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von
Jan Goossens
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G
1977
Goossens, J a n
Deutsche Dialektologie. - 1. Aufl. - Berlin, N e w
Y o r k : de Gruyter, 1 9 7 7 .
(Sammlung Göschen; Bd. 2 2 0 5 )
ISBN 3 - 1 1 - 0 0 7 2 0 3 - 3
Münster, Im März 1 9 7 7
Jan Goossens
Inhalt
Vorbemerkung 4
Kartenverzeichnis 144
Abkürzungen 145
Personenregister zur Bibliographie im dritten Abschnitt ; . . . 146
1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
ner und ein Bayer versuchten, in einem Dialog ihre jeweilige Orts-
mundart als Ausdrucksmittel zu verwenden.
schichten lassen sich eindimensional auf einer Achse mit den Polen
„ O b e r s c h i c h t " und „Unterschicht" einordnen. Z w a r gibt es inner-
halb der Sozialwissenschaften — und auch in der Soziolinguistik —
keine Einigkeit über die Adäquatheit der verwendeten Schichten-
modelle (2), doch wird allgemein mit solchen eindimensionalen
Gliederungen gearbeitet. Die amerikanische Soziolinguistik hat
ganz klare schichtgebundene Differenzierungen im Sprachgebrauch
bestimmter Großstädte herausarbeiten können (3); die Ergebnisse
entsprechender deutscher Untersuchungen sind bisher weniger deut-
lich oder überzeugend (4), was mit der andersartigen Gesellschafts-
strukturderBundesrepublik zusammenhängen mag. Jedoch braucht
an der Existenz schichtgebundener Sprachdifferenzierungen in der
deutschen Sprachgemeinschaft nicht gezweifelt zu werden: So wird
man vielfach die Beobachtung machen können, daß der Anteil der
im Alltagsgespräch Hochdeutsch Redenden in den höheren Schich-
ten und umgekehrt der Anteil der Mundartsprecher in den niedrige-
ren Schichten größer ist. Noch deutlicher — obwohl wir hier die
Grenzen einer Sprachgemeinschaft überschreiten — ist innerhalb der
Bundesrepublik die Zunahme der Verwendung südeuropäischer
Sprachen mit sinkender Sozialschicht: gehören doch die meisten
Gastarbeiter den unteren Schichten an.
IOberschicht — ^
! s
1.1. Was ist Dialektologie? 11
Anmerkungen
(1) Das skizzierte Modell ist als vereinfachte Darstellung zu verstehen, die
bestimmte Korrelationen sprachlicher und nichtsprachlicher Gegeben-
heiten nicht berücksichtigt. Eine Sprecherpersönlichkeit ist durch die
Verbindung sozialer, chronologischer, situativer, geschlechtlicher und
geographischer Faktoren gewiß nicht erschöpfend charakterisiert. Das
Modell berücksichtigt weiterhin die Dichothomie Sprechsprache -
Schreibsprache nicht. Es ist auch wohl zu wenig flexibel, indem es für den
Einfluß der immer größer werdenden Mobilität der westlichen Industrie-
gesellschaft auf den Sprachgebrauch keinen Platz hat.
(2) R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München
2 1972, 97, skizziert ein zweidimensionales Modell, dessen Operationali-
(8) Vgl. G. Kegel, Sprache und Sprechen des Kindes. Reinbek 1974, 72:
„Über geschlechtsspezifische Entwicklungsunterschiede ist eine be-
trächtliche Zahl von Stereotypen im Umlauf, die sich bei strikt empiri-
scher Nachprüfung nicht halten lassen."
(9) Vgl. P. Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangsspra-
che. Göttingen 2 1 9 6 9 , 180 f., 460 ff., 526 ff.
Die Differenzen können mit Hilfe von Regeln erfaßt werden, die sich
auf zweierlei Weise gestalten lassen:
2. Man wählt eine Bezugsgröße 0, die nicht mit einer der miteinan-
der zu vergleichenden Ausdrucksweisen identisch ist und stellt die
Beziehung Α—Β her, indem man ihr beiderseitiges Verhältnis zu 0
angibt, also:
mi * J( A ) al
Nach dem Ausmaß ihrer Geltung sind zwei Typen von Regeln zu un-
terscheiden: kategorische und variable Regeln. Eine kategorische
Regel gilt in einer Sprechweise uneingeschränkt. Wenn beispiels-
weise ein Angehöriger einer bestimmten Sozial- und Altersschicht in
Hamburg in einer bestimmten Redekonstellation in hundert Prozent
der Fälle, in denen er den letzten Wochentag nennen will, den Aus-
druck Sonnabend verwendet, so läßt sich diese Feststellung in einer
kategorischen Regel formulieren. Diese geht von den folgenden
Konventionen aus: 0 = Bezugssystem; A = die zu beschreibende
1.1. Was ist Dialektologie? 15
(0)a .|<A)b//l I
W I ( B ) b / / 1 - (ko - α k l ) j
Anmerkungen
änderte, so mag das zum Teil die Folge der Einsicht gewesen sein,
daß infolge dieser Polarisierung bestimmte Teilgebiete des Sprach-
gebrauchs vernachlässigt worden waren. Vermutlich spielt jedoch
auch eine immer weitergehende Verwischung der Grenzen zwischen
den zwei Typen des Sprachgebrauchs selbst eine Rolle. W. Henzens
Meinung, die Mundart sei „nach oben hin" nicht leicht abzugrenzen
(5), trifft wahrscheinlich die Verhältnisse der heutigen Zeit besser
als die des vorigen Jahrhunderts.
Wir haben bisher angenommen, daß der Begriff Mundart oder Dia-
lekt (6) vom Standpunkt der Sprachstrukturvariationen sich als eine
polare Größe bestimmen läßt. Dies ist alles andere als revolutionär:
„Allen (bisherigen) Definitionsversuchen gemeinsam ist die relative
Unselbständigkeit des Begriffs Dialekt/Mundart. Eine Bestimmung
wird immer nur auf den Hintergrund des Gegenstückes, der Hoch-
sprache, Schriftsprache etc. versucht" (7). Von dieser Feststellung
ausgehend wollen wir jetzt den Begriff Dialekt explizit definieren.
lisierte System der Hochsprache ist eine maximale Zahl von Regeln
notwendig. Die zusätzlichen Regeln, die zu der „reinen" Reprä-
sentation der Mundart führen, werden wohl fast immer den Regeln
addiert, die zur Erzeugung weniger stark vom hochsprachlichen Sy-
stem abweichender Sprechweisen notwendig sind (8), m. a. W. es
findet beim gestuften Übergang von einer der Hochsprache verhält-
nismäßig nahe stehenden Form der Umgangssprache zu einer aus-
geprägt mundartlichen Sprechweise in der Regel eine Akkumulation
von Regeln statt.
Die Annahme, daß die Sprechweise, die von dem idealisierten hoch-
sprachlichen System am weitesten entfernt ist, als „Repräsentation"
der Mundart zu interpretieren ist, postuliert ein ideales mundartli-
ches System, von dem diese Repräsentation nur minimal, und der
optimale Vertreter der Hochsprache maximal abweicht. Man kann
sich leicht vorstellen, daß der optimale Vertreter der Mundart durch
eine sehr beschränkte Wirkung bestimmter variabler Regeln noch
Verbindungen mit dem hochsprachlichen System aufweist; die Aus-
schaltung dieser Regeln kann dann zum idealisierten mundartlichen
System führen, dessen Annahme nicht weniger berechtigt ist als die
des hochsprachlichen, obwohl es meistens nicht in Grammatiken
und Wörterbüchern beschrieben ist.
»
Fig. 2
müssen, weil man ihn dann bestimmen kann, ohne ihn selbst als
Ausgangspunkt der Definition nehmen und sich in einem Kreis be-
wegen zu müssen.
Aus drei Gründen muß das obige Modell um einen Faktor ergänzt
werden:
Das Kriterium des Sprachwillens ist bei einem Versuch, den Begriff
Mundart zu definieren, zwar unentbehrlich, doch darf es nicht als
ausschließliche Bedingung betrachtet werden, hat doch eine Defini-
tion dieses Begriffs primär sprachstruktureller Natur zu sein.
stens nicht, wenn man nur die variablen Faktoren berücksichtigt, die
man bisher in der Mundartforschung geglaubt hat, beachten zu
müssen. Es stellt sich deshalb die Frage nach dem pragmatischen
Korrelat der sprachstrukturellen Definition des Begriffs Dialekt,
d. h. ob es ein solches Korrelat gibt, und wenn ja, wie es sich definie-
ren läßt.
