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Historische Textgrammatik
und Historische Syntax des Deutschen
Traditionen, Innovationen, Perspektiven
Herausgegeben von
Arne Ziegler
Band 1:
Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
Band 2:
Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021993-7
e-ISBN 978-3-11-021994-4
herzlich Frau Stefanie Edler und Frau Melanie Glantschnig für die redak-
tionelle Betreuung, die mitunter mühevolle Recherche und intensive For-
matierungsarbeit gedankt. Herr Dr. Christian Braun, der die gesamte Re-
daktionsarbeit koordiniert und detailliert betreut hat, hat sich in der Arbeit
an dem Sammelband herausragende Verdienste erworben – ihm gilt mein
besonderer Dank.
Danken möchte ich auch dem Verlag de Gruyter sowie insbesondere
Herrn Prof. Dr. Heiko Hartmann für die angenehme und fruchtbare Zu-
sammenarbeit und Unterstützung, ohne die die Publikation des Sammel-
bandes in der vorliegenden Form sicher nicht möglich gewesen wäre.
Verbunden mit meinem Dank an alle, die zur Publikation der vorlie-
genden Bände beigetragen und die Arbeit daran unterstützt haben, ist der
Wunsch nach einer weiteren intensiven und konstruktiven Zusammenar-
beit im Bereich der Historischen Textgrammatik und der Historischen
Syntax des Deutschen.
Vorwort .............................................................................................................. V
Arne Ziegler
Historische Textgrammatik und Historische Syntax
des Deutschen – Eine kurze Einleitung ......................................................... 1
Diachronie
Hubert Haider
Wie wurde Deutsch OV? Zur diachronen Dynamik
eines Strukturparameters der germanischen Sprachen .............................. 11
Franz Simmler
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in
Aussagesätzen in biblischen Textsorten vom
9. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ............................................................ 33
Ulrike Freywald
Obwohl vielleicht war es ganz anders. Vorüberlegungen
zum Alter der Verbzweitstellung nach
subordinierenden Konjunktionen ................................................................. 55
Elke Ronneberger-Sibold
Die deutsche Nominalklammer. Geschichte,
Funktion, typologische Bewertung ............................................................... 85
Roland Hinterhölzl
Zur Herausbildung der Satzklammer im Deutschen.
Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse ......................... 121
VIII Inhalt
Ursula Götz
vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders
schwermen kan. Nominalphrasen mit jemand
und niemand in der Geschichte des Deutschen ......................................... 139
Rosemarie Lühr
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch ............................................... 157
Thomas Gloning
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik.
Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur und
der syntaktischen Organisation von Texten ............................................. 173
Maxi Krause
Wie eine historische Grammatik der temporalen
Relationen aussehen könnte … .................................................................. 195
Isabel Buchwald-Wargenau:
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen .............................. 221
Andreas Bittner
Aspekte diachronischer Fundierung. Historische Linguistik
und mentale Repräsentation flexionsmorphologischen
Wissens ........................................................................................................... 237
Markus Denkler
Adjektive in Inventarlisten – Beobachtungen
zur Syntax und zum Textsortenwandel ..................................................... 261
Althochdeutsch
Hans-Werner Eroms
Additive und adversative Konnektoren
im Althochdeutschen .................................................................................... 279
Susumu Kuroda
Inkorporation im Althochdeutschen ............................................................. 317
Inhalt IX
Oliver Schallert
Als Deutsch noch nicht OV war. Althochdeutsch
im Spannungsfeld zwischen OV und VO ................................................. 365
Christian Braun
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung
von Funktionsverbgefügen im Althochdeutschen ................................... 395
Eva Schlachter
Zum Verhältnis von Stil und Syntax. Die Verbfrüherstellung
in Zitat- und Traktatsyntax des althochdeutschen Isidor ....................... 409
Claudia Wich-Reif
„Das Spiel vom Fragen“ – (k)ein Problem
der althochdeutschen Syntax? ..................................................................... 427
Mittelhochdeutsch
Mechthild Habermann
Pragmatisch indizierte Syntax des Mittelhochdeutschen ........................ 451
Heinz-Peter Prell
Konstruktionsmuster und -strategien im
mittelhochdeutschen Satzgefüge. Ein Werkstattbericht ......................... 471
Sandra Waldenberger
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit.
Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik –
das Werkstück ‚Präposition‘ ........................................................................ 483
Ursula Schulze
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts.
Zur syntaktischen und semantischen Wertigkeit
mittelhochdeutscher Subjunktionen .......................................................... 497
X Inhalt
Jürg Fleischer
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer
Personalpronomen im Prosalancelot (Lancelot I) ................................... 511
Gisela Brandt
Textsortenabhängige syntaktische Variation in Christine
Ebners Schwesternbuch des Dominikanerinnenklosters
Engelthal (Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie? ........................................ 537
Catherine Squires
Konstantes und Variables im Aufbau von deutschen
mittelalterlichen heilkundlichen Texten
und angrenzenden Textsorten ..................................................................... 561
Wernfried Hofmeister
Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher
deutschsprachiger Texte. Veranschaulicht an
Werkausgaben zu Hugo von Montfort ...................................................... 589
Frühneuhochdeutsch
Andreas Lötscher
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex im
Frühneuhochdeutschen – Textlinguistik und Grammatik ...................... 607
Ingo Warnke
Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel
der Raumerfassung in Albrecht Dürers
Vnderweyſung der meſſung (1525) ..................................................................... 647
Inhalt XI
Britt-Marie Schuster
Gibt es eine Zeitungssyntax? Überlegungen und Befunde
zum Verhältnis von syntaktischer Gestaltung und
Textkonstitution in historischen Pressetexten .......................................... 665
Monika Rössing-Hager
Konkurrierende Strukturen für die Relation
Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen Schriften
Martin Luthers. Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven
und kommunikativen Funktion .................................................................. 711
Albrecht Greule
Textgrammatik und historische Textsorten am Beispiel
sakralsprachlicher Texte ............................................................................... 741
Alexander Lasch
Es sey das Fewer in der Stadt. Textpragmatische und
-grammatische Überlegungen zu vormodernen
Feuerordnungen ............................................................................................ 759
Odile Schneider-Mizony
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen
in der Grammatikographie 1500-1700 ....................................................... 781
Manja Vorbeck-Heyn
Syntaktische Strukturen in den Summarien in
Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts ...................................................... 799
Lenka Vaňková
Zum Ausdruck der kausalen Relation in den
spätmittelalterlichen medizinischen Texten .............................................. 829
Eckhard Weber
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation –
Ehre und Öffentlichkeit in der Fehde des späten Mittelalters .................... 859
Andrea Hofmeister-Winter
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ – Graphetische Syntax-Marker
am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe ................................................ 875
Neuhochdeutsch
Vilmos Ágel
Explizite Junktion. Theorie und Operationalisierung ............................. 899
Mathilde Hennig
Aggregative Koordinationsellipsen
im Neuhochdeutschen ................................................................................. 937
Anja Voeste
Im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
Populäre Techniken der Redewiedergabe
in der Frühen Neuzeit .................................................................................. 965
Józef Wiktorowicz
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber
aus dem 18. Jahrhundert .............................................................................. 983
Rainer Hünecke
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten
Syntaxforschung – dargestellt an einer Studie
zur Syntax des 18. Jahrhunderts .................................................................. 989
Stephan Elspaß
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des
19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein Plädoyer für die
Verknüpfung von historischer und Gegenwartsgrammatik ................. 1011
Jörg Riecke
Grammatische Variation in der Chronik
des Gettos Lodz / Litzmannstadt ............................................................ 1027
Inhalt XIII
Daniel Czicza
Das simulierende es. Zur valenztheoretischen
Beschreibung des nicht-phorischen es am
Beispiel eines neuhochdeutschen Textes ................................................ 1041
Michaela Negele
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der
Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen –
Standard oder Substandard? ...................................................................... 1063
Historische Textgrammatik und
Historische Syntax des Deutschen –
Eine kurze Einleitung
_____________
1 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Zentralität des Verbs, die Klammer-
bildung, die Genus-Kongruenz oder die Negation (vgl. Helbig 2003: 21f.).
4 Arne Ziegler
An dieser Stelle seien auch ein paar erklärende Anmerkungen zur vorlie-
genden Gliederung des Bandes in die Hauptkapitel Diachronie, Althoch-
deutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch angefügt.
Bedingt durch die Aufteilung der Beiträge auf zwei Teilbände sowie durch
die Tatsache, dass jeder Versuch, eine durch den gewählten grammati-
schen Untersuchungsgegenstand der Beiträge begründete und einigerma-
ßen gleich gewichtete Verteilung vorzunehmen, im Ansatz gescheitert ist,
wurde die Einteilung in der vorliegenden Form gewählt. Insofern ist der
Gliederung sicherlich eine gewisse subsumierende Mühe zu unterstellen,
und nicht in jedem Fall ist die Einordnung eines einzelnen Beitrags unter
eine der Hauptkapitel zwingend. Diese – cum grano salis – nach sprachpe-
riodischen Kriterien und damit eher klassische Strukturierung wurde ge-
wählt, da nur so eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Beiträge
gewährleistet schien. Abweichend von einer „traditionellen“ Periodisie-
rung der deutschen Sprachgeschichte wurde ein Kapitel Neuhochdeutsch –
im Sinne einer historischen Sprachstufe des Deutschen – ergänzt, um
somit einerseits der Diskussion um eine stärkere Berücksichtigung der
jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen im Rahmen der aktuellen
Sprachgeschichtsforschung explizit Rechnung zu tragen (vgl. u.a. Elspaß
2007: 2ff.; Ernst 2008) und andererseits, um eben jene Arbeiten berück-
sichtigen zu können, die im Rahmen einer jüngeren Sprachgeschichtsfor-
schung des Deutschen anzusiedeln sind.
Ergänzt wurde überdies ein einleitendes Hauptkapitel Diachronie, das
Beiträge versammelt, welche sich einem grammatischen Phänomen aus
dezidiert diachroner Perspektive nähern und damit die Grenzen der ein-
zelnen Sprachperioden systematisch überschreiten (so z.B. die Beiträge
von Buchwald-Wargenau, Denkler, Freywald, Götz, Hinterhölzl, Ronne-
berger-Sibold, Simmler) oder aber eher generelle und/oder sprachtheore-
tische Aspekte der Sprachgeschichtsforschung ins Zentrum ihrer Überle-
gungen stellen (vgl. etwa die Beiträge von Bittner, Gloning, Lühr, Haider
und Krause).
Auf die Einrichtung von Registern ist für den vorliegenden Sammel-
band in Absprache mit dem Verlag ausdrücklich verzichtet worden, um
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen 7
3. Ausblick
Ziel der vorliegenden Publikation ist einerseits eine Bestandsaufnahme
und andererseits ein Ausblick auf rezente Desiderata im Bereich der histo-
rischen Grammatik des Deutschen.
Der Band soll insgesamt dazu beitragen, die Relevanz der Grammatik-
forschung für die Anforderungen einer zeitgemäßen Sprachgeschichtsfor-
schung im Spannungsfeld zwischen Syntax, Morphosyntax, Textgramma-
tik, und Pragmatik zu konturieren und etablierte Auffassungen zur
Grammatikarbeit mit aktuellen Problemen zu konfrontieren. Insofern soll
auch ein Beitrag zu einer systematischen Historischen Grammatik des
Deutschen einschließlich ihrer methodischen Umsetzung geboten werden,
so dass der Sammelband auch geeignet scheint, als Referenzwerk im Hin-
blick auf spezifische Fragen syntaktischer und textgrammatischer Arbeit in
der Sprachgeschichtsforschung zu fungieren.
Die freudigste Erkenntnis nach Lektüre sämtlicher Beiträge des vor-
liegenden Sammelbandes ist sicher eine, die der historischen Grammatik-
forschung Mut machen kann. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass
nunmehr für eine Historische Textgrammatik und eine Historische Syntax
des Deutschen nichts mehr zu tun bliebe; ganz im Gegenteil: Die großen
Postulate bleiben weiterhin bestehen – eine diachron ausgerichtete kor-
pusbasierte Historische Textgrammatik und eine ebensolche Historische
Syntax des Deutschen!
Literatur
Ernst, Peter (2008), Normdeutsch. Die Sprachepoche in der wir leben, (Schriften zur diachro-
nen Sprachwissenschaft 14), Wien.
Hartmann, Peter (1964), „Text, Texte, Klassen von Texten“, in: Bogawus 2, 15-25.
Helbig, Gerhard (2003), „Einige Bemerkungen zur Idee und zur Realisierung einer
Textgrammatik“, in: Maria Thurmair / Eva-Maria Willkop (Hrsg.), Am Anfang
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Lewandowski, Theodor (1994), Linguistisches Wörterbuch, 6. Aufl. 3 Bde. Heidelberg.
Lim, Seong Woo (2004), Kohäsion und Kohärenz. Eine Untersuchung zur Textsyntax am
Beispiel schriftlicher und mündlicher Texte, Dissertation Universität Würzburg, Philo-
sophische Fakultät II.
http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=973411554&dok_var=d1&dok_ext
=pdf&filename=973411554.pdf (Stand 24.08.2009)
Oller, John W., Jr. (1974), „Über die Beziehung zwischen Syntax, Semantik und Prag-
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Schmid, Wolfgang (1983), „Die pragmatische Komponente in der Grammatik“, in:
Gisa Rauh (Hrsg.), Essays on Deixis, Tübingen, 61-78.
Wolf, Norbert Richard (1982), Probleme einer Valenzgrammatik des Deutschen, (Mitteilun-
gen aus dem Institut für Sprachwissenschaft Innsbruck 3), Innsbruck.
Ziegler, Arne (2008), „Sprachgeschichte als Textgeschichte. Überlegungen zu einer
diachronen Textgrammatik des Deutschen“, in: Waldemar Czachur / Marta Czy-
Ŝewska (Hrsg.), Vom Wort zum Text – Studien zur deutschen Sprache und Kultur. Fest-
schrift für Professor Józef Wiktorowicz zum 65. Geburtstag, Warschau, 391-401.
Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997), Grammatik der deutschen
Sprache, Berlin, New York.
Diachronie
Wie wurde Deutsch OV?
Zur diachronen Dynamik eines Strukturparameters
der germanischen Sprachen
1. Das Rätsel
Ausgangspunkt ist der rätselhafte Auslöser der syntaktischen Ausdifferen-
zierung der modernen germanischen Sprachen, dessen Resultat nun zwei
syntaktisch deutlich kontrastierende Sprachgruppen sind; die eine VO und
die andere OV. Die heutigen nordgermanischen Sprachen (Dänisch, Fa-
röisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch, und alle regionalen Varietä-
ten) sowie das von nordgermanischen und französischen Kontakten be-
einflusste Englisch sind strikte VO-Sprachen. In strikten VO-Sprachen
sind alle phrasenbildenden Kategorien linksperipher, das heißt, der Kern
der Phrase geht den abhängigen Elementen voran.1
Die westgermanischen Sprachen (z.B. Afrikaans, Deutsch, Friesisch,
Letzeburgisch, Niederländisch, Schwyzertütsch, und alle regionalen Varie-
täten) hingegen sind OV-Sprachen, das heißt, die Position des Verbs als
Kern der Verbalphrase ist final.2 Dieser Grundkontrast (OV3 vs. VO) impli-
ziert systematisch eine Kaskade von jeweils typabhängigen syntaktischen
Folgeerscheinungen (s. Anhang).
_____________
1 Englisch ist repräsentativ dafür: [give the reader a hint]VP, [conversion of waste into fuel]NP,
[into fuel]PP, [unrelated to German]AP, [the book]DP, [that this is so]CP, ...
2 Final ist die Grundposition des Verbs. Darüber gelagert ist die pangermanische V-2-
Eigenschaft: Das finite Verb, und nur das finite Verb, steht im Deklarativsatz an zweiter Stel-
le, d.h. unmittelbar hinter der ersten Konstituente.
3 Die germanischen OV-Sprachen sind keine strikten OV-Sprachen, wie etwa Japanisch oder
Türkisch. Im strikten Typ sind alle phrasenbildenden Elemente rechtsperipher, d.h. alle
Phrasen sind kopf-finale Phrasen. In den westgermanischen Sprachen sind ‚bloß‘ V und A
finale Phrasenköpfe (VP, AP), alle übrigen phrasenbildenden Köpfe sind initial, wie in VO-
Sprachen. Da aber VP und AP (in Kopulakonstruktionen) die Basis für den Aufbau der
Satzstrukturen bilden, ergibt sich daraus, dass Sätze klare OV-Charakteristika aufweisen.
12 Hubert Haider
Das Rätselhafte an dieser Situation wird deutlich, wenn man nach Ur-
sachen im Sprachwandel sucht, die für diese Differenzierung verantwort-
lich gemacht werden könnten. Es werden immer noch populäre Legenden
bemüht, wonach morphologischer Wandel den syntaktischen Wandel
getrieben habe. Im Deutschen sei das Flexionssystem nach wie vor diffe-
renziert genug, nicht aber in Sprachen wie Dänisch, Schwedisch, Norwe-
gisch oder auch im Englischen. In den genannten skandinavischen Spra-
chen beschränkt sich die Verbalflexion bekanntlich auf die Unterschei-
dung von Präsens, Präteritum und Infinitiv, ohne irgendeine Person- oder
Numerusdifferenzierung. Kasusmorphologie existiert auch nicht. Das
genau sei der Auslöser für die Entwicklung zur SVO-Wortstellung, da in
letzterer die Subjektsposition durch die Wortstellung klar von der Ob-
jektsposition zu unterscheiden sei und damit die strikte Wortstellung die
Funktion übernehme, die im Deutschen durch die Kongruenz- und Ka-
susmorphologie geleistet werde, nämlich die Markierung der jeweiligen
Satzgliedfunktionen.
Um festzustellen, dass diese plausibel klingende Geschichte keinerlei
Erklärungswert beinhaltet, genügt es, sich den Status der grammatischen
Morphologie in den germanischen Sprachen insgesamt kurz zu vergegen-
wärtigen. Unbestreitbares Faktum ist, dass die beiden germanischen
Sprachgruppen – die VO-Gruppe und die OV-Gruppe – sich nicht kon-
sistent nach morphosyntaktischen Kriterien sortieren lassen. Jede der
beiden Gruppen enthält Sprachen mit einem reichlich differenzierten
morphologischen Inventar, und jede der beiden Gruppen enthält mor-
phosyntaktisch ‚insuffiziente‘ Mitglieder:
Zu den Sprachen, die den morphologischen Reichtum der älteren
Sprachstufen gut konserviert haben, gehören Isländisch (strikt VO) und
Faröisch (strikt VO) einerseits, und Deutsch (OV) andererseits. Morpho-
logiearme Sprachen, was die grammatische Morphologie anlangt, sind
sicher die oben genannten kontinentalskandinavischen Sprachen (allesamt
VO), aber auch Niederländisch (OV), und, noch extremer, Afrikaans
(OV). Dessen Flexionsdefizit entspricht genau dem einer kontinental-
skandinavischen Sprache. Nichtsdestoweniger ist Afrikaans OV,4 und
nicht VO, und andererseits haben Isländisch und Faröisch sich trotz
reichhaltigster Morphosyntax und trotz ihrer abgeschiedenen Inselexistenz
_____________
4 Dies darf umso mehr verwundern, als Afrikaans ja ursprünglich keiner Normierung unter-
worfen war, und sich gleichsam in freier Wildbahn entwickeln durfte. Wenn Morpholo-
giemangel eine treibende Kraft wäre, hätte sie alle Chancen gehabt, im Süden Afrikas in
weiter Ferne vom sprachlichen Mutterland der Niederlande ihre Wirksamkeit zum Wohle
der syntaktischen Strukturierung zu entfalten. Sie tat es aber nicht. Also ist anzunehmen,
dass es sie gar nicht gibt, oder dass sie so schwach ist, dass sie jedenfalls nicht für den syn-
taktischen Wandel in den skandinavischen Sprachen haftbar gemacht werden kann.
Wie wurde Deutsch OV? 13
_____________
5 Ein Beispiel dafür bieten die romanischen Sprachen. Alle sind OV. Daneben gibt es ‚quer-
beet‘ laufende Unterschiede. Z.B. gibt es eine Gruppe mit der Null-Subjekt-Eigenschaft
(Beispiel: Italienisch) und eine, der diese Eigenschaft fehlt (Beispiel: Französisch). Anderer-
seits gibt es Varietäten mit Clitic-doubling (Objektklitikum trotz vorhandenen Objekts;
Beispiel: Spanisch), und solche, die das nicht zulassen (z.B. Französisch).
14 Hubert Haider
(1c) und (1a) als Varianten von (1b) liefert. Problematisch an dieser Analy-
se ist, dass es keine unabhängige Bestätigung dafür gibt, dass irgendeine
VO-Sprache diese postulierten Umstellungen zuließe.
Vikner (2002) weist ausführlich nach, dass Jiddisch insgesamt die typi-
schen Eigenschaften von OV-Sprachen7 aufweist, nicht aber die von VO-
Sprachen. Was nicht ins Bild passt, ist die Wortstellungsvariation im Satz,
wie in (1b) und (1c). Wenn nämlich Jiddisch ein OV-Typ wäre wie
Deutsch, müsste (1a) die typkonforme Abfolge sein, und (1b, c) müssten
abgleitet werden durch Nachstellung von nominalen Satzgliedern. Genau
das ist aber in den germanischen OV-Sprachen ausgeschlossen. Nachge-
stellt werden nämlich gerade keine nominalen Argumente, sondern einge-
bettete Sätze oder Präpositionalphrasen. Nominalausdrücke werden nur
als Adverbiale nachgestellt, oder in Sonderfällen als Nachstellung von sehr
‚gewichtigen‘ Phrasen,8 was als heavy NP shift bekannt ist. Die putativ
nachgestellten Phrasen in (1b, c) sind sicher nicht ‚heavy‘.
Wer hat recht? In dieser Situation liegt die Lösung darin, zu erkennen,
dass und warum keine der beiden Sichtweisen recht haben kann. Jiddisch
ist nämlich weder VO noch OV. Es ist ein dritter Typ, dessen unmittelbar
verknüpfte Varianten VO und OV sind. Jiddisch ist zwar damit singulär
unter den derzeitig gesprochenen germanischen Sprachen, der Typus
selbst ist aber keineswegs singulär. Um dies verständlich machen zu kön-
nen, ist es nötig, kurz zu explizieren, was den VO-, und was den OV-
Typus ausmacht, und wie der dritte Typus sich dazu verhält.
_____________
7 U.a.: Auxiliarabfolge, Variation in den Auxiliarabfolgen, Partikel-Verbabfolge, keine Kon-
gruenz von Subjekt und adjektivischem Prädikat.
8 Typisches Beispiel sind Ansagen am Bahnsteig: „Achtung, auf Gleis drei fährt ein [der ICE
aus Frankfurt nach München mit Planankunft um ....]“.
16 Hubert Haider
angelagert werden (3b). Damit ist es aber nicht auf der kanonischen Seite
für einen Kopf, der nach rechts lizenziert. Die Antwort der Grammatik
darauf ist in (3c) angegeben: Der Kopf muss neuerlich instantiiert werden,
und zwar links davon (3c). Da es aber nur ein einziges Verb als Kopf gibt,
bleibt die ursprüngliche Position leer. Es sei denn, das Verb ist ein Parti-
kelverb. In diesem Fall kann die Partikel an der ursprünglichen Verbposi-
tion verharren, was zu der für Deutschsprecher(innen) erstaunlichen Par-
tikelposition zwischen indirektem und direktem Objekt im Englischen
führt (4):
(4a) Valerie [packedi [her daughter [ei-up a lunch]]] (Dehé 2002, 3)
(4b) Susan [pouredi [the man [ei-out a drink]]]
Partikelzusätze von Verben sind, wie auch das Deutsche zeigt, stets dem
Verb benachbart, können aber durch Umstellung des Verbs von diesem
getrennt werden. Im Deutschen passiert dies dann, wenn das Verb in der
V2-Position zu stehen kommt.
Susanne gossi dem Mann ein Getränk ein-ei
Im Englischen, und in allen VO-Sprachen, die optional Partikelabspaltung
erlauben (z.B. Norwegisch und Isländisch), zeigt die aus OV-Perspektive
eigenartig anmutende Partikelpositionierung in (4) an, dass sich zwischen
den Objekten eine Verbposition befinden muss, an der die Partikel zu-
rückgelassen werden kann. Dass das Verb in einer VP selbst nie in dieser
Position zu finden ist, erklärt sich aus der zwangsweisen Voranstellung, in
Erfüllung von A4, b.
Schließlich wird auch das Subjekt angelagert (3d). Diese Struktur (3d)
ist die Struktur einer SVO-Sprache. In einer VSO-Sprache würde das Verb
noch einmal instantiiert werden, wonach sich dann alle Argumente, inklu-
sive Subjekt, in der kanonischen Domäne befinden. In einer SOV-Sprache
befinden sich ebenfalls alle Argumente in der kanonischen Domäne (2c).
Das Subjektsargument einer SVO-Sprache hingegen befindet sich zwar in
der VP, ist aber nicht kanonisch lizenziert (3d). Dazu bedarf es eines zu-
sätzlichen Kopfes, wie in der AcI-Konstruktion (6a), in der richtigen Rich-
tung, oder das Subjektsargument wird in die Spec-Position einer funktio-
nalen Projektion gebracht, deren funktionaler Kopf die ursprüngliche
Position lizenziert (6b).
(6a) let → [VP Susan [pouri [the man [ei-out a drink]]]]
(6b) [IP Susanj [I° has → [VP ej [pouredi [the man [ei-out a drink]]]]]]
Eine Konsequenz dieser Umstände ist folgende Eigenschaft von SVO-
Sprachen. Die funktionale Subjektsposition ist obligatorisch. Ist kein Ar-
gument vorhanden, muss sie mit einem Expletivum besetzt werden. Auf
18 Hubert Haider
eine OV-Sprache trifft das nicht zu. Deutsch beispielsweise verbietet ein
Expletivum in subjektlosen Passivsätzen (7b, d), während dieses in den
skandinavischen Sprachen (7a, c) mandatorisch ist. Ebenso wenig erlaubt
Deutsch ein Expletivum in der Präsentativkonstruktion, die in den skan-
dinavischen Sprachen und dem Englischen mit einem Expletivum kon-
struiert wird.
(7a) að */??(Það) hefur verið dansað Isländisch
dass (EXPL) hat gewesen getanzt
(7b) daß (*es) getanzt wurde
(7c) Í dag er *(Það) komin ein drongur Faröisch
heute is (EXPL) gekommen ein Junge
(7d) Heute ist (*es) ein Junge gekommen
Fassen wir zusammen: kopf-finale und kopf-initiale Phrasen unterschei-
den sich, was die Strukturprinzipien anlangt, lediglich im Richtungspara-
meter. Dieser Unterschied hat allerdings Folgen bei der Implementierung.
Eine komplexe kopf-initiale Struktur, im Unterschied zu einer kopf-
finalen, erfordert die mehrfache Instantiierung des Kopfes (8a).
(8) a. kopf-initiale VP:10 b. kopf-finale VP:
… …
VP <z,x,y> VP <z,x,y>
XP V´ <z,x,y> YP V° <z,x,y>
vi° YP
<z,x,y>
_____________
10 In den Spitzklammern sind die Argumentstellen angegeben, die in die syntaktische Struktur
projiziert werden. Die durchgestrichene Stelle bedeutet, dass sie bereits abgearbeitet ist,
d.h. in die Struktur eingefügt wurde.
Wie wurde Deutsch OV? 19
von A4, a die Ursache. Sowohl das Adverb in (9a), wie auch das aus seiner
Grundposition umgestellte Objekt zerstört die minimale c-Kommando-
Relation. Das Verb in (9a) c-kommandiert minimal das Adverb oder das
umgestellte Objekt in (9b), nicht aber das lizenzierungsbedürftige Argu-
ment.
(9a) He showed (*voluntarily) the students (*secretely) the solution
(9b) *He [showedj [the appartmenti [ej the guests [ej ei]]]
In einer kopf-finalen Phrase tritt dieses Problem nicht auf, da stets eine
Verbalprojektion als Schwesterknoten der links angedockten Phrase auf-
tritt (s. 8b). Im Deutschen ist daher die VP nicht kompakt und außerdem
können die Argumente umgestellt werden:
(10a) Er hat [den Studenten [freiwillig [die Lösungen gezeigt]]]
(10b)Er hat [den Studenten [die Lösungen [freiwillig gezeigt]]]
(10c) Er hat [die Lösungeni [den Studenten [ei [ freiwillig gezeigt]]]]
Wie passt Jiddisch in dieses Bild? Jiddisch repräsentiert den dritten Typus,
der sich dann ergibt, wenn die kanonische Richtung nicht spezifiziert ist. In
diesem Fall gibt es die Möglichkeit, kopf-final zu konstruieren, wie im
Deutschen (11a), oder kopf-initial, wie im Englischen (11b), oder auf eine
dritte Weise (11c).
(11a) Max hot [Rifken [dos buch gegebm]]VP
(11b)Max hot [gegebm Rifken [ei dos buch]]VP
(11c) Max hot [Rifken [gegebm dos buch]]VP
Die dritte Weise (11c) startet mit Lizenzierung nach rechts, wie Englisch,
und setzt fort mit Lizenzierung wie Deutsch, nämlich nach links. Das
Ergebnis ist die Sandwich-Stellung des Verbs, zwischen indirektem und
direktem Objekt. Es ist diese Abfolge, an der sich der dritte Typ zu er-
kennen gibt. Die ersten beiden Möglichkeiten sind die OV-artige und die
VO-artige Konstruktion. Daraus erklärt sich auch, warum Jiddisch miss-
verständlich als OV-Sprache oder als VO-Sprache angesehen werden
konnte. Ist der Wert für die kanonische Richtung spezifiziert, wie das in
VO oder OV der Fall ist, dann kann die Sandwich-Abfolge eben gerade
nicht auftreten.
Hier nun liegt der Schlüssel zum Verständnis des germanischen
OV / VO-Rätsels. Die älteren germanischen Sprachen sind vom dritten
Typ. Die Dialektspaltung ist das Ergebnis des Wechsels von der Unterspe-
zifikation des Richtungsparameters hin zur Spezifikation. Spezifikation
bedeutet die Festlegung auf einen möglichen Wert. Da es nur zwei Werte
gibt (‚davor‘, ‚danach‘), ist die Dialektspaltung die Folge der Wahl des
komplementären Parameterwertes.
20 Hubert Haider
(13d) Tisêr ûzero ordo [...] mûoze [duingeni [mit sînero unuuendigi
[ei [diu uuendigen ding]]]] (NB 217,20)
diese äußere Ordnung muss bezwingen mit seiner Unwandelbar-
keit die unwandelbaren Dinge
Die Belege unter (13) illustrieren alle Stellungsmuster des dritten Typs.
(13a) und (13b) haben das Verb in der Position zwischen den Objekten.
(13c) ist kopf-final, und (13d) kopf-initial.
Beispielsbelege 3 – Älteres Isländisch (Hróarsdóttir 2000; Schallert 2006,
157f.):
(14a) hafer Þu [Þinu lidi [jatat Þeim]]
hast Du deine Hilfe versprochen ihnen
(14b)hefir hann [ritað sýslungum sínum bréf]
hat er geschrieben Landsleuten seinen (einen) Brief
(14c) Því eg get ekki [meiri liðsem [Þér veitt]]
da ich kann nicht mehr Hilfe dir bieten
Auch hier zeigt sich das gleiche Bild, nämlich die Triade von Mittelstel-
lung (14a), kopf-initialer Stellung (14b), und kopf-finaler Stellung in (14c).
Auch hier zeigt sich der unterspezifizierte Richtungsparameter bei der
Lizenzierung der Phrasen durch den Kopf innerhalb seiner Projektion.
Insgesamt entspringt die Wortstellungsfreiheit der älteren germani-
schen Sprachen zwei Hauptquellen. Einerseits ist es die fakultative Posi-
tionierung des Verbs in kopf-finaler, kopf-initialer, und intermediärer
Position als Systemeigenschaft des dritten Typs, und anderseits ist es die
für OV-Sprachen typische Variation der Abfolge der Argumente im Mit-
telfeld dank der nicht kompakten Organisation der links-lizenzierend auf-
gebauten Phrasen.
später als an zweiter Stelle. [...] Die absolute Endstellung tritt nach 1250 in über
65% aller eingeleiteten Nebensätze auf.
Der springende Punkt dabei ist, dass nominale Objekte dem Verb folgen
können (Prell 2003, 246):
(15) So wirt dir [vergeben von got din missetat] (Hoffmannsche Predigt-
sammlung)
Das nicht-finite Verb geht fakultativ nominalen Objekten voran, wie das
für den dritten Typ typisch ist. Die entscheidende Frage ist daher folgen-
de. Wie kommt es, dass eine Reihe einzelsprachlicher Entwicklungen auf
denselben Typ hin konvergiert und damit einer ganzen Sprachgruppe
zukommt? Mit anderen Worten, wie kommen beispielsweise Spre-
cher(innen) des frühen Mittelenglischen und des frühen Mittelisländischen
unabhängig voneinander zum selben Zustand ihrer jeweiligen Grammatik,
nämlich einer mit fixiertem Richtungswert für den VO-Typ? Die analoge
Frage stellt sich für die Sprachen des OV-Typs.
Es muss einerseits möglich gewesen sein, dass eine innovative Varian-
te neben der etablierten koexistieren konnte, und es muss ein syntakti-
scher Umstand als Drift im Sinne Sapirs (1921) dingfest gemacht werden,
der eine allmähliche Präponderanz in Richtung OV (beziehungsweise VO)
als der innovativen Variante bewirkte. Anderenfalls ist es nicht verständ-
lich, wie der Wandel in Richtung fixer Direktionalität sich konvergent und
sprachenübergeifend durchsetzen konnte.
Der fragliche Faktor findet sich in einer zweischneidigen Auswirkung des
Richtungsparameters. Einerseits regelt er die Position des Kopfes relativ
zu den vom Kopf abhängigen Phrasen, und andererseits regelt der Rich-
tungsparameter indirekt die Verbabfolge in Sätzen mit Auxiliaren und
Quasi-Auxiliaren (z.B. Modal- und Kausativverben), da auch diesen Ver-
ben eine Selektionsrichtung zukommt.
In VO-Sprachen ist die Abfolge der Verben im einfachen Satz aus-
nahmslos die, die dem Richtungsparameter entspricht. Es gibt keine ande-
re Abfolge. (16) ist ein Beispiel dafür:
(16) Surely, you [VP must → [VP have → [VP been → [VP joking]]]]
Der Richtungsparameter wirkt sich auf die Verbabfolge dadurch aus, dass
Verben andere Verb(phras)en selegieren. (17) illustriert die Situation im
heutigen Englisch. Jedes Auxiliarverb selegiert eine VP, die in der kanoni-
schen Richtung lizenziert wird. Daraus folgt zwangsläufig, dass die abhän-
gige VP, und somit das abhängige Verb dem selegierenden Verb folgt.
Wie wurde Deutsch OV? 23
Grammatik spaltete sich eine neue ab. Die Koexistenz der alten und neu-
en Grammatik änderte sich allmählich zugunsten der Ausbreitung der
neuen Grammatik mit fixer Richtungsfestlegung und (19b) als dem einzi-
gen Muster, durch die abnehmende Frequenz der anderen Muster.
Bleibt nun die Frage, wie es andererseits zu einem Drift in Richtung
des OV-Typs kommen kann. Auch hier dürfte die Abfolgevariation in
Sätzen mit Auxiliar- und Quasi-Auxiliar-Verben eine entscheidende Rolle
spielen. Auffällig ist zum Ersten, dass in den germanischen OV-Sprachen,
anders als in den VO-Sprachen (21), in eingeleiteten Sätzen keine
Hauptsatzwortstellung11 möglich ist. Auffällig ist auch, dass in den germa-
nischen VO-Sprachen die direkte Einbettung eines Satzes mit Hauptsatz-
wortstellung nicht zulässig ist (vgl. Vikner 1995). Es muss ein eingeleiteter
Satz sein. Im Deutschen ist es genau umgekehrt, wie (20a) im Vergleich zu
(20c) belegt.
(20a) Man sagt, diese Verbstellung sei gut möglich
(20b)Man sagt, dass diese Verbstellung gut möglich sei
(20c) *Man sagt, dass diese Verbstellung sei gut möglich
(21a) He said *(that) [never before] has he read such a good article
(21b)Han sagde *(at) [aldrig før] havde han læst sådan en god artikel
Dänisch
(21c) *er sagt, (dass) [nie zuvor] hatte er gelesen solch einen guten Ar-
tikel
Die Existenz der satzinternen V2-Abfolge deutet darauf hin, dass es schon
vorher diese Linksstellung gab, die die Linksstellung der nicht-finiten Ver-
ben im dritten Typ verstärkte und eine Frequenz von Linksstellungsmus-
tern ergibt, die die Reanalyse zu fixer Linksköpfigkeit begünstigte.
Was muss der Fall sein, damit sich eine Bevorzugung der Muster er-
gibt, die zur Fixierung auf Rechtsköpfigkeit führte? Die Antwort findet
sich in einer Eigenschaft, die alle OV-Sprachen gemeinsam haben, näm-
lich die Bildung von Verbalkomplexen. Diese Eigenschaft ergibt sich aus
der Vermeidung von Zentraleinbettung von eingebetteten VPs (22a), ana-
log zu (16) in VO. In OV-Sprachen weisen alle Indizien auf eine Struktur
wie in (22b) hin (vgl. Haider 2003): mehrgliedriger Verbalkomplex anstelle
von zentraleingebetteten VPs.
_____________
11 Hauptsatzwortstellung = besetztes Vorfeld und finites Verb in der linken Klammer. Einzi-
ge Ausnahme ist Friesisch, wo es V2-Muster in eingeleiteten Sätzen gibt. Ob dies eine
Neuerung ist oder nicht, ist unklar (vgl. De Haan / Weerman 1986).
Wie wurde Deutsch OV? 25
(22a) dass [er [ VP [VP [VP [VP das Problem gelöst] haben] müssen] wür-
de]]
(22b)dass [er [VP das Problem [[[gelöst haben] müssen] würde]]
In (22b) gibt es eine einzige VP, und nicht eine Kaskade von vier VPs
(22a). Auf diese Weise wird das Problem vermieden, das kopf-finale Ein-
bettungen beinhalten, nämlich das von Zentraleinbettung gleicher Konsti-
tuenten. (22a) ist extrem parserunfreundlich, denn es ist für den Parser
nicht möglich, die Anzahl der zu öffnenden VP-Knoten zu bestimmen
ohne das Satzende zu kennen. In VO-Strukturen tritt das Problem nicht
auf, denn jede VP präsentiert dem Parser zuerst das Verb der jeweils
übergeordneten VP. Das Problem (22a) wird gelöst, indem die Grammatik
eine Verbalkomplexbildung anbietet. Es gibt keine geschachtelten VPs. Es
gibt nur eine VP und die Verben sind im Verbalkomplex versammelt.
Dieser hat zwar ebenfalls eine ungünstige, weil linksverzweigende, Struk-
tur, doch diese ist auf einen lokalen Bereich beschränkt. Aber auch hier
‚sinnt‘ die Grammatik auf Auswege: In allen germanischen VO-Sprachen
gibt es Verbstellungsvariation, die zur Reduktion der Linksverzweigung im
Verbalkomplex führt:
(23a) dass [er [VP das Problem [würde [[gelöst haben] müssen]]
(23b)dat hij het probleem [zou [moeten [hebben opgelost]]]
Niederländisch
(23c) *dass er das Problem würde müssen haben aufgelöst
Niederländisch hat die radikalste Umstrukturierung des Verbalkomplexes
erreicht. Er erlaubt die komplette Spiegelbildanordnung zum Deutschen
(23b). Damit ist der ‚Makel‘ der Linksverzweigung eliminiert. Aber im
Niederländischen, wie im Deutschen, gibt es Variation in der Abfolge der
Verben im Verbalkomplex. Das ist ein germanisches OV-Merkmal. In
keiner VO-Sprache gibt es Variation unter den Auxiliarabfolgen, aber in
jeder germanischen OV-Sprache gibt es sie:
(24a) alles, was er hätte gesehen haben können
(24b)alles, was er gesehen hätte haben können
(24c) alles, was er gesehen haben hätte können
(24d) dat hij niets kan hebben gezien Niederländisch
dass er nicht kann haben gesehen (Geerts u.a. 1984, 1069)
(24e) dat hij niets kan gezien hebben
(24f) dat hij niets gezien kan hebben
Den heutigen Varietäten des Deutschen ist gemeinsam, dass auch dann,
wenn die Umstellung über den Verbalkomplex hinaus in das Mittelfeld
26 Hubert Haider
hinein möglich ist, das Vollverb stets in der finalen Position verharrt und
damit die Rechtsköpfigkeit der VP festhält.
(25a) dass er für sie nicht hatte die Firma am Leben halten wollen12
(25b)Man hätte (halt) müssen die Polizei verständigen13
(25c) das si am Grendel wöt sine verlore chlause zruggeh14
dass sie dem Grendel wollte seine verlorene Pfote zurückgeben
Dass die Verbstellungsvariation spezielle Berücksichtigung verdient, be-
tont auch Prell (2003, 245):
Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Nhd. besteht darin, dass im mehrteiligen
Verbalkomplex im mhd. Nebensatz die Abfolge der Verbformen nicht fest geregelt
ist. Auch hier dominiert bereits die nhd. Stellung (Infinitum vor Finitum) mit
Werten zwischen 68 und 75 % pro Jahrhunderthälfte, die umgekehrte Abfolge
einschließlich der Distanzstellung der Verbformen ist aber auch jederzeit erwart-
bar
Die folgenden Belege entnimmt Prell (2003, 245) dem Mühlhausener
Reichsrechtsbuch.
(26a) hivte ist der vroliche tak daz vnser herre wollte varn ze ierl’m. vn
die mrter liden vmbe alle die mennischen die er heilen wolte.
(Kuppitsch’sche Predigtsammlung)
(26b)Hinach is beschribin daz ein iclich man hi zv mvlhusen in die ri-
chis stat sal vride habi in simmi huz
(26a) ist ein Beleg mit beiden möglichen Abfolgen im Verbalkomplex im
selben Satz. Der erste Satz zeigt die ‚niederländische‘ Abfolge ‚wollte farn‘
(plus Nachstellung einer Präpositionalphrase). Im zweiten Satz von (26a)
liegt die Abfolge wie im Nhd. vor. In (26b) gibt es eine Voranstellung des
finiten Auxiliars ins Mittelfeld hinein, aus dem Verbalkomplex heraus, wie
es auch im Nhd. in Ersatzinfinitivkonstruktionen üblich ist.
Nun, da wir die ‚Hauptverdächtigen‘ für den Wandel in Richtung der
OV/VO-Dialektaufspaltung dingfest gemacht zu haben glauben, ist der
Punkt erreicht, um die Erklärungshypothese zu fixieren. Ausgangslage ist
eine Grammatik mit nicht fixiertem, d.h. unterspezifiziertem Richtungs-
wert für die Kategorie V. Es kann alternativ nach rechts oder nach links
lizenzieren.
_____________
12 Zitat aus: Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie.
13 Dies ist ein sehr frequentes Muster in der Wiener Umgangssprache: Das nicht-finite Mo-
dalverb geht an die Mittelfeldspitze. Es befindet sich aber nicht in der linken Klammer, zu-
sammen mit dem finiten Verb, denn Partikel und Pronomina an der Wackernagelposition
treten dazwischen: ‚Er hätt‘ sich müssen wärmere Socken anziehen.‘
14 Schwytzerdytsch, aus Wurmbrand (2006).
Wie wurde Deutsch OV? 27
6. Konvergierende Drifts?
Der Wandel besteht in der Fixierung der Lizenzierungsrichtung. Die
Grammatik mit frei wählbarer, weil unterspezifizierter Lizenzierungsrich-
tung des Verbs ändert sich zu einer mit fixierter Richtung. Da es bei dieser
Fixierung eine Alternative gibt, sehen wir heutzutage zwei Grammatikfa-
milien. Eine ist die OV-Familie der westgermanischen Sprachen, und die
andere die VO-Familie der nordgermanischen Sprache sowie Englisch.
Wegen des Mangels an repräsentativ erhobenen und analysierten Da-
ten aus detaillierten, sprachvergleichenden Recherchen zum fraglichen
Sprachzustand kann hier bloß eine Konjektur formuliert werden, wie die
oben formulierte Generalhypothese („von unterspezifiziert zu fixiert“) in
der grammatischen Implementierung funktioniert haben kann. Hier ist sie:
Der Wandel vom unterspezifizierten zum fixierten Wert hat jeweils
klare Konsequenzen, die sich aus der konsequenten Implementierung und
den dadurch ausgelösten Folgewirkungen ergeben. Die Implementierung
als ‚fixiert auf rechts-lizenzierend‘ ergibt eine Festlegung auf die Verbab-
folge 1-2-3 als relative Abfolge, und die V-Objekt-Abfolge. Diese ist in
allen Fällen mit nur zwei Verben deckungsgleich mit der Variante, die sich
aus der Voranstellung des finiten Verbs ergibt. Die Reanalyse wird be-
günstigt, wenn es die Möglichkeit der Voranstellung des Finitums auch in
eingebetteten Sätzen gab, so wie in den heutigen skandinavischen Spra-
chen.
In der Variante ‚fixiert auf links-lizenzierend‘ ergibt sich die relative
Verbabfolge 3-2-1 und eine Objekt-V-Abfolge. Wiederum führt die Vor-
anstellung des Finitums zu 1-2-Abfolgen. Entscheidend ist aber auch, dass
mit der Linkslizenzierung der Ersatz von VP-Einbettung durch Verbal-
28 Hubert Haider
komplexbildung verbunden ist. Das äußert sich in den Daten als Objekt-V2-
V1- neben einer Objekt-V1-V2-Abfolge. Begünstigt wird die Erkennbarkeit
der Fixierung auf kopf-final, wenn es, so wie in den heutigen germani-
schen OV-Sprachen, keine Finit-Voranstellung in eingeleiteten Sätzen
gibt, die die V2-V1-Abfolge maskiert, weil dann die Voranstellung von V1
als linksköpfig in vielen Kontexten nicht von der Finitvoranstellung zu
unterscheiden ist.
Der jeweilige nachhaltige Drift ergibt sich dadurch, dass in den fixier-
ten Varianten der Grammatik die zulässigen Wortstellungsmöglichkeiten
eine Teilmenge jener Stellungsmuster bilden, die von der Vorgänger-
grammatik zugelassen sind. Das führt dazu, dass die aktiv gebrauchten
Muster im innovativen Dialekt eine Teilmenge des Grunddialekts sind,
und die anderen Muster passiv zugelassen werden, zum Teil als tolerierte
Varianten, in der Weise, wie wir uns auch heute nicht daran stoßen, wenn
jemand eine Variante gebraucht, die man selbst aktiv nicht benützt.
Der Grund für die Reanalyse, die überhaupt erst einen Drift begrün-
dete, liegt aber in der ‚Konkurrenz‘ zwischen Verbvoranstellung infolge
der Finitumstellung (als pangermanische Eigenschaft) und den Voranstel-
lungsvarianten infolge der Alternative zwischen Rechts- und Links-
Lizenzierung. Der Wandel zu fixer Lizenzierung entspricht einer gramma-
tischen ‚Flurbereinigung‘ als Reduktion der Quellen für Verbumstellung,
oder mit anderen Worten, einer Vereinfachung des Verhältnisses zwischen
Linearisierung und syntaktischer Strukturierung. Es gibt viele Sprachen
des dritten Typs, aber darunter sind keine Sprachen mit obligater Finitum-
stellung.
7. Zusammenfassung
Die heutigen germanischen Sprachen sind, was die Verbalphrase betrifft,
jeweils entweder kopf-final (westgermanische OV-Sprachen) oder kopf-
initial (nordgermanische VO-Sprachen). Das ist Ergebnis eines syntakti-
schen Wandels. Der gemeinsame sprachliche Vorfahre war weder OV
noch VO, sondern vom dritten Typus, nämlich unterspezifiziert hinsicht-
lich des Richtungswertes von V°. Der Wandel wurde nicht durch mor-
phosyntaktischen Abbau angetrieben.
Der primäre Wandel ist der von ‚unterspezifiziert‘ zu ‚spezifiziert‘ im
Richtungswert des Verbums. Dieser Wandel ermöglichte zwei einander
ausschließende Implementierungswege, nämlich als links-lizenzierend
(OV) oder als rechts-lizenzierend (VO). Jede dieser Möglichkeiten setzt
einen Drift in Gange.
Wie wurde Deutsch OV? 29
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_____________
1 Schrodt (2004, § S 183, 200).
2 Vgl. Maurer (1926, § 67ff.).
3 Zitiert wird die Tatianbilingue (= T) nach der Edition von Masser (1994) (= M) mit Seiten-
und Zeilenangabe. Zum besseren Vergleich der verschiedenen Textsortentraditionen wird
auch noch die Bibelstelle angegeben. Da eine syntaktische Analyse vorliegt, ist die
s-Graphie normalisiert; die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verän-
dert. Die Verba finita sind durch Fettdruck hervorgehoben.
34 Franz Simmler
_____________
4 Gallmann (2005, 903).
5 Fritz (2005, 1133).
6 Dazu mit neuen Beispielen und in Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen
Prämissen Simmler (2008a); Wich-Reif (2008).
7 Dazu auch Dittmer / Dittmer (1998, 36).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 35
• Diatessaron-Traditionen
1. Tatianbilingue, lateinisch – althochdeutsch (Stiftsbibliothek St.
Gallen, Cod. 56) (9. Jh.) (= T + M)
2. Zürich, Zentralbibliothek, C 170 App. 56 (13. / 14. Jh.) (= Zü)
• Bibel-Traditionen
3. Luthers Septembertestament, Neues Testament, Wittenberg
1522 (= LS)
4. Zürcher Bilingue, Neues Testament, lateinisch – deutsch, Dru-
cker: Christoph Froschauer, Zürich 1535 (Zentralbibliothek Zü-
rich, Cod. III C 341) (= ZüD)
5. Die Bibel, Gesamtbibel, Stuttgart 1980 (= Einheitsübersetzung =
EÜ)
• Lateinische Traditionen
6. Erasmus von Rotterdam, Neues Testament, griechisch – latei-
nisch, Drucker: Iohannes Frobenius, Basel 1519 (VD 16 B 4197;
IDC No. HB-126) (= ER)
7. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart 4. Aufl. 1994 (=
Biblia)
Für die Fragestellung von besonderer Relevanz sind die Bilinguen Nr. 1
und Nr. 4, denen ein lateinischer Textteil beigegeben ist, der sich in Nr. 1
auf die Vulgata-Tradition (Nr. 7) und in Nr. 4 auf den Text des Erasmus
von Rotterdam stützt (Nr. 6). Der Text von Erasmus von Rotterdam liegt
auch Luthers Septembertestament (Nr. 3) zugrunde. Die Übersetzung von
Luther ist über einen Zürcher Nachdruck von 1524 auch die Grundlage
des deutschen Textteils der Zürcher Bilingue (Nr. 4).8
In der Untersuchung konzentriere ich mich auf die Tatianbilingue
(Nr. 1), Luthers Septembertestament (Nr. 3) und die Zürcher Bilingue
(Nr. 4). Ein Ausblick wird auf die Einheitsübersetzung (Nr. 5) und beson-
dere Serialisierungsregeln im Frühneuhochdeutschen Prosaroman und in
Romanen der Gegenwartssprache gegeben. Die lateinischen Texte des
Erasmus von Rotterdam (Nr. 6) und der Vulgata (Nr. 7) werden bei Be-
darf herangezogen.
_____________
8 Vgl. Simmler (2008b).
36 Franz Simmler
_____________
9 Da eine syntaktische Untersuchung vorliegt, wurden auch bei den Textexemplaren Nr. 2,
4f. und 7 verschiedene s- und r -Graphien vereinheitlicht, übergeschriebene Buchstaben
wurden nachgestellt, diakritische Zeichen über <y> weggelassen und Abkürzungen aufge-
löst. Die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verändert. Zitiert wird je-
weils nach der originalen Blatt- oder Seitenzählung und der Zeilenanzahl; r = recto, v =
verso.
10 In ZüD wird zusätzlich die Spalte angegeben; a = linke Spalte, b = rechte Spalte.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 37
(6c) yhr seytt aus gangen als zu eynem morder / mit schwerdten vnd
mitt stangen / mich zu fahen / bynn ich doch teglich gesessen
vnd hab geleret ym tempel / (LS, Bl. XXIIv, Z. 19-21)
(6d) Tanquam ad latronem existis cum gladijs et fustibus ad
comprehendum me: quotidie apud uos sedebam docens in
templo (ZüD, 94a, Z. 26-31)
(6e) Ir sind auszgangen als zuo einem moerder mit schwaerten vnd
mit stangen mich zefahenn / bin ich doch taeglich gesaessen
vnd hab geleert im tempel / (ZüD, 94b, Z. 28-32)
(6f) Wie gegen eien Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln
ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag saß ich im
Tempel und lehrte, (EÜ, 1111)
(7a) Et terra mota est et petre scissae sunt et monumenta aperta sunt
et multa corpora sanctorum qui dormirant surrexerunt. (T, M,
647.21-27; Mt 27,51f.)
(7b) Inti erda girourit uuas Inti steina gislizane uuarun Inti grebir uur-
dun giofanotu Inti manage lihhamon thiedar sliefun erstuontun.
(T, M, 647.21-27)
(7c) vnd die erde erbebete / vnd die felsen zu ryssen / vnd die greber
thetten sich auff / vnd stunden auff viel leybe der heyligen / die
da schlieffen / (LS, Bl. XXIIIIr, Z. 17-19)
(7d) et terra motra est, et petrae scissae sunt, et monumenta aperta
sunt, et multa corpora sanctorum, qui dormierant, surrexerunt,
(ZüD, 101b, Z. 9-13)
(7e) Vnd die erd erbidmet / vnd die velsen zerrisssend / vnnd die
greber thettend sich auf / vnnd stuondend auf vil leyb der hey-
ligen die da schlieffend. (ZüD, 101a, Z. 9-14)
(7f) Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffne-
ten sich, und die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren,
wurden auferweckt. (EÜ, 1114)
In der Beispielgruppe (5) ist in den deutschsprachigen Textteilen ein un-
terschiedliches Verhalten gegenüber der lateinischen Vorlage zu erkennen.
In den Beispielen (5a) und (5b) befinden sich die Verba finita acceperunt
und Intfie(n)gun in Zweitstellung, die Serialisierungen des Prädikats ent-
sprechen sich. Das erste Satzglied ist von einem Temporalsatz besetzt,
dessen Subjekt in (5a) aus einem Subjektsatz besteht; in (5b) ist das Sub-
jekt thie, das durch einen Attributsatz erweitert ist. In Verbindung mit den
38 Franz Simmler
Verba finita acceperunt und Intfie(n)gun ist ein Subjekt syntaktisch nicht reali-
siert. Dieses fehlt jedoch nicht,11 sondern die Subjektinformation ist auf-
grund der spezifischen morphologischen Struktur des Lateinischen und
des Althochdeutschen durch die Personkategorie in der finiten Verbform
ausgedrückt und muss daher nicht immer durch ein eigenes Satzglied aus-
gedrückt werden.12 In Luthers Septembertestament (5c) ist das Subjekt ein
iglicher realisiert und befindet sich in Zweitstellung nach dem Prädikat
empfieng, das die erste Position einnimmt. Diese Serialisierung bleibt in der
Zürcher Bilingue (5e) erhalten. In der Einheitsübersetzung (5h) wird die
Zweitstellung des Prädikats eingeführt. Mit der Änderung der Serialisie-
rung des Prädikats ist in (5c) gegenüber (5b) ein anderer Gesamtsatzauf-
bau verbunden. In (5c) liegt eine Hypotaxe aus Hauptsatz 1 – Nebensatz
(einem Subjektsatz zum Verbum finitum kamen des ersten Hauptsatzes) –
Hauptsatz 2 vor, in (5b) eine Hypotaxe aus einem Nebensatz 1 (einem
Temporalsatz), einem Nebensatz 2 (einem Attributsatz zum Nukleus thie,
dem Subjekt des Temporalsatzes) und einem Hauptsatz.
In der Beispielgruppe (6) existieren Serialisierungsunterschiede auch
zwischen der lateinischen Vorlage und der althochdeutschen Übersetzung.
Im Lateinischen befinden sich eram (6a) und sedebam (6d) in Drittstellung.
Diese wird im Althochdeutschen nicht übernommen; uuas hat eine Zweit-
stellung (6b), und zusätzlich ist mit ih ein syntaktisch realisiertes Subjekt
vorhanden, das im Lateinischen durch die morphologische Struktur signa-
lisiert ist. Noch stärker von der lateinischen Vorlage weicht Luther ab, der
die Erststellung des Verbum finitum bynn einführt (6c), was von der Zür-
cher Bilingue übernommen wird (6e). In der Einheitsübersetzung (6f)
erscheint wieder die Zweitstellung.
In der Beispielgruppe (7) stimmen die Serialisierungen im Lateinischen
und Althochdeutschen wieder überein; die Prädikate surrexerunt (7a) und
erstuontun (7b) befinden sich in Zweitstellung; ihnen geht jeweils ein Sub-
jekt voraus, dessen Nukleus um einen Attributsatz erweitert ist. Luther
stellt wiederum das Prädikat stunden auff an die erste Position (7c), gefolgt
vom Subjekt viel leybe der heyligen. Die Zürcher Bilingue folgt gegen den
selbst verwendeten lateinischen Textteil (7d) im deutschen Textteil (7e)
erneut Luther. In der Einheitsübersetzung (7f) ist die Zweitstellung des
Prädikats vorhanden.
Die Beispielgruppen zeigen exemplarisch, dass die Erststellung von
Prädikaten im Lateinischen und Deutschen vorkommt (1a, 1b) und sich
das Althochdeutsche am stärksten in der Serialisierung an das Lateinische
anlehnt, ohne jedoch davon sklavisch abhängig zu sein (vgl. 6b mit 6a).
_____________
11 So Schrodt (2004, § S 186), bei Imperativ- und Wunschsätzen.
12 Vgl. Simmler (1997, 107ff.).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 39
Die Erststellung des Prädikats mit folgendem Subjekt erweist sich als eine
Serialisierung, die auch das Lateinische verwendet, die aber im Deutschen
unabhängig von einer lateinischen Vorlage eingesetzt wird. Sie ist daher als
genuine Serialisierungsregel des Deutschen anzusehen13 und ist nicht ein-
fach eine unmittelbare „Fortführung der idg. Verhältnisse“.14 Sie besitzt
eine spezifische Textfunktion, die über die bisher erwähnte „satzverknüp-
fende und emphatische Funktion“15 hinausgeht. Ihre Textfunktion wird in
der Verbindung von Teilsätzen innerhalb von Gesamtsätzen realisiert und
besteht darin, einen unmittelbaren Anschluss an eine vorausgehende
Handlung herzustellen und mit syntaktischen Mitteln einen Handlungszu-
sammenhang herzustellen. In (5c) wird so die großzügige und überra-
schende Entlohnung hervorgehoben, in (6c) der Widerspruch zwischen
der Art der Gefangennahme Christi und seinem öffentlichen Auftreten im
Tempel und in (7c) der Zusammenhang zwischen natürlichen Ereignissen
und der übernatürlichen Auferstehung der Heiligen. Dieser syntaktisch
markierte Zusammenhang geht in der Einheitsübersetzung in (6f, 7f)
durch die Übersetzung mit jeweils zwei Gesamtsätzen verloren und ist nur
inhaltsseitig aus der Abfolge der Gesamtsätze herzuleiten.
(10f) Wenn einst in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären,
die bei euch geschehen sind – man hätte dort in Sack und Asche
Buße getan. (EÜ, 1088)
(11a) Ideo omnis scriba doctus in regno celorum similis est homini pa-
tri familia (T, M, 241.26-28; Mt 13,52)
(11b)bithiu giuuelih bouhhari gelerter in rihhe himilo gilih ist manne
fateres hiuuiskes (T, M, 241.26-28)
(11c) Darumb eyn iglicher schrifftgelerter der zum hymelreych gelert
ist / ist gleich eynem haus vatter / (LS, Bl. XIv, Z. 29f.)
(11d) Propterea omnis scriba doctus ad regnum coelorum, similis est
homini patrifamilias, (ZüD, 45b, Z. 28-31)
(11e) Darumb ein yetlicher gschrifftgelerter der zum himmelreych ge-
leert ist / ist gleych einem hauszuatter / (ZüD, 45a, Z. 29-32)
(11f) Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreichs ge-
worden ist, gleicht einem Hausherrn, (EÜ, 1093)
(11g) Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden
ist, gleicht also einem Hausherrn – Also gleicht jeder Schriftge-
lehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem
Hausherrn
(12a) qui ergo iurat In altare iurat In eo et In omnibus quae super illud
sunt. (T, M, 499.31-501.3; Mt 23,20)
(12b)thiede suerit in themo alttere ther suerit In themo Inti in allen
thiu dar obar Imo sint (T, M, 499.31-501.3)
(12c) darumb / wer do schweret bey dem alltar / der schweret bey
dem selben vnnd bey allem das droben ist / (LS, Bl. XIXr, Z. 20-
22)
(12d) Qui ergo iurauerit per altare, iurat per ipsum, et per omnia quae
super illud sunt. (ZüD, 78a, Z. 36- 79b, Z. 1)
(12e) Darumb waer da schweert bey dem Altar / der schweert bey
dem selben / vnd bey allem das darauff ist. (ZüD, 78b, Z. 39-
79a, Z. 1)
(12f) Wer beim Altar schwört, der schwört bei ihm und bei allem, war
darauf liegt. (EÜ, 1105)
(13a) amen amen dico tibi quia haec nocte antequam gallus cantet ter
me negabis (T, M, 565.16-19; Mt 26,34)
42 Franz Simmler
(13b)uuar uuar quidu ih thir uuanta In theru naht er thanne hano singe
thriio stunt forsehhis mih (T, M, 565.16-19)
(13c) warlich ich sage dyr / ynn dyser nacht / ehe der hane krehet /
wirstu meyn drey mal verleugnen / (LS, Bl. XXIIr, Z. 25-27)
(13d) Amen dico tibi, quod in hac nocte antequam gallus cantet, ter me
negabis. (ZüD, 92a, Z. 25-28)
(13e) Warlich ich sag dir / In diser nacht ee der Han kraeyet / wirst
du mein drey mal verlougnen. (ZüD, 92b, Z. 28-31)
(13f) Amen, ich sage dir: In dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht,
wirst du mich dreimal verleugnen. (EÜ, 1110)
(13g) In dieser Nacht wirst du mich dreimal verleugnen, noch ehe
der Hahn kräht. – Noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich in
dieser Nacht dreimal verleugnen.
(13h)In dieser Nacht noch vor dem Hahnenkrähen wirst du mich
dreimal verleugnen. – In dieser Nacht wirst du mich noch vor
dem Hahnenkrähen dreimal verleugnen.
(14a) Centurio autem et qui cum eo erant custodientes ihesum uiso
terre motu et his quae fiebant timuerunt uualde glorificantes
(deum) et dicentes hic homo iustus est uero dei filius. (T, M,
649.1-9; Mt 27,54)
(14b)ther hunteri Inti thie mit imo uuarun bihaltenti then heilant ge-
sehenemo erdgirournessi Inti then dar uuarun forhtun in thrato
got diurisonti Inti quedenti theser man rehtliho ist uuarliho
gotessun. (T, M, 649.1-9)
(14c) Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Je-
sus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was ge-
schah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, das war
Gottes Sohn! (EÜ, 1114)
In der Beispielgruppe (8) wird die Endstellung des Prädikats in (8a) und
(8b) von Luther (8c) in eine Drittstellung verändert. Dies behält die Zür-
cher Bilingue (8e) gegen die beigegebene lateinische Textgrundlage (8d)
bei.
In der Beispielgruppe (9) befindet sich das Prädikat in den lateinischen
Traditionen (9a-c, 9f) und im deutschen Textteil der Tatianbilingue (9d) in
Zweitstellung, während es bei Luther (9e) und in der Zürcher Bilingue
(9g) die Drittstellung einnimmt. Obwohl nach dem Verbum finitum in
(9e) kein Satzglied mehr folgt, handelt es sich nicht um einen eindeutigen
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 43
Beleg für eine Endstellung. Methodisch sind die Satzglieder vom Beginn
des isoliert gebrauchten einfachen Satzes bzw. des Teilsatzes durchzu-
nummerieren; in diesem Falle befindet sich zu reyssen in dritter Position.
Auch bei Sätzen wie Er schläft und Er trinkt kommt niemand auf den Ge-
danken, eine Endstellung anzusetzen. Eine Endstellung ist bei einer Vari-
abilität der Serialisierungsregeln wie im Althochdeutschen zwingend erst
dann gegeben, wenn sich mehrere Satzglieder vor dem Verbum finitum
befinden und auch der Vergleich zum Lateinischen die Interpretation
stützt.
In der Beispielgruppe (10) zeigen sich bis zur Zürcher Bilingue diesel-
ben Serialisierungsregeln wie in der Beispielgruppe (8). Der Unterschied
besteht darin, dass die erste Satzgliedposition in Luthers Septembertesta-
ment (10c) von einem Konditionalsatz, der um einen Komparativsatz
erweitert ist, besetzt ist. Diese Konstruktion wird in der Einheitsüberset-
zung beibehalten (10f): An die Stelle des Komparativsatzes tritt ein Attri-
butsatz, die Drittstellung des Verbum finitum hätte wird beibehalten; der
Konditionalsatz wird vom folgenden Hauptsatz durch einen Gedanken-
strich abgegrenzt. Dadurch wird die im Hauptsatz gegebene Schlussfolge-
rung durch eine Interpungierung und die Drittstellung des Verbum fini-
tum besonders hervorgehoben.
In der Beispielgruppe (11) hängt die Bestimmung der Satzgliedposi-
tionen davon ab, ob das Prädikativum als Satzglied gewertet wird oder
nicht; die unterschiedlichen Serialisierungen im Lateinischen und Deut-
schen sind jedoch von dieser Entscheidung nicht betroffen. Wird das
Prädikativum als Satzglied gewertet, dann nehmen est in (11a) und ist in
(11b) eine Viertposition ein; wird das Prädikativum als Teil des Prädikats
verstanden, liegen in similis est (11a) und gilih ist (11b) Drittpositionen vor
mit der Abfolge Prädikativum plus Kopula. Bei einer Wertung als Satz-
glied befindet sich ist bei Luther (11c) und in der Zürcher Bilingue (11e) in
Drittposition und das Prädikativum in Viertposition. Wird eine Wertung
als Satzgliedteil vorgenommen, ist das Prädikat in Drittstellung mit der
Abfolge Kopula plus Prädikativum. In der Einheitsübersetzung (11f)
hängt die Ermittlung der Serialisierung von der syntaktischen Wertung
von also ab. Wird es aufgrund der positionellen Nähe zu Schriftgelehrte als
postnukleares Adverb-Attribut aufgefasst, mit der textuellen Funktion,
eine vorausgegangene Argumentation weiterführend wieder aufzunehmen,
dann befindet sich gleicht in Zweitstellung. Werden Permutationen wie in
(11g) akzeptiert, müsste von einer Drittstellung ausgegangen werden mit
einer Fernstellung des Attributsatzes zum Nukleus Schriftgelehrte.
In der Beispielgruppe (12) befindet sich das Prädikat in der lateini-
schen Vorlage (12a) und in der althochdeutschen Übersetzung (12b) in
Zweitstellung, die erste Position wird von einem Subjektsatz eingenom-
44 Franz Simmler
men. Bei Luther (12c) kommt das Prädikat in Drittstellung vor, weil dem
Subjektsatz ein Adverbiale darumb vorangestellt wird, das in der lateini-
schen Vorlage (12d) kein Äquivalent besitzt. Diese Struktur wird in der
Zürcher Bilingue (12e) beibehalten. In allen deutschsprachigen Überset-
zungen wird der Subjektsatz durch ein Demonstrativum wieder aufge-
nommen. In der Einheitsübersetzung (12f) wird auf das Adverbiale ver-
zichtet, so dass das Prädikat wieder die Zweitstellung einnimmt.
In der Beispielgruppe (13) liegen unterschiedliche lateinische Kon-
struktionen vor, in (13a) ein Kausalsatz und in (13d) ein Objektsatz. In
beiden Fällen befindet sich das Prädikat negabis in Endstellung. In der
Tatianbilingue (13b) nimmt das Prädikat forsehhis im koordinierten Kausal-
satz die Viertposition ein. Ihm gehen zwei temporale Informationen vor-
aus, ein Temporaladverbiale In theru naht und ein Temporalsatz er thanne
hano singe, und ein Modaladverbiale thriio stunt. Der Temporalsatz hat dabei
die Funktion, die allgemeine Zeitangabe des Temporaladverbiales zu prä-
zisieren. Bei Luther (13c) nimmt das Verbum finitum die Drittstellung ein;
die beiden temporalen Informationen bleiben vor dem Verbum finitum
stehen, das Modaladverbiale wird in die Satzklammer aus Verbum finitum
und infinitum integriert. Diese Struktur wird in der Zürcher Bilingue (13e)
beibehalten und findet eine Kontinuität in der Einheitsübersetzung (13f).
Die unterschiedlichen Funktionen der temporalen Informationen und ihr
Satzgliedstatus bzw. ihre Rückführbarkeit auf ein Satzglied lassen sich
durch Permutationen (13g) und Substitutionen (13h) nachweisen.
Die Drittstellung des Prädikats ist in lateinischen Vorlagen und in
deutschen Übersetzungen vorhanden (3a, 3b). Sie kommt aber auch un-
abhängig vom Latein vor, so dass auch bei der Drittstellung von einer
genuinen Stellungsregularität des Deutschen ausgegangen werden muss.
Wenn es von der lateinischen Vorlage unabhängige Drittstellungen des
Prädikats gibt, dann spricht auch nichts dagegen, in gemeinsamen Dritt-
stellungen wie in (3a vs. 3b) und (14a vs. 14b) ebenfalls Serialisierungsre-
geln beider Sprachen zu erkennen. Am häufigsten werden lateinische
Endstellungen in Drittstellungen verändert (8a vs. 8c, 10a vs. 10c, 13a vs.
13c); aber auch lateinische Zweitstellungen werden in Übersetzungen in
Drittstellungen wiedergegeben (9a vs. 9c, 12a vs. 12c). Die Tatianbilingue
folgt am häufigsten der Vorlage, verändert aber einmal eine Endstellung in
eine Viertstellung (13a vs. 13b), einmal wird die Abfolge von Prädikativum
plus Kopula umgestellt (11a vs. 11b). Wenn es von der lateinischen Vorla-
ge unabhängige Drittstellungen des Prädikats gibt, dann spricht auch
nichts dagegen, in gemeinsamen Drittstellungen (wie in 3a und 3b) eben-
falls Serialisierungsregeln beider Sprachen zu erkennen (vgl. ferner Bei-
spielgruppe 14). Es ist also nicht so, dass es für eine „in der Literatur gele-
gentlich erwähnte grammatische Drittstellung im Aussagesatz […] keine
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 45
_____________
16 Schrodt (2004, § S 188.3, S 202, Anm. 1); zu weiteren Beispielen Simmler (2007, 60).
46 Franz Simmler
(15g) quia solem suum exoriri finit super malos ac bonos (ZüD, 14a,
Z. 33f.)
(15h)Dann er laszt sein Sonn aufgon über die boesen vnd über die
guoten / (ZüD, 14b, Z. 35-37)
(16a) nouissime autem omnium et mulier defuncta est. (T, M, 429.9f.;
Mt 22,27)
(16b)tho zi iungisten allero thaz uuib arstarb. (T, M, 429.9f.)
(16c) zu letzt nach allen starb auch das weyb. (LS, Bl. XVIIIr, Z. 43f.)
(16d) Nouissime autem omnium defuncta est et mulier. (ZüD, 75b,
Z. 29-31)
(16e) zuo letst nach allem starb auch das weyb. (ZüD, 75a, Z. 33f.)
(16f) Als letzte von allen starb die Frau. (EÜ, 1104)
(17a) Statim autem post tribulationem dierum illorum. sol obscurabi-
tur et luna non dabit lumen suum (T, M, 519.22-25; Mt 24,29)
(17b)sliumo after arbeiti thero tago. sunna uuirdit bifinstrit inti mano
nigibit sin lioht (T, M, 519.22-25)
(17c) Bald aber nach dem trubsall der selbigen tzeyt / werden sonn
vnd mond den scheyn vorlieren / (KS, Bl. XXr, Z. 22f.)
(17d) Statim autem post afflictionem dierum illorum sol obscurabi-
tur,et luna non dabit lumen suum (ZüD, 83b, Z. 13-16)
(17e) Bald aber nach dem truebsal der selbigenn zeyt werdend Sonn
vnd Mon den scheyn verlieren / (ZüD, 83a, Z. 15-18)
(17f) Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne ver-
finstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen (EÜ, 1107)
In der Beispielgruppe (15) hängt die Ermittlung der Serialisierungsregeln
des Prädikats vor allem in (15a) und (15b) von der Einbeziehung des Kon-
textes ab und von den Repräsentationstypen, die auf Satzbegrenzungen
hinweisen. Der relevante Kontext ist in (15c) und (15d) gegeben. Die Rep-
räsentationstypen Punkt (unten) plus Minuskel und Punktvirgel plus &
(= et) weisen in (15c) auf die Abfolge zweier isoliert gebrauchter einfacher
Sätze hin,17 die in der Abfolge der Satzglieder eine syntaktische Parallelität
besitzen. Das lat. qui befindet sich somit am Beginn eines neuen Satzes
und drückt eine kausale Funktion aus, die mit 'denn dieser' wiedergegeben
_____________
17 Vgl. Simmler (2007, 62).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 47
_____________
18 Vgl. Georges (1992, II, Sp. 2153).
19 Vgl. Schützeichel (2006, 72).
48 Franz Simmler
4. Textsortengebundene Entwicklungstendenzen
im Frühneuhochdeutschen
und in der Gegenwartssprache
4.1. Frühneuhochdeutscher Prosaroman (Melusine 1538)
Der in den Textexemplaren LS und ZüD ermittelte Befund gilt nicht ge-
nerell für die ganze frühneuhochdeutsche Sprachperiode. Im ‚Frühneu-
hochdeutschen Prosaroman‘ können im Textexemplar der Melusine von
1538,21 das auf ein französisches Versepos zurückgeht, neben der Erst-,
Zweit-, Dritt- und Viertstellung auch die Fünftstellung in geringer Fre-
quenz und die Endstellung in deutlich höherer Frequenz nachgewiesen
werden.22
(18) . Dardurch sich nun gar grosse klag zuo hoff erhuob / inn son-
derhait von der Graeuin vnd von jren kindern / […] (Au, Kap.
7, Bl. Cij/r, Z. 1921)23
(19) : Liebenn freünd eüwer gefangner bin ich auff heüt worden /
vnd beger das jr on auffzug ein schatzung ordnen woellent die
mir vermüglich vnd leidenlich sey / sollichs vmb eüwer fromm-
kait / mit anderen meinen freünden vnd günnern zuo allen zeyt-
ten beger ich zu verdienen. (Au, Kap. 25, Bl. Hij/r, Z. 4-9)
(20) . Das [der Schwur] er jr aber darnach nit hielt / darumb verlor er
sein schoene vnnd allerliebste frawen […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r,
Z. 4-6)
(21) . Ich hab jn inn dem wald verlorn / deszgleichen die andern den
merern theil auch sagen / […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r, Z. 10f.)
_____________
20 Zu Endstellungen im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ im Textexemplar der Melusine
von 1538, das auf eine französische Versfassung zurückgeht, vgl. Simmler (2009).
21 Benutzt wurde das Exemplar Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoenen Melusina
(1538), Augsburg, Drucker Heinrich Steiner (= VD 16 M 4470) aus der Stadt- und Univer-
sitätsbibliothek Augsburg, ab 4° Ink adl. 16 (zitiert als Au). Der Bibliothek danke ich herz-
lich für die Überlassung eines Mikrofilms.
22 Zu weiteren Belegen vgl. Simmler (2009).
23 Zitiert wird nach einer selbst eingeführten Kapitelnummerierung und nach der originalen
Blattzählung und der Zeilenzahl; r = recto, v = verso.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 49
(22) . Der Apt vnd das gantz couent / gieng jm entgegen / vnd wa-
rent seiner zuokunfft fro / die selb freüd aber schnell ein end
nam / dann Goffroy was grymmigs zorns vol / vnd sprach zuo
dem Apt vnd zuo jn allen. Ir vnseligen münch […] (Au, Kap. 40,
Bl. Nij/r, Z. 14-17)
Die Fünftstellung ist in der Autorenrede (18) und in der Figurenrde (19)
zu belegen. Eine besondere textuelle Funktion ist mit dieser Stellungsregu-
larität nicht verbunden.
Dies ist bei der Endstellung anders. Auch sie ist auf die Autorenrede
(20, 22) und die Figurenrede (21) verteilt. In einer Gruppe von Belegen ist
eine besondere Textfunktion vorhanden; sie tritt bei Erzählereinschaltun-
gen und moralisch zu verurteilenden Handlungen auf und hebt die dem
Verbum finitum vorangehenden Satzglieder besonders hervor. In (20)
wird mit dem Demonstrativum Das auf vorher Erzähltes verwiesen; die in
den folgenden Satzgliedern berichtete Handlung wird vom Erzähler nega-
tiv bewertet. In anderen Erzählereinschaltungen erweist sich der Erzähler
als allwissender Autor, indem er Erzählerbewertungen mit Vorausdeutun-
gen verbindet (22).
_____________
24 Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart (erste Gesamtausgabe Stockholm
1948) (= JB); Feuchtwanger, Lion (2004), Jud Süß. Roman, Berlin (= JS). Zu umfangreiche-
rem Quellenmaterial und zu Detailargumentationen vgl. Simmler (2008a),; Simmler
(2008b).
50 Franz Simmler
5. Ergebnisse
Aus der Untersuchung der Überlieferungstradition des Matthäus-Evange-
liums bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und aus dem Ausblick auf die
Überlieferung des ‚Frühneuhochdeutschen Prosaromans‘ können textsor-
tengebunden folgende Entwicklungstendenzen hergeleitet werden:
1. Die Erststellung des Prädikats in Aussagesätzen hat eine sprachli-
che Kontinuität bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und weiter bis in
die Gegenwartssprache. In der Tatianbilingue ergibt sich diese Se-
_____________
25 Vgl. Simmler (2008a); Simmler (2009).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 51
Quellen
Au = Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoenen Melusina (1538), Drucker Hein-
rich Steiner, aus der Stadt- und Universitätsbibliothek Augsburg, (VD 16 M
4470), Augsburg.
Biblia = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem (1994), 4., verb. Aufl., Stuttgart.
ER = Erasmus von Rotterdam (1519), Neues Testament, griechisch – lateinisch, Drucker:
Iohannes Frobenius, (VD 16 B 4197; IDC No. HB-126), Basel.
EÜ = Die Bibel. Gesamtbibel (1980), Stuttgart.
JB = Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 53
Literatur
Dittmer, Arne / Dittmer, Ernst (1998), Studien zur Wortstellung – Satzgliedstellung in der
althochdeutschen Tatianübersetzung, f. den Druck bearb. v. Michael Flöer / Juliane
Klempt, (Studien zum Althochdeutschen 34), Göttingen.
Fritz, Thomas A. (2005), „Der Text“, in: Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richti-
ges Deutsch, 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., (Duden 4), Mannheim, Leipzig,
Wien, Zürich, 1067-1174.
Gallmann, Peter (2005), „Der Satz“, in: Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges
Deutsch, 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., (Duden 4), Mannheim, Leipzig, Wien,
Zürich, l773-1066.
Georges, Karl Ernst (1992), Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch aus den Quel-
len zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter
Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, unveränderter
Nachdruck der 8. verb. u. vermehrten Aufl. v. Heinrich Georges, 2 Bde., Darm-
stadt.
Maurer, Friedrich (1926), Untersuchungen über die deutsche Verbstellung in ihrer geschichtlichen
Entwicklung, (Germanische Bibliothek: zweite Abteilung, Untersuchungen und
Texte 21), Heidelberg.
Schrodt, Richard (2004), Althochdeutsche Grammatik II. Syntax, Tübingen.
Schützeichel, Rudolf (2006), Althochdeutsches Wörterbuch, 6. Aufl., Tübingen.
Simmler, Franz (1997), „Interpungierungsmittel und ihre Funktionen in der Lorscher
Beichte und im Weißenburger Katechismus des 9. Jahrhunderts“, in: Elvira Gla-
ser / Michael Schlaefer (Hrsg.), unter Mitarbeit v. Ludwig Rübekeil, Grammatica
ianua artium. Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag, Heidelberg, 93-114.
Simmler, Franz (2007), „Reihenfolge und Aufbauprinzipien von Satzgliedern in der
lateinisch-althochdeutschen ‚Tatianbilingue‘ und in Otfrids ‚Evangelienbuch‘ und
ihre Textfunktionen“, in: Franz Simmler / Claudia Wich-Reif (Hrsg.), Probleme der
historischen deutschen Syntax unter besonderer Berücksichtigung ihrer Textsortengebundenheit,
Akten zum Internationalen Kongress an der Freien Universität Berlin 29. Juni bis 3. Juli
2005, (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 9), Berlin, 49-125.
54 Franz Simmler
1. Einleitung
Bei der Diskussion von substandardsprachlichen Strukturen im heutigen
Deutsch stellt sich stets auch die Frage, ob es sich hierbei um Erscheinun-
gen sprachlichen Wandels oder aber um althergebrachte Strukturen han-
delt, die sich in nicht bzw. weniger stark normierten Varietäten mögli-
cherweise schon über lange Zeit erhalten haben. Da solche Muster erst
seit vergleichsweise kurzer Zeit diskutiert werden, besteht allgemein die
Gefahr, dass allein schon durch die Gewahrwerdung eines bestimmten
sprachlichen Phänomens (und die daraus resultierende erhöhte Aufmerk-
samkeit) dasselbe als quantitativ zunehmendes oder gar als neu entstande-
nes Phänomen empfunden wird. So wird etwa die Verwendung des Mo-
dalverbs brauchen mit reinem Infinitiv – vgl. (1) – gemeinhin als aktuelle
und sich ausbreitende Entwicklung wahrgenommen: „In den letzten Jahr-
zehnten hat sich die Tendenz immer mehr entwickelt, brauchen in Verbin-
dung mit folgendem Infinitiv ohne zu zu verwenden“ (Scaffidi-Abbate
1973, 1).
(1a) Vollverb brauchen
Sie braucht dringend neue Schuhe.
(1b) Modalverb brauchen
Sie braucht die neuen Schuhe nicht (zu) kaufen.
_____________
∗ Für Anregungen und Kommentare danke ich den Diskussionsteilnehmer/innen auf der
Tagung „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ im Mai 2008
in Graz sowie Horst Simon, der das Manuskript durchgesehen hat.
56 Ulrike Freywald
nicht verloren.3 Ebenso wenig lassen sich ohne empirische Fakten verläss-
liche Aussagen zum quantitativen Verhältnis der Vorkommen von brauchen
mit und ohne zu oder zu der ‚gefühlten‘ Zunahme der Variante ohne zu
treffen.4
Ganz ähnlich verhält es sich mit der von Sprachpflegern als vermeint-
lich aktuelle sprachliche Entgleisung aufs Korn genommenen Wendung in
2008, also einer Jahresangabe mit einfacher Präposition anstelle von im
Jahr(e) 2008 oder einfach 2008. Von Schullehrern wie von Sprachkritikern
wird das Muster in 2008 heute ganz überwiegend als nicht standardkon-
form angesehen (vgl. die Ergebnisse einer Befragung unter Lehrern in
Davies / Langer 2006, 133) und auf einen derzeit starken Einfluss des
Englischen zurückgeführt. Entsprechend findet sich die Konstruktion in
der aktuellen sprachkritischen Anglizismen-Diskussion (vgl. z.B. König
2004, 11). Die Duden-Sprachberatung merkt in ihrem Newsletter vom
13.06.2008 an:
In der Wirtschafts- und Werbesprache wird gelegentlich die aus dem englisch-
sprachigen Raum stammende Verbindung der Präposition in mit einer Jahreszahl
verwendet. […] Allerdings wird dieser Anglizismus nicht allgemein akzeptiert.
Auf der Homepage des Vereins Deutsche Sprache (VDS) wird in 2007 auf
den „Anglizismenindex“ gesetzt. Ziel dieses Index ist es, „überflüssigen
Anglizismen schon im Anfangsstadium ihres Erscheinens [zu begegnen].
Er ist damit ein aktuelles Nachschlagwerk für Wörter von heute“ (online
im Internet: http://www.vds-ev.de/anglizismenindex; 30.01.2009). Und in
einer Zwiebelfisch-Kolumne von Sick heißt es schließlich:
Die Präposition ‚in‘ vor einer Jahreszahl ist ein Anglizismus, der vor allem im
Wirtschaftsjargon allgegenwärtig ist. Die deutsche Sprache ist jahrhundertelang
ohne diesen Zusatz ausgekommen und braucht ihn auch heute nicht. (Sick 2006,
229)
Hier irrt Sick allerdings, denn die deutsche Sprache erträgt diesen „Zu-
satz“ seit mindestens anderthalb Jahrhunderten offensichtlich recht gut,
d.h. dessen Erscheinen befindet sich gewiss nicht im „Anfangsstadium“,
wie der VDS vermutet. Wie Davies / Langer (2006, 134) dokumentieren,
wird die Konstruktion ‚in + Jahreszahl‘ seit dem ausgehenden 19. Jahrhun-
_____________
3 Lediglich für das Mosel- und das Rheinfränkische liegt mit Girnth (2000) inzwischen eine
empirische Studie zum Modalverb brauchen vor. Girnth konstatiert hier eine Progression
der Paradigmatisierung von brauchen anhand des Merkmals t-Ausfall in der 3. P. Sing. Präs.
(und zwar erstaunlicherweise sowohl beim Vollverb als auch beim Modalverb). Eine Zu-
nahme von zu-Ausfall vor Infinitiv lässt sich weitaus weniger klar erkennen (ebd., 115-136).
4 Eine Tendenz zur Ausbreitung von brauchen ohne zu unterstellt implizit auch die Duden-
Sprachberatung: „In der geschriebenen Sprache allerdings wird das zu vor dem Infinitiv
meistens noch gesetzt“ (Newsletter vom 12.07.2002; online im Internet:
http://www.duden.de/deutsche_sprache/sprachberatung/newsletter/).
58 Ulrike Freywald
_____________
6 Stellvertretend für die umfangreiche Literatur sei hier auf Gaumann (1983), Küper (1991),
Keller (1993), Wegener (1993; 1999), Uhmann (1998) sowie Gohl / Günthner (1999) ver-
wiesen.
