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30.05.21

Vorlesung
Grundlagen der
Inklusionspädagogik/
Sonderpädagogisches
Orientierungswissen
7. Sitzung
Montags 10:15 bis 11:45 Uhr (wöchentlich)
Veranstaltungsort/Raum: online via Zoom

Stellv. Prof. Dr. Steve R. Entrich


Professur für Inklusion und Organisationsentwicklung IOE, Universität Potsdam
Sprechzeiten: nach Vereinbarung (Raum: 2.24.2.69)
Kontakt: entrich@uni-potsdam.de
Block II:
Professionalisierung von Lehrkräften - Klassifikationssysteme,
Diagnostik, Praxisbeispiele und Konzepte zum Umgang mit
Heterogenität in der inklusiven Schule

2 Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE 30.05.21


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VL 7: Diversität der Lernenden (Teil 1)
Was ist „normal“, was nicht? Zur sonderpädagogischen
Klassifikation und Diagnostik

Inhalte
Ø Einführung in die Förderdiagnostik
Ø Vorstellung verschiedener diagnostischer Klassifikationssysteme
Ø Systemische Einbettung von SPF

Leitfragen
Ø Wie wird SPF klassifiziert und diagnostiziert?
v Was ist Förderdiagnostik?
v Welche Klassifikationssysteme gibt es?
Ø Wie müssen Verhaltensstörungen verstanden werden?
v Was impliziert Bonfenbrenners Theorie ökologischer Systeme?
v Was erklärt das Vulnerabilitäts-Stress-Modell?
Ø Was ergibt sich daraus für die Lehrpraxis?

GRUNDLAGENLITERATUR
v Textor, Annette (2015): Einführung in die Inklusionspädagogik. Kapitel 10:
Sonderpädagogische Förderung und Diagnostik. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt: 81-92.
v DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2019): ICD-
10-GM Version 2019 Kapitel V: Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99),
Entwicklungsstörungen (F80-F89).

3 Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Teil 1: Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Bronfenbrenners Theorie Unsere Umgebung


Chronosystem
der ökologischen Systeme Veränderungen über die Zeit beeinflusst jede Facette
unseres Lebens!
Makrosystem
Soziale und kulturelle Werte

Exosystem
Indirekte Umwelt

Mesosystem
Verbindungen

Mikrosystem
Direkte Umwelt Soziale Faktoren
bestimmen unsere
Kind
Denkweise,
(mit SPF?) Gefühle, Vorlieben
Was muss und Abneigungen.
Förderdiagnostik Quelle: Bronfenbrenner 1981.
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leisten? 4 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Das Individuum und seine Umwelt

Bronfenbrenners Theorie der ökologischen Systeme


Mikrosystem: Gruppen, die direkten Kontakt zum Kind haben
Ø Beeinflussung durch significant others, also v.a. Familie, Schulkameraden, Lehrer
Ø Einfluss vermischt sich, wird auch hinterfragt (Resilienzentwicklung möglich)
Mesosystem: Beziehungen zwischen den Gruppen des ersten Systems
Ø Bsp. Eltern-Lehrer-Beziehung
Exosystem: weitere Einflussfaktoren (indirekt)
Ø keine direkte Beziehung zum Kind
Ø Bsp. Unternehmen, in dem die Eltern des Kindes arbeiten
Makrosystem: kulturelle Elemente, die das Kind und seine Mitmenschen
betreffen (indirekt)
Ø Bspw. kulturelle Werte, vorherrschende Religion
Ø Makrosystem beeinflusst die Entwicklung des Kindes, weil es bestimmt, wie sich die
anderen Systeme ausdrücken
Chronosystem: derzeitige Lebensphase, in der sich die Person befindet
Ø Bsp. Auswirkung des Todes eines geliebten Menschen wirkt sich unterschiedlich auf
Menschen unterschiedlichen Alters aus

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Das Individuum und seine Umwelt

vs.
Struktur Person

Fremdbild
Diagnose

Identität

Kompetenz

Quelle: Knigge 2009.