Auf der sprachstrukturellen Achse ist der Bereich der Mundart zwar
von Fall zu Fall verschieden breit, er ist jedoch definitionsgemäß
immer am rechten Ende anzusiedeln. Im Pragmatik-Würfel ist zwar
der soziale, altersgebundene und situative Spielraum, in dem die dia-
lektale Sprechweise vorwiegend angetroffen wird, von Ort zu Ort
verschieden, konstant aber ist die Stelle im Würfel, wo eine Verdich-
tung dieses Spielraums stattfindet: unten vorne rechts (vgl. die Er-
läuterungen zum Modell in 1.1.1.). Dialekt wird mehr von den unte-
ren als von den oberen Schichten gesprochen, mehr von der älteren
als von der jüngeren Generation, mehr in zwanglosen als in formel-
len Situationen.
Anmerkungen
(1) /. Eichhoff, Der Wortatlas des gesprochenen Deutsch. ZDL 41 (1974),
48-55.
1.1. Was ist Dialektologie? 23
a. G r a m m a t i k : a.a. Lautlehre
a.b. Formenlehre
a.c. Syntax
b. W o r t l e h r e : b.a. Studium der N i c h t - E i g e n n a m e n (Lexikologie)
b.b. Studium der Eigennamen (Namenkunde)
Karte 1
26 1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
Auf Karte 1 ist eine Linie eingezeichnet, die südlich von Mannheim
den Rhein überquert. Nördlich dieser Linie ist altes anlautendesp in
Pfund (vgl. engl, pound, ndl. pond) erhalten, südlich davon hat es
sich zu einer Affrikata pf entwickelt. Synchronisch zeigt die Karte
das Vorkommen bestimmter Laute bzw. Lautverbindungen in be-
stimmten Gebieten:/? nördlich, p/südlich der Linie. Ob diese Vertei-
lung phonologische Relevanz hat, kann mit Hife dieser Karte allein
nicht entschieden werden. Doch kann man vermuten, daß das Wort
Pfund für eine Reihe von Wörtern mit altem anlautendem p (Pfahl,
Pfad, Pfand usw.) repräsentativ ist. Das bedeutet diachronisch, daß
die Karte die Verbreitung und den Gegensatz von Lautverschiebung
und Nicht-Lautverschiebung in einem Wort mit ursprünglich anlau-
tendem p angibt. Nehmen wir an, daß pf südlich der Linie als Pho-
nemfolge ρ + f zu interpretieren ist, so zeigt die Karte vermutlich
über die gemachten Feststellungen hinaus einen synchronischen Ge-
gensatz in der Phonemdistribution: Südlich der Linie kommt f nach
anlautendem p vor, eine Folge, die nördlich der Linie fehlt. Das be-
deutet in diachronischer Hinsicht, daß sich im Süden eine Änderung
in der Phonemdistribution vollzogen hat, von der das Gebiet nörd-
lich der Linie unberührt geblieben ist.
Karte 3
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S t e l l / m a c h e r
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rZittau
Karte 4
b.b. N a m e n k u n d e : Namengeographie.
dung von Performanz und Kompetenz mit einer Tradition der Mund-
artforschung deckt. W i r gewinnen auf diese Weise einen sehr be-
quemen Ausgangspunkt, denn er liegt jedesmal an einem Ende der
Achsen, auf denen die Abweichungen einzustufen sind. M a n kann
dann, um die innere Schichtung der Mundarten zu studieren, die
drei Achsen in einer Richtung, von Null bis zur maximalen Abwei-
chung, abtasten.
Nicht nur auf die deutsche, sondern auf die gesamte europäische
Dialektologie wartet in der Erforschung der vertikalen Mundart-
schichtung eine Aufgabe, deren Bewältigung man nicht mehr lange
hinausschieben kann. Eines Tages — hier früher, dort später —
1.1. W a s ist D i a l e k t o l o g i e ? 33
Anmerkungen
(6) Exemplarisch für diese romantische Auffassung ist der sechste Abschnitt,
Die Zukunft der deutschen Mundarten in H. Reis, Die deutschen Mund-
arten. Berlin-Leipzig 2 1 9 2 0 .
(7) Die älteste mir bekannte Studie ist ein Aufsatz von P. Bode, Vom Hoch-
deutschsprechen der Schulanfänger vom Lande. Zeitschrift für pädago-
gische Psychologie 1928, 5 4 5 - 5 5 9 .
(8) In den dreißiger Jahren fanden in Westfalen und Niedersachsen Erhe-
bungen statt, deren Ergebnisse veröffentlicht wurden von K. Schulte-
Kemminghausen, Mundart und Hochsprache in Norddeutschland,
Neumünster 1939 und H. Janßen, Leben und Macht der Mundart in
Niedersachsen, Oldenburg 1943. In Hamburg und Schleswig-Holstein
wurden 1963 bzw. 1965 Mikrozensus-Befragungen über den Gebrauch
der Mundart durchgeführt. Vgl. zur ersten W. Heinsohn im Korrespon-
denzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 70 (1963),
2 2 - 2 5 ; zur zweiten K. Kamp und W. Lindow, Das Plattdeutsche in
Schleswig-Holstein, Neumünster 1967. Vor allem in Schleswig-Holstein
wurden seit Anfang der fünfziger Jahre zahlreiche Examensarbeiten über
die Verbreitung der Mundart, zum guten Teil bei Schulanfängern, ge-
schrieben. Vgl. die Listen bei L. Knoll, Die Berücksichtigung der nieder-
deutschen Sprache und Literatur und ihre didaktischen Möglichkeiten im
Rahmen des Deutschunterrichts, Kiel 1972, 1 1 - 1 4 und H.A. Wiech-
mann, Plattdeutsch an den Schulen Schleswig-Holsteins, Lütjensee 1972,
35. Uber eine Erhebung im Bezirk Rostock vgl. H. ]. Gernentz, Nieder-
deutsch — gestern und heute. Berlin 1964, 145 ff.
Dies kann jedoch nicht beinhalten, daß alle diese Variationen der
deutschen Sprache als Varianten eines deutschen Sprachsystems
aufgefaßt werden können. Die Unterschiede zwischen ihnen sind
teilweise zu groß, um eine solche Auffassung zu rechtfertigen. Rich-
tiger ist die Annahme, daß es sich um eine Menge von untereinander
ähnlichen Systemen handelt, die jeweils ihre eigenen Varianten ha-
ben. Eine solche Menge nennen wir ein Diasystem (1). Die Annahme
eines Diasystems setzt erstens eine grundsätzliche Übereinstimmung
der zu ihm gehörenden Systeme mit allen anderen Systemen der
Menge voraus, zweitens auch eine Anzahl Unterschiede. Das erste
ist unabdingbar, weil sonst nichts die Vereinigung von Sprach-
systemen zu einem Diasystem rechtfertigt und ermöglicht. Die
Übereinstimmung ist die sprachhistorische Folge der Verwandt-
schaft (d. h. des gemeinsamen Ursprungs) dieser Systeme und se-
kundär auch der Entlehnungen, die zwischen ihnen stattgefunden
haben. Auch Unterschiede zwischen den Systemen sind notwendig,
weil es sonst nur ein einziges System gäbe, d. h. das Diasystem sich
selbst aufhöbe.
Mit Hilfe dieses Kriteriums ist an den meisten Stellen eine genaue
Begrenzung möglich. Im Osten und Südosten grenzen die Dialekte
germanischer Struktur, die wir deutsch nennen, an Sprachformen
40 1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
Wir stellen fest, daß dem Deutschen in den südlichen und westlichen
Randbereichen nicht alle kultursprachlichen Funktionen abgehen.
Das Deutsche spielt meistens noch eine gewisse Rolle in der Kirche,
und auch aus der Schule ist es nicht ganz verschwunden. Deutsche
Zeitungen und vor allem Magazine werden in wesentlich größerem
Umfang gelesen als in den rein romanischen Gebieten; auch Radio-
und Fernsehsendungen in deutscher Sprache erfreuen sich einer ge-
wissen Beliebtheit. Auf diese Funktionen des Deutschen und vor al-
lem auf die großen regionalen Unterschiede, die dabei vorkommen,
kann hier nicht weiter eingegangen werden (8). Es genügt die Fest-
stellung, daß es möglich ist, für diese Randstreifen eine Beziehung
herzustellen, die man als eine gewisse Überdachung der Mundarten
durch die deutsche Hochsprache umschreiben kann. Wir nehmen
an, daß die Verbindung der Kriteria „Ähnlichkeit" und „Überda-
chung" - auch wenn das zweite viel großzügiger zu interpretieren ist
als im „binnendeutschen" Bereich, wo es eine Selbstverständlichkeit
darstellt — genügt, um diese Randmundarten als Teile des deutschen
Diasystems aufzufassen.
eher sind als dem Niederländischen (d. h. mit weniger Regeln aus
der deutschen als aus der niederländischen Hochsprache abgeleitet
werden können), und umgekehrt, daß bestimmte Mundarten rechts
von der Grenze dem Niederländischen ähnlicher sind als dem Deut-
schen (also mit weniger Regeln aus der niederländischen als aus der
deutschen Hochsprache abgeleitet werden können). Kann dann das
Ausmaß der Ähnlichkeit nicht besser als die Überdachung darüber
bestimmen, ob eine Mundart als deutsch oder als niederländisch be-
trachtet werden muß?