7 Wie stark der normative Druck auch heute noch ist, wo die weil-V2-Konstruktion im
Allgemeinen nicht mehr als Fehler diskreditiert wird, zeigt sehr schön eine für den Fremd-
sprachenunterricht entwickelte DVD des Goethe-Instituts. Hier wird – neben anderen
Anpassungen an den Schriftstandard – ein von DJ Illvibe im Interview geäußerter weil-V2-
Satz im dazugehörigen Booklet als denn-Satz verschriftet:
(I a) O-Ton DJ Illvibe
„Ich würd mich schon als gleichberechtigter Musiker sehen, weil dieses Konzept DJ Band
gibts sehr viel und sehr oft missverstanden.“
(I b) Text im Booklet
„Ich würde mich schon als gleichberechtigten Musiker sehen. Denn dieses Konzept ‚DJ-
Band‘ gibt es sehr viel, und es wird oft ein bisschen missverstanden.“
(KuBus Magazin, Begleitheft, S. 13)
60 Ulrike Freywald
_____________
10 Für Details zu diesen Korpora s. Anm. 14.
11 Korpora des Archivs für Gesprochenes Deutsch, vgl. Anm. 14.
62 Ulrike Freywald
Meistens bleibt es jedoch bei der bloßen Nennung12 (und der stillschwei-
genden Annahme, diese Konjunktionen verhielten sich im Prinzip genau-
so wie weil) sowie bei der Behauptung, V2 sei hier weniger stark verbreitet
als bei weil. So findet sich in Küper (1991, 149) die Feststellung, „daß ob-
wohl-Sätze […] sehr viel seltener mit Hauptsatzstellung gebraucht wer-
den“, und Günthner (1993, 39) fragt, „weshalb sich diese Tendenz speziell
bei WEIL- und OBWOHL-Teilsätzen zeigt, weniger bei WÄHREND und gar
nicht bei anderen unterordnenden Konjunktionen (z.B. DA, WENN, ALS)“.
Ähnlich meint Farrar (1999, 1): „However, the change seems not to be
restricted to weil-clauses, even if it is most evident at present. V2 is also
found after obwohl and to a more limited extent after während.“ Auch für
Selting (1993, 167) spielen obwohl und während hinsichtlich V2 eine unter-
geordnete Rolle: „Zu diesen Konjunktionen gehören allen voran die Kon-
junktion weil, aber auch obwohl und eventuell während.“
Erstaunlich ist hieran zweierlei: Zum ersten ist die These, V2 trete
nach anderen Konjunktionen als weil wesentlich seltener auf, offenbar nie
empirisch überprüft worden. Es existieren scheinbar keine Untersuchun-
gen, die eine solche Beobachtung belegen würden. Zum zweiten können
Aussagen zur relativen Häufigkeit dieser Konstruktionen nur getroffen
werden, wenn man jeweils das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und
V2-Instanzen pro Konjunktion berücksichtigt. Die absolute Zahl von
obwohl- und während-Sätzen mit V2 mag zwar tatsächlich kleiner sein als die
der weil-V2-Sätze, dies liegt aber lediglich daran, dass diese Konjunktionen
generell seltener verwendet werden.13
Die Auszählung der IDS-Korpora (Freiburger Korpus, Pfeffer-
Korpus und Zwirner-Korpus; letzteres nur für obwohl, während und wobei)14
zeigt eine deutlich höhere Frequenz sämtlicher weil-Sätze (VL und V2) ge-
genüber den entsprechenden obwohl-, wobei- und adversativen während-Sät-
zen, vgl. Abbildung 1:
_____________
12 Die einzigen detaillierteren Arbeiten liegen mit Günthner (1999) zu obwohl und Günthner
(2000) zu wobei vor.
13 So schon Gaumann (1983, 45) mit Bezug auf Eisenmann (1973). Diese Bemerkung ist
offensichtlich in der Folge vielfach als vermeintliche Aussage über die relative Häufigkeit
missinterpretiert worden.
14 Freiburger Korpus (Grundstrukturen): Umfang ca. 593.300 Wörter; Fernseh- und Rund-
funkaufnahmen, weitere private und öffentliche Kommunikationssituationen; Erstellungs-
zeitraum: 1960-1974. Pfeffer-Korpus (Deutsche Umgangssprachen): Umfang ca. 645.500
Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstellungszeitraum: 1961. Zwirner-Korpus (Deut-
sche Mundarten): Umfang ca. 3.292.000 Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstel-
lungszeitraum: 1955-1960. Die Korpora sind über die Datenbank Gesprochenes Deutsch
(DGD) online nutzbar. DGD ist Teil des Archivs für Gesprochenes Deutsch (AGD) am
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, online im Internet: http://agd.ids-
mannheim.de/.
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 63
2000
168
V2
VL
1500
N Sätze
1000
1859
500 37
34
0
366
196 150
0
weil obwohl während wobei
Abbildung 1: Anzahl der mit weil, obwohl, adversativem während und wobei eingeleiteten Sätze.
Die Gesamtzahl der weil-Sätze übersteigt die jeweilige Anzahl der mit ob-
wohl, während oder wobei eingeleiteten Sätze um ein Vielfaches. Der Ein-
druck, weil stehe öfter mit V2 als andere Konjunktionen, ist wohl in der
Tat (auch) darauf zurückzuführen, dass bei weil-Sätzen die Menge der
Tokens generell größer ist.
Betrachtet man dagegen das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und
V2-Vorkommen für jede Konjunktion einzeln, also den Anteil der V2-
Konstruktionen an der Gesamtzahl der jeweiligen Nebensätze, so ergibt
sich das Bild in Abbildung 2.
Hier zeigt sich, dass (a) wobei in den analysierten Korpora gar keine
V2-Sätze einleitet; und dass (b) weil diejenige Konjunktion mit dem kleins-
ten Anteil an V2-Sätzen ist.
Letzteres steht den Intuitionen, die in den oben zitierten Vermutun-
gen zur Häufigkeit von weil+V2 zum Ausdruck kommen, diametral entge-
gen. Überraschenderweise leitet das meist gar nicht oder nur am Rande
erwähnte während nahezu doppelt so oft V2-Sätze ein wie weil oder obwohl.
Und der Anteil der V2-Sätze an der Gesamtmenge der obwohl-Sätze bleibt
auch nicht, wie angenommen, hinter dem der weil-Sätze zurück, sondern
liegt sogar etwas darüber.
64 Ulrike Freywald
100%
100%
91,7% 90,8%
85,2% VL
V2
80
%
60
%
40
%
14,8%
20
% 8,3% 9,2%
0%
0%
weil obwohl während wobei
Abbildung 2: Prozentuales Verhältnis von VL- und V2-Sätzen.
Dass für wobei überhaupt keine V2-Belege zu finden sind, kann entweder
daran liegen, dass wobei-Sätze in den Korpora generell sehr selten sind (150
Sätze) und daher kein repräsentatives Bild liefern, oder aber daran, dass
V2 nach wobei vor 30-40 Jahren tatsächlich ungebräuchlich bzw. noch
kaum verbreitet war. Die Möglichkeit, nach wobei einen V2-Satz zu kon-
struieren, setzt zunächst die Entwicklung des wobei vom Relativadverb zur
Konjunktion voraus. Die Verwendung als Konjunktion bzw. als Korrek-
tur- oder Dissensmarker (vgl. Günthner 2000, 332) ist aus der Funktion
hervorgegangen, die wobei als Relativadverb hat – komitative und dik-
tumskommentierende Nebensätze einzuleiten (Zifonun u.a. 1997, 2323f.)
– und dürfte wesentlich jünger sein. Es liegt also durchaus nahe, V2 nach
wobei als relativ rezente Erscheinung zu betrachten (auch wenn der empiri-
sche Beweis hierfür freilich noch fehlt). Günthner (2000) macht in ihrer
Untersuchung zu wobei-V2-Sätzen Beobachtungen, die eine solche An-
nahme stützen: Sie stellt in ihrem 1983-1998 erhobenen Korpus eine Zu-
nahme von wobei mit V2 bei denselben Sprechern fest, während sie für die
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 65
Zeit vor 1980 (etwa in Rundfunkdaten der 1930er- und 40er-Jahre) keine
solchen Belege ausmachen kann (ebd., 335ff.).15
Eine andere bislang ungeklärte Frage ist die, wie viele und welche Kon-
junktionen im Deutschen eigentlich sowohl VL- als auch V2-Sätze einlei-
ten können. Auch hier wird meist vorbehaltlos davon ausgegangen, die
Reihe dieser janusköpfigen Einleitungselemente sei im Gegenwartsdeut-
schen auf weil, obwohl und maximal während beschränkt (schon wobei wird
selten erwähnt). Doch ist diese Liste wirklich so klar begrenzt? Ja und
nein. Ja, weil unbestritten ist, dass nicht alle konjunktional eingeleiteten
Nebensätze eine V2-Variante aufweisen.16 Es muss also eine Begrenzung
geben dahingehend, dass nur bestimmte Konjunktionen eine solche Dop-
pelfunktion besitzen (können). Nein, weil eine Grenze nicht eindeutig
gezogen werden kann. Man weiß heute einfach (noch) nicht genau, welche
Konjunktionen dazugehören und welche nicht. Unter den weniger häufi-
gen Konnektoren sind durchaus einige weitere ‚verdächtige Kandidaten‘
zu vermuten, wie z.B. trotzdem oder insofern:
(4a) insofern + VL
Insofern die Krankheit eine Störung des Wohlbefindens ist, muss
die Therapie auf dessen Wiederherstellung gerichtet sein.
(Pasch u.a. 2003, 715; Hervorhebung UF)
(4b) insofern + V2
Moderator Gab’s mal so’n Punkt, wo Sie gedacht ham, wir
kriegen das nicht hin?
Schmidt Nein, aber’s gab schon Tage, wo’s wirklich auch
knüppelhart kam […] Das sind alles keine Dinge,
die nicht lösbar sind. Insofern solche Tage gab es,
aber in der Regel – ich war davon überzeugt, dass
das notwendig ist, bin davon überzeugt, dass es
notwendig ist.
_____________
15 Auch Auer (1997, 75) merkt an (allerdings ohne diese Annahme zu begründen): „In der ge-
sprochenen Sprache ist das Inventar der beiordnenden Konjunktionen bekanntlich zumin-
dest um weil, obwohl, konzessives wobei und adversatives während erweitert. Zumindest bei
wobei dürfte es sich um eine neue Entwicklung handeln.“
16 Dies impliziert auch, dass das Deutsche nicht eine generelle Tendenz zur Aufgabe der
Verbletztstellung in Konjunktionalsätzen zeigt, wie anfänglich von manchen Autoren ge-
schlussfolgert wurde (s. z.B. Kann 1972, 379; Vennemann 1974; Gaumann 1983, 157). Zu
verschiedenen Hypothesen, wieso die V2-Option nur bei bestimmten subordinierenden
Konjunktionen auftritt, vgl. Wegener (2000) und Miyashita (2003).
66 Ulrike Freywald
3. Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen
als ‚altes Substandardmuster‘?
Auch die Frage nach dem Neuigkeitswert der Hauptsatzwortstellung in
Nebensätzen stellt sich gleichermaßen für sämtliche genannten Konjunk-
tionen, allerdings wurde bislang nur für weil versucht, sie zu beantworten.
Die historische Entwicklung der deutschen Kausalkonjunktionen ist an
sich sehr gut untersucht (vgl. z.B. Arndt 1959; Eroms 1980; insbesondere
zum Aufkommen von weil+V2 Selting 1999 sowie Wegener 1999 u. 2000).
Kurzgefasst: Die Tatsache, dass ein und dieselbe kausale Konjunktion
sowohl VL- als auch V2-Sätze einleitet, stellt demnach vom Alt- bis Früh-
neuhochdeutschen durchaus den Normalfall dar:
(11) Althochdeutsch
(11a) uuanta + V2
qui manet In me therder In mir uuonet
et ego In eo hic fert Inti ih in imo ther birit
fructum multum mihilan uuahsmon.
quia sine me uuanta uzzan mih
nihil potestis facere. nimugut ir niouuiht duon.
(Tatian, 283, 11-15)
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 69
(11b)uuanta + VL
uuánda iz fóne dír chám
(Notker, Boethius, 21, 2; zit. nach Petrova 2008)
(12) Mittelhochdeutsch
(12a) wande / wan + V2
Dâ soltû rehte deheinen zwîvel an hân, wan ez ist diu rehte
wârheit
(Berthold, I, 75, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104)
(12b)wande / wan + VL
wan iu und iuwern kindern des himelrîches als nôt ist, sô sult ir
iuwer kinder selber ziehen
(Berthold, I, 34, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104)
(13) Frühneuhochdeutsch
(13a) wan / wenn mit V2
Die edel kindelpetterinn die het nï kain rue, wann die geschëft
die waren gros
(H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 21, 26-28, Wien 1445-1452;
Bonner Fnhd.-Korpus)
(13b)wan / wenn mit VL
vnd ich mües hait die kran [= Krone] behalten in der kamer […]
vnd ich behielt das vnder dem pett mit grossen sorgen, wann wir
chain truhen da nicht heten.
(H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 13, 20-24, Wien 1445-1452;
Bonner Fnhd.-Korpus)
Die jeweilige kausale V2 / VL-Konjunktion wurde mit ähnlicher Funk-
tionsaufteilung wie beim modernen weil einerseits zur epistemischen bzw.
sprechaktbezogenen Begründung (mit V2), andererseits zur Begründung
der im Bezugssatz ausgedrückten Proposition (mit VL) verwendet. In
(12a) etwa begründet der Kausalsatz wan ez ist diu rehte wârheit nicht (nur)
die Proposition des Vordersatzes ('daran sollst du keinen Zweifel haben'),
sondern vor allem den Sprechakt als Ganzes; er liefert also eine Begrün-
dung für die Aufforderung, keinerlei Zweifel zu hegen. Ähnlich gibt wann
die geschëft die waren gros in (13a) eine epistemische Begründung, während
der Kausalsatz in (13b) für einen Sachverhalt (die Krone musste unter
dem Bett aufbewahrt werden) den faktischen Grund nennt (es gab keine
Truhe). Neben einer solchen V2-VL-Konjunktion gab es noch weitere
Kausalkonjunktionen, wie sîd / sît, darumb daz, umbe daz u.a., die jedoch
stets VL-Sätze einleiteten.
70 Ulrike Freywald
(16) Ich bekam ganz plötzlich die Aufforderung zur Alija, zur Ein-
wanderung bereit zu sein, ähm, einige Zeit später meine Schwes-
ter auch, weil es handelt sich um Jugendliche im Alter zwischen 15
und 17 Jahren.
(Betten 1995, 154; Transkription vereinfacht)
Dies ist als Hinweis auf eine frühe Verwendung dieser Konstruktion zu
sehen, da es sich hier um ein Deutsch handelt, „das heute außerhalb des
deutschen Sprachraums gesprochen wird […], aber im wesentlichen das
gesprochene Deutsch der 20er Jahre und 30er Jahre […] repräsentiert“
(Betten 1995, 3). Diese Vorkommen von weil+V2 sind besonders auf-
schlussreich, da sich die Sprache der interviewten Emigranten generell
durch einen „hohe[n] Grad syntaktischer Normorientierung“ auszeichnet
(ebd., 5).
Einen kleinen Vorstoß zur Verkleinerung der Beschreibungslücke lie-
fert Elspaß (2005) mit Belegen aus der Mitte des 19. Jh., die sich in Brie-
fen von nach Amerika ausgewanderten Deutschen finden:
(17) als wir das getan hatten da war unser akord gebrochen Weil wir
wusten nicht daß sei [sie] zusammen hielten
(Heinrich Küpper aus Loikum / Niederrhein (ndfr.), Reiseauf-
zeichnungen, 1847ff.; Elspaß 2005, 300)
Trotz der hohen Plausibilität der sogenannten Kontinuitätshypothese ist
die Frage nach wie vor ungeklärt, ob das ‚mhd. System‘ als solches weiter-
besteht oder ob es re-etabliert wurde.
Die für die Kausalkonjunktionen gut beschriebenen historischen Ge-
gebenheiten werden oft dahingehend verallgemeinert, dass das heutige
Substandardphänomen ‚V2 im eingeleiteten Nebensatz‘ ganz allgemein
(also auch für konzessive und adversative Konjunktionen) direkt auf die
generell ‚freiere‘ Wortstellung im Alt- und Mittelhochdeutschen zurückzu-
führen sei. Autoren, die diese Ansicht vertreten,19 beziehen sich in der
Regel auf Sandig (1973). Sandig beruft sich in ihrer Erklärung von
Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen auf die „Tendenz zur Nebenord-
nung“ in gesprochener Sprache (Baumgärtner 1959, 102) und postuliert:
_____________
19 So z.B. Lehmann (1991, 526): „[s]uch constructions […] have been in the language since
Old High German“; von Polenz (1999, 358): „Nebensätze mit Hauptsatzwortstellung als
sehr alte Substandardmuster“; Selting (1999, 180): „historische Kontinuität seit zumindest
dem Mittelhochdeutschen“ oder Breindl (2009): „bekanntlich das im Substandard immer
bewahrte ältere Muster“.
72 Ulrike Freywald
_____________
23 Aussagen zum Althochdeutschen wie „fast alle Partikeln, die als Einleitungsstücke mit
Endstellung bzw. Späterstellung des Vf. verbunden werden können, begegnen auch am
Eingang von Sätzen mit Verbzweitstellung“ (Ebert 1978, 20) sind in diesem Zusammen-
hang höchst verwirrend, da hier nicht die Homonymie von koordinierenden und subordi-
nierenden Konjunktionen gemeint ist, sondern die von konnektiven Adverbien und subor-
dinierenden Konjunktionen (wie z.B. auch im informellen Gegenwartsdeutschen das
Adverb trotzdem in Trotzdem hat sie angerufen homonym zur subordinierenden Konjunktion
ist in …,trotzdem sie angerufen hat).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 75
4. Zusammenfassung
Ziel des vorliegenden Beitrages war es zu zeigen, dass Intuitionen hin-
sichtlich Vorkommenshäufigkeit und Alter von sprachlichen Phänomenen
trügerisch sein können, wenn man sich hauptsächlich auf die eigene
Wahrnehmung verlässt bzw. wenn man die Ergebnisse einer Analyse
mehr oder weniger ungeprüft auf ähnliche Phänomene überträgt, nur weil
dies intuitiv plausibel erscheint.
Am Beispiel von Nebensatzkonjunktionen, die im Gegenwartsdeut-
schen nicht nur subordinierend, sondern auch parataktisch gebraucht
werden, habe ich zu zeigen versucht, dass es zu Fehleinschätzungen füh-
ren kann, wenn zu voreilig von einem Vertreter, hier dem vergleichsweise
gut untersuchten weil, auf andere Konjunktionen mit ähnlichen Eigen-
schaften geschlossen wird. So hält der von vielen Linguisten geteilte Ein-
druck, V2-Sätze seien mit weil verbreiteter als mit obwohl u.a., einer empiri-
schen Überprüfung nicht stand. Im Gegenteil, der Anteil von
78 Ulrike Freywald
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84 Ulrike Freywald
1. Einleitung
In diesem Aufsatz wird die Geschichte der deutschen Nominalklammer
unter typologischem Gesichtspunkt beleuchtet. Die Einordnung des
Deutschen nach den herkömmlichen Kriterien ‚synthetischer vs. analyti-
scher Sprachbau‘ und ‚OV-typische vs. VO-typische Serialisierung‘ berei-
tet notorische Schwierigkeiten.1 So ist z.B. einerseits der Ausdruck von
Definitheit als grammatische Kategorie durch die Artikel sicherlich ein
Schritt in Richtung Analytizität, andererseits sind die stark komprimierten
und unregelmäßigen, kaum anders als durch Suppletion beschreibbaren
Formen des bestimmten Artikels hochgradig synthetisch. Was die Wort-
stellung angeht, so vereinigt gerade die Nominalphrase mit der OV-typi-
schen Stellung der kongruenzfähigen Attribute und Artikelwörter links
und der VO-typischen Stellung der nicht kongruenzfähigen Attribute und
des Relativsatzes rechts vom Kernsubstantiv beide Stellungstypen in sich.
Beide wurden im Übrigen durch Sprachwandel herbeigeführt: Einerseits
wurden nachgestellte Adjektive vorangestellt, andererseits das vorange-
stellte Genitivattribut nachgestellt.
Diese (und weitere) typologischen Ungereimtheiten sind in Ronneber-
ger-Sibold (1991; 1994; 1997; 2007) versuchsweise durch ein typologisch
relevantes Prinzip erklärt, das synchron wie diachron den anderen typolo-
gischen Tendenzen übergeordnet ist. Dieses Prinzip ist das so genannte
klammernde Verfahren. In diesem Aufsatz wird dieser Gedanke mit
einem speziellen Fokus auf der Nominalklammer weiter ausgebaut.
_____________
1 Vgl. verschiedene Beschreibungen und Erklärungen der typologischen Widersprüche in
Askedal (1996; 2000); Eisenberg (1994, insbesondere 371-376), Hawkins (1986, insbeson-
dere Kapitel 9-11), Hutterer (1990, insbesondere 452-467), Primus (1997), Roelcke (1997,
insbesondere Kap. 4 und 5).
86 Elke Ronneberger-Sibold
_____________
2 Vgl. die einschlägigen Handbücher, v.a. Behaghel (1932, insbesondere 177-226 und 241-
251), Ebert (1986), Admoni (1990), Solms / Wegera (1991), als wichtige Monographie We-
ber (1971) sowie die Aufsätze von van der Elst (1988), Lötscher (1990).
Die deutsche Nominalklammer 87
nen Motive: Sie dienen bzw. dienten von Fall zu Fall der Verkürzung oder
auch der Verdeutlichung des Ausdrucks, der Vereinheitlichung der Wort-
stellung, der Steuerung der Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers und
anderen Zwecken mehr. Keines dieser Motive soll in Abrede gestellt wer-
den. Was jedoch alle diese Erscheinungen verbindet, ist ihre Nützlichkeit
für das klammernde Verfahren. Diese verschaffte ihnen, so die hier vorge-
tragene These, einen Selektionsvorteil gegenüber anderen, konkurrieren-
den Neuerungen mit ihren eigenen, oft konträren Motiven. Je mehr
Klammerkonstruktionen auf diese Weise entstanden, umso stärker wurde
ihre musterbildende Kraft und umso größer der Selektionsvorteil für wei-
tere Klammern. Als solche lawinenähnliche Prozesse dürfte sich die
Durchsetzung nicht nur des klammernden Verfahrens, sondern jedes
typologisch relevanten Zugs in einem Sprachsystem modellieren lassen.
Anders ist schwer vorstellbar, wie sich angesichts der vielen, einander
widerstreitenden Motive innerhalb einer Sprachgemeinschaft und sogar
innerhalb desselben Sprechers beim selben Sprechakt überhaupt ein typo-
logisch einheitliches Sprachsystem herausbilden kann.3 Insofern versteht
sich dieser Aufsatz auch als ein Beitrag zur allgemeinen Theorie des
Sprachwandels.
kann sich ebenso darauf verlassen, dass eine Verbform, die mit ge- beginnt,
höchstwahrscheinlich mit -(e)t oder -en endet5, wie dass ein Nebensatz, der
mit dass oder ob beginnt, höchstwahrscheinlich durch sein finites Verb
abgeschlossen wird. Wegen dieses performanzbezogenen Kriteriums wer-
den hier zum klammernden Verfahren auch solche Konstruktionen ge-
zählt, die in der Grammatikschreibung bislang nicht (oder nicht einhellig)
als solche betrachtet werden.
Als Beispiel für die diesem Aufsatz zugrunde gelegte Definition der No-
minalklammer dient der folgende Textabschnitt, der aus einem Zitat aus
einer Musikkritik und unserem kurzen grammatischen Kommentar dazu
besteht. Die Nominalklammern sind durchnummeriert und durch Kursiv-
druck der Ränder hervorgehoben.
„(1) Der herbstlich mürbe Tonfall, (2) die immer (3) im Atemrhythmus (4) der Musiker
flexibel sich aufbauenden Klanggespinste, (5) die auf Melancholie zielende Verhalten-
heit – da sind (6) die Ebènes zu Hause.“6 (7) Dieser aus (8) einer Fülle (9) ähnlicher Bei-
spiele relativ willkürlich herausgegriffene Satz enthält sechs hier vorsorglich
durchnummerierte, teils parallele, teils ineinander geschachtelte Beispiele für (10)
die deutsche Nominalklammer.
Als Nominalklammer werden hier alle diejenigen Nominalphrasen be-
zeichnet, die mit einem stark flektierten Element am linken Rand begin-
nen und mit dessen Bezugssubstantiv – dem so genannten Kernsubstantiv
der Klammer – enden. Zur starken Flexion wird hier auch die Flexion des
bestimmten Artikels gezählt, auch wenn sich beide lautlich z.T. stark un-
terscheiden. Ausschlaggebend sind die Distinktivität der Formen, die in
den beiden Paradigmen nahezu gleich ist, die Kongruenzfähigkeit und die
Möglichkeit, eine Nominalklammer zu eröffnen.
Die letztgenannte Möglichkeit hat die so genannte schwache Adjektiv-
flexion nicht. Sie ist bekanntlich auf attributiv verwendete Adjektive be-
schränkt, die im Inneren einer Nominalklammer nach einem stark flektier-
ten Determinans am linken Rand stehen, z.B. mürb-e in Klammer (1), sich
aufbauend-en in (2). Außerdem ist die Distinktivität der schwachen Adjek-
tivflexion im Vergleich zur pronominalen stark eingeschränkt: Die einzig
möglichen Endungen sind -e und -(e)n. Ihre wesentliche Funktion ist, dem
_____________
5 Ausnahmen sind nur Verben mit festem ge- wie gehören, gelingen, gerinnen, genießen. Bei diesen
sind -(e)t und -en auch als Personalendungen (er / sie / es ge-hör-t; wir / sie ge-hör-en) und au-
ßerdem andere Endungen (-st, -end, Null) möglich.
6 Brembeck, Reinhard J., „Wehmut der Konversation. Das Quatuor Ebène mit Haydn,
Fauré und Schubert in München“, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2009, 12.
Die deutsche Nominalklammer 89
gen Fälle, in denen das System versagt, weil zufällig vor dem Kernsubstan-
tiv ein weiteres mit derselben Genus-Kasus-Numerus-Kombination steht,
das zudem auch inhaltlich passen könnte. Beispielsweise enthält der ein-
gangs zitierte Text auch den folgenden Satz: ...erst bei der Wiederholung findet
er eine Höhe mit Tiefe versöhnende Lösung. Die anfängliche Fehlanalyse von eine
Höhe (eventuell sogar eine Höhe mit Tiefe) als Nominalphrase ist fast unver-
meidlich (zumal im Original Höhe am Zeilenende steht).8 In einem weite-
ren Beispiel aus demselben Text vermeidet lediglich ein Komma eine
Fehlanalyse: Dieser kommunikative, Distanz meidende Akt in geradezu intimer
Atmosphäre. Ohne das Komma vor Distanz bzw. eine Pause beim lauten
Lesen würde man unweigerlich kommunikative auf Distanz statt auf Akt
beziehen, zumal auch diese Lesart einen vernünftigen Textsinn ergäbe.
Solche Beispiele zeigen, warum eine möglichst große Anzahl an ver-
schiedenen grammatischen Subkategorien (z.B. drei Genera) für das klam-
mernde Verfahren günstig ist: Je größer die Anzahl an möglichen Kombi-
nationen, umso kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig dieselbe
Kombination mehrmals in derselben Nominalphrase vorkommt und da-
durch solche Fehlanalysen wie bei eine Höhe möglich werden. Diese Über-
legung wird eine Rolle im diachronen Teil dieses Aufsatzes spielen.
„Unfälle“ wie diese ereignen sich jedoch hauptsächlich in solchen
überdehnten schriftsprachlichen Klammern wie in unseren Beispielen.
Wie Thurmair (1991) gezeigt hat, funktioniert das klammernde Verfahren
dagegen recht gut in seinem eigentlichen Bereich, in dem es auch ur-
sprünglich entstanden ist, nämlich den relativ kurzen Sätzen der mündli-
chen Alltagskommunikation.
In diesem Bereich funktioniert das klammernde Verfahren auch, ob-
wohl in den meisten Fällen weder die Endungen der pronominalen Flexi-
on noch die der Substantive eindeutig sind. Beispielsweise kann die Form
der Nom. Sg. Mask. oder Dat. / Gen. Fem.9 oder Gen. Pl. sein. Erst das
Kernsubstantiv am Ende der Nominalklammer bringt Eindeutigkeit: Ein
Maskulinum im Singular entscheidet für die erste Möglichkeit (z.B. der
Akt), ein Femininum im Singular für die zweite (der Wiederholung) und
irgendein Substantiv im Plural unabhängig vom Genus für die dritte (der
Akte / Wiederholungen / Konzerte). Im Neuhochdeutschen tragen sie sogar
weitgehend die für die Syntax wichtige Kasusunterscheidung mit: Der
Numerusgegensatz zwischen der Akt und der Akte unterscheidet z.B.
gleichzeitig zwischen Nominativ und Genitiv; der Genusgegensatz zwi-
_____________
8 Weitere Beispiele in Agricola (1968).
9 Die Homonymie von Genitiv und Dativ Singular im Femininum gehört zu den grundsätz-
lichen Synkretismen des Deutschen, die nicht durch Flexion aufgelöst werden können.
Die deutsche Nominalklammer 91
schen der Akt und der Wiederholung zwischen Nominativ und Genitiv / Da-
tiv.
Wegen der Bedeutung der Kongruenz für das Funktionieren der No-
minalklammer eröffnen unflektierte10 Einleitewörter wie z.B. das in unse-
rem Beispieltext unterstrichene Zahladjektiv sechs in der Nominalphrase
sechs...Beispiele nach der hier gewählten Definition keine Nominalklammer
im engeren Sinne, selbst wenn sie sich direkt auf das Kernsubstantiv be-
ziehen: Sechs lässt zwar ein Kernsubstantiv im Plural erwarten, aber es sagt
nichts über dessen Genus und Kasus aus. Entsprechendes gilt für Präposi-
tionen: Sie lassen zwar ein Substantiv in einem bestimmten Kasus erwar-
ten, aber nicht in einem bestimmten Numerus und Genus. Immerhin
stehen jedoch Präpositionalphrasen und Nominalphrasen mit unflektier-
ten, direkt auf das Kernsubstantiv bezogenen Einleitewörtern der Nomi-
nalklammer im engeren Sinne näher als komplexe Nominalphrasen mit
vorangestellten Attributen, aber ohne irgendein direkt auf das Kernsub-
stantiv bezogenes Einleitewort. Würde z.B. in der Nominalphrase
sechs...Beispiele das Zahlwort sechs fehlen, so wären die Grenzen zwischen
den Konstituenten nicht klar: hier oder sogar hier vorsorglich könnte entwe-
der auf enthält oder auf durchnummeriert bezogen werden. Da dieser uner-
wünschte Effekt durch Präpositionen und unflektierte Einleitewörter
verhindert werden kann, wenn auch nicht so sicher und effizient wie
durch stark flektierte Elemente, könnte man Präpositionalphrasen und
Nominalphrasen mit Zahlwörtern usw. als Nominalklammern im weiteren
Sinne bezeichnen. Dies ist oben durch Unterstreichung anstelle von Kur-
sivsatz symbolisiert.
_____________
11 Ausführlich ist dies z.B. für das Berndeutsche in Nübling (1992, 211ff.) gezeigt.
12 Wegen ihrer großen und immer noch – etwa in der Jugendsprache (vgl. Thurmair 1991) –
stark zunehmenden Häufigkeit in der deutschen Gegenwartssprache ist für Weinrich
(1988) diese von ihm so genannte Lexikalklammer ein wesentliches Argument für seinen
Vorschlag, die Distanzstellung eines zweiteiligen Verbs als Grundwortstellung des Deut-
schen zu betrachten.
Die deutsche Nominalklammer 93
_____________
13 Vgl. Lühr (2008), Donhauser / Solf / Zeige (2006).
14 Vgl. Werner (1988). Im Bairischen ist dieses reduzierte mer sogar sekundär wieder verstärkt
worden zur neuen Vollform mir, etwa im selbstbewussten mir san mir 'wir sind wir'.
94 Elke Ronneberger-Sibold
Selbst auf die Morphologie und Phonologie des Deutschen wirkt sich das
klammernde Verfahren aus, etwa in Gestalt der Zirkumfixe beim Partizip
Perfekt (ge-sag-t, ge-red-et, ge-sung-en) und in Wortbildungen wie Ge-birg-e, Ge-
kreisch-e, be-fried-igen, ver-ängst-igen sowie in den bekannten phonologischen
Grenzsignalen des Wortes wie der Auslautverhärtung, vor allem aber dem
Kehlkopfverschlusslaut im Anlaut vor Vokal, der eine liaison an das vor-
_____________
15 Eine etwas ausführlichere Darstellung s. in Ronneberger-Sibold (1991).
16 Die Verdoppelung des da ist im ganzen Sprachgebiet obligatorisch bei vokalisch anlauten-
der Präposition: Da glauben wir noch nicht recht dran (Süddeutsche Zeitung vom 19./20.1.1991,
17, Spalte 4). *Da glauben wir noch nicht recht an wäre ungrammatisch.
17 Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass an dieser Textstelle bereits die Konstruktion
einer Satzklammer der primäre Grund für die Wortstellung gewesen sei. Dieser ist wohl
eher im Satzrhythmus zu suchen, auch ist dar an dieser Stelle noch nicht unbedingt rein
pronominal (als Wiederaufnahmeform für diu sela 'die Seele') zu interpretieren; auch eine
lokale oder temporale Lesart ist möglich. Aber dass der Konstruktionstyp sich bis heute
gehalten hat und ausgebaut wurde, und das sogar gegen normativen Druck, dürfte mit dem
Ausbau des klammernden Verfahrens zusammenhängen.
Die deutsche Nominalklammer 95
hergehende Wort ausschließt, etwa in dt. ein Ei [Ɂain.Ɂai] vs. engl. an egg
[ə.nεg].18
_____________
19 Der häufig zitierte „Garden-Path-Satz“ The horse raced past the barn fell (Pritchett 1988)
beruht gerade auf dieser grammatischen Homonymie.
20 Das Folgende ist eine extrem knappe und ein Stück weit interpretierende Zusammenfas-
sung von Hawkins (1994, 57ff.).
21 Man fühlt sich an Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder erinnert (vgl. Behaghel
1932, 6).
Die deutsche Nominalklammer 97
_____________
24 Eine seltenere, nur mit dem unbestimmten Artikel des Kernsubstantivs mögliche Lösung
war eine Art Ausklammerung des Genitivattributs nach links vom Typ: unsers orden ein bruo-
der, armes volkeleches ein michel teil (Berthold, nach Behaghel 1932, 180).
100 Elke Ronneberger-Sibold
gabe im Genitiv hatte. Im vorliegenden Satz ist eine solche Analyse sogar
vom Kontext her möglich. Er lautet: Der Himmel selbst schien allenthalben sein
Beystand zu sein, also daß er in weniger Zeit der mitternächtischen [sic] Landschafften
Meister ward. Der mitternächtischen Landschafften ist hier entweder als Genitiv-
objekt zum Phraseologismus [einer Sache] Meister werden zu interpretieren
(wie nhd. [einer Sache] Herr werden), oder als Genitivattribut zu Meister, also
[Meister der nördlichen Landstriche] werden andererseits.
Eine für das klammernde Verfahren günstigere und zudem durch den
partitiven Genitiv vorgeprägte Lösung war dagegen die Nachstellung des
Genitiv-Attributs wie in ein har thes fahses (Tatian 30,4, nach Behaghel 1932,
177f.). Diese Stellung setzte sich daher aus eher bescheidenen Anfängen
im Laufe der Sprachgeschichte immer mehr durch, auch wenn dies einem
einheitlichen OV-typischen Aufbau der Nominalphrase zuwiderlief. Das
klammernde Verfahren erwies sich hier als der typologisch wichtigere
Parameter. Die vorwiegende und schließlich obligatorische Nachstellung
betraf zunächst nicht-onymische Sach- und Abstraktbezeichnungen, dann
nicht-onymische Personenbezeichnungen und zuletzt die Eigennamen
von Personen (vgl. Behaghel 1932, 181ff.). Noch heute kann ein Perso-
nenname oder eine wie ein Personenname gebrauchte Verwandtschafts-
bezeichnung voranstehen: Peters Jacke, Onkel Ottos Bild (vgl. Duden 2005,
834), so auch Vaters / Opas Jacke und andere Eigennamen: Deutschlands
Urlaubsregionen, Karlsruhes Trainer.25
Alternative Lösungen, die eine Voranstellung des Determinans und
sogar zusätzlich ein klammeröffnendes Artikelwort in Kongruenz mit dem
Kernsubstantiv ermöglichen, sind das so genannte „unechte“ Determina-
tivkompositum, z.B. die Mutterliebe, und das so genannte relationale Adjek-
tiv, z.B. die mütterliche Liebe statt der / einer Mutter Liebe bzw. die Liebe der /
einer Mutter. Es ist daher kein Wunder, dass auch diese Konstruktionen im
Frühneuhochdeutschen das vorangestellte Genitivattribut ablösen (vgl.
_____________
25 Behagel (1932, 194) begründet die von ihm dargestellte chronologische Reihenfolge vor
allem mit dem „Gesetz der wachsenden Glieder“: „[...] [N]ichtpersönliche Substantive
werden viel häufiger mit Bestimmungen, insbesondere mit adjektivischen, belastet als Per-
sonenbezeichnungen. Und unter diesen erfahren wieder persönliche Gattungsbezeichnun-
gen leichter eine Ergänzung als Personenbezeichnungen.“ Obwohl letzteres sicherlich zu-
trifft, scheint mir der entscheidende Faktor für die mögliche Voranstellung der
Eigennamen weniger ihre Kürze zu sein als ihre Artikellosigkeit. Ein artikelloser Eigenna-
me im Genitiv kann mangels Determinans die oben beschriebene „Garden-Path-Analyse“
nicht in Gang setzen. Im Gegenteil: Für einen solchen Namen ist die Funktion als Genitiv-
attribut so typisch, dass der Hörer automatisch in der Umgebung nach einem Bezugssub-
stantiv sucht. Dafür spricht auch, dass die Voranstellung eines Eigennamens sehr stark
markiert ist, sobald dieser den bestimmten Artikel bei sich führt: *der Schweiz / des Tessins
Urlaubsregionen ist extrem archaisch, wenn nicht bereits ungrammatisch. Normal ist die Ur-
laubsregionen der Schweiz / des Tessins, parallel zu den inzwischen nahezu obligatorisch nach-
gestellten nicht-onymischen mehrteiligen Genitivattributen.
Die deutsche Nominalklammer 101
_____________
26 Hierzu s.a. Eichinger (1982).
102 Elke Ronneberger-Sibold
Die Regel, dass mit den vorangestellten attributiven Adjektiven und Parti-
zipien auch deren sämtliche Erweiterungen links vom Kernsubstantiv
stehen müssen, hat sich nach Weber (1971, 199) ab dem 16. Jahrhundert
nach und nach etabliert. Bis ins Neuhochdeutsche finden sich jedoch
immer wieder Durchbrechungen, z.B. die aufgewälzten Berge zu des Ruhmes
Sonnenhöhen (Schiller nach Dal 1966, 180),28 eine Textstelle, die nicht nur
wegen ihrer ungewöhnlichen Metaphorik, sondern eben auch wegen der
nachgestellten Erweiterung zum Partizip aufgewälzten heute nur noch
schwer verständlich ist. Die seltenen Beispiele in der Gegenwartssprache
sind, wenn nicht rundheraus ungrammatisch, dann häufig nur deshalb
akzeptabel, weil sie auch Lesarten bieten, in denen eine nachgestellte Er-
weiterung sich direkt auf das Kernsubstantiv beziehen lässt, so z.B. in die
lebenswichtigen Funktionen der Moral im sexuellen Verhalten für den einzelnen und
_____________
27 Vgl. Duden (2005, 350).
28 Weitere Beispiele bei Dal (ebd.), bei Behaghel (1932, 245f.), Weber (1971, 199f.), Lötscher
(1990).
Die deutsche Nominalklammer 103
die Gesellschaft (Helmut Schelsky nach Eggers 1957-1958, 266). Für den
einzelnen und die Gesellschaft lässt sich sowohl auf lebenswichtigen als auch als
Funktionen beziehen.
Es ist eine gewisse Ironie der Sprachgeschichte, dass durch die neue
Stellungsregel dieselben Probleme am linken Klammerrand entstanden,
die in der Geschichte des Genitivattributs gerade vermieden worden wa-
ren: Da die Erweiterungen nach der Regel der OV-Folge vor den sie regie-
renden Adjektiven bzw. Partizipien stehen müssen, können sich Determi-
nantien häufen (das die Vertragserfüllung fordernde Gesetz, Weber 1971, 198),
und wenn das nicht der Fall ist, können „Garden-Path-Analysen“ entste-
hen wie in dem bereits oben zitierten Beispiel eine Höhe mit Tiefe --- versöh-
nende Lösung, wo der Artikel des Kernsubstantivs irrtümlich auf die Erwei-
terung des Attributs bezogen wird. Solche Konstruktionen gehören zu
den heute nicht mehr sehr zahlreichen „Lücken“ in dem ansonsten mitt-
lerweile recht eng gestrickten „Sicherheitsnetz“ der deutschen Klammer-
konstruktionen. Wenn – mit aller gebotenen Vorsicht – ein Blick in die
Zukunft gestattet ist, so möchte ich vermuten, dass diese „Löcher“ durch
den ohnehin seit althochdeutscher Zeit zunehmenden Artikelgebrauch
mehr und mehr geschlossen werden, auch um den Preis von Artikelhäu-
fungen: also z.B. eine die Höhe mit der Tiefe --- versöhnende Lösung. In Nomi-
nalphrasen, in denen diese Möglichkeit nicht besteht, z.B. bei indefiniten
im Plural, beobachtet man auch jetzt schon häufig die Verwendung von
relativ inhaltsleeren Adjektiven wie bestimmt oder gewiss, die offenbar im
Wesentlichen dazu dienen, den linken Klammerrand zu füllen: Zum Bei-
spiel wäre die Gefahr einer „Garden-Path-Analyse“ in Der Boden besteht aus
Wasser und Stickstoff --- bindenden Bakterien (vgl. Agricola 1968, 11) in Der
Boden besteht aus bestimmten, Wasser und Stickstoff bindenden Bakterien behoben.
Die zuletzt analysierten Beispiele haben bereits gezeigt, wie wichtig der
linke Klammerrand für das Funktionieren der Nominalklammer ist. In der
Tat führten mehrere Entwicklungen und Bewahrungen in der Geschichte
der deutschen Flexionsmorphologie dazu, dass – im Gegensatz zu den
anderen germanischen Sprachen – der linke Klammerrand immer wieder
gestärkt oder zumindest nicht lautlich abgeschwächt wurde. Die wich-
tigsten Stationen auf diesem Weg werden im Folgenden zusammengefasst.
Die älteste spezifisch deutsche Entwicklung in diesem Zusammen-
hang ist die Schöpfung der Form der (Nom. Sg. Mask. des bestimmten
Artikels) aus älterem, lautgesetzlich entstandenem de und dem Personal-
pronomen er im frühesten Althochdeutschen. Mit Recht betrachtet Dal
104 Elke Ronneberger-Sibold
wandels, nämlich der Apokope von /-ə/. Wie Lindgren (1953) gezeigt hat,
traf dieser Lautwandel ausgerechnet in der starken Adjektivflexion auf den
stärksten funktional begründeten Widerstand. Das lässt sich sogar in einer
so apokope-freundlichen Mundart wie dem Bairischen beobachten: Mhd.
grôze vüeze 'große Füße' entspricht bair. /gro:sə fiɐs/: Das /-ə/ von mhd.
grôze ist erhalten, dasjenige von vüeze nicht. Dabei diente die Konservie-
rung der Endung /-ə/ nicht der Unterscheidung von den anderen Adjek-
tivendungen nach Kasus, Genus und Numerus – diese wäre auch bei einer
endungslosen Form gegeben gewesen – sondern der Distinktion von eben
der endungslosen Form in prädikativer (und im Zuge der Apokope von
/-ə/ beim Adverb zunehmend auch adverbieller) Verwendung. Eine en-
dungslose Form in der starken Adjektivflexion hätte nicht mehr (nahezu)
eindeutig den Beginn einer Nominalklammer signalisiert. Dies wäre dem
klammernden Verfahren extrem abträglich gewesen.
Schließlich kann der linke Klammerrand nicht nur durch Blockade
von Lautwandel oder „Reparatur von Lautwandelschäden“ gestärkt wer-
den, sondern auch durch den Lautwandel selbst. Das ist der Fall bei den
oben (in 2.3.) besprochenen Verschmelzungsformen von Präposition und
Artikel am linken Rand einer Präpositionalphrase.
Insgesamt reichen in der Entwicklung der Nominalklammer die mor-
phologischen Stärkungen des späteren linken Klammerrandes offenbar
weiter in die Vergangenheit zurück als die syntaktischen Veränderungen
der Wortfolge. Es sieht so aus, als hätte zunächst die Morphologie be-
stimmte „Bausteine“ zur Verfügung gestellt – die Artikelform der, die
Langformen der starken Adjektivflexion –, die erst dann von der Syntax
zur Errichtung eines „Klammergebäudes“ genutzt wurden. Dieser Ein-
druck verstärkt sich noch bei der Betrachtung des rechten Klammerrandes
im nächsten Abschnitt.
Wie in 2.2. dargestellt, wird der rechte Rand der Nominalklammer gebildet
durch die Flexion des Substantivs nach Kasus / Numerus und durch sein
Genus. Von diesen drei Kategorien sind Numerus und Genus in der deut-
schen Sprachgeschichte bedeutend besser konserviert worden als Kasus.
Beim Numerus ist das vor allem der so genannten Numerusprofilierung
zu verdanken, beim Genus einerseits den bereits erwähnten Veränderun-
gen und Bewahrungen an den Begleitern und Attributen des Substantivs
am linken Klammerrand, andererseits aber auch am rechten Klammerrand
durch verschiedene Veränderungen und Bewahrungen in der Wortbildung
106 Elke Ronneberger-Sibold
der Substantive, die bis auf wenige Ausnahmen sicherstellen, dass jedes
Substantiv genau eines der drei Genera hat.
_____________
34 Selbst landschaftlich verschiedener Gebrauch, bei dem die verschiedenen Genera gewis-
sermaßen auf verschiedene Sprachgemeinschaften verteilt sind, wie etwa die Butter vs. der
Butter, erzeugt jenseits der jeweiligen Dialektgrenzen starke Abwehrreaktionen.
Die deutsche Nominalklammer 109
_____________
38 Dieser Befund könnte ein neues Licht auf die alte Frage nach den Verwandtschaftsverhält-
nissen und frühen Kontakten zwischen den germanischen Sprachgruppen werfen. Dies ist
jedoch ein facettenreiches Thema, das eingehenderer Untersuchung bedarf, als es mir mög-
lich ist, zumal in diesem Aufsatz. Ich möchte ihn daher ausdrücklich nicht als ein Plädoyer
für eine engere Verwandtschaft des Ostgermanischen mit dem Westgermanischen als mit
dem Nordgermanischen verstanden wissen.
Die deutsche Nominalklammer 113
5. die Schaffung einer unflektierten Form des Adjektivs für den prädi-
kativen Gebrauch. Zu diesem Zweck hätte er zunächst im Nom.
Sg. Mask. und Fem. sowie im Nom. / Akk. Sg. Neutr. die dort laut-
gesetzlich entstandenen endungslosen starken Formen vom Typ
guot verwendet. Um aber auch im Plural und in den obliquen For-
men des Sg. die attributive Verwendung formal deutlich von der
prädikativen unterscheiden zu können, hätte er den Gebrauch der
endungslosen Formen auch auf diese Fälle ausgedehnt;
6. die Bewahrung der schwachen Adjektivflexion und ihre Einschrän-
kung auf den Gebrauch nach Determinantien, obwohl sie als Zei-
chen für die Definitheit einer Nominalphrase durch den bestimm-
ten Artikel eigentlich überflüssig geworden war. Sie war aber
trotzdem nützlich für die Nominalklammer, weil durch sie auch die
attributiven Adjektive in definiten Nominalphrasen formal sowohl
von den prädikativen als auch von den stark flektierten Determi-
nantien am linken Klammerrand unterschieden waren.
Dem Zweck, dass die so geschaffene Nominalklammer auch wirklich so
viel wie möglich gebraucht wurde, diente
7. der schrittweise Verzicht auf die Möglichkeit, ein attributives Ad-
jektiv nachzustellen.
Während dieser syntaktischen Veränderungen im Althochdeutschen stand
der Lautwandel nicht still. Durch die Phonologisierung der Umlautallo-
phone entstand der Pluralumlaut bei den ehemaligen i- und es- / os-Stäm-
men. Im Sinne des klammernden Verfahrens war dies eine sehr willkom-
mene Stärkung des rechten Klammerrandes, die selbstverständlich nicht
durch Übertragung des Umlauts in den Singular gefährdet werden durfte.
Daraus folgt im Althochdeutschen (im Gegensatz zum Altnordischen mit
seinem komplizierteren Paradigma)
8. der Verzicht auf paradigmatischen Ausgleich des Umlauts bei den
ehemaligen i- und es- / os-Stämmen (gast – geste, kalb – kelber). Der
Umlaut erwies sich sogar so nützlich als Pluralkennzeichen, dass
unser „Spracharchitekt“ ihn noch in der alt- und mittelhochdeut-
schen Periode auf verschiedene Weisen, die hier nicht erörtert wer-
den können, weiter im Wortschatz verbreitete.
Die Reduktion der unbetonten Vokale hatte jedoch nicht nur positive
Auswirkungen für den rechten Klammerrand: Sie drohte, die Opposition
zwischen maskuliner und femininer n-Flexion zu zerstören (lautgesetzlich
ahd. gebo 'Geber' und geba 'Geberin' > mhd. gebe 'Geber' und 'Geberin')
114 Elke Ronneberger-Sibold
auf das klammernde Verfahren, obwohl das prinzipielle Problem nicht nur
dieses, sondern jede typologische Sprachentwicklung betrifft:
1. Für jede der oben angeführten dreizehn Veränderungen und Be-
wahrungen gibt es außer ihrer Funktion für das klammernde Ver-
fahren auch andere Motive. Die Sprachbenutzer müssen sie also
nicht notwendigerweise direkt für das klammernde Verfahren
durchgeführt haben.
2. Ab einem bestimmten Zeitpunkt entdeckten die Sprachbenutzer
aber, dass bestimmte Varianten des Sprachgebrauchs, die sie aus
ganz anderen Gründen geschaffen hatten, für das klammernde Ver-
fahren verwendbar waren. In diesem Fall hatte eine solche Variante
einen Selektionsvorteil vor anderen Varianten.
3. Je mehr solcher Varianten endgültig ins Sprachsystem aufgenom-
men wurden, umso wahrscheinlicher wurde die Entdeckung weite-
rer für das klammernde Verfahren verwendbarer Varianten.
4. Schließlich wurden bestimmte Veränderungen möglicherweise di-
rekt oder zumindest vorwiegend durch das klammernde Verfahren
motiviert.
Es handelt sich also um einen selbstverstärkenden Prozess (das Bild einer
Lawine drängt sich auf): Kleine, zufällig entstandene Strukturen werden
irgendwann wegen einer ebenfalls zufällig entstandenen funktionellen
Gemeinsamkeit miteinander vernetzt, ziehen weitere, ähnliche Strukturen
an sich, bilden möglicherweise Makrostrukturen aus, bis sie schließlich ein
ganzes System beherrschen.
Im Fall der deutschen Nominalklammer steht zu vermuten, dass min-
destens die ersten „Bausteine“ für den rechten Klammerrand, also die
Veränderungen unter 1. und 2., solche zufälligen Anfänge waren. Sie kön-
nen sehr gut durch das Bedürfnis nach überschaubar strukturierten Flexi-
onsparadigmen motiviert gewesen sein, wie es immer wieder im Sprach-
wandel wirkt, auch ohne klammerndes Verfahren im Hintergrund. Auch
die Form der kann noch zufällig entstanden sein. Das Personalpronomen
der 3. Person und das entsprechende einfache Demonstrativum werden ja
bis heute konkurrierend gebraucht: Da geht Peter. Er / der sieht heute krank
aus. Eine formale Kontamination ist also nicht unwahrscheinlich. Dass
aber der sich gegen de mit seinen verschiedenen Varianten (dhe, the, thie; vgl.
Braune / Reiffenstein 2004, 247) durchsetzte, könnte bereits mit seiner
Entdeckung als möglicher linker Rand für eine Nominalklammer zusam-
menhängen. Der entscheidende Schritt könnte hier die Vernetzung der
nominalen klammernden Strukturen mit den sicher zunächst unabhängig
116 Elke Ronneberger-Sibold
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Zur Herausbildung der Satzklammer
im Deutschen
Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse
1. Einleitung
Dieser Artikel behandelt die Herausbildung der Satzklammer aus einer
informationsstrukturellen Perspektive. Zunächst wird anhand von Diffe-
renzbelegen aufgezeigt, dass die Tatian-Übersetzung eine Vielzahl von
originären Strukturen in Nebensätzen aufweist, in denen Objekte und
Prädikate, die im modernen Deutschen nicht extraponierbar sind, post-
verbal erscheinen. In Abschnitt 2 wird gezeigt, dass die Verteilung präver-
baler und postverbaler Konstituenten nicht gut mit dem Gesetz der wach-
senden Glieder erklärt, sondern auf eine informationsstrukturelle
Regularität zurückgeführt werden kann, in der nachgestellte Konstituenten
Informationsfokus darstellen und vom Hintergrundbereich des Satzes
durch das (finite) Verb getrennt werden. In Abschnitt 3 wird erläutert,
dass die Grammatikalisierung des definiten Artikels eine entscheidende
Rolle in der Herausbildung der Satzklammer des modernen Deutschen
gespielt hat, indem präverbale diskursanaphorische determinierte Nomi-
nalphrasen zur Abschwächung einer prosodischen Bedingung führen, die
das Mittelfeld für schwere und betonte Konstituenten öffnet. In Abschnitt
4 werden die wichtigsten Schlussfolgerungen dieser Analyse zusammenge-
fasst.
Die älteren germanischen Sprachen zeichnen sich durch eine Vielzahl von
Wortstellungsoptionen aus. So finden sich im Altenglischen (vgl. Pintzuk
1999) und im Altnordischen (vgl. Hróarsdóttir 2009) in eingebetteten
Sätzen sowohl OV- als auch VO-Abfolgen. Dieselbe Variation ist auch in
122 Roland Hinterhölzl
nen, wie in (10) illustriert wird. In der Annahme, dass diese Einschrän-
kung auf eine Abbildungsbedingung zwischen syntaktischer Struktur und
prosodischer Struktur zurückzuführen ist und dass rechtsverzweigende
Phrasen auf rechtsköpfige phonologische Phrasen abgebildet werden,
ergibt sich als möglicher Kandidat für den grammatischen Hintergrund
des Gesetzes der wachsenden Glieder die Beschränkung in (11).
(11) Eine rechtsköpfige prosodische Phrase darf nicht auf einem lin-
ken (syntaktischen) Zweig gegenüber dem Verb sitzen, mit dem
sie eine gemeinsame prosodische Konstituente bildet.
Auf die Relevanz dieser Bedingung für die Herausbildung der Satzklam-
mer werde ich noch genauer in Abschnitt 3 eingehen. Im folgenden Ab-
schnitt soll genauer untersucht werden, ob die Wortstellung in der Tatian-
übersetzung primär vom Gesetz der wachsenden Glieder oder primär
informationsstrukturell bestimmt ist.
des definiten Artikels dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben könn-
te.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klar zu machen, dass das
neue lexikalische System nicht ganz deckungsgleich mit der Unterschei-
dung zwischen diskursgegebenen und diskursneuen Referenten des alten
syntaktischen Systems ist. Im heutigen Deutsch signalisiert der definite
Artikel, dass der Diskursreferent, ob gegeben oder neu, eindeutig im Kon-
text identifizierbar ist, wie das Beispiel in (19) zeigen soll.
(19) Maria hat sich ein kleines Häuschen am Land gekauft.
Nächstes Wochenende will sie die Hütte abreißen.
In dem Minitext in (19) kann die Nominalphrase die Hütte sowohl dis-
kursanaphorisch sowie als einen neuen Diskursreferenten einführend
interpretiert werden. In diskursanaphorischer Verwendung, unter Deak-
zentuierung, wird die Referenz des Ausdrucks die Hütte mit dem vorer-
wähnten Häuschen identifiziert und der semantische Gehalt des Nomens
Hütte appositiv dazu interpretiert. Daneben gibt es eine Lesart, in der der
nominale Ausdruck eine Hütte bezeichnet, die zu dem kleinen Häuschen
gehört (bridging). In diesem Fall führt der Ausdruck die Hütte einen neuen
Diskursreferenten ein und wird dabei betont. Der definite Artikel legiti-
miert sich durch die eineindeutige logische Relation zum vorerwähnten
Häuschen. Bevor im Abschnitt 3.2. die Rolle des definiten Artikels in der
Herausbildung der Satzklammer näher beleuchtet wird, wollen wir uns
zunächst über den grammatischen Status dieser Entwicklung im Klaren
werden.
gen Deutsch noch Argumente ausklammern kann, wie das Beispiel in (20)
zeigen soll.
(20) Auf Gleis 5 fährt ein | der IR nach Straubing
Der Satz in (20) zeigt ein nachgestelltes fokussiertes Subjekt. Er ist zwar
als grammatisch zu bewerten, aber in höchstem Grade prosodisch mar-
kiert, da er nur in Form von zwei getrennten Intonationsphrasen realisiert
werden kann, wie in (21) gezeigt ist, und damit die Schnittstellenbedin-
gung in (22) verletzt.
(21) [iP (Auf Gleis 5) (fährt ein) ] [iP (der Interregio) (nach Straubing)]
(22) Focus constituents are mapped into the intonational phrase
which contains the verb (Nespor / Vogel 1986).
Daher ist (21) auf Grund seiner Markiertheit nur in speziellen kommuni-
kativen Situationen einsetzbar. Diese Diagnose legt nahe, dass der allmäh-
liche Abbau nachgestellter Argumente und Prädikate auf eine grammati-
sche Änderung zurückzuführen ist, die zur Folge hat, dass ein postver-
baler Fokus nicht mehr in die Intonationsdomäne des Verbs integriert
werden kann. Wir werden auf diese grammatische Regel in Sektion 3.3.
zurückkommen.
Auf Grund der beiden Fokuspositionen und auf der Basis von Fokus-
restrukturierung können wir annehmen, dass das Ahd. zwei unmarkierte
Wortstellungen aufwies: Präverbaler Fokus ist verantwortlich für prosodi-
sche Phrasen vom Typ (s w) und postverbaler Fokus ist verantwortlich für
prosodische Phrasen vom Typ (w s). Das heißt, wenn wir einen Faktor
identifizieren können, der zu einer verstärkten Verwendung von fokussier-
ten und damit betonten präverbalen Konstituenten führt, können wir eine
langsame Entwicklung voraussehen, in der gewisse prosodische Muster
mehr und mehr marginalisiert werden, bis ein Punkt erreicht wird, an dem
postverbale betonte Konstituenten so stark markiert sind, dass sie nur
noch eingeschränkt auf spezifische Kontexte verwendet werden können,
wie das der Fall im Beispiel (20) ist. Im folgenden Abschnitt soll dargelegt
werden, dass dieser unabhängige Faktor in der Grammatikalisierung des
definiten Artikels zu finden ist.
Es gibt drei Gründe, die dafür sprechen, dass die Grammatikalisierung des
definiten Artikels tatsächlich der Auslöser für die Herausbildung der Satz-
klammer im Deutschen war.
Zur Herausbildung der Satzklammer 131
Wenn sich das Szenario in (27) als richtig erweist, so stellt sich die Frage,
warum die Einführung des definiten Artikels nicht denselben Effekt in der
Geschichte der anderen germanischen Sprachen zeitigte. Auch im Ae.
(vgl. Kroch / Pintzuk 1989) und im An. (vgl. Hróarsdóttir 2009) gehorcht
die Wortstellung dem Gesetz der wachsenden Glieder: Leichte Elemente
(typischerweise Pronomen und bloße Nomen) gehen dem Verb voraus,
schwere Elemente (inklusive fokussierter Konstituenten) folgen dem
Verb. In diesem Zusammenhang ist zu erklären, warum in diesen Spra-
chen die Grammatikalisierung des definiten Artikels nicht gleichermaßen
zur Einführung schwerer Konstituenten im Mittelfeld geführt hat.
Dabei ist, was diese Fragestellung anbelangt, zumindest das Nordger-
manische unproblematisch, da bereits Leiss (2000) feststellt, dass der defi-
nite Artikel im Altisländischen zunächst bei diskursneuen NPen eingesetzt
wird, um anzuzeigen, dass diese entgegen ihrer syntaktischen Position als
definit zu interpretieren sind.
Nicht so einfach zu erklären ist aber, warum im Englischen nicht der-
selbe Effekt eintritt wie im Deutschen. Philippi (1997) stellt fest, dass das
Ae. noch keinen definiten oder indefiniten Artikel besitzt, sondern Pro-
nomen benutzt, die noch eindeutig als Demonstrativa oder Numeralia zu
klassifizieren sind. Wenn die Aussage von Philippi tragfähig ist und auf die
gesamte altenglische Periode zutrifft, könnte dies bedeuten, dass die
134 Roland Hinterhölzl
4.2. Schlussfolgerungen
Was immer eine differenzierte Analyse, die definite und indefinite nomi-
nale Ausdrücke separat behandelt, ergibt, die Daten in (29) und (30) legen
nahe, die Rolle der Stellungsveränderungen der Prädikate in einer umfas-
senden Erklärung zur Herausbildung der Satzklammer zu berücksichtigen.
Dabei ist von der Artikelhypothese ausgehend zunächst einmal abzuklä-
ren, ob die gesteigerte Anzahl präverbaler Prädikate bei Notker auf eine
größere Anzahl präverbaler schwerer Prädikate gegenüber den Zahlen im
Tatian zurückzuführen ist. In dem Fall könnte nämlich die Stellungsverän-
derung der Prädikate indirekt wiederum auf die Grammatikalisierung des
Artikels bezogen und als eine Konsequenz der Abschwächung der proso-
dischen Bedingung durch diskursanaphorische Nominalphrasen interpre-
tiert werden.
Unabhängig davon ist es wichtig festzustellen, dass die gesteigerte An-
zahl präverbaler Prädikate denselben Effekt wie präverbale DPen auf die
Polung der IS-prosodischen Bedingung in (28) hat, da Prädikate regelhaft
eine phonologische Phrase mit dem Verb bilden und somit gleichermaßen
das prosodische Muster (s w) bezüglich des Verbs verstärken.
Als ein weiterer wichtiger Aspekt der Daten in (29) bis (31) ist zu un-
tersuchen, welche Faktoren für die Diskrepanz zwischen verbaler Klam-
mer im Hauptsatz und der Satzklammer im Nebensatz verantwortlich zu
machen sind. Diese Fragestellung erfordert, so wie die Untersuchung der
Stellung der Prädikate und Objekte bei Notker, eine qualitative Detailana-
lyse, die die informationsstrukturelle Rolle der relevanten Konstituenten
berücksichtigt.
Zur Herausbildung der Satzklammer 137
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass wir durch die Berücksichtigung in-
formationsstruktureller Kategorien zu einem tieferen Verständnis von
Sprachwandelprozessen wie der Herausbildung der Satzklammer im Deut-
schen kommen können, da eine derart angereicherte Analyse es uns er-
laubt, grammatische und (text-)funktionale Aspekte und Faktoren aufein-
ander zu beziehen.
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vnd schwermen so waidlich /
als jemandt anders schwermen kan
Nominalphrasen mit jemand und niemand
in der Geschichte des Deutschen
1. Einleitung
Das grammatische Phänomen, dessen Geschichte im Folgenden unter-
sucht werden soll, kann anhand von zwei gegenwartssprachlichen Presse-
belegen vorgestellt werden.
(1) Noch jemand Bedeutendes fehlte beim Boxabend. (Hamburger Morgen-
post, 4.7.2005)1
(2) Ob in der ASG-Zentrale in Innsbruck auch nominell jemand Neuer Ein-
zug halten wird, ist aber offen. (Tiroler Tageszeitung, 12.02.2000)2
Beide Belege enthalten eine Verbindung von jemand mit einem substanti-
vierten Adjektiv. In Beispiel (1) hat das Adjektiv die Endung -es, wie das
die Adjektive im Nominativ Singular Neutrum haben, im zweiten Beispiel
ist die Adjektivendung -er wie im Nominativ Singular Maskulinum. Dabei
handelt es sich, wie durch die Auswahl einer Hamburger und einer Tiroler
Zeitung für die Belegpräsentation gezeigt werden sollte, um eine regionale
Variante der Standardsprache. Die Formen auf -es treten vor allem im
Norden des deutschen Sprachgebiets auf, die -er-Formen im Süden. Diese
Verteilung gilt nicht nur für das substantivierte Adjektiv nach jemand (und
niemand), sondern auch, wie die Belege (3) und (4) zeigen, für ander. In der
Hamburger Morgenpost heißt es jemand anderes, in der Süddeutschen Zei-
tung dagegen jemand anderer.
_____________
1 Online im Internet: http://www.ids-mannheim.de/cosmas2
(Cosmas-Recherche 27.04.2006).
2 Ebd.
140 Ursula Götz
_____________
3 Ebd.
4 Online im Internet: www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/539/23516/article.htm
(Stand 20.5.2006).
5 Schmeller (1985, Sp. 820).
6 Ebner (1998, 31); Meyer (1989, 44).
7 Die regionale Variante wird nur in der Dudengrammatik (vgl. Abschnitt 2) und bei Johan-
nes Erben (1980, 239) erwähnt sowie in den früheren Auflagen der Grammatik von Ulrich
Engel (1996, 672 und 680). In der Neubearbeitung (2004, 375 und 379) werden die regio-
nalen Unterschiede nicht mehr erwähnt. Zur Berücksichtigung dieser und anderer regiona-
ler grammatischer Varianten der Standardsprache vgl. auch Götz (1995, 222ff.).
8 Vgl. Ljungerud (1955, 191ff.). Die vermutlich jüngste Arbeit zum Thema, Roehrs (2008,
1ff.), spricht die Regionalität des Phänomens nicht an, sondern erklärt das Nebeneinander
von jemand anderer und jemand anderes als „variation in the preference of individual speakers“
(3). Der Beitrag von Dorian Roehrs ist mir erst nach Abschluss meiner Untersuchung be-
kannt geworden. Interessant ist, dass Dorian Roehrs, der sich aus sprachvergleichender ge-
nerativer Perspektive mit dem Problem beschäftigt, in einem wichtigen Punkt eine ähnliche
Einordnung vornimmt wie die vorliegende Darstellung. Vgl. dazu Anm. 37.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 141
2. Gegenwartssprachlicher Befund
Bevor die Geschichte der einschlägigen Fügungen betrachtet wird, sollen
die gegenwartssprachlichen Verhältnisse anhand der Darstellung in der
Dudengrammatik kurz umrissen werden. Peter Gallmann schreibt hier:
Nach den Pronomen jemand, niemand und wer kann eine enge Apposition stehen,
gewöhnlich in Form eines substantivierten Adjektivs. Solche Substantivierungen
weisen im Nominativ und Akkusativ standardsprachlich meist die Endung -es auf
[…]. Es handelt sich um einen ursprünglichen Genitiv, der jedoch heute meist als
Nominativ / Akkusativ Neutrum empfunden wird. Vor allem im Süden des deut-
schen Sprachraums sind daneben auch maskuline Formen üblich.
[...]
Beim Adjektiv andere tritt außerdem die unveränderliche Form anders auf (auch im
Dativ), es besteht also teilweise die Wahl zwischen drei [...] Varianten.9
Im Text werden sehr viele Beispiele genannt; die darin enthaltenen ein-
schlägigen Formen sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt.
Nord Süd
Neutrum Maskulinum
Nom. jemand Unbekanntes jemand Unbekannter
Dativ jemand Unbekanntem jemand Unbekanntem
Akk. jemand Unbekanntes jemand Unbekannten
Nicht in die Tabelle aufgenommen sind die Formen mit flektiertem je-
mand, niemand also etwa ich sehe jemanden Unbekannten, weil sie für die hier
behandelte Frage keine Rolle spielen. Entscheidend sind die grundsätzli-
chen Typen, die P. Gallmann anführt: für den Norden die neutralen For-
men, für den Süden die maskulinen und bei anders zusätzlich die unverän-
derten Formen.
_____________
9 Duden (2005, Nr. 1587).
142 Ursula Götz
_____________
10 Duden (2005, Nr. 1587).
11 Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 79) und 1DWB IV,II, Sp. 2302, als Bei-
spiel für partitiven Genitiv. Die Belege werden jeweils nach den im Quellenverzeichnis an-
gegebenen Ausgaben zitiert.
12 CaOU, II, Nr. 1262 (504, 28).
13 Vgl. Kiefer (1910) und die in den folgenden beiden Fußnoten jeweils exemplarisch genann-
ten Darstellungen.
14 Vgl. Behaghel (1923, § 384); Demske (2001, 266f.).
Nominalphrasen mit jemand und niemand 143
_____________
15 Vgl. Dal (1966, § 25, 25f.); Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, § S 35).
16 Vgl. Paul (2007, § M 23).
17 Vgl. ebd., § L 123.
144 Ursula Götz
noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie niemand guter, niemand fremder, niemand
fremdes, niemand anders u.s.w.18
Diese Darstellung wirkt zunächst plausibel; es wäre nur noch zu klären,
warum im Süden die Genitiv-Plural-Formen erhalten bzw. reanalysiert
sind, im Norden dagegen die Genitiv-Singular-Formen.
Zweifel an M. von Lexers Darstellung ergeben sich, wenn man seinen
Wörterbuchartikel zu niemand mit dem zu jemand vergleicht, der von Moriz
Heyne verfasst wurde. Auch hier findet sich eine Aussage zur Verbindung
mit dem Genitiv: „besonders gern steht in der alten sprache der gen. plur.
von adjectiven bei jemand.“19 M. von Lexer übernimmt M. Heynes Aussage
wörtlich, ergänzt allerdings den „genitiv singularis“, was – als Erklärung
für die modernen -es-Formen (jemand Gutes) – auch sehr gut passen würde.
Überprüft man allerdings die Belege, die M. von Lexer bietet, dann finden
sich keine Belege im Genitiv Singular wie iemen guotes oder ähnliche, son-
dern nur Belege im Genitiv Plural sowie ein Beleg für anders:
besonders gerne steht aber in der alten sprache bei niemand (wie bei jemand) ein
adjectivischer genitiv pluralis oder singularis (gramm. 4,456,739): ahd. nieman guo-
tero. Notker ps. 80,8; nieman anderro. 21.12; mhd. nieman, niemen guoter. Walther
18,33. Wigal. 180,16; ander niemen. Nibel. 437,6. 1084,4; niemen anders Iwein 3223,
6237, welche genitivische fügung noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie nie-
mand guter, niemand fremder, niemand fremdes, niemand anders u.s.w.20
Auch die Überprüfung anderer Wörterbücher und Grammatiken sowie
verschiedener alt- und mittelhochdeutscher Texte erbrachte fast nur Bele-
ge für den Genitiv Plural, und zwar sowohl bei den (seltenen) substanti-
vierten Adjektiven als auch bei ander.
(7) hân ich getriuwer iemen, dine sól ich niht verdagen (Nibelungenlied
147,3)21
(8) Vnde verzihen vns aller der gnaden / die wir haben an vnseren hantvestinon
/ von dem babiste oder von ieman anderer (Urkunde, Reichenau 5. No-
vember 1270)22
Daneben gibt es einige wenige Belege, in denen ander eine Flexionsendung
zeigt, die mit dem Pronomen übereinstimmt.
(9) So uuer se sachun sinu [...] uuemo andremo uersellan uuilit [...] uuizze-
tathia sala ce gedune geulize. (Trierer Kapitulare)23
_____________
18 1DWB VII, Sp. 826.
19 1DWB IV,II, Sp. 2302.
20 1DWB VII, Sp. 826.
21 Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 129) als Beispiel für Genitivanschluss
nach ieman.
22 CaOU, I, Nr. 145B (180, 26).
Nominalphrasen mit jemand und niemand 145
_____________
23 Von Steinmeyer (1916, 305, 7f.).
24 Grimm (1999, 456).
25 Vgl. Eisenberg (2006, 208).
26 Von Steinmeyer (1916, 332, 31). Nach AWB (1968, I, Sp. 506f.) ist dies einer der ältesten
Belege für das Adverb anders.
27 Vgl. AWB (1968) I, Sp. 506); FWB, I, Sp. 1068.
28 Vgl. Paul (2007, 231).
146 Ursula Götz
_____________
29 Die formale Unterscheidung von Adverb anders und flektierter Adjektivform anderes bzw.
andres erfolgt erst im 19. Jahrhundert. Vgl. 1DWB, I, Sp. 306, 311f.
30 Das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache enthält in den Artikeln etewer,
ieman und nieman neben einer Vielzahl von pluralischen Belegen einen einzigen Beleg mit
einem Substantiv im Genitiv Singular: „also, daz wir noch vnsers létes nieman noch enhei-
ner vnser erben siv dar an vérbaz me besw(ren vñ geirren svln“ (WMU, II, 1309).
31 Vgl. 2DWB, I, Sp. 809; WMU, II, 913 und 1309. Dagegen wird bei BMZ, I, 36, anders in
niemen anders als „genit. des singul.“ klassifiziert.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 147
jemand / niemand
+
ander substantiviertes Adjektiv
Adverb anders
Übersicht 2: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand
bis zum älteren Frühneuhochdeutschen
_____________
32 Die Luther-Bibel (2003, 606).
33 1DWB IV, II, Sp. 2302f.
148 Ursula Götz
Neutrum Unverändert
gen zu rechnen. Immerhin finden sich aber doch einige einschlägige Bei-
spiele. M. Heyne selbst führt einen Goethebeleg an:
(16) Da ist ein Brief; er muß von jemand Hohes sein (J. W. v. Goethe, Die
Mitschuldigen, I, 6)34
Auch das Schwäbische Wörterbuch weist entsprechende Dativformen auf:
„Mod. stets n[iemand] -s: n[iemand] rechtes, braves, gutes, auch von, bei n[iemand]
-s“.35 Schließlich erbringt eine einfache Internetsuche für die Gegenwarts-
sprache zahlreiche Belege in informeller Schriftlichkeit, wie etwa Be-
leg (17):
(17) Wem Fremdes bringt man aber nicht solch ein Vertrauen entgegen, den re-
gulären Betrieb abzublocken.36
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich eine größere Anzahl ein-
schlägiger historischer Belege finden ließe. In jedem Fall spricht aber das
Vorhandensein der anders nur schwer erklärbaren unveränderten Dativbe-
lege für die hier vorgetragene These von der Bildung analoger unveränder-
ter Adjektivformen nach dem Muster des Adverbs anders.37
_____________
34 Vgl. von Goethe (1990, 38). Heyne, 1DWB IV, II, Sp. 2303, stellt diesen Vers als die Form
der „erste[n] abfassung“ einer späteren Fassung „er muss von jemand hohem sein“ gegen-
über. Die entsprechende Änderung lässt sich wohl auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts
zurückführen, die unten (Abschnitt 4) angesprochen werden.
35 Schwäbisches Wörterbuch (1904-1936, Sp. 2040).
36 Online im Internet: http://www.nostria-saga.de/forumscroll/ [etc.] (Stand 20.04.2006).
Auch in Duden. Richtiges und gutes Deutsch, 491 und 651, wird die Variante von jemand Fremdes,
niemand Fremdes akzeptiert, allerdings werden keine Belege angeführt; die Form mit flektier-
tem Adjektiv (von jemand Fremdem) gilt aber als „verbreiteter“.
37 Dass -s nicht als neutrale Endung aufgefasst wurde, legt auch der Befund des Niederdeut-
schen nahe, wo heute ebenfalls die Formen auf -s gelten, vgl. Lindow / Möhn / Nie-
baum / Stellmacher / Taubken / Wirrer (1998, 182), obwohl das Adjektiv im Neutrum,
soweit es nicht endungslos ist, wegen der nicht durchgeführten zweiten Lautverschiebung
hier auf -t ausgeht (191f.), so dass die Endungen von Genitiv Singular und Nominativ
Neutrum also nie zusammengefallen waren. Kiefer (1910, 68) nimmt an, dass die Formen
auf -s aus dem Süden übernommen wurden. Roehrs (2008, 3) sieht in der Endung des Ad-
jektivs in Konstruktionen wie jemand Nettes ebenfalls keine neutrale Flexionsendung, son-
dern klassifiziert -s hier ebenso wie in Fällen wie etwas Schönes als „special -s“. Allerdings
führt Roehrs dieses special -s nicht auf das Adverb anders zurück. Ander wird bei Roehrs
immer nur als Adjektiv angesprochen, an keiner Stelle der Untersuchung wird das Adverb
anders erwähnt; bei der Konstruktion jemand / niemand + ander nennt Roehrs nur die Varian-
ten jemand anderer oder jemand anderes, nicht aber die Variante jemand anders.
150 Ursula Götz
Adverb anders
Übersicht 4: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand
vom Althochdeutschen bis zum 18. Jahrhundert
Das bis ins ältere Frühneuhochdeutsche gültige System, in dem nach je-
mand und niemand entweder das Adverb anders oder Genitiv Plural-Formen
von ander und substantivierten Adjektiven auftreten, wird (nach einer ge-
wissen Übergangszeit) im Laufe des 16. Jahrhunderts durch ein System
ersetzt, in dem auf jemand und niemand nur mehr das Adverb anders oder
analog dazu gebildete Adjektivformen auf -(e)s folgen. Dieses System gilt
im Großen und Ganzen bis ins 18. Jahrhundert.
Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts treten – neben den unveränderten
Formen – auch flektierte Belege auf, die als maskuline oder neutrale For-
men von ander oder den substantivierten Adjektiven einzuordnen sind.
Der Unterschied zwischen maskulinen und neutralen Formen besteht
Nominalphrasen mit jemand und niemand 151
5. Fazit
Der Nachweis für die zuletzt vorgetragene These dürfte nicht ganz leicht
zu führen sein, da ein vergleichsweise selten auftretendes Phänomen wie
die Verbindung von jemand oder niemand mit substantiviertem Adjektiv
oder ander in der einschlägigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wohl
nicht allzu häufig thematisiert worden ist.45 In jedem Fall bleibt aber fest-
zuhalten, dass es sich bei den Formen auf -er und -es (jemand Neuer / Neues
bzw. anderer / anderes) nicht um Fortsetzer der alten Genitivformen han-
deln kann, sondern dass wesentlich differenziertere sprachgeschichtliche
Entwicklungen vorliegen. Die regionalen Varianten der Standardsprache
zeichnen sich also nicht nur durch eine besondere Stellung im Varietäten-
gefüge der Gegenwartssprache aus, sie dürfen auch in sprachgeschichtli-
cher Hinsicht besonderes Interesse beanspruchen.
_____________
44 Diese Auffassung wird offenbar nicht von allen Sprachbenutzern bzw. Sprachpflegern
geteilt. Im Sprachratgeber des Dudenverlags jedenfalls wird die er-Form eindeutig abge-
lehnt: „Nicht standardsprachlich ist der Gebrauch des Maskulinums im Nominativ: Das ist
jemand Fremder.“ Vgl. Duden (2007, 491).
45 Bei einer ersten Überprüfung verschiedener Grammatiken und Wörterbücher des 18. und
19. Jahrhunderts (J. Chr. Adelung, C. F. Aichinger, H. Braun, J. Chr. Gottsched, J. S. V.
Popowitsch) fanden sich einige Aussagen, die durchaus mit dem hier untersuchten Thema
in Verbindung stehen. So lehnt J. Chr. Adelung Fügungen wie niemand Vornehmes ab und
empfiehlt dafür die Formulierung kein Vornehmer, vgl. Adelung (1971, 691). Für eine umfas-
sende Analyse der Herausbildung des Nebeneinanders jemand / niemand Fremder / Fremdes
bzw. anderer / anderes reicht das Material bisher allerdings nicht.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 153
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Leipzig 1782, (Documenta Linguistica 4: Deutsche Grammatiken des 16. bis 18.
Jahrhunderts), Hildesheim, New York.
_____________
46 Das Quellenverzeichnis enthält nur die Texte, aus denen Belege zitiert werden. Auf eine
Nennung der für allgemeine Häufigkeitsangaben oder zur (erfolglosen) Ermittlung weiterer
Belege geprüften Texte wird aus Raum- und sonstigen Praktikabilitätsgründen verzichtet.
154 Ursula Götz
Henzen, Walter (1965), Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl., (Sammlung
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stein / Ursula Schulze erarb. v. Sibylle Ohly / Peter Schmitt, Berlin.
Abkürzungsverzeichnis
AWB = Althochdeutsches Wörterbuch, aufgrund der v. Elias von Steinmeyer hinter-
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Theodor Frings / Rudolf Große, Leipzig 1968ff.
156 Ursula Götz
1. Einleitung
Im Neuhochdeutschen gibt es bei den Konditionalsätzen zwei unter-
schiedliche Typen, der eine ist mit Konjunktion eingeleitet, der andere hat
das finite Verb an erster Stelle:
(1a) Wenn ich den Bus erwischt hätte, müsste ich nicht zwanzig Mi-
nuten warten.
(1b) Hätte ich den Bus erwischt, müsste ich nicht zwanzig Minuten
warten.1
Wenn man einen Sprecher des heutigen Deutsch fragt, wann er welchen
der beiden Typen verwendet, bekommt man keine klare Antwort, da kon-
ditionale V1-Sätze in vielen Fällen mit den wenn-Sätzen funktionsgleich
sind.2 Umso auffallender ist, dass es in den älteren Sprachstufen des Ger-
manischen offenbar feste Regeln dafür gibt. Ein Beispiel ist die mittel-
alterliche Rechtsprosa. Wie Hans Ulrich Schmid3 nachgewiesen hat, wird
in uneingeleiteten Konditionalsätzen ein rechtsrelevanter Sachverhalt ge-
nannt, wobei eine Handlungsfokussierung vorliegt. Dagegen werden in
den mit ob 'wenn' eingeleiteten Konditionalsätzen einschränkende oder
zusätzliche Bedingungen genannt. Voraus geht aber ein agensbezogener
verallgemeinernder Relativsatz, ein sogenanntes Irrelevanzkonditionale:
_____________
1 Gallmann (2005, 876).
2 Vgl. König / Auwera (1988); Zifonun u.a. (1997, 2113 und 2349) interpretieren daher die
konditionalen V1-Sätze analog zu den kanonischen wenn-Sätzen mit Verbendstellung als
eingebettete Sätze, die das Vorfeld ihres deklarativen V2-Bezugssatzes (Apodosis) beset-
zen.
3 Vgl. Schmid (2005, 360f.), anders Iatridou / Embick (1993).
158 Rosemarie Lühr
_____________
4 Nach Szadrowsky (1961, 117) ist jedoch die dritte Bedingung der zweiten deutlich unterge-
ordnet.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 159
Verwandten und seinen Vater und seine Mutter zu nennen weiß und es ir-
gendeinen Acker seiner Grundstücke erkennen kann, das Kind [...]5
2. Konjunktionshaltige Konditionalsätze
2.1. Zu Beginn der direkten Rede
Da fällt nun auf: Die vorangestellten, eine direkte Rede einleitenden Kon-
ditionalsätze sind bei Otfrid mit der Konjunktion ob oder oba 'wenn' einge-
leitet:9
(4) II 4, 53ff.
Er ínan in thie wénti sazta in óbanenti,
thar ríaf er ímo filu frúa thrato rúmana zúa:
„Oba thu sís“, quad, „gótes sun, laz thih nídar hérasun
in lúfte filu scóno, so scal sún frono.
Er setzte ihn auf die Zinne auf die Spitze, da rief er ihm bald zu: „Wenn
du“, sagte er, „Gottes Sohn bist, lass dich hier nieder in die Luft recht
schön, wie es dem heiligen Sohn geziemt.“
In diesem wie in den folgenden Beispielen liegt eine kontextuell deutlich
erschließbare Kontrastivität vor. Der Satan distanziert sich von dem, was
_____________
8 Vgl. dazu Lühr (2005, 177ff.).
9 Einmal findet sich am Kapitelanfang oba. Auch hier erscheint ein impliziter Kontrast:
Ich widme dieses Buch, nachdem ich es vollendet habe, den St. Gallener Mönchen Hartmut und Werinbert.
Dennoch ist es möglich, dass ich einige Textstellen falsch gedeutet habe.
Hartmuat 1ff.:
Oba íh thero búacho gúati hiar iawiht missikérti,
gikrúmpti thero rédino thero quít ther evangélio:
Thuruh Krístes kruzi bimíde ih hiar thaz wízi,
thuruh sína gibúrt;
Wenn ich (aber) etwas aus den heiligen Büchern falsch erklärt habe, habe ich den Sinn, den
das Evangelium aussagt, verdreht, so möge ich durch Christi Kreuz, durch seine Heilsge-
burt hier der Züchtigung entgehen.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 161
Jesus gesagt hat: Wenn du tatsächlich, d.h. anders als ich annehme, Gottes Sohn
bist. Ähnlich auch in der Anrede des einen Räubers am Kreuz:
(5) IV 31,1ff.
Thero scáchoro (ih sagen thir) éin, want er hángeta untar zuéin,
deta ímo, so man wízzi, thia selbun ítwizzi.
„Oba thu Kríst“, quad er, „bíst, hílf thir, nu thir thúrft ist;
joh dúa thar thina gúati, hilf úns ouh hiar in nóti!“
Der eine von den Räubern (ich sage dir), denn er hing zwischen zweien,
trieb mit ihm, wie man weiß, eben jenes Gespött. „Wenn du der Geweihte
bist, hilf dir, wenn du es nötig hast; ja zeige deine Göttlichkeit, hilf auch
uns hier in der Not.“
Wenn du wirklich, d.h. wenn du aber, anders als ich annehme, der Geweih-
te bist.
In der Tat enthält der redeeinleitende wenn-Satz gegebenenfalls ein Wort
wie aber. Vgl. mit Bezug auf Johannes:
(6) I 27,23ff.
fragetun s3+ ávur thuruh nót, so man in héime gibot:
„Oba thu Helías avur bíst, ther uns kúnftiger ist,
thaz gizéli thI uns nu sár, thaz wír iz avur ságen thar.“
Sie fragten aber voll Ungestüm, wie man ihnen zu Hause auftrug: „Wenn
du aber Elias bist, der zu uns kommen wird, das sage uns nun sofort, damit
wir es dort wiederum sagen.“
Das Subjekt ist in diesen Sätzen das Personalpronomen du, dem die Ko-
pula und ein Prädikatsnomen folgen. Das Prädikatsnomen trägt dabei
sicher einen Kontrastakzent. Es handelt sich um eine implizite Korrektur
mit einem Kontrastfokus: Wenn du aber Elias (und nicht Christus) bist (vgl.
auch (13)). Nun noch zu dem Wort aber. Für die Bedeutungsanalyse des
Wortes aber passt von den vielen Vorschlägen der von Ewald Lang10 am
ehesten für unsere Deutung der oba-Sätze. Nach Lang ist aber Indikator
einer Behauptung entgegen anders liegender Erwartung.
• Es gilt: Satz S1 aber S2: S1 wird behauptet und dann S2, und zwar
auf dem Hintergrund, dass S1 Neg-S2 erwartet lässt. Die Satzbe-
deutung SB1 zieht normalerweise SB3 nach sich, die Negation von
SB2.
_____________
10 Lang (1977, 170). Vgl. aber Brauße (1982, 11).
162 Rosemarie Lühr
Kehren wir nun zu Otfrid zurück, so kommt auch innerhalb der direkten
Rede die Verbindung ob avur vor:
(8) IV 21,15ff.
Ther líut ther thih mír irgab, zálta in thih then rúagstab;
thie selbun záltun alle mír thesa béldi fona thír.
Ob ávur thaz so wár ist, thaz thu iro kúning nu ni bíst:
bi híu ist thaz sie thih námun, sus háftan mir irgábun?
Die Menge, die dich mir überhab, erhob gegen dich Anklage; sie nannten
mir alle diese Kühnheiten von dir. Wenn aber das so wahr ist, dass du ihr
König nun nicht bist, wie kommt es, dass sie dich gefangen nahmen, (dich)
mir so gefesselt übergaben?
