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Sakie SAKAMOTO
0. EINLEITUNG
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Beginnend mit den Studien von Reed, de Mendelssohn und Wißkirchen, wurde die ver-
wickelte Entstehungsgeschichte des Romans bereits umfangreich erforscht. (Terence J.
Reed: Thomas Mann. The Uses of Tradition. Oxford [Clarendon] 1974; Peter de Mendels-
sohn: Nachbemerkung des Herausgebers. In: Thomas Mann: Der Zauberberg. Hrsg. von
Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. [Fischer] 1981, S. 1007–1066; Hans Wißkirchen:
Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“. Bern
[Francke] 1986). Es besteht kein Zweifel daran, dass Thomas Mann angesichts des An-
bruchs eines katastrophischen Zeitalters eine Krise bezüglich seines künstlerischen Ver-
fahrens und seines Glaubens durchmachte und dass er darum auch das Konzept des Ro-
mans zu großen Teilen änderte. Aus Platzgründen erwähne ich hier nur, dass der Autor
im Sommer 1916 einen „thematische[n] Bestandteil“ seines damals zu einem Sechstel ge-
schriebenen Romans die „Sympathie mit dem Tode“ nannte (13.1, 461), dass er jedoch bei
der Wiederaufnahme des Schreibens nach dem Kriegsende die Struktur im Hinblick auf
sein abgewandeltes Thema „Todesromantik plus Lebensja“ modifizierte (TB, 14.9.1918).
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Johannes Odendahl: Literarisches Musizieren. Wege des Transfers von Musik in die Lite-
ratur bei Thomas Mann. Bielefeld (Aisthesis) 2008. Odendahls Studie erbrachte erstmals
eine endgültige Definition der Mann’schen Leitmotivik nach deren übermäßigem Ge-
brauch ohne klare Begriffsbestimmung in der ihr vorangehenden Forschungsgeschichte.
Odendahl geht davon aus, dass das Leitmotiv sowohl bei Wagner als auch bei Mann
grundsätzlich Zeichencharakter hat, und macht dann klar, dass es durch die wiederholte
Kontextierung eine werkimmanente bzw. werkspezifische, komplexe Bedeutsamkeit ge-
winnt. Darüber hinaus können manche Leitmotive miteinander Kombinationen eingehen.
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Sakie Sakamoto
dadurch, dass es wiederholt variiert auftaucht, auf einen ideellen Kontext ver-
weist.
Die obengenannten spezifischen Lautbeschreibungen in Der Zauberberg
gestalten, einschließlich der (zu-)hörenden Gebärde, ein kollektives Leitmotiv,
„das den gehörten Laut“, die Beschreibungen des vom Romanhelden vernom-
menen Lauts bzw. den thematischen Gedanken „Sympathie mit dem Tode“
versinnbildlicht. Dabei widerspricht es nicht dem Prinzip des Leitmotivs, dass
auch das Überwinden der dekadenten Disposition letztendlich dem gehörten
Laut zugeordnet wird, weil das Leitmotiv und der durch es bezeichnete Inhalt
wächst und wandelbar ist. Dieser Wachstumsprozess ist in der Grammophon-
Passage augenfällig, wo Thomas Mann den mediengeschichtlich innovativen
Wandel der Musikrezeption durch das Grammophon auf die Erweiterung des
Leitmotivinhalts anwendet.
Im Abschnitt ‚Fragwürdigstes‘ und in der Endpassage ist die eindeutige
Zuordnung des Geräuschs der Schallplatten-Endrille oder der Geschützdon-
ner auf dem Schlachtfeld problematisch, da sie dort wieder auf die Sympathie
mit dem Tod zu verweisen scheinen. Aus dem letzten Einsatz des Motivs fol-
gere ich, dass die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die in den letzten Passa-
gen immer stärker angedeutet wird, als Annullierung des menschlichen Ge-
sinnungskonflikts zwischen der Dekadenz und ihrer Überwindung interpre-
tiert werden kann. Für die Sterbenden auf dem Schlachtfeld sind Fragen nach
ihren ‚Ismen‘ nicht länger tauglich – weder der Quietismus, den Settembrini
verabscheut, noch der Aktivismus, den er statt dessen einfordert.
Schließlich sei noch bemerkt, dass die kommentierende Funktion des Leit-
motives nicht zu übersehen ist, da sie es dem Erzähler ermöglicht, ohne nar-
rativ detaillierte Erklärungen einen komplizierten ideellen Sinnzusammen-
hang anzudeuten. Thomas Mann, der bekannt „redselige“ Autor, beherrscht
also auch eine „stillschweigend“ andeutende Erzähltechnik.
Die Semantik des Lauts und von dessen Hören in Der Zauberberg stiftet durch
seinen wiederkehrenden Kontext mit todbringender Krankheit, fruchtloser
Liebe und stillstehender Vitalität einen Sinnzusammenhang. Die akustischen
Motive assoziieren keinesfalls immer direkt den Tod, aber kompositorisch, im
Obwohl die Beispiele aus dem Mann’schen Œuvre eher sparsam sind, ist die Beobachtung
dieser Kombinationsmöglichkeit für gehörte Laute zutreffend, weil die Lautbeschreibun-
gen als Bezeichnendes eine große Vielfalt besitzen und sie nur dadurch Zeichencharakter
gewinnen, dass sie beständig vom Romanhelden gehört werden und sich miteinander
koppeln.