Diese auf den ersten Blick reinere linguistische Lösung ist jedoch
nicht durchführbar. Die Dialekte des ganzen kontinental westger-
manischen Bereichs sind sowohl mit dem Niederländischen als auch
mit dem Deutschen verwandt, d. h. sie können mit Hilfe von Regeln
aus beiden Sprachen abgeleitet werden. Die doppelte Verwandt-
schaft schlägt sich in Elementen nieder, die sie mit beiden Hochspra-
chen gemeinsam haben (Elemente des Typs A). Dialekte aus diesem
Gebiet können auch bestimmte Elemente mit dem Deutschen, aber
nicht mit dem Niederländischen gemeinsam haben (Typ B). Umge-
kehrt können sie Elemente mit dem Niederländischen, aber nicht
mit dem Deutschen gemeinsam haben (Typ C). Schließlich können
sie Elemente enthalten, die weder deutsch, noch niederländisch sind
(Typ D). Ein Beispiel: Die Stadtkölner Mundart kennt das Wort
Huus, das im Deutschen in der Form Haus, im Niederländischen in
der Form huis vorkommt. Das W o r t Huus (aber nicht die Ausspra-
che KM!) gehört zum Typ A. Der gleiche Dialekt spricht das Verb
schlafen aus ahschlofe (o wie in frz. or), mit sch und f wie im Deut-
schen, im Gegensatz zum Niederländischen, das hier s und p hat
(slapen). Das sch und f in schlafe gehören zum Typ B. In der Kölner
Mundart spricht man weitet suchen aus ah söke, mit einem k wie im
Niederländischen (zoeken), im Gegensatz zum Deutschen, das hier
ch hat. Das k in söke gehört also zum Typ C. Schließlich lautet der
Imperativ Sg. von gehen in dieser Mundart jank, im Gegensatz zum
Deutschen, so es geh, und zum Niederländischen, wo es ga heißt. Die
Form jank gehört zum Typ D. Die Summe der theoretisch denkba-
ren Möglichkeiten in einem beliebigen kontinentalwestgermani-
schen Dialekt kann wie auf S. 4 5 oben formalisiert werden.
In den Fällen mit dem Pluszeichen ist wegen der Identität keine Regel
notwendig, die von einer hochsprachlichen Sprachform zum Dialekt
1.2. Was sind deutsche Dialekte? 45
Deutsch Niederländisch
A + +
Β + -
C - +
D - -
führt. In den Fällen mit dem Minuszeichen ist jedoch wegen der Dif-
ferenz eine Regel erforderlich. Es leuchtet dann ein, daß die Typen A
und D für unsere Fragestellung irrelevant sind: Bei A ist weder eine
Regel für Herleitung aus dem Deutschen noch eine Regel für Herlei-
tung aus dem Niederländischen, bei D sowohl eine Regel für Herlei-
tung aus der einen wie aus der anderen Sprache notwendig. Es
scheint dann darauf anzukommen, das Verhältnis der B- und C-Re-
geln zu ermitteln. Dabei lassen wir die Frage beiseite, ob und wie die
relative Bedeutung von phonologischen, morphologischen, syntak-
tischen und lexikalischen Regeln gemessen werden kann.
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Karte 7
48 1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
quenz zu berechnen. Dies ist sogar für den Dialekt eines einzigen
kleinen D o r f e s utopisch. N e h m e n wir an, es sei trotzdem möglich, so
k a n n ein Sterbefall im D o r f einen Wechsel der Zugehörigkeit der
M u n d a r t zum Deutschen oder Niederländischen zur Folge h a b e n .
Sogar das F a k t u m , dai? ein Kind ein neues W o r t lernt, kann zum
gleichen Wechsel führen.
Eine Schwierigkeit kann mit Hilfe unserer Definition nicht ganz be-
friedigend gelöst werden. In einem schmalen Streifen an der schles-
wigschen Westküste zwischen Husum und der deutsch-dänischen
Staatsgrenze, auf den Halligen, Sylt, Föhr, Amrum und Helgoland
50 1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
Anmerkungen
tion der Termini Norm, Diasystem und System (ist letzterer wohl im ei-
gentlichen Sinne definiert?) unklar, was unter „System mit Norm" und
„Diasystem mit Norm" zu verstehen ist, ob der Begriff „Hochdeutsch"
auch die Sprache mit fixierter Norm in Norddeutschland deckt und ob
er in einer gewissen Beziehung zu einem Begriff „Deutsch" steht (der
Terminus Deutsch wird von Heger nicht verwendet). Wenn Heger das
Hochdeutsche und das Niederländische als „Sprache", das Niederdeut-
sche dagegen als „Sprachgruppe" bezeichnet, so scheint er mir doch das
vorher für „wertlos" erklärte Kriterium der „Nationalsprache" oder
„Schriftsprache" zu verwenden, das wir übrigens bei der Zuweisung
von Dialekten zu Sprachen als Diasystemen nicht entbehren können.
(2) Vgl. E. Stankiewicz, On discreteness and continuity in structural dialec-
tology. Word 13 (1957), 4 4 - 5 9 .
(3) Vgl. P. Wiesinger, Die deutschen Sprachinseln in Mitteleuropa. LGL,
367-377.
(4) Eine Übersicht über eine Sammlung von Dialektproben aus östlichen
Gebieten, die heute nicht mehr deutschsprachig sind, bietet das Buch
Tonbandaufnahme ostdeutscher Mundarten 1 9 6 2 - 1 9 6 5 . Gesamtkata-
log mit 10 Karten von G. Bellmann und ]. Göschel. Marburg 1970.
(5) Vgl. Kleine Enzyklopädie-Die deutsche Sprache. Leipzig 1969,1, 291.
(6) In dem „neubelgischen" Streifen Eupen - St. Vith ist im Vergleich zu
den anderen genannten Randgebieten das deutsche Sprachgefühl noch
sehr lebendig.
(7) G. Francescato, Structural comparison, diasystems and dialectology.
Zeitschrift für romanische Philologie 81 (1965), 484-^»91. ZitatS. 486.
(8) Zu der Sprachproblematik in den Randstreifen zur Romania existiert
ein ausführliches Schrifttum, aus dem wir hervorheben: A. Verdoodt,
Zweisprachige Nachbarn. Die deutschen Hochsprach- und Mundart-
gruppen in Ost-Belgien, dem Elsaß, Ost-Lothringen und Luxemburg.
(Wien-Stuttgart 1968) und die Hefte 5, 7 und 15 der Duden-Beiträge
(Sonderreihe: Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Aus-
land, hrsg. von H. Moser). Die Verfasser sind H. Rizzo-Baur (Heft 5:
Südtirol) und D. Magenau (Heft 7: Elsaß-Lothringen und Heft 15: Lu-
xemburg und Belgien).
(9) Beide Punkte werden besprochen und bibliographisch erfaßt in: Verf.,
Wat zijn Nederlandse dialecten? Groningen 1968.
(10) Vgl. die Auffassung von P. Andersen, Dänische Mundartforschung. In:
Germanische Dialektologie. Wiesbaden 1968, 319—347, insb.
319-320.
(11) Daraus geht hervor, daß das Kriterium der Verwandtschaft das der
Bruchstelle impliziert.
(12) N. Arhammar (Friesische Dialektologie. In: Germanische Dialektolo-
gie, 264—317) schätzt die Zahl der Personen, die um 1967 noch Nord-
52 1. Der Begriff „Deutsche Dialektologie"
2.1.1. Typ 1
2.1.2. Typ 2
Das zu klärende Problem ist das Verhältnis einer dialektgeographi-
schen Struktur zu einer aus ihr erwachsenen Kultursprache. Fallen
die Grenzen des Verbreitungsgebiets dieser Standardsprache mit
Sprachgrenzen zusammen oder gehen sie über diese hinaus, so sind
die Grenzen des Problemgebiets mit diesen Sprachgrenzen identisch.
