß einer chirurgischen Opera-
untrennbar vom Selbstverständni erfahrener Akt ure., für
die die philosophische Schimäre des Subjekts, das in der Mine r04 Bruno L:n ur !ur hici'3U die K " equertz gezogen, den Gegen-
seiner Handlungskreise residiert, verblaßt i t, be s r: ihren stand d r klas ische" ziologie, die als Assoziation von Subjek-
Gebrauchswert als diensthabende Selbstbes hreibung verl - ten ver landen<: - Gesellschaft «, zu verabschieden und durch
Agcntcn- ctzwcrke zu ersetzen. Vgl. B. L., Eine neue Soziologie
ren hat. An ihre Stelle treten allenthalben Konzepte für pe- für eine neue e eil h;Lft. inführung in die Akteur-Net7 ~' ~--':­
::-:'-ert-operierende Agenten, ,. Prosument n" und B nuu. r The ri e, Frankf-uM am Main .200 .
III I I Im :aulo-operatjv g krümmlen R:aum 597

noo an ert raut. un pri ht m n im k n nci n 11 n inn wendun ei ne L bhni theti um und ein pezialbohrer
vom h- p rier n- L n und m IOt dami t d r Patie nt ~u einer Trepanati n . m i n n hädel ents hloß, angeb-
mü e au rund ein rem t n b reit ein, i h einer hch, um ihre hr ni he Müdi k it zu b käm pf n und eine
invasiven Behandlun au z u lZ n. auf r ärztlichen höhere bene n Bewuß ein zu erlan en.1m übrigen ist aus
Seite d er alte Leit atz artikuliert: v ldn r: ndo namlls. wir der Leben hi h t des indi h n Wei en Ramana Maha.-
beilen, indem wir verletzen, über tzt i h auf d r Pacienten- rshi, I 73 - 195 0, b kannt, daß er i h e en nde seines Le -
eite in di Hp the e: Indem L h . k nnt erlenen bens wegen ein Kr bsge ehwür am Arm mehrere Male
lasse, erwei e ihmein r e ne UD len t. b ehon chirurgi ehen per:lli n n 'Ont rz bei denen er jedesmal
das Gefälle zwi e he n de r R U d Pari nten und d er d die An ä the ie abi hotc und tan de cn auf eine Art von
Operateur hier tief au fälle, b t ht k in Z, ifel damn. yogiseher S h m f" neurrali ierun zurück riff. Für einen Er-
d aß der Patient auf indirekte Wei e mithandclt und damit leuchteten alter hule ~ ar e ffe nsichdic h unzumutbar, ei-
den Tatb tand e Hanclelns im aut . - p raU krümmten ne Bellandlun n a h w di hen M ethoden zu akzeptieren,
Raum rfüllt. die gegen das piriru (J e Axi m terier Wa hheit verstößt.
Die Krümmung rundet i h z um k mpletten Krei , wenn In der Regel wei t die auto-operati e Riickbezienung auf
der Operateur der peri erte i t - eine ehene Au nahme, di.e sich selb e, kraft w I her da ubj k t techni ehe Modifikatio-
jedoch medizinge ehichtli h me hrfach bele ti t. E in heraus- nen seine K ·· rp r duldet, ine fl ach re Krümmung auf. Sie
ragende . Bei piel biet [ der A n.t L. R z der wä hrend artikulie rt i h etwa it dem I . Jahrhundert in dem exten-
e:ine Aufe nthalts auf der ru i ehe n F r hung tan n No- siven Gebau h, den uf klärt uropäer von Stimulantien
walazarew kaya Ln der Antarkti 1961 zu einer lb t p ra- machen. teigert sich eit dem .zo. Jahr-
tion am Blinddarm ezwun en war. in be kannte Ph to hundert bi z um ma i n in atz n Dopingmitteln in allen
zeigt ihn, wie er im Habit eine Chirurgn mit At m hutz - möglichen i z iplinen. In welchem Maß Autoren wie Vol-
ma ke auf ei n m Ti h li gt, ind e n er i h die re hte untere taire und Balza von K ffei n abhängi waren, i t bekannt;
Bauchdecke eöHnet hat. N eh auf ehenerre ender war der wieviel i mund F reud einem Nikotinismus verdankte,
Fall de amerikani hen Bergxig r Ar n Ral t n, der eine ebenso. In w I h . xtr me artre Pendeln zwischen Alko-
spektakuläre Selbstamputation durchführt: Nach einem U n- bolismu und Amp!' ta mini mu führte, ist den Kennern sei-
fall während einer Bergwanderun in Utah im April Z003, bei ner späteren Karriere g leichfa ll kein Geheimnis. In diesen
dem sein rechter Arm von einem herabgefallenen Felsen ein- Fällen kam off n i htlieh immer darauf an, was die Stimu-
geklemmt wurde, beschloß er nach fünf Tagen vergeblicher lierten au dem ma hten wa die Stimulatien aus ihnen ge-
Befrejungsversuehe, sich die Unterarmknoehen z u brechen macht hatten. artre Amp!'er.aminsucht war nicht ohne lro-
und das Fleisch mjt einem rumpfen Ta ehenme er zu ~ie, weil ie ihn v n eine m Mittel abhängig werden ließ, das
durchtrennen; später reiste er al Ref rent um. d ie W It und Ihm das G fühl ·· lIi ge r Unabhängigkeit geben sollte.
berichtete vor vollen Sälen von dem un ew ··hnli hen Akt
seiner Sorge um sich. Zu mediale r Aufmerk amkeit bra hte
es im Jahr .zooo auch die damal 2:9iährigc briti e he Per-
~ormance-KünstLerin Heathe r Perry,. al ie i h unter V r-
III 11 im auto-opcruiv c:krümmlcn Raum 599

an n i t, hat die an-


Oktoberrevolution: Di Äcbemarkose rne radikal r verändert
t h-
Seit der Mitte de 19. Jahrhunderts kommt b i chirurgischen xp flmenLe
perationen die Anästhe ie hinzu, hne die da i h-Operie- ersu he ge-
ren-Las en im engeren W rt inn heute oi ht mehr zu denken inb riffen.
ist.. Mit ihrem Er cheinen auf der Bühne ärz.tli her pnonen rgebli he . S mbol des Despotis-
verbindet sich eine der tief ten Modifikationen des Selbsrver- mus« um ehend ab cri cn \ urd (der ,. Patriot« Palloy, ein
hältnis e von Men hen in m derner Zeit. W nn je da WOrt gei tes e enwärti r B uurw: rnehm r, d r unmittelbar nach
,. Re olution « in bezu auf eine te hnisch Innovation legitim der Einnahme der Fe tun mit Abbrucharbeitern an erückt
gebraucht wurde, dann für die Wiedereinführung d r Vollnar- war, hat an bl ich h n am 16. Juli den offiziellen Auftrag
ko e. Sie wurde er tmal am r6. kteber I 46 in inem De- zur Demolierun cle ·bällde erhalten) haben die ameri-
monstrationsraum de Ma achus em General H spital bei kani ehen Ärz.te den hauplatz de Aufstands gegen die
der Entfernung einer Hals-Ge hwul t de Patienten Gilbert Desp ti e de pi tärv 11 bewahrt. Den Ether Dome
Abbot erfolgr ich durchgeführt, wobei ein eigen für diesen im Ma achu er CI1 ral pital kann man noch heute im
Anlaß konstruierter ku eiförmiger Äther- lnhalatOr zum Ein- Originalzu tand besi hagen. in Gemälde von Robert
satz gelangte. nie Operation vollzog ich im Bei ein der ärzt- Hinckle aus dem Jahr 1 2 hält die Szene fest. Die Nach-
llchen Prominenz 'Von Ba ton eines durchaus skeptischen richt aus Amerika elan te in nahezu zwan.zig voneinander
Publikums, nachdem ein ähnlicher er uch mit Lachgas an unabhän i eo. Min ilun cn. per hiffspost binnen weniger
gleicher Stelle v r dem cl ben Auditorium in Jahr zuv rf hl- Ta e in die Alt \'q'elt. Di cur päi h n Ärzte rezipierten sie
ge cblagen war. AI William Morton, der Konstrukteur der fast durchg he nd b i tert, ja b rüßtcn ie wie eine säku-
Ätherkugel, den Patienten dazu gebra ht harte eini e tiefe lare Frohe B t haft und ahmt n ie mit durch d!lagendem
Atemzüge aus ihr z.u nehmen, führt der Chirurg, Dr. Warren, Erfol nach - nur ein Grupp v 11 keptikern und algophilen
den Eingriff in knapp drei Minut n (vor der Rü kkehr der Traditionali tcn, die den chmerz als Teil der conditio huma-
Operateure zur ollnarkose war Schnelligkeit. die eele der na verteidi gten, weigerte ich zunächst, die neue Methode der
Chirurgie) b i v" Uiger Schmerzlo igkeit de Patienten durch .. Schmerz.au chaltun in Betracht zu ziehen. Bei der großen
Warren soll sich nach Beendigung der emonstration an die Mehrheit breitete i h eine Nachahmungswelle aus, die nicht
Anwesenden gewendet haben mit deo W rt 0: Gentlemen, auf rnimeli h r Rivalität beruhte, ondern auf einem seit
this is no humbug. Durch das größte Understatement der Me- langem empfundenen Bedürfni nach Erlösung von einem
dlzingeschichte wurde dje stärkste neo-evangelis he Bot- epochalen Übel.
schaft übermittelt. 105 Der 16. ktober I 46 ist da Schlüsseldatum in der Ge-
Dieser 14. Juli der Chirurgie, der unter dem amen ether schichte de perablen Men ehen: Der Radius des Sich-Ope-
rieren-Lassen durch Chirur en hat aufgrund der wiederge-
lOS [\lustrierte Ge chichte der Anä the ie, h rau gegebe n v n Lud- fundenen M " li hkeiten de ich-Anästhetisieren-Lasse ns
wig Brandt und 7.ahlreichen Mil.arb itern. run art I 7, . 6). seither ein -n rme Au. weirung erfahren. Infolge der Ent-
600 III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum 601

wicklung neuer Narkosemittel wie Evipan (1932) oder Pro- rückzutreten und sich ganz in die Position eines bewußtlosen
pofol (1977) sowie hochwirksamer Opiumderivate stehen der An-Sich zu begeben. Es willigt nicht allein in die Verletzung im
professionalisierten Anästhesie seit geraumer Zeit auch effi- eigenen Interesse ein - Voraussetzung jeglichen Sich-Operie-
ziente Kurznarkotika zur Verfügung, die eine nennenswerte ren-Lassens im engeren Wortsinn - , es bejaht zusätzlich die
Reduktion der Aufwachzeit gestatten; die Tiefe der Narkose künstliche Ohnmacht um eines eigenen Vorteils willen. Be-
ist dank intensiver Forschung ebenfalls fast vollkommen be- denkenswert ist dieser Sachverhalt, weil mit ihm eine bis dahin
herrschbar geworden; die ständige Verbesserung der appara- undenkbare These explizit statuiert wird: daß dem Menschen
tiven Unterstützung trägt das übrige zur Optimierung der nicht mehr jeder Zustand wachen In-der-Welt-Seins zuzumu-
Anästhesie bei. ten ist. Erwähnenswert scheint in diesem Kontext der Hinweis,
Von wiedergefundenen Möglichkeiten muß gesprochen wonach vor der Durchsetzung des Ausdrucks» Anästhesie« im
werden, weil die europäische Medizin zwischen 1490 und frühen 19. Jahrhundert gelegentlich die Formel suspended ani-
18 4 6 die anästhetischen Techniken der Antike und des Mittel- mation benutzt wurde. Sie brachte den Grundgedanken der
alters, insbesondere die vormals gut bekannten und häufig Vollnarkose besser zum Ausdruck: die Befreiung des Patienten
eingesetzten »Schlaf-Schwämme« auf der Basis von hoch- von der Pflicht zur »animierten« Passion.
wirksamen Pflanzenextrakten aus Schlafmohn, Bilsenkraut, Es gibt seit dem Oktober 1846 gewissermaßen ein Men-
Alraune und Schierling so gut wie restlos vergessen hatte. schenrecht auf Ohnmacht - ein Recht auf Nicht-Dabei-
Diese noch immer kaum erklärliche Amnesie war mitprägend Sein-Müssen in gewissen Extremsituationen der eigenen psy-
für die Härte des Realitätsklimas während der gesamten Neu- chophysischen Existenz. Die Beanspruchung dieses Rechts
zeit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts - in dieser Epoche war durch eine Mode-Geste des späten 18. und frühen 19.
waren chirurgische Operationen fast immer Torturen und für Jahrhunderts vorbereitet worden: das sprichwörtliche In-
die Patienten mit Agonien gleichbedeutend. Ohnmacht-Fallen bei Übererregung, das besonders sensiblen
Personen, namentlich solchen weiblichen Geschlechts, als
Zeichen kultivierter Schwäche zugestanden wurde und das
Vom Menschenrecht auf Ohnmacht in den hysterischen Symptombildern des späteren 19. Jahr-
hunderts ein blühendes Nachleben führte. Überdies hatten
Unter philosophischen Gesichtspunkten markiert die Wieder- die nach 1785 europaweit rezipierten Praktiken des animali-
einführung der vollständigen Anästhesie einen Einschnitt in schen Magnetismus und des künstlichen Somnambulismus,
die Selbstverhältnisse moderner Menschen. Dies gilt nicht beides Vorformen der ab 1840 so genannten Hypnose, das
nur, weil die Einstellung des zeitgenössischen Subjekts zu sei- Nötige getan, um moderne Subjekte mit den Vorteilen der
ner Physis und deren Operabilität schlechterdings nicht mehr »suspendierten Animation« vertraut zu machen. Diese Tech-
zu begreifen ist, solange man nicht die neue Möglichkeit seiner niken, die seit dem späten 18. Jahrhundert unter dem Namen
Einwilligung in die Ausschaltung seiner Schmerzempfindlich- Mesmerismus geläufig waren - im übrigen auch im Rahmen
keit in Rechnung stellt. Da mit dieser zugleich oft auch das von Gesellschafts- und Varietebelustigungen -, dienten den
Selbstbewußtsein ausgelöscht wird, eröffnet sich dem Subjekt Ärzten nach 1800 gelegentlich als Vorläufer der chemischen
die dramatische Wahl, von seinem Für-sieh-Sein zeitweilig zu- Narkose. Von den Romantikern und den deutschen IdealisteI'.
602 III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto -operativ gekrümmten Raum

wurde der Mesmerismus intensiv rezipiert, weil er als Königs-


weg ins Jenseits des Tagesbewußtseins gedeutet werden konn- Revolutionäre Ungelassenheit
lo6
te, gleichsam als eine Art von experimenteller Theologie.
Das Spiel mit der artifiziellen Ohnmacht kulminierte in Neben der subjektiven Aneignung des technischen und so-
den dreißiger Jahren des 19. JahrhundertS, als Lachgas in zialen FortSchritts im Rahmen der Gelassenheitskultur bzw.
der britischen Oberschicht zur Party-Droge wurde. Zur sel- des Systems der bedingten Passivitäten bringt die Moderne
ben Zeit konnten elegante Opium-Esser und gebildete Nar- eine Kultur der Ungelassenheit hervor, die auf dem erklärten
komanen sicher sein, ihre Bekenntnisse würden von einer an Unwillen basiert, die Ergebnisse des langsamen Fortschritts
Betäubungen aller Art interessierten Öffentlichkeit aufmerk- abzuwarten. Sie schließt ein tiefes Mißtrauen gegen die mei-
sam gelesen. Noch zwei Generationen später fanden die Pro- sten Formen des Etwas-mit-sich-Geschehen-Lassens ein. Re-
pagandisten der 1875 gegründeten Theosophischen Gesell- gelmäßig kommt hier das herrschaftskritische Motiv ins
schaft, Helena Blavatsky, 1833-1891, Annie Besant, 18 47- Spiel, wonach Macht und Machtmißbrauch Synonyme sind.
1933, und Charles Leadbeater, 1847-1934, die mit präzisem In Ungelassenheit und allgemeiner Passivitätsverweigerung
Gespür für geistige Marktverhältnisse europäische Mystizis- wurzeln die Extremismen, die seit dem 19. Jahrhundert in
men mit indischen Psychotechniken vermischten, ein Publi- Westeuropa und Rußland um sich griffen und in die "Revo-
kum vor, das mehr denn je nach Unterweisungen in der Kunst lutionen« des 20. Jahrhunderts mündeten.
der Selbstaufgabe im Dienst des Selbst verlangte. Der medizinische Fortschritt dagegen ordnete sich dem
In all diesen Formen von bedingter Selbstaufgabe wurden Allmählichkeitsmodell der bürgerlichen Aufklärung ein.
typisch moderne Techniken zur Erweiterung der Passivitäts- Diese lehrte ihre Adepten, jede erreichte Verbesserung als
kompetenz eingeübt, gewiß nicht immer in ich-stärkender Ausgangsstufe für weitere Optimierungen anzusehen - das
Perspektive. Bei der medizinisch indizierten Vollnarkose galt nicht zuletzt für die anästhesiegestützte Chirurgie, die
kommt das Element der auto-operativen Krümmung am trotz ihres großen Sprungs nach vorn um die Mitte des
klarsten zum Vorschein, da bei ihr ein Grenzfall des vorüber- 19. Jahrhunderts insgesamt eine Angelegenheit des kumula-
gehenden Nicht-Selbst-Seins im Dienst des Selbst-Seins vor- tiven Könnenswachstums auf der Linie fortschrittlicher Mä-
liegt. Mit ihr ist eine liminale Zone bezeichnet, die nur durch ßigung blieb.
das künstliche Koma in noch weiter selbstferne Gebiete ge- Mit dem Zugleich von Optimismus und Realismus im
rückt werden kann - vorausgesetzt, die Aussicht auf eine Standard konzept des Fortschritts war eine anspruchsvolle
kontrollierte Rückkehr ins Wachleben ist gewährt. Die Ein- Kultivierung der Zeitgefühle verbunden: Zu jedem Moment
willigung in die »suspendierte Animation« dieses Typs meint sollte die Genugtuung über das Erreichte der Ungeduld ange-
lo7
Gelassenheit auf der letztmöglichen Stufe. sichts des noch zu Vollbringenden die Waage halten; jedes
Schon-Mögliche mußte von der Aussicht auf das Noch-
106 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen. Mikrosphärologie, Nicht-Machbare relativiert werden. Die Teilnahme an dem
Frankfurt am Main 1998, Kapitel 3; Menschen im Zauberkreis.
Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination, S. 202-268.
107 Nur im Rahmen der Science-Fiction-Literatur wird auch über Materie in Energie umwandeln lassen, um sich dank Beaming :;.=-_
diese hinausgegangen, etwa wenn sich menschliche Akteure von andere Orte des Universums zu projizieren.
III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

»großen Werk der Hebung der Menschheit« war ohne ein »Produktivkräfte« zugunsten der Arbeiter, zumeist sorglos
ständiges Gedulds- und Ungeduldstraining nicht zu erlangen. mit dem >>Volk« gleichgesetzt, unmöglich mache. Weite Re-
Beide Haltungen beruhten auf der stillschweigenden Voraus- sonanz fand auch die anarchistische Parole, die Verhinderer
setzung, der Weg zu weiterer Zivilisierung sei selbst eine seien an erster Stelle unter den Repräsentanten des Staates
zivilisierte Reise. und seines notorischen Alliierten, der Kirche, zu suchen,
Den U ngelassenen der Moderne ist die Demonstration zu weswegen allein direkte Gewalt gegen beide die notwendige
verdanken, was geschehen kann, wenn diese Voraussetzung Destabilisierung der Verhältnisse bewirken könne. Nur tote
verneint wird. Die Anhänger extremistischer Positionen ver- Seelen lassen sich auf das Prinzip des allmählichen Fort-
weigerten sich der Balance-Übung zwischen Geduld und schritts ein. Wer moralisch noch am Leben ist, hört auf die
Ungeduld und votierten für radikale Beschleunigung. Nach Stimmen, die hier und jetzt von der Unerträglichkeit der Zu-
ihnen liegt die Wahrheit in der Unausgewogenheit: Das Gute stände Zeugnis geben. Von ihnen erhält der Revoltierende das
ist für sie einseitig und parteilich. Niemals von seiner U nge- Mandat zum sofortigen Umsturz. Unvergeßlich hat der junge
duld ablassen, lautet das Axiom des Begehrens, das sich der Marx den kategorischen Imperativ der Revolution formu-
Radikalität verschreibt. Der einzig respektable Fortschritt - liert: Es ist die absolute Pflicht des Aktivisten, »alle Verhält-
der die soziale Frage von der Wurzel her lösen würde - nisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
kommt den Vertretern des Extremen zufolge nicht allmäh- geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« . 108
lich, er muß einen plötzlichen und unversöhnlichen Bruch
mit dem gewohnten Gang der Dinge darstellen. Er ist kein
zusätzlicher Schritt auf einem vorgegebenen Weg - eher die Radikale M etanaia als der Wille zum Umsturz
wilde Fahrt in ungebahntem Gelände. Die Revolution baut
sich ihre Straßen selbst in die von ihr festgelegte Richtung. In Wirklichkeit war die Zurückweisung des AlImählichkeits-
Kein Zubringer aus der Vergangenheit kann vorgeben, wohin modells der Standardaufklärung, dem ebenso die Liberalen
sie sich bewegen soll. Bei der Eroberung des Unwahrschein- des 19. und 20. Jahrhunderts wie die Sozialdemokratie und
lichen sind Realisten von gestern als Routenplaner fehl am die Christliche Demokratie anhängen, in keiner Weise allein
Platz. durch den Druck sozialer Notstände zu erklären. Sie erfolgte
Die Anhänger solcher Vorstellungen stützen sich auf den aufgrund einer moralischen Option, die ihrer eigenen Logik
Einwand, man dürfe dem Schein der notwendigen Allmäh- nach den Bruch mit dem Gegebenen fordert. Diese Wahl
lichkeit des Fortschritts keinen Glauben schenken. Denn hin- bildet die politische Fortsetzung der ursprünglichen ethi-
ter ihm verbirgt sich die schuldhafte Verlangsamung der Ent- schen U merscheidung zwischen dem Eigenen und dem
wicklung durch eine Klasse von herrschenden Verhinderern, Nicht-Eigenen, wie sie seit den Anfängen der asketischen
die insgeheim fest entschlossen ist, das Volk bis zum Jüngsten Sezession getroffen wird. Die wesentliche Nuance zeigt sich
Tag warten zu lassen. Sie sagen Fortschritt und meinen die darin, daß jetzt alles, was als nicht-eigen aufgefaßt werden
Verewigung des status qua. Man kennt die These am besten in
ihrer marxistischen Version, wonach es allein die »Profitgier«
108 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosphie, MEW
der Kapitaleigner sei, die die allgemeine Freisetzung der Band I, Berlin 1973, S. 385.
606 111 Die Exerzitien der Modernen I [ Im auto-operativ ge krümmten Raum

soll, der Vergangenheit zugerechnet wird, während das Eige- Welt, sprich: die gegebene »Gesellschafts«ordnung, werde
ne ausschließlich in der Zukunft liegt. Die ethische Unter- solange unverbesserlich bleiben, wie ihre basalen Konstruk-
scheidung wird temporalisiert und spaltet die Welt in ver- tionsfehler, die Klassenherrschaft und die ungleiche Vertei-
worfenes Vergangenes und begrüß bares Zukünftiges. Im lung der materiellen und immateriallen Reichtümer, nicht
Heutigen und Kontinuierlichen liegt keine Hoffnung - das behoben sind. Darum muß die Welt des »Bestehenden« nicht
gilt für die antike Weltflucht wie die moderne Entwertung progressiv verbessert, sondern revolutionär vernichtet wer-
aller alten Regime. Seit aber die Ontologie des fertigen Seien- den. Unter Zuhilfenahme wiederverwendbarer Elemente der
den preisgegeben und das Werden einer »anderen Welt« zu- alten Konstruktion kann nach dem großen Bruch der Neubau
nehmend plausibel, ja als unvermeidlich erwiesen wurde, aus dem Geist der Gleichheit vor den »Errungenschaften«
empfiehlt sich die Zukunft als die Heimat derer, die von neu- beginnen - den schon erreichten wie den noch zu erreichen-
em die große ethische Unterscheidung treffen. den. Der gewöhnliche Progressismus ist zurückzuweisen,
Deswegen wird es verwerflich, die Herstellung befriedi- damit die guten Absichten, die ihm zugrunde liegen, zum
gender Verhältnisse auf den flachen Steigungswegen der bür- Tragen kommen. Ein für allemal scheint die Naivität der Pro-
gerlichen Weltverbesserung erreichen zu wollen. Wer diesen gressiven durchschaut: Sie meinen bona fide, der Sache der
Weg wählt, hat sich im Grunde schon dafür entschieden, alles Freiheit einen Dienst zu tun, wenn sie für kontrollierte kleine
beim alten zu belassen, mögen noch so viele Verbesserungen Schritte votieren. In Wahrheit verbünden sie sich mit der
im Detail den Anschein erwecken, die Bejahbarkeit der Ver- Quintessenz des Schlechten - mit den Verhältnissen, die auf
hältnisse sei im Zunehmen begriffen. In Wirklichkeit bleibt dem Privateigentum an Weltverbesserungsmitteln beruhen.
der Primat der Vergangenheit in Kraft, solange im Verhältnis Der Gedanke, daß das Eigentum das Mittel zu allen Mit-
zwischen der Vertikalen und der Horizontalen die letztere teln darstellt, ist unter den neuen Radikalen ausgeschlossen.
Dimension dominiert. Woran es der Welt mangelt, sind nicht Das tief eingewurzelte Ressentiment gegen das Privateigen-
Leute, die bereit sind, Fortschritte in der Ebene mitzuma- tum, ja gegen alles Private, blockiert die Konklusion, die sich
chen. Was sie braucht, sind Menschen, in denen der Sinn bei jeder unvoreingenommenen Untersuchung der reichtum-
für die Senkrechte neu erwacht. Einer der profiliertesten Au- erzeugenden und freiheitsbegünstigenden Mechanismen auf-
toren des biopolitischen Utopismus in der frühen Sowjet- drängt: Die effektive Weltverbesserung würde die möglichst
union, der Dichter Alexander Svjatogor, 1889 - nach 1937, generelle Vereigentümerung verlangen. Statt dessen begei-
hatte wenige Jahre vor der Oktoberrevolution eine Gruppe sterten sich die politischen Metanoetiker für die allgemeine
gegründet, zu deren Programm die Abschaffung des Todes, Enteignung - hierin den christlichen Ordensgründern ver-
die wissenschaftlich betriebene Auferstehung der Toten und wandt, die alles gemeinsam und nichts für sich besitzen woll-
die technische Herrschaft über den Kosmos gehörte: Die ten. Ihnen blieb die wichtigste Einsicht in die Dynamik der
Gruppe trug den Namen »die Vertikalisten«. ökonomischen Modernisierung unzugänglich: Das durch
Nur wer die Idee der Weltverbesserung völlig ernst nimmt, Beleihung von Eigentum geschaffene Geld ist das universale
stößt zu der Auffassung vor, daß Weltverbesserung nicht ge- Weltverbesserungsmittel. Erst recht will ihnen nicht ein-
nügt. Die Identifikation mit dem Prinzip der nach außen ge- leuchten, daß bis auf weiteres nur der moderne Steuerstaat,
wendeten Metanoia treibt die Einsicht hervor, die bestehende der anonyme Hyper-Milliardär, als allgemeiner Weltver-
608 III Die Exerzitien der Modernen 111m auto-operativ gekrümmten Raum

besserer fungieren kann, gewiß in Allianz mit den lokalen erinnere an Arthur Koestlers Aufsatz Der Yogi und der Kom-
Melioristen - nicht allein aufgrund seiner traditionellen missar, der 1942, im Herz der Finsternis Europas, erschien
Schulmacht, sondern vor allem dank seiner im Lauf des und 1945 einem weltweit beachteten Band mit Aufsätzen zur
20. Jahrhunderts bis ins Unglaubliche angewachsenen Um- moralischen Situation der Zeit den Titel gab. 11o
verteilungsmacht. Der aktuelle Steuerstaat seinerseits hat nur
Bestand, solange er sich auf eine Eigentumswirtschaft stützt,
deren Akteure es widerstandslos akzeptieren, wenn ihnen Politischer Vertikalismus: Der Neue Mensch
durch die sehr sichtbare Hand des Fiskus Jahr für Jahr die
Hälfte des Gesamtprodukts zugunsten von Gemeinschafts- Der >>Vertikalismus« konnte also bei seinem Wiederauftau-
aufgaben abgenommen wird. Was die Ungelassenen am we- chen am Vorabend der Russischen Revolution nicht mehr
nigsten verstehen, ist die schlichte Gegebenheit, daß bei seine ursprüngliche Form annehmen, in der er ausschließlich
Staatsquoten um 50 Prozent der Tatbestand des real existie- eine Sache der Einzelnen gewesen war. Seit den Anfängen der
renden liberal-fiskalischen Semi-Sozialismus erfüllt ist, ethischen Sezession hatte es allein an ihnen gelegen, das Un-
gleichgültig, unter welchem Etikett dieser Zustand an den mögliche zu erzwingen und sich durch unermüdliche Askese
Mann gebracht wird, ob er New Deal heißt oder »soziale zu Weisen, zu Gottmenschen, zu neuen Menschen umzu-
Marktwirtschaft« oder »Neoliberalismus«.lo9 Was dem Sy- schaffen - allenfalls in Gemeinschaft mit Gleichentschlosse-
stem zur Vollendung fehlt, ist die Etablierung einer weltweit nen. Selbst die Weisen auf dem Thron, Antoninus Pius und
homogenisierten Steuersphäre und die längst überfällige Marc Aurel im Westen, Milinda und Ashoka im Osten, ver-
Vereigentümerung der armen Welt. fielen keine Sekunde auf die Vorstellung, ihre individuelle
philosophische Metanoia zu einer Staatsmetanoia, einer Um-
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Anfänge einer kehr für alle, auszuweiten. Auch Paulus, dessen Botschaft
Geschichte der ethischen Differenz erkennt man unmittelbar, vom Ende der Todeswelt scheinbar an alle gerichtet war,
wie in ihr durch die offensive Artikulation der kommunisti- sprach in Wahrheit nur zu den wenigen, die aus Sorge um
schen und anarchistischen Radikalität ein neues Kapitel auf- ihr Heil imstande wären, vor dem nahen Ende ins Lager
geschlagen wurde. Es handelt vom Durchbruch des metanoe- der Geretteten überzutreten.
tischen Imperativs in die politische Dimension. Seine steilste Bei seinem Durchgang durch das Immanenzzeitalter ist
Ausprägung schließt sich mit der stärksten Tendenz zur äu- aus dem absoluten Imperativ das Gebot geworden: »Du mußt
ßeren Anwendung zusammen. Darum war das 20. Jahrhun- die Welt verändern, und zwar bis in die letzten Elemente ihrer
dert das Zeitalter der »Kommissare«, die an die Veränderung Konstruktion und unter Einbeziehung aller.« Wer dieses Ge-
der Welt mit äußerlichen und äußersten Mitteln glauben - ich bot als bloße ständige Progression - durch die Synergie von
Schule, Markt und Technik - verwirklichen wollte, wäre von
109 Man kann demnach Friedrich August von Hayeks antisozia- Anfang an der gefährli-chsten aller Versuchungen erlegen. Er
listische Argumente aus Der Weg in die Knechtschaft (zuerst
englisch 1944) konstruktiv aufnehmen und sie für eine positive
Strukturdiagnose über den modernen Sozial- und Therapiestaat 110 Arthur Koestler, Der Yogi und der Kommissar. Auseinanderse:-
einsetzen. zungen, Frankfurt am Main 1974, S. 11-22.
610 III Die Exerzitien der Modernen 11 Im auto-operativ gekrümmten Raum 6II

hätte dem Sirenengesang der Bourgeoisie nachgegeben, den durch der alte Mensch ist - durchdrungen von den Erb-
Weg der Anpassung zu wählen, auf dem unter dem Anschein ungerechtigkeiten der gesamten Menschheitsgeschichte, an-
stetiger Verbesserung die alten Grundstellungen beibehalten gefüllt von den inneren Sedimenten der Klassengesellschaf-
werden. Der Revolutionär jedoch läßt sich wie Odysseus am ten, verdorben durch die Fehldressuren aller vergangenen
Mastbaum festbinden. Unbeirrt fährt er durch die ambivalen- Geschlechter, pervertiert und verzerrt bis in die intimsten
ten Zonen, in denen liberale und sozialdemokratische Töne Regungen seiner Sexualität, seines Geschmacks und seiner
locken. Je besser er weiß, worauf er verzichtet, desto kaltblü- alltäglichen Kommunikationsformen. Er bleibt der alte
tiger widmet er sich seiner Mission. Mensch auch insofern, als er bis auf weiteres zur Brüderlich-
Die große Wende ist demnach allein durch eine kategori- keit unfähig ist - vor allem weil er nach wie vor als Opfer
sche Lossagung vom Gestaltungsprinzip der alten Welt zu eines verzerrten Lebensinstinkts existiert oder, wie Trotzkij
vollbringen: die entschiedene Abkehr von der Spaltung der schrieb, »einer verklemmten, krankhaften und hysterischen
Menschheit in Privilegierte und Nicht-Privilegierte, in Ha- Angst vor dem Tode«, J I J der tiefsten Quelle der U nsolidari-
bende und Nicht-Habende, in Wissende und Nicht-Wissen- tät unter den Sterblichen. Der einzige Unterschied zwischen
de, in Herrschende und Beherrschte. Diese Neufassung des dem Revolutionär und dem alten Menschen besteht darin,
metanoetischen Imperativs wirkt unmittelbar auf den Agen- daß der erste begriffen hat, wie es mit ihm und den anderen
ten, der sich ihm unterwirft, zurück: Sie verlangt von ihm beschaffen ist, während die übrigen entweder sprachlos lei-
nicht weniger, als sich von seinem alten Leben zu trennen den oder sich einer der zahllosen Selbsttäuschungen hinge-
und sich in den Revolutionär zu verwandeln. Dies kann nicht ben, die die historische Menschheit entwickelt hat, um sich an
leisten, wer sich damit begnügt, eine Partei zu wählen, die ihre Lage zu akkommodieren.
lauthals Revoluzzer-Parolen verkündet; erst recht nicht, Die Wahl einer Existenz in der Revolution schließt Ver-
wer meint, es genüge, klammheimliche Freude zu empfinden, stummen wie Akkomodierung aus. Weil sie den schweren
wenn die bürgerlichen Medien von blutigen Akten »revolu- Weg bevorzugt, ist sie der Zuflucht eines Adepten zum Dhar-
tionärer Gewalt« berichten. Die Revolution verlangt eine in- mapfad oder dem Eintritt eines Novizen in einen christlichen
tegrale Disziplin, die an absorbierender Energie den großen Orden vergleichbar. Mag sein, daß die Elite der Leninschen
Askesen der Antike und des Mittelalters in nichts nach- Berufsrevolutionäre diese Analogie zumindest in idealtypi-
steht. scher Perspektive rechtfertigte. Schwer fällt jedoch der Un-
Vor allem ist das Revolutionär-Werden keine bloße Ent- terschied ins Gewicht: Für diese Aktivisten gab es zu keiner
schlußsache: Man kann sich nicht von einem Tag auf den an- Zeit eine verbindliche Ordensregel, wenn man von dem
deren in den Menschen der Zukunft transformieren. Der abstrakten Imperativ der totalen Selbstinstrumentalisierung
Neue Mensch ist für sich selbst ein großes Noch-Nicht, auch absieht; noch schwerer wiegt, daß alle ethischen Instanzen,
wenn die fiebrigsten Antizipationen ihn herbeiziehen. Dar- seien sie weltlich oder überweltlich, die imstande gewesen
um ist der Eintritt in den revolutionären Prozeß zunächst nur wären, den Gang der Revolution unter allgemeingültigen Ge-
der Anfang einer langwierigen Selbstentäußerung. Wer für
die Revolution als neue Form von Angehörigkeit optiert I II Leo Trotzkij, Literatur und Revolution (zuerst 1924), BeL :: : ;:~S.
hat, muß als erstes zugeben, daß er selbst noch durch und S. 21 4·