Auch hier lässt sich eine implizite Korrektur annehmen: Wenn das aber wahr
(und nicht falsch) ist. Vgl. auch:
(9) III 3,23ff.
Er wolta sínes thankes wíson thar thes scálkes;
zemo súne, sih nu zálta, giládoter ni wólta.
Ob únsih avur ladot héim man ármer thehéin,
thuruh úbarmuati in wár so suíllit uns thaz múat sar;
Freiwillig nämlich wollte er dort jenen Diener besuchen, zum Sohn, wie ich
nun erzählte, da wollte er nicht eingeladen sein. Wenn uns hingegen ir-
gendein armer Mensch einlädt, schwillt uns wahrlich aus Hochmut alsbald
das Herz.
Gemeint ist: Wenn uns aber irgendein armer Mensch (und nicht ein reicher) einlädt.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 163
Wie am Redenanfang kann auch in der Rede das Wörtchen avur feh-
len. Dennoch wird ein Gegensatz ausgedrückt; vgl. die Übersetzung von
Kelle:
(10) I 19,25ff.
Thia gilóub%, ih sagen thir wár, thia láz ih themo iz lísit thar;
ni scríbI ih hiar in úrheiz thaz ih giwísso ni weiz.
Ob ih giwísso iz wésti, ih scríbi iz hiar in fésti;
thoh mag man wízan thiu jár, wío man siu zélit thar.
Den Glauben, ich sage dir es aufrichtig, den gebe ich jedermann, der dieses
liest, hier völlig frei; Ich schreibe ja nicht in Schwärmerei, was ich nicht völ-
lig sicher weiß. Doch wüsste ich es für gewiss, so machte ich es hier be-
kannt. Doch wissen mag man immerhin, wie man die Jahre dort zählt.
Vgl. wieder mit impliziter Korrektur: Wenn ich es für gewiss (und nicht für unge-
wiss) wüsste.
Wenn du aber ihren Willen (und nicht nur ihre Worte) betrachtest.
164 Rosemarie Lühr
Wenn du dich aber darum bemühst und die Sache nicht aufgibst, weil sie zu
aufwendig ist.
2.4. In Kommentaren
Wenn er aber überall gesprochen hätte, wie man zu Gottes Sohn (sprechen)
soll und nicht so, wie er es in Wirklichkeit getan hat.
Es lässt sich somit festhalten: Mit Konjunktion eingeleitete, vorausstehende
Konditionalsätze haben bei Otfrid eine klare Funktion: Zu Beginn von Re-
den, also an einer Stelle, wo man Deutlichkeit in besonderem Maße erwartet,
aber auch in Anreden an den Leser und in Kommentaren, also alles Textpar-
tien, die klar an einen Hörer oder Leser appellieren, drücken mit oba eingelei-
tete Konditionalsätze aus, dass der Sprecher eine Bedingung formuliert, die
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 165
3. Gegenbeispiele
Nachdem dieser Befund eindeutig zu sein scheint, müssen auch vermeint-
liche Gegenbeispiele betrachtet werden. Dabei möchte ich ausdrücklich
nicht von Reimzwang sprechen; denn ein so sprachgewaltiger Autor wie
Otfrid hätte sicher die Reime so gebildet, dass sie den Sprachregeln ent-
sprechen. Nun findet sich in der Redeeinleitung folgender Satz mit Verb-
erststellung, der von Behaghel11 als Konditionalsatz aufgefasst wird. Da
aber redeeinleitende Konjunktionalsätze bei Otfrid eine Konjunktion
haben12, muss (14) eine andere syntaktische Struktur haben: Es handelt
sich um keinen Konditionalsatz, sondern um eine Frage:
(14) I 27, 13ff.
Sie thaz árunti giríatun joh iro fért3 iltun.
tho spráchun sie bi hérton sus thésen worton:
„Bistu Kríst guato? ság+ uns iz gimúato,
tház wir hiar ni duéllen, thaz árunti ni mérren.“
_____________
11 Behaghel (1928, 636).
12 Eine weitere Ausnahme gibt es. Marthas Worte in einer Anrede an den Herrn, in der nach
einem Vokativ ein Konditionalsatz mit Verberststellung folgt, werden einige Verse später
mit der umgekehrten Reihenfolge ‚Konditionalsatz mit Verberststellung – Vokativ‘ wieder-
holt:
(a) III 24, 11ff.:
Mártha sih tho kúmta, so si zi Kríste giilta,
sérlichero wórto; sia rúartaz filu hárto.
„Drúhtin“, quad si, „quamist thu ér, wir ni thúltin thiz sér;
ginádaz thin ni hángti thaz tód uns sus io giángti;
Martha klagte da, als sie zu Christus eilte, mit Worten voller Schmerz; sie war sehr bewegt.
„Herr“, sprach sie, „wärest du früher gekommen, wir würden nicht diesen Schmerz er-
leiden“.
(b) III 24,50:
(irbéit si thes er kúmo); joh sprah zi drúhtine thó:
„Wárist thu híar, druhtin Kríst, ni thúltin wír nu thesa quíst;
ther brúader min nu lébeti, joh ih thiz léid ni habeti!“
Kaum konnte sie es erwarten; und sie sprach da zu dem Herrn: „Wärst du hier gewesen,
Herr, wir duldeten nicht diese Qual; mein Bruder würde noch leben; und ich hätte dieses
Leid nicht!“.
(b) ist hier aber offensichtlich (a) nachgebildet.
166 Rosemarie Lühr
Anders liegt der Fall in (15). In der direkten Rede wird einmal ein redeein-
leitender konjunktionshaltiger Konditionalsatz durch einen konjunktions-
losen Konditionalsatz fortgeführt:
(15) IV 19, 17ff.
Mit wángon tho bifílten bigán er ántwurten,
mánota sie thes náhtes thes wízzodes réhtes:
„Ob íh hiar úbilo gispráh, zéli thu thaz úngimáh;
spráh ih avur alawár, ziu fíllist thu mih thanne sár?“
Nachdem er auf die Wangen geschlagen worden war, begann er zu antwor-
ten, er erinnerte sie an das rechte Gebot. „Wenn ich hier unrichtig sprach,
so nenne du das, was sich nicht gehört; sprach ich aber wahr, warum
schlägst du mich dann gleich?“
Wie in den vorher besprochenen Beispielen kommt auch in (15) klar ein
Kontrast zum Ausdruck, diesmal aber ein explizit ausgedrückter: unrichtig
und wahr bilden Kontrastfoki, wie auch das Wörtchen aber bezeichnet.
Nur noch einmal erscheint bei Otfrid in einem konjunktionslosen Kondi-
tionalsatz das Wörtchen aber:
(16) III 18, 45f.
Íh irkennu inan ío; spríchu ih avur álleswio,
bin ih thanne in lúginon, gilicher íuen redinon;
Ich aber kenne ihn jeder Zeit, und spräche ich es aber anders aus, bin ich
dann ein Lügner, ganz ähnlich euerm Lügenwort.
Vergleicht man nun diese beiden Textstellen, so erscheint jedes Mal das
Wort sprechen, bezogen auf eine vorausgehende Sprachhandlung. In (15)
wird sogar im konjunktionslosen Nebensatz das Verb sprechen vom kon-
junktionshaltigen ersten Nebensatzteil übernommen, d.h. gegebenes Ma-
terial wird wieder aufgenommen, wodurch die beiden Teilsätze eng ver-
bunden sind. Daher kann man folgende Regel für die konjunktionslosen
Konditionalsätze in (15) und (16) formulieren: Bei besonders engem An-
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 167
4. Konjunktionslose Konditionalsätze
Dass aber der enge Anschluss an den vorausgehenden Text tatsächlich ein
Merkmal der konjunktionslosen Konditionalsätze ist, soll nun gezeigt
werden. Konjunktionslose Konditionalsätze bezeichnen bei Otfrid oft-
mals einen Einzelfall,14 dem die Bezeichnung eines allgemeinen geltenden
Sachverhalts vorausgeht. Einige wenige Beispiele genügen:
(17) L 23ff.
Riat gót imo ofto in nótin, in suaren árabeitin;
gigiang er in zála wergin thár: druhtin hálf imo sár
In nótlichen wérkon, thes scal er góte thankon;
Gott stand ihm oft in Gefahr und in schwerer Mühsal bei; kam er irgendwo
in Not, der Herr half ihm sofort bei schwierigen Werken: dafür soll er Gott
danken.
_____________
13 Ein enger Anschluss des zweiten Teils eines Konditionalsatzes begegnet auch in folgendem
Beispiel. Der Sinn ist hier aber konzessiv. Hinzu kommt die Topikalisierung einer NP (mit
suórgon):
III 18, 37
Er gáb in thes mit thúlti suazaz ántwurti,
ríhta sies in war mín, thoh wíht sies ni firnámin:
„Óba ih mih mit rúachon biginnu éino gúallichon,
mit suórgon dúan ouh thanne tház, thaz ist niwíht allaz.“
Geduldig gab er ihnen darauf die Antwort voller Süßigkeit; er klärte sie hierüber auf, ob-
wohl sie es nicht verstanden. „Wenn ich es versuchen wollte, mich allein zu verherrlichen,
mit Sorgfalt täte ich auch das, das ist alles nichts.“
14 Eine andere Funktion ist die des konjunktionslosen Temporalsatzes:
I 1, 21ff.:
joh mézent sie thie fúazi,
thie léngi joh thie kúrti, theiz gilústlichaz wúrti.
Éigun sie iz bithénkit, thaz síllaba in ni wénkit,
sies álleswio ni rúachent, ni so thie fúazi suachent;
Was sie schaffen, ist erfüllt von süßem Wohllaut; sie messen die Versfüße, nach Länge und
Kürze, damit es Wohlgefallen errege. Haben sie geprüft, ob nicht eine Silbe gegen die
Ordnung verstößt, dann gilt ihr Hauptaugenmerk der Füllung der Versfüße. (Vollmann-
Profe 1976, 81).
168 Rosemarie Lühr
(18) I 5, 53ff.
Nist in érdriche thár er imB ío instríche,
noh wínkil untar hímile thár er sih ginérie.
Flíuhit er in then sé, thar gidúat er 3mo wé,
gidúat er imo frémidi thaz hoha hímilrichi.
Auf der Erde gibt es keinen Ort, wohin er [der Satan] vor ihm entfliehen
und unter dem Himmel keinen Winkel, wo er sich in Sicherheit bringen
könnte. Und stürzt er sich flüchtend ins Meer, so erreicht ihn seine Strafe
selbst dort, und das hohe Himmelreich verschließt er vor ihm.15
Vor Gott kann der Satan nicht fliehen. Flüchtet er ins Meer, wird er auch
dort bestraft.
Ähnlich in (19):
(19) I 15, 41ff.
Óffan duat er tháre thaz wir nu hélen híare;
ist iz úbil odowar: unforhólan ist iz thár.
Offenkundig macht er da, was wir hier nun verhehlen.
Ist es etwa böse, ist es da nicht verborgen.
Die Menschen können Gott nichts verbergen. Ist es etwas Böses, wird es auch
offenkundig.
In allen diesen Fällen kann man die Bezeichnung des Einzelfalls mit z.B.
anschließen:
(20) V 1, 27ff.
Mit thíu ist thar bizéinit, theiz ímo ist al giméinit
in érdu joh in hímile inti in ábgrunte ouh hiar nídare.
Bi thiu níst in themo bóume thaz mánnilih gilóube,
thes fríuntilih giwís si, thaz thar úbbiges si.
Leg iz nídarhaldaz – iz zeigot ímo iz allaz,
fíar hálbun umbiríng állan thesan wóroltring;
Damit ist dort gemeint, dass es alles ihm gegeben ist auf Erden und im
Himmel und selbst im Abgrund unten dort. Darum ist nichts an diesem
Baum, das glaube jeder, davon sei jeder überzeugt, was da bedeutungslos
ist. Leg du es [das Kreuz] [z.B.] wagrecht hin, so weist es ihm alles zu, was
nach vier Seiten ringsherum ist, diesen ganzen Weltenkreis.
betrachtet Otfrid die steinernen Gefäße, die bei der Hochzeit von Kana
verwendet werden, als gleichnishaft für die leeren Herzen der Diener Gottes,
die wie die Krüge durch Wasser erst durch die Heilige Schrift und geistlichen
Wein gefüllt werden:
(21) II 9, 21ff.
Séhsu sint thero fázzo, tház thu es weses wízo,
thaz wórolt ist gidéilit, in séhsu giméinit.
Irsúachist thu thiu wúntar inti ellu wóroltaltar,
erzélist thu ouh thia gúati, waz íagilicher dáti:
Tharana maht thu irthénken, mit brúnnen thih gidrénken,
gifréwen ouh thie thíne mit géistlichemo wíne.
Sechs sind der Krüge, damit du es genau wissest, die Welt ist geteilt, in
sechs Elemente festgesetzt. Durchsuchst du [z.B.] die Wunder und alle
Weltalter, gehst du auch das Edle durch, was hier jeder getan hat, so sollst
du daran denken, dich mit Wasser zu erfrischen, zu erfreuen auch die dei-
nen mit geistlichem Wein.
Ebenso wie die Krüge mit Wein gefüllt sind, sollen sich also die Menschen
mit göttlichem Wein erfrischen; und die Bezeichnung eines konkreten
Einzelfalls wird hier wieder durch konjunktionslose Konditionalsätze
eingeleitet.
Sucht man nun auch diesen Gebrauch informationsstrukturell zu be-
schreiben, so bieten sich hier die Diskursrelationen von Asher / Lascari-
des (2003)16 an: Es handelt sich um die Relation Elaboration.
• Elaboration (α, β) liegt dann vor, wenn β weitere Information zu
dem in α genannten Ereignis bereitstellt. Dabei herrscht zwischen
den zwei Ereignissen eine temporale Inklusion, und Diskursmarker
sind Wörter wie zum Beispiel.
Genau diese Diskursmerkmale sind in den Belegen (18) bis (21) gegeben.
Hinzu kommt aber noch Folgendes: Die Diskursrelation Elaboration ist
eine unterordnende Relation;17 d.h. dadurch findet eine enge Verknüpfung
mit dem vorausgehenden Satz statt. Überlegt man sich, ob in solchen
Fällen eher ein konjunktionshaltiger oder ein konjunktionsloser Konditio-
nalsatz mit Verberststellung diese Verknüpfung signalisiert, so ist es sicher
_____________
16 Vgl. auch Reese u.a. (2007).
17 Jedenfalls haben die altgermanischen konditionalen V1-Sätze keinen narrativen Charakter.
In diesem Punkt stimmen sie mit den neuhochdeutschen überein (vgl. Reis / Wöllstein
2007).
170 Rosemarie Lühr
5. Fazit
Für die untersuchten konjunktionshaltigen und konjunktionslosen Kondi-
tionalsätze hat sich folgende Verteilung ergeben: Von diesen beiden Arten
erscheinen zu Redebeginn, also wenn der Sprecher neu ansetzt und sich
klar ausdrücken sollte, in der Regel konjunktionshaltige Konditionalsätze.
Sie bezeichnen implizite Korrekturen mit Kontrastfoki und weisen be-
stimmte Erwartungen hinsichtlich Folgehandlungen oder mögliche An-
nahmen zurück. Auch innerhalb von direkten Reden, in Anreden an den
Leser und in Kommentaren, Textpartien mit einer besonderen Appell-
funktion, konnte diese Informationsstruktur bei den konjunktionalhaltigen
Konditionalsätzen aufgezeigt werden. Dagegen dienen uneingeleitete
Konditionalsätze der Bezeichnung von Einzelfällen und führen einen
allgemeinen Fall weiter aus; sie sind mit z.B. anschließbar, und es herrscht
die subordinierende Diskursrelation Elaboration. 19 Wie lässt sich nun aber
dieser Befund mit dem der mittelhochdeutschen und altfriesischen
Rechtssprache vereinen? Die Nennung eines rechtsrelevanten Sachver-
halts weist auf den Einzelfall und zeigt durch die Verberststellung im
Konditionalsatz wie bei Otfrid einen engeren Anschluss an das Vorherge-
hende. Dagegen passt die Einschränkungsfunktion der mit ob 'wenn' ein-
geleiteten Konditionalsätze in den Rechtstexten zum Ausdruck von impli-
ziten Kontrasten in den konjunktionshaltigen Konditionalsätzen bei
Otfrid. Denn durch solche Konditionalsätze kommen zusätzliche Bedin-
gungen ins Spiel. Es scheint also, als ob die konjunktionshaltigen und
konjunktionslosen Konditionalsätze bei Otfrid der allgemein im Germani-
schen bei diesen Sätzen geltenden Informationsstrukturierung entspre-
chen. 20
_____________
18 Vgl. etwa das Altgriechische; vgl. Bornemann / Risch (1973).
19 Vgl. Günthner (1999, 220), die in konditionalen V1-Sätzen eine mögliche Thematisierungs-
strategie sieht. Es ist zu prüfen, ob sich die konditionalen V1-Gefüge hinsichtlich Fokus-
sierung wie parataktische Gefüge verhalten. So nimmt Reis (2000, 217) hier zwei Fokus-
Hintergrund-Gliederungen an.
20 Zur Entwicklung der linksperipheren eingeleiteten Adverbialsätze zu Gliedsätzen vgl. Axel
(2002) und (2007, 227ff.).
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 171
Quelle
Literatur
2. Kompositionalität kommunikativ:
Das Handlungspotenzial von Texten,
kommunikative Aufgaben
und funktionale Textbausteine
Die Beantwortung der Frage, wie Verständigung funktioniert und funk-
tionieren kann, ist eine der zentralen sprachtheoretischen Aufgaben. Eine
Teilfrage bezieht sich auf das Problem, wie komplexe sprachliche Ausdrü-
cke, zum Beispiel Sätze oder Texte, zu ihrer Bedeutung kommen und wie
Verständigung mit komplexen Ausdrücken dieser Art möglich ist. Eine
wichtige Grundannahme, das sog. Kompositionalitätsprinzip, besagt, dass die
Bedeutung komplexer Ausdrücke sich systematisch ableiten lässt aus der
_____________
2 Eigene Arbeiten liegen vor u.a. zu Kochrezepten (14.-18. Jh.), zu Urkunden, zu Pflanzen-
monographien in Kräuterbüchern (12.-18. Jh.), zur Zeitungsberichterstattung und zu
Streitschriften des 16. und 17. Jahrhunderts, zu Spielarten der Theaterkritik und zu Textty-
pen im Bereich der Medizin des 19. Jahrhunderts. Vgl. die Nachweise im Literaturver-
zeichnis.
176 Thomas Gloning
_____________
3 Mit dem Verweis auf konventionelle Aspekte sollen Fälle zunächst ausgeschlossen werden,
bei denen Texte aufgrund von bestimmten Handlungsbedingungen für weiterführende Zie-
le verwendet werden. So kann man unter bestimmten Bedingungen mit einem Kurztext
wie „Du hast verloren. Goethe ist 1832 gestorben“ jemandem mitteilen, dass er bzw. sie
1000 Euro bezahlen muss (weil er bzw. sie eine Wette verloren hat), das gehört aber nicht
zum konventionellen Handlungspotenzial, sondern gehört zum Bereich der Indirektheit,
der konversationellen Implikaturen, der weiterführenden Handlungszusammenhänge und
der dafür notwendigen Verständigungsressourcen.
178 Thomas Gloning
3. Funktionale Textbausteine
Funktionale Textbausteine stellen eine Schnittstelle dar zwischen der
pragmatisch-funktionalen Organisation und der grammatisch-lexikalischen
Realisierung von Texten. Funktionale Textbausteine sind Textteile unter-
schiedlicher Komplexität mit einer bestimmten kommunikativen Teilfunk-
tion im Rahmen einer Texthandlung. Sie werden in vielen Fällen, aber
nicht immer, auch mit mehr oder weniger stereotyp organisierten Realisie-
rungsmitteln bestritten. Ihre Rolle für die historische Textlinguistik lässt
sich in drei Abschnitten charakterisieren: 1. Funktionale Textbausteine
und ihre Rolle für die Handlungsstruktur; 2. Funktionale Textbausteine
und syntaktische Muster; 3. Funktionale Textbausteine, syntaktische Mus-
ter und Aspekte der historischen Entwicklung.
_____________
4 Die Markierungen besagen folgendes: <INF_INH> = hier fängt ein Baustein mit dem
Profil Informieren über den Inhalt an, </INF_INH> = hier hört er auf, <INF_PUBL-RE> =
hier fängt ein Baustein mit dem Profil Informieren über die Publikumsreaktion an usw. Quelle:
Marburger Neue Zeitung, 16.2.2004.
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 181
_____________
5 Vgl. Habermann (2001, Kap. 9); Gloning (2007, Abschnitt 4.1.).
182 Thomas Gloning
Wie oben bereits erwähnt, ist der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzei-
ge grundlegend für die Funktion von älteren Kräuterbüchern als medizini-
sche Informationstexte. Dementsprechend ist dieser Textbaustein beim
gewaltigen Umfang der Kräuterbücher sehr häufig belegt. Ein ebenso
häufig belegter Bestandteil innerhalb dieses Textbausteins ist die Formulie-
rung von Arbeitsschritten als Teil der Spezifizierung einer Zubereitungs-
weise. Der Textbaustein Formulierung von Arbeitsschritten kommt auch in
anderen Texttypen mit handlungsanleitendem Charakter sehr häufig vor.
Für die syntaktische Realisierung des Textbausteins steht eine Reihe von
Mustern zur Verfügung, zum Beispiel Imperative (Nimm), Infinitivkon-
struktionen (den Hecht schuppen) oder man-Konstruktionen (man nimmt).
Daneben finden sich aber auch Konstruktionen, die in dieser Funktion
bislang kaum beachtet wurden: Partizipien. Im folgenden Beispiel einer
Heilanzeige, die nur aus einer Spezifizierung der Zubereitung und einer
Angabe der Indikation (... hilfft ...) besteht, dient eine Nominalphrase mit
nachgestelltem Partizipialattribut der Formulierung des Arbeitsschritts,
wobei die nötigen Ingredienzien ebenfalls genannt werden.
(3) [ Lattich würczel, gesoten mit starkem wein oder mit ezzig ], daz
hilfft dem, der czüpleet ist (15. Jh.; Greifswald 8° Ms 875, 68r;
ed. Baufeld 2002)
Auch im folgenden Beispiel wird im Zubereitungsbaustein der Arbeits-
schritt mit einem nachgestellten Partizipialattribut realisiert, allerdings sind
die beiden Bausteine eingebettet in eine komplexere Spezifizierung einer
Heilanzeige, die aus vier funktionalen Textbausteinen besteht: der Angabe
einer Quelle (1), der Spezifizierung der Zubereitung (2), der Spezifizierung
der Anwendung (3) und der Angabe der Indikation (4):
(4) 1[Der wirdig meister Auicenna in synem andern buoch in dem
capitel Altea spricht ] ... daz 2[ die wuortzel gesotten mit dem kru-
de ] vnde 3[ uff die harten geswer geleyt ] 4[ weichet sye ]. (Gart
der gesuntheit 1485)
Das Muster X gemacht begegnet als Formulierungsmuster für Arbeitsschrit-
te auch in älteren Kochrezepten. Die folgende Liste zeigt in schematisier-
ter Form die wichtigsten Formulierungstypen für Arbeitsschritte in älteren
Kochrezepten (vgl. detaillierter Ehlert 1990):
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 183
• schneide X
• X schneiden
• man schneidet X
• man soll / muss X schneiden
• man schneide X
• X geschnitten
• X wird geschnitten
Das folgende Rezept aus einem handschriftlichen Kochbuch vom Ende
des 18. Jahrhunderts zeigt, dass die unterschiedlichen (im Textbeispiel
kursivierten) Formulierungstypen für Arbeitsschritte auch in unmittelbarer
textueller Nachbarschaft vorkommen konnten:
(5) Eingemachte Lung Bradl und anderes.
Saubere diesen, und ein wenig gebükelt und etwas gesalzen, in reindl
ein stükl Butter heiß werden lassen und Dämpfen ['dämpfe ihn']
schön ob, hernach giebt man ein wenig Mairon Roßmarin, Lor-
berblätter, Zwiefel Knobloch, nach diesen ein wenig Essig und
Suppen, wanß darmit genug gekocht hat, gieb auch Gewurz, und
sauern Schmeten, wann es nicht dick genug wer, so thut man es
ein wenig einbrennen, und giebt ein wenig Citroniplatel, auch
geschnitene Citronischalen oder Caperl zuletzt darein, und lasset es
aufkochen. [...] die Soß wird durchgetrieben, [...] (hs. Kochbuch The-
resia Lindnerin, c. 1780)
Diese Aspekte habe ich in den beiden Beiträgen zu Kräuter- und Kochbü-
chern schon behandelt, ich möchte nun eine weitere exemplarische Er-
kundung machen im Fachgebiet der Geburtshilfe. Als Text wähle ich
Rößlins Rosegarten (1513) und Georg Wilhelm Steins Theoretische Anleitung
zur Geburtshülfe (1797a), dessen Gegenstand die normale Geburt ist, wäh-
rend seine Practische Anleitung zur Geburtshülfe aus demselben Jahr die Lehre
von der „Geburtshülfe, in widernatürlichen und schweren Fällen“ (1797b,
XIX) umfasst. Ich beginne mit Steins Büchern. Der erste Befund ist, dass
in beiden Werken Formulierungen von Arbeitsschritten bzw. Handlungs-
weisen eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund stehen viel-
mehr medizinische Grundlagen wie zum Beispiel anatomische Verhältnis-
se. In den Kapiteln, in denen der Textbaustein zu erwarten wäre und sich
auch in mäßiger Frequenz findet, werden aber nicht die schematisch ge-
nutzten älteren syntaktischen Muster gebraucht, sondern freier formulierte
Texte. Hier ein Beispiel aus dem Abschnitt „Von der Untersuchung oder
dem Angriffe und dessen Nutzen“ (1797a, 65):
184 Thomas Gloning
herausbringen konnte; dafür spielte er ...“ (1916; Rühle 1988, 49). In die-
sem Beispiel ist die Zuordnung Rolle / DarstellerIn mit einer Nominal-
phrase realisiert (Die Besetzung der Titelrolle mit Herrn Klöpfer), die funktional
mit einer Beurteilung der Besetzungsentscheidung kombiniert ist. Insge-
samt erscheint das Repertoire um 1900 reichhaltig, nur zum Teil schemati-
siert, die Bausteine mit den Zuordnungen Rolle / DarstellerIn sind häufig
mit anderen Bausteinen kombiniert und in einem eigenen thematischen
Abschnitt konzentriert. Beim Gebrauch von syntaktischen Mustern für die
Zuordnung von Rolle / DarstellerIn ist vielfach ein Prinzip der Variation
erkennbar. Auch die Abfolge der Elemente für SchauspielerInnen / Rol-
len ist variabel. Im folgenden Beispiel sind zwei Zuordnungen jeweils mit
Nominalgruppen realisiert, deren Kern sich im ersten Fall auf den Darstel-
ler, im zweiten Fall auf die Rolle bezieht. Ich kennzeichne den Zuord-
nungsbestandteil SchauspielerIn / Rolle mit <S-R>, die Teile zum Schau-
spieler mit <S>, die Teile zur Rolle mit <R>:
(16) <S-R> <S>Der Schauspieler Gustav Rodegg</S>, <R>wel-
cher den älteren Bruder spielte</R></S-R>, zeigte sich sehr
gewachsen. [...] Ausgezeichnet. <S-R> <R>Sein jüngerer Bru-
der</R>, <S>Herr Bildt,</S> </S-R> war nicht aus dem El-
saß. Zu sehr aus Norddeutschland. Ansonsten jedoch straff und
wacker. (Rühle 1988, 51f.)
Eine kommunikative Einflussgröße, die den Zusammenhang von funktio-
nalen Textbausteinen und ihrer Realisierung mit beeinflusst, sind die
Kommunikationsprinzipien. Für die syntaktische Gestaltung gilt in unter-
schiedlichen Texttypen ein Prinzip der syntaktischen Komprimierung,
zum Beispiel in juristischen Texten oder der Zeitungsberichterstattung.
Auch in Theaterkritiken finden sich Formen der syntaktischen Verdich-
tung von funktional-thematischen Bausteinen. Der folgende Abschnitt aus
einer Theaterkritik von 1973 ist ein Beispiel dafür, wie ein Trägersatz An-
gaben zu Genre (Ballettkomödie), Titel (‚Der Bürger als Edelmann‘), Regisseur
(von Barrault) und Regiekonzept (entfesseltes Spektakel) beinhaltet, eingelagert
− als Apposition zur einleitenden Nominalphrase − ist eine komprimierte
Inhaltsangabe in Form einer weiteren, komplexen Nominalphrase (die
Geschichte ... liebt):
(17) [...] Die Ballettkomödie ‚Der Bürger als Edelmann‘, <INF_
INH> die Geschichte des reichen, aber höchst bürgerlichen
Herrn Jourdain, der verzweifelt nach aristokratischen Allüren
strebt, Fechten, Singen, Tanzen und Philosophieren studiert, von
einem bankrotten Hochgeborenen schamlos ausgenützt und
schließlich durch einen gewaltigen Mummenschanz alla turca da-
zu gebracht wird, seine Tochter dem Jüngling zu verheiraten, den
188 Thomas Gloning
_____________
9 Vgl. z.B. zu Formen der Quellenkennzeichnung: Fritz (1991), (1993); Schröder (1995);
Haß-Zumkehr (1998). Zu Querverweisen: Gloning (2003, Kap. 4.).
10 Zur funktionalen Syntax von Tagebüchern vgl. Admoni (1988).
190 Thomas Gloning
Quellen
Fontane, Theodor (1969), Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. 2: Thea-
terkritiken, Walter Keitel / Siegmar Gerndt (Hrsg.), München.
Gart der gesuntheit (1966), Mainz: Peter Schöffer 1485, Nachdruck München-Allach.
_____________
11 Vgl. hierzu u.a. Keller (1990), (1995); Heringer (1998).
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 191
Kräuterbuch Deß vralten vnnd in aller Welt brühmtesten Griechischen Scribenten Pedacii Dioscori-
dis Anazarbaei, Von allerley wolriechenden Kräutern, Gewürtzen/ [...] Erstlich durch Ioan-
nem Danzium von Ast [...] verteutscht/ Nun mehr aber von Petro Vffenbach [...] Auffs newe
vbersehen [...] (1964), Frankfurt a. M. 1610, Nachdruck Grünwald.
Lindner, Theresia (um 1780), Koch Buch zum Gebrauch der Wohlgebohrenen Frau Frau
Theresia Lindnerin, Handschrift (süddeutsch).
Pizzini, Duglore (1973), „Burgtheater. Pepi ist der Größte. ‚Der Bürger als Edelmann‘
von Molière“, in: Wochenpresse, Nr. 8, 21.2.1973, Kultur, 11.
Rößlin, Eucharius (1513), Der Swangern Frauwen vnd hebammen Rosegarten, Straßburg:
Martin Flach d.J.
Rühle, Günther (1988), Theater für die Republik im Spiegel der Kritik, Erster Band: 1917-
1925, Zweiter Band: 1926-1933, überarb. Neuaufl., Frankfurt a. M.
Stein, Georg Wilhelm (1797a), Theoretische Anleitung zur Geburtshülfe. Zum Gebrauche der
Vorlesungen. Mit zwölf Kupfertafeln, 5. verbesserte u. vermehrte Aufl., Marburg.
Stein, Georg Wilhelm (1797b), Practische Anleitung zur Geburtshülfe. Zum Gebrauche der
Vorlesungen. Mit zwölf Kupfertafeln, 5. verbesserte u. vermehrte Aufl., Marburg.
Literatur
Admoni, Wladimir (1988), Die Tagebücher der Dichter in sprachlicher Sicht. Rede anläßlich der
Ehrung mit dem Konrad-Duden-Preis der Stadt Mannheim 1988 mit der Laudatio Harald
Weinrichs auf den Preisträger, Mannheim, Wien, Zürich.
Baufeld, Christa (Hrsg.) (2002), Gesundheits- und Haushaltslehren des Mittelalters. Edition
des 8° Ms 875 der Universitätsbibliothek Greifswald mit Einführung, Kommentar und Glos-
sar, (Kultur, Wissenschaft, Literatur 1), Frankfurt a. M. u.a.
Ehlert, Trude (1990), „‚Nehmet ein junges Hun, ertränckets mit Essig‘. Zur Syntax
spätmittelalterlicher Kochbücher“, in: Irmgard Bitsch u.a. (Hrsg.), Essen und Trin-
ken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990, 261-276.
Feilke, Helmuth (2007), „Syntaktische Aspekte der Phraseologie III: ‚Construction
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nationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, Bd. 1, Berlin, New York, 63-76.
Frege, Gottlob (1986), „Logische Untersuchungen. Dritter Teil: Gedankengefüge
(1923)“, in: Logische Untersuchungen, hrsg. u. eingeleitet v. Günther Patzig, Göttin-
gen.
Fritz, Gerd (1991), „Deutsche Modalverben 1609 − Epistemische Verwen-
dungsweisen. Ein Beitrag zur Bedeutungsgeschichte der Modalverben im Deut-
schen“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 113 / 1991, 28-
52.
192 Thomas Gloning
1. Vorbemerkung
Der Vergleich der alt-, mittel- und auch noch frühneuhochdeutschen
Sprachdenkmäler mit dem heutigen Deutsch ist prinzipiell problematisch, da
er dialektale Zeugnisse mit einer ziemlich stark normierten Standardform
konfrontiert. Methodisch sauberer wäre es, die Entwicklung von den alten
Sprachstadien zu den entsprechenden Dialektvarianten der heutigen Zeit
aufzuzeichnen und diese dann der Norm der Standardsprache gegenüber-
zustellen. Dies ist an dieser Stelle leider nicht möglich. Da das Thema sehr
komplex ist, lassen sich Zusammenhänge hier nicht in Einzelheiten kom-
mentieren; die zeitweise tabellarische Darstellung dürfte aber genügen, das
zentrale Anliegen anhand dreier Fallstudien deutlich zu machen.
2. Einleitung
Was sind eigentlich temporale Relationen? Oder besser: Was wird im Fol-
genden als temporale Relation angesehen?
Ich verstehe darunter das Einordnen von Prozessen in einen zeitli-
chen Rahmen, ihre Datierung, sei sie nun vage oder genau, absolut oder
relativ (2008, damals, vorhin, am Sonntag, in drei Stunden …). Dies kann ver-
bunden sein mit dem Ausdruck von Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit – es
handelt sich dabei prinzipiell um ein Verhältnis des Aufeinanderfolgens,
das eben unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden
kann (erst wird zugehört, dann wird diskutiert / vor dem Essen bitte Hände wa-
schen.) – sowie von Gleichzeitigkeit (er studiert und nebenher fährt er Ta-
xi / beim Frühstück Zeitung lesen). Zum dritten verstehe ich darunter die
_____________
∗ Universität Caen Basse-Normandie.
196 Maxi Krause
Angabe der Dauer (Er hat den ganzen Winter über / zwei Jahre lang nichts ge-
schrieben). Ein Grenzfall einer temporalen Relation wäre die Präzisierung
dessen, was zum wievielten Mal stattfindet oder stattgefunden hat, d.h.
Reihenfolge und Frequenz (sie war zum ersten Mal in Graz, er schon mehrmals).
Temporale Relationen können auf vielfältige Art und Weise zum Aus-
druck gebracht werden, sei es durch ein einziges, sei es durch mehrere,
kooperierende Mittel: Durch Verbformen (er hatte gegessen und legte sich ins
Bett.); durch temporale Nebensätze, die entweder durch ausschließlich
temporale Subjunktionen eingeleitet werden (solange es regnet, bleiben wir hier)
oder durch Subjunktionen, die nur unter bestimmten Bedingungen tem-
poralen Wert haben (wenn er da war, war sie glücklich / während sie arbeitet, geht
er einkaufen.); durch Präpositionen, Postpositionen und Circumpositionen
in Verbindung mit bestimmten Kasus, wobei es auch hier ausschließlich
temporale Adpositionen gibt (seit 2005) neben solchen, die nur unter be-
stimmten Bedingungen temporal sind, was sehr viel häufiger ist (nach / vor
dem Mittagessen); durch eindeutig und ausschließlich temporale Adverbien
(gestern, heute, damals, seither) sowie Adverbien und Adverbkombinationen,
die nur in bestimmten Kontexten temporal sind (danach, hinterher, darüber
hinaus); durch Nominalgruppen im Genitiv und Akkusativ (letztes Jahr, jeden
Dienstag / eines schönen Tages); und schließlich durch verbale und nominale
Lexeme (folgen, Folge / Anfang, Ende).
Lässt man Tempora, Nebensätze sowie flektierende Lexeme einmal
beiseite, bleiben invariable Elemente übrig (Adpositionen, Adverbien), die
hier vorerst im Vordergrund stehen sollen, auf die sich eine historische
Grammatik der Relationen aber nicht beschränken sollte. Prinzipiell gibt
es drei Möglichkeiten, sich der Geschichte dieser Relationsträger zu nä-
hern: (1) Einmal die isoliert morpho-phonetische Beschreibung, d.h. die
Etymologie einzelner Signifikanten. Sie lässt Syntax und Semantik – not-
gedrungen – weitgehend beiseite. So steht beispielsweise unbestreitbar
fest, dass nhd. seit auf mhd. sît und ahd. sîd zurückgeht. (2) Zum zweiten
eine die Syntax und Semantik berücksichtigende Beschreibung ohne Be-
zug auf irgendeine Systematik. Eine solche Herangehensweise vernachläs-
sigt Distributionsregeln. Falls entsprechende Kapitel in Grammatiken
überhaupt existieren, ist Verzicht auf Systematik fast der Regelfall.1 (3)
Und schließlich eine Beschreibung, in der die unterschiedlichen sprachli-
chen Mittel eingeordnet werden in eine Systematik der Relationen; dies ist
eine Vorgehensweise, die es gestattet, Fälle von Kooperation und Kom-
plementarität aufzudecken und Gebrauchsbedingungen (Distributionsre-
_____________
1 Ich beschränke mich hier auf die Standardgrammatiken der von W. Braune begründeten
Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte; eine Ausnahme bildet die Althochdeutsche
Grammatik II. Syntax von R. Schrodt.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 197
geln) auf die Spur zu kommen. Bei einem solchen Ansatz wird schnell
deutlich, dass die oben genannten Kriterien (Vor- / Nach- / Gleichzeitig-
keit; Dauer, Reihenfolge und Frequenz) der Ergänzung und Verfeinerung
bedürfen. Die drei Möglichkeiten seien anhand der folgenden Beispiele
kurz illustriert.
Das Beispiel sīt – sîd – seit: Die Etymologie ist unbestritten. Allerdings
erfährt man2 damit nichts über die Art der Verwendung von seit / sît und
sîd. Weder etwas darüber, dass mittelhochdeutsches sît auch als Adverb
auftreten konnte, z.B. im Nibelungenlied (NL)
(1) sît wart sie mit êren eins vil küenen recken wîp (NL I,18)
[Später wurde sie in allen Ehren eines sehr kühnen Recken Weib]
(2) mit dem jungen künege swert genâmen sie sît. (NL II,28)
[mit dem jungen König erhielten sie später / danach das Schwert.]
noch etwas darüber, dass althochdeutsches und mittelhochdeutsches sîd /
sît nur selten durch neuhochdeutsches seit wiedergegeben werden kann.
(3) Pilatus giang zen liutin sid tho thesen datin | wolt er in gistillen thes
armalichen willen. (Otfrid IV 23,11)
[Danach ging Pilatus wieder zu den Leuten...]
(4) Sid tho thesen thingon fuar Krist zen heimingon, (Otfrid II 14,1)
[Danach begab sich Christus wieder heimwärts...]
Das Beispiel nach: Nach geht rein morphologisch auf mhd. nâch und ahd.
nâh zurück, aber temporales nhd. nach hat als semantischen Vorgänger
zwar mhd. nâch, ahd. jedoch after und sīt (vgl. zu letzterem supra die Bei-
spiele (3) und (4)):
(5) After worton managen joh leron filu hebigen | [...] so giang er in den
oliberg (Otfrid III 17,1)
[Nach vielen Worten / Reden und vielen Belehrungen […] ging er zum
Ölberg]
(6) er hete sich nâch dem slage | hin vür geneiget unde ergeben (Iwein
1108)
[Er hatte sich nach dem Schlag vorgeneigt / verbeugt und ergeben]
Aus dem bisher Angedeuteten ergibt sich die zweite Möglichkeit, sich der
Geschichte der temporalen Relationsträger zu nähern, nämlich über ihre
Semantik und ihr syntaktisches Verhalten. Relativ einfach ist dies, wenn
ein Signifikant ersetzt wird durch einen anderen (so zum Beispiel ahd. after
durch mhd. und nhd. nach). Weniger einfach ist es in Fällen wie sīt – sîd –
_____________
2 Zum Beispiel in Kluge (2002, 839).
198 Maxi Krause
seit, wo der Signifikant erhalten bleibt, sein semantischer Gehalt und unter
Umständen auch seine kategoriale Zugehörigkeit sich jedoch ändern. Und
hier klafft eine riesenhafte Lücke. Schlägt man in sprachwissenschaftlichen
Lexika nach unter dem Stichwort Bedeutungswandel, findet man zwar Bei-
spiele zu Substantiven und Verben, seltener zu Adjektiven (vgl. bei Glück
2005; Bussmann 2002), aber nicht eines zu invariablen Lexemen wie in, an
oder eben seit und nach. Und in der Tat gibt es unzählige Untersuchungen
zum Bedeutungswandel einzelner sogenannter Autosemantika, allerdings
bisher relativ sehr wenig zum Bedeutungswandel sogenannter Synseman-
tika (hierzu vor allem Publikationen in den Beiträgen zur Geschichte der deut-
schen Sprache und Literatur). Ich verwende die beiden Begriffe Auto- und
Synsemantikon hier der Einfachheit halber, im Grunde neige ich eher dazu,
diese Unterteilung als ungerechtfertigt zu betrachten.
Es bedarf also eines Instrumentariums und einer Systematik, die es
gestatten, dem Bedeutungswandel so unauffälliger Lexeme wie es Parti-
keln zu sein scheinen, auf die Spur zu kommen. Grundgedanke ist dabei,
dass ein invariabler Signifikant X im Prinzip ein einziges Signifikat hat,
d.h. eine Menge von Merkmalen, die entweder alle gleichzeitig oder aber
auch nur teilweise aktualisiert werden und zwar je nach Funktionsbereich
(Raum, Zeit, Abstraktion), nach Zugehörigkeit zu einem System oder
Subsystem von Relationen sowie nach Erscheinungsweise (als Adposition,
Adverb oder Teil von Adverbien, trennbare oder untrennbare Verbalpar-
tikel). Der zweite Grundgedanke ist, dass Relationen sich systematisieren
lassen, zum einen nach den oben genannten Funktionsbereichen, zum
andern nach bereichsspezifischen Kriterien, wie zum Beispiel ± Achsen-
bezug (Raum), lineare oder punktuelle Bezugsgröße (Zeit), noch zu entwi-
ckelnde Kriterien (Abstraktion).
Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es eine solche
Systematik nicht. 1972 erschien die Habilitationsschrift eines französi-
schen Germanisten, Philippe Marcq, mit dem Titel Prépositions spatiales en
allemand ancien, in welcher er anhand der Untersuchung des Althochdeut-
schen und Mittelhochdeutschen bis Berthold von Regensburg eine Syste-
matik der spatialen Relationen entwickelte, die er in späteren Publikatio-
nen auch aufs Neuhochdeutsche und Französische ausdehnte und um den
Bereich der temporalen Relationen erweiterte.3 1978 erscheint die erste
Arbeit Marcqs zu den temporalen Relationen im Tatian, 1988 der Band
Spatiale und temporale Relationen im heutigen Deutsch und Französisch. 1992 folgt
aus meiner Feder eine Arbeit zu den Zeitangaben bei Otfrid, 1994 zu den
_____________
3 Für die spatialen Relationen liegt eine durchgehende Behandlung bis zum Neuhochdeut-
schen vor durch die Arbeit eines Schülers von Marcq; vgl. Desportes (1984). Punktuelle
Ergänzungen zum Neuhochdeutschen finden sich in meinen eigenen Arbeiten.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 199
in den Ferien
(7b)
auf der Reise / beim Essen
_____________
4 Vgl. dazu Krause (2008, 15ff.).
200 Maxi Krause
_____________
5 Der Terminus Sprecher wird hier im weitesten Sinne verwendet: Auch die Person, deren
Gedanken wiedergegeben werden (innerer Monolog bzw. berichtete Rede) fällt darunter (daher
die Erweiterung auf Denker), ebenso wie der Autor schriftlicher Äußerungen.
6 Teilweise wurden diese von Schrodt (2004) übernommen.
7 Zuzüglich der Relation des Aufeinanderfolgens und der Relation des Erwartens.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 201
• die direktive Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt sich auf
den Bezugstermin zu:
(11) Wir arbeiten bis 16 Uhr. (System I)
Wir arbeiten bis in die Nacht hinein. (System II)
• die perlative Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt über den
Bezugstermin hinaus (System I) bzw. füllt ihn aus (System II):
(12) Wir planen über das Jahr 2015 hinaus. (System I)
Wir arbeiten die ganze Nacht hindurch. (System II)
• die ablative Relation: der lokaliserte Prozess beginnt beim bzw. im
Bezugstermin:
(13) Wir arbeiten ab 8 Uhr. (System I)
Wir haben von Kind auf gearbeitet. (System II)
Die drei dynamischen Relationen implizieren den Begriff der Dauer; die
statische Relation impliziert Gleichzeitigkeit (was in System II und im
System der Ko-Okkurrenz deutlicher zum Ausdruck kommt als in Sys-
tem I).
Nun gibt es häufig mehrere sprachliche Mittel, die ein und dieselbe
Relation tragen können. Diese Mittel verhalten sich zueinander entweder
komplementär oder konkurrierend, teilweise auch kooperierend. Ein
schönes Beispiel für komplementäre Distribution bieten heutzutage in +
DAT. und an + DAT. im System II:
(14) Am Sonntag waren wir in Paris.
Im Winter waren wir in Paris.
Ein Beispiel für die Konkurrenz zweier Signifikanten bieten z.B. von +
Adv. + an sowie von + Adv. + ab:
(15) Von jenem Tag an rauchte er nicht mehr.
Von jenem Tag ab rauchte er nicht mehr.
Und Kooperation besteht im zweiten Satz in (16) zwischen ab und von:
(16) Ab heute rauche ich nicht mehr.
Von heute ab rauche ich nicht mehr.
Stehen für ein und dieselbe Relation mehrere Signifikanten zur Verfügung,
schränken im Allgemeinen Distributionsregeln die Auswahl ein. Überge-
ordnetes Kriterium ist die Art der Bezugsgröße: Zeitspanne oder Prozess.
202 Maxi Krause
_____________
8 Vgl. zum Neuhochdeutschen Krause (1997, 225ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 203
_____________
9 Vgl. dazu Marcq (1988) und Krause (1994b), (1997), (1998) sowie (2002a).
204 Maxi Krause
Bezugstermin
[Position der Bezugsperson rechts oder links vom Bezugs-
termin]
(25) vor Weihnachten; gegen Ende des Jahres / nach Weihnachten; nach dem
Essen, nach der Reise
Bezugstermin
(27) Es geht auf Weihnachten zu; er paukt auf die Prüfung hin.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 205
DAT. + entgegen
Bezugsperson Bezugstermin
(28) Wir gehen schweren Zeiten entgegen.
Bezugstermin = Bezugsperson
(29) Es geht alles vorüber / vorbei; endlich war die Stunde (r)um.
Bezugstermin Bezugsperson
([es + her + sein] + AKK. [Quantor + Subst.])
(33) Seit drei Tagen regnete es. / Es ist keinen halben Tag her, da hat er
noch gesungen…
1. Bezugstermin 2. Bezugstermin
(34) Das machen wir zwischen Weihnachten und Neujahr.
_____________
10 Andauernder Prozess oder iterativ + abgeschlossen.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 207
(37) Letztes Jahr waren wir auf Ischia. Eines schönen Tages kam er zu-
rück. Am Montag / am Abend gehen wir ins Kino. Im Winter / auf
der Fahrt; während des Winters / der Fahrt. Unter verlegenem Räuspern
verließ er den Salon. Über dem Kochen hab’ ich das ganz vergessen.
Auf einmal waren alle weg. / Redet doch nicht alle auf einmal!
(38) Die Sitzung verschieben wir auf nächsten Montag. Die Konferenz
war für Dienstagnachmittag angesetzt. Das verlegen wir in die Zeit
vor Weihnachten.
_____________
11 Distributionsregeln, vgl. Krause (1997, 236ff.); A = Akkusativ; D = Dativ; G = Genitiv.
208 Maxi Krause
(40) Bis 1989 gab es quer durch Europa den „Eisernen Vorhang“. Sie
schufteten bis in die Nacht (hinein). Ich bleibe bei euch bis ans Ende
aller Tage. Damit machte er sich unvergesslich bis auf den heutigen
Tag.
(41) Ich weiß nicht, ob ich das in drei Tagen schaffe. Innerhalb kürzester
Zeit / von drei Tagen hatte er sich das Notwendige angeeignet. Bin-
nen weniger Sekunden war es stockdunkel geworden. Sie hat ihn
auf / für drei Wochen in die Berge geschickt. Dieses Buch hat mich
durch all die Jahre immer wieder getröstet. Während längerer
Zeit / der ganzen Fahrt herrschte Ruhe. Wir bleiben den ganzen Tag
am Strand. Er war fünf Tage (lang) verschüttet. Der Motor ist die
Nacht durch gelaufen. Ich habe die ganze Nacht über kein Auge zu-
getan. Über Ostern bleiben wir zu Hause. Über mehrere Jahre hinweg
waren junge Taschendiebe aus Südosteuropa ein Topthema der
Boulevardpresse.
_____________
12 Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 209
(42) Ein Märchen aus uralten Zeiten / eine Kirche aus dem 9. Jahrhundert;
dazu wurde er von Kind / klein auf angehalten; er kennt ihn von der
Uni / vom Krieg her.
bei + D, mit + D, zu + D.
(43) Bei Ostwind bleibt das Fenster zu; beim Frühstück liest er Zeitung;
mit der beginnenden Dämmerung zündet die Mutter die Kerzen an.
Zur Zeit nicht vorrätig.
_____________
13 Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz.
14 Einzelheiten bei Krause (1998), (2002b), (2002c) und (2002d).
210 Maxi Krause
Aufeinanderfolgen: auf + A
(45) Auf Regen folgt Sonnenschein.
Erwarten: auf + A
(46) Er ist gespannt auf die neue Lehrerin.
Adpositionen:
ahd. er + D; fora + D; fora + Instr. (thiu) after + D, after + INSTR. (thiu); sid + D
mhd. vor + D; wider + (?); gegen / gein + D nâch + D
nhd. vor + D; gegen + A nach + D
_____________
15 Vgl. dazu Krause (2003, 101ff.) und (2007, 453ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 211
(47) So was io wort wonanti er allen zitin worolti […] (O II 1,5); Was iz
ouh giwisso fora einen ostoron so, theso selbun dati, fora theru wihun
ziti. (O III 6,13.14); Sehs dagon fora thiu quam er zi Bethaniu,
[…] (O IV 2,5); After worton managen joh leron filu hebigen […] so
giang er in then oliberg (O III 17,1); Was siu after thiu mit iru sar
thri manodo thar (O I 7,23); Pilatus giang zen liutin sid tho thesen
datin (O IV 23,1); Er muases sid gab follon fiar thusonton
mannon (O III, 6,53)
(48) Vor einer vesperzîte huop sich grôz ungemach (NL 814,1); […] vor
disen sunewenden sol er und sîne man sehen hie vil manigen, der im
vil grôzer êren gân. (NL 7751,3); Bî der sumerzîte und gein des
meien tagen […] (NL 295,1); hiute ist der ahte tac nach den sunewen-
den (I 2941); Sold' er rehte wizzen, wie es nâch der stunt zer hôhge-
zîte ergienge […] (NL 781,2); ir vater der hiez Dancrât, der in diu
erbe liez sît nach sime lebene […] (NL 7,3); Kriemhilt in ir muote
sich minne gar bewac. sit lebte diu vil guote vil manegen lieben
tac (NL 18,2)
(49) vor Weihnachten; vor dem Essen; vor 2008; gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts; gegen 20 Uhr; nach Weihnachten; nach dieser Rede; nach dem Fest
Substitute:
davor; vorher; zuvor danach; (später); (hernach)
hinterher
Subjunktionen:
bevor nachdem
212 Maxi Krause
Substitute:
vorhin / [gerade] / [kürzlich] nachher / [gleich] / [später]
davor darin / danach
Subjunktionen:
(kurz) bevor … wenn … (dann)
nachdem
Aus dieser Übersicht geht hervor, dass für den links der Bezugsgröße
befindlichen Teil der Zeitachse in beiden Fällen die Präposition vor zu-
ständig ist, ein Substitut davor allerdings nur dann stehen kann, wenn die
Position der Bezugsperson belanglos ist. Sie zeigt auch, dass mit da- gebil-
dete Substitute nur sehr eingeschränkt einsetzbar sind.16 Ähnliches scheint
für Subjunktionen zu gelten. Durchgestrichene Signifikanten zeigen, dass
ihre Verwendung hier ausgeschlossen ist.
(50) Das Rigorosum war gut gelaufen, obwohl er die Nacht davor fast
nicht geschlafen hat / Na, da bist du ja endlich. Wo warst du
denn vorhin? – *Wo warst du denn davor?
Nachdem er promoviert hatte, fand er erst mal keine Stel-
le. / Wenn du dann einkaufen gehst, bring mir bitte Milch mit.
Aber vorher solltest du noch schnell die Wäsche abhängen. –
*Aber vorhin solltest du noch schnell die Wäsche abhängen.
chenden Beleg gibt; was nicht heißt, dass dazu innerhalb der Gesamtheit
einer Sprachstufe keine sprachlichen Mittel zur Verfügung standen. Zif-
fern präzisieren die Anzahl der Belege.
Sie ist nicht leicht zu trennen vom System der Ko-Okkurrenz, eventuell
dort anzusiedeln. Die Opposition Punkt – Segment ist neutralisiert.
ahd. fon + DAT. [„Lebensabschnitt“; Prozess]
mhd. von + DAT. [4; [„Lebensabschnitt“: von kinde / von Kanêles
jâren (3); Zeitspanne + LinksDET. (1)]
nhd. aus + D
seit + D
von + D + auf
von + D + her
von + Adv + her
6. Fazit
Der Unterschied zwischen der Herangehensweise von Marcq und seinen
Nachfolgern einerseits und andererseits den Vorgängern, die sich punktu-
ell sehr ausführlich mit Präpositionen und Kasus beschäftigten, ist folgen-
der: Bis 1972 liegen Einzeluntersuchungen zu bestimmten Signifikanten,
auch Signifikantengruppen vor, die häufig ungemein detailgenau und aus-
führlich sind und in denen auch schon anklingt, dass die genaue Bedeu-
tung und Funktion eines Elementes X des Vergleichs mit einem oder
mehreren semantisch und funktionell benachbarten Element(en) Y und /
oder Z bedarf.18 Marcq bezeichnet diese Art von Arbeiten als „atomis-
tisch“.19 Sein Ansatz ist, ohne ausdrücklich so bezeichnet zu werden, eher
ein onomasiologischer Ansatz, indem sein Hauptaugenmerk darauf gerich-
tet ist, bestimmte Raster (Systeme) herauszuarbeiten, denen dann jeweils
einzelne Bedeutungsträger zugeordnet werden können. Allerdings ergeben
sich solche Raster erst aus der genauen Untersuchung einzelner Signifi-
kanten. Auch hier erfolgt also Erkenntnis und Zuordnung immer im
Wechselspiel.
_____________
18 So zum Beispiel die Arbeiten von Krömer (1959, 323ff.) [sowie weitere Beiträge von
Krömer in anderen Nummern].
19 Marcq (1972, 2a).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 217
Quellen
Literatur
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von DA + Präp.? Überlegungen zu ihrer Geschichte und Desiderata zu ihrer Be-
schreibung“, in: Yvon Desportes (Hrsg.), Konnektoren im älteren Deutsch. Akten des
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Paul, Hermann (2007), Mittelhochdeutsche Grammatik, neu bearb. v. Thomas Klein /
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Schröbler, neu bearb. u. erweitert v. Heinz-Peter Prell, Tübingen.
Schrodt, Richard (2004), Althochdeutsche Grammatik II: Syntax, Tübingen.
Zur Herausbildung
der doppelten Perfektbildungen∗
1. Einleitung
Die doppelten Perfektbildungen, d.h. Konstruktionen des Typs ich habe
vergessen gehabt und ich bin angekommen gewesen sind in den letzten Jahren
vermehrt Gegenstand linguistischer Betrachtung geworden (z.B. Litvi-
nov / Radčenko 1998, Hennig 1999 u. 2000, Ammann 2005, Buchwald
2005, , Rödel 2007 u. Topalovic 2009). Dabei konnte gezeigt werden, dass
es sich bei den doppelten Perfektbildungen nicht um eine sprachliche
Neuerung der Gegenwartssprache, sondern um ein wenigstens 600 Jahre
altes Phänomen handelt, welches (zumindest in der Gegenwartssprache)
weder diatopische noch diastratische Markierungen aufweist und sich bei
weitem nicht nur der ‚Umgangssprache‘ zuschreiben lässt.1
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der Herausbil-
dung der doppelten Perfektbildungen. Die Herausbildungshypothesen der
bisherigen Doppelperfektforschung werden dabei zunächst vorgestellt,
woran sich der Versuch anschließt, die jeweils dargelegte Hypothese an-
hand eines historischen Korpus doppelter Perfektbildungen zu überprü-
fen. Dem Anliegen des Textes, einen Beitrag zur Erklärung der Doppel-
perfektentstehung zu leisten, geht die Überzeugung voran, dass es sich bei
doppelten Perfektbildungen um ein Phänomen handelt, dessen Entste-
hungsursachen im Kontext von Umstrukturierungs- und Reorganisations-
prozessen (Terminus nach Leiss 1992) im Verbalbereich zu suchen sind.
_____________
∗ Für Hinweise und Korrekturen danke ich Vilmos Ágel, Mathilde Hennig und Claudia
Telschow.
1 Anhand eines Zitates aus der IdS-Grammatik, das später angeführt wird, wird deutlich,
dass die doppelten Perfektbildungen in gegenwartssprachlichen Grammatiken durchaus als
diatopisch markiert ausgewiesen werden, was jedoch anhand von Korpora der doppelten
Perfektbildungen widerlegbar ist.
222 Isabel Buchwald-Wargenau
2. Herausbildungshypothesen
Sich in der bisherigen Literatur zum Doppelperfekt einen Überblick über
die vorhandenen Herausbildungshypothesen zu verschaffen, anhand derer
die Genese des Phänomens erklärt wird, stellt keine Schwierigkeit dar. Es
lassen sich zwei wesentliche Grundpositionen ausmachen, wovon in vor-
liegendem Beitrag die erste als ‚traditionelle‘, die zweite als ‚innovative‘
Hypothese bezeichnet wird. Im Folgenden (Kap. 2.1.) soll Hypothese I
vorgestellt und überprüft werden. Die Darstellung und der Überprüfungs-
versuch von Hypothese II finden im Anschluss in Kap. 2.2. statt.
tritt‘ (Hauser-Suida / Hoppe-Beugel 1972, 257). Dies ist laut Hauser / Hoppe in
den oberdeutschen Mundarten der Fall, aber auch in den ost- und westmittel-
deutschen.
Die dargelegte Argumentation lässt sich nicht nur in Grammatiken, son-
dern auch in der einschlägigen Literatur zum Doppelperfekt ausmachen.
Gersbach stellt in seiner Monographie zu den Vergangenheitstempora des
Oberdeutschen fest, „[d]aß dopp.Perf. ganz überwiegend als Ersatz für
Pl.perf. fungiert“ (1982, 228). Auch Trier (1965, 201) deutet das Doppel-
perfekt in dieser Art und Weise:
Wenn man erzählendes Perfekt als süddeutsche Weise zugibt, dann muß man
einsehen, daß ein solcher Erzähler im Rückblick aus dem Kreuzungspunkt seines
Erzähltempus noch ein Tempus braucht, das die Leistung übernimmt, die beim
Rückblick vom hochsprachlichen Imperfekt aus das hochsprachliche Plusquam-
perfekt zu erfüllen hat. Es bleibt ihm nichts übrig, als hinter dem Perfekt ein
zweites, gesteigertes Perfekt, ein doppeltes Perfekt, eben ein Ultraperfekt, aufzu-
bauen.
In den letzten Jahren mehren sich jedoch auch kritische Stimmen in Be-
zug auf die Präteritumschwundhypothese. So stellt bspw. Dorow
(1996, 78) fest, „daß sich die Doppelumschreibungen ganz unabhängig
vom Phänomen des oberdeutschen Präteritumschwundes betrachten las-
sen“.2
Vermutet man, dass sich die doppelten Perfektbildungen durch den
Präteritumschwund als funktionales Äquivalent zum Plusquamperfekt
herausgebildet haben, dann lässt sich folgende anfängliche Belegsituation
theoretisch konstruieren:
1. Die ersten doppelten Perfektbildungen dürften ca. in der Mitte des
15. Jahrhunderts erscheinen.
2. Es dürften sich zunächst nur Doppelperfektbelege finden.
3. Die Belege dürften zunächst nur aus dem Oberdeutschen stammen.
4. Es dürften zunächst nur haben-Belege erscheinen.
Wenn die frühesten doppelten Perfektbildungen Eigenschaften gemäß
diesen vier Bedingungen aufweisen, sind klare Anhaltspunkte für die Rich-
tigkeit der Hypothese gewonnen. Ist dies nicht der Fall, ist die Hypothese
in Frage zu stellen. Im Folgenden werden die Bedingungen näher charak-
terisiert:
_____________
2 Es wird an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit den in der Forschung jeweils
angeführten Argumenten für oder gegen die Präteritumschwundhypothese verzichtet und
stattdessen auf die einschlägige Literatur verwiesen, da deren exhaustive Darstellung nicht
Anliegen des Beitrages ist.
224 Isabel Buchwald-Wargenau
mit sein umfasst.4 Im Folgenden wird nun dargelegt, wie der empirische
Abgleich mit den oben formulierten Bedingungen aussieht:
Ad 1.: ‚Die ersten doppelten Perfektbildungen erscheinen ca. in der
Mitte des 15. Jahrhunderts‘: Für die haben-Belege kann diese
Bedingung bejaht werden, denn Belege, die vor dem 15. Jahr-
hundert datiert sind, wurden nicht gefunden. Es ließ sich je-
doch ein ripuarischer sein-Beleg5 aus der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts im Bonner Korpus Frühneuhochdeutsch ausma-
chen:
(1) Item in desem Sexterne sall men vynden die geschychte
ind verhandelunge, die van den ghenen, die sych noement
van den geslechten, bynnen Coelne vurtzijtz verhandelt
haint, darumb dat vplouffe ind mancherleye vngelucke
bynnen der Stat van Coelne vntstanden geweyst synt.
Item in desem Sexterne steit ouch dat Instrument sulchs
bekentnisse, as her Heynrych vam Staue in syme lesten
gedain hait. (Bonner Korpus Fnhd 151)
Die Tatsache, einen Doppelperfektbeleg aus dem 14. Jahrhun-
dert vorzufinden, muss nicht sofort die Präteritumschwund-
hypothese in Frage stellen. Vielmehr ist es möglich, dass der
Präteritumschwund im gesprochenen Frühneuhochdeutsch be-
reits früher einsetzte, als die in der Lindgren’schen Analyse
verwendeten (ausschließlich medial geschriebensprachlichen)
Textsorten vermuten lassen. Diese Vermutung äußert auch Jörg
(1976). Dass hier jedoch ein solch alter Beleg aus einem Dia-
lektraum vorliegt, der nicht vom Präteritumschwund erfasst
war, lässt erste ernsthafte Zweifel an der Hypothese aufkom-
men.
Ad 2.: ‚Es finden sich zunächst nur Doppelperfektbelege‘: Im analy-
sierten Korpus überwiegen die Doppelperfektbelege und die
afiniten Belege, bei denen die Tempusbestimmung des Auxi-
_____________
4 Hierbei ist anzumerken, dass nicht alle sein-Belege doppelte Perfektbildungen darstellen.
Aufgrund einer zunächst rein formalen Belegsuche sind neben doppelten Perfektbildungen
auch solche sein-Prädikationen erfasst worden, die Passiv- bzw. Kopulakonstruktionen dar-
stellen.
5 Bei vorliegender sein-Prädikation handelt es sich eindeutig um ein Doppelperfekt. Da mit
dem Verb entstehen ein intransitives Verb vorliegt, ist eine Interpretation als Passivkonstruk-
tion nicht möglich. Auch die Interpretation von entstanden als adjektivisch (womit die vor-
liegende sein-Prädikation als Kopulakonstruktion interpretierbar wäre) ist selbst im Ge-
genwartsdeutschen unwahrscheinlich, da das Partizip weder durch Gradpartikeln wie sehr
oder so ergänzbar noch durch un- präfigierbar ist.
226 Isabel Buchwald-Wargenau
(3) Von solchen Spargement war nun die gantze Stadt voll!
Ich hatte mich auch gäntzlichen resolviret, sie zu hey-
rathen und hätte sie auch genommen, wenn sie nicht ihr
Herr Vater ohne mein und ihrer Wissen und Willen einen
andern Nobel versprochen gehabt. Was geschahe? Da-
migen bath mich einsmahls, daß ich mit ihr muste an ei-
nen Sonntage durch die Stadt spazieren gehen, damit mich
doch die Leute nur sähen [...]. (Reuter 17)
Sowohl die Tatsache, dass eine doppelte Perfektbildung in ei-
nem nicht-oberdeutschen Text vorkommt als auch der Text-
ausschnitt an sich, der neben dem afiniten Doppelperfektbeleg
Präteritum und Plusquamperfekt als weitere Tempora aufweist,
stellen klare Indizien gegen die Präteritumschwundhypothese
dar.
Ad 4.: ‚Es finden sich zunächst nur haben-Belege‘: Auch diese Bedin-
gung ist klar zu verneinen. Es wurde bereits dargestellt, dass der
erste vorliegende Beleg überhaupt ein sein-Beleg aus dem 14.
Jahrhundert. ist. Die Existenz doppelter Perfektbildungen mit
sein trotz nach wie vor realisierbarem Plusquamperfekt stellt ein
weiteres Indiz dafür dar, dass der Präteritumschwund allein
keine hinreichende Begründung für die Herausbildung doppel-
ter Perfektbildungen darstellen kann.
Als Ergebnis der Überprüfung lässt sich daher festhalten, dass die vorlie-
gende Hypothese durch 2. in Frage gestellt, durch 1., 3. und 4.) sogar ent-
kräftet werden konnte. Der Präteritumschwund kann demzufolge nicht
(alleinige) Entstehungsursache der doppelten Perfektbildungen sein.
_____________
7 Die Frage, ob ältere Sprachstufen des Deutschen tatsächlich ein aspektuell gegliedertes
Verbalsystem besaßen, wird durchaus kontrovers diskutiert. Auf einen Überblick über die
Forschungsliteratur wird an dieser Stelle verzichtet. Siehe hierzu z.B. Schrodt / Donhauser
(2003).
8 Das Perfekt ist zu diesem Zeitpunkt nur mit perfektiven Verben bildbar. Erst ab dem 13.
Jahrhundert wird die Perfektbildung mit durativen Verben häufiger. Vgl. hierzu Oubouzar
(1974).
9 Die Grammatikalisierung des Perfekts kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden.
Ausführlicher widmen sich dieser Problematik bspw. Oubouzar (1974 u. 1997), Leiss
(1992), Kuroda (1997) und Teuber (2005).
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 229
mit perfektiven Partizipien ohne ge- selbst noch über eine (die temporale
Lesart) dominierende aspektuelle Semantik verfügen.10 Deutet man nun
die doppelten Perfektbildungen gerade als Möglichkeit, die in den Hinter-
grund getretene aspektuelle Bedeutung der Perfektkonstruktionen zu
kompensieren, dürften doppelte Perfektbildungen erst bei stark überwie-
gendem Gebrauch von ge- mit Partizipien aller Verbtypen vorkommen.
_____________
10 Vgl. Ebert u.a. (1993, 238), die den Ausfall von ge- „im Zusammenhang der ‚perfektiven‘
Verben auch als Indiz für das noch bestehende Nebeneinander einer Verwendung als
Wortbildungspräfix oder einer Verwendung als paradigmatisch eingebundenen Flexiv-
bestandteils“ werten. Des Weiteren wird auf phonotaktisch und morphologisch motivierte
ge-Ausfälle aufmerksam gemacht (vgl. ebd.).
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 231
_____________
11 Leiss (2002, 14) weist darauf hin, dass es „Relikte von ge-Verben [...] bis heute in süddeut-
schen Dialekten, etwa im Bairischen [gibt]: Danke, des glangt jetzt vs. nhd. Danke, das langt
jetzt; Do muaßma zuoglanga vs. Da muss man zulangen.“ In obigem Beispiel gmarschiert ist jedoch
auch die Möglichkeit einer Bildungsunsicherheit aufgrund des Lehnwortstatus nicht zu
vernachlässigen.
12 Die regionale Einordnung des Textes soll hier nur grob als nicht-oberdeutsch erfolgen, da
die Herkunft des Verfassers unklar ist und Dialektmerkmale eine Einordnung sowohl in
mitteldeutsches als auch in niederdeutsches Sprachgebiet zulassen.
13 An dieser Stelle wird ganz bewusst der Terminus ‚doppelte Perfektbildungen‘ vermieden,
da es sich nicht bei allen sein-Formen um solche handelt. Vgl. Fußnote 3.
232 Isabel Buchwald-Wargenau
_____________
14 Auch Leiss (2002, 14) weist im Zusammenhang mit dem Abbau der Aspektverben auf ein
Nord-Süd-Gefälle hin.
15 Der unterschiedliche Umfang der Texte wurde beim Vergleich der Anzahl doppelter
Perfektbildungen natürlich berücksichtigt.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 233
Quellen
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Aspekte diachronischer Fundierung
Historische Linguistik und mentale Repräsentation
flexionsmorphologischen Wissens∗
1. Einleitung
An Fakten der historischen linguistischen Forschung und Standards der
historischen Grammatikschreibung sollen im folgenden Text Ergebnisse
und Überlegungen aus dem Spracherwerb überprüft werden, aus denen
sich über die Form der mentalen Repräsentation grammatischen Wissens
zwar tendenzielle, aber keineswegs eindeutige Aussagen ableiten lassen.
Bei der Analyse der diachronischen Daten aus Sprachgeschichte und
Sprachwandel geht es nicht um eine Diskussion der Detailgenauigkeit und
tatsächlichen Haltbarkeit der in den Grammatiken postulierten sprachhis-
torischen Entwicklungen. Im Zentrum steht vielmehr die Herausarbeitung
verallgemeinerbarer Tendenzen und auf ihnen basierender Schlussfolge-
rungen für eine sprachtheoretische Modellierung. Diesem Vorgehen liegt
die Überzeugung zugrunde, dass sprachtheoretische Beschreibungen und
Hypothesen nur durch die Einbeziehung von Wissen über Sprachge-
schichts- und Sprachwandelprozesse, vom „Erkenntnispotential der dia-
chronischen Grammatik“ (Wurzel 2000, 418), dem Gegenstand Sprache
gerecht werden können. Die Idee, in diesem Beitrag die theorierelevante
Rolle der historischen Linguistik zu betonen und sie ganz selbstverständ-
lich als Instanz der Entscheidung über die Adäquatheit von Aussagen über
die Sprache heranzuziehen, geht auf zwei Aufsätze zurück, Mayerthaler
_____________
∗ Für die Diskussion und für kritische Hinweise danke ich besonders den Teilnehmern des
Kongresses ‚Historische Textgrammatik und historische Syntax des Deutschen‘. Gewidmet
ist der Beitrag dem Andenken an Willi Mayerthaler und Gustav Wurzel.
238 Andreas Bittner
(1981b) und Wurzel (2000), die leider kaum rezipiert wurden. Deren zen-
trale Überlegungen werden hier in die Diskussion um die mentale Reprä-
sentation von grammatischem Wissen eingebracht. Die Beispielfälle ent-
stammen der deutschen Verbflexion, behandelt werden also Fakten aus
dem Bereich des morphologischen Wandels, wobei eine Beschränkung auf
die Fragen des Auftretens und der Rolle von paradigmatischen Kennfor-
men und deren Verknüpfung mit spezifischem, paradigmatisch organisier-
tem Flexionsverhalten vorgenommen wird. Aus den jeweiligen Wandelbe-
obachtungen werden Schlüsse für die mentale Repräsentation grammati-
schen Wissens gezogen.
2. Ausgangsüberlegungen:
Spracherwerb – mentale Repräsentation
Den konkreten Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen stellen
Untersuchungen zum späten Spracherwerb im Bereich der Verbmorpho-
logie des Deutschen dar, die Antworten auf Fragen zur mentalen Reprä-
sentation grammatischen Wissens und ihrer Modellierung geben sollten.
Die Datengrundlage lieferte eine Pilotstudie mit ausnahmslos mutter-
sprachlich Deutsch sprechenden Schülern einer 5. Jahrgangsstufe, die
2005 in Münster durchgeführt wurde. Dabei waren fünf Kunstverben in
jeweils vier morphosyntaktische Kontexte (Singular Präsens, Singular Prä-
teritum, Konjunktiv II, Partizip II) einzubetten (zu den Details vgl. Bitt-
ner / Köpcke 2007).
Überprüft werden sollte, ob die mentale Repräsentation morphologi-
schen Wissens auf der Grundlage eines gebrauchsbasierten Modells (‚Us-
age-Based Model‘) erfolgt, das von einer schematischen Repräsentation
ausgeht, und ob ein solches Modell den empirischen Tatsachen eher ge-
recht wird als ein Regel-und-Listen-Modell. Es wurde also weder ange-
nommen, dass die Sprecher nur zwischen regulärer (regelmäßiger,
-geleiteter) und irregulärer (einzeln speichernder) Flexionsweise unter-
scheiden, noch dass auftretende unbekannte Verben ausnahmslos
schwach flektiert werden.
Wichtige Grundannahmen gebrauchsbasierter Modelle lassen sich so
formulieren:
• Der Gebrauch sprachlicher Formen in Produktion und Perzeption
beeinflusst die mentale Repräsentation sprachlichen Wissens,
• Wörter und Wortformen schließen sich im mentalen Gedächtnis
des Sprechers zu Mustern (oder Schemata) zusammen; Mus-
Aspekte diachronischer Fundierung 239
schwach stark
Zum anderen wurde die Hypothese überprüft, dass die Favorisierung des
starken Flexionsmusters gegenüber dem schwachen nicht nur von der
spezifischen lexikalischen Stärke eines phonematischen Musters / Sche-
mas abhängig ist, sondern auch von der jeweils stark realisierten gramma-
tischen Kategorie. Treten starke Flexionsformen im Singular Präsens auf,
dann sollten starke Formen auch im Präteritum, Konjunktiv II und Parti-
zip II auftreten. Ist das Präteritum stark realisiert, sollten auch Konjunktiv
II und Partizip II stark flektiert werden, nicht aber notwendigerweise der
Singular Präsens usw. Daraus ergibt sich wiederum eine Prototypikali-
tätsskala (vgl. Abbildung 2, zu den Details nochmals Bittner / Köpcke
2007).
240 Andreas Bittner
stark schwach
_____________
1 Der Begriff mentales Lexikon steht hier für den Speicherort, an dem die Sprecher flexions-
morphologisches Wissen ablegen.
Aspekte diachronischer Fundierung 241
3. Sprachgeschichte / Sprachwandel
als zentraler Modellierungs-, Test-
und Faktenbereich
Noch vor dem Spracherwerb und der Kindersprache stellt die Sprachver-
änderung den zentralen Faktenbereich2 dar, um Einsichten in die Struktur
einer Sprache (und von Sprache generell) und ihr Funktionieren und da-
mit in die Organisation von Grammatik – um die es hier im Wesentlichen
geht – zu gewinnen. Dabei werden sich in der Sprachgeschichte manifes-
tierende grammatische ‚Gesetzmäßigkeiten‘ angenommen, Sprachge-
schichtsprozesse nicht als zufällig und unmotiviert bzw. als Sonderfälle
sprachlicher Entwicklung verstanden. Variabilität, zumal diachronische, ist
eine grundlegende universelle Eigenschaft von Sprache. In ihr und in der
auf ihr basierenden Veränderung von Sprache werden grammatische Zu-
sammenhänge erfahrbar. Auf den unmittelbaren Zusammenhang von
Sprachwandel und Spracherwerb weist nicht nur Mayerthalers (1981, 25)
Statement, „was sich im Wandel durchsetzt, muß erworben, also auch
psychisch real sein. [...] [E]s [gibt] kein adäquates Verständnis des Sprach-
wandels ohne das des kindlichen Spracherwerbs [...]“, hin.
Auch für den Aspekt, dass an die Sprachgeschichte, enger gefasst: an
die historische Grammatikforschung, als empirische und theoretische
Wissenschaft auch hinsichtlich der Ausschöpfung ihrer sprachtheoreti-
schen Potenzen Forderungen zu formulieren sind, können seine provo-
kanten Überlegungen herangezogen werden: „Eine wohlverstandene his-
torische Sprachwissenschaft macht empirisch überprüfbare [falsifizierbare]
_____________
2 Weitere einschlägige Faktenbereiche für falsifizierbare sprachtheoretische Hypothesen
(nicht nur bezogen auf die Flexionsmorphologie) sind z.B. die Behandlung von neuen
Wörtern bzw. die von Kunst- oder Nonsenswörtern, die Fehlerlinguistik, die Akzeptabilität
grammatischer und ungrammatischer Formen, aphasische Störungen und der ungesteuerte
Fremdsprach- bzw. Zweitspracherwerb, vgl. z.B. Bittner (1996, 66ff.).
242 Andreas Bittner
_____________
3 Für den semantisch initiierten Wandel ist das bisher wenig untersucht.
Sprachwandel
nicht- intendiert
intendiert
gramma- semantisch
tisch ini- initiierter
tiierter W. W.
lexikalisch- Entleh- Sprach- Pid- Sprachnor-
semant. nung mi- gin / mierung,
phonol. morphol. syntakt. Grammati- lexikalisch- Wandel zur schung Kreo- -planung,
Wandel Wandel Wandel kalisierung semant. Beseitigung lisie- -politik;
Wandel v. Bezeich- rung Schaffung
nungsdefi- von
ziten Fachspra-
chen / Ter-
Kontakt gelehrt minologien
Es genügt ein Blick auf die bekannten Standardbeispiele, den auch Wur-
zel (2000) bereits vorgenommen hat. Das Ahd. weist vier relativ stabile
verbale Flexionsklassen auf. Die Verben der einzelnen Klassen mit (par-
tiell) unterschiedlichem Flexionsverhalten unterscheiden sich in der pho-
nologischen Form der Infinitive: Die Klasse der starken Verben (geban)
steht drei schwachen Klassen gegenüber, der jan-Klasse (suochen),4 der ōn-
Klasse (salbōn) und der ēn-Klasse (habēn).5 Wie zu sehen ist, liegt die pho-
nologische Distinktivität nicht im Wortstamm, sondern in den morpholo-
gischen (‚wortartspezifizierenden‘) Endungen.
Phonologischer Wandel (Neutralisation der Vokale unbetonter (Ne-
ben-)Silben) führt dann im Übergang zum Mhd. zur Vereinheitlichung
aller Infinitivmarker zu phonetisch [-ən], vgl. mhd. geben, suochen, salben,
haben. Nach dieser Neutralisierung beginnen Sprecher ursprünglich starke
Verben schwach zu flektieren, was auch noch im Gegenwartsdeutschen
geschieht, wenn auch sprachpflegerisch, durch Normierungsdruck und
schulische Sozialisation behindert; vgl. frnhd. bellen, kreischen, schmiegen –
Präteritum boll, krisch, schmog > nhd. Präteritum bellte, kreischte, schmiegte
(Bsp. nach Wurzel 2000, 419). Gegenwärtig vollzieht sich bei mehr als 50
Verben dieser Übergang zur schwachen Flexionsweise, vgl. z.B. fechten,
gären, hauen, melken, schallen und saugen – Präteritum focht, gor, hieb, molk,
scholl, sog > fechtete, gärte, haute, melkte, schallte, saugte (vgl. Bittner 1996, 111).
Dies lässt sich folgendermaßen interpretieren: Es drängt sich bei der
durch die Fakten skizzierten Abfolge die Schlussfolgerung auf, dass das
Auftreten dieses morphologischen Wandels von der phonologischen
Form des Wortes abhängig ist, die sich im Deutschen in der Form des
Infinitivs (und teilweise in den abgeleiteten Wortformen) bestens manifes-
tiert. Wurzel (2000, 420) konstatiert, dass der Wandel dann einsetzt,
„wenn man dieser Form die Flexionsklassenzugehörigkeit der Lexeme“
und damit die Flexionsweise „nicht mehr ansehen kann“. Solange der
Infinitiv eines Verbs auf -an endet, kann das entsprechende Verb nicht
schwach flektiert werden. Deshalb treten Wandelerscheinungen wie die
_____________
4 Starke j-Präsentia, die im Infinitiv und in der Präsensflexion wie schwache jan-Verben
aussehen, sind ahd.: intrīhhen (I), bitten, liggen, sitzen (V), swerien, scephen, heffen, intseffen (VI) und
erien (reduplizierend); vgl. (Braune 1987, 282f. und 264ff.).
5 Bei den drei schwachen ahd. Verbklassen finden sich Reste einer jeweiligen semantischen
Motivierung: Intensiva, Iterativa (ōn-Verben); Durativa, Inchoativa (ēn-Verben); Kausativa
(en-(< jan)Verben).
246 Andreas Bittner
Übergänge von starken Verben zu den schwachen erst nach den phonolo-
gischen Neutralisierungen auf, wenn also z.B. das schwache Verb leben und
das starke Verb geben in der Form des Infinitivs hinsichtlich der Flexions-
weise nicht mehr unterschieden werden können.
Plausibel erscheint die Annahme Wurzels (vgl. ebd., 420f.), dass ein
starkes Verb wie geban und ein schwaches Verb wie suochen im mentalen
Wissen der Sprecher des Ahd. als [[geb]BM an]V bzw. [[suox]BM en]V abge-
legt sind6 und nicht als [geb]VBM, stark bzw. [suox]VBM, schwach (also als
Stammmorphem mit diakritischer Flexionsangabe), weil bei letzterer Re-
präsentation „das Auftreten des Wandels gerade zum Zeitpunkt der pho-
nologischen Neutralisierung [...] sich [...] nicht sinnvoll erklären [läßt]“
(ebd., 420).
Daraus folgt, dass die mentale Repräsentation der Verben im Ahd. in
der Form des Infinitivs realisiert wird, die damit die lexikalische Grund-
bzw. Kennform darstellt, die als Basis für die Ableitung sämtlicher Flexi-
onsformen fungiert. Die ahd. Verbflexion ist auf dieser Faktenbasis von
den Sprechern „wortbasiert und nicht morphembasiert organisiert“ (ebd.,
421). Diese strikte Annahme über die Organisation flexionsmorphologi-
schen Wissens in Sprachen mit ausgeprägter Flexionsmorphologie könnte
für das Deutsche ab dem Mhd., also nach der phonologischen Neutralisie-
rung der Vokale der morphologischen Endungen, angezweifelt werden.
Es wird zu zeigen sein, dass auch in den auf das Ahd. folgenden Sprach-
perioden eine Form wie [[geb]BM mn]V als Kennform und Ableitungsbasis
dient, also keine Stammmorphembasierung der Verbflexion vorliegt (vgl.
auch Bittner / Köpcke 2007). Der Infinitiv trägt also nicht nur strukturelle
Merkmale der wortartspezifischen Flexion und fungiert über eindeutige
grammatische Morpheme als Auslöser der entsprechenden Flexionsweise
und -klassenzugehörigkeit. Mit diesen Trägern grammatischer Information
muss auch ein Bündel distinktiver, gerichteter Flexionsformen verknüpft
sein.
Da die Sprecher des Mhd. dem Verlust dieses Indikators für Flexions-
verhalten durch phonologischen Wandel nichts entgegengesetzt haben,
liegt die Vermutung nahe, dass das Zulassen dieses phonologischen Wan-
dels Teil eines morphologischen Wandelprozesses ist, bei dem das bishe-
rige mindestens aus vier Klassen bestehende, ursprünglich semantisch
motivierte Zuordnungssystem verändert, (wieder) eindeutiger gemacht
werden soll. Die Sprecher hatten wohl den Eindruck, dass die Komplexi-
tät der semantischen Motivierung dieses morphologischen Teilsystems
und die ihr innewohnenden Überschneidungen und Mehrdeutigkeiten, die
_____________
6 Sie werden dann mhd. phonologisch zu [[geb]BM mn]V bzw. [[suox]BM mn]V neutralisiert (V –
Verb, BM – Basismorphem, VBM – verbales Basismorphem), vgl. Wurzel (2000, 420).
Aspekte diachronischer Fundierung 247
Aus den beiden Wandelbeispielen lassen sich für die mentale Repräsenta-
tion von grammatischem Wissen folgende Schlüsse ziehen, die gleichzeitig
eine Verifikation der Hypothese 1 beinhalten:
1. Flexionsmorphologisches Wissen ist in Form von Kennformen
(Grundformen; Mustern / Schemata) repräsentiert. Das geschieht
durch konkrete Wortformen (nicht durch Stammmorpheme). Au-
ßerdem weist die Wandelbeobachtung 2 darauf hin, dass nicht
sämtliche Flexionsformen des Paradigmas lexikalisch gespeichert
sind, das dürfte lediglich bei starker Suppletion der Fall sein.
2. Die prädiktive Kennform (Muster / Schema) für die deutsche
Verbflexion ist der Infinitiv.
Die Schlussfolgerung, dass der Infinitiv, eigentlich eine Nominalform (?),
die Kennform des deutschen Verbs bilden soll, wird nicht so ohne Weite-
res auf Akzeptanz stoßen. Ein kurzer Exkurs soll für einige, die Feststel-
lung plausibel machende Fakten sorgen.
nhd. sehen, sehe, siehst, sieht, (wir) sehen). Das deverbale Nomen Sicht wird
davon nicht erfasst. Was auffällt ist, dass beide Alternationstypen zuguns-
ten einer Form aufgegeben werden, die (auch) die des Infinitivs ist, aber
nicht die der 3.Ps.Sg.Präs.Ind.
Die starke Verbklasse und die (größere) Klasse der schwachen jan-
Verben stimmen im Ahd. in ihrer Präsensflexion überein. Es finden aber
keine Übergänge zwischen den Klassen statt. Wäre die 1.Ps.Sg.Präs.Ind.
oder eine andere Form des Präsens Indikativs die Kennform, sollten sol-
che Übergänge zumindest tendenziell auftreten.7
_____________
7 Nicht alle Ausgleichsprozesse innerhalb eines Paradigmas müssen in Richtung Kennform
verlaufen. So kommt es im Frnhd. zur Entwicklung von zemen – es zimt zu ziemen – es ziemt,
wobei der Vokal der 3.Ps.Sg., der bei unpersönlichen Verben häufigsten Personalform,
verallgemeinert wird. Da solche Ausgleichsprozesse nur innerhalb eines Flexionsparadig-
mas stattfinden, spricht das für die Zugehörigkeit des Infinitivs zum verbalen Paradigma.