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
dekadenten Grundton der Erzählstränge, tauchen sie häufig variiert auf. Ins-
besondere in den früh konzipierten und entworfenen Teilen lenken die unter-
schiedlichsten Laute die Aufmerksamkeit des naiven Romanhelden auf eine
verfallende Welt, entweder als Warnung oder als Lockung. Sie sind gleicher-
maßen Sirenen der „Sympathie mit dem Tode“.
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Sakie Sakamoto
[…] Mir war es [die Denkungsart der Leute da unten im Tieflande] eigent-
lich nie ganz natürlich, […] ich merke nachträglich, daß es mir immer auffal-
lend vorgekommen ist. Vielleicht hing es mit meiner unbewußten Neigung
zur Krankheit zusammen, daß es mir nicht natürlich war, – ich habe die alten
Stellen ja selbst gehört, und nun hat Behrens angeblich eine frische Kleinig-
keit bei mir gefunden. Es kam mir wohl überraschend, und doch habe ich
mich im Grunde nicht sehr darüber gewundert. Geradezu felsenfest habe
ich mich eigentlich nie gefühlt; und dann sind meine beiden Eltern so früh
gestorben, – ich bin von Kind auf Doppelwaise, wissen Sie …“
[…]
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Überhaupt sind Lungengeräusche schon zu Beginn der Erzählung kennzeichnend. Bei
Castorps Ankunft erklärt Joachim seinen eigenen Krankheitszustand: „Links oben, wo
früher Rasseln zu hören war, klingt es jetzt nur noch rauh“, „aber unten ist es noch sehr
rauh, und dann sind auch im zweiten Interkostalraum Geräusche.“ (5.1, 17)
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
„Sie wollen sagen,“ erläuterte er [Settembrini], „daß die frühe und wieder-
holte Berührung mit dem Tode eine Grundstimmung des Gemütes zeitigt,
die gegen die Härten und Kruditäten des unbedachten Weltlebens, sagen
wir: gegen seinen Zynismus reizbar und empfindlich macht.“ (5.1, 303f.)
Der Laut, den Hans Castorp „selbst gehört“ hat, erinnert ihn an seine „frühe
und wiederholte Berührung mit dem Tode“ und seine wesenhafte Entfrem-
dung vom „unbedachten Weltleben“. Und Settembrinis Warnung davor
macht dem Leser ironisch klar, wie stark nun dem Romanhelden „die Gefahr
verderblicher Fixierungen“ droht (5.1, 304ff.).
Noch ein anderes Motiv, das den Sinnzusammenhang des gehörten Lautes
vertieft, ist das Türenknallen von Madame Chauchat. In der ersten Hälfte des
Romans, d. h. in der Verführungsgeschichte, ist die Beziehung zwischen Hans
Castorp und Madame Chauchat eine Hauptachse und das Geräusch des Tü-
renzuwerfens signalisiert auf charakteristische Weise den Auftritt der Femme
fatale. Die Qualität des Lauts scheint zwar – ganz im Unterschied zu den Hus-
ten- und Lungengeräuschen – nicht unmittelbar an physische Krankheit und
Verderben zu erinnern, aber die nervenaufreibende, perverse und unfrucht-
bare Liebe, die der Laut versinnbildlicht, verweist gleichfalls auf eine geistige
Dekadenz.
Bei wiederholtem Hören des Geräuschs verwandelt sich Castorps Einstel-
lung zu Madame Chauchat von Abneigung zu Faszination. Die junge Russin
lässt eine Glastür des Speisesaals aus lässiger Gewohnheit zufallen. Das Ge-
räusch, „ein Schmettern und Klirren“ (5.1, 72), schockiert und ärgert beim ers-
ten Hören Hans Castorp, der solchen Lärm aufgrund seiner „Erziehung, viel-
leicht aus angeborener Idiosynkrasie“, hasst. Ihre schlechten Manieren sind
für den wohlerzogenen jungen Mann inakzeptabel, allerdings ist das Missfal-
len zugleich schon ein erstes Zeichen seines Interesses. Eine Woche später,
nachdem er die Missetäterin ermittelt hat, wartet er mit Erregung auf das Ge-
räusch, und dann ist er schließlich von der Frau so tief bezaubert, dass sich
sein Herz schmerzhaft zusammenkrampft, nur wenn die Glastüre klirrt (5.1,
312). Es ist nun für ihn eine süße masochistische Plage. Der Wandel seiner
Reaktion auf das Türenzuwerfen zeichnet nach, wie Hans Castorp schritt-
weise, aber doch ziemlich rasch, von seinen vertrauten Normen abweicht und
sich allmählich einer heimlichen und perversen Ausschweifung hingibt.