I
~
612 III Die Exerzitien der Modernen 111m auto-operativ gekrümmten Raum

sichtspunkten ZU beurteilen, in ihrem Machtbereich außer als Gott oder Stalin will, sollte er auch meine Verdammnis
Kraft gesetzt wurden. Die real geschehende Revolution for- wollen. 112
derte für sich die ethische Souveränität und immunisierte sich
hierdurch gegen jedes äußere Urteil. Wenn die Partei immer
recht hatte, dann, weil die Revolution immer recht hat; folg- Kommunistische Menschenproduktion
lich hatte derjenige recht, der die Revolution real vollzog.
Selbst ihre Perversionen sollten darum ausschließlich ihrer In unserem Kontext erübrigt es sich, auf die »religiösen« oder
Selbstdeutung unterliegen. Niemandem, der nicht selbst an religionsparodistischen Dimensionen der Russischen Revo-
der Spitze der Revolution stand, war ein Urteil über die von lution näher einzugehen. l13 Es genügt, in Andeutungen zu
ihr zu wählenden Mittel erlaubt. Sie allein konnte wissen, wie zeigen, wie der revolutionäre Ereigniskomplex das seit der
hoch der zu ihrem Erfolg nötige Tötungsaufwand ausfallen Aufklärung virulente Motiv der Menschenproduktion auf-
mußte; nur sie selbst legte fest, wieviel Terror den Sieg ihrer griff und es zu seinen vorerst letzten Zuspitzungen steigerte.
Prinzipien garantierte. Es war Georg Lukacs, der mitten im Für das kommunistische Experiment war bezeichnend, daß
Krieg zwischen weißen und roten Terroristen für die freie es von vorneherein an beiden anthropotechnischen Fronten
Wahl der Mittel durch die Träger der Revolution den Titel gleichzeitig ansetzte, um die spirituell-asketische Kompo-
»Zweite Ethik« prägte. nente mit der biotechnischen so direkt wie möglich zu ver-
Dies resultierte in einer Situation, in der allein die aktuel- binden. Diese Doppelstrategie ist immer mitzudenken, wenn
len Führer die geschehende Revolution noch verstanden. Nur man die oft beschworene Formel vom Neuen Menschen zi-
für Lenin und Stalin, die im hot spot des Ereignisses lebten, tiert.
entsprach der Satz: »Die Revolution bin ich« theoretisch und Dessen Herstellung vollzieht sich zum einen in den Elite-
praktisch der Wahrheit, während alle übrigen, sollten sie auch kadern der ),Partei«, den Trainingszentren der revolutionären
bewährte Kämpfer gewesen sein, nie sicher sein konnten, die Moral: In ihnen sammeln sich Individuen, die nach einem
Revolution zu begreifen. Sie alle lebten mit dem Risiko, von initialen Akt radikaler Metanoia an der Aufhebung des alten
einem Tag auf den nächsten als Konterrevolutionäre enttarnt Menschen in sich selbst arbeiten. Es dürfte unnötig sein, im
zu werden. Es genügte nicht mehr, rechtgläubig in bezug auf
die revolutionären Prinzipien zu sein; was nun verlangt wur- 1 I2 Über das exemplarische Ende von Stalins Chef-Folterknecht Ja-
de, war Rechtgläubigkeit in bezug auf das Unbegreifliche in goda 1938 vgl. Bazon Brock, Lustmarsch durch Theoriegelände,
den täglichen Manövern der Führer. Die Revolution wollte a.a. 0 ., S. 141-143 .
113 Das Thema ist von Arthur Koestler, Albert Camus, Alexander
selbst dann noch recht haben, wenn sie die Treuesten der
Solschenizyn, Alexander Vat, Andrej Sinjawskij, Boris Groys und
Treuen verhaftete, folterte und erschoß. Die Gläubigen, die jüngst wieder von Michail Ryklin, um nur einige herausragende
solches mit sich geschehen lassen sollten, waren keine Interpreten zu nennen, nach vielen Seiten abgehandelt worden.
Zeugen, deren Andenken in einem Moskauer Martyrologium Dieser Literatur habe ich in meinem Essay Gottes Eifer. Vom
Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt Z007, eine Fußnote
gesammelt würde; sie glichen Mystikern, die sich der an-
hinzugefügt, indem ich den Kommunismus als einen vierten Mo-
spruchsvollsten geistlichen Übung, der resignatio ad infer- notheismus, genauer als die praktische Realisierung der Rousseau-
/:.~m, unterzogen - dem Versuch, nichts anderes zu wollen, schen »Religion des Menschen«, interpretierte.
III Die Exerzitien der Modernen 111m auto-operativ gekrümmten Raum

einzelnen nachzuzeichnen, wie hier die immer noch wirksa- das produzierende Kollektiv die Stufe der Rückbezüglich-
men Dispositionen orthodoxer Spiritualität mit ihrer tau- keit. Was vormals transzendente Moral war, wird Teil eines
sendjährigen Entselbstungskultur zum Tragen kamen. Wer Regelkreises: An die Stelle der immergleichen Askesen tritt
nach 1917 den Neuen Menschen postulierte, brauchte nur ein kybernetisches Optimierungssystem. 115
den kleineren Teil für die moralische Evidenz dieser Forde- Viele Autoren, darunter Trotzkij, haben sich nicht mit der
rung mit den modernen Argumenten zu bestreiten, wie sie in Forderung nach dem Umbau der Psyche begnügt, sie haben
Rußland seit 1863, dem Erscheinungsjahr von Tscherni- auch den genetischen Neubau des Menschen in Aussicht ge-
tschewskijs epochemachendem Trivialroman Was tun?, ver- stellt, ja sogar seine kosmische Reform postuliert: Ganz oben
breitet waren - Rahmetov, einer der Helden der Erzählung, unter den revolutionären Forderungen stand die physische
war ein moderner Asket, der auf einem Nagelbrett schlief, Optimierung des Menschen durch Ausmerzung der kranken
seine Muskulatur trainierte und seine Diät streng überwach- und minderwertigen Varianten - kaum anders als in den
te. Wie viele Replikanten Rahmetovs in Lenins und Stalins gleichzeitigen sozialdemokratischen, bürgerlichen und völki-
Rußland am Werk waren, ist eine Frage, die sich nie klar schen Programmen; dem sollte die Hebung der geistigen
beantworten lassen wird. Gewiß ist nur: Wer angesichts der Qualitäten folgen - hier springen die Analogien zu den
revolutionären Umbrüche von sich selbst das Äußerste ver- züchterischen Spekulationen des »wissenschaftlichen Rassis-
langte, stand in einer Tradition, die über die Philokalie, das mus « während der NS-Diktatur in Deutschland ins Auge. 116
verspätete russische Gegenstück zur Imitatio Christi, bis zu Als letzte Vollendung der großen Reform wurden jedoch
den Wüstenvätern und den Athosklöstern zurückreichte und Ideen vorgebracht, von denen kein bloßer »Eugeniker« linker
ein noch immer virulentes Reservoir für metanoetische Pro- oder rechter Provenienz zu träumen wagte: die Emanzipation
zeduren bereithielt. des Menschen vom Raum und Zeit, von der Schwerkraft, von
Zum anderen wird die Forderung nach dem Neuen Men- der Vergänglichkeit des Körpers und von der herkömmlichen
schen in soziotechnischer und biotechnischer Sprache formu- Fortpflanzung. In letzter Instanz bedeutet Revolution dem-
liert. Weil die vom Marxismus beschworenen Produktivkräf- nach: den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer
te ihrer moralischen Potenz nach Weltverbesserungskräfte Kraft setzen.
sind, dürfen und müssen sie nach der Revolution auf das Unschwer erkennt man selbst in den utopischsten Kon-
Menschenmaterial angewandt werden. Will man den Sozia- zepten, wie die Figur des HandeIns im auto-operativ ge-
lismus planmäßig herstellen, sind die Erbauer des Sozialismus krümmten Raum auf die Ebene der großen Politik übergreift,
ihrerseits planmäßig herzustellen. Bucharins bekannte These um neben der revolutionären Aktivitätskultur eine revolutio-
von 1922, die eigentliche Aufgabe der Revolution bestehe in näre Passivität zu erzeugen. Wer viel vorhat, muß viel über
der »Umformung der menschlichen Psyche selbst«,l14ver-
deutlicht den Dimensionssprung in der revolutionären An- 115 Ein Widerhall der neuen Stufe von Anthropotechnik findet sich
thropotechnik: Mit der Herstellung des Herstellers erreicht noch in der Vorliebe der DDR -Gewaltigen für die Kybernetik und
deren Weiterentwicklung auf allen Gebieten.
116 Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kun Bayertz, Rasse, Blut und
114 Vgl. Andrej Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen oder Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutsch-
Die Sowjetzivilisation, Frankfurt am Main 1989, S. 164. land, Frankfurt am Main 1988.
6I6 III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

sich ergehen lassen. Tatsächlich erlegte schon der Alltag nach palais und dem Tod Stalins die Leiden der »Übergangszeit«
I9I7 den breiten Massen die Bereitschaft zum Sich-Operie- ertrugen. Das wichtigste »gemeinsame Werk« der Revolutio-
ren-Lassen durch die Funktionäre des revolutionären Staates näre bestand ohne Zweifel darin, die Revolution auszuhalten
auf. Der Neue Mensch war nur zu erzwingen, wenn die ge- und sie im Modus des Leidens an ihr zu fördern. Daß die
genwärtigen Menschen bereit waren, sich einschneidenden Russen und die ihnen assoziierten Völker auf diesem Feld
Operationen zu unterziehen. Die Rolle der chirurgischen Großes geleistet haben, bestreitet niemand.
Metaphern in der Sprache der Revolutionsführer verdiente Auch wenn in der einschlägigen Literatur die These von
eine eigene Untersuchung. Sie machen klar, welchen Preis der »religiösen« Natur der Revolutionsideologie bis zum
jeder politische Holismus fordert: Wer »Gesellschaften« als Überdruß wiederholt wurde: Es gilt trotzdem, zu betonen,
Organismen denkt, steht früher oder später vor der Frage, an daß die Russische Revolution ihrem Design zufolge kein
welcher Stelle das Amputationsbesteck anzusetzen ist. politisches Ereignis, sondern eine anthropotechnische Bewe-
Allein in diesem Kontext ist die Rolle der ästhetischen gung im sozialpolitischen Gewande war, gegründet auf die
Avantgarde in der Russischen Revolution zu würdigen: Sie totale Veräußerlichung des absoluten Imperativs. Von blei-
widmete sich der titanischen Aufgabe, die Passivitätskompe- bender Bedeutung ist ihr Beitrag zur Explizitmachung der
tenz der verelendeten Massen binnen weniger Jahre auf das Natur von »Religion« - sie gehört damit zur Gruppe jener
historisch erforderliche Niveau zu heben. Der agitatorische synthetischen Illusionsübungsvereine der Moderne, von de-
Grundzug der Revolutionskunst ergab sich aus dem berau- nen ich eingangs 'am Beispiel der Church of Scientology ge-
schenden Projekt, erstmals in der Geschichte der Menschheit zeigt habe, wie sie bei der Herstellung von autohypnotisch
die Passion für alle zu proklamieren. Dies ist der Sinn der geschlossenen Gegenwelten verfahren. Hier wie dort ver-
didaktischen Wendung, die sich in den vielfältigen Aus- schränkte sich das individuell wirksame psychotechnische
prägungen revolutionär engagierter Kunst manifestierte: Moment mit massenpsychologischen Effekten, die auf füh-
Höchstformen des Leidens wurden nun von den ästhetischen rerkultischen und gruppennarzißtischen Prozeduren beru-
»Kommissaren« den Vielen angetragen, die bisher nur vulgä- hen. Indem das kommunistische Experiment einen großfor-
res Leiden kannten. Niemandem durfte das Recht auf Kreu- matigen Anlauf zur Machtergreifung über die Bedingungen
zigung verweigert werden, obschon die technischen Fragen unternahm, unter denen der Mensch zum Erzeugnis des
der Grablegung und der Auferstehung noch nicht in jedem Menschen wird, demonstrierte es, woran Aktivisten glauben
Detail geregelt waren. Um das Angebot in angemessener sollen und, mehr noch, was sie mit sich machen lassen müs-
Breite zu vermitteln, griff man auf die Fiktion zurück, jeder sen, bis der alte Mensch zum neuen umgeformt ist.
einzelne Volksgenosse habe einen Behandlungsvertrag mit De facto löste die kommunistische Umwälzung den zwei-
der Revolution geschlossen, wonach er bereit und willens ten Ernstfall von extensiver Biopolitik in der Neuzeit aus -
wäre, alles zu dulden und zu bejahen, was ihm von den Agen- vom ersten war oben in den Erinnerungen an die Bevölke-
turen des großen Wandels zu seinem eigenen Besten angetan rungspolitik des frühneuzeidichen Staats die Rede. Dieser
werde. Nur im Licht dieser H ypothese läßt sich die unfaß- war die Feinabstimmung ihrer Maßnahmen eklatant mißlun-
bare Passivität nachvollziehen, mit welcher unzählige Zeit- gen, mit Konsequenzen, über deren Düsterkeit hier nichts
genossen zwischen dem legendären Sturm auf das Winter- mehr gesagt werden muß. Auch die Biopolitik der Russischen
,- -

III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

Revolution konnte ihrer Ergebnisse nicht sicher sein, jedoch politischen Revolution durchlief bei ihrer Aneignung durch
aus völlig anderen Gründen. Während der frühmoderne Staat die russische Intelligenz eine Metamorphose, die sie ten-
ein Maximum an Untertanen erzeugen wollte und einen rie- denziell entpolitisierte und zu einem radikal-metanoetischen
senhaften Überschuß an Unverwendbaren in Kauf nahm, Experiment umformte. Man müßte geradezu von einer
strebte der revolutionäre Staat nach einem organischen Kol- Unterwanderung der Politik durch Orientalisierung reden -
lektiv von Überzeugten - und ließ es auf den Verlust der jedoch nicht nur, um die sowjetische Staatsrnacht als »orien-
Unüberzeugten ankommen. Die erste Biopolitik suchte die talische Despotie« zu bezeichnen. »Osten« meint hier die
Lösung ihres Problems in massenhaftem Menschenexport Tendenz zur Suprematie des spirituellen Faktors. Eine
und extensiver Internierung, die zweite fand die Lösung in Revolution auf russischem Boden konnte wohl nicht gesche-
massenhafter Internierung und noch massenhafterer Men- hen, ohne zum Analogon einer Konversion zu geraten. Was
sc henvermc. htung. 117 dabei entstand, war das enorme Schauspiel einer Konversion
von außen.
Konversion bedeutet, das eigene Leben spirituell auf Null
Die Biopolitik des Wunders und die Kunst des Möglichen stellen. Revolution impliziert die Geste, die Welt von einem
Nullpunkt aus neu zu entwerfen. Sie verwandelt die histo-
Das anthropotechnische Geheimnis der Revolution von 19 1 7 risch geronnene Realität in eine Masse ohne Eigenschaften,
ist somit ausgesprochen, und zahlreiche Autoren haben es in aus der in der rekonstruktiven Phase buchstäblich alles wer-
verschiedenen Diktionen offen gelegt: Die westliche Idee der den kann. Im Kolben der Revolution transformiert sich die in
Qualitäten erstarrte Materie zu einem totipotenten Potential,
II7 Der dritte biopolitische Ernstfall, der des Nationalsozialismus, das von neuen Ingenieuren für freie Entwürfe benutzt wird.
fügte den Populationismus neuzeitlichen Stils und den Extermi-
Wo der Primat der Weltverbesserung gilt, ist der Neue
nismus nach aktuellem sowjetischem Muster zu einem operativen
Komplex zusammen - mit schwachen Ergebnissen auf der einen, Mensch als Funktion einer Neuen Gesellschaft zu denken.
verheerenden auf der anderen Seite. Daneben blieben die »kon- Die Neue Welt entsteht als das Produkt aus Revolution und
struktiven« Versuche zur Kreuzung zwischen Menschen und Technik. Die Forderung nach der technischen Wiederholung
Großaffen, die schon zu Stalins Zeit (nach Vorspielen in der
des Wunders ist das intimste Agens des großen Aufbruchs.
kolonialistischen Ära) durchgeführt wurden, bloß episodisch,
kaum anders als die Versuche zur Hervorbringung von biologisch Für ein Unternehmen dieser Größenordnung ist die Umstel-
korrektem Nachwuchs in gewissen Befruchtungsanstalten der 55. lung der Gläubigkeit vom Wunder auf das Wunderbare nicht
Der historische Befund legt den Schluß nahe, daß es sowohl in der genug. Während die christlichen und yogischen Traditionen
UdSSR als im NS-Staat die massivsten Formen von Eliminierungs-
mit ihrem Kult der Heiligen und Lebend-Erlösten das Un-
politik, von Ausrottung »unbrauchbarer Elemente«, von Ver-
nichtung »lebensunwerten Lebens«, jedoch kaum Eugenik im mögliche den Wenigen vorbehielten, reklamiert die spirituell
präzisen Sinn des Worts gegeben hat. Die sachlich kaum zu recht- unterwanderte Revolution das Unmögliche für alle.
fertigende Gleichsetzung von Eugenik und Ausrottungspolitik Die Definition der Politik als der Kunst des Möglichen hat
(hierzulande über den Zwischenschritt »Rassenhygiene« vermit-
- so meine Prämisse - ihre historische Bewährungsprobe
telt) bestimmt bis heute die polemischen Einlassungen gegen die
humanistische gentherapeutische Forschung der Gegenwart, der grosso modo bestanden. Der deutsche Reichskanzler Otto
man vorhält, eine »liberale Eugenik« zu sein. von Bismarck, dem die Formel zu verdanken ist, war sich
620 III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum 621

vermutlich nicht dessen bewußt, daß er eine Wendung ge-


prägt hatte, die ihn mit den Klassikern der politischen Theo- Ära der Abschaffung
rie für einen Moment auf eine Ebene stellt. Wovon er sprach,
wußte er allerdings genau, da er die Gegenposition, die Poli- Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg gegen die Reste der alten
tisierung des Unmöglichen und die Umformung von Tag- »Gesellschaft« konnte die Himmelfahrt der Revolution
träumen in Parteiprogramme, in allen Abschattungen von wahrhaft beginnen. Sie eilte von einer Abschaffung zur an-
links bis rechts täglich vor Augen hatte, im Berliner Reichstag deren, von einer sichernden Maßnahme zur nächsten - die
ebenso wie in der zeitgenössischen deutschen und europäi- Abschaffungsära bedeutete unvermeidlich auch für Maßnah-
schen Publizistik. Gleichsetzungen des Wünschbaren mit men aller Art eine hohe Zeit. Was Abschaffungen anging,
dem Verwirklich baren bildeten von der zweiten Hälfte des reichte der Elan der Intellektuellen naturgemäß weiter als
19. Jahrhunderts an das Verfahren, das der »Zeitgeist« bevor- der der neuen Kremlherren, obschon auch diese das Nötige
zugte, um seine Parolen auszustreuen. Zur selben Zeit hatte taten, um sich als Abolitionisten ihre Sporen zu verdienen.
die Massenpresse im Transport von Illusionen zu den End- Nach der Machtergreifung hatten sie binnen kurzem die Ab-
abnehmern ihre wichtigste Aufgabe erkannt - tatsächlich schaffung des Privateigentums deklariert - ihrem Kommu-
sind die Medien in der Ära der hohen Auflagen weniger Auf- nismusverständnis zufolge legte diese Änderung der Rechts-
klärungs organe für ein lernendes Publikum als Anbieter von ordnung den Grundstein zu allen weiteren Beschlüssen. Die
Diensten im auto-operativ gekrümmten Raum des massen- Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten folgte, die des bür-
haften Sich-Täuschen-Lassens. gerlichen Menschen sollte sich nahtlos anschließen. Die
Allein im Kontrast zur lakonischen These des letzten deut- Funktionäre hatten begriffen, warum der Staatsumsturz nur
schen »Realpolitikers« läßt sich verstehen, was infolge der mittels einer Kulturrevolution, das heißt der Liquidierung
Oktoberrevolution in Rußland geschah. Sie schuf eine Bühne des bürgerlichen Individuums und seiner Bildungsinhalte,
für die Politik als Kunst des Unmöglichen. Sehenden Auges zu stabilisieren war. Für sie war der Bürger nicht nur der
gab sie das Standardmodell des rationalen Realismus zugun- Klassenfeind, der Weltverbesserungsmittel monopolisierte
sten einer unverhohlen surrealistischen Praxis preis, auch und das de iure Gemeinsame in das de facta Private verfälsch-
wenn sie sich das blutbefleckte Gewand einer »Realpolitik te. Er war die Inkarnation des Allmählichkeitsmenschen, der
der Revolution« überstreifte. So sehr sie grausam-realistisch sämtliche Irrtümer des überkommenen Realismus und alle
auftrat, um ihren Anfangssieg zu sichern: Sie wußte, daß sie Laster des ich-bezogenen Rationalismus in sich vereinigte.
nur bestehen konnte, solange auf sie ein Licht von ganz oben Die erste Vorstufe zum Neuen Menschen verkörperte der
fiel. Ihre Rechtfertigung war nur in der steilsten Senkrechten in der politischen Revolution geformte Nicht-Bürger, der die
zu gewinnen. ,,vertikalisten« waren nicht mehr bloß die uto- vorgeblich natürliche Egozentrik des alten Menschen hinter
pischen Dichter um Svjatogor, der seine Verse über die Ver- sich gelassen habe. Mit dieser streifte der »Rohling« des
tikale schon im Jahr 1914 publiziert hatte - die gesamte Zukunftsmenschen zugleich die Ethik der historischen Hoch-
revolutionäre Elite war von vertikalistischen Engagements kulturen ab, die sich um das Verbot des Menschenopfers orga-
beflügelt. nisierte - allgemein: um das Verbot der Tötung unschuldigen
Lebens. Die Abschaffung der Gewissenshemmung in bezu g

.....
III Die Exerzitien der Modernen 1I Im auto-operativ gekrümmten Raum

auf das Töten bildete eine entscheidende Etappe auf dem Weg sagt: >Lüge!< - so sollst du lügen, / Und wenn sie sagt: >Töte!<-
zur Erzeugung der nach-bürgerlichen Persönlichkeit. Was so sollst du töten.«119
daraus hervorging, war nicht weniger als die Figur des gewis- Fast schon wie eine legendenhafte Schablone erscheint in
senlosen Heiligen - der originellste Beitrag der bolschewisti- diesem Zusammenhang der biographische Hinweis, wonach
schen Revolution zur moralischen Universalgeschichte. dieser Mann, der für die Liquidierung Hunderttausender ver-
antwortlich zeichnete, in seiner Jugend Mönch oder Priester
hatte werden wollen. Daß er als KryptokathoIik zwischen
Sein und Zeit, sowjetisch grausamen Verhören oder am Ende von hinrichtungsreichen
Tagen heimlich zur Heiligen Jungfrau gebetet habe, mag eine
Andrej Sinjawskij hat in seinem Buch über die Sowjetzivilisa- tendenziöse Erfindung sein. Plausibel ist die überlieferte
tion den Protoptypus des Neuen Menschen in der Person des Aussage seiner Frau, er, der selbstlose Aktivist, der rund
Vorsitzenden der frühen sowjetischen Geheimpolizei, der be- um die Uhr arbeitete, auf einem schmalen Eisenbett in seinem
rüchtigten Tscheka, Felix Emundowitsch Dserschinskij, Büro schlief und im Alter von 48 Jahren an Erschöpfung
1878-1926, portraitiert. Er beschreibt den gefürchteten Mo- starb, habe davon gesprochen, eines Tages das Amt des Ober-
dell-Funktionär, der zwischen 1897 und 1917 insgesamt elf sten Henkers der Revolution niederzulegen, um sich als
Jahre in der Verbannung und in zaristischen Gefängnissen, Volkskommisar für Bildung ganz der Erziehung der Kinder
diesen Trainingslagern der zu allem Entschlossenen, zuge- und Jugendlichen für die kommende »Gesellschaft« zu wid-
bracht hatte, als einen stahlharten Mann »mit einer kristallrei- men. Sinjawskij nennt das eine »phantastische Perspekti-
nen Seele«. Die Rolle des Obersten Henkers der Sowjetunion ve«:120 der Henker als Pädagoge, der Massenmörder als Men-
sei ihm nicht aufgrund grausamer Neigungen zugefallen, son- schenbildner. Jedoch: Der Übergang von der Vernichtung
dern weil er bereit war, nicht bloß sein eigenes Leben, son- unbrauchbarer und unüberzeugter Menschen zur Heranbil-
dern auch sein Gewissen auf dem Altar der Revolution zu dung brauchbarer und überzeugter Menschen erscheint viel
opfern. Als vollendeter Leninist hatte er die Doktrin seines weniger absurd, sobald man die Logik eines Handelns vom
Meisters verinnerlicht, wonach der Revolutionär sich bewußt Nullpunkt aus in Rechnung stellt, die der einen wie der an-
die Hände schmutzig macht. Nur seine moralische Besude- deren Funktion zugrundelag. Was den sowjetischen Henker
lung konnte seine Loyalität gegenüber der großen Sache aus- von dem Henker de Maistres trennt, ist die Unmöglichkeit,
drücken. 118 Wie viele historisch erregte Zeitgenossen der sich vorzustellen, Dserschinskij habe insgeheim zu sich ge-
zwanziger Jahre, auch solche aus dem Lager nicht-bolsche- ·
sagt:» N leman d I'lqUl'd'lert besser aIs lC
. h .« 121
wistischer »Revolutionen«, hatte Dserschinskij gelernt, das
119 Zwei Zeilen aus dem Gedicht »Tbc « des sowjetischen Dichters
Sein als Zeit auszulegen. Er wollte folglich nur noch tun,
Bagritzkij aus dem Jahr 1929, das dem Andenken Dserschinskijs
was die Zeit durch ihn tun wollte. Mit der Hörigkeit des gewidmet ist; vgl. Sinjawksij, Der Traum vom neuen Menschen,
»Gelassenen« hörte er auf ihre Signale, die damals scheinbar a. a. 0., S. 187. Wer Belege für die explizite Aufhebung des Fünf-
unverschlüsselt empfangen werden konnten: »Und wenn sie ten Gebots im 20. Jahrhundert sucht, wird zuerst bei den intel-
lektuellen Interpreten der Russischen Revolution fündig.
120 Ibid., S. 183.
1I8 Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen, a.a.O., S. 18of. 121 Siehe oben S. 533.