8 Auch für das Erkennen der Kunstverben und die Schemaidentifikation auf der Basis von
Eigenschaften der phonologischen Struktur im Rahmen der Tests zum späten Spracher-
werb war die Präsentation als ganze Wortform, die dann von den Kindern mühelos geglie-
dert wurde, notwendig (vgl. Bittner / Köpcke 2007).
250 Andreas Bittner
Ausgangspunkt für diesen Typ von Wandel sind die Sprecher / Hörer
einer Sprache mit ihrer Kapazität zur Sprachverarbeitung und ihrem
sprachlichen Agieren. Sprachliche Strukturen und systematische Zusam-
menhänge werden von ihnen hinsichtlich ihrer Komplexität, ihrer Eindeu-
tigkeit und ihrer Funktionalität einer ökonomischen Analyse unterworfen,
die immer eine auf spezifische Eigenschaften einer Ebene des Sprachsys-
tems bezogene, skalare Ergebnisorientierung hat. Wenn man sich fragt,
weshalb in den skizzierten Fällen Übergänge von starker zu schwacher
Flexionsweise tatsächlich eintreten, bietet sich als plausibles Erklärungs-
muster an, dass grammatisch initiierter phonologischer, morphologischer
und syntaktischer Wandel dadurch motiviert ist, dass durch ihn immer die
menschliche Sprachkapazität belastende grammatische (hier morphologi-
sche) Komplexität (Markiertheit) abgebaut wird (vgl. Wurzel 1994).
Bei den sprachhistorischen Veränderungen der Flexionsweise deut-
scher Verben würde somit ein Abbau ‚zusätzlicher‘ Spezifikationen im
mentalen Lexikon der Sprecher diese Verringerung belastender Komplexi-
tät bewirken. Welcher Art sind diese ‚zusätzlichen‘ Spezifikationen? An die
phonologische Struktur der gegliederten Kennform knüpfen Sprecher
Informationen hinsichtlich des Flexionsverhaltens mit unterschiedlichem
Spezifikationsgrad. Außerdem müssen auch da, wo man den jeweiligen
Kennformen nicht mehr eindeutig ansehen kann, wie das Lexem flektiert
wird, Verben im mentalen Lexikon distinkt repräsentiert sein, wenn sie
unterschiedlich flektiert werden sollen. Aus den Beispielen wird deutlich,
dass da, wo Verben mit den gleichen außermorphologischen (phonologi-
schen) Eigenschaften unterschiedlich konjugiert werden, jeweils die weni-
ger normale Flexionsweise im mentalen Lexikon durch das Einbeziehen
spezifischerer Eigenschaften (z.B. spezifische Konstellationen der phono-
logischen Struktur) bzw. durch zusätzlich gespeicherte Kennformen
und / oder Marker spezifiziert ist. Bei dieser Motivierung von Verände-
rungen treten Lexeme immer zur weniger zusätzlicher Komplexität bedür-
fenden Flexionsweise über (vgl. ausführlich Bittner 1996).
Da bei den bisherigen Beispielen nur die Nutzung von phonologi-
schen Eigenschaften der Kennformen als Schlüssel für die zu realisierende
Flexionsweise diskutiert wurde, soll kurz auf weitere Möglichkeiten der
Verknüpfung mit unabhängigen außermorphologischen Eigenschaften
hingewiesen werden:
Seit dem Frnhd. benutzen Sprecher das ursprüngliche Vollverb brau-
chen ('benötigen, genießen, sich einer Sache bedienen') in Kontexten mit
Negation mit einer modalen Bedeutung. Bei diesem modalen Gebrauch
Aspekte diachronischer Fundierung 251
teristika Sg.Prät. ∅-Endg. Sg.Präs. bzw. form und/oder ∅- Prät. Konj. (Ablaut,
≠ Sg.Imp. 2./3. Sg.Präs. Endung Prät. -en)
Stammvokal 1./3. Sg.Prät.
2.Sg. & 1.-3.
Verben Jh.
Pl.Prät. 1.P. 2.P. 3.P.
bannen 13. - +
14. + + +(-)
15. +/- +/- +/- +(-)
16. - - - - -(+)
18. - - - -(+)
Abbildung 4: Beispiele für (schrittweise) Übergänge von starker zu schwacher Flexion (Mhd. – Nhd.; nach Grimm 1854ff., +: starke
Andreas Bittner
Beim Übergang von starken Verben zur schwachen Flexion, der, wie ge-
sagt, nicht konsequent geschieht, sondern zunächst (oder auch dauerhaft)
nur bestimmte Formen des Paradigmas betrifft, werden die Flexionsfor-
men in einer bestimmten Reihenfolge vom Übergang erfasst (interessant
und hier aufgelistet sind vor allem die Paradigmenformen, in denen sich
schwache und starke Flexionsweise unterscheiden (vgl. Bittner 1996, pas-
sim). Nach den jeweils vom Wandel betroffenen bzw. nicht betroffenen
Formen lassen sich die in Abbildung 5 dargestellten ‚Übergangstypen‘
ausmachen (werfen steht für ein konsequent stark gebliebenes Verb; die im
Wandel entstandenen schwachen Formen sind hervorgehoben):
_____________
10 Die Modalverben, die eine eigene semantisch motivierte Flexionsklasse bilden (vgl. Bittner
1996, 104ff.), und die Rückumlautverben (vgl. z.B. Bittner 1996, 99f.; Nübling / Dammel
2004, 185f.) bleiben hier unberücksichtigt.
11 Flexionsparadigmen haben somit eine reale Existenz; sie sind keine Erfindungen von
Grammatikern. Ihr auf Implikationen der Wortformen beruhender hierarchischer Aufbau
ist wohl ein generelles Strukturprinzip von Flexionsparadigmen.
256 Andreas Bittner
Literatur
Bailey, Charles-James N. (1973), Variation and Linguistic Theory, Center for Applied
Linguistics, Arlington.
Bittner, Andreas (1991), „Präferenztheorie, Sprachwandel und Spracherwerb oder
Wenn Spracherwerb Sprachwandel wär’ ...“, in: Proprins, 5 / 1991, Universität Es-
sen, 3-16.
Bittner, Andreas (1996), Starke ‚schwache‘ Verben - schwache ‚starke‘ Verben. Deutsche Verb-
flexion und Natürlichkeit, Tübingen.
Aspekte diachronischer Fundierung 259
_____________
1 Zum postnominalen Adjektiv im Deutschen vgl. Dürscheid (2002), die die markierte
Nachstellung des Adjektivs vor allem als Mittel der Informationsgliederung analysiert; wei-
ter Hellwig (1898), Paul (1919 / 1968, § 72), Behaghel (1930), Marschall (1992).
262 Markus Denkler
kommen aber auch Konstruktionen ohne Kopula vor: Touristen wieder frei.2
Auch hierbei handelt es sich um eine Topik-Kommentar-Struktur, d.h.
semantisch gesehen sorgt das Adjektiv für eine Prädikation. Solche Struk-
turen weisen eine gewisse Nähe zu attributiven Konstruktionen mit post-
nominalem Adjektiv auf, sodass bisweilen schwer zu entscheiden ist, ob
ein Adjektiv als attributiv oder prädikativ einzustufen ist,3 z.B. bei Pro-
duktbezeichnungen wie Körbchen rechteckig oder Rahmspinat tiefgefroren: „Syn-
tagmen dieser Art finden sich auf Speisekarten, in Versandhauskatalogen,
in Kleinanzeigen, Prospekttexten, auf Schildern, auf Etiketten, auf alpha-
betisch geordneten Listen“ (Dürscheid 2002, 62). Nach Weinrich (1993,
480), der aus textgrammatischer Perspektive argumentiert, handelt es sich
sowohl bei der Attribution als auch bei der Prädikation um eine Determi-
nation. Die prädikative Funktion ist demnach eine besondere Form der
Determination, bei der eine „ausdrückliche, argumentativ relevante Fest-
stellung“ einer Eigenschaft gemacht wird. Auf diese funktionale Defini-
tion soll im Folgenden zurückgegriffen werden.
In dem vorliegenden Beitrag geht es um den Gebrauch von Topik-
Kommentar-Strukturen, die aus einer Nominalphrase und einem Adjektiv
bestehen. Dabei soll insbesondere die Kontrastierung mit funktionsähnli-
chen attributiven Konstruktionen (mit pränominalem Adjektiv) Auf-
schluss über funktionale Zusammenhänge geben. Als Grundlage der Ana-
lysen dient ein Korpus von Nachlassinventaren aus der Frühen Neuzeit.
Nachlassinventare sind in bestimmten, rechtlich umrissenen Kontexten
erstellte Verzeichnisse hinterlassener Mobilien, gegebenenfalls auch hin-
terlassener Haustiere und Immobilien, die also im Kern aus Listen beste-
hen. Wir finden dort Listeneinträge wie 1 Mey Kalb schwartz. Das histori-
sche, diachron angelegte Quellenkorpus sowie die verwendete Textsorte
werden im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt. Anschließend werden die
Sprachdaten ausgewertet; zeitliche Konturen des Gebrauchs der unter-
suchten Konstruktion sowie die Adjektivsemantik stehen dabei im Mittel-
_____________
2 Dürscheid (2002, 73) schreibt hierzu: „Prinzipiell kann jedes postnominale Adjektiv als
prädikativer Teil einer Kopulakonstruktion analysiert werden, sofern es nicht-idiomatisiert
ist.“ Vgl. hierzu auch Sprachen ohne Kopula wie das Russische oder das Arabische, in de-
nen das prädikative Adjektiv allein das Prädikat bildet (vgl. Hentschel / Weydt 2003, 205,
340).
3 Die meisten Definitionen der prädikativen Funktion der Adjektive könnten sich auch auf
die attributive Funktion beziehen und umgekehrt, vgl. etwa: „Sie [Prädikativkomplemente]
weisen diesen [durch Subjekt- oder Akkusativkomplement denotierten Gegenständen] eine
Eigenschaft zu und weisen sie damit als Elemente oder Teilmengen einer Klasse aus“ (Zi-
fonun u.a. 1997, 3, 1106). Wenn es bei Eisenberg (2004, 235) heißt: „Die primäre Leistung
der Attribute besteht darin, das von einem Substantiv bezeichnete ‚näher zu bestimmen‘“,
dann sind hiermit nur restriktive Attribute abgedeckt, die die Referenzleistung des Substan-
tivs beeinflussen, nicht aber nicht-restriktive Attribute.
Adjektive in Inventarlisten 263
punkt. Der vierte Abschnitt bietet einen Erklärungsversuch für die auffäl-
ligen Verwendungsmuster. Hierbei rücken textlinguistische Aspekte in den
Fokus; es soll gezeigt werden, dass Elemente des Textsortenwandels mit
dem Wandel im Gebrauch der adjektivischen Determination in einem
näheren Zusammenhang stehen.
2. Westfälische Nachlassinventare
Die zugrunde gelegten Nachlassinventare stammen aus Westfalen aus der
Zeit von 1500 bis 1800 (vgl. Denkler 2006, 35ff.). Das Korpus besteht aus
1.618 Inventaren, die im Zusammenhang der Erhebung einer leibherrli-
chen Abgabe von unfreien Bäuerinnen und Bauern, den so genannten
Eigenbehörigen, erstellt wurden. Diese Abgabe wurde beim Tod eines
oder einer Eigenbehörigen fällig und in Relation zu dem jeweiligen Nach-
lass erhoben. Die Abgabe wird Sterbfall genannt, die Inventare dement-
sprechend auch Sterbfallinventare (vgl. Hüffmann 1966; Homoet u.a.
1982).
Das Rechtsgeschäft, durch das die Höhe dieser Abgabe festgesetzt
wurde, die die Nachkommen und Hoferben dem Leibherrn zu entrichten
hatten, geschah zunächst mündlich. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts
wurde es dann auch schriftlich festgehalten, häufig in Form eines Inven-
tars, das die materielle Grundlage der zu entrichtenden Abgabe, den
Nachlass, dokumentierte. Dies lässt sich allerdings kaum als ein reiner
Medienwechsel beschreiben, da die volkssprachige mündliche Praxis nun
mit der traditionellen – in der Regel lateinischen – Schriftpraxis zusam-
menkam; d.h. bei der Textsortenentstehung flossen traditionelle Muster
der Schriftpraxis ein (vgl. Frank 1996, 18). Diese Muster sind zum einen
Elemente der Textsorte (Gerichts)Protokoll und zum anderen die primo-item-
Liste.
Züge der Textsorte (Gerichts)Protokoll (vgl. hierzu Mihm 1995; Niehaus
/ Schmidt-Hannisa 2005; Topalović 2003; Hille 2008) haben sich in vieler-
lei Hinsicht mit der zugrunde liegenden mündlichen Praxis verbunden.
Techniken der Wiedergabe wörtlicher Rede und des raffenden und trans-
formierenden Notierens können auf die Musterwirkung der Textsorte
(Gerichts)Protokoll zurückgeführt werden (vgl. Denkler 2006, 29ff.,
118f.). In den frühen Inventaren des 16. und beginnenden 17. Jahrhun-
derts erscheinen in den Metatexten, die den Inventarlisten vorangestellt
sind, die Syntagmen Erbtag gehalten (erffdach geholden) und ist geerbteilt worden
(vgl. Denkler 2006, 47ff.), die darauf verweisen, dass das Rechtsgeschäft
bereits an Ort und Stelle beendet wurde. Daraus wird gleichzeitig ersicht-
lich, dass solche Texte allein zu Dokumentationszwecken angefertigt und
264 Markus Denkler
_____________
4 Vgl. etwa die Reliquienliste in einem lateinischen Inventar des Stiftes St. Egidius und St.
Erhard in Schmalkalden vom 13. Januar 1389:
Primo brachio sancti Egidii cum annulo et magno saphiro.
Item reliquas sancti Erhardi cum cycla aurea in pede argenteo.
Item digitum sancti Andree cum monstrancia cristallina […] (Wendehorst 1996, 72).
5 Landesarchiv NRW Staatsarchiv Münster, Kloster Benninghausen, Akten 10, fol. 35v-36r.
6 Im Unterschied dazu sind Textsorten wie Briefe oder Predigten durch „syntagmatische Kon-
tiguität“ (Koch 1997, 70) gekennzeichnet.
Adjektive in Inventarlisten 265
_____________
7 Vereinzelt lassen sich Belege wie die folgenden finden: 1 tisch langer (Münster 1788), 4
Hemde alte (Herford 1793). Hier könnten die Flexionsendungen als Argument dafür ange-
führt werden, dass die Adjektive als Attribute aufzufassen sind, was sie auch vermutlich
sind. Zu beachten ist allerdings, dass in den westfälischen Inventaren die starken Langfor-
men im Maskulinum und Neutrum Singular erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
üblich werden (vgl. Denkler 2005, 81ff.) und sich damit ein typologischer Unterschied zwi-
schen pränominaler (flektierter) und postnominaler (unflektierter) Attribuierung manifes-
tiert. Im Zuge dieses Prozesses ist mit Hyperkorrektionen zu rechnen, also mit der Auswei-
tung des Gebrauchs der Flexionsendungen auf prädikative Adjektive.
266 Markus Denkler
Als Signale für die Kommentarfunktion der Adjektive dienen hier das
Relativwort so, das kanzleisprachige Lexem Nota Bene und natürlich das
Kopulaverb sein.8 Das Komma im vorletzten und die Konjunktion und im
letzten Beispiel sind Zeichen dafür, dass hier jeweils zwei eigenständige
Teile vorliegen und diese Einträge nicht als ‚normale‘ Sätze aufzufassen
sind. Dies hat damit zu tun, dass die Listeneinträge funktional und teilwei-
se auch syntaktisch (vgl. Denkler 2006, 59f.) in den gesamten Text einge-
bettet sind – sie dienen der Beschreibung des jeweiligen Nachlasses. Die
in den Listeneinträgen verzeichneten Gegenstände sind dabei nur in den
seltensten Fällen bereits vorerwähnt, daher sind solche Einträge doppelt
rhematisch. Ein Eintrag wie 6 hemde schlecht wäre also zu paraphrasieren:
'Hier befinden sich sechs Hemden. Diese sind in einem schlechten Zu-
stand.'
In diesem Beispiel wird durch das Adjektiv eine Eigenschaft ins Spiel
gebracht (schlecht), die in gewisser Weise eine ‚Einschränkung‘ der ersten
Aussage darstellt: Nicht sechs Hemden als solche sollen hier verbucht
werden, sondern deren Zustand ist ausdrücklich mit zu berücksichtigen.
Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Taxierung der Gegenstän-
de, die hierauf Rücksicht zu nehmen hat. Angesprochen ist damit die
Textfunktion, die Bereitstellung einer soliden und transparenten Grundla-
ge für die Festlegung einer Abgabe. Der ‚einschränkende‘ Charakter des
Kommentars wird auch oftmals durch die Partikel aber signalisiert, wie in
den beiden folgenden Beispielen:
Noch ein Jser(n) Kettel Vo(n) 2 ½ eimer(n) nates aber gantz nichts wurdigh
(Münster 1621)
1 Bette spane und eine für den Knecht Aber gar schlegt (Herford 1687)
Um diese Struktur besser beurteilen zu können, werden nun zwei Fragen
untersucht: 1. Wird in solchen Konstruktionen ein bestimmter Adjektiv-
typ bevorzugt verwendet? 2. In welchem Zeitraum tritt dieses Format
hauptsächlich auf?
Zur Beantwortung der ersten Frage werden exemplarisch vier Adjek-
tivgruppen untersucht. Dies sind erstens Stoffadjektive (relationale Adjek-
tive) wie blechern, kupfern oder steinern,9 zweitens Farbadjektive (qualifizie-
_____________
8 Solche Konstruktionen werden im vorliegenden Beitrag nicht behandelt. Der Zusammen-
hang des hier besprochenen Formats mit den Kopula-Konstruktionen liegt natürlich auf
der Hand.
9 Im Einzelnen: blechern, ehern, eisern, gläsern, holzen / hölzern, irden, kupfern, porzellanen, silbern,
steinen / steinern und zinnen / zinnern.
Adjektive in Inventarlisten 267
rende Adjektive) wie braun, fuchsig oder fahl,10 drittens qualifizierende Ad-
jektive der räumlichen Dimension wie breit, groß oder lang11 und viertens
Zustandsadjektive (qualifizierende Adjektive) wie unbrauchbar, gut oder
verschlissen.12 Zum Vergleich ist auch die attributive (pränominale) Verwen-
dung der Adjektive ausgezählt worden. Die beiden Zahlen lassen sich so
zueinander in Relation setzen. Das Ergebnis der Auszählung zeigt die
folgende Tabelle:
Anteil
Adjektivgruppe Beispiel Format 1 Format 2 Summe
Format 2
Stoffadjektive kupfern 2965 10 2975 0,3 %
Farbadjektive grün 1364 22 1386 1,6 %
Dimensionsadjektive groß 915 37 952 3,9 %
Zustandsadjektive schlecht 1288 324 1612 20,1 %
Tabelle 1: Auszählung nach Adjektivtypen13
_____________
10 Im Einzelnen: braun, fuchsig / gefuchst, grau, grün, rot, schwarz und weiß. Neben den Farbadjek-
tiven im engeren Sinne wurden in diese Gruppe aufgenommen: couleurt, fahl, hell, licht 'hell'
und gestreift.
11 Im Einzelnen: breit, groß, klein, kurz und lang. Nicht berücksichtigt sind hier Adjektive mit
Maßangaben (3. voet lanck) und Paarformeln (kort vnd lanck 'von verschiedener Länge').
12 Im Einzelnen: alt, (un)brauchbar, gut, löchrig / gelöchert / durchlöchert / zerlöchert, mittelmäßig, neu,
nichtswürdig, nutz(e) / nütz(e) / nutzend / nützig / abgenutzt, schlecht, verschlissen / geschlissen,
(un)tauglich / tüchtig und ziemlich 'angemessen, geeignet, ordentlich'.
13 Format 1: Nominalphrase mit attributivem (pränominalem) Adjektiv: 1 langer tisch;
Format 2: Topik-Kommentar-Struktur mit Adjektiv: j. kettell iseren
14 Von ihrer Semantik her sind evaluierende Adjektive für eine Determination des Typs
ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung prädestiniert (vgl. Weinrich 1993, 528).
268 Markus Denkler
4. Textsortenwandel
In dem Inventarausschnitt, der in Abschnitt 2 als Beispiel gegeben wird,
fällt auf, dass die Listeneinträge als vollständige Sätze organisiert sind: Jtem
nocht syntt dar xxxx honder. Die Nominalphrasen, mit denen die Gegenstän-
de bezeichnet werden, bilden das jeweilige Subjekt der Sätze und stehen
an letzter Stelle. Zusammen mit Jtem noch sorgt das in jedem Listeneintrag
des Textausschnitts verwendete Prädikat syntt dar für einen sehr hohen
Grad an Gleichartigkeit der Listeneinträge. Den Anteil der Inventare im
Korpus mit diesen Merkmalen zeigt das folgende Diagramm:
Adjektive in Inventarlisten 269
Diagramm 2: Profilierung der Textsorte Nachlassinventar in der Mitte des 16. Jahrhunderts
(Anteil der Inventare mit ausgewählten textlichen Merkmalen)
_____________
16 Fürstlich Bentheimisch-Steinfurtisches Archiv, Johanniterkommende Steinfurt, Akten 224,
fol. 163v.
Adjektive in Inventarlisten 271
Homoet u.a. (1982, 12ff.) führen vor Augen, wie in den verschiedenen
Aktennotizen des Stiftes Quernheim (Ostwestfalen) auf die Inventare
verwiesen wird, um den Betrag, der an das Stift zu entrichten ist, festzu-
setzen und schließlich die Zahlung zu quittieren.
Eine solche Analyse einzelner Textbausteine (vgl. Fritz 1993) mit vari-
ablenlinguistischen Methoden macht den Textsortenwandel greifbar. Die
Merkmale können sich zu prototypischen Mustern verdichten und somit
intertextuelle Konstanten und Variablen sichtbar machen (vgl. auch
Warnke 1996).
272 Markus Denkler
5. Zusammenfassung
In diesem Beitrag wurde ein Fall von pragmatisch indizierter Syntax vor-
gestellt: Die Gebrauchsfrequenz von Konstruktionen des Typs 6 hemde
schlecht (mit evaluierendem Adjektiv) nimmt in westfälischen Nachlassin-
ventaren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zu. Diese Zu-
nahme lässt sich als Merkmal eines umfassenden Textsortenwandels erklä-
ren.
Die neu entstandene Textsorte Nachlassinventar wird zunächst durch
den Einbezug von Elementen der traditionellen lateinischen Schriftpraxis
(primo-item-Liste) profiliert. Diese Profilierung wird noch während des 16.
Jahrhunderts aufgrund einer kulturellen Neuorientierung aufgegeben. So
kommt es wieder zu einer Nivellierung dieser Textsorte. Im 18. Jahrhun-
dert entwickelt sie sich dann zu einem rationalen Instrument der Abga-
benerhebung: Merkmale gewinnen an Bedeutung, die dazu geeignet sind,
das Inventar zu einem transparenten Dokument der Nachlasstaxierung
und damit zu einer verlässlichen Grundlage einer späteren Festsetzung der
_____________
17 Wie das vorgenannte Beispiel zeigt, wird in den Inventaren durch lexikalische Bausteine
wie setze ad, ad oder estemieret explizit eine Verbindung zwischen der Verbuchung der Ge-
genstände und der Taxierung angezeigt (vgl. Denkler 2006, 69).
274 Markus Denkler
Literatur
Behaghel, Otto (1930), „Die Stellung des attributiven Adjektivs im Deutschen“, in:
Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen,
57 / 1930, 161-173.
Denkler, Markus (2005), „Der Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen
zum Frühneuhochdeutschen und die historische Textlinguistik: Nachlassinventa-
re aus Westfalen“, in: Niederdeutsches Wort, 45 / 2005, 65-90.
Denkler, Markus (2006), Sterbfallinventare. Text- und variablenlinguistische Untersuchungen
zum Schreibsprachenwechsel in Westfalen (1500-1800), (Niederdeutsche Studien 52),
Köln, Weimar, Wien.
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Adjektive in Inventarlisten 275
_____________
1 Vgl. Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003).
2 Vgl. Desportes (Hrsg.) (2003).
3 Vgl. Eroms (1996, 329ff.).
4 Auf den grammatiktheoretischen Aspekt kann hier nicht eingegangen werden. Es sei hier
auf die Überblicksartikel zur generativ bestimmten Sicht von van Oirsouw (1993, 748ff.)
und zur dependenziellen Darstellungsweise von Lobin (2006, 973ff.) verwiesen.
280 Hans-Werner Eroms
dafür, dass Koordination ein höchst komplexer Vorgang ist, der sich zu-
dem aus unterschiedlichen Quellen speist.
In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass in der ge-
schichtlichen Darstellung der deutschen Syntax von Otto Behaghel die
Konnektoren nicht in ihrer historischen Schichtung erfasst werden. Be-
haghel behandelt sie in ihren hypo- und parataktischen Funktionen unter
dem Titel „Die Konjunktionen“ in alphabetischer Reihenfolge.5 Erklärlich
ist dieses Vorgehen nur, wenn man annimmt, dass die Funktionsunter-
schiede jeweils klar an die lexikalische Form gebunden sind und dass diese
sich im Laufe der Sprachgeschichte relativ gleichartig verändern.
Die Veränderungen, denen die Konnektoren unterworfen sind, betref-
fen meist aber das jeweilige Feld, in dem sie stehen, als Ganzes. Im Be-
reich der Subjunktoren ist dies seit Jahrzehnten für die kausalen Konnek-
toren ein Dauerthema in der Forschung, vor allem auch, weil sich hier
Übergänge zu parataktischen Konstruktionen zeigen.6
Aber auch die einzelnen Konnektoren weisen keinesfalls immer eine
konstante Bedeutung auf, weder synchron-funktional, noch im histori-
schen Prozess. Exemplarisch lässt sich dafür für das Althochdeutsche auf
den Kernbereich der Konnektoren verweisen. Die in der deutschen Ge-
genwartssprache unmarkiert geltende Konjunktion und etabliert sich erst
im Althochdeutschen und verdrängt ihre Konkurrenten, und der adversa-
tive Konnektor avur kommt gerade erst auf, er manifestiert sich im Rah-
men eines längeren Prozesses im Deutschen. Er bekommt im Laufe der
Sprachgeschichte mehrere Konkurrenten, vor allem allein und in der
jüngsten Zeit nur.7 Sprachgeschichtlich und typologisch ist es von großem
Interesse, dass diese beiden Konnektorentypen, der additive und der ad-
versative, funktionsverwandt, ja im Gebrauch teilweise austauschbar sind.
Begründet ist dies häufig dadurch, dass die Wörter gleiche Wurzeln haben
oder dass ähnliche Wurzeln konvergieren, wie an der Etymologie von und
gezeigt worden ist. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Der
tiefere Grund für solche Konvergenzen ist aber ein diskursiv-textuelles
Moment: Das „Anknüpfen weiterer Gesichtspunkte“ im Text und im
Diskurs bedient sich vornehmlich der Strategie der Absetzung vom bisher
Angeführten. Dies ist besonders deutlich in dialogischen Situationen. Bei
ihnen erfolgt die Anknüpfung sehr häufig dadurch, dass zu einer geäußer-
ten Ansicht des Gesprächspartners eine dazu konträre oder zumindest in
andere Bereiche reichende Ansicht vorgetragen wird. Dafür sind merkli-
che Signale, vor allem an der Satzspitze nötig, um die Aufmerksamkeit des
_____________
5 Behaghel (1928, 48ff.).
6 Vgl. zusammenfassend: Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003, 369ff., 392ff., 403ff.).
7 Vgl. Pérennec (1989, 451ff.) und Eroms (1994, 285ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 281
Zu beginnen ist mit den Vorgängern der nhd. Konjunktion und: enti und
inti. Verbreitung und Etymologie von ahd. enti und inti sind mehrfach
gründlicher untersucht worden. Die Monographie von Edward H. Sehrt9
und die Abhandlung von Rosemarie Lühr10 haben die Vorgeschichte des
nhd. Wortes und geklärt. Dieses geht auf die ahd. Form inti zurück, wäh-
rend sich germ. anti direkt z.B. in engl. and fortsetzt. Strittig war und ist
aber das genaue Verhältnis der beiden Formen enti und inti zueinander.
Während R. Lühr in Bezug auf enti und inti für eine gemeinsame Wurzel
plädiert und die Formenunterschiedlichkeit durch vorurgermanische Ent-
wicklungen erklärt, geht Búa11 direkter von zwei vorgermanischen Varian-
ten aus. Wie sie sich im Indogermanischen zueinander verhalten, ist für
unsere Zwecke nicht erheblich. Es ist aber davon auszugehen, dass die
ursprüngliche Bedeutung von germ. *anþi 'demgegenüber, dagegen' gewe-
sen ist.12 Als etymologische Anknüpfungspunkte kann hier auf Wörter wie
lat. anti oder deutsch Antwort (im Sinne etwa von 'das Gegen-Wort, das
Wider-Wort') verwiesen werden. Die „Entgegensetzung“, die mit ant- zum
Ausdruck gebracht wird, ist jedenfalls deutlich. Die genaue Herleitung der
heute im Deutschen ausschließlich herrschenden Form und kann hier of-
fen bleiben. Sie ist jedoch zweifellos aus inti, wahrscheinlich über eine
_____________
8 Vgl. für die deutsche Gegenwartssprache Christl (2004).
9 Vgl. Sehrt (1916).
10 Vgl. Lühr (1979, 117ff.).
11 Vgl. Búa (2005, 111ff.).
12 Vgl. ebd., 118.
282 Hans-Werner Eroms
enti / inti und ioh. Ihre regionale Verteilung und ihre Abgrenzung zu ande-
ren Konnektoren wird bei Markey18 genauer analysiert.
Aufschlussreich ist jedoch, dass sich weder eine scharfe Abgrenzung
in regionaler Hinsicht findet, noch dass in den einzelnen Denkmälern nur
jeweils ein Konnektor vorkommt. Der Normalfall ist eher der, dass beide
Konnektoren begegnen. Daher liegt es nahe, dass immer wieder nach
Bedeutungsunterschieden oder sonstigen funktional zu verstehenden Un-
terscheidungen gesucht worden ist, wie es das obige Zitat von Otto Be-
haghel schon zeigt. Behaghel plädiert allerdings eher für funktionale Iden-
tität und nur für ein zeitliches Nacheinander der beiden Ausdrücke. Bei
Piper heißt es aber zu joh:
Die Erscheinungen sind hier ähnlich wie bei inti, nur verbindet letzteres mehr das
durch seinen Inhalt auf einander Angewiesene und unter sich Zusammenhängen-
de, während ioh die zufällige äussere Verbindung ausdrückt.19
Valentin formuliert für Otfrid die Abgrenzung folgendermaßen:
Otfrids Sprache gehört prinzipiell dem ioh-Bereich, nicht dem inti-Bereich an. joh
ist der normale kopulative Konnektor, der besagt, dass zwei oder mehr Proposi-
tionen oder Äußerungen zusammengenommen werden sollen, das heißt, dass sie
zusammen eine höhere argumentative Einheit bilden.20
Die Suche nach Unterscheidungsmöglichkeiten ist nur zu berechtigt, wenn
die Ergebnisse auch allenfalls zu subtilen Unterschieden führen. Denn das
Vorkommen mehrerer Konnektoren für die Bezeichnung der einfachen
Anknüpfung im Althochdeutschen ist sprachvergleichend gesehen kein
Einzelfall. Das bekannteste Beispiel ist das Latein, das mit et, dem enkliti-
schen -que und weiteren Konnektoren, vor allem ac und atque eine ähnliche
Situation aufweist. Während die Tendenz im Deutschen seit dem Mittel-
hochdeutschen dahin geht, das Vorkommen mehrerer kopulativer Kon-
nektoren zurückzunehmen, ist das Althochdeutsche eben durch eine ganz
andere Situation gekennzeichnet: durch das Nebeneinanderbestehen meh-
rerer Konnektoren, wenn sich auch schon deutlich abzeichnet, wohin die
Entwicklung gehen wird. Im Heliand ist das Nebeneinandervorkommen
mehrerer Konnektoren noch ausgeprägter als im Althochdeutschen. Ne-
ben endi als dem am häufigsten belegten Konnektor kommt noch eine
Reihe weiterer Ausdrücke vor, die zur Signalisierung des Anschlusses
dienen: ia, ge / gi, gie / gia, iac, gec und giac. Diese Wörter sind sehr unter-
schiedlich häufig belegt. So kommt ia 16-mal vor, gec ist nur einmal be-
legt.21 Die Bedeutungsbestimmung ist nicht ganz einfach. In den meisten
_____________
18 Vgl. Markey (1987, 380ff.).
19 Piper (1884, 225).
20 Valentin (2003, 185).
21 Vgl. Robin (2003, 140ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 285
Fällen scheinen die Konnektoren austauschbar zu sein. Doch ist der jewei-
lige semantische Weg unterschiedlich. So vermutet Robin: „Der Konjunk-
tor ia funktioniert wie ein Korrelator, das heißt, er weist auf eine ältere
Stufe des Konnektierens hin.“22
Auch im Althochdeutschen lassen sich Schichtungen erkennen. Auf
sie wird im Folgenden noch eingegangen. Allerdings ist es nicht einfach,
Schichtungen in ihrer historischen Dimension auszumachen. Daher sollen
hauptsächlich funktionale Unterschiedlichkeiten, so weit sie überhaupt zu
erkennen sind, im Mittelpunkt stehen.
Koordinationen sind mit die häufigsten syntaktischen Operationen
und die Sprachen tendieren dahin, ihre morphologischen und syntakti-
schen Markierungen möglichst einfach zu bewerkstelligen. Dass die dabei
ablaufenden kognitiven Prozesse alles andere als einfach sind, zeigt für die
Syntax die kaum zu überblickende Zahl einschlägiger Arbeiten, wofür hier
nur auf den Überblicksartikel von Lobin für die Arbeiten des dependenz-
grammatischen Ansatzes hingewiesen werden soll.23 In der deutschen
Gegenwartssprache gibt es für die einfache Koordination in allen ihren
Ausprägungen nur den Konnektor und. Diese auf den ersten Blick redu-
zierte Sachlage wird allerdings durch eine Reihe von Maßnahmen kom-
pensiert. So lassen sich über das Konnektiv auch, wie verschiedentlich
gezeigt worden ist,24 konnektive Funktionen signalisieren, die dann weitere
Bedeutungselemente transportieren, worauf hier nicht weiter eingegangen
werden soll. Das Althochdeutsche ist dagegen typologisch eher als Nor-
malfall anzusehen, indem immerhin zwei Konnektoren zur Verfügung
stehen. Auf deren teilweise sehr unterschiedliche Verteilung in den größe-
ren Denkmälern wird weiter unten eingegangen. Schon ein Blick auf die
kleineren Denkmäler kann zeigen, dass inti und ioh nebeneinander vor-
kommen. So finden sich etwa im Ludwigslied und sogar in den Würzburger
Markbeschreibungen beide Ausdrücke:
(3) Thō nam her skild indi sper. (Braune 1994, 137) [Das Ludwigs-
lied, 42]
(4) Ioh alle saman sungun ‚Kyrrieleison‘. (Braune 1994, 137) [Das
Ludwigslied, 47]
(5) Sô sagant daz sô sî Uuirziburgo marcha unte Heitingesveldôno
unte quedent daz in dero marchu sî ieguuedar, ióh chirihsahha
sancti Kiliânes ióh frôno ióh frîero Franchôno erbi. (Braune
1994, 7f.) [Würzburger Markbeschreibungen]
_____________
22 Ebd., 141.
23 Vgl. Lobin (2006, 973ff.).
24 Zuletzt Duplâtre (2006, 81f.).
286 Hans-Werner Eroms
Ióh ist hier allerdings schon formelhaft festgelegt für die Ausdrucksweise
'sowohl … als auch'. So begegnet das Wort auch im Tatian, worauf noch
eingegangen wird.
Eine zweite Auffälligkeit des Althochdeutschen ist es, dass die mit der
Koordination verbundenen weiteren Funktionen aktiviert werden können.
Auch dies ist keine Besonderheit des Althochdeutschen an sich, denn das
ist wiederum universal zu erwarten. Wie wir aber bereits im Eingangsbei-
spiel aus dem Wessobrunner Gebet gesehen haben, ist das für enti offenbar
damit zu erklären, dass die beiden Wurzeln des Wortes durchschlagen. So
finden sich in vielen Denkmälern Belege für die adversative Funktion von
enti / inti. Im Ludwigslied heißt es etwa:
(6) Ther ther thanne thiob uuas, Ind er thanana ginas,
Nam sīna vaston: Sīdh uuarth her guot man.
Sum uuas lugināri, Sum skāchāri,
Sum fol lōses, Ind er gibuozta sih thes. (Braune 1994, 137) [Das
Ludwigslied 15-18]
Aber auch er büßte das ab.
_____________
25 Vgl. Lloyd / Springer / Lühr (1988, Sp. 401f.).
26 Vgl. Karg-Gasterstädt / Frings (1973, Sp. 700ff.). Die konjunktionalen Belege werden in
zwei Großgruppen gegliedert: „Gegenüberstellung, adversative Weiterführung“ (Sp. 715-
740) und „kopulative Weiterführung“ (Sp. 740-749). Auch hier wird deutlich, dass adversa-
tive und kopulative (additive) Anknüpfung bei einer Konjunktion, hier bei einer dominant
adversativen, nebeneinander bestehen.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 287
Die Murbacher Hymnen sind deswegen für unseren Zweck sehr gut geeignet,
weil sie sich eng an den lateinischen Ausgangstext halten und erkennen
lassen, wie der Übersetzer versucht, die Unterschiedlichkeiten des Lateins
in seiner Sprache wiederzugeben. In diesem Denkmal finden sich inti, ioh
und ouh, dazu avvur, und diese Ausdrücke sind in ihrer Verwendung aus-
schließlich danach verteilt, welches lateinische Wort in der Vorlage steht.
So entspricht ausnahmslos inti lat. et, ioh -que und ac, ouh quoque. Dafür
einige Beispiele:
(7) lux lucis et fons luminis, leoht leohtes inti prun[n]o leohtes
(Murb. Hymn. III, 1,3)
(8) Et nos psallamus spiritu inti uuir singem atume (Murb.
Hymn. XIII, 3,1)
(9) Uerusque sol inlabere, uuarhaft ioh sunna in slifanne
(Murb. Hymn. III, 2,1)
(10) Christe, qui lux es et die christ du der leoht pist inti take
(Murb. Hymn. XVI, 1,1)
(11) omne cęlum atque terra eocalihc himil inti ioh herda (Murb.
Hymn. VII, 8,3)
(12) noctem discernis ac diem, naht untarsceidis ioh tak (Murb.
Hymn. XV, 1,2)
Während also et immer mit inti wiedergegeben wird und -que sowie ac mit
ioh, wird atque durch die Kombination der beiden althochdeutschen Kon-
nektoren ausgedrückt: inti ioh. Diese Entscheidung des Übersetzers mag
auf den ersten Blick etwas mechanisch anmuten, doch lässt sie erkennen,
dass die beiden Ausdrücke offensichtlich als mit leicht unterschiedlicher
Bedeutung anzusetzen sind. Dies lässt sich aber sicher nicht generalisieren.
Stellen wie die folgende legen nahe, dass auch im Lateinischen im Allge-
meinen kein Unterschied festzustellen ist:
(13) Aeternę rerum conditor, euuigo rachono felahanto
noctem diemque qui regis naht tac ioh ther rihtis
et temporum dans tempora, inti ziteo kepanti ziti (Murb. Hymn.
XXV, 1,1-3)
Dass der althochdeutsche Übersetzer nicht völlig mechanisch vorgegan-
gen ist, ist daraus zu erkennen, dass er an einer Stelle von der für -que obli-
gatorischen Nachstellung abweicht und die deutsche Wortstellung wählt:
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 289
Die Texte aus der Monseer Gruppe sind aus einem anderen Grund auf-
schlussreich. Sie halten sich zwar auch an die Vorlage, lassen aber eine viel
größere Unabhängigkeit erkennen. Dies gilt bereits für die Bruchstücke
der Übersetzung des Matthäusevangeliums, die, wie die anderen Stücke
des Korpus, selbst wieder Umsetzungen einer rheinfränkischen Vorlage
sind.
Als Fazit für den Monseer Matthäus lässt sich für das Verhältnis von enti und
ioh festhalten: Enti ist die gewöhnliche Konjunktion zum Ausdruck kon-
nektiver Verhältnisse. Die Verwendungsunterschiede zu ioh sind nicht sehr
auffällig. Enti scheint aber in verbenthaltenden Strukturen zu dominieren,
während ioh bei einfachen, vor allem in nominalen Konnexionen zu fin-
den ist. Als satzverbindender Konnektor, also in der Funktion, die wir
eingangs als besonders wichtig für die Textbildung benannt haben und in
der sich vor allem eine zu vermutende adversative Bedeutung bemerkbar
macht, ist enti im Monseer Matthäus mehrfach zu belegen. Da das Wort in
dieser Funktion das lateinische satzeinleitende et wiedergibt, ist nicht mit
letzter Sicherheit zu sagen, in wieweit sich hier eigenständige Möglichkei-
ten zeigen oder sich nur die Übersetzung niederschlägt.
Als adversative Konjunktionen kommen im Monseer Matthäus auh und
auur vor. Auh ist 52-mal belegt, auur nur 31-mal. Die oben angeführte
Textstelle (16) wird fortgesetzt mit
(24) Pharisaera auh daz ga horrente quua tun dese ni uz tribit tiubila
nibu durah beelze bub tiubilo furostun (Monseer Fragm. V, 19-
21)
Die Gegensatzbedeutung ist in vielen Belegen zu erkennen, so etwa in der
der angeführten Textstelle unmittelbar folgenden:
(25) Iħs auh uuissa iro ga dancha Quuad im […] (Monseer Fragm.
V, 22)
Besonders bei Verben des Sagens ist dies bemerkbar:
(26) Ih sagem auh iu daz allero uuorto un bi dar bero diu man
sprehhant redea sculun dhes argeban in tuom tage […] (Mon-
seer Fragm. VI, 21-23)
Auh hat aber auch die konnektive Bedeutung 'auch', so in den folgenden
Stellen:
(27) Auh ist galihsam himilo rihhe demo suohhenti ist guote
mari greoza fun tan auh ein tiur lich mari greoz genc
enti for chaufta al daz aer hapta enti ga chauf ta den
Auh ist galiih himilo rihhi seginun […] (Monseer Fragm. X, 12-
16)
Dies ist besonders deutlich an der folgenden Stelle:
(28) enti quatun petre Zauuare du auh dero bist *** auh diin
sprahha dih for meldet (Monseer Fragm. XXIII, 14f.)
292 Hans-Werner Eroms
die auch sonst im Althochdeutschen begegnen. Ioh ist aber auch noch
vorhanden, wenn sein Vorkommen auch auf weniger als ein Zehntel der
Belege von enti geschrumpft ist. Bemerkenswert ist, dass enti vielfach die
„biblische“,34 durch das Latein vermittelte Anschlussfunktion von Sätzen,
die mit dem Wort beginnen, aufweist. Eine solche Anknüpfungsweise
lässt sich bis zu einem gewissen Grade als adversativ auffassen und ist
sicher ein Grund dafür, dass das in späterer Zeit explizit den Gegensatz
markierende auuar noch nicht in dieser Funktion benötigt wurde.
_____________
35 Endi ioh dhazs ist nu unzuuiflo so leohtsamo zi firstandanne, dhaz dhiz ist chiquhedan in
unseres druhtines nemin (Der althochdeutsche Isidor 1893, 8).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 295
Verglichen worden ist das Textstück Hench VI, VII und X (Tat. 62,8-12;
57,1-8; 76,5-77,15). Dabei sind, wie es bei Koordinationen fast immer der
Fall ist, die meisten Belege unspektakulär. Es dominieren bei enti / inti die
einfachen verbalen Koordinationen einschließlich der Vorkommen des
Wortes am Satzbeginn mit 16 Fällen, gefolgt von einfachen nominalen
(substantivischen und adjektivischen) Koordinationen (11 Fälle).
(43) so selb auh so io nas uuas in uuales uuambu dri ta ga enti
drio naht (Monseer Fragm. VII, 1f.)
(44) Soso uúas Ionas in thes uuales uuámbu thrí taga inti thriio naht
(Tat. 57,3)
tribus diebus et tribus noctibus
(45) Danne gengit enti ga halot sibuni andre gheista mit imo uuir
sirun danne aer enti in gan gante artont dar enti uuer dant
dea aftrun des mannes argorun dem erirom. (Monseer Fragm.
VII, 15-18)
(46) Thanne ferit inti nimit sibun geista andere mit imo uuirsiron
thanne her si, inti ingangante artont thar, inti sint thanne thie
iungistun thes mannes uuirsirun then erirun. (Tat. 57,8)
296 Hans-Werner Eroms
(50) Guot man fona guotemo horte au git guot enti ubil man
fona ubilemo horte ubil fram bringit (Monseer Fragm. VI,
19f.)
(51) Guot man fon guotemo tresouue bringit guotu, inti ubil man fon
ubilemo tresouue bringit ubilu. (Tat. 62,11)
Bonus homo de bono thesauro profert bona, et malus homo de
malo thesauro profert mala.
Joh ist im Tatian insgesamt nur dreimal belegt. Zweimal gibt es lat. etiam
wieder (67,3 und 145,17). Der dritte Beleg enthält die Zwillingsformel
joh…joh (170,6), die lat. et…et wiedergibt. Hier hat sich also in einer Nische
die additive Bedeutung erhalten:
(52) Nu gisahun inti hazzotun ioh mih ioh minan fater. (Tat. 170,6)
Nunc autem et viderunt et oderunt et me et patrem meum.
Aus einem anderen Textstück lässt sich entnehmen, dass auch bei den
Konnektiven auh und abur Unterschiede zwischen dem Monseer Matthäus
und dem Tatian bestehen. So enthält der Monseer Matthäus in Abschnitt X,
16 auh, was an dieser Stelle lat. iterum wiedergibt. Tatian hat abur, und das
Wort lässt seine Bedeutung 'wiederum, weiterhin' erkennen:
(53) Auh ist galiih himilo rihhi seginun in seu ga sez zi teru enti
allero fisc chunno ga huuelihhes samnontiu. (Monseer Fragm.
X, 16.f.)
(54) Abur gilih ist rihhi himilo seginu giuuorphaneru in seo inti fon
allemo cunne fisgo gisamanontero. (Tat. 77,3)
Iterum simile est regnum cęlorum sagenę missę in mari et ex
omni genere piscium congreganti.
Ähnlich ist der Beleg (26) zu beurteilen (als Beleg (55) wiederholt). Hier
gibt im Monseer Matthäus auh lat. autem wieder, im Tatian findet sich keine
Entsprechung:
(55) Ih sagem auh iu daz allero uuorto un bi dar bero diu man
sprehhant redea sculun dhes argeban in tuom tage (Monseer
Fragm. VI, 21-23)
(56) Ih quidu iu, thaz iogiuuelih uuort unnuzzi, thaz man sprehhenti
sint, geltent reda fon themo in tuomes tage. (Tat. 62,12)
Dico autem vobis, quoniam omne verbum otiosum quod locuti
fuerint homines, reddent rationem de eo in die iudicii.
298 Hans-Werner Eroms
_____________
40 Auszählung nach Shimbo (1990).
41 Vgl. Valentin (2003,185).
42 Ebd., 186.
43 Ebd., 186.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 299
Nur hier ist die adversative konnektive Funktion voll zu erkennen. Wenn
sie auch bei Otfrid extrem selten ist, so ist sie immerhin damit schon im
Althochdeutschen präsent.
Was ouh betrifft, so sei hier auf eine weitere Bemerkung Valentins hin-
gewiesen. Er sagt: „ouh kann mit ioh kombiniert auftreten, jedoch anschei-
nend nicht mit inti, was die Vermutung verstärkt, ioh sei in dieser Sprache
der echte reine Koordinator.“45
3. Fazit
Die zuletzt angeführte Bemerkung Paul Valentins wirft noch einmal ein
Licht auf die grundsätzlichen Verhältnisse im Althochdeutschen. Anders
als im Neuhochdeutschen ist die Situation im Althochdeutschen dadurch
gekennzeichnet, dass mehrere Ausdrücke für die Signalisierung der „rei-
nen“ Koordination zur Verfügung stehen. Dies ist, sprachvergleichend
gesehen, eher der Normalfall, das Neuhochdeutsche mit seinem einzigen
Konnektor, und, ist der markierte Fall. Aber wir haben im Althochdeut-
schen keineswegs eine gleichmäßig für alle Regionen geltende Distribution
vor uns, sondern jedes Denkmal weist mehr oder weniger unterschiedliche
Verhältnisse auf. Vergleichbar ist jedoch die grundsätzliche Situation, dass
fast immer mehrere Konnektoren vorliegen, aus denen gewählt werden
kann, auch wenn einer dabei dominiert. Ich habe versucht, die in den
bisherigen einschlägigen Arbeiten festgestellten Funktionsunterschiede
aufzunehmen und die Texte selbst einer Prüfung zu unterziehen, die vor
allem auf die Deutung der „reinen“ weiterführenden Konnexion in Ab-
grenzung zu adversativen Momenten nachging. Es hat sich gezeigt, dass
der für die spätere Zeit im Deutschen hauptsächliche adversative Konnek-
tor, auur, der bekanntlich aus dem Bezeichnungsfeld der „wiederholenden
Anknüpfung“ stammt, im frühen Althochdeutschen jedenfalls noch nicht
dominiert. Dies kann daran liegen, dass vor allem enti / inti diese Funktion
noch übernehmen kann. Wenn es richtig ist, dass enti / inti zwei etymolo-
gisch getrennte Bereiche in sich vereinigt, die sich verknappt mit 'und' und
'aber' benennen lassen, ist dieses Faktum erklärlich.
Darüber hinaus lässt das Althochdeutsche mit seinem viel offeneren,
noch nicht auf standardmäßige Gebräuche festgelegten Zustand die gene-
rellen Leistungen der Konnektoren klarer erkennen. Diese sind, zumindest
im Bereich der koordinativen Verknüpfung, dadurch gekennzeichnet, dass
sie einen relativ weiten Spielraum in semantischer Hinsicht zulassen, wäh-
rend sich die Beschränkung in syntaktischer Hinsicht aus allgemeinen
_____________
45 Valentin (2003, 187).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 301
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Lloyd, Albert L. / Springer, Otto / Lühr, Rosemarie (1988), Etymologisches Wörterbuch
des Althochdeutschen, Band 1, Göttingen u.a.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 303
1. Einleitung
In den letzten Jahren haben einige Studien die Aufmerksamkeit auf die
Konnektoren in den älteren Sprachstufen gerichtet.1 Die Schwierigkeiten,
die es mit sich bringt, diese Kategorie von Wörtern zu beschreiben, in der
verschiedene Wortarten vertreten sind, die sich nur aufgrund ihrer ver-
knüpfenden Funktion im Text zusammenstellen lassen, werden beim älte-
ren Deutsch wegen der spezifischen Textsorten sowie der Überlieferungs-
lage und der noch unfesten Syntax noch deutlicher. In der Frage, welche
Einheiten der Gruppe der Konnektoren angehören, gehen die Meinungen
der Autoren auseinander. Während z.B. Paul Valentin2 die Subjunktionen
aus der Gruppe der Konnektoren ausschließt (da nach seiner Definition
Konnektoren zur Parataxe und nicht zur Hypotaxe gehören), weisen im
Handbuch der Deutschen Konnektoren sowohl koordinierende als auch subor-
dinierende Konjunktionen die dort aufgeführten Konnektoren-Merkmale
auf.3
Bei der Untersuchung des umfangreichen Materials der ahd. Konjunk-
tionen inti und joh fällt eine Gruppe von Belegen auf, die syntaktisch stark
von der Mehrheit der Belege abweicht. Für diese Gruppe trifft die Inter-
_____________
∗ Die in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse wurden aus dem Kapitel Konnexion auf
Textebene meiner Dissertation Die Konnektoren inti und joh im Althochdeutschen. Syntaktische und
semantische Aspekte. entnommen. Die Dissertation untersucht das Belegmaterial der Kon-
nektoren inti und joh aus dem Archiv des Althochdeutschen Wörterbuchs der Sächsischen
Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
1 Vgl. u.a. Desportes (2003), Betten (1987, Bd. I, 395ff.) sowie Desportes (1992, 295ff.).
2 Vgl. Valentin (2003, 179ff.).
3 Vgl. Pasch u.a. (2003, 5). Diese Merkmale sind: Ein Konnektor ist nicht flektierbar, vergibt
keine Kasusmerkmale an seine syntaktische Umgebung, seine Bedeutung ist eine zweistelli-
ge Relation, die Relate der Bedeutung des Konnektors sind Sachverhalte und müssen durch
Sätze bezeichnet werden können.
306 Natalia Montoto Ballesteros
_____________
4 So u.a. bei Greule (1997, 287ff.): „Konnexion, ein Begriff, der mit den Termini Konnektor
bzw. Konnektiv oder Konjunktion korrespondiert und das Phänomen bezeichnen soll,
dass zwei Sätze eines Textes durch einen Konnektor aufeinander bezogen sind“.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 307
stehen, daß zwischen Text- und Satzgrammatik / Syntax eine klare Grenze gezo-
gen werden kann. Dem ist jedoch nicht so. Syntaktische Probleme, die sich ohne
Bezug auf den Text nicht lösen lassen […], bilden eine breite Zone, in der Text-
grammatik und Syntax ineinander übergehen.5
Die genaue Trennung der Ebenen der Satz- und der Textsyntax wird
durch die Gegebenheiten der ahd. Überlieferung noch erschwert. Mittel,
die helfen könnten, die Grenze zwischen Satz- und Textsyntax zu ziehen,
wie eine feste Interpunktion und Orthographie, können für die ahd. Texte
nicht berücksichtigt werden, da sie nicht original sind, sondern auf der
Interpretation moderner Ausgaben beruhen. Außerdem spielen Faktoren
wie der Zustand der überlieferten Handschriften, ob es sich um eine
Übersetzung handelt und wie sehr der ahd. Text von seiner lateinischen
Vorlage abhängt, eine große Rolle. Im Folgenden wird auf die Funktion
von inti / joh als textstrukturierende Einheiten eingegangen und es werden
einige Beispiele für Konnexion auf Textebene durch diese Konnektoren
präsentiert. Dies geschieht u.a. bei: Kapitelüberschriften, beim so genann-
ten ‚biblischen‘ und, bei Parenthesen, bei der Redeeinleitung sowie in be-
sonderer Weise bei den Texten Notkers.
2.1. Kapitelüberschriften
An einigen Stellen ist die Grenze zwischen der Koordination von Sätzen
und der Konnexion auf Textebene auch im ahd. Text aufgrund der äuße-
ren Zeichen deutlich, wie z.B. in dem folgenden Beleg aus dem ahd. Isi-
dor:6
(1) Endi bihuuiu man in Iudases chunnes fleische Christes bidendi
uuas
Et quia de tribu Iuda secundum carnem Christus expectandus esset
I 34,8
Es handelt sich um die Überschrift von Kapitel VIII. Sie steht in der Edi-
tion wie in der Handschrift gesondert vom restlichen Text und ist außer-
dem in Kapitälchen geschrieben.7 Hier ist zwar die anknüpfende und wei-
terführende Funktion von inti erkennbar, eine Koordination zur Bildung
einer Satzreihe ist jedoch nicht möglich. Die Überschrift wird in Verbin-
dung zum gesamten vorhergehenden Diskurs gebracht und dieser so mit
neuen Argumenten fortgesetzt.
_____________
5 Greule (1982, 94).
6 Die ahd. Belege werden nach den Zitierausgaben und den Richtlinien des Althochdeutschen
Wörterbuchs zitiert.
7 Vgl. das Faksimile der Seite in der Edition, 35.
308 Natalia Montoto Ballesteros
Viele Texte der ahd. Überlieferung haben die Heilige Schrift entweder als
direkte Quelle oder als wichtigen Bestandteil in Form von Zitaten aufge-
nommen. Wie auch in späteren Übersetzungen (v.a. in den Übersetzungen
von M. Luther) wurde schon in ahd. Zeit angestrebt, den Bibelstil auch in
der Zielsprache beizubehalten. Als Stilmerkmale der Bibel nennt Birgit
Stolt neben zweigliedrigen Verbalausdrücken, der Aufforderung Siehe und
der Einleitungsformel Es begab sich auch die parataktische Anreihung mit
und.8 Dies bildet für sie kein Element der Umgangssprache, sondern ist ein
Stilistikum, das bewusst bei der Übersetzung vom Hebräischen ins Grie-
chische und später ins Lateinische übernommen und so zu einem Merk-
mal sakraler Sprache wurde. In den meisten Fällen halten sich die Über-
setzer der ahd. Denkmäler bei der Wiedergabe dieser parataktischen
Anreihung an den lateinischen Text und setzen inti für et.
(2) Inti umbigieng ther heilant alla Galileam, lerenti in iro samanun-
gun
Et circuibat Ihesus totam Galileam, docens in sinagogis eorum T 22,1
(Kapitelanfang)
(3) quad imo: effeta, thaz ist intuo. Inti tho sliumo giofnotun sih si-
nu orun
ait illi: effeta, quod est adaperire. Et statim apertae sunt aures eius
T 86,1
Beispiele für diese Art der Konnexion sind vor allem in der ahd. Tatian-
übersetzung zu finden, da dort der biblische Text (in Form einer Evange-
lienharmonie) fortlaufend und nicht nur in Auszügen übersetzt wird. Je-
doch wird dort nicht wie bei einer Interlinearversion mechanisch inti für et
übersetzt, sondern es wird, wie Anne Betten nachweist, an jeder Stelle neu
entschieden; so werden z.T. andere ahd. Konnektoren eingesetzt, wie bei-
spielsweise das von Betten untersuchte tho.9 Nicht selten stehen an sol-
chen Stellen (wie oben im Beleg T 86,1) Verbindungen von inti mit ande-
ren Konnektoren als Einleitung (z.B. inti tho für lat. et).
Das Ziel dieser Konnexion ist die Weiterführung der in dem Text
erzählten Geschichte, die thematische Anknüpfung, wobei die Ereignisse
narrativ verkettet werden. Es wird eine Linearität des Erzählten angestrebt
und durch solche Elemente erreicht.
_____________
8 Vgl. Stolt (1983, Bd. 1, 179ff.).
9 Vgl. Betten (1987, 398). Lateinisch et wird nach Betten im ahd. Tatian in 86 Fällen mit tho
wiedergegeben, das nach inti der meist eingesetzte Konnektor in diesem Denkmal ist. Bet-
ten zählt weitere 24 Stellen, an denen et ohne jegliche Entsprechung bleibt.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 309
Einen anderen Fall bilden Belege mit inti / joh, in denen Passagen aus
der Bibel als Zitate in einen anderen Text eingefügt werden. Es handelt
sich um Stellen wie:
(4) so dhar auh after ist chiquhedan: ‚Endi got chiscuof mannan
anachiliihhan endi chiliihhan gote chifrumida dhen‘
sic enim subiungitur: ‚Et creavit deus hominem ad imaginem et similitudi-
nem dei creavit illum‘ I 7,17
(5) fona dhemu selbin folghet hear auh after: ‚Endi chirestit oba imu
gheist druhtines
de quo etiam sequitur: ‚Et requiescit super eum spiritus domini I 40,4
Es ist auszuschließen, dass inti in diesen Beispielen zur Koordination von
Sätzen eingesetzt wurde. Obwohl in dem lateinischen Vulgatatext die
durch et eingeleiteten Sätze z.T. Teilsätze in einer Koordination sind, wur-
den diese bei der Übersetzung ins Ahd. aus ihrem Kontext herausgerissen,
so dass sich ihre syntaktische Analyse auch verändern muss.10 Hier wurde
wieder der Originaltext penibel übersetzt, einerseits, um den Bibelstil bei-
zubehalten, andererseits aber auch, um die Grenze zwischen argumentati-
vem Text und Zitat, d.h. zwischen Text und Subtext, klar zu ziehen. Inti
dient daher an solchen Stellen als textstrukturierendes Element und mar-
kiert den Anfang der wie ein Fremdkörper wirkenden Zitate. Diese Zitate
werden im Diskurs als Basis für eine Weiterführung und Bestätigung der
Argumentation eingefügt, sind jedoch selbst nicht ein Teil davon.
2.3. Parenthesen
(6) tho gab er imo antwurti, thoh wirdig er es ni wurti (joh det er
thaz hiar ofto), filu mezhafto O 2,4,92
(7) thaz er si uns ginathic, thoh ih ni si es wirthic; hohi er uns thes
himiles (joh muazin frewen unsih thes!) insperre Oh 159
Die Einleitung mit joh (es finden sich im Evangelienbuch Otfrids keine
inti-Belege für diese Art der Textkonnexion) wäre bei diesen Parenthesen
nicht nötig, verleiht aber den eingeschalteten Ausdrücken Nachdruck. Joh
wirkt emphatisierend und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die
Aussage in der Parenthese. Gleichzeitig wird ein inhaltlicher Zusammen-
hang zu dem umgebenden Kontext hergestellt (dies geschieht z. T. durch
den Einsatz weiterer Konnektoren; in den oben genannten Belegen sind
es die Pronomina thaz und thes), jedoch ohne dass daraus syntaktisch eine
Satzkoordination entsteht. Diese syntaktische Unabhängigkeit vom umge-
benden Satz ist auch bei anderen Einschubsätzen deutlich zu erkennen,
die, obwohl sie von Subjunktionen eingeleitet werden, nicht den Charakter
von Nebensätzen besitzen.12 Einige Parenthesen können als ein erklären-
der Kommentar zum umgebenden Diskurs und somit als eine Art ‚Fußno-
te‘ verstanden werden, andere wiederum zeigen eine Möglichkeit des Au-
tors sich in den Text einzuschalten, dabei sich direkt an den Leser zu
wenden und ihn in den Text einzubeziehen.
Einige Denkmäler der ahd. Überlieferung verwenden als Mittel der Narra-
tion oder Argumentation die direkte Rede. Diese kann in Form von zitier-
ten Aussagen einer Person (selbst Gottes) erscheinen oder sogar die Dia-
logform annehmen, indem sich zwei Sprecher in der Argumentation
abwechseln. Die Rede-Passagen bilden eine Art Text-im-Text und wären
ohne Einleitung nicht aus dem laufenden Text hervorgehoben. Auch an
solchen Stellen spricht Greule von einem „Grenzbereich zwischen Satz-
und Textgrammatik“.13 An diesen Stellen erscheinen neben dem Konnek-
tor andere Elemente, die die eigentliche Redeeinleitung darstellen, wie die
Verben des Sprechens (diese sind dann z.T. in die Rede selbst eingescho-
ben, wie oft bei quedan), während inti / joh der Grenzziehung zwischen
beiden Textebenen dient.
(8) fona imu quhad dher psalmscof: ‚Endi in imu uuerdhant chiuui-
hit alliu ærdhchunni, allo dheodun lobont inan.‘ Endi umbi dhen
_____________
12 Vgl. dazu die Untersuchungen über die so-Einschubsätze in Wunder (1965).
13 Greule (1982, 96).
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 311
sen.14 Darin erkennt man beide Hauptziele Notkers: Zum einen die Über-
setzung lateinischer Texte ins Deutsche und zum anderen die Kommen-
tierung bestimmter Textstellen meist mit Hilfe von schon vorhandenen
und anerkannten Kommentaren. Dafür hat Notker zunächst die Wortstel-
lung der lateinischen Originaltexte umgeordnet, anschließend die Texte in
Perikopen gegliedert, diese übersetzt und an einigen Stellen Kommentar-
Passagen eingefügt. Er hat somit in die originale Textstruktur eingegriffen
und sie verändert. So können z.B. Teilsätze, die in dem lateinischen Text
miteinander koordiniert eine Satzreihe bildeten, in der ahd. Übersetzung
geteilt und durch einen mehr oder weniger umfangreichen Kommentar
voneinander getrennt erscheinen. Es handelt sich um Beispiele wie:
(11) tiz sint tie den uuuocher unde den ezisg tero rationis ertemfent .
mit tien dornen uuillonnes. Taz chit mit iro uuillechosonne . er-
gezzent sie man sinero rationis. Unde menniskon muot stozent
sie in dia suht . sie nelosent sie nieht
hae sunt enim quae necant infructuosis spinis affectuum . uberem segetem
fructibus rationis. Hominumque mentes assuefaciunt morbo . non liberant
Nb 12,12
(12) vnde do irdonerota truhten fone himele. Sie sint sin himel . uu-
anda er an in sizzet . fone in deta er chunt gentibus euangelium.
Vnde der hohesto sprah in uz . uuanda sie archana dei (gotes
tougeni) sageton
et intonuit de caelo dominus. Et altissimus dedit vocem suam NpNpw
17,14
Bei einer Analyse des ahd. Textes können solche Stellen jedoch nur als
Konnexion auf Textebene interpretiert werden, da die Koordination
durch die Kommentareinschübe aufgehoben wurde. Stefan Sonderegger
hat im Zusammenhang der verschiedenen Stufen der Texte die Markie-
rungen dieser Kommentare untersucht und festgestellt, dass u.a. durch
Wiederaufnahme von Begriffen oder durch Verweise eine Beziehung zum
Vorhergesagten hergestellt wird.15 Ähnlich fungieren die Konnektoren inti
und joh als Markierung für die Wiederaufnahme der Übersetzung, indem
die Gedanken, Argumente und Äußerungen des lateinischen Originaltex-
tes fortgeführt werden und an die schon bestehenden Argumente ange-
knüpft wird.
_____________
14 Vgl. Sonderegger (1997, 141ff.); Näf (1979, 58ff.).
15 Vgl. ebd.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 313
3. Fazit
All diese Stellen zeigen, dass die Mittel der Satzgrammatik die inti / joh-
Verbindungen nicht immer adäquat beschreiben. An den eben gezeigten
Beispielen (und an weiteren ähnlichen) kann man die weiterleitende, an-
knüpfende Funktion der Konnektoren erkennen, die auch bei der Koor-
dination von Satzteilen oder Sätzen festzustellen ist. Allerdings bezieht
sich diese Weiterführung auf den ganzen Text, auf die gesamte Verkettung
von Ereignissen, Argumenten oder Redeteilen und nicht nur auf eine
Satzreihe. So eingesetzt wirken inti und joh textbildend und verlangen bei
ihrer Untersuchung eine intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten
Text. Die Analyse der Konnektoren hilft dabei, sich aufgrund ihrer Häu-
figkeit ein genaues Bild über den Erzählstil des Textes zu machen.
Die durch inti / joh eingeleiteten Sätze werden nicht bloß wie bei der
Koordination aneinandergereiht, sondern in einem besonderen Verhältnis
in die Struktur des Textes eingegliedert. Die Wirkung der Konnektoren
lässt sich in folgenden Aspekten zusammenfassen:
1. Die Konnektoren markieren die Grenzen zwischen den verschie-
denen Textebenen, z.B. zwischen Kapitelüberschriften und Text,
oder zwischen Zitat und dem Text, in dem es eingebettet ist. Auch
bei Dialogpassagen fungieren sie als Signal für die direkte Rede, vor
der sie stehen.
2. Gleichzeitig verknüpfen inti und joh all diese Ebenen miteinander
und helfen dem gesamten Text Kohärenz zu verleihen. Dies gilt be-
sonders bei Texten mit komplizierter Verschachtelung von Über-
setzung und Kommentaren, bei denen es schwer fällt, der Argu-
mentationskette zu folgen (wie im Falle der Notker’schen Texte).
Wenn dann noch diese Argumentationen durch Kommentare un-
terbrochen werden, sind Mittel notwendig (wie die Konnektoren in-
ti / joh), die den argumentativen Faden wieder aufnehmen.
3. Durch die Wiederholung bestimmter Konnektoren ergibt sich in
einigen Texten ein Erzählstil, der ein markantes Erkennungsmerk-
mal dieser Texte darstellt. So erkennen wir den sakralen Stil der
Heiligen Schrift sowohl in den Bibelzitaten des ahd. Isidor, als auch
in der ahd. Tatianübersetzung oder in Notkers Psalmenüberset-
zung. Dies ist natürlich durch die lateinischen Vorlagetexte bedingt,
jedoch hätten die Übersetzer dieser Texte prinzipiell auch andere
Ausdrucksmittel zur Verfügung gehabt und entschieden sich trotz-
dem an vielen Stellen für die Anknüpfung durch inti / joh.
314 Natalia Montoto Ballesteros
Die Untersuchung der Konnektoren inti und joh mit Hilfe der Textsyntax
lässt erkennen, dass diese Elemente mehr als nur verbindende Konjunk-
tionen darstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um textbildende Einhei-
ten, deren Analyse Einblick in die Struktur des Textes erlaubt.
Quellen
Literatur
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Valentin, Paul (2003), „Konnektoren bei Otfrid“, in: Yvon Desportes (Hrsg.), Konnek-
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Wunder, Dieter (1965), Der Nebensatz bei Otfrid. Untersuchungen zur Syntax des deutschen
Nebensatzes, Heidelberg.
Inkorporation im Althochdeutschen∗
1. Einleitung
Die Wortbildung dient als ein Prozess, der von einer lexikalischen Einheit
ausgehend eine andere erzeugt, in erster Linie zur Erweiterung des Wort-
schatzes, sie kann aber auch mitunter syntaktische Effekte hinterlassen.
Dies ist vor allem bei der Konversion deutlich, die den Wechsel der Wort-
art und des syntaktischen Status des Lexems erwirkt: z.B. Öl – ölen, essen –
(das) Essen.
Auch bei der Affigierung, bei der die morphologische Veränderung
des Lexems deutlicher hervortritt als bei der Konversion, kann eine ande-
re syntaktische Eigenschaft festgestellt werden als beim Ausgangslexem,
auch wenn dabei die Wortart des Lexems nicht abgeändert wird. Bekannt
ist dies im Fall des Verbalpräfixes be-, das die Valenzstruktur des Aus-
gangsverbs modifizieren kann:
(1a) Man jammerte über den Verlust.
(1b) Man bejammerte den Verlust.
(2a) Der Gärtner pflanzt Rosen auf das Beet.
(2b) Der Gärtner bepflanzt das Beet mit Rosen.1
Bei (1a) und (1b) sowie (2a) und (2b) handelt es sich jeweils um zwei Satz-
paare, die aus der semantischen Sicht hinlänglich äquivalent gelten kön-
nen. Die a-Sätze und b-Sätze unterscheiden sich darin, dass in den letzte-
ren das Verb mit be- präfigiert ist und über eine Valenzstruktur verfügt, die
von der des Verbs in den a-Sätzen abweicht. Dabei ist die Akkusativer-
gänzung der b-Sätze als äquivalent zur Präpositionalergänzung der ent-
sprechenden a-Sätze aufzufassen – so entspricht die Präpositionalphrase
_____________
∗ Dieser Beitrag entstand während meines Forschungsaufenthalts an der Universität Passau
als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung. Teilweise liegen ebenfalls die For-
schungsergebnisse aus meinem JSPS-Projekt zugrunde. This research was partially suppor-
ted by the Japan Society for the Promotion of Science (Grant-in-Aid for Young Scientists
(B), 18720099).
1 Die Beispiele (1a) bis (2b) stammen aus Eroms (1980).
318 Susumu Kuroda
über den Verlust in (1a) dem Akkusativ den Verlust in (1b), die Präpositional-
phrase auf das Beet in (2a) dem Akkusativ das Beet in (2b) –, so dass hier
eine Akkusativierung der Präpositionalergänzung angenommen werden
kann.
Dass die Valenzstruktur einer Präfigierung manchmal eine Akkusativ-
ergänzung erhält, die in der Valenzstruktur des Simplex als solche nicht
vorhanden ist, wurde bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Präfix
be- diskutiert, ist aber ebenso bei den Präfigierungen durch andere Präfixe
durchaus festzustellen. So kann sie z.B. auch bei der Präfigierung mit über-
wie in (3), mit um- wie in (4) oder mit an- wie in (5) angenommen werden.
Die Akkusativergänzung von übergießen unterscheidet sich von der des
Simplex gießen, die als direktes Objekt zu charakterisieren ist; die Simplizia
von umstehen und ansprechen verfügen über eine intransitive Valenzstruktur
und daher keine Akkusativergänzung:
(3) Sie übergießt den Pudding mit Soße.
(4) Riesige Eichen umstanden das Haus.
(5) Luise spricht den fremden Mann an.
Dieses Phänomen, das in den letzten Jahren insbesondere unter dem un-
ten noch zu besprechenden Stichwort Inkorporation intensiv diskutiert
wurde, kann unter verschiedenen Perspektiven aufgegriffen werden. Häu-
fig wird auf den Zusammenhang mit dem Verbalaspekt hingewiesen, der
gleichzeitig mit der Valenzstrukturveränderung in der Regel eine starke
Perfektivität erhält.2 Der historische Hintergrund der Entstehung dieser
Valenzstrukturveränderungsmöglichkeit wird bei Hinderling3 eingehend
besprochen. Besonders intensiv wurde dieses Phänomen aber vor allem in
der theoretischen Grammatik, wo man den syntaktischen Mechanismus zu
klären versuchte, der die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigie-
rung verursacht, behandelt.4
Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die entsprechenden Fälle im
Althochdeutschen zu betrachten, und dadurch den Unterschied zum Ge-
genwartsdeutschen festzustellen. Unser Augenmerk richtet sich dabei
hauptsächlich auf die Erfassung der Konfigurationen, unter denen die
Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung stattfinden kann. Vor-
erst wird auf die grammatiktheoretische Diskussion nicht eingegangen,
aber hierdurch kann womöglich die historische Entwicklung dieser Va-
lenzstrukturveränderungsoperation genauer rekonstruiert werden, was
_____________
2 Vgl. z.B. ebd., 45ff.
3 Vgl. Hinderling (1982).
4 Vgl. Wunderlich (1987) oder Olsen (1996).
Inkorporation im Althochdeutschen 319
_____________
5 So wird die Veränderung der Verbrektion durch die Präfigierung bei Grimm (1967) an
verschiedenen Stellen angesprochen. Dieses Phänomen wird in Bezug auf das Gegen-
wartsdeutsche besonders ausführlich behandelt bei Kühnhold / Wellmann (1973).
6 Vgl. Eroms (1980).
7 Vgl. Harnisch (1982).
320 Susumu Kuroda
dem Verbstamm anhängt.8 Bei den Fällen wie mit be-, bei denen die Präfi-
gierung über keine formal entsprechende Präposition verfügt, wird ange-
nommen, dass be- nicht nur eine bestimmte Präpositionen ersetzen kann.
Für diese Operation findet sich aktuell Inkorporation als geläufigste Benen-
nung.9
Diese Auffassung, die wohl erstmals bei Wunderlich10 ausführlich be-
gründet wurde, stellt eine attraktive Erklärung dar, die gleichzeitig der
Valenzänderung durch die Präfigierung und der etymologisch bedingten
morphologischen Similarität zwischen der Präfigierung und der Präposi-
tion, die bei zahlreichen Verbpaaren besteht, Rechnung tragen kann. Frei-
lich erklärt die Inkorporation nicht alle Umstände der Valenzstrukturverän-
derungen, die durch die Präfigierung eintreten können. So bleibt z.B. un-
geklärt, unter welcher Motivation die unterschiedliche Kasusverleihung an
das inkorporierte Argument der Präpositionalphrase erfolgt, da dieses nicht
nur durch den Akkusativ, sondern ebenso durch den Dativ oder Genitiv
(s. unten) realisiert werden kann. Auch sind Fälle zu registrieren, wo das
Verb durch die Präfigierung eine Akkusativergänzung erhält, auch wenn
das Simplex über keine entsprechende Präpositionalergänzung verfügt, so
dass die Bezeichnung Inkorporation nicht angemessen ist. Es gibt auch An-
sätze, die die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung nicht als
eine Umorganisierung der Valenzstruktur ansehen, sondern als eine holis-
tische Anpassung einer abweichenden Valenzstruktur an das Simplex.11
Mit der Aufnahme in die Duden-Grammatik12 kann aber die Inkorporations-
Analyse als weitgehend akzeptiert angesehen werden.
(7) uuelih cuning farenti zigifremenne gifeht uuidar anderan cuning nibi her er
sizzenti thenke oba her mugi mit zehen thusuntin themo ingegin faran ther
mit zueinzug thusuntin quam zi imo (T 105, 2)
Welcher König plant einen Krieg gegen einen anderen König zu führen,
wenn er nicht vorher darüber nachdenkt, ob er mit zehntausend (Soldaten)
dem entgegenkommen kann, der mit zwanzigtausend zu ihm kommt.
_____________
13 Vgl. Kelle (1963).
14 Vgl. Piper (1884).
322 Susumu Kuroda
_____________
15 Außerdem liegen zu Otfrids Evangelienbuch und Tatian moderne Editionen vor: Kleiber
(2004) und Masser (1994), was auch einen Anlass für eine erneute Erfassung des Sprachzu-
stands in diesen Texten darstellt. Der Untersuchung wurden diese Ausgaben zugrunde ge-
legt, für den althochdeutschen Isidor die Ausgabe von Eggers (1964). Die Stellenangaben der
Beispielsätze im vorliegenden Beitrag beziehen sich auf die Stellen in diesen Editionen.
16 Wenn zu einem Verb mehrere stark voneinander abweichende Bedeutungs- oder Valenz-
strukturvarianten in unserem Korpus nachzuweisen sind, werden die Varianten auseinan-
der gehalten, wobei die jeweilige Variante durch tiefgestellte Ziffern markiert werden, so
z.B. stantan1 'stehen' – stantan2 'aufstehen' .
Inkorporation im Althochdeutschen 323
(9b) senten 'senden' – anasenten 'werfen auf', die den Fällen wie oben (2) und
(3) im Gegenwartsdeutschen entsprechen. Bei (6b) führt aber die Akkusa-
tivierung der Präpositionalphrase zu einer doppelakkusativischen Valenz-
struktur, die im Gegenwartsdeutschen nicht zulässig ist:
(8a) Nam maria nardon . filu diuren uuerdon / uuas iru thaz thionost suazi .
thia goz si in sine fuazi / (O 4, 2, 16)
Maria nahm äußerst wertvolles Nardenöl – es war für sie ein angenehmer
Dienst – und goss es auf seine Füße.
(8b) Vuio thar thio fruma niezent . thie hiar thia sunta riezent / sih hiar io
thara liezent . thie sih mit thiu bigiazent / (O 5, 23, 8)
Wie er dort Heil genießt, wer hier seine Sünde beklagt, sich dem Jenseits
weiht, und sich mit Tränen benetzt.
(9a) gisah zuuene bruoder simonem ther giheizan ist petrus Inti andream sinan
bruoder sententi iro nezzi in seo uuanta sie uuarun fiscara (T 54, 13)
(Er) sah zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt ist, und Andreas, seinen
Bruder. Sie warfen ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer.
(9b) ther thie uzan sunta si iuuar zi eristen sente sia stein ana (T 199, 5)
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie.
_____________
20 Dies ist übrigens auch im Gegenwartsdeutschen der Fall, wie z.B. bei achten auf – beachten,
sprechen über – besprechen.
Inkorporation im Althochdeutschen 325
machen; hell werden' hat der Akkusativ der Ableitung keine entsprechen-
de Phrase in der Ausgangsstruktur:
(10a) Mit uuorton iz gimeinta . mit zeichonon gisceinta / al thaz iro fruma uuas .
sie ni ruahtun bi thaz / (O 3, 20, 186)
(Er) erklärte es mit Worten, zeigte es mit Wundertaten. All das war für ih-
ren Nutzen, aber es kümmerte sie nicht.
(10b)Ih zell in thanne in gahun . thaz sie mir kund ni uuarun / theih er sie hal
iu lango . ni ruach ih iro thingo / (O 2, 23, 28)
Ich sage ihnen dann sofort, dass ich sie nicht kannte, dass ich sie schon
früher lange nicht berücksichtigte, und dass sie mich jetzt nicht kümmern.
(10c) Thia zit eigiscota er fon in so ther sterro giuuon uuas queman zi in . / bat
sie iz ouh biruahtin . bi thaz selba kind irsuahtin / (O 1, 17, 44)
Er erkundigte sich von ihnen nach der Zeit, in der der Stern immer zu ih-
nen kam, und bat sie, sich darum zu kümmern, nach dem Kind zu suchen.
(11a) Er ouh iacobe ni sueih . tho er themo bruader insleih / uuas io mit imo
thanne . in themo fliahannE / (O H, 81)
Er ließ auch Jacob nicht im Stich, als er vor seinem Bruder floh, war dann
immer bei ihm auf der Flucht.
(11b)oba thin zesuuua ouga thih bisuihhe arlosi iz thanne Inti aruuirphiz fon
thir (T 63, 24)
Wenn dich dein rechtes Auge betrügt, dann lös es heraus und wirf es von
dir weg.
(12a) so liuhte iuuar lioht fora mannon thaz sie gisehen iuuaru guotu uuerc Inti
diurison iuuaran fater thie in himilon ist (T 61, 28)
So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie euer gutes Werk
sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist.
(12b)Thaz lioht ist filu uuar thing . inliuhtit thesan uuoroltring / ioh mennis-
gon ouh alle . ther hera in uuorolt sinne / (O 2, 20, 13)
Das Licht ist ein sehr wahres Ding, erleuchtet diese Welt und alle Men-
schen, die auf diese Welt kamen.
(14a) und (14b) stantan 'stehen' – obastantan 'stehen über' wie (15a) und
(15b) gangan 'gehen' – intgangan 'entgehen'. Dieser Typ der Valenzstruktur-
veränderung wird im Zusammenhang mit der Inkorporation nur selten dis-
kutiert,21 ist aber auch im Gegenwartsdeutschen festzustellen, wie kommen
– entkommen (Der Kommissar entkam seinen Verfolgern), fahren – vorfahren (Ich
fahre dir vor) oder setzen – vorsetzen (Ich setze dir einen kleinen Imbiss vor). Die
Einführung des Dativs ist allerdings weit weniger ausgeprägt als die Ein-
führung des Akkusativs, wie es auch im Gegenwartsdeutschen der Fall ist.
Insgesamt lassen sich 15 Verbpaare für diesen Veränderungstyp feststel-
len:
(13a) Inti her ferit fora Inan In geiste Inti In megine heliases. (T 27, 4)
Und er geht vor ihm mit Geist und Kraft von Elias.
(13b)Ih faru dhir fora endi chidhuuingu dhir aerdhriihhes hruomege. (I 156)
Ich gehe dir voran und erniedrige die Ruhmreichen auf der Erde.
(14a) Thoh ih tharzua hugge . thoh scouuon sio zi rugge / bin mir menthenti . in
stade stantenti / (O 5, 25, 100)
Wenn ich daran denke, und auf sie zurückblicke, stehe ich mit Freude am
Ufer.
(14b)Ih chisah druhtin sitzendan oba dhrato hohemu hohsetle, endi seraphin dhea
angila stuondun dhemu oba. (I 348)
Ich sah den Herrn auf einem sehr hohen Thron sitzen. Und Serafim, die
Engel, standen über ihm.
(15a) inti mittiu ana sazta in sino henti gieng thana; (T 162, 4)
und nachdem er ihnen seine Hände auflegte, ging er weg.
(15b)Sie arabeitotun . thia naht al in gimeitun . / thie fisga in al ingiangun .
niheinan ni gifiangun . / (O 5, 13, 6)
Sie bemühten sich die ganze Nacht umsonst, alle Fische ent-gingen ihnen,
sie fingen keinen einzigen.
_____________
22 Im Beispiel (16a) fehlt allerdings die dem Genitiv in (16b) entsprechende Ergänzung.
23 Der Satzgliedstatus lässt sich durch verschiedene Kriterien feststellen, z.B. dadurch, ob ihm
eine eigenständige Kasusrolle zugeschrieben werden kann.
328 Susumu Kuroda
Typ V: Reduktion
Es ist auch in unserem Korpus anzunehmen, dass die Präfigierung die
Reduzierung der Valenzstruktur verursacht. Meist ist davon die Präposi-
tionalergänzung betroffen, wie es bei (18a) und (18b) werfan 'werfen' –
ziwerfan 'auseinanderwerfen' beobachtet werden kann. Hierbei handelt es
sich um eine relativ große Gruppe, die aus 41 Verbpaaren besteht:
(18a) Sie uuurfun tho zi zesue . thaz iro nezzi in then se / in quam sar ingegi-
ni . fisgo mihil menigi / (O 5, 13, 15)
Sie warfen da ihr Netz nach rechts in den See, sogleich kam eine Menge
von Fischen zu ihnen.
(18b)Giang er in thaz gotes hus . dreip se al thanan uz / ziuuarf er al bi noti .
thio iro bos.heiti / (O 4, 4, 66)
Er ging ins Gotteshaus, trieb sie alle von dort hinaus, und warf all ihr eitles
Ding auseinander.
Im vorliegenden Beitrag wollen wir uns aber vorerst auf die Typen mit der
Einführung der Akkusativergänzung konzentrieren, die am häufigsten
auftreten und als Haupttypen anzusehen sind. Die anderen Typen sollen
bei einer künftigen Gelegenheit noch ausführlicher diskutiert werden.
Wie aus der obigen Betrachtung hervorgeht, ist die Einführung der Akku-
sativergänzung in die Valenzstruktur sowohl bei der A- (nur als Präfix) als
auch bei der B-Präfigierung (Präfix als auch Partikel) zu beobachten. Aber
bei näherer Betrachtung zeigt sich ein gewisser Unterschied im Verhalten
der beiden Präfigierungstypen im Zusammenhang mit der Einführung der
Akkusativergänzung.
Zunächst ist es besonders auffallend, dass die Akkusativierung der
nicht-lokalen Präpositionalergänzung des Simplex wie oben in (10a) bis
(12b) überwiegend bei der A-Präfigierung anzunehmen ist. Sicherlich kann
bei der B-Präfigierung auch die Akkusativierung der Präpositionalergän-
zung angenommen werden, aber diese scheint weitgehend den Präpositio-
nalergänzungen lokalen Charakters vorbehalten. Dabei handelt es sich
meist um Direktivergänzung, wie vorhin die Beispiele (9a) und (9b) mit
senten 'senden' – anasenten 'werfen auf'. Zusätzlich könnten Verbpaare wie
(19a) und (19b) wenten 'wenden' – anawenten 'anlegen' oder wie (20a) und
(20b) sezzen 'platzieren' – furisezzen 'vorlegen' als weitere Beispiele genannt
werden, wobei bei (19b) und (20b) wie bei (9b) eine doppelakkusativische
Inkorporation im Althochdeutschen 329
(20a) merun therra minna nioman habet thanne thaz uuer sin ferah seze furi
sina friunta. (T 284, 10)
Niemand hat eine größere Liebe, als dass einer für seine Freunde sein Le-
ben hingibt.
(20b)Inti thar uuonet unzir uz faret., ezente Inti trinkente thiu man iuuih fu-
risezze. (T 76, 28)
Und bleibt dort, bis ihr weggeht, und esst und trinkt, was man euch vor-
legt.
(21a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In
hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16)
Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb
in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(21b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan
ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38)
Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf
ihm.
A-Präfigierung
bi-
giozan '(ver)gießen' – bigiazan 'begießen'
stantan 'stehen' – bistantan 'stehen um'
werfan 'werfen' – biwerfan 'zuwerfen'
fir-
gangan 'gehen' – firgangan 'vorübergehen'
loufan 'laufen' – firloufan2 'überholen'24
B-Präfigierung
ana-
blasan 'einhauchen' – anablasan 'einhauchen'
gangan 'gehen' – anagangan 'herankommen an'
leggen 'legen' – analeggen 'anlegen'
queman 'kommen' – anaqueman 'kommen zu'
senten 'senden' – anasenten 'werfen auf, setzen'
wenten1 'wenden' – anawenten 'anlegen'25
werfan 'werfen' – anawerfan 'bewerfen'
thuruh-
faran 'fahren' – thuruhfaran '(hin)durchgehen'
fora / furi-
faran 'fahren' – forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen'26
gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen'
loufan 'laufen' – furiloufan 'vorrücken, überholen'
queman 'kommen' – foraqueman 'zuvorkommen'
sezzen 'plazieren' – furisezzen2 'vorlegen'27
_____________
24 firloufan2 'überholen' ist hier von der intransitiven Variante firloufan1 'laufen' unterschieden.