Ein Beispiel ist wieder (aber jetzt unter anderem Gesichtspunkt als in
2 . 1 . 1 . ) das Verbreitungsgebiet der englischen Mundarten.
Die hier gegebene Art der Begrenzung steht im Einklang mit unserer
Definition des Begriffs „deutsche Dialekte" (1.2.). Diese Definition
2.1. Die Begrenzung dialektologischer Problemgebiete 55
2.1.3. Typ 3
2.1.4. Typ 4
Bei der Behandlung der drei vorigen Typen wurde versucht, die Fra-
gen der Begrenzung dialektologischer Problemgebiete von dem Ge-
sichtspunkt der Verbreitung von Spracherscheinungen aus zu be-
antworten. Verbreitung und Begrenzung setzen geographischen
Kontrast voraus: Jenseits der Grenze findet sich etwas anderes.
Nicht nur die Verbreitung von Spracherscheinungen ist dabei ein
dialektologisches Problem, sondern auch der Gegensatz zwischen
geographisch opponierenden P h ä n o m e n e n . Studien, die sich mit
solchen Fragen beschäftigen, sind also d e n k b a r und es gibt sie tat-
sächlich. Es handelt sich um Einzelstudien; Sprachatlanten, in denen
diese Problematik im M i t t e l p u n k t steht, fehlen bisher. Bei solchem
Blickwinkel müssen die Karten ein Gebiet umfassen, das die Grenz-
streifen zwischen den geographisch kontrastierenden Erscheinun-
gen überdeckt.
Karte 8
2.1. Die Begrenzung dialektologischer Problemgebiete 59
2.1.5. Typ 5
und die relative Wichtigkeit der einzelnen Bündel die zentralen Fra-
gen der Untersuchungen. Regionalatlanten, in denen der sprach-
geographische Kontrast im Mittelpunkt steht, müssen das ganze
Übergangsgebiet einschließen. Selbstverständlich müssen sie auch
Randstreifen der benachbarten Kernlandschaften erfassen, so d a ß
die äußeren Isoglossen den Kartenrand nicht überschreiten. Bei-
spiel: Als relativ einheitlich kann man die schwäbischen und mittel-
bayrischen Dialekträume betrachten. Zwischen beiden liegt eine
Ubergangslandschaft mit zahlreichen in süd-nördlicher Richtung
laufenden Isoglossen, die das ganze Gebiet zwischen Iiier und Isar
umfassen, mit einer konzentrierten Bündelung am Lech („Lech-
schranke") (4).
Anmerkungen
(1) Diese Frage ist ausführlicher behandelt worden in Verf., Die Begrenzung
dialektologischer Problemgebiete. Z D L 38 (1971), 1 2 9 - 1 4 4 .
(2) R. Bruch, Das Luxemburgische im westfränkischen Kreis. Luxemburg
1954. Die Karte steht auf S. VII, die Erläuterung ihres Aufbaus auf
S. 107. Hier soll nicht diskutiert werden, ob und inwiefern Bruch die
Problematik richtig erfaßt hat.
(3) A. Bach, Deutsche Mundartforschung. Heidelberg 3 1 9 6 9 , 6 0 - 6 2 .
(4) Vgl. etwa die Karten auf S. 3 5 6 , 3 5 9 und 3 6 4 im LGL. Zuletzt zu dieser
Thematik (mit Schrifttum): R. Freudenberg, Der alemannisch-bairische
Grenzbereich in Diachronie und Synchronie. Marburg 1974.
(5) Eine Ausnahme ist Heeromas T O N .
(6) Das ist der Fall in W. Foerstes Arbeit Der wortgeographische Aufbau des
Westfälischen. In: Der Raum Westfalen IV, 1. Münster 1958, 1 - 1 1 7 .
(7) Vgl. vor allem Th. Frings — G. Müller, Germania Romana I (Halle/Saale
2
1966) und II (Halle/Saale 1968). - £ . Gamillscheg, Romania Germa-
nica I (Berlin 2 1 9 7 0 ) . - G. Bellmann, Slavoteutonica (Berlin 1971).
2.2. Spracherhebung
Wie in 1.1.4. dargelegt wurde, ist eine Basis für einen dialektologi-
schen Vergleich mit der geographischen Kontrastierung von Sprach-
erscheinungen und -strukturen gegeben. Daraus folgt die Anfor-
derung einer geographischen Differenzierung des Materials. Der
Dialektologe soll also keine Angaben sammeln, die vermutlich im
ganzen Untersuchungsgebiet identisch sein werden. Er soll sich im
Gegenteil vorher vergewissern, ob dieses Areal unter dem Aspekt
der Dialekte, den er untersuchen will, räumliche Unterschiede auf-
weist. Das kann durch Stichproben bzw. durch das Studium der Ar-
beiten von Vorgängern geschehen. So hat sich W. Mitzka bei der
Herstellung der Frageliste des DWA auf frühere wortgeographische
2 . 2 . Spracherhebung 63
H. Cox stellte in seiner Studie über die Bezeichnungen für den Sarg
(7) fest, daß es neben stilistisch neutralen Termini auch einen Se-
2.2. Spracherhebung 65
M a n muß deshalb versuchen, für eine möglichst große Zahl von Or-
ten im Untersuchungsgebiet Material zu sammeln. Bei schriftlichen
Befragungen kann dieses Ziel manchmal nicht erreicht werden, weil
man in der Regel von der Bereitwilligkeit und dem Fleiß freiwilliger
Mitarbeiter abhängig ist. Mündliche Enqueten machen es dem Dia-
lektologen meistens möglich, diese Schwierigkeiten zu umgehen,
doch erreicht man hier schneller die Grenzen der materiellen Mög-
lichkeiten. In der Regel ist die Dichte des Belegnetzes bei mündlichen
Befragungen mit der Größe des Untersuchungsgebietes umgekehrt
proportional. Im französischen Sprachatlas wurden, wie bemerkt,
nur 2 % der Gemeinden untersucht, in mancher Studie, die in der
Reihe D D G erschien, dagegen 1 0 0 % , aber meistens handelt es sich
hier um kleine Bereiche mit höchstens einigen Dutzend Orten.
Wenn bei einer mündlichen Befragung nur ein Teil der Orte unter-
sucht werden kann, ist es möglich, diese so zu wählen, daß sie in un-
gefähr gleicher Entfernung voneinander liegen. Nach diesem Prinzip
ist bei den Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs verfahren wor-
den (10). Exploratoren, denen die dialektgeographischen Verhält-
nisse einer Gegend bereits mehr oder weniger gut bekannt sind,
wählen meistens möglichst viele Orte in den Grenzstreifen zwischen
homogenen Gebieten und weniger aus der Mitte dieser Bereiche.
Anmerkungen
(10) „Die Aufnahmeorte verteilen sich über das Bundesgebiet dergestalt, dai?
in jedem Planquadrat eines Netzes von '/4 Breitengrad mal '/6 Längen-
grad je ein Ort ausgewählt wurde. Mehrfach sind allerdings in einem
Planquadrat zwei Orte erfaßt" (W. Bethge, Vom Werken und Wirken
des Deutschen Spracharchivs. ZDL 43 (1976), 2 2 - 5 3 . Zitat S. 27).
(11) Löffler (wie Anm. 1), 48.
Fachsprachen meistens der Fall ist, besteht die Gefahr, daß sie sich
nicht an die sachkundigen Dialektsprecher richten, was die Zuver-
lässigkeit des Materials beeinträchtigt.
Anmerkungen
(1) Vgl. zu dieser Problematik jetzt auch W. König, Überlegungen zur Be-
schreibung von Aufnahmesituation und Informant bei sprachgeographi-
schen Erhebungen. Mit einem Vorschlag zur Operationalisierung indivi-
dueller Eigenschaften der Informanten. Deutsche Sprache 1975,
346-364.
(2) Für die ganze Problematik des segmentalen Teils der Phonologie ist
Wortlisten derVorzug zu geben vor Sätzen, weil der spezifische Vokalis-
mus der Wörter häufig im Nebenton des Satzzusammenhangs verloren-
geht. Vgl. noch B. Panzer-W. Thütnmel, Die Einteilung der niederdeut-
schen Mundarten auf Grund der strukturellen Entwicklung des Voka-
lismus. München 1 9 7 1 , 3 5 - 3 6 : „Die inzwischen entwickelte Phonologie
hat begreifen gelernt, daß in Pausa oft die Invariante, also gerade der
Phonemcharakter eines Lautes, am deutlichsten erkennbar wird, weil alle
sekundären, Variationen hervorrufenden Faktoren weitgehend ausge-
schaltet sind".