_!:.....OL
III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

Prämissen, Perspektiven und Methoden sie in ihren Schriften


Immortalismus: Liquidierung der Endlichkeit der zwanziger Jahre explorierten.
Wenn die Revolution es ermöglichte, auf der Leiter der
In den Augen der philosophisch Radikalen unter den Vertre- Abschaffung überkommener Mißstände emporzusteigen,
tern der revolutionären Intelligentsia reduzierten sich Phäno- waren die Abschaffung des »Privateigentums an Produkti-
mene wie die beschriebenen auf Oberflächeneffekte, wie sie onsmitteln« und der bürgerlichen Persönlichkeit sinnvolle,
in einer Zeit fundamentaler Transformationen nolens volens obgleich vorläufige, um nicht zu sagen inferiore Stufen in
hingenommen werden mußten. Zur Gruppe dieser ontologi- einem Aufstiegsprogamm, von dessen Höhe sich keiner der
schen Utopisten rechneten neben dem bereits erwähnten in den Turbulenzen des großen Umbruchs befangenen Zeit-
Alexander Svjatogor, 1889 - nach 1937, namentlich Konstan- genossen eine Vorstellung zu machen imstande war. Beide
tin Ciolkovskij, 1857-1935, ein Esoteriker und Raketentech- Operationen, so einschneidend sie den Tätern wie den
niker, der als Vater der russischen Raumfahrt Berühmtheit Opfern des Umbruchs erschienen, stellten aber nicht mehr
erlangte, Alexander Jaroslavskij, um 1891-193°, Vertreter ei- dar als die Fortführung der bürgerlichen Revolution von
nes »kosmischen Maximalismus«, Valerian Murawjev, 1885- 1789, die es kaum weiter gebracht hatte als bis zur Ab-
1931, der die Überwindung der Zeit und eine Technologie der schaffung der Adelsprivilegien, zur Freisetzung bürgerlicher
Auferstehung (Anastatik) postulierte, sowie Alexander Ambitionen und zu einer zwiespältigen Menschenrechtsrhe-
Bogdanov, 1873-1928, Verfechter des »physiologischen Kol- torik. Aus russischer Perspektive setzten sie die zaristischen
lektivismus« und Gründer einer Bewegung für den »Kampf Reformen von 1861 fort. In der Sicht der metaphysischen
um die Vitalität«.122 Für sie, die metaphysischen Revolutio- Revolutionäre bedeuteten diese Errungenschaften allenfalls
näre, die sich praktisch ausnahmslos auf Nikolaj Fedorov vorbereitende Episoden zu einer Revolte von ganz anderer
beriefen (obwohl einige, wie Svjatogor, seinen Einfluß negier- Spannweite.
ten), der mit seiner Philosophie des gemeinsamen Werks die Nach der Ära der Vorversuche war ein opus hominis grö-
Grundlagen für eine Politik der Unsterblichkeit gelegt hatte, ßeren Umfangs an der Zeit. Die anstößig gewordene Herr-
bedeuteten die bolschewistischen Anfänge der Kulturrevolu- schaft des Menschen über den Menschen bildete ja nur das
tion kaum mehr als ein grobes, wenn auch in Grenzen nütz- Epiphänomen einer viel älteren und umfassenderen Knecht-
liches Präludium zu der wirklichen »Weltrevolution«, deren schaft. Lebte der sterbliche Mensch nicht seit unvordenkli-
cher Zeit unter der Despotie der äußeren und inneren Natur?
War nicht die Natur selbst die Biomacht, die auf der einen
122 Eine Auswahl aus den Schriften dieser Autoren ist im Rahmen
Seite willkürlich leben machte, um auf der anderen nicht
des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekts
The Post-Communist Condition unter der Leitung von Boris weniger willkürlich sterben zu lassen? Lieferte nicht ihre uni-
Groys und unter der Schirmherrschaft von Peter Weibel am Karls- versale Herrschaft die Matrix aller sekundären Herrschaften?
ruh er Zentrum für Kunst und Medientechnologie erarbeitet und Mußte darum nicht die Abschaffung des Todes auf die Tages-
unter dem Titel Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien
ordnung einer metaphysischen Revolution gesetzt werden -
in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, a. a. 0., großteils in
deutschen Erstübersetzungen, teilweise in Neuübersetzungen und gleichzeitig die Aufhebung des Geburtenfatalismus? Was
präsentiert worden, nahezu ein Jahrhundert post eventum. half es, den absolutistischen Staat zu beseitigen, solange m;;.::
626 III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

fortfuhr, dem Gottesgnadentum der Natur zu huldigen? Wo- unter die Knechtschaft der Natur. Unaufhörlich korrumpie-
zu den Zaren und seine Familie auslöschen, wenn man die vor ren die Ideologen des Todes die moderne »Gesellschaft«, in-
aller Zeit vollzogene Krönung des Todes zum Herren der dem sie nicht müde werden, ihr die Formel »der Tod ist
Endlichkeit weiter gelten ließ? unausweichlich« einzuimpfen. Sie liefern den Treibstoff des
Individualismus, der zu Gier anstachelt - sofern man Gier als
Streben nach Maximierung von Erlebnissen und Seinsvortei-
Die Epoche des Todes und der Bagatellen heenden len im engen Fenster der existentiellen Zeit definiert.
Von einem »Sein zum Tode«, das in Heideggers Haupt-
Die spekulative Avantgarde der Russischen Revolution mein- werk von 1927 als Strukturmerkmal der Existenz hervorge-
te begriffen zu haben, daß man sofort bei der obersten Spros- kehrt wurde, konnte nur die Rede sein, weil die am weitesten
se der Abschaffungsleiter anzusetzen hat, wenn man den ent- zielende Revolution der Gegenwart selbst von den radikal-
scheidenden Unterschied markieren will. Andernfalls bleiben sten Denkern des »agonisierenden Bürgertums« nicht mit-
die Beseitigung von Mißständen und Ungleichheiten zwi- vollzogen wurde. 1921 postulierte Alexander Svjatogor eine
schen den Menschen, ja sogar die Abschaffung des Staates neue Agenda, ausgehend von der Feststellung:
und aller repressiven Strukturen vorläufig und vergeblich. »dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Un-
Sie verschärfen eher noch das Bewußtsein der Absurdität, sterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesord-
das die egalitäre »Gesellschaft« heimsucht, solange die Ab- nung gehört. Es ist an der Zeit, die Unausweichlich-
schaffung des Todes nicht gelungen ist - sämtliche Formen .. l'lCh en 'T'.10 d es zu b
kelt. . .. d es natur ' .
eSeltIgen. «123
physischer Unvollkommenheit inbegriffen. Wer den letzten Hier hören wir erneut das tempus est, mit dem die christliche
Grund schlechter Privatheit in der menschlichen Existenz Apokalyptik in das Projekt Geschichte übergeht: Die Zeit
ausschalten will, muß die Einklemmung jedes Einzelnen in selbst ist an den Punkt gelangt, das Kennwort für das letzte
sein kleines Stück Lebenszeit aufheben. An dieser Stelle hat geschichtliche Unternehmen auszugeben: Hebe die Zeit auf!
das erneuerte »gemeinsame Werk« anzusetzen. Nur Unsterb- Wer den Zeitgeist verstanden hat, muß dafür sorgen, daß
liche können die wahre Kommune bilden, indessen unter den demnächst von Endlichkeit nicht mehr die Rede ist. Die
Sterblichen immer die Selbsterhaltungspanik dominiert. Die »Epoche des Todes und der Bagatellen« geht zu Ende - was
Gleichheit der Menschen vor dem Tod befriedigt nur jene beginnt, ist »die Ära der Unsterblichkeit und der Unend-
Internationale reaktionärer Egalitaristen, die es gern sehen, lichkeit«.124 »Der Biokosmismus allein kann die gesamte
wenn auch Reiche und Mächtige dahinfahren »wie Vieh«. Gesellschaft definieren und regulieren.«125 Ein Jahr später
Von alters her sympathisieren Leute dieses Schlages mit proklamierte Alexander Jaroslavskij den Kosmischen Maxi-
dem Tod in seiner Rolle als Leveller, wie er im Salzburger malismus, der den Immortalismus, den Interplanetarismus
Jedermann seit 1920 unter zeitgerecht kitschiger Aufma- und die Suspension der Zeit einschloß, während Alexander
chung auf die Bühne gebracht wird. Was diese Freunde des Bogdanov gleichzeitig seine Ideen zur einer Tektologie des
gerechten Endes für alle nicht zugeben wollen, ist die schlich-
123 Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 393 .
te Tatsache, daß der Tod das reaktionäre Prinzip schlechthin 124 Ibid., S. 395·
darstellt. Jedes Memento beugt den Menschen nur noch tiefer 125 Ibid., S. 40 3.
III Die Exerzitien der Modernen 111m auto-operativ gekrümmten Raum

Kampfes gegen das Alter publizierte. Er begeisterte sich für erstmals der Terminus »Anthropotechnik« auftaucht, weitge-
die Vorstellung, daß man den Sozialismus physisch vollziehe, hend synonym mit dem gleichzeitig geprägten Ausdruck
sobald man ganze Populationen durch extensive reziproke »Anthropourgie«, der eher auf die Produktion eines höheren
Bluttransfusionen zu artifiziellen Verwandtschaftskreisen Typs von Menschen abhob. 127 Aufgrund seiner Beschäfti-
und Immunitätsallianzen ausbaut. Mit dieser Physizierung gung mit den spirituellen Traditionen des Ostens wie des
der Brüderlichkeit erwiese sich das »Blut«, ansonsten eher Westens hatte Mouravjev den Zusammenhang zwischen der
eine Domäne der Rechten, als Medium einer realen kommu- asketischen und der technischen Revolte gegen die Natur
nistischen Zirkulation. 126 deutlicher als die übrigen Autoren der biokosmistisch-im-
mortalistischen Tendenz im Blick. Nach seiner Aufassung
stießen die Errungenschaften aus herkömmlichen Formen
»Anthropotechnik« von »Askese und Yogi-Bewegung« unweigerlich an eine
Grenze, weil sie aufgrund der uralten idealistischen Materie-
Unter den Autoren der metaphysischen Revolution der verachtung von der »Vernachlässigung des körperlichen Mo-
zwanziger Jahre war, wenn ich recht sehe, Valerian Moura- ments« bestimmt blieben. Die »Umgestaltung des Menschen«
vjev derjenige, der die Frage nach der Herstellung des Neuen sei aber »nicht als lediglich geistige und moralische denk-
Menschen am umfassendsten erörterte, indem er ihre tech- bar«.128 Sie sei heute auf umfassend neue Grundlagen zu steI-
nologischen Aspekte unter den weitesten Perspektiven len - das heißt auf technische, serielle und kollektiv gesteuerte
durchdachte. Natürlich war die zeitgemäße Denkform der
»Herstellung des Herstellers« in der gesamten Sowjetsphäre 127 Schon 1926 übernimmt die Große Sowjetenzyklopädie im dritten
längst ein allgegenwärtiges Klischee, nicht zuletzt in der Ar- Band den Ausdruck »Anthropotechnik«; sie definiert diese als
»angewandten Zweig der Biologie, der sich die Aufgabe stellt, die
beitswelt, wo sich der Imperativ der Zwangsmodernisierung physischen und geistigen Eigenschaften des Menschen mit den-
am nacktesten präsentierte: Er schrieb die massenhafte Pro- selben Methoden zu verbessern, welche die Zootechnik zur Ver-
duktion sozialistischer Proletarier als dringlichste Planaufga- besserung und Züchtung neuer Haustierrassen anwendet. « Zitiert
be vor - man mußte den vorgeblichen Träger der Revolution nach Michael Hagemeister, a. a. 0 ., S. 54. Bereits im Jahr 1922
hatte Pawel Blonski, ehemaliger Neoplatoniker, in seiner weit
ja wenigstens nachträglich ins Leben rufen. Ebenso fest war verbreiteten Schrift Pädagogik doziert: »Die Pädagogik muß in
das Sprachspiel von der Menschenherstellung in der sowjeti- einer Reihe mit der Zootechnik und der Phytotechnik (Pflanzen-
schen Pädagogik verankert. Soviel bekannt ist, war es jedoch zucht) ihren Platz finden .. .« Zitiert nach: Alexander Etkind,
Mouravjev, in dessen Schriften der frühen zwanziger Jahre Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in
Rußland, Leipzig 1996, S. 330.
128 Die Neue Menschheit, a. a. 0 ., S. 466. Mouravjev blendet in di e-
I26 Zu Bogdanovs Blut-Politik vgl. Margarete Vöhringer, Avantgarde sem Argument aus, was er über die körperliche Dimension der
und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahr- indischen Übungssysteme weiß, offenbar unter dem Einfluß des
nehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen vorherrschenden Technizismus, der den Unterschied zwischen
200 7, S. 173-229; dies., Im Proletformat - Medien für Transfor- Sich-Operieren und Sich-Operieren-Lassen ignoriert und aus-
mationen und Transfusionen im Russland der zoer Jahre, in: schließlich auf äußere Behandlungen setzt. Die Einseitigkeit die-
Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, heraus- ser Option wird durch gleichzeitiges Insistieren auf »psychophy-
gegeben von Anja Lauper, Zürich/ Berlin 2005> S. 199-210. sischen« Methoden beim »Neubau des Menschen « dementier:.
III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

Verfahren. Unter diesen könne die Eugenik, wie Mouravjev tion nicht mehr unterlägen. Zugleich käme durch die neue
meint, ihrer Schwerfälligkeit wegen nur eine untergeordnete Menschenkreationstechnik eine unerhörte Höhe der Indivi-
Funktion behaupten. Zwar gingen die eugenischen Verfahren dualisierung in Reichweite. Der Schablonenmensch von heu-
der Gegenwart, so der Autor, weit über die Primitivität der te verschwände mit der Zeit, der Vulgarität würden nicht nur
paracelsischen Versuche zur Heranzüchtung von Homunculi sozial und ästhetisch, sondern auch biologisch die Grund-
in Kalbsmägen oder Kürbissen hinaus, blieben aber den Miß- lagen entzogen. Dann schaffen Künstler vom Rang Shake-
lichkeiten der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung und den speares und Goethes keine Dramen mehr, sondern Menschen
häßlichen Exzessen der natürlichen Geburt verhaftet, in der und Menschengruppen - anthropische Singularitäten und so-
man einen »außerordentlich komplizierten, schmerzhaften ziale Plastiken, neben denen die Werke der älteren Kunstge-
und unvollkommenen Vorgang« 129 sehen müsse. Die züch- schichte wie leblose Vorübungen aussehen. 130
terische Eugenik, die bei Pflanzen und Tieren zu guten Er- Die Grundoperation des biopolitischen Utopismus in Ruß-
gebnissen führt, sei auf den Menschen nur begrenzt übertrag- land läßt sich auf eine einfache Formel bringen: Was bisher
bar. ausschließlich im Imaginären möglich schien, ist jetzt auf der
Folglich ist über neue Prozeduren nachzudenken, bei de- Ebene technischer Verfahren zu verwirklichen. Wo Kunst-
nen die Teilung der Menschheit in Mann und Frau bedeu- werk war, soll Kunsdeben werden. Die moderne Technik reißt
tungslos würde. Die Abschaffung des Gebärens und die Er- die Grenze zwischen Sein und Phantasma nieder und verwan-
zeugung des Menschen im Labor müsse zu einem »vierten delt Unmöglichkeiten in Schemata des real Möglichen -leere
Verfahren zur Umgestaltung des Menschen« führen - die an- Mengen, deren Füllung durch real existierendes Seiendes jetzt
deren drei sind asketisch-didaktische, therapeutisch-medizi- beginnt. Der Begriff »Antizipation«, der die marxistischen
nische und eugenisch-züchterische Maßnahmen. Hier taucht Kommentare zu den» Errungenschaften « früherer Kulturepo-
für einen Moment der Gedanke an das später so genannte chen wie ein roter Faden durchzieht, bezeichnet künftig Phan-
Klonierungsverfahren (»Knospung«) auf, das nach Moura- tasmen nach Plan. Dieselbe Grenzüberschreitung liegt im
vjev keineswegs nur für eine Domäne der niederen Lebens- übrigen der gleichzeitig aufblühenden amerikanischen Mas-
formen zu halten sei. Käme dergleichen auch bei höheren senkultur zugrunde, die insbesondere seit der Übernahme
Lebewesen, schließlich bei homo sapiens zum Einsatz, wäre der »Traumfabrib Hollywoods durch europäische Emigran-
der Mensch nicht länger das Resultat der sexuellen Beziehung
zweier mehr oder weniger bornierter Individuen, sondern das 130 Von Leo Trotzkij ist die analoge nietzscheanisch inspirierte These
Werk einer auf höchste Ziele verpflichteten Forschergemein- bekannt, durch kommunistische »psychophysische Selbsterzie-
hung« werde sich ,> der durchschnittliche Menschentyp der Zu-
schaft. Wenn diese sich der Herstellung von Menschen wid- kunft zum Niveau eines Aristoteies, Goethe und Marx empor-
met, zelebriert sie ein technisches Sakrament - in freier Syn- schwingen. Und über dieser Gebirgskette werden sich neue
these außerhalb der alten Natur. Gipfel erheben.« »Die menschliche Gattung, der erstarrte Homo
Mit den neuen Menschen treten neue Körper in Erschei- sapiens, wird abermals eine radikale Revision durchlaufen und
nung, die sich von Licht ernähren könnten und der Gravita- - unter den eigenen Händen - zum Objekt kompliziertester
Methoden der Auslese und des psychophysischen Trainings
werden.« Zitiert nach: Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 421
12 9 Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 468. und 419.
III Die Exerzitien der Modernen

ten eine einzige Serie von Variationen über das Motiv dreams
II 111m auto-operativ gekrümmten Raum

gnose, dieser werde sich durch die revolutionäre Behandlung


come true liefen. l31 Aron Zalkind, 1889-1936, ein sowjeti- in ein immer stabileres, immer leistungsfähigeres, immer mehr
scher Psychologe, der in seiner »Pädologie« der zwanziger von Lebensfreude durchpulstes, von Grund auf soziophiles
Jahre die Ansätze von Freud und Pavlov zu synthetisieren
versuchte (um das Feld der Erziehung für die damals viel
I Wesen verwandeln; er werde eine Art von holistischem Im-
munsystem entwickeln, in dem die Selbsterhaltung zu einer
benutzte Theorie der »bedingten Reflexe« zu reklamieren I Funktion der Gemeinschaftserhaltung werde - anders als in
und die Kulturtheorie als Anwendungsgebiet der höheren Re- I der westlichen Gesellschaft, in der die individualistische Zer-
flexologie zu annektieren), nennt dies das »wissenschaftlich I setzung unaufhaltsam voranschreite. Für Zalkins opportuni-
fundierte Phantasieren«.132 Auf ihm beruhe die Kunst der I stisch-optimistische Argumentation ist die Verwischung der
sozialistischen Prognostik. 133 Sie bildet das real-utopische I Grenze zwischen Didaktik, Therapie und Politik charakteri-
Gegenstück zu Oswald Spenglers nicht weniger prätentiösem I stisch: Sie konzipiert den kommunistischen Menschen als
Versuch, die Erzählbarkeit der Zukunft durch Einsicht in die I grenzenlos plastischen Patienten der Veränderung, der immer
Ablaufgesetze der »Kulturen« auf wissenschaftliche Grund- I nur gewinnen kann, wenn er sich grenzenlos operieren läßt.
lagen zu stellen. In einem Gutachten über die psychosoziale I Was Zalkind verschweigt, sind die Methoden der kommuni-
Zukunft des sozialistischen Menschen stellte Zalkind die Pro- stischen Anästhesie. Lenin wußte: Der Staatsterror bildet das
funktionale Äquivalent der Vollnarkose bei schweren Opera-
131 Zur Rolle der europäischen Emigranten bei der Restrukturierung
tionen an großen Kollektiven.
der amerikanischen Illusionsindustrie vgl. Neil Gabler, Ein eige-
nes Reich. Wie jüdische Emigranten Hollywood erfanden, Berlin
2°°4·
132 Aron Zalkind, Die Psychologie des Menschen der Zukunft (zuerst Postkommunistisches Nachspiel:
1928), in: Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 612.
Die Rache des Allmählichen
133 Zalkind lieferte in der genannten Schrift ambivalente Proben
dieser Kunst: Einerseits sagte er »kolossalen Fortschritt der Fort-
bewegungsmittel und der Kommunikationstechnik. Ungewöhn- Ich verzichte hier darauf, das empirische Schicksal der im-
liche Dynamisierung des Lebens« vorher (a. a. 0., S. 645); ande- mortalistischen und biokosmistischen Impulse in der Früh-
rerseits wagt er die Prognose, der sozialistische Mensch werde so
phase der Russischen Revolution zu kommentieren. Es dürfte
sehr von Lebensfreude durchströmt sein, daß die letzten jenseits-
bezogenen Regungen des »Mystizismus« absterben, so wie der niemanden verwundern, wenn bei solchen Projekten die Fall-
Schwanz des Menschenvorfahren, des Affen, verlorengegangen höhe zwischen dem Programmatischen und dem Pragmati-
sei (a. a. 0., S. 647). Der Aufwärtstrend der Menschheitsentwick- schen dramatisch ausfiel. Gäbe es ein Pantheon ikarischer
lung werde nicht mehr durch Konkurrenz zwischen Menschen
Phänomene - die russischen Bio-Utopisten hätten darin An-
erzeugt; er entstehe zum einem dadurch, daß das Weltall zum
neuen »grausamen Klassenfeind« erklärt wird, zum anderen da- spruch auf eine eigene Kapelle. Die Protagonisten der höch-
durch, daß man die unentbehrliche Unzufriedenheit jeder nach- sten Abschaffung gingen fast ausnahmslos in den Turbulen-
folgenden Menschengeneration mit dem Wohlstandsniveau der zen der von ihnen so lebhaft bejahten Revolution unter:
vorhergehenden dank sozialistischer Erziehung systematisch sti-
Außer Konstantin Ciolkosvskij, der, »als genialer Sohn des
muliert. Der Motor der Geschichte soll weiter auf hohen Touren
laufen, doch an die Stelle von Egoismen treten soziophile Trieb- Volkes« von den sowjetischen Offiziellen vereinnahmt und
kräfte (a. a. 0., S. 650f.). geehrt, im Jahr 1935 hochbetagt verstarb, fanden alle übrigen
III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

Akteure der biopolitischen Revolte ein zeittypisches Ende: I 968 war nur eine erweiterte Romantik, die sich historische

Svjatogor verschwand 193 7 im Alter von 48 Jahren in einem Figuren wie Lenin, Stalin, Mao, Brecht und Wilhe1m Reich
»Besserungsarbeitslager«j Mouravjevs Spuren verlieren sich als Ready-mades aneignete. Im Hauptstrom der Zeit kam die
um 1930, als er circa 45 Jahre alt war, in einem Straflager, Allmählichkeitspartei wieder an die Macht - angeführt von
wahrscheinlich auf den berüchtigten Solovki-Inseln im Wei- einer Elite entschlossener Berufs-Evolutionäre. Unter der an-
ßen Meer; J aroslavskij wurde, im Alter von etwa 3 5 Jahren, tirevolutionären Grundstimmung, die sich auf diskursiver
nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus diesem Lager im Ebene als Antitotalitarismus bzw. Antifaschismus artikulier-
Dezember 1930 erschossen; Bogdanov kam 1928 bei einem te, verbarg sich die Rückkehr zu den progressiven Traditio-
Selbstexperiment mit einer Bluttransfusion ums Leben, nen des Barock und der Aufklärung, deren pragmatischer
5 5jährigj Zalkind starb 1936 im Alter von 48 Jahren an Herz- Kern in der relativ stetigen und rational überwachten Erwei-
infarkt, als er die Nachricht erhielt, das Zentralkomitee der terung menschlicher Optionsräume besteht. Um an diesen
KP habe seine »Pädologie« als »antimarxistische Pseudowis- Optimierungsbewegungen teilzunehmen, brauchte man we-
senschaft« verurteilt und verboten. der das Wort Fortschritt in Großbuchstaben zu schreiben
Ebenso überflüssig scheint es, ausführlich zu begründen, noch den Glauben an die Göttin Geschichte zu heucheln.
warum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - und erst Die Entwicklung des westlichen Zivilisationskomplexes
recht nach der Implosion der Sowjetunion und des Ostblocks nach 1945 scheint den Gemäßigten nahezu uneingeschränkt
um 1990 - praktisch niemand mehr in Ost und West auch nur recht zu geben. Sie brachte die Sättigung der Umwelt mit
das Geringste von einer Revolte gegen die conditio humana, leicht zugänglichen Weltverbesserungsmitteln für die mei-
den alten Adam, das Unbewußte und das gesamte übrige sten. Deren Verbreitung erfolgte teils über freie Märkte, teils
Syndrom der Endlichkeiten hören wollte - es sei denn in durch Leistungen des Umverteilungsstaats und des überbor-
den Simulations räumen des entgrenzten modernen Museums, denden Versicherungswesens - den beiden unpolitischen
in dem jede Revolte ihren Kurator findet. Es wäre jedoch Operationalisierungen der Solidaritätsidee, die für die prak-
ein gravierender Trugschluß, wollte man aus dem globalen tische Implantation linker Motive mehr bewirken, als eine
Anti-Utopismus nach 1945, der nur durch die dritte Ju- politische Ideologie je vermocht hätte.
gendbewegung des 20. Jahrhunderts, die internationale Stu- Die wichtigste geistesgeschichtliche Reorientierung be-
dentenrevolte, aufgelockert wurde, die Folgerung ziehen, das stand jedoch darin, daß die Metanoia erneut die Richtung
System der modernen »Gesellschaften« hätte seine Orientie- wechselte: Nach einer Ära blutiger Phrasen und maligner Ab-
rung »nach vorn« verloren und seine Qualität als universales straktionen erschien das Alltägliche wie etwas, worauf man
Ausbildungslager für ständig wachsende Virtuositäten bzw. sich erneut »besinnen« konnte. Unzählige begriffen: Das Hier
»Qualifikationen« und »Kompetenzen« aufgegeben. und Jetzt war eine ferne Insel, auf die sie noch nie einen Fuß
In Wahrheit hat das globale System nach 1945 nur die gesetzt hatten. Damit war eine Voraussetzung für die Wieder-
fällige Kurskorrektur vollzogen. Es hat den Modus Revolu- entdeckung der ethischen Differenz in ihrer ursprünglichen
tion aus dem Katalog seiner operativen Optionen eliminiert Form gegeben - der Unterscheidung zwischen der Sorge um
und sich statt dessen ganz für den Modus Evolution entschie- sich und der Beschäftigung mit allem übrigen. Nichts war für
den. Das Auftauchen von neu-revolutionären Diskursen um die entzauberten Revolutionäre hilfreicher als die Reaktuali-
III Die Exerzitien der Modernen I I Im auto-operativ gekrümmten Raum

sierung dieser Unterscheidung. In dem Film Passion von Jean- westlichen »Gesellschaften« unter Führung der USA den
Luc Godard, 1982, spricht eine Figur den Schlüsselsatz der Steigungswinkel der ökonomischen und technischen Evolu-
Zeit: »Man rettet sich nicht selbst, indem man die Welt rettet.« tion seit den sechziger Jahren stetig angehoben - bis ein
Nach einem halben Jahrhundert militanter Jugendbewegun- Punkt erreicht war, von dem an das Mitgehenkönnen der
gen tauchte sogar ein Wesen wieder auf, von dem man lange Populationen mit ihrem davoneilenden Wirtschafts- und Me-
nichts gehärt hatte: der Erwachsene. Sein Wiedererscheinen diensystem problematisch wurde. Dies wird vor allem seit
sorgte für die Belebung von offensiven Pragmatismen, die dem neo-liberalen Putsch gegen den Semi-Sozialismus der
leere Begriffshülsen wie » Demokratie«, » Zivilgesellschaft« »gemischten Ökonomie« manifest, die den Westen nach 1945
und »Menschenrechte« mit Inhalt füllten. So entstand neben bis zum thatcheristisch-reaganistischen Einschnitt der späten
dem Bewußtsein des Erreichten eine breite Agenda von näch- siebziger Jahre beherrschte. 135 Durch diese Klimaverschär-
sten Optimierungsschritten an zahllosen Angriffspunkten fung erweist sich der globale Kapitalismus als die Agentur
progressiver Praxis. Sie bildet heute die reale Arbeitsform der »permanenten Revolution«, die die Ideologen der kom-
einer dezentralisierten Internationale, die sich in Zehntausen- munistischen Befehlswirtschaft vergeblich forderten. Die ge-
den von Projekten in den Traditionen des Weltverbesserungs- mischte Wirtschaft war populär, solange sich ein sozialstaat-
elans artikuliert, ohne daß ein Zentralkomitee den Aktiven lich domestizierter Kapitalismus als die Macht präsentieren
sagen müßte oder auch nur sagen könnte, worin ihre nächsten konnte, die halbwegs hielt, was der deklarierte Sozialismus
134
Operationen bestehen sollten. versprochen hatte. Inzwischen geht von der beschleunigten
Der allesdurchdringende Pragmatismus der Nachkriegs- permanenten Revolution, die seit zwei Jahrzehnten »Globa-
zeit darf darum nicht als Restauration abgetan werden, wie lisierung« heißt, für Unzählige die Nötigung aus, erneut an
ewige Jakobiner möchten. Er drückt zudem keine Rückkehr der Erweiterung ihrer Passivitätskompetenz zu arbeiten. Den
zur Bescheidenheit aus. In Wirklichkeit hat der Komplex der letzten Liebhabern der »permanenten Revolution« in Europa
mißfällt das sehr - sie träumen unnachgiebig von der verlo-
134 Vgl. Jean Zieglers Aufsatz: Gier gegen Vernunft, in: Tugenden und renen Bequemlichkeit des Rheinischen Kapitalismus. 136 Den
Laster. Gradmesser der Menschlichkeit, herausgegeben vom Härten des erweiterten Weltmarkts ausgesetzt, spüren sie den
ZDF-Nachtstudio, Frankfurt am Main zo04, S. zpf.: »Wo ist
Hoffnung? Ganz neue soziale Bewegungen, eine mächtige Zivil-
gesellschaft .. . entstehen. Widerstandsfronten brechen überall auf 135 Die Existenz des .gemischten Wirtschaftssystems« von den New-
dem Planeten auf. Ihre Methoden des Kampfes sind überall ver- Deal-Jahren bis zum Beginn der Thatcher-Ära wird von der ideo-
schieden, die Motivation überall dieselbe: der moralische Impera- logisch verzerrten Kritik am »Kapitalismus« regelmäßig überse-
tiv . . . Über 100000 Menschen aus fünf Kontinenten - stellver- hen. Ironischerweise fiel die Bewegung von 1968, die in der Sache
tretend für über 8000 Bauernsyndikate, Industriegewerkschaften, die Umstellung von Stalinismus auf Maoismus bzw. auf alternativ-
Frauenbewegungen, Nicht-Regierungsorganisationen, die für linke Positionen brachte, in die beste Zeit des real existierenden
Menschenrechte, Umwelt, gegen Folter und Hunger kämpfen - Rheinischen Sem i-Sozialismus. Vgl. Daniel Yergin/Joseph Stanis-
fanden sich im letzten Januar (Z004) zum Weltsozialforum in law, Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts,
Bombay zusammen. Ohne Hierarchie, ohne Zentralkomitee, oh- FrankfurtiNew York 1999, S. 2z-87.
ne ein ausgeklügeltes imperatives Programm. Als Bruderschaft Beim Studium der Partei programme der drei trotzkistischen Kan-
der Nacht, als lebendige Figur der Solidarität. Wir wissen genau, didaten bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Apri~
was wir nicht wollen. « Z007, Olivier Besancenot, Arlette Arguiller und Gerard Schivardi,
III Die Exerzitien der Modernen

Zwang, sich wieder einmal operieren zu lassen - diesmal, um


ihre Wettbewerbsfitness auf den unberechenbarer geworde- 12 ÜBUNGEN UND FEHLÜBUNGEN
nen Weltmärkten zu verbessern. In der großen Finanzkrise
ZUR KRITIK DER WIEDERHOLUNG
des Jahres 2008 jedoch holt die Notwendigkeit, sich operie-
ren zu lassen, auch die Operateure ein.

Die epochenübergreifende Tendenz der Moderne zur Dever- Zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt
tikalisierung der Existenz setzte sich auch unter den aktuellen
Bedingungen fort. Zugleich verlangten die symbolischen Im- Die ethische Unterscheidung wurde von dem Augenblick an
munsysteme nach Feineinstellungen, die manche Automatis- wirksam, in dem die Wiederholung ihre Unschuld verloren
men des allzu groben Säkularismus durchbrechen. Daher hatte. Mit dem Auftauchen von Asketen und Askesen in
rührt das weitverbreitete neue Interesse an »religiösen« und der Dämmerung der Hochkulturen manifestierte sich eine
spirituellen Überlieferungen - und der diskret wiedererwa- Differenz, die in früheren Zivilisationsstufen nicht explizit
chende Sinn für vertikale Imperative. Tatsächlich hatte sich in entfaltbar war: Indem sie den Rückzug wählten, betrieben
den dominierenden Spielarten des Zeitgeistes nach I945 ein die frühen übenden Ethiker den Bruch mit den gewöhnlichen
resoluter Antivertikalismus durchgesetzt: im Existentialis- Formen und Haltungen des Lebens. Sie kündigten die ein-
mus als Kult der Endlichkeit, im Vitalismus als Kult der Ver- geschliffenen Wiederholungsreihen auf, um andere Reihen,
ausgabung, im Konsumismus als Kult des Stoffwechsels, im andere Haltungen an ihre Stelle zu setzen - nicht beliebig
Tourismus als Kult des Ortswechsels. In dieser entgeisterten andere, vielmehr heils trächtig andere. Wo die ursprüngliche
Zeit fiel den Spitzensportlern die Rolle zu, das heilige Feuer Unterscheidung der hohen und heilsamen Lebensformen von
der Übertreibung zu hüten. Sie sind die Übermenschen der den heillosen gewöhnlichen ihren Einschnitt setzt, tut sie dies
modernen Welt, geköpfte Übermenschen, die in Höhen stre- im Modus einer neuro-ethischen Programmierung, die den
ben, wohin der alte Mensch nicht folgt - auch nicht in ihnen ganzen alten Apparat gegen sich selbst wendet. Hier gibt es
selbst. Es sind die inneren Androiden, die jetzt immer weiter anfangs keine Zwischenformen. Gemeinsam gewinnen Leib
über sich hinausgehen. Dem alten Menschen in den Athleten und Seele das andere Ufer oder keines von beiden. The whole
selbst bleibt nur ein dumpfer Kommentar zu den Darbietun- man must move at once.
gen des Überandroiden, den sie verkörpern. Durch die radikale Absetzung der Asketen, der Heiligen,
der Weisen, der übenden Philosophen und später der Artisten
und Virtuosen vom Daseinsmodus derer, die im Durch-
schnittlichen, U ngefähren, Unqualifizierten weitermachen,
wird die primäre anthropologische Entdeckung bezeugt:
Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der
die zusammen 2,2 Millionen Stimmen auf sich vereinigten, ergibt
sich ein paradoxer Befund: Sie plädieren ausnahmslos für die Wiederholungen verdammt ist. Was man in späteren Philoso-
S~spension der permanenten Revolution des Kapitals und für phien Freiheit nennt, manifestiert sich anfangs in dem Akt,
die Rückkehr ins Zeitalter der sozialen Sicherheit. mit dem die Dissidenten sich gegen die Herrschaft der inneren
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