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Allgemeine vs. Förderdiagnostik

Bedingungen für die Umsetzung von Inklusion:


Ø didaktische Integration individualisierter Curricula und
Ø förderdiagnostische Begründung dieser Curricula

Allgemeine Diagnostik:
Ø Analyse der Ausgangsbedingungen der SuS (bspw. Leistungsstand)
Ø Leistungsbeurteilung und Erstellen von Übergangsdiagnosen
v bspw. Schuleingangsdiagnostik für die Aufnahme in Grundschule, Empfehlung
für weiterführende Schule oder für Berufsorientierung

Förderdiagnostik:
Ø Ziel: Ausgangspunkt (Lernausgangslage) und Erfolgskontrolle (Lernziel) für die
individuelle Förderung bestimmen
Ø Förderdiagnostik findet im Unterricht praktisch ständig statt
Ø Inklusiver Unterricht (Bearbeitung individualisierter Lernziele):
v gute Förderdiagnostik & gute diagnostische Kompetenz der Regelschullehrkräfte
essentiell
Ø Unterteilt in:
v Eingangsdiagnostik
v Begleitdiagnostik
Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Eingangsdiagnostik
Ø Prüft die Art der Förderung für ein Kind
v Gibt es spezifische Problemlagen und wenn ja, warum?
v Relevante Förderziele?
v Form der Förderung?
Ø Durchführung bspw. in Form von relativ oberflächlichen Screening-Verfahren
v Bsp.: Bildung von Lerngruppen nach dem Prinzip der maximalen Heterogenität
nach systematischer Beobachtung
Ø Feststellung SPF: Kind-Umfeld-Analyse
v basiert auf Verhaltensbeobachtungen, problemzentrierten Gesprächen,
standardisierten Verfahren
v dient dazu, einen Überblick über Risiken und Ressourcen, die das jeweilige Kind
bzw. den jeweiligen Jugendlichen betreffen, zu ermöglichen
v Informationen von allen an der Förderung Beteiligten
v Lehrkräfte
v Kind
v Eltern
v Andere…. (außerhalb der Schule…)
v Eingangsdiagnose bildet Grundlage für Förderpläne, konkrete Teilziele im
Unterricht und beim außerunterrichtlichen Lernen und Methoden dafür
v Ergebnisse der Eingangsdiagnostik fließen in den Unterricht ein

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Begleitdiagnostik

Ø dient der fortlaufenden Evaluierung und Optimierung des


Förderprozesses

Ø informelle Verfahren:
v bspw. gezielte Beobachtungen
v Analyse von Arbeitsergebnissen der SuS
v Befragungen der SuS oder anderer am Förderprozess
beteiligter Personen

Ø formelle Verfahren:
v standardisierte Tests etc.

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Dilemma der diagnosebasierten Zuweisung von SPF

Diagnose

fundiert SPF ist reaktiv

Ø Problem: reaktive Vorgehensweise


v Probleme und Schwierigkeiten sind oft bereits relativ schwerwiegend, wenn ein
Verfahren zur Beantragung zusätzlicher Fördermöglichkeiten eingeleitet wird
Ø Wichtig: Lernentwicklung aller SuS im Blick behalten und ggf. frühzeitig eingreifen
Ø ABER:
v Lern- & Verhaltensschwierigkeiten häufig erst in der Schule sichtbar
v sog. Vorläuferfertigkeiten, welche für erfolgreichen Erwerb der Kulturtechniken
Lesen, Schreiben und Rechnen bereits im Vorschulalter ausgeprägt sein sollten,
bisher eher selten einer Diagnostik unterzogen

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Förderdiagnostik – ein „verhängnisvoller Mythos“?