Die Verführer-Semantik entwickelt sich weiter, und durch die Identifikation
zwischen Madame Chauchat und Castorps ehemaligem Mitschüler Hippe,
dem homoerotischen Idol seiner Jugendzeit, verdoppelt sich ihr magischer und
schicksalhafter Sinnzusammenhang. Dabei wird der Romanheld nicht nur au-
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Sakie Sakamoto
1.3. Wassergeräusche
Das Wassergeräusch in der folgenden Szene weist darauf hin, dass selbst
die romantisch schöne Natur die Vitalität ihres Verehrers schwächt, und
erweitert darum den Sinnzusammenhang um eine weitere Facette. Hans
Castorp, der zu diesem Zeitpunkt noch ein gesunder Gast ist, hat „die
horizontale Lebensweise“ zu Heilzwecken im Sanatorium satt und macht
am ersten Sonntag ohne Begleitung einen längeren Spaziergang, um „dem
Bannkreise des ‚Berghofes‘ zu entkommen“ (5.1, 178). In einem Nadelwald
kommt er zu einem Bergwasser und ist überrascht von „einer intim ge-
schlossenen Landschaft von friedlich-großartiger Bildmäßigkeit“, aber
dann befällt ihn ein Nasenbluten:
Er überschritt den Steg und setzte sich [auf eine Ruhebank], um sich vom
Anblick des Wassersturzes, des treibenden Schaums unterhalten zu lassen,
dem idyllisch gesprächigen, einförmigen und doch innerlich abwechslungs-
vollen Geräusche zu lauschen; denn rauschendes Wasser liebte Hans Cas-
torp ebensosehr wie Musik, ja vielleicht noch mehr. Aber kaum hatte er sichs
bequem gemacht, als ein Nasenbluten ihn so plötzlich befiel, daß er seinen
Anzug nicht ganz vor Verunreinigung schützen konnte. Die Blutung war
heftig, hartnäckig […] So blieb er liegen als endlich das Blut versiegte – lag
still, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit hochgezogenen Knien, die
Augen geschlossen, die Ohren erfüllt vom Rauschen, nicht unwohl, eher
besänftigt vom reichlichen Aderlaß und in einem Zustande sonderbar her-
abgesetzter Lebenstätigkeit; denn wenn er ausgeatmet hatte, fühlte er lange
kein Bedürfnis, neue Luft einzuholen, sondern ließ mit stillgestelltem Leibe
ruhig sein Herz eine Reihe von Schlägen tun, bis er spät und träge wieder
einen oberflächlichen Atemzug aufnahm. (5.1, 182f.)
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
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In der Endphase der Erzählung, am Ende der Pepperkorn-Episode, wird ein weiteres be-
merkenswertes Wassergeräusch erwähnt: das Getöse eines Wasserfalls, auf dessen erha-
bene Wirkung und eschatologischen Sinnhintergrund ich hier aus Platzgründen leider
nicht eingehen kann.
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Sakie Sakamoto
2. MUSIK
Die Kontextierung des gehörten Lauts mit Musik ist nicht zu übersehen. Zu-
nächst wird in Der Zauberberg die Musik zwar zum Sinnbild der Dekadenz,
sofern sie den Romanhelden betäubt und ihn in einen Zustand lebensfremder
Ruhe versetzt. Aber im letzten Kapitel wird das Verhältnis Castorps zur Mu-
sik durch den Medienwechsel der zwanziger Jahre abgewandelt: Hans
Castorp wird vom zerstreuten passiven Hörer durch den Einsatz des Gram-
mophons zu einem aktiv selbst Musizierenden.
Hans Castorp, der Musik von Herzen liebte, da sie ganz ähnlich auf ihn
wirkte, wie sein Frühstücksporter, nämlich tief beruhigend, betäubend,
zum Dösen überredend, lauschte wohlgefällig, den Kopf auf die Seite ge-
neigt, mit offenem Munde und etwas geröteten Augen. (5.1, 62)
Die Musik beruhigt und betäubt ihn – ähnlich wie das Wasserrauschen seine
Ohren erfüllt, obwohl er hier kein Nasenbluten bekommt – beim zufälligen
5
Thomas Mann hat in einer Selbstaussage über die Leitmotivik erklärt, dass er in dieser für
Wagner typischen Technik nicht „eine bloß naturalistisch-charakterisierende, sozusagen
mechanische Weise“ sehe, sondern dass in seinen Erzählungen „in der symbolischen Art
der Musik“ (XI, 610), mittels Leitmotiven die „Scheinhaftigkeit der realistisch-objektiven
Kulissen- und ‚Masken’-Welt sowie der subjektiven Welt“ zusammengeführt werde (TM
Hb 1990, S. 827).