(3) F. van Coetsem, Enkele beschouwingen over transcriptie-methodes bij
vergelijking van dialectoptekeningen in het Zuid-Oostvlaamse gebied.
Taal en Tongval 17 (1965), 6 3 - 8 7 . Das (übersetzte) Zitat S. 69.
2.3. Kartiermethoden 71
2.3. Kartiermethoden
Anmerkungen
Karte 9
2 . 4 . Interpretation von Sprachkarten 77
die Strecke ist, über die die beiden Grenzen sich decken, um so grö-
ßer ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese Interpretation zutrifft. Ist
die betreffende Strecke nur kurz, so wird die Wahrscheinlichkeit
kleiner. Die Glaubwürdigkeit dieser Art von Interpretation hängt
außerdem von dem Standpunkt ab, den man beim Bestimmen der
Verkehrsgrenze einnimmt. Ist dieser einheitlich, so ist der Beweis
viel schlagender, als wenn man aus verschiedenen Grenzen (ζ. B. aus
politischen Scheiden verschiedener Epochen und von unterschiedli-
cher historischer Bedeutung, oder aus politischen und natürlichen
Grenzen) eine Linie konstruiert, mit der die Isoglosse zusammen-
fällt. In letzterem Fall wird immer der Verdacht einer Konstruktion
ad hoc vorliegen. Das ist bei zahlreichen kleinräumigen Untersu-
chungen zu beobachten, die angefertigt wurden, als im deutschen
Sprachgebiet die dialektgeographische Untersuchung eines Verwal-
tungskreises oder eines vergleichbaren Areals noch ein beliebtes Dis-
sertationsthema war. Ein Beispiel kann hier stellvertretend für viele
stehen. Edeltraut Schnellbacher untersuchte die Mundarten des öst-
lichen Taunus. Im Schlußabschnitt („Die Dialektgrenzen und ihre
Begründung") ihrer Arbeit heißt es: „Die Hauptmundartscheide
fällt jedoch nicht nur mit geographischen und politischen, sondern
auch mit kirchlichen Grenzen zusammen. Sie folgt neben den alten
Kirchspielrändern auch der Grenze zwischen den beiden Mainzer
Archidiakonaten St. Mariengreden und St. Peter" (3). Für die ein-
zelnen Teilstrecken dieser Hauptscheide gibt sie dann an, mit wel-
chen historischen Grenzen ein Zusammenfall festzustellen ist.
A A B
+
Β
1
Mischgebiet
Trichterform Schlauchform
Fig. 4 :
Sprachgeographische
Modelle
2.4. Interpretation von Sprachkarten 79
KombinaHonskarle
Errechnet nach der Häufigkeit der Teilstrecken
0 bl$ 5 m a l
— — 21 bis 30mal • • • 61 bis 80 mal
6 " 10 ·
^ _ 31 . +0 .. B · 81 " 100
41 6
" °- · 1 101 "126
K a r t e 10
Auch hier ist Vorsicht geboten, weil die Auffassung, die alten ge-
schriebenen Sprachformen spiegelten die damaligen Mundarten wi-
der, gewiß zu einfach ist: Kommt es doch wiederholt vor, daß die
heutigen Dialekte an einer Sprachform festhalten, die nach der
schriftlichen Uberlieferung schon in der Zeit vor der Übernahme ei-
ner Einheitssprache von einer anderen verdrängt wurde (28). Neue-
ste Untersuchungen, die das historische Material nach Textsorten
gliedern, zeigen außerdem eine diasituative Gliederung, die sich in
unterschiedlichen Verbreitungen historischer Sprachdaten sichtbar
macht (29). Das Bild, das alte Texte uns von der früheren Mundart
geben, ist also unvollständig und manchmal fehlerhaft (30): Ihre
Untersuchung setzt uns primär in den Stand, geographische Ver-
schiebungen in der Schreibsprache selbst in früheren Jahrhunderten
zu studieren; bei der Interpretation heutiger dialektgeographischer
Verhältnisse kann sie, wie die Beobachtung der Form der Areale, nur
Stütze in einer Beweisführung sein.
Wrede und Theodor Frings zu erklären ist. Auch heute ist sie übri-
gens nicht veraltet. Sie hat im Gegenteil feste Ergebnisse gezeitigt
und wird zweifellos auch in Zukunft solche erreichen. Das ist der
Unanfechtbarkeit ihrer Grundvoraussetzung zuzuschreiben, daß es
expansive und rezeptive Sprachlandschaften gibt, deren „gebender"
oder „empfangender" Charakter offenbar von außersprachlichen,
gutteils soziologischen Faktoren bestimmt wird.
Die zweite Feststellung ist, daß nicht alle Verbreitungen von Sprach-
erscheinungen extra-linguistischen Ursachen zugeschrieben wer-
den können. Es gibt viele Isoglossen, deren Verlauf man auf diese
Weise nicht befriedigend erklären kann, für die also eine andere
Deutung versucht werden muß. Weiter leuchtet es ein, daß die ex-
tra-linguistische Methode zwar Erklärungen für die Verbreitung
von Sprachelementen gibt, aber nicht erklärt, wie es überhaupt zur
sprachgeographischen Kontrastbildung kommen konnte. Sie stellt
mit anderen Worten nicht die Frage nach dem Entstehen der Sprach-
erscheinungen, deren Verbreitung auf Sprachkarten fixiert wird.
Schließlich ist zu bemerken, daß die meisten Vertreter der extra-lin-
guistischen Schule die Verbreitung isolierter sprachlicher Elemente
studiert haben, ohne auf den strukturellen Zusammenhang zu ach-
ten, wodurch in ihren Studien die Gefahr einer falschen Interpreta-
tion immer vorhanden ist (31).
Anmerkungen
(22) Vgl. Th. Frings, Rheinische Sprachgeschichte. In: Geschichte des Rhein-
landes von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, 1922 und separat, Essen
1924. Auch in Th. Frings (wie Anm. 1), I, 1 - 5 4 . Andere bekannte Bei-
spiele aus dem Rheinland hat Frings auf ähnliche Weise gedeutet in Au-
bin - Frings — Müller (wie Anm. 4). Vgl. da vor allem die Karten auf
S. 120 und 127 in der Auflage von 1966.
(23) R. Schützeichel, Köln und das Niederland. Groningen 1963.
(24) Kritik an Schützeichels Interpretation des rheinischen Fächers bei
]. Goossens, Pseudo-Lautverschiebung im niederländischen Sprach-
raum. Niederdeutsches Jahrbuch 91 (1968), 7 - 4 1 .
(25) Vgl. etwa W. Henzen, Schriftsprache und Mundarten. Bonn 2 1 9 5 4 ,
2 2 8 - 2 3 1 . A.Bach (wie Anm. 1), 1 4 4 - 1 4 6 . W.Kleiber, Westober-
deutsch. LGL 3 5 5 - 3 6 3 .
(26) Als (heute schon leicht veraltete) Einführung in die historische Areal-
linguistik ist geeignet: F. Maurer (Hrsg.), Vorarbeiten und Studien zur
Vertiefung der südwestdeutschen Sprachgeschichte. Stuttgart 1965.
(27) Vgl. R. Schützeichel. Mundart, Urkundensprache und Schriftsprache.
Bonn 2 1 9 7 4 , 8 6 - 9 3 . Karte S. 88. Zitat S. 89.
(28) Ein Beispiel ist die Karte mit dem vokalischen Gegensatze// in lieb auf
S. 70 bei Schützeichel (wie Anm. 27).
(29) K. Kunze, Textsorte und historische Wortgeographie. Am Beispiel
Pfarrer/Leutpriester. In: P. Kesting (Hrsg.), Würzburger Prosastudien
II. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. München 1975, 3 5 - 7 6 .
(30) V. Schirmunski, Probleme der vergleichenden Grammatik der deut-
schen Mundarten (PBB Halle 79 (1957), Sonderband, 352), sagt sogar,
dal? „die mundartlichen Verhältnisse des Mittelalters . . . durch die
handschriftliche Uberlieferung eher verdeckt als in unzweideutiger
Weise bezeichnet werden".
(31) Es sei jedoch zugegeben, daß der Atomismus kein inhärenter Fehler der
extra-lingu istisch en Methode ist. Wir stellen bloß fest, daß dies die übli-
che Verfahrensweise extra-linguistischer Veröffentlichungen ist.