und äußeren Mechanik auflehnen. Indem sie den gesamten Dekontamination. Darum setzen viele spirituelle Schulen das
Bereich der eingefleischten Leidenschaften, der erworbenen Schweigen ein, um das Phrasendepot zu leeren - eine Pro-
Gewohnheiten, der übernommenen und sedimentierten Mei- zedur, die in der Regel länger dauert als eine große Psycho-
nungen auf Distanz bringen, schaffen sie Raum für eine um- analyse. Pythagoras soll von seinen Schülern zu Beginn der
fassende Verwandlung. Nichts kann am Menschen bleiben, Lehrzeit ein fünf jähriges Stillschweigen gefordert haben.
wie es war - die Gefühle werden reformiert, der Habitus wird Noch Nietzsche praktiziert in dieser Tradition: »Alle Un-
neu geprägt, die Gedankenwelt von Grund auf restrukturiert, geistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen,
das gesprochene Wort saniert. Das ganze Leben erhebt sich als einem Reize Widerstand zu leisten - man muß reagieren,
Neubau auf dem Fundament der guten Wiederholung. man folgt jedem Impulse.«! 37 Spirituell ist die Übung, die
Eine erste Aufklärung geschah, indem die spirituellen Leh- solches Müssen außer Kraft setzt.
rer zeigten: Der Mensch ist nicht so sehr von Dämonen be- Diese Deautomatisierung, diese Befreiung von der Anstek-
sessen als von Automatismen beherrscht. Nicht böse Geister kung durch das Ungeprüfte, das sich blind reproduziert, muß
setzen ihm zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu vom methodischen Aufbau einer neuen spirituellen Struktur
Boden drücken und deformieren. Was seine Vernunft trübt, begleitet werden. Nichts könnte den Pionieren der ethischen
sind nicht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrneh- Unterscheidung fremder sein als der moderne Spontaneismus,
mungsfehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, der den Schock, die Irritation und die Unterbrechung des Ge-
die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen. wohntenper se als ästhetische Werte kultiviert, ohne zu fragen,
Platon war neben Gautama Buddha der erste Epidemiologe was an die Stelle des Unterbrochenen treten soll. Das ursprüng-
des Geistes: Er erkannte in der alltäglichen Meinung, der liche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die
doxa, die Pest, an der man zwar nicht stirbt und die doch schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte
von Zeit zu Zeit ganze Gemeinwesen vergiftet. Phrasen, die korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt da-
in den Körper ab gesunken sind, erzeugen »Charaktere«. Sie nach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutau-
formen die Menschen zu lebenden Karikaturen der Durch- chen. Daß diese binären Entgegensetzungen teuer zu bezah-
schnittlichkeit, sie machen aus ihnen fleischgewordene Plati- lende Simplifikationen mit sich bringen, tut hier fürs erste
tüden. Weil das Dasein in der ethischen Unterscheidung mit nichts zur Sache. Wichtig ist nur: In diesem Rahmen emergiert
der Vernichtung der Phrasen beginnt, mündet sie unweiger- individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Ge-
lich in der Aufhebung der Charaktere. Zum Charme freier stalt. Sie geht aus der verlegen machenden Entdeckung hervor:
Menschen gehärt es, daß sie die Karikatur durchscheinen Es gibt eine Wahl, die alle Vorzeichen menschlichen Verhaltens
lassen, zu der sie hätten werden können. Wer auch die aus- verändert. Die ersten Ethiker stehen vor der Entscheidung zwi-
tilgen wollte, wäre der Mensch ohne Eigenschaften, befreit schen einem Leben in den zumeist unbemerkten eisernen Ket-
zur Urteilslosigkeit, zur Charakterlosigkeit, zur Geschmack- ten der unwillkürlich erworbenen Gewohnheiten und einem
losigkeit. Ein solcher Mensch dürfte wie Monsieur Teste kon- Dasein an der ätherischen Kette frei angenommener Disziplin.
statieren: »La betise n 'est pas mon fort.« Er wäre der Mensch,
der die Marionette in sich getätet hat. Die Wandlung ge- J 37 Frieclrich Nietzsehe, Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen
schieht durch psychische Deautomatisierung und mentale abgeht 6.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Man könnte aus diesen Hinweisen keinen falscheren Schluß analytische Kränkung des Menschen je wirklich gegeben hat,
ziehen, als anzunehmen, das Auftauchen des förmlichen ausgelöst durch die vorgeblich unwillkommene Entdeckung,
Übungsbewußtseins gehe allein die Aktiven etwas an. Mögen das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause. Mit Gewißheit gibt
die Sadhus in ihren Waldeinsamkeiten sich mit komplizierten es die behaviouristische Kränkung des Menschen, die eben-
Atemübungen quälen; sollen die Styliten auf ihren absurden sogut die asketologische heißen kann. Sie folgt aus der Fest-
Säulen sich dem Himmel näher fühlen, mögen die Philoso- stellung, wonach unser Dasein sich zu 99,9 % aus Wieder-
phen ihren zweiten Mantel verkaufen und auf dem Boden holungen zusammensetzt, von denen die meisten strikt
schlafen - die durchschnittlichen Sterblichen werden trotz- mechanischer Natur sind. Diese Kränkung ist nur durch die
dem an der Meinung festhalten, diese extravaganten Verfrem- Einbildung zu bewältigen, man selbst sei trotzdem origineller
dungen des Gewöhnlichen seien für sie bedeutungslos, sie als so mancher andere. Setzt man sich einer anspruchsvolleren
seien Angelegenheit eines heilig-perversen Privatissimum Selbstbeobachtung aus, gerät man in den psychosomatischen
zwischen dem unbegreiflichen Gott und seinem artistischen Maschinenraum der eigenen Existenz. Dort ist für die übliche
Gefolge. Wer daran nicht teilnehmen kann, darf im alten Ha- Spontaneitätsschmeichelei nichts zu holen, auch Freiheits-
bitus fortfahren, der, obwohl nicht vollkommen, fürs tägliche theoretiker bleiben besser oben.
Leben gut genug scheint. Bei dieser Untersuchung dringt man in ein nicht-psycho-
analytisches Unbewußtes vor, das alles umfaßt, was zu den
normalerweise unthematischen Rhythmen, Regeln und Ri-
Das Lebewesen, das nicht nicht üben kann tualen rechnet, gleich ob es auf kollektive Muster oder auf
idiosynkratische Spezialisierungen zurückgeht. In diesem
In Wahrheit wird durch die Sezession der Übenden das ge- Bereich ist alles höhere Mechanik, intime Einbildungen von
samte Ökosystem menschlichen Verhaltens auf veränderte Nicht-Mechanik und unkonditioniertem Für-sieh-Sein inbe-
Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmachungen bewirkt griffen. Die Summe dieser Mechaniken erzeugt den Überra-
auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radika- schungsraum Persönlichkeit, in dem doch nur äußerst selten
le Modifikation des jeweiligen Bereichs - das heißt des gan- Überraschendes geschieht. Die Menschen bewohnen nicht
zen Feldes psychophysisch konditionierten Tuns. Die expli- Territorien, sondern Gewohnheiten. Radikale Umzüge grei-
ziten Übungen, ob es die asanas der indischen Yogi sind, die fen zuerst die Einwurzelung in den habits an, erst dann die
stoischen Experimente mit dem Weglassen des Nicht-Eige- Orte, in denen die Gewohnheiten gründen.
nen oder die exercitationes spirituales christlicher Kletterer Seit die Wenigen explizit üben, wird evident, daß implizit
auf der Himmelsleiter, werfen einen Schatten auf alles, was alle üben, ja mehr noch, daß der Mensch ein Lebewesen ist,
ihnen auf der impliziten Seite gegenüberliegt - das ist nicht das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktions-
weniger als die Welt des alten Adam, das riesenhafte Univer- muster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die
sum der unbeleuchteten Üblichkeiten. Die Schattenzone um- Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird. So
faßt den Bereich, der durch Wiederholungen von nicht-de- wie Herr K. stets seinen nächsten Irrtum vorbereitet, so tref-
klariertem Übungscharakter beherrscht wird. Man darf die fen Menschen insgesamt immerzu die notwendigen Vorkeh-
Frage offenlassen, ob es die von Freud reklamierte psycho- rungen, um zu bleiben, wie sie bis zu dieser Minute ware::.
III Die Exerzitien der Modernen I2 Übungen und Fehlübungen

Was nicht ausreichend oft wiederholt wird, atrophiert - man Personale Identität liefert daher keinen Hinweis auf eine
kennt das aus alltäglicher Anschauung, wenn etwa die Mus- psychische Essenz oder eine träge Form, sie zeigt vielmehr
kulatur stillgelegter Gliedmaßen sich schon nach wenigen die tätige Überwindung einer Zerfallswahrscheinlichkeit an.
Tagen zurückbildet, als ob sie aus ihrem zeitweiligen Nicht- Wer mit sich selbst identisch bleibt, bestätigt sich hierdurch
gebrauch auf ihre Überflüssigkeit schlösse. In Wahrheit muß als ein funktionierendes Expertensystem, das auf fortlaufende
man wohl auch den Nichtgebrauch von Organen, Program- Selbstwiederherstellung spezialisiert ist. Bei überraschungs-
men und Kompetenzen für Übungen in absteigender Linie offenen Lebewesen vom Typus homo sapiens ist nicht einmal
halten. Wie es implizite Fitnessprogramme gibt, so auch im- Trivialität umsonst. Sie ist nur durch eine ständige Identitäts-
plizite U nfitnessprogramme. Darum warnt Seneca seinen pflege zu erreichen, deren wichtigstes Hilfsmittel in der
Zögling: »ein einziges Winterquartier ließ Hannibal erschlaf- Selbst-Retrivialisierung nach innen wie nach außen gefunden
fen.«138 Andere Schwächungszustände setzen zuweilen jah- wird. Retrivialisierung meint die Operation, dank welcher
relange Verwahrlosungsarbeit voraus. 139 lernfähige Organismen imstande sind, Neues zu behandeln,
Hieraus folgt: Schon die einfache körperliche, besser: neu- als wäre man ihm nie begegnet - sei es durch seine mechani-
ro-physische Formbewahrung ist nur als Effekt eines nicht- sche Gleichsetzung mit Bekanntem, sei es durch offene Leug-
deklarierten Trainings zu begreifen. Hierunter sind Routinen nung seines Belehrungswerts. Daher hat das Neue zunächst
zu verstehen, durch welche die Standard bewegungen eines und zumeist keine Chance auf Integration in den Apparat der
Organkomplexes in unauffälligen Prozeduren hinreichend operanten Gesten und Ideen, weil es entweder dem Bekann-
häufig abgerufen werden, um diesen auf seinem aktuellen ten oder dem Bedeutungslosen zugeordnet wird. 140
Fitnessstatus zu stabilisieren. Die Selbstaktivierungen von Wenn im Gegenzug die neoIatrische Kultur der Moderne
Organismen in stets von neuem durchzuspielenden Abläufen dem Neuen per se Bedeutung unterstellt, bewirkt das eine
mcht-deklarierter Übungsprogramme summieren sich zu Aufhellung des globalen Lernklimas - der Preis hierfür ist
einer stummen Autopoiese: Was an den Lebewesen wie ein- eine historisch nie dagewesene Verblendungsbereitschaft,
fache Identität mit sich selbst erscheint, ist de facto das Resul- die Trugbildern des Neuen unbegrenzten Kredit gewährt.
tat einer permanenten Selbstreproduktion dank der Bewälti- Im übrigen darf man selbst manifeste Dummheit nicht mehr
gung unsichtbarer Trainingsprogramme. Wahrscheinlich sind als simples Datum nehmen: Sie wird durch ein langes Training
die nächtlichen Gehirnaktivitäten, von denen man einen Teil in Lernvermeidungsoperationen erworben. Nur nach einer
als Träumen erlebt, in der Hauptsache Back-up-Prozesse für hartnäckig fortgesetzten Serie von Selbst-Knock-outs der In-
das Selbstprogramm in seinem Zustand vor der letzten Wach- telligenz kann sich ein Habitus zuverlässiger Stupidität stabi-
phase. Das Selbst ist ein Gewitter aus Wiederholungsreihen
140 Folglich kann der von Alasdair MacIntyre vorgeschlagene »nar-
unter einem Schädeldach. rative Begriff des Selbst« (Der Verlust der Tugend, a. a. 0.,
S. 290f.), der die Möglichkeit persönlicher Identität begründen
13 8 Seneca, Epistolae moral es ad Lucilium, p. Brief. soll, nicht leisten, was er verspricht, weil diese nur zu einen klei-
139 Vgl. Emil Szittyas Bericht von einem seltsamen Heiligen in As- nen Teil auf bewußten und erzählbaren Veränderungen beruht,
cona um 19IO, der sich mit sichtbarem Erfolg zu der Auffassung zum größten hingegen auf automatischen und nicht-erzählbaren
bekannte, der Mensch müsse daran arbeiten, bei lebendigem Leib Veränderungsverweigerungen sowie auf unbewußten und mime-
zu verrotten. In: Das Kuriositäten-Kabinett, Konstanz 1923, S. 99. tischen Anpassungen.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

lisieren - und sogar dieser läßt sich jederzeit durch einen version eines Einzelnen zur Philosophie oder sein Eintritt in
Rückfall in die Nicht-Dummheit dementieren. Umgekehrt eine ethische Gruppe den modus vivendi all derer, mit denen
ist jeder lerntheoretischen Romantik mit Skepsis zu begeg- er bis dahin unter einem Dach lebte, denselben Sitten ver-
nen, auch wenn sie unter klassischen Namen auftritt. Aristo- pflichtet, von denselben Gewohnheiten imprägniert, in die-
teIes sprach als Romantiker, wenn er im ersten Satz der M e- selben Geschichten verstrickt. Jede Konversion impliziert
taphysik statuierte: »Alle Menschen streben von Natur aus den Sprechakt: »Hiermit trete ich aus der gemeinsamen Wirk-
nach Wissen. « In Wahrheit stößt jedes Wissensstreben - von lichkeit aus « oder zumindest die Absichtserklärung: »Ich will
Aristoteles vor allem als primäre Augenlust aufgefaßt - an das Kontinuum des Falschen und Schlechten verlassen.« Da-
seine Grenzen, sobald Neues auftaucht, das man nicht sehen zu braucht der Adept nicht das Schiff zu besteigen, das ihn
will. In der Regel sind das Anblicke, die mit dem Imperativ zur Insel Utopia brächte. Die Zielorte liegen oft nur ein paar
der Identitätsbewahrung nicht verträglich sind. Der vielge- Wegstunden von den aussichtslosen Dörfern entfernt oder
lobte Wissenstrieb des Menschen verwandelt sich dann im eine Tageswanderung weit von der agitierten Stadt. Wer diese
Nu in die Kunst, nichts gehört und gesehen zu haben. Heterotopien aufsucht, weiß, daß er, dort angekommen, viel
Durch die ethische Unterscheidung wird nicht nur der weitere innere Wege zurückzulegen hat als äußere.
kaschierte Übungscharakter des gewöhnlichen Lebens ent- Wird ein Bewerber in eine Gemeinschaft von Übenden auf-
hüllt. Sie legt auch das Gefälle zwischen dem bisherigen Da- genommen, besteht sein weiteres Leben in der systematisch
sein im Gewohnten und den neu zu wählenden metanoeti- betriebenen Umwertung der Werte. Die Prozedur hieß bei
sehen Lebensformen offen. Diese Unterscheidung verlangt den Kynikern »die Münze umprägen« -paracharattein to no-
Grausamkeit gegen sich selbst und andere, sie erzeugt Über- misma -, was auch »die Sitten ändern« bedeutet. Eine Geld-
forderung im nacktesten Zustand. Ihre Originalstimme ist zu fälschermetapher liefert das Schlüsselwort zur Geschichte der
hören, wenn Jesus sagt: Wer Vater und Mutter mehr liebt als höheren Moral. Die ethischen Münzstätten sind Trainings-
mlc. h' .
,1st memer mc. ht wert. 141 Wer sich nicht lossagt von lager für das umzuformende Ethos. Bei den Kynikern des
allem, was er hat, kann nicht mein Schüler sein. 142 Ich bin 4. Jahrhunderts vor Christus implizierte das: sämtlichen Ver-
nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das haltensweisen eine Absage erteilen, die auf willkürlicher Men-
143
Schwert. Die Klinge der Unterscheidung ist die Apoka- schensatzung beruhen, um künftig ausschließlich auf die phy-
lypse, die jetzt geschieht oder nie. sis zu horchen. Diese ungenierten Dissidenten dürften die
einzigen Weisen gewesen sein, die meinten, man könne der-
gleichen mitten in der Stadt tun - eine freie Tonne vorausge-
Umübung aller Übungen setzt. Den übrigen Adepten der ethischen Differenz war klar,
daß man dem gewohnten Aufenthaltsort besser den Rücken
So wie der unerwartete Selbstmord eines Bekannten dessen kehrt. Da Ethos und Topos zusammengehören, verlangt das
gesamte Mitwelt in Frage stellt, so problematisiert die Kon- andere Ethos nach dem anderen Obdach - an den Ursprung
14 1 Matthäus 10, 37. darf nur zurückkehren, wer am neuen Ort und im anderen
14 Z Lukas 14, 33. H abitus so tief verankert ist, daß er am alten keinen Rückfall
143 Matthäus 10, 34. riskiert. Bis dahin ist es gut, einen geschützten Raum zu b2-
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

wohnen, in dem das, was die Vielen für richtig halten - ton asketeria, des indischen ashram, der oberägyptischen Eremi-
pollon doxa 144 -, am besseren Wissen der Wenigen abprallt. tenklause war jedoch die gesamte empirische Menschenwelt
Bei den frühen griechischen Christen nannte man ein abgele- schon früh nichts anderes als ein korruptes Trainingslager, in
genes Trainingzentrum unbefangen nach dem, was in ihm ge- dem bei Tag und Nacht umfassende Falschheitsübungen ab-
trieben wurde: asketeria, gelegentlich auch hesychasteria, Ort liefen - unter der Leitung halb klarer Könige im Rang von
des Stille-Exerzitiums. Das indische Wort ashram, bis heute Göttern, scheinwissender Ältester und trüb-strenger Priester,
lebhaft in Gebrauch, bezeichnet den »Ort der Anstrengung«. die sich nur auf die Weitergabe konventioneller Regeln und
Hingegen bedeutet sannyasin, der indische Name der Verzich- leerlaufender Rituale verstanden: Sie übersetzten äußere Not-
tenden, wörtlich: der, der alles abgelegt hat - einschließlich der wendigkeiten in heilige Sitten, um dann die Sitten wie heilige
Bindungen an die profane Bleibe. Noch von dem indischen Notwendigkeiten zu verteidigen. Der Rest ist »Kultur« - so-
Weisen Tota Puri, ca. 18 I 5 -ca. 1875, dem Lehrer Ramakrish- fern damit die Kopiermaschine bezeichnet ist, die uns die
nas, der den Beinamen »der Nackte« (nangka) trug, ist über- Selbsterhaltung des Konventionenkomplexes (neuerdings: ei-
liefert, er habe zeitlebens nie Kleider getragen, nie unter einem nes Memplexes) durch die Übertragung geltender Muster von
Dach geschlafen und sich nie länger als drei Tage an einem Ort einer Generation auf die nächste und übernächste garantiert.
aufgehalten. Für Nietzsehe, nur eine Generation jünger als der Alle Moralphilosophie ist darum oberflächlich, die nicht in
ausweichende Inder, hieß der andere Ort Sils Maria, am Fuß einer Unterscheidung der Gewohnheiten gründet. Auch eine
von Bergen, die sich in der strengen Glätte des Silvaplaner Sees Kritik der praktischen Vernunft lebt von ungarantierten Vor-
spiegeln, »sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit«. aussetzungen, solange nicht die wichtigste anthropologische
Prämisse geklärt ist: ob menschliche Wesen überhaupt aus
Die ethische Unterscheidung löst die Katastrophe der Ge- festen schlechten Gewohnheiten herausgelöst werden können
wohnheiten aus. Sie stellt den Menschen bloß als ein Wesen, und unter welchen Bedingungen es ihnen gelingt, sich in guten
das sich an alles gewöhnt. Die »Tugend« ist eine Möglichkeit Gewohnheiten neu zu verankern. Kants bekanntes Argument
von Gewöhnung unter anderen. Ebenso aber ist der Mensch aus der Friedensschrift, selbst »ein Volk von Teufeln«, wenn es
imstande, sich das Schlechteste zu eigen zu machen, bis es ihm nur Verstand habe, müsse sich, um einen passablen modus
wie eine unantastbare Selbstverständlichkeit erscheint. Wer vivendi zu finden, eine Rechtsordnung geben, die einer bür-
heute als Bewohner eines etwas freieren Landes auf die Ver- gerlichen Verfassung zum Verwechseln ähnlich sähe, leidet an
hältnisse in manifesten Diktaturen schaut, hat hierfür reiche der Verkennung der antimoralischen Gravitation: »Teufel
Evidenz, ob sie den Tagesnachrichten entstammt oder dem sein« - ob arm oder böse, sei dahingestellt - ist ja nur eine
Archiv. Man muß einen Nürnberger Reichsparteitag, eine Metapher für die Fixierung eines Akteurs in einem unverstän-
Moskauer Parade am I. Mai oder eine massengymnastische digen Habitus, und ebendessen Aufhebung macht sich Kant in
Performance in Pjöngjang gesehen haben, um einen BegriH seinem Plädoyer zu leicht. 145 Die Kantischen Teufel sind
davon zu erhalten, bis wohin die Anhänglichkeit ans Abscheu-
145 Zumindest an der genannten Stelle. In seinen früheren Vorlesun-
lichste reichen kann. Aus der Perspektive der griechischen gen zur Pädagogik blickt Kant tiefer, indem er punktuell auf
prälogische Voraussetzungen des Vernunftannehmenkönnens
144 Vgl. Julian Apostata, Oratio 7, 225 D-226 A. eingeht. In Rinks Nachschrift heißt es in Artikel 7: »Derjenige,
650 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Kaufleute, die wissen, bis wohin sie zu weit gehen dürfen, schöpfung folgen oder aus dem durchschlagenden Sieg einer
brave Egoisten, die ihr Rational-choice-Seminar besucht ha- Partei. Systemiker sagen darum, zum Zubehör des Bösen ge-
ben. Ein wirkliches Volk von Teufeln verkörpert ein Kollektiv hört die Unfähigkeit zu siegen.
aus Fatalisten, bei denen die Entdisziplinierung das funda-
mentalistische Niveau erreicht. Sie hausen nicht bloß in den
Kellerlöchern von St. Petersburg, sie sind in jeder aussichts- Woher die schlechte Gewohnheit kommt:
losen Banlieue, jeder chronischen Kampfzone beheimatet. In Zur Metaphysik des Eisernen Zeitalters
solchen Lagen ist der Einzelne überzeugt, nichts sei normaler
als die Hölle, die man sich gegenseitig bereitet, seit man den- Bevor man die Frage entscheidet, ob Menschen aus schlechten
ken kann. Kein Teufel ohne seinen Kreis, keine Hölle ohne den Gewohnheiten zu entwurzeln sind und, falls ja, auf welche
Kreis aus Kreisen. Wer sich an die Hölle gewöhnt hat, ist gegen Weise, sollte man rekapitulieren, wie es dazu kommen konnte,
die Aufforderung immun, sein Leben zu ändern, und wäre es daß sie jemals in ihnen Fuß faßten. Statt unde malum? fragen
im eigenen Interesse. Was eigenes Interesse heißt, ist bereits wir jetzt unde mala habitudo? Die klassischen moraltheolo-
vom Laufen im schlimmen Kreis eingefangen. Unter solchen gischen Antworten liegen in Form von Lasterkatalogen vor,
Bedingungen ist fast gleichgültig, welche Vorgaben man unter denen die siebenteilige Liste Gregors des Großen aus
wählt, um die Insassen je eigener circuli vitiosi zur Vernunft dem späten 6. Jahrhundert am erfolgreichsten wurde. 147
zu bringen, der Mißerfolg ist so oder so gewiß: Weder darf In ihnen wird statuiert, der böse Habitus sei Folge eines
man sich von der inneren »moralischen Besserung der Men- bösen Beschlusses, hervorgegangen aus dem Müßiggang, an-
schen« etwas erhoffen, die auch Kant lebensklug zurückstellt, getrieben vom Hochmut. Manche mythischen Antworten
noch vom äußerlichen »Mechanism der Natur durch selbst- reichen tiefer, weil sie über das Individuum hinausblicken
süchtige Neigungen« , von deren gegenseitiger Neutralisie- und die üble Gewohnheit mit dem Zwang in Verbindung
rung der Philosoph sich zumindest den erzwungenen Frieden bringen, eine karge Welt zu bewohnen. Wäre dies eine kul-
verspricht. Erfahrung zeigt, Frieden zwischen Bewohnern turhistorische Untersuchung, hätte hier ein Passus über die
von Höllenkreisen resultiert nicht aus der gegenseitigen Naturgeschichte des Mangels und seine Übersetzung in die
Temperierung der »selbstsüchtigen Neigungen«, sondern Humansphäre zu folgen. In unserem Kontext genügt der
aus handfesten Asymmetrien. Die können aus einseitiger Er- Hinweis, daß die frühesten Artikulationen der Verlegenheit,
ein Mensch zu sein, in die Ära der mesopotamischen und
der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht diszipliniert ist, ist wild. mediterranen Imperien zu datieren sind. Hier sprechen an-
Verabsäumung der Disziplin ist ein größeres Übel, als Verabsäu-
mung der Kultur, denn diese kann noch weiterhin nachgeholt onyme Autoren zum ersten Mal von einem Unbehagen in der
werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Ver- Welt, das über jedes Unbehagen in der Kultur hinausweist.
sehen in der Disziplin kann nie ersetzt werden. « Vgl. Immanuel Aufschlußreiche Aussagen über die Entstehung negativer
Kant, Werke, Band XII, S. 700 (zitiert nach Christopher Korn,
Bildung und Disziplin, a. a. O. S. IOOf.). 147 Sie umfaßt die fünf spirituellen Laster: superbia, acedia oder tri-
145 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, in: Schriften zur Anthro- stitia, avaritia, invidia, ira sowie die bei den fleischlichen Laster
pologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Erster Teil, luxuria und gula (Stolz, Faulheit/ Depression, Geiz, Neid, Zorn,
Darmstadt 1968, S. 224f. Geilheit, Völlerei/Maßlosigkeit).
652 In Die Exerz itien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Habitualisierungen liefern uns die beiden großen Mythen über da Menschen, wie empirische Befunde zeigen, deutlich lei-
die conditio humana, die die Anfänge des altabendländischen densfähiger werden, wenn sie ein klares Wozu vor Augen
Zivilisationskomplexes markieren - auf jüdischer und christ- haben - oder in Ermangelung eines Wozu zumindest ein War-
licher Seite die biblische Erzählung von der Vertreibung des um und Woher. Der christlichen Rezeption der Erzählung
ersten Menschenpaares aus dem Paradies, auf griechisch-römi- von der Vertreibung aus dem Paradies verdankt man die Ent-
scher Seite die Lehre vom Goldenen Zeitalter, das aufgrund stehung einer Zivilisation, deren Angehörige nicht in Not
einer dunklen Verschlechterungskausalität über die Zwischen- geraten können, ohne zu denken, sie hätten ihre Malaise ver-
stufen des Bronzenen und des Silbernen in das gegenwärtige dient. Die Bereitschaft, sich für sein Leiden schuldig zu füh-
Eiserne Zeitalter gemündet sei. Beiden Erzählungen ist der len, wird von uns regelmäßig wie ein Beitrag zu einer seman-
Vorsatz gemeinsam, die Normalität des Schlechten zu erklä- tischen Krankenkasse erbracht, ja, was man das Bekenntnis
ren. Was sie in scharfen Gegensatz zueinander stellt, sind die zur christlichen »Religion« genannt hat, war oft nicht mehr
Mittel, mit denen sie dieses Ziel anstreben. Die erste erläutert als unser Pflichtbeitrag zu diesem Schuldsystem.
den Aufenthalt der nach-paradiesischen Menschheit in einer Im aktuellen Zusammenhang kommt es jedoch auf das
chronisch unbefriedigenden Wirklichkeit mittels eines mora- gemeinsame Engagement der jüdischen wie der griechisch-
lischen Katastrophenmodells, genannt der Sündenfall, die römischen Erzählungen an, die Situation des Menschen in der
zweite leitet die Verlegenheiten des Menschengeschlechts aus Welt als Daueraufenthalt in einem malignen Milieu auszule-
einem Schicksalsgesetz ab, nach dem die Gegenwart als dritte gen. Beide gehen von der Evidenz aus, das menschliche Da-
Verfallsstufe in einem providentiellen Verschlimmerungspro- sein sei in seiner jetzigen Erscheinungsform von Grund auf
zeß erscheint. Während der üble status quo im moralistischen ein In-der-Not-Sein - die Notwendigkeit der Gewöhnung an
Modell als Folge des Überschreitens einer einzigen Schwelle die Not inbegriffen. Gemeinsam halten sie die komplemen-
erklärt wird, braucht der Weltaltermythos drei Stufen abwärts, täre Evidenz aufrecht, die aktuelle Lage sei nur durch den
um die Befangenheit der Menschen in den Mißverhältnissen Abfall von einem ursprünglich ganz anderen Zustand zu be-
des Eisernen Zeitalters zu deuten. greifen. Das chronische Elend tritt erst infolge von epochalen
Verschlechterungen auf, seien sie graduell und auf Wieder-
Ich möchte mich hier nicht mit dem Befund aufhalten, daß holung angelegt oder einmalig und katastrophisch. Das habi-
die fatalistische Deutung die moralistische an kontemplativer tualisierte Elend wird hier wie dort differentiell erfahren: Im
Weite wie an geschichtsphilosophischem Gehalt bei weitem Realen kontrastiert es mit dem modus vivendi glücklicher
übertrifft, indessen die moralistische ihren Adressaten wegen Einzelner, denen es auch heute besser ergeht als den meisten;
ihrer invasiven Tendenz tiefer unter die Haut dringt. Aus im Imaginären mit den Vorstellungen von Zeiten, in denen es
systemischer Sicht enthält die biblische Erzählung ein be- alle besser hatten. Diese Differenz liefert die Matrix für die
trächtliches Element von moral insanity, da sie den chronisch Suche nach dem anderen Zustand. »Wo das Leben selbst eine
belasteten Menschen den Stachel noch tiefer ins Fleisch Entziehungskur ist, gedeiht der Boden für die Sucht . . . «148
drückt, um ihre Lage als Erblast und wohlverdiente Strafe
zu interpretieren. Zugleich entbehrt das kulpabilistische Ar-
148 Peter Weibel unter Mitwirkung von Loys Egg, Lebenssehnsucht
rangement nicht einer gewissen psychagogischen Klugheit, und Sucht, Berlin 2002, S. 32.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Wie Sucht und Suche zusammengehören, erklären Etymolo- bekommt nie mehr genug. Einer unvergebbaren Verfehlung
gen und Psychologen. wegen wird der Ur-Habitus des Aushaltens angesichts stän-
digen Nicht-genug-Habens ins Weltverständnis des vorgebli-
chen »Mängelwesens «lso Mensch eingebrannt. Er bildet eine
Realismus, Knappheit, Entfremdung primäre Disziplinierung im Rang einer Grundstimmung. Aus
ihr folgen die Ur-Resignation, die zum Realismus als innerem
Die Anpassung an eine chronisch unangemessene Umgebung Härte-Regler führt, und der Ur-Eskapismus, der die Einrich-
erzeugt in den Menschen nach dem Zeugnis der ältesten Ver- tung von imaginären Fülle-Reservaten postuliert.
haltenstheorien einen Habitus, den man in einem nicht-phi- Hierdurch wird der Fremde in die Rolle dessen erhoben,
losophischen Sinn als Realismus bezeichnen kann. Er läßt der die Knappheit dramatisiert, indem er zu konsumieren
sich am ehesten als verfestigtes Durchhalten unter chroni- droht, wovon mein Überleben und die Selbstbehauptung
schem Druck charakterisieren. In der biblischen Erzählung meiner Gruppe abhängen. Der erste Fremde ist der Herr,
fällt der Akzent auf das geduckte Aushalten - »im Schweiße von dem ich abhängig wurde und der mich zwar am Leben
deines Angesichts« - unter den Zwängen des Ackerbaus, in erhält, mir jedoch jeden Überschuß abnimmt, der mich besser
den mediterranen Zeitaltererzählungen eher auf die neuartige erhielte, könnte ich ihn behalten; er ist die Einheit aus mei-
Nötigung zu einem Dasein im Dauerkonflikt mit feindseli- nem Ausbeuter und meinem Retter. Der zweite Fremde ist
gen und korrupten Nachbarn. Das wichtigste Vertreibungs- der Feind, der nimmt, bis nichts mehr übrig bleibt. Entfrem-
resultat sind dem I. Buch Mose zufolge der Arbeitsfluch und det ist daher, wer einen Herrn und einen Feind hat - egal ob er
die schweren Geburten, nach Hesiod die chronische U nver- im Ernstfall, wie in den psychopolitischen Standardsituatio-
läßlichkeit der sozialen Beziehungen und die Verkehrung der nen, mit dem Herrn gegen den Feind zu Felde zieht oder mit
nachbarschaftsethischen N ormen. 149 dem Feind gegen den Herrn - wie man es in der Auflösung
Beide Modelle enthalten rudimentäre Sozialphilosophien der Loyalitäten bei Palastrevolten, Aufständen und Revolu-
und elementare Hermeneutiken der Not, die sich auf moderne tionskriegen beobachtet.
Entfremdungslehren abbilden lassen: Laut ersteren wäre der Was Sartre in seinen Untersuchungen zur entfremdeten
Sturz aus der paradiesischen Nicht-Arbeitswelt in die Sphäre »Praxis « über den »Menschen, der in Knappheit lebt«
des Arbeitszwangs durch das traumatische Auftauchen der (l'homme de La rarete), zu sagen weiß,151 ist im Grunde nur
Knappheit bedingt. Das Lebenmüssen im Knappheitsmilieu eine Exegese des biblischen Vertreibungsmythos, gelesen
resultiert aus der menschlichen Urschuld: Wer gesündigt hat, durch ein HegeIsches Begriffsgitter. Die Knappheit verhängt
die Unmöglichkeit der Koexistenz über das Kollektiv. Sartre
149 Nicht ist gerne gesehn, wer wahr schwört, nicht der Gerechte
Oder der Tüchtige, sondern den Unheilstifter, den Frevler
Ehren sie lieber; die Hand weiß nichts von der heiligen Zucht r 50 Zur Widerlegung der Mängelwesen-Ideologie vgl. Peter Sloter-
mehr, dijk, Sphären III, Schäume, Frankfurt am Main 2004, Kapitel 3,
Nichts vom Recht; es verletzet den edleren Mann der Verworfne, Auftrieb und Verwöhnung. Zur Kritik der reinen Laune, S. 671-
Ihn durch tückische Worte verstrickend, und schwört noch den 859·
Meineid. r 51 Vgl. Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg
Hesiod, Werke und Tage, V. 190-194. 1986.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen 657