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
Hören von aus der Ferne erklingenden Konzerten aus einem benachbarten
Hotel und dem Sonntagskonzert, das alle vierzehn Tage im Sanatorium ver-
anstaltet wird. Die Musik wirkt als Rauschmittel wie der „Frühstücksporter“,
den er auf ärztlichen Ratschlag gewohnheitsmäßig als Blutbildungsmittel
trinkt und der seine Lebensgeister besänftigt und seine „Neigung, zu ‚dösen‘“
und „zu träumen“ unterstützt (5.1, 50). Darüber hinaus wird die dabei einge-
nommene Körperhaltung, „den Kopf auf die Seite geneigt, mit offenem
Munde“, an anderen Stellen unmittelbar in den Sinnzusammenhang der Sym-
pathie mit dem Tod gebracht, indem die Haltung leitmotivisch wiederholt
wird, wenn er in ehrfurchtsvoller Befindlichkeit einem „dunklen Laut der
Gruft und der Zeitverschüttung“ lauscht und die Toten und Sterbenden be-
sucht (5.1, 443 u. 487).6
Musik als Rauschmittel zu genießen, wird im Kapitel „Politisch verdäch-
tig!“ von Settembrini kritisiert und als Gegenteil geistiger Aktivität negativ
konnotiert. Bei seinem ersten Besuch eines Sonntagskonzerts ist Hans Castorp
„benommen vom Biere und von der Musik“ (5.1, 171). Dort kommt Settem-
brini vorbei und verwickelt die beiden Vettern in eine Diskussion über die
„teuflische Wirkung“ der Musik:
… Musik … sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverant-
wortliche, das Indifferente. Vermutlich werden Sie mir einwenden, daß sie
klar sein könne. Aber auch die Natur kann klar sein, auch ein Bächlein
kann klar sein, und was hilft uns das? Es ist nicht die wahre Klarheit, es ist
eine träumerische, nichtssagende und zu nichts verpflichtende Klarheit,
eine Klarheit ohne Konsequenzen, gefährlich deshalb, weil sie dazu ver-
führt, sich bei ihr zu beruhigen […] Die Musik ist scheinbar die Bewegung
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In der Erinnerung an das Taufschalen-Erlebnis erwähnt Hans Castorp die Erklärung des
Großvaters über seine Vorfahren aus seiner Kinderzeit: „Der Name des Vaters war da [auf
der Taufschale der Familie], der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und
dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe „Ur“ im Munde des
Erklärers [Lorenz Castorp], und der Junge [Hans Castorp] lauschte seitwärts geneigten
Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich festsehenden Augen
und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft
und der Zeitverschüttung, welcher dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusam-
menhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Leben und dem tief Versunkenen aus-
drückte und ganz eigentümlich auf ihn einwirkte: […]“ (5.1, 38).
Im Abschnitt „Totentanz“ des fünften Kapitels stattet Hans Castorp mehreren Patienten in
kritischem Zustand wie auch bereits verstorbenen Patienten Besuche ab, um ihnen „die
letzte Ehre zu erweisen“ (5.1, 443). Beim ersten Besuch steht Castorp „gelöst und versun-
ken, die Hände vor sich gekreuzt, den Kopf auf der Schulter, mit einer Miene, ähnlich
derjenigen, mit der er Musik zu hören pflegte“ (a. a. O.). Und am Ende der Besuchszere-
monie gehen die Vetter Hans und Joachim mit dem sterbenden Mädchen Karen Karstedt
auf einem Friedhof spazieren und finden einen noch freien Platz, wo sie in Kürze ihre
ewige Ruhe finden soll. Hans Castorp steht dort ebenfalls „gelöst, die Hände vor sich ge-
kreuzt, mit offenem Munde und schläfrigen Augen“ (5.1, 487).
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Sakie Sakamoto
selbst, – gleichwohl habe ich sie im Verdachte des Quietismus. Lassen Sie
mich die Sache auf die Spitze stellen: Ich hege eine politische Abneigung
gegen die Musik. (5.1, 173f.)
Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil
tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt ent-
gegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opi-
ate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Her-
ren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Un-
tätigkeit, knechtischen Stillstand … (5.1, 175)
7
Settembrinis Kritik an der Musik findet eine Parallele in einem Abschnitt aus Betrachtun-
gen eines Unpolitischen (1918). Indem Thomas Mann die beseelte deutsche Musik vertei-
digt, bezeichnet er das „Wort, (als) die Formulierung des Willens“, welche „das Leben
menschenwürdig“ mache, und beklagt die ‚barbarische‘ Wortlosigkeit Deutschlands.
Dementgegen stellt er fest, „das Verhältnis der Musik zur Humanität ist so bei weitem
lockerer, als das der Literatur, daß die musikalische Einstellung dem literarischen Tugend-
sinn mindestens als unzuverlässig, mindestens als verdächtig erscheint“ (13.1, 55f.). Trotz-
dem wird die Musik in diesem polemischen Werk als grundsätzlich widerstandswillig
definiert. Im Vergleich zu diesem Ansatz ist die Definition der Musik im Roman romanti-
scher und meditativer.
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Castorps Rezeption von Musik wirkt im Vergleich mit anderen Werken einigermaßen son-
derbar und merkwürdig vereinfacht. Bei dilettantisch musizierenden Figuren wie Hanno
und Gerda Buddenbrook, Tonio Kröger oder dem Icherzähler in Bajazzo ist die Musik
nicht nur das Symbol für eine betäubende Untätigkeit, sondern auch für einen raffinierten
Geist und eine kultivierte Intelligenz. In den vor dem Zauberberg entstandenen Werken
geht es bei der Musikrezeption genau um diese Verflochtenheit des körperlichen Nieder-
gangs und der geistigen Verfeinerung. Derlei findet sich hingegen bei Hans Castorp nur
in der ersten Hälfte des Romans, d. h. das Musikhören ist in seinem Fall darauf reduziert,
ein Dösen hervorzurufen. Jedoch bereitet diese Stelle den späteren Kontrast vor, der das
Motiv der Musik im letzten Kapitel geradezu mit dem gegenteiligen Sinn konnotiert.
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
Castorps Hörweise der Musik schlägt durch die im Berghof erlebte Medienre-
volution um. In der Episode ‚Fülle des Wohllauts‘ im siebten Kapitel hört er
im Gegensatz zu seiner früheren quietistischen Benommenheit sehr konzen-
triert Schallplatten. Ein Grammophon im neuesten Stil mit zwölf Schallplat-
tenalben und dem Markennamen „Polyhymnia“ ist die Novität des Hauptge-
sellschaftsraums.9 Schon bei seiner ersten Begegnung mit dem Grammophon
ist er sehr „gespannt“, „indes er nach gelegentlicher Gewohnheit mit zwei Fin-
gern an einer Augenbraue“ dreht (5.1, 968f.). Hans Castorp beansprucht dann
dessen Bedienung für sich allein, er sichtet und ordnet die Schallplatten und
sitzt bis tief in die Nacht allein vor dem laufenden Apparat. Bei seinen einsa-
men Konzerten lauscht er den Platten genau wie ein versierter Musikkritiker:
Diese Art von Verständnis und Wertschätzung zeigt Hans Castorp in der ers-
ten Zeit seines Aufenthalts nicht, dort lässt er Musik wie oben erwähnt noch
sehr naiv und passiv einfach ertönen. Im absoluten Gegensatz zum Dösen und
zum Dumpfsinn, zur Betäubung und zur Untätigkeit genießt er nun in einem
perfekten Wachzustand jedes der Stücke bis ins Detail.
Was Castorps Konzentration auf die Musik ermöglicht, ist das Grammo-
phon, das mehrfach die Hörweise von Musik revolutioniert hat: durch die
Möglichkeiten des Alleinhörens, des oftmals wiederholten Hörens und des
Hörens ohne störende äußere Elemente.10 Mediengeschichtlich betrachtet er-
9
Mann war seit 1920 mit dem Grammophon vertraut, darüber berichten Vaget und Mertens
mit Bezug auf diesen Abschnitt ausführlich. Vgl. Hans R. Vaget: Seelenzauber. Thomas
Mann und die Musik. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2006, S. 78–96; Volker Mertens: „Elektri-
sche Grammophonmusik“ im Zauberberg Thomas Manns. In: Dietrich von Engelhardt /
Hans Wißkirchen (Hrsg.): „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas
Manns Roman. Stuttgart/New York (Schattauer) 2003, S. 174–202.
10
Glenn Gould hat in seiner Abhandlung über den revolutionären Einfluss der Aufnahme-
technik auf die Spielweise und Interpretation von Musikstücken die Hörweise der Leute
vor einem Abspielgerät als „the private und concentrated circumstances“ bezeichnet.
Glenn Gould: The Prospects of Recording. In: Tim Page (Hrsg.): The Glenn Gould Reader.
New York (Knopf) 1984, S. 337.
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Sakie Sakamoto
Ohne durch äußerliche Charakteristika der Sänger oder andere visuelle oder
bühnenbildnerische Elemente abgelenkt zu werden, kann der Romanheld
nun die gehörte Stimme bis ins Detail untersuchen. Ein besonderer Vorteil des
Grammophons liegt darin, dass der Wandel der Hörweise durch das Abspiel-
gerät noch einen weiteren Kontext schafft, insofern das Hören der musikali-
schen Laute nun – besonders bei Hans Castorp – eine spezifische geistige Kon-
zentration und Aktivität hervorruft.
11
Mertens (Anm. 9), S. 186.
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
Das einzige Orchesterstück, Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, hat de-
kadent-sinnlichen Charakter, es stellt einen „ausgesucht kolorierten Klang-
zauber der Natur“ dar und evoziert „das Vergessen selbst, der selige Still-
stand“ bzw. „die wunschbildhafte Apotheose all und jeder Verneinung des
abendländischen Aktivitätskommandos“ (5.1, 980). So wird offensichtlich,
dass sich das am Ende des Romans eingeführte Schubert’sche Kunstlied „Der
Lindenbaum“ auf den Tod bezieht. Die Formel „Sympathie mit dem Tode“,
die der gesamte Roman thematisiert, taucht wörtlich erst hier auf (5.1, 988):
„Hinter diesem holden Produkte“ stehe „der Tod“. Ohne Zweifel stehen diese
Musikstücke im hier zu erörternden Sinnzusammenhang des gehörten Lauts,
aber ihr Gehalt wird in diesem Abschnitt neu begriffen als etwas zu Überwin-
dendes, ja sie orchestrieren geradezu den beginnenden Zweifel und deuten
den einsetzenden Sinneswandel des Helden an, der seine Sympathie mit dem
Tod in Frage zu stellen beginnt: Hans Castorp findet zu dem Entschluss, diese
Sympathie zu überwinden, was er bei der Interpretation des Lindenbaum-
Lieds am klarsten formuliert, nämlich die Erkenntnis, dass die Welt, der er
mittlerweile seine Liebe entgegenzubringen gelernt hat, den Tod mit ein-
schließt:
Wahrhaftig, der Literat Settembrini war nicht eben der Mann seines unbe-
dingten Vertrauens, aber er erinnerte sich einiger Belehrung, die der klare
Mentor ihm einst, vor Zeiten, am Anfang seiner hermetischen Laufbahn,
über „Rückneigung“, die geistige „Rückneigung“ in gewisse Welten hatte
zuteil werden lassen, und er fand es ratsam, diese Unterweisung mit Vor-
sicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. […] Es war eine Lebensfrucht,
vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele, – das
höchste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und geseg-
net von ihr, jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom
Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Or-
ganischen, und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem
Gewissensspruch. (5.1, 989)
Hans Castorp fasst den Entschluss, sein Kokettieren mit dem Tod zu beenden,
indem er sich an Settembrinis Belehrung erinnert, in der er seine politische
Abneigung gegen die Musik und ihr einschläferndes Potential, also den von
ihm sogenannten Quietismus, vertreten hatte. Castorp gelangt, angeleitet
durch diese Gedanken seines alten Mentors, zu einer positiven Haltung ge-
genüber menschlicher Tätigkeit. Die Veränderung seines Verhaltens spiegelt
sich in seiner dank des Grammophons gewonnenen neuen Sensibilität für mu-
sikalische Werke. Der Sinnzusammenhang des gehörten Lauts wird durch das
neue Sinnelement der aktiven Überwindung der Sympathie mit dem Tod er-
weitert.
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Sakie Sakamoto
Verwies der gehörte Laut anfangs durchgängig – wie von Settembrini kri-
tisiert – auf Betäubung, geistigen Stillstand, Ausschweifung, Verfall und Qui-
etismus, so kommt nun in der Grammophon-Passage das Motiv der Selbst-
überwindung hinzu. Den neuen Sinn ersieht man auch an Castorps neuem
Verhalten beim Musikhören, er versteht sich nicht mehr nur als bloßer Zuhö-
rer, sondern als „Spender“ von Musik (5.1, 972) und ahmt sogar den Dirigen-
ten nach (5.1, 974). Schon hier ist er kein quietistischer Hörer mehr.
Im Grunde genommen war das Grammophon in den ersten Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts mehr als ein bloßer Wiedergabeapparat, der für den mu-
sikalischen praktischen Gebrauch bereitgestellt wurde. Es war eher ein neues
Instrument. Man konnte mit seiner Hilfe musizieren wie Hans Castorp, indem
man eine geeignete Nadel für jede Platte entsprechend ihrer Gattung aus-
wählte. In diesem Sinne symbolisiert das Grammophon die Teilhabe des Hö-
rers am Musizieren.12 Zu beachten ist in dieser Musikpassage im Zauberberg,
dass die historische Authentizität verzerrt ist. Was in ‚Fülle des Wohllauts‘
geschildert ist, spielt vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1912,13 aber
zu dieser Zeit gab es noch gar kein hochleistungsfähiges Abspielgerät wie das
„Polyhymnia“, in welchem „[die] Wahrheit […] in unermüdlich fortbildenden
Versuchen einer musisch gerichteten Technik zur vornehmsten Vollendung“
gebracht worden war (5.1, 964).
Auch entstehungsgeschichtlich betrachtet hatte Thomas Mann das Gram-
mophon erst 1920 zur Kenntnis genommen. Die Gründe bleiben ungeklärt, wa-
rum der Autor es in Kauf nahm, die historische Authentizität zu verzerren, doch
sein Verfahren ist ein Indiz dafür, dass er nach der persönlichen Krise, die die
Kriegserfahrung für ihn bedeutete, Gegenströmungen zum Ursprungsmotiv
„Sympathie mit dem Tode“ in den Entwurf des Romans einzubringen ver-
suchte. Der Wille zur Überwindung der Dekadenz, der sich schon im Abschnitt
‚Schnee‘ bemerkbar macht, taucht in der variierten Form von „alchimistisch ge-
steigerte[n] Gedanken“ beim veränderten Hören von Musik auf:
Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Überwin-
dung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort der
Liebe, das er noch nicht zu sprechen wußte. Es war so wert, dafür zu sterben,
12
Vgl. Mertens (Anm. 9), S. 177: „Nicht der ‚objektive‘ Klang, wie zur Hi-Fi-Zeit, war das Ziel,
sondern ein ‚schöner‘, subjektiv gefärbter Klang wie der eines Instruments. Er konnte von der
Person, die den Spieler bediente, durch die Wahl der für die Platte geeignetsten Nadel aus
etwa einem Dutzend möglicher, bei manchen Apparaten auch durch die unterschiedliche
Öffnung zweier Türen, einer vor hölzernem, einer vor metallenem Trichter, erheblich beein-
flusst werden. Mit dem akustischen Grammophon ließ sich, wie Thomas Mann es in Der
Zauberberg und in den Tagebüchern nennt, tatsächlich in gewissem Sinn ‚musizieren‘, es war
mehr als ein nur mechanisches Abspielen, da es gewisse Gestaltungsmöglichkeiten gab.“
13
Vaget (Anm. 9), S. 80; Mertens (ebd.), S. 174f.
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
das Zauberlied! Aber wer dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr
dafür und war ein Held nur, weil er im Grunde schon für das Neue starb, das
neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen – – (5.1, 990)
Mit dieser kryptischen Andeutung findet dieser Abschnitt ohne weitere Erklä-
rungen zu einer abschließenden Synthese.
14
Die Totenbeschwörungspassage basiert auf einem Erlebnis Thomas Manns, das auch in
Okkulte Erlebnisse (1924) geschildert wird. Bei seinem wirklichen Erlebnis wurde jedoch
kein Grammophon benutzt, sondern nur eine Spieldose und eine Handharmonika, die auf
Verlangen des Mediums Musik machten.
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Sakie Sakamoto
den Romanabschnitt ‚Fülle des Wohllauts‘ erwähnt. Die Figur des Valentin
bezeichnet Hans Castorp als „jemand Erz-Sympathisches“ und identifiziert
sie mit seinem Vetter (5.1, 984). Daher empfiehlt er bei der misslingenden
Geisterbeschwörung das Stück, und seltsamerweise wird im Zimmer auch ge-
nau diese Platte gefunden, obwohl niemand sie vorsätzlich zu diesem Abend
mitgebracht hat. Das Vorhaben gelingt, und so schafft Elly es endlich, den
Geist des Verstorbenen zu beschwören:
Die Platte war abgelaufen, der letzte Bläserakkord verklungen. Aber nie-
mand stoppte den Apparat. Leer kratzend in der Stille lief die Nadel inmit-
ten der Scheibe weiter. Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine
Augen gingen, ohne suchen zu müssen, den richtigen Weg.
Es war einer mehr im Zimmer, als vordem. Dort […] saß Joachim. (5.1, 1032)
Kaum nötig zu betonen, dass das Grammophon und die passende Schallplatte
bei der rätselhaften spiritistischen Beschwörung von Nutzen sind und sich
insofern auf das Generalthema „Sympathie mit dem Tode“ beziehen.
Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Musik selbst, sondern auch das „[l]eer
kratzend[e]“ Geräusch hier zum Leitmotiv des gehörten Lauts zu zählen ist. Das
kratzende Geräusch dient dem Autor dazu, auf effektive Weise den schaudern-
den Stillstand der Teilnehmer bei der Materialisation des Geistes des Verstorbe-
nen darzustellen. Der leere Laut wird nach der ausführlichen Beschreibung von
Joachims Erscheinung wiederholt erwähnt: „Sonst war nichts zu vernehmen,
als das unaufhörliche wetzende Geräusch der abgelaufenen, unter der Nadel
weiter rotierenden Platte, die niemand stoppte.“ (5.1, 1033)
Dieses kratzende Geräusch scheint jedoch auf einen Widerspruch im Text
zu verweisen, insofern das Grammophon, wie in ‚Fülle des Wohllauts‘ erklärt
worden war, normalerweise die Wiedergabe selbsttätig beendet, wenn das
letzte Stück verklungen ist. („Dann schnappte das Drehwerk selbsttätig ein.“
[5.1, 967]) Dieses Detail ist vielleicht zu trivial, als dass der Erzähler einen
Grund für das rätselhafte Nicht-Funktionieren des Automatismus angeben
müsste. Man kann jedoch vermuten, dass hier eine bestimmte technische Op-
tion der Grammophone der zwanziger Jahre im Spiel ist, denn damals musste
man vor jeder Wiedergabe den Stopper per Hand einstellen, wenn man
wollte, dass sich das Gerät am Ende einer Tonwiedergabe selbst abschaltet. So
lässt sich dann auch vom Standpunkt erzählerischer Kohärenz aus akzeptie-
ren, dass der Tscheche Wenzel, der das Grammophon nur in der Séance be-
dient, den Stopper nicht eingestellt hatte.15 Unter dieser Voraussetzung kann
15
In einer Reklame eines Grammophonherstellers aus den zwanziger Jahren wird folgen-
dermaßen geworben: „Kein Aufziehen, selbsttätiges Ausschalten. Gleichmässiger ge-
räuschloser Gang“. (Mertens [Anm. 9], S. 177) In einem Gespräch mit einem Grammo-
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„Quietismus“ und „Aktivismus“
man sagen, dass die ganze Situation insofern sehr realistisch geschildert ist,
als Wenzel im Halbdunkel des Séancenzimmers wohl nicht erkannt haben
dürfte, wie man den Stopper einstellt, um die Platte zum Stillstand zu bringen,
wenn der Endpunkt der Rille erreicht ist. Menschen sind manchmal nachläs-
sig bei der Bedienung von Maschinen und Geräten. Das kratzende Geräusch
des Grammophons ist ein Symbol für die Inaktivität des Nicht-Stoppens bzw.
den geistigen Stillstand der Menschen, die sich im Dunkel dem „Verwesungs-
prozeß moralischer Skepsis“ (5.1, 1011) hingeben. Insofern ist es passend, dass
Hans Castorp am Ende dieses Abschnitts das Weißlicht einschaltet, denn das
Licht ist bekanntlich eine Metapher der Vernunft und es bildet zum Sinnzu-
sammenhang des gehörten Lauts einen deutlichen Kontrast (5.1, 1033). Cas-
torps Geste versinnbildlicht die Rückkehr in die Welt, wo sich die „klaren und
humanen Gedanken“ wieder einstellen.
Als Joachim, begleitet von diesem Geräusch, bei der Séance als Geist erscheint,
trägt er „kein[en] richtige[n] Waffenrock“, sondern die Uniform eines Solda-
ten aus dem Ersten Weltkrieg (5.1, 1033). Diese anachronistische Vorweg-
nahme entfaltet sich gleichfalls im Sinnzusammenhang des gehörten Lauts.
Genau erscheint Joachim den Okkultisten nicht während der anfeuernden
Arie „Valentin“, sondern in dem Moment, als das Geräusch der leeren Endrille
erklingt. Dadurch wird nun aber angedeutet, dass sich der in der Arie ideali-
sierte Krieg auf dem „Feld der Ehre“ (5.1, 1016) von den Schrecken des realen
Kriegs unterscheidet, denn da gibt es keine guten Manieren und keine Fröm-
migkeit mehr, sondern nur übermenschliche oder unmenschliche und unkon-
trollierbare Zerstörung. Die Bedienung des Geräts, die der ins Dunkel ge-
tauchte Mensch vernachlässigt, und das dadurch entstandene, unkontrollierte
Geräusch verbinden sich mit der Vorstellung der Katastrophe, die alles
Menschliche und Geistige vernichtet. Der gehörte Laut wird im Schlussab-
schnitt auf den Weltkrieg kontextiert: Wir „hören“ die letzte Schlachtfeldszene
mit Geschützdonner, „wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das
seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet“, mit „Stöh-
nen und Schreien“ und „Zinkgeschmetter“ (5.1, 1080). Der gehörte Laut ent-
wickelt sich schließlich zum maschinellen Geheul, das die Sympathie mit dem
Tod und ihre Überwindung mit einem Schlag verschlingt. Vor dieser men-
schenvernichtenden Gewalttätigkeit kann man an einer Bejahung der Frage:
phonspezialisten in Tokyo, Ginza, wurde mir glaubhaft versichert, dass die Selbstabschal-
tungsfunktion damals zur Standardausrüstung gehörte, auch bei den Cremona-Produk-
ten, von denen Thomas Mann eines zum Vorbild für seine „Polyhymnia“ genommen zu
haben scheint (Mertens [ebd.], S. 178).
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Sakie Sakamoto
„Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieber-
brunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe
steigen?“ (5.1, 1085) nur zweifeln.
Die Beschreibung des gehörten Lauts in Der Zauberberg folgt einer Dynamik,
die in ein letztes Crescendo mündet. Das Motivgeflecht von Lauten und deren
Hören wird in den Sinnzusammenhang der „Sympathie mit dem Tode“, von
Krankheit und Tod, Verführung und Ausschweifung, Betäubung und herab-
gesetzter Lebenstätigkeit verwoben. Die Musik gehört zu dieser Semantik und
erfüllt in diesem Rahmen eine entscheidende Rolle, wie besonders aus den
kritischen Belehrungen des Aufklärers Settembrini über die narkotische Wir-
kung der Musik hervorgeht. Die Musik steht für den Quietismus bzw. für eine
dekadente Inaktivität, die der Humanist überwindet sehen will. Der deka-
denzorientierte Sinnzusammenhang erweitert sich im Verlauf der Roman-
handlung und gewinnt eine neue, andere Qualität, wo die Möglichkeit seiner
eigenen Überwindung bereits mit eingeschlossen ist. Diese Erweiterung kor-
respondiert mit der Medieninnovation der zwanziger Jahre. Das Grammo-
phon, das Abspielgerät, verändert Castorps Hörweise der Musik hin zu einem
aktiven, wachen und spekulativen Hören. Diese Veränderung, die mehr oder
weniger der politischen Wende entspricht, die Thomas Mann während der
Arbeit am Zauberberg vollzog, führt zu einer humanistischen Entscheidung
gegen die romantische Sympathie mit dem Tod und zu einem ahnungsvollen
Hoffen auf eine neue Idee. Allerdings läutet die neue Technik in der
Mann’schen Welt nicht nur eine positive Wende ein, sondern deutet eine neue,
sich bereits abzeichnende existentielle Krise an. Das Geräusch der leeren End-
rille der Schallplatte, das durch das Versagen menschlicher Kontrolle ausge-
löst wird, verweist auf die Katastrophe des Schlachtfelds. Im modernen Krieg
bedroht die Gewalttätigkeit der Mechanik die humane Existenz und annul-
liert alle Ismen, sei es Quietismus, sei es Aktivismus – menschliche Geisteshal-
tungen, um die Hans Castorp in seinen Diskussionen mit anderen Romanfi-
guren wie Settembrini, Naphta, Joachim, Peeperkorn gerungen hat, verstum-
men vor ihr. Der gehörte Laut verstärkt sich zum Crescendo, parallel zum Pro-
zess der Annullierung der oben genannten Ismen, ja bis zu einer Aufhebung
jeglicher menschlichen Synthese selbst. Dieser Befund wird auch dadurch
symbolisiert, dass in der letzten Szene Hans Castorp mit seinen jugendlichen
Kriegskameraden nicht gegen lebendige Feinde, sondern gegen anonymes
Geschützfeuer und Kanonenkugeln anstürmt.
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