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nicht, weil sie ganz kurz sind. Auf das Ganze paßt es über-
haupt nicht. Ich halte es für ein realistisches Stück. Aus den
Tafeln des Bauern-Breughel habe ich mehr herausgeholt da-
für als aus den Abhandlungen über Realismus. Über den zwei-
ten Roman, an dem ich schon lange arbeite, wage ich kaum zu
sprechen, so kompliziert sind da die Probleme und so primitiv
ist da das Vokabular, das mir die Ästhetik des Realismus, wie
sie jetzt ist, liefert. Die formalen Schwierigkeiten sind außer-
ordentlich, ich habe ständig Modelle zu bauen; wer mich bei
dieser Arbeit sähe, würde mich für nur an Formfragen in-
teressiert halten. Ich mache diese Modelle, weil ich die Wirk-
lichkeit darstellen möchte. Was Lyrik betrifft, so gibt es eben-
falls in ihr einen realistischen Standpunkt. Ich fühle aber,
daß man ganz außerordentlich vorsichtig vorgehen müßte,
wenn man darüber schreiben wollte. Andrerseits gewönne man
viel Aufschluß über Realismus in Roman und Dramatik.
Form nach, hat er recht. Oder: Formell ist die Aufgabe gelöst
will sagen, sie ist nicht eigentlich gelöst. Oder: Ich habe das ge-
tan, um die Form zu wahren. Das will sagen, es bedeutet nicht
viel, was ich getan habe, ich mache, was ich will, aber ich wahre
die Form, da kann ich am besten machen, was ich will.
Wenn ich lese, daß die Autarkie des Dritten Reichs auf dem Pa-
pier perfekt ist, weiß ich, daß es sich um politischen Formalis-
mus handelt. Der Nationalsozialismus ist ein Sozialismus der
Form nach, das heißt ein politischer Formalismus. Es han-
delt sich da nicht um wuchernden Formensinn.
Faßt man den Begriff so (und er wird verständlich so und
wichtig so), dann sind wir imstande, zurückkehrend zur Li-
teratur (ohne diesmal das gewöhnliche Leben völlig verlas-
send), auch Werke als formalistisch [zu] bezeichnen und [zu]
entlarven, die nicht die literarische Form über den sozialen
Inhalt stellen und doch der Realität nicht entsprechen. Wir
können auch solche Werke entlarven, die der Form nach reali-
stisch sind. Es gibt da viele.
Hier gibt es ein Nur der Form nach, das beachtet werden
muß, eine Verfälschung der Wirklichkeit. Es handelt sich nicht
nur um ein formales Problem (das mit einem Zurück zu Tol-
stoi zu lösen wäre). Rein formal hatten wir einen inneren
Monolog, den gerade wir sehr schätzten, ich denke an Tu-
cholskys Stücke.
Ich habe keinen Grund, auf Gedeih und Verderb die Dos
Passos'sche Montagetechnik zu propagandieren; als ich einen
Roman schrieb, habe ich selber so etwas wie »kämpfvolle und
verschlungene Wechselbeziehungen« zu gestalten versucht. (Was
ich von der Montagetechnik benutzte, benutzte ich in diesem
Roman anderweits.) Aber ich möchte eine Verurteilung dieser
Technik lediglich zugunsten der Schaffung bleibender Gestalten
doch nicht zulassen. Erstens hat gerade Dos Passos »kampf-
volle1 und verschlungene Wechselbeziehungen von Menschen«
ausgezeichnet dargestellt, wenn auch seine Kämpfe nicht die
der Tolstoischen Gestalten und seine Verschlingungen nicht
die der Balzacschen Fabeln waren. Zweitens steht und fällt
der Roman durchaus nicht mit der »Gestalt« und besonders
nicht mit der Gestalt der Art, wie sie im vorigen Jahrhun-
dert existierte. Man sollte nicht die Vorstellung nähren von
einer Art Walhalla der bleibenden Gestalten der Literatur,
einer Art von Madame Tussaudschen Panoptikums, in dem
von der Antigone bis zur Nana und von Äneas bis Nechlju-
dow (wer ist das übrigens?) lauter bleibende Gestalten stehen.
In einem Lachen über eine solche Vorstellung sehe ich nichts
Despektierliches. Wir wissen einiges darüber, auf welchen
Grundlagen der Kult des Individuums, wie er in der Klas-
sengesellschaft getrieben wurde, beruht: Es sind historische
Grundlagen. Wir sind weit davon entfernt, das Individuum
abschaffen zu wollen. Aber wir sehen immerhin mit einiger
Nachdenklichkeit, wie dieser (historische, besondere, vorüber-
kann man [...] die Welt schief darstellen und auch richtig,
da ist kein Zweifel. Bei den reinen Formfragen soll man nicht
allzu unbedenklich im Namen des Marxismus sprechen. Das
ist nicht marxistisch.
geschändet im Namen der Ehre, auf der Flucht vor den Hor-
den, die uns auf dem Fuße dorthin folgen werden. Der Form
nach sind wir keine Deutschen mehr. Es ist klar, daß wir die-
ses Regime nicht nur der Form nach bekämpfen, das von die-
sem Regime unterdrückte Volk nicht nur der Form nach in
seinem Kampf unterstützen dürfen. Es genügt nicht, zu pro-
testieren und im übrigen seiner Beschäftigung nachzugehen.
Das wäre ein schlimmer Formalismus. Und wir müssen wis-
sen, daß die literarische Tätigkeit viele Verführungen zum For-
malismus bietet. Zwischen der vertriebenen deutschen Litera-
tur und dem unterdrückten deutschen Volk ist ein Anschluß
erfolgt, der gemeinsame Feind hat ihn bewerkstelligt. Er hat
eine Schicksalsgemeinschaft geschaffen. Im Punkt der gemein-
samen Leiden ist der Anschluß nicht nur einer der Form
nach. Aber unsere Arbeiten zeigen diesen Anschluß oft nicht
tief genug, wir wissen das oder sollten es wissen. Auch unser
Volksbegriff ist nicht immer real genug. Immer noch sehen
viele von uns ungenau, was das Volk ist, und jeder von uns
ist imstande, sich darüber zu täuschen und darüber Tauschung
zu erzeugen. Manche meinen, es handle sich nur darum, ein-
fach zu sprechen, und dann gehen sie nur den Kompliziert-
heiten aus dem Weg. Andere sprechen kompliziert und gehen
den großen einfachen Grundwahrheiten aus dem Weg. »Das
Volk versteht nicht komplizierte Ausdrucks weise« — und die
Arbeiter, die Marx verstanden haben? »Rilke ist zu kompli-
ziert für die Massen« - und die Arbeiter, die mir sagten, er
ist zu primitiv?
[Über Realismus]
Ich habe nicht den Eindruck, daß wir unsere Sache besonders
gut geführt hätten, die Sache des Realismus in der Literatur.
Die Schwächen der hauptsächlichen expressionistischen Werke
sind nicht durch Realisten nachgewiesen worden; der Realis-
wittsbegriff ist sehr eingeengt aufgetreten, beinahe hatte man
den Eindruck, es handle sich um eine literarische Mode mit
Regeln, die einigen willkürlich ausgewählten Werken ausge-
zogen wurden. Man zerstampfe soundsoviel expressionistische
Werke in einem Messingfaß und genieße den gewonnenen
Saft mit dem Ausdruck des Mißbehagens, und man zer-
stampfe und so weiter. Es wird dann ständig nur mit den
Über den Realismus 321
den vielleicht nicht finden, daß sie den Schlüssel zu den Er-
eignissen ausgeliefert bekommen, wenn sie, durch viele Künste
verführt, sich lediglich an den seelischen Emotionen der Hel-
den unserer Bücher beteiligen. Ohne gründliche Prüfung die
Formen der Balzac und Tolstoi übernehmend, würden wir
vielleicht unsere Leser, das Volk, ebenso ermüden, wie es diese
Schriftsteller oft tun. Realismus ist keine bloße Frage der Form.
Wir würden, die Schreibweise dieser Realisten kopierend, nicht
mehr Realisten sein.
Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es
schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen. Die
Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Pro-
bleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert
sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muß die Darstel-
lungsart sich ändern. Aus nichts wird nichts, das Neue kommt
aus dem Alten, aber es ist deswegen doch neu.
Die Unterdrücker arbeiten nicht zu allen Zeiten auf die gleiche
Art. Sie können nicht zu allen Zeiten in der gleichen Weise
dingfest gemacht werden. Es gibt so viele Methoden, sich der
Vernehmung zu entziehen. Ihre Heerstraßen taufen sie Auto-
straßen. Ihre Tanks sind bemalt, daß sie wie die Büsche des
Macduff aussehen. Ihre Agenten zeigen Schwielen an den
Händen vor, als seien sie Arbeiter. Nein, den Jäger in das
Wild zu verwandeln, das braucht Erfindung. Was gestern
volkstümlich war, ist es nicht heute, denn wie das Volk gestern
war, so ist es nicht heute.
Jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß,
daß die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann
und auf viele Arten gesagt werden muß. Daß man Empörung
über unmenschliche Zustände auf vielerlei Arten erwecken
kann, durch die direkte Schilderung in pathetischer und in
sachlicher Weise, durch die Erzählung von Fabeln und Gleich-
nissen, in Witzen, mit Über- und Untertreibung. Auf dem
Theater kann die Wirklichkeit dargestellt werden in sach-
licher und in phantastischer Form. Die Schauspieler können
328 Zur Literatur und Kunst