Bedürfnis entsprach. Auf jeden Fall ist die Beweisführung für das
Verschwinden von gallus durch Homonymenfurcht gerade wegen
der Verbreitung der pullus-ΐormen nicht vollkommen befriedigend
(3).
e Ö 0 ê œ ô
ë () Se â
ä a
Β C D
í —- /i/ i —· /i/ i — /i/ i —• /i/
ä —1'Isel ä—•/<*/ à
/
Das Kurzvokalsystem b e k o m m t demnach in diesen vier Gebieten
folgende Gestalt
Α und Β i ü u C i Ü u D i ü u
e o o e Ö 0 e o o
se a ε () ε ( )
se a a
keit bestehen. Aber gerade in den Gebieten mit diesen beiden Ent-
wicklungen setzte sich die „ostschweizerische Vokalspaltung"
durch, das heißt eine Entwicklung bei den Kurzvokalen, die folgen-
dermaßen dargestellt werden kann:
ter- und Vorderreihe bei den Kürzen; 2. die zwischen dem System
der Kürzen und jenem der Längen. Für die innere Kausalität der Vo-
kalspaltung wird eine doppelte Koinzidenz von Isoglossen als Ar-
gument verwendet: 1. Die Grenzen des Spaltungsareals fallen mit
denen des Gebietes zusammen, in dem bei der Entwicklung der Vor-
derreihe der Kurzvokale keine Symmetrie zustande gekommen war;
2. Sie fallen ebenfalls zusammen mit denen des Bereichs, in dem ein
vierstufiges Langvokalsystem entstanden war.
Gegen Synonymie auf der Grenze zwischen zwei Arealen mit ver-
schiedenen Wortformen identischen Inhalts sind mehrere Typen
von Reaktionserscheinungen entdeckt worden (7). Die bekannteste
besteht darin, daß der gemeinsame Inhalt in zwei Teilinhalte zerlegt
96 2. Kurzgefaßte Methodik der Dialektologie
Karte 12
Aus diesen Feststellungen geht hervor, daß man mit Hilfe einer ein-
fachen Einführung der vier vorkommenden vokalischen Elemente
durch vier Regeln ( 1 —» i, 2—>e, 3 —> ε, 4 —>ae) mit ihrer Verteilung
über die drei Gruppen A/B, C und D das Verhältnis der Systeme im
Nordosten der Schweiz nicht befriedigend darzustellen vermag. Ein
Diasystem
A/B C D / / 1, 2, 3 (CD), 4 (A/B C) / /
Regel I 1 » tit
Regel II 2 »- / e /
Regel III a) 3 κ Ut
b) ht >- /e/, Β
Regel IV a) 4 •• M
b) /<*/ >- let, D
Regel V Λ/ • /*/, A
Die Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, daß auch die in-
tern-linguistische Methode nicht zur Deutung aller dialektgeogra-
phischen Konstellationen geeignet ist. Beide Methoden, die externe
100 2. Kurzgefaßte Methodik der Dialektologie
Die Frage nach der Bedeutung beider Methoden als Hilfsmittel lin-
guistischer Disziplinen kann folgendermaßen beantwortet werden:
Die extra-linguistische M e t h o d e liefert Beiträge zur Kenntnis der
Sprachgeschichte der einzelnen Sprachgebiete und ihrer Beziehun-
gen, die intern-linguistische zur allgemeinen Sprachwissenschaft,
weil sie in der Lage ist, bestimmte Postulate der linguistischen Theo-
rie zu untermauern.
Anmerkungen
(10) ADV 1, 14. Vereinfachte Darstellungen dieser Karte findet man bei
H. Höing, Deutsche Getreidebezeichnungen in europäischen Bezügen.
DWEB 1 (1958), 117-190 und separat, Gießen 1958, Karte 2 sowie bei
Goossens (wie Anm. 2), Karte 27.
(11) Eine Sammlung, mit Literaturangaben, findet sich bei Goossens (wie
Anm. 2), 102-105. Vgl. auch noch E. Eylenbosch, Middeleeuwse
woordgeografie. Handelingen v. d. Kon. Zuidnederlandse Maatschap-
pij voor Taal- en Letterkunde en Geschiedenis 20 (1966), 157-172.
3. Wege und Ergebnisse der deutschen Dialekto-
logie
M i t diesem Abschnitt wird ein dreifacher Z w e c k verfolgt: D e m Le-
ser 1. eine Orientierungshilfe in der Fachliteratur, 2. einen Uberblick
über Stand und Ergebnisse der Forschung, 3. einen Uberblick über
die wissenschaftlichen Fragestellungen und die damit verbundenen
Methoden in der Geschichte der deutschen Dialektologie zu bieten.
Die Darstellung gliedert sich in drei Paragraphen, die inhaltlich nur
zum Teil mit diesen drei Punkten deckungsgleich sind. Die Biblio-
graphie verteilt sich über die drei Paragraphen. Im ersten werden nur
die allgemeinen Hilfsmittel genannt; die beiden anderen enthalten
eine Auswahl der Titel, die wissenschaftshistorisch bzw. durch ihre
Ergebnisse oder ihre methodischen Ansätze wichtig sind (1).
Anmerkung
(1) Die Auswahl wird zum Teil auch durch den Aufbau des zweiten Paragra-
phen bestimmt, in dem die Fülle der regionalen Monographien nur ganz
allgemein besprochen werden kann. Mehrere wichtige Studien - aus dem
niederdeutschen Bereich etwa von Bischoff, Foerste, Mitzka, Teuchert -
fehlen deshalb in der Darstellung.
3.1.1. Bibliographien
Mit einer Verspätung von etwa drei Jahren erscheint jedes Jahr ein
Band. 1950 war eine zweibändige Bibliographie linguistique des
années 1939-1947 - Linguistic bibliography for the years
1 9 3 9 - 1 9 4 7 erschienen. In der Rubrik für germanische Sprachen
gibt es eine Abteilung Deutsch, die seit 1962 aufgegliedert erscheint,
und zwar in a. Hochdeutsch, b. Niederdeutsch und c. Namenkunde
(!) (seit 1968 b. Jiddisch, c. Niederdeutsch, d. Namenkunde). Unter
Hochdeutsch ist eine weitere Aufgliederung 1, 2 usw. durchgeführt;
4 ist Dialektologie. Das Niederdeutsche ist nicht weiter unterteilt.
Namengeographie ist unter c (ab 1968 d) zu finden.
3.1.2. Handbücher
Die folgende Liste enthält die Titel der kleineren Arbeiten mit
Handbuchcharakter oder v o n allgemeinerem methodischem Inter-
esse für die deutsche Dialektologie, insofern sie nicht völlig veraltet
sind.
3.1.3. Zeitschriften
3.1.4. Reihen
Grammatik
Eine Synthese der bisherigen Kenntnisse über die laut- und formen-
geographische Differenzierung des deutschen Sprachraums auf
sprachhistorischer Basis bieten der zweite („Vergleichende Lautleh-
re") und dritte Teil („Vergleichende Formenlehre") \onScbirmuns-
kis Handbuch [5].
[50] G. Wenker, Das rheinische Platt. Den Lehrern des Rheinlandes gewid-
met. Düsseldorf 1877. Neudruck in DDG 8, Marburg 1915.
Die sechs Karten dieser Lieferung enthalten eine Reihe von dialekta-
len Gegensätzen aus einem mittelrheinischen Gebiet. Die riesige Ma-
terialmenge, die Wenker neben seinem sechsstündigen Bibliotheks-
dienst zu bewältigen hatte, zwang ihn jedoch, andere Wege einzu-
schlagen und neue Hilfe zu suchen. O b w o h l er 1884 eine Hilfskraft
bewilligt bekam, erschien die Lage zunächst aussichtslos. Nach ei-
nem Vortrag Wenkers auf der Philologenversammlung in Gießen
1885 (vgl. [129]) beschloß diese, ein Gesuch an das Reichskanzler-
amt zu richten. Dieses sollte das Unternehmen in der erweiterten
Form eines Sprachatlasses des deutschen Reiches unterstützen. Die
Rettung des Atlasses bedeutete zugleich seine Verstaatlichung. 1887
kam eine endgültige Regelung zustande. W e n k e r w u r d e bei der Bi-
bliothek beurlaubt, er b e k a m zwei Mitarbeiter und die erforderliche
finanzielle Unterstützung f ü r die W e i t e r f ü h r u n g der Arbeit. Mate-
rial und Karten wurden Staatseigentum, die Arbeit sollte unverkürzt
durchgeführt und auf Süddeutschland ausgedehnt werden, eine
Veröffentlichung sollte vorläufig unterbleiben. Auch sollte Wenker
eigene Forschungen zum Atlas abbrechen und sich mit seinen Mit-
arbeitern ganz der Anfertigung der Karten widmen. Bis zu seinem
Tode 1911 hat er in entsagungsvoller Arbeit Karten gezeichnet (6).