25 wenten1 'wenden' ist hier von der intransitiven Variante wenten2 'wenden' unterschieden.
26 forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen' ist hier von der den Dativ regierenden Variante forafa-
ran2 'vorbeigehen, vorausgehen' unterschieden.
27 furisezzen2 'vorlegen' ist hier von der bitransitiven Variante furisezzen1 'vorlegen' unterschie-
den.
Inkorporation im Althochdeutschen 331
in-
gangan 'gehen' – ingangan2 'gehen in'
ubar-
gangan 'gehen' – ubargangan 'übergehen'
faran 'fahren' – ubarfaran 'hin(weg)gehen über'
wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über'
umbi-
bisehan 'sehen, sorgen für' – umbibisehan 'umherblicken'
gangan 'gehen' – umbigangan 'herumgehen (um)'
graban 'graben' – umbigraban 'mit einem Graben umgeben'
Ausgangsform: Genitiv
A-Präfigierung
bi-
ruohhen 'beachten' – biruahhen 'Sorge tragen für'
sworgen 'in Sorge sein wegen' – bisworgen 'Sorge tragen für'
trahton 'betrachten' – bitrahton 'erwägen'
fir-
lougnen 'verleugnen' – firlougnen 'verleugnen'
ir-
faren 'nachstellen' – irfaren 'ergreifen'
jehan 'sagen' – irgehan 'zeugen von'
332 Susumu Kuroda
B-Präfigierung
ubar-
hogen / huggen 'denken an' – ubarhugen 'verachten'
Ausgangsform: Dativ
A-Präfigierung
bi-
swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen'
wankon 'wanken' – biwankon 'unterlassen'
fir-
geltan2 'vergelten' – firgeltan2 'vergelten'28
Ausgangsform: Präpositionalphrase
A-Präfigierung
bi-
zellen2 'zuschreiben' – bizellen 'beschuldigen'29
ir-
rahhon 'erzählen' – arrahhon 'erzählen'
B-Präfigierung
ana-
zellen2 'zuschreiben' – anazellen 'beschuldigen'
ubar-
winnan 'kämpfen' – ubarwinnan 'besiegen'
Ausgangsform: unklar
A-Präfigierung
bi-
scinan 'scheinen' – biscinan 'bescheinen'
fir-
sprehhan 'sprechen' – firsprehhan 'sprechen für'
int-
liuhten 'leuchten' – inliuhten2 '(er)leuchten, sehend machen; hell wer-
den'
_____________
28 geltan2 'vergelten' und firgeltan2 'vergelten' sind jeweils von der Variante geltan1 'geben' bzw.
firgeltan1 'geben' unterschieden.
29 zellen2 ist hier von der Variante zellen1 'erzählen' unterschieden.
Inkorporation im Althochdeutschen 333
ir-
suohhen 'suchen' – irsuohhen2 'durchsuchen, verhören'
B-Präfigierung
untar-
weban 'weben' – untarweban 'untereinander verweben'
Hier ist die Überlegenheit der A-Präfigierungen (15 Präfigierungen gegen-
über vier B-Präfigierungen) deutlich zu erkennen. So kommt der Verdacht
auf, dass die Nähe der B-Präfigierung zur Partikel wohl zu einer bevorzug-
ten Lokalbezogenheit der Valenzstrukturveränderung führt. Die Präfixe
sind nämlich generell weniger lokalbezogen, während die Partikeln hinge-
gen freier vom Verb sind als die Präfixe, so dass die Nähe zum Lokalad-
verb stärker zum Vorschein kommt.
5. Besondere Transitivierungsfunktion
der B-Präfigierung
Ferner fällt auf, dass bei einigen B-Präfigierungen der Gruppe α Valenz-
strukturveränderungen beobachtet werden können, die im Gegenwarts-
deutschen nicht möglich sind. So haben wir bereits oben bei (9b) mit ana-
senten 'werfen auf', (19b) mit anawenten 'anlegen' und (20b) mit furisezzen
'platzieren' aus der gegenwartsdeutschen Sicht ungewöhnliche Valenz-
strukturveränderungen gesehen, die eine doppelakkusativische Struktur
herstellen.
Allerdings ist es nicht nur die doppelakkusativische Valenzstruktur an
sich, die hier auffällt. Vielmehr ist es interessant, dass die B-Präfi-
gierungen, die den gegenwartsdeutschen Partikeln entsprechen, auch die
Akkusativeinführung zu ermöglichen scheinen, obwohl dies im Gegen-
wartsdeutschen beinahe nicht möglich ist. Als Beispiel hierfür können
(22a) und (22b) mit gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen' und
(23a) und (23b) mit wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' hinzugefügt
werden. Hier werden intransitive Verben transitiviert, wobei als
a-Beispiele Sätze mit Simplizia mit entsprechenden Präpositionalergän-
zungen angegeben sind:
(22a) Zit uuard tho gireisot . thaz er giangi furi got . / opphoron er scolta . bi
thie sino sunta . / (O 1, 4, 11)
Da war die Zeit gekommen, in der er zu Gott gehen und für seine Sünde
Opfer bringen sollte.
334 Susumu Kuroda
(22b)In thero fiordun uuahtu thero naht gisehenti sie uuinnente quam zi in gan-
ganter oba themo seuue. Inti uuolta furigangan sie (T 119, 17)
In der vierten Nachtwache sah er, dass sie sich abmühten, und kam zu ih-
nen auf dem See gegangen und wollte an ihnen vorübergehen.
(23a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In
hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16)
Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb
in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(23b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan
ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38)
Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf
ihm.
Vor dem Hintergrund der bisher besprochenen Beispiele können wir an-
nehmen, dass im Althochdeutschen bei der Einführung der Akkusativer-
gänzung in die Valenzstruktur den Präfixen und Partikeln jeweils unter-
schiedliche Operationen zugrunde liegen.
Die Präfixe, die sich wesentlich früher als Verbzusatz etabliert haben
als die Partikeln, haben generell weit mehr lokalen Bezug eingebüßt als die
Partikeln.30 Die Präfixe bi-, ir-, fir-, die in meinem Korpus am häufigsten
auftreten, stellen eine klitisierte Form dar, die die Verwandtschaft mit den
entsprechenden Präpositionen oder Adverbien umbi, uz, furi nicht unmit-
telbar erkennen lassen. Bei der Präfigierung erwirken sie auch nicht immer
eine Bedeutungsmodifikation, die als lokal zu charakterisieren wäre. Hin-
gegen behalten die Partikeln die gleiche Form wie die entsprechenden
Präpositionen oder Lokaladverbien bei und bringen häufiger als die Präfi-
xe Bedeutungskomponenten in die Bedeutungsstruktur des Ausgangs-
verbs ein, denen lokative Eigenschaften unterstellt werden können.
Die Präfixe, die bereits im Gotischen weitgehend enklitisiert sind, sind
möglicherweise in althochdeutscher Zeit als grammatisches Mittel für die
Valenzstrukturveränderung etabliert. So vermochten sie wohl relativ frei
die Akkusativeinführung zu erwirken. Hingegen sind die Partikeln ent-
sprechend ihrer historischen Wurzel stärker an die lokale Bedeutung ge-
bunden und im Grammatikalisierungsgrad den Präfixen in dem Sinne
unterlegen, dass sie nur lokative Substantive akkusativieren. Aber sie hat-
ten womöglich als valenzmodifizierendes Mittel mehr Möglichkeiten als
_____________
30 Der lokale Bezug ist bei den Präfixen durch- und um- noch mitunter zu spüren, aber generell
ist der Abbau der Lokalbezogenheit bei den Präfixen deutlicher als bei den Partikeln.
Inkorporation im Althochdeutschen 335
_____________
31 Vgl. Kuroda (2007).
336 Susumu Kuroda
Quellen
Eggers, Hans (Hrsg.) (1964), Der althochdeutsche Isidor: Nach der Pariser Handschrift und den
Monseer Fragmenten, Tübingen.
Hench, George Allison (Hrsg.) (1893), Der althochdeutsche Isidor: Facsimile-Ausgabe des
Pariser Codex nebst critischem Texte der Pariser und Monseer Bruchstücke mit Einleitung,
grammatischer Darstellung und einem ausführlichen Glossar, Straßburg.
Kelle, Johann (1963), Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch, Text, Einleitung, Gramma-
tik, Metrik, Glossar, Nachdruck der Ausgabe 1881, Aalen.
Kleiber, Wolfgang (Hrsg.) (2004), Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch, Band I: Edition
nach dem Wiener Codex 2687, Tübingen.
Masser, Achim (Hrsg.) (1994), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St.
Gallen Cod. 56, Göttingen.
Piper, Paul (Hrsg.) (1884), Otfrids Evangelienbuch, Freiburg, Tübingen.
Sievers, Eduard (Hrsg.) (1966), Tatian: Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar,
unveränderter Nachdruck der 2. überarb. Ausg. 1892, Paderborn.
Literatur
Kühnhold, Ingeburg / Wellmann, Hans (1973), Deutsche Wortbildung: Typen und Tenden-
zen in der Gegenwartssprache, erster Hauptteil: Das Verb, Düsseldorf.
Kuroda, Susumu (2005), „Zum Verbalpräfix be- im Althochdeutschen und Gegen-
wartsdeutschen“, in: Michail L. Kotin / Piotr Krycki / Marek Laskowski / Ta-
deusz Zuchewicz (Hrsg.), Das Deutsche als Forschungsobjekt und als Studienfach,
Frankfurt a. M. u.a., 113-118.
Kuroda, Susumu (2007), „Zur valenzmodifizierenden Funktion der Verbalpräfixe im
Althochdeutschen und Gegenwartsdeutschen“, in: Sprachwissenschaft, 32 / 2007,
29-75.
Kuroda, Susumu (2008), „Zu Präfix- und Partikelverben im althochdeutschen Isidor“,
in: Michael Szurawitzki / Christopher M. Schmidt (Hrsg.), Interdisziplinäre Germa-
nistik im Schnittpunkt der Kulturen, Würzburg, 55-67.
Kuroda, Susumu (2008), „Zum Status des Präfixverbs im althochdeutschen ‚Isidor‘“,
in: Beata Mikołajczyk / Michail Kotin (Hrsg.), Terra grammatica: Ideen – Methoden –
Modelle, Frankfurt a. M. u.a., 195-207.
Olsen, Susan (1996), „Partikelverben im deutsch-englischen Vergleich“, in: Ewald
Lang / Gisela Zifonun (Hrsg.), Deutsch – typologisch, Berlin, New York, 261-288.
Paul, Hermann (1919), Deutsche Grammatik, Band III, Teil IV: Syntax (erste Hälfte),
Halle.
Wunderlich, Dieter (1987), „An Investigation of Lexical Composition: The Case of
German be-Verbs“, in: Linguistics, 25 / 1987, 283-311.
Pronominale Wiederaufnahme
im ältesten Deutsch
Personal- vs. Demonstrativpronomen im Althochdeutschen∗
1. Untersuchungsgegenstand
Der vorliegende Beitrag untersucht die Distribution von Personalprono-
men und selbständig (substantivisch) gebrauchten Demonstrativprono-
men der dritten Person im älteren Deutsch. Leseproben aus verschiede-
nen Quellen der ältesten deutschsprachigen Überlieferung zeigen, dass
Formen der beiden Pronominalreihen bereits im Althochdeutschen paral-
lel auftreten, um einen vorerwähnten Diskursreferenten zu benennen, d.h.
sie fungieren gleichermaßen als Mittel der anaphorischen Referenz im
Diskurs. Zur Verdeutlichung führen wir ein Minimalpaar aus dem ahd.
Tatian an. Ein im vorangehenden Kontext in Form eines indefinit ge-
brauchten Nomens (sun) eingeführter Diskursreferent wird in (1) mittels
des Personalpronomens her, in (2) mittels des selbständig gebrauchten
Demonstrativpronomens ther wiederaufgenommen:
(1) thin quena elysab&h / gibirit thir sun. / Inti nemnis thû sinan namon
Iohannem. / Inti her ist thir gifeho Inti blidida/ […] her ist uuârlihho
mihhil fora truhtine (T 26, 25-30)
(2) seno nu Inphahis In reue Inti gibiris sun. / Inti ginemnis sinan namon
heilant, / ther ist mihhil. Inti thes hoisten sun / ist ginemnit (T 28,
17-20)
_____________
∗ Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen unserer Arbeit im DFG-finanzierten Sonder-
forschungsbereich „Informationsstruktur: die sprachlichen Mittel der Gliederung von Äu-
ßerung, Satz und Text“ der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Für wertvolle Anregungen danken wir Milena Kühnast (ZAS Berlin) und Augustin Speyer
(Tübingen).
340 Svetlana Petrova / Michael Solf
2. Forschungsrückblick
Die Frage nach den Parametern, die die Setzung von Personal- und selb-
ständig gebrauchten Demonstrativpronomen im Althochdeutschen be-
stimmen, ist unseres Wissens in der bisherigen Althochdeutschforschung
noch nicht eingehend untersucht worden. Die einschlägigen historischen
Standardwerke geben keine Auskunft darüber, dass die Verwendung von
Formen der beiden Pronominalreihen in irgendeiner Art und Weise gere-
gelt bzw. mit semantischen Interpretationseffekten verbunden sein kann.
Als zentral galt bislang die Frage nach der Herkunft der jeweiligen Flexi-
onsformen. In dieser Tradition steht auch die Arbeit von Lühr (1991), die
sich der Entstehung der erweiterten Formen des Demonstrativ- und Rela-
tivpronomens denen, deren, derer und dessen im Frühneuhochdeutschen wid-
met. Es handelt sich dabei ausgerechnet um jene Formen des einfachen
Demonstrativpronomens, die sich von den entsprechenden Paradigmen-
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 341
stellen beim bestimmten Artikel (hier den, der, der und des) im heutigen
Standarddeutschen unterscheiden. Die Bedingungen für den Gebrauch
der Demonstrativa gegenüber dem Personalpronomen werden bei Lühr
(1991) aber nicht weiter untersucht.
Ähnlich verhält es sich in den Spezialuntersuchungen, die sich insbe-
sondere in jüngster Zeit gezielt mit den Formen der Wiederaufnahme im
ältesten Deutsch auseinandersetzen. Der Gebrauch von selbständigen
Demonstrativpronomen als Mittel der anaphorischen Referenz wird in
einigen von ihnen1 knapp erwähnt, eine semantische Opposition zu der
Wiederaufnahme durch Personalpronomen wird jedoch nicht thematisiert.
Erst in jüngster Zeit, in der Arbeit von Solf (2008), wird die Frage nach
den Parametern gestellt, die für die Setzung des Demonstrativpronomens
gegenüber dem Personalpronomen im Althochdeutschen relevant sind.
Die dort im Rahmen eines Teils der Studie dokumentierten Beobachtun-
gen werden in der vorliegenden Arbeit erneut aufgegriffen und im größe-
ren Kontext der modernen theoretischen Diskussion zur Anapherresolu-
tion erörtert.
4. Grammatischer Exkurs:
Salienz und Anapherresolution
Von entscheidender Bedeutung für unsere Fragestellung sind demnach die
Faktoren, die für die Wahl von referierenden Ausdrücken im Diskurs
verantwortlich sind. Damit ist ein zentraler und hochaktueller Untersu-
chungsgegenstand der modernen diskursorientierten Linguistik benannt,
der in jüngster Zeit zu einer Vielzahl von Lösungsansätzen im Rahmen
verschiedener theoretischer Richtungen geführt hat.
Ausgangspunkt der Kontroverse um die Prinzipien der Anapherreso-
lution ist die Beobachtung, dass Sprachen über eine Vielzahl von formal
unterschiedlichen Mitteln verfügen, um auf ein und dieselbe Entität im
Diskurs zurückzuverweisen. Dieses Phänomen bezeichnet man in der
heutigen Literatur als Referential Choice. Allen Ansätzen gemeinsam ist dabei
die Ansicht, dass zwischen der Form des referierenden Ausdrucks und
dem kognitiven Status des Antezedens ein enger Zusammenhang besteht.
Die Bandbreite von Ausdrucksformen der anaphorischen Referenz
reicht – über die Einzelsprachen hinaus betrachtet – von vollen lexikali-
schen Phrasen über verschiedene pronominale Mittel bis hin zu Null-
Elementen. Dadurch ergibt sich eine Skala von Ausdrucksmitteln, deren
Grad an lexikalischer Explizitheit kontinuierlich abnimmt:
(6) volle definite Phrase > pronominale Mittel > Null-Element
Es wird allgemein angenommen, dass sich die lexikalische Explizitheit der
Anapher umgekehrt proportional zum Grad der Aktiviertheit bzw. Zu-
gänglichkeit des Referenten in der jeweiligen Phase im Diskurs verhält: Je
weniger aktiviert bzw. zugänglich der Referent eines Ausdrucks ist, desto
lexikalisch expliziter ist die Form, mit der er bezeichnet wird.
Der Grad der Aktiviertheit bzw. Zugänglichkeit eines Diskursreferen-
ten im gemeinsamen Wissensbereich von Sprecher und Hörer zu einer
bestimmten Phase im Diskurs wird mit dem Begriff Salienz bezeichnet.
Mit anderen Worten hängt die Form eines referierenden Ausdrucks mit
der Salienz des entsprechenden Antezedens zusammen. Auf unser Prob-
lem übertragen bedeutet das, dass für die Distribution von Personal- vs.
Demonstrativpronomen im Deutschen die Salienzeigenschaften der zu-
grunde liegenden Bezugsreferenten von Bedeutung sind.
Aber welche Faktoren sind für die Ermittlung des Salienzstatus von
Diskursreferenten relevant? Genau an diesem Punkt unterscheiden sich
die Antworten, die uns die verschiedenen theoretischen Richtungen in-
nerhalb der gegenwärtigen Forschung bieten. Wir geben einen kurzen
Überblick über die relevantesten Ansätze und ihre Kernaussagen.
344 Svetlana Petrova / Michael Solf
Die Centering Theory, eine der Theorien, die sich am intensivsten mit Fragen
der Anapherresolution und Salienzskalierung befassen, verbindet die Sa-
lienz von Referenten mit der grammatischen Funktion, die der sie be-
zeichnende Ausdruck im Subkategorisierungsrahmen des regierenden
Verbs im vorangehenden Satz einnimmt. Brennan u.a. (1987, 156) schla-
gen folgende Anordnung von grammatischen Relationen in Hinblick auf
die Salienz der in ihnen benannten Diskursreferenten vor: „[F]irst the
subject, object, and object2, followed by other subcategorized functions,
and finally adjuncts“. Demnach ergibt sich folgende Skalierung von
grammatischen Relationen, die den Salienzgrad von Diskursreferenten
bestimmen:
(7) Subjekt > Objekt [1] > Objekt [2] > … > Adjunkte
Dieses Schema lässt sich wie folgt interpretieren: Der Referent, der in der
grammatischen Funktion des Subjekts realisiert wurde, stellt den salien-
testen Diskursreferenten für den Folgediskurs bereit. Ihm folgt der Refe-
rent des Objekts, das vom lexikalischen Verb, also als Schwester von V°,
selegiert wurde. Dieser ist wiederum salienter als der Referent des Objekts,
das von einer Zwischenprojektion V’, d.h. von der Verbindung des lexika-
lischen Verbs mit seinem ersten Objekt, gefordert wurde. Schließlich fol-
gen die Referenten, die in der Funktion von Modifikatoren (Attributen)
bzw. Adjunkten (Umstandsangaben) auftreten.
Am Beispiel eines dreiwertigen Transferverbs wie dt. geben bedeutet
dies, dass hier das Subjekt salienter ist als das direkte Akkusativobjekt,
dieses salienter ist als das indirekte Dativobjekt, welches salienter ist als die
Referenten in Modifikatoren oder Adjunkten der Aussage, vgl. (8):
(8) Salienzskala der Referenten eines dreiwertigen Transferverbs wie
geben:
Nom-Subjekt > Direktes Objekt > Indirektes Objekt > Rest
Bezogen auf die Verhältnisse in unserem Ausgangsfall in (1) und (2) bringt
dieser Ansatz noch keine entscheidende Lösung mit sich: Es ist unschwer
zu erkennen, dass hier verschiedene Formen der anaphorischen Wieder-
aufnahme für Referenten gebraucht werden, deren Antezedentien ein und
dieselbe grammatische Funktion im vorangehenden Diskurs ausüben,
nämlich die des direkten Objekts.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 345
Ein anderer prominenter Ansatz geht von der Annahme aus, dass der
Salienzgrad von Diskursreferenten mit ihrer kognitiven Zugänglichkeit,
also mit ihrer Gegebenheit im aktuellen Diskursabschnitt zusammenhängt.
Demnach ist für die Salienzskalierung von Bedeutung, ob ein Diskursrefe-
rent im gegebenen Kontext eine bereits bekannte oder eine neue Entität
darstellt. Doch insbesondere seit der Arbeit von Prince (1981) steht fest,
dass die Zugänglichkeit von Referenten kaum mehr mit der traditionellen
Dichotomie von gegeben vs. neu erfasst werden kann. Prince macht deutlich,
dass dieses Begriffspaar nicht ausreicht, um sämtliche im Diskurs vor-
kommenden Stufen der kognitiven Aktiviertheit von Referenten zu be-
nennen. Stattdessen wird eine neuartige Typologie vorgeschlagen, die auf
der Dreiteilung von gegebener, inferierbarer und neuer Information basiert und
darüber hinaus weitere Differenzierungen innerhalb dieser Kategorien
unternimmt. Die Begriffe gegeben und neu – oder die jeweiligen Unterklas-
sen dieser Begriffe – stellen damit die Endpole einer skalaren Anordnung
von Kategorien dar, die von der expliziten Vorerwähnung im unmittelbar
vorangehenden Kontext über verschiedene Arten der Erschließbarkeit aus
dem Diskurshintergrund bzw. aus dem Weltwissen der Diskurspartizipan-
ten heraus bis hin zur Neueinführung brandneuer Entitäten reicht.
Gundel u.a. (1993) vertreten die Ansicht, dass den unterschiedlichen
Gegebenheitsstufen von Referenten im Diskurs unterschiedliche formale
Mittel der Wiederaufnahme entsprechen. Sie stellen in Anlehnung an
Prince (1981) eine Hierarchie von sechs Gegebenheitsstufen zusammen.
Ihnen werden die formalen Mittel zugeordnet, die in einer Vielzahl von
Sprachen als Korrelat der jeweiligen Gegebenheitsstufe identifiziert wur-
den. Die ermittelten Ausdrucksformen reichen von unbetonten Personal-
pronomen über verschiedene semantische Arten von Definitphrasen bis
hin zu Indefinitphrasen, vgl. (9):
(9) The Givenness Hierarchy von Gundel u.a. (1993)
in uniquely type
focus > activated > familiar > identifiable > referential > identifiable
that
{indefinite
{it} this {that N} {the N} {a N}
this N}
his N
Es liegt nahe, die von uns untersuchten Mittel der anaphorischen Wieder-
aufnahme – die Personal- und selbständig gebrauchten Demonstrativpro-
346 Svetlana Petrova / Michael Solf
Bosch und Umbach (2007) gelangen zu der Einsicht, dass für die Ermitt-
lung des Salienzstatus von Diskursreferenten die informationsstrukturelle
Gliederung der vorangehenden Äußerung ausschlaggebend ist. Den sa-
lientesten Diskursreferenten stellt nach ihnen das bereits etablierte Topik
der vorangehenden Aussage bereit.2 Unterschiede in der Referenz anapho-
rischer Ausdrücke sind demnach dann zu erwarten, wenn der unmittelbar
vorangehende Kontext eine klare Topik-Kommentar-Gliederung erken-
nen lässt und wenn neben dem Topik ein weiterer nicht-topikaler Referent
als potentieller Kandidat der Anapherresolution in Frage kommt.
Gegenüber früheren Modellen der Salienzskalierung bringt dieser An-
satz Vorteile in mehreren wesentlichen Punkten mit sich. Zum einen sieht
er vor, dass auch Nicht-Subjekte den ranghöchsten Diskursreferenten der
nachfolgenden Äußerung bereitstellen können, wenn sie bereits als Topik
der Aussage etabliert worden sind. Zum anderen ergibt sich hiermit die
Möglichkeit, Differenzierungen zwischen mehreren gleichermaßen vorer-
wähnten Diskursreferenten vorzunehmen, denn in der Regel hat nur einer
von ihnen das Topik der vorangehenden Aussage bereitgestellt.
Anhand des Faktors Topikalität ermitteln Bosch und Umbach (2007)
den relevanten Parameter, der die Distribution von Personal- vs. De-
monstrativpronomen im Gegenwartsdeutschen bestimmt. Sie zeigen, dass
Demonstrativpronomen eine Präferenz für nicht-topikale Konstituenten
aufweisen, unabhängig davon, ob diese als Subjekt oder Nicht-Subjekt der
vorangehenden Äußerung fungieren. Einschlägig sind in diesem Zusam-
menhang die Beispiele in (11a und b). Der Kontext etabliert den Referen-
ten Karl als Topik der nachfolgenden Aussagen, während Peter Teil der
assertierten (neu hinzugefügten) Information im Erstkonjunkt von (11a
und b) ist und daher in diesen Sätzen nicht als Topik in Frage kommt. In
solchen Fällen ist der Bezug des Demonstrativpronomens der auf das To-
pik Karl grammatisch nicht möglich:
(11) Woher Karli das weiß?
(11a) Peterj hat es ihmi gesagt. Derj / *i war gerade hier.
(11b) Eri hat es von Peterj gehört. Derj / *i war gerade hier. (Vgl.
Bosch und Umbach 2007, 48)
_____________
2 Auch Strube und Hahn (1999) vertreten die Ansicht, dass entgegen der ursprünglichen
Auffassung der Centering Theory von Brennan u.a. (1987) nicht die grammatische Rolle, son-
dern vor allem die informationsstrukturellen Eigenschaften des Antezedens für die Salienz-
ermittlung von Bedeutung sind. Strube und Hahn (1999) beschränken sich dabei jedoch le-
diglich auf den Gegebenheitsstatus des Referenten im Diskurs, was stark in Richtung des
bereits diskutierten Ansatzes von Gundel u.a. (1993) rückt.
348 Svetlana Petrova / Michael Solf
Aber wie lange gilt der hohe Salienzstatus eines bereits etablierten Topiks
im Diskurs? Wie verhalten sich bereits etablierte Topik-Referenten im
Rahmen größerer Diskursabschnitte, z.B. über Episoden- und Kapitel-
grenzen hinweg? Eine Antwort darauf vermitteln uns Ansätze, die bei der
Salienzbewertung nicht nur die Eigenschaften des Antezedens, sondern
auch den Aufbau des Diskurses berücksichtigen wollen.
Ein solches Modell haben Grüning und Kibrik (2005) vorgestellt. Es
kann deshalb als ein multifaktorielles Modell der Salienzbewertung be-
zeichnet werden, weil es nicht die Isolierung bzw. die Identifikation eines
einzelnen relevanten Parameters der Salienzskalierung in den Vordergrund
stellt, sondern davon ausgeht, dass verschiedene Parameter bei der Sa-
lienzbewertung von Diskursreferenten interagieren. Grüning und Kibrik
(2005) differenzieren folgende zwei Gruppen von salienzsteuernden Fak-
toren:
_____________
3 Als Folge dieser Generalisierung ergibt sich Abrahams Beobachtung, dass Demonstrativa
als Anaphern von Pronomen generell unnatürlich sind. In (1)-(2) sind durch die jeweiligen
Pronomen im Zweitkonjunkt jeweils verschiedene Referenten des Erstkonjunkts als To-
piks instantiiert. In beiden Fällen ist ein Verweis auf diese Topiks durch das Demonstrativ-
pronomen im Drittkonjunkt ausgeschlossen:
(1) Hansi traf Alfonsj. Eri trug einen Regenmantel. Der*i fror trotzdem.
(2) Hansi traf Alfonsj. Derj trug einen Regenmantel. Der*j fror trotzdem. (Abraham 2002,
461).
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 349
is, ille und ipse in der Regel durch ein althochdeutsches Personalpronomen
wiedergegeben werden:
(12) lat. & Interrogauerunt eum / discipuli sui.
ahd. Inti fragetun Inan / sine Iungiron. (T 220, 14-15)
(13) lat. non noui illum neque scio / quid dicas.
ahd. niuueiz ih inan noh ih niuueiz / uuaz thu quidis. (T 300, 4-5)
(14) lat. ipsum uero non Inuenerunt
ahd. inan giuuesso nifunden. (T 331, 16)
Besonders häufig ist das üblicherweise anaphorisch genannte is, das, wenn
es selbständig steht, nur in wenigen Ausnahmen nicht einem althochdeut-
schen Personalpronomen entspricht. Etwa halb so häufig tritt ille auf, das
diese Entsprechung in etwa vier Fünfteln der Fälle zeigt. Einen Sonderfall
stellt das noch einmal etwa halb so häufige ipse dar, das erwartungsgemäß
in einem großen Teil der Fälle mit selb- übersetzt wird.
Diesen Entsprechungen stehen die Gleichungen von hic und iste ge-
genüber, die nahezu ohne Ausnahme mit althochdeutschen Demonstra-
tivpronomen wiedergegeben werden:
(15) lat. nolumus hunc regnare / super nos.
ahd. niuuollemes thesan rihhison / obar unsih. (T 264, 16-17)
(16) lat. sicut unum ex istis
ahd. só ein fon thesen (T 70, 30)
Diese Gruppe wird vor allem von hic repräsentiert, während iste in den
lateinischen Vorlagen nur in einer Handvoll Stellen überhaupt vorkommt.
Dass die Übersetzungsgleichungen nicht rein formal, sondern funktio-
nal zu verstehen sind, zeigt nun die Beobachtung, dass die Entsprechun-
gen regelmäßigen Abweichungen unterworfen sind. So entsprechen selbst-
verständlich attributiv verwendete Pronomen im Lateinischen immer
einem formalen Demonstrativpronomen im Althochdeutschen (17). Das
gleiche gilt für Antezedentien von Relativsätzen (18):
(17) lat. Ab illo ergo die / cogitauerunt Interficere eum
ahd. fon themo tage / thahtun erslahan Inan (T 234, 22-23)
(18) lat. ís / qui te & illum uocauit
ahd. ther / ther thih Inti inan giladota (T 180, 17-18)
Stellt man diese Ausnahmen in Rechnung, wird die Teilung der selbstän-
digen Pronomen in zwei Gruppen umso deutlicher: Während is, ille und
ipse mit einem Personalpronomen übersetzt werden, entsprechen hic und
iste einem Demonstrativpronomen.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 351
Die Frage, ob man die Ursache dafür in der Semantik der lateinischen
Pronomen suchen darf, liegt nahe, wird aber durch die Tatsache er-
schwert, dass diese in der Spätantike, aus der die Vorlagen in der Regel
stammen, erstens keine muttersprachliche Grundlage mehr besitzen und
sich zweitens in den gesprochenen Volkssprachen in einer differenzierten
Entwicklung befinden, die mit der Herausbildung des Artikels in den ro-
manischen Sprachen zugleich das deiktische System der Demonstrativ-
pronomen neu ordnet.
Vor diesem Hintergrund überrascht einerseits die Regelmäßigkeit der
Entsprechungen in der räumlich und zeitlich ja weit auseinander gezoge-
nen althochdeutschen Überlieferung. Da andererseits Abweichungen nur
sehr selten sind, liegt die Annahme nahe, dass ein Übersetzer von einer
durch lange Übung erworbenen Gleichung nur dann abweichen wird,
wenn seine Muttersprache eine stärker motivierte Regel dagegenstellt.
Ein klares Bild ergibt sich in der Regel, wenn wir die Antezedentien alt-
hochdeutscher Personalpronomen betrachten:
(19) lat. & erat plebs expectans zachariam / & mirabantur quod tardar&
ipse in templo./ egressus autem ø non poterat loqui ad illos / &
cognouerunt quod uisionem ø uidiss& In templo.
ahd. Inti uuas thaz folc beitonti zachariam / Inti uuvntorotun thaz her
lazz&a in templo. / heruzgangenti nimohta sprehhan zi in / Inti
forstuontun thaz her gisiht gisah In templo (T 27, 22-25)
Unter den aktuellen Diskursreferenten, Zacharias und dem vor dem Tem-
pel wartenden Volk, ist es der erstere, der im vorangehenden Diskurs
bereits als Topik etabliert worden war (Kriterium 1). Er wird hier durch
ein Personalpronomen aufgenommen, und zwar auch dann, wenn dem
Übersetzer aufgrund des Fehlens einer lateinischen Entsprechung ein
Spielraum zur Verfügung steht. Zwar ist auch der zweite Diskursreferent
schon bekannt (Kriterium 2), aber das Personalpronomen verweist hier
auf Zacharias, den salientesten Diskursreferenten, der bereits im unmittel-
bar vorangegangenen Kontext aktiviert war. Dieses in Konkurrenzsitua-
tionen immer wiederkehrende Muster zeigt sich besonders deutlich dort,
wo ausnahmsweise und entgegen der ganz herrschenden Übersetzungs-
gleichung ein Personalpronomen für ein lateinisches Demonstrativpro-
nomen steht:
(20) lat. Nonne hic est qui sedebat / & mendicabat. alii dicebant / quia
hic est
ahd. eno niist thiz ther thie thar sáz / Inti b&olata. andere quadun /
her ist íz (T 221, 3-5)
Die Menge fragt sich angesichts eines von Blindheit Geheilten, ob es sich
dabei um einen bereits allen bekannten Bettler handelt. Dieser erweist sich
im Kontext als Topik der vorangegangenen Aussagen. Hier, wo das latei-
nische Demonstrativpronomen die Setzung eines althochdeutschen De-
monstrativpronomens herausfordert, ist die Wiederaufnahme durch ein
Personalpronomen also nur möglich, weil wir es bereits mit dem salien-
testen Diskursreferenten der vorangegangenen Aussage zu tun haben.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 353
(22) lat. & desideria patris uestri uultis facere. / ille homicida erat ab
Initio.
ahd. Inti lusta Iúuares fater uuoll& Ir tuon. / ther uuas manslago
fon anaginne. (T 218, 20-21)
In (22) treffen wir auf eine vergleichbare Situation: Ein Vater, der Leibhaf-
tige, und seine Nachkommenschaft stellen die Diskursreferenten des Ab-
schnittes und sind bereits im voranstehenden Textabschnitt eingeführt
worden. Dennoch befindet sich einer der beiden in einer schwächeren
grammatischen Position: Während ir für das Subjekt des Satzes steht, ist
Iúuares fater wiederum als Genitivattribut ein vergleichsweise niedrigrangi-
ger Modifikator. Hier, wo eine Lateinabhängigkeit der Pronomenwahl
ausgeschlossen ist, entscheidet sich der Übersetzer wie in (21) für ein De-
monstrativpronomen, um auf den in der vorangegangenen Aussage weni-
ger prominenten Diskursreferenten zu verweisen, und ihn damit zugleich
als Topik der Folgeaussage zu etablieren.
Das folgende vergleichbare Beispiel bietet insofern noch einmal ge-
steigerte Evidenz für die grundsätzliche Vermutung, dass Demonstrativ-
pronomina in Konkurrenzsituationen auf den weniger salienten Diskurs-
referenten verweisen, weil die lateinische Vorlage an der entscheidenden
Stelle gar kein Pronomen enthält, der althochdeutsche Übersetzer also frei
entscheiden konnte, ob und welches Pronomen gesetzt werden soll:
(23) lat. abiit ad eum & rogabat eum / ut descender& & sanar& / fili
um eius. ø Incipiebat enim mori.
ahd. gieng zi imo inti bát inan / thaz her nidarstigi inti heilti / sinan
sún ther bigán thó sterban (T 90, 14-16)
Hier sind sogar drei Diskursreferenten im Spiel: Ein Vater, dessen Sohn,
schließlich Jesus als Heiler. Das Demonstrativpronomen im Folgesatz
referiert hier, wie aus dem Kontext erhellt, auf den sterbenden Sohn. Die-
ser ist weder Topik der vorangegangenen Aussage (Kriterium 1) noch,
anders als die beiden anderen Diskursreferenten, überhaupt vorher gege-
ben (Kriterium 2), sondern wird erst mit dieser Aussage in den Diskurs
eingeführt. Dazu kommt, dass sich sinan sún als direktes Objekt des regie-
renden Verbs der vorangegangenen Aussage in einer grammatisch weniger
prominenten Stellung befindet (Kriterium 3). Auch hier referiert das De-
monstrativpronomen also auf den am wenigsten salienten unter den in
Frage kommenden Diskursreferenten. Da die Anapher, die den Singular
eines Maskulinums signalisiert, ihrer Form nach nicht eindeutig aufzulösen
wäre, kommt der Entscheidung für das Demonstrativpronomen hier eine
gewisse Bedeutung für das Verständnis der Stelle zu. Diesen letzten As-
pekt soll ein weiteres instruktives Beispiel verdeutlichen:
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 355
(24) lat. Mittet filius hominis angelos suos, et colligent de regno eius
omnia scandala et eos qui faciunt iniquitatem, et
mittent eos in caminum ignis.
ahd. Sentit mannes sunu sine angila enti samnont fona sinemo rihhe
alle dea (a)suuihi enti dea ubiltatun enti tuoit dea in
fyures ouan (MF X, 3-5)
Als Diskursreferenten treten auf: Jesus, seine Engel und die Bösen und
Übeltäter. „Der Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln
aus seinem Reich alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft diese in
den Feuerofen.“ Diese Stelle ist durch zwei Besonderheiten gekennzeich-
net: Erstens weicht der althochdeutsche Text im letzten Halbsatz von der
lateinischen Vorlage insofern ab, als er die Rolle des Agens abweichend
besetzt: Hier ist es Gott selbst, der dea in den Feuerofen wirft. Im lateini-
schen Text, durch den Plural des Verbs deutlich, ist es eine Mehrheit, die
eos in dieser Weise bestraft. Zwar ist streng genommen auch hier nur
durch den Kontext klar, dass die Engel die Übeltäter in den Feuerofen
werfen und nicht umgekehrt; der Kontext stellt den richtigen Bezug aber
ohne weiteres her.
Die zweite Besonderheit der althochdeutschen Übersetzung dieser
Stelle besteht nun darin, dass hier ausnahmsweise ein dea einem lateini-
schen eos entspricht, einer der seltenen Fälle, in denen das lateinische
anaphorische Pronomen im Althochdeutschen durch ein Demonstrativ-
pronomen wiedergegeben wird. Offenkundig verwendet der Übersetzer
gerade dieses Pronomen, um ein Missverständnis zu vermeiden. Betrach-
tet man nämlich die Salienzverhältnisse der Diskursreferenten, fällt auf,
dass sich das Demonstrativpronomen wiederum auf den am wenigsten
salienten Diskursreferenten bezieht: Lassen wir die Frage der Gegebenheit
offen, so kommen doch alle dea (a)suuihi enti dea ubiltatun am wenigsten
unter den drei möglichen Kandidaten für die Position des Topiks der
vorangegangenen Aussage in Betracht. Die Engel allerdings haben dort
Subjektstatus, die Übeltäter Objektstatus, eine schwächere grammatische
Position, die nach unseren Annahmen auch nachgeordnete Salienz mit
sich bringt. Dem Übersetzer bleibt nun zum Verweis auf diesen schwä-
cheren Kandidaten nur mehr das Demonstrativpronomen, um eine Irrita-
tion seiner Leser zu vermeiden, dieselbe, die auch wir noch empfinden,
wenn wir an dieser Stelle mit einem Personalpronomen übersetzen: „Der
Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln aus seinem Reich
alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft sie in den Feuerofen.“
356 Svetlana Petrova / Michael Solf
Endriss und Gärtner (2005), die sich mit der Varianz der beiden Kon-
struktionen im Neuhochdeutschen eingehend beschäftigen, haben folgen-
de Bedingungen ermittelt, unter denen die relativsatzähnliche Verb-Zweit-
Struktur möglich ist:
• Ein Verb-Zweit-Relativsatz ist nur als rechtsextraponierter Nach-
satz möglich, nicht jedoch, wenn er im Mittelfeld eines Hauptsatzes
steht, vgl. (28a) vs. (28b); Letzteres ist für einen kanonischen Verb-
End-Relativsatz durchaus möglich, vgl. (28c).
• Ein Verb-Zweit-Relativsatz muss durch ein d-Relativum eingeleitet
werden, nicht aber durch ein w-Relativum, vgl. (29a); dabei kann ein
d-Relativum im V2-Relativsatz durch das Adverbial da ersetzt wer-
den, vgl. (29b).
(28a) Die Apfeldorfer haben viele Häuser gebaut, die stehen heute
leer.
(28b) *Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die stehen heute leer,
gebaut.
(28c) Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die heute leer stehen,
gebaut.
(29a) *Es gibt Länder, wo kostet das Bier ein Vermögen.
(29b) Es gibt Länder, da kostet das Bier ein Vermögen.
Ferner zeigen Endriss und Gärtner (2005), dass auch bestimmte Bedin-
gungen im vorangehenden Satz erfüllt sein müssen, damit ein Verb-Zweit-
Relativsatz möglich ist:
• Der vorangehende Satz muss ein affirmativer Deklarativsatz sein;
vgl. (30a-b) vs. (30c).
• Das Antezedens des d-Relativums muss einen Diskursreferenten
benennen, auf den anaphorischer Bezug im Folgesatz möglich sein
soll6; vgl. (30c) vs. (30a) und (30d).
• Der vorangehende Satz hat für sich genommen einen geringen Mit-
teilungswert und wird erst durch die Information im Folgesatz
_____________
6 Im Idealfall ist das Antezedens des d-Relativums ein Indefinitum, vgl. eine Frau in (30c). Es
kann aber u.U. auch ein sog. indefinites Demonstrativum sein, also eine definit gekennzeich-
nete Phrase, die jedoch weder einen explizit vorerwähnten Diskursreferenten noch eine im
Kontext zugängliche Entität benennt, vgl. Endriss und Gärtner (2005): „Im Sommer gab
es plötzlich diesen Moment, da klappte einfach alles.“
358 Svetlana Petrova / Michael Solf
_____________
7 Wir wissen, dass ein Blatt immer zwei Seiten hat. Daher ist der Inhalt des Erstkonjunkts als
selbständige Aussage nicht möglich. Man kann nicht behaupten, dass ein Blatt nur eine Sei-
te hat.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 359
Wie gesagt ist bei der Wahl zwischen Personal- und Demonstrativprono-
men im Althochdeutschen in den Übersetzungstexten tatsächlich eine
gewisse Abhängigkeit vom lateinischen Vorbild zu beobachten. Der Grad
der Abhängigkeit schwankt von Pronomen zu Pronomen, und gerade
dort, wo die Auflösung der Anapher mangels eines zweiten potentiellen
Referenten im Kontext eindeutig ist, finden wir bei gleicher Struktur der
Vorlage durchaus eine gewisse Variation der lexikalischen Mittel:
(33) lat. Beati misericordes / quoniam ipsi misericordiam consequentur.
ahd. salige sint thiethar sint miltherze / uuanta sie folgent miltidun
(34) lat. Beati mundo corde / quoniam ipsi deum uidebunt
ahd. salige sint thiethar sint subere in herzon /uuanta thie gisehent got
(T 60, 12-15)
Die Seligpreisungen der Bergpredigt, die in (33) und (34) ausschnittsweise
wiedergegeben werden, stellen dafür ein instruktives Beispiel dar. Perso-
nal- und Demonstrativpronomen können hier, wie es scheint, ohne Un-
terschied in ihrer Leistung bei der Wiederaufnahme verwendet werden:
Beispiel (33) zeigt ein Personalpronomen, Beispiel (34) ein Demonstrativ-
pronomen. Trotz gleicher Vorlage (ipse), trotz gleicher Kontextbedingun-
gen beobachten wir hier eine Varianz, die die Frage, ob die Wahl der Pro-
nomen auch eine Stilfrage ist, eindeutig beantwortet: Offenkundig ist das
so. Wie wir gesehen haben, gibt es allerdings Kontexte, in denen die Wahl
des Pronomens spezifischen Zwecken dient. Das gilt übrigens nicht nur
für die Fälle der Übersetzungsgleichungen, sondern auch für diejenigen
Stellen, an denen im Lateinischen gar kein Pronomen steht und der alt-
hochdeutsche Übersetzer sich für ein Pronomen entscheiden muss oder
will:
360 Svetlana Petrova / Michael Solf
6. Schlussfolgerung
Wenn wir anfangs die Frage gestellt haben, was die Wahl des einen oder
anderen referierenden Ausdrucks im Diskurs regelt, so können wir jetzt
sagen, dass die Form des Pronomens im Althochdeutschen grundsätzlich
von den Eigenschaften des Antezedens abhängt, und zwar in der Weise,
dass Demonstrativpronomen einen niedrigeren Salienzgrad der in Bezug
genommenen Diskursreferenten kennzeichnen.
Personalpronomen nehmen in Konkurrenzsituationen in einem Teil
der untersuchten Daten ein bereits etabliertes Topik auf. Demonstrativ-
pronomen beziehen sich dagegen in der Regel auf Diskursreferenten, die
nicht Aboutness-Topik der vorangegangenen Aussage sind. Die Entschei-
dung für Personal- oder Demonstrativpronomen wird also in kritischen
Kontexten durch informationsstrukturelle Mechanismen gesteuert. Sie ist
keine bloße Stilfrage, sondern ein Instrument zur korrekten Auflösung
von Anaphern.
Dieses Ergebnis deckt sich mit den wesentlichen Beobachtungen von
Bosch und Umbach (2007) über die Verteilung von Pro-Formen im Neu-
hochdeutschen und belegt den konstanten Einfluss der Informations-
struktur in der Geschichte der deutschen Sprache.
362 Svetlana Petrova / Michael Solf
Quellen
MF = Hench, George A. (Hrsg.) (1890), The Monsee Fragments. Newly collated text with
introduction, grammatical treatise and exhaustive glossary, and a photo-litographic fac-simile,
Strassburg.
T = Masser, Achim (Hrsg.) (1994), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftbiblio-
thek St. Gallen Cod. 56, Göttingen.
O = Erdmann, Oskar (Hrsg.) (1973), Otfrids Evangelienbuch, 6. Aufl. v. Ludwig Wolff,
Tübingen.
Literatur
1. Einleitung
1.1. Der Forschungsstand zur Syntax des Ahd.
Die Forschungslage zur Syntax des Althochdeutschen (8. / 9. bis 11. Jh.)
ist durch eine recht paradoxe Situation gekennzeichnet: Global betrachtet,
d.h. rein bezogen auf die Anzahl der verfügbaren Arbeiten, darf sie inzwi-
schen als recht befriedigend bezeichnet werden. Allerdings ist dies das
Ergebnis einer Tätigkeit, an der bereits mehrere Forschergenerationen
beteiligt waren und die erst in neuerer Zeit den Charakter einer systemati-
scheren Agenda angenommen hat.
Dies mag auch der Grund dafür sein, dass die Beurteilungen über die
syntaktischen Besonderheiten des Althochdeutschen recht unterschiedlich
ausfallen. Auf der einen Seite wird, in Anlehnung an die ältere Forschung
(z.B. Behaghel 1929, Wackernagel 1892) immer wieder hervorgehoben, die
Wortstellung dieser Stufe des Deutschen sei – wie auch die der übrigen
altgermanischen Sprachen – „freier“, als dies im heutigen Deutschen zu
beobachten sei: „Späterstellungen“ seien durchaus die Regel und die abso-
lute Endstellung des finiten Verbs habe sich erst durch lateinischen Ein-
fluss in frühneuhochdeutscher Zeit verfestigt. Andererseits aber wurden,
vor allem in der generativen Forschung, immer wieder die konvergenten
Tendenzen des Althochdeutschen hervorgehoben, so z.B. bei Lenerz
(1984, 1985, 103), der davon ausgeht, dass man im Bezug auf die Verb-
bzw. Wortstellung für das Deutsche generell keinen starken syntaktischen
Wandel anzusetzen habe.
Ein differenzierteres Bild ergibt sich durch das in letzter Zeit wieder ver-
stärkte Forschungsinteresse an der Verb- bzw. Objekt-Stellung dieser
_____________
* Für hilfreiche Hinweise und Anregungen danke ich Jürg Fleischer; fürs Korrekturlesen
Andrea Sabitzer.
366 Oliver Schallert
gen, wie klar sich das Ahd. im Hinblick auf diese Eigenschaften einem der
beiden Stellungstypen zuordnen lässt. Abschnitt 4 schließlich behandelt in
kursorischer Form die Frage, wie sich die syntaktischen Besonderheiten
der rechten Satzperipherie des Ahd. im Format von Konstituentenstruktu-
ren, d.h. möglichst theorieneutral, erfassen lassen.
Was die Orientierung der VP anlangt, lassen sich die heutigen germani-
schen Sprachen in zwei große Gruppen einteilen, je nachdem ob sie über
eine kopf-initiale VP (= VO) oder eine kopf-finale VP (= OV) verfügen.
Die Beispiele in (1) aus den Sprachen Niederländisch (1a), Afrikaans (1b),
Friesisch (1c) und Deutsch (1d) sowie in (2) aus den Sprachen Englisch
(2a), Dänisch (2b), Färöisch (2c) und Isländisch (2d) illustrieren diesen
Punkt:
(1) Germanische OV-Sprachen:
(1a) Johan heeft een appel gegeten (Nl.)
(1b) Johan het ’n appel geēet (Afr.)
(1c) Johan hat in apel iten (Fri.)
(1d) Johann hat einen Apfel gegessen (Dt.)
(Vikner 2001, 16, Bsp. (37))
(2) Germanische VO-Sprachen:
(2a) John has eaten an apple (Eng.)
(2b) Johan har spist et æble (Dän.)
(2c) Jón hefur etið eitt súrepli (Fär.)
(2d) Jón hefur borðað epli. (Isl.)
(Ebd.)
Jiddisch stellt ein Problem für diese Klassifikation dar, denn wie (3a, c)
demonstrieren, finden sich in dieser Sprache sowohl VO- als auch OV-
Abfolgen; überdies gibt es Abfolgemuster wie (3b), die keinem der beiden
Stellungstypen ohne Weiteres zugeordnet werden können.
368 Oliver Schallert
(3a) Maks hot nit gegebn Rifken dos bukh. (Jid.) [= VO]
Max hat nicht gegeben Rifken das Buch
Max hat Rebekka das Buch nicht gegeben
(3b) Maks hot Rifken nit gegebn dos bukh. [= OV / VO]
(3c) Maks hot Rifken dos bukh nit gegebn. [= OV]
(Diesing 1997, 402, Bsp. (57a., b., c.))
In Schallert (2006) wird dafür plädiert, dass Strukturen wie (3b) einen
dritten Stellungstyp charakterisieren, der als „OV / VO-Mischsystem“
bezeichnet wird und der durch Sprachen bzw. Sprachstufen wie Althoch-
deutsch, Altenglisch oder das ältere Isländische repräsentiert wird. Die
ahd. Beispiele in (4) zeigen, dass es in dieser Sprachstufe nicht nur einen
bloßen Parallelismus von eindeutigen OV-Strukturen (4c) und eindeutigen
VO-Strukturen (4d) gibt, sondern dass auch ‚hybride‘ Strukturen (4a, b) zu
finden sind, die es in dieser Form in keiner der heutigen OV- oder VO-
Sprachen innerhalb der Germania gibt.
(4) Althochdeutsch:
(4a) táz sie nîoman nenôti des chóufes (NB 22,13)
dass sie niemanden NEG-nötigen des Kaufes
(4b) tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (NB 64,13)
dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke
(4c) Úbe dû dero érdo-DAT dînen sâmen beuúlehîst (NB 47,4)
Wenn du der Erde deinen Samen belehnst
(4d) Tisêr ûzero ordo […] mûoze duingen mit sînero
diese äußere Ordnung […] muss zwingen mit ihrer
unuuendigi . diu uuendigen ding (NB 217,20)
Unveränderlichkeit die veränderlichen Dinge
Der zweite Testbereich, der in gewisser Hinsicht eine Teilmenge des ers-
ten bildet, steht in Zusammenhang mit der Positionierung von sog. präfi-
gierten Verben („Partikelpräfixverben“ in der Terminologie von Fleischer /
Barz 1995). Wie in Haider (1997a) ausführlich untersucht, zeigen sich
zwischen einer prototypischen VO-Sprache wie Englisch und einer proto-
typischen OV-Sprache wie Deutsch die folgenden Kontraste in (15), die
durch die Beispiele in (16) bis (20) illustriert werden:
(15) Präfigierte Verben7 in OV und VO:
(15a) linksadjazente (trennbare) Partikel nur in OV: nachschauen, *up
look
(15b)rechtsadjazente und rechtsdistante (trennbare) Partikel nur in
VO: (1) Vo po8 (look up the information); (2) Vo Obj. po (look the in-
formation up).
Wie die Beispiele in (16a) und (16b) zeigen, ist nur in einer OV-Sprache
wie dem Deutschen das linksadjazente Abfolgemuster Verb + Partikel
grammatisch; im Englischen (VO) sind solche Abfolgemuster ungramma-
tisch.
(16a) dass er die Information nachschlägt
(16b)*that he uplooks the information
In VO gibt es grundsätzlich zwei Abfolgemuster, nämlich Verb + Partikel
Objekt (17a) und Verb Objekt Partikel (17b):
(17a) He has looked up the information
(17b)He has looked the information up
Wie (18a, c) zeigen, kann es auch in OV-Sprachen wie dem Deutschen
oder Niederländischen − bedingt durch die Verbzweit-Eigenschaft − zu
Konfigurationen mit rechtsdistanter Partikel kommen; wie aber der Kon-
trast mit (18b, d) demonstriert, ist das rechtsadjazente VO-Muster, in dem
die Partikel dem Objekt vorangeht, ungrammatisch.
(18a) Er warf den Teppich nicht weg (Dt.)
(18b)*Er warf weg den Teppich nicht
_____________
7 Im Folgenden werden trennbare Verbpräfixe als Partikeln angesprochen.
8 VO und pO stehen im Folgenden für Verbstamm bzw. trennbares Präfix.
374 Oliver Schallert
_____________
9 Die beiden Serialisierungen (V-adjazent oder nach dem Objekt) lassen sich im Isländischen
beispielsweise bei reflexiven Verben beobachten: lyfta sér upp 'sich hochziehen', réta upp sér
'sich aufrichten' (Kress 1992, 223).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 375
(20) Vo + po … Obj.:
(20a) He threw out the carpet
(20b)at han kastet ut matten (Nor.)
(20c) *at han smed ud tæppet (Dän.)
(20d) att han kastade bort mattan (Sch.)
(Ebd.; Bsp. (10))
nehmen zu können (vgl. dazu die Diskussion bei Axel 2007, 83-85). Die
Abfolgen in (22) sind repräsentativ für dreigliedrige Verbalkomplexe:
(22a) Uuánda árg-uuíllo âne dáz
weil Bosheit ohne dies
késkeinet3 uuérden2 némahtî1 (NB 201,2)
gezeigt werden NEG-kann-KON
_____________
11 Für Sprecherurteile zu (23) danke ich Jürg Fleischer, Astrid Kraehenmann und Paul Wid-
mer.
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 377
_____________
12 In Ermangelung einer brauchbaren Definition von grammatischem Gewicht ist die Kennzeich-
nung hier informell auf die Länge der Konstituente gemünzt.
13 Eine umfassende Datendiskussion findet sich in Schallert (2007).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 379
In (27) finden sich jeweils ditransitive Verben, bei denen ein Komplement
– in (27a) ein Dativobjekt, in (27b) ein Genitivobjekt 14 – in postverbaler
und das andere in präverbaler Stellung realisiert ist; in (27c) befindet sich
ein Modaladverbial („mít cláten óugôn“) nach dem finiten Verb im Ober-
feld, während das infinite Verb im Unterfeld mit dem direkten Objekt
eine VO-Struktur bildet.
Als Paradebeispiel für Verbketten mit Oberfeld sind Fälle von Verb
projection raising (VPR) zu werten, für welches Phänomen es eine solide
Datenbasis im Althochdeutschen gibt, vgl. z.B. Schallert (2007), Schlach-
ter (2009), Weiß (2007). Die Beispiele in (28) zeigen ein Pronomen (28a),
eine volle DP (28b) sowie ein Adverb zwischen Ober- und Unterfeld
(28c).
(28a) dhazs izs in salomone uuari al arfullit (Is. 632)
dass es in Salomon war alles erfüllt
Hec omnia […] in salomone putat fuisse inpleta
dass es alles in Salomon erfüllt wurde
(28b) táz tu danne mugîst taz uuâra lîeht kesehen (NB 40,11)
dass du dann kannst das wahre Licht sehen
(28c) dhazs dher druhtin nerrendeo christ
dass der Herr rettende Christus
iu ist langhe quhoman
schon ist lange-ADV gekommen
dominus iesus christus olim uenisse [cognoscitur] (Is. 454)
dass der Herr Jesus Christus schon lange gekommen ist
_____________
14 Zu den ahd. Verben mit AKK-GEN siehe Donhauser (1998).
380 Oliver Schallert
(30c) Uuîo uuérdent sie ána getân únserên mûoten? (NB 256,28)
Wie werden sie unseren Sinnen eingeprägt?
(30d) únde [daz] hercules temo fárre daz hórn ába slûoge (NB 53,8)
und [dass] Herkules dem Stier das Horn abschlug
_____________
15 Vgl. Schrodt (2004, 218): „Häufige Ausklammerungen weist auch die im Vergleich zum
Nhd. seltenere Klammer ,Personalform + Verbzusatz‘ auf.“
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 381
Interessant ist folgender Einzelbeleg (aus Notker), der als Indiz für den
Parallelismus von VO- und OV-Strukturen gewertet werden kann: In
(31a) befindet sich das finite Verb im Oberfeld (die linke Satzklammer
wird von der nebensatzeinleitenden Konjunktion daz 'dass' eingenom-
men), während die linksadjazente Stellung der Partikel in (31b) für eine
Stellung im Unterfeld (also in Basisposition) spricht.
(31a) taz er beiz imo selbemo aba dia zungûn (NB 91,3) [= VO]
dass er biss ihm selber ab die Zunge
(31b)ter imo selbemo dia zungûn aba / beiz (NB 16,12) [= OV]
der ihm selber die Zunge abbiss
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie das Auftreten von postverbalen
Komplementen im Ahd. zu deuten ist. Eine in der älteren Forschung (z.B.
Borter 1982 zu Notker) häufig verwendete Strategie besteht darin, solche
Strukturen als epiphänomenale, stilistisch bedingte Erscheinungen zu
charakterisieren, die keiner syntaktischen Erklärung im engeren Sinn be-
dürfen. Als termini technici haben sich hierfür die Kennzeichnungen Aus-
klammerung bzw. Extraposition eingebürgert. Unkontroverse Fälle von Ex-
traposition sind im heutigen Deutschen das Auftreten ‚schwerer‘ Kon-
_____________
16 Dieselbe Korrelation stellt Sapp (2006, 27) für das Frühneuhochdeutsche fest.
17 Dasselbe gilt für die Situation im Althochdeutschen, vgl. Schrodt (2004, 218; § 203).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 383
(34a)Auf Gleis 3 fährt ein [NP der Intercity 342 von Bregenz nach
Wien Westbahnof].
(34b)[…] dáz uuîr irfáren mûozîn
Dass wir erfahren müssen
[NP dîa hóuestát tes fórderôsten gûotes]? (NB 148,18)
die Wohnstätte des vordersten Guten
Problematisch für einen Extrapositions-Ansatz sind aber z.B. die folgen-
den Datenbereiche: (a) Spaltungskonstruktionen, vgl. (35); (b) postverbale
‚leichte‘ Elemente, vgl. (36).
(35a) dû hábest fúnden dîne fríunt .
du hast gefunden deine Freunde
tîe der tíuresto scáz sínt (NB 106,13)
die der teuerste Schatz sind
(35b)dáz er demo chúninge dîe brîeue nebrâhti.
dass er dem König die Briefe NEG-brachte
mit tîen er daz hêrôte-N.AKK gehóubet-scúldigoti
mit denen er die Krone majestätsbeleidigte
(35c) fóne démo diu tímberi chúmet . tero mûot-trûobedo
von dem die Dunkelheit kommt dieser Gemütstrübung
In (35a) ist ein Relativsatz gemeinsam mit seinem Bezugselement („dîne
fríunt“) extraponiert. Wie (35b) aber demonstriert, kann das Bezugsele-
ment auch intraponiert sein – ein Umstand, der einer grundlegenderen
Erklärung bedarf.; in (35c) kommt es zu einer sog. Spreizstellung18 (Hyperba-
ton) von Bezugselement (Kopfnomen) und Genitivattribut.
(36a) thuruh then quimit asuuih (Tat. 319,13)
durch den kommt Böses-NOM
per quem scandalum uenit
(36b)Hábest tû ergézen dînero sâldôn (NB 62,26)
Hast du vergessen deiner Schulden-GEN
_____________
18 Für weitere Beispiele dieser Konstruktion bei Notker siehe Näf (1979, 246ff.).
384 Oliver Schallert
befinden muss; bei (38b) stehen die einzelnen Verben nicht in ihrer
S-Rektion, aber zusätzlich ist das finite Verb nicht – wie bei der IPP-
Konstruktion im Standarddeutschen üblich – an die Spitze der rSkl (also
ins Oberfeld) gerückt worden. Benötigt wird also ein Modell, das einer-
seits liberal genug ist, um zwischen beiden Beschreibungsebenen zu ver-
mitteln, andererseits aber hinreichend restriktiv ist, d.h. nur jene Stellungs-
varianten erfasst, die im ahd. Korpus auch wirklich zu finden sind.
Ich folge hier Haider (1993, 1997b, 2003) in der Auffassung, dass sich
die Satzstruktur und in Sonderheit die Felderstruktur des Deutschen in
folgender Weise auf Konstituentenstrukturen umlegen lässt (einige Details
wurden ausgelassen):
• Vorfeld und linke Satzklammer entsprechen einer funktionalen
Phrase (FP).
• Mittelfeld und rechte Satzklammer entsprechen der Verbalphrase
(VP), die über eine komplexe Kopfstruktur als Projektionsbasis ver-
fügen kann.
Die in (39a) bereits eingeschachtelten Felderabschnitte entsprechen nach
Auffassung Haiders also den folgenden Konstituenten (lSkl = linke Satz-
klammer, rSkl = rechte Satzklammer):
(39a) [Vorfeld] lSkl [Mittelfeld] rSkl …
(39b)[FP … Fo = {lSkl} [VP … [Vo = {rSkl}]]]
Die Besonderheiten des Ahd. sind somit in der Konstituentenstruktur der
Verbalphrase (VP) und den systematischen Kontrasten angesiedelt, die
sich hier zwischen einer OV-Sprache wie Deutsch und einer VO-Sprache
wie Englisch ergeben. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Verhal-
ten von präfigierten Verben. Haider (1997a, 2000, 52) wertet die verb-
distante bzw. verb-adjazente Position der Partikel in Sprachen wie Eng-
lisch oder Norwegisch als direkten Reflex der in diesen Sprachen verfüg-
baren Kopfpositionen, vgl. (40a, b).
(40a) to [VP [phone upi] somebody [VP ei secretly]]
(40b)to [VP phonei somebody [VP [ei up] secretly]]
(40c) [VP jemanden heimlich anzurufen]
(40d) [FP er rufti [VP jemanden heimlich an ei]]
In einer VO-Sprache wie dem Englischen oder Norwegischen sind also
zwei V-Schachteln (und damit zwei Kopfpositionen) nötig, um beispiels-
weise die Argumentstruktur eines transitiven oder ditransitiven Verbs zu
sättigen, während dies in einer OV-Sprache wie dem Deutschen, in der
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 387
sich alle Argumente nach links an den Kopf der VP anlagern, nicht nötig
ist, vgl. (40c). Es gibt nur eine weitere nicht-lokale und obligatorische
Kopfposition, und diese entspricht der linken Satzklammer in V / 1- bzw.
V / 2-Sätzen, vgl. (40d). Ein zweiter wichtiger Unterschied besteht in der
syntaktischen Organisation von zusammengesetzten Verbformen, die in
OV quasi in einen Topf geworfen werden und eine komplexe Kopfstruk-
tur bilden, die kein intervenierendes Material duldet, vgl. (41b); im Engli-
schen hingegen spannt jeder einzelne verbale Kopf eine eigene, nicht-
kompakte VP auf, vgl. (41a).
(41a) that he [VP must [VP have [VP read the book]]]
(41b)dass er [VP das Buch [Vo gelesen (*XP) haben (*XP) muss]]
(41c) dass er [VP das Buch [Aux hättei [Vo lesen sollen ei]]]
Die einzige Ausnahme bilden Ersatzinfinitiv-Konstruktionen, bei welchen
zumindest das finite Auxiliar (gegebenenfalls noch weitere abhängige Ver-
ben) in einer nicht-kanonischen Kopfposition zu finden ist, nämlich dem
Oberfeld, vgl. (41c), (42a); zwischen Ober- und Unterfeld ist u.U. nicht-
verbales Material zu finden, vgl. (42b). Der kategoriale Status dieser nicht-
kanonischen Kopfposition kann nicht einfach vom Typ V sein, da sie im
Wesentlichen nur Auxiliaren bzw. Modalverben offensteht.
(42a) dass [VP er ihn heimlich [AUX hättei … [Vo anrufen sollen ei]]]
(42b)dass [VP er ihn [AUX hättei [VP heimlich [Vo anrufen sollen ei]]]
In dieser Eigenschaft besteht auch der entscheidende Unterschied zu einer
VO-Sprache wie Englisch, die auf Ebene der Argumentstruktur-Projek-
tion keine kategorialen Unterschiede aufweist: Die V-Projektion wird
durch eine weitere Projektion derselben Kategorie erweitert, und diese
Erweiterung ist nicht konstruktionsspezifisch wie im Deutschen bei IPP,
vgl. den Kontrast zwischen (43a) und (43b).
(43a) *dass [VP er riefi ihn [VP an ei]]
(43b)that he [VP phonedi him [VP ei up]]
Ich begnüge mich an dieser Stelle mit einigen Anmerkungen zu den hier
verwendeten Konzepten; für weiterführende Aspekte und insbesondere
für eine Analyse im Rahmen der Projektiven Grammatik (einer repräsenta-
tionellen Variante der Generativen Grammatik) sei auf Haider (1993,
2000, 2009) verwiesen. Auf Basis des bisher Gesagten lassen sich für das
Althochdeutsche jedenfalls vier mögliche Konstituentenstrukturen für die
VP identifizieren, die in (44) anhand von Beispielen illustriert werden:
388 Oliver Schallert
Wenn nun das Althochdeutsche in der Tat als Repräsentant eines dritten
Stellungstyps neben OV und VO gesehen werden kann, ergibt sich die
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 389
5. Fazit
In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, gewisse syntaktische
Besonderheiten des Althochdeutschen in der rechten Satzperipherie typo-
logisch zu interpretieren. Nimmt man wohlbekannte systematische Kon-
_____________
22 Schon Fleischmann (1973) hat nachgewiesen, dass es signifikante Unterschiede zwischen
der kanonischen Verbendstellung des klassischen Lateins und den Stellungsmöglichkeiten
des Mittel- bzw. Neulateins gibt.
23 Dieses Korpus kann online über das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20.
Jh. (DWDS) benutzt werden: http://www.dwds.de/ (Stand: 28.11.08).
24 Weitere Belege für diese Struktur finden sich bei Bech (1983, 67) und bei Haider (2003,
106f.).
390 Oliver Schallert
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229-343.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen
bei der Entstehung von Funktionsverbgefügen
im Althochdeutschen
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit betrachtet das Phänomen der Funktionsverbgefü-
ge aus sprachgeschichtlicher Sicht. Die hierbei im Mittelpunkt stehenden
Fragestellungen lauten:
1. Wie kommt es zum Bedeutungsschwund des Funktionsverbs?
2. Wie entsteht der semantische Mehrwert der Aktionsartmarkierung?
3. Wie hängen die Valenz des Funktionsverbs und die des Nomen
abstractum zusammen?
Bei der Beantwortung dieser Fragestellungen wird von folgender These
ausgegangen: Funktionsverbgefüge nehmen ihren Ausgang von der kon-
kreten Bedeutung der Funktionsverben und auch von deren Satzbau-
plänen. Der Bedeutungsschwund der Funktionsverben resultiert aus einer
Tiefenkasusverschiebung bei einer regulär vom Verb geöffneten Leerstel-
le. Anlass hierfür sind Metaphern, wobei nicht entschieden werden kann,
ob es sich um lexikalisierte Metaphern auf Ebene der langue oder konzep-
tuell-kognitive Metaphern im Sinne von Lakoff / Johnson1 handelt. Bei
einem Bewegungsverb wie queman könnte eine Konzeptmetapher wie folgt
lauten: BEWEGUNG IST GLEICH ZEIT. Der konkrete Ziellokativ
entspricht hierbei dem Semem des Nomen abstractum.
Die vorliegende Studie konzentriert sich auf Belege des althochdeut-
schen Verbs queman aus dem 9. Jahrhundert. Aufgabe ist es, eine Betrach-
tung der Funktionsverbgefüge von der Semantik des Funktionsverbs her,
nach seinem Satzbauplan und den darin enthaltenen Rollen vorzunehmen.
_____________
1 Vgl. Lakoff / Johnson (1980).
396 Christian Braun
_____________
2 Vgl. von Polenz (1987, 169f.).
3 Vgl. ebd., 171.
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Heringer (1973, 169ff.), Greule (1982, 177ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 397
Satz primär nach der Valenz des Verbalabstractums richtet, eventuell mo-
difiziert durch die Aktionsart.6
Relleke betrachtet Funktionsverbgefüge erstmals auch für eine histori-
sche Epoche des Deutschen und konzentriert sich hierbei auf das Alt-
hochdeutsche. Sie steht, was die Auffassung des Phänomens betrifft, ei-
nerseits in der Tradition von von Polenz, weist andererseits aber schon
früher als dieser im Anschluss an Engelen auf die Relevanz der Präposi-
tion als Fügemittel hin.7 Relleke unterscheidet nach formalen Kriterien
zwischen Gefügen folgenden Aufbaus:8
1. Substantiv + Verb: Arbeit verrichten;
2. Artikel + Substantiv + Verb: eine Beratung durchführen;
3. Präposition + Substantiv + Verb: in Erwägung ziehen;
4. Präposition + Artikel + Substantiv + Verb: zur Entscheidung bringen.
Nur für die Strukturen 3. und 4. verwendet sie den Begriff des Funktions-
verbgefüges. Aufgrund des Charakters des bestimmten Artikels im Alt-
hochdeutschen ist – im Gegensatz zum Neuhochdeutschen – die 4. Struk-
tur jedoch weit weniger relevant. Relleke stellt fest, dass bereits im
Althochdeutschen
1. in und zu die häufigsten Präpositionen im Gefüge sind;
2. kommen und bringen als Funktionsverben starke Verbreitung finden.9
herasun-queman 10
în-queman 3
ingegin-queman 7
thanan-, thanana-queman 4
thara-queman 18
thuruh-queman 1
widorort-queman 2
zisamane-queman 3
Bei Kelle ergibt sich folgende Belegsituation:
Beleganzahl
quimu 154 (davon doppelt gezählt: O 5,13,27)15
ana-quimu 1
bi-quimu 7 (+4)
hera-quimu 16
in-quimu 2
ingegin-quimu 6
thara-quimu 1716
thuruh-quimu 1
zisamane-quimu 3
Kelle liefert keinen eigenen heimqueman-Eintrag, sondern führt heim- als
Untereintrag bei quimu auf.17 Gleichzeitig nennt er besagte Belegstellen
zusätzlich noch im normalen quimu-Eintrag.18 Gleiches gilt für herasun-.
Auch für widorort-quimu setzt er keinen eigenen, sondern einen Unterein-
trag beim Simplex an. Dort finden sich beide Belege. Abweichend von
Piper findet sich bei Kelle auch kein Präfixverb thanan(a)queman. Die Ein-
träge werden verstreut beim Simplex angeführt.
Letztlich kumuliert das Problem in der Frage: Liegt ein echtes Präfix
vor, handelt es sich um eine Präposition oder ein Adverb? Dies muss man
für jeden Einzelfall vor Ort entscheiden. In den allerseltensten Fällen
findet man das Präfix aber im Text dort, wo es zu vermuten wäre – direkt
vor dem Verb. Oft ist einer Einordnung als Adverb (und damit als eigen-
ständiges Satzglied) oder als Präposition (und damit als Teil eines anderen
Satzglieds) der Vorzug zu geben. Dies kann die folgenden Verben betref-
fen: anaqueman, thar(a)queman, thuruhqueman, foraqueman, framqueman, furi-
_____________
15 Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1 und 468, Sp. 1).
16 Obwohl Piper hier 18 und Kelle 17 Belege anführen, hat letzterer nicht einfach einen
übersehen. Vielmehr hat Kelle drei Belegstellen weniger und zwei zusätzlich gefunden,
wobei O 3,9,8 bei Piper evtl. zu Recht unter dem Simplex aufgeführt ist (quam thar).
17 Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1).
18 Vgl. ebd., 469, Sp. 2.
400 Christian Braun
_____________
19 Vgl. Wedel (1970, 14).
20 Streitberg (1889, 70ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 401
5. Analyse
5.1. queman allgemein
Der für das ahd. Verb queman postulierte Kasusrahmen lautet paraphra-
siert:
a kommt in (i.e. im Gebiet) b von c über d nach e.
Hierbei handelt es sich bei a um das Agens, bei den anderen Rollen um
Spezifikationen des Lokativs, so wie sie bei einem Bewegungsverb zu
erwarten sind. Die Rolle a ist sehr oft durch Lebewesen besetzt, kann aber
im Grunde auch durch Unbelebtes gefüllt sein, sofern dieses in irgendei-
ner Weise personifizierbar ist. Es ist daher sinnvoll, zwischen einem Pri-
märagens AG (+hum / anim) und einem Sekundäragens AG
(-hum / anim) zu spezifizieren. Bei den Lokativen handelt es sich um den
Situativ, den Ursprungslokativ, den Weg- bzw. Streckenlokativ und den
Ziellokativ.
Für queman in der Bedeutung 'zuteil werden' sind zwei weitere Rollen
relevant: Das affizierte Objekt und der Adressat. Der Kasusrahmen sieht
wie folgt aus:
OBJAFF wird AD von AG / LOKZIEL zuteil.
B 7,8:
zi euuikemo libe dhuruhqhueman zum ewigen Leben gelangen (lat. per-
venire)
M 69,65; M 70,71:
ze deru suonu queman zur Sühne kommen
O 5,6,7:
zi giloubu biqueman zum Glauben kommen / finden
_____________
21 Für das Mittelniederdeutsche listet Lundemo mehrere Beispiele von Funktionsverbgefügen
mit kōmen auf: vgl. Lundemo (1999, 170ff.).
402 Christian Braun
O 2,9,27:
zi suazeren goumon queman zu süßerem Genuss gelangen
O 1,18,6; O 5,12,87; O 5,23,225:
zi ente queman zum Ende kommen
T 13,4:
zi urcunde queman zum Bezeugen kommen
5.3. Beispiele
O 1,18,6: 23 ni mag ich thóh mit worte thes lóbes queman zi énte
O 5,23,225: Ni móht ich thoh mit wórte thes lóbes queman zénte
álles mines líbes frist, wíolih thar in lánte ist
O 2,8,40: es wiht ni quám imo ouh in wán, theiz24 was von wázare gidan
O 3,1,8: súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36: queman mág uns thaz in múat
O 5,23,209:25 Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín
5.4. Pertinenzdative
Bei allen Gefügen mit der Bedeutung 'in den Sinn kommen' tritt ein Phä-
nomen auf, das sie von den anderen Gefügen unterscheidet: der doppelte
Ziellokativ.
O 3,1,8: súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36: queman mág uns thaz in múat
O 5,23,209: Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín
In Fällen wie diesen erscheint es m.E. angemessen, das Pronomen als
Pertinenzdativ zu werten.
6. Schlussfolgerungen
Welchen Eigenbeitrag kann ein Bewegungsverb wie queman zur Semantik
eines Funktionsverbgefüges leisten? Es fällt auf, dass in den allgemeinen
Beispielen der Ziellokativ die am häufigsten realisierte Rolle ist. Gleiches
gilt auch für die Gefüge, wo 'von etwas kommen' gar nicht auftritt. Bis auf
das nicht berücksichtigte Passiv-Gefüge
O 3,10,3: Ni quam er druhtine fon heidinemo wibe in gange odo in loufti sulih
anaruafti
_____________
23 Hier und im Folgebeleg ist durch die NP5 mit worte jeweils schon der semantische Bezug
zum Nomen abstractum hergestellt.
24 I.e. der Wein.
25 Bemerkenswert ist, dass die Wahl von gidráhta hier nicht aus Gründen des Reimzwangs
erfolgt.
404 Christian Braun
folgen sie dem Aufbau 'zu etwas kommen'.26 Somit liegt der semantische
Eigenbeitrag von queman im 'Erreichen von etwas'. Auf den ersten Blick
wird somit ein perfektivierend-resultatives Element beigesteuert. Genau
das ist aber falsch. Vielmehr kommt man zum Beginn dessen, was seman-
tisch durch das Nomen abstractum ausgedrückt wird, nicht zu dessen
Ende. Ob ein Funktionsverb einen inchoativen, allmählich einsetzenden
oder einen ingressiven, plötzlich einsetzenden Bedeutungsbeitrag leistet,
hängt einzig an der Geschwindigkeit, mit der das Ende dessen erreicht
wird, zu dessen Anfang man mit queman gelangt. So kann 'zum Glauben
kommen' ein ganzes Leben dauern (oder auch schnell gehen), 'in den Sinn
kommen' sehr plötzlich geschehen.
Als Ausnahme von diesen inchoativ-ingressiven Gefügen wird immer
wieder das Beispiel 'zu Ende kommen' mit resultativer Aktionsart ge-
nannt.27 In diesen Fällen ist aber bei der Einordnung eine Fehleinschät-
zung unterlaufen. Der Grund hierfür ist, dass man sich von der dem No-
men (!) innewohnenden Aktionsart in die Irre führen hat lassen. Man darf
nicht vergessen, dass manche Verben schon aufgrund ihrer Semantik ge-
nuin auf eine Aktionsart verweisen. Die Aktionsart des Gefüges wird aber
durch das Funktionsverb übermittelt – nicht durch das Nomen abstrac-
tum. Insofern ist zi enti queman ebenfalls inchoativ zu werten: Man beginnt
jetzt mit dem Ende.28
7. Fazit
Insgesamt können 33 Funktionsverbgefüge mit queman ausgemacht wer-
den. Diesen stehen 508 Belege mit 1queman (+hum / anim), 80 Belege von
1queman (-hum / anim) sowie 10 Belege von 2queman ('zuteil werden') ge-
_____________
26 Da keine Präposition als Fügemittel auftritt, wird dieser Beleg nicht als Funktionsverbgefü-
ge gewertet.
27 Z.B. Relleke (1974, 36).
28 Die Plausibilität der Argumentation soll durch folgende Beobachtung gestützt werden: Die
in Vorträgen oft gehörte, manchmal durchaus willkommene Phrase „Ich komme jetzt zum
Ende.“ signalisiert nicht den sofortigen Abschluss eines Vortrags, sondern vielmehr das
Einleiten der Abschlussphase.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 405
Wird das Agens über eine Personifikation mit Unbelebtem besetzt, er-
folgt eine Verschiebung von 1queman (+hum / anim) zu 1queman
(-hum / anim). Wird der Ziellokativ personifiziert (und damit zum Adres-
saten) und gleichzeitig das Agens mit Abstraktem besetzt (und auf diese
Weise zum affizierten Objekt gemacht), wird der Wechsel von 1queman zu
2queman eingeleitet. Wird allerdings nur der Ziellokativ abstrahiert, befindet
man sich auf dem Weg zum Funktionsverbgefüge. Jede dieser Varianten
beruht auf einer subtilen Veränderung des Satzbauplans und der zugehö-
rigen semantischen Rollen. Diese stehen jeweils in Relation zum Semem
des Verbs, wodurch eine wechselseitige Beeinflussung denkbar ist. Als
Resultat ergibt sich eine Fülle verschiedener Alternativen und Möglichkei-
ten.
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Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 407
1. Einführung
Spätestens seit dem Werk von Matzel (1970) ist bekannt, dass die althoch-
deutsche Übersetzung des Traktats De fide catholica ex veteri et novo testamento
contra Iudeos des Isidor von Sevilla keinen einheitlichen syntaktischen Stil
aufweist:
Zwei Techniken des Übersetzens werden in der Is[idor]-Übertragung befolgt:
Außerhalb der Bibelzitate eine sehr selbständige, die mitunter überaus frei ist und
fast der umschreibenden Wiedergabe gleichkommt; sie ist vornehmlich auf eine
adäquate Erfassung des Sinnes der sehr schwierigen theologischen Beweisfüh-
rungen bedacht. In den Bibelzitaten eine auf Selbständigkeit der Ausdrucksweise
verzichtende, der getreuen Verdeutschung des biblischen Wortes dienende, die
vielfach die lapidare Diktion der geheiligten Worte nachahmt und mit archaische-
ren Ausdrucksmitteln arbeitet. (Matzel 1970, 357)
Schon vor ihm hatte Eggers darauf hingewiesen, dass sich „dieser ausge-
zeichnete Übersetzer“ bei der Wiedergabe der Bibelzitate „enger an die
Vorlage“ halte (Eggers 1963, 203). Die für die frühalthochdeutsche Zeit
außergewöhnliche Übersetzungsleistung scheint sich also auf den argu-
mentativen Teil des Traktats zu beschränken, in dem die Gottessohn-
schaft Jesu und der Trinitätsgedanke begründet werden. Die Bibelstellen
aus dem Alten Testament dagegen werden in dem oben angeführten Zitat
als unselbständiger, vorlagennäher und archaischer gedeutet. Neben die-
sen allgemein gehaltenen Wertungen wird Matzel lediglich an einer Stelle
konkret, und zwar wenn es um die Auslassung des Subjektpronomens
(SP) geht. Matzel behauptet, „dass gerade in Bibelzitaten das SP fehlt“
(1970, 357). Er übernimmt diese Behauptung von Eggenberger (1961), der
_____________
∗ Für Anregungen und Diskussionen danke ich meinen Kolleginnen Svetlana Petrova und
Sophie Repp sowie Jürg Fleischer.
410 Eva Schlachter
in einer empirisch breiten Untersuchung das Fehlen und die Setzung der
Subjektpronomen im Althochdeutschen untersucht. Eggenberger deutet
an, möglicherweise aufgrund seiner Lehnsyntaxhypothese, „dass in enger
kongruenter Uebernahme das SP in Zitaten fehle“ (1961, 130). Doch ge-
rade diese Behauptung wird in der ansonsten gründlichen und mit Zah-
lenwerten abgesicherten Untersuchung nicht belegt.1
Eine etwas andere Wertung der Zitatsyntax findet sich lediglich bei
Lippert (1974), der sie – genauso wie die Traktatsyntax – als „frei“ be-
zeichnet. Es handle sich um eine „paraphrastisch-freie“ Übersetzungs-
technik, die eher auf die Vermittlung des Inhalts als auf die des Eindrucks
ziele, während der Traktatteil als „wirkungsbezogen-frei“ zu gelten habe
und einer Wiedergabe mit den eigenen muttersprachlichen Mitteln voll-
ständig entspricht (vgl. Lippert 1974, 40). Trotz der paraphrastisch-freien
Übersetzungstechnik unterliegt die Wiedergabe der Zitatstellen nach Lip-
pert gewissen „Grenzen“ und „Beschränkungen“ (ebd., 45), die mit ihrer
Herkunft aus der Bibel zu tun haben. Dennoch ist es nicht die Lateinnähe
per se, die die Zitatsyntax kennzeichnet, was Lippert anhand der Verbdritt-
konstruktionen zeigt: Alle lateinischen Verbdrittsätze werden in der Zitat-
syntax in solche mit Zweitstellung des finiten Verbs umgewandelt (vgl.
ebd., 82). Hinter den Grenzen der Übersetzungstechnik vermutet Lippert
vielmehr ein „stilistisch motiviertes Vorgehen“, das mit „rhythmischen
Gestaltungsprinzipien“ zu tun habe (ebd., 85).
Festzuhalten bleibt also, dass man sich zwar des Unterschieds zwi-
schen den beiden Übersetzungstechniken bewusst ist, dass es aber bislang
kaum gesicherte und konkrete Kenntnisse über die Art des syntaktischen
Unterschieds oder des Stils gibt.2 Für die Syntaxforschung zum Althoch-
deutschen bedeutet dies, dass man die Herkunft der Belegstellen aus dem
Isidor unbedingt zu beachten hat, worauf in jüngster Zeit ausdrücklich
Fleischer hinweist (vgl. 2006, 35). Doch auch wenn man den Unterschied
beachtet, ergibt sich dessen Wertung noch nicht zwangsläufig. Die Hypo-
these, dass die Zitatsyntax als ‚lateinnäher‘ zu gelten habe, liegt beispiels-
weise auch dem Urteil Axels (2007) zugrunde, das sie nach eigenen Anga-
ben von Matzel übernimmt. Bei der Besprechung von Interrogativsätzen,
in denen dem einleitenden Fragepronomen ein Pronomen und dann erst
das finite Verb folgt, stellt sie fest, dass zwei von drei Beispielen der Zitat-
syntax entstammen. Da die Pronomen aber gegen das Latein eingefügt
_____________
1 Die Auslassung der Subjektpronomen im Isidor und im Matthäus-Evangelium wird in
meiner Doktorarbeit diskutiert.
2 Klemm (1912) ist meines Wissens der Einzige, der die Untersuchung der Bibelstellen von
derjenigen der restlichen Übersetzung getrennt vornimmt. Doch kommt er zu dem
Schluss, dass „der einfluß der satzmelodie für die verbalstellung“ (1912, 42f.) in beiden Tei-
len gleichermaßen ausschlaggebend ist (vgl. ebd., 78).
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 411
wurden, können die Belege nach Axel nicht mehr als Beispiele für den
lehnsyntaktischen Einfluss des Lateinischen eingestuft werden, wie er die
Zitatstellen charakterisiere (vgl. 2007, 245f.). Damit gelten die Belege als
authentisch. Ob die ‚Lateinnähe‘ aber tatsächlich das entscheidende Prin-
zip der Zitatsyntax ist, muss erst noch nachgewiesen werden.
Der vorliegende Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur
Klärung dieser Frage zu leisten. Anhand der im Althochdeutschen noch
relativ stark verbreiteten Verbfrüherstellung im Nebensatz3 soll untersucht
werden, ob sich Zitat- und Traktatsyntax diesbezüglich unterscheiden. Ist
das Phänomen gleichermaßen frequent? Welcher Einfluss kommt dem
Lateinischen zu? Sind die postverbalen Konstituenten syntaktisch und
informationsstrukturell vergleichbar? Der Einbezug der Untersuchung
informationsstruktureller Kategorien, die als Bindeglied zwischen Syntax
und Stil betrachtet werden können, hat zum Ziel, die Übersetzungstechni-
ken der beiden Textteile präziser beschreiben zu können.