Ø Kritik: Idee der Förderdiagnostik beruhe auf einem naturalistischen Fehlschluss


Ø aus diagnostischen Ist-Daten könnten keine Soll-Werte (=Förderziele &
Fördermethoden) abgelesen werden!
Ø erfolgreiches Fördern nur durch methodisch-didaktische Unterrichtskonzeptionen
mgl.
Ø diese beruhen auf anthropologischen Kernannahmen
(Schülerbildannahmen): beschreiben wie SuS sind & sein sollten

Ø Förderdiagnostik muss um didaktische Konzepte ergänzt werden, die die


Zielsetzungen für die schulische Förderung enthalten

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Teil 2: Klassifikationssysteme der Diagnostik

Bronfenbrenners Theorie Unsere Umgebung


Chronosystem
der ökologischen Systeme Veränderungen über die Zeit beeinflusst jede Facette
unseres Lebens!
Makrosystem
Soziale und kulturelle Werte

Exosystem
Indirekte Umwelt

Mesosystem
Verbindungen

Mikrosystem
Direkte Umwelt Soziale Faktoren
bestimmen unsere
Kind
Denkweise,
(mit SPF?) Gefühle, Vorlieben
Welche und Abneigungen.
Klassifikationen
Quelle: Bronfenbrenner 1981.
gibt12es? 12 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme der Diagnostik

Klinisch-medizinisch

Unterstützend
kategorial
ICD
Schuladministrativ
ICF

DSM FSV dimensional

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICD

ICD (kategorial)
Internationale statistische
Klassifikation der Krankheiten und
verwandter Gesundheitsprobleme
(10. Revision, German
Modification, Version 2019)
Ø von WHO herausgegeben
Ø international weit anerkannt

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICD

ICD-10-GM Version 2019: Oberkategorien


Kapitel Gliederung Titel
I A00-B99 Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten
II C00-D48 Neubildungen
III D50-D90 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems
IV E00-E90 Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
V F00-F99 Psychische und Verhaltensstörungen
VI G00-G99 Krankheiten des Nervensystems
VII H00-H59 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
VIII H60-H95 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
IX I00-I99 Krankheiten des Kreislaufsystems
X J00-J99 Krankheiten des Atmungssystems
XI K00-K93 Krankheiten des Verdauungssystems
XII L00-L99 Krankheiten der Haut und der Unterhaut
XIII M00-M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
XIV N00-N99 Krankheiten des Urogenitalsystems
XV O00-O99 Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
XVI P00-P96 Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben
XVII Q00-Q99 Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien
XVIII R00-R99 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind
XIX S00-T98 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen
XX V01-Y84 Äußere Ursachen von Morbidität und Mortalität
XXI Z00-Z99 Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen
XXII U00-U99 Schlüsselnummern für besondere Zwecke
Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICD

ICD-10-GM Version 2019


Kapitel V: Psychische und Verhaltensstörungen
(F00-F99)
Dieses Kapitel gliedert sich in folgende Gruppen:
•F00-F09Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
•F10-F19Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
•F20-F29Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
•F30-F39Affektive Störungen
•F40-F48Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
•F50-F59Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
•F60-F69Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
•F70-F79Intelligenzstörung
•F80-F89Entwicklungsstörungen
•F90-F98Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
•F99-F99Nicht näher bezeichnete psychische Störungen

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICD

ICD-10-GM Version 2019


Kapitel XVII: Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und
Chromosomenanomalien
(Q00-Q99)
Dieses Kapitel gliedert sich in folgende Gruppen:
•Q00-Q07Angeborene Fehlbildungen des Nervensystems
•Q10-Q18Angeborene Fehlbildungen des Auges, des Ohres, des Gesichtes und des Halses
•Q20-Q28Angeborene Fehlbildungen des Kreislaufsystems
•Q30-Q34Angeborene Fehlbildungen des Atmungssystems
•Q35-Q37Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte
•Q38-Q45Sonstige angeborene Fehlbildungen des Verdauungssystems
•Q50-Q56Angeborene Fehlbildungen der Genitalorgane
•Q60-Q64Angeborene Fehlbildungen des Harnsystems
•Q65-Q79Angeborene Fehlbildungen und Deformitäten des Muskel-Skelett-Systems
•Q80-Q89Sonstige angeborene Fehlbildungen
•Q90-Q99Chromosomenanomalien, anderenorts nicht klassifiziert

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: DSM

DSM (kategorial)
Diagnostischer und Statistischer
Leitfaden Psychischer Störungen
(5. Auflage)
Ø steht in Konkurrenz zu ICD-10 (Kapital V)
Ø Klassifikationssystem für die USA
Ø enthält teilweise genauere diagnostische
Kriterien
Ø nur auf psychische Störungen begrenzt
Ø berücksichtigt auch geschlechtsspezifische
Unterschiede

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: DSM

DSM-5, Oberkategorien:
•Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung
•Schizophrenie-Spektrum und andere psychotische Störungen
•Bipolare und verwandte Störungen
•Depressive Störungen
•Angststörungen
•Zwangsstörungen und verwandte Störungen
•Trauma-und belastungsbezogene Störungen
•Dissoziative Störungen
•Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen
•Fütter- und Essstörungen
•Ausscheidungsstörungen
•Schlaf-Wach-Störungen
•Sexuelle Funktionsstörungen
•Geschlechtsdysphorie
•Disruptive, Impulskontroll-und Sozialverhaltensstörungen
•Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen
•Neurokognitive Störungen
•Persönlichkeitsstörungen
•Paraphile Störungen
•Andere psychische Störungen
•Medikamenteninduzierte Bewegungsstörungen
•Andere klinisch relevante Probleme
Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICF

ICF (dimensional)
Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit (Stand Oktober 2005)
Ø von WHO herausgegeben
Ø klassifiziert die Folgen von Krankheiten in
Bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten
und Teilhabe

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


Quelle: https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icf/ 20 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: ICF

ICF: Das bio-psycho-soziale Modell

Ø Der Einsatz der ICF ermöglicht die Berücksichtigung von Eigenschaften der Person und der Umwelt
in Interaktion zu betrachten
Ø Im Zentrum steht der Grad von Funktion bzw. Dysfunktion in relevanten Bereichen
Ø Gründe für dysfunktionale Ergebnisse werden nicht als in der Person durch eine Behinderung
verursacht begriffen, d.h. nicht primär defizitorientiert:
Ø klassifiziert eher "Komponenten von Gesundheit" als "Folgen von Krankheit"(neutraler
Blickwinkel):
Ø Körperfunktionen,
Ø Körperstrukturen,
Ø Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie
Ø Umweltfaktoren
Ø Behinderung entsteht durch fehlende Passung von Person und Umwelt, kann daher auf alle
Menschen bezogen werden, nicht nur auf Menschen mit Behinderungen (Universalität)
Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
Quelle: https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icf/ 21 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: FSV

FSV (dimensional)
Feststellungsverfahren des Sonderpädagogischen Förderbedarfs

Förderschwerpunkte (KMK)
1. Der Förderschwerpunkt Lernen beschreibt einen allgemeinen Förderbedarf im Bereich des schulischen
Lernens und des Leistungsverhaltens
2. Der Förderschwerpunkt Sprache beschreibt den Förderbedarf bei Sprachbeeinträchtigungen (Sprachverstehen
und/oder Sprachverwendung, z.B Sprachentwicklungsstörungen oder Stottern)
3. Der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung beschreibt den Förderbedarf im Bereich der
Selbststeuerung, des Erlebens, des Verhaltens und der emotionalen und der sozialen Entwicklung. (z.B.
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität)
4. Der Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation beschreibt den Förderbedarf bei Hörschädigungen
(Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit)
5. Der Förderschwerpunkt Sehen beschreibt den Förderbedarf bei Sehschädigungen (z.B. bei Blindheit)
6. Der Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beschreibt den Förderbedarf bei geistiger Behinderung (z.B.
bei Trisomie 21)
7. Der Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung beschreibt den Förderbedarf bei
erheblichen Beeinträchtigungen der Bewegung und bei Körperbehinderung (z.B. bei Cerebralparese; aber
auch bei Asthma oder kindlichem Rheuma)
8. Der Förderschwerpunkt langandauernde Erkrankung beschreibt den besonderen Förderbedarf bei
langandauernden und progredienten Erkrankung (z.B. Krebs)
9. Hinzu kommen Empfehlungen zum Unterricht von Kindern mit autistischem Verhalten
Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
Quelle: Textor 2015.
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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: FSV

FSV
Feststellungsverfahren des SPF im Land
Brandenburg

Förderschwerpunkte (ähnlich KMK):


Ø Lernen
Ø emotionale und soziale Entwicklung
Ø Sprache
Ø körperliche und motorische
Entwicklung
Ø Sehen
Ø Hören
Ø geistige Entwicklung
Ø autistisches Verhalten

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: FSV

FSV
Feststellungsverfahren des SPF im Land
Brandenburg

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme: FSV

FSV
Feststellungsverfahren des SPF im Land
Brandenburg

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Klassifikationssysteme der Diagnostik

Dimensionale Diagnostiksysteme

Ø Keine Ja-Nein-Diagnosen

Ø Einschätzung/Messung der Ausprägung von Merkmalen

Ø Vorteil: Näher an der Realität

Ø Vermeintlicher Nachteil: erlaubt ggf. weniger klare Urteile

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Teil 3: Diagnose Verhaltensstörung

Bronfenbrenners Theorie Unsere Umgebung


Chronosystem
der ökologischen Systeme Veränderungen über die Zeit beeinflusst jede Facette
unseres Lebens!
Makrosystem
Soziale und kulturelle Werte

Exosystem
Indirekte Umwelt

Mesosystem
Verbindungen

Mikrosystem
Direkte Umwelt Soziale Faktoren
bestimmen unsere
Kind
Denkweise,
(mit SPF?) Gefühle, Vorlieben
„Wir müssen das Kind und Abneigungen.
verstehen, bevor wir es
erziehen können.“ Quelle: Bronfenbrenner 1981.
27
(Moor 1965) 27 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Verhaltensstörungen: Systemischer Ansatz

Vor dem systemischen Ansatz… … und mit dem systemischen Ansatz:

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Verhaltensstörungen

Verhaltensstörungen: Definition (Myschker 2005; Hillenbrand 2008)

Eine Verhaltensstörung…
v ist ein von zeit-und kulturspezifischen Erwartungen abweichendes, maladaptives
Verhalten;
v ist organisch und/oder milieureaktiv bedingt;
v beeinträchtigt wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des
Schweregrades, die Entwicklungs-, Lern –und Arbeitsfähigkeit sowie das
Interaktionsgeschehen mit der Umwelt;
v bedarf spezifischer pädagogisch-therapeutischer Hilfen, ohne die die Störung nicht
oder nur unzureichend überwunden werden kann

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Prävalenz von Verhaltensstörungen

Epidemiologie psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters: KiGGS (RKI


2018)

Im Kindes-und Jugendalter in westlichen Industriestaaten:


Ø 15 bis 22 % 6-Monats-Prävalenzrate
Ø ca. 5 % Punktprävalenz Behandlungsbedürftigkeit

Deutschland: KiGGS: „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in


Deutschland“ (2003-2017)

Welle 2 (2014-2017; 15.023 Teilnehmende)


Grundgesamtheit: Kinder und Jugendliche mit ständigem Wohnsitz in Deutschland
Stichprobenziehung: Einwohnermeldeamt Stichproben (167 Städte und Gemeinden)
Alter: 10 – 31 Jahre
Ergebnisse: 3-bis 17-jährige ca. 16,9 % psychisch auffällig
Ø Jungen ca. 19,2 %, Mädchen ca. 14,5 %
Ø Rückgang vor allem bei den Jungen gegenüber 2003-2006

Quelle: www.kiggsstudie.de 30 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Prävalenz von Verhaltensstörungen

Epidemiologie
psychischer
Störungen des
Kindes-und
Jugendalters:
KiGGS Welle 1
(2009-2012)
(RKI 2018)

Quelle: www.kiggsstudie.de 31 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Prävalenz von Verhaltensstörungen

Epidemiologie
psychischer
Störungen des
Kindes-und
Jugendalters:
KiGGS Welle 2
(2014-2019)
(RKI 2018)

Quelle: www.kiggsstudie.de 32 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Krankheitsmodelle & Kausalität

Medizinisch-klinisches vs. Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (Berking & Rief 2012)

Medizinisch-klinisches Krankheitsmodell
Ø geht von klaren somatischen Erkrankungen aus, die Symptome linear verursachen
Ø Kausalität ist eine metaphysische Idee – ein zweifelsfreier Nachweis von Ursachen ist im
engeren Sinne schwierig
Ø Ursprüngliche Ursachen, aufrechterhaltende Faktoren und therapeutische Ansatzpunkte
müssen nicht identisch sein

Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell
Ø geht von dynamisch-multifaktorieller Bedingtheit aus
Ø Probabilistische statt deterministische Theorien
Ø Diathese-Stress-Modell
Ø Vulnerabilitäten – können sozialisiert und/oder angeboren sein
Ø Paradigmen-Pluralismus

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell: Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Vulnerabilitäts-
Stress-Modell
(nomothetisch)
(Berking & Rief 2012)

Von Resilienz
kann gesprochen
werden, wenn
trotz nomo-
thetischer
Erwartung keine
Störung auftritt.

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Vulnerabilitäten

Risiko-und Schutzfaktoren I (Berking & Rief 2012)

Ø Genetische Prädisposition

Ø Prä-und perinatale Schädigungen

Ø Soziodemographie wie Geschlecht und Alter

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Vulnerabilitäten

Risiko-und Schutzfaktoren II (Berking & Rief 2012)

Ø Temperament/Persönlichkeit
v Neurotizismus
v Trait-Ängstlichkeit (relativ stabile interindividuelle Differenz in der Neigung,
Situationen als bedrohlich zu bewerten)
v Introversion
v Sensation-/Novelty-Seeking
v geringes Selbstwertgefühl
v Vermeidung aversiver innerer Erfahrungen, auch wenn dadurch Nachteile entstehen
(experiental avoidance/ behavioural inhibition–Bspl. Angstreduktion durch
Alkoholkonsum)
Ø Komorbidität (Begleiterkrankung) und vorangegangene Störungen

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Vulnerabilitäten

Risiko-und Schutzfaktoren III (Berking & Rief 2012)

Ø Kultur
v Unterschiede in Prävalenzraten einzelner Störungen in unterschiedlichen Kulturen mit
Vorsicht interpretieren, da ggf. durch Unterschiede in Erhebungsmethoden bzw.
Antwortverhalten bedingt

v ABER: kulturelle Unterschiede in Bezug auf Normen, Umgangsweisen, Denk-und


Verhaltensgewohnheiten, Bildungssysteme, Familienstrukturen, psychosoziale
Versorgungssysteme etc. können bei der Entstehung einer psychischen Störung eine
wichtige Rolle spielen

v Migranten haben ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko und schlechtere


psychotherapeutische Versorgung in Deutschland

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Vulnerabilitäten

Risiko-und Schutzfaktoren III (Berking & Rief 2012)

Ø Sozioökonomischer Status

Ø Elterliches Erziehungs-und Bindungsverhalten


v Gute Bindung geht oft einher mit „emotionalem Coaching“

Ø Einfluss von peers (Gleichaltrigen)

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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Auslöser

Auslöser (Berking & Rief 2012)

Ø Kritische Lebensereignisse

Ø Daily Hassles

Ø Interpersonale Verletzungen, Verluste und Konflikte

Ø Inkongruenz
v Auseinanderklaffen von Wünschen, Zielen und Bedürfnissen, Plänen und
Erwartungen einerseits und der Einschätzung des Status und
der Möglichkeiten andererseits
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Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Modifizierende Variablen

Moderatoren (Berking & Rief 2012)

Ø Coping (Stressbewältigung etc.)

Ø Problemlösekompetenz

Ø Soziale Kompetenz und soziale Unterstützung

Ø Motivationale Kompetenzen
v Disengagement from incentives/ Loslassen können, wenn etwas nicht geht

Ø Emotionale Kompetenz

Quelle: www.kiggsstudie.de 40 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Aufrechterhaltende Faktoren

Aufrechterhaltende Bedingungen (Berking & Rief 2012)

Ø Positive Rückkopplungsprozesse innerhalb der Störung

Ø Operante Faktoren (Faktoren, die verstärkenden Einfluss ausüben und somit


die Auftretenswahrscheinlichkeit für ein Verhalten erhöhen)

Ø Belastende Folgen der Störung

Ø Verfügbarkeit therapeutischer Angebote

Quelle: www.kiggsstudie.de 41 | 18
Was ist „normal“, was nicht? Sonderpädagogische Diagnostik
Fazit

Fazit:
Ø Unter Berücksichtigung aller Umweltfaktoren kann jedes
Verhalten normales Verhalten sein!

Ø Systemisch gesehen ist „jedes Verhalten kompetentes Verhalten“


(Ziemen 2018: 229)

v Es gilt, das nachvollziehbare und achtenswerte Ziel hinter dem


abweichenden Verhalten zu identifizieren!

v Welche Kompetenz zeigt sich da?

v Und wie kann das Individuum darin unterstützt werden, einen


mehr am Konsensteppich orientierten Weg zu etablieren, um nach
diesem nachvollziehbaren und achtenswerten Ziel zu streben?
Quelle: www.kiggsstudie.de 42 | 18
VL 8: Diversität der Lernenden (Teil 2)
Beeinträchtigungen in den Bereichen Sprechen - Hören - Sehen

Inhalte
Ø Beeinträchtigungen in den Förderschwerpunkten:
Ø Sprechen
Ø Hören
Ø Sehen

Leitfragen
Ø Wie äußern sich bestimmte Arten von Auffälligkeiten, Störungen und
Lernbeeinträchtigungen konkret?
Ø Was ergibt sich daraus für Ihre Lehrpraxis?

GRUNDLAGENLITERATUR
v DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2019):
ICD-10-GM Version 2019, verfügbar unter:
https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/

43 Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Literatur (Auswahl)

Ø Berking, Matthias & Winfried Rief (2012): Klinische Psychologie und


Psychotherapie. Springer-Lehrbuch.
Ø Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Oekologie der menschlichen Entwicklung.
Natuerliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ø DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
(2019): ICD-10-GM Version 2019, verfügbar unter:
https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/
Ø Hillenbrand, Clemens (2008): Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen.
4. Aufl., München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag (UTB).
Ø Knigge, Michel (2009): Hauptschüler als Bildungsverlierer? Münster: Waxmann.
Ø Moor, Paul (1965): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern: Huber.
Ø Textor, Annette (2015): Einführung in die Inklusionspädagogik. Kapitel 10:
Sonderpädagogische Förderung und Diagnostik. Bad Heilbrunn: Verlag Julius
Klinkhardt: 81-92.
Ø Ziemen, Kerstin (2018): Disability und Kompetenz. In: Sturm, Tanja & Wagner-Willi,
Monika (Hrsg.), Handbuch schulische Inklusion. Opladen: Verlag Barbara Budrich:
223-231. Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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