112 3. Wege und Ergebnisse der deutschen Dialektologie
Weil Wenker bei der Verstaatlichung seines Werkes auf eine baldige
Drucklegung verzichten mußte, „erhob sich die Frage, wie der war-
tenden Gelehrtenwelt, die nur selten den Weg nach Marburg fand,
wenigstens die Hauptergebnisse der Mundarten zugänglich ge-
macht werden konnten" (7). Die Aufgabe, im AfdA fortlaufende
„Berichte" über den Sprachatlas zu erstatten, übertrug er F. Wrede
( 1 8 6 3 - 1 9 3 4 ) , der 1 8 8 7 Hilfsarbeiter am Sprachatlas geworden war
(8) und sich 1 8 9 0 in Marburg habilitiert hatte. Daraus entstanden:
[52] F. Wrede, Berichte über Georg Wenkers Sprachatlas des deutschen Rei-
ches. AfdA 18-28 ( 1 8 9 2 - 1 9 0 2 ) . Neudruck in: F. Wrede, Kleine Schrif-
ten. Marburg 1963 (DDG 60), 9 - 2 2 4 .
In den Jahren 1926 bis 1933 veranlaßte Wrede noch die Abfragung
der Wenker-Sätze in der Schweiz, Liechtenstein, Österreich, im Bur-
genland und den deutschsprachigen Teilen der Tschechoslowakei.
1 9 2 4 hatte J. Meier ihm die Antwortbogen einer 1 8 8 8 vorgenom-
menen Befragung mit diesen Sätzen in Luxemburg überlassen. Ab
1908 gab Wrede die D D G [ 3 7 ] heraus als eine Reihe „Berichte und
Studien über G. Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs".
Hierin erschienen Arbeiten seiner Schüler (viele Jahre nach seiner
Habilitation wurde er 1 9 1 1 in Marburg Ordentlicher Honorarpro-
fessor und 1 9 2 0 persönlicher Ordinarius): Ortsgrammatiken mit
kleinräumigen dialektgeographischen Untersuchungen auf der
Grundlage mündlicher Enqueten.
[53] Deutscher Sprachatlas (DSA). Auf Grund des von Georg Wenker be-
gründeten Sprachatlas des Deutschen Reichs in vereinfachter Form be-
gonnen von Ferdinand Wrede, fortgesetzt von Walther Mitzka und
Bernhard Martin. Marburg 1 9 2 7 - 1 9 5 6 (23 Lieferungen).
[58] Th. Frings, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache. Halle
(Saale) " 1 9 4 8 , 2 1 9 5 0 , 3 1 9 5 7 .
Die Repliken in dieser Diskussion stammen vor allem aus der Feder
Wredes ( 1 2 ) . M a n würde heute aus der Distanz vermutlich weniger
exemplarisch und theoretisch besser fundiert im oben angedeuteten
Sinn zugunsten des Atlasses argumentieren k ö n n e n .
chen Aspekts der Mundarten benutzt wird, ist das von E. Zwirner
1932 in Berlin begründete Deutsche Spracharchiv, das 1940 nach
Braunschweig und 1957 nach Münster verlegt wurde. Heute befin-
det sich das Archiv im Institut für deutsche Sprache, Abteilung
Bonn. Den Hauptbestandteil bilden Tonbandaufnahmen freier Ge-
spräche „Einheimischer und Vertriebener in Mundart, die in ca. 850
Orten der Bundesrepublik — und darüber hinaus in Vorarlberg,
Liechtenstein und im Elsaß — von 1955 an mit Hilfe der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) gemacht worden sind" (13). Von
1958 an erschienen die Hefte der Lautbibliothek der deutschen
Mundarten, von 1965 an deren Fortsetzung in der Deutschen Reihe
von Phonai [40], mit Transkriptionen von Aufnahmen. Das Archiv
stellt Interessenten Kopien von Tonbandaufnahmen für For-
schungs- und Lehrzwecke zur Verfügung. Von diesem Angebot wird
rege Gebrauch gemacht. Doch ist festzuhalten, daß vom Deutschen
Spracharchiv kein mit dem Deutschen Sprachatlas vergleichbarer
Einfluß auf die Dialektologie ausgegangen ist. Dies ist wohl zwei
Gründen zuzuschreiben: 1. Das Transkribieren der auf Tonband ge-
speicherten Texte ist ein langwieriges (und in Bonn nicht abge-
schlossenes) Unterfangen; 2. vor allem: Aufnahmen freier Gesprä-
che eignen sich im Gegensatz zu den stereotypen Übertragungen der
Wenker-Sätze nicht zur Untersuchung der traditionellen Fragen der
Dialektologie, weil sie nicht sofort vergleichbare Daten zum Kartie-
ren vorher festlegbarer Erscheinungen bieten. Andererseits ist anzu-
nehmen, daß das Spracharchiv-Material für die diatopische Unter-
suchung der Variabilität in den Dialekten gut geeignet ist, doch
können solche Untersuchungen nur mit sehr großem Zeitaufwand
durchgeführt werden (14).
Wortschatz
Kretschmer hatte in den Jahren 1909 bis 1915 mit Hilfe eines Frage-
bogens schriftlich und mündlich für,, 150—170 Orte (je nachdem, ob
man auch die Orte mitrechnet, für die nur ein Teil der Fälle abge-
fragt worden ist)" (16) Angaben über den in der hochdeutschen
Umgangssprache der Gebildeten verwendeten Wortschatz zur Be-
nennung von 350 Begriffen gesammelt. Sein Buch zeigte, obwohl es
keine Karten enthält, eine überraschend große geographische Diffe-
renzierung. Naturgemäß mußte diese dann auf mundartlicher Ebene
noch viel größer sein.
[67] W. Mitzka (ab Bd. 5, 1957 W. Mitzka und L. E. Schmitt, ab Bd. 18,
1971 redigiert von R. Hildebrandt), Deutscher Wortatlas (DWA). 20
Bde. Gießen 1 9 5 1 - 1 9 7 3 .
her von Schmitt angeregt wurden. Sie sind zum guten Teil in der al-
ten und neuen Folge der Gießener sowie in den Marburger Beiträgen
([47], [4-8], [49]) erschienen. „Die grundsätzlich und methodisch
wichtigen Arbeiten" (23) wurden seit 1 9 5 8 in einer besonderen Rei-
he, der D W E B [41], veröffentlicht. Eine Bibliographie des DWA,
seiner Auswertung und der Kritik bietet:
Eine Sammlung von vier Beiträgen bietet ebenfalls Material und Be-
trachtungen zur Einschätzung des D W A :
Anmerkungen
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o s t í o b e r d e u t s c h ( j Budapests
°Zurlch
ffinsbruck
Bozen.
Karte 13
Grammatik
Gemeint ist das damalige Königreich Bayern, zu dem auch Teile des
Westoberdeutschen gehören. Schmeller untersucht vergleichend
eine Reihe von Erscheinungen aus der Laut- und Formenlehre und
gibt am Ende in einer Art Register eine Aufschlüsselung ihrer räum-
lichen Verbreitung. Im Anhang erscheint eine Karte, auf der die im
Register charakterisierten Areale angegeben sind. Nach Schmeller
hat es im 19. Jh. noch weitere Ansätze gegeben, auf die hier nicht
eingegangen werden kann (2). Nur die wichtigen methodischen Stu-
fen der weiteren Entwicklung seien festgehalten.
Der zweite Teil des Anhangs dieser Arbeit, „Die hochdeutschen Dia-
lekte" (Bd. 2, 2 8 8 - 3 5 2 ) , bietet eine Bibliographie von 5 6 6 Num-
mern.
128 3. Wege und Ergebnisse der deutschen Dialektologie
Dies ist noch ein Buch mit bescheidenem Kartenanhang (der Atlas
umfaßt 28 Karten). Bei späteren Regionalatlanten bilden die Karten
den Schwerpunkt; Text wird in der Regel nur so viel gegeben wie für
die Vermeidung von Irrtümern bei der Betrachtung der Karten not-
wendig ist, m. a. W. Interpretationen der Kartenbilder fehlen. Die
Grenzen zwischen einem Regionalatlas und einer kleinräumigen
Untersuchung, wie sie in zahlreichen Bänden der D D G vertreten ist,
sind nicht immer deutlich. Vom spärlicheren Kommentar abgesehen
haben die Atlanten in der Regel ein größeres Untersuchungsgebiet
und buchtechnisch ein größeres Format. Die hier genannten Regio-
nalatlanten sind zum großen Teil in einer Reihe „Deutscher Sprach-
atlas, Regionale Sprachatlanten" (RSA) erschienen, die von
L. E. Schmitt begründet wurde.
D e r r e i c h h a l t i g s t e u n d m e t h o d i s c h b e d e u t s a m s t e d i e s e r A t l a n t e n ist
d e r s c h w e i z e r d e u t s c h e [90]. Ü b e r ihn erschien ein zweibändiges
B u c h , in d e m a u c h a u s f ü h r l i c h a u f d i e M e t h o d i k d e r K l e i n r a u m a t -
lanten eingegangen wird:
Wortschatz
D i e f o l g e n d e n in L i e f e r u n g e n e r s c h e i n e n d e n W ö r t e r b ü c h e r sind
n o c h nicht a b g e s c h l o s s e n :
Anmerkungen
(3) Auch Band 4 der DDG, mit Arbeiten von E. Hammer und W. Kroh zur
Dialektgeographie des Westerwaldes bzw. des Nassauischen, ist nach
diesem Modell aufgebaut. Er erschien jedoch erst zwei Jahre nach Band
5.
(4) Für das Westniederdeutsche Hartig-Keseling in [79], Bd. 1, 163, für
Hessen H. Friebertshäuser in id., 77, für das Ostmitteldeutsche
L. E. Schmitt, Untersuchungen zur Entstehung und Struktur der „neu-
hochdeutschen Schriftsprache". Köln-Graz 1966, Karten 29 und 30
sowie W. Putschke in [79], Bd. 1, 149 und [80], 3 4 7 , für das Thüringi-
sche K. Spangenberg in [76], 19, für das Sächsische H. Becker —
G. Bergmann, Sächsische Mundartenkunde. Halle (Saale) 1969, Karte
1.
(5) Vgl. Freudenberg (wie Anm. 2).
(6) Ein Nachdruck der Ausgabe von 1754 erschien Hamburg 1975.
(7) Vgl. dazu I. Reiffenstein und E. Kranzmayer in [75], 1 2 5 - 1 2 7 bzw.
1 2 9 - 1 3 0 sowie R. Freudenberg in [79], 3 7 - ^ 1 .
(8) Vgl. E. Straßner in [75], 1 4 9 - 1 5 3 .
(9) Vgl. R. Grosse und G. Bergmann in [76], 1 9 - 2 3 .
(10) Vgl. H. Schönfeld in [76], 5 - 1 0 .
(11) Vgl. A. Schönfeldt in [75], 169.
(12) Vgl. F. J. Beranek in [75], 1 5 3 - 1 5 6 sowie R. Freudenberg in [79],
41—42.
(13) Vgl. C. ]. Hutterer — K. Mollay in [75], 131 sowie R. Freudenberg in
[79], 42.
(14) Ein Teil davon wird genannt bei Barth [68], 1 4 2 - 1 4 3 .
(15) Eine internationale bibliographische namenkundliche Zeitschrift ist
Onoma, 1 - , 1950 - .
In der Zeit vor Wenker kann man eigentlich kaum von Deutungsme-
thoden beim Studium von Sprachkarten sprechen. Bedeutende
Germanisten, die sich auch für die Mundarten interessierten, wie
K. Weinhold und K. Müllenhoff, betrachteten sie „als unmittelbare
Fortsetzung der entsprechenden altgermanischen Schriftdialekte.
Dabei stellte Müllenhoff die These auf, daß die Siedlungsgrenzen der
3 . 3 . Z u r Methodengeschichte 135
mit Hilfe von Sprachkarten untersucht und mit Hilfe des im verglei-
chenden Sprachenstudium entwickelten Stammbaumprinzips ge-
deutet werden konnten: Dialektunterschiede waren durch divergie-
rendes Wachstum zu erklären. Diese Anschauung liefert jedoch
keine Antwort auf die Frage nach dem spezifischen Verlauf der
Mundartgrenzen auf den einzelnen Sprachkarten. Als Vertreter der
junggrammatischen Betrachtung in der deutschen Dialektologie
kann O. Bremer (vgl. [59]) gelten.
Das war grundsätzlich neu und ließ die Unzulänglichkeit der jung-
grammatischen Theorie bei genauer Kenntnis sprachgeographischer
Verhältnisse vermuten.
[134] Th. Frings, Sprache und Geschichte. 3 Bde. Halle (Saale) 1956.
In der vorstrukturellen Zeit hat man auch schon früh wiederholt das
Prinzip der Verbindung zweier sprachlicher Elemente zur Erklärung
einer sich auf der Karte manifestierenden Neuerung angewandt. Der
erste ist wohl Wrede selbst gewesen, der 1 9 1 9 eine Anzahl von Kon-
taminationen besprach, die als „ N a r b e n " in der Sprachlandschaft
( vgl. 2 . 4 . 2 , 2 ) auf der Grenze zweier gleichbedeutender Wortformen
vorkommen, wie önk „euch" zwischen einem och- und einem ink-
Gebiet bei Wuppertal (10). Elf Jahre später gab W. Wenzel ein Bei-
spiel einer „ N a r b e " anderer Natur: Im Grenzgebiet zwischen zwei
Wörtern gleicher Bedeutung (hier Lendsel und Wiede „Strohseil" im
Kreis Wetzlar) wird eine Bedeutungsdifferenzierung durchgeführt,
3.3. Zur Methodengeschichte 141
die darin besteht, d a ß der semantische Bereich, der vorher von jedem
der beiden Ausdrücke voll ausgefüllt wurde, in zwei Teilbereiche
aufgegliedert wird, die jeweils von einem der beiden T e r m i n i be-
zeichnet werden (in L ö h n b e r g / L a h n ist Lertdsel das o b e r e , Wiede
das untere Strohseil) ( 1 1 ) . Z u m ersten M a l wurde die Erscheinung
für sich besprochen in einem Aufsatz von
Veith nennt vier Fragen, mit denen sich soziolinguistische und dia-
lektologische Problemstellungen verbindende deutsche Linguisten
bisher beschäftigt haben: 1. Wie sprechen die zwischen Stadt und
Land pendelnden Arbeiter? 2. Haben Dialektsprecher eine defizitä re
oder nur eine anders strukturierte kommunikative Kompetenz? 3.
Wie wirkt sich der Dialekt auf den Schulerfolg aus? 4. Wie ist das
Verhältnis zwischen Dialekt und Hochsprache je nach sozialer Va-
riabilität? Die Untersuchung der ersten Frage hat „ergeben, daß
durch die Pendler zwischen Stadt und Land eine Rückkoppelung be-
steht, m. a. W. daß die in der Stadt auftretende Systemmischung mit
3.3. Zur Methodengeschichte 143
Anmerkungen
Althaus, H. P. 4, 80 Fleischer, W. 5
Alvar, M . 2 6 Foerste, W. 78
Ârhammar, Ν. 79 Follmann, M . F. 102
Aubin, Η. 1 3 2 Freudenberg, R. 7 9 , 80, 128
Friebertshäuser, H. 76 a, 79, 114, 128
Bach, Α. 8, 73
Frings, Th. 58, 84, 132, 133, 134
Bachmann, Α. 109
Frommann, G. K. 99
Barth, E. 68, 7 0
Baur, G. W. I l l Gabriel, E. 107
Beckers, H. 80 Gilbert, G. G. 96
Bellmann, G. 93, 125 Gleissrier, K. 133
Bergmann, G. 17 Goossens, J . 20, 80, 81, 91
Berthold, L. 114, 135 Gröger, O. 109
Bethge, W. 61 Gundlach, J . 112
Beyer, E. 94 Giitter, A. 9 5
Bleiker, J . 9 0 Haag, K. 130
Bremer, O. 5 9 Handschuh, D. 90, 126
Bretschneider, A. 11, 120 Hard, G. 18
Bruch, R. 91 Harras, G. 69
Christmann, E. 117 Hartig, J . 7 9
Coseriu, E. 2 7 Heeroma, K. 124
Csaller, R. 88 Henne, H. 80
Henzen, W. 12
Dauzat, A. 2 3 Hildebrandt, R. 6 b, 67, 128
Dittmaier, H. 104 Hofstädter, F. 110
Dollmayr, V. 116 Hotzenköcherle, R. 90, 97, 126
Ebert, W. 133 Hucke, H. 8 9
Eichhoff, J . 71 Huss, R. 88
Eist, Van der, G. 7 0 Ising, G. 120
* Die angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Nummern der Bibliogra-
phie, nicht auf die Seiten.
Personenregister zur Bibliographie 147
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