fundiert dieses infernalische Existential um eine Dimension ten und Machtcliquen auszutauschen; sie müssen sich von
zu tief, um es mit dem marxistischen Konzept der Ausbeu- ihren gewachsenen Intuitionen für Recht und Unrecht tren-
tung in Übereinstimmung bringen zu können; auch verlegt er nen und sich an den Vorrang der institutionalisierten Ge-
Konkurrenz und gegenseitige Verdinglichung kraft des bösen richtsverfahren gewöhnen. Gemeinsam ergeben diese Um-
»Blicks« in solche Abgründe, daß keine Versöhnung oder Be- stellungen einen Habituswechsel, der von den Anhängern
freundung sie je überwinden könnte - weder innerhalb noch älterer Werte wie dem Dichter-Bauern Hesiod nur als Ein-
außerhalb der Sphäre der Knappheit. Dadurch verkennt er übung in eine verkehrte Welt wahrgenommen werden konn-
nicht nur die mögliche Produktivität der Konkurrenz, auch te. Ich füge en passant die Bemerkung hinzu, daß der Koran,
der faktisch vollzogene Austritt aus der Mangelwelt infolge obschon zwölfhundert Jahre später entstanden, seinem mora-
der modernen Eigentumswirtschaft gerät ihm gar nicht in den lischen Ansatz gemäß in vielen Punkten mit der hesiodischen
Blick. Das Projekt einer Rettung des Marxismus durch seine Weitsicht aus Werke und Tage auf einer Stufe steht. In ihm hat
Anreicherung mit existentialistischen Motiven war somit von sich das Mißtrauen des Bauern gegen die unverständliche
vorneherein zum Scheitern verurteilt. Die tiefste Quelle von neue Verkehrswelt zum apokalyptischen Haß des Wüsten-
Sartres Fehlschlag liegt jedoch nicht in seiner Anbiederung an bewohners gegen die für den alten Verstand undurchdring-
die in sich brüchige Kritik der politischen Ökonomie. Sie ent- lichen großen Städte gesteigert. Was man den Prophetismus
springt seiner philosophischen Gleichsetzung des Menschen nennt, ist hier die feurige Form des Neinsagens zu erhöhter
mit dem Herd des Nichts. Wo er am resolutesten den meta- Komplexität.
physischen Jargon benutzt, entfernt er sich am weitesten vom
Stand der Kunst hinsichtlich des Wissens vom Menschen. Der
Mensch ist nicht Negativität, sondern der Differenzpunkt Die asketische Suspension der Entfremdung:
zwischen Wiederholungen. Die fünf Fronten
Hesiod hebt in seinen Aussagen zum Eisernen Zeitalter die
Zerrüttung des sozialen Bandes hervor. Ihm fällt am meisten Vor diesem Hintergrund läßt sich genauer bestimmen, was die
ins Auge, daß in dem jetzt lebenden Geschlecht der Habitus ethische Unterscheidung bewirkt. Sie zielt auf die systemati-
der Untreue vorherrscht, selbst unter Verwandten und sche Entwöhnung des Subjekts von den Realitätseffekten der
scheinbaren Freunden. Die »natürlichen« Vorzeichen von Eisernen Zeit. Sie stellt, gegen den ersten Augenschein, die
Gut und Böse, von Ehre und Ehrlosigkeit etc. scheinen sich Endgültigkeit der nach-paradiesischen Kondition in Frage.
in der Eisernen Zeit allenthalben umgekehrt zu haben. Aus Um den übenden Einzelnen aus dem herrschenden Realitäts-
kulturhistorischer Sicht verrät dies eine pragmatische Groß- block herauszulösen, setzt die asketische Revolte durchwegs
wetterlage, in der ländlich geprägte Populationen dem Zwang am stärksten Punkt des Gegners an. Die große Entwöhnungs-
zur Einübung ungewohnter städtisch-strategischer Lebens- kur richtet sich, wie die Geschichte der Askesen zeigt, auf die
formen unterliegen. In diesem Wandel müssen die Einzelnen fünf Hauptfronten der Not: die materielle Knappheit; den
lernen, von Gesinnung auf Erfolg umzustellen; sie sehen sich Lastcharakter des Daseins; den sexuellen Trieb; die Entfrem-
genötigt, die Anerkennung durch Verwandte und Nachbar- dung, die Unfreiwilligkeit des Todes. Auf diesen Feldern
schaften gegen die Anerkennung durch Marktöffentlichkei- führt das frühe explizit übende Leben den Nachweis, daß :::S
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

möglich ist, selbst die am weitesten verbreiteten existentiellen noch Exerzitien. Die frühen Bettelmönchkulturen in Asien
Deformationen auszugleichen - um einen Preis jedoch, der und Europa beweisen, daß den Mitmenschen das Schauspiel
die meisten dazu bewegt, lieber die Mißstände zu akzeptieren. der Überlegenheit des Geistes über den minimierten Leib ein
Es ist nicht nur die »Furcht vor etwas nach dem Tod «, wie Opfer wert war: Das Almosen war der Preis für den Eintritt
Hamlet sagt, that makes calamity of so lang life - Schlegel in das Theater der spirituellen Triumphe. Man könnte das
übersetzt »was Elend läßt zu hohen Jahren kommen« -, es Spenden für die Mönche ein Hereinfallen auf den Priester-
ist mehr noch das Zögern vor dem Ausbruch aus dem ein- betrug nennen, die psychische Wirklichkeit jedoch spricht
geübten und angenommenen Elend. Bei der Wahl zwischen eine andere Sprache. Die alte Bettelökonomie gehört zum
der erworbenen Deformation durch die Realität und den be- Reich der Suche nach Souveränität auch für die Ärmsten:
fürchteten Deformationen durch die lege artis betriebene Wer selber fast nichts hat und noch die kargste Mahlzeit teilt,
Askese hat sich die Mehrheit stets für die erste entschieden. partizipiert an den Siegen der Asketen über das Gesetz der
Lieber wollte man auf eine bequeme Revolution warten, von Knappheit. Bei Franz von Assisi erscheint der Sieg über den
der man behauptete, sie komme als »Ereignis«. Immer schon Hunger eingekleidet in die Minnebeziehung zur Dame Ar-
wich man der unbequemen Einsicht aus, wonach sich nichts mut - manche Europäer, vielleicht nicht die moralisch
ereignet, was man nicht selbst herbeiführt. unempfindlichsten, sind bis heute beeindruckt von dieser
Verwandlung eines Elendsfaktors in galante Allegorie. Hal-
ten wir fest, daß noch die alte Arbeiterbewegung in Europa
Gegen den Hunger etwas vom ersten Aufstand gegen die Notdiktatur wußte.
Beim Hungern wie beim Essen - die Solidarität . . .
Historische Evidenz spricht dafür, daß die ältesten Askesen
sich an der Armutsfront entwickelten: Die alten indischen
Übungsmeister haben das Prinzip des freiwilligen Entzugs Gegen die Überlastung
wohl zuerst entdeckt, durch den das Subjekt gewissermaßen
auf die andere Seite des Leidens gelangt. Schon im frühesten Die zweite Ausweitung der Souveränitätszone ist den frühen
Brahmanenturn entsteht ein Extremismus der Enthaltsam- Athleten und ihren Vorläufern in den krieger-adligen Milieus
keit, der von der phantastischen Überzeugung angetrieben zu verdanken. Sie finden einen Weg, das Gesetz der perma-
wird, der Stoffwechsel sei nur eine der Illusionen, mit denen nenten Überlastung außer Kraft zu setzen, unter das sich die
die Maya, die sinnliche Schleiermacherin, den Menschen zum große Mehrheit der Menschen in den Klassengesellschaften
Narren hält. Indem sie den Nahrungsverzicht zu einer soma- beugt. Während die normale Antwort auf chronische Bela-
tisch-spirituellen Technik ausbauten, transformierten sie den stung in einer Mischung aus Verhärtungen und kleinen
Hunger in eine freie Fastenhandlung. Sie machten aus einer Fluchten besteht, die früher oder später im Verschleiß enden,
demütigenden Passivität eine asketische Tat. Die Entmach- entwickeln die Kämpfer und Athleten die entgegengesetzte
tung des Hungers zog unmittelbar die Emanzipation vom Antwort - sie gewinnen Freiheitsgrade gegenüber dem Last-
Arbeitszwang nach sich. Wer die Enthaltsamkeit wählt, charakter der Existenz, indem sie konsequent das Schwere
scheidet aus dem produzierenden Leben aus und kennt nur durch das noch Schwerere überbieten. Sie zeigen, daß sta::~.;::e$
660 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen 661

Angestrengtsein kein zureichender Grund ist, sich nicht noch in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß schon Euripi-
mehr anzustrengen. Das Bild von Herakles am Scheideweg des die dekadent verselbständigte Szene der Sportler im 4.
stellt die ethische Urszene Europas dar: Dieser Held des Et- Jahrhundert vor Christus für eine Landplage hielt. »Es gibt
was-Tun-Könnens überhaupt verkörpert den Lehrsatz, man zwar zahllose Übel in Hellas, doch keins ist schlimmer als das
werde zum Menschen, indem man den schweren Weg wählt. Volk der Athleten (athleton genaus).« 153
Dazu gilt es, die herbe Arete der süßen Schlechtigkeit vorzu-
ziehen.
Die athletische Ironie rückt die Grenzen der Belastbarkeit Gegen die Sexualnot .
ins Unglaubliche hinaus - wo Keiner-kann-das war, ist Ich-
kann geworden. Auch diese Erweiterung des Könnenshori- An der dritten Front wenden sich die Aktivisten den sexuel-
zonts fließt unmittelbar ins Allgemeine. Noch in der vulgären len Triebspannungen zu. Da die Libido in vielen älteren Kul-
Schaulust des Publikums bei sportlichen und circensischen turen, insbesondere solchen mit streng patriarchalischen
Darbietungen verbirgt sich eine Solidarisierung mit den Ak- Heirats- und Verwandtschaftsregeln, zumeist zu langem
teuren von anthropologisch weitreichenden Implikationen. Aufschub verurteilt war - zwischen dem Eintritt der Ge-
Die Athleten haben wie die Hungerkünstler für die psycho- schlechtsreife und einer möglichen legalisierten sexuellen
logisch Ärmsten und vital Schwächsten eine Botschaft, an der Praxis mußten nicht selten Jahrzehnte vergehen -, wurde
teilzuhaben für diese von Belang ist: Der beste Ausweg aus der Eros von Unzähligen als unlebbares Dilemma erfahren.
der Erschöpfung besteht darin, das Pensum zu verdoppeln. Der liebenswürdigste unter den Göttern erwies sich für Un-
Auch wer sich rucht vorstellen kann, diese Maxime wörtlich zählige als der boshafteste. Gab man dem Trieb nach, geriet
zu befolgen, sollte sich von ihr anregen lassen. Daß es immer man leicht auf die Seite der Unordnung, widerstand man ihm,
Spielraum nach oben gibt, ist eine These, die alle angeht. war man einer permanenten Tortur von innen ausgeliefert. So
In diesem Zusammenhang ist die Zukunft des modernen wurde die Verzweiflung an der Sexualität zu einer konstanten
Sports zu prognostizieren. Er steht wie ein Herakleskollektiv Größe am Unbehagen in der Zivilisation. Die weit verbrei-
an einem Scheideweg. Entweder fungiert der Sportler weiter- teten Ventilinstitutionen Prostitution, Konkubinat, Abreak-
hin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze tion mit Sklaven, Selbstbefriedigung, Lizenzen für die Jünge-
zum Unmöglichen Schritte nach vorn zu tun - mit unabseh- ren usw., milderten die Verlegenheit, hoben sie aber nicht auf.
baren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schö- Die asketische Antwort auf die Herausforderung durch den
ne Schauspiel einlassen,152 oder er geht den schon jetzt vor- Trieb bestand darin, das ständige Zuviel an spezifischem
gezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Schub in unspezifischen Elan für ein Streben zu höheren Zie-
Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten über- len umzuwandeln. Das Verfahren hierzu heißt nach einer
schütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt. Man darf jüngeren Sprachregelung Sublimation. Platon hat deren Sche-
ma offengelegt, indem er die Stufenleiter beschrieb, über die
152 Herausragend hierzu: Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports.
Frankfurt am Main 2007; die verlorene Poesie der frühen Rad- 153 Stefan Müller, Das Volk der Athleten. Untersuchungen zur Ideo-
sports wird vergegenwärtigt in: Philippe Bordas, Forcenes, Paris logie und Kritik des Sports in der griechisch-römischen Antike,
2°°7· Trier 1995, S. 5·
IIr Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

das sinnliche Begehren zu einem geistigen Movens aufsteigt - rend die Einzelnen sich zunehmend davon überzeugen, daß
von einem schönen Körper zu einem anderen, von der Mehr- sie dem perversen Imperativ, immer mehr zu begehren und
zahl der schönen Körper zur Einzahl des Schönen. Dieses zu enjoyen, nicht mehr folgen können.
erweist sich zuletzt als die in die Sinnlichkeit leuchtende Seite
des Guten selbst. Die philosophische Kritik der Sexualität
wirft dieser in ihren gewöhnlichen Ausprägungen also nur Gegen Herrschaft und Feindschaft
vor, den Aufstieg zu sabotieren - sei es, indem sie als uner-
füllte eine Fixierung auf frustrierende Phantasien erzeugt, sei An der vierten Front hebt die asketische Revolte die Entfrem-
es, indem sie als erfüllte die psychische Energie abfließen läßt dung auf, indem sie den Nachweis führt, der Mensch sei
und sich im kleinen Kreislauf von Spannung und Entspan- niemals dazu zu zwingen, einen Herrn und einen Feind zu
nung verfängt. Die monastische Kritik der Sexualität verfährt haben. Das Befreiungsverfahren besteht auch hier in einer
von Anfang an viel robuster, indem sie das körperliche Be- freiwilligen Übertreibung des Übels. Der Asket versklavt
gehren geradezu diabolisiert - mit demselben Ziel jedoch: ein sich selbst so radikal, daß keine empirische Versklavung ihn
unendliches Begehren zu erzeugen und es auf der notwendi- mehr treffen kann. Er wählt seinen Herrn in den höchsten
gen Temperatur zu halten. Dieses infinitisierte Begehren - Höhen, um sich von allen Herren zweiten Ranges zu be-
das in der verschämten Metaphysik des 20. Jahrhunderts un- freien. So kommt Abraham von den sichtbaren Göttern los,
ter dem Titel desir weiterspukt - muß nichts so sehr fürchten indem er seinen unsichtbaren Gott bekennt; so unterwirft
wie den Rückfall in die Endlichkeit, mit der die laue Prosa sich der kynisch-stoische Weise dem Gesetz des Kosmos,
zurückkehrt. In ihr dominieren die trivialen Seelenzustände, das ihn von willkürlichen menschlichen Satzungen emanzi-
die Depression, die Elanlosigkeit, auch der banale Antriebs- piert; so rät der ironische Christus, dem Kaiser zu geben, was
überschuß, der keinen Anschluß an zielerfüllte und auf- des Kaisers ist, weil die Loyalität der Gläubigen Gott gehört,
schwunghafte Programme findet. Die schwunglose Psyche weswegen die Beziehung zum Caesar nicht mehr als eine Äu-
ist unfähig, sich von einem Absoluten umspannt zu fühlen ßerlichkeit sein kann. So hält Paulus den Römern vor Augen,
- das ergibt den Trübsinn, dem die frühen Äbte die Namen sie seien vormals Sklaven der Sünde gewesen, jetzt aber, als
akedia gaben, den Mittagsdämon, der die Seele des Mönchs Sklaven der Gerechtigkeit, seien sie Freie. lss Er selbst stellt
mit Gleichgültigkeit gegen Gott und alles übrige paralysiert. sich in der Anrede des Titusbriefs als auserwählten Sklaven
Die akedia figuriert in der Liste der sieben Todsünden als die Gottes vor-und eben hierdurch als freien Mann. Noch in den
»Trägheit« oder »Faulheit« und wird von ihren Kennern fast modernen Reden vom rule of law klingt die Sprache des älte-
noch mehr gefürchtet als die Königin der Laster, die super- sten Suprematismus an, nach dem es Freiheit nur unter dem
IS4
bia. In der Modenie hat sich das unendliche Begehren von Gesetz gibt. Die Nötigung durch das Höchste stuft alle an-
den Menschen getrennt. Es ist in das ökonomische System deren Zwänge zu Faktoren zweiter Ordnung herab. Die Herr-
ausgewandert, das seine eigene Rastlosigkeit erzeugt, wäh- schaft des Allgemeinen ist ein Medium der Askese gegen die
Herrschaft des Konkreten. Folglich setzt jeder ernstzuneh-
I54 Vgl. Josef Pieper, Über Verzweiflung; in: ders., Werke in acht
Bänden, Band 4, a. a. 0., S. 274f. 155 Brief an die Römer 6, 17- I 8.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

mende Universalismus einen asketischen Zugang zur Nor-


mensphäre voraus. Wer Universalismus ohne Entsagungsar- Gegen das Sterbenmüssen
beit haben will, als wäre er ein Omnibus zur Egalität, hat von
den Kosten hoher Verallgemeinerungen nichts begriffen. An der fünften Front greifen die Heroen der ethischen Unter-
Gleichzeitig emanzipiert sich der Asket vom Zwang, einen scheidung den Tod an, indem sie ihn aus der Sphäre des ab-
Feind zu haben, indem er einen universalen Feind in seinem strakten und fatalen Müssens in die des persönlichen Könnens
Inneren wählt, von dem in der Außenwelt nur zweitklassige übersetzen. Sie heben den Naturterrorismus auf, dem die
Projektionen auftreten können. Wer den Teufel in sich weiß, Sterblichen seit unvordenklicher Zeit unterworfen sind. Dies
braucht keinen äußeren Bosheitspartner mehr. Darum der muß nicht bis zur Physizierung des Unsterblichkeits gedankens
Rat, auch die andere Wange hinzuhalten. Darum die buddhi- reichen, wie man sie bei Paulus, dann wieder bei den russischen
stische Mahnung, der Gefolterte dürfe das Mitleid mit seinem Biokosmisten 157 und aktuell bei den amerikanischen Techno-
Folterer nicht verlieren. Die moralische Askese nimmt dem gnostikern findet, deren Ehrgeiz darauf gerichtet ist, die
Feind die Macht aus der Hand, uns zum Zurückschlagen zu Theologie in Physik aufgehen zu lassen. 158 Die Umwandlung
nötigen. Wer die Ebene des Reagierens auf Feindschaft über- des Müssens ins Können setzt einen starken Kontinuumge-
steigt, löst den circulus vitiosus von Gewalt und Gegengewalt danken voraus, der die Leben-Tod-Grenze überspannt - dies
auf, natürlich oft um den Preis, der Leidtragende zu bleiben. läßt sich an den beiden großen Sterbekunstszenen Alteuropas,
Moralische Hyperbeln dieser Art finden in der Moderne dem Tod des Sokrates und dem Tod J esu, ablesen. '59 Durch
nur noch ein kleines Publikum, indessen die Mehrheiten wie- Demonstrationen des gefaßten Todes geht das Lebensende
der die Lizenz zum Zurückschlagen fordern. Die Ursache exemplarisch in eine symbolische Ordnung mit ausgeprägtem
hierfür ist vor allem im Wandel der Grundstimmung zu su- Kontinuumsinn über, als wäre das »Hinübergehen« nicht
chen: Die anti-thymotische Psychopolitik des Christentums, mehr als ein Wechsel des Aggregatzustandes.
die fast zweitausend Jahre lang zur inneren Inquisition gegen Der gekonnte und gehegte Tod ist die unmittelbare Revol-
alle Regungen des Stolzes und der Selbstaffirmation gemahnt te gegen das viehische Dahinfahren, von dem Hiob sagte, es
hatte, findet in der modernen »Leistungsgesellschaft« keinen sei gleichwohl das menschliche Schicksal. Er steht ebenso im
Anhalt mehr. 156 Hier soll der Hinweis nicht vergessen wer- . Widerspruch zu dem blanken Erschlagenwerden, das die
den, daß jedes höher entwickelte Rechtswesen eine verklei- Welt Homers erfüllt - diese birst geradezu von Toten zweiter
nerte Wiedergabe der asketischen Abstinenz vom direkten Klasse, die ruhmlos liegenbleiben, um Hunden und Geiern
Reagieren impliziert, weil es dem Unrechtleidenden die Zu- zur Beute zu fallen, während der unvergleichliche Totschlä-
mutung auferlegt, die Wiedergutmachung auf dem Umweg ger Achilles einen Platz in der hellenischen Memoria findet.
über das in Verfahren geordnete Urteil eines Dritten zu su- Der symbolisch gehegte Tod im Christentum dehnt die Me-
chen.
157 Siehe oben S. 624f.
158 Vgl. Frank J. Tipier, Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne
Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten (zuerst 1994),
15 6 Vgl. Peter Sioterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer München/Zürich 2007.
Versuch, Frankfurt am Main 2006. 159 Siehe oben S. 315-323·
666 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

moria-Funktion auf die Geretteten aus, die in einem göttli- bezeichnet. In diesem Sinn stellt die Moderne ein starkes Er-
chen Gedächtnis unvergessen und insoweit unsterblich sind. satzprogramm für die ethische Sezession dar. Ihre Vorausset-
Man könnte die Arbeit der Asketen am Leben-Tod-Kontinu- zung ist die Demonstration, daß man an den fünf Fronten der
um als eine ursprüngliche Akkumulation zivilisatorischer alten Not auch mit anderen Mitteln siegen kann als denen, die
Energie beschreiben, die es erlaubt, selbst den äußersten von den Übungshelden älterer Zeiten in die Schlacht geführt
Zwang ins Innere der symbolischen Ordnung einzubetten. wurden. Genau diese Parole gaben die Pansophen der Re-
Eine moderne Spur dieser Zivilisierung zeigt sich in der naissance und die Pioniere des forschenden Denkens in der
wachsenden Freitodbewegung des Westens. Sie hat den me- frühen Neuzeit aus: »Die Menschen können von sich aus alles,
taphysischen Überschwang der asketischen Sterbekunst sobald sie wollen. « Sie stießen die Tür zum postmiserabilisti-
pragmatisch abgebaut, geht aber von der inzwischen weithin sehen Zeitalter auf, das aus ebendiesem Grund ein postmeta-
gesicherten Evidenz aus, daß es dem Menschen immer zu- physisches ist, weil es dem existentiellen Zwang mit inner-
steht, sein Ende in kulturell umsorgten Formen zu erleben. weltlichen Antworten begegnet. Postmetaphysisch denken
Die guten Argumente der heutigen Bewegungen für würde- und handeln heißt: mit Hilfe der Technik und ohne extreme
volles Sterben zielen darauf, das Bündnis zwischen einer asketische Programme über die Lasten der alten conditio hu-
reaktionären Religion und einer progressiven Apparatemedi- mana hinausgehen. Die einzigen Asketen in moderner Zeit,
zin aufzulösen, die gemeinsam kaum mehr als ein höheres von denen man wünschte, ihre Siege seien authentisch, sind
Krepieren zulassen. Statt dessen soll die Errungenschaft der die Athleten - hingegen sind die spirituellen Sieger über die
asketischen Kulturen, die Einbettung des Todes in ein geteil- alte conditio humana durch die Kultur des Verdachts um ihre
tes Können, auch den Nicht-Asketen erschlossen werden. Autorität gebracht worden. Wer heutigentags nach vierzig
Tagen in der Wüste einen brennenden Dornbusch reden hörte,
würde als Opfer einer psychedelischen Episode eingestuft.
Das postmetaphysische Erbe der metaphysischen Revolte Wer vorgäbe, die Sexualität zu transzendieren, ohne sie ge-
kannt zu haben, darf sicher sein, als Neurotiker diagnostiziert
Der Rückblick auf die asketischen Revolten gegen das Reali- zu werden. Und den Buddha Amida, der sich japanischen
tätsprinzip des Eisernen Zeitalters erlaubt eine deutlichere Mönchen nach einem Schlafentzug von einhundert Nächten
Bestimmung dessen, was ich die Entspiritualisierung der As- offenbart, halten moderne Religionsbeobachter eher für einen
kesen nenne. Sie prägt einen Gutteil des Wegs in die Moderne, lokalen psychosemantischen Effekt.
sofern diese Epoche durch die pragmatische Abflachung me- Ihres egalitären Designs wegen fühlt sich die Moderne
taphysischer Aufschwünge charakterisiert war. Dieser Prozeß genötigt, alle Wahrheiten, zu denen bisher nur die Wenigen
drängt die Exzesse in die Künste ab und vollzieht im übrigen Zugang hatten, in Wahrheiten für die Vielen umzuformulie-
die Umstellung, die Gotthard Günther als den Übergang »von ren - und den nicht übersetzbaren Rest zu vernachlässigen.
der Wahrheit des Denkens zur Pragmatik des Handelns«16o Damit wird dem praktizierten asketischen Extremismus der
Boden entzogen, seinen Tendenzen wird aber in allem Recht
160 Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse, a. a. 0., gegeben: Es kommt tatsächlich darauf an, der Elendsdefini-
S. 277f. tion der Realität im agro-imperialen Zeitalter eine starke An-
668 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

ti these entgegenzusetzen - um so besser, wenn diese jetzt hervorzuheben und damit der Abschied von der »Idiotie des
auch mit nicht-metaphysischen und nicht-heroischen Mitteln Landlebens« . 162 Dem Historiker ist unzweifelhaft, daß nahe-
zu artikulieren ist. Die Übersetzungen erfolgen ausnahmslos zu alle Bewohner des Kristallpalasts zumindest in materieller
nach der technischen Zäsur des modernen Zeitalters. Ihr Er- und infrastruktureller Hinsicht von beispiellosen Verbesse-
folgsprinzip zeigt sich darin, daß im Lauf der letzten drei- rungen ihrer Lebensbedingungen profitieren 163 - ein Fak-
hundert Jahre ein beispielloser zivilisatorischer Lernzyklus tum, das durch ein ebenso beispielloses Aufblühen einer Kul-
eingesetzt hat, durch den sich die Gesetze des Daseins im tur der Nachforderungen ergänzt und bestätigt wird. Die
Eisernen Zeitalter von Grund auf veränderten - und zu ver- Resignationsspirale des Eisernen Zeitalters hat sich umge-
ändern nicht aufhören. Zeitweilig hat er dem Traum von der kehrt, um sich in eine Spirale des Begehrens aufzuschrauben.
Rückkehr in ein Goldenes Zeitalter oder von einer Restaura- In dieser Lage verliert die Philosophie ihr Mandat, die stati-
tion des Paradieses zu politischer Macht verholfen, und wenn sche Welt der Not nach oben zu überschreiten, das sie als der
auch von einer Wahrmachung des Traums nie die Rede war, theoretische Flügel der ethischen Unterscheidung zweitau-
gibt bereits die Traumtendenz als solche Aufschluß über die send Jahre lang verwaltete. Sie wandelt sich in eine Konsul-
Grundstimmung der neueren Ära. Sie gründete in der Intui- tantin zur Erläuterung des Vorteils, nicht mehr im Eisernen
tion, das Prinzip Realität sei ein formbares Plasma geworden. Zeitalter zu leben. Sie wird ein Übersetzungsbüro, das heroi-
Der kommunistische Maximalismus, der weniger als die ganz sches Wissen in ziviles Wissen transformiert. Für den esote-
große Wiederherstellung nicht gelten lassen wollte, hat seine rischen Rest bürgt sie mit ihrem eigenen Vermögen.
psychologische Plausibilität verloren - er lebt nur indirekt
weiter in dem leerlaufenden Haß, den Ex-Radikale und ihre
Imitatoren in der dritten, vierten Generation den gemilderten Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters
Zuständen entgegenbringen. Die Idee der Rückkehr ins
Zweitbeste besitzt nichtsdestoweniger noch immer hohen Es war Richard Rorty, der während der letzten Jahrzehnte für
praktischen Charme. diese Übersetzungsarbeit am kohärentesten und sympa-
Tatsächlich haben Europäer und Amerikaner in der zwei- thischsten geworben hat, sympathisch vor allem deswegen,
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in hesiodischen Begriffen weil er trotz seiner vonJohn Dewey inspirierten Parteinahme
gesprochen, sich in ein erneuertes Silbernes Zeitalter kata- für den Vorrang der Demokratie vor der Philosophie aus
pultiert. Sie haben - innerhalb des »Kristallpalasts« - Lebens- seinem Verständnis für die Übertreibungen des heroischen
verhältnisse für die meisten geschaffen, die sich von allem, Denkens - das er auch das romantische oder das inspirierende
was auch nur wenige Jahrhunderte zurückliegt, nicht gra- nennt - kein Geheimnis machte. Was den Amerikaner Rorty
duell, sondern epochal oder besser: äonisch unterscheiden. in die besseren Traditionen der europäischen Barockphiloso-
Noch einmal erinnere ich an die Oktoberrevolution des Jah-
res 1846 - das Epochendatum in der Geschichte des Schmer- 1 62 Kar! Marx, Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest,
1. Teil.
zes. 161 Ebenso ist die Entagrarisierung des Wirtschaftslebens
16 3 Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine
philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main,
161 Siehe oben S. 598. 2005, S. 265f.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

phie und der britisch-französisch-deutschen Aufklärung pla- für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter herr-
ziert, ist seine beirrbare Treue zum Gedanken der Weltver- schenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer
besserung, eine Treue, die sich in seinem Buch über die Ver- Maßnahmen gegen die fünf Nöte. Dazu gehören: die indu-
besserung Amerikas am altmodischsten und am anregendsten striepolitische Umstellung von Knappheit auf Überangebot;
manifestiert.164 Rorty war, neben Hans Jonas, der einzige die Arbeitsteilung zwischen Höchstleistern und mäßig An-
Denker des letzten halben Jahrhunderts, von dem man lernen gestrengten in Wirtschaft und Sport; die allgemeine Deregu-
konnte, warum ein Philosoph auf der Höhe der Zeit den Mut lierung der Sexualität; der Übergang zu herrenloser Massen-
zur Simplizität haben muß: Allein in einer jargonfreien Spra- kultur und feindloser Kooperationspolitik; die Ansätze zu
che läßt sich mit Zeitgenossen darüber reden, warum wir als einer postheroischen Thanatologie.
Angehörige der modernen Zivilisation zwar nicht in ein Gol- Keine dieser Maßnahmen ist ohne Makel, nicht eine von
denes Zeitalter gelangten, uns aber auch nicht mehr als Bür- ihnen kann sich ganz über die Ebene der kleineren Übel er-
ger des Eisernen Zeitalter verstehen dürfen. Im Gespräch heben, in manchen Aspekten werden sie sogar wie größere
über dieses Thema fallen Philosophie und Nicht-Philosophie Übel neuen Typs wahrgenommen. Darum neigen unzählige
in eins, geschichtsphilosophische Thesen und alltägliche In- Bewohner des zweiten Silbernen Zeitalters, das sich selbst
tuitionen gehen ineinander über. In einer mittleren Sprache nicht begreift, zur üblen Nachrede über den neuen Zustand.
ist den hochtrabenden Konservativen zu widersprechen, die Was man die Postmoderne nennt, ist in weiten Teilen nichts
das Idiom der Eisernen Zeit weiterpflegen, als ob nichts ge- anderes die mediale Ausschlachtung des Unbehagens am
schehen wäre. 165 In derselben Tonart ist den lokal immer Zweitbesten - mit all den Risiken, die Luxuspessimismen an-
noch virulenten linksradikalen Ideologen entgegenzutreten, haften. Die Schicksalsfrage heißt: ob es gelingt, die Standards
die aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene Rückkehr ins des episodisch aufgetauchten Silbernen Zeitalters zu stabili-
Goldene Zeitalter alles tun, um das Silberne als Farce zu ver- sieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes Zeitalter vor der
leumden. Nur in einem solchen Gespräch läßt sich der ver- Tür steht, von dessen Aktualität alte und neue Realisten über-
nünftige Inhalt der etwas übertrieben vorgetragenen und zeugt sind - nicht zuletzt unter Hinweis auf die Tatsache, daß
noch übertriebener abgewehrten Reden über das »Ende der mehr als zwei Drittel der Menschheit es nie verlassen haben.
Geschichte« nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ein solcher Rückfall wäre kein Schicksal, sondern eine Folge
wiederholen. 166 Das Ende der Geschichte ist eine Metapher mutwilliger Reaktionen gegen die Paradoxien des Daseins im
Suboptimalen.
164 Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke Die Entscheidung über den weiteren Lauf der Dinge hängt
und der Patriotismus, Frankfurt am Main 1999.
165 Dies gilt für alle Autoren der diversen konservativen Revolutio-
nen des 20. Jahrhunderts: als jüngeres Beispiel für diese Tendenz gion nach Whitman und Dewey: Eine kulturelle Linke; in: Ri-
vgl. den bellizistischen Traktat des amerikanischen Neokonser- chard Rorty, Stolz auf unser Land, a. a. 0., S. 73-1°3 . Das Doku-
vativen Robert D. Kaplan, Warrior Politics. Why Leadership ment hatte nach den Zerrüttungen, die der I I. September 2001 im
Demands a Pagan Ethos, New York 2002. Diskursfeld der USA und der übrigen Welt hervorrief, keine Wir-
166 In dieser Sprache formulierte Rorty das intensivste Manifest des kungschance mehr, man liest es heute wie eine liberale Utopie aus
endenden 20. Jahrhunderts für eine Renaissance des Weltverbes- einem versunkenen Zeitalter, und ob es in der Ära Obamas eine
serungsgedankens aus den Quellen der amerikanischen Zivilreli- neue Chance erhält, bleibt abzuwarten.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

davon ab, ob der Lernzusammenhang der Moderne durch die nötigen Warnhinweise von den Akteuren einer aktuellen
sämtliche technischen, politischen, wirtschaftlichen, kultu- Generation, die in expressiven Fehlentwicklungen schwelgt,
rellen, epistemologischen und sanitären Krisen hindurch zu als unterdrückerische Eingriffe wahrgenommen werden.
einem hinreichend stabilen Kontinuum des Besserungswis- Das Schwelgendürfen in kurzlebigen Maladaptionen macht
sens und Optimierungskönnens auszubauen ist. Wie wenig im übrigen einen guten Teil des Reizes moderner Lebens-
sich dieses Kontinuum von selbst versteht, ist an der Tatsache formen aus. Es definiert ihr Aroma von Freiheit und Folgen-
abzulesen, daß die Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhun- losigkeit. Es befreit die Gegenwart von der Last, Vorbilder zu
derts eine endlose Serie von Aufständen der Zivilisations- schaffen - nicht umsonst ist die Moderne das Eldorado der
feindschaft und des anti technischen Ressentiments hervor- Jugendbewegungen. Ihre größte Versuchung besteht darin,
brachte, gleich ob diese im Namen des Glaubens, der Seele, die Zukunft abzuschaffen unter dem Vorwand, die Zukunft
des Lebens, der Kunst, des Volkstums, der kulturellen Identi- zu sein. Wer sich auf »einaltrige« Lebensweisen beschränkt,
tät oder der Artenvielfalt erfolgten. Diese Ausbruche stellten braucht sich über Vorbild vermittlung in mehraltrigen Pro-
Trainingsabbrüche dar, die der Modernitätsfitness schweren zessen keine Gedanken zu machen. 168 Da unter liberalen Be-
Schaden zufügten - und die Gefahr neuer Abbrüche ist nicht dingungen auch evident maladaptive Formen zur Reproduk-
gebannt, wie die Allgegenwart der roten, braunen, schwarzen tion neigen und in den nächsten Generationen spuken, ist es
und grünen Fundamentalismen beweist. Der »Diskurs der von Bedeutung für den zivilisatorischen Prozeß, solche Va-
Moderne«, nicht nur der philosophische, verlangt nach einer rianten so früh wie möglich zu musealisieren - spätestens eine
ständigen Klärung der Agenda und nach der Abwehr falscher Generation nach dem Rücktritt der Protagonisten. 169
Lehrpläne. Jede Generation muß zwischen Eskapismen und Tatsächlich ist eine der wichtigsten Funktionen des mo-
traditionsfähigen Formen wählen. Um auch nur die Möglich- dernen Kulturarchivs darin zu sehen, den kontraproduktiv
keit eines effektiven Lernkontinuums zu sichern, ist eine in- gewordenen Index der verbotenen Bücher und Kunstwerke
tensive Filterung der zeitgenössischen Ideenproduktion un- überflüssig zu machen. Das Archiv bewahrt alle wichtigen
abdingbar - eine Aufgabe, die man vormals der inzwischen und interessanten Irrtümer, alle Projekte ohne morgen und
völlig entkernten »Kritik« anvertrauen wollte. An die Stelle
168 Der Gegensatz Eina!trigkeit/Mehraltrigkeit liegt Eugen Rosen-
der Kritik tritt eine affirmative Zivilisationstheorie, die sich
stock-Huessys soziologischen und sprachphilosophischen Stu-
· A 11 gemeIne
au f eme . Immuno1 · ·stutzt.
ogle · 167 dien zugrunde.
169 In diesem Zusammenhang ist die kritische Distanzierung, die Peter
Weibel gegenüber dem Wiener Aktionismus und der Drogenkultur
der sechziger und siebziger Jahre in seinen Schriften vollzogen hat,
Kanon-Arbeit in der Moderne von prinzipieller Bedeutung: Sie hebt die Axiomatik der selfish art
auf. Unter den Vertretern der Kunstgeschichte herrscht gegenüber
Mehr als jede Zivilisationsform vor ihr ist die Moderne auf dem Triumphzug der maladaptiven Kunst bisher überwiegend
eine Sortierung des Weitergabewürdigen und die Abkürzung jargonstarke Ratlosigkeit. Gleichzeitig wartet das enorme CEuvre
Bazon Bracks auf seine Erschließung: Er scheint der einzige zeit-
von maladaptiven Entwicklungen angewiesen, mögen auch
genössische Künstler und Kunsttheoretiker zu sein, der die Not-
wendigkeit einer Rezivilisierung der Kunst kunstimmanent auf den
Begriff gebracht hat.
BI Die Exerzitien der Modernen I2 Übungen und Fehlübungen

alle unwiederholbaren Aufbrüche für immer pietätvoll prozeß des 20. Jahrhunderts prägten. Sie sind aus heutiger
auf. 170 Seine Sammlungen werden strikt außerhalb des Ka- Perspektive als Symptome für den Triumph der malignen Wie-
nons rekrutiert, mit dem der reale Generationenprozeß wei- derholung in den jüngeren Überlieferungsreihen zu lesen und
terarbeitet. Andernfalls gerät die museale Aufbewahrung in stellen deswegen Ernstfälle für eine intervenierende »Kul-
die Gefahr, mit Vorbildlichkeit für Nachfolger verwechselt tur«wissenschaft dar: Ich spreche zunächst - im Anschluß
zu werden - im übrigen der Lieblingsirrtum zeitgenössi- an die Überlegungen des vorangehenden Abschnitts - von
scher Künstler: Sie betrachten das öffentliche Museum, nach der Kultur des politischen Mords in der pseudo-metanoeti-
dem Abklingen der museoklastischen Bewegungen, als eine sehen Politik des 20. Jahrhunderts; dann von der Schwächung
Kollektion normativer Werke und verkennen seine neue des imitativen Faktors in der zeitgenössischen Pädagogik; zu-
Funktion als Endstation für Singularitäten, das heißt, als letzt von der illusorischen Verwerfung der Imitation in der
Ablage für nicht anschlußfähige und nicht zu wiederholende modernen Ästhetik.
Produktionen. Ebenso verstehen sie die Funktion der Pri- Was die Veräußerlichung der Metanoia in den revolutio-
vatsammlungen falsch, die letztlich allein darin besteht, nären Politiken des 20. Jahrhunderts angeht, brauche ich den
pseudotranszendente Werke aus dem Verkehr zu ziehen. Ausführungen zur Biopolitik des Bolschewismus nicht viel
Im übrigen ist die Lähmung, die heute über den sogenann- hinzuzufügen. Der Versuch, durch politisch-technische
ten Geisteswissenschaften liegt, darauf zurückzuführen, daß Maßnahmen für große Kollektive zu erzwingen, was früher
ihre Akteure sich mehrheitlich als freischwebende Beob- selbst durch asketische Extremübungen höchst motivierter
achter im Archiv eingerichtet haben - Rorty nennt sie leicht Einzelner kaum erreichbar war, führte unausweichlich zu
verächtlich detached cosmopolitan spectators - und die pro- einer Politik des absoluten Mittels. Weil sich bei Vorhaben
grammatische Arbeit an der Formung eines zukunftsfähigen dieser Ambitionsstufe die Ausrottung des trägen Mitmen-
Zivilisationscodes dem Zufall und dem Fanatismus überlas- schen als das Mittel aller Mittel nahelegte, entstand in der
sen. ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historisch unerhör-
teste Form einer maladaptiven Kultur - die Kultur der La-
ger.171 Sie diente der Repression unter dem Vorwand der
Maligne Wiederholungen I: Die Kultur der Lager Umerziehung, der Vernichtung unter dem Vorwand der Ar-
beit und schließlich der Auslöschung ohne Vorwand. Man
An diese Beobachtungen anknüpfend, möchte ich auf einige wird fürs erste zögern, den Begriff »Kultur« auf solche
Maladaptionsphänomene hinweisen, die den Zivilisations- Phänomene anzuwenden. Vergegenwärtigt man sich jedoch
den Umfang der Lagerwelten, ihre ideologischen Prämissen,
170 Vgl. Ilya und Emilia Kabakov: Katalog zur Ausstellung der Groß- ihren logistischen Aufwand, ihre personellen Voraussetzun-
installation" Palast der Projekte« in der Kokerei Zollverein Essen, gen, ihre moralischen Implikationen, ihre habitus bildenden
2001, in der unter den drei Rubriken "Wie kann man sich selbst Effekte und ihre psychischen Nebenwirkungen bei den Be-
verbessern?«, »Wie macht man die Welt besser?« und »Wie stimu-
liert man die Entstehung von Projekten? « eine humoristische
Summe der utopischen Moderne in 65 Einzelprojekten gezogen 171 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und
wird. das nackte Leben, Frankfurt am Main 2007.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

treibern der Lager,l72 läßt sich der Ausdruck »Kultur« auch Das Geburtsdatum des modernen Exterminismus als Un-
für diese quasi beruflich erlernbaren und in Routinen veran- ternehmensform und Institution ist genau bestimmbar. Es
kerten Monstrositäten nicht vermeiden. Zwar neigt man fürs sind die Leninschen Dekrete über den Roten Terror vom 5.
erste zu der Vermutung, um die längerfristige Überliefe- September 19 I 8, in denen es expressis verbis hieg, man müsse
rungsfähigkeit von Lagernormen könne es nicht gut bestellt die Feinde des Sowjetsystems in Konzentrationslager ein-
gewesen sein: Dennoch ist der Befund unstrittig, daß es wäh- schließen, um sie Schritt für Schritt zu eliminieren. Dieses
rend des größten Teil des 20. Jahrhunderts eine Untern eh- Vorgehen, in den ersten Jahren als Provisorium intendiert,
menskultur der Internierung, der Aussonderung und der wurde in massiven Formen bis in die fünfziger Jahre, in ab-
Vernichtung gab, die länger Bestand hatte, als man unter geschwächten Versionen bis in die achtziger Jahre des 20.
moralischen wie kulturtheoretischen Prämissen je für mög- Jahrhunderts durchgehalten, zuletzt unter Mitwirkung der
lich halten würde. Das vom revolutionären Parteistaat orga- sowjetischen Psychiatrie, die auf dem Axiom beruhte, in
nisierte Verbrechen erreichte in der Sowjetunion und in der Unzufriedenheit mit den Lebensformen des realen Sozia-
China das weberianische Stadium - wenn man damit den lismus sei das Symptom einer schweren Geisteserkrankung
Übergang des Ausnahmezustands in Bürokratisierung be- zu erkennen.
zeichnet. Eine maladaptive Umkehrung von solcher Lang- Das Datenbild spricht eine klare Sprache: Die NS-Lager-
zeitwirkung ist al1enfalls in den Lebensformen der Pariser welt hatte knapp zwölf Jahre Bestand, die der Sowjetunion
Mirakelhöfe des 17. und 18. Jahrhunderts anzutreffen, jenen fast siebzig Jahre, die des Maoismus mindestens vierzig Jah-
Gegenwelten der Diebe, Bettler und Zigeuner, die in Roma- re - mit langwierigen Nachspielen im Gefängniswesen des
nen des 19. Jahrhunderts - vor allem in Victor Hugos Der autoritären Kapitalismus der chinesischen Gegenwart. Das
Glöckner von Notre Dame - verewigt wurden: Auch in ih- bedeutet: Der sowjetische Exterminismus konnte seine Ko-
nen war so etwas wie eine stabil-perverse Gegenkultur mit pien bis in eine dritte Generation verbreiten, der maoistische
übergebührlichen Überlieferungschancen entstanden. Sie in eine zweite, deren Schatten bis heute nachwirken: Das
bildete eine aus der Not geborene Paral1elkultur der groß- laogai-System - wörtlich: Umerziehung durch Arbeit, hat
städtischen Armen. Die langfristig aktive Lagerkultur des 20. über 50 Millionen Menschen erfagt und davon mehr als ein
Jahrhunderts hingegen ist ausschließlich das Werk der pseu- Drittel ausgelöscht. Dem Antifaschismus aller Couleurs
do-metanoetischen Staaten, die sich auf die Französische schuldet man Dank für die Beharrlichkeit, mit der er die
Revolution beriefen und die jakobinische Heiligung des Ter- hyper-maladaptiven Ungeheuerlichkeiten des NS-Staates an
rors übernahmen. den Pranger stellte, namentlich den Holocaust, diese deut-
sche Synthese aus Amok und Routine. Bemerkenswert
172 Harry Graf Kessler notiert in seinen Tagebüchern 1918-1937, bleibt die Asymmetrie der »Aufarbeitung«: »Antifaschisten«
herausgegeben von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main sowjetischer und maoistischer Richtung sind stets der Frage
1982, S. 689 die Beobachtungen der Corriere-della-Sera-Korre- ausgewichen, was sie dazu bewegt, die quantitativ noch grö-
spondenten Caffi im Dezember 193 I: »Länger als zwei Jahre habe
es überhaupt kein bolschewistischer Henker ausgehalten .. . In
ßeren Exzesse im eigenen Lager so viel diskreter zu behan-
allen Irrenhäusern hätten sie gesessen; die Sanatorien an der Krim- deln. Bis heute ist die Einsicht in ihre Proportionen kaum
küste seien voll von wahnsinnig gewordenen Henkern gewesen. « verbreitet, trotz Solschenyzin, trotz Jung Chang, trotz
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Schwarzbuch des Kommunismus. Während die Leugnung falschen Lehrers auf die Bühne getreten war - obschon man
der NS-Verbrechen in einigen Ländern zu Recht als straf- ihn unter den Pflegern des kritischen Gedächtnisses lieber an
barer Tatbestand behandelt wird, gelten die Untaten des der Person Heideggers diskutiert. Nun mag Heidegger in
marxistischen Archipels in manchen Kreisen noch immer manchem ein falscher Lehrer gegen die Moderne gewesen
als Kavaliersdelikte der Geschichte. sein; der spätere Sartre war durchwegs der falsche Lehrer
für die Moderne. 173 Nur im Rahmen einer strikten Museali-
Man lernt daraus: Es ist nicht wahr, daß Lügen immer kurze sierung ist an Autoren dieses Ranges die Unterscheidung
Beine haben. Wenn Maladaptionsformen dieser Größenord- zwischen Größe und Vorbildlichkeit zu vollziehen.
nung eine zweite und dritte Generation ausbilden konnten,
sind ihre Beine länger, als der gewöhnlichen Lüge zukommt.
Warum sie so lang werden konnten, ist eine eigene Überle- Maligne Wiederholungen 1I: Die Erosion der Schule
gung wert. Diese rührt nicht nur an die Eigengesetzlichkeit
diktatorialer Staats bildungen, die zu Klausuren in der Ab- Was den Zerfall der ÜbungskuItur und des Disziplinenbe-
normität neigen, sondern auch an die Grundlagen des Moder- wußtseins in der Pädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
nismus: Mit ihm brach die aus älteren Kulturstufen bekannte hunderts angeht, so bildet er das jüngste Kapitel in der langen
Entfremdung zwischen demoralisierendem Erfolg und legi- Geschichte der antagonistischen Kooperation zwischen dem
timer Vorbildlichkeit in einer bisher unbekannten Schärfe modernen Staat und der modernen Schule. Ich habe gezeigt,
auf. Wenn ein Denker von der Statur Sartres entschlossen wie die Liaison und der Widerspruch zwischen Staatsseman-
war, die Gegebenheiten der sowjetischen Lagerwelt in tik und Schulsemantik mindestens seit dem 17. Jahrhundert in
Kenntnis ihrer Herkunft, ihres Umfangs und ihrer Konse- Europa unweigerlich chronische Spannungen zwischen den
quenzen bis weit in die fünfziger Jahre zu verschweigen, ja ausdifferenzierenden »Teilsystemen« hervorriefen. Wenn das
wenn er so weit ging, westliche Kritiker der Lager - darunter klassische Ansinnen des Staates an die Schule, brauchbare
Albert Camus - als verlogene Lakaien der Bourgeoisie zu Bürger zu liefern, von dieser in den Auftrag übersetzt wird,
denunzieren, zeigt sich, wie die größte maladaptive Anomalie autonome Persönlichkeiten heranzubilden, ist eine perma-
in der politischen Geschichte der Menschheit auf die Urteils- nente Reibung vorprogrammiert - einerseits als schöpferi-
kraft eminenter Intellektueller ihren Schatten warf. Die kul- sche Dysfunktion, andererseits als Quelle chronischer Ent-
turtheoretisch wesentliche Information liegt in den Jahres- täuschungen. Summarisch darf konstatiert werden: Die
zahlen: Sartres Schweigebeschluß begleitete den Eintritt der bürgerliche Hochkultur ist aus den Überschüssen des Schul-
sowjetischen Lagerkultur in die dritte Generation. Er unter- humanismus über den staatlichen Erziehungauftrag hervor-
stützte den perversen Übergang einer »Maßnahme« in eine
Institution. Nimmt man diesen nicht abweis baren Sinn oder
Nebensinn des Sartre-Worts von seiner »Weggefährten- 173 Vgl. die Studie von Luuk van Middelaar, Politicidc. De moord op
de politiek in de Franse filosofie, Amsterdam, 1999, worin Sartre
schaft« mit dem Kommunismus zur Kenntnis, ist nicht zu
und der Mehrheit der französischen Philosophen vorgeworfen
leugnen, daß in seiner Person, die das moralische Orakel sei- wird, der Zerstörung der politischen Vernunft Vorschub geleistet
ner Generation zu verkörpern schien, der Archetypus des zu haben.
680 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen 681

gegangen. 174 Man kann geradezu von einer felix culpa des Sie steuert auf einen Zustand jenseits von Konformisierung
älteren bürgerlichen Bildungswesens sprechen: Es gab seinen und Überschußerzeugung zu, der an allen Aspekten direkter
begabteren Zöglingen unendlich viel mehr Kulturmotive mit, Nützlichkeit und indirekter Folgenschöpfung vorbeigeht.
als sie in ihren zivilen Funktionen je würden brauchen kön- Jahr für Jahr entläßt sie mehr und mehr desorientierte Schü-
nen. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis sinnvoll lerkohorten, denen man ihre Anpaßung an ein maladaptiv aus
sein, daß einige der größten spirituellen Überschußphänome- dem Ruder gelaufenes Schulsystem immer deutlicher an-
ne der jüngeren Geistesgeschichte, J ohann Gottlieb Fichte als merkt, ohne daß den einzelnen Lehrer und Schüler auch
der Neuerfinder der Entfremdungstheorie und Friedrich nur die geringste Schuld daran träfe. Beide sind in einer Öku-
Nietzsehe als Modernisator des christlichen Übermenschge- mene der Desorientierung vereint, zu der sich ein historisches
dankens, dieselbe Schule durchliefen, das thüringische Pforta Gegenstück kaum finden läßt - falls man nicht auf die lange
bei Naumburg, das in seiner Zeit als eines der strengsten Nacht der Bildung zwischen dem Zusammenbruch des römi-
Gymnasien Deutschlands galt - Fichte 1774-1780,175 Nietz- schen Schulwesens im 5. Jahrhundert und der Wiederentste-
sche 1858-1864. Es dürfte sich erübrigen zu erläutern, wie das hung einer christlich-humanistischen Schulkultur im Gefolge
Tübinger Stift seinen Ausbildungsauftrag an den Zöglingen der alkuinisch-karolingischen Reformen im 8. Jahrhundert
Hölderlin, Hegel und Schelling übererfüllt hat. Auf die Frage, verweisen möchte.
was wohl der Schüler Kar! Marx, Abiturjahrgang 1835, seinen Um die Malaise zu diagnostizieren, wäre en detail zu zei-
prägenden Jahren auf dem Gymnasium von Trier, dem vor- gen, wie die aktuelle Schule an dem Prozeß teilnimmt, den
maligen jesuitischen Dreifaltigkeitskolleg, verdanke, hat die Niklas Luhmann die Ausdifferenzierung der Teilsysteme
Revolutionsgeschichtsschreibung eher mit zurückhaltenden nennt. Ausdifferenzierung bedeutet die Etablierung strikt
Aus kun- ften geantwortet. In selbstreferentiell organisierter Strukturen innerhalb eines
In der jüngsten Phase der Schulgeschichte hat sich die Teilsystems bzw. eines »Praxisfelds« - in evolutionstheoreti-
schöpferische Maladaption der klassischen Schule vielerlorts schen Ausdrücken: die Institutionalisierung von Selfishness.
in eine maligne Maladaption verkehrt, die insofern modern Es war Luhmanns ingeniöser Impuls, aufzuzeigen, wie das
genannt werden darf, als sie aus einer epochentypischen Stö- Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der mo-
rung der Vorbildfunktionen und des damit verbundenen Ver- dernen »Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Wirtschaft,
falls des Übungsbewußtseins resultiert. In ihrer Folge nähert Recht, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder
die Schule sich einem Punkt, an dem sie doppelt implodiert, Gesundheitswesen geht, von der stetigen Zunahme ihrer
so daß sie weder Bürger noch Persönlichkeiten hervorbringt. Selbstbezüglichkeit abhängt, bis hin zu ihrem Einschwingen
in den Zustand vollständiger selbstreferentieller Geschlos-
174 Siehe oben S. 548f.
175 VgJ. Stefano Bacin, Fichte in Schulpforta: Kontext und Doku- senheit. In moraltheoretischer Hinsicht impliziert dies die
mente. Mit einer Übersetzung von Fichtes Valediktionsrede, Umformung von Selfishness auf der Ebene der Teilsysteme
Stuttgart 2007. in eine regionale Tugend. Für die »Gesellschafts «kritik folgt
176 Zu den sozialidealistischen Überschüssen des deutschen Univer-
hieraus: An die Stelle von hilflosem Protest gegen den Zynis-
sitätswesen im 19. Jahrhundert vgJ. Matthias Stein bach, Ökono-
misten, Philanthropen, Humanitäre: Professorensozialismus in mus der Macht tritt systemische Aufklärung - sprich Abklä-
der akademischen Provinz, Berlin 2008. rung der Aufklärung.
III Die Exerzitien der Modernen I2 Übungen und Fehlübungen

Die systemisch bedingte Umwertung der Werte setzt die Ent- Lohnkosten tragen können. Kurzum: »Soziales« läßt sich
diabolisierung der Selbstpräferenz voraus, wie man sie in den systemintern nur über Nebeneffektkalküle berücksichtigen.
Schriften der europäischen Moralisten zwischen dem 17. und Das Argument, die Wirtschaft nütze der Mitwelt am meisten,
177
dem 19. Jahrhundert beobachtet. Daher nimmt es nicht wenn sie sich auf das konzentriert, was sie am besten kann,
wunder, im Zentrum jedes Teilsystems auf eine neutralisierte nämlich Profite erzeugen, ist durchschlagend richtig - und
Perversion zu stoßen. Als pervers gilt nicht nur die offensive kommt doch über eine trübe Plausibilität nicht hinaus, weil
Abweichung des »Frevlers« von der moralischen Norm, per- mit dem evidenten Erfolg der einen Seite die Gegenevidenz
vers erscheint mehr noch die Offenheit des Geständnisses, wächst: daß die Selfishness des ökonomischen Systems über
daß dem untergeordneten System letztlich nur an sich selbst zu viele andere Interessen hinweggeht, ob man diese nun als
gelegen ist, nicht an seinen möglichen Mandaten im Rahmen die des Ganzen beschreiben möchte oder nicht.
von Größerem. 178 Darum besteht ein enger Zusammenhang Die übrigen Teilsysteme sind naturgemäß viel stärker ge-
zwischen Zynismus und Perversion - der Zynismus immer- zwungen, ihre Selfishness zu okkultieren und sich mit Hilfe
hin, als aufgeklärtes falsches Bewußtsein, sagt die Wahrheit von vagen holistischen Rhetoriken zu rechtfertigen. 179 An
über das Falsche, sofern er der Unmoral zur Unverhohlenheit ihrer faktischen Ausbildung zu selfish systems ändert das
verhilft. Am frühesten erfolgte der Durchbruch in die Unver- nichts. Jedes von ihnen erzeugt sogenannte Experten, die der
hohlenheit - die alerheia der Systeme - im Bereich der Poli- Mitwelt erklären, warum die Dinge so laufen müssen, wie man
tik, als Machiavelli die Eigengesetzlichkeit des politischen es kennt. Sie müssen dem skeptischen Publikum erläutern,
Handelns offenlegte und dessen - lange als skandalös emp- warum der allzu sichtbare Eigennutz des Teilsystems vom
fundene - Emanzipation von der Allgemeinmoral empfahl. Gesamtnutzen überwogen wird. Immerhin, noch kann man
Dem folgte die Wirtschaftstheorie seit dem Aufkommen der sich kein Medizinsystem vorstellen, das offen ausspricht, es
Produktion mittels Maschinen im späten 18. Jahrhundert diene in erster Linie seiner Selbstreproduktion. Auch seitens
nach. Schon die ersten Liberalen wie Mandeville und Adam der Kirchen hat man bisher nicht hören können, ihr einziges
Smith hatten verstanden: Erst kommt die Amortisation, dann Ziel sei die Erhaltung der Kirchen, obschon bei Kirchenleuten
die Moral. Das Industriesystem erkannte ohne Hehl seine das offene Wort als Tugend gilt. Noch weniger ist mit einem
Aufgabe darin, seinen Betreibern Profite zu bringen, damit Schulsystem zu rechnen, das eines Tages pervers genug sein
sie ihre Kredite bedienen, neue Investitionen tätigen und wird, zu bekennen, seine einzige Aufgabe bestehe darin, sich
selber irgendwie am Laufen zu halten, um seine Profiteure,
177 Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., Ge- namentlich Lehrer und Verwaltungsangestellte, in den Genuß
seIlschaftsstruktur und Semantik, Band 3, Frankfurt am Main
von sicheren Stellen und soliden Privilegien zu bringen.
1993·
178 Die Relationen zwischen der theologischen, der psychoanalyti- Wo Geständnisse nicht zu erwarten sind, müssen Diagno-
schen und der systemischen Perversionstheorie sind ungeklärt. sen weiterhelfen. Diagnosen formen Perversionen in Struk-
Daß psychoanalytische Beiträge zu diesem Gegenstand in der
Regel kaum mehr sind als Übersetzungen der christlichen Egois- 179 Weil sie letztlich nur »eingebettete« Experten brauchen können,
muskritik in eine andere Terminologie, ist ablesbar an Arbeiten bringen diese Disziplinen keine echten Wissenschaften hervor
wie der von Janine Chasseguet-Smirgel, Anatomie der menschli- und erschweren den Übergang zum Niveau nicht-selbstbedie-
chen Perversion, Stuttgart 1989. nender Theoriebildung.
III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

turprobleme um. Das Problem des heutigen Schulwesens be- irreversibel, die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben
steht offenkundig darin, daß es nicht nur dem Staats auftrag, eingeübt. Man hat den Habitus eines Lernens-als-ob erwor-
Bürger heranzuziehen, nicht mehr nachzukommen vermag, ben, das sich beliebige Gegenstände defensiv zu eigen macht,
weil die Definition des Ziels angesichts der Anforderungen in der systemimmanent richtigen Überzeugung, die Fähigkeit
der aktuellen Berufswelt zu unscharf geworden ist. Es arti- zur Anpassung an die gegebenen Formen des Unterrichts sei
kuliert sich noch deutlicher in der Preisgabe seines hu- bis auf weiteres das Ziel aller Pädagogik.
manistischen und musischen Überschusses, um sich einem Angesichts dieser Phänomene haben radikale Schuldenker
mehr oder weniger entgeisterten Betrieb pseudowissen- die Forderung nach der Auflösung des gesamten Systems
schaftlich fundierter didaktischer Rourinen zu widmen. In- erhoben - sei es, wie bei Ivan Illich, im Postulat einer »Ent-
dem die Schule während der letzten Jahrzehnte ihren seit dem schulung der Gesellschaft«, sei es, wie bei aktuellen Reform-
17. Jahrhundert beharrlich bewiesenen Mut zur Dysfunktio- pädagogen, durch den Vorschlag, das gesamte eingeschliffene
nalität nicht mehr aufbrachte, verwandelte sie sich in ein lee- Fächersystem aufzuheben, um die Schule während der prä-
res selfish system, das sich ausschließlich an den Normen des . genden Jahre in eines offenes Trainingscamp für die poly-
eigenen Betriebs orientiert. Sie produziert Lehrer, die nur valente Intelligenz der Jugendlichen umzuwandeln. Solche
noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schul- Forderungen passen zu dem großen Umbruch von der Buch-
fächer erinnern, Schüler, die nur noch an Schüler erinnern. kultur zur Netzkultur, der sich in den letzten zwei Jahrzehn-
Dabei wird die Schule auf inferiore Weise »antiautoritär«, ten vollzog. Er würde in der Praxis zu einer Art von Auswil-
ohne aufzuhören, formal Autorität auszuüben. Da das Ge- derung der Intelligenz führen, die man als kontrollierte
setz des Lernens durch Nachahmung nicht außer Kraft zu Dschungelpädagogik beschreiben könnte. In diesem Kontext
setzen ist, riskiert es die Schule, aus ihrer dargestellten Un- sind Befunde bemerkenswert, nach denen bei Jugendlichen,
willigkeit, Vorbildlichkeit darzustellen, das Vorbild zu ma- die viel Zeit mit Computerspielen und Junk-Kommunikatio-
chen, das sich in der nächsten Generation wiederholt. Die nen verbringen, hohe Trainingseffekte im intelligenten Um-
Folge davon ist, daß in der zweiten, dritten Generation fast gang mit Datenmüll zu beobachten seien. Steven B. Johnson
ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer auftreten, die bloß hat diese Entwicklungen unter einem Titel resümiert, der
noch die Selbstbezüglichkeit des Unterrichts zelebrieren. Eltern und Systemtheoretiker aufhorchen macht: Everything
Selbstbezüglich ist der Unterricht, der stattfindet, weil es in bad is good [ar yau. 180 An ihm ist die These abzulesen, fast
der Natur des Systems liegt, ihn stattfinden zu lassen. Mit der jede Form von starker Enkulturation sei besser als das Mit-
Ausdifferenzierung des Schulsystems ist ein Zustand einge- spielen in einem mal adaptiven selfish system, das nur noch
treten, in dem die Schule ein einziges Hauptfach kennt, das Parodien auf die vormalige Erziehung zustande bringt. Das
»Schule« heißt. Dem entspricht das einzige externe Unter- Problem des falschen Lehrers, das ich im philosophischen
richtsziel: der Schulabschluß. Wer von solchen Schulen ab- Kontext an Sartre erläutert habe, kehrt auf systemischer Ebe-
geht, hat bis zu dreizehn Jahren lang gelernt, sich die Lehre- ne als das Problem der falschen Schule wieder.
rinnen und Lehrer nicht als Vorbilder zu nehmen. Durch An-
passung an das System hat man ein Lernen gelernt, das auf die 180 Steven Johnson, Neue Intelligenz. Warum wir durch Computer-
Verinnerlichung der Materien verzichtet; man hat, nahezu spiele klüger werden, Köln 2006.
686 III Die Exerzitien der Modernen 12 Übungen und Fehlübungen

Kunst, der sich jetzt noch zur Nachahmung eignet, ohne daß
Maligne Wiederholungen III: die Nachahmer die Tendenz ihrer Nachahmung eigens be-
Das selbstbezügliche Kunstsystem der Moderne merken oder gar kultivieren müßten. Dieser Aspekt besteht
in der Tatsache, daß Kunstwerke nicht nur hergestellt, son-
Beobachtungen dieses Typs und dieser Tendenz werden wei- dern auch ausgestellt werden. Mit der Verschiebung von der
ter zugespitzt, sobald man sich dem Kunstsystem der Mo- Kunst als Herstellungsmacht (mitsamt ihrem altmeisterlichen
derne zuwendet. Jedem Betrachter der Kunstgeschichte von »Ballast«) zur Kunst als Ausstellungsmacht (mitsamt ihrer
19IO bis heute ist klar, daß sich in dieser Zeitspanne die Ka- Freiheit der Effekte) gelangt eine Imitationsform zur Domi-
tastrophe der bildenden Kunst vollzogen hat - im prozeß- nanz, die der Werkstatt den Rücken kehrt, um den Ort der
theoretischen wie im umgangssprachlichen Sinn des Wortes. Präsentation ins Zentrum des Geschehens zu stellen. Auf
In einem schwindelerregenden Vorstoß zu neuen Verfahren diese Weise dringt ein unkontrollierbar überbordendes Ele-
haben die drei maßgeblichen Künstlergenerationen im Feld ment von Selfishness nicht nur in den Kunstbetrieb ein, son-
der bildenden Künste, die von I9IO-1945, die von 1945-1980 dern in die Kunstwerke selbst. Man sieht es ihnen von Jahr-
und die von 1980-2015, das Feld ihres Metiers erweitert. zehnt zu Jahrzehnt deutlicher an, daß sie sich immer weniger
Dabei haben sie zugleich die Fähigkeit verlernt, jeweils am für ihre Hergestelltheit und immer mehr für ihre Ausgestellt-
artistisch anspruchsvollsten Niveau der vorangehenden Ge- heit interessieren.
neration anzuknüpfen. In ihrer großen Mehrheit haben sie es Heiner Mühlmann hat in seinem Essay Countdown. 3
aufgegeben, die goldene Kette der thematischen, technischen Kunstgenerationen J81 den freien Fall des Kunstsystems in
und formalen Imitationen auf der Ebene modern entgrenzter den Zustand rigoroser Selbstbezüglichkeit mit evolutions-
Kunstexperimente weiterzuführen. theoretischen Argumenten rekonstruiert. In dieser Röntgen-
Die Katastrophe der Kunst erweist sich als die Katastrophe aufnahme der ästhetischen Evolution von I910 bis heute wird
des Imitationsverhaltens und des mit ihm verbundenen Trai- erkennbar, wie die systematische Verkennung der Imitation
ningsbewußtseins, das die vorangehenden dreitausend Jahre und des Trainingselements zu paradoxen Imitationen und
der "Kunstgeschichte« als wie auch immer fragmentierte perversen Trainings führt. Paradox sind Imitationen und per-
Proliferation von Meisterschaften und Metiergeheimnissen vers sind Trainings, in denen maligne Eigenschaften - die man
überspannt hatte. Nach einer Sequenz von achtzig bis hun- in anderen Zeiten unter der Rubrik» Laster« diskutiert hätte-
dert Generationen imitatio-basierter Kopierprozesse in der die höchsten Reproduktionserfolge erzielen. In der imita-
vormodernen Kunst ist binnen bloß zweier Generationen- tionsblinden Subkultur der modernen bildenden Kunst ha-
wechsel die inhaltliche und technische Imitation nahezu völ- ben sich an den Schwellen zwischen den Generationen solche
lig ihrer Funktion als maßgeblicher Kulturreplikator beraubt Werke und Künstler durchgesetzt, bei denen sich der jeweils
worden. Da die Imitation jedoch auch in einer Kultur, die die nächsthöhere Grad an Selbstbezüglichkeit beobachten ließ,
Imitation zugunsten einer ebenso suggestiven wie suspekten ohne daß die zeitgenössischen Beobachter imstande gewesen
Ideologie der Kreativität verleugnet, den für Traditionsbil- wären, den Schluß zu ziehen, das selbstbezügliche Werk sei
dung entscheidenden Mechanismus darstellt, bezieht sich
die Imitation der Modernen auf den einzigen Aspekt der 181 Wien 2008.
688 III Die Exerzitien der Modernen [2 Übungen und Fehlübungen

zugleich das sich selbst dementierende. Die vollendete Mali- ausstrahlt. Die Kuratoren, die selbstbezügliehe Ausstellungen
gnität des modernen Kunstbetriebs zeigt sich vielmehr gerade organisieren, und die Künstler, die als Selbstkuratoren und
darin, daß noch der grellste selbstreferentielle Zynismus als Selbstsammler agieren,1 82 sind die einzigen, von denen die
Beweis für die Transzendenz der Kunst aufgefaßt werden Akteure der spekulativen Wirtschaft noch etwas lernen kön-
kann. nen: Ihre Lektion heißt: Man kann in puncto Selfishness nie
Das Kunstsystem hat inzwischen unangefochten den be- weit genug gehen, solange das Publikum bereit ist, auf Kunst
sten Platz an der Selfishness-Sonne erobert. Zwar hatte Mar- wie auf eine Erscheinung von Transzendenz zu reagieren -
tin Heidegger in den dreißiger Jahren doziert, das Kunst- und wie sollte es anders reagieren in einer Zeit, in der jedes
werk stelle eine Welt auf - zu ebender Zeit, als der Absturz beliebige Mehr an Sinn als religiöse Erfahrung aufgemacht
der Kunst in pure Selbstreferentialität einsetzte: In Wahrheit wird?
denkt das Kunstwerk im selfish system der postmodernisier-
ten Kunst nicht daran, eine Welt aufzustellen. Es präsentiert Alles spricht dafür, daß dasselbe Publikum aueh auf extremen
sich vielmehr als Zeichen dessen, daß es etwas vorstellt, was Reichtum wie auf Transzendenz antworten wird. Die Zu-
nicht auf eine Welt verweist: sein eigenes Ausgestelltsein. kunft des Kunstsystems läßt sich darum leicht vorhersagen:
Das Kunstwerk in der dritten Generation der blinden Sel- Es liegt in seiner Fusion mit dem System der größten Ver-
fishness-Imitation hat alles, nur keinen expliziten Weltbe- mögen. Es verspricht diesem eine glanzvolle exhibitionisti-
zug. Was es aufstellt, ist seine manifeste Abgeschnittenheit sche Zukunft und sich selbst den Übergang in die Dimension
von allem, was außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt. Das des Fürstlichen. Nach der Emergenz der artistischen Herstel-
einzige, was es von der Welt weiß, ist, daß es dort Menschen lungsmacht in der Renaissance, die den Künstler als den Mei-
gibt voll von Sehnsucht nach Bedeutsamkeits- und Tran- ster der Landschaft, des Portraits und der Apokalypse groß
szendenzerlebnissen. Es setzt darauf, daß viele von ihnen machte; nach der Emergenz der Ausstellungsmacht in der
bereit sind, ihre Sehnsucht in der leeren Hermetik selbstre- frühen Moderne, die mit der Exhibition eines Pissoirs begann
ferentieller Werke, in der Tautologie selbstreferentieller Aus- und zuletzt im sich selber exhibierenden Museum mündete,
stellungen und im Triumphalismus selbstreferentieller Mu- erleben wir aktuell die Emergenz der Kunstmarktmacht, die
seumsbauten zu befriedigen. Wie jede Pseudoreligion speku- alle Macht den Sammlern in die Hände legt. Der Weg der
liert auch diese auf Transzendenz, ohne ihre mundanen Kunst folgt dem Gesetz der Veräußerlichung, das die Macht
Interessen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. der Nachahmung gerade dort beweist, wo die Nachahmung
Inzwischen übertrifft das Kunstsystem sogar das Wirt- am heftigsten geleugnet wird: Es führt von den Künstlern, die
schaftssystem, was die Zurschaustellung seiner Unbeküm- Künstler nachahmen, über die Aussteller, die Aussteller nach-
mertheit um externe Bezüge angeht. Ihm ist bereits gelungen, ahmen, zu den Käufern, die Käufer nachahmen. Aus der De-
wovon das ökonomische System bis auf weiteres nur träumt: vise l'art po ur /'art ist vor unseren Augen das Konzept the art
Es hat seine Selfishness sakralisiert und trägt sie wie das Merk- system for the art system geworden. Aus dieser Position ent-
mal seiner Auserwählung vor sich her. Daher die unwidersteh-
liehe Verführung, die vom Kunstsystem auf das Wirtschafts- 182 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen
system und alle übrigen Domänen selbstbezüglichen Agierens Zeitalters, München 1997.

Il
III Die Exerzitien der Modernen

wickelt sich das Kunstsystem zum Paradigma aller erfolgrei-


chen Maladaptionen, ja zur Quelle maligner Kopierprozesse
RÜCKBLICK
jeder Art. Das Problem der falschen Schule kehrt wieder als
VON DER WIEDEREINBETTUNG DES SUBJEKTS
das Problem der Verführung durch die Belohnungen, die das
Kunstsystem für Beispiele von Pseudokultur 183 gewährt. Die ZUM RÜCKFALL IN DIE TOTALE SORGE
Folgerung liegt auf der Hand: Es wird in Zukunft kaum eine
Verkehrtheit mehr geben, die sich nicht am aktuellen Kunst-
system ein Beispiel nimmt. Der Handel mit Derivaten war in
ihm schon lange etabliert, bevor auch die Finanzwelt ins Blickt man von diesen aktuellen, allzu aktuellen Wahrneh-
Derivategeschäft einstieg. Wie das vom Doping korrumpierte mungen auf den langen Weg zurück, den die neuzeitlichen
Sportsystem steht auch das Kunstsystem an einem Scheide- Formen der subjektbildenden Übung von ihren Anfängen
weg: Entweder geht es den Weg zur Korruption durch Nach- in der städtischen Mystik, in den Werkstätten der Artisten
ahmung des außerkünstlerischen Effekts im Ausstellungs- und Handwerker, den Gelehrtenstudios und den Sekretaria-
und Sammlungswesen zu Ende und stellt die Kunst definitiv ten der Frührenaissance bis in die Bildungseinrichtungen, die
als Tummelplatz des Letzten Menschen bloß, oder es besinnt Kunstgalerien, die Fitnesszentren und die gentechnischen La-
sich auf die Notwendigkeit, die schöpferische Imitation in die boratorien der Gegenwart durchlaufen haben, ergibt sich -
Werkstätten zurückzuholen und dort die Frage neu aufzu- jenseits der unresümierbaren Fülle divergenter Entwick-
nehmen, wie das Wiederholungswürdige vom Nicht-Wieder- lungslinien - ein problematischer Gesamtbefund. Gewiß hat
holungswürdigen zu unterscheiden sei. die Neuzeit eines ihrer Versprechen gehalten: Durch sie wur-
de den weltflüchtigen Ethikern, die die Jahrtausende zwi-
schen Heraklit und Blaise Pascal, zwischen Gautama Buddha
und Tota Puri bevölkern, die Möglichkeit einer neuen Welt-
kindlichkeit erschlossen. Indem sie dieses Versprechen hielt,
hat sie den Menschen zugleich genommen, was viele bis dahin
für ihr Bestes hielten - die Möglichkeit, sich von der Welt
radikal zu unterscheiden.

Es läßt sich nicht leugnen, die Moderne hat die Entfremdung


zwischen den Enklaven der Sezessionisten184 und dem wü-
sten Land der Äußerlichkeiten aufgehoben und das Mißver-
hältnis zwischen Mensch und Sein in teils pathologischen,
teils politischen, teils ästhetischen Ausdrücken neu beschrie-

184 Zum Phänomen Sezession siehe Kapitel 2 »Kultur ist eine Ordens-
18 3 Zur Definition dieses Ausdrucks vgl. Heiner Mühlmann, Die
regel~< , S. 208f. und !,-apitel6 Erste Exzentrik. Von der Absonderung
Natur der Kulturen, a. a. O. der Ubenden und Ihren Selbstgesprächen, S. 338-378.
Rückblick Rückfall in die totale Sorge

ben. Auf der ersten Spur bot sie Therapien an, auf der zweiten hört ohne Zweifel zu den Tendenzen der Moderne, die phi-
soziale Reformen, auf der dritten Aufbrüche in die Kreativi- losophisch alle Aufmerksamkeit verdienen. Ja, sie leitet einen
tät. Ist es noch nötig zu sagen, daß mit diesen Hauptrichtun- Wandel ein, der mit Sympathie zu verfolgen ist, da er nicht
gen der Welt- und Selbstverbesserung zugleich die Modi be- weniger als eine Versöhnung von Mensch und Welt nach einer
zeichnet sind, die uns geholfen haben, den größten Teil der im Ära radikaler Entfremdung in Aussicht stellte. Das »Zeitalter
Begriff »Religion« zusammengeballten Mißverständnisse zu des Ausgleichs« setzte die Aufhebung ältester Oppositionen
beheben? Wenn es um die Korrektur der Disproportion zwi- auf die Tagesordnung - Geist und Leben wollten wieder zu-
schen Mensch und Welt geht, sind Heilkunde, Künste und einanderfinden, Ethik und Alltäglichkeit sich neu verbünden.
Demokratie (besser: Politik der Freundschaft) die leistungs- Jahrtausende sind vergangen, in denen die zur Sezession ent-
stärksten Mittler. Und wenn es gilt, die Kräfte der Weltflucht schlossenen Einzelnen das Weltganze in Inneres und Äuße-
in gute Immanenz umzuleiten, spendet ein erfüllendes Dies- res, Eigenes und Nicht-Eigenes spalteten - nun sollten sie ins
seits genügend Licht, um die Spezialeffekte des Jenseits zu Milieu eines vieldimensionalen Ganzen zurückgebettet wer-
überstrahlen. den und sich, jeder an seinem Platz, als »Weltkind in der
Mitten« begreifen, um Goethes heitere Selbstaussage noch
Doch gleich, ob die Moderne den Menschen an die Erfor- einmal zu bemühen. Als die Aufklärung die Entzauberung
dernisse der Verhältnisse oder die Verhältnisse an die Forderun- der Metaphysik vorantrieb, geschah dies nicht zuletzt in der
gen des Menschen anzupassen versuchte: Sie ging immer darauf Absicht, die jenseitig indoktrinierten Menschen aus ihrer
aus, den in der Sezession freiwillig weltfremd gewordenen Verstiegenheit in weltlosen Fiktionen zu befreien. Was die
Menschen aus dem »Landheim seiner selbst« in die »Wirklich- Kritiker der religiösen Illusion ihrer Sache so sicher machte,
keit« zurückzuholen. Es war ihr Ehrgeiz, ihm eine einzige war die Überzeugung, die entfremdete Menschheit könne
Staatsbürgerschaft aufzuprägen, die alles gibt und nimmt: In- nur durch den Verzicht auf ein eingebildetes Glück zu ihrem
der-Welt-Sein. Sie bindet uns an ein Gemeinwesen, das keine wirklichen Glück emanzipiert werden.
Auswanderung mehr kennt. Seit wir in ihm leben, besitzen wir In ihrer Summe bilden diese Bestrebungen den Komplex
alle den gleichen Paß, ausgestellt durch die Vereinigten Staaten der Formen übenden Lebens, dessen Umrisse ich hier unter
der Gewöhnlichkeit. Sämtliche Menschenrechte sind garan- dem Titel »Exerzitien der Modernen« zeichnete. Ihre Schlüs-
tiert, ausgenommen das Recht auf Ausreise aus der Faktizität. selgestalten waren die technischen, die musischen, die disku-
Deshalb werden die meditativen Enklaven mit der Zeit unsicht- rierenden Virtuosen, die sich in umfangreichen Übungs-
bar, die Wohngemeinschaften der Weltfremdheit lösen sich auf. zyklen als Welten in der Welt, als Mikrokosmen, als »Per-
Die heilsamen Wüsten veröden, die Klöster entleeren sich, Ur- sönlichkeiten« hervorzubringen wußten. Die elaborierten,
lauber treten an die Stelle von Mönchen, Ferien ersetzen die stilisierten, dokumentierten Individuen genossen die Gewiß-
Weltflucht. Die Halbwelten der Entspannung geben dem Him- heit, in der eigenen Brust die große Welt zu erleben. Sie alle
mel wie dem Nirvana empirisch Sinn. profitierten noch von einer metaphysischen Rückversiche-
rung, die ihnen die Wendung in die Weltlichkeit als Gewinn
Die Wiederverweltlichung des asketisch zurückgezogenen auf dem Konto des erhöhten und verschonten Ich erscheinen
(und fälschlich zu einer Substanz überhöhten) Subjekts ge- ließ. Für sie war Erfahrung mit Entwicklung synonym. Noch
Rückblick Rückfall in die totale Sorge

konnten sie die glänzende Isolierung genießen, die dem sepa- trum der Handlung standen die symmetrisch aufeinander be-
rierten Subjekt ein unverlierbar scheinendes Heimatrecht im zogenen Primärideologien des I 9. und 20. Jahrhunderts, die die
Seelischen und Geistigen garantierte - von dort her organi- Rückübersetzung des Menschen aus der Weltflüchtigkeit in die
sierten sie ihre Reisen ins Offene, Konquistadoren und schöne Weltzugehörigkeit vorantrieben: Naturalismus und Sozialis-
Seelen in einem. An ihre Adresse war Goethes Pronun- mus - man könnte auch, ihrer engen Verwandtschaft wegen,
ciamento gerichtet: »Denn keine Zeit und keine Macht zer- sagen: Sozialnaturalismus und Naturalsozialismus. Beide Sy-
stückelt I Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. «1 85 steme waren sich einig in dem Bestreben, den Menschen ganz
für das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« samt
Das Weitere ist schnell erzählt, weil unerzählbar. Die radi- ihren physischen Grundlagen zu reklamieren und ihm die Eva-
kalisierte Aufklärung des 20. Jahrhundert sprengte die Re- sion in vermeintliche Innen- und Gegenwelten zu verbauen -
servate der jenseitig oder gestalthaft immunisierten »Persön- um von den religiösen Hinterwelten nicht mehr zu reden. Von
lichkeiten« auf. Mit der für sich gesetzten Seele zugleich beiden Ansätzen ist ein elementarer Pragmatismus untrennbar,
vertrieb sie deren Daimon, den unheimlichen Begleiter, dem zufolge als real nur gelten darf, was in sozialen Handlun-
von dem Goethe die Zuversicht geliehen hatte, jedes indivi- gen und technischen Verfahren traktierbar ist. Er wird ergänzt
duelle Leben folge seiner inneren Urform, gemäß dem »Ge- durch einen unerbittlichen Moralismus, ja durch die Neigung
setz, nach dem du angetreten«. Auch diese Expulsion ge- zum moraldämonischen Exzeß: Wenn schon den Menschen
schah zunächst der innerweltlichen Glückseligkeit zuliebe, keine spirituelle Distanzierung von den Weltverhältnissen
die manches Opfer an Illusion fordern durfte. Verschwinden mehr gelingt, tun doch Zahllose alles, was ihnen nötig scheint,
sollte zumal die Priorität der Seele, die zum Gefängnis des damit sie sich innerhalb der Gegebenheiten zu den Guten, den
··
K orpers geraten war. 186 moralisch Überlegenen rechnen können.

Über den wahren Preis der epochalen Operation unterrichten Der entscheidende Schlag gegen die bloße Möglichkeit einer
uns die Verirrungen des abgelaufenen Jahrhunderts. Sollte man weltfluchtfähigen Existenz erfolgte jedoch nicht von der
diese Ära in einem Drehbuch verdichten, es müßte den Titel pragmatischen Seite her, sondern aus der erneuten »Revolu-
tragen: Die Säkularisation der Innenwelt oder: Die Rache der tion der Denkungsart« im frühen 20. Jahrhundert, die mit
Welt an denen, die glauben wollten, sie könnten sich von ihr dem Auftreten des jungen Heidegger verbunden ist. Er stellte
unberührt halten. Es führte vor Augen, wie der M ensch zum die Uhr der philosophischen Reflexion um mehr als zweiein-
massenhaften Verbrauch bestimmt wird, sobald man ihn als halbtausendjahre zurück, als er in seinem frühen Hauptwerk
bloßen Faktor im Spiel der Weltverbesserung auffaßt. Im Zen- Sein und Zeit, 1927, die Entscheidung traf, das philosophische
Denken wieder in der Situation des Daseins als In-der-Welt-
185 Johann Wolfgang Goethe, Urworte Orphisch, Daimon. Vgl. Her- Sein beginnen zu lassen. Damit machte er den Schritt in die
mann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen distanzgebende Theorie, und mit ihm die Sicherung des Selbst
Zusammenhang (zuerst 1959), Bann 2008, S. 217 f. und 264f.
186 Vgl. Alfred Schäfer, Die Seele: Gefängnis des Körpers, in: Alfred
in der beobachtenden Fernstellung, rückgängig, ebenjenen
Pongratz u. a., Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Schritt, den ich - unter Wiederverwendung heraklitischer Bil-
Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden 2004, S. 97-1 13 . der - als das Heraussteigen des denkenden Selbst aus dem
Rückblick Rückfall in die totale Sorge

Fluß des Lebens und die Eroberung des Ufers beschrieb. 187 Die Konsequenzen der Wende sind so unabsehbar wie die
Wir haben gesehen: Am Ufer war der Beobachter erschienen, Verhältnisse des kommenden Zeitalters, das sich, was immer
unter dessen Blick sich die Welt zum Schauspiel wandelte - es sonst sein mag, nur als das Zeitalter »danach« bezeichnen
einem unwürdigen Schauspiel, wie sich versteht, von dem die läßt. Eine Beobachtung immerhin drängt sich auf: Die Wie-
ethisch bewegte Intelligenz sich abwendet. derverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts hat die ·Er-
Durch den Neuansatz inmitten der umfassenden Situation, wartung nicht erfüllt, wonach der Verzicht auf eingebildete
die In-der-Welt-Sein heißt, wurden die Glashäuser der Innen- Glückseligkeiten dem physischen oder tatsächlichen Glück
welt-Illusion gesprengt, die Logen der reinen Beobachtung unmittelbar zugute komme. Der Grund hierfür läßt sich an
versanken in der Flut. Das separierte Subjekt sah sich ins Da- Heideggers Beschreibung des in die weltliche Situation zu-
sein ~urückversetzt und seines theoretischen Privilegs - sei- rückgebetteten Daseins ablesen. Der Preis für den Neubeginn
ner Ahnlichkeit mit den Zuschauergöttern - beraubt. Von der denkenden Orientierung aus der Position des In-der-
neuem wurde es in das Bad der Stimmungen getaucht, die Welt-Seins heißt unvermeidlich: Distanzverlust. Dessen
das Ganze, worin wir uns aufhalten, vor-logisch tönen und Hauptsymptom ist die Auslieferung des Menschen an die
erschließen. Nun kam wieder ans Licht, in welchem Maß der Sorge und seine Immersion in der gelebten Situation. Wer
Mensch als »Organ« der Existenz auf Außer-sieh-Sein ange- aus dem »Subjekt« wieder das »Dasein« macht, ersetzt das
legt ist. Von vorneherein ist seine Seinsweise selbstverloren Zurückgezogene durch das Einbezogene, das Gesammelte
. 188
da sie sich immer schon als Bei-den-Dingen-Sein und als Mit~ durch das Zerstreute, das Verewigte durc h das Entewlgte,
Sein mit Anderen vollzieht. Seiner spontanen Beschaffenheit das Erlöste durch das Nicht-Gerettete. Was Heidegger die
nach ist der Mensch eine Marionette des Kollektivs und eine Sorge nennt, ist das Zugeständnis des Menschen an die Welt,
Geisel der Situationen. Erst in »zweiter Lesung«, nachträg- daß er sich gegen ihre Infiltration nicht abzudichten vermag.
lich und ausnahmsweise, kommt das Dasein auf sich und sein Das Ufer, an dem der Beobachter Fuß fassen wollte, ist kein
mögliches Mandat des Selbstseins zurück, und alle Versuche, wirklich rettendes. Das faktische Existieren ist »immer auch
189 I' h .
dieses nachträglich Entdeckte zu einer ersten Substanz, einer schon in der besorgten Welt aufgegangen«. G elc WIe es
Urform, einer durch das Ich ragenden Weltachse zu erheben, sich abzuschirmen und abzusondern versuchte - als atman, als
verraten die Spuren subtiler Fälschungen. Wie Proudhon do- noetische Psyche, als homo interior, als Einwohner der inne-
zierte: »Wer Gott sagt, will betrügen«, ist aus Heidegger zu ren Zitadelle, als Seelenfunke, als zugrundeliegendes Subjekt,
folgern: »Wer Ich sagt, will sich selber täuschen.« Durch ihre als vorhandenes Ich, als Persönlichkeit, als Kreuzungspunkt
symptomatische Übereilung verraten diese Überhöhungen der Archetypen, als Schwebepunkt der Ironie, als Kritiker des
des Selbst ein Interesse an Rettung aus dem reißenden Strom Verblendungszusammenhangs und als Beobachter von Beob-
der Zeit. Muß man betonen, daß das Verlangen nach Rettung achtern -, es ist in Wahrheit aufgrund seines konstitutiven
nicht auch per se die Möglichkeit der Rettung beweist?
18 8 Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschenge-
1 87 Und der als »Schritt zurück« in der Husserlschen Lehre von der schlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Zweiter
epoche bzw. der »Einklammerung« des Existenzurteils akademi- Band, Heidelberg 1964, S. 15-197: »Wenn eine Ewigkeit ver-
siert wurde. Über »Auftauchen«, »Ufer«, »Ufer-Subjektivität« stummt. Erinnerungen eines Entewigten«.
und »reine Beobachtung« siehe oben S. 35 3f. 18 9 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. 0., S. 19 2 .
Rückblick

Außer-sieh-Seins immer schon der Sorge verfallen - die Göt-


ter allein, und neben ihnen die Narren, sind sorglos in sich. AUSBLICK
Von Anbeginn ist das Dasein durch Weltlichkeiten koloniali- DER ABSOLUTE IMPERATIV
siert. Weil es immer schon in Sorge aufgegangen ist, muß es
Prioritätenlisten erstellen und sie wie sein innerstes Anliegen
abarbeiten. Versuche der Distanznahme können nie mehr dar-
stellen als sekundäre Modifikationen einer allem zuvorkom- Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch
menden Selbstauslieferung. Die Äußerlichkeiten, von denen schreibe, und mit eigener Hand.
Mare Aurel behauptet hatte, sie stünden fremd vor unserer Paulus, Brief an die Galater, 6, I I
Tür, haben in Wahrheit das Haus besetzt. Der vorgebliche
Hausherr ist von den Gästen besessen, und er kann von Glück
sagen, wenn sie ihm einen Rückzugswinkellassen. Wer darf es sagen?
So spricht alles dafür, das menschliche Dasein sei nach drei
Jahrtausenden spiritueller Evasionen an den Punkt zurück- »Du mußt dein Leben ändern!« Die Stimme, die Rilke im
versetzt, bei dem die Sezessionen begonnen hatten, und sei Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich inzwischen von ihrem
nach allem nur wenig klüger als zuvor - zumindest kaum Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist sie in den all-
weniger verlegen. Dieser Eindruck ist zugleich richtig und gemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten Inhalt
falsch - richtig, sofern der jenseitssüchtige Überschwang sur- all der Kommunikationen geworden, die um den Globus
realer Aufstiege den Prüfungen der Zeit und der Analyse schwirren. Es gibt im Augenblick keine Information im Welt-
nicht standgehalten hat, falsch, weil die Schatzhäuser des äther, die nicht ihrer Tiefenstruktur nach auf diesen absoluten
Übungswissens überreich gefüllt sind, mochten sie auch in Imperativ zu beziehen wäre. Er ist der Ruf, der sich nie zu
jüngerer Zeit wenig frequentiert werden. einer bloßen Tatsachenfeststellung neutralisieren läßt, er bil-
det den Imperativ, der durch alle Indikative hindurchwirkt.
Nun ist es an der Zeit, all die Formen des übenden Lebens neu Er artikuliert das Leitwort, das die zahllosen chaotischen In-
zu vergegenwärtigen, die nicht aufhören, salutogene Energien formationspartikel zu einer prägnanten moralischen Gestalt
freizusetzen, selbst wenn die Überhöhungen zu metaphysi- anordnet. Aus ihm spricht die Sorge um das Ganze. Es läßt
schen Revolutionen, in die sie anfangs eingebunden waren, sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethi-
zerfallen sind. Alte Formen sind auf ihre Wiederverwendbar- scher Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allge-
keit zu prüfen, neue Formen zu erfinden. Ein anderer Zyklus genwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen
von Sezessionen mag beginnen, um Menschen erneut heraus- kann.
zuführen - wenn schon nicht aus der Welt, so doch aus der Noch einmal haben wir Grund, an Nietzsehe zu erinnern.
Stumpfheit, der Niedergeschlagenheit, der Verranntheit, vor Er hatte zuerst begriffen, in welchem Modus der ethische
allem aber aus der Banalität, von der Isaac Babel sagte, sie sei Imperativ auch in moderner Zeit zu übermitteln ist: Er
die Konterrevolution. spricht uns in der Form eines Befehls an, der eine bedingungs-
lose Überforderung aufrichtet. Damit stellte er sich gegec
7°° Ausblick Der absolute Imperativ 7°1
den pragmatischen Konsensus, wonach man von Menschen auch der erfolgreichste, der schöpferischste, der großzügig-
rechtens nur verlangen dürfe, was sie im status quo zu leisten ste, wenn er sich ernsthaft prüft, zugeben müßte, er sei we-
fähig sind. Nietzsehe setzte das ursprüngliche Axiom des niger geworden, als er seinem Seinkönnen nach hätte werden
übenden Lebens dagegen, wie es seit dem Einbruch der sollen, die wenigen Momente ausgenommen, in denen er sa-
ethischen Differenz in die herkömmlichen Lebensformen gen durfte, er habe der Pflicht, ein gutes Tier zu sein, ge-
feststeht: Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am horcht. Als durchschnittliches Übertier, von Ambitionen ge-
Unmöglichen orientiert. Die maßvollen Gebote, die vernünf- kitzelt, von exzessiven Symbolen heimgesucht, bleibt der
tigen Vorschriften, die alltäglich zu erbringenden Anforde- Mensch hinter dem zurück, was von ihm gefordert wird,
rungen - sie alle setzen zu ihrer Verwirklichung bereits eine selbst im Trikot des Siegers, selbst im Gewand des Kardinals.
hyperbolische Spannung voraus, die einem unerfüllbaren und
unausweichlichen Anspruch entspringt. Was ist der Mensch, Der Satz »Du mußt dein Leben ändern! « liefert die Grund-
wenn nicht das Tier, von dem zuviel verlangt wird? Nur wer form des Rufs an alle und an keinen. Zwar richtet er sich
das erste Gebot aufrichtet, kann Zehn Gebote folgen lassen. unmißverständlich an einen bestimmten Empfänger, aber er
Im ersten redet das Unmögliche selbst mich an: Du sollst spricht neben ihm auch alle anderen an. Wer ihn ohne Ab-
keine anderen Maßstäbe haben neben mir. Wer nicht vom wehr vernimmt, erlebt durch ihn die Begegnung mit dem
Übergroßen erfaßt wurde, gehört nicht zur Gattung homo Erhabenen in einer persönlichen Adressierung. Erhaben ist,
sapiens. Zu ihr rechnet schon der erste Jäger in der Savanne, was durch Vergegenwärtigung des Überwältigen?en dem
der den Kopf hob und verstand, daß der Horizont keine Beobachter die Möglichkeit seines Untergangs im Ubergro-
schützende Grenze ist, sondern das Tor, durch das die Götter ßen vor Augen stellt, dessen Vollzug jedoch bis auf weiteres
und die Gefahren eintreten. aussetzt. Das Erhabene, dessen Spitze auf mich zeigt, ist per-
Um die aktuelle Überforderung auf der Höhe des Welt- sönlich wie der Tod und unfaßbar wie die Welt. Für Rilke
zustands zu artikulieren, ging Nietzsehe das Wagnis ein, der war es die dionysische Dimension der Kunst gewesen, die ihn
Öffentlichkeit »ein Buch für Alle und Keinen « zu überge- aus der verstümmelten Apollo-Statue anredete und ihm das
ben - eine prophetische Eruption, sechstausend Fuß jenseits Gefühl der Begegnung mit etwas unendlich Überlegenem
von Mensch und Zeit, rücksichtslos über die Köpfe sämt- einflößte. Heute hingegen ist die autoritative Stimme in
licher Hörer hinweggesprochen und zugleich auf invasive Kunstwerken kaum noch zu hören. Befehlende Autorität
Weise mit dem Wissen jedes Einzelnen von seinem intimen kommt auch nicht mehr den niedergelassenen »Religionen«
Entwurf ins Noch-Nicht verbündet. Das Übermensch- und den Kirchenräten zu, geschweige denn den Räten der
programm kann man auf sich beruhen lassen, wenn man Weisen, falls man den Ausdruck noch ohne Ironie gebrau-
weiß, daß es für Vertikalspannung im allgemeinen steht. Sei- chen kann.
ne Proklamation war nötig geworden, als man der Hypo- Die einzige Autorität, die heute sagen darf: »Du mußt dein
these Gott nicht mehr hinreichend sicher war, um die Ver- Leben ändern!«, ist die globale Krise, von der seit einer Weile
ankerung der emporziehenden Spannung in einem tran- jeder wahrnimmt, daß sie begonnen hat, ihre Apostel auszu-
szendenten Pol zu garantieren. Aber auch ohne Gott und senden. Sie besitzt Autorität, weil sie sich auf etwas Unvor-
Übermensch - es genügt der Hinweis, daß jeder Einzelne, stellbares beruft, von dem sie der Vorschein ist - die globale
7°2 Ausblick Der absolute Imperativ 7°3
Katastrophe. Man braucht nicht religiös musikalisch zu sein, Tugendlehren nicht zu reden. Auch die vielzitierte Rückkehr
um zu begreifen, warum die Große Katastrophe zur Göttin der »Religion « ist nicht viel mehr als das Symptom eines Un-
des Jahrhunderts werden mußte. Da sie über die Aura des behagens, das auf seine Auflösung in einer luziden Formulie-
Ungeheuren verfügt, kommen ihr die wesentlichen Merkma- rung wartet. In Wahrheit kann die Ethik allein in der Erfah-
le zu, die bisher den transzendenten Mächten zugeschrieben rung des Erhabenen gründen, heute wie seit dem Beginn der
wurden: Sie bleibt verhüllt, gibt sich aber in Zeichen schon zu Entwicklungen, die zu den ersten ethischen Sezessionen führ-
erkennen; sie ist unterwegs, jedoch in ihren Vorboten bereits ten. Unter seinem Appell begann die Menschheit der zwei
authentisch da; sie offenbart sich individuellen Intelligenzen Geschwindigkeiten ihre Kampagne durch die Zeiten. Allein
in grellen Visionen und übersteigt zugleich die humane Fas- das Erhabene ist imstande, die Überforderung aufzurichten,
sungskraft; sie beruft Einzelne in ihren Dienst und macht sie die Menschen Kurs aufs Unmögliche nehmen läßt. Was man
zu Propheten; in ihrem Namen wenden sich ihre Delegierten die »Religion« nannte, war immer nur als Vehikel des abso-
an die Mitwelt, werden aber von den meisten wie Belästiger luten Imperativs in seinen nach Ort und Zeit verschiedenen
abgewehrt. Aufs Ganze gesehen, geht es ihr kaum anders als Redaktionen von Bedeutung. Der Rest ist das Geschwätz,
dem Gott des Monotheismus, als er vor kaum dreitausend von dem Wittgenstein zu Recht sagte, man solle ihm ein Ende
Jahren auf die Bühne trat: Schon dessen Botschaft war zu machen.
groß für die Welt, und nur die Wenigen waren bereit, seinet-
wegen ein anderes Leben zu beginnen. Aber hier wie dort Für die theologisch Interessierten folgt hieraus: Der Eine
verschärft die Verweigerung der Vielen die Spannung, die Gott und die Katastrophe haben mehr miteinander gemein-
über dem humanen Kollektiv liegt. Seit die globale Katastro- sam, als man bisher registrierte, nicht zuletzt den Ärger mit
phe mit ihrer partiellen Enthüllung begonnen hat, ist eine den Menschen, die sich nicht dazu aufraffen können, an ihn
neue Gestalt des absoluten Imperativs in der Welt, die sich oder sie zu glauben. Es gibt nicht nur die von Coleridge be-
unter der Form einer scharfen Ermahnung an alle und an nannte »willentliche Suspension des Unglaubens « an die Fik-
keinen richtet: Ändere dein Leben! Andernfalls wird früher tion, ohne welche kein ästhetisches Verhalten möglich wäre.
oder später die vollständige Enthüllung euch demonstrieren, N ach wirksamer ist die willentliche Suspension des Glaubens
was ihr in der Zeit der Vorzeichen versäumt habt! ans Reale, ohne welche kein praktisches Arrangement mit
dem Gegebenen zustande kommt. Die Einzelnen finden sich
Vor diesem Hintergrund läßt sich erklären, woher das Un- mit der Wirklichkeit kaum je ohne eine Beimischung von
behagen in der heutigen Ethikdebatte stammt, gleich, ob es Entwirklichung zurecht. Die ungläubige Entwirklichung un-
ihre akademischen oder ihre publizistischen Ausprägungen terscheidet auch kaum zwischen Vergangenheit und Zukunft:
betrifft. Es folgt aus dem Mißverhältnis zwischen den Unge- Ob die Katastrophe eine vergangene ist, aus der man hätte
heuerlichkeiten, die seit der Ära des Kalten Krieges nach 1945 lernen sollen, oder eine kommende, die mit geeigneten Maß-
in der Luft liegen, und der lähmenden Harmlosigkeit sämt- nahmen abzuwenden wäre - immer weiß das Nicht-Glau-
licher gängigen Diskurse, gleich ob sie gesinnungs- oder ben-Wollen die Dinge so einzurichten, daß der gewünschte
verantwortungsethisch, diskurs- oder situationsethisch argu- Grad an Entwirklichung erreicht wird.
mentieren - um von der hilflosen Reanimation der Wert- und
Ausblick Der absolute Imperati v

kulturelle Praktiken eingeübt: Seit die Aufklärung Gott zu


Wer kann es hören? einer moralischen Hintergrundstrahlung des Universums
herabstufte oder ihn geradewegs zur Fiktion erklärte, haben
Was menschengemachte Katastrophen angeht, war das 20. die Modernen die Erfahrung des Erhabenen aus der Ethik in
Jahrhundert die instruktivste Periode der Weltgeschichte. die Ästhetik verschoben. Den Spielregeln der seit dem frühen
An ihr war abzulesen: Die größten Unheilskomplexe wurden 19. Jahrhundert einsetzenden Massenkultur gemäß haben sie
unter der Form von Projekten ausgelöst, die den Gang der sich die Überzeugung einverleibt, daß man bloß vorgestellte
Geschichte von einem einzigen Aktionszentrum aus unter Schrecken vollkommen unbeschädigt überlebt. In ihren Au-
Kontrolle bringen sollten. Sie waren die anspruchsvollsten gen geschehen alle Schiffbrüche nur für die Zuschauer u.nd
Manifestationen dessen, was Philosophen im Gefolge von alle Katastrophen nur dem angenehmen Gefühl des Entnn-
Aristoteles und Marx die Praxis nannten. In zeitgenössischen nens zuliebe. Sie folgern daraus, Drohungen seien immer nur
Verlautbarungen beschrieb man die großen Projekte als Ge- ein Teil der Unterhaltung und Mahnungen ein Element der
stalten des Endkampfs um die Erdherrschaft. Den Menschen Show.
der Praxis-Zeit stieß nichts zu, was nicht von ihnen selbst Die Rückkehr des Erhabenen in Form eines ethischen Im-
oder von ihren Mitmenschen veranstaltet worden wäre. Da- perativs, mit dem nicht zu spaßen ist, trifft die ,:estliche w:~1t
her könnte man sagen: Nichts ist in der Hölle, was nicht zu- - um hier nur von ihr zu sprechen - unvorbereitet. Ihre Bur-
vor in den Programmen gewesen war. Die Zauberlehrlinge ger haben es sich zur Gewohnheit gemacht, alle im Realitäts-
der planetarischen Gestaltung haben die Erfahrung machen ton vorgebrachten Hinweise auf die sich nähernde K~t~stro­
müssen, daß das Unberechenbare den strategischen Kalkülen phe als ein dokumentarisches Horror-Genre zu reZIpieren,
um eine ganze Dimension voraus ist. Kein Wunder also, und ihre Intellektuellen werden ihrem Ruf als detached cos-
wenn sich die guten Absichten in den schlimmen Ergebnissen mopolitan spectators gerecht, indem sie auch . die ernste~ten
nicht wiedererkannten. Das Weitere lag auf der Linie der Warnungen als diskursives Genre dekonstrUieren und Ihre
psychologischen Wahrscheinlichkeit: Die militanten Welt- Autoren in der Kategorie der Wichtigtuer einordnen. Doch
verbesserer zogen sich aus den selbstbewirkten Debakeln selbst wenn es kein ästhetisches Genre wäre: Man bleibt prag-
zurück und schrieben, was ihnen über den Kopf stieg, dem matisch bei der Überzeugung, mit dem Ernstnehmen könne
Verhängnis zu. Die überzeugendste Deutung dieses Verhal- man sich Zeit lassen. Überdies: Eine Person, die die Zeichen
tensmusters stammt aus der Feder eines skeptischen Philoso- am Horizont persönlich nehmen wollte - müßte sie nicht
phen: Nach fatalen Unternehmen praktizieren die gescheiter- sofort unter ihren Sorgen zusammenbrechen?
ten Akteure »die Kunst, es nicht gewesen zu sein«. Nichtsdestoweniger werden die Zeitgenossen sich früher
Im Vorfeld der angekündigten Katastrophe sind analoge oder später davon überzeugen, daß es kein Menschenrecht
Muster am Werk: Vor fatalen Entwicklungen üben sich die auf Nicht-Überforderung gibt - so wenig wie ein Recht dar-
Akteure auf der politischen Bühne in der Kunst, die Zeichen auf, nur solchen Problemen zu begegnen, deren Lösung man
der Zeit nicht verstanden zu haben. In dieses Verhalten - man mit den Bordmitteln bewältigt. Man mißversteht die Natur
könnte es ein universales Prokrastinieren nennen - sind die des Problematischen, wenn man als solches nur gelten läßt,
Menschen des Westens seit längerem durch tief verankerte was Aussicht darauf hat, in der laufenden Legislaturperiode
Ausblick Der absolute Imperativ

bewältigt zu werden. Um so mehr verfehlt man das Wesen der ja vor allem die Neuheit der Situationen, die kühne Antwor-
Vertikalspannungen in der menschlichen Existenz, wenn man ten erforderlich macht. Sogar am Frauenplan in Weimar sprä-
von einer Symmetrie zwischen challenge und response aus- che man heute eher von strenger Dienste täglicher Erfindung,
geht. Wer nach der Lage des Menschen fragt, findet Über- um dann, nach einem Moment der Überlegung, das Beiwort
forderungen auf der einen Seite, Überschüsse auf der anderen »streng« zu tilgen: zum einen, weil es dem Zeitgeschmack
- und nichts garantiert, daß das eine und das andere wie Pro- zuwider ist, zum anderen, weil täglich Erfundenes sich nicht
blem und Lösung zueinanderpassen. zu strenger Dienstauffassung empfiehlt. Nach nochmaliger
Überlegung würde man auch auf den vorangestellten Genitiv
verzichten und zudem lieber von Aufgaben als von Diensten
Wer wird es tun? sprechen. Zuletzt gäbe man ein Communique heraus mit der
undurchdringlichen Empfehlung, den gutgesinnten Men-
Was auch immer künftig unternommen wird, um den erkann- schen in der Harmonischen Gesellschaft möge es gelingen,
ten Gefahren zu begegnen, es steht unter dem Gesetz der Altes und Neues fruchtbar zu verbinden. Studiert man die
steigenden Unwahrscheinlichkeit, das die heißgelaufene Evo- Weisungen aus Rom, wird man bemerken, daß sie aus ebenso
lution beherrscht. Aus dieser Feststellung läßt sich ableiten, chinesischen Formeln bestehen.
warum die zwischen Rom, Washington und Fulda zirku-
lierende wertkonservative Propaganda keine angemessene Das Gesetz der steigenden Unwahrscheinlichkeit öffnet die
Antwort auf die aktuelle Weltkrise gibt - von möglichen kon- Aussicht auf zwei Überforderungen in einer: Was sich zur
struktiven Wirkungen in kleineren Zirkeln abgesehen. Denn Stunde auf der Erde abspielt, ist auf der einen Seite eine real
wodurch sollen die überzeitlichen "Werte«, die sich bereits voranschreitende Integrationskatastrophe - die mit der Ko-
angesichts vergleichsweise geringerer Probleme als ohnmäch- lumbusfahrt 1492 lancierte, mit der spanischen Unterwer-
tig und unzureichend erwiesen haben, mit einem Mal die fung des Aztekenreichs 1521 in Fahrt gebrachte, durch den
Macht gewinnen, angesichts größerer Verlegenheiten die Welthandel zwischen dem 17· und 19· Jahrhundert akzelerier-
Wende zum Besseren zu bewirken? te und dank der schnellen Medien des 20. Jahrhunderts bis
Wäre die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen zur effektiven Synchronisierung des Weltgeschehens voran-
tatsächlich in den klassischen Tugenden zu finden, würde es getriebene Globalisierung. Durch sie werden die bisher zer-
genügen, die Maxime zu befolgen, die Goethe in seinem streut lebenden Fraktionen der Menschheit, die sogenannten
Divan-Gedicht Vermächtnis altpersischen Glaubens formu- Kulturen, zu einem instabilen und von Ungleichheiten zer-
lierte: »Strenger Dienste tägliche Bewahrung / Sonst bedarf rissenen Kollektiv auf hohem Transaktions- und Kollisions-
es keiner Offenbarung. « Selbst wer bereit ist, zuzugeben, dies niveau synchronisiert. Auf der anderen Seite vollzieht sich
sei - unter der orientalischen Maske verborgen - das größte eine voranschreitende Desintegrationskatastrophe, die sich
Wort des europäischen Bürgertums vor seinem historischen auf einen zeitlich nicht festgelegten, jedoch nicht endlos auf-
Versagen, versteht unmittelbar, daß uns mit einer Bewah- schiebbaren Crash-Punkt zubewegt. Von den beiden Unge-
rungsregel allein nicht zu helfen ist. Neben der unverzicht- heuerlichkeiten ist die zweite bei weitem die wahrscheinli-
baren Sorge um die Mitnahme des Bewährten imponiert uns chere, weil sie auf der Linie der laufenden Prozesse liegt. Ihr
Ausblick D er absolute Imperativ

leisten vor allem die Produktions- und Konsumverhältnisse ich seinen Appell auf mich beziehen, als wäre ich sein einziger
in den Wohlstandsregionen und Entwicklungszonen der Er- Adressat. Von mir wird gefordert, mich zu verhalten, als
de Vorschub, sofern sie in blinder Überausbeutung endlicher könnte ich auf der Stelle wissen, was ich zu leisten habe, sobald
Ressourcen gründen. Die Vernunft der Nationen erschöpft ich mich als Agent im Netzwerk der Netzwerke begreife. Ich
sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Ti- soll die Wirkungen meines Handelns in jedem Augenblick auf
tanic zu erhalten. Die Crash-Lösung ist auch deswegen wahr- die Ökologie der Weltgesellschaft hochrechnen. Mir scheint
scheinlich, weil sie einen hohen psychoökonomischen Ko- sogar, ich solle mich lächerlich machen, indem ich mich als
stenvorteil mit sich bringt: Sie brächte die Erlösung von den Mitglied eines Sieben-Milliarden-Volks verstehe - obwohl
chronischen Spannungen, die infolge der globalen Evolution mir schon die eigene Nation zuviel ist. Ich soll als Weltbürger
auf uns einwirken. Die Auftürmung des Mount Improbable meinen Mann stehen, selbst wenn ich meine Nachbarn kaum
zu den Höhen einer operativ integrierten Welt»gesellschaft« kenne und meine Freunde vernachlässige. Mögen die meisten
wird bloß von den glücklichen Naturen als ein Projekt er- neuen Volksgenossen für mich auch unerreichbar bleiben,
fahren, an dem mitzuwirken sie vitalisiert. Sie allein erfahren weil »Menschheit« weder eine gültige Adresse noch eine be-
das Dasein in der Gegenwart als ein stimulierendes Privileg gegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auf-
und möchten zu keiner anderen Zeit gelebt haben. Weniger trag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzu-
glückliche Naturen haben den Eindruck, noch nie habe In- bedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit
der-Welt-Sein so müde gemacht. Was liegt da näher als die allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der
Formel der Massenkultur: der Unterhaltung den Vorrang ge- Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren.
ben und im übrigen damit rechnen, daß kommt, was kommen
muß? Mit diesen Mandaten ist der Tatbestand der Überforderung
ebenso erfüllt wie durch die alteuropäische imitatio Christi
Dem Philosophen Hans Jonas verdanken wir den Beweis, daß oder das indische moksha-Ideal. Da es vor dieser Forderung
die Eule der Minerva nicht immer in der Abenddämmerung kein Entrinnen gibt, es sei denn das Ausweichen in die Be-
ihren Flug beginnt. Durch seine Umformung des kategori- täubung, stellt sich die Frage, ob sich ein vernünftiges Motiv
schen Imperativs in einen ökologischen Imperativ hat er die darstellen läßt, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen dem erha-
Möglichkeit vorausschauenden Philosophierens für unser benen Imperativ und der praktischen Übung zu überbrücken
Zeitalter demonstriert: »Handle so, daß die Wirkungen deines wäre. Ein solches Motiv läßt sich - stellt man die Phantome
Handelns verträglich sind mit dcr Permanenz echten mensch- des abstrakten Universalismus beiseite - allein aus einer
lichen Lebens auf Erden.« Damit nimmt der metanoetische Überlegung der Allgemeinen Immunologie gewinnen. Im-
Imperativ für die Gegenwart, der den kategorischen zum ab- munsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verlet-
soluten steigert, hinreichend scharfe Konturen an. Er stellt die zungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterschei-
harte Forderung auf, uns auf die Monstrosität des konkret dung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während
gewordenen Universellen einzulassen. Er verlangt von uns sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorga-
den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Un- nismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme
wahrscheinlichkeiten. Weil er jeden persönlich anredet, ~uß die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktio-
710 Ausblick Der absolute Imperativ

nalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz: Das Diese Überlegung macht eine Erweiterung des Immuni-
solidaristische System garantiert Rechtssicherheit, Daseins- tätsbegriffs erforderlich: Sobald man es mit Lebensformen zu
vorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils ei- tun bekommt, an denen das zoon politik6n Mensch mitwirkt,
genen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, muß mit dem Vorrang der überindividuellen Immunitäts-
Kompensation der Todesgewißheit und generationenüber- bündnisse gerechnet werden. In solchen Verhältnissen ist in-
greifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die dividuelle Immunität nur als Ko-Immunität zu haben. Sämt-
Definition: »Leben « ist die Erfolgsphase eines Immunsy- liche historischen Sozialverbände von den Urhorden bis zu
stems. Wie die biologischen Immunsysteme können auch den Weltreichen sind in systemischer Sicht als Ko-Immuni-
das solidaristische und das symbolische Phasen des Schwä- tätsstrukturen erklärbar. Allerdings ist festzustellen, daß die
che, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche Verteilung der konkreten Immunvorteile in geschichteten
äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen Groß »gesellschaften« von alters her starke Ungleichheiten
als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hin- aufweist. Die Ungleichheit der Zugänge zu Immunchancen
sichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusam- wurde schon früh als die tiefste Manifestation von »Unge-
menbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend. rechtigkeit« empfunden. Sie wurde entweder als obskures
Schicksal veräußerlicht oder als Folge von dunkler Schuld
Das starke Merkmal von Systemen dieses Typs liegt darin, verinnerlicht. Solches Empfinden konnte während der letz-
daß sie das Eigene nicht im Horizont des organismischen ten Jahrtausende allein durch die überethnischen mentalen
Egoismus definieren, sondern sich in den Dienst eines ethni- Übungssysteme, vulgo die höheren »Religionen«, kompen-
schen oder multiethnischen, institutionell und intergenera- siert werden. Sie hielten mittels erhabener Imperative und
tioneIl erweiterten Selbstkonzepts stellen. Dadurch wird be- abstrakter Universalisierungen der Heilszusage die Zugänge
greiflich, warum sich die evolutionären Ansätze zu einem zu gleichen symbolischen Immunchancen für alle offen.
animalischen Altruismus, die sich in der natürlichen Fort- Die aktuelle Weltlage zeichnet sich dadurch aus, daß sie
pflanzungs- und Brutpflegebereitschaft der Arten manifestie- keine effiziente Ko-Immunitätsstruktur für die Mitglieder
ren, auf menschlicher Stufe zu Kulturaltruismen fortbilden. der »Weltgesellschaft« besitzt. Auf der höchsten Ebene ist
Das Rationale dieser Entwicklung liegt in der Größerforma- Solidarität noch ein leeres Wort. Für sie trifft nach wie vor
tierung des Eigenen: Was aus der Perspektive des Einzelnen das Diktum eines umstrittenen Staatsrechtlers zu: »Wer
altruistisch erscheint, ist Egoismus auf der Ebene der größe- Menschheit sagt, will betrügen.« Der Grund hierfür liegt
ren Einheit: In dem Maß, wie die Individuen als Agenten auf der Hand: Die effektiven ko-immunitären Solidaritäts-
ihrer lokalen Kultur zu handeln lernen, dienen sie dem er- einheiten sind heute wie in alter Zeit familial, tribai, national
weiterten Eigenen, indem sie am engergefaßten Eigenen Ab- und imperial, neuerdings auch in regionalen strategischen
striche hinnehmen. Dieses implizite immunologische Kalkül Bündnissen formatiert und funktionieren - falls sie funk-
liegt Opfern und Steuern, Manieren und Diensten, Askesen tionieren - gemäß den jeweiligen Formaten der Eigen-
und Virtuositäten zugrunde. Alle wesentlichen Kulturphäno- Fremd-Differenz. Die erfolgreichen Überlebensbündnisse
mene gehären zu den Gewinnspielen der überbiologischen sind darum bis auf weiteres partikular - auch »Weltreligio-
irnmunitären Einheiten. nen« können der Natur der Dinge gemäß nicht mehr sein als
712 Ausblick Der absolute Imperativ

Provinzialismen im Großen. Sogar der Begriff »Welt« ist in verlangt, über sämtliche bisherigen Unterscheidungen von
diesem Kontext ein ideologischer Ausdruck, weil er den Ma- Eigenem und Fremdem hinauszugehen. Damit brechen die
kro-Egoismus des Westens und anderer Großmächte hypo- klassischen Unterscheidungen von Freund und Feind zusam-
stasiert und nicht die konkrete Ko-Immunitätsstruktur aller men. Wer auf der Linie bisheriger Trennungen zwischen dem
Überlebensanwärter auf der globalen Bühne beschreibt. Eigenen und dem Fremden weitermacht, produziert Im-
Noch immer rivalisieren die Teilsysteme miteinander nach munverluste nicht nur für andere, sondern auch für sich
einer Logik, die aus den Immungewinnen der einen regelmä- selbst.
ßig die Immunverluste der anderen macht. Die Menschheit
bildet keinen Superorganismus - wie manche Systemtheore- Die Geschichte des zu klein verstandenen Eigenen und des zu
tiker voreilig behaupten -, sie ist bis auf weiteres nicht mehr schlecht behandelten Fremden erreicht ihr Ende in dem Mo-
als ein Aggregat aus höherstufigen »Organismen«, die noch ment, in dem eine globale Ko-Immunitätsstruktur unter re-
keineswegs in eine operationsfähige Einheit höchster Ord- spektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partiku-
nung integriert sind. larinteressen und der lokalen Solidaritäten entsteht. Diese
Struktur würde in dem Moment planetarisches Format an-
Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämp- nehmen, in dem die von Netzwerken überspannte und von
fen. Sie ist mit der Geschichte des Protektionismus und der Schäumen überbaute Erde als das Eigene und der bisher do-
Externalisierung identisch. Die Protektion bezieht sich im- minierende ausbeuterische Exzeß als das Fremde konzipiert
mer auf ein lokales Selbst, die Externalisierung auf eine an- werden. Mit dieser Wende würde das konkret Universelle
onyme Umwelt, für die niemand Verantwortung übernimmt. operationelI. Das hilflose Ganze verwandelt sich in eine pro-
Diese Geschichte umspannt die Periode der Humanevolu- tektionsfähige Einheit. An die Stelle einer Romantik der Brü-
tion, in der die Siege des Eigenen nur mit der Niederlage derlichkeit tritt eine kooperative Logik. Menschheit wird ein
des Fremden zu bezahlen waren. In ihr dominieren die hei- politischer Begriff. Ihre Mitglieder sind keine Passagiere auf
ligen Egoismen der Nationen und Unternehmen. Weil aber dem Narrenschiff des abstrakten Universalismus mehr, son-
die »Weltgesellschaft« den Limes erreicht und die Erde mit- dern Mitarbeiter an dem durchwegs konkreten und diskreten
samt ihren fragilen atmosphärischen und biosphärischen Projekt eines globalen Immundesigns. Wenngleich der Kom-
Systemen ein für alle Mal als den begrenzten gemeinsamen munismus von vornherein ein Konglomerat aus wenigen
Schauplatz menschlicher Operationen dargestellt hat, stößt richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger
die Praxis der Externalisierung auf eine absolute Grenze. Von Anteil: die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höch-
da an wird ein Protektionismus des Ganzen zum Gebot der ster Stufe sich nur im einem Horizont universaler koopera-
immunitären Vernunft. Die globale immunitäre Vernunft tiver Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder
liegt um eine ganze Stufe höher als all das, was ihre Anti- später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Ma-
zipationen im philosophischen Idealismus und im religiösen kro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus.
Monotheismus zu erreichen vermochten. Aus diesem Grund Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln
ist die Allgemeine Immunologie die legitime Nachfolgerin sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropo-
der Metaphysik und die reale Theorie der »Religionen«. Sie techniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kon-
Ausblick

texte gemäß sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den


Entschluß bedeuten: in täglichen Übungen die guten Ge- AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS
wohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.

Einleitung: Zur anthropotechnischen Wende. . . . . . . . . 9

Der Planet der Übenden

I Der Befehl aus dem Stein


Rilkes Erfahrung, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
Nietzsches Antikeprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3 Nur Krüppel werden überleben
Unthans Lektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69
4 Letzte Hungerkunst
Kafkas Artistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

5 Pariser Buddhismus
Ciorans Exerzitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I 18
Übergang: Religionen gibt es nicht
Von Pierre de Courbertin zu L. Ron Hubbard . . ..... 133

I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen


Für eine akrobatische Ethik

Programm: Übungsanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 173


I Höhenpsychologie
Die Hinaufpflanzungslehre und der Sinn von »Über« 176
Die Ehe, evolutionär gedacht ............ . .... . . , 176
Was heißt: Hinauf? Für eine Kritik der Vertikalen . . . . 179
Artistenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 181

F
Ausführliches Inhaltsverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Naturakrobatik auf dem Mount Improbable ... ...... 185 Erste ethische Unterscheidung bei Heraklit . . ... .. . . 255
Primärer Konservatismus und Neophilie . . . . . . . . . .. 189 Heideggers List . . . . . . . ... ...... .... .. .... . ... 25 6
Artistenmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 19 I Was der Daimon bewirkt: Die ethische Unterscheidung 258
Die Asketik vernatürlichen .... . ..... ... .. . . ..... 194 Sich selbst überlegen sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 260
Nichts ungeheurer als der Mensch: Existenz in der Zwischen zwei Überwältigungen: Der besessene
Höhe . .. .. . ... .... ... .. .. . . .......... ... ... 195 Mensch .... .. .. . . ..... . ... ....... . . . . . . .... . 264
Jakobs Traum oder: Die Hierarchie ......... ... .... 199 Paideia: Der Griff an die Wurzeln der Gewohnheit. . .. 267
Über-Wörter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 202 Denken und Wachen ...... . . ... . . ............. 270
Kein Sklavenaufstand der Moral: Christlicher Denken ohne Wachen, Wachen ohne Denken:
Athletismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Ost-West-Gegensätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 272
Aristokratie oder Meritokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4 Habitus und Trägheit
2 »Kultur ist eine Ordensregel« Von den Basislagern des übenden Lebens . . . ...... 276
Lebensformen-Dämmerung, Disziplinik ..... . . .. . 208 Noch einmal: Höhe und Weite - Anthropologische
Nicht-herrschaftliche Swfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Proportionalität ... ... . . ....... ............... 276
Wittgensteins Ordensregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2I0 Im Basislager: Die Letzten Menschen. . . . . . . . . . . . . . 278
Kultur entspringt aus Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2I6 Bourdieu, Denker des Letzten Lagers. . . . . . . . . . . . . . 281
Form und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Habitus: Die Klasse in mir . .. .. ... . . . ........... 282
Sprachspiele sind Exerzitien: Die Ordinary- Basis und Physis oder: Wo steckt die Gesellschaft? .... 284
Language-Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222 Vom Genius der Gewohnheit.
Was sich zeigt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 AristoteIes und Thomas ... . . ....... .. . . . . .. . .. . 287
Deklarierte Übungen . ... .... . .... . . . ... . . ... .. 228 Homo bourdivinus: Der and ere Letzte Mensch . . . . .. 292
Wovon man nicht schweigen soll . . . ..... .. ... .... 230 Lehrersein als Beruf: Der Angriff auf die Trägheiten .. . 294
Asketologische Dämmerung und Fröhliche Wissenschaft 232 Identität als das Recht auf Faulheit. . . . . . . . . . . . . . .. 296
Foucault: Ein Wittgensteinianer .. . . ..... ...... ... 234 5 Cur homo artista
Tragische Vertikalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 236 Von d er Leichtigkeit des Unmöglichen ... . . .. .. .. 298
Sprachspiele, Diskursspiele, Allgemeine Disziplinik . . . 241 Katapulte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298
Philosophischer Mehrkampf: Das Subjekt als Träger
Achsenzeiteffekt: Die Menschheit der zwei
seiner Übungsreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Aussicht auf eine ungeheure Landschaft . . . . . . . . . . . .
245
246
Geschwindigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 °
I
Auf die ande re Seite kommen: Philosophie als
Zwischen den Disziplinen .. ........ .... . ... . . . .. 250
Athletik . .. ... . . . ..... .... . . ... ........ . . ... 304
3 Schlaflos in Ephesos Asketik und Akrobatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 307
Von d en Dämonen der Gewohnheit und ihrer Anthropotechnik: Die Macht der Wiederholung
Zähmung durch die Erste Theorie. . . . . . . . . . . . . .. 253 gegen die Wiederholung wenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
H eilmittel gegen Verstiegenheit: Diskursanalyse . . . . .. 253 P ädagogik als angewandte Mechanik . . . . . . . . . . . . . . 3I I
Ausführliches Inhaltsverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Didaktische Himmelfahrt: Lernen fürs Leben 7 Vollendete und Unvollendete


des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 14 Wie der Geist der Perfektion die Übenden
Sterbe-Performance: Tod auf der metaphysischen in Geschichten verstrickt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 379
Bühne.. ... . .. .... ....... . . . . .. .. . .. .. . . . . .. 315 In der Zeit der Vollendung .. . ..... ..... .. .. . . ... 379
Inwiefern Jesus recht hat zu sagen: Es ist vollbracht. .. 318 Ergriffenhei t durch das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 382
Todesathleten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. po Über den Unterschied zwischen einem Weisen und
Certum est quia impossibile: Nur das Unmögliche ist einem Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 383
gewiß . . .. . . .... . ... . . ..... . .. .... . .... . . . .. 323 Todesexamen: Weisheitslehre als Training für das
Theater der Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Vita apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 392
II Übertreibungsverfahren Benedikts Leiter der Demut ............ . .. . ... .. 396
Scala Paradisi: Die anachoretische Psychoanalyse . . . .. 399
Prospekt. Rückzug in die Ungewöhnlichkeit Der theomimetische Glanz ............. . . ... .... 405
6 Erste Exzentrik Perfektionismus und Historismus. . . . . . . . . . . . . . . .. 407
Von der Absonderung der Übenden und ihren Indische Teleologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Selbstgesprächen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 33 8 Das Geheimnis der zweiten Sezession: Karma-
Entwurzelung aus dem ersten Leben: Spiritueller Verdunkelung und Streben nach Befreiung .. . ... . .. . 414
Sezessionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 33 8 Die langsamen und die schnellen Wege ... ... ...... . 418
Die Spaltung des Seienden durch den Feldzug gegen 8 Meisterspiele
das Gewöhnliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 34 2 Von den Trainern als Garanten der
Rückzugsräume der Übenden . .. .... . ............ 344 Übertreibungskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 424
Die tiefere Unterscheidung: Selbstaneignung und Cu ra und culrura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 424
Weltpreisgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Stabilisierte Unwahrscheinlichkeit: Die Aufrichtung
Die Geburt des Individuums aus dem Geist der der Leitbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 426
Rezession. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 353 Paradoxien und Passionen: Die Entstehung der
Das Selbst in der Enklave. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 355 Innenwelt durch chronische Überspannung ......... 428
Im Mikroklima des übenden Lebens. . . . . . . . . . . . . . . 35 6 Trainerdämmerung . . . . ...... . . . . . .... . ........ 430
Absage an die Selbstsorge: Konsequenter Fatalismus. .. 358 Zehn Typen von Lehrern . . ........ .. . .. . .. . .. .. 432
Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir! . . . . . . . . . . . . .. 361 Der Guru .............. . .................... 434
Endorhetorik und Ekelübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4 Der buddhistische Meister . ... ..... .. . . ....... .. 439
Der innere Zeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Intermezzo: Kritik der Erleuchtung. . . . . . . . . . . . . . . 444
Inquisition gegen das Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37 2 Der Apostel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 44 6
Den Egoismus rehabilitieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Der Philosoph ... . .... . .... .. . ....... . . . . . . . . 44 8
Der Sophist als universaler Könner. . . . . . . . . . . . . . .. 45 1

l
720 Ausführliches Inhaltsverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis 721
Der profane Trainer: Der Mann, der will, daß ich will.. 455 Beginn der Biopolitik: Schon der klassische Staat
Der Handwerksmeister und die zwei Naturen des macht leben .... . ..... . ........ . ......... . . . 534
Kunstwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 457 Menschenüberproduktion und Proletarisierung ..... . 539
Professoren, Lehrer, Schriftsteller. . . . . . . . . . . . . . . .. 463 Geburt der Sozialpolitik aus der Verlegenheit des
9 Trainerwechsel und Revolution Menschenüberschusses ..................... . . . 543
Über Konversionen und opportunistische Kehren . . 467 Bildungspolitik unter dem absoluten Imperativ ..... . 545
Umwendungskunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 467 Emendatio mundi .. . . . ........... . ......... . . 54 6
Alle Erziehung ist Konversion .. . . ........... . ... 470 Schulraison versus Staats raison .......... . ... . .. . 54 8
Die Katastrophe vor Damaskus .................. 474 Die ganze Welt ist eine Schule ....... . .......... . 551
Es gibt keine Konversion: Das augustinische Vor-Aufklärung: Weg des Lichts . . .......... . ... . 553
Paradigma ........... . ..... . ... . ............ 479 Exzentrische Positionalität: Der Menschenautomat
Bekehrung als Trainerwechsel: Franziskus und als Provokation der Anthropologie ... . ........ . . .
Ignatius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 484 Der interdisziplinäre Kontinent ....... . ......... .
Kunstgeschichte als Askesengeschichte ........... .
Vom militärischen Drill .................... . .. .
!II Die Exerzitien der Modernen Menschenausstatter im allgemeinen .............. .
I I Im auto-operativ gekrümmten Raum
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurück- Neue Menschen zwischen Anästhesie und
gezogenen Subjekts ....... .. ............ .. .. . ... 493 Biopolitik ................................ .
Von der Macht der Parole ............. . .... . . . . 493 Lob der Horizontalen ........................ .
Der neue Zeitgeist: Experiment mit Menschen ...... 495 Fortschritt als Metanoia zum halben Preis ......... .
Die moderne Unruhe . . ................. . ..... 499 Weltverbesserung als Selbstverbesserung .... . ... . . .
Autoplastisches Handeln: circulus virtuosus . . . . . . .. 501 Sich-Operieren-Lassen: Das Subjekt in der auto-
Die Entdeckung der Welt im Menschen ... . . . .. . ... 507 operativen Krümmung . . . . ........ . ... . ...... . 589
Homo mirabile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Das behandelte Selbst ................... . .... . 59 1
Homo anthropologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Im operativen Kreis: Medizinische Gelassenheit . .. . . 595
Oktoberrevolution: Die Äthernarkose ...... . .... . . 59 8
10 Kunst am Menschen
Vom Menschenrecht auf Ohnmacht ............. . 600
In den Arsenalen der Anthropotechnik . . . . . . . . .. 519
Revolutionäre Ungelassenheit ... . .. . .. . ........ . 6°3
Passionsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Radikale Metanoia als der Wille zum Umsturz .. . .. . 60 5
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als
Politischer Vertikalismus: Der Neue Mensch . . . .... . 6°9
Immunologe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 521
Kommunistische Menschenproduktion ...... . .... . 613
Das europäische Trainingslager . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
Die Biopolitik des Wunders und die Kunst
Zweite Kunstgeschichte: Der Henker als Virtuose. . . . 531
des Möglichen . ..... . .... . ............. . .... . 618
7 22 Ausführliches Inhaltsverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Ära der Abschaffung .. . .............. . . . ...... 621 Ausblick


Sein und Zeit, sowjetisch .............. . ...... . . 622 Der absolute Imperativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 699
Immortalismus: Liquidierung der Endlichkeit. . . . . .. 624 Wer darf es sagen? .. . .......... .. ... . ..... . . . ... 699
Die Epoche des Todes und der Bagatellen beenden . .. 626 Wer kann es hören? ....... . ... ... . . . . ........... 70 4
»Anthropotechnik«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 628 Wer wird es tun? . . ... . ... .. .. ... ... . ........ . .. 706
Postkommunistisches Nachspiel: Die Rache des
Allmählichen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 633
12 Übungen und Fehlübungen
Zur Kritik der Wiederholung .................. 639
Zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt .. 639
Das Lebewesen, das nicht nicht üben kann . . . . . . . .. 642
Umübung aller Übungen ....... . .............. 646
Woher die schlechte G ewohnheit kommt:
Zur Metaphysik des Eisernen Zeitalters ..... . ...... 65 I
Realismus, Knappheit, Entfremdung ...... ........ 654
Die asketische Suspension der Entfremdung:
Die fünf Fronten .......... . .. . ..... . ... . ... . . 657
Gegen den Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 658
Gegen die Überlastung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 659
Gegen die Sexualnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 66 I
Gegen Herrschaft und Feindschaft .. . . . ... . .... . . 663
Gegen das Sterbenmüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
Das postmetaphysische Erbe der metaphysischen
Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 666
Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters .... 669
Kanon-Arbeit in der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 672
Maligne Wiederholungen I: Die Kultur der Lager . . .. 674
Maligne Wiederholungen 11: Die Erosion der Schule.. 679
Maligne Wiederholungen III: Das selbstbezügliche
Kunstsystem der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 686
Rückblick
Von der Wiedereinbettung des Subjekts zum Rückfall
in die totale Sorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 I

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