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Philosophien neuer Musik

Article · January 2011

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Dieter Mersch
Zürcher Hochschule der Künste
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‚Philosophien’ neuer Musik
Dieter Mersch

Dialektiken Neuer Musik


Philosophieren heißt, Begriffe für etwas suchen, was sich dem Begrifflichen entzieht.1
Beziehen sie sich auf historische Umbrüche, kommen sie zudem systematisch zu spät. Das
gilt zumal für die Untersuchung der Künste und ihre Entwicklung. Philosophische
Reflexionen über das Schicksal Neuer Musik können daher kaum als theoretische
Bestimmungen der aktuellen Situation taugen, sondern müssen sich mit nachträglichem
Resümieren dessen begnügen, was ihre Vorgeschichte ist. Philosophie der neuen Musik
(1949) hatte entsprechend Theodor W. Adorno seine Überlegungen zum Stand der
musikalischen Avantgarden Jahrzehnte nach dem Einsatzpunkt der Wiener Schule genannt –
und „Philosophie“ in den Singular gesetzt. Der Text oszilliert zwischen Fortschritten und
Rückschritten avancierter Musik einzig am Beispiel Arnold Schönbergs und Igor Strawinskys
und polarisiert damit vorgreifend ein Geschehen, dessen eigentliche Dynamik noch
bevorstand und dessen Ausdifferenzierung kaum auf diese beiden Opponenten reduziert
werden können. Mit „Philosophien Neuer Musik“ – Philosophie als Plural verstanden – sei
demgegenüber eine Position bezogen, die den Weg nicht nur ein Stück weiter verfolgen will,
dabei bewusst in Kauf nehmend, dass es sich lediglich um einen schmalen Ausschnitt handeln
kann, der die gegenwärtige Lage notwendig verfehlen muss, sondern die auch die Striktheit
des Antagonismus, den Adorno postulierte, aufzubrechen sucht, um der Vielfalt der
Experimente, die seit Schönberg unter dem Titel „Neuer“ Musik firmieren, gerechter zu
werden. Die winzige Nuance des Signifikanten, die den Unterschied zwischen Singular und
Plural markiert, deutet demnach dreierlei an: Einmal eine Verbeugung vor dem Versuch
Adornos, das Schicksal des „Denkens“ Neuer Musik anhand exemplarischer Kontrahenten
auszuloten, zum anderen eine Kritik an der Einseitigkeit dieser Gegensetzung trotz ihres
paradigmatischen Zugs sowie zum Dritten ihre Überwindung in Richtung einer Dialektik von
Avantgarde und Postavantgarde.
Bekanntlich figurieren Schönberg und Strawinsky für Adorno als Paradigmen eines
Gegensatzes, woran sich Progression und Regression kompositorischer Verfahren Neuer
Musik bemessen lassen sollten, wobei der Platz der Innovation Schönberg zugesprochen
wurde, während Strawinsky sich als Reaktionär erwies – doch bilden beide gleichzeitig
Modelle einer Kritik, die durch ihre jeweiligen ästhetischen Praktiken hindurch weit eher dem
Zustand des Gesellschaftlichen galten. Unumwunden ergriff dabei Adorno Partei vor allem
für den „expressionistischen“ Schönberg der freien Atonalität, deren Dissonanzen von der
Dissoziation des Sozialen und dem Schicksal des Subjekts kündeten: Ihnen seien Momente
einer Unversöhnlichkeit inskribiert, die sich als Protokolle eines „unverklärte(n) Leid(s) des
Menschen“ lesen ließen,2 das Strawinsky tendenziell zu kitten und musikalisch durch
expressive Rhythmen zu überformen trachtete. Zwar ist Adorno bei seinen philosophischen
Bemühung um ein Verständnis Neuer Musik keineswegs bei dieser einfachen Kontradiktion
geblieben – man denke an den Rundfunkvortrag Vom Altern Neuer Musik von 1954 oder an
die späteren Aufsätze aus den Klangfiguren und Quasi una fantasia und besonders die
Kranichsteiner Vorlesung Vers une musique informelle, wo sich Adorno nicht allein mehr auf
die Wiener Schule beschränkte, sondern seine Kritik ebenfalls auf den Serialismus und die

1
Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt/M 1973, S. 19ff.
2
Vgl. ders., Philosophie neuer Musik, Frankfurt/M 1978, S. 44, 47, passim.
Aleatorik ausweitete und gleichzeitig das Bild Strawinskys zu differenzieren suchte –, doch
ist letztlich das argumentative Schema das Gleiche geblieben: Ablehnung der Struktur als
alleiniges kompositorisches Ordnungsprinzip sowie der Konstruiertheit der Form zugunsten
einer Freiheit des Klangs und seiner sinnlichen „Durchhörbarkeit“ im Namen undarstellbaren
Leids einerseits, welche die Linie der Atonalität im „Informell“ als deren designierten
Nachfolger präferierte, sowie gleichzeitig die Ablehnung des Neoklassizismus als reaktionäre
Kunstform, deren Telos zuletzt in der Versöhnung mit der beschädigten Welt und dem
Verzicht auf Kritik liege. Argwöhnisch beäugte Adorno alle Fehlläufe Neuer Musik: „Ja,
komponieren sie denn auch damit“, zitiert er Schönbergs Ausruf in Vers une musiques
informelle angesichts des Berichts, es werde nun allenthalben nach dem Zwölftonschema
gearbeitet.3 Exemplarisch betont das Zitat die Differenz zwischen abstrakter Ausrechnung der
Reihen und dem, was Adorno an anderer Stelle unter die Forderung einer
„Materialbeherrschung“ oder der „Durchorganisation“ der Klänge stellte und deren Kriterium
zuletzt das Gehör sei:4 „(E)s entfällt die Ausschließlichkeit des Hörideals aller Musik der
neueren Zeit, das Komponieren im Hören“,5 kritisiert der kurze Text über Tradition, der 1956
in Dissonanzen erschien – und 1961 setzte er hinzu, dass das, was im Gegenzug zu
herrschenden Tendenzen als „Musique informelle“ zu exponieren wäre, nur Bestand haben
könne, wo „das Ohr dem Material lebendig anhört, was daraus geworden ist“.6 Wo stattdessen
Musik als Technik verstanden werde und nicht zugleich als künstlerisches Konzept,
dissoziiere das Kompositorische vom Klanglichen und komme einem „Verlangen nach
Ordnung“ gleich:7 „Man darf die Zwölftonmusik nicht als eine ‚Kompositionstechnik’ (...)
missverstehen. Alle Versuche, sie als solche zu benutzen, führen ins Absurde“,8 heißt es
deshalb schon in der Philosophie der neuen Musik. Und die Rundfunkrede über das Altern der
Neuen Musik fügt hinzu: „(A)ufs Absurde bewegt man sich zu. Diese Stücke sind musikalisch
im strengen Verstande sinnlos, ihre Logik, ihr Aufbau und Zusammenhang weigert sich dem
lebendig hörenden Vollzug (...) Vergeblich die Hoffnung, es stelle sich durch
mathematisierende Manipulationen ein reines musikalisches Ansich her. (…) Verblendet
erhebt man ein vom Menschen Gemachtes zum Urphänomen und betet es an, der authentische
Fall des Fetischismus. (…) Es ist die Passion der Leere (...).“9
Dennoch erweist sich der Suchprozess der musikalischen Avantgarden jenseits der strengen
Kontradiktorik als weitaus komplexer, als es die Invektiven Adornos nahe legten: Serialismus
und Aleatorik, radikaler „Zu-Fall“ und Event, Minimalismus und die Wiederkehr tonaler
Formate, sowie „New Complexity“, Vermischung von High und Low oder die experimentelle
Derangierung der Materialität der Klänge passen nicht recht ins dichotome Muster von
Regression und Progression, geschweige denn, dass sie sich überall der Differenz von Form
und Aisthesis fügten. Darüber hinaus verkannte Adorno die innovative Kraft Strawinskys,
weil er unbewusst jene überlieferte Hierarchie des europäischen Musikdenkens fortschrieb,
wie sie sich im unangefochtenen Vorrang des Melos vor dem Rhythmos niederschlug, den

3
Ders., Vers une musique informelle, in Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I–III),
Frankfurt/M 2003, S. 493–540, hier: S. 506ff.
4
Ebenda, S. 537
5
Ders., Tradition, in: Dissonanzen, Göttingen 6. Aufl. 1982, S. 120-135, hier: S. 122.
6
Ders., Vers une musique informelle, a.a.O., S. 538 u. 537; auch: S. 540.
7
Ebenda, S. 498. Weiter heißt es auf S. 513: „Man sollte auch in der Musik einmal darüber nachdenken, warum
die Menschen, sobald sie wirklich ins Offene kommen, das Gefühl produzieren: da muss doch wieder Ordnung
her, anstatt aufzuatmen (...). Kaum eine künstlerische Bewegung, die nicht den Mechanismus des Oktroi geraten
wäre; auch die Entwicklung vom Fauvismus bis zum Neoklassizismus, Cocteaus Parole ‚L’ordre après de
désordre’ hat es bezeugt. In der ewigen Wiederkehr auf Schemata gerichteten Ordnungsbedürfnisse vermag ich
keine Bürgschaft von dessen Wahrheit zu sehen, eher ein Symptom perennierender Schwäche.“
8
Ders., Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 63 u. 63ff.
9
Ders., Das Altern der Neuen Musik, in: Dissonanzen, a.a.O., S. 136-159, hier: S. 149, 152.
Strawinsky vor allem im Sacre bewusst zu aufzulösen und umzukehren trachtete.10 Beide
bilden die maßgeblichen Prinzipien, die das musikalische Material seit der Antike
organisierten, und zwar so, dass das Melos, d.h. die Melodie und ihre Tonfolge, die
Bestimmung des Tonalen und die Gesetze der Harmonik den Raum des Musikalischen, der
ihn vom Lärm und bloßen Geräusch trennte, überhaupt erst definierte, wohingegen Rhythmus
und Metrik ihm lediglich beigeordnet wurden und seine Zeitlichkeit strukturierten.11 Die
Ordnung des Melos geht mithin der Zeit und ihrer Performanz voraus; sie determiniert das
Ästhetische, d.h. die musikalische Signifikanz sowie die kompositorische Gestalt und ihre
Wirkungen auf die Affekte des Hörens – während der Rhythmos den Körper betont, die den
Klang erst in Bewegung versetzt. Es ist aufschlussreich, dass Adornos Polemiken gegen
Strawinsky demselben Muster folgen, ohne es in Frage zu stellen: „(E)in Sinn aber lässt der
melodischen Modifikation nicht mehr sich anhören“, heißt es beispielsweise in der
Philosophie der neuen Musik: „So wird das spezifisch Melodische vom Rhythmus
entwertet.“12 Das Urteil mündet im Bescheid, Strawinsky sei im Grunde ein Archaiker und
der Sacre ein „Virtuosenstück der Regression“, dem sich der Klang leiblicher Abrichtung
abhören ließe.13 So geht der Denunziation Strawinskys eine Opposition zum Geistigen
konform, getreu jener Tradition, die Körperliches als ein Niederes verbannte und deren
ungebrochene Spuren sich von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Überlegungen zur Musik bis
zur Gegenwart weiterverfolgen lassen. Sie regiert die Geschichte des Musikdenkens und
seiner kompositorischen Praxis. Überall haftet die Musikphilosophie Adornos an deren
Maximen: dem Vorrang der Innerlichkeit, der vermittelten Darstellung und Formgebung, die
der Leidensform des Subjekts folgt; wohingegen der stets leiblich konnotierte, naturhafte
Rhythmus verfemt wird und ins Reich des Brustismus, der Aggression verdrängt wird, dessen
tendenzielle Gewalt allein durchs Melos als sublimierter Gestalt gebändigt würde.
Entsprechend klebt der musikalische Gedanke weiterhin am subjektiven Ausdruck, der an den
Ton als seinem Bedeutungsträger gebunden bleibt, selbst dort, wo der Verweis aufs
Subjektive sich allein noch negativ zu artikulieren vermag. „Subjektivierung und
Vergegenständlichung in der Musik sind das Gleiche“, lautet die Formel der Philosophie der
neuen Musik: „Das vollendet sich in der Zwölftontechnik.“14

Im Mahlstrom der Avantgarden


Den Gegensatz, den Adorno auf diese Weise entwirft, erweist sich indessen kaum als
tragfähig, jene spezifischen Innovationen der Avantgarden zwischen 1950 und den 1970er
und 80er Jahren bis zum Postavantgardismus zu analysieren, in deren Verlauf nahezu
sämtliche Prinzipien der ästhetischen und metaphysischen Überlieferung in Frage gestellt und
umgestürzt wurden – in den bildenden Künsten, dem Theater und der Philosophie nicht
weniger als in den Wissenschaften, den Literaturen, der Musik oder auch der Mathematik.
Den Sturz bedingt ein „Sprung“, eine rigorose Geste der Verwerfung, wie sie sich zuerst in
Futurismus und Dadaismus artikulierte und deren fortschreitende Radikalisierung alles in den
Sog ununterbrochener Selbstkritik ziehen sollte, was bis dahin als selbstverständliche

10
Vgl. dazu auch Dieter Mersch, Dissonante Wahrheit. Notizen zur Musikästhetik Adornos, in: Gerhard Gamm,
Eva Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk, Hamburg 2007, S. 317-344.
11
Vgl. ders., Maß und Differenz. Zum Verhältnis von Mélos und Rhythmós im europäischen Musikdenken, in:
Simone Mahrenholz, Patrick Primavesi (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten,
Schliengen 2005, S. 37-51.
12
Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 75, 76. Eine Fußnote erkennt in dieser Hinsicht sogar eine
„formale Analogie“ zwischen Schönbergscher Zwölfton-Konstruktion und Strawinskys rhythmischer
Kompositionsweise: Sie erstrecke sich auf den Rhythmus, „der bei Schönberg und Berg zuweilen gegenüber
dem intervallmäßig-melodischen Gehalt sich verselbständigt und die Rolle des Themas“ übernehme. Vgl.
ebenda, S. 143, Anm. 11.
13
Ebenda, S. 148, 137 u. 132 passim.
14
Ebenda, S. 151.
kulturelle Praxis galt, um sie von Grund auf neu zu bewerten. Von der Unausweichlichkeit
einer „Umwertung aller Werte“ hatte bereits Friedrich Nietzsche Ende des Neunzehnten
Jahrhunderts gesprochen – eine buchstäbliche Umwertung im Sinne einer „Inversion“, einer
„Um-Kehrung“ oder „Revolte“, um das, was einmal selbstverständlich war, die Differenzen
zwischen Kunst und Nicht-Kunst oder auch dem Ästhetischen und Anästhetischen auf den
Kopf zu stellen. Sie wurde, neben der diskursiven Reflexion der Philosophie, auf praktische
und am Material orientierte Weise von den Künsten selber vollzogen, um zuletzt in jene Zäsur
zu münden, die die kulturellen Strategien des Zwanzigsten Jahrhunderts bestimmten und die
die Frage ihrer Beschreibbarkeit sowie der Adäquanz der dabei zu verwendenden Kategorien
aufwarf.
Man hat den Bruch mit Blick auf die kompositorischen Techniken der Neuen Musik
insbesondere aus der Selbsterschöpfung der musikalischen Überlieferung und der
Notwendigkeit anderer Wahrnehmungsweisen herzuleiten versucht, was gewiss richtig ist und
sich auch hören lässt, verfolgt man die Entwicklungslinien vom Tristan-Akkord Richard
Wagners über Claude Debussy, Alexander Skriabin und Gustav Mahler bis zu Schönbergs
Verklärter Nacht; doch bleibt diese Perspektive lediglich auf eine innermusikalische Logik
beschränkt: Sie folgt der Struktur der Progression, die dem Gebot des Neuen gehorcht und
sich einer sukzessiven Dislozierung bestehender kompositorischer Prinzipien verdankt, ohne
freilich das dahinter liegende Bedürfnis nach einem Bruch, einem Willen zur Entfremdung
und Destabilisierung zu erklären, das die Transformation allererst plausibel macht. Als einer
der wenigen, die sich diesem Rätsel stellten, hatte Adorno die Unausweichlichkeit der Zäsur
wiederum aus dem gesellschaftlichen Elend des „liquidierten Subjekts“ und seiner Resistenz
gegen die „total verwaltete Welt“ und ihrem „Verblendungszusammenhang“ zu dechiffrieren
versucht, denn „(s)o wenig Musik, Kunst überhaupt, bar des subjektiven Moments gedacht
werden kann“, wie es etwa in Vers une musique informelle heiß, müsse sie sich
gleichermaßen „jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und damit allemal affirmativen
Subjektivität (…) entschlagen“, wie von dieser gleichwohl „die musikalische Zukunft“
abhinge: „Denn das Subjekt ist das einzige Moment von Nichtmechanischem, von Leben, das
in die Kunstwerke hineinragt; nirgends sonst finden sie, was sie zum lebendigen geleitet. So
wenig Musik dem Subjekt gleichen darf (...), sowenig darf sie ihm auch vollends nicht
gleichen (...).“15
Die Diagnose, so treffend sie auch erscheinen mag, privilegiert dennoch die alleinige Geltung
von Subjektivität als Seismograph sozialer Widersprüche sowie als unverlierbaren
Brennspiegel eines Widerstandes – und verkennt damit die Komplexität jener kulturellen
Konstellation, deren Paradoxien zu einem „anderen Anfang“ (Heidegger) in Ästhetik,
Philosophie, Wissenschaft und Politik hindrängten, ohne sich einer monokausalen Herleitung
zu erschließen. Auffallend ist nämlich, dass der Sturm buchstäblicher „Entrüstung“ in relativ
kurzer Zeit die Gesamtheit der kulturellen Situation ergriff und in einen Strudel anhaltender
Selbstreflexion riss, sodass von einer wechselseitigen Verflechtung der verschiedenen
kulturellen Felder auszugehen ist, die Zug um Zug das ganze Gefüge, seine Denkformen nicht
weniger wie seine praktischen Grundlagen oder seine Lebensformen ergriff. Es würde zu weit
führen, den Prozess im Einzelnen in allen seinen Details aufzurollen, weshalb ich mich
lediglich auf einige holzschnittartige Konturen beschränke, wie sie sich mit Bezug auf die
Dynamik Neue Musik rekonstruieren lassen. Die These ist, dass sie sich ähnlich wie in der
bildenden Kunst auf wenigstens drei maßgebliche Bestimmungen zurückführen lassen:
Destruktion, Reflexion und Paradoxalität.16 Denn das Ziel aller Avantgarden ist erstens die
restlose Verwerfung und Auflösung der klassischen ästhetischen Traditionen im Sinne einer
„Destruktion“ (Heidegger) oder „Dekonstruktion“ (Derrida), zweitens die

15
Ders., Vers uns musique informelle, a.a.O., S. 503 u. 527.
16
Dazu weiterführend Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen,
Frankfurt/M 2002, bes. S. 157-244.
Selbstthematisierung der Medialität des Ästhetischen, sodass wir es nicht mehr nur mit einer
Kunst oder Musik über etwas zu tun bekommen, einer künstlerischen Darstellung oder einem
musikalischen Ausdruck, sondern mit einer Kunst über Kunst, einer Musik über Musik.
Durchweg verfährt sie selbstbezüglich. Ihr Referenzpunkt ist darum weder ein Objekt noch
ein Sujet oder eine Stimmung, auch keine Figur oder ein Gefühl, wie es Adorno noch zu
postulieren schien, wenn er an der Unverzichtbarkeit des Subjekts festhielt, sondern das, was
Kunst allererst zu Kunst macht, was sie als solche definiert und von Nicht-Kunst
unterscheidet – oder, um es konkreter zu wenden, was die Bildlichkeit eines Bildes
konstituiert, was die Poetik der Sprache fügt oder was den Klang, seine Gestalt und Differenz
zu ungeformtem Geräusch leitet. Kein Element bleibt von dieser Befragung verschont: das
Material sowenig wie Rahmung, Linie oder Farbe in der Malerei, Satzbau, Gliederung oder
Stimme in der Literatur oder Ton, Rhythmus, Instrumentierung, Notation, Aufführungspraxis
oder kompositorische Regeln in der Musik, um nur einige zu nennen.
Entscheidend ist nun, dass sich alle diese verschiedenen Elemente in der Bestimmung des
Medialen treffen, denn was Kunst zu Kunst macht, was das Musikalische vom Nicht-
Musikalischen trennt, die „Differenzen, die Differenzen machen“, werden wiederum durch
Medien bereitgestellt, die hier weniger „etwas“ Bestimmtes bezeichnen, sondern
„Dispositive“ darstellen, die eine Praxis und deren Strukturen determinieren. Statt vom
Medium wäre deshalb treffender von „Medialität“ zu sprechen, welche als Gesamtheit des
Bedingungsgefüges von Praktiken, Eigenschaften oder Funktionen nirgends direkt zugänglich
ist, sondern sich in eine Undarstellbarkeit hält, um sich allein auf indirekte Weise in Gestalt
fortlaufender Interventionen oder Provokationen zu zeigen.17 Entsprechend bedeutet die
avantgardistische Destruktion, wie sich mit Martin Heideggers sagen lässt, eine „Versagung
von Tradition“, d.h. die Permanenz einer Negation ihrer Geschichtlichkeit.18 Notwendig gerät
sie zur Selbstreflexion ihrer eingeschriebenen Bedingungen – eine Reflexion, die wiederum
ohne Außen und mithin auch ohne Kriterium verfährt und von keinem anderen Ort her
geschehen kann als der Kunst, der Musik oder Literatur selber. Unweigerlich mündet sie
deshalb – als dem dritten Konstitutionsmerkmal der Avantgarden – in Paradoxien.
Negationen – oder auch Destruktionen –, geknüpft an Selbstreferenzen generieren notwendig
Kontradiktionen. Das Paradox ist deren Chiffre. Zugleich erweist es sich jedoch als
Verfahrensweise des Neuen. Paradoxien beschreiben nicht notwendig einen Mangel, eine
Sackgassen, vielmehr bergen sie ästhetische Methodologien produktiver Öffnung.19 Der
avantgardistische Prozess – analog des Hegelschen Wortes von der Philosophie als einer
„Arbeit in Begriffen“ – gleicht einer solchen „Arbeit im Aporetischen“.
Es liegt auf der Hand, dass alle drei Merkmale zusammengehören und sich gegenseitig
stützen: die Selbstreferenz verweist auf die Selbstbefragung des Ästhetischen als des
Ästhetischen im Sinne seiner Medialität wie umgekehrt die Infragestellung des Medialen zu
einem Bruch mit den Grundlagen ästhetischer Selbstverständnisse führt. Nicht der motivlose
Wille zum Anderen, zum Überraschenden oder einer „Überneuerung des Neuen“ in Gestalt
forcierter Innovativität bezeichnet daher den eigentlichen Motor der Moderne, sondern die
paradoxe Figuration einer Passage, die ihre ebenso unabgeschlossene wie unabschließbare
Suche nach einem „anderen Anfang“ verdankt, der unbekannt bleibt. Ohne die Fluchtlinien zu
kennen oder auch nur zu ahnen, wohin sie gelangen, gleicht der Prozess somit einem

17
Vgl. zum Ansatz einer „negativen Medientheorie“ vorläufig Dieter Mersch, Medialität und Undarstellbarkeit.
Einleitung in eine ‚negative’ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München
2004, S. 75-96 sowie ders., Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache, in:
Journal Phänomenologie, Jacques Derrida, Heft 23 (2005), S. 14-22.
18
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 12. Aufl. 1972, § 6, S. 19ff.
19
Vgl. dazu ders., Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität,
in: Günter Abel (Hg.): Hamburg 2006, S. 344-359, sowie ders., Medialität und Kreativität. Zur Frage der
künstlerischen Produktivität. In: Bernd Hüppauf, Christoph Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München
2006, S. 79-91.
weglosen Abenteuer, dessen Produktivität in der ebenso vorbildlosen wie besessenen, aber
auch vergeblichen Anstrengung einer Entwindung besteht. Genau darin treffen sich
Philosophie und Neue Musik, Denken und Hören: Sie bilden einen Diskurs- und
Praxiszusammenhang, der Komposition als Reflexion und Reflexion als Komposition sowie –
als Korrelat dieses Chiasmus – Hören als Denken und Denken als Hören inszeniert.
Zurückgeworfen auf die Problemstellung, im Medium des Musikalischen auf Musik als Musik
zu reflektieren, erweist sich so die Frageart schon als genuin philosophisch, ohne ihre
Herkunft im Begrifflichen zu finden noch auf Begriffliches zu führen, vielmehr operiert sie
allein im Sinnlichen, um auf eine ursprüngliche Durchdringung von Ästhetik und Philosophie
zu zielen. Das bedeutet freilich kein Denken über Musik im engeren Sinne – das haben
Komponisten seit je getan –, sondern eine Verhandlung musikalischer Formen im Rahmen
dieser Formen selber. Klar ist, dass eine solche Verhandlung wiederum nur im Kontext der
europäischen Kunstmusik vollzogen werden kann und auf sie bezogen bleiben muss, soweit
jeder Blick von außen sein eigenes Anderes inkludiert und Anleihen bei jenen Traditionen
macht, denen er zu entkommen sucht. Es gibt deshalb aus der Präferenz des Europäischen
kein Entrinnen, selbst dort nicht, wo sich Künstler wie John Cage, Walter Zimmermann oder
auch Steve Reich, Terry Riley und Philip Glass explizit anderen Kulturen zuwendeten, um aus
ihnen das zu schöpfen, was in den Ruinen der eigenen zurückgelassen oder untergegangen zu
sein scheint.20 Beharrlich weisen sie, wie in einem Spiegel, auf das Eigene zurück, um es zu
verwandeln oder neu zu besetzen. Gleichzeitig erweist sich darin die Rekonstruktion des
Ausgangspunktes, jener impliziten „Metaphysik“ des Musikalischen als unumgänglich, deren
Begründung und Bestimmung seine zweitausendjährige Geschichte konstituierte – von den
Ursprüngen seiner Mathematisierung über die Systeme des Tonalen, der Ausbildung von
Notationen bis zur Aufführungspraxis und deren institutionellen Regimen – und gegen deren
Disziplinarordnungen sich der Einspruch der Avantgarden wendete. Neue Musik ist deren, bis
an die Grenzen reichende Erforschung wie Auflösung.

Differenzsysteme des musikalischen ‚Dispositivs’


Versucht man indessen die Struktur dieses Disziplinarsystems im einzelnen aufzuschlüsseln,
sieht man sich mit einer Serie von Differenzen konfrontiert, die das, was Musik definiert und
von ihrem Anderen trennt, dadurch hervorbringt, dass sie ihr Ereignen einer Hierarchie von
Einteilungen unterwirft. Sie lassen sich bis in die antike Musiktheorie zurückverfolgen und
leiten die Lehren europäischer Kunstmusik bis zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als
erstes gehört dazu die seit Platon verbürgte Duplizität von Melos und Rhythmos mit ihrer bis
zur Spätromantik unangefochtenen Hegemonie des Tonalen, und zwar ungeachtet ihrer
historischen Variabilität. Natürlich komponierten Carlo Gesualdo und Johann Sebastian Bach
auf der Schwelle des tonalen Systems, wie es gleichermaßen die Kammerstücke Ludwig van
Beethovens oder die Sinfonien Gustav Malers bis an seine Grenzen ausreizten, doch bestätigt
hier noch die Überschreitung, was sie punktuell sprengt. Das rhythmische Element, das ihm
eingeschrieben bleibt, folgt dieser Operation, sodass die Performanz des Musikalischen
gleichwie seine Struktur derselben Doppelstruktur gehorcht, die den Rhythmus als bloß
nachträglich gegenüber dem Ton und seiner Gliederung setzt. Privilegiert wird so überall die
Gestalt, die Artikulation, wie sich seit je das Ästhetische und seine disziplinären
Unterscheidungen aus dem Form-Prinzip herleitete. Am Entschiedendsten hat jedoch
vielleicht der Serialismus seine immanente Strukturalität auszubuchstabieren und in seine

20
Bei Carl Gustav Jung heißt es dazu kritisch: „Das aufgeklärte Bewußtsein (…) sucht in aller Stille anderswo,
was in Europa verlorenging. Man forscht nach den wirkenden Bildern, den Anschauungsformen, welche die
Beunruhigung von Herz und Sinn befriedigen, und findet die Schätze des Ostens. (…) Weit besser schiene es
mir, sich entschlossen zur geistigen Armut der Symbollosigkeit zu bekennen, anstatt sich ein Besitztum
vorzutäuschen, dessen legitime Erben wir auf keinen Fall sind.“ Ders., Über die Archetypen des kollektiven
Unbewußten, in: ders., Bewusstes und Unbewußtes, Frankfurt/M 1983, S. 11-53, hier: S. 22.
konstitutiven Elemente zu zerlegen versucht, indem er das Musikalische überhaupt als
diskrete Ordnung von Zeichen auffasste. Entsprechend wurde es analytisch aus einer
vierdimensionalen Matrix von Tonhöhe, Metrik, Dynamik und Klangfarbe lesbar, der später
noch der Parameter des Raumes hinzuaddiert wurde.21
Jedes musikalische Ereignis entspringt dieser Manifestation, und Komponieren heißt, ihre
Anordnung je und je zu entfalten oder modular auszuspielen. Wir haben es folglich mit einer
dem Strukturalismus in der Linguistik analogen Operation zu tun, und wie dieser die
grundlegende Differenzialität sprachlicher Signifikanz zu rekonstruieren suchte, indem er sie
auf ein System von Oppositionen zurückführte, das selbst ohne Signifikanz blieb, erkannte
der Serialismus im musikalischen Ereignis gleichfalls ein Regime von selbst „gleich-gültigen“
Markierungen, das den Klang erzeugte. Doch gleicht es, wo es zur kompositorischen Regel
avancierte, einer Maschine, die sowohl Adornos Kritik einer Reduktion von Musik auf
Mathematik provozierte,22 als auch Claude Levy-Strauss’ parallele Intervention, dass „nur auf
ideologische Weise (…) das System mit einer Sprache verglichen werden kann“: „Eine
Sprache, deren Gelenke man zerbrochen hat, tendiert unweigerlich dahin, sich aufzulösen
(…).“23 Wie immer man allerdings das serielle Unternehmen beurteilen mag – unübersehbar
fußt es auf der Voraussetzung einer durchgängigen Semiotisierung des musikalischen
Materials, der die unausgesprochene Utopie unterliegt, seine Semiose gleichzeitig
beherrschen wie konstruieren zu können. Freilich wird dabei lediglich das sanktioniert, was
sich in der europäischen Musikgeschichte als kanonisch herausgebildet hatte, wobei
theoretisch an die Schönbergsche Kompositionslehre angeschlossen wurde, die neben der
gleichberechtigten Anordnung der Tonhöhen als weiteres Grundprinzip vor allem die
„Klangfarbe“ vorsah. Wo jedoch von einer Semiose ausgegangen wird, wird unterstellt, dass
es Zeichen gibt, die sich identifizieren, unterscheiden und bearbeiten lassen, wird mithin das
Musikalische als Signifikation aufgefasst, dem selbst noch eine ganze Klasse von
Differenzierungen und damit auch ein „Ereignis von Differenz“ (différance) vorausgegangen
sein muss, dem sie gehorcht und woraus sie entstanden ist.
Über diesen Schematismus des Serialismus hinaus sei darum im Folgenden ein alternativer
Vorschlag gemacht, der weit eher für die mediale Praxis von Musik zutrifft und auf jenen
Prozess reflektiert, der die differenzielle Ordnung der überlieferten musikalischen Ontologie
allererst begründet. Verschoben wird auf diese Weise die Blickrichtung von den konstitutiven
Elementen des Musikalischen zu seinen wesentlichen Unterscheidungen. Die Umstellung
impliziert zugleich einen Perspektivwechsel von den semiotischen Grundlagen des
Komponierens zur techné und seiner eigentlichen Medialität. Dabei ergibt sich über die für
die europäische Kunstmusik maßgebliche Differenz von Melos und Rhythmos ein weiteres
dreigliedriges Differenzsystem, das dieses flankiert und den Raum des Melos noch einmal
untergliedert: erstens Unterschied zwischen Klang und Stille, zweitens Unterschied zwischen
Ton und Geräusch, sowie drittens Unterscheidung zwischen (mindestens) zwei Tönen.24 Sie
entsprechen zugleich den Differenzsystemen europäischer Metaphysik: erstens Primat des
Seienden vor dem Nicht-Seienden, zweitens Bevorzugung des Bestimmt-Seienden gegenüber
einem Unbestimmten, sowie drittens Trennung und Auszeichnung eines Bestimmt-Seienden

21
Vgl. zur Geschichte und zum Selbstverständnis des Serialismus insb. Hermann Danuser, Die Musik des 20.
Jahrhunderts, Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd.7, Köln 2. Aufl. 1992, S. 299ff.
22
Dazu etwa Adorno, Das Altern der Neuen Musik, a.a.O., S. 137, 155, 152, 149, 154f. passim.
23
Claude Levy-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M 1971, S. 44 passim. Weiter heißt es, ganz
ähnlich wie bei Adorno: „Es könnte sein, dass die serielle Musik zu einem Universum gehört, in dem die Musik
den Hörer nicht auf ihre Bahn mitzieht, sondern sich von ihm entfernen würde. Vergeblich würde er sich
bemühen, sie einzuholen: jeden Tag käme sie ihm ferner und unerreichbarer vor.“ S. 45. Demgegenüber hat
Umberto Eco die „offene Form“ privilegiert und den Serialismus als „Potentialität“ dargestellt, die erlaube, die
musikalischen Zeichensysteme neu zu ordnen. Vgl. ders., Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M 1977, S. 260ff.
24
Vgl. dazu näher Dieter Mersch, Stille als Ereignis. Zur Ortschaft des musikalischen Geschehens (im
Erscheinen).
gegenüber einem anderen Bestimmt-Seienden gemäß des Prinzips der Negation. Wir sind
folglich mit einer absteigenden Linie von Allgemeinheiten konfrontiert, die sich aus den
Distinktionen zwischen Sein und Nichts, Bestimmtes und Unbestimmtes sowie Etwas und
etwas anderes zusammensetzen. Im ersten Fall wird eine Existenz (quod) behauptet, im
zweiten die Bestimmbarkeit dessen, was überhaupt ist (quid), im dritten Falle seine
Unterscheidbarkeit von einem anderem, was zugleich seine Auswahl und Identifizierbarkeit
sichert. Unterscheidung, Bestimmung und Identifizierung nennen die klassischen
Grundoperationen des Denkens im Rahmen europäischer Philosophie. Sie gehören auf
ursprüngliche Weise zusammen: Jede Unterscheidung impliziert eine Bestimmung, wie jede
Bestimmung eine Unterscheidung voraussetzt, wobei die Form der
Unterscheidung/Bestimmung die Grenze markiert, die im Unbegrenzten durch eine
Verneinung gezogen wird und die Identität dessen garantiert, was überhaupt Gegenstand eines
Wissens oder einer ästhetischen Erfahrung sein kann.
Es ist aufschlussreich, dass die beiden Differenzsysteme einander zugeordnet sind und sowohl
das diskursive Fundament der Wissenschaften als auch das ästhetische der Musik definieren.
Ihnen ist zugleich ein Stufenbau eingewoben, der den Klang vor der Stille und den Ton vor
dem Geräusch auszeichnet wie er gleichzeitig das Spiel der Töne einer Ökonomie unterwirft,
die erlaubt, es den Regeln klassischer Musiklehren zu unterwerfen. Dabei dienen die beiden
ersten Unterscheidungsformen der Bestimmung des Musikalischen überhaupt in Differenz zu
Stille und Geräusch, während letztere die verschiedenen musikalischen Gestalten
hervorbringt, wie sie durch die komplexen Systeme der Harmonik, der Mikro- oder Makro-
Tonalität usw. determiniert werden. Nicht nur bestimmen sie die besondere „Ontologie“ des
Musikalischen, das, was Musik ausmacht, sondern ebenfalls ihre spezifische Ästhetizität, das,
wodurch sie sich vom ungestalteten außermusikalischen Lärm abhebt. Hinzu kommt eine
Anzahl mehr oder weniger ausformulierter Kriterien der Aisthesis, die die Erfahrung des
Klangs regulieren und in Kategorien der Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Materialität und
Performanz einteilen, die für die Verteilung der Töne, Geräusche und Stillen sowie ihrer
Metrik, Präsenz und Körperlichkeit verantwortlich sind. Ihnen folgen Techniken der Notation,
der Instrumentierung und Spielweise, die gleichermaßen ihre Produktion wie Reproduktion
konditionieren. Wir betreten auf diese Weise einen komplexen Kreis von Praktiken, die
zusammen mit den Prinzipien der Wiederholung und Modulation, der Partitur und
Sprachähnlichkeit usw. das repräsentieren, was das „Dispositiv“ der europäischen
„Kunstmusik“ bezeichnet und das, wie die Rhetorik in der Sprache, dazu zwingt, einem
gegebenen Material klangliche Gestalten abzugewinnen.
Tatsächlich lassen sich mit Hilfe dieser Differenzsysteme in wenigen Strichen sämtliche
Fassetten des klassischen Musikdenkens und seiner Ästhetik skizzieren, wie sie, wenn nicht
für die gesamte Geschichte Europas, so doch für die Periode zwischen Frührenaissance und
Spätromantik gelten. Sie definiert den Kern dessen, was sich – wiederum mit Bezug auf das
europäische Idiom – als die besondere „Medialität des Musikalischen“ rekonstruieren lässt,
wie sie von den Avantgarden auf immer neue Weise aufgebrochen, verworfen und in einen
Prozess ununterbrochener Revoltierung versetzt worden sind. Fast alle Experimente Neuer
Musik lassen sich direkt oder indirekt darauf beziehen, selbst die, die sich den Tendenzen des
Avantgardismus auf explizite Weise zu widersetzen oder sie zu revidieren trachteten – die
strukturelle Kompositionsweise Pierre Boulez nicht weniger wie die Oratorien Carl Orffs, der
Minimalismus La Monte Youngs genauso wie die opulenten Opern Karlheinz Stockhausens,
die Messen Avo Pärts ebenso wie die mathematischen Reihen Iannis Xenakis oder die
Clusterformen György Ligetis. Sie folgen keiner inneren Dialektik von Progression oder
Regression, sondern jede auf ihre Weise einer Destruktion bzw. Dekonstruktion des
musikalischen Mediums, welche sich entlang der Differenzsysteme von Melos und Rhythmos
bzw. Ton und Geräusch und Klang und Stille usw. ergeben: Die Entstehung kompositorischer
Ordnungen aus Überlagerungen oder Zufällen, die Auslotung mikrodifferenzieller Strukturen
aus den kleinsten noch hörbaren Unterschieden zwischen zwei Tönen, die Konfrontation
unterschiedlicher Resonanzräume oder die Analyse körperlicher Effekte auf Entstehung und
Interpretation von Klängen, die Befreiung der Töne von ihren Obertonreihen, um ihren reinen
Sinuswert zu entkleiden, die Entgrenzung von Techniken der Instrumentation bis an den Rand
ihrer Artikulationsfähigkeit oder die Undarstellbarkeit des Musikalischen durch die
Singularität seines Ereignens und vieles mehr.
Die angeführten Beispiele enthüllen dabei nur einen schmalen Ausschnitt des Möglichen,
doch dokumentieren sie zugleich, dass die „Logik“ der Entwicklung weder der
Erfindungsgabe des Komponisten noch der Rezeptionsfähigkeit der Hörer zuzuschreiben ist,
sondern dem Bruch mit der „Ontologie“ des Musikalischen und seiner impliziten ästhetischen
wie medialen Struktur. Deren Umsturz kulminiert vor allem im Siegeszug der Aleatorik, ihrer
Hinwendung an den „Zu-Fall“ und die Außerordentlichkeit des sowenig notierbaren wie
reproduzierbaren Augenblicks, wie sie sich parallel zum Übergang von der Werk- zur
Ereignisästhetik in den bildenden Künsten und dem Happening der 1960er Jahre vollzog.25
Dazu gehört gleichzeitig die Entauratisierung des Künstlers als Autor durch jenes Ensemble
von Strategien und Praktiken, das ungeachtet aller intentionalen Gestaltung ein Geschehen in
die Welt setzt, woran Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen beteiligt sind, um aus
beiden, Komponisten wie Publikum, „Zu-Hörende“ oder „Zu-Schauende“ zu machen.26
Sprengte Schönberg lediglich die strenge Methodik des tonalen bzw. wohltemperierten
Schemas, wie es den Bezugspunkt einer nahezu 300- bis 400-jährigen Musikgeschichte
bildete, substituierte die serielle Logik die schöpferische intentio des Subjekts als Ortschaft
kompositorischer Kreativität durch die anonyme Struktur, ersetzt sie die Aleatorik und
besonderes die Eventkunst John Cages noch einmal durch das Nichtkonstruierbare und
Unverfügbare. Der Schnitt zwischen Serialismus und Aleatorik erweist sich damit als epochal
und jenseits seiner restriktiven Bewertung durch die Musikphilosophie Adornos als die
entscheidende Zäsur Neuer Musik, weil sich zuletzt an ihm die Frage des „Dispositivs“ und
einer neuen musikalischen Ordnung entschied. Ihm korrespondiert die gegensätzliche
Verhandlung von Technik und „Techniklosigkeit“: dort der Automatismus der
Klangproduktion, dessen Konstruktionen sich einer widerständigen Rezeption oktroyierte,
hier die Freisetzung der Klänge an die unvoreingenommene Aufnahme durch das Ohr. Nicht
die Determination, sondern die Indetermination macht das eigentliche Hörerlebnis und mithin
auch die Wende zu jener Aisthesis aus, die die Schönbergsche Indifferenz der Töne zugunsten
dessen ablöste, was John Cage „Nothingness“ nannte und Daniel Charles später unter dem
Titel von Musik und Vergessen stellte.27

Ein Koordinatensystem avantgardistischer und postavantgardistischer Praktiken


Das doppelte Differenzgefüge des musikalischen Dispositivs von Melos und Rhythmos
einerseits sowie von Stille und Klang, Ton und Geräusch und Ton und Ton erlaubt eine
Neuvermessung der Geschichte Neuer Musik jenseits ihrer Schulbildungen und
Einzelbiographien. Folgt die inzwischen kanonisierte Rekonstruktion den Stationen von
Schönberg über Olivier Messiaen, Boulez und Stockhausen bis zu den Diversifizierungen des
postmodernen „Anything goes“, haben wir es durchgängig mit einer Institutionen-,28 Stil-29

25
Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Radikale Transformation der Kunst vom Werkhaften zum
Performativen, in: Kunst ohne Werk/Ästhetik ohne Absicht. Kunstforum International, Bd. 152, Hrg. v. Paolo
Bianchi (Okt. 2000), S. 94-103, ders., Vom Werk zum Ereignis. In: Ralf Elm (Hg.), Kunst im Abseits? Ein
interdisziplinärer Erkundungsgang zur Stellung der Kunst heute. Bochum 2004, S. 11-32.
26
Vgl. dazu und im folgenden bes. Daniel Charles, Zeitspielräume, Berlin 1989.
27
John Cage, Lecture on Nothing, in: Silence. Lectures & Writings, London 1980, S. 109-127; Daniel Charles,
Musik und Vergessen, Berlin 1984.
28 Vgl. etwa Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts, a.a.O.
29
Vgl. Hans Vogt, Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1982.
oder Werkkritik30 zu tun, die einer impliziten Teleologie gehorcht. Ihnen wäre eine schräg
gestellte Lektüre entgegenzusetzen, die von den Umbesetzungen der Differenzsysteme und
ihrer „tiefengrammatischen“ Struktur anstelle der Oberflächen kompositorischer Ideen
auszugehen. Daraus ergibt sich eine alternative Systematisierung, die sich unterhalb des
chronologischen Musikgeschehens schreibt, um gleich einer Karte die verschiedenen Wege,
Abbrüche, Schnittlinien oder Querverbindungen aufzuzeichnen, statt die vermeintlichen
Innovationen künstlerischer Erfindung zu feiern. Vier grundlegende Konstellationen lassen
sich daraus ablesen, denen wiederum eigene Zäsuren, „Sprünge“ und Winkelzüge angehören,
die zuletzt auf die Gegenwart und ihre eingetragenen Möglichkeiten vorweisen. Die erste
Konstellation kann dabei – noch ganz im Einklang mit der üblichen
Musikgeschichtsschreibung – durch den Bruch mit dem tonalen System durch Schönberg und
die Wiener Schule gekennzeichnet werden, die zweite Konstellation durch die Negation der
europäischen Kunstmusik im Ganzen, wie sie besonders die Aleatorik und das Minimal
besorgten, die dritte Konstellation durch die Auflösung dessen, was von Alters her als
„Sprachähnlichkeit“ der Musik galt und besonders durch die Regime der Schriftlichkeit
verkörpert war, um eine Rückkehr zur Aisthesis im Sinne der Opposition von Partitur und
Aufführung oder Struktur und Ereignis nahe zu legen. Schließlich ergibt sich als vierte
Konstellation die Diversifizierung der musikalischen Praxis im Übergang zu einer anderen
ästhetischen „Lebensform“, die mit der Egalisierung von High und Low einhergeht und jeden
Anspruch auf „Wahrheit“ oder Geltung zugunsten einer Pluralisierung von Strategien
aufgegeben hat, um sich nunmehr ebenso lokalen wie tentativen „Forschungsarbeiten“
hinzugeben.31 An Neuer Musik sind ihre Verfahrensweisen, ihre Effekte und Interventionen
relevant, die sich jeder strengen historischen Sukzession verweigern. Man kann daher sagen,
dass die vier aufgewiesenen Konstellationen gleichermaßen synchrone wie diachrone
Markierungen repräsentieren, die sich gleichwohl mit einzelnen Namen assoziieren lassen,
wobei es weniger auf Wegbereiter ankommt, als auf Knotenpunkte oder Paradigmen, denen
sich verwandte Problemstellungen oder Gegenwendungen entnehmen lassen.
So verbinden sich mit der ersten Konstellation vor allem die Namen Schönberg, Strawinsky,
Eric Satie und Pierre Scheffer, die entlang der angeführten Differenzlinien die maßgeblichen
künstlerischen Modelle formulierten. Ihr Ausgangspunkt bildete dabei immer noch das Werk
und seine ästhetische Form, worin sie singuläre Frakturen oder Fragmentierungen eintrugen,
und zwar so, dass ebenso sehr die Unterscheidungen zwischen Melos und Rhythmos als auch
zwischen Klang und Geräusch sowie deren immanenter tonalen Ordnung destabilisiert
wurden. Hierher gehört natürlich die freie Atonalität Schönbergs, die unter dem Siegel der
Emanzipation der gesamten Tonreihe und der Indifferenz von Harmonie und Disharmonie
rangiert und die, um sich zu realisieren und durchzusetzen, spezifischer Einschränkungen und
Regeln bedurfte, wie sie für die Dodekaphonie und dann vor allem für den seriellen
Konstruktivismus charakteristisch wurden. Hierher gehört ebenfalls Strawinskys
Polyrhythmik, die deshalb keinen Gegensatz zur Schönbergschen Zwölftonkomposition
bildete, weil sie eine parallele Destruktionsarbeit auf dem Terrain des Rhythmischen vornahm
und deren Geschichte sich über Messiaen und den Serialismus bis zur Einbeziehung
außereuropäischer Rhythmussysteme weiterverfolgen lässt. Beiden steht der Einbruch von
Lärm und des amorphen Geräuschs entgegen, wie er bereits bei Eric Satie, Charles Ives oder
Edgar Varèse zu finden ist und wie ihn später Pierre Scheffer programmatisch zu Stücken
„konkreter Komposition“ verarbeiten sollte, die dem objet trouvé und der konkreten Poesie
vergleichbar sind. Der Egalisierung der Töne korrespondiert damit eine Egalisierung von

30
H.H. Stuckenschmidt, Schöpfer der neuen Musik, Frankfurt/M 1974; Ulrich Dibelius, Moderne Musik, 2 Bde
München 3. Aufl. 1984 u. 1988.
31
Dieter Mersch, Michaela Ott (Hg.): Kunst und Wissenschaft, München 2007, bes. Einleitung, sowie ders.,
Medial Paradoxes. On Methods of Artistic Production. In: Claus-Steffen Mahnkopf (ed): Critical Composition
today, Hofheim 2006, S. 62-74
Klang und Geräusch, die bereits den Unterschied von Musik und Außermusikalischem
verwischte und deren Entdifferenzierung Cage in den 1950er Jahren noch dahingehend
radikalisierte, dass er mit Hilfe von „film phonographs“ ironisch „quartets for explosive
motor, wind, heartbeat, and landslide“ vorschlug: „Wherever we are, what we hear is mostly
noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating. (…) We
want to capture and control these sounds, to use them not as sound effects but as musical
instruments.”32 Darüber hinaus hat Satie, der gewöhnlich als Ausnahmeerscheinung behandelt
wird und quer zu den Hauptströmungen Neuer Musik steht, wie kein anderer auf die Logik
von Wiederholungen reflektiert. Was er durch exzessive Iteration zweier Notenzeilen von
Vexations (1893) oder seiner Musique d’ameublement (1920) aus Fragmenten von Stücken
von Ambroise Thomas und Camille Saint-Saëns bewirkte, entzog darum dem musikalischen
Prozess die Ideen des „Motivs“, der „Entwicklung“ und „Durchführung“, um jene „Wendung
von Aufmerksamkeit“ zu evozieren, wie sie später ebenfalls für Nam June Paiks
experimentelle Konzepte oder Cages Zufallsverfahren, wenn auch mit anderem Mitteln,
galten, um zuletzt in die „repetitive Musik“ und das elektronische Ambient Eingang zu finden.
Musik hat folglich keine Absicht mehr, nicht einmal die einer Stiftung einer ästhetischen
Erfahrung, was gleichermaßen ihren Anspruch auf Kunsthaftigkeit rigoros in Frage stellte.
Die zweite Konstellation erweiterte demgegenüber den Fokus der Kritik auf das Ganze
europäischer Kunstmusik und deren Medialität. Nicht die Techniken der Komposition wie das
tonale System, die Regel der Harmonik oder die Vorgaben des Sonatensatzes und ähnliches
standen zur Disposition, sondern die Differenz von Musik und Nicht-Musik überhaupt.
Bleiben die Reflexionsfiguren der ersten Konstellation auf die grundlegenden Melos-
Rhythmos- bzw. Ton-Ton- und Ton-Geräusch-Unterscheidungen beschränkt, die sich noch
innerhalb des metaphysischen wie ästhetischen Schemas von Musik bewegten, bedeutete der
Einbruch des Zufalls, wie ihn besonderes die Event- und Concept-Art Cages vom Dadaismus
her praktizierte, einen weit tieferen Einschnitt in die Systeme musikalischer Überlieferung.
Bereits 1913 durch Marcel Duchamp mit seinem Erratum Musical inauguriert und in den
1950er und 1960er Jahren durch den Einsatz von Losen, Würfeln, stochastischen Reihen oder
der Simulation des Unberechenbaren bei Cage, Boulez oder Iannis Xenakis und anderen
systematisiert, sprengte der Zufall zwischen Tyche und Automaton oder Bruch und Emergenz
nicht nur sämtliche Auffassungen von Kreativität und Erfindung, weil er die Rolle des
Künstlers als Schöpfer Neuer Musik radikal entwertete, vielmehr war der wesentliche Punkt
buchstäblich die Zulassung des „Nichtigen“ in Gestalt der „Gleich-Gültigkeit“ oder Leere der
Anwesenheit. Nichts ist dann mehr von spezifischer Bedeutung, während umgekehrt die
Domestikation des Kontingenten unter der Hegemonie des Seienden einem horror vacui
gleichkommt. Der Zufall besorgt dessen Vindizierung, weil er „Sein“ und „Nichts“ wie
ebenso „Ton“ und „Stille“ in den gleichen Rang hebt. „Curiously enough“, schreibt darum
Cage, „the twelve-tone system has no zero in it. (…) There is not enough of nothing in it.”33
Anders ausgedrückt: Wo der Zufall nicht nur Klänge, Töne oder Geräusche auswählt, sondern
über die Differenz von Klang und Stille entscheidet, wird aus Musik etwas anderes als sie je
war, geschieht sie vom Ort des Nichts her, wird Klang zur „Ereignung“.34 Der Einbruch des
Nichts im Gewand der Stille stellt damit die Absolutheit der Ordnung in Frage, wie sie im
Gestalt von Wahrheit und der schönen Form gleichermaßen Künste wie Wissenschaften
beherrschte, sodass die erhabene Gewaltsamkeit eines einzigen Schnitts genügte, um die
gesamte überkommene Philosophie und Ästhetik zu erschüttern. Die Geste korreliert jener
Rationalitäts- und Philosophiekritik, wie sie vor allem Heidegger formulierte, wenn er daran
erinnerte, dass die „Angst“ der Metaphysik die Angst vor „Nichts“ sei, weil Sein stets von
Etwas, mithin einem anderen Wirklichen, einer Transzendenz oder einem Grund her gedacht

32
Cage, Silence, a.a.O. p. 3.
33
Cage, Silence, a.a.O. p. 79.
34
Dieter Mersch, Ereignis und Aura, a.a.O., S. 278ff.
würde. Solange sich jedoch die Zeichen und ihre Gestaltungen in den Vordergrund drängen,
solange stets „Etwas“ regiert, solange erweist sich Nichts in der Tat als nichts, d.h. nicht
einmal als etwas Unbegriffliches oder Unbestimmtes, sondern allein als eine Lücke, ein Riss,
der der Betrachtung entgeht und woran die Formgebung der Künste gebricht. Bestimmung
gibt es immer nur von Etwas, wie die Gestalt stets „etwas“, sei es ein Material, visuelle oder
akustische Mittel, Instrumente oder Medien voraussetzt; sobald jedoch vom Nichts
ausgegangen wird und ihm der Vortritt erteilt wird, zeigt sich Sein als Ereignis. Entsprechend
erweist sich nicht länger die Ordnung der Töne, ihre rhythmische Gliederung oder ihre
Konstruiertheit im Sinne des Serialismus als maßgeblich, sondern einzig die Singularität des
Geschehens selber, seine nicht zu wiederholende Performanz oder „Zelebration“. Die
außerordentliche Bedeutung von Cage, seine überragende Stellung in der Geschichte der
Avantgarde, liegt hier: „Each moment is absolute, alive and significant“, heißt es in Silence,35
und weiter, in einem Gespräch mit Daniel Charles: „Anstatt über das ‚Spiel der Zeit’ zu
sprechen, würde ich es vorziehen zu sagen, daß das Ereignis zählt und daß, was geschieht, mit
einem Zelebrieren und nicht mit einem Spiel zu vergleichen ist. Nicht wir sind diejenigen, die
zelebrieren, sondern das, was geschieht, vollbringt die Zelebrierung. (...) Meine Musik besteht
im Grund darin, das erscheinen zu lassen, was Musik ist, noch bevor es überhaupt Musik gibt.
Was mich interessiert ist die Tatsache, daß die Dinge bereits sind.“36
Mit der dritten Konstellation kommt demgegenüber insoweit ein Anderes ins Spiel, als hier
der Zusammenhang von Musik und Bedeutung überhaupt thematisch wird. Weder kann sie
auf die beiden anderen Konstellationen zurückgeführt werden, noch geht sie über diese
hinaus, weil nunmehr die „Sprachähnlichkeit“ von Musik zur Debatte steht. In seinem
Fragment über Musik und Sprache hatte Adorno das schwierige Verhältnis in eine
dialektische Bewegung zu bringen versucht und dabei beide in eine unüberbrückbare
Spannung versetzt: „Musik ist sprachähnlich. (...) Aber Musik ist nicht Sprache. (...) Wer
Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie in die Irre.“ So erfülle sich „(i)hre
Sprachähnlichkeit (…), indem sie von der Sprache sich entfernt.“37 Gemeint ist: Musik und
Sprache differieren in dem, was an Sprache Mittel zur Kommunikation oder
Bedeutungsproduktion ist. Ihr Unterschied ist folglich ein Unterschied der Medialität. Er
verweist auf das, was an Musik unbenennbar oder unbegreiflich bleibt. Nicht nur verweigert
sie sich treffender Diskursivierung, wie die Vergeblichkeit der Musikkritik demonstriert,
vielmehr ist sie anderes als „Sagen“ – sie zeigt.38 Der Gegensatz deutet zugleich auf das, was
dem Ästhetischen stets zugewiesen wurde, aber seltsam uneingelöst blieb: sein Anspruch auf
Erkenntnis. Er kollidiert mit dem, was als das „Aisthetische“ der Erfahrung gelten kann.
Erkenntnis und Erfahrung, Wahrheitsanspruch und Aisthesis bilden Komplementaritäten, die
sich in der Haltung des Hörens selber abzeichnet und im Gegensatz von Aktivität und
Passivität spiegelt. Wo deshalb der musikalische Erkenntnisanspruch im Sinne einer Aussage,
einer auf Authentizität gerichteten Expression problematisch wird, handelt es sich um eine
Verschiebung zwischen Symbolisierung und Signifikanz einerseits und Wahrnehmung und
Materialität der Klänge andererseits, die nichts repräsentieren, sondern sind, um sich in ihrem
reinen Vollzug zu erschöpfen. So sehr daher der Serialismus als Höhepunkt der
Destruktionsarbeit am Tonalen den Zeichencharakter von Musik betonte und den
musikalischen Prozess semiotisierte, um aus ihr eine Matrix, ein mathematisches Konstrukt zu
gewinnen, so sehr zielt der Aspekt sinnlicher Wahrnehmung auf das schlichte Erscheinen und
seine Entgegennahme, indem die Instrumente, der Körper der Solisten wie auch die Praxis der
Aufführung bis an ihre Grenzen getrieben, zerdehnt, attackiert und aufgerieben werden. Wir

35
Cage Silence, a.a.O., p. 113.
36
Ders., Für die Vögel, Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 268 u. 286 passim.
37
Adorno, „Fragment über Musik und Sprache“, in: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I-III),
a.a.O., S. 251-256, hier: S. 251 u. 256.
38
Vgl. dazu Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002.
bekommen es folglich mit einer Opposition zwischen Struktur und Aufmerksamkeit zu tun,
wie sie in der klassischen Musiktheorie als Differenz zwischen Notationalität und Aufführung
oder Partitur und Performanz diskutiert und durch Adorno mit dem Etikett der
„Durchhörbarkeit“ versehen wurde. Dabei gilt das Notationale als Grund musikalischer
Signifikanz, wie überhaupt, was an Musik Sprache ist und dem Sinn gehört, einen latent
notationalen Charakter besitzt,39 wohingegen Aufmerksamkeit und Aisthesis dort gelingen,
wo die Bedeutung fehlt. Noch Cage hatte sich anfangs daran gehalten: Die Music of Changes
(1951) als eines der am akribischsten aufgezeichneten Stücke des Zwanzigsten Jahrhunderts
verdankt sich ihrem Präjudiz fürs Schriftliche wie umgekehrt die „Undurchhörbarkeit“ ihres
Konzepts ihren nicht zu tilgenden Mangel bezeichnet.40 Spätestens seit dem späten Cage oder
den improvisierten, aus dem Moment der Aufführung geborenen Stücken des Minimal hat
sich jedoch die musikalische Praxis ihrer notationalen Fesseln entledigt und die Regime der
Schriftlichkeit durch eine „Ästhetik des Performativen“ verabschiedet, um sich allein einer
ebenso spontanen wie materialen Arbeit des Klangs hinzugeben. Sie müssen sich anderer,
genauer: elektronischer Techniken der Reproduktion bedienen. Argumentierte daher Cage
einzig im Kontext philosophischer Grundlagen von Musik, um ihnen die Indifferenz zwischen
Musik und Nicht-Musik entgegenzuhalten, sind wir jetzt mit einer anderen Praxis sowie einer
anderen „Ökonomie der Rezeption“ konfrontiert, die anstelle der Leere die Fülle des
performativen Ereignisses setzt und für die nicht länger das Modell zählt, sondern seine
Verschwendung, seine sinnliche Intensität.41
Aus ihr folgt eine grundlegende Transformation nicht nur der musikalischen rezeption,
sondern auch ihrer Praxis, die jenseits der genannten drei Konstellationen eine vierte eröffnet.
Wir haben es mit dem zu tun, was sich vorläufig eine Verwandlung des „ästhetischen Ethos“
nennen ließe. Seine „Archäologie“ reicht erneut auf die explosive Lage der 1920er Jahre und
den Dadaismus zurück, vor allem aber auf jene von Adorno diagnostizierte „Verfransung der
Künste“,42 ihre gegenseitige Durchdringung und Hybridierung seit den 1960er Jahren, wie sie
bereits durch die Happening- und Fluxus-Bewegung praktiziert wurde, besonders aber durch
die Pop-Art und ihre Mischung von High und Low Culture. Für sie scheint es auf dem Terrain
der Neuen Musik nur wenig Entsprechungen zu geben, doch finden sich im Genaueren
zahlreiche Übertritte von der Komposition zur Aktionskunst, zu Concept-Art und Installation,
wie die Beispiele Nam June Paiks, John Cages oder La Monte Youngs zeigen. Darüber hinaus
ereignete sich schon früh eine Entdifferenzierung des musikalischen Materials, indem
klassische, zwölftönige, serielle oder aleatorische Elemente mit Jazz, Folklore oder popularen
Trivialmusiken gemischt wurden – erinnert sei an Satie, Strawinsky, Béla Bartok oder Dimitri

39
Vgl. dazu etwa Albrecht Wellmer, Das musikalische Kunstwerk, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.),
Falsche Gegensätze, Frankfurt/M 2002, S. 133-175, der auf diese Weise eine direkte Beziehung zwischen Musik
und Sprache postuliert.
40
Vgl. dazu auch die Kritik Steve Reichs an Cage: „Auch John Cage hat bestimmte Prozesse verwendet, und
gewiß hat er auch ihre Ergebnisse akzeptiert. Doch die Prozesse, die er verwendete, waren kompositorischer Art
und somit bei der Aufführung seiner Stücke nicht zu hören. Die Verwendung des I Ging oder die Ausnützung
gewisser Unregelmäßigkeiten auf der Oberfläche eines Blattes Papier sind Prozesse, die beim Anhören einer auf
diese Weise komponierten Musik nicht wahrnehmbar sind. Zwischen Kompositionsprozessen und erklingender
Musik besteht keine wahrnehmbare Verbindung, so wie auch in reihengebundener Musik die Reihe selbst selten
wahrnehmbar ist.“ Ders., Musik als gradueller Prozess, in: Amerikanische Musik, hg. v. Hermann Danuser,
Dietrich Kämper, Paul Terse, Laaber 1987, S. 288-290, hier: S. 289.
41
Es war vor allem Jean-François Lyotard, der diese Ästhetik der Intensität mit der Figur des Erhabenen
assoziierte und damit Kants Ästhetik wieder rehabilitierte. Nicht der Begriff des Erhabenen erweist sich dabei
jedoch als entscheidend, als vielmehr die Wendung vom „Was“ zum „Dass“, vgl. besonders ders., Das Erhabene
und die Avantgarde, in: Merkur 424 (1984), S. 151-164, ders., Der Augenblick, Newman, in: ders., Philosophie
und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 7-23, sowie mein eigener Versuch in Dieter
Mersch, Das Entgegenkommende und das Verspätete. Zwei Weisen, das Ereignis zu denken: Derrida und
Lyotard, in: Dietmar Köveker (Hg.), Im Widerstreit der Diskurse, Berlin 2004, S. 69-108.
42
Theodor W. Adorno, Die Kunst und die Künste, in: ders., Ohne Leitbild, Frankfurt/M 1967, S. 168-192.
Schostakowitsch, die noch auf der Ebene des Zitats, der sperrigen Integration operierten, dann
vor allem an die repetitive Musik Steve Reichs, Philip Glass’ oder Terry Rileys, die nicht nur
mit simplen Tonreihen und einfachen Harmonien arbeiteten, sondern zunehmend auch den
Gestus freier improvisatorischer Bühnenmusik adaptierten. Keineswegs handelte es sich dabei
um eine reaktionäre Revision, sondern um eine Rekonstitution und Transgression ubiquitärer
Musikpraktiken, dessen performative und nicht strukturellen Qualitäten zählten und die, wie
die zeitgenössischen Pop- und Rock-Musiken, erneut die rhythmischen und körperlichen
Aspekte der Produktion betonten, um vorrangig „Gebrauchsweisen“ zu erzeugen. Nicht
länger bestehen dann noch Ansprüche auf Absolutheit oder Reflexivität, wie sie für die
Avantgarden galten, vielmehr dominiert durchweg ein Pragmatismus der Anwendung, sei es
durch Verknüpfung mit Film, Theater und anderen medialen Formaten oder durch eine Politik
der Intervention, die, wie es Michel Foucault formulierte, vorrangig an Machtfragen
interessiert ist und ihren spezifischen Einfluss zu Beiträgen an „gesellschaftlichen Kämpfen“
netzen.43 Dazu gehören Postkolonialität und World Music ebenso wie die gegenläufigen
Tendenzen der Regionalisierung oder Okkasionalität, ohne auf deren Marktfähigkeit oder
Verbreitung zu achten. Neue Musik im Zeichen des Postavantgardismus diversifiziert in eine
unüberschaubare Variabilität, deren gemeinsames Kennzeichen vielleicht einzig die noch
Entwicklung und Erprobung von Strategien und Praktiken ist, die weniger selbstreferenziell
und negativ verfahren, als vielmehr auf Wirksamkeiten achten. Nicht die Destruktion steht im
Zentrum, sondern ein kontinuierlicher ästhetischer Forschungsprozess, der in Alternative zur
wissenschaftlichen Forschung tritt und seinen künstlerischen Eigensinn im Exemplarischen
entfaltet. Ihr Arbeitszusammenhang gleicht einem „Labor“, das andere Fragen aufwirft und
verfolgt als das wissenschaftliche, das gleichwohl nicht minder Kollektiv und experimentell
verfährt und dabei ebenso Liegengebliebenes wie Vergessenes, Verdrängtes oder
Ausgeschlossenes entdeckt. Was daher von einem anderen ästhetischen Ethos zeugt,
kulminiert in einer Praxis ohne Allgemeinheit, einer Obsessivität des Versuchs, einer Suche
ohne Resultat, deren Effekte schließlich entscheidend sind, nicht ihr Modell, ihr Dogma oder
ihre vorgelagerte „Theorie“.

Musik und Philosophie


Augenscheinlich unterhalten Musik und Philosophie keine einfache Beziehung. Doch ist
entscheidend, dass sich die musikalische Praxis selber als ein Denken verstehen lässt, das
nicht im Begrifflichen operiert, vielmehr einem Pluralismus des Experimentellen, des
Ausprobierens, des Irrtums oder der ästhetischen Reflexion gehorcht. Es gibt dabei nicht ein
Verfahren oder eine Philosophie neuer Musik, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher
Methodologien und Wege, die sich weit eher durch die konkreten Arbeitsweisen und
Praktiken erschließen als durch ihre vermeintlichen Absichten oder verborgenen
Bedeutungen. Entsprechend bedarf die Aufschlüsselung des Zusammenhangs von Musik und
Philosophie einer konsequenten Historisierung. Er enthüllt sich weniger im Diskurs über
Musik, ihrer Kommentierung, als vielmehr in jener Doppelfigur, die einerseits in den
theoretischen Grundlagen des Musikalischen, seinem Medium, seinen Niederschlag findet,
wie andererseits in dem, was man die eigentliche kompositorische „Frage“ nennen könnte,
ihre eingeschrieben Problematik. Sie weist in das Spezifische von Zeit. Dabei liegt das
Besondere Neuer Musik vor allem darin, dass beide „Denkformen“ in eins fallen, weil die
kompositorische Frage in die Grundlagen des Musikalischen, der Reflexion seiner Medialität
selber mündet. Sie erfolgt anhand jener Parameter, die die Musiktradition Europas ausgebildet
hat, um sie konsequent zu befragen, aufzulösen oder umzukehren. Nicht nur werden auf diese
Weise die musikalischen Disziplinarsysteme sowie das, was als Musikästhetik entstanden ist,
ihrer Grundlagen beraubt, sondern gleichermaßen in ihrem Innern ein „Anders“ installiert, das

43
Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin, 1978, S. 75ff.
Musik in etwas ganz anderes verwandelt: eine Provokation, ein unbegrenztes experimentelles
Terrain, ein reflexives Zerwürfnis. Entsprang der Bruch, die „avantgardistische Zäsur“ einer
kulturellen Situation, die, geworfen in einen nirgends zu heilenden Nihilismus, sich ihrer
eigenen medialen Form zuwenden musste, um im Eigenen ein Anderes zu entfalten, avanciert
das Paradox zur eigentlichen Grundgebärde, zum Ort ihrer Produktivität. In ihm kreuzen sich
Musik und Philosophie auf neue Weise. Denn wie der Prozess Neuer Musik jede Hoffnung
auf eine neue Verbindlichkeit oder „Klassizität“, wie sie noch zu Anfang des Zwanzigsten
Jahrhunderts ersehnt wurde, zerstiebt, erweist sich Interaktion dort am Eindringlichsten, wo
die unmöglichen Logiken ihrer Selbstreflexion sich einander berühren.

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