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DZPhil, Akademie Verlag, 61 (2013) 1, 21–41

Die Vollendung des Deutschen Idealismus in


Friedrich Heinrich Jacobis Sendschreiben an Fichte?

Von STEFAN SCHICK (Regensburg)

Dass der Gehalt klassischer philosophischer Texte umstritten ist, ist wohl eher der Regelfall
als die Ausnahme, besteht doch die Klassizität eines Textes gerade auch in der „Fülle von
Deutungen“, die er begründen kann (Grotz 2004, 117). Bei Friedrich Heinrich Jacobi steht
nun aber nicht nur der Gehalt seiner Texte in Frage1, sondern auch ihr Charakter – handelt es
sich hier um Philosophie, Unphilosophie oder bloße Erbauungsliteratur?2 Damit verbunden
ist die Frage, ob Jacobi als zwar einflussreiche Randfigur der klassischen deutschen Philoso-
phie nur historisches oder eben auch systematisches Interesse beanspruchen kann.3
Zur Klärung dieser Fragen ist eben jener Aspekt seines Denkens ins Zentrum zu rücken,
der für die Berliner Aufklärer eine Torheit und für die Protagonisten des Deutschen Idealis-
mus4 ein Ärgernis war: nämlich Jacobis Zurückweisung der Idee einer voraussetzungslosen
Vernunft, die vollständig über ihre eigenen Gründe verfügen kann und ihr eigener Grund ist.
Seine Kritik an dieser Konzeption entfaltet Jacobi mindestens in zwei Momenten: Dem Para-
digma Mendelssohns und der Berliner Aufklärung von einer vorurteilsfreien Vernunft setzt
Jacobi zunächst die Unhintergehbarkeit eines Glaubens beziehungsweise eines Fürwahrhal-
tens ohne Gründe entgegen, ohne die sich vernünftiges Denken und Handeln überhaupt nicht
vollziehen könnten. Scheint es hier noch vornehmlich um inhaltliche Voraussetzungen der
Vernunft zu gehen, so tritt insbesondere in der Auseinandersetzung mit Fichtes Behauptung
einer durch sich selbst gesetzten Vernunft der Vollzug der Vernunft im Denken als solcher in
den Focus, der sich nach Jacobi selbst vernichtet, wenn er sich nicht einen absoluten Grund
voraussetzt, über den das Denken beziehungsweise die menschliche Vernunft gerade nicht
verfügen kann.

1
So wurde Jacobi im Lauf der letzten 80 Jahre nicht nur als Glaubens- beziehungsweise Gefühlsphi-
losoph, sondern unter anderem als Lebensphilosoph (Bollnow), als existenzialistisch-dialogischer
Philosoph (Hammacher) und als Begründer der Dialektik der Aufklärung (Sandkaulen) interpretiert.
2
Meisterhaft parodiert dies Schellings Allegorie in der Denkmalsschrift.
3
Einen wichtigen Beitrag zur Argumentation für die systematische Bedeutung Jacobis leisten unter
anderem die Beiträge in Sandkaulen u. Jaeschke (2004).
4
Zum Problem des Begriffs „Deutscher Idealismus“, der heute häufig durch den der „Klassischen
deutschen Philosophie“ ersetzt wird, vgl. Sandkühler (2005), 3 ff.

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22 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

Dass es sich hierbei nicht nur um eine Provokation seiner Zeitgenossen, sondern eine
„Provokation philosophischen Denkens“5 schlechthin handelt, wobei das philosophische
Denken hier zugleich Genitivobjekt und -subjekt ist, hat in jüngster Zeit insbesondere Birgit
Sandkaulen gezeigt. Die uneinholbare Voraussetzung, die Jacobi mit seiner Rede vom Glau-
ben zur Geltung bringe, sei dabei das „personal[e] Handlungsbewusstsein“ (Sandkaulen
2009, 270), das allen philosophischen Vollzügen immer schon zu Grunde liege. Dabei sind
nach Sandkaulen zwei Merkmale für den Glaubensbegriff Jacobis kennzeichnend: Zum einen
handle es sich um eine „präreflexive ‚unmittelbare Gewißheit‘“, zum anderen bedeute Glaube
für Jacobi keine „theoretische Einstellung“, sondern „eine allem Räsonnement vorgängige
Praxis“ (Sandkaulen 2009, 264).6 Selbst in dieser systematischen Deutung Jacobis liegt aber
immer noch eine gewisse Vereinseitigung Jacobis, sodass sein spekulatives Potenzial noch
nicht vollständig ausgeschöpft wird. Jacobi fordert eben nicht nur dazu auf, der Philosoph
möge sich vergegenwärtigen, „wie es ist, ein lebendiges ‚produktives‘ Leben“ (Sandkaulen
2009, 269) zu führen, um damit auf den vorgängigen Grund allen Denkens und Räsonnierens
nur zu verweisen. Denn Jacobi versucht sich ja dieser präreflexiven Gewissheit in Auseinan-
dersetzung mit der Aufklärung und den Idealisten denkerisch zu vergewissern. Eben damit
ließe sich dann aber Jacobis Vorwurf gegen Kants Ding an sich gegen Jacobi wenden: Ohne
die Annahme einer präreflexiven Gewissheit käme man nicht in die Reflexionsanstrengung
Jacobis hinein, mit ihr könnte man nicht darinnen bleiben.
Demgegenüber versucht die folgende Untersuchung zu zeigen, dass Jacobis systematische
Leistung gerade darin besteht, auf den allen denkerischen Vollzügen vorausgesetzten Grund
des Denkens nicht nur tentativ hinzuweisen, sondern die Heraussetzung dieses Grundes aus
dem Denken als Resultat eines denkerischen Prozesses zu verstehen, in dem sich die Ver-
nunft letztlich selbst negiert. Dabei bedient sich diese Untersuchung des von Walter Schulz
etablierten Deutungsparadigmas der Spätphilosophie Schellings und Fichtes vom Scheitern
der rein rationalen Philosophie. Dazu werden zuerst das Verhältnis Schellings zur Philosophie
Jacobis sowie die systematischen Gründe für seine spätere Ablehnung untersucht. In einem
zweiten Schritt wird das Moment der Selbstnegation des Denkens in den Spätphilosophien
Schellings und Fichtes analysiert und zu Jacobi in Verbindung gesetzt. Denn die Entwicklung
dieser Gedankenfigur, durch die der späte Fichte und der späte Schelling das Verhältnis des
Denkens zu seinem Grund bestimmen wollen, ist eine genuin Jacobische Leistung. Um dies
zu zeigen, wird in einem dritten Schritt das Scheitern der rein rationalen Philosophie am Prob­
lem des Unbedingten in Jacobis negativer Philosophie aus seinem Sendschreiben an Fichte
entwickelt und zuletzt noch seine positive Philosophie angedeutet.7

5
So der Titel des Aufsatzes von Sandkaulen (2009).
6
So behauptete auch Theo Kobusch jüngst noch, dass „Jacobi mit Glauben eine allem satzhaften
Erkennen vorausliegende unmittelbare Gewissheit“ meine (Kobusch 2012, 250).
7
Bereits Axel Hutter stellte fest, dass Jacobi vornehmlich in seiner Fichte-Kritik „mit der Frische des
ersten Mals Gedanken formuliert“ (Hutter 1996, 271), die Schellings Spätphilosophie entscheidend
beeinflusst haben. Nach Hans-Jürgen Gawoll hat „Jacobis Widerspruch gegen den Produktionscha-
rakter des Wissens“ sowohl Fichtes Revision der Wissenschaftslehre beeinflusst als „wahrscheinlich
auch Impulse für die Ausbildung von Schellings Spätphilosophie eines unvordenklichen Seins“ ge-
geben (Gawoll 2000, 90).

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DZPhil 61 (2013) 1 23

I. Schellings Verhältnis zu Jacobi

1. Hegels Auseinandersetzung mit Jacobi in Glauben und Wissen kann wohl auch heute noch
als Paradebeispiel philosophischer Polemik gelten, wobei Hegel in seinen reiferen Jahren
allerdings ein viel positiveres Verhältnis zu Jacobi und seiner Philosophie entwickelt hat.8 Bei
Schelling verläuft die Entwicklung gerade umgekehrt: Sein Verhältnis zu Jacobi ist anfäng-
lich enthusiastisch, in Jacobis letztem Lebensjahrzehnt aber von der größten Polemik geprägt.
Nach einer kurzen Phase der Annäherung und Zusammenarbeit in München während Jacobis
Präsidentschaft an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften kommt es spätestens mit
der Streitsache um Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811)
zum endgültigen Bruch zwischen beiden. So zeigt sich Schelling  – ganz im Gegensatz zu
Hegel – auch recht wenig berührt von Jacobis Tod am 10. März 1819 (Tilliette 2004, 289).
Im Zentrum der späteren Polemik Schellings wie auch seiner frühen Begeisterung für
Jacobi steht dabei der Gedanke des Unbedingten. Der junge Schelling hatte Jacobi 1795 in
seiner Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie diesbezüglich noch mit dem göttlichen
Platon verglichen.9 Mit Jacobi bestimmte er den Zweck der Philosophie als Daseinsenthül-
lung: Höchster Gegenstand sei nicht das vermittelte Wissen der Bedingungszusammenhänge,
sondern ein unmittelbares Wissen des Unbedingten (AA I,2, 77 u. 111). Noch 1798 schreibt
er an den Verleger Perthes:

„Wie mächtig hat er [Jacobi] zum voraus in Alles eingegriffen, was unserm Zeitalter indeß
wichtig geworden ist; ebendeßwegen glaube ich, daß Er  – der Erste, der dieß alles so
gewaltig anregte, auch der Letzte seyn wird, der das entstandne Chaos wieder ordnet.“
(AA III,1, 172.20–23)

Was Jacobis Denken aus der Perspektive Schellings (wie auch Hölderlins und der Jenaer
Romantiker) so attraktiv machte, war, dass er mit dem Unbedingten nicht nur ein in anderen
Systemen Ungedachtes zur Geltung brachte, sondern dieses als undenkbare Voraussetzung
jener Systeme selbst zu enthüllen versuchte. Dabei zeigte er, dass das Unbedingte zwar allen
Bedingungszusammenhängen zu Grunde liegt, diese aber notwendig transzendiert:

„‚Das Princip des Sinnlichen kann nicht wieder im Sinnlichen, es muß im Uebersinn-
lichen liegen;‘ dies sagte Kant, wie es alle wahren Philosophen vor ihm und zugleich
mit ihm niemand klarer und vortrefflicher gesagt hat, als Jacobi. – Eben darinn liegt der
Charakter alles Sinnlichen, daß es bedingt ist, seinen Grund nicht in sich selbst hat.“ (AA
I,4, 133.4–8)10

8
Paradigmatisch hierfür: die Rede vom „Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit“ (Hegel 1969,
213) und die Bedeutung, die Jacobis Philosophie der Unmittelbarkeit in der zweiten Auflage der
Wissenschaft der Logik einnimmt. 1815 berichtet Hegel Niethammer von seiner Sehnsucht nach
dem zweiten Band von Jacobis Werken, „um wieder einmal an Philosophie erinnert und erregt zu
werden“ (Hegel 1969, 62; zum Einfluss Jacobis auf und den Ähnlichkeiten mit der reifen Philoso-
phie Hegels vgl. Schick 2011).
9
„Ich wünschte mir Platon’s Sprache oder die seines Geistesverwandten, Jacobi’s, um das absolute,
unwandelbare Seyn von jeder bedingten, wandelbaren Existenz unterscheiden zu können.“ (AA I,2,
146.1–3)
10
Den Einfluss von Jacobis Konzeption des Unbedingten und Bedingten auf Hölderlin hat wohl nie-
mand deutlicher ins Licht gesetzt als Henrich (1992), insbes. 48–92.

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24 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

Diese frühe Begeisterung weicht allerdings auf Seiten Schellings mehr und mehr teils hef-
tiger Kritik: In der Denkmalsschrift aus dem Jahre 1812 – einer Reaktion auf Jacobis Von den
göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung  – stellt Jacobis Lehre der prinzipiellen Unwiss-
barkeit von Gott und Freiheit (als Unbedingten) für Schelling nur noch dessen peinlichen
Versuch dar, die Beschränktheit seines Gehirns der gesamten Menschheit zu unterstellen.
Dabei nehme Jacobi „die Eigenschaft eines bestellten Großinquisitors“ (SW IV, 411) an, der
versuche, ihn (Schelling) mit dem Atheismusvorwurf „moralisch zu morden“ (SW IV, 412).11
Mit dieser vernichtenden Kritik war Jacobi nach dem Urteil Heideggers endgültig „‚erledigt‘“
(Heidegger 1971, 81).
Diese Kritik führt auch zu einer Neubewertung von Jacobis früher Philosophie durch
Schelling12: So erfährt Jacobis Rolle in seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohn über
den Spinozismus Lessings eine neue Beurteilung. Jacobi ist demnach nur mehr der „Held
eines vernunftlosen Glaubens“ (SW IV, 423), der alle Vernunft zu hassen scheint. In seiner
Geschichte der neueren Philosophie stellt Schelling Jacobi als einen „unfreiwilligen Prophe-
ten“ einer besseren Zeit dar, als Bileam, der Israel verfluchen wollte, aber es segnen musste.13

2. Wie lässt sich nun angesichts dieser Äußerungen der Einfluss Jacobis auf Schelling beurtei-
len? Wie lässt sich insbesondere Schellings Beurteilung von Jacobi als einem „unfreiwilligen
Propheten“ verstehen? Mindestens drei Alternativen scheinen hier möglich:

a) Die schwächste Form wäre, dass Jacobi durch die Thematisierung bestimmter Autoren und
Gedanken wichtige Momente für Schellings Denken antizipiert, dabei aber immer entgegen
seiner eigenen Intention wirkt: Was Jacobi im Grunde perhorresziert (wie den Pantheismus
oder das Schlagwort hen kai pan), wird von Schelling zumindest partiell affirmiert. Besonders
deutlich scheint sich dies an der zwar durch Jacobi, aber gegen seinen Willen hervorgeru-
fenen Renaissance Spinozas und Giordano Brunos zu zeigen (Gawoll 2000, 90). In seinen
Spinozabriefen hatte Jacobi bekanntlich den „todten Hun[d]“ (JW 1,1, 27.7) Spinoza wieder
zu neuem Leben erweckt und damit dessen Rezeption durch die Tübinger Stiftler angeregt.
So schreibt Schelling am 4. Februar 1795 unter Bezug auf das durch Jacobi kolportierte Dik-
tum Lessings, dass die „orthodoxen Begriffe von der Gottheit“ (JW 1,1, 16.19) auch für ihn
nicht mehr von Bedeutung seien: „Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nicht
mehr.“ (Schelling 1973, 65) Ganz im Gegensatz dazu wollte Jacobi aber gerade den ortho-
doxen Begriff der Persönlichkeit Gottes gegen den Spinozismus verteidigen (JW 1,1, 20). In
ähnlicher Weise inspiriert Jacobi durch seine Übersetzung von Brunos De la causa die Identi-
tätsphilosophie Schellings.14 Dabei hatte Jacobi, so scheint es zumindest auf den ersten Blick,
Bruno (wie auch Spinoza) nur ausgegraben, um ihn des Pantheismus zu bezichtigen und auch
an ihm die Gefahren allen Systemdenkens zu demonstrieren (JW 1,1, 152 f.).
11
Jacobi zeige dabei die „intolerant[e] Gewissenhaftigkeit und gewissenhaft[e] Intoleranz“ „eines ver-
ketzernden Dominicaners“ (SW IV, 479).
12
Wie parodiert von Jacobi, JW 2,1, 338 f.
13
„Darnach müssen wir ihn als einen lebendigen Widerspruch gegen eine frühere Zeit und als unfrei-
willigen Propheten einer besseren ehren und anerkennen, als einen unfreiwilligen, weil er diese Zeit,
die nach seiner Meinung nie kommen konnte, auch nicht voraussagen wollte, als einen Propheten aber,
weil er sie gegen seinen Willen voraussagte, wie der Seher Bileam, der gekommen war, Israel zu
fluchen, und es segnen mußte.“ (SW V, 252) Dies entspricht in etwa Cassirers berühmtem Diktum,
Jacobi sei zwar ein „glänzender Anreger“ gewesen, die angeregte Bewegung sei aber über dessen
eigene Absichten stets hinweggegangen (Cassirer 2000, 16).
14
Man denke hier nur an Schellings Dialog Bruno von 1802.

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b) Gegen solche Überlegungen, die Jacobis Einfluss auf Schelling darauf reduzieren, diesem
die Kenntnis bestimmter von Jacobi selbst abgelehnter Autoren und Gedanken vermittelt zu
haben, hat Birgit Sandkaulen zu Recht eingewendet, dass nicht nur die Übermittlung Spi-
nozas, sondern mindestens in gleichem Ausmaß auch die Spinoza-Kritik Jacobis für Schelling
bestimmend war: Schelling versuche nämlich, sowohl das Denken Spinozas als auch Jacobis
Kritik an selbigem in einer Symbiose zu vereinigen (Sandkaulen 1990, 13).15 So lässt sich
ganz grundsätzlich nur schwer leugnen, dass Jacobi gerade durch seine scharfsinnige Kritik
philosophischer Systeme einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die philosophischen
Nachfolger Kants ausgeübt hat: Seine Kritik an der fehlenden Kategoriendeduktion Kants
und am problematischen Status des „Dinges an sich“ kann in ihrem Einfluss auf die nach-
kantischen Systeme gar nicht überschätzt werden.16 Sowohl Fichte als auch Schelling stellen
ja ganz im Sinne Jacobis die Widersprüchlichkeit des Gedankens eines „Dinges an sich“
fest.17 In seiner Kritik an Kants „Ding an sich“ antizipiert Jacobi – zumindest aus seiner eige-
nen Sicht – zugleich die Grundgedanken von Fichtes Wissenschaftslehre. Denn er habe als
erster festgestellt, dass die aus der Annahme des Dinges an sich resultierende Inkonsistenz
des kantischen Systems nur durch einen konsequenten Idealismus überwunden werden kön-
ne (JW 2,1, 112). So begrüßt er Fichte als „den wahren Meßias der speculativen Vernunft“
(JW 2,1, 194.15 f.) und verkündet ihn als König „unter den Juden der speculativen Vernunft“
(JW  2,1, 196.10). Der „Königsberger Täufer“ (JW  2,1, 196.12) Kant sei dagegen nur sein
Vorläufer gewesen.
Aber auch hier würde die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie über Jacobi
hinweggehen: denn Jacobi will nach eigener Aussage spekulativer Heide bleiben und aus dem
absoluten Idealismus unmittelbar gegen allen Idealismus und alle reinen Vernunft­systeme
schließen.18 Diesen Schluss hat Schelling dann aber nicht mehr mitvollzogen, sondern,
zumindest aus der Perspektive Jacobis, ein noch umfassenderes Vernunftsystem an die Stelle
des Fichteschen gesetzt. In diesem Sinne urteilt noch Axel Hutter, dass Jacobi „seine Zeit­
genossen nur zu irritieren, aber nicht zu überzeugen“ (Hutter 1996, 274) vermochte.

c) Birgit Sandkaulen versucht dagegen zu zeigen, dass sogar noch die positive Philosophie der
Spätzeit Schellings letztlich ein Ausdruck von Schellings Bemühen ist, das alle Vermittlungen
des Denkens transzendierende Unbedingte a posteriori wissenschaftlich zu explizieren.19
Jacobis ursprüngliche und für Schelling bestimmende Einsicht bestünde somit darin, dass das
Absolute sich dem Denken immer dann entziehe, wenn das Denken sich seiner bemächtigen
will. Die Vernunft beziehungsweise das Denken begreife sich dann immer nur selbst und

15
So schreibt Schelling: „Ich glaube nicht, daß der Geist des Spinozismus besser gefesselt werden
konnte. Aber ich glaube, daß eben jener Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen das Problem
aller Philosophie, nicht nur eines einzelnen Systems ist.“ (AA I,3, 82.20–23)
16
Sein berühmtester Einwand lautet, dass er „ohne jene Voraussetzung [eines Dinges an sich] in das
System [Kants] nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte“
(JW 2,1, 109.24–26).
17
Das Ding an sich sei ein symbolischer Ausdruck des übersinnlichen Grundes des Bedingten: „ein
Ausdruck, der wie alle symbolischen Ausdrücke einen Widerspruch in sich schließt, weil er das
Unbedingte durch ein Bedingtes darzustellen, das Unendliche endlich zu machen sucht“ (AA I,4,
133.10–14; vgl. außerdem AA I,4, 235).
18
So schloss Jacobi bereits „aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles,
was mit ihm verknüpft ist“ (JW 1,1, 20.22 ff.).
19
„Schelling hat seine Versuche dem Unbedingten Jacobis unterstellt, und er selbst mißt ihre Wahrheit
an der Wahrheit Jacobis bis zuletzt.“ (Sandkaulen 1990, 179)

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26 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

vermittle ihre Vermittlungen. Die gesamte Philosophie Schellings in ihren Entwicklungen sei
gewissermaßen der immer erneuerte Versuch, die Möglichkeit dessen zu zeigen, was Jacobi
für unmöglich hält: die wissenschaftlich-systematische Explikation des Unbedingten, das das
Denken schlechthin transzendiere (Sandkaulen 1990, 7).

3. Wenn man nun nicht nur Schellings späte Kritik an Jacobi richtig verstehen, sondern zeigen
möchte, dass Schelling sich in seiner Spätphilosophie einer genuin Jacobischen Gedanken-
figur bedient, wie dies im Folgenden geschehen soll, muss man zunächst zwei Momente in
dieser Kritik differenzieren. Diese beiden Momente entsprechen Schellings Unterscheidung
von positiver und negativer Philosophie, deren Differenz sich am abschließenden Begriff der
Vernunft, dem schlechthin Unbedingten zeigt. Die negative Philosophie hat das Scheitern der
rein rationalen Philosophie in der Erkenntnis des Unbedingten zum Gegenstand. Die posi-
tive Philosophie ist dagegen der erinnernde Nachvollzug des unvordenklichen Schöpfungs-
geschehens Gottes: dass er sich als potentia existendi in dem vernünftig Seienden existent
gemacht hat.
Die positive Philosophie hat es also mit der wissenschaftlichen Explikation des Absoluten
zu tun. Die daraus resultierende Kritik an Jacobi betrifft dessen fehlende wissenschaftliche
Explikation des Unbedingten. Eine Kritik dieser Art äußert auch Hegel in seiner Enzyklo-
pädie: Jacobis Glaube sei zu inhaltsarm, da er nur angebe, dass Gott sei, aber nicht weiter
inhaltlich bestimme, was Gott sei (TWA 8, 163). Bereits fünf Jahre vor deren Erscheinen
karikiert Schelling die daraus resultierende Armseligkeit der Philosophie Jacobis in der Denk-
malsschrift. Diesem Defizit setzt Schelling selbst seine positive Philosophie entgegen, deren
Geburtsstunde nach eigenen Worten eben jene Kritik ist.20 Das Dasein Gottes als eines per-
sönlichen Wesens ist dabei nach Schelling der höchste Gegenstand der Vernunft (SW IV,
457 f.).
Das andere Moment von Schellings Jacobi-Kritik leitet sich aus der negativen Philosophie
her, nämlich Jacobis Scheitern an einer rein rationalen Erkenntnis des Unbedingten. Dieses
bleibe bei Jacobi nur Ausdruck seiner eigenen intellektuellen Beschränktheit, da er „die
traurige Beschränktheit seines Geistes großherzig über das ganze Menschengeschlecht aus-
breitet“ (SW IV, 419). Kants Vernunftkritik noch unterbietend, mache Jacobi keine vernunf-
timmanenten Gründe für die Begrenzung der Vernunft geltend, sondern nur psycho(patho)
logische. Sein „wir können es nicht begreifen“ habe „nur die Bedeutung des einfachen Ich
kann es nicht begreifen“ (SW IV, 419). Weil Jacobi auf die Anstrengung verzichte, das Wissen
gewissermaßen von innen heraus aufzubrechen, bleibe seine Alternative zum Denken nur eine
gedankenlose: „Anstatt den Verstand durch noch kräftigeren Verstand zu bekämpfen, wollen
Sie ihm lieber ganz absterben.“ (SW IV, 467) Jacobis Philosophie halte das im Rationalismus
herrschende Wissen „selbst für das einzig mögliche ächte und wahre Wissen […], indem sie
ihm nicht ein anderes Wissen, sondern bloßes Nichtwissen entgegensetzt, da eigentlich dieses
rationale Wissen selbst = nicht Wissen ist“ (SW V, 237). Das Resultat sei „ein völlig unaufge-
löster, aber eben darum selbst nicht erklärter Dualismus“ (SW V, 251) zwischen Ratio­nalität
und Gefühl: „Mit seinem Verstand gehörte er ganz und ungetheilt dem Rationalismus an,
mit dem Gefühl strebte er, aber vergebens, über ihn hinaus.“ (SW V, 238) Der Verstand wird
dem Gefühl von Jacobi also abstrakt entgegengesetzt, aber intrinsisch in Ruhe gelassen: Das
Gefühl sagt A und der Verstand muss nach Jacobi non-A sagen. So kritisiert noch Axel Hutter,
dass Jacobi zwar gegen die reine Vernunft protestiert, im Gegensatz zu Schelling aber nicht
„auf dem Vernünftigen des Protestes gegen die reine Vernunft bestanden“ (Hutter 1996, 42)

20
„Im ‚Denkmal an Jacobi‘ (1812) ist der Anfang der positiven Philosophie.“ (Schelling 1993, 138)

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habe. Da Jacobi die Vernunft von einem der Vernunft selbst äußerlichen Standpunkt ver-
werfen würde, habe die Philosophie Jacobis „nicht im Negativen ihre Grundlage“, sondern
wolle „ohne dasselbe, also unmittelbar das Positive, das Göttliche erreichen“ (SW V, 246).
Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass diese Polemik nur sehr wirkmächtig die Inan-
spruchnahme der Jacobischen Philosophiekonzeption in Schellings eigener Spätphilosophie
(wie auch der Fichtes) verschleiert.

II. Die Spätphilosophien Schellings und Fichtes

1. Nach Richard Kroners berühmter und für längere Zeit wirkmächtigen Deutung der Ent-
wicklung des Deutschen Idealismus in Von Kant bis Hegel (1921/1924) heben sich bekannt-
lich erst in Hegels Konzeption des Absoluten als einem sich begreifenden Geist alle in Kants
transzendentalem Idealismus implizit liegenden und durch seine Nachfolger explizit gemach-
ten dialektischen Widersprüche auf. Gegen diese These stellte Walter Schulz in seinem 1955
erschienenen Werk Die Vollendung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings erstmals
die Behauptung einer Vollendung des Idealismus in Fichtes und besonders Schellings Spätphi-
losophie auf. Grundlage dieser These war, so könnte man sagen, ein verändertes Paradigma,
unter dem er die Genese des Idealismus betrachtet wissen wollte: der in der negativen Philo-
sophie explizierte Gedanke der Selbstbegrenzung der Vernunft.21 Nach Schulz ist die Frage
nach „der Möglichkeit der Selbstkonstitution der auf sich gestellten Subjektivität […] das
treibende Motiv der Philosophie des späten Fichte und des späten Schelling“ (Schulz 1955,
7). Schelling werde (wie auch der späte Fichte) in seiner Spätphilosophie mehr und mehr
der Unmöglichkeit gewahr, dass die Vernunft sich selbst in einer Weise genügen könnte, um
Grund ihres eigenen Seins und ihrer Tätigkeit zu sein. Damit verzichte die Vernunft darauf,
sich denkend selbst zu ihrem Sein zu ermächtigen und begreife sich stattdessen als vermittelte
Selbstvermittlung: Hegels Selbstvermittlung der Vernunft habe also die Vermittlung durch
eine höhere Vernunft zur Voraussetzung.
Diesen Gedanken versteht Schulz nun gerade nicht als Bruch mit der idealistischen Philo-
sophie, sondern als Konsequenz des eigentlichen Motivs des idealistischen Denkens. Dieses
Motiv der Selbstbegrenzung der Vernunft sei tendenziell bereits in dem Sachverhalt wirksam,
dass die Selbstsetzung des Ichs als reine Tathandlung prinzipiell nicht gewusst, sondern nur
angeschaut werden kann: Bereits der frühe Fichte intendiere damit, den Grund des Wissens
aus der Subjektivität heraus und ihn als ihren Grund als der Vernunft vorgängig vorauszuset-
zen.
Walter Schulz’ Gedanke lässt sich unter anderem anhand des ersten Teils der Vorlesung
Initia Philosophiae Universae: Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821)
skizzieren. Auch wenn die Vorlesung noch aus Schellings Erlanger Zeit stammt (6 Jahre
bevor er in München seine Vorlesung zu den Weltaltern und 7 Jahre bevor er erstmals die
Philosophie der Mythologie las), könnte man sie im Hinblick auf die Einsicht in die Notwen-

21
„Diese Selbstbegrenzung der unbedingten Vernunft aber“, so Walter Schulz, „ist das eigentlich
Idealistische an Schellings Spätphilosophie.“ Denn sie sei „das Grundgeschehen der Epoche des
Deutschen Idealismus, die sich in Schellings Spätphilosophie vollendet“ (Schulz 1955, 329). Un-
ter anderem Thomas Buchheim sieht in dieser Fokussierung auf die negative Philosophie, die sich
dem Einfluss von Schulz’ Buch verdankt, eine Verkürzung von Schellings Spätphilosophie – sicher
nicht zu Unrecht, da Schellings positive Philosophie doch allein quantitativ deutlich elaborierter ist
(Buchheim 2001, 129 f.).

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28 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

digkeit einer Selbstbegrenzung der Vernunft dennoch als programmatisch bezeichnen.22 Ins-
besondere nimmt er – ohne Jacobi explizit zu nennen – in diesem Text dessen Gedankenfigur
des wissenden Nichtwissens auf23: Die Methode der Vernunft beziehungsweise des Wissens
besteht darin nach Schelling in einer Konstruktion a priori. Der abschließende Begriff der
Vernunft ist der Begriff Gottes, wobei Gott in diesem Zusammenhang als reine Subjektivität,
als reine Tätigkeit gedacht werden muss. Sobald die Vernunft aber versucht, Gott in ihrem
Denken zu setzen, das heißt ihn a priori zu konstruieren, wird die reine Tätigkeit, die Gott ist,
vergegenständlicht. Gott erscheint dann immer nur in Form eines Bestimmten: angefangen
vom Organischen bis hin zum Gott am Ende. Im Begreifen wird das Unbedingte, das reine
Tätigkeit sein sollte, in sein Gegenteil, nämlich in einen Gegenstand verkehrt: denn Denken
ist ein Vergegenständlichen. In der Vergegenständlichung verwandelt die Vernunft damit das
Unbedingte in ein Bedingtes24:

„Es ist ein Widerspruch darin, daß die ewige Freiheit erkannt werden soll. Sie ist absolutes
Subjekt = Urstand; wie kann sie denn Gegenstand werden? Unmöglich kann sie es werden
als absolutes Subjekt, denn als solches steht sie zu nichts in gegenständlichem Verhältniß;
es ist das absolut Urständliche, dem nichts etwas anhaben kann, insofern das eigentlich
Transcendente.“ (SW V, 19)

Die Vernunft erkennt also, dass sie das Absolute nicht konstruieren und damit auch nicht
erkennen kann. Folge dieser Einsicht ist, dass das Denken Gott als das Unbedingte aus sich
heraussetzen muss. Dazu muss es sich selbst negieren, ansonsten wäre das Resultat des
Heraussetzens selbst nur wieder ein durch die Vernunft Bedingtes, nämlich durch sie Heraus-
Gesetztes. Erst im Verzicht auf das Denkenwollen wird deshalb der Raum geschaffen für das
Unbedingte:

„Indem er sagt: ich, als ich, kann nicht wissen, ich – will nicht wissen, indem Er sich des
Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für das absolute Sub-
jekt, von dem gezeigt ist, daß es eben das Wissen selbst ist.“ (SW V, 23)

Die Vernunft setzt das Unbedingte also aus sich heraus, auf Grund der Einsicht, dass sie
selbiges nicht zu denken vermag. Dieses Heraussetzen ereignet sich nur im bewussten Ver-
zicht darauf, das Unbedingte zu denken. Im Verzicht auf das Denkenwollen Gottes (als des
Unbedingten) setzt die Vernunft Gott aus der Vernunftimmanenz hinaus in die Transzendenz.
Diese Selbsttranszendierung der Vernunft nennt Schelling Ekstase. Diese beschreibt er als
ein Entsetzen der Vernunft im zweifachen Sinne: a) Entsetzen im Sinnes eines Erschreckens
der Vernunft über ihre Aufhebung des Unbedingten als Unbedingten und über die Einsicht,
dass sie das Unbedingte nicht selbst zu sein vermag. b) Entsetzen im Sinne der daraus resul-

22
Nach Christian Iber hingegen stellt diese Vorlesung nur „die Brücke“ zwischen Schellings mittlerer
und Spätphilosophie dar (Iber 1994, 235).
23
Tilliette stellt fest, dass in der Erlangener Zeit eine neue Aneignung Jacobis stattfindet: „Die Pen-
delbewegung von der gelehrten Unwissenheit zum nichtwissenden Wissen und von der wissenden
Unwissenheit zur nichtwissenden Wissenschaft verrät eine Nähe zu Jacobi, die wahrscheinlich um
sich selbst nicht weiß oder nicht wissen will. Sogar der Begriff des Glaubens ist ihm angeglichen:
Man begibt sich des Wissens.“ (Tilliette 2004, 311)
24
Denn jedes Ding ist bedingt, wie es schon in der Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie heißt:
„Unbedingt nemlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann.“
(AA I,2, 89.24 f.)

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tierenden Demütigung als Entsetzung der Vernunft vom ersten Platz auf den zweiten und die
Setzung des Unbedingten auf den ersten Platz:

„[…] in jener Selbstaufgegebenheit, jener Ekstasis, da ich, als ich, mich erkenne als völ-
liges Nichtwissen, wird mir unmittelbar jenes absolute Subjekt zur höchsten Realität. Ich
setze das absolute Subjekt durch mein Nichtwissen (in jener Ekstasis).“ (SW V, 27)

Die Vernunft entsetzt sich aus dem Anspruch, das eigentlich Seiende zu sein und begreift
sich als nichtseiend. Sie erkennt sich in der negativen Philosophie als eine durch den trans­
zendenten (das heißt nicht wissbaren) Gott erst gesetzte. Indem sie die reine Tätigkeit aus
sich heraussetzt, erfährt die Vernunft, dass diese Tätigkeit sich von sich selbst aus in die
Vernunft gesetzt hat. Sie erkennt, dass der Grund für das Vermögen ihrer Welterkenntnis als
Weltkonstruktion nicht immanent in ihr selbst liegt, sondern ihren unergründlichen Grund der
Selbstvermittlung Gottes verdankt. Im Menschen ist nur „ideales Nachbilden“ (SW V, 18).

2. Der Gedanke einer Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schel-
lings und Fichtes wurde freilich auch von der Fichte-Forschung aufgegriffen – und zwar mit
dem Resultat einer Verschiebung der Gewichtung des Verhältnisses von der Jenaer Wissen-
schaftslehre zu den nach-jenaischen Schriften.25 Da als Zäsur in der Philosophie Fichtes der
„Atheismusstreit“ und der damit verbundene Verlust der Professur in Jena um das Jahr 1800
gelten darf, fällt Jacobis Sendschreiben und der darin geäußerte Gedanke des Nihilismus der
Wissenschaftslehre bereits rein äußerlich in diese Veränderung der Lehre Fichtes. Am auffäl-
ligsten ist dieser Einfluss wohl in Fichtes Bestimmung des Menschen.26
An seiner Wertschätzung für Jacobi lassen allein schon Fichtes Bemerkungen zu Jacobi
kaum einen Zweifel bestehen. Besonders zeichnet das Verhältnis zwischen beiden aus, dass
Fichte sich in seinen philosophischen Ansätzen grundsätzlich mit Jacobi einig glaubt: „Ich
weiß kaum, wo u. wie wir Gegner sind.“ (GA II,5, 194.1)27 Bereits 1794 ist Jacobi derjenige
seiner Zeitgenossen, von dem Fichte sich Verständnis erhofft.28 Diese Überzeugung über die
„auffallende Gleichförmigkeit unsrer philosophischen Ueberzeugungen“ (GA III,2, 391.18 f.)
ändert sich später nur dahingehend, dass er nicht mehr glaubt, sich Jacobi verständlicher
machen zu müssen, sondern dass er Jacobi besser als dieser sich selbst zu verstehen glaubt.
So schreibt er 1806 an Jacobi, in der Vorlesung über das Wesen des Gelehrten, in den Grund-
zügen und in der Anweisung habe er das ausgesprochen, was Jacobi immer angestrebt habe
(GA III,5, 354).
In seiner Spätphilosophie spricht er also das aus, was Jacobi erstrebt, aber nicht erreicht
hat – nämlich die Einheit von Gefühl, Leben und Spekulation. Schon vor 1800 hatte Fichte
ja das durch Jacobi problematisierte Verhältnis des Standpunktes des Lebens und des Stand-

25
Vgl. etwa Janke (1991), 309; vgl. ausführlicher ders. (2009). Diese Neubewertung von Fichtes Spät-
werk verdankt sich nicht zuletzt auch dessen kritischer Edition, da sich selbiges aus der Edition
Immanuel Hermann Fichtes nicht adäquat rekonstruieren ließ.
26
So etwa in der Empörung des klagenden Herzens gegen das Lehrgebäude des Verstandes: „Ich ver-
lange etwas außer der bloßen Vorstellung Liegendes, das da ist, und war, und seyn wird, wenn auch
die Vorstellung nicht wäre.“ (GA I,6, 253.10 f.)
27
Ebenso deutlich: „Ja, theurer edler Mann, wir stimmen ganz überein.“ (GA III,3, 18.5)
28
„Ist irgend ein Denker in Deutschland, mit welchem ich wünsche und hoffe in meinen besondern
Ueberzeugungen übereinzustimmen, so sind Sie es, mein verehrungswürdigster Herr.“ (GA  III,2,
202.12–14)

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30 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

punktes der Spekulation sowie ihre Vermittlung beschäftigt.29 An der Vermittlung scheitere
Jacobi, weil er sie gar nicht erst versuche: Zwar kenne er den Standpunkt des Lebens und den
der Spekulation, könne aber „nicht kalt über beide sich erheben“ (GA III,3, 326.5). Zwar sei
Philosophieren Nicht-Leben und Leben nicht Philosophieren, „eine vollkommene Antithesis,
und ein Vereinigungspunkt ist […] unmöglich […]; außer dem Bewußtseyn des wirklichen
Philosophen, daß es für ihn beide Standpunkte gebe“ (GA III,3, 333.18–23).
Unter den modifizierten Bedingungen der Spätphilosophie ändert sich Fichtes Blick auf
Jacobis Behauptung eines allem Wissen vorausliegenden Unbedingten. Denn das Novum sei-
ner Spätphilosophie besteht selbst in der Voraussetzung eines allem Wissen vorausgesetz-
ten Grundes, den Fichte unterschiedlich bestimmt: als Sein, Absolutes, Leben oder Gott.30
Folgenden „formalen“ Aspekt haben aber alle diese Formen des Absoluten gemeinsam: Das
Absolute oder „[d]as Seyn ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des unmittelbaren
lebendigen Seyns, das nie aus sich heraus kann“ (GA II,8, 243.1 ff.).31 Es ist „die Einheit,
das Eine wahre in sich geschlossene Ansich“ (GA II,8, 11.4). Es ist absolut relationslos und
demzufolge kann nichts von ihm prädiziert werden. So schreibt Fichte am 15. Januar 1802 an
Schelling: „Das absolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Iden-
tität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist
vom Uebel.“ (GA III,5, 113.1–3)32 Damit glaubt Fichte sich mit Jacobis Behauptung, dass das
Denken letztlich auf Daseinsenthüllung ziele, einig zu wissen: „Richtig, und eben auch unser
Zweck.“ (GA II,8, 283.23) Nur folge zum einen daraus nicht, dass es keine Philosophie geben
könne, zum anderen changiere Jacobis Seinsbegriff zwischen einem absoluten und einem
bloß empirischen Sein.
Das Wissen begreift sich beim späten Fichte nicht mehr als das Absolute selbst, sondern
nur mehr als die äußere Existenz- und Erscheinungsform des Absoluten beziehungsweise als
Bild des Seins. Das Ich ist nur mehr Reflexionsform des Absoluten.33 Das Unbedingte als die
Voraussetzung dieses Wissens aber ist für das Wissen selbst nicht konstruierbar. Die Nähe zu
Jacobi ist unübersehbar: Das Wissen hat sich damit zu begnügen, sich als Nachkonstruktion zu
wissen. Nur ist das Verständnis des Wissens als Nachkonstruktion eben eine philosophische
Einsicht. So sind Jacobis zwei Sätze: „Wir können das ursprüngliche Seiende nur nachkon-
struieren“ und „Philosophie hat die Aufgabe, das Sein an sich zu offenbaren“ ein „großes
Verdienst um das Zeitalter“ (GA II,8, 283.24 f.). Bei Jacobi finde sich der Satz, dass man das
ursprünglich Seiende nur nachkonstruieren kann, allerdings „fast nur als Postulat“ (GA II,8,
283.11). Dagegen muss nach Fichte das nachkonstruierende Wissen zu Grunde gehen, damit
die reine Vernunft erst hervortreten kann. Dass seine Philosophie das Ich zu Grunde gehen
lässt, realisiert für Fichte Jacobis Forderung nach einer Wahrheit, die nicht mein Geschöpf
ist, sondern deren Geschöpf ich bin. Philosophie ist „nur möglich, in wiefern das Wir mit
all seinem Nachconstruiren zu Grunde geht, und sodann die reine Vernunft, rein und allein

29
Vgl. hierzu etwa Ahlers (2003).
30
Noch in der letzten publizierten Wissenschaftslehre sieht man dabei den Konflikt von Leben und
Spekulation wirksam: „Nur Eines ist schlechthin durch sich selbst: Gott, und Gott ist nicht der todte
Begriff, den wir soeben aussprachen, sondern er ist in sich selbst lauter Leben. Auch kann dieser
nicht in sich selbst sich verändern und bestimmen, und zu einem andern Seyn machen; denn durch
sein Seyn ist alles sein Seyn und alles mögliche Seyn gegeben, und es kann weder in ihm, noch
außer ihm ein neues Seyn entstehen.“ (GA I,10, 336.6–11)
31
Zur genaueren Bestimmung des Seins vgl. vor allem den 15. Vortrag.
32
Vgl. auch GA II,6, 143 f.
33
Ob es sich dabei um einen Bruch oder eine Modifikation handelt, ist allerdings umstritten.

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DZPhil 61 (2013) 1 31

hervortrit“ (GA II,8, 285.13 f.). Jacobi jedoch ignoriere, dass die Einsicht, wir könnten bloß
nachkonstruieren, bereits die Negation dieses Wir ist, da sie dem Wir ein absolutes Gesetz
vorschreibt. Jacobis Philosophie überwinde also noch nicht einmal das bloß empirische Den-
ken des empirischen Ich. Jacobi hat Recht damit, dass das Ich sich „vernichten, u. opfern“
(GA II,14, 41.2) muss: „Drum darin ganz recht: ein höheres Selbst, denn das Ich: größer denn
ich; besser denn Ich:  – freilich.“ (GA  II,14, 41.4  f.) Aber da er nur „mit großem philoso-
phischen Talent die Philosophie selber über die Seite zu bringen“ (GA II,8, 283.6 f.) versucht,
schmeichelt er der „Geistesträgheit, und Abneigung gegen die Philosophie“ (GA II,8, 283.8).

3. Aus der Perspektive Fichtes kommt es also bei Jacobi gar nicht zu einer echten Annihilation
des Denkens, und zwar gerade deshalb, weil Jacobi die Spekulation nicht weit genug treibt.
Da Jacobi noch nicht einmal den Standpunkt der bloß empirischen Logik verlässt, kann er sich
erst Recht nicht auf den Standpunkt eines rein begrifflichen Denkens erheben. Damit wiede-
rum ist es ihm unmöglich, die eigentliche Leistung der Philosophie, in der Selbstvernichtung
des Begriffs das immanent bleibende Wissen von innen her aufzubrechen, zu vollziehen:

„[W]ie wäre es, wenn gerade in dieser Einsicht das Wesen der Philosophie läge, und diese
ganz und gar nichts Anderes wäre, als – das Begreifen des Unbegreiflichen als solchen?“
(GA, III,5, 237.2–4)

Die Wissenschaftslehre kann den Gedanken des sie bedingenden Absoluten nämlich nicht
einfach fallen lassen, will sie nicht nur Denkspiel sein. Das Wissen muss das Absolute ja
allein deshalb denken, da es sich als dessen Bild begreift. So muss die Wissenschaftslehre
aus dem Denken heraustreten, das Denken überschreiten, dem notwendig Gedachten eine
Gültigkeit außer dem Denken geben, es im Sein an sich fundieren. Fichtes frühe Einsicht,
dass von einem Sein an sich nie die Rede oder kein Gedanke sein könne34, eben da das Sein
damit in ein Gedachtes (also ein Sein für das Denken und nicht an sich) transformiert würde,
wird in der Spätphilosophie jedoch nicht einfach fallen gelassen, sondern zur grundlegenden
Herausforderung für die Philosophie: Unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen
versucht Fichte einen Zugang zum absoluten Sein als Grund des Wissens zu bekommen.35
Da das Sein dem Wissen aber als sein Grund vorausliegen soll, kann es gerade nicht durch
das Wissen gesetzt sein. Die Einleitung in die WL 1813 macht diesen Widerspruch am Seins­
begriff deutlich: „Seyn = Negation des Seheprodukts: durch dessen Negation [ist] gesetzt das
Seyn.“ (Fichte 2001, 72) Das Absolute kann nicht mehr begrifflich oder denkend gefasst wer-
den, sondern im Gegenteil nur durch die Vernichtung des Begriffes oder Denkens beziehungs-
weise Wissens einleuchten. Das Absolute wird „gesetzt durch die Vernichtung des absoluten
Begriffs“ (GA II,8, 57.29 f.).
Diese Vernichtung des Begriffs glaubt Fichte grundsätzlich verschieden von Jacobis
schlichter Verwerfung des begrifflichen Denkens: Erstere geht nämlich von der Vorausset-
zung des Wissens als dem einzigen selbständigen Dasein aus und erkennt alles Daseiende nur
als Bestimmung des Wissens. Was immer gedacht wird, ist „eine Bestimmung des Wissens“,
und nach Denkgesetzen verknüpft, „welches Gesetze des Wissens sind“ (GA II,12, 147.15 f.).
Die Wissenschaftslehre kann eben „bloß eine Nothwendigkeit ihres Denkens“ (GA  II,12,

34
„Von einem Seyn, als Seyn an sich, ist gar nicht die Rede, und kann nie die Rede seyn; denn die Ver-
nunft kann nicht aus ihr selbst herausgehen. Es giebt kein Seyn für die Intelligenz, und da es nur für
sie ein Seyn giebt, es giebt überhaupt kein Seyn, ausser einem nothwendigen Bewußtseyn.“ (GA I,5,
36.28 ff.)
35
Vgl. hierzu Schick (2010), 148 ff.

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32 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

147.21) aussprechen. Im Begriff des Absoluten liegt also ein Widerspruch zwischen Form
und Inhalt: Seinem Inhalt nach kann das Absolute in keiner Relation zum Denken stehen, als
Begriff ist es aber gerade ein gedachtes und damit nicht mehr das Absolute. Das Einleuchten
des Seins kann so nur in der Selbstvernichtung des Wissens oder Begriffs realisiert werden.
Das Grundgesetz des Begriffs besteht darin, gesetzt und vernichtet werden zu müssen, wenn
das Denken zum Absoluten gelangen will. Das Absolute kann als Unbegreifliches nur unter
dem Gebote der Vernichtung des Begriffs beziehungsweise Wissens beziehungsweise Ichs
einleuchten (Janke 1993, 12). Die Vernichtung des Begriffs am Unbegreiflichen beziehungs-
weise die Selbstvernichtung des Ichs wird zur Grundfigur und dem Grundgesetz des Denkens
in der Spätphilosophie. Nur durch die Selbstvernichtung des Ichs im Denken kann das Abso-
lute als Absolutes einleuchten.36
Wie diese Selbstvernichtung des Begriffs sich genau vollzieht, muss hier nicht weiter
untersucht werden. Wichtig ist für unsere Frage nur, dass Fichte auf der einen Seite die
Gemeinsamkeit seiner Philosophie mit den Gedanken Jacobis betont, andererseits aber unter-
stellt, Jacobi könne diese Gemeinsamkeit gerade deshalb nicht angemessen anerkennen, da
er das Denken nicht im Denken selbst zu Grunde gehen lasse. Anders formuliert: Aus der
Perspektive Fichtes wird bei Jacobi der Absolutheitsanspruch des Denkens, der sich darin
zeigt, dass das Denken nur solche Gründe anerkennt, die es selbst als solche gesetzt hat, nicht
durch eine immanente Bewegung dieses Denkens selbst negiert. Vielmehr setze Jacobi diese
Unmöglichkeit von einem dem Denken externen Standpunkt aus voraus. Dies müsse für das
Denken aber bloße Behauptung bleiben und sei insofern unzulänglich.

III. Jacobis negative Philosophie


und das Scheitern der rein rationalen Wissenschaft

Während bei Fichte und Schelling also gerade die Anstrengung des Denkens zu dessen Nega-
tion und dem Scheitern der rein rationalen Philosophie führt, so lässt aus der Perspektive
Schellings und Fichtes Jacobi das rationale Denken weiterhin gelten und setzt diesem nur
das Gefühl oder unmittelbare Bewusstsein des Unbedingten entgegen.37 So bliebe ein absolut
gesetzter Dualismus zwischen Glaube/Gefühl und Denken zurück. Tatsächlich gibt es mehre-
re Stellen im Werk Jacobis, die die Annahme eines solchen Dualismus nahe legen. So schreibt
er noch 1817 in einem Brief an Reinhold:

„Du siehst, lieber Reinhold, daß ich noch immer derselbe bin, durchaus ein Heide mit dem
Verstande, mit dem ganzen Gemüthe ein Christ, schwimme ich zwischen zwei Wassern,
die sich mir nicht vereinigen wollen, so daß sie gemeinschaftlich mich trügen; sondern
wie das eine mich unaufhörlich hebt, so versenkt zugleich auch unaufhörlich mich das
andere.“ (Jacobi 1827, 478)

Im Folgenden soll allerdings gezeigt werden, dass dies eine verkürzte Sicht auf Jacobi ist.

36
Nach Stolzenberg markiert das erstmals in der Darstellung 01/02 auftretende Theorem der Selbst-
vernichtung des absoluten Wissens den Beginn der Spätphilosophie (Stolzenberg 2000, 127).
37
So etwa nach Feger (2007), 155: Das Unbedingte muss man sich „unmittelbar, ohne die Anstren-
gungen des Begriffs, im Glauben“ vergegenwärtigen. Die Applikation von Adornos Diktum des
Verblendungszusammenhangs auf Jacobi (163) verstärkt den Dualismus zwischen Begriff und
Glaube noch, ist allerdings unangebracht. Dagegen vgl. etwa Schick (2006).

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DZPhil 61 (2013) 1 33

1. In der Tat behauptet Jacobi eine unmittelbare Ahndung des Wahren, die noch keine Erkennt-
nis ist, aber das Streben nach Wahrheit erst hervorruft. Diese „Ahndung des Wahren“ (JW 2,1,
208.21  f.) ist die Voraussetzung der Vernunft, ohne die sie gar nicht nach Wahrheit stre-
ben könnte.38 Diese Ahndung bezieht sich auf den unbedingten Grund allen Wissens, der als
Grund „vor und außer dem Wißen“ (JW 2,1, 208.13 f.) liegen muss. In seinem Sendschreiben
an Fichte bezeichnet er diesen Grund allen Wissens im Gegensatz zu der im Wissen imma-
nent hervorgebrachten Wahrheit als das Wahre selbst. Das Wahre verhält sich bei Jacobi zur
Wahrheit wie später bei Fichte das Absolute zum Bild – eine Unterscheidung, die sich auch in
Schellings Philosophie der Mythologie findet:

„Das Bild ist nicht der Gegenstand selbst, und doch völlig wie der Gegenstand selbst: in
diesem Sinne enthält das Bild Wahrheit; da es aber doch nicht der Gegenstand selbst ist,
insofern ist es auch nicht das Wahre.“ (SW VI, 214)

Dass es das höchste Ziel der Wissenschaft ist, nicht nur eine dunkle Ahndung vom Wahren
zu haben, sondern es zu wissen, auch hierin kann sich Jacobi mit Fichte und Schelling einig
wissen. Das Wahre ist nicht nur Grund, sondern auch letztes Ziel menschlichen Wissens. Eine
Philosophie, die am Wahren kein Interesse hat, würde den Namen überhaupt nicht verdienen:
„Alle Philosophen giengen darauf aus, hinter die Gestalt der Sache, das ist, zur Sache selbst;
hinter die Wahrheit, das ist, zum Wahren zu kommen.“ (JW 2,1, 207.23 ff.)
Die Differenz muss also noch spezifischer im Verhältnis des Wissens zu seinem Grunde
bestehen.39 Den fundamentalen Unterschied bestimmt Jacobi in Fichtes Absicht, den Grund
des Wissens in das Wissen selbst hineinzuverlagern, genauer: in die Wissenschaft des Wis-
sens. Denn nur damit könne die Wissenschaftslehre eine reine und immanente Vernunftwis-
senschaft sein. Jacobi hingegen will im Vollzug des wissenschaftlichen Wissens zeigen, dass
„dieser Grund: das Wahre selbst, […] nothwendig außer ihr vorhanden“ (JW 2,1, 199.14 f.)
sei. Im Vollzug des Wissens soll die Wissenschaft des Wissens in ein wissendes Nichtwissen
übergehen. Durch den spekulativen Vollzug der Aufhebung der Transzendenz des Wahren
als dem Grund der Wahrheit beziehungsweise des Seins als dem Grund des Seienden in die
Immanenz reinen Wissens soll sich zeigen, dass sich die Spekulation von diesem Grund viel-
mehr entfernt und ihn im Wissen letztlich vernichtet. Damit vernichtet die Vernunft zuletzt ihr
eigenes Sein.
Würde Fichte den transzendenten Grund der Wahrheit gar nicht zu wissen suchen, sondern
Wahrheit nur relativ auf die immanenten Voraussetzungen und Bedingungsverhältnisse sei-
ner Wissenschaftslehre verstehen, bestünde überhaupt kein Dissens zwischen beiden. Dieser
käme nur zu Stande, da Fichte den Grund der Wahrheit in die Wissenschaftslehre selbst auf-
heben will. Eine Analogie Jacobis mag dies veranschaulichen: Für die Mathematik kann die
Bedeutung der Mathematik immer nur eine rein immanente sein. Das heißt, die Regeln, nach
denen sie prozediert, erschöpfen aus der inneren Perspektive der Mathematik vollständig
deren Bedeutung (JW 2,1, 196). Fragt man also mathematisch nach dem Grund der Wahrheit
eines mathematischen Satzes, so wird man einen Beweis anführen und ihn dabei auf seine
Wahrheit bedingende andere Sätze zurückführen. Insofern bezeichnet sie Jacobi als bloßes

38
„Alle Menschen nennen Etwas inwendig und im Voraus Wahrheit, in deren Besitz sie noch nicht
sind, wornach sie streben, und welches sie dennoch nicht voraussetzen könnten, ohne daß es ihnen
auf irgend eine Weise gegenwärtig wäre.“ (JW 1,1, 340.5–9)
39
Schon allein, weil es sich hier um den Grund des Wissens handelt, auch wenn dieser nach Jacobi
im Glauben gegeben sein soll, scheint mir die Rede vom „Standpunkt des radikal Anderen der Ver-
nunft“ (Feger 2007, 158) unangemessen.

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34 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

Spiel, da die Regeln eines Spiels keinen transzendenten Grund haben (JW  2,1, 206).40 Ob
mathematische Aussagen auf irgendetwas referieren (etwa Freges Reich der Ideen), ob sie
nicht nur Bedeutung, sondern auch Bedeutsamkeit haben, ist keine mathematische Frage.41
Würde man zur Begründung der Wahrheit eines mathematischen Satzes seine Entsprechung
zum Reich der Ideen anführen, so würde man eben nur zeigen, dass man nicht verstanden
hat, worin mathematische Beweise bestehen. Bedeutsamkeit kann eine Wissenschaft für uns
jedoch nur haben, weil sie eben doch auf etwas referiert. Dieser Grund ihres Wahrseins liegt
ihr voraus und notwendig außer ihr.
Diese Differenzierung ließe tatsächlich einen friedlichen Dualismus zu zwischen dem
Standpunkt der Spekulation und dem des Lebens.42 Da Fichtes Wissenschaftslehre aber Wis-
senschaft vom Wissen überhaupt ist, muss sie sich notwendig auf den Grund des Wissens
beziehen. Deshalb die ambivalente Haltung Jacobis in der Beurteilung Fichtes und Kants:
Kant versündigt sich an der Wissenschaft, weil er den Grund des Wissens nicht in das Wissen
aufhebt, Fichte, der die Wissenschaft vollendet, hingegen am Wahren als dem Grund des
Wissens, eben weil er ihn aufhebt (JW 2,1, 192). Jacobi untersucht nun gerade die Folgen
dieser Aufhebung. Als letztes Resultat werden dann beide Standpunkte vermittelt. So schreibt
er schon im Brief an Fichte, dass er das Wissen und die Spekulation vollenden wollte, um zu
zeigen, dass das Wahre als ihr Grund notwendig außerhalb des Wissens liegt (JW 2,1, 199).
Anders gesagt: Erst als Resultat der Vollendung der Spekulation wird das Wahre als Grund
aus ihr herausgesetzt.

2. Vollendung des Wissens bedeutet reine Vernunftimmanenz. Das heißt, eine reine Wissen-
schaft muss ihren Gegenstand selbst hervorbringen. Letztlich darf sie nur mehr dieses „in
Gedanken Hervorbringen selbst“ (JW  2,1, 198.19  f.) sein. Das Wissen kann nur durch die
absolute Reinigung von jeder Positivität vollendet werden, da es nur als reines auch ganz Wis-
sen ist. Ein kantischer Gedanke: denn das bloß Gegebene kann sich eben so und auch anders
verhalten und kann damit nicht mit absoluter Gewissheit gewusst werden.
In der aus diesem Gedanken resultierenden, gewissermaßen kantischen Revolution des
Spinozismus überbietet Fichte sogar noch einmal den Spinozismus, auf den wenige Jahre
zuvor für Jacobi noch alles Denken doch hinauslaufen sollte:
In jeder Wissenschaft sollen alle in ihr zu erklärenden Phänomene möglichst auf ein ein-
ziges Prinzip zurückgeführt werden. Das bedeutet aber, dass das Denken in der Wissenschaft
des Wissens zuletzt noch die Teilung zwischen Subjekt und Objekt (oder Denken und Sein)
aufheben muss. Ziel wissenschaftlichen Denkens ist damit – so Jacobi – die Gleichung Sub-
jekt = Objekt. Dabei gibt es zunächst zwei Möglichkeiten: Entweder man leitet wie Spinoza
das Subjekt aus dem Objekt ab und setzt damit das Objekt an den Anfang der Gleichung.
Oder man leitet wie Fichte alles aus dem Subjekt beziehungsweise Denken her. Die Wissen-
schaftslehre verhält sich damit aber nicht als schlichte Alternative zu Spinoza, sondern als
„umgekehrte[r] Spinozismus“ (JW 2,1, 195.26). Sie geht von derselben Gleichung aus, dreht
sie jedoch um.43 Dieser Idealismus hat gegenüber dem Spinozismus den Vorteil, dass hier die

40
Es könnte durchaus lohnenswert sein, Jacobi einmal unter diesem Aspekt mit dem späten Wittgen-
stein zu vergleichen.
41
Erst der vorausgesetzte Grund schafft eine „Bedeutsamkeit der Reflexion und der Systeme“ (JW 1,1,
344.16).
42
Einige Äußerungen wie etwa JW 2,1, 200.14–25 legen diese Lesart durchaus nahe.
43
Eine dritte Möglichkeit ist dann später Schellings Identitätsphilosophie, die das „=“ als das erste
setzt: die Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt.

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DZPhil 61 (2013) 1 35

das System entwerfende Denkkraft, das Subjekt des Wissens, nicht außerhalb des begriffenen
Gegenstandes – des Absoluten – bleibt. Gegenstand der Wissenschaft und Wissenschaft selbst
sind hier identisch. Das Denken in seinem Vollzug ist zugleich der Gegenstand des Den-
kens. System und systematisierter Gegenstand sind sich deshalb nicht mehr äußerlich wie
bei Spinoza, sondern fallen zusammen: Die Wissenschaftslehre versteht Jacobi also als die
Selbstexplikation ihres Gegenstandes.44 Damit vollendet Fichte das spekulative Denken und
das Anliegen Kants.
Was passiert hier aber mit den Gegenständen, die im reinen Wissen gewusst werden sol-
len? Gemäß Vicos Grundsatz „verum et factum convertuntur“, der das Prinzip der Kantschen
und Fichteschen Philosophie ist, kann der Mensch nur begreifen, was er selbst hervorgebracht
hat: Einen Gedanken begreifen, heißt ihn also zu konstruieren.45 Dieses Prinzip ist der Grund
für die transzendentale Wende Kants. Die Vernunft muss ihre Voraussetzungen als bloß posi-
tive Setzung aufheben und als Resultat ihres eigenen Konstruierens wieder selbst entstehen
lassen. Die Vernunft annihiliert dabei alle ihre Voraussetzungen, um sie aus sich selbst wieder
zu entwickeln (JW 2,1, 201): Noch der Satz der Identität und der Satz des Widerspruchs müs-
sen aus der Selbstsetzung des Ichs und der Entgegensetzung eines Nicht-Ichs durch das Ich
ableitbar sein.46 Der Gegenstand wird in seiner Objektivität aufgehoben, um subjektiv hervor-
gebracht zu werden, und wird dadurch Geschöpf des Ich. Deshalb darf nur, was Handlung des
Ichs ist, am Gegenstand zurückbleiben. Was sich in diesem Sinne nicht konstruieren lässt, ist
für die Wissenschaft nicht.47
Wenn Wissenschaft reine Immanenz der Vernunft ohne Voraussetzung von Transzendenz
bedeutet und das Begreifen ein Hervorbringen des begriffenen Gegenstandes im Denken ist,
so kann sich die wissenschaftliche Annihilation und Konstruktion nicht nur auf die Eigen-
schaften des Gewussten beziehen, sondern muss auch noch ihre Setzung aufheben. Mit der
Annahme eines dem Wissen voraus-gesetzten Dinges an sich, das den Erscheinungen als ihr
durch das Subjekt nicht bedingter Grund zu Grunde liegt, realisiert Kant für Jacobi dieses
Prinzip nicht vollständig. Erst Fichte realisiert mit der Deduktion alles Seins und Wissens aus
dem dem Ich nicht nur immanenten, sondern mit ihm identischen Prinzip der Selbstsetzung
die Möglichkeit eines rein vernunftimmanenten Wissens, das keinen transzendenten Grund
mehr hat:

„Eine reine, das ist, durchaus immanente Philosophie; eine Philosophie aus Einem Stück;
ein wahrhaftes Vernunft-System, ist auf die Fichtische Weise allein möglich. Offenbar
muß alles in und durch Vernunft, im Ich als Ich, in der Ichheit allein gegeben und in ihr
schon enthalten seyn, wenn reine Vernunft allein, aus sich allein, soll alles herleiten kön-
nen.“ (JW 2,1, 200.26–201.4)

In der vollendeten Spekulation muss sich das Ich oder die Vernunft zum absoluten Wissens-
und damit Seinsgrund ermächtigen. Die Vernunft annihiliert alles vorgegebene Sein und ver-
wandelt es in eine bloße Setzung des Ichs. Alles außer der Vernunft ist für die Vernunft Nichts,

44
Freilich ist fraglich, ob der frühe Fichte wirklich (wie Hegel in seiner Logik) für seine Wissen-
schaftslehre beansprucht, Selbstexplikation des Absoluten zu sein.
45
„Der Kern der Kantischen Philosophie ist die von ihrem tiefdenkenden Urheber zur vollkommen-
sten Evidenz gebrachte Wahrheit: daß wir einen Gegenstand nur in so weit begreifen, als wir ihn in
Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstande zu erschaffen vermögen.“ (JW 3, 78.23–27;
vgl. KrV B XIII)
46
Vgl. dazu Schick (2010), 206 ff.
47
Deshalb werden auch die dunklen Qualitäten im Wissen vernichtet (vgl. JW 2,1, 230).

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36 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

und das Sein von allem setzt sie als ein bloßes Sein für und durch die Vernunft. Die Vernunft
muss Welt-Schöpfer werden, denn nur als Geschöpf der Vernunft ist die Welt für die Vernunft
spekulativ erfassbar und damit wissbar. Sie darf „nur sich selber lieben und achten, nichts
über sich anerkennen, sondern Alles in Allem seyn und hervorbringen, sie will seyn wie Gott.
[…] Diese Wissenschaft, die eigentliche, einzige genannt, besteht in dem Selbsthervorbringen
ihres Gegenstandes, sie schafft das Wahre und die Wahrheit, ist selbstständig durchweg, und
verwandelt Alles außer ihr in Nichts.“ (JW 1,1, 344.1–12.)
Diesem Bedürfnis der Spekulation nach reiner Vernunftimmanenz setzt Jacobi nun sein
Bedürfnis nach einem transzendenten Grund entgegen: „Ich bedurfte einer Wahrheit, die
nicht mein Geschöpf, sondern deren Geschöpf ich wäre.“ (JW 2,1, 351.8 ff.) Diese geforderte
Trans­zendenz sei der „der Wißenschaft unzugängliche Ort des Wahren“ (JW 2,1, 237.34 f.),
das nur in einer eigentümlichen Form der Unwissenheit bewusst sein könne – in einer „Unphi-
losophie, die ihr Wesen hat im Nicht-Wißen“ (JW 2,1, 194.9 f. ).48

3. Würde Jacobi nun tatsächlich bei diesem Gedankenschritt stehen bleiben, so wäre hier ein
unauflösbarer Dualismus zwischen Spekulation und Bedürfnis vorhanden. Der vermittelnde
Übergang vom unbedingten Wissen der Wissenschaftslehre zum wissenden Nichtwissen des
Unbedingten gelingt Jacobi über die Reflexion auf den Seinsbegriff und seine Differenzie-
rung in das relative Ist des Denkens und das substanzielle Ist oder Sein, das dem Dasein
dessen, was ist, zu Grunde liegt (das Sein in allem Dasein):

„Das Ist des überall nur reflectirenden Verstandes ist überall auch nur ein relatives Ist,
und sagt mehr nicht aus, als das bloße einem Andern gleich seyn im Begriffe; nicht das
substanzielle Ist oder Seyn.“ (JW 2,1, 424.11–16)

Seinssetzend im Sinne eines substanziellen Seins ist für Jacobi nur „der wahre Gott ein leben-
diger Gott, der wisse und wolle, und zu sich selbst spreche, Ich bin der Ich bin; nicht
ein bloßes Ist und absolutes Nicht-Ich“ (JW 3, 75.5–7). Das menschliche Denken hingegen
verfährt nach dem Prinzip idem est idem, „aus welchem das Facit eines directen simpeln Esse
sich nie ergeben kann“ (JW 2,1, 27.5 f.). Menschliche Worte sind nicht wie Worte „deß der
da ist“ (JW 2,1, 71.1 f.), des Seins alles Daseins, der aus Nichts Sein und Leben hervorru-
fen kann. Dies zeige in beeindruckender Weise die Transformation des Seinsbegriffes in der
Wissenschaftslehre: Das absolute Ich der Wissenschaftslehre setzt kein Sein aus sich heraus,
sondern was es setzt, setzt es explizit nur als seine eigene Tätigkeit: Es setzt kein vom Ich
unabhängiges Für-sich-Sein, sondern nur ein Für-das-Ich-Sein. Anders formuliert: Fichtes
Wissenschaftslehre, indem sie alles Sein in eine Setzung des Ich aufhebt, transformiert das
substanzielle Sein (das Dasein) in ein bloß relationales Verhältnis der Gleichheit mit und Ent-
gegensetzung zum Ich. Das Nicht-Ich ist relational bestimmt als reine Entgegensetzung gegen
das Ich. Aber auch das absolute Ich Fichtes ist selbst eine reine Relation: die bloße Gleichheit
mit sich selbst. Das Ich (oder die Vernunft) der reinen Spekulation ist nur noch die reine
Tätigkeit der Selbstsetzung, ohne von dieser Tätigkeit verschiedenes Produkt oder Produzie-
rendes. Dem Ich Fichtes kommt „kein eigentliches Seyn, kein Bestehen zu […]. Die Intelli-
genz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Thätiges soll
man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeutet wird, welchem
die Thätigkeit beiwohne.“ (GA I,4, 200.2–8) Fichtes Ich kann daher tatsächlich als subjektive
48
„Mein Nicht-Wißen habe ich in allen meinen Schriften zur Schau getragen; ich habe mich gerühmt,
unwißend zu seyn dergestalt mit Wißen, in so hohem Grade vollkommen und ausführlich, daß ich
den bloßen Zweifler verachten dürfte.“ (JW 2,1, 215.12–15)

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Umkehrung der spinozistischen Substanz verstanden werden: denn beide müssen causa sui
sein.49 Fichte kann sich sogar rühmen, dem Begriff der causa sui seine Widersprüchlichkeit
genommen zu haben, indem hier nicht nur Ursache und Wirkung zusammenfallen, sondern
beide noch einmal identisch sind mit dem Actus des ursächlichen Hervorbringens der Wir-
kung. Die Vollendung des Denkens ist erst dann erreicht, wenn die Vernunft noch sich selbst
als gegebenes Sein annihiliert und sich selbst nur als sein eigenes Handeln anschaut. Das
wird aus der Perspektive Jacobis aber damit erkauft, dass dieses Ich, das sich selbst setzt, eine
Ursache ist, die selbst nichts ist, und eine Wirkung zeitigt, die ebenso nichts ist. Diese Set-
zung ist also der Übergang „aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“ (JW 2,1, 202.15 f.).
Nun kann für Jacobi eine Tätigkeit, deren Tätiges und Getätigtes beide nichts sind, selbst
nur nichts sein. Indem sie alles und Grund alles Wissens sein will, vernichtet die Vernunft
vielmehr alles und hebt zum Schluss noch ihr eigenes Selbstsein und mit ihrem Selbstsein
und ihren Wirkungen ihre eigenen Vollzüge auf. Die Verabsolutierung des Ich (indem es sich
selbst als seine eigene unbedingte Voraussetzung setzt) führt konsequenterweise zu seiner
Annihilation.50 Damit besteht das Wissen der vollendeten Vernunft, das auf Grund der Forde-
rung reiner Immanenz nur ein Wissen von sich selbst sein kann, in einem Wissen des absolu-
ten Nichts, sobald „die Vernunft ihr Werk an sich vollendet“ (JW 3, 9.23 f.) hat: „Alles außer
ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht einmal von Etwas; sondern,
ein Gespenst an sich: ein reales Nichts; ein Nichts der Realität.“ (JW 2,1, 207.17–20) Aus
diesem Nihilismus des Wissens des Nichts lässt sich unmittelbar gegen selbigen schließen
und (mittels seines berühmten salto mortale) in den Chimärismus wissenden Nichtwissens
übersetzen (JW 2,1, 215).51
Dies führt zu einem – mit Schelling zu sprechen: ekstatischen – Entsetzen der Vernunft im
zweifachen Sinn. Zum einen erschrickt die Vernunft selbst (nicht das Individuum Jacobi, wie
gegen existenzialisierende Lesarten zu betonen ist) vor dieser Vorstellung.52 Die Vernunft,
die nicht Grund ihres Seins sein kann, erkennt, dass sie sich selbst und ihre eigenen Vollzüge
in einem rein immanenten Wissen vernichten würde. Diese Einsicht wiederum motiviert das
Heraussetzen des Grundes des Wissens aus der Immanenz der eigenen Vollzüge. Die vollen-
dete Spekulation führt also wie bei Schelling zu einem Entsetzen der endlichen Vernunft in
doppeltem Sinne: Die Vernunft erschrickt vor der eigenen Vernichtung und entsetzt sich darin
von ihrem ersten Platz, um die absolute Vernunft außer sich zu setzen. Sofern die Vernunft ist
und sofern sie vernünftig ist, muss sie den Grund ihres Seins und ihrer Tätigkeit sich selbst
und ihrer Tätigkeit voraussetzen. Dieser Grund muss in der Lage sein, Sein nicht nur als Rela-
tion, sondern als Substanz zu setzen:

„So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschlichen
Vernunft nicht die Vollkommenheit des Lebens, nicht die Fülle des Guten und des Wahren
[…]. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: ICH; sondern, Mehr

49
„Es [das Ich] ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was
durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und That sind Eins und eben dasselbe; und
daher ist das: Ich bin, Ausdruk einer Thathandlung […].“ (GA I,2, 259.6–9)
50
„Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein Alles, bin denn am
Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von Etwas; die Form einer Form; gerade so ein Gespenst,
wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre
Gesetze.“ (JW 2,1, 61.14–19)
51
Zu Jacobis Konzeption des salto mortale vgl. etwa Schick (2006).
52
„Ich sage aus, daß meine Vernunft […] schaudert, sich entsezt vor dieser Vorstellung.“ (JW  2,1,
206.3–5)

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38 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

als Ich! Beßer als ich! – ein ganz Anderer. / Ich bin nicht, und ich mag nicht seyn, wenn
ER nicht ist!“ (JW 2,1, 209.33–210.3)

Dieses „ich mag nicht seyn, wenn ER nicht ist!“ darf nicht wie in Hegels Glauben und Wis-
sen als Ausdruck eines existenziellen Schreckens Jacobis vor dem Nichtsein der eigenen
endlichen Existenz gedeutet werden.53 Hiergegen ist auf die von Schelling noch expliziter
gemachte Doppelbedeutung von Mögen als Wollen und Mögen als Vermögen/Können zu
verweisen: Die Vernunft kann und vermag nicht aus sich selbst zu sein ohne eine ihr voraus-
gesetzte absolute Vernunft, „welche das Wesen selbst der Wahrheit ist, und in sich die Voll-
kommenheit des Lebens hat“ (JW  2,1, 209.25–27), der sie ihr eigenes Sein, das Sein ihrer
Gegenstände und damit die Sinnhaftig- und Vernünftigkeit ihrer eigenen Vollzüge verdankt.
Die endliche Vernunft muss sich als Eigentum einer höheren, absoluten Vernunft begreifen.54

III. Schluss: Positive Philosophie bei Jacobi?

Wenn Schelling also Jacobi darin in Gegensatz zu Kant bringt, dass Letzterer das wissen-
schaftliche Denken nicht zum Atheismus führen, sondern in der Frage nach Gott unentschie-
den lässt (SW IV, 425), so tut er dies völlig zu Recht. Allerdings rückt dies Jacobi eher näher
an das idealistische Denken heran als Kant. Denn diese Neutralität ist für Jacobi deshalb
unhaltbar, da das Unbedingte schon für die theoretische Vernunft nicht nur eine regulative
Idee ist, die als Fluchtpunkt des Denkens die Verstandeserkenntnisse ordnete, sondern es ist
der immer schon vorausgesetzte konstitutive Grund aller Begründungsleistungen des Ver-
standes, ohne den diese nichts bedeuten. Die Idee Gottes ist nicht nur Gegenstand der Ver-
nunft, sondern Voraussetzung für ihre Vernünftigkeit. Deshalb kann die Vernunft kein neu-
trales Verhältnis zu Gott (oder neutraler: dem unbedingten Sein und Wahren) haben, sondern
muss ihn zu erkennen und damit in sich selbst aufzuheben suchen. Als Resultat in die Einsicht
in das Scheitern dieses rein rationalen Versuchs, das Unbedingte zu wissen, setzt sie es aus
sich heraus.
Selbst wenn damit Jacobi ein wesentliches Moment der negativen Philosophie Schellings
und Fichtes antizipiert, scheint daraus aus Sicht der gegenwärtigen Forschung insbesondere
zum späten Schelling noch recht wenig zu folgen: denn eigentlich stelle erst die positive Phi-
losophie das vollendete Wesen seines späten Denkens dar, die negative bleibe hingegen bloße
Vorform. Die negative Philosophie erreiche ihren Zweck also erst in der positiven (Hutter
1996, 127 f.). Die Fixierung auf die negative Philosophie bleibe zudem ambivalent: Einerseits
betone sie als Differenz zu Hegel die Endlichkeit und Ohmacht der Vernunft, die auf einen
undenkbaren Grund stößt, und andererseits betone sie, dass der unvordenkliche Grund des
Denkens seinen Ort doch nur im Denken habe. Damit verwische aber gerade die Differenz
zu Hegel. Demgegenüber betont Hutter, dass das Übertreten in die positive Philosophie nur

53
„[…] daß mein endliches Alles ebensogut vor der Vernunft zugrunde geht als das Alles des objek-
tiven Endlichen,  – das ist für Jacobi das Entsetzliche und Schauderhafte; die Verabscheuung der
Vernichtung des Endlichen ist ebenso fixiert als das Korrespondierende, die absolute Gewissheit des
Endlichen, und wird sich als der Grundcharakter der Jacobischen Philosophie durchaus erweisen.“
(TWA 2, 340; Jacobis Replik vgl. JW 2,1, 365)
54
Die Unterscheidung „zwischen einer Vernunft, welche dem Menschen, und einer, welcher der
Mensch angehört“, „macht wirklich ihren [Jacobis Schriften] ganzen, ich möchte sagen, ihren einzi-
gen Inhalt aus“ (JW 2,1, 370.6–13).

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möglich ist durch das Hinzutreten eines praktischen Antriebs. Das praktische Moment der
Vernunft begrenze also wie bei Kant das kontemplative (Hutter 1996, 25 ff.).
Dies ist nun nicht allzu ferne von Jacobi: denn auch dieser rechtfertigt die Notwendigkeit,
den Grund der Vernünftigkeit aus der Vernunft herauszusetzen mit der praktischen Seite der
Vernunft: denn wir sind ja nicht nur denkende, sondern auch handelnde Wesen und veren-
gen beziehungsweise verfälschen die Vernunftbegriffe, wenn wir sie nur unter dem theore-
tischen Aspekt betrachten.55 Was bleibt dann nach dem Heraussetzen des Grundes aus der
Vernunft? Für Jacobi eine endliche Vernunft, die nicht nur sich selbst vernimmt, sondern die
ihr transzendente absolute Vernunft.56 Dieses Vernehmen setzt Praxis voraus: Nur „durch sitt-
liche Veredlung erheben wir uns zu einem würdigen Begriff des höchsten Wesens“ (JW 2,1,
219.21 ff.), nur „durch ein göttliches Leben wird der Mensch Gottes inne“ (JW 1,1, 342.22 f.).
Der erklärende, nachweisende Verstand wird damit nicht abgewiesen, sondern eben nur mit
dem Bewusstsein, bloße Nachkonstruktion zu sein, angereichert: Der solcherart „erleuchtet[e]
Verstan[d]“ (JW 2,1, 378.6) hat, so Jacobi insbesondere in seinen letzten Schriften, die Ver-
nehmungen der Vernunft verständlich zu machen. Denn der „ganze, unzerstückte, wirkliche
und wahrhafte Mensch“ (JW  3, 27.29) ist zugleich vernünftig und verständig. Damit aber
deutet Jacobi bereits 1811 die Möglichkeit positiver Philosophie an.

Dr. Stefan Schick, Universität Regensburg, Institut für Philosophie, 93040 Regensburg

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55
Jacobi zeigt dies insbesondere für den Begriff der Ursache; vgl. JW  2,1, 53  f.; vgl. dazu vor al-
lem Sandkaulen (2000); vgl. aber auch Jacobis Bemerkung zu Fichtes Bestimmung des Menschen
JW 2,1, 393.36 ff.
56
„Der erklärende nach-weisende Verstand hat im Menschen nicht das Erste und nicht das Letzte
Wort. […] Nichts im Menschen hat es. Es ist überall in ihm kein Erstes und kein Letztes Wort; kein
Alpha und kein Omega. Er wird angeredet; und wie er angeredet wird, so antwortet es aus ihm.“
(JW 3, 13.29–14.5)

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40 Stefan Schick, Jacobis Vollendung des Deutschen Idealismus

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DZPhil 61 (2013) 1 41

Abstract

By denying the idea of an unprejudiced and presuppositionless reason and his assertion of a fundamental
belief that underlies every performance of reason, Jacobi provoked both the German Enlighteners and
the representatives of German Idealism. The paper tries to demonstrate the systematic importance of
this provocation. To this end, it emphasizes Jacobi’s anticipation of Fichte’s and Schelling’s distinction
between a negative (purely rational) and a positive philosophy. In particular, this study focuses on the
idea of the self-annihilation of pure reason in its consequent self-realization.

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