Dass die Verbstellung sehr wohl als ein Diagnostikum für Stil benutzt
werden kann, zeigt die Diskussion zur Verberststellung (V1) im deklarati-
ven Hauptsatz. Sie wurde zum ersten Mal von Robinson (1994) als ein
Charakteristikum der Zitatsyntax beschrieben. Robinson untersucht, wie
die 41 Verberstsätze der lateinischen Vorlage im althochdeutschen Text
wiedergegeben werden. Er stellt fest, dass in der Zitatsyntax 15 Mal eben-
falls für einen V1-Satz optiert wird. Die Traktatsyntax dagegen bevorzugt
in 26 Fällen die Wiedergabe durch einen V2- / V3-Satz, die V1-Folge
kommt nur drei Mal vor. Robinson wertet die V1-Sätze als eine Art ‚Flag-
ge‘, die die Bibelzitatstellen als solche ausweist. Darin, dass sie als fremdes
Muster gewertet werden sollen, liegt ihre Funktion, und nicht in der Her-
stellung einer Wort-für-Wort-Übersetzung. Robinsons Wertung von V1
als „a distinctively foreign pattern“ (1997, 25) geht aber sicherlich zu weit.
V1 hat einen festen Platz in der althochdeutschen Syntax, wie gerade auch
neuere Forschungen zeigen: Axel arbeitet die Verbindung von V1 mit
bestimmten Prädikatklassen heraus. V1-Sätze kommen häufig mit unakku-
sativischen Verben wie beispielsweise Bewegungsverben oder in passiv-
ähnlichen Konstruktionen vor. In anderen Fällen ‚ersetzen‘ sie Sätze, in
denen heute ein Expletivum stehen würde (vgl. 2007, 120 u. 124). Hin-
terhölzl / Petrova / Solf (2005) betonen, dass V1 im althochdeutschen
Tatian mit zwei textuellen Funktionen einhergeht. Es dient zunächst der
_____________
3 Es handelt sich natürlich nur um eine relative Häufigkeit. Häufig sind diese Phänomene im
Vergleich zu den Konstruktionen mit Absolutem Dativ oder der Auflösung von Partizi-
pialkonstruktionen des Lateinischen, die ebenfalls schon als Diagnostikum für die Überset-
zungstechnik herangezogen wurden (vgl. Lippert 1974). Die absoluten Zahlen sind statis-
tisch gesehen keineswegs aussagekräftig. Sie werden daher lediglich als empirischer Anker
für die weitere Interpretation verstanden.
412 Eva Schlachter
2. Verbfrüherstellung im Nebensatz
In der Diskussion der Entwicklung der Verbstellung vom Germanischen
zum Althochdeutschen, die vor etwas mehr als hundert Jahren begann,
konzentriert man sich in erster Linie auf die Stellung des Verbs im Haupt-
satz. Weitgehend einig ist man sich über die relativ starke Verbreitung der
Verbzweitstellung im Hauptsatz schon in althochdeutscher Zeit. Eher
umstritten sind dagegen die Verhältnisse im Nebensatz. Zwar gehen
schon Erdmann (vgl. 1886, 194) und Delbrück (vgl. 1911, 73) für das
Althochdeutsche von der Durchsetzung der Verbendstellung im Neben-
satz aus, doch scheint die Beleglage auch andere Beurteilungen nahezule-
gen. Diels (1906) nimmt offenbar die etablierte Zweitstellung im Neben-
satz an, wenn er schreibt: „Wo ein Nebensatz mehrere nominale
Bestandteile enthält, ist die Einschiebung des Verbs hinter dem ersten in
der älteren Prosa etwas ganz gewöhnliches“ (1906, 164). Und auch Be-
haghel wertet die Verbfrüherstellung bis in die Gegenwartssprache als ein
durchaus gängiges Phänomen:
Ich habe dann gezeigt, dass das unrichtig ist, dass in der heutigen Mundart, in un-
serer Umgangssprache wie in altdeutschen Texten, oft genug das Verbum nicht
am Ende steht. Das entscheidende Kennzeichen des deutschen Nebensatzes ist
nicht die Endstellung des Verbs, sondern die Nicht-Zweitstellung, die Stellung
nach der zweiten Stelle; ob danach noch etwas folgt, ist grundsätzlich gleichgültig.
(Behagel 1929, 277)
Robinson (1997) hat speziell die Nebensätze des Isidor – auch auf die Posi-
tion des Verbs hin – untersucht. Er klassifiziert die Nebensätze zunächst
nach ihrer syntaktischen und semantischen Funktion für den Hauptsatz.
Aus seinen Daten geht hervor, dass sich Adverbial- und Relativsätze an-
ders verhalten als indirekte Fragen und mit dhazs eingeleitete Ergänzungs-
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 413
sätze. Die erste Gruppe zeigt eine größere Präferenz für die Verbendstel-
lung als die zweite. Dagegen scheint die Gruppe der mit dhazs eingeleite-
ten Adverbialsätze eine Ausnahme zu bilden: Mehr als die Hälfte aller
Fälle weist Verbfrüherstellung auf. Robinson selbst deutet dies damit, dass
sie häufig die wichtigste Information des gesamten Satzes bereitstellten
(vgl. 1996, 83), wofür er das folgende Beispiel anführt:
(1) dhuo setzida inan in siin paradisi, dhazs ir chihoric uuari gote
Da setzte (er) ihn in sein Paradies, dass er gehorsam wäre Gott
Posuit eum in paradiso, ut esset deo subiectus,
endi furiro uuari andrem gotes chiscaftim.
und vorgezogen wäre (den) andren Gottes Geschöpfen
ceteris creaturis praelatus.
(Is.V.9, Eg. 491-493, He 29, 20-30, 1)
Robinsons genaue und kenntnisreiche Untersuchung hat jedoch den
Nachteil, dass er die von ihm benutzten informationsstrukturellen Kate-
gorien nicht definiert. In welchem Sinne ist beispielsweise die Tatsache,
dass Gott den Menschen in das von ihm geschaffene Paradies setzt, weni-
ger ‚wichtig‘ als die Forderung nach dem Gottesgehorsam? Außerdem ist
die Vergleichbarkeit der einzelnen Verbfrüherstellungstypen nur schwer
oder gar nicht möglich, weil Robinson seine Auszählungen nicht in einer
zusammenfassenden systematischen Darstellung wiedergibt. Und schließ-
lich stellt er sich nicht die Frage, ob auch anhand der Verbfrüherstellung
im Nebensatz Unterschiede zwischen den Bibel- und den Traktatstellen
beobachtet werden können.
Angesichts dieser Mängel erweist es sich also als notwendig, die Verb-
früherstellungen im Isidor-Traktat noch einmal genauer zu untersuchen.
Die Gruppe der mit dass eingeleiteten Nebensätze wurde deshalb ausge-
wählt, weil die Subjunktion dass in den meisten Fällen als solche erkannt
werden kann (im Unterschiede zu den kausalen Konnektoren, die häufig
als Konjunktion vor dem Satz, als Adverb oder als nebensatzeinleitende
Subjunktion eingestuft werden können). Die Instanzen, in denen dass auch
als Relativpronomen interpretiert werden kann, wurden ausgeschlossen.
(2) gibt ein Beispiel für die Verbfrüherstellung aus der Zitatsyntax, (3)
stammt aus dem argumentativen Teil der Traktatsyntax:4
(2) dhazs dhu firstandes heilac chiruni.
dass du verstehst (das) heilige Geheimnis.
... et archana secretorum …
(Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6)
(3) dhazs ir selbo Christ ist chiuuisso got ioh druhtin
_____________
4 Die Beispiele werden nach den Editionen von Eggers (1964) und Hench (1893) zitiert.
414 Eva Schlachter
Es liegt nahe, bei der Frage nach den Ursachen der relativ hohen Anzahl
der Verbfrüherstellungen zunächst die traditionelle These zu überprüfen,
die die Zitatsyntax als besonders ‚lateinnah‘ sieht. Doch ein Vergleich der
acht Belege mit dem lateinischen Original zeigt, dass lediglich die Hälfte
der Fälle parallel gebaut ist. Zwar ist in der Traktatsyntax der Anteil der
dem Lateinischen entsprechenden Sätze geringer (acht von 22), doch deu-
ten die Abweichungen – sowohl in der Zitatsyntax als auch in der Traktat-
syntax – darauf hin, dass das Lateinische nicht die einzige Ursache für die
Früherstellungen sein kann, sondern dass ihm bestenfalls eine verstärken-
de Funktion zukommt.
Eine zweite These, die es zu überprüfen gilt, betrifft die syntaktische
Funktion und die Wortart der postverbalen Konstituenten. Handelt es
sich vorrangig um adverbiale Angaben, die zudem noch aus einer komple-
xen präpositionalen Phrase bestehen oder finden sich in dieser Position
auch Objekte, eventuell sogar pronominaler Natur? Je ‚schwerer‘ eine
Konstituente ist, desto eher wird sie hinter das Verb extraponiert. Von
dieser Möglichkeit macht schließlich auch das Neuhochdeutsche Ge-
brauch, ohne dass man von einer strukturellen Verbfrüherstellung spre-
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 415
Die Aufstellung zeigt, dass ein typisches Merkmal der Zitatsyntax die
Nachstellung von Akkusativ- und Dativobjekten ist. Die Belege, in denen
diese Objekte zusätzlich noch pronominaler Natur sind, entsprechen
mehr oder weniger der lateinischen Vorlage, wie die Belege (4) und (5)
zeigen. (6) entspricht Beleg (2) und ist der Übersichtlichkeit halber noch
einmal aufgeführt:
(4) dhazs ih fora sinem anthlutte hneige imu dheodun.
dass ich vor seinem Antlitz neige ihm (die) Völker.
ut subiciam ante faciem eius gentes
(Is.III.2, Eg.153, He 6, 17-18)
(5) dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zi dhir.
dass (des) Heeres Herr sandte mich zu dir.
quia dominus exercitum misit me ad te
(Is.III.9, Eg. 236, He 13, 6-8)
(6) dhazs dhu firstandes heilac chiruni.
dass du verstehst (das) heilige Geheimnis.
...et archana secretorum…
(Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6)
Beispiel (4) zeigt außerdem, dass der Faktor Einfluss des Lateins durchaus
verschiedenen Interpretationen unterliegen kann. Da es hier um die Frage
der Abfolge der nominalen Glieder am Satzende geht, wurde der Beleg als
‚lateinnah‘ gewertet, obwohl er die lateinische Possessivkonstruktion mit
der authentischen germanischen Entsprechung von Dativ- und Akkusa-
tivobjekt wiedergibt und obwohl die Stellung des Verbs verändert wurde.
Eine weniger ‚strenge‘ Bewertung würde die Beleggruppe Abweichung vom
Lateinischen sogar noch verstärken und das Ergebnis, dass die Nachstellung
von Objekten nicht primär ein lehnsyntaktisches Phänomen darstellt,
416 Eva Schlachter
zusätzlich stützen. Auch der Traktatteil weist vier Belege mit nachgestell-
ten Akkusativ- und Dativobjekten auf, die zum Teil erkennbar gegen das
Lateinische konstruiert sind, doch kommt die Nachstellung von Personal-
pronomen nicht vor.
(7) dhazs ir chihoric uuari gote.
dass er gehorsam wäre Gott.
ut esset deo subiectus.
(Is.V.9, Eg.491-492, He 29, 21-22)
(8) Endi dhazs mittingart firleizssi diubilo drugidha…
Und dass (die) Erde lasse hinter sich der Teufel Trugbilder.
Omissisque mundus d£monum simulacris.
(Is.V.10, Eg.507-508, He 30, 22-23)
(9) dhazs imu arsterbandemu siin fleisc ni chisah enigan unuuillun.
dass, als er starb, sein Fleisch nicht sah auch nur eine einzige
Form der Verderbnis.
quia moriens caro eius non uidit corruptionem...
(Is.IX.12, Eg.719, He 44, 19-20)
(10) dhazs sie ni eigun eouuihd huuazs sie dhar uuidar setzan.
dass sie nicht besitzen irgendetwas, was sie dagegen setzen.
dum non habeant quod proponant.
(Is.V.5, Eg.430-431, He 26, 2-4)
Auffallend bei diesen Beispielen aus der Traktatsyntax ist dagegen, dass
zumindest in den Belegen (9) und (10) mit den postverbalen Konstituen-
ten eine besondere inhaltliche Akzentuierung einhergeht. Sie müssen als
hervorgehoben interpretiert werden, was der Übersetzer dadurch deutlich
werden lässt, dass er in (9) dem nachgestellten Akkusativobjekt ein re-
stringierendes Adjektiv und in (10) ein Indefinitpronomen hinzufügt, das
das Bezugswort für den sich anschließenden Relativsatz liefert. In beiden
Fällen steht die nachgestellte Konstituente im Skopus der Negation.
Festzuhalten bleibt bislang also zweierlei: Die Lateinnähe kann nicht
als ausschlaggebender Faktor bei der Früherstellung des Verbs betrachtet
werden – weder in der Traktat-, noch in der Zitatsyntax. Und außerdem
weist die Zitatsyntax ein syntaktisches Merkmal auf, das sie eindeutig von
der Traktatsyntax unterscheidet: Nur die Zitatsyntax lässt pronominale,
nicht erweiterte Objekte in postverbaler Stellung zu. Man könnte nun die
Vermutung aufstellen, dass die relativ kleine Datenbasis diese Ergebnisse
zu verantworten hat. Doch eine Kontrolluntersuchung der Verbfrüher-
stellung in allen Nebensätzen zeigt, dass weder in der Trakat- noch in der
Zitatsyntax weitere nachgestellte Personal- oder Reflexivpronomen vor-
kommen.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 417
Dieser Abschnitt widmet sich der Frage, ob eine Analyse mithilfe infor-
mationsstruktureller Kategorien prinzipiell eine Erklärung der Verbfrüher-
stellung und der verschiedenen Arten der Nachstellung liefern kann. Ge-
zielt soll der Frage nach der Distribution der fokussierten Argumente
nachgegangen werden. Dahinter steht die Hypothese, dass die postverba-
len Konstituenten in der Zitatsyntax einen anderen informationsstruktu-
rellen Status als in der Traktatsyntax haben. Schon bei Erdmann (1886)
findet sich die Bewertung der finalen Position als einer „hervorgehobe-
nen“:
Die letzte Stelle des Satzes ist eine bevorzugte und wird besonders betonten Satz-
teilen angewiesen. Dies kann aber aus verschiedenen Gründen geschehen; es
dient einerseits dazu, den Satzteil vor allen anderen aussondernd hervorzuheben,
andererseits gerade dazu, eine besonders enge Verbindung desselben mit dem
Verbum anzudeuten. (Erdmann 1886, 190)
Der Begriff der Hervorhebung entspricht der heutigen Deutung als Fokus,
die auch als Emphase oder relevante Information interpretiert wird (vgl. die
Zusammenstellung bei Petrova / Solf 2009). Die Auffassungen über seine
genaue Definition variieren: In der Entwicklungsgeschichte des Begriffs
wird Fokus häufig mit Neuheit gleichgesetzt (vgl. Halliday 1967), wodurch
er größtenteils mit dem Rhema-Begriff der Prager-Schule zusammenfällt.
Dieser new information focus, der zuweilen auch als presentational focus (vgl.
Diesing 1997) bezeichnet wird, kann sich auf eine Konstituente beziehen
(enger Fokus), er kann aber auch die gesamte Verbalphrase betreffen (wei-
ter Fokus). Kontrastfokus stellt häufig eine spezifische Form des engen
Fokus dar. Die folgenden Beispiele nach Hinterhölzl (vgl. 2004, 154) il-
lustrieren die verschiedenen Fokusarten, die meistens anhand von Frage-
Antwort-Paaren wiedergegeben werden:
(11a) Was macht Hans?
Hans [gibt seiner Schwester ein Buch]. (weiter Informationsfo-
kus)
(11b)Was gibt Hans seiner Schwester?
Hans gibt seiner Schwester [ein Buch]. (enger Informationsfo-
kus)
(11c) Hans gibt seiner Schwester [ein BUCH], und keine CD. (Kon-
trastfokus)
Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass durchaus auch
alte Information fokussiert werden kann, was sich mit dem Begriff (und
418 Eva Schlachter
damit der Definition) als new information focus auf den ersten Blick nicht
vereinbaren lässt. Lambrecht findet einen Ausweg aus diesem nicht nur
terminologischen Dilemma, nämlich den Fokus als einen relationalen
Begriff zu verstehen (vgl. 1994, 209ff.). Der Informationswert von Aus-
drücken ist diesen nämlich nicht inhärent, sondern sie erhalten ihn, weil
sie innerhalb einer bestimmten Proposition eine bestimmte neue Rolle
ausfüllen.
The function of FOCUS MARKING is then not to mark a constituent as new
but to signal a focus relation between an element of a proposition and the propo-
sition as a whole. (ebd., 210)
Das Ergebnis dieser Fokusmarkierung ist die Herstellung eines „new state
of information in the addressee’s mind.“ (ebd.) Krifka (2006) dagegen
schlägt vor, alle bislang konkurrierenden Fokusdefinitionen unter dem
1985 eingeführten semantischen Fokusbegriff von Rooth (1985) zu sub-
sumieren, der den Rekurs auf die Alt- / Neu-Unterscheidung vermeidet.
Dieser so genannte Alternativenfokus wird wie folgt definiert:
Focus indicates the presence of alternatives that are relevant for the
interpretation of linguistic expressions. (zit.n. Krifka 2006, 6)
Die Alternativen können darin bestehen, dass man parallel konstruierte
Satzteile hervorhebt oder schon eingeführte Information korrigiert (vgl.
ebd., 12ff.). Kontrastfokus wird eingeschränkt auf die Fälle, in denen der
Vorgängersatz (und zwar nicht in einem Frage-Antwort-Paar) eine Entität
enthält, mit der die kontrastierte Größe direkt in Verbindung gebracht
werden kann. Korrektur ist eine typische Form dieses Kontrastfokus, der
mit spezifischen syntaktischen Positionen einhergehen kann (vgl. ebd.,
20f.). Enger und weiter Fokus dagegen sind keine der Definition inhären-
ten Eigenschaften, sondern ergeben sich aus der Gegenüberstellung der
relevanten Alternativen (vgl. ebd., 18). Obwohl ich im Folgenden auch die
Begriffe neuer Informationsfokus, enger und weiter Fokus und Kontrastfokus ver-
wenden werde, da sie in der Literatur verbreitet sind, habe ich in meinen
Erhebungen versucht, die Fokuskonstituenten mithilfe des Alternativen-
begriffs zu ermitteln.
Bei der Analyse der (alt)germanischen Sprachen hat man nun mit den
verschiedenen Fokusarten auch verschiedene syntaktische Positionen ver-
bunden. Nach Diesing unterscheidet das Jiddische zwischen präverbalem
Kontrastfokus und postverbalem Präsentationsfokus, eine Aufteilung, die
auch von Hinterhölzl (2004) für das Althochdeutsche angenommen wird.
Petrova (2009) weist diese Fokusverteilung anhand eines Tatian-Korpus
nach, das aus 100 Nebensätzen mit Verbend- und 100 Nebensätzen mit
Verbfrüherstellung besteht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die eng
oder kontrastiv fokussierten Konstituenten adjazent vor dem Verb stehen.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 419
Steht das Verb nicht in seiner Endposition, so eröffnet es die Domäne des
weiten Informationsfokus (vgl. Petrova 2009, 21-25):
CP – […XP…]BGR [XP]FOKUS-KON [VP …XP…] FOKUS-INF5
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Verteilung auch für den Isidor gilt,
und zwar gleichermaßen für die Zitat- und die Traktatsyntax. In der von
Krifka vorgeschlagenen Terminologie bedeutet dies, dass der präverbale
Fokus aus dem unmittelbaren Kontext her eine kontrastive Lesart erlaubt,
die dem postverbalen Fokus nicht zukommt. Dieser müsste vielmehr
zusammen mit dem Verb eine eigene Fokusdomäne bilden.
Betrachtet man zunächst die oben angeführten Beispiele aus der Trak-
tatsyntax, so müssen zwei verschiedene Gruppen unterschieden werden:
Die erste mit den Belegen (7) und (8) entspricht dem Muster [Kontrastfo-
kus – Verb – Informationsfokus], die zweite mit den Belegen (9) und (10)
lässt sich mit ihm nicht vereinbaren. In Beispiel (7) muss das präverbale
Adjektiv chihoric eng fokussiert interpretiert werden, wie sich aus dem
Kontext ergibt. Die postverbale Konstituente ist auf keinen Fall eng fo-
kussiert, genauso wenig wie in (8), wo sie zusammen mit dem Verb die
relevante Alternative bereitstellt bzw. als neuer Informationsfokus gedeutet
werden kann. Beide Beispiele entsprechen also dem oben angeführten
Schema.
In der zweiten Gruppe dagegen sind nicht die Konstituenten vor,
sondern die nach dem Verb ‚hervorgehoben‘. Doch handelt es sich auch
um kontrastiven Fokus? Im unmittelbaren Kontext gibt es keine Entität,
von der es sich abzusetzen gilt. Jedoch zeigt schon die – gegen das Latein
– vorgenommene Wahl der lexikalischen Mittel (einzig, irgendein) den
Wunsch des Übersetzers, diese Information zu betonen. Diese Betonung
kommt jedoch dadurch zustande, dass implizit auf eine geordnete Menge
von Alternativen Bezug genommen wird, die betreffende Konstituente
befindet sich am Extrempunkte dieser graduell angeordneten Alternativen
(Skalen). Syntaktisch bezieht sich die Fokussierung nur auf einen Teil der
Nominalphrase, und zwar in (9) auf das Adjektiv einzig, und in (10) auf
den ersten Teil des Indefinitpronomens eouuihd 'irgendetwas'. Diese se-
mantisch sicher noch genauer zu spezifizierende Fokusart ist aber auf
jeden Fall als eng zu deuten, und nicht als Teil eines weiten Fokus, was
den Ergebnissen Petrovas zunächst widerspricht. Die Belege aus der Zi-
tatsyntax sind dagegen damit vereinbar, denn die postverbalen Konstitu-
enten sind keinesfalls als eng fokussiert zu interpretieren.
_____________
5 Die Abkürzungen sind folgendermaßen aufzulösen: CP meint die Complementizer-Position
und entspricht hier der Subjunktion, BGR steht für Background 'Hintergrund', FOKUS-
KON meint Kontrastfokus und FOKUS-INF den Informationsfokus.
420 Eva Schlachter
_____________
6 Der Tatianbeleg wird nach der Ausgabe von Masser (1994) zitiert.
422 Eva Schlachter
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Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 425
1. Fragesätze
„Das Spiel vom Fragen“, so lautet der Titel eines Theaterstücks von Peter
Handke. Die ersten Fragesätze erscheinen in Szene 2: Der Mauerschauer
sagt:
(1) Aber warum fällt mir das Schönfinden heutzutage schwerer und
schwerer? Warum habt ihr Früheren einfach sagen können: Em-
por die Herzen! oder Heilige Salzflut! oder bloß: Erde! Sonne!
oder das Allereinfachste: Zeit genug!? Und warum habt ihr die
nach euch noch segnen können? Und warum werde ich mit jedem
Schritt weiter wegverschlagen von euch und kann so auch nichts
überliefern von eurem Segen an unsere Kinder hinter dem Hori-
zont, die sich dort ahnungslos über dem Abgrund bewegen?1
Der Mauerschauer stellt Ergänzungsfragen mit dem Interrogativadverb
warum in Erst- und dem finiten Verb in Zweitstellung. Die Alte und der
Alte in derselben Szene:
(2) Die Alte: […] „Hast denn du, in deinem Alter, überhaupt noch
Fragen?“ – Der Alte: „Ja, Fragen noch und noch. Und was für
welche! Und du?“ – Die Alte: Ja, ich auch. Je älter ich werde, des-
to mehr Fragen habe ich, desto mehr denke ich alles in Frage-
form.“2
Die Alte formuliert eine Entscheidungsfrage, für deren Klassifizierung das
finite Verb in Erststellung in Kombination mit dem satzschließenden
Fragezeichen maßgeblich ist. Der Alte stellt dann eine Frage, die als ellip-
_____________
1 Handke (1989, 14f.) [Kursivierung im Text durch die Autorin]; Szene 1 ist „sprachlos“.
2 Handke (1989, 23).
428 Claudia Wich-Reif
tisch interpretierbar ist. Das finite Verb und die Akkusativergänzung kön-
nen mit den entsprechenden Satzgliedern gefüllt werden, die die Alte ver-
wendet hat. Syntaktisch eröffnen sich keine Fragen, semantisch eine Men-
ge: Es geht um Fragen, um Infragestellen, um Nicht-Fragen, um Fragen,
die keine Antwort erfordern oder auf die keine Antwort gegeben werden
kann.
Es scheint unstrittig, dass Fragesätze normalerweise in deutlich gerin-
gerer Zahl in schriftsprachlichen Texten vertreten sind als Aussagesätze.3
Die den geistlichen / religiösen Textsorten zugehörige Tatianbilingue ist
als eines der wenigen umfangreichen Textdenkmäler der althochdeutschen
Sprachperiode geeignet, Textgrundlage für die Erforschung von Fragesät-
zen zu sein.4 Dem Text können folgende Merkmale zugeschrieben wer-
den: „erzählender Stil“, „Nähe zur Mündlichkeit“,5 „wörtliche Rede“.6
Die erste Frage in der Tatianbilingue stellt Zacharias (Lk 1,19). Er
richtet sie an einen Engel, der ihm verkündet, dass sein Gebet erhört wor-
den sei und seine Frau einen Sohn gebäre. Zacharias entgegnet: uuanan
uueiz ich thaz . (pag. 27,10 'Woher weiß ich das?'). Zacharias verhindert eine
sofortige Reaktion des Engels, indem er weiterredet und erklärend ich bim
alt Inti mîn quena fram ist gigangan In ira tagun . (pag. 27,11f. 'Ich bin alt und
meine Frau ist betagt.') hinzufügt. Syntaktisch ist die Frage im Althoch-
deutschen entsprechend der deutschen Gegenwartssprache konstruiert
(Interrogativadverb, finites Verb in Zweitstellung) und als Ergänzungsfra-
ge zu klassifizieren. Der Bote Gottes nennt als Antwort seinen Namen
und seinen Auftrag. Er interpretiert die Frage als Ausdruck der Ungläu-
bigkeit und kündigt als Strafe für diese Ungläubigkeit das Verstummen an.
Dieses wiederum zeigt Zacharias, dass der Engel Wahres verkündet hat.
Die zweite Frage taucht in einer vergleichbaren Situation auf: Gabriel wird
von Gott zu Maria gesandt, um ihr die Geburt eines Sohnes anzukündi-
gen. Diese fragt uuvo mag thaz sîn (pag. 28,25 'Wie kann das sein?'). Auch
Maria redet nach der Frage weiter: uuanta ich gommanes uuîs nibin . (pag.
28,25f. 'Ich weiß nämlich von keinem Mann.'). Syntaktisch entspricht die
Struktur der obigen. Maria wird nicht bestraft, der Engel fügt eine weitere
Erklärung an, und Maria sagt schließlich: seno nu gotes thiu uuese mir after
_____________
3 Prell (2001, 25) weist in einem repräsentativen mittelhochdeutschen Korpus nur 2 % aller
Elementarsätze als Fragesätze aus.
4 Für die Tatianbilingue trifft die auf das Mittelhochdeutsche bezogene Aussage Heinz-Peter
Prells zum vergleichsweise hohen Aufkommen von Fragen in „geistlichen“ Textsorten voll
zu; vgl. Prell (2001, 25): „Ihre Domäne sind die geistlichen Texte: in den Predigten dienen
sie als primär rhetorische Mittel der Textgliederung sowie der Lenkung des Le-
sers / Hörers, in erzählenden Texten wie BerEvg [Berliner Evangelistar] stehen sie in dia-
logischen Passagen, wo sie ja auch generell am ehesten zu erwarten sind.“
5 Betten (1987, 398).
6 Ebd., 400f., im Kontext der Wiedergabe lateinischer Partikeln im Althochdeutschen.
„Das Spiel vom Fragen“ 429
thinemo uuorte . (pag. 29,5f.; 'Siehe, nun bin ich Gottes Magd, gemäß dei-
nem Wort.').
Schon in der ältesten Sprachstufe des Deutschen entsprechen die Fra-
gen formal im Großen und Ganzen den heutigen Formen.7 Svetlana
Petrova und Michael Solf weisen für die direkten Fragesätze der „gesam-
te[n] frühe[n] althochdeutsche[n] Textüberlieferung (vor Notker)“8 nach,
dass bereits im Althochdeutschen bei Ergänzungsfragen recht regelmäßig
Zweitstellung des finiten Verbs, bei Entscheidungsfragen Erststellung des
finiten Verbs vorliegt.
Im Folgenden wird die Tatianbilingue dazu herangezogen, zu zeigen,
welche syntaktischen, lexikalischen und graphischen Charakteristika Fra-
gen im Allgemeinen sowie bestimmte Fragesatztypen zeigen, wobei der
Fokus auf dem finiten Verb und den links davon stehenden Elementen
liegt. In einem ersten Schritt werden kurze Überlegungen angestellt, worin
die im Vergleich zu Aussagesätzen feste Stellung des finiten Verbs be-
gründet sein könnte. Im Anschluss daran werden die Fragesätze basierend
auf der formalen Unterscheidung in Ergänzungs- und Entscheidungsfra-
gen funktional-semantisch klassifiziert.
2. Syntaktische, lexikalische
und graphische Markierungen von Fragen
Fragesätze haben (in Abgrenzung zu Aussage- und Aufforderungssätzen)
in Publikationen, die sich (auch) mit der deutschen Syntax beschäftigen,
für alle Sprachstufen des Deutschen einen festen Platz. Es wird betont,
dass Form und Funktion nicht übereinstimmen müssen.9 In der jüngsten
Auflage der Althochdeutschen Grammatik, für die Richard Schrodt einen
Syntax-Band verfasst hat, gibt es zu Fragen nur wenige Informationen. Im
Kontext der Verbstellung geht es insbesondere um Entscheidungsfra-
gen.10 Auch in der neuen, 25. Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik
von Hermann Paul finden sich nur kurze Ausführungen zu den Fragesät-
_____________
7 Grundsätzlich muss hinsichtlich der Satzgliedstellung die besondere Überlieferungssituati-
on der Tatianbilingue berücksichtigt werden. Sie kann eine typische bzw. mögliche für die
althochdeutsche Sprachperiode sein, sie kann aber auch durch den mitüberlieferten lateini-
schen Text, der auf den zweispaltig angelegten Seiten links steht und die Zeilenfüllung vor-
gibt, bedingt sein.
8 Petrova / Solf (2009, 12)
9 Vgl. etwa Altmann (1993, 1006ff.).
10 Vgl. Schrodt (2004, 198, § S 184, 200, § S 187), zu Ergänzungsfragen 201, § S 188; Interro-
gativpronomina und -adverbien werden in Kapitel 5.2.2., Konjunktionen mit w-Anlaut, an-
geführt, 149, § S 137.
430 Claudia Wich-Reif
_____________
11 Vgl. Paul (2007, 398, § S 154, 411ff., § S 170f.).
12 Ehlich (2000, 215).
13 So schon Behaghel (1928, 429f., § 1093).
14 Faksimile online im Internet: http://www.cesg.unifr.ch/virt_bib/handschriften.htm
(24.07.2009).
„Das Spiel vom Fragen“ 431
Abbildung 1: Cod. Sang. 56, pag. 47, Z. 6-14, Codices Electronici Sangallenses
Die erste Frage uuer biſ thū , ist eine Ergänzungsfrage mit einem Interroga-
tivpronomen (uuer) in Erst- und dem finiten Verb (biſ) in Zweitstellung.
Die nächste Frage uuaz nu bist thu helias wird wieder mit einem Interroga-
tivpronomen (uuaz) eingeleitet. Die Äußerung bietet zwei Interpretati-
onsmöglichkeiten. Ausgehend von einem Satzbegriff, der ein finites Verb
voraussetzt, muss die Analyse lauten: Das finite Verb und das Subjekt (bist
thu) sind elliptisch. Gleichermaßen könnte uuaz nu als infinite kommunika-
tive Minimaleinheit (KM)15 interpretiert werden. bist thu helias ist eine Ent-
scheidungsfrage mit dem finiten Verb in Erststellung. Die Antwort ni bin .
ist eine Variante zu Ja. / Nein., wobei die Kopula sīn der Frage wieder
aufgenommen wird. Die Frage bist thu uuîzago . entspricht strukturell der
vorausgehenden. Als Antwort folgt nein .
Die Interpungierung in der rechten, althochdeutschen Textspalte ist
immer im Verbund mit der linken, lateinischen Textspalte zu sehen. Ein
gesamt- oder teilsatzbegrenzendes Zeichen wird entweder in der deut-
schen und in der lateinischen Spalte gesetzt, wobei die Zeichen einander
aber nicht entsprechen müssen, oder nur in der lateinischen Spalte.16 Auch
ein Fragezeichen (C) findet Verwendung. Es erscheint oft nur in der latei-
_____________
15 Vgl. Zifonun / Hoffmann / Strecker (1997, 92 u.ö.).
16 Vgl. hierzu auch Simmler (2005, 91ff.).
432 Claudia Wich-Reif
_____________
17 Es wird von mehreren Schreibern verwendet, so etwa von Schreiber α auf pag. 39, Z. 14,
von Schreiber β auf pag. 73, Z. 24 und Schreiber ζ auf pag. 294, Z. 30. Zudem hat der so
genannte „Korrektor 2“ im lateinischen Textteil mehrmals Punkte zu Fragezeichen ge-
macht. Die Korrektur wurde allerdings nur in einem umgrenzbaren Textabschnitt durchge-
führt.
18 Die Verbindung spezifischer lexikalischer Formen und syntaktischer Strukturen gibt es
auch bei Aussagesätzen; vgl. hierzu etwa Betten (1987, 404f.) zu Uuard thô; Simmler
(2003, 9ff.).
19 Vgl. Abschnitt 3.2.
20 Wobei dies ein theoretisch-typologisches Problem ist.
„Das Spiel vom Fragen“ 433
finite Verb in Drittstellung steht.21 Semantisch sind eno, enonu und ia inte-
ressant, weil Fragen, in denen sie verwendet werden „außer der strukturel-
len Antwortdetermination noch eine bestimmte Antworterwartung zu-
kommt“,22 wie das Textbeispiel deutlich zeigt.23 In der Fragen-Landschaft
gehören sie zur Peripherie; in der Tatianbilingue machen sie einen ver-
gleichsweise hohen Anteil aus.
Eine weitere wichtige lexikalische Markierung von Fragen ist ein vo-
rausgehendes Verbum dicendi, das als ein eine Akkusativergänzung for-
derndes Vollverb des Trägersatzes fungiert und den semantisch wichtigen
Inhalt der Frage(n) syntaktisch unterordnet. Explizit Fragen einleitende
Verba dicendi in der Tatianbilingue sind die Verben eisc@n (lat. sciscitari)
'(er)fragen, sich erkundigen nach' (Beispiel 31), fr$g)n (lat. interrogare)
'(er)fragen' (Beispiel 33), bouhnen (lat. innuere) 'durch Zeichen erfragen'
(Beispiel 30) und wuntr@n (lat. mirari) 'sich wundern' (Beispiele 32, 34).24
Öfters wird zur Einleitung von Fragen wie noch in der Gegenwartsspra-
che kein spezielles, sondern ein allgemeineres Verb aus dem semantischen
Feld 'sprechen' verwendet wie quedan (Beispiel 7), sprehhan oder sag)n oder
beides tritt zusammen auf, wobei das allgemeine Verb stets auf das spe-
zielle, eine Frage einleitende Verb folgt (Beispiel 1525).
3. Funktional-semantische Klassifikation
Wie auch für die deutsche Gegenwartssprache bekannt, gibt es in der
althochdeutschen Tatianbilingue Fälle, in denen Form und Funktion ein-
ander nicht entsprechen. Das trifft insbesondere für die rhetorischen Fra-
gen zu, die als „indirekte Behauptungen“26 bezeichnet werden können. Im
Folgenden werden die Fragesätze in der Tatianbilingue formal in Ergän-
_____________
21 Vgl. Schrodt (2004, 201, § S 188). Petrova / Solf (2009, 8) beziehen sich einleitend auf die
Problematik, nehmen aber selbst keine Stellung. Der Negationspartikel ni hingegen, im
vorliegenden Beleg Klitikon, wird der Satzgliedstatus zumeist abgesprochen, obwohl auch
sie gelegentlich die Position wechselt, also nicht ausschließlich vor dem finiten Verb auf-
tritt; vgl. hierzu auch Wich-Reif (2007, 131ff.).
22 Lühr (1997, 327) mit Bezug auf Conrad (1978).
23 Dieses Beispiel verwendet Lühr (1997, 337f.), um aufzuzeigen, dass die Übersetzung von
nonne mit eno bzw. ia dazu dient, im Althochdeutschen zwischen Fragen (eno) und Behaup-
tungen (ia) zu differenzieren.
24 Vgl. auch Wich-Reif (2005, 71ff.).
25 Hier liegt der besondere Fall vor, dass auf das spezielle, hier eine Antwort einleitende Verb
antuuurten zweimal hintereinander das allgemeine Verb quedan verwendet wird: hér thó ántlin-
ginti imo ſuſ quedantemo quad . (lat. At ille respondenſ dicenti ſibi ait .).
26 So Meibauer (1986, 163).
434 Claudia Wich-Reif
3.1. Ergänzungsfragen
_____________
27 Vgl. auch Braune (2004, 252, § 291).
28 Dazu kommt ein problematischer Beleg auf pag. 150,18 (Siev. 93,2; Mt 17,24), fon wen. Er
gibt das lat. a quibus wieder und bildet somit offenbar eine lateinische Pluralform nach; vgl.
hierzu Braune (2004, 252, Anm. 2). Für die Verwendung von wenan im indirekten Fragesatz
vgl. Abschnitt 3.3.
29 Die zweite Stelle findet sich auf pag. 142,32-143,1; Siev. 90,2; Mt 16,15.
30 Einmal lat. aliquid (pag. 333,29; Siev. 231,1; Lc 24,41), einmal lat. numquid (pag. 337,9; Siev.
236,2; Io 21,5.
„Das Spiel vom Fragen“ 435
Abbildung 2: Cod. Sang. 56, pag. 94, Z. 15-18, Codices Electronici Sangallenses
deutungen 'warum' (lat. quid 14-mal, utquid 2-mal, quare 2-mal) und 'was'
(lat. quid 4-mal, utquid 1-mal) vertreten:
(17) [...] Sed quid exiſtiſ [...] zihiu giengut úz
uidere sehan
Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? (pag. 100,27f.;
Siev. 64,5; Lc 7,26)
Uuelih 'welcher' ist 15-mal in Fragesätzen nachweisbar sowie in zwei KM.
Das Interrogativpronomen bezieht sich auf ein bzw. mehrere Elemente
aus einer Gruppe, es hat also immer ein nominales Bezugsglied und hat
dementsprechend unterschiedliche Kasus-, Numerus- und Genusformen.
Die Nennung der Gruppe kann durch das attribuierte Substantiv erfolgen
oder aber schon vorher. Uuelih fungiert alleine als Linksattribut oder aber
zusammen mit einem Possessiv- oder einem Demonstrativpronomen. In
der folgenden KM wird die Gruppe in der vorausgehenden Äußerung
genannt (bibot 'Gebote'):
(18) [...] dixit illi . [...] thó quad her imo .
quae . uuelichiu .
Da sprach er zu ihm: „Welche?“ (pag. 171,1f.; Siev. 106,2; Mt
19,18)
Das mit fünf Belegen vertretene uuedar (lat. quis / quid) bedeutet 'wel-
cher / was (von beiden / zweien)':
(19) non habentibuſ illiſ unde In tho ni habenten uuanan
redder& . donauit utrisque ſie gultin tho forgab her
giuuederemo
quiſ eum pluſ dilig& , uuedaran minnota her mer .
Da sie nicht wussten, woher sie bezahlt hätten, erließ er sie bei-
den. Welcher von beiden liebte ihn mehr? (pag. 238,23-25; Siev.
138,9; Lc 7,42)
Uuvo und die Varianten uueo und uuio ('wie'), mit denen lat. quomodo über-
tragen wird, ist mit 27 Belegen ein oft verwendetes Fragewort, das ge-
braucht wird, um nach der Art und Weise zu fragen.36 Der folgende Beleg
ist ein gutes Beispiel dafür, zu zeigen, wie die deutsche Syntax in der Tati-
anbilingue verwirklicht werden kann, wenn die Zeile die nötigen Freihei-
ten gibt, und wie im umgekehrten Fall der lateinischen Satzgliedfolge der
Vorzug gegeben wird:
_____________
36 Einmal wird uuvo in einer indirekten Frage verwendet; vgl. Abschnitt 3.3.
438 Claudia Wich-Reif
(22) et dicit eiſ ; quot paneſ hab&iſ C37 tho quad her ín uuvo
managu brot háb& ír?
Und er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? (pag. 118,4ff.;
Siev. 80,4; Mc 6,38)
In Kombination mit michil oder filu (lat. quantus / -a / -um) ist es zu über-
setzen als 'wieviel' (4- bzw. 2-mal), mit einem folgenden temporalen Aus-
druck wie stunta (lat. temporis) als 'wie lange' (1-mal), in der Bedeutung 'auf
welche Weise' findet es sich als Wiedergabe von lat. quomodo einmal.
So ofto übersetzt an einer Stelle lat. quotiens (pag. 158,10; Siev. 98,4; Mt
18,21), so dass angenommen werden kann, dass es 'wie oft' bedeuten soll.
Es folgt die KM unzan ſibun ſtunt (ebd., Z. 13). Uuar(a) 'wohin' ist in der
Tatianbilingue in Fragesätzen neunmal nachweisbar; es wird nach einem
Ort (lat. ubi 6-mal) oder nach einem Ziel (quo 3-mal) gefragt.38 Zu den drei
Belegen kommt eine KM. Auf Jesu Antwort auf die Frage nach dem
Weltende und dem Zeichen seines Kommens (pag. 256,29ff.) folgt die
Frage:
(23) ubi d]e . uuar trohtin .
Wo, Herr? (pag. 258,8; Siev. 147,5; Lc 17,37).
In Kombination mit inzin bedeutet wara 'wie lange, wozu':
(24) Reſpondenſ autem ihſ dixit Tho antuurtita der heilant inti
quad
o generatio infideliſ uuvolaga ungitriuui cunni
& perverſa uſque quo ero inti abuh inzin uuara bin ih
apud uoſ & patiar voſ mit íu inti tholen iuuih
Da antwortete Jesus und sprach: „Oh ungläubiges und falsches
Geschlecht, wie lange muss ich bei euch sein und euch ertra-
gen?“ (p. 148,14-17; Siev. 92,3; Lc 9,41)
Frageeinleitendes wanan 'woher' (lat. unde) ist achtmal belegt. Es dient der
Ermittlung eines Ausgangspunktes. Zu den acht Belegen kommen zwei
KM (pag. 29,19-20; Siev. 4,3; Lc 1,43 und pag. 114,10f.; Siev. 78,3; Mt
13,55). Im lateinischen Textteil gibt es eine weitere KM, im althochdeut-
schen Textteil wurde ohne Inversion die Kopulaform sint eingefügt,39 so
dass sich das finite Verb in Drittstellung befindet:
(25) [...] & dicunt ei [...] tho quadun imo
_____________
37 Das Fragezeichen fügte „Korrektor 2“ ein.
38 Zum Gebrauch von war(a) in einem indirekten Fragesatz (1 Beleg) vgl. Abschnitt 3.3.
39 Die Kopula sīn wird öfters ergänzt, vgl. auch p. 87,24.
440 Claudia Wich-Reif
Abbildung 3: Cod. Sang. 56, pag. 140, Z. 22-25, Codices Electronici Sangallenses
ergo nobiſ wird mit uuanan unſ übersetzt, dann kommt das Zeilenende. Wäh-
rend dieses den Schreiber eher diszipliniert, gibt der Zeilenanfang ihm
eine gewisse Freiheit, das Kommende zu füllen, in diesem Fall dem
Schreiber γ (der gerade eben im lateinischen Teil diſcipuli ausradieren muss-
te ...): Weil er weniger Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben lässt,
kann er nicht nur die Attribute in den Nominalgruppen nach links stellen,
sondern auch noch ein Verb einfügen. Dass insbesondere die Passagen,
die γ einträgt, von typisch deutschen Regel(mäßigkeite)n abweichen, stel-
len auch Svetlana Petrova und Michael Solf fest.40
Ein singulärer Beleg ist ein oba-Satz, der in keine übergeordnete Struk-
tur eingebettet ist: Nachdem Jesus in der Synagoge von Kafarnaum ge-
sprochen hat und viele Jünger empört über seine Rede sind, äußert er das
Folgende:
_____________
40 Petrova / Solf (2009, 16f.).
„Das Spiel vom Fragen“ 441
Abbildung 4: Cod. Sang. 56, pag. 125, Z. 2-4, Codices Electronici Sangallenses
3.2. Entscheidungsfragen
_____________
41 Laut dem Althochdeutschen Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1442, scheint das V von einer
anderen Hand vorgesetzt worden zu sein.
442 Claudia Wich-Reif
Indirekte Fragen sind von einem Trägersatz abhängig und werden in der
Tatianbilingue mit den Verben eisc@n, fr$g)n, wuntr@n oder bouhnen ange-
kündigt. Im Nebensatz, der von einem Verb des Fragens abhängig ist,
steht stets der Konjunktiv. Die wenigen indirekten Fragesätze werden in
der Tatianbilingue mit den Fragewörtern uuar, uuenan, bi hiu und uuvo oder
der Konjunktion oba44 eingeleitet:
(30) [...] Innuebant autē patri eiuſ [...] bouhnitun thô ſinemo
fater
quem uellet uocari eum uuenan her uuolti Inan
ginemnitan uueſan
Da fragten sie seinen Vater durch Zeichen, wie er ihn heißen
wollte. (pag. 30,27f.; Siev. 4,12; Lc 1,62)
(31) ſciſcitabatur ab eiſ ubi chriſtuſ eiſgota fon In uuar chriſt
nascer&ur, gibôran uuari;
Er erkundigte sich bei ihnen, wo Christus geboren werden solle.
(pag. 39,22f.; Siev. 8,2; Mt 2,4)
(32) [...] & mirabantur quare cum muliere [...] inti uuntrotun bi hiu
her mit uuibe
loquebatur . sprichi [sic] .
[...] und sie wunderten sich, warum er mit einer Frau sprach.
(pag. 133,2-3; Siev. 87,7; Io 4,27)
(33) Iterum ergo interrogabant eum abur frag&un ínan
pharisęi . quomodo uidiſſ& . thie pharisei uuvo hér
giſahí
_____________
44 Vgl. Althochdeutsches Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1458f. (ibu, V.). Hier wird auch der mit
dem Verb bisweren eingeleitete Satz auf p. 303,3-6; Siev. 190,1; Mt 26,63, den indirekten
Fragen zugeordnet.
444 Claudia Wich-Reif
_____________
45 Hier lässt sich auch ein Bogen zu dem Handke-Text ziehen. Zu kommunikativer Distanz
und Nähe, Verschriftlichung und Verschriftung vgl. Oesterreicher (1993, 267ff.).
„Das Spiel vom Fragen“ 445
durch einen Erzähler vermittelt, der den Rezipienten schon durch das
Verbum dicendi manipulieren kann.
Ganz dezidiert zeigt sich die Manipulation in den vielen rhetorischen
Fragen, die für den Leser oder Hörer – sofort – kenntlich gemacht wer-
den, indem die Fragen etwa mit eno, enonu46 eingeleitet werden: Der Ge-
fragte fällt keine Entscheidung; er wird indirekt dazu aufgefordert, sich der
Meinung des Fragenden anzuschließen. Signifikant für die Textsorte sind
auch Fragen, denen eine Begründung des Sprechenden folgt, bevor er das
Rederecht abgibt (vgl. 2) und Fragen, die als Antworten fungieren, wie es
Beispiel 15 zeigt und auch ein Gespräch zwischen Pilatus und Jesus (pag.
306,4-13; Siev. 195,1-3; Io 18,33-35): Pilatus fragt Jesus thu biſ cuning iudeono
'Du bist der König der Juden?'. Jesus antwortet mit der Frage fon thir ſelbe-
mo quidiſtu thaz oda andere thir iz quadun fon mir 'Sagst du das von dir selbst
[= von dir aus], oder haben es dir andere von mir gesagt?'. Pilatus erwidert
eno bin ih iudeus Thin thiota inti biſgoffa ſaltun thih mir uuaz tati thu 'Bin ich
denn ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir über-
antwortet. Was hast du getan?'. Schließlich gibt es die Fragen, auf die als
Antwort der nonverbale „Akt“ des Schweigens folgt wie in Beispiel 12.
Und auch hier wird mit der Frageform gespielt. Eine Erklärung für den
Handlungsverlauf in den Evangelien und somit auch für die erzählerische
und sprachliche Gestaltung der Tatianbilingue gibt Jesus bei seiner Gefan-
gennahme, als er sein Nicht-Handeln erklärt (pag. 298,12f.; Siev. 185,5; Mt
26,54): uuio uuerdent gifultiu thiu giſcrip uuantiz ſo gilimpfit zi uueſanne 'Wie wür-
de die Heilige Schrift [Pl.form] erfüllt, dass [= nach der] es so geschehen
muss?'.
Literatur
Althochdeutsches Wörterbuch (2007), auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlas-
senen Sammlungen, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu
Leipzig hrsg. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings, ab Band II hrsg.
v. Rudolf Große, Reprint der Bände I-IV, Berlin.
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gebilde, (Germanische Bibliothek, I. Sammlung germanischer Elementar- und
Handbücher, I. Reihe: Grammatiken 10), Heidelberg.
_____________
46 Althochdeutsches Wörterbuch (2007), Bd. III Sp. 1636. Vgl. auch Abschnitt 3.2.
446 Claudia Wich-Reif
Zum einen aus der Sicht des Rezipienten, der eine Kontextualisierung
wegen der Vagheit und Unterbestimmtheit des Satzbaus erst herstellen
muss. Zum anderen aus der Sicht des Textproduzenten, der offenbar mit
anderen Mitteln für eine Verständnissicherung sorgt, so dass der Situa-
tionskontext der Äußerung nicht missverstanden werden kann.
Für den Wandel von der pragmatisch indizierten Syntax der Vormo-
derne zur entpragmatisierten Syntax lässt sich ein bekanntes Erklärungs-
muster anführen: Der Wandel ist Folge der zweiten Medienrevolution, der
Erfindung des Buchdrucks, wie sie bereits von Marshall McLuhan,1 Eliza-
beth L. Eisenstein2 oder Michael Giesecke3 beschrieben wurde.
Mittlerweile gehört es zu den anerkannten Gemeinplätzen, dass Bü-
cher die überregionale Verbreitung und Multiplizierung des Geschriebe-
nen beförderten, was die endgültige Herauslösung aus der mündlichen
Gebrauchssphäre, etwa die des Vorlesens, und hiermit eine veränderte
Rezeption des Geschriebenen zur Folge hatte. Von der „Ohrensyntax“
zur „Augensyntax“ ist ein Schlagwort, mit dem man „Entpragmatisie-
rung“ zu charakterisieren versucht.4
Und dennoch ist der Unterschied ein gradueller. Auch vorher wird die
Augensyntax bedient und nachher über längere Zeit die Ohrensyntax.
Denn etliche der beobachteten Phänomene können auch in den Frühdru-
cken des 16. Jahrhunderts beobachtet werden.
Im Folgenden werden drei Bereiche aufgeführt, die den Gegenstand
der Kontextualisierung von jeweils anderer Seite beleuchten:
• Der Gebrauch des Kasus als textkohäsives Mittel
• Unter- und Überbestimmtheit der Satzorganisation
• Formelhafte Sprache in der Satz- und Textorganisation.
_____________
5 Für diese Variation wurden immer wieder Erklärungsversuche geboten. Im Folgenden
werden vor allem Anregungen aufgegriffen, die Richard Schrodt zunächst zum Objektsge-
nitiv entwickelt und schließlich auf textlinguistische Aspekte im Syntax-Teil der Althoch-
deutschen Grammatik übertragen hat; hierzu insbesondere Schrodt (1996, 71ff.); ders.
(2004); vgl. auch Habermann (2007, 85ff.).
454 Mechthild Habermann
Konkurrenz von seiten des Akk. oder präpositionaler Verbindungen oder einer
Inf.-Konstruktion, wobei z.T. Nuancen in der Bedeutung des Verbs zu bemerken
sind. Auch kann im Laufe des Mhd. eine Verschiebung zugunsten der präpositio-
nalen Verbindung eintreten.6
Dass ein Unterschied zwischen dem Gebrauch von Genitivobjekt und
Akkusativobjekt besteht, lässt sich am deutlichsten bei den Verben des
Denkens und Wahrnehmens wie etwa gedenken vor Augen führen.7
(1) Beispiel mit Genitivobjekt:
Er gedâhte langer mære, diu wâren ê geschehn
Subjekt V Genitivobjekt
[Nibelungenlied 1757, 1 (1695, 1)]
'Er erinnerte sich an lange Geschichten, die einst geschehen wa-
ren'
Berthold Delbrück stellte in seiner Vergleichenden Syntax der indogermanischen
Sprachen fest, dass die Grundbedeutung des Genitivs die der Teilhabe sei.
Die Grundbedeutung des Akkusativs hingegen die der Betroffenheit.8 Das
im Genitiv Genannte nimmt gewissermaßen von außen Einfluss auf die
im Subjekt genannte Größe. Im Subjekt steht kein richtiges Agens, viel-
mehr ein Experiencer. Denn die im Genitiv vorhandene Größe existiert
unabhängig von der Durchführung der Verbalhandlung. Bezogen auf das
Beispiel (1) heißt dies, dass die schönen Geschichten schon da sind, be-
reits existieren, bevor die Handlung des „Gedenkens“ einsetzt.9
Eine ganz andere Bedeutung liegt bei gedenken mit Akkusativobjekt,
dem „Kasus der Betroffenheit“, vor.
(2) Beispiel mit Akkusativobjekt:
so gedenke ich wol die list
Adverbiale(kaus) V Subj Adverbiale(mod) Akk.obj
[Herbort, 13450]
'Deshalb denke ich mir gutüberlegt die (meine) Vorgehensweise
aus.'
In Beispiel (2) ist die im Akkusativ genannte Größe direkt von der Ver-
balhandlung betroffen, sie ist das Ergebnis des „Nachdenkens“. Hier wird
zusammen mit dem Akkusativ die Bedeutung 'über etwas nachdenken,
etwas ausdenken' aktiviert. Die Verbalhandlung ist auf das Objekt gerich-
tet, das allmählich erst, im Laufe der Handlung, entsteht oder geschaffen
_____________
6 Paul (2007, 340f., § S 71). Zu den betroffenen Verben vgl. Behaghel (1989, 564ff.) und
Ebert (1986, 38f.).
7 Diese Verbgruppe wurde insbesondere von Milligan untersucht; vgl. Milligan (1960).
8 Vgl. Delbrück (1893, 308, § 148; 360f., § 176).
9 Ähnlich sind die Verhältnisse auch bei Verben wie sich erschrecken, vergessen, sich befreien.
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 455
wird und eher abstrakter Natur ist. Das im Akkusativ Genannte ist Inhalt
oder Ergebnis der durchgeführten Verbalhandlung.10 Der Genitiv verweist
also auf ein äußeres, schon vorhandenes Objekt (das durch die Verbal-
handlung ins Bewusstsein geholt wird), der Akkusativ auf ein inneres, erst
im Entstehen begriffenes Objekt, auf ein Resultatsobjekt.
Die Wahl des Komplements, ob bei ein und demselben Verb Genitiv-
oder Akkusativobjekt zu stehen habe, wird neben der Unterscheidung von
äußerem Objekt und Resultatsobjekt auch durch textlinguistische Fakto-
ren bestimmt, was zumindest für die älteren mittelhochdeutschen Text-
zeugnisse noch zutrifft.
Je nachdem, ob das Objekt zuvor schon erwähnt wurde oder nicht,
steht Genitiv- oder Akkusativobjekt. Hier können nun textdeiktische und
textphorische Funktion eng aufeinander bezogen werden: Beim Genitiv-
objekt korreliert das äußere Objekt mit dem Faktor des Vorerwähntseins
bzw. der Bekanntheit und bei der Akkusativergänzung das Resultatsobjekt
mit der Nicht-Bekanntheit. Hiermit ist die Verbvalenz bei etlichen Verben
entscheidend von der given-new-Dichotomie oder Thema-Rhema-Struk-
tur abhängig.
Besonders deutlich ist dieser Unterschied z.B. bei frāgēn im Althoch-
deutschen sichtbar, das nach Schrodt dann den Genitiv aufweist, wenn
der „erfragte Gegenstand oder Sachverhalt [...] meist in irgendeiner Weise
bereits vorerwähnt oder kategorial bekannt“ ist.11 Bei Fragen nach Unbe-
kanntem steht hingegen der Akkusativ. Die anaphorische Funktion des
Genitivs bei mhd. vragen ist reichlich belegt, so z.B. auch im Iwein:
(3) er sprach ‚niene vürhte dir:
sine tuont dir bî mir dehein leit.
nû hân ich dir vil gar geseit
swes dû geruochtest vrâgen: [...]‘
[Iwein, 516-519]
Der Akkusativ findet sich hingegen in folgenden Fällen, wie „den Weg
fragen“ statt „nach dem Weg fragen“.12 Ähnlich auch bei mhd. ahten, mit
Genitiv in der Bedeutung 'auf etwas Acht haben, die Aufmerksamkeit auf
etw. schon Vorhandenes richten':
_____________
10 Ähnlich auch bei Verben wie schreiben oder bauen.
11 Schrodt (2004, 83, § S 78).
12 Vgl. DWB 4, 1, 1, Sp. 52, s.v. fragen.
456 Mechthild Habermann
Gebrauchsprosa des 14. Jahrhunderts, und zwar aus Konrad von Megen-
bergs Buch der Natur):15
(6) Das holta hat die art i_t daa man ea allaeit in waaa’ legt. oder ob es
allcaeit in dem luft _tet/ _o gefault ea _elten ny^er.
[Buch der Natur, Bl. 97r]
Die Ähnlichkeiten mittelhochdeutscher Syntax zur gesprochenen Sprache
sind allenthalben augenfällig. Die sprachlich nicht explizierten Verknüp-
fungen mussten und müssen vom Leser auf der Grundlage des Erfah-
rungswissens dekodiert werden. Die fehlende Eindeutigkeit im logisch-
grammatischen Sinn ist weitgehend aus dem Situationskontext ergänzbar.
Sich ergebende logisch-grammatische Leerstellen konnten und können
durch Erfahrungswissen gefüllt werden.
Auf der anderen Seite ist die Syntax stark geprägt durch verständnissi-
chernde Leseanweisungen, die den mittelhochdeutschen Satzbau aus neu-
hochdeutscher Sicht schwerfällig wirken lassen. Hiervon zeugen die vielen
expliziten Hinweise auf den Zitatcharakter von Äußerungen, die die ge-
samte mittelhochdeutsche Literatur kennzeichnet; hierzu Beispiel (7):
(7) Ari_totiles _pricht. die lerch fGrcht den habich _o _er we] er _i
iagt. daa _i dem mē_chen in _ein _choa fleugt vnd le_t _ich oft mit
der hant vahen.
[Buch der Natur, Bl. 55v]
Vergleicht man damit die neuzeitliche Syntax der geschriebenen Sprache,
so ist der Unterschied der, dass in der Gegenwartssprache eine leserorien-
tierte Syntax vorherrscht: Hierfür sorgen zum einen die grammatisch-
logischen Hinweise, die dem Leser das Verständnis komplexer Satzstruk-
turen erleichtern.
Zum anderen ist die seit dem Frühneuhochdeutschen zunehmend le-
sersteuernde Funktion der Interpunktion, so etwa die Kennzeichnung der
direkten Rede, eine sich entwickelnde zweite Bedeutungsebene; neben den
typographischen Zeichen zählen im weiteren Umfeld auch Abbreviaturen
wie „z.B.“ oder „vgl.“ dazu. Sie dienen der Gliederung und damit Struktu-
rierung sowie der Klassifikation und Einordnung des Dargebotenen als
„Beispiel“, „Vergleich“ oder „direktes Zitat“, die dem Leser implizit, das
heißt auf einer dem primären Text unterlegten zweiten Zeichenebene, den
Äußerungsstatus anzeigen. Der neuzeitliche Leser hat es gelernt, dieses
Instrumentarium in seinem Stellenwert richtig zu interpretieren und zu
_____________
15 Konrad von Megenberg (1377); zur genauen Beschreibung der Handschrift vgl. Hayer
(1998, 192f.).
458 Mechthild Habermann
all vogel chrum’ chloen werffent ir kint aua den ne_t). [...]
[Buch der Natur, Bl. 54r]
In diesem kurzen Abschnitt ist Aristoteles _pricht auf engstem Raum insge-
samt fünfmal mit er _pricht auch wieder aufgenommen. In nur zwei Fällen
ist eine direkte Rede angeschlossen, die mit Ausnahme des verbalisierten
Anführungszeichen x _pricht keine weiteren textuellen Markierungen des
Zitats aufweist.16 Es überwiegt die mit einem daa-Nebensatz angeschlos-
sene indirekte Rede. Die stereotype Wiederholung der Quelle des Zitats ist
zum einen Autoritätsnachweis, zum anderen aber auch Gliederungssignal,
mit dessen Hilfe anstelle von Spiegelstrichen oder Nummerierungen, wie
1., 2., 3. etc., die einzelnen Informationen additiv aneinandergereiht wer-
den können.
Die Konkordanz zum Nibelungenlied (nach der St. Galler Handschrift)
gibt einen Einblick in die Häufigkeit von (relativ) festen Kollokationen,
die allenfalls (nebensatzbedingt) in der Wortstellung oder durch Hinzufü-
gen von Adverbialien als nicht-notwendigen Satzgliedern variieren. Für Dô
sprach (x) sind im Nibelungenlied allein 335 Textstellen, für Dô sprachen (x)
_____________
16 Das Interpunktionszeichen ‚Punkt‘ in Beispiel 9 ist nicht hinreichend signifikant, die direk-
te Rede zu markieren. Zum einen tritt der Punkt zwar häufig, aber nicht regelmäßig auf,
zum anderen dient er bereits weitgehend zur Abgrenzung logisch-syntaktischer Einheiten.
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 459
_____________
17 Vgl. Reichert (2006 Bd. 1, 218ff., Bd. 2, 837f.). Die Zahlenangaben beruhen auf manueller
Auszählung. In weiteren elf Fällen ist im Nebensatz x dô sprach belegt; hinzu kommen 73
Belege von sprach dô x; wenige Beispiele weisen in der Formel Dô sprach (x) vor dem Subjekt
ein lokales Adverbiale (vor y / zu y) bzw. ein modales Adverbiale auf.
460 Mechthild Habermann
(11) Das i_t daa puech von den NatFrleichen dingen ae deut_ch
pracht. von mai_ter Chunraten von Megenberch. ~
[Buch der Natur, Bl. 7r]
Das Explicit bildet die folgende Schlusszeile in direkter Anrede:
(12) Da mit hab eyn end
[Buch der Natur, Bl. 153v]
Der Unterschied zur heutigen Buchgestaltung besteht insbesondere darin,
dass die Titelblattgestaltung meist in nominalisierter Form auf den Inhalt
des Buches referiert und das Ende eines Buches in der Regel unbezeichnet
ist, mitunter aber durch Ende oder Finis angezeigt wird. Die mittelalterli-
chen Propositionen bieten Zuschreibungen, die wiederum auf Zeigegesten
hinweisen und eine Art Gebrauchsanleitung für das Buch zumindest im
Incipit darstellen.
Entpragmatisierte Formen der Überschriftsgestaltung, die an lateini-
schem Beispiel (De Arboribus) orientiert sind, bleiben im darauf folgenden
Fließtext nicht unkommentiert. Der Inhalt von Kapitelüberschriften wird
hierdurch häufig stereotyp wiederholt, die weitere Vorgehensweise ein-
schließlich der Ausführungen zur alphabetischen Reihung metasprachlich
kommentiert. In Beispiel (13) ist eine solche Wiederholung mit der Recht-
fertigung des Vorgehens des Autors verbunden:
(14) Von mangerlay paumen
BJr _chFllen in di_em vierd) _tuckch des puchs _agen von allerlay
pau^e. vnd dea er_ten von gemain) paumen. dar nach von wol
_mekchenden. vnd gar edeln paumen. vnd _chGllen die orde nHg
haben. Daa wir des er_ten von dem _ag) der nam ae latein. _ich.
an ain) a. anhebt vnd dar nach an dem .b. recht als daa. a.b.c. ge-
ordent i_t. _am vn_er weis vor gewe_en i_t in andn ding).
[Buch der Natur, Bl. 96r f.]
Neben deklarativen Sprachhandlungen gibt es eine Reihe von obligatori-
schen bzw. selbstverpflichtenden Sprechakten, die die Syntax der Vormo-
derne als pragmatisch indiziert bestimmt:
(15) aber von den wFrtzen werd wir her nach _agend.
[Buch der Natur, Bl. 54r]
In einer entpragmatisierten Darstellung kann anstelle der Proposition im
Neuhochdeutschen ein kurzer Seitenverweis als Fußnotentext erscheinen:
zu den Kräutern vgl. S. xy.
Aus den Ausführungen folgt: Die modernen typographischen Reprä-
sentationen werden in der Vormoderne über Verbalisierungen in vollstän-
digen Sätzen zum Ausdruck gebracht. Die unverwechselbare Syntax der
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 461
4. Formelhafte Sprache
in der Satz- und Textorganisation
Die mittelhochdeutsche Syntax ist in weiten Teilen der Gebrauchsliteratur
schablonenhaft. Auch die metrisch gebundene Dichtung zeigt bekanntlich
eine Reihe lexikalischer Füllungen, die im Wortlaut nur minimal variieren.
Dies gilt auch für die mittelhochdeutschen Urkunden, deren starke Reg-
lementierung in den obligatorischen Teilen (salutatio, petitio, corroboratio,
etc.) formelhaft geregelte Sprache mit nur geringer Variation aufweist.18
Auch in der naturkundlich-medizinischen Gebrauchsliteratur sind so-
wohl Satz- als auch Textorganisationen stark schematisiert. Die Schemati-
sierung folgt einfachen, elementaren Mustern mit hohem Wiedererken-
nungswert, die sich auf der Grundlage formalisierter Satzbaupläne be-
schreiben lassen. Es handelt sich hierbei um abstrakte Schablonen, die aus
zahlreichen Gebrauchskontexten bekannt sind. Die entscheidende Einheit
ist nicht der nach heutigen Vorstellungen modellierte Satz, sondern die
Informationsstruktur, deren vorherrschendes Merkmal – weitaus stärker
als heute – die kommunikativ-pragmatische Verortung der einzelnen
Textbausteine ist.
Die Satz- und Textmuster, die auf unterschiedlichen Ebenen und in
unterschiedlichen Graden formalisierte Schablonen darstellen, können in
die Nähe des kognitionspsychologischen Schema-Begriffs gerückt werden.
Sie geben deshalb auch Antwort auf die grundlegenden Leitfragen nach
_____________
18 Quantifizierbare Ergebnisse mittelhochdeutscher Kollokationen, Sentenzen, Formeln,
stereotyper Texteinleitungen sind erst dann erwartbar, wenn eine computergestützte Kor-
pusanalyse signifikanter Datenmengen möglich ist. Gerade für Untersuchungen im Bereich
Formelhafte Sprache sind viele neue Einblicke in den Bausteincharakter mittelhochdeutscher
Syntax zu erwarten.
462 Mechthild Habermann
dem Wer? oder Was?, dem Wie? und Wo? oder Wann?, dem Wozu? und
(seltener) nach dem Warum? etc. Die Leitfragen stellen die rationalen Ver-
fahren der Welterschließung spätestens seit Aristoteles dar. Die schemati-
schen Fragestellungen haben sich als standardisierte Formen erfolgreichen
kommunikativen Handelns bewährt und führen nun ihrerseits zu einer
weitgehenden Schematisierung der entsprechenden Antworten.
Die Satzschablonen stellen Formulierungsroutinen dar, die immer
dann auftreten, wenn standardisierte Kommunikationsaufgaben bewältigt
werden müssen.19 Die Aktivierung solcher Muster hilft dem Autor oder
Textproduzenten bei der schnellen Bewältigung der Vertextungsaufgabe.
Auf Seite des Textrezipienten führt die Einhaltung bekannter Muster zu
einer schnelleren Verarbeitung neuer Informationen durch Einordnung in
tradierte Sprachhandlungsformen mit hohem Wiedererkennungswert.
Stephan Stein unterscheidet in seiner Untersuchung zur Formelhaften
Sprache grundsätzlich zwischen „sprachlichen Routinen“ und „konzeptio-
nellen Routinen“.20 Die beiden Typen erscheinen im Text entweder als
Formulierungsstereotype bzw. formelhafte Sprache (= sprachliche Routi-
nen) sowie als Einhaltung eines bestimmten Satz- oder Textmusters
(= konzeptionelle Routinen). Die Modellbildung besteht also zum einen in
der Übernahme sprachlicher Schablonen mit standardisierter Lexik und
zum anderen in der Einhaltung bestimmter formaler Schemata mit variab-
ler Lexik. Bei der Klassifikation spielen Faktoren wie der Grad der lexika-
lischen Füllung, die kommunikative Funktion, die syntaktische Struktur
sowie die Positionierung des Musters in der Textorganisation die ent-
scheidende Rolle.
Die erste Gruppe, die Formulierungsstereotypen oder sprachlichen
Routinen, sind dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte lexikalische
Füllung in einer ausgewählten Struktur stets gegeben ist. Die lexikalische
Füllung, die Wiederholung des immergleichen Wortes bzw. der immer-
gleichen Wörter ist das sie charakterisierende Merkmal. Die Funktion der
Formulierungsstereotypen ist in der Regel immer auch die der Textstruk-
turierung und Organisation im Sinne von Fortsetzungssignalen, Themen-
wechsel und Herausstellung. Formulierungsstereotypen begegnen:
• in der Kapitelüberschrift, etwa in der Formel: „Von der X“.
(15) Von den vogeln in ainer gemain
Von dem adelarn
Von dem arpen.
[Buch der Natur, Bl. 53v-55r]
_____________
19 Vgl. Heinemann / Viehweger (1991, 166).
20 Stein (1995, 301).
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 463
5. Vom Mittelhochdeutschen
zum Neuhochdeutschen
Der Weg von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Syntax ist verbunden
mit dem Prozess der Entpragmatisierung – in folgendem Sinn:
1. Die Emanzipation des geschriebenen Textes aus dem unmittelba-
ren Situationskontext setzt ein Bewusstsein dafür voraus, dass
schriftliche Kommunikation in der Regel Distanzkommunikation
_____________
21 Vgl. hierzu Habermann (2007, 209ff.).
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 465
_____________
22 Strukturelle Kasus weisen in semantischer Hinsicht ein eher unklares Profil auf und sind in
erster Linie durch syntaktische Funktionen (Passivierung etc.) beschreibbar. Vgl. hierzu
insbesondere Abraham (1995, 351ff.); Dürscheid (1999, 86ff.).
466 Mechthild Habermann
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Konstruktionsmuster und -strategien
im mittelhochdeutschen Satzgefüge
Ein Werkstattbericht
1. Einleitung
Das Projekt einer mehrbändigen mhd. Grammatik auf der Grundlage
eines digitalisierten Handschriftenkorpus ist jetzt in die Syntaxphase einge-
treten, und Oslo hat hierbei die Untersuchung der komplexen Sätze, ins-
besondere der Satzgefüge, übernommen.1 In der derzeitigen frühen Phase
der Arbeit stehe ich als Bearbeiter vor zwei grundsätzlichen Problemen:
einem Material- und einem Darstellungsproblem. Die Menge des gespei-
cherten Materials ist riesig (s.u.), und eine irgendwie systematische Be-
schreibung besonders der komplexen Gebilde erscheint angesichts des
Variantenreichtums sehr schwierig.2 Im Folgenden wird der Versuch un-
ternommen, unterschiedliche Erscheinungen im mhd. Satzgefüge auf der
Grundlage eines übergeordneten Beschreibungsprinzips zueinander in
Beziehung zu setzen.
Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Analyse von sieben
Textausschnitten, die sich in zwei (bzw. drei) Gruppen einteilen lassen,
wobei der Bereich der Urkunden und Gesetzestexte noch nicht repräsen-
tiert ist3, insgesamt aber bereits eine gewisse zeitliche Streuung gegeben ist:
_____________
∗ Universität Oslo.
1 Nach heutigem Kenntnisstand dürfte das Satzgefüge der Bereich der Syntax sein, in dem es
seit dem Mhd. zu den meisten strukturellen Wandelerscheinungen gekommen ist.
2 Einen ersten, noch ganz vorläufigen Versuch habe ich in der 25. Auflage der Mittelhoch-
deutschen Grammatik von Hermann Paul (im Folgenden abgekürzt Mhd.Gr.) vor allem auf
der Grundlage von Prosatexten unternommen (vgl. ebd., §§ S 222-231). Auf diese Darstel-
lung nehme ich im Folgenden des Öfteren Bezug.
3 Zu den Satzgefügen in mhd. Urkunden vgl. Schulze (1991).
472 Heinz-Peter Prell
Zwei Versepen:
Nib: Nibelungenlied (C), obd., 1. Hälfte 13. Jh.4
Parz: Wolfram von Eschenbach: Parzival (D), obd., um die Mitte
des 13. Jhs.
Fünf geistlich-religiöse Prosatexte:
1. Drei Predigtsammlungen:
Spec: Speculum ecclesiae C, bair.-alem., Ende 12. Jh.
PrMi: Millstätter (früher Kuppittsch’sche) Predigtsammlung, bair.-
österr., 1. H. 13. Jh.
SalH: Salomons Haus, hess.(-rhfrk.), 2. H. 13. Jh.
2. Zwei narrative Texte:
Hleb: Hermann von Fritzlar: Heiligenleben, hess.-thür., Mitte 14. Jh.5
GnaÜ: Christine Ebner: Von der Gnaden Überlast (N2), ofrk., Mitte
14. Jh.
Pro Text wurden unterschiedliche Passagen im Gesamtumfang von ca.
12.000 Wortformen gespeichert und ausgewertet. Die sieben Texte enthal-
ten insgesamt über 12.000 Elementarsätze und – nach meiner derzeitigen
Analyse – 3.195 Satzgefüge.6 1.249 dieser Gefüge enthalten nur einen
Nebensatz, 1.164 weisen zwei Nebensätze auf, und in 782 Gefügen sind
mehr als zwei Nebensätze enthalten.
In den Predigten liegt der Anteil der Nebensätze am Gesamt der Ele-
mentarsätze sehr konstant zwischen 43 und 44 %; in den Versepen sowie
in GnaÜ ist er deutlich niedriger (Nib: 31,4 %; Parz: 30,7 %; GnaÜ:
32,4 %). Der Text Hleb nimmt mit 37,3 % Nebensätzen eine Mittelstel-
lung ein. Bei den Nebensätzen höheren (zweiten bis fünften) Grades er-
reichen Spec (25,8 % aller Nebensätze) und SalH (23,9 %) Spitzenwerte;
die epischen und narrativen Texte kommen hier lediglich auf ca. 18 %. In
Nib, Parz sowie GnaÜ bildet der dritte Abhängigkeitsgrad die Obergrenze;
die übrigen vier Texte enthalten insgesamt 16 Nebensätze vierten und
einen Nebensatz fünften Grades. Alle diese Werte deuten auf die vielleicht
nicht sonderlich überraschende Tatsache hin, dass die geistlichen Prosa-
_____________
4 Die Datierung bezieht sich auf die mutmaßliche Entstehung der jeweiligen Handschrift,
nicht des Textes. Genauere Angaben zu den einzelnen Korpustexten und den jeweils ge-
speicherten Passagen finden sich in Wegera (2000, 1312ff.), sowie online im Internet unter
http://www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/; zu den Prinzipien der Korpuszusammenstel-
lung vgl. Wegera (2000, 1305ff.).
5 Der Text enthält Exkurse im Stil der Predigtsprache und ist daher nicht eindeutig einzu-
ordnen.
6 Wenn man bedenkt, dass das Gesamtkorpus 102 Texte und das sog. Kernkorpus immerhin
noch 66 Texte umfasst, bekommt man einen Eindruck von der Fülle des Materials (eine
Hochrechnung ergibt allein für das Kernkorpus die Menge von 30.000 Satzgefügen!). Wie
viel hiervon tatsächlich wird berücksichtigt werden können, ist noch ganz ungewiss.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 473
_____________
7 Umgekehrt kann man vielleicht von der immerhin noch beachtlichen Satzkomplexität in
den Epen überrascht sein. Im Nibelungenlied tritt die Hypotaxe vor allem innerhalb der
höfischen Sphäre, besonders im höfischen Dialog, auf: Mir wart gesaget mære. in mins vater
lant. daz hie bi iv wæren. daz het ich gern erkant. die chunsten rechen. des han ich vil verno^. die ie kunic
gewnne. (Nib 107); vil lieber herre min. ich wolde ivch biten gerne. m=ht ez mit fNge sin. daz ich [lies: ir]
mich sehn liezet. wie ich hete daz versolt. ob ir min) frivnden. wæret innechlichen holt. (Nib 1428).
8 In den Verstexten kann die syntaktische Analyse durch die sehr häufige Späterstellung des
finiten Verbs im Hauptsatz erschwert werden (vgl. Mhd.Gr., § S 207.2).
9 Zu Analyseproblemen im mhd. Satzgefüge vgl. auch ebd., § S 222 sowie Kern (1988).
474 Heinz-Peter Prell
nes Obersatzes erscheint;10 ist dies nicht der Fall – steht der Untersatz also
ganz außerhalb seines Obersatzes –, spreche ich von seriellen Techniken.
69 % aller Satzgefüge in meinem Material beginnen mit einem Haupt-
satz. Das einfachste mögliche Muster dieses Typs (ein Hauptsatz mit nur
einem Nebensatz im Nachfeld) stellt mit einem Viertel aller Korpusbelege
das wohl häufigste Gefügemuster überhaupt dar. Folgen auf den ersten
Nebensatz weitere Nebensätze höheren Grades, können recht überschau-
bare integrative Gefüge mit kontinuierlich fallender Satzlinie entstehen (vgl.
Mhd.Gr., § S 223):11
(2) HS: ir °het enboten Rvdeger.
NS 1.Gr.: daz in daz °dvhte gNt.
NS 2.Gr.: daz si der kuniginne. da mite troste den mNt.
NS 3.Gr.: Daz si ir °rite engegene. mit den sinen
man. vf zN d' ense. (Nib 1327)12
(3) HS: Sechs alter °sint uns irzeiget in dîsem lêbene.
NS 1.Gr.: in den wir durch got arbeiten °sch§lin.
NS 2.Gr.: daz wir die êwigen gnâde °besizzen.
NS 3.Gr.: daz diz sibinte °ist. in enir wêrlt.
NS 4.Gr.: da wir °rNuuin unze an die urstênte.
(Spec 13v)
Schon früh treten nach einem initialen Hauptsatz gelegentlich Nebensatz-
häufungen in einer diskontinuierlichen Satzlinie (d.h. mit wechselndem
Abhängigkeitsgrad) auf, die nicht immer eindeutig analysierbar sind. Im
folgenden Beleg aus dem 12. Jh. enthält das Gefüge acht Nebensätze:
_____________
10 Integrative Muster liegen also vor, wenn ein Nebensatz ersten Grades im Vor-, Mittel- oder
Nachfeld des Hauptsatzes bzw. ein Nebensatz höheren Grades im Mittel- oder Nachfeld
des übergeordneten Nebensatzes steht. Die Existenz eines Vorfeldes wird hier für den Ne-
bensatz nicht angenommen (s.u. Anm. 14). Zur Vorstellung eines Außenfeldes s.u. Beleg
(6) und die Anm. 13.
11 Siglen: HS = Hauptsatz; NS x.Gr. = Nebensatz x. Grades; eNS / eHS = eingeschalteter
NS bzw. parenthetischer HS; R(est) = Obersatzrest nach eNS; HSi = abhängiger HS (indi-
rekte Rede); ° = finites Verb.; T = nicht satzförmiger Teil des Satzgefüges (ohne finites
Verb). Die Einrückungen signalisieren den jeweiligen Abhängigkeitsgrad.
12 Belege aus den Verstexten werden mit der heute üblichen Strophen- bzw. Abschnittszäh-
lung nachgewiesen.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 475
(4) HS: div alti ê. °brahti die selben gnâde den kinden
NS 1.Gr.: die besnîtin °Yrdin.
NS 1.Gr.: daz si ledich °wârn der sunte.
NS 2.Gr.: die si von adâme °hetin.
NS 1.Gr.: also div hêre t?fe nv °ur§mit den.
NS 2.Gr.: die get?fet °wêrdent.
T / HS-R?: wan des einen.
NS 1.Gr.: daz si in daz himelrich niht chomin. °mahtin.
NS 2.Gr.: ê der geborn °wart
NS 3.Gr.: der uns daz hîmelrich °entslôz. mit sin
selbis tôde. (Spec 12r)
In den späten Texten, besonders in SalH, kommt die Konstruktionsweise
häufiger vor. Hier ein Gefüge aus zehn Nebensätzen, die auf einen recht
kurzen initialen Hauptsatz folgen:
(5) HS: nv °merke aber mit mir
E_T: geistlicher menshe.
HS-R: nv die minne vnde die liebe.
NS 1.Gr.: die dir got svnderliche. aber an disen dingen geof-
fenberit °hat.
NS 2.Gr.: da mide daz ime nivt dar ane °begnvgeda.
NS 3.Gr.: daz er dir bewiset °hat. die seilekeit diner
geshefnisse vnde diner losvngen.
NS 2.Gr.?: offe daz dv dar ane °irkentes.
NS 3.Gr.: daz er din ganz frvnt °were.
NS 4.Gr.: der dir so groze selikeit zv gekeret °hat.
NS 2.Gr.: vnde daz dv dar ane °provetis.
NS 3.Gr.: daz dv ime von rehte dinen °soldes.
NS 2.Gr.: vnde daz dvz froliche °tedis.
NS 3.Gr.: wande dv so manic zeihen siner minnen
°hedis. (SalH 55)
Ebenfalls schon früh treten komplexe gestreckte Gefüge mit Einschaltun-
gen und diskontinuierlicher Satzlinie auf. Im folgenden Beleg werden
charakteristische serielle und integrative Techniken miteinander kombi-
niert:
476 Heinz-Peter Prell
_____________
13 Es handelt sich um eine serielle Technik, weil das Außen-‚Feld‘ im Gegensatz zu Vor-,
Mittel- und Nachfeld nicht zur regulären Struktur des Hauptsatzes gehört; so können Au-
ßenfeldkonstituenten stets weggelassen werden, ohne dass der Hauptsatz ungrammatisch
wird. Zum Außenfeld im Nhd. vgl. Zifonun u.a. (1997, Bd. 2, 1577ff.); die Duden-
Grammatik (2005, 899f.) spricht von einem „Vorvorfeld“. Vgl. auch Mhd.Gr., §§ S 209.4
u. 224.2.
14 Da ich im Gegensatz zu manchen Grammatike(r)n (z.B. Duden-Grammatik (2005, 877))
davon ausgehe, dass Nebensätze kein Vorfeld haben, ist auch dieser Konstruktionstyp als
seriell einzustufen. Vgl. Mhd.Gr., § S 227.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 477
_____________
15 Dabei erfolgt nur die erste Einschaltung (zweite Zeile des Beispiels) im Mittelfeld des
Obersatzes; in den übrigen Fällen werden die Nebensätze zwischen zwei Verbalphrasen ih-
res Obersatzes geschaltet, so dass der jeweilige Obersatzrest mit dem Konjunktor unde be-
ginnt. Zwischen diesen beiden den Obersatz unterschiedlich stark dissoziierenden Typen
der Einschaltung besteht wohl ein qualitativer Unterschied; vgl. unten Beispiel (12).
16 Es ist sicher noch zu früh, diesen Befund zu verallgemeinern, aber auch an anderem Mate-
rial gewonnene Befunde deuten darauf hin, dass die Häufigkeit der Einschaltung von Ne-
bensätzen im Mhd. diachron rückläufig ist, vgl. Mhd.Gr., § S 225.
478 Heinz-Peter Prell
_____________
17 Eine Majuskel innerhalb eines Ganzsatzes ist in PrMi selten, aber möglich. Vielleicht hat
der Schreiber hier aber auch die Übersicht über die Konstruktion verloren.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 479
_____________
18 Mit der Einschaltung des ersten NS in das Mittelfeld des HS (s.o. Anm. 15) und der erneu-
ten Einschaltung des NS zweiten Grades liegt hier in einem Text des 12. Jhs. der erstaunli-
che Ansatz zu einem ‚klassischen‘ Schachtelsatz vor, und nach der heutigen Vorstellung
von syntaktischer Wohlgeformtheit müsste der HS-Rest (letzte Zeile) mit dem klammer-
schließenden uerlazzin beginnen. Eine solche konsequente Verschachtelung ist in einem
Text dieser Zeit jedoch wohl kaum erwartbar.
480 Heinz-Peter Prell
meinem Material kommt das insgesamt seltene Phänomen nur in der Pro-
sa (schwerpunktmäßig in den späten Texten) vor:19
(15) HS: Von sogetanime fiwere °schult ir bittin minin trehtin
NS 1.Gr.: daz er ivch °beware u] °beschirme. (Spec 82v)
(16) HS: waz °wiltv
NS 1.Gr.: daz ich dier °sage me. (SalH 151)
(17) HS: Dírre víncenti °sprechen eteliche
HSi: her °were bruder laurencij. (Hleb 102v)
3. Resümee
Obwohl das mhd. Satzgefüge eine Reihe von Strukturmerkmalen mit der
nhd. Hypotaxe gemein hat, folgt es teilweise auch seinen eigenen Regeln,
die – so meine Annahme – auf der Grundlage eines ausreichend großen
Textkorpus herausgearbeitet werden können. Serielle Techniken, bei de-
nen ein Nebensatz nicht innerhalb der regulären Felderstruktur seines
Obersatzes erscheint, werden im Mhd. in weit größerem Umfang genutzt
als heute; dabei entstehende ‚logisch‘-kommunikative Defizite werden
zumindest teilweise ausgeglichen durch den Einsatz phorischer Elemente
wie Korrelate und Pronomina. Gerade mit Blick auf die phorischen Ver-
knüpfungen kann man daher sagen, dass im mhd. Satzgefüge in mancher
Hinsicht noch textgrammatische Strukturprinzipien wirksam sind und das
Satzgefüge als autonome grammatische Einheit weniger profiliert ist als
heute. Neben den reihenden Verfahren stehen aber auch bereits integrati-
ve Techniken wie die Einschaltung von Nebensätzen in ihren Obersatz.
Bemerkenswert ist insbesondere der hohe Grad von Komplexität, den das
Satzgefüge schon in den frühen Prosatexten erreichen kann.
_____________
19 Zur Satzverschränkung vgl. Mhd.Gr., § S 228, dort auch Belege aus der Verssprache. Dass
hier entgegen der diachronen Tendenz eine integrative Technik später aufgegeben wurde,
liegt wohl an den strengen Anforderungen an die ‚Sprachrichtigkeit‘, die in der nhd. Stan-
dardsprache gelten. In anderen modernen germanischen Sprachen wie dem Norwegischen
sind Satzverschränkungen noch gang und gäbe.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 481
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Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik −
das Werkstück ‚Präposition‘
1. Einleitung
Forschungskontext der Überlegungen und Ergebnisse, die in diesem Bei-
trag vorgestellt werden sollen, ist das DFG-geförderte Langzeitprojekt
Mittelhochdeutsche Grammatik, in dessen Verlauf eine neue, mehrbändige
wissenschaftliche Grammatik des Mittelhochdeutschen (1050-1350) ent-
steht (vgl. insbes. Wegera 2000; erster Teilband der neuen Grammatik:
Klein / Solms / Wegera 2009). Das Werkstück ‚Präposition‘ wurde als
Pilotstudie zur Syntaxphase des Gesamtprojekts Mhd. Grammatik im
Rahmen einer Dissertation (Waldenberger 2009) bearbeitet. Der vorlie-
gende Beitrag soll sowohl die Schwierigkeiten (Stichwort ‚Frust‘) als auch
die Vorteile (Stichwort ‚Lust‘) illustrieren, die korpusbasierte Syntaxarbeit
– insbesondere an historischen Sprachdaten – mit sich bringt. Mit dem
Attribut ‚korpusbasiert‘ wird dabei nicht nur die Wahl einer Material- oder
Belegbasis benannt, sondern gleichzeitig eine Herangehensweise oder
Perspektive bei der grammatikographischen Erarbeitung und Beschrei-
bung eines (historischen) Sprachstandes, wie sie im Forschungsprojekt
Mittelhochdeutsche Grammatik gewählt und praktiziert wird: Da bei der Er-
forschung historischer Sprachstufen nicht auf Sprecherkompetenz,
Grammatikalitätsurteile etc. zurückgegriffen werden kann, ist als einzig
mögliche Basis die (hier notwendigerweise schriftliche) Überlieferung des
zu untersuchenden Zeitraums heranzuziehen.1 In Form des Bochumer
Mittelhochdeutschkorpus, das 101 Texte des hochdeutschen Sprachraums
aus dem Überlieferungszeitraum 1050-1350 enthält, steht ein nach den
Kriterien Raum, Zeit und Text‚art‘ (Vers, Prosa, Urkunde) gegliedertes
_____________
1 Vgl. die grundlegenden Überlegungen zu Grammatiken historischer Sprachabschnitte in
Wegera (2003).
484 Sandra Waldenberger
schen Leistung von Präpositionen ist damit zum einen streng genommen
nur auf Ebene des Satzes (nicht auf der Ebene des einzelnen Lexems)
möglich, zum anderen – aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet
– aufs Engste mit der spezifischen Art der ‚Fügung‘, der spezifischen
Funktion der Präposition im betrachteten Syntagma verknüpft. Mit diesen
Vorbemerkungen sei vorab erklärt, warum nicht alle der im Folgenden
dargestellten Aspekte dem Kernbereich der Syntaxforschung angehören.
2. Eine Frage, die im Rahmen korpusbasierter Forschung auf allen
sprachlichen Ebenen zu stellen ist und für die linguistischen Teilbereiche
z.T. unterschiedlich beantwortet werden muss, betrifft die Dimensionie-
rung der Materialbasis (vgl. Klein 2007). Der Zuschnitt der Materialbasis
für ein Forschungs(teil)unternehmen bewegt sich dabei zwangsläufig in
einem Spannungsfeld zwischen dem Wünschenswerten und dem Machba-
ren. Eine ab dem 13. Jh. für das Deutsche kaum mehr zu realisierende
gesamthafte Abdeckung der Überlieferung als Korpusumfang stellt dabei
den (unerreichbaren) Extrempol des Wünschenswerten dar. Dem gegen-
über steht das Minimalziel eines Korpusumfangs, der eine für die anste-
hende Forschungsaufgabe hinreichende Materialmenge liefert; a priori
kann die Frage nach einem hinreichenden Korpusumfang aber kaum be-
antwortet werden, da erst Erfahrungswerte zu Korpusumfängen / Beleg-
zahlenrelationen die Frage überhaupt zu klären vermögen, welcher Kor-
pusumfang / welche Belegmenge als hinreichend gelten kann. So schluss-
folgert Klein (2007, 17): „Um ein Korpus angemessen zu dimensionieren,
muss man bereits über ein vergleichbares Korpus verfügen [...]“. Auf der
Ebene des zugrunde liegenden Textkorpus konnte bei der Bearbeitung des
Werkstücks ‚Präposition‘ mit dem Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
auf ein Korpus zurückgegriffen werden, dessen Dimensionierung auf
Erfahrungswerten (Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) aufbaut, und das
für grammatikographische Fragestellungen auf den unterschiedlichen
sprachlichen Ebenen verlässlich hinreichende Belegmengen liefert – so
auch für den Phänomenbereich ‚Präposition‘. Für die Forschungsaufgaben
dieses Bereichs – Analysen auf der Wort-, Phrasen- und Satzebene – stell-
te sich aber wiederum die forschungspragmatische Frage nach der Hand-
habbarkeit der Belegmengen, die das Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
für die drei Analyseschritte liefert: So enthält das Gesamtkorpus (101 Tex-
te) ca. 75.000 tokens der Wortart ‚Präposition‘. Eine Analyse der gesamten
Belegung von Präpositionen und Präpositionalphrasen im Bochumer Mit-
telhochdeutschkorpus hätte also die Analyse von 75.000 Präpositionen,
damit 75.000 Präpositionalphrasen und 75.000 Sätzen bedeutet. Um eine
im Rahmen eines Dissertationsvorhabens bearbeitbare Materialmenge für
die einzelnen Analyseschritte zu gewinnen, wurde für das Werkstück ‚Prä-
position‘ das Prinzip des dynamischen Korpus, das dem Bochumer Mit-
486 Sandra Waldenberger
Mit der Ermittlung von Belegfrequenzen von Präpositionen ist aber – wie
oben angedeutet – mehr ausgesagt als eine Häufigkeitsangabe für eine
Lexemklasse. Gleichzeitig zeigt sich damit, wie häufig ein bestimmter
Konstruktionstyp – PP mit einer bestimmten Präposition als Kopf – ge-
nutzt wird, d.h. die Frequenzangabe geht über eine bloß lexemorientierte
type-token-Relation hinaus. Aus syntaktischer Perspektive rücken im Um-
kehrschluss selten oder gar nur einmal belegte Präpositionen wie mhd.
niderhalp, sider oder vermittels in den Hintergrund.
Struktur und Annotation des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
erlauben des Weiteren eine Einschätzung des Rektionsverhaltens der Prä-
positionen im Mhd. Eine Auswertung des Rektionsverhaltens der für das
Mhd. als ‚primär‘5 zu wertenden Präpositionen (ab, after, an, ane, bi, binnen,
biz, boven, durch, e, fur, gegen, hinder, in, mit ~ bit, nach ~ na, neben(t), ob, _ament,
_____________
5 Der Begriff ‚primär‘ bezieht sich nicht auf die Etymologie der Präpositionen, sondern
bezeichnet die Gruppe von Präpositionen, die mhd.-synchron nicht (oder nicht mehr) her-
leitbar sind.
488 Sandra Waldenberger
_it, _under, uber ~ over, uf, umbe, under, unz, uz, von ~ van, vor, wider, ze, zwischen
~ tuschen) zeigt ein hohes Maß an Konstanz und weist den Dativ als proto-
typischerweise durch Präpositionen regierten Kasus aus:
mit Dat.rektion: 36.259 PPn (~ 78 %); 13 Präp. zeigen ausschließ-
lich Dat.rektion
mit Akk.rektion: 10.217 PPn. (~ 22 %); 5 Präp. zeigen ausschließlich
Akk.rektion
mit Gen.rektion: 70 PPn (~ 0,2 %); keine Präp. zeigt ausschließ-
lich Gen.rektion
Sprachraum
obd. md.
Zeit- wmd. hess.-thür.
raum bair. bair.- alem. ofrk. mfrk. rhfrk.- omd.
alem. hess.
211 / 112 uber ~ ubir — —
212 ubir ~ ub’
uber ~ ub’ (TrPs) ~
uber ~ vbir ~ — uber ~ ubir [...]
ubir [...] ouer (RBib)
vb’ [...]
113 uber ~ ubir ~
ubir — Guer ~ Nver [...] ubir ~ Gbir [...]
vber vbir [...]
Parz, Iw, Tris, Nib vber ~ vb’ [...]
213 vber ~ vbir
vber ~ vb’ uuer ~ vber ~ vbir ~
vber ~ vb’ ~ Pber —
[...] Guer [...] ober [...] ubir [...]
[...]
114 uber ~ ub’
Nuer ~ vbir ~
vber ~ vb’ vber ~ vb’ Pber ~ ub’ ~ Mber ~ ubir ~ ub’
oGer ~ ou’ vber ~
~ Mber ~ Mber [...] Mb’ ~ vber ~ vb’ [...]
[...] ober [...]
~ vb’
Tabelle 2: Sprach- und zeiträumliche Verteilung der Varianten der Präposition über
_____________
6 Vgl. u.a. Fries (1988, 91ff.), Wunderlich (1984), Zifonun u.a. (1997, 2089ff.).
7 So u.a. die Argumentation von Jackendoff (1973, 345): „prepositional phrases are by no
means as trivial as generally supposed“.
490 Sandra Waldenberger
Durch diese vier Strukturtypen werden 82,4 % der untersuchten PPn ab-
gedeckt.
Auf eine mögliche Spezifik im Hinblick auf die Korpusstrukturmerk-
male Zeit, Raum und Text‚art‘ hin untersucht, zeigt sich, dass diachron
und diatopisch keine nennenswerten Unterschiede zu beobachten sind; in
der Überlieferungsform ‚Vers‘ sind jedoch gegenüber Prosatexten (ein-
schließlich Urkunden) wesentlich seltener komplexe Phrasen anzutreffen
(vgl. Tabelle 3). Die Gründe hierfür sind in den Gegebenheiten der Vers-
form zu suchen: Über das Reimwort am Versende hinaus werden selten
Phrasengrenzen überschritten, so dass der Vers i.d.R. die mögliche Phra-
senlänge restringiert.
Tabelle 3: Verteilung der Belegung des untersuchten PPn-Materials nach dem Merkmal,
Umfang der Phrase (in Wortformen) auf die Text‚arten‘‘
_____________
9 Die Begriffe ‚Ziel‘- und ‚Bezugsgröße‘ sind an Grabowski (1998; ‚Ziel‘- und ‚Bezugsobjekt‘)
angelehnt.
492 Sandra Waldenberger
Verwendung Belege
prädikative Verwendung 89
attributive Verwendung 13
Verwendung als freies Adverbial 87
in Verbindung mit Lokalisierungs- und Bewegungsverben 178
(55 / 123)
in Verbindung mit kausativen Lokalisierungs- und Bewegungsver- 35
ben (13 / 22)
fixierte Fügungen Präp. + Verb 158
lexikalisch fixierte Fügungen 29
in Verbindung mit komplexen Prädikaten 100
Sonderfälle (u.a.): statt Akk.-Objekt 12
5. Schlussbemerkung
Quellen
ArnM = Arnsteiner Mariengebet. Wiesbaden, HStA, Hs. Abt. 3004, C 8, fol. 129v-135v.
BKön = Buch der Könige. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 739.
Meri = Merigarto. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen A III 57.
PrZü = Züricher Predigten. Zürich, Zentralbibl., Cod. C 58 (olim Nr. 275), fol. 105va,
3-114va, 23; 182rb, 34-183va, 14.
Renn = Hugo von Trimberg, Der Renner. Erlangen, Universitätsbibl., Ms B 4 (olim Cod.
Erl. 1460)
Tris = Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde (M). München, Bayr. Staatsbibl., Cgm 51.
Will = Williram von Ebersberg, Hohelied. Breslau, Universitätsbibl., cod. R 347.
Literatur
1. Einleitung
Das Mittelhochdeutsche gilt in verschiedener Hinsicht „als eine Epoche
des Suchens und Versuchens“. 1 Die Betonung dieses Übergangscharak-
ters ist keine Banalität, die sich lediglich auf die mittlere Position im
sprachgeschichtlichen Ablauf allgemein bezieht, sondern das Urteil grün-
det sich auf bestimmte Befunde. Es gibt z.B. einen Variantenreichtum in
verschiedenen Bereichen der Sprache und daneben Tendenzen zum Ab-
bau der Varianten, zur Ausbildung bestimmter Strukturmuster und zu
semantischer Differenzierung.
Im Folgenden möchte ich das an einem Teilbereich der mittelhoch-
deutschen Syntax, speziell an der Hypotaxe, genauer ausführen. Typologi-
sierungen von Nebensätzen (bzw. Elementarsätzen) können aufgrund der
Satzstruktur (speziell der Verbstellung) erfolgen, aufgrund der Position im
Gefügekomplex und aufgrund der Subjunktionen mit ihren formalen und
inhaltlichen (syntaktischen und semantischen) Funktionen, sodass Struk-
turtypen, Stellungstypen und Bedeutungstypen zu betrachten sind. Von
diesen Möglichkeiten wende ich mich der letzten Gruppe zu und stütze
meine Beobachtungen auf Urkundentexte des 13. Jahrhunderts. 2
_____________
1 Wolf (2000, 1351ff., spez. 1354).
2 Meine Quellengrundlage ist Wilhelm / Newald / de Boor / Haacke / Kirschstein (Hrsg.)
(1986 / 2004). Zitiert als Corp. mit Angabe der Nr. der Urkunde.
498 Ursula Schulze
2. Die Problematik
einer semantischen Differenzierung
In der Syntax-Darstellung der von Hermann Paul begründeten Mittel-
hochdeutschen Grammatik haben die verschiedenen Bearbeiter (Ingeborg
Schröbler, Siegfried Grosse und Heinz-Peter Prell)3 darauf aufmerksam
gemacht, dass das Sinnverhältnis miteinander verbundener Sätze durch
einen sprachlichen Ausdruck kaum eindeutig indiziert wird, da die Sub-
junktionen mehrdeutig sind.4 Für die Schwierigkeit, auf die hingewiesen
wird, ist es symptomatisch, dass Prell als eindeutige Subjunktion neu-
hochdeutsch weil und obgleich, aber keine semantisch genau fixierten mit-
telhochdeutschen Subjunktionen nennt.5
Obwohl die Problematik als solche angesprochen wird, haben die Be-
arbeiter die Darstellung der Konjunktionalsätze6 oder Subjunktionalsätze7
„nach dem Inhalt“, nicht „nach der Form“ dieser Sätze vorgenommen.8
Es werden sieben Inhaltstypen von „Adverbialsätzen“ unterschieden:
temporale (§ 173), konditionale (§ 174), konzessive (§ 175), kausale (§
176), finale (§ 177), modal-konsekutive (§ 178) und modale (§ 179) Sätze,
unter denen verschiedene mögliche Einleitungselemente (Subjunktionen,
Adverbien, adverbiale Ausdrücke) aufgelistet sind. Ich habe die klassifi-
zierten Satztypen und die möglichen Einleitungen in einer Tabelle zu-
sammengestellt (vgl. Tabelle 1).
Auffällig ist – abgesehen von der unterschiedlichen Konstitution der
Satzeinleitungen –, dass einige von ihnen in mehreren Bedeutungsrubriken
auftauchen, d.h. sie werden für verschiedene Inhaltsrelationen in An-
spruch genommen. Zur Verdeutlichung habe ich diese Subjunktionsele-
mente in einer weiteren Tabelle parallelisiert (vgl. Tabelle 2). Es handelt
sich um und, daz, sô, alsô / alse / als, ob, swie, sît daz, die wîle (daz), nû (daz).
_____________
3 Vgl. Paul (2007).
4 Vgl. Schröbler (1969, 420f., § 350); Grosse (1989, 421f., § 458); Prell (2007, 398f., § S 155).
Zu dem Problem der polysemen mittelhochdeutschen Subjunktionen s.a. Prell (2001, 43)
u.ö. Admoni (1990, 123) konstatiert für das Mittelhochdeutsche: „Es fehlt ein semantisch
streng differenziertes System von unterordnenden Konjunktionen. Dies führt zu einer Un-
genauigkeit des unmittelbaren sprachlichen Ausdrucks.“ Trotz dieser Feststellungen postu-
liert er ein differenziertes Verständnis der syntaktischen Relationen.
5 Vgl. Prell (2007, 398, § S 155).
6 Vgl. Grosse (1989, 407, § 444).
7 Vgl. Prell (2007, 399, § S 156).
8 Vgl. ebd., 414-428, § S 173-179.
Einleitung von Adverbialsätzen
Temporale Konditionale Konzessive Kausale Sätze Finale Sätze Modal- Modale Sätze
Sätze Sätze Sätze konsekuti-
ve Sätze
dô ob doch sît (daz) durch daz, ûf daz daz so
swanne, swenne et, ot swie nû daz als(o), als
sô als, also aleine wand(e), want(e), wan(e) und
also, alse, als swenne ob durch daz sam, alsam
unz (daz) sô noch denne daz fur daz swie
biz (daz) also, als umbe daz daz
bidaz, bedaz ane (al) die wîle (daz) danne (daz)
innen des, under des
ê (daz)
sît (daz)
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
Modal-
Temporale Konditio- Konzessive Kausale Finale Modale
konsekuti-
Sätze nale Sätze Sätze Sätze Sätze Sätze
ve Sätze
und und
sô sô sô
alsô alsô, als alsô, als alsô, als
ob ob
nû (daz) nû
Ursula Schulze
_____________
9 Wolf (2000, 1354f.).
10 Ebd., 1355. Vgl. Schulze (1991, 140ff., bes. 169).
11 Vgl. Heinzle (2005, 43).
502 Ursula Schulze
_____________
12 Vgl. Wolf (2000, 1355).
13 Vgl. Prell (2007, 429, § S 180,2).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 503
Dass allerdings die Tendenz vorhanden ist, mit daz subjunktionierte Sätze
semantisch zu spezifizieren, zeigen die Kombinationen von daz mit einer
Präposition: unz daz, biz daz; sît daz, durch daz, für daz, umbe daz; ûf daz usw.,
die temporale, kausale und finale Adverbialsätze formieren. Zu diesen
zweigliedrigen Subjunktionen kommen außerdem Syntagmen von Adver-
bien und adverbialen Ausdrücken mit daz: also daz, also lange (biz) daz, da-
rumbe daz, die wîle daz usw. Gerade diese Syntagmen weisen m.E. darauf
hin, dass man daz allein keinen eigenen semantischen Wert zusprechen
sollte. Zur genaueren Bestimmung werden sprachliche Mittel benutzt.
Ähnliche Beobachtungen ergeben sich bei und und sô.
zes ist durch die Bedeutung des Adverbs im Sinne von 'so', 'derart' be-
wirkt.
(9) die haint eſ gelobt mit ir trãwen, ſi ze antwrten ze Coſtenze ze
rehter giſelſchefte, ſwenne ſi ermant werdent…, ie ze den ziln, ſo
da vorgeſchriben iſt… (Corp. 531,37ff.).
(10) So ſGln ſi auch iren chinden einen Schulmaiſter ſchaffen…, ſo ſi
in aller beſten immer vinden… (Corp. 2345,18ff.).
Im übergeordneten Satz des zweiten Belegs hat sô koordinierende Funk-
tion, im anschließenden Nebensatz gliedert es eine Explikation an, wie in
den folgenden Beispielen, wo es einem bedeutungsneutralen Relativpro-
nomen entspricht:
(11) Wir… henken Pnſer Jngeſigel an diſen brief zeim vrkPnde v]
zeiner ſterkervnge alleſ deſ, ſo hie vor geſchriben iſt. (Corp.
634,3ff.).
(12) Allen dÖn, so diſen Brîef an sÖhent oder h=rent lÖſen, kúnde
ich… (Corp. 2659,29).
Eine temporale oder konditionale Deutung von mit sô eingeleiteten Ne-
bensätzen ergibt sich, wenn keine weiteren Bestimmungen vorhanden
sind, nur aufgrund des weiteren Kontexts:
(13) daz ir kint diſ gidinge ſt#te halden, ſo ſi zi iren tagen chomen…
(Corp. 673,16).
(14) Man ſol ?ch wizzen, daz dîv Jarzît iſt an dem tage, ſo dennoh dri
wochen ſint an den h#ligē abent… (Corp. 656,27f.).
Ein ähnlicher Befund wie bei sô liegt auch bei dô und dâ vor, wenn sie
Adverbialsätze einleiten. Aus heutiger Sicht kann man sie temporal und
lokal verstehen und mit Übersetzungen wie 'als', 'nachdem' und 'wo' wie-
dergeben.
(15) Diz geſchach… ze mittun abrellen Jn dem Jare, do von vnſerſ
herren gebùrte zewelf hundert Jare v] triv v] ahtzich Jare wa-
rent. (Corp. 584,21f.).
(16) Diſer Práf iſt gegeben, da uon Chriſtes gewFrt ſint geweſen
Tauſent Jar… (Corp. 2598,16f.).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 505
_____________
19 Vgl. ebd.
20 Vgl. Prell (2007, 422, § S 176,3).
21 Vgl. Wolf (1981, Bd. 1, 210f.).
22 Vgl. Lexer (1979, Bd. 3, Sp. 667f. und Sp. 669).
508 Ursula Schulze
ohne s-: wenn aus den Liedern Oswalds von Wolkenstein.23 Gerade bei den
wande-, wanne-, wan-Varianten wird noch einmal deutlich, dass ausdrucks-
seitig von den Subjunktionen keine genaue Bedeutungsdifferenzierung
markiert wird.
4. Zusammenfassung
Ich breche die Betrachtung der Adverbialsatzeinleitungen hier ab und
fasse die Beobachtungen zusammen: Das sprachliche Material der Urkun-
den bestätigt die bekannte Einsicht, dass die meisten Subjunktionen pri-
mär eine syntaktische Funktion haben, während für den Bedeutungswert
bzw. die logische Relation zum übergeordneten Satz der Kontext die be-
stimmende Rolle spielt. Darüber hinaus ist festzustellen, und zwar nicht
nur für die Urkunden: Bei den eingliedrigen Subjunktionen enthalten nur
diejenigen ein semantisches Signal, die Präpositionen oder Adverbien wie
âne, biz, unze; aleine, sam, ê entsprechen und bei denen wahrscheinlich ein
zunächst syntaktisch stützendes daz, sô oder und entfallen ist. Die generelle
Abbildung der Adverbialsatzeinleitungen erfolgt in den Grammatiken vor
dem Hintergrund eines ausdifferenzierten Koordinatensystems logisch-
semantischer Klassifizierungen, die die Relation von Angaben oder Anga-
besätzen bestimmen.24 Dieses Koordinatensystem kann für das Mittel-
hochdeutsche nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden. Allerdings
zeichnet sich eine Tendenz ab, Bedeutungsrelationen der Adverbialsätze,
die an verschiedenen Stellen im Satzgefüge positioniert sein können, ge-
nauer zu markieren. Unterschiedliche Einleitungstypen stehen nebenein-
ander. Der Befund erscheint als offenes System, in dem die semantische
Wertigkeit der nebensatzeinleitenden Elemente tendenziell präzisiert wird.
Literatur
_____________
23 Vgl. Prell (2007, 414f., § S 173,2).
24 Vgl. Helbig / Buscha (2005), die die Subjunktionen des heutigen Deutsch in zwei verschie-
denen Kapiteln behandeln, einmal mit Erläuterungen zu den einzelnen Wörtern und ihrem
Gebrauch ( 401-415), dann unter den semantischen Klassen der Adverbialsätze ( 599-622).
Eisenberg (2006, Bd. 2: Der Satz, 322) hält es bei der Behandlung der Bedeutung von Kon-
junktionen aus systematischen Gründen für problematisch, die bezeichneten semantischen
Beziehungen zur Grundlage der Beschreibungen zu machen.
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 509
1. Einleitung
Für die neuhochdeutsche Standardsprache ist wiederholt festgestellt wor-
den, dass die Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
relativ fest ist: Während bei vollen Nominalphrasen (zumindest bei gewis-
sen Verbtypen) die dativische Nominalphrase der akkusativischen meist
vorangeht, aber auch die umgekehrte Stellung auftreten kann, steht bei
zwei Personalpronomen in der Regel der Akkusativ vor dem Dativ (vgl.
z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDS-Grammatik 1997, 1519f.;
Duden-Grammatik 2005, 885):
(1) *Anna will ihr ihn morgen übergeben (nach Duden-Grammatik
2005, 885)
Dagegen ist die Abfolge Dativ vor Akkusativ bei Personalpronomen in
älteren Sprachstufen durchaus belegt, wie etwa das folgende Beispiel zeigt:
(2) ob mir yn gott nit gesant enhet (Prosalancelot I; ed. Kluge
1948, 494)
wenn mir ihn Gott nicht gesandt hätte (vgl. Steinhoff 1995b, 41)
Allerdings scheinen auch für die moderne Standardsprache Ausnahmen
von der Regel „Akkusativ vor Dativ“ zu bestehen. So wird häufig darauf
hingewiesen, dass etwa bei Klitisierung die Abfolge Dativ vor Akkusativ
auftreten kann (vgl. z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDS-
Grammatik 1997, 1520), was in der schriftlichen Standardsprache aus-
schließlich den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum betrifft, die
neben der Form es auch als ’s auftreten und sich in dieser Form auch nach
512 Jürg Fleischer
eine in die Tiefe gehende Behandlung des Phänomens aus. Deshalb versu-
che ich im vorliegenden Beitrag, ein einzelnes Denkmal zu analysieren,
dies jedoch detailliert und in der gebotenen Feinkörnigkeit. Ich schließe
damit an eigene Untersuchungen zum selben Phänomen im Althochdeut-
schen und Altniederdeutschen des 8. / 9. Jahrhunderts (vgl. Fleischer
2005) und im Neuhochdeutschen (Fleischer i. Dr.) an und versuche, mit
der Untersuchung eines mittelhochdeutschen Denkmals einen ersten
Schritt zu tun, um die Lücke zu füllen, die zwischen diesen beiden Arbei-
ten in Bezug auf die abgedeckten Daten besteht.
Dat.
Akk. mir dir ihm ihr ihm uns euch ihnen
mich
dich
ihn
sie
es
uns
euch
sie
Tabelle 1: Mögliche Kombinationen von Akkusativ- und Dativpronomen
In dieser Tabelle steht jede leere Zelle für eine mögliche Kombination
eines akkusativischen und eines dativischen Personalpronomens. Zwar
sind gewisse Kombinationen unwahrscheinlich (etwa die von akkusativi-
schen und dativischen Pronomen derselben 1. und 2. Person, die dann ja
koreferent sind und sich somit auf die gleiche Entität beziehen; vgl. z.B.
?er hat mich mir vorgestellt), was mich in Fleischer (2005) dazu bewog, gewis-
se Zellen in den Tabellen grau zu hinterlegen (vgl. ebd., 12, Fußnote 19);
zumindest bei großen standardsprachlichen Korpora zeigt sich allerdings,
514 Jürg Fleischer
_____________
2 Die Zahl würde noch höher ausfallen, wenn die verschiedenen Genera des Akkusativs der
3. Person Plural, wie sie etwa im älteren Althochdeutschen noch voll erhalten sind, als ei-
gene Formen gezählt würden; umgekehrt würde die Zahl kleiner, wenn die synkretistischen
Formen nur einmal gezählt würden (vgl. Fleischer 2005, 12f.).
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 515
_____________
3 Nach Steinhoff (1995b, 776) hat sich Kluges Edition „bei Stichproben als sehr zuverlässig
erwiesen.“ Auch aufgrund meiner Überprüfungen einzelner Stellen am digitalen Faksimile
kann ich dies bestätigen.
4 Vgl. online im Internet: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
518 Jürg Fleischer
Bereich angehörenden, weltlichen Prosatext aus der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts“ (Knapp 2003, 223).
Neben der späten Überlieferungszeit spricht auch die Tatsache, dass
es sich beim Prosalancelot um eine Übersetzung (wenn auch nicht aus dem
Lateinischen) handelt, gegen diesen Text. Die Situation wird dadurch ver-
kompliziert, dass die Quelle der Übersetzung umstritten ist. Der gegen-
wärtige Forschungsstand zur Quellenfrage kann dahingehend zusammen-
gefasst werden, dass es sich „um die Übersetzung einer altfranzösischen
Vorlage handelt, die z.T. über eine niederländische Zwischenstufe vermit-
telt sein könnte […]“ (Ridder / Huber 2007, 1). Im deutschen Prosalancelot
finden sich Stellen, die auf einen Einfluss des Niederländischen hinweisen
und die Tilvis (1957) als Erster systematisch zusammengetragen hat. Auf-
grund der Niederlandismen kam er zum Schluss, dass der deutsche Prosa-
lancelot „unmöglich eine direkte Übersetzung aus dem Afrz. darstellen
kann, sondern auf eine mnl. Vorlage zurückgehen muss“ (Tilvis 1957, 13).
Diese Ansicht ist nicht unwidersprochen geblieben. Problematisch ist
unter anderem, dass es keine Zeugnisse für die postulierte mittelnieder-
ländische Zwischenstufe gibt; beispielsweise geht Steinhoff (1995b, 764)
davon aus, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Französischen han-
delt. Für die These sprach jedoch unter anderem, dass auch keine franzö-
sische Handschrift bekannt war, die einen Text bietet, der dem deutschen
relativ nahe kommt.
An dieser Stelle setzt die Untersuchung von Hennings (2001) ein. Aus
der reichen Überlieferung des altfranzösischen Textes ist es Hennings
gelungen, eine (bisher ungedruckte) Handschrift aus der 2. Hälfte des 13.
Jahrhunderts zu identifizieren, deren Text dem deutschen Prosalancelot
„beträchtlich näher [steht] als der aller anderen bislang gedruckten frz.
Handschriften“ (Hennings 2001, 424). Was die Abfolge der einzelnen
Handlungsabschnitte betrifft, stimmen nach Hennings (ebd.), die Teile
von Lancelot I mit der französischen Entsprechung vergleicht und einen
Teil dieser Handschrift in einer Synopse mit dem deutschen Text ediert,
„beide Texte […] weitgehend überein.“ Allerdings gibt es ungeachtet des
hohen Übereinstimmungsgrades „an einigen Stellen beträchtliche inhaltli-
che Abweichungen“ (ebd.). Nach Hennings (ebd., 430) „liegt in ca. 50 %
des gesamten untersuchten mhd. Textabschnitts eine traduction littérale
vor.“ Dieser Befund spricht sehr dafür, dass eine Übersetzung aus dem
Französischen vorliegt, und nicht aus dem Niederländischen; für die –
unzweifelhaft vorhandenen – Niederlandismen bietet Hennings folgende
nicht ganz befriedigende Mutmaßung an:
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 519
Wir möchten hingegen die mhd. Übersetzung viel eher einem Niederländer zu-
trauen, der sein Werk etwa in den vierziger Jahren des 13. Jh.s im mittelrheini-
schen Gebiet für den Hof des Pfalzgrafen bei Rhein schuf […]. (Hennings
2001, 438)
Eine bedenkenswerte alternative Erklärung für die Niederlandismen gibt
Rothstein (2007, 144f.): Sie weist zunächst darauf hin, dass die Anzahl der
(eindeutigen) Niederlandismen angesichts der Länge des Textes relativ
gering ist, wenn auch deren Existenz grundsätzlich nicht geleugnet werden
kann. Nach ihrer Beobachtung handelt es sich bei den meisten Niederlan-
dismen „um singuläre Vokabeln“ (ebd., 144), weshalb die Annahme einer
französischen Handschrift mit niederländischen Glossen plausibel er-
scheint. Der Befund zu den Niederlandismen lässt den Schluss zu, „daß
am Rand eines frz. Textes ein entsprechender mndl. Vermerk zu finden
war, auf den der mhd. Übersetzer zurückgegriffen hat.“ (ebd., 145). Wie
auch immer sich das Verhältnis von Französisch und Niederländisch für
die deutsche Fassung letztlich erklären lässt, scheint sich doch abzuzeich-
nen, dass das Französische für die Übersetzung eine wesentlich größere
Rolle spielt, als etwa Tilvis (1957) angenommen hatte.
Als Grundlage syntaktischer Untersuchungen sind Übersetzungstexte
problematisch, weil syntaktische Strukturen der Ausgangssprache in die
Zielsprache übernommen werden können – dieses Problem ist vielleicht
am besten vom althochdeutschen Tatian bekannt (vgl. Fleischer
2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.). Aus diesem Grund ist es geboten,
kurz auf die Frage einzugehen, ob sich beim untersuchten Phänomen in
Lancelot I allenfalls Strukturen der Ausgangssprache finden. Wie oben
diskutiert worden ist, spricht aufgrund der zumindest teilweisen hohen
Ähnlichkeit mit der von Hennings (2001) identifizierten altfranzösischen
Handschrift trotz der Niederlandismen einiges dafür, den deutschen Prosa-
lancelot als eine Übersetzung aus dem Französischen zu betrachten. Aus
diesem Grund stelle ich im Folgenden einen Vergleich mit dem altfranzö-
sischen Text an, den Hennings (2001) ediert.
Wie oben diskutiert worden ist, handelt es sich nach Hennigs
(2001, 436) beim deutschen Prosalancelot zwar um eine „traduction littéra-
le“; doch die Abhängigkeit vom Französischen erstreckt sich nach Knapp
(2003, 223) „doch nur ganz vereinzelt bis in die syntaktische Gestalt.“
Beispielsweise zeigt der folgende deutsche Beleg (3b) zwei Personalpro-
nomen, doch findet sich im französischen Text, wie (3a) zeigt, keine
Struktur, in der dies ebenfalls der Fall wäre; der deutsche Text steht also
ohne direkte Vorlage da:
520 Jürg Fleischer
(3a) sene fust vne seule chose (zit. n. Hennings 2001, 42)
das=nicht sei eine einzige Sache
(3b) beneme es uch ein sach nit (ed. Kluge 1948, 492)
nähme es Euch eine Sache nicht (vgl. Steinhoff 1995b, 35)
Im folgenden Beleg finden sich neben dem deutschen zwar auch im fran-
zösischen Text zwei Personalpronomen, doch weisen diese im Vergleich
zum deutschen Text gerade die umgekehrte Abfolge auf – es liegt hier also
einer jener Differenzbelege vor, wie sie etwa bei der Erforschung des
althochdeutschen Tatian besonders ausgenutzt werden können (vgl. Flei-
scher 2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.):
(4a) et il les men uoiera moult volentiers (zit n. Hennings 2001, 37)
und er sie mir=zuschicken wird sehr gern
(4b) Er solt mirs gern senden (ed. Kluge 1948, 489)
er wird mir sie gerne schicken (vgl. Steinhoff 1995b, 27)
Die beiden diskutierten Beispiele legen nahe, dass der Prosalancelot, obwohl
es sich um eine Übersetzung handelt, in Bezug auf das ausgewertete Phä-
nomen authentisch ist.
Trotz gewisser Nachteile überwiegen die Vorteile von Prosalancelot I
bei weitem. Insbesondere spricht die Tatsache, dass es sich um eine Über-
setzung handelt, in Bezug auf das untersuchte Phänomen nach Ausweis
der diskutierten Belege nicht gegen die Auswertung des Textes.
Die Belege aus Prosalancelot I werden im Folgenden nach der Edition
Kluges (1948) zitiert; sie werden mit einer Übersetzung versehen, die
möglichst wörtlich ist und keinerlei stilistische Ansprüche erhebt. Bei
meinen Übersetzungen verweise ich jeweils auf Steinhoff (1995), dessen
sich teilweise vom mittelhochdeutschen Wortlaut entfernende Überset-
zung ich konsultiert habe, der ich aber – zugunsten einer größtmöglichen
Wörtlichkeit – nur selten genau gefolgt bin. In einigen Fällen, in denen
meine wörtliche Übersetzung kaum mehr den Sinn verständlich machen
kann, zitiere ich Steinhoffs Übersetzung zusätzlich zu meiner eigenen.5
Die Belege für die vorliegende Arbeit wurden, obwohl auch eine
elektronische Edition existiert, traditionell „von Hand“, d.h. durch Lektü-
re und anschließende Exzerption der Belege, gewonnen – dies deshalb,
weil ich befürchtete, bei einer elektronischen Suche aufgrund der ortho-
graphischen Varianz nicht alle einschlägigen Belege zu finden. Im Nach-
hinein stellt sich die orthographische Varianz der untersuchten Pronomi-
_____________
5 Von Steinhoff (1995) übernehme ich in den Übersetzungen auch die Gepflogenheit, die 2.
Person Plural der höflichen Anrede – die im Roman sehr häufig ist – groß zu schreiben.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 521
nalformen als relativ gering heraus (vgl. das Paradigma in Tabelle 2), so
dass wahrscheinlich auch eine Suche in der elektronischen Edition die
meisten oder sogar alle einschlägigen Belege gefunden hätte. Eine voll-
ständige Erfassung aller Belege kann umgekehrt auch bei der hier durch-
geführten Exzerption trotz sorgfältiger Lektüre nicht garantiert werden,
unterliegt sie „von Hand“ doch dem menschlichen Irrtum.
Akk. Dat.
Sg. 1. Mich mir
2. Dich dir
3. m. yn, =n im [ym]
3. f. sie, =s ir
3. n. es, =s [=ß] im
Pl. 1. Uns uns
2. Uch uch [úch, ǔch]
3. sie, =s yn
Tabelle 2: Akkusativ- und Dativformen des Personalpronomens in Prosalancelot I
_____________
6 Dieses Paradigma wurde zunächst anhand der exzerpierten Belege erstellt und danach
durch gezielte Suche anhand der elektronischen Edition ergänzt; das Paradigma sollte voll-
ständig sein, allerdings könnten darin seltenere Formen, die nicht in den hier untersuchten
Kombinationen von akkusativischen und dativischen Pronomen belegt sind, fehlen.
522 Jürg Fleischer
_____________
7 In einer bestimmten Konstellation ist es unmöglich festzustellen, ob eine bestimmte Form
als klitisch oder als voll gewertet werden soll, nämlich dann, wenn ein Wort, das auf -e aus-
lautet (oder auslauten könnte), auf den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum trifft
und mit diesem zusammengeschrieben wird, wie dies im folgenden Beleg der Fall ist:
(I) got lones im (ed. Kluge 1948, 291)
Gott lohne es ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 787)
Hier könnte sowohl von einem klitischen Pronomen ausgegangen werden (lone + s) als
auch von einer apokopierten Form des Verbs, in diesem Fall wäre die Pronominalform voll
(lon + es). Da die entsprechende Verbform, wie die folgenden Stellen zeigen, ansonsten mit
und ohne Apokope belegt ist, kann dieses Problem für (I) nicht entschieden werden:
(II) Got lone uch (ed, Kluge 1948, 349)
Gott lohne Euch (vgl. Steinhoff 1995a, 941)
(III) Got lon uch (ed. Kluge 1948, 438)
Gott lohne euch (vgl. Steinhoff 1995a, 1175)
Insgesamt traten sieben Zweifelsfälle wie (I) auf; da das Pronomen jeweils mit dem voran-
gehenden Wort zusammengeschrieben wird, wird es als klitisch gewertet.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 523
(7a) Lancelot stund nyder von sym pferd und gabs im (ed. Kluge
1948, 37)
Lancelot saß ab von seinem Pferd und gab es ihm (vgl. Steinhoff
1995a, 113)
(7b) Ich sagen uch warumb ich ims nit gestattet (ed. Kluge 1948, 503)
ich sage Euch, warum ich ihm es nicht gestattet <habe> (vgl.
Steinhoff 1995b, 65)
(8a) Sie entfliehent uns dann uß dem lande, wir gebens uch (ed. Klu-
ge 1948, 98)
Sie entfliehen uns denn aus dem Land, wir geben sie Euch =
„Wenn sie uns nicht aus dem Lande entfliehen, liefern wir sie
Euch aus“ (Steinhoff 1995a, 273)
(8b) die kint enwerdent uch nymer wiedder, ir engewinnent mirs mit
gewalt an (ed. Kluge 1948, 65)
die Kinder werden Euch niemehr wieder, Ihr gewinnt mir sie mit
Gewalt ab = „die Kinder bekommt Ihr nur zurück, wenn Ihr sie
mir mit Gewalt nehmt“ (Steinhoff 1995a, 187)
In Zusammenhang mit den untersuchten Pronomen bzw. Abfolgen treten
einige orthographische Besonderheiten auf. Der Akkusativ Singular Mas-
kulinum tritt, was die volle Form betrifft, praktisch ausschließlich als
<yn> auf, und das gilt auch für den Dativ Plural; <in> ist der Präposition
in vorbehalten.8 Ebenso treten die vollen Formen des Akkusativs der 3.
Person Singular Femininum und der 3. Person Plural scheinbar nur als
<sie>, nicht jedoch als <sy> oder <si> auf; diese Schreibungen sind für
die 1. / 3. Person Singular des Konjunktivs Präsens von sein reserviert.9 In
einigen wenigen Fällen wird ein Personalpronomen mit selb zusammenge-
schrieben, etwa im folgenden Beleg:
_____________
8 Die folgende Stelle zeigt die beiden Schreibungen in der skizzierten Distribution nebenein-
ander, es scheint, dass die graphische Unterscheidung zwischen Pronomen und Präposition
ziemlich konsequent durchgehalten wird:
(IV) und nam yn in beide sin arm (ed. Kluge 1948, 484)
und nahm ihn in seine beiden Arme (vgl. Steinhoff 1995b, 13).
9 Der folgende Beleg zeigt das Pronomen <sie> neben der Verbform <sy>; auch diese
graphische Unterscheidung scheint ziemlich konsequent durchgehalten zu werden:
(V) sie wenet das ir keyne jungfrauwen mögent geminnen, sie sy dann die schönst von al-
ler der werlt und die edelst (ed. Kluge 1948, 410)
sie glaubt, dass Ihr keine Jungfrau lieben möchtet, sie sei denn die Schönste der gan-
zen Welt und die Edelste = „Sie hat ein Bild von Euch, das nicht zutrifft: sie glaubt,
daß Ihr Eure Liebe nur der Schönsten und Edelsten der Welt schenken werdet“
(Steinhoff 1995a, 1103).
524 Jürg Fleischer
(9) so wil ich sie imselb nemen (ed. Kluge 1948, 601)
dann will ich sie ihm selbst nehmen (vgl. Steinhoff 1995 b, 321)
Eine Überprüfung dieses Belegs am digitalen Faksimile zeigt, dass im und
selb hier tatsächlich eine graphische Einheit bilden.10 Da sich das selb hier
und in anderen Fällen jedoch nicht auf das Dativpronomen, sondern auf
das Subjekt bezieht, gehe ich nicht davon aus, dass imselb als eigenständige
Wortbildung anzusehen ist; derartige Fälle werden als normale Belege
gewertet und mitgezählt.
Aus dem in Tabelle 2 angeführten Paradigma geht hervor, dass im
Pronominalsystem des Prosalancelot I einige Synkretismen auftreten: Zu-
nächst ist darauf hinzuweisen, dass die volle Form des Akkusativs der 3.
Person Singular Maskulinum mit dem Dativ der 3. Person Plural homo-
nym ist; da sich diese beiden Formen sowohl im Kasus als auch im Nume-
rus unterscheiden, treten nur selten Stellen auf, deren Interpretation zwei-
deutig ist. Dann besteht – wie auch im Neuhochdeutschen – ein Synkre-
tismus der Akkusativformen der 3. Person Singular Femininum und der 3.
Person Plural, und zwar sowohl, was die volle, als auch, was die enkliti-
sche Form betrifft. Diese enklitische Form, nicht aber die volle, ist außer-
dem homonym mit dem enklitischen Akkusativ der 3. Person Singular
Neutrum. In der Enklise wird also eine sonst bestehende Opposition des
Pronominalsystems aufgehoben. Schließlich tritt (wie im Neuhochdeut-
schen) ein Synkretismus zwischen den Akkusativ- und den Dativformen
der 1. bzw. 2. Person Plural auf.
_____________
10 Der Beleg findet sich in Cod. pal. germ. 147 auf f. 131v, Z. 8; vgl. online im Internet:
http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 525
schieden werden (vgl. ebd., 214). So ist beispielsweise fraglich, für welchen
Kasus es im folgenden Beleg gewertet werden soll:
(10) er dörfft es yn nit dancken das er den lip behalten het (ed. Kluge
1948, 371)
er dürfe es ihnen nicht danken, dass er das Leben behalten habe
(vgl. Steinhoff 1995a, 1001)
In diesem Beleg tritt es bei einem Verb auf, das im Mittelhochdeutschen
nach Lexer (1869-1878, I, 409) mit Dativ der Person und Genitiv der
Sache konstruiert wird; ein Akkusativ wird nicht erwähnt, dies spricht für
die Interpretation als Genitiv. Umgekehrt wird nach Paul u.a. (2007, 214)
es im Neuhochdeutschen in Wendungen wie ich bin es zufrieden, leid, satt,
überdrüssig, etc. „als Akk. empfunden“, was dennoch dafür sprechen wür-
de, das es im angeführten Beispiel als Beleg für den Akkusativ zu werten.
Allerdings können viele dieser Verben im Neuhochdeutschen – vom frag-
lichen es abgesehen – keinen Akkusativ zu sich nehmen (vgl. *ich bin dich
zufrieden, *ich bin meinen Mitarbeiter zufrieden, *er dankt ihn ihnen) was dagegen
spricht, in es einen Akkusativ zu sehen (für die Sprache des Prosalancelot I
kann natürlich keine muttersprachliche Kompetenz befragt werden).
Derartige Fälle sind als Belege gewertet und in die Auswertungen mit
einbezogen worden, und zwar zunächst deshalb, weil es selten so hinrei-
chend klar wie beim angeführten Beispiel ist, dass das Verb einen Genitiv,
nicht aber einen Akkusativ zu sich nehmen kann – im Gegenteil ist es ja
beispielsweise im Althochdeutschen bekanntermaßen so, dass bei man-
chen Verben Alternationen zwischen Akkusativ- und Genitivobjekten
gang und gäbe sind (vgl. z.B. Donhauser 1998, 73ff.), und auch im Mittel-
hochdeutschen stehen bei vielen Verben Akkusativ und Genitiv zueinan-
der in Konkurrenz (vgl. Paul u.a. 2007, 336 u. 340f.). Deshalb ist eine
Grenze zwischen eindeutig akkusativischen und eindeutig ‚genitivischen‘
Fällen kaum zu ziehen.
Ein anderes Problem besteht darin, dass in einigen Fällen nur schwer
zu entscheiden ist, für welche Form ein klitisches =s steht, etwa im fol-
genden Beleg:
(11) Hett er auch dumber minne an mich gegeret, so moch ichs im nit
versagt han (ed. Kluge 1948, 588)
Hätte er auch törichte Liebe an mich begehrt, so mochte ich
sie / es ihm nicht versagt haben = „Hätte er mich um törichte
Liebe gebeten, ich hätte sie ihm nicht versagen können“ (Stein-
hoff 1995b, 287)
Hier hängt klitisches s vom Verb versagen ab; denkbar ist sowohl, dass es
sich hier auf das vorerwähnte Femininum dumbe minne bezieht (ich hätte sie
526 Jürg Fleischer
[= dumbe minne] ihm nicht verweigert), aber auch, dass es für es steht, womit
dann Bezug auf den gesamten Sachverhalt vorliegt (ich hätte es ihm nicht
verweigert). Dieses Problem kann teilweise auch bei genauer Berücksichti-
gung des Kontexts kaum befriedigend gelöst werden. In manchen Fällen
waren hier Entscheidungen zu treffen, bei denen sicherlich Diskussions-
bedarf bestünde.
Wie im Neuhochdeutschen ist der Nominativ der 2. Person Plural in
Prosalancelot I homonym mit dem Dativ der 3. Person Singular Femininum,
was für die Interpretation mancher Belege ein Problem darstellt. Im fol-
genden Beispiel treten diese beiden Pronomen (zusammen mit einem
Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum) auf:
(12) Und wollent irs ir gleuben nit (ed. Kluge 1948, 494)
Und wollt ihr es ihr nicht glauben (vgl. Steinhoff 1995b, 40)
Dass hier ein Beleg für die untersuchten Abfolgen von akkusativischen
und dativischen Personalpronomen vorliegt, kann zwar nicht bezweifelt
werden, allerdings kann zunächst nicht entschieden werden, für welche
Abfolge er steht: Aufgrund des Neuhochdeutschen liegt es nahe, dass man
das erste ir als Nominativ, das zweite dagegen als Dativ interpretiert ('und
wollt ihr2.PL.NOM es ihr3.SG.F.DAT nicht glauben'), doch könnte letztlich auch die
umgekehrte Auffassung möglich sein ('und wollt ihr3.SG.F.DAT es ihr2.PL.NOM
nicht glauben'). Da in den ausgewerteten Stellen allerdings nie ein Beleg
für ein nominativisches Pronomen auftritt, das nach zwei obliquen Pro-
nomen steht (allerdings gibt es Fälle, in denen das Subjektspronomen
nach einem akkusativischen oder dativischen Pronomen auftritt), zähle ich
diesen Beleg (und mit ihm zwei weitere) für die Abfolge Akkusativ vor
Dativ.
Bei der Interpretation mancher Belege, in denen unzweifelhaft ein ak-
kusativisches und ein dativisches Personalpronomen zusammentreffen,
tritt ein syntaktisches Problem auf, indem unklar ist, ob das Akkusativ-
pronomen und das Dativpronomen vom gleichen Verb abhängen. Dies
illustrieren die folgenden Beispiele; entsprechende Fälle wurden grund-
sätzlich als Belege gewertet:
(13) er hieß mich uch alsus sagen (ed. Kluge 1948, 342)
er hieß mich Euch so sagen = „Er läßt Euch ausrichten“ (Stein-
hoff 1995a, 923)
(14) laßent mich im den hals ab slagen (ed. Kluge 1948, 558)
lasst mich ihm den Kopf abschlagen (vgl. Steinhoff 1995b, 209)
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 527
Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, sind die Belege über die verschiedenen
Pronomen und Kombinationen ungleich verteilt: Manche Personalpro-
nomen sind gar nie in einer der untersuchten Kombinationen belegt (etwa
der Akkusativ der 1. Person Plural oder der Dativ der 3. Person Singular
Neutrum), andere dagegen sehr häufig (etwa der Akkusativ der 3. Person
Singular Neutrum oder die Dative der 1. Person Singular, der 3. Person
Singular Maskulinum und der 2. Person Plural). Entsprechendes gilt auch
für die Kombinationen: Während über die Hälfte der theoretisch denkba-
ren Kombinationen gar nie belegt sind, sind manche sehr häufig. In drei
Fällen, nämlich bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singu-
lar Neutrum mit dem Dativ der ersten Person Singular (es mir / mir es), des
Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person
Singular Maskulinum (es ihm / ihm es) und des Akkusativs der 3. Person
Singular Neutrum mit dem Dativ der 2. Person Plural (es euch / euch es)
finden sich jeweils über hundert Beispiele, auf diese drei Kombinationen
entfallen ziemlich genau zwei Drittel aller Belege. Dagegen finden sich für
die nächsthäufigere Kombination, diejenige des Akkusativs der 3. Person
Singular Neutrum mit dem Dativ 3. Person Singular Femininum (es ihr /
ihr es), nur noch 26 Belege. Es versteht sich von selbst, dass Aussagen zur
528 Jürg Fleischer
Aus einem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass gewisse Kom-
binationen eine klare Affinität zur einen oder anderen Abfolge haben: So
ist bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum
mit dem Dativ der 1. Person Singular die Abfolge Akkusativ vor Dativ
wesentlich seltener als die Abfolge Dativ vor Akkusativ (das Verhältnis
beträgt 4 zu 109, d.h. nur 4 % aller Belege für diese Kombination entfallen
auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ, 96 % dagegen auf die Abfolge Dativ
vor Akkusativ). Dagegen ist das Verhältnis bei der Kombination des Ak-
kusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 529
Total Belege Akk. > Dat. Dat. > Akk. % Dat. > Akk.
1. Sg. 4 4 – 0%
2. Sg. – – – –
3. Sg. m. 55 37 18 33 %
3. Sg. f. 18 13 5 28 %
3. Sg. n. 383 241 142 37 %
1. Pl. – – – –
2. Pl. 2 2 – 0%
3. Pl. 20 13 7 35 %
Tabelle 6: Auftreten und Häufigkeit der Akkusativpronomen in den beiden Abfolgen
530 Jürg Fleischer
Total Belege Akk. > Dat. Dat. > Akk. % Dat. > Akk.
1. Sg. 141 8 133 94 %
2. Sg. 14 – 14 100 %
3. Sg. m. 139 129 10 7%
3. Sg. f. 36 30 6 17 %
3. Sg. n. – – – –
1. Pl. 4 4 – 0%
2. Pl. 126 117 9 7%
3. Pl. 20 20 0 0%
Tabelle 7: Auftreten und Häufigkeit der Dativpronomen in den beiden Abfolgen
Aus dem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass die Akkusativ-
formen, wo einigermaßen zahlreiche Belege vorhanden sind, alle jeweils
zu etwa 30 % bis 40 % in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten;
zwischen den einzelnen Akkusativpronomen gibt es keine großen Unter-
schiede. Bei den dativischen Pronomen treten dagegen deutlich unter-
schiedliche Werte auf: die Dativpronomen der 1. und 2. Person Singular
finden sich sehr oft, nämlich mit über 90 %, in der Abfolge Dativ vor
Akkusativ; dagegen liegt dieser Wert beim Dativpronomen der 3. Person
Singular Maskulinum bei 7 %, und dasselbe gilt auch für das Dativprono-
men der 2. Person Plural; bei den anderen Pluralformen liegt dieser Wert
gar bei 0 % (wobei bei der 1. Person Plural nur relativ wenige Belege vor-
handen sind). Einzig beim Dativ der 3. Person Singular Femininum liegt
der Wert für die Abfolge Dativ vor Akkusativ etwas höher, wenn diese
Abfolge auch mit 17 % noch immer deutlich in der Minderheit ist.
Das Auftreten der verschiedenen Abfolgen kann also am besten in
Abhängigkeit der involvierten Dativpronomen beschrieben werden, kaum
jedoch in Abhängigkeit der Akkusativpronomen: Bei den Dativen der 1.
und 2. Person Singular tritt die Abfolge Dativ vor Akkusativ sehr häufig
auf, seltener ist diese beim Dativ der 3. Person Singular Femininum; bei
den übrigen Dativen ist sie dagegen sehr selten. Prototypisch sind deshalb
die folgenden Belege, die die dativischen Pronomen jeweils in der für sie
häufigeren Abfolge zeigen:
(16) Nu gent mir sie zuhant (ed. Kluge 1948, 144)
nun gebt mir sie sogleich (vgl. Steinhoff 1995a, 397)
(17) Nu wil ich dirs sagen (ed. Kluge 1948, 395)
nun will ich dir es sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 1065)
(18) und man bracht yn im (ed. Kluge 1948, 413)
und man brachte ihn ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 1109)
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 531
Aus dieser Tabelle geht zunächst hervor, dass mit Abstand am meisten
Belege für die 3. Person Singular Neutrum vorhanden sind, gefolgt von
der 3. Person Singular Maskulinum. Entsprechend können sich die Aussa-
gen zu diesen beiden Pronomen auf die meisten Daten stützen. Es zeigt
sich, dass der Anteil klitischer Formen bei der 3. Person Singular Neutrum
am größten ist: Hier sind fast drei Viertel aller Formen klitisch, wogegen
dies bei den anderen Formen nur bei der Hälfte oder noch weniger aller
Belege der Fall ist. In der folgenden Tabelle wird aufgeschlüsselt, wie häu-
fig die vollen und die klitischen Formen in den beiden Abfolgen belegt
sind:
532 Jürg Fleischer
Aus dieser Tabelle kann ziemlich eindeutig herausgelesen werden, dass die
volle Form der 3. Person Singular Maskulinum nur sehr selten in der Ab-
folge Dativ vor Akkusativ auftritt (nämlich nur in 6 % aller Fälle), und
dasselbe gilt (mit noch eindeutigeren Zahlen, die sich zudem auf mehr
Belege stützen) bei der 3. Person Singular Neutrum (hier tritt die volle
Form in der Abfolge Dativ vor Akkusativ nur in einem einzigen Beleg auf,
was 1 % entspricht). Bei den Formen der 3. Person Singular Femininum
und der 3. Person Plural besteht dieselbe Tendenz, allerdings sind die
Zahlen hier weniger eindeutig. Vom Belegpaar (23) zeigt also der erste
Beleg das typische, der zweite das atypische Auftreten der vollen Formen
des Akkusativs der 3. Person Singular Maskulinum; das gilt auch für die in
(24) zitierte Stelle, in der hintereinander beide Abfolgen derselben Kom-
bination auftreten, zuerst in der typischen, danach in der atypischen:
(23a) das ich yn ir benomen hab (ed. Kluge 1948, 338)
dass ich ihn ihr genommen habe (vgl. Steinhoff 1995a, 911)
(23b)Ir mögent mir yn wol nemen (ed. Kluge 1948, 635)
Ihr könnt mir ihn wohl nehmen (vgl. Steinhoff 1995b, 409)
(24) ‚Ich wil es uch geben‘, sprach myn herre Gawan, ‚mag ich uch es
mit eren geben […]‘ (ed. Kluge 1948, 204)
‚Ich will es Euch geben‘, sprach Herr Gawan, ‚kann ich Euch es
mit Ehren geben […]‘ (vgl. Steinhoff 1995a, 555)
Im Gegensatz zu den vollen Formen der 3. Person zeigen die klitischen
Formen keine besondere Tendenz dazu, vor oder nach dem dativischen
Pronomen aufzutreten. Besonders bemerkenswert ist dies bei der Form
der 3. Person Singular Neutrum = s, welche in beiden Abfolgen ziemlich
genau gleich häufig auftritt, und dies ist auch bei der 3. Person Plural der
Fall; einzig die enklitische Form der 3. Person Singular Maskulinum tritt
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 533
etwas häufiger nach als vor dem Dativpronomen auf, wogegen die 3. Per-
son Singular Femininum, zu der allerdings nur wenig Belege vorhanden
sind, häufiger in der umgekehrten Abfolge belegt ist.
eher gegen diese Erklärung sprechende Tatsache, dass sich die 1. und 2.
Person Plural anders verhalten als die 1. und 2. Person Singular, könnte
durch eine weitere Regularität, gemäß welcher Singular- vor Pluralformen
stehen, allenfalls erklärt werden; doch passt der Befund, dass neben der 1.
und 2. Person Singular auch der Dativ der 3. Person Singular Femininum
doch häufiger in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt als etwa der
Dativ der 3. Person Singular Maskulinum, nicht gut in diese Erklärung.
Dieser Befund spricht eher dafür, dass phonologische Faktoren zumindest
eine gewisse Rolle spielen: Die drei Pronomen, die insgesamt am häufigs-
ten in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten, weisen alle den gleichen
Vokal und den gleichen Auslaut auf. Diese Fragen der Analyse müssen
allerdings noch wesentlich genauer erforscht werden, als es hier getan
werden konnte.
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Textsortenabhängige syntaktische Variation
in Christine Ebners Schwesternbuch
des Dominikanerinnenklosters Engelthal
(Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie?
1. Betrachtungsrahmen
Das Schwesternbuch des Dominikanerinnen-Klosters Engelthal bei Nürn-
berg, Christine Ebners „Büchlein von der Genaden Uberlast“, ist vor
1346 entstanden und als einzige der bekannten neun historiographischen
Quellen dieses Typs in einer zeitgenössischen Abschrift erhalten (N, Mitte
bzw. 2. Hälfte des 14. Jh.). Diese Nürnberger Handschrift besteht aus 69
initial markierten Abschnitten, in denen fortlaufend geschrieben ist. Die
meisten dieser Abschnitte lassen sich als selbständige Texte auffassen (vgl.
Brandt i. Dr.). 37 dieser Texte (37 Abschnitte) fungieren als Quellen dieses
Beitrages. Sie werden in der Regel durch eine Textsorte definierende Ge-
genstandsanzeige eröffnet (Belege 2-14).
Der Einstiegstext ordnet sich der Textsorte Vorwort zu. Alle anderen
Texte sind Geschichtserzählungen, Geschichtserzählungen der Subklassen
Ereignis- bzw. Situationsskizze und Schwesternporträt.
• Das Vorwort ist als Erörterung ausgelegt und hat eine dreigliedrige
Makrostruktur, es besteht aus Gegenstandsanzeige, Gegenstandsbe-
trachtung und Selbsteinschätzung der Autorin.
• In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen wirken die Kommunikati-
onsverfahren Anzeigen und Beschreiben zusammen. Personencha-
rakteristiken verleihen einigen von ihnen (T5, T6, T11) porträthafte
Züge. Diese Skizzen fügen sich zu einer Chronik, welche die Vor-
und Gründungsgeschichte des Klosters umreißt und sich damit auf
den Zeitraum 1211-1248 bezieht.
538 Gisela Brandt
_____________
1 Pers: Person, Umst: Begleitumstände, Tug: Tugenden, vT: vor dem Tod, T: Todesanzeige,
iSt: im Sterben, nT: nach dem Tod, im Leben: Gnadenerweise und Verhalten im Leben,
TL: Textlänge, Zei: Zeilen, kP: Kurzproträt, kV: Kurzvita, O: Offenbarung, Anz: Anzeige,
°: Schwester des 1. Schweinacher Konvernts, *: Konventualinnen im 13. Jahrhundert.
540 Gisela Brandt
Meist wird mit vnd(e) allgemein auf eine kopulative Beziehung zwischen
den auf einander folgenden Ganzsätzen verwiesen, selten mit wann(e) auf
eine kausale und noch seltener mit aber auf eine adversative Beziehung. In
einem Schwesternporträt ist die Ganzsatzfuge außerdem mit einem Satz-
adverb belegt (13), mit Unabänderlichkeit signalisierendem halt:
(13) [aSG] [HS] Eín ſweſtˤ hıeʒ dıemu:t vō Nurnbˤg
vnd waʒ dev [atNS1] dıe beı den erſtē wont
vnd níe entʒuket wart . [eeS] vnd halt ī
allen ırn leben da tet ır got keíne
ſunder gnade nıht [CE-T36, 58.2-6].
Im argumentativen Vorwort (14) korrespondiert die Fugenfüllung wanne
′denn′ (Zeile 12) mit der Besetzung je eines Prädikatsvorfeldes mit einem
kausalen und einem konsekutiven Adverbial: da uon ′deshalb′ (Zeile 13),
Nu ′also, folglich′ (Zeile 16). Daraus folgt jedoch nicht, dass die Argumen-
tationslinie von der Autorin stringent markiert wäre. Nicht ausgezeichnet
sind die Begründung der ersten Sentenz (Zeile 9) und die Schlussfolgerung
(Zeile 15). Reflektiert wird mit den Auszeichnungen der Texttyp Erörte-
rung, den der Einstiegstext repräsentiert, nicht die Textsorte Vorwort.
(14) Anz 1 [eeS] {S-P} Jch heb eın bu:chlín hıe an [sSG] [HS]
{l-A}da kumet mā
an deʒ Cloſters ʒe Engeltal anuank vnd
die meníg der genaden gotes [atNS1] dıe er mít
den frawen getan hat an dem anuang . vnd
Erört 5 nv ſıder uon der menıg ſeíner auʒbrechen
den tugende [atNS1] dıe als wenig geſtıllen mak
Sent 1 als daʒ mer ſíner auʒ flíʒʒenden kraft . ↑ [eeS] {S-P}níe
_____________
2 GS: Ganzsatz, nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA:
Satzadverb.
544 Gisela Brandt
Charakteristisch für den Texttyp Erörterung ist auch, dass temporale Ganz-
satzverknüpfung über diese Position unterbleibt (vgl. Tabelle 4 im An-
hang). Die auf Bewegung in der Zeit orientierten Geschichtserzählungen
dagegen zeichnen sich durch die Belegung des Prädikatsvorfeldes mit
Temporalen aus.
In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen geschieht das in einem Drittel
der nachgeordneten Ganzsätze, in den Porträts in fast zwei Dritteln dieser
syntaktischen Einheiten. Die besonders hohe Frequenz der Temporale in
den Schwesternbildern resultiert aus der chronologischen Einordnung
einer mitunter großen Zahl von Gnadenerleben in die Lebensläufe der
porträtierten Schwestern. Und die Ausrichtung dieser Erzählungen vor-
nehmlich auf Gnadenerleben bringt es mit sich, dass Subjekte nicht einmal
in einem Drittel der nachgeordneten Ganzsätze ins Prädikatsvorfeld ge-
rückt sind, während das in den Skizzen bei fast der Hälfte der Sätze der
Fall ist.
Ausgeführt sind die Anschlussglieder im Prädikatsvorfeld des nachge-
ordneten Ganzsatzes von Christine Ebner Textsorten übergreifend vor-
Textsortenabhängige syntaktische Variation 545
4. Textsorten differenzierende
Ganzsatztypenverwendung?
Richtet man das Augenmerk auf die Ganzsatzstruktur (vgl. Tabelle 8 im
Anhang), so ist unter Berücksichtigung der admonischen Ganzsatztypolo-
gie einmal festzustellen, dass die Autorin Textsorten übergreifend den
Einfachsatz mit sehr hoher Frequenz als Aussageform verwendet.
Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass diese Frequenz im Vorwort
extrem hoch ist. Der Einfachsatzanteil beträgt hier 70 % des Ganzsatz-
aufkommens. Auf sieben Einfachsätze entfallen lediglich drei Satzgefüge.
Und die Argumentation zum zweiten Schwerpunkt ihres Buches (14) voll-
zieht Christine Ebner in sechs Einfachsätzen und nur einem Satzgefüge.
In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen beträgt der Einfachsatzanteil nur
48,6 % der Ganzsätze, in den Schwesternbildern lediglich 45,7 %. Diese
Differenz könnte also ebenfalls texttypologisch begründet sein, aus Unter-
schieden zwischen den Kommunikationsverfahren Argumentieren und
Erzählen erwachsen. Es wäre aber auch denkbar, dass daneben die Funk-
tion des Eröffnungstextes, nämlich Vorwort zu sein, die Autorin zu be-
sonders einfachen Satzformen veranlasst hat.
Die Überprüfung hat ergeben, dass das gewählte Kriterium tatsächlich
für die signifikante Differenz im Aufkommen der abperlenden Satzgefüge
relevant ist (vgl. Tabelle 9). In den Skizzen beträgt der Anteil der Rede-
Gefüge am Gesamt der abperlenden Gefüge 53,1 %, in den Porträts
62,1 %. Hier erreicht die Differenz 9 %, liegt damit 1,8 % über der Diffe-
renz des Gesamts der abperlenden Satzgefüge.
Für die signifikante Differenz im Anteil der abperlenden Satzgefüge
habe ich geprüft, ob sie sich auf den hagiographischen Charakter der
Schwesternporträts zurückführen lässt, der sich in der Auflistung von
Gnadenerleben reflektiert, womit sich die serielle Wiedergabe von Offen-
barungsgesprächen und Auditionen verbindet. Die einfachste Wiedergabe-
form dafür ist ein Gefüge aus Rede einleitendem Hauptsatz und Rede
explizierendem Nebensatz, also das abperlende Satzgefüge. Der Anteil
dieser eingeleiteten Rede-Gefüge an den verschiedenen Satztypen ist in
Tabelle 83 mit IndexR markiert (vgl. Tabelle 8 im Anhang).
_____________
3 Für die Textsorte Schwesternporträt differieren die Ganzsatzfrequenzen in den Tabellen 3, 4,
5, 6, 7 (Zählung 2007) und Tabelle 8 (Zählung 2008). Die höheren Werte sind vor allem
Resultat der konsequenteren Beachtung von Einfachsätzen mit unbesetztem Prädikatsvor-
feld und – in Text 46 – selbständiger Sätze in uneingeleiteter direkter Rede.
Textsortenabhängige syntaktische Variation 547
Aber: Bei den zentrierten Satzgefügen, die in den Skizzen 6,4 % und bei
den Porträts 8,4 % der Gefüge stellen, deren Anteil in den Porträts also
lediglich um 2 % höher liegt, ist der Anteil der Rede-Gefüge sogar um
25,5 % größer. Und auf das Gesamt der Satzgefüge bezogen, liegt der
Anteil der Rede-Gefüge in den Porträts um 13 % höher als in den Skiz-
zen.
Es ist also von einer Textsortendifferenz auszugehen, von einem be-
sonderen Drang zum Redegefüge an sich in den Schwesternbildern, der
auf ihrem hagiographischen Charakter mit dem starken Offenbarungsak-
zent beruht. Sie legt sich über das texttypologische Merkmal Dominanz des
Satzgefüges, welches das Porträt mit den Skizzen und anderen Erzählungen
verbindet.
5. Resümee
In der Regel werden die 37 Texte von einer Textsorte definierenden Ge-
genstandsanzeige eröffnet. Diese Definition wird unterstützt durch die
Besetzung des Prädikatsvorfeldes des initialen Ganzsatzes und der Text-
fuge. Die Variation in diesen beiden syntaktischen Positionen reflektiert in
der gegebenen Quelle die Zugehörigkeit der Texte zu den Textsorten
Vorwort, Porträt, Ereignis- bzw. Situationsskizze und Chronik.
Die Besetzung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nachge-
ordneten Ganzsatzes sowie die Satztypenwahl unterstützen vornehmlich
die Ausprägung des Texttyps, in der gegebenen Quelle Erörterung und
Erzählung.
Lediglich die hohe Frequenz des Rede-Gefüges darf als Textsorten
differenzierendes Merkmal, als Merkmal der Textsorte Schwesternporträt,
betrachtet werden. Doch als absolutes Alleinstellungsmerkmal ist sie wohl
nicht einzustufen, sondern als Textsorten übergreifendes Merkmal von
Offenbarungstexten. Die Prägekraft der Textsorte auf die Textsyntax
verbindet sich in den Ebner-Texten vornehmlich mit dem Prädikatsvor-
feld des Text eröffnenden Satzes.
548 Gisela Brandt
Quellen
Christine Ebner, Büchlein von der Genaden Uberlast, Germanisches Nationalmuseum, Hs.
1338, Nürnberg.
Literatur
Situationsskizze T3 + – + tNS+da
T4 + – + tN
T5 kP + ↓ + uP/gS
T6 kP + – + uP/gS
T10 + – + tN+NS+da
T11 kP Ell – [+] tN+NS+[da]
T12 + – + tN+do
8T 8 – 8 – 5 5
549
T33 + – + iP
T62 + – + N
T69 + – + N
T45 + – + N
T47 + – + N
T52 + – + N
T54 + – + N
T46 + – + N
28T 28 28 – 28 –
551
552
Tabelle 4: Belegung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nGS (vgl. Brandt 2008, Tab. 2)
nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA: Satzadverb, Ell: Ellipse, uPVF: unbesetztes Prädikatsvorfeld, bPVF:
besetztes Prädikatsvorfeld, S: Subjekt, O: Objekt, 2: Genitiv, 3: Dativ, 4: Akkusativ, P: präpositional, T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv),
K(on)d(itional), M(odal)
S O2 O3 O4 OP T L K Ks Kd M
Vor-
9 – 1 8 4 – – 1 – – 1 1 1 – –
wort
Skizze 102 – 8 94 45 2 – 8 – 31 2 3 – – 3
Vorwort 8 4 1
5 4 1
d- 1 = 20,0 % – 1
Skizze 94 45 2 8
36 29 – 7
d- 21 = 56,8 % 15 – 6
103 92 – 2 8 – 1 4
Gisela Brandt
d- 55 = 53,4 % 45 – 2 7 – 1T 4
Tabelle 7: Adverbieller Anschluss des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 10)
T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv), K(on)d(itional), M(odal)
Gesamt Gesamt T L K Ks Kd M OP
Vorwort 8 1 1 1
3 1 1 1
d- 2 = 66,0 % 1 1 –
Textsortenabhängige syntaktische Variation
s- – – – –
Skizze 94 31 2 3 3
23 17 1 3 2
d- 21 = 91,3 % 17 1 3 –
s- 2 = 8,7 % – – – 2
129 112 5 1 – 7 4
s- 4 = 3,1 % 2 – – – 2 –
556
Tabelle 8: Textsorten – Ganzsatztypen KV: Kommunikationsverfahren, Z: Zeilen, GS: Ganzsätze, eS: Einfachsätze: e: einfach, z: zusammengesetzt; SG:
Satzgefüge: a: abperlend, z: zentriert, g: geschlossen, s: gestreckt, R: eingeleitete Rede
36° 53 18 4 R6 10 R2 2 1 1
49 98 32 12 2 R7 13 R1 3 R1 2
50 14 11 3 2 R6 6
51 18 7 2 1 R1 3 1
58 20 9 3 1 R1 4 1
65* 12 4 2 1 R1 1
68 10 5 3 1 1
18* 12 8 6 1 1
557
558
Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-Typ
Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
28 67 26 11 2 R5 9 R2 2 1 1
38 8 5 4 R1 1
48 25 5 2 R1 1 R1 1 1
66 11 4 2 1 R1 1
53 21 5 1 R3 4
35* 47 19 7 1 R3 6 1 2 R1 2
37 27 13 4 2 R2 3 R2 3 1
33 45 13 1 2 R4 4 R2 3 1 2
62 26 13 5 2 R2 5 1
69 30 17 6 2 R1 8 1
45 39 13 5 3 R2 3 R1 2
47 44 24 8 4 R9 10 R1 1 1
52E 146 54 16 4 R18 28 R1 1 3 2
Gisela Brandt
Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-Typ
Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
Textsortenabhängige syntaktische Variation
54 106 56 25 8 R6 12 R1 3 5 R2 3
R125v239
1. Einführende Bemerkungen
Die Überlieferung von medizinischen Texten in Deutschland fängt mit
den ältesten Rezeptsammlungen an – den Baseler Rezepten aus dem 8. Jh. –
und ist im 9.-10. Jh. durch mehrere Kurztexte vertreten.1 Seit dem 11. Jh.
werden wissenschaftliche Traktate und Lehrbücher zusammen mit prakti-
schen Anweisungen produziert, dabei wird massiv auf Deutsch verfasst.
So soll die mittelniederdeutsche Überlieferung des berühmten Bartholo-
mäus Salernitanus ins 12. Jh. zurückgehen und ab 1200 erscheint das Werk
als das erste deutsche Arzneibuch in seiner östlichen hochdeutschen
Überlieferung (der deutsche Bartholomäus aus Kärnten, dann die mittelbairi-
sche Fassung und die ostmitteldeutsche aus Thüringen).2
Schon im 13. Jh. fängt die Zeit der Großformen an: Es werden Groß-
kompendien wie das Breslauer Arzneibuch verfasst, die gleichzeitig die medi-
zinische Schriftlichkeit auf Hochschulniveau aufheben. Textsammlungen
und -kompilierungen verwandeln die bekannten Texte in neue Texteinhei-
ten.
Im Weiteren wird die typologische Vielfalt der medizinischen Schrift-
lichkeit durch zwei Faktoren bereichert: durch den Sprachwechsel (deut-
sche Übersetzungen und Kompilationen neben der immer noch aktuellen
lateinischen Schriftlichkeit) und durch die wechselnde Orientierung auf
unterschiedliche Empfängerkreise.
_____________
1 Zu den älteren Zeugnissen gehören die lateinisch-deutschen Glossen, zum Beispiel die des
Walafrid Strabo (809-849) zu Isidors Etymologien.
2 Vgl. Keil (1978, Bd. 1, Sp. 612).
562 Catherine Squires
_____________
5 Das textsortentypologische Verhältnis zwischen Rezepten und Arzneibüchern ist ein
interessantes Problem, auf das hier nicht eingegangen werden kann. Zu einer kurzen Notiz
dazu vgl. Anm. 24.
6 Segen und Zaubersprüche haben einen festen Platz in medizinischen Sammelbüchern. Die
Beispiele sind zahlreich. Das Büchlein aus der UB Moskau (vgl. Quelle 2 und 5) enthält ei-
nen lateinischen Kleider-Flecken-Segen und die von Priebsch beschriebene medizinische
Sammelhandschrift enthält zwei Wurmsegen; vgl. Морозова (2003, 74); Морозова (2004,
71); Priebsch (1901, 41).
7 Eine Sammlung von kurzen Apostelgedichten aus der Moskauer medizinischen Hs. (Quelle
2) hat Morozova 2003-2004 interpretiert und in jedem Falle eine Schutzfunktion oder ei-
nen anderen symbolischen Hinweis feststellen und medizinisch deuten können; vgl.
Морозова (2004, 71ff., 94ff.).
8 Zum engen Verhältnis der medizinischen und der seelsorgerischen Thematik in Gebettex-
ten in Verbindung mit ihrer textgrammatischen und textsyntaktischen Form vgl. Морозова
(2004, 86); Squires (2008a); Сквайрс (2008b).
9 Rösler (1997, 84).
564 Catherine Squires
_____________
12 Ein interessantes Beispiel dafür, wie kodikologische Umgestaltung einer Handschrift und
paläographische Faktoren zur Umdeutung von konkreten Lexemen und des ganzen Texts
führen können, ist zu finden in: Squires (2008a).
13 Zu den Moskauer Handschriften sind im 2008 erschienenen Katalog weitere Auskünfte zu
finden: Сквайрс / Ганина / Антонец (2008). Im selben Band sind Forschung, Bibliogra-
phie und Abbildungen zu finden.
566 Catherine Squires
Segen
8. Lateinisches Gebet gegen Urine-Verschmutzung der Kleidung, 15.Jh.
• Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 1a.
• Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный
лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких
медицинских рукописей.
9. Niederdeutsches Gebet gegen eine Krankheit, 15. Jh.
• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 48.
• Abdruck: Squires, Catherine (2008), „Wort- und Textsemantik
im Rahmen paläographischer und kodikologischer Determinan-
ten“, mit Abbildung.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 567
10. Ein Segen, in: Collectanea medica, spätestens 1. Hälfte 15. Jh.
• Originalhandschrift: S.-Petersburg, RNB, Fonds 955, Verz. 2,
Nr. 76, in einem hineingelegten Heft, auf fol. 6.
• Transkription: Squires.
Ergänzende Quellen
Macer Floridus (Kräuterbuch), lateinisch.
• Abdruck: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viri-
bus herbarum, Leipzig.
Rezeptbuch aus einer medizinischen Sammelhandschrift, 15.Jh; British
Museum, Arund., 164, fol. 108a-110a.
• Abdruck: Priebsch, Robert (1901), Deutsche Handschriften in Eng-
land, II / 1901, Nr. 61.
Als Gegenstand der Analyse sind unten Erscheinungen der Syntax gwählt,
die in der sprachhistorischen Literatur als allgemein wichtige Tendenzen
der Entwicklung angesehen werden:
• in der gesamten Textstruktur: Textumfang bzw. Satzlänge;
• in der Satzstruktur: die Anordnung der Information in den Elemen-
tarsätzen, die Reihenfolge der Elementarsätze;
• im Elementarsatz: Stellung und Form des finiten Verbs.
Neuerscheinungen in diesen Aspekten der Text- und Satzstruktur haben,
so die Syntaxhistoriker, mit der Informationsbewahrung und -vermittlung
zu tun, sie übernehmen das Signalisieren der logischen und auch gramma-
tischen Abhängigkeit. Die Stirnstellung des Verbs im Satz bedeutet die
Abhängigkeit eines Bedingungssatzes und hat folglich eine besonders
wichtige Signalfunktion.14
Das lässt uns vermuten, dass diese sprachsystematischen Züge und ih-
re historische Entwicklung ein wichtiger Bestandteil der textsortentypolo-
gischen Problematik sind. Sie sollen folglich in einer engen Verbindung
mit der Genese der Textsorten aus dem Bereich ‚medizinisches Allge-
meinwissen‘ stehen und die Entfaltung der Vielfalt der letzten und die
Richtung der Neuentwicklungen markieren.
_____________
14 Vgl. Rösler (1997, 129).
568 Catherine Squires
3. Wissenschaftliche Herbarien
und die praktische Heilkunde
Die Entwicklung eines wissenschaftlichen Herbariums zu einem volks-
sprachlichen praktischen Kräuterbuch kann anhand des berühmten Macer
Floridus beobachtet werden. Die Übersetzung des lateinischen Kräuterbu-
ches ins Deutsche kann erwartungsgemäß als ein Schritt zur Aneignung
dieser naturwissenschaftlichen Quelle von Seiten eines breiteren Leser-
kreises als nur der lateinkundigen Gelehrten angesehen werden. Die Ver-
deutschung ermöglicht seine Veränderung zu einer Textsorte, die nicht
nur den Gelehrtenkreis anspricht, sondern für den breiten öffentlichen
Gebrauch geeignet ist. Mit dieser textsortentypologischen Verwandlung
gehen, wie unten gezeigt wird, inhaltliche und textuelle Änderungen Hand
in Hand.
Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Der deutsche Macer floridus, UB Moskau
Anthemim magnis [C]amonilla, wizzelblumen
commendat laudibus auctor
Asclepius, quam Chamaemelum nos vel
Chamomillam ―
Dicimus; haec multum redolens est et brevis
herba,
Herbae tam similis, quam iusto nomine
vulgus
Dicit Amariscam, quod foetat et sit amara,
Ut collata sibi vix discernatur odore. ist eyn wolrechende crut unde ist drierhande :
Auctores dicunt species tres illius esse,
Quas solo florum distingui posse ir izlich irkennit man bi der blůmen. in allen
colore ist die blume mittene goltvar unde ummesat-
Tradunt: est cunctis medius flos aureus zet mit bleteren maniger var, die eine mit
illis, witzen, die ander mit swarzen, die dritte
Sed variis foliis flos circumcingitur ille, pfellervar:
Albi vel nigri sunt purpureive coloris.
Dicitur Anthemis proprie, cuius foliotum
Purpureus color est, maiorque et fortior haec
est; ―
At Leucanthemum foliis deprehenditur albis,
Melinis Chrysanthemum ; vis omnibus illis
Sicca calensque gradu primo conceditur unde sind alle heiz unde trocken in dem
esse. ersten grade.
swellich iz si,
dicke getrunken mit wine (= 568) hilfet dem,
_____________
15 Ausgabe: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig; zitiert
nach Schmidt (1881) mit beibehaltenen Zeilenangaben.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 569
Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Der deutsche Macer floridus, UB Moskau
Provocat urinam cum vino quaelibet der mit arbei[t] harnet, unde vertribet den
hauste, stein in der blasen.
Vesicae frangit lapides...
...et menstrua purgat de wizselblome gesoten mit wazzare.vurdirt
Si fiveatur aqua matrix qua cocta sit de wip an ir suche, ab sie zu lange sumen. [...
herba, ...]
Aut si cum vino potetur saepius illa ;
Tormina sec sedat, stomachique infla- vnde ob sie sie dicke trinke mit wine, daz
tio potu Pelletur tali. selbe stillet des buches curren. daz selbe
hilfet getrunken den zusw(o)llen magen.
Squamas de vultibus aufert, camomila gestozen mit honige oder alleyne
Si tritam apponass solam mellive und under de ougen gestrichen ist gut der
iugatam. scelenden hut.
etc., etc. camomila gesoten ist gut genutzet, swer
kichet. [...]
Tabelle 1: Veränderungen im Textinhalt und -aufbau
im Laufe der Verdeutschung eines Herbariums
In Tabelle 1 ist zum Vergleich ein Auszug des deutschen Macer aus dem
ausgehenden 14. Jh.16 mit seiner lateinischen Vorlage angeführt. Die ent-
sprechenden Textteile sind nebeneinander in zwei Spalten angeordnet,
sodass die im Laufe der Verdeutschung erfolgten Textverluste und Ab-
weichungen gut zu beurteilen sind.
Der Vergleich zeigt, dass bei der Übersetzung deutliche Veränder-
ungen im Text vorgenommen worden sind. Der verdeutschte Macer ist in
Prosa verfasst, während die Vorlage, wie schon oben erwähnt, eine Dich-
tung war. Die deutsche Fassung ist in den einführenden Teilen wesentlich
kürzer als ihre Vorlage: Ganze lateinische Textteile sind ausgefallen (in der
Tabelle durch Kursivierung hervorgehoben), und wenn man sie betrach-
tet, merkt man, dass der deutsche Verfasser nur bestimmte Inhalte ausge-
lassen hat. Zu diesen weggelassenen Informationen gehören Verweise auf
die wissenschaftlichen Vorgänger und Autoren, wie der im Beispiel er-
wähnte Asclepiades in commendat laudibus auctor Asclepius und im übrigen
Text Erwähnungen von Plinius (743, 1433), manche von Galienus (955)
und einzelne wie jene von Tradit Anaxilaus (2045). In der deutschen Fas-
sung fehlen verweisende Parenthesen wie Auctores dicunt und Tradunt. Da-
mit bleibt die spätklassische wissenschaftliche Argumentation des Origi-
nals zum größten Teil in der deutschen Fassung nicht überliefert. Da diese
Text- und Inhaltselemente zu den wesentlichen Merkmalen der mittelal-
_____________
16 Die Datierung geht auf Gustav Schmidt, den ersten Herausgeber des deutschen Macers
zurück; vgl. Schmidt (1881, 155ff.).
570 Catherine Squires
_____________
17 Vgl. den Abschnitt „References to Authorities“ in: Taavitsainen / Pahta (1998, 167ff.).
18 Vgl. Schmidt (1881, 174).
19 Vgl. Mildenberger (1997, 297f.).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 571
(6) camomila gestozen mit honige oder alleyne und under de ougen
gestrichen ist gut der scelenden hut;
(7) camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet.
Die hier zusammengestellte Liste zeigt, dass in der überwiegenden Mehr-
heit der Sätze, wie auch im ganzen Kapitel, die Erststellung dem Namen
der Pflanze camomila, de wizselblome (1-2, 3, 6, 7) oder einer Ersatzform des
Namens (daz selbe in 5) zugewiesen ist.
Für die Anweisung zur Zubereitung (mit der darauf folgenden Rezeptur)
oder / und zur Verwendung des Heilkrauts sind nur wenige syntaktische
Konstruktionen benutzt. Fast in allen Fällen ist es die Partizip-Form: (di-
cke) getrunken (mit wine), gesoten (mit wazzare), getrunken, gestozen (mit honige oder
alleyne), (under die ougen) gestrichen, gesoten, dicke getrunken.
Ein Satz weicht von diesem Modell ab und hat eine Konjunktivform
des Verbs: ob sie sie dicke trinke mit wine (4). Die Formulierung der Zuberei-
tungs- bzw. Anwendungsweise als Bedingungssatz, die durch das Opta-
tiv / Konjunktiv des Verbs realisiert ist, bedeutet den Übergang von ei-
nem beschreibenden Texttyp zu einem anweisenden (praktischen). Die
Verwendung des Optativs / Konjunktivs für das Signalisieren der Abhän-
gigkeit liegt in der Bahn der Normenentwicklung im hochdeutschen wie
auch im (mittel)niederdeutschen Sprachraum.20 Wir sehen, dass in der
dargestellten Quelle diese Entwicklung erst angedeutet ist.
Nach der Anweisung ist in mehreren Sätzen die Wirkung des pflanzli-
chen Heilmittels bestätigt – als Prädikat im Hauptsatz – hilfet (1, 5), ist gut,
ist gut genutzet (6, 7). Nur in den Fällen, in welchen eine spezifische Wir-
kung der Behandlung genauer erklärt werden musste, finden wir andere
Verben: vertribet (2), vurdirt (3), stillet (4).
Die Beschwerde, gegen die das Mittel empfohlen wird, ist am Ende
des Satzes erwähnt, wofür oft eine Dativform verwendet wird: den
zusw(o)llen magen (5), der scelenden hut (6). Längere Symptom-Angaben sind
als Nebensatz formuliert, der auch durch eine Dativform eingeleitet wer-
den kann: dem, der mit arbei[t] harnet (1), aber swer kichet (7). In anderen Fäl-
len sind die Beschwerde und die Wirkung in einem einfachen Satz mit
Direktobjekt ausgedrückt: vertribet den stein in der blasen (2), stillet des buches
curren (4) oder, seltener, in einer Satzkette, vurdirt de wip an ir suche, ab sie zu
lange sumen ... (3). Durch die unternommene Bearbeitung erzielt der deut-
sche Verfasser eine praktische Textkürze und eine Überschaubarkeit der
Information, die seinem Werk die Funktionalität eines populären Nach-
schlagewerkes oder einer Anweisung verschaffen, im Gegensatz zum be-
schreibenden Charakter der lateinischen poetischen Vorlage.
Das offensichtliche Bestreben, den Benutzern auf eine anschauliche
und einfache Art berufliche Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, wird
zusätzlich durch Mittel der paläographischen Ausführung des deutschen
Macers unterstützt. Auf Abb. 1 ist zu sehen, dass der Schreiber an jedem
Paragraphkopf Platz freigelassen hat für eine große (zwei Zeilen hohe)
Initiale, die im nachfolgenden Arbeitsgang in Farbe auszuführen war.
Leider ist in der Handschrift die Rubrizierung nicht durchgeführt worden,
_____________
20 So beispielsweise Rösler mit Anlehnung an Härd / Magnusson / Nissen / Schöndorf; vgl.
Rösler (1997, 129).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 573
_____________
22 Als Rezeptbuch ist der Text klassifiziert, in dem beispielsweise steht: Dem sin mage we tů d(er)
siede haselwurz mit wazzer vn(d) trinch daz (Arund. 164, vgl. oben ‚Ergänzende Quellen‘). Die
Wortformulierung, Grammatik und funktionalsyntaktische Anordnung sind genau diesel-
ben wie im Arzneibuch des 14. Jhs.
576 Catherine Squires
Anweisung zur Pflanzenkur folgen (2) und der Rest des Satzes soll zuletzt
kommen (in den Belegen durch (3) markiert). Gleichzeitig soll das Parti-
zip, dem Charakter einer Anweisung gemäß, durch den Imperativ des
Verbs ersetzt werden. Die auf diese Weise präparierten Sätze würden dann
so aussehen (in den folgenden Beispielen wird in den oberen Zeilen der
Macer zitiert und in den unteren Zeilen das Ergebnis des Stellenwechsels
angeführt):
(5) daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen.
(1) zusw(o)llen magen – (2) trinke – (3) daz hilfet
(6) camomila gestozen mit honige ..und under de ougen gestrichen ist gut der sce-
lenden hut;
(1) der scelenden hut....(2) stoze camomila mit honige...und striche un-
der de ougen – (3) ist gut.
(7) camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet;
(1) swer kichet – (2) siede camomila – (3) [daz] ist gut
Das Resultat ist dem oben vorgeführten Arzneibuch aus dem 14. Jh. sehr
ähnlich: Die syntaktische Umordnung genügte dafür, dass es kein be-
schreibendes Werk mehr ist, das mit irgendeiner wissenschaftlich-theoreti-
schen Absicht verfasst wurde, sondern ein Nachschlagewerk oder eine
Anweisung für praktische Zwecke mit einem bequemen Doppelsuchsys-
tem. Seine praktische Anwendung ist, wie oben schon betont wurde,
durch die Einführung eines einheitlichen syntaktischen Satzmusters er-
leichtert. Die drei Bestandteile werden durch nur wenige syntaktische
Muster realisiert.
Im ersten Teil (Benennung der Beschwerde) kommen Nebensätze in
folgenden syntaktischen Mustern vor:
1. der daz biever hat;
2. der vergifft hat gezzen oder gedrunken; der iht rowes habe gezzen;
3. deme die augen dunkelen driefen; deme die augen dunkelen; dem der harm so
calt ist; dem daz freisliche erhebet; deme in dem herzen oder in dem milze oder
in der siten we si; dem in der leberen oder in der lungen we ist; deme der klobe-
lauch we du gezzen; deme der stein we dut;
4. den wiben, den ir sache in unrehten ziden zu fil wirret
Seltener kommen Bedingungssätze vor. Sie gehören zwei syntaktischen
Typen an:
1. mit Inversion: beginnet der mensch in der leberen fon unfrauden sichen; der
grawe augen hat, beginnent sie siechen ader dunkelen; der swarz oder crumpvar
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 579
augen habe, dunt sie deme we oder beginnent sie ime dunkelen; Ist er aber sich,
er genieset, daz pulver [sal] man...; Ist ieme danne noch nit baz;
2. mit der Konjunktion ob: ob de schaf beginnent sichen...; ob dem manne ein
geschwolst beginnet sich heben...; Obe sie aber [brec]hen, so neme...
Im zweiten Teil des Paragraphen folgt die medizinische Anweisung. Hier
überwiegen Imperativformen des Verbs (ein typisches Rezeptmuster,24
vgl. Anm. 5); nur in einem Fall hat der Schreiber sich für eine Indikativ-
form entschieden: ( den wiben, ...), die legen bathenien,.. unde drinken. In einem
zweiten Fall wäre die Verwendung des Imperativs unmöglich gewesen: (die
fliegen,) die daz ezzent. Die Formulierung einer Fenchel-Kur für Schafe ist
möglicherweise im Konjunktiv zu verstehen und stellt eine andere, noch
seltene Ausnahme dar: ob die schaf beginnent sichen, so neme man fenchil...
Diese kurz formulierten Anweisungen sind durch die Verwendung ei-
ner hohen Anzahl von Verben charakterisiert. In dem verhältnismäßig
kleinen Textumfang sind über 120 syntaktische Verbpositionen enthalten,
was durchschnittlich ein Verb pro Zeile ausmacht (die Zeilenlänge beträgt
nur 80 mm). Diese Verbpositionen sind durch nur 30 Verblexeme besetzt,
von denen einige an stereotypen, textsortentypischen Ausdrücken teilha-
ben und sehr häufig wiederholt werden. Am häufigsten kommen vor: neme
(über 20 Fälle), drinke (13-mal) und ezze (10-mal). Während neme das übli-
che Verb in den einleitenden Teilen der Anweisungen ist und eine Kon-
struktion mit dem Namen der empfohlenen Heilpflanze bildet (vgl. neme
salbeien, neme petersilien), werden drinke und ezze an den Schluss gestellt und
bezeichnen die Weise, auf die die Arznei einzunehmen ist. Etwas seltener
sind siede, stoze, pulvere und lege; in wenigen oder nur einzelnen Fällen kom-
men die Verben bade, begrabe, belege, binde, dribe, du, gebe, gieze, lazze, mache,
mange, mische, netze, salbe, sihe, striche, werme, winde und andere vor. Wie leicht
zu sehen ist, bezeichnet diese letzte Gruppe konkrete medizintechnische
und pharmazeutische Vorgänge, weshalb unterschiedliche Lexeme in die-
sem Falle zu erwarten sind.
Die über 120 Verbformen sind in den etwa 40 Sätzen der 36 Paragra-
phen unregelmäßig verteilt. In drei Fällen genügte ein Verb: ezze accleia; der
ezze fenchilsamen; der ezze zu hant petersilien. In den übrigen Paragraphen
_____________
24 Rezepte sind auch anweisende Texte, die durch Kürze und das überwiegende Imperativ-
Muster charakterisiert sind, zum Beispiel: Nem eyn gluwenden ysen..., Nym hundes myst... (ediert
in: Морозова 2008, 77; – Морозова 2004, 71). Diese grammatischen Besonderheiten blei-
ben auch für die späteren populären Kompilationen typisch, geändert wird nur der Thema-
Rhema-Aufbau des Textabschnittes: Ins Thema wird die Bezeichnung der Beschwerde ge-
stellt. Zu ergänzen wäre noch, dass im zitierten populären medizinischen Buch diese The-
matisierung auf eine interessante Weise durchgeführt worden ist: in der Form eines ge-
meinsamen Titels für die drei Rezepte aus Meister Albrants „Roßarzneibuch“: Wider den
muchen.
580 Catherine Squires
Die tabellarische Darstellung zeigt nicht nur die Kombinationen von un-
terschiedlichen und sich wiederholenden Verben, sondern verdeutlicht die
Verwendung des Pflanzennamens in der Rolle des Direktobjekts in der
Stellung nach dem ersten Verb. Durch diese stereotype Anordnung ist das
Funktionieren des sekundären Suchprinzips (des Kräuterbuch-Prinzips)
gesichert, von dem oben die Rede war.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 581
Der dritte Teil kommt zwar nicht in allen, aber doch in mehreren Pa-
ragraphen vor. Er realisiert zwei unterschiedliche Grundmuster:
1. In neun Belegen kommt als Schlusswort daz hilfet vor, in einem
zehnten in der Variante so hilfet ez dich ane zwifel;
2. zwei Paragraphen schließen mit daz ist gut, in einem dritten ist eine
Variante so iz alliz gut zu finden.
Diese Schlussworte stehen am Ende und sind durch Interpunktion vom
vorangehenden Paragraphteil getrennt, zum Beispiel: Deme der klobelauch we
du gezze(n) d(er) ezze zu hant pet(er)silien. daz hilfet.25 Obwohl sie ihrer Seman-
tik nach scheinbar den Nutzer von der guten Wirkung der empfohlenen
Arznei überzeugen sollen, machen sie in den kurzen praktischen Anwei-
sungen den Eindruck eines überflüssigen Nachtrags. Vermutlich ist eine
Erklärung für die Herkunft dieser Schlussworte aus dem Vergleich mit
dem deutschen Macer zu finden.
Oben wurde schon die Vermutung ausgesprochen, dass praktische
populäre Arzneibücher unter anderem als Quellen kompilierten und bear-
beiteten Textstoff aus Kräuterbüchern enthalten mögen. Die Bearbeitung
musste, wie wir schon sahen, den Umbau der Kräuterbuch-Paragraphen
miteinschließen, wobei die Textteile ihre Stellung wechselten. Zum Bei-
spiel in einem Satz wie diesem aus dem deutschen Macer: camomila gesoten ist
gut genutzet, swer kichet – hier muss nach dem Muster und in Übereinstim-
mung mit der Pragmatik eines Arzneibuches die zu behandelnde Erkran-
kung an den Anfang des Absatzes gerückt werden und der Ratschlag, zu
dieser oder jener Pflanze zu greifen, danach folgen. Der Macer-Satz
(2) camomila gesoten (3) ist gut genutzet (1) swer kichet
soll nach dem Prinzip so umgebaut werden und das Partizip gesoten, wie
das Vorbild des oben analysierten Arzneibuches aus dem 14. Jh. vor-
schreibt, durch den Imperativ ersetzt werden (also siede). Der daraus resul-
tierende Satz *swer kichet, siede camomila ist einem typischen Arzneibuch-
Satz sehr ähnlich. Es bleibt nur noch etwas Textstoff übrig (ist gut genutzet),
auf den der Kompilator entweder ganz verzichten musste, oder den er am
Schluss anhängen konnte, vgl.:
Aus dem Macer geändert: * swer kichet, siede camomila. daz ist gut.
Aus dem Arzneibuch: Deme die augen driefen, der neme sal-
beien ... . daz ist gut.
_____________
25 In der Schreibung und Interpunktion der Handschrift zitiert.
582 Catherine Squires
Das Schlusswort, das in dem Arzneibuch des 14. Jh. den Eindruck einer
fakultativen Ergänzung machte, mag folglich auf wichtige Textteile der
vorangehenden Textform zurückgehen.
Für das deutsche Buch konnte die erste damit befasste Forscherin und
Herausgeberin Polina Morosova nachweisen, dass es nicht ein erster Ent-
wurf, sondern eine Abschrift eines schon kompilierten Werkes ist.26 Es ist
also kein Einzellfall, sondern vertritt, wie die zwei anderen Büchlein bestä-
tigen, eine Gattung von Büchern, die für den privaten Bedarf und von
privater Ausfertigung sind. Dieses volksmedizinische Büchlein aus dem
15. Jh. enthält unter anderem ein Bruchstück des Arzneibuches Ortolfs
von Baierland: das Kap. 72 „Von den zeichen des todes“, der deutschen
Fassung der Capsula eburnea.
Die Capsula eburnea ist ein theoretisches Traktat, das in mehreren
volkssprachlichen Fassungen überliefert ist. Auch „Signa mortis“ genannt,
ist es ein Todes-Prognostikon, das davon handelt, wie man anhand der
Lokalisierung von Hauptsymptomen (platter, blater) bescheiden kann, wie
lange der Kranke noch zu leben hat. Sein Inhalt hatte keine praktische
Bedeutung für die Aufgaben der Krankenheilung. Trotzdem wurde dieser
medizinische Text nicht nur in wissenschaftliche Kompendien aufge-
nommen, sondern auch in heilkundlichen Büchern für medizinische Laien
bearbeitet, in dem hier analysierten Buch zusammen mit Anweisungen zur
Krankenbehandlung, mit veterinären Rezepten, Segen, Pest-Regeln und
anderem.
_____________
26 Vgl. Морозова (2008, 73).
584 Catherine Squires
_____________
27 Морозова (2004, 161ff.).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 585
_____________
28 Vgl. Rösler (1997, 141).
29 Zur Übersicht der Klassifikationsprinzipien und zur textsyntaktischen und textgrammati-
schen Theorie seien die Untersuchengen von J. Meier und A. Ziegler eingesehen: Mei-
er / Ziegler (2006, 116); dies. (2002, 85ff.).
30 Admoni (1967, 159).
586 Catherine Squires
Literatur
Admoni, Wladimir (1967), „Der Umfang und die Gestaltungsmittel des Satzes in der
deutschen Literatursprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“, in: PBB,
89 / 1967, 144-199.
Admoni, Wladimir (1980), Zur Ausbildung der deutschen Literatursprache im Bereich des
neuhochdeutschen Satzgefüges (1470-1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssys-
tems der deutschen Sprache, Berlin.
Admoni, Wladimir (1986), Der deutsche Sprachbau, Moskau.
Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen.
Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig.
Keil, Gundolf (1978), „Bartholomäus“, in: Kurt Ruh / Gundolf Keil (Hrsg.), Die deutsche
Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin, New York.
Meier, Jörg / Ziegler, Arne (2002), „Textstrukturen – Basiskategorien der Kommuni-
kation“, in: Ingmar ten Venne (Hrsg.), ‚Was liegt dort hinterm Horizont?‘ Zu For-
schungsaspekten in der (nieder)deutschen Philologie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof.
Dr. phil. Habil. Dr. h. c. Irmtraud Rösler, (Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft
12), Rostock, 85-101.
Meier, Jörg / Ziegler, Arne (2006), „Textlinguistische Überlegungen zur städtischen
Kommunikation im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: Gisela
Brandt / Irmtraud Rösler (Hrsg.), Historische Soziolinguistik des Deutschen VI. Kom-
munikative Anforderungen – Textsorten – Sprachgebrauch soziofunktionaler Gruppen,
(Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 434), Stuttgart, 111-134.
Mildenberger, Jörg (1997), Anton Trutmanns ‚Arzneibuch‘, Teil II: Wörterbuch, Bd. 1,
(Würzburger medizinhistorische Forschungen 56, hrsg. v. Gundolf Keil), Würz-
burg.
Морозова, Пoлина В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник XV в.“, in:
Вестник Московского университета. Серия «Филология», 4 / 2003, Москва, 71-87.
Морозова, Пoлина В. (2004), Язык и жанр немецких медицинских рукописей XIV–XV
вв., Диссертация, Москва, 1-209.
588 Catherine Squires
1. Einführende Überlegungen
Ein germanistischer Mediävist hat bekanntlich viele Möglichkeiten, seine
Befassung mit sprachwissenschaftlichen Themen zu rechtfertigen: Geeig-
net sind z.B. Ergebnisse aus der Analyse von Schrift-, Laut- und Bedeu-
tungsphänomenen, welche oft die Basis interpretatorischer Schlüsse bil-
den, oder – all das und noch mehr vereinend – eine Tätigkeit, die diesen
Beitrag motiviert, nämlich das Edieren: Editionen stellen gewissermaßen
eine ‚klassische‘ Schnittstelle auch hin zur Historiolinguistik dar. Öffent-
lich betont wurde diese spezifische Fachverbindung vor wenigen Jahren
auf der Baseler Tagung „Edition und Sprachgeschichte“: Ziel dieser Ver-
anstaltung des germanistischen Editorenverbandes war es, sprachwissen-
schaftliche Berührungspunkte zu reflektieren, um sie in Zukunft verstärkt
zu Angelpunkten bei der Herausgabe mittelalterlicher Texte machen zu
können. 1 Allgemein begrüßt hat man dafür das Grazer Modell der mediä-
vistischen Editorik, genannt die ‚dynamische Editionsmethode‘. Weil die-
ses Konzept für den Einstieg in die folgenden Ausführungen von Bedeu-
tung ist, sei es kurz erläutert.
Die dynamische Editionstechnik, die von Andrea Hofmeister-Winter 2
und – mit wesentlich bescheidenerem Anteil – vom Verfasser entwickelt
wurde, meint ein mehrschichtiges Edieren. 3 Als Grundlage und zugleich
erste Schicht dient die sog. ‚Basistransliteration‘: Sie zeichnet sich aus
_____________
1 Vgl. Stolz (Hrsg.) (2007).
2 Vgl. Hofmeister-Winter (2003). Grundinformationen zur dynamischen Editionsweise
liefert die Homepage von Hofmeister-Winter:
http://webdb.uni-graz.at/~hofmeisa.
3 Vgl. Hofmeister (2007, 73ff.).
590 Wernfried Hofmeister
finden sich aber nur 38: Sie markieren häufig Versgrenzen, wenn diese bei
der Aufzeichnung ins Zeileninnere gerutscht sind, manchmal stehen sie
auch bzw. zugleich an syntaktisch-syntagmatischen Einschnitten. Daneben
finden sich noch 600 Virgeln, die jedoch eher nur Zierstrich-Charakter zu
haben scheinen, denn sie sind ohne Abstand und in nur haarfeiner Gestalt
an einzelne Buchstaben direkt angeschlossen.9 Textgliedernde Bedeutung
signalisieren 869 Initialen sowie – potenziell – einige der vieltausenden
Majuskeln, welche sich anhand ihrer authentischen Wiedergabe in der
Basistransliteration genauso selektiv auswerten lassen wie die mitcodierten
blauen und roten Farbinformationen. In Hinblick auf eine moderne Text-
darbietung verdeutlicht uns dieser historische Befund zur Hugo von
Montfort-Überlieferung, dass aus ihm zwar viele Indizien für die inten-
dierte Makro- und Versstruktur aller Texte zu gewinnen sind, aber kaum
Indizien speziell für syntaktische Markanzen. Entsprechend frei – oder wir
mögen auch sagen ungesichert – bewegt sich daher ein Editor, wenn er
Interpunktionsvorschläge in die Textausgabe einfügt, so auch bei jenen
neun Textzeilen, deren moderne Interpungierung es weiter unten exem-
plarisch zu erörtern gilt.
Vorab will jedoch eine grundsätzliche Frage beantwortet sein: Wel-
chen präsumtiven Nutzen zieht die historische Syntaxforschung über-
haupt aus einer modernen Zeichensetzung in Editionen? Wohl dann kei-
nen, wenn das Bestreben eines Sprachforschenden allein dahin geht, alle
Analysen nur an den Quellen durchzuführen, also exklusiv am hand-
schriftlichen Original bzw. an guten Faksimiles zu arbeiten – dann bleiben
alle Editionen gleichsam links liegen. Allerdings zeigen auch aktuelle Bei-
spiele für Satzbauuntersuchungen,10 dass dies keineswegs die Regel ist,
und zwar weil ein Quellenzugang rein technisch nicht in Frage kommt
oder weil man sich aus anderen Gründen fernhält vom Dickicht der ver-
schiedenen Schreiberhände mit ihren mehr oder weniger gut nachvoll-
ziehbaren und manchmal korrekturbedürftigen Graphien. In diesen Fällen
ist und bleibt eine Edition die erste Wahl, und mit ihr kommen auch ihre
Satzzeichen ins Spiel, getragen von der editorischen Textkompetenz des
Herausgebers. Daher scheint es durchaus einsichtig, dass wir ganz explizit
über die editionstechnischen und editionshistorischen Grundfaktoren für
die Praxis des Interpungierens reflektieren sollten.
_____________
9 In 395 Fällen stehen sie am Zeilenende.
10 Vgl. z.B. folgende Syntaxuntersuchung, die für die Analyse der Satzformen z.B. im „Frau-
enbuch“ Ulrichs von Liechtenstein mit den Satzauszeichnungen in Franz Viktor Spechtlers
„Frauenbuch“-Edition lückenlos konform geht: Robin (2005, 123ff.).
592 Wernfried Hofmeister
2. Editorische Zeichensetzungsstrategien
im Vergleich – exemplarische Eindrücke
Zur Veranschaulichung des Themas konzentriere ich mich auf bloß neun
Zeilen (aufgeteilt auf drei Textausschnitte) aus dem Werk Hugos von
Montfort, möchte aber mehrere Editionsversionen heranziehen. Natürlich
wird sich aus diesem geringen Textmaterial keine repräsentative Vorstel-
lung von all den vielfältigen editorischen Zeichensetzungsstrategien in der
germanistischen Mediävistik ableiten lassen, doch vielleicht ein paar ex-
emplarische Eindrücke, denn die ausgewählten Zeilen haben einiges an
syntaktischer Dynamik zu bieten: Entnommen sind sie dem Anfang des
Textes Nr. 29, eines 12-strophigen Liedes, in welchem es – grob zusam-
mengefasst – um die Verführungskünste der ‚Frau Welt‘, der personifizier-
ten ‚Ikone‘ mittelalterlicher Lebenslust geht. Ihr stemmt sich ein Verfech-
ter des gottesfürchtigen Lebenswandels tapfer (und letztlich erfolgreich)
entgegen; für diskursive Spannung ist also gesorgt.
Der erste Herausgeber dieses Textes war Karl Bartsch im Jahr 1879.11
Zu seiner Interpunktionsmethode ist generell Folgendes anzumerken: Er
hält sich weitgehend an Karl Lachmann und dessen (rund 50 Jahre davor
etablierte) Vorgaben für altgermanistische Interpunktionstechnik.12 In
diesem Auszeichnungssystem, welches zahlreiche Editionen bis heute
prägt, dient die Interpunktion nicht immer nur bzw. primär der Auszeich-
nung aller syntaktischen Einheiten. Vielmehr wird versucht, auch einer
imaginären Vortragssituation gerecht zu werden, also zugleich den gefühl-
ten Sprechrhythmus zu unterstützen.13 Einer solchen Praxis liegt zum
einen die Tradition der lateinischen Rhetorik zugrunde, welche dem Alt-
philologen Lachmann bestens vertraut war, zum andern (und in Anleh-
nung daran) die Betonung metrischer Einheiten, wie sie fallweise auch
durch historische Zeichensetzungen in den mittelalterlichen Handschrif-
ten gestützt wird. Somit begegnet uns in Editionen, die sich (mehr oder
weniger konsequent) an Lachmanns Vorgaben halten, eine Interpunktion
mit einer im Grunde doppelten Ausrichtung zwischen Metrik und Syntax,
wobei aber erfahrungsgemäß meist die syntagmatischen Strukturen erheb-
lich stärker gewichtet werden. Hat man als Nutzer einer Edition deren
Lachmann’schen Interpunktions-Usus einmal erkannt, reduziert sich die
Gefahr, auf der Suche nach Satzgebilden anhand der Interpunktion un-
willkürlich den bloß metrisch relevanten Einheiten zu folgen.
_____________
11 Vgl. Bartsch (1879).
12 Wir dürfen nur von einem ‚stillschweigenden‘ Anschließen an Lachmanns Usus ausgehen,
da sich Bartsch dazu im Vorwort seiner Edition nicht explizit äußert.
13 Vgl. Gärtner (1988, 86ff.).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 593
An bzw. schon vor der allerersten Textstelle fällt uns beim Editionsver-
gleich auf: Erst Wackernell führt eine Markierung der Sprecherrolle in der
1. Zeile ein – und tut dies zu Recht, denn schon am Beginn dieses Texts
sollte man ganz unzweifelhaft signalisiert bekommen, dass hier eine direk-
te Rede vorliegt: In ihr wendet sich ein (männlich gedachtes) Erzähler-Ich
ganz nachdrücklich an die verführerische Frau Welt, die dann erst in der 2.
Strophenhälfte antwortet. Gewiss war diese Wechselrede-Situation schon
dem verdienten Editor Karl Bartsch bewusst, aber er verzichtete auf die
Kennzeichnung durch Anführungsstriche. Wer nun jedoch ohne das Hin-
tergrundwissen von Bartsch nur dessen Textoberfläche zur Grundlage
weiterer Analysen macht, muss sich diese dialogische Textstruktur nolens
volens selbst rekonstruieren und ihr dann auch in jenen Passagen zu folgen
versuchen, wo sich die Redeanteile der Sprechenden weniger deutlich zu
_____________
14 Für die Belegung der einzelnen Textabdrucke sollen uns deshalb faksimilierte Ausschnitte
(und nicht bloß abgetippte Wiedergaben) dienen, da damit für den angestrebten Vergleich
ein Höchstmaß an typographischer Authentizität geboten werden kann, etwa mit Blick auf
die schriftproportionale Signifikanz und Ästhetik der Interpunktionszeichen.
15 Vgl. Wackernell (1881). In Wackernells äußerst umfangreicher Einführung in seine Edition
findet sich nichts zur Erhellung seiner Interpunktionstechnik.
594 Wernfried Hofmeister
Wenden wir uns jetzt aber den weiteren Textauszeichnungen zu und da-
mit den Interpunktionszeichen im engeren Sinn resp. den Interpungie-
rungsmitteln (laut Simmler 2003).16 Unproblematisch zeigt sich das
Komma nach Fro Welt, dem Subjekt des ersten Satzes: Bei Bartsch und
Wackernell trennt es die direkte Anrede an diese imaginäre Person von
der nachfolgenden Proform ir, was überzeugt. Diskussionswürdig scheint
hingegen das nächste Komma, welches in beiden Editionen die 2. Zeile
beschließt. Der Inhalt dieser Passage besteht – pointiert paraphrasiert –
darin, dass Frau Welt als attraktiv, aber ausbeuterisch bezeichnet wird. Für
diese Aussage werden in den ersten beiden Zeilen Prädikatsnomina einge-
setzt: Das erste zeigt sich getragen vom expliziten Hilfsverb sint (in der
Bedeutung 'seid'), das Prädikatsnomen der zweiten Zeile basiert implizit
auf der Verbform ist, erscheint hier aber nicht an der Oberfläche, sondern
steht nur elliptisch im Raum; oder es liegt schlicht eine ‚constructio ad
sensum‘ vor: Dann wäre auch die 2. Zeile noch von sint regiert, jedoch
gegenüber der sprachlogischen Personalform ist inkongruent in den Kate-
gorien ‚Person‘ (2. versus 3. Person) und ‚Numerus‘ (Plural vs. Singular).
Verbunden werden beide Zeilen durch die Konjunktion und am Beginn
von Zeile 2: Sie ist jedoch eher adversativ zu verstehen in der Bedeutung
von 'aber'. Die Frage, ob dann nicht besser – so wie das später in unserer
Zeichensetzung für adversative Anschlüsse üblich wurde – am Ende von
Zeile 1 ein Komma stehen sollte, zumal in Zeile 2 mit ewer lon auch ein
weiteres Subjekt hinzutritt, kann man mit dem Hinweis darauf verneinen,
dass zum einen diese Adversativität eben nicht explizit auftritt, und zum
_____________
16 Vgl. Simmler (2003, 2472ff.); die oben erwähnte Begriffseinführung erfolgt auf S. 2473.
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 595
Dieser Doppelpunkt nach der zweiten Zeile kann besser als ein Komma
zugleich die syntaktische Zäsurierung und die thematische Vertiefung
durch die katalogartig aufgezählten Begriffe signalisieren. Doch ich gebe
gerne zu: Der daraus erwachsende satzzeichentechnische Unterschied ist
gering.
Nur um alle vier vollständigen Montfort-Editionen einbezogen zu ha-
ben, binde ich hier noch kurz den Textabdruck von Franz Viktor Specht-
ler19 (Abb. 4) mit ein, obwohl dieser Abdruck als sog. diplomatische Aus-
gabe keinerlei Interpunktionsangebote enthält und daher für unsere
weiteren Fragstellungen ohne größere Bedeutung bleibt:
_____________
17 Hofmeister (2007, 17). Ziel dieser speziell für die CD-Ausgabe hergestellten Übersetzung
war es weniger, alle syntaktischen Bewegungen der Vorlage exakt nachzuzeichnen, sondern
durch eine etwas freiere Sprachgebung auch für ein breiteres Laienpublikum vor allem se-
mantisch gut fasslich zu sein.
18 Hofmeister (2005); allg. Hinweise zur Zeichensetzung finden sich auf S. XXXIf.
19 Spechtler (1978), Bd. II.
596 Wernfried Hofmeister
_____________
20 Keine gleichermaßen strikte Grenzlinie verläuft jedoch zwischen den metrisch untergeord-
neten Stolleneinheiten, denn über sie können einzelne Sätze sehr wohl hinweglaufen.
Spechtler schreibt auch sie alle groß. Daher dürfen wir diese Großbuchstaben nicht
zugleich als ein syntaktisches Signal für jeweils auch neue Satzanfänge missverstehen (vgl.
z.B. in Text Nr. 3 die Verse 64f.).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 597
vollständigen Satz in Zeile 4: da ist kain slichte (wörtlich: 'darin gibt es keine
Geradlinigkeit').21
Wackernell dürfte diesen engen argumentativen Zusammenhalt beider
Sätze gespürt haben, denn er relativiert deren rein syntaktisch notwendige
Trennung durch ein Komma dadurch, dass er diese gesamte Zeile 4 von
der Zeile 3 betont stärker absetzt, wozu ihm der signifikante lange Gedan-
kenstrich am Ende der Zeile 3 dient, der das Komma von Bartsch ersetzt.
Was Bartschens Verzicht auf eine syntaktische Untergliederung der Zeile 4
betrifft, mag man vermuten, dass für ihn entweder der argumentative
Konnex beider Sätze in Zeile 4 stärker wog als deren syntaktische Eigen-
dynamik oder dass er einer sprechrhythmischen Intuition im Sinne Lach-
manns folgte; er bietet jedenfalls – prosaischer gesagt – schlicht einen Satz
weniger.
Diskussionsbedürftig bleibt in dieser ersten Liedpassage nur noch der
Unterschied zwischen den in Zeile 4 satzschließenden Zeichen bei Bartsch
und Wackernell, denn da steht ein Punkt einem emphatischen Rufzeichen
gegenüber und bei mir (vgl. Abb. 3 oben) dann wieder nur ein Punkt.
Meine Entscheidung folgt dem Grundsatz, Rufzeichen möglichst nicht zu
beliebig gesetzten ‚Graph-Emoticons‘ für all das werden zu lassen, was ein
Editor betont sehen möchte. Vielmehr sollen sie nur wirklich hervorste-
chende und dabei grammatisch nachvollziehbare Intensivierungen kenn-
zeichnen, wie sie von syntaktischen Konstruktionen oder bestimmten
Wortarten signalisiert werden: Derartiges liegt recht eindeutig vor bei Be-
fehlssätzen mit einer Imperativform, sodann bei ähnlich nachdrücklichen
Konjunktiv I- bzw. Optativ-Konstruktionen in Wunschsätzen und bei
diversen exklamativen Interjektionen. Darüber hinaus markiert das Ruf-
zeichen bei mir nur noch einzelne besonders nachdrückliche Sätze mit
einer latent direktiven Perspektive. Da man den vorliegenden Satz in Zei-
le 4 zu keiner dieser Kategorien zählen kann, scheint mir für ihn eben
bloß ein Punkt angemessen.
_____________
21 Dieser Satz repräsentiert zwar ein eigenes Syntagma und verdient daher seine Abtrennung
durch das Komma, er braucht aber keine stärkere Zäsurierung, weil er das Argument von
als irr nur variierend unterstützt.
598 Wernfried Hofmeister
Liegt hier aber wirklich eine solche parataktische Reihung vor? Speziell die
Struktur des dritten Satzes überzeugt nämlich keineswegs, denn bei Hugo
von Montfort würde man die Wortstellung / interjektives dass + Subj. (+
fak. Obj.) + Verbalphrase / kein zweites Mal als Hauptsatz finden. Sehr
wohl aber treten ganz ähnliche Konstruktionen des Öfteren als Gliedsatz
auf, und zwar auch recht häufig in genau derselben Reihung, bei der das
Prädikat nicht an letzter Stelle steht. Sie lauten z.B. folgendermaßen, wo-
bei ich aus Gründen der Nachvollziehbarkeit zuerst immer auch den
Hauptsatz mitzitiere, von dem dann ein mit der Konjunktion das eingelei-
teter Gliedsatz abhängt: das zúg ich an den werden gott, / das ich doch tún nach
sím gebott22 ('Ich schwöre beim ehrwürdigen Gott, dass ich nach seinem
Gebot handle' 1/16f.), du fragist denn den schreiber glich, / das er dir gebi rát ('so
frag einfach den Schreiber, auf dass er dir raten möge' 3/73f.) oder damit
so mag ich also leben, / das ich tún úbel oder gút ('damit [gemeint ist der freie,
von Gott dem Menschen gegebene Wille] kann ich so leben, dass ich böse
oder gut handle' 4/50f.) etc. Somit liegt auch in Lied 39/11 die Annahme
einer hypotaktischen Gliedsatzkonstruktion nahe, wie sie mein Editions-
text (Abb. 7) vorschlägt:
_____________
22 Die folgenden Textzitate stammen aus der Edition von W. Hofmeister: Hugo von Mont-
fort (2005).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 599
Nunmehr ist zu sehen, dass erstens der Satz in Zeile 11 vom Fragesatz in
Zeile 9 abhängt, und zwar mit konsekutiver Anbindung, und dass zwei-
tens dazwischen ein Satz eingeschoben ist – halb kommentarhaft, halb
argumentativ. Ganz eng am Text übersetzt ergibt dies: 'Lieber Freund, was
wirfst du mir vor (ich habe dich doch so oft erbaut), dass du mich derartig
verachtest?' Solche gedanklichen Einschübe finden sich bei Hugo von
Montfort häufig, ja er liebt sie geradezu, wie seine über 100-fache Ver-
wendung dieses Stilmittels zeigt.
Schließlich sei ein drittes und damit letztes Beispiel angeführt, um noch
eine weitere interpunktorische Auszeichnungsoption kennen zu lernen:
Anführungszeichen, Punkt, Doppelpunkt, Beistrich, Gedankenstrich und
runde Klammer wurden bereits vorgefunden.23 Es fehlt also noch der
Strichpunkt. Schon Bartsch und Wackernell haben ihn gerne bemüht, um
damit (wie noch heute üblich) satzwertige Gebilde, deren Thema sich eng
an den vorhergehenden Satz fügt, weniger stark abzusetzen, als dies durch
einen Punkt der Fall wäre. Hier herrscht aber meiner Erfahrung nach ein
erheblicher und oft schwer argumentierbarer Ermessensspielraum zwi-
schen Strichpunkt, Punkt, Gedankenstrich oder auch Komma: Sie alle
sind Satzzeichen, die auch Hauptsätze voneinander trennen können.24 Für
die vorliegenden Überlegungen würden sich jetzt aus solchen Alternativen
keine substanziell neuen Erkenntnisse ergeben, die über die oben geführ-
ten Diskussionen hinausreichten, daher wende ich mich noch einer Spezi-
alauszeichnung im Rahmen meiner Editionstechnik zu, den einfachen
_____________
23 Nur der auszeichnungstechnischen Vollständigkeit halber sei hier noch auf die einfachen
Anführungsstriche verwiesen: Wie in vielen Editionen üblich, dienen sie für die Markie-
rung von Werkzitaten im poetischen Text oder von Reden in Reden.
24 Stichprobenartig sei zum Einsatz von Strichpunkten durch Ba(rtsch), Wa(ckernell) und
Ho(fmeister) für die Anfangspassage unseres Textes (Z. 1-48) überblicksartig vergleichend
festgehalten: Ba und Wa bieten ein Semikolon in Z. 18 (Ho dafür einen Gedankenstrich);
Ba in 30 (Wa dort Beistrich, Ho Doppelpunkt); Ba in 35 (Wa Doppelpunkt, Ho Beistrich);
Wa in 36 (Ba Punkt, Ho Beistrich: Außerhalb dieser Passage kommen Strichpunkte bei Ho
gemäß den oben genannten Grundsätzen durchaus häufig zum Einsatz).
600 Wernfried Hofmeister
Nicht übersehen werden sollte beim raschen Überfliegen der ersten Zeile,
dass Bartsch hier wieder einen Satz ‚liegen lässt‘, diesmal den Gliedsatz was
ich machen wil; Wackernell, der ‚Syntaktiker‘, markiert ihn hingegen durch
ein Komma. Die nachfolgende Sentenz ›die welt ist ain zergangkleich leben‹
(>Vergänglich ist das Erdenleben.<30) könnten beide Editoren bereits
gespürt haben, sofern man ihren Doppelpunkt am Ende der ersten Zeile
so deuten darf: Dieses Satzzeichen eignet sich nämlich am besten dafür,
vor einer Parömie gedanklich kurz innezuhalten, um darauf aufmerksam
zu machen, dass nun ein eigentextueller Kommentar zum soeben Gesag-
ten folgt. Wirklich ausreichend hervorheben lässt sich die zitathafte Pro-
verbialität des damit angekündigten Satzes aber erst durch eine gesonder-
te, den Satz umschließende Auszeichnung, wie sie meine Edition vor-
schlägt:
_____________
28 Als essenzielle Merkmale gelten: Erfahrungsbasis, geschlossene Aussage / potenzielle dis-
kursive Abgeschlossenheit, geschlossene Satzstruktur, Kürze und Prägnanz, lexikalische
Publikumsläufigkeit. Frei hinzutretende Merkmale sind (sprichwort-intern) Alliteration,
Bildhaftigkeit, Binnenreim, Identität, Indefinitausdruck, Indikativ, Komparativ und Super-
lativ, Kontrast, Prädikatslosigkeit, Präsens und (sprichwort-extern) Autoritätsappelle, Dele-
tierbarkeit, Distribution, Gruppierung, Kommentar, Quellenbeleg, Überleitungswort.
29 Siehe die Sprichwortliste im oben genannten Beitrag: Hofmeister (2009).
30 Hofmeister (2007, 18).
602 Wernfried Hofmeister
3. Fazit
Was kann am Ende dieses Beitrages als Summe und Ausblick festgehalten
werden? Vielleicht dies: Durchinterpungierte Editionen älterer Texte dür-
fen nie den Blick auf die Überlieferung verstellen, denn immer wird es
wichtig sein, sich auch von den historischen Textgliederungssymbolen ein
Bild zu machen. Darauf aufbauend mögen Sprachforschende die in Edi-
tionen angebotenen modernen Satzzeichen als eine Art Brücke sehen,
welche Syntax- und Sinnstrukturen miteinander zu verbinden versucht.
Allerdings empfiehlt es sich immer, die jeweilige Edition vorab darauf hin
zu überprüfen, ob bzw. wie weit ihre Textauszeichnungs-Konvention eher
der konservativen, auch metrisch-rhetorisch orientierten, Interpunktions-
weise verpflichtet ist (und daher womöglich so manches syntaktisch rele-
vante Signal unmarkiert lässt) oder ob sich die Textausgabe davon unab-
hängig zeigt, indem sie möglichst konsequent dem historischen Satzbau
nachzuspüren und ihn interpunktionstechnisch auch abzubilden versucht;
manchmal, wenn auch nicht immer, wird da das Lesen der editorischen
Vorwörter für eine gewisse Groborientierung sorgen können.
Doch einerlei, ob eher konservativ oder radikal modern interpungierte
Edition: Beide vermögen letztlich nie alle Syntaxphänomene von histori-
_____________
31 Vgl. 28, 378; 29, 94; 31, 206 u. 38, 137f.
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 603
schen Texten direkt wiederzugeben32 und zudem riskieren sie es mit ihrer
‚bis auf Punkt und Beistrich‘ genauen Zeichensetzung, das eine oder ande-
re Mal eine denkbare Variante außer Betracht zu lassen oder auch schlicht
danebenzugreifen. Aber selbst an jenen Stellen, an denen das Syntaxwis-
sen oder die interpretatorische Intuition des Editors einmal versagt haben
sollten, wird für das Zielpublikum summa summarum speziell durch modern
und vor allem differenziert interpungierte Editionen auf jeden Fall mehr
zu gewinnen sein als zu verlieren. Gewendet in ein Schlussplädoyer, ergibt
sich aus dieser Perspektive, dass Editorik und historische Syntaxforschung
einander weiter bzw. noch stärker als Partner sehen sollten, um voneinan-
der kooperativ zu profitieren.
Quellen
Literatur
1. Einleitung
Bekanntlich hat sich die Regelung der Abfolge der Elemente innerhalb des
mehrteiligen Verbalkomplexes im Laufe der deutschen Sprachgeschichte
stark gewandelt. Im Gegenwartsdeutschen und grundsätzlich seit dem
Neuhochdeutschen des 17. Jahrhunderts gilt im zweiteiligen Verbalkom-
plex generell die Stellung V2-V1. Mehr oder weniger bis ins 15. Jahrhun-
dert war demgegenüber die Abfolge von übergeordneten und untergeord-
neten Verbalelementen, also beispielsweise Modalverben oder Hilfsverben
und Vollverben relativ frei, mit Frequenzunterschieden zwischen den
Stellungsvarianten mit Modalverben und solchen mit Hilfsverben. Be-
trachten wir nur zweiteilige Verbalgruppen, kommen somit grundsätzlich
beide denkbaren Abfolgemöglichkeiten zwischen regierendem Verb (V1)
und regiertem Verb (V2) vor; dazu gibt es noch die Möglichkeit, dass bei
vorangestelltem regierendem Modal- oder Hilfsverb zwischen dem regier-
ten und dem regierenden Verb weitere Satzglieder stehen (getrennte Stellung,
Zwischenstellung):1
_____________
1 Vgl. Reichmann / Wegera (Hrsg.) (1993, 438ff.). Alle Beispiele in den Abschnitten 1 und 2
sind aus Pauli (1970), Predigt II entnommen.
608 Andreas Lötscher
Das Thema ist schon des Öfteren Gegenstand von Untersuchungen ge-
wesen, zuletzt bei Robert P. Ebert, der ausführlich die Verteilung in
Nürnberger Schriftquellen auf ihre Verteilung in soziolinguistischer und
diachroner Sicht untersucht hat.2 Ich möchte in diesem Beitrag diese Un-
tersuchungen in zwei Hinsichten weiterführen: Erstens möchte ich stich-
probenartig weitere Quellen einbeziehen, zweitens möchte ich die etwas
grundsätzlichere Frage stellen, wie die Variationen im Gebrauch aus der
Perspektive einer Beschreibung eines damals geltenden grammatischen
Systems zu interpretieren sein könnten. Ich konzentriere mich dabei auf
die Periode etwa zwischen 1480 und 1580.
Die bisherigen Beschreibungen konzentrieren sich zumeist auf eine
mehr statistische Beschreibung des Vorkommens der einzelnen Typen an
sich, ohne die Frage zu stellen, wie diese in einem präziseren syntaktischen
_____________
2 Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 609
tendenz formulieren, die auch schon Behagel formuliert hat:4 V2-V1 (die
neuhochdeutsche Folge) wird eher bevorzugt, wenn das vorangehende
Wort schwach betont ist, die umgekehrte Folge entsprechend, wenn das
vorangehende Wort stark betont ist:
stark betontes Wort + V1 die das leben ... Jhesu Christi hond beschriben
+ V2: daz wir allweg etwaz guotz söllint tuon
Tabelle 4: Einfluss der Betonung des vorangehenden Wortes auf die Verbstellung
grammatische Kategorie
begünstigt V1-V2 begünstigt V2-V1
des vorangehenden Wortes
- Pronomen X
- Negationspartikel X
- Adverb X
- Substantiv X
- Adjektiv X
Tabelle 5: Einfluss der grammatischen Kategorie des vorangehenden Wortes
auf die Verbstellung
Stark beeinflusst ist die Abfolge ferner durch die Art der involvierten Ver-
ben. Generell sind Modalverben dem regierten infiniten Verb häufiger
vorangestellt als Hilfsverben. Ebert stellt aber auf der Grundlage seiner
äußerst differenzierten statistischen Untersuchungen auch Unterschiede
_____________
4 Vgl. Behaghel (1932, 87ff.).
5 Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 611
zwischen den einzelnen Hilfsverben fest: sein ist häufiger vorangestellt als
haben, am seltensten werden:6
Voranstellungswahrscheinlichkeit:
grösser Modalverben
↑ Hilfsverben:
sein
haben
sein
↓ Passiv-werden / -sein
kleiner
Tabelle 6: Einfluss der grammatischen Kategorie des regierenden Verbs auf die Verbstellung
2.3. Performanzaspekte
_____________
7 Dies ist eine Konkretisierung des von Hawkins entwickelten Prinzips des „Early Immedia-
te Constituent“ (vgl. Hawkins 1994).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 613
2.4. Zwischenfazit
3. Textsortenspezifische Unterschiede
Für die Bewertung und Beschreibung des Sprachgebrauchs im Frühneu-
hochdeutschen ist nun noch ein weiterer Einflussfaktor wichtig, nämlich
jener der Textsorte. Es ist zu beobachten, dass zwischen den verschiede-
nen Texten jener Zeit teilweise markante Unterschiede in der Wahl zwi-
schen den verschiedenen Abfolgen bestehen. Allerdings ist es nicht immer
ganz einfach, aus den einzelnen Texten klare Schlussfolgerungen darüber
zu ziehen, inwiefern die Tendenzen auf bestimmte konventionelle Text-
sortenregularitäten zurückzuführen sind. Im Rahmen dieses Beitrags kann
ich auch nur einzelne, stichprobenhaft ausgewählte Beispiele beiziehen.8
3.1. Urkunden
Relativ klar ist die Sachlage bei den Urkunden. In diesen wird offensicht-
lich seit jeher die Abfolge V2-V1 sehr stark bevorzugt, wenn nicht absolut
durchgeführt:
_____________
8 Ausgezählt wurden für die nachfolgenden Statistiken jeweils Textausschnitte mit 100
Belegen für zweiteilige Verbalgruppen. Wo die Statistiken anderen Arbeiten entnommen
sind, wird die betreffende Untersuchung direkt bei der Quellenangabe angegeben.
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 615
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Basler Urkun-
den (1487-1488)
3 64 96 % 4 38 90 %
(nach Lötscher
2000)
Kaiserliche
Kanzlei: Maxi-
milian I (1493- 0 131 100 % [2] 105 98 %
1519) (nach
Ebert 1998)
Reichsabschied
Freiburg 1498
0 119 100 % [2] 94 98 %
(nach Ebert
1998)
Aarburger Ur-
kunden (1499-
13 57 81 % 14 28 67 %
1519) (nach
Lötscher 2000)
Tabelle 7: Verbstellung in Urkunden
Urkunden haben gegenüber den meisten anderen Texten jener Zeit einen
besonderen Status, denn die meisten anderen Texte zeigen wesentlich
häufiger die Abfolge V1-V2. Das zeigt sich vor allem im Vergleich mit
vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften:
616 Andreas Lötscher
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Augsburger
7 35 83 % 38 26 41 %
Sittenlehre (1475)
Pauli, Predigten
28 47 62 % 17 7 29 %
(1493)
Geiler von
Kaisersberg,
10 38 63 % 26 25 49 %
Berg des Schauens
(1500)
L. Sprenger,
Beschreitung
(1514) (nach 48 89 65 % 15 45 75 %
Ebert 2001,
142)
Tabelle 8: Verbstellung in vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften
gemacht; man muss hier tendenziell vom Begriff der Textallianz sprechen,
wie er in der Literaturwissenschaft für frühneuzeitliche Texte entwickelt
worden ist.9 Je nachdem wird die V2-V1-Abfolge unterschiedlich stark
bevorzugt.
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Murner, An den
4 64 93 % 7 24 77 %
Adel (1520)
Bucer, Ursache
7 53 88 % 9 25 74 %
(1524)
Luther, Vom
Kaufhandel 6 32 84 % 23 38 62 %
(1524)
Zwingli, Schluss-
11 33 75 % 16 37 70 %
reden (1523)
Sonnenthaller,
10 44 81 % 20 25 56 %
Ursache (1524)
Müntzer, Ausge-
drückte Entblö- 10 58 85 % 18 22 55 %
ßung (1524)
Eberlin, Mich
7 51 87 % 29 14 36 %
wundert (1524)
Dietenberger,
10 75 87 % 13 8 38 %
Der Laie (1524)
Tabelle 9: Verbstellung in Streit- und Flugschriften der Reformationszeit
Was generell auffällt, ist, dass die Häufigkeit der V1-V2-Folge im Allge-
meinen gegenüber Predigten wie jenen von Johannes Pauli und Geiler von
Kaisersberg geringer ist. Das hängt wohl mit dem Umstand zusammen,
dass die meisten dieser Texte weniger dem Muster von Predigten als je-
nem von Traktaten oder Abhandlungen folgen. Innerhalb dieses Musters
gibt es allerdings deutliche Variationen. Manche Autoren, vor allem katho-
lische, können sich stilistisch kaum von einem theologisch-wissen-
schaftlichen Traktatstil trennen und schreiben eher komplizierte, um-
ständliche argumentative Texte. Der angeführte Text von Bucer (Bucer,
Ursache) andererseits ist eine Verteidigungsschrift, die weniger für die Re-
_____________
9 Zum Begriff der Textallianz vgl. Schwarz (2001, 9ff.).
618 Andreas Lötscher
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Steinhöwel, 4 63 94 % 2 34 95 %
Appolonius (1476)
Hug Schapler 5 46 91 % 16 32 67 %
(1500)
Fortunatus (1509) 6 63 91 % 9 22 71 %
Pauli, Schimpf und 20 34 63 % 25 19 43 %
Ernst (1522)
Die schön Magelo- 13 54 81 % 16 16 50 %
na (1524 / 1535)
Wickram, Nach- 2 49 96 % 13 38 75 %
barn (1556)
Tabelle 10: Verbstellung in literarischen Prosawerken zwischen 1470 und 1560
3.5. Schlussfolgerungen
_____________
14 Ágel / Hennig (2006, 26).
15 Vgl. neben den Zählungen in diesem Beitrag auch Lötscher (2000, 199ff.) und Ebert
(1998).
622 Andreas Lötscher
Die V2-V1-Abfolge ist nicht das einzige Mittel, mit dem Distanzsprach-
lichkeit signalisiert wird. Sie ist Teil umfassenderer Stilstrategien. Eng mit
der Verbstellung verknüpft ist namentlich das Problem der Ausklamme-
rung.
Im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen können be-
kanntlich nominale und adverbiale Satzglieder in weit größerem Maße
ausgeklammert werden als im Neuhochdeutschen. Es handelt sich auch
hier m.E. um ein Phänomen, das als Zusammenspiel zwischen dem
grammatischen Prinzip der Verbendstellung und pragmatischen Prinzipien
der Nachstellung von rhematischen Elementen oder ergänzenden pragma-
tischen Modifikationen zu beschreiben ist. Dieser Verzicht auf Ausklam-
merung ist ebenfalls ein Aspekt der Systematisierung und der Erschwe-
rung des Sprachgebrauchs. Wesentlich ist, dass auch die Ausklammerung
von stilistischen Faktoren beeinflusst ist, die vergleichbar sind mit jenen,
die für die Verbstellung namhaft gemacht werden können.16 Zudem lässt
sich in vielen Fällen beobachten, dass die konsequente Befolgung der V2-
V1-Folge parallel einher geht mit dem Verzicht auf Ausklammerung und
umgekehrt. Eine eingehendere Untersuchung, ob diese Beobachtung ge-
nerelle Gültigkeit hat, steht allerdings aus. 17
_____________
16 Vgl. Ebert (1980).
17 Einen weiteren verwandten Problembereich bildet die Verwendung von eingeklammerten
Nebensätzen; dies ist ja lediglich eine noch extensivere Ausprägung von Einklammerungen
von Satzgliedern vor dem Verb in Endstellung. Auch hier wäre zu untersuchen, ob ein Zu-
sammenhang zwischen der Häufigkeit der Verwendung von V2-V1-Strukturen und der
Häufigkeit von Einklammerungen besteht.
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 623
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Frey, Gartenge-
2 35 95 % 11 52 83 %
sellschaft (1557)
Köler, Autobio-
graphie (1536-
1541) (nach 4 47 92 % 1 20 95 %
Ebert
1981, 217)
Welser, Tage-
buch (1577) 10 51 84 % 1 19 95 %
(ebd.)
Tabelle 11: Verbstellung in Texten 1530 bis 1580
_____________
18 Vgl. Ebert (1998, 161ff.).
624 Andreas Lötscher
soziale und regionale Unterschiede möglich. Ich habe dazu nur Stichpro-
ben, die mir allerdings aufschlussreich erscheinen. Manche schweizeri-
schen Texte im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts in alemannischer
Schreibsprache zeigen vielfach beträchtliche höhere Anteile von V1-V2-
Strukturen als die in Abschnitt 4 angegebenen Textbeispiele oder die von
Robert Ebert untersuchten Nürnberger Texte: 19
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Ludwig von
Diesbach, Auf-
zeichnungen
11 51 82 % 24 12 33 %
(1488-1518)
(nach Lötscher
2000)
Diebold Schil-
ling, Bilderchronik
10 45 82 % 21 9 30 %
(1513) (nach
Lötscher 2000)
Ziely, Olivier und
Artus (1521)
39 42 52 % 35 8 19 %
(nach Lötscher
2000)
Tabelle 12: Verbstellung in Texten in alemannischer Schreibsprache aus dem frühen 16. Jh.
_____________
19 Vgl. ebd.; vgl. Lötscher (2000, 213).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 625
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Thomas Platter,
Lebensbeschreibung
10 51 84 % 25 8 24 %
(1572) (nach
Lötscher 2000)
Jakob v. Staal,
Reisenotizen (n.
20 62 75 % 21 2 9%
1595) (nach
Lötscher 2000)
Tabelle 13: Verbstellung in persönlichen Aufzeichnungen in alemannischer Schreibsprache
aus dem späten 16. Jh.
Bei den beiden angeführten Autoren Thomas Plattner und Jakob vom
Staal handelt es sich um durchaus gebildete Stadtbürger (aus Basel bzw.
Solothurn), die Texte stammen also nicht von nur halb gebildeten Auto-
ren, die allenfalls aus Ungeübtheit mündlichem Sprachgebrauch folgen.
Die beiden wenden aber gleichwohl Stellungen an, die von den Regeln des
späteren 16. Jahrhunderts stark abweichen. Sie folgen augenscheinlich
Stellungsregeln, wie sie heute noch in den Schweizer Dialekten gelten. In
der Schweiz ist offenbar innerhalb der traditionellen alemannischen
Schreibsprache noch die historisch gewachsene Variabilität erhalten
geblieben.
Zu erwähnen ist allerdings auch, dass etwa Sachtexte und literarische
Texte aus der Schweiz in vielen Fällen durchaus den in nördlichen Ge-
genden üblichen Normen folgen:
626 Andreas Lötscher
Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Tschudi, Chroni-
con helveticum (ca.
1 42 98 % 18 43 70 %
1570) (nach
Lötscher 2000)
A. Henricpetri,
Generalhistorien
2 44 96 % 9 33 79 %
(1577) (nach
Lötscher 2000)
Wetzel, Söhne
Giaffers (1583)
1 67 99 % 1 48 98 %
(nach Lötscher
2000)
Tabelle 14: Verbstellung in literarischen und historischen Texten aus der Schweiz
aus dem späten 16. Jh.
_____________
20 Vgl. Sonderegger (1993, 11ff.).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 627
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Dietenberger, Der Laie = Dietenberger, Johannes, „Der Laie. Ob der Glaube allein
selig macht“, in: Laube (Hrsg.), Flugschriften, 545-563.
Eberlin, Mich wundert = Eberlin, Johann, „Mich wundert, dass kein Geld im Land ist“,
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628 Andreas Lötscher
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Laube, Adolf (Hrsg.) (1997), Flugschriften gegen die Reformation (1518 – 1524), Berlin.
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geistliche Haufen das Evangelium nicht annimmt“, in: Laube / Loß (Hrsg), Flug-
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Festschrift für Werner Besch, Frankfurt a. M. u.a., 11-36.
wir muessen etwas teutsch reden…
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit
1. Zur Forschungslage
Die Frage nach Merkmalen und Strukturen der historischen Mündlichkeit
ist nicht neu. Der Forschungsstand wird zusammengefasst in dem Beitrag
„Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Früh-
neuhochdeutschen“ von Anne Betten1 im Handbuch HSK Sprachgeschichte.
Dort heißt es:
Idealiter wäre eine möglichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten nach
diesen Parametern zu analysieren, um durch synchrone und diachrone Vergleiche
herauszufinden, welche ‚Mischungsverhältnisse‘ in dieser Phase zustande kom-
men und wie sie sich verändern.2
Mit „diesen Parametern“ sind die Parameter, die Peter Koch und Wulf
Oesterreicher3 für moderne romanische Sprachen entwickelt haben, ge-
meint. Demgegenüber darf jedoch bezweifelt werden, dass eine „mög-
lichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten“ uns einer Antwort
auf die Frage nach etwaigen strukturellen Unterschieden zwischen gespro-
chenem und geschriebenem Frühneuhochdeutsch substantiell näher brin-
gen könnte. Auch die Frage, inwieweit bestimmte Textsortenstile der ge-
sprochenen Sprache näher stehen als andere, wird sich solange nicht
schlüssig beantworten lassen, wie wir nicht wissen, wie die gesprochene
Sprache früherer Epochen strukturiert war. Hier sind wir auf Mutmaßun-
gen oder die Übertragung rezenter Gegebenheiten auf Sprachzeugnisse
der Vergangenheit angewiesen, ob man diese Mutmaßungen nun als Para-
meter oder sonst wie bezeichnet. Was Robert Peter Ebert4 schon 1986
formuliert hat, liest sich wie eine Binsenweisheit, trifft aber bis heute zu:
_____________
1 Vgl. Betten (2000, 1646ff.).
2 Ebd., 1649.
3 Vgl. Koch / Oesterreicher (2007, 356ff.).
4 Vgl. Ebert (1986, 22).
632 Hans Ulrich Schmid
„Der Grad des Einflusses der gesprochenen Sprache auf unsere geschrie-
benen Quellen läßt sich wegen mangelnder Zeugnisse für die gesprochene
Sprache nur schwer ausmachen“.
Im Vorgänger-Artikel5 in der Erstauflage des HSK Sprachgeschichte mo-
niert der Verfasser Ernst Bremer das Fehlen „einer umfassenden Theorie
des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit“.6 Hier werden
wohl die Möglichkeiten einer „Theorie“ überschätzt, denn wie soll eine
solche aussehen, wenn die Datenbasis fehlt? Sicherlich ist davon auszuge-
hen, dass im Frühneuhochdeutschen einerseits die geschriebene Sprache
auf die gesprochene einwirkt, vor allem auf deren Prestigevarietäten, und
dass andererseits in dieser Phase der „Prozeß zunehmender Distanz zu
gesprochener Sprache“7 eingeleitet wurde. Doch das ist eine nicht weiter
verwertbare, höchst allgemeine Einsicht. Man könnte auch sagen, ein
Allgemeinplatz. Datenmaterial ergibt sich – was von Bremer auch gesehen
und mit Recht problematisiert wird – vor allem für den phonetischen und
morphophonetischen Bereich, weniger für die Syntax, wie auch die ent-
sprechenden HSK-Artikel zum Mittelhochdeutschen8 und Althochdeut-
schen9 belegen.
Das Gesagte führt uns somit letztlich zu einem heuristischen Dilem-
ma, und dieses ergibt sich aus der Datenlage. Man kann noch so viele
Tausend Seiten frühneuhochdeutscher Texte digitalisieren, annotieren und
analysieren und versuchen, strukturelle Unterschiede z.B. zwischen theo-
logischem Traktat, Rechtsprosa, Schwankerzählung oder Fachliteratur zu
den artes mechanicae herausfinden, aber man weiß trotzdem immer noch
nicht, was typisch für die mündliche Kommunikation ist. Damit soll nicht
der Sinn von Digitalisierung, Annotation und Analyse angezweifelt wer-
den, sondern nur die Ergiebigkeit solcher Verfahrensweisen für die Er-
mittlung sprechsprachspezifischer Strukturen.
Dass manche Textsorten (handwerksbezogene Fachliteratur, Predigt,
Schwankliteratur usw.) der historischen Mündlichkeit näher stehen können
als andere, soll ebenfalls nicht angezweifelt werden. Es liegt ja auf der
Hand.
_____________
5 Vgl. Bremer (1985, 1379ff.).
6 Ebd., 1379.
7 Ebd., 1384.
8 Vgl. Grosse (2000, 1391ff.).
9 Vgl. Sonderegger (2000, 1231ff.).
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 633
3. Nebensatzarten
Insgesamt umfasst der Text von Kazmair 969 Gesamtsätze im Bereich der
B-Sequenzen und 329 Gesamtsätze im Bereich der R-Sequenzen. Es kann
sich dabei um ganz kurze Einfachsätze handeln, aber auch um relativ um-
fangreiche Hypotaxen. Für syntaktisch selbständige Kurzsätze wurden mit
den Sätzen (1) bis (12) bereits einige Beispiele zitiert. Das komplexeste
Gefüge im ganzen Text ist folgendes:
(13) Da die herrn aller wildest warn und unß auß paten zu ziechen und do
herzog Ernst, die weil herein schrib, er begeret nun fur ain landtschafft
geen Munchen zu komen und da sölih antburt zu geben, da er der herr-
schaft und der landschafft genueg an thät und da wir zu rat wolten wer-
den, alz wir auch teten, die weil der herr solchen weeg begerte. so wär unß
nit auz zeziechen.
Das Gefüge enthält neun abhängige Sätze mit unterschiedlichem syntakti-
schem Status, die sämtlich dem Matrixsatz (so wär unß nit auz zeziechen)
vorausgehen. Bei den genannten 969 syntaktischen Einheiten der B-Se-
quenzen sind 113 Einleitungssätze wie Da sprach mein herr oder ain schwertfe-
ger sprach und Ähnliches, die das Bindeglied zwischen B- und R-Sequenzen
bilden, nicht mitgerechnet.
Die Gesamtzahl der Sätze der B-Sequenzen steht, wie gesagt, zu de-
nen der R-Sequenzen in einem Verhältnis von 969:329, also etwa 3:1. Das
dürfte ein vergleichsweise hoher Anteil wörtlicher Reden in einem Prosa-
text um 1400 sein. Betrachten wir zunächst die Anteile der Einfachsätze,
der Gefüge mit nur einer abhängigen satzwertigen Struktur, der Gefüge
mit zwei Nebensätzen am Gesamtbestand usw.:
636 Hans Ulrich Schmid
B-Sequenzen R-Sequenzen
Zahl der Teilsät- gesamt proportional (ca.) gesamt proportional (ca.)
ze
1 (= Einfachsatz) 630 65 % 195 59 %
2 221 23 % 92 28 %
3 67 7% 26 8%
4 35 4% 10 2,5 %
5 10 1% 4 1%
6 2 0,2 % 2 0,6 %
7 2 0,2 % - -
8 1 0,1 % - -
9 - - - -
10 1 0,1 % - -
969 329
Tabelle 1: Satzkomplexität der B- und R-Sequenzen im Vergleich
3.1. Kausalsätze
heit von kausalem daz. Nur wörtliche Reden kennen die weil und seit. Hier
scheint sich in der Mündlichkeit eine Entwicklung anzubahnen, die in der
Schriftlichkeit erst später greift. Dafür sprechen auch die Beobachtungen
von Susanne Rieck,15 in deren Corpus (sieben Handschriften mit Ottos
von Passau 24 Alten) die wile / die weile durchwegs nur temporal erscheint.
Die in der frühneuhochdeutschen Grammatik von Robert Peter Ebert
u.a.16 geäußerte Vermutung, kausales die weil oder weil habe seinen sprach-
geographischen Ausgang „wohl zuerst […] im Mitteldeutschen und Ale-
mannischen“, lässt sich aufgrund der Gegebenheiten des Kazmair-Textes
aus München nicht stützen.
3.2. Konditionalsätze
_____________
15 Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.).
16 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 474).
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 639
Man beachte hier auch die elliptische Ausdrucksweise Herr also 'Herr, ge-
nau so'. Zu ergänzen ist 'wollen wir es machen' o.ä. Die restlichen Belege
zeigen die Subjunktion ob. Einleitung mit wo ist in den B-Sequenzen nur
einmal belegt:
(18) und sprachen, sy begerten nichts denn ains gemainen fromen und ains rechten
wo’s mit der guete nit möcht gesein.
'und sagten, sie wollten nichts als allgemeinen Nutzen, auch
wenn es sich im Guten nicht bewerkstelligen lasse'
Bezeichnenderweise handelt es sich hier um eine indirekte Rede. Man
könnte den Beleg guten Gewissens unter die R-Sequenzen einreihen. Die
eingeleiteten Konditionalsätze des B-Bereichs zeigen dreimal ob und je
einmal wenn und wann. Konditionales wo kommt nicht vor.
Vorsichtige Schlussfolgerung: Konditionalsätze sind sowohl im R- als
auch im B-Bereich ein hochfrequenter Adverbialsatztyp. Häufigster Form-
typus sind die uneingeleiteten Konditionalsätze, die aber in R-Sequenzen
proportional häufiger vorkommen als in B-Sequenzen. Bei den Subjunkti-
onen dominiert in den R-Sequenzen wo, in den B-Sequenzen ob. Konditio-
nales wo scheint gerade in konzeptioneller Mündlichkeit also nicht das
Randphänomen zu sein, als das es in den Handbüchern17 dargestellt wird.
lassen in ihrer formelhaften Explizitheit aber wohl eher rechts- und damit
schreibsprachlich. Zumindest finden sich Vergleichsfälle solch expliziter
Doppelformen ansonsten mehrmals in B-Sequenzen, z.B.:
(21) so verfiengen sy sich sein auch mit kainem schreiben noch worten nie.
Abgesehen vom Einzelfall (20) finden sich im R-Bereich ansonsten nur
finale dass-Sätze mit finitem Verb wie z.B.
(22) wir muessen etwas mit dem Kazmair teutsch reden, daz er anders red.
Als finale Subjunktion fungiert ausnahmslos daz (bzw. das). Nur in einer
wörtlichen Rede findet sich vereinzelt auch erweitertes also daz:
(23) wir wöllen den hindergankh tuen, also daz man uns pesser, darnach ainer
verschuldt hat.
'wir wollen uns ergeben, damit man uns verurteile, je nachdem, was der ein-
zelne verschuldet hat'
3.4. Temporalsätze
(27) und kann hinaus wol farn, wann mich sein lust
'ich kann fortgehen, sobald ich will'
(28) wir wöllen euch’s selb behalten zum rechten alz lang alz unser statt recht ist
'wir wollen es euch selbst überlassen, solange es das Recht unserer Stadt ist'
Temporalsätze, in denen die weil und wann bzw. wenn Gleichzeitigkeit aus-
drücken, kommen auch in B-Sequenzen vor.
Vorsichtige Schlussfolgerung: Der bereits im Alt- und Mittelhoch-
deutschen vorherrschende Temporalsatztyp mit do ist im Kazmair-Text
nur in B-Sequenzen vorhanden, dort aber mit relativer Häufigkeit. Es
könnte sich um einen Strukturtyp der konzeptionellen Schriftlichkeit han-
deln, der in mündlicher Rede nicht (mehr) verwendet wurde. Die tempo-
ralen Subjunktionen, die in Hypotaxen in R-Sequenzen verwendet werden,
kommen ihrerseits zwar in B-Sequenzen ebenfalls vor, konkurrieren aber
dort mit dem älteren do-Typus, den sie noch nicht verdrängt haben. Auch
in dem von Rieck18 untersuchten Corpus des 15. Jahrhunderts ist die Do-
mäne von do der Temporalsatz.
_____________
18 Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.).
642 Hans Ulrich Schmid
4. Tempusgebrauch
Die umfangreiche Literatur über den oberdeutschen Präteritums-
schwund19 kann hier nicht referiert werden. Ob sich das analytische Per-
fekt zunächst in gesprochener oder in geschriebener Sprache etablierte,
wird kontrovers diskutiert. Der Kazmair-Text spricht dafür, dass es sich
um ein Phänomen zunächst der gesprochenen Sprache handelt, denn die
R-Sequenzen kennen fast nur das Perfekt, während in den B-Sequenzen
das Präteritum herrscht. An einem kurzen Textpassus soll das belegt wer-
den:
(29) Da gieng mein gesell Peter Chriml und ich in die vest B Präteritum
und funden den hofmaister den Türlin und sprachen:
„lieber herr hofmaister, mein herr herzog Steffan hat R Perfekt
uns gesandt zu unserm herrn herzog, daz wir ob dez
genaden erfragen solten, ob der Waldekher und ander
meins herrn rät sicher sein, alz ez der vizdomb und
die purger zbischen meiner herrn rät herbracht
habnt.“
Der hofmaister sprach: B Präteritum
„sagt ez meinem herrn, der ist in der capel“ B (Präsens)
Wir paten den hofmaister mit uns zu geen zu dem B Präteritum
herrn.
Der tet daz etc. B Präteritum
Da hueb ich an und sprach: B Präteritum
„genediger herr, wir sein von unser purger wegen bey R Perfekt
meinem herrn herzog Steffan gewesen.
Diese Korrelation von Präteritum und B-Sequenz auf der einen Seite so-
wie Perfekt und R-Sequenz auf der anderen ist im ganzen Text mit großer
Konsequenz durchgehalten. Solche Verhältnisse können kein Zufall sein.
Die Schlussfolgerung, dass die Domäne des Perfekts zunächst die gespro-
chene Sprache war, ist zwingend.
_____________
20 Vgl. dazu Koch / Oesterreicher (2007, 363ff.).
644 Hans Ulrich Schmid
Literatur
Schmeller, Johann Andreas (1847), „Jörg Katzmair’s Bürgermeisters der Stadt Mün-
chen Denkschrift über die Unruhen daselbst in den Jahren 1397-1403“, in: Ober-
bayerisches Archiv für vaterländische Geschichte, 8 / 1847, 3-54.
Sonderegger, Stefan (2000), „Reflexe gesprochener Sprache im Althochdeutschen“, in:
Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.),
Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung,
2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd. 2, Berlin, New York, 1231-1240.
von Muffat, Karl August (Hrsg.) (1878), „Jörg Kazmair’s Denkschrift über die Unru-
hen zu München in den Jahren 1397-1403“, in: Chroniken deutscher Städte, Bd. 15,
München, Leipzig, 411-568.
Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel
der Raumerfassung in Albrecht Dürers
Vnderweyſung der meſſung (1525)
1. Der Text
Im Jahr 1525 publiziert Albrecht Dürer (1471-1528) bei Hieronymus
Andreae in Nürnberg ein Lehrbuch zur Euklidischen Konstruktionsgeo-
metrie, das als zentraler Text des deutschsprachigen geometrischen
Schrifttums der Frühen Neuzeit gilt; das Incipet lautet:
VNderweyſung der meſſung / mit dem `irckel vn[d] / richtſcheyt / in Linien ebnen vnnd
gant`en corporen / durch Albrecht Du[e]rer zůſamen get`oge[n] / und `ů nut` alle[n] kunſt-
lieb habenden mit `ů geho[e]rigen figuren / in truck gebracht / im jar. M.D.XXv.
Die 174 Seiten umfassende Vnderweyſung (UDM1) gliedert sich in vier
Bücher zu Linien, Ebenen, Körpern und zu den fünf Platonischen und
sieben Archimedischen Körpern sowie zum Delischen Problem. Im letz-
ten Teil findet sich eine Darstellung der Zentralperspektive, die Dürer mit
Bezug auf Filippo Brunelleschi (1377-1446) erläutert (vgl. Schröder 1980,
11). Eine zweite Auflage der Vnderweyſung erscheint posthum 1538
(UDM2) und berücksichtigt Dürers Beschäftigung mit Geometrie nach
1525.
Das Buch von 1525, das als anspruchsvolle frühneuzeitliche Artes-
Literatur des 16. Jahrhunderts gilt (vgl. Schulz-Grobert 1998, 324), weist
ein hohes Maß an Bezügen zum geometrischen Schrifttum vor allem mit
Verweis auf die Elementargeometrie des Euklid von Alexandria (~365 bis
~300 v. Chr.) und unter anderem auf Dombaubücher und Baukonstrukti-
onen der Zeit auf. Es steht damit in der Folge einer Reihe deutschsprachi-
ger Lehrbücher zur Geometrie und Konstruktion des frühen 16. Jahrhun-
derts, die nach der Geometria Culmensis (um 1400) und Geometria deutsch
(Ende 15. Jh.) unter anderem in Nürnberg erscheinen:
648 Ingo H. Warnke
2. Sprachwissenschaftliches Interesse
Dürers Texte, darunter auch seine Vnderweyſung, haben in der sprachhisto-
rischen Regionalforschung zum Nürnberger Frühneuhochdeutschen be-
reits eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Zu nennen ist vor allem die
Untersuchung zur verbalen Wortbildung um 1500 von Habermann
(1994). Diese und andere Arbeiten des Erlanger DFG-Projektes Wortbil-
dung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch (1985-2001) nutzen das EDV-Korpus
zu Dürer von Koller (1985). Mein Interesse dupliziert nicht die dort ge-
leisteten und ausführlich dokumentierten Forschungsergebnisse, sondern
richtet sich ergänzend auf Fragestellungen, die in der kognitiven Raumse-
mantik aufgeworfen werden. Gegenstand der Raumsemantik sind mit
Zlatev (2007, 321) „spatial expressions“, also „conventional specifications
of the location or change of location [...] of a given entity“. In Anlehnung
an Zlatevs Definition beschränkt sich mein analytischer Fokus auf Raum-
perspektivierung und Raumreferenz in Dürers Vnderweyſung. Dazu erläute-
re ich unter besonderem Verweis auf das Linearisierungsproblem des
Raums, welche grammatischen Mittel Dürer zur konzeptuellen Erfassung
des Raums in der Sprache nutzt. Textkonstitutiv sind Besonderheiten in
der Verbmorphologie (2.1.), in der Verwendung von Konnektoren (2.2.
und 2.4.) und im Gebrauch unterschiedlicher Klassen raumreferentieller
Ausdrücke (2.3.). Ergänzt werden die Analysen durch eine Bemerkung zur
Versprachlichung von Konzepten der Zentralperspektive, die unter ande-
rem mit einem im übrigen Text nicht zu belegenden Gebrauch von Mo-
dalverben einhergeht (2.4.). Dass es im Rahmen eines Aufsatzes nur um
exemplarische Beobachtungen gehen kann, sollte verständlich sein. Dia-
chrone Dimensionen grammatischer Mittel der Raumerfassung lassen sich
zudem erst bestimmen, wenn Dürers raumlinguistische Verfahren kontra-
stiv eingeordnet werden; dies bleibt als Desiderat bestehen.
Punkt Linie
Imagination punckt erfu[e]llt keyn ſtat getaogener punckt
Abbildung ● ───────
Benennung punckt Lini
Tabelle 1: Dürers Unterscheidung geometrischer Ebenen
Die Vnderweyſung als Lehrbuch der darstellenden Geometrie ist also Dar-
stellung von Konzepten im Medium der Zeichnung und Sprache. Folglich
beziehen sich Abbildung und Text auf räumliche Imaginationen. Das
Problem, wie wir über das sprechen können, was wir sehen, wird heute
vor allem in der Kognitiven Semantik erörtert. Nach Jackendoff (1983)
stellen sich dabei zwei Fragen: Welche Informationen übermittelt Spra-
che? Worauf beziehen sich Informationen? Vorwissenschaftlich könnte
geantwortet werden, dass sprachliche Informationen Ideen übermitteln
und sich auf Gegenstände und Sachverhalte beziehen. Wir halten fest,
dass Dürer ein solches Realitätsmodell ablehnt. Realer Ausgangspunkt der
Geometrie ist für ihn die Vorstellung. An seiner Behandlung der Ebene
kann dies deutlich gemacht werden. Erfasst wird die abstrakte, nur durch
Imagination realisierte Vorstellung von der Ebene (1a), beschrieben wird
die Konstruktion derselben (1b):
Grammatische Mittel der Raumerfassung 651
(1a) Die erſt ebne iſt ganta gleich / alſo das ſie weder hoch noch ny-
der oder krum iſt (UDM1, 2v)
(1b) dem thů ich alſo / ich reyß eyn zwerch lini .a.b damit far ich
eben underſich / als ſerr ſo lang ſie iſt / ſo wirdet darauß eeyn
gefirte ebne (UDM1, 3r)
Der Bezug auf vorgestellte Geometrie trifft sich mit der kognitionslinguis-
tischen Modellierung von Vorstellungen als Projektionswelten für sprach-
liche Referenz:
We have conscious access only to the projected world – the world as uncon-
sciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they
have achieved mental representation through these processes of organization.
Hence the information conveyed by language must be about the projected world. (Jackendoff
1983, 29)
Dabei geht es mir nicht um eine Parallelisierung von vorkopernikanischen
Vorstellungen zur Raumimagination und generativ motivierten Semantik-
theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Von Interesse für die Analyse
des Textes ist vielmehr die Frage nach dem Status der Raumimagination in
der Vnderweyſung oder, mit Jackendoff, nach der Referenz von Raum-
beschreibungen. Es ist offensichtlich, dass die Imagination als Bezugsgrö-
ße der Instruktion eine durchgängig zentrale Bedeutung im Text besitzt.
Zu unterscheiden sind hier die Imaginationen des Autors und die Aktio-
nen des Lesers. Dürer bezieht sich als Autor auf eigene Vorstellungen von
geometrischen Konstruktionen, die er sprachlich zu fassen versucht. Er
referiert aber auch auf Handlungen des Lesers, die er unmittelbar anregt
und lenkt. Dürers Text hat damit zwei unterschiedliche Bezugsfelder: die
Vorstellung vom Raum und die konkrete Raumkonstruktion, das heißt die
Zeichnung. Die Vorstellung vom Raum ist nichts anderes als ein imaging
system, wie es Talmy (2008) in der Kognitiven Grammatik beschreibt. Bei
der Lektüre der Vnderweyſung bemerkt der Leser bald, dass die Raumbe-
schreibungen in manchen Passagen auf mentale Imaginationen des Raums
verweisen (der Leser kann sich vorstellen, was Dürer beschreibt), in ande-
ren Passagen aber den Charakter von Anweisungen zur konkreten Kon-
struktion auf dem Papier haben (der Leser soll nachzeichnen, was be-
schrieben wird).
Aus dieser Doppelperspektive folgt eine auffallende Varianz in der
Verbmorphologie. Die Referenz auf geometrische Imaginationen erfolgt
durch den Gebrauch der 1. Person Singular im Indikativ (1b und 2a), die
Aufforderung zu konkreten Handlungen des Lesers durch den Gebrauch
der 2. Person Singular im Imperativ (2b). Sachbeschreibungen in der 3.
Person (1a) sind die Ausnahme. Während die Variante im Indikativ (1b
und 2a) den Leser zum Zuschauer von imaginären Konstruktionsbe-
652 Ingo H. Warnke
schreibungen macht und nur funktioniert, wenn sich infolge der Lektüre
mentale Bilder einstellen, dient die Imperativvariante (2b) der unmittelba-
ren Nachahmungsmöglichkeit des Beschriebenen. Beide Perspektiven
bedienen die Textfunktion der Unterweisung bzw. Instruktion:
(2a) Diſe ſchneckenlini reiß ich alſo / ich mach ein auffrechte lini die
ſey oben .a unden .b. (UDM1, 3v)
(2b) Nym ein airckel / ſetz in mit dem ein fuß in den Punckten .12.
Und den Andern in den Punckten .i. und reyß vondan[n] rund
uberſich / Darnach ſetz des airckels fus in den Punckten .i. [...].
(UDM1, 5v)
Die alternierenden Verbperspektiven prägen die gesamte Vnderweyſung.
Der Wechsel zwischen Beschreibung einer fiktiven Handlung des Autors,
das heißt Deskription des geometrischen Konstruierens, und Sprechakten
der Aufforderung, das heißt Appellen an den Leser zum Nachzeichnen
des Beschriebenen, ist regelhaft. Beide Formen aktualisieren den Text bei
jeder Lektüre neu, denn der Leser ist nicht Beobachter, sondern Kon-
strukteur mentaler Bilder und realer Zeichnungen. Die Lektüre der Vnder-
weyſung ermöglicht einen Konstruktionsprozess von mental images und
Zeichnungen auf dem Papier. Gerade die Imperativformen modalisieren
die Propositionen dahingehend, „dass der jeweils thematisierte Sachver-
halt nicht schon als gegeben dargestellt wird, sondern als noch zu realisie-
ren“ (Köller 2004, 450). So entwirft die charakteristische Formmischung
der Verbmorphologie ein handlungsorientiertes Unterrichtsszenario durch
Sequenzierung von vorgeführtem Lehren und nachahmendem Lernen.
Dabei ist der interaktive Charakter des Textes auch durch den Gebrauch
von abstrakt tätigkeitsbeschreibenden Handlungsverben wie thun und
machen und dem auf das Linienziehen bezogenen hochfrequenten Hand-
lungsverb reißen markiert. Deutlich tritt die Verbindung der Ich-Du-
Perspektive etwa in der Beschreibung der Spiralkonstruktion hervor:
(3) So du die airckellini geteilt haſt / ich ſetz hie in / 12 / teyl / ſo
du dann dein ſchnecken lini /awyfach / tryfach / oder vierfach
wilt laſſen herum laufen / (UDM1, 7r)
Der Ich-Du-Perspektivenwechsel ist auch ein mesostrukturelles Glie-
derungsmerkmal, also Mittel der Strukturierung von Textabschnitten. Als
Beispiel verweise ich auch hier auf Dürers Ausführungen zur Spiralkon-
struktion. Zunächst wird die Konstruktion in der Du-Perspektive be-
schrieben. Es ist die Situation des Unterrichts, in der ein Schüler tun soll,
was ein Lehrer ihm sagt. Die Aufforderung zur Nachahmung erfolgt im-
perativisch. Dann greift der Lehrer, das heißt im Text der Autor, markiert
durch folgenden Satz ein:
Grammatische Mittel der Raumerfassung 653
(4) Ich will aber hie die felt uberſich in einer ordnung erlengen / wie
voren angetaeigt (UDM1, 7r)
Mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion wird die folgende Demonstra-
tion durch Indikativformen in der 1. Person realisiert. Die textuelle Insze-
nierung einer Unterrichtssituation durch Leseransprache hat die Funktion
der Vereinfachung des komplexen geometrischen Konstruktionsprozes-
ses. Dürers Ziel ist die nachvollziehbare Beschreibung und Vermeidung
von Verwirrung: „ſo kanſtu nit irre werden“ (UDM1, 7r). Er organisiert
seinen Text so, dass sich Vorstellungen beim Leser qua Deklaration und
Anweisung bilden, also durch Imagination und Zeichnung.
Raum sprachlich erfasst wird. Schneuwly / Rossat (1986) haben für die
Erfassung von Erzählstrukturen dafür die griffige Frage Comment lineariser
l'espace? gestellt. Die fiktive Wann-Frage, auf die Dürer formelhaft mit
darnach antwortet, prägt den Text narrativ. Textgrammatisch markiert
darnach eine veränderte Situation durch ein neues Ereignis, die Wiederho-
lung von Temporaladverbien bildet einen „Erzählfluss“ (Weinrich
2005, 239) durch Signale der „Erzählfolge“ (ebd., 806). Dabei vermeidet
Dürer keineswegs die daraus resultierende Monotonie und Formelhaftig-
keit. Gegen das Gebot stilistischer Varianz steht bei Dürer die an konzep-
tioneller Mündlichkeit orientierte Maxime der Nachahmbarkeit des Be-
schriebenen. In der englischen Übersetzung der Vnderweyſung (DPM) wird
hingegen variiert zugunsten der an konzeptioneller Schriftlichkeit orien-
tierten Maxime stilistischer Varianz. Die sprachliche Einförmigkeit des
Textes ist funktional, wenn offenbar auch nicht für jeden überzeugend.
Mit Verweis auf Dürers Befestigungslehre und Proportionslehre heißt es im Aus-
stellungskatalog Mit Zirkel und Richtscheit (1986): „Von allen diesen Werken
ist die Unterweisung das sprödeste.“ Die monotone Formelhaftigkeit von
temporalen Konnektoren, die der Vnderweyſung tatsächlich eine stilistische
Simplizität verleiht, ist textsortentypisch für Instruktionstexte der Zeit. Sie
findet sich bereits in Hans Schmuttermayers Fialenbüchlein (1485 / 90) (6a)
und auch in Jacob Köbels New geordnet Rechenbiechlin (1514) (6b):
(6a) Darnach heb an zu machen [...] Darnach heb an au teyle[n] [...]
Darnach ſeca den airckel (SFB, 4r und 4v)
(6b) [...] ſo werdem XXXVI. darauß / nach dem thů die o[e]berſt taal
des bruchs das iſt I dar zů [...] nach dem ſo mach [...] (KNR, xix)
In (6a) wird die Formelhaftigkeit noch durch die Infinitivkonstruktion mit
zu unterstrichen. Der Gebrauch von Nachzeitigkeit anzeigenden Adverb-
konnektoren ist bei Dürer aber nicht nur konzeptionell mündlich und
erzählerisch. Dies gilt vor allem für das Temporaladverb nun. Dieser tem-
porale Konnektor wird bei Dürer weniger zur Linearisierung von Raum-
konzepten genutzt als vielmehr zur Markierung von Textabschnitten, also
zur Textstrukturierung. Als Beispiel kann die Konstruktion des Hexagons
(7a), des Dreiecks im Zirkel (7b), des Heptagons (7c), des Quadrats im
Zirkel (7d), des Oktagons (7e), des Pentagons (7f) usw. genannt werden.
Die aufeinander folgenden Absätze werden jeweils initial mit nun markiert
(UDM1, 27r). Dass es sich dabei um ein Textgliederungssignal handelt,
zeigt auch die konsequente Doppelmajuskel:
(7a) NUn will ich anaeyge[n]
(7b) NUn ſchickt es ſich am negſte[n]
Grammatische Mittel der Raumerfassung 655
Raumreferenz
Lokalisierung Dimensionierung
Positionierung Direktionalisierung
Art Ort Art Ort Eigen- Körper
deiktisch nicht- nicht- deiktisch schaft
Verbunden ist die komplexe Referenz auch in diesem Abschnitt mit der
Verwendung des temporalen Konnektors darnach. Die Kombination ist
textkonstitutiv: Räumliche Positionen, Richtungen und Dimensionen
werden referentiell etwa durch Lokalpräpositionen (z.B. durch) und Lokal-
adverbien (z.B. da) erfasst. Die fokale Steuerung von Imagination oder
Handlungen des Lesers erfolgt linear vor allem durch das Temporaladverb
darnach und situiert die geometrische Konstruktion nach Zeitpunkten.
Beide Achsen verschränken sich in der Beschreibung der vorgestellten
bzw. vorzustellenden geometrischen Konstruktionen. Dies führt zu einer
binären Codierung des Raums in der Sprache:
Raumreferenz
winckell
eck
Die erkennbar argumentative Struktur wird auch durch den Gebrauch des
konditionalen Subjunktors wen in Verbindung mit den temporalen Kon-
nektoren dann / so realisiert. Hinzu kommt die auffallende Häufung von
Modalverben: mögen, müſen und vor allem sollen sind formelhaft häufig. Nun
werden Modalverben immer dann verwendet, wenn „Sachverhaltsentwür-
fe auf der Folie von Redehintergründen“ (Zifonun u.a. 1997, 1253) einge-
ordnet werden. Dürer versucht also, seinen Lesern Gesetzmäßigkeiten der
Optik zu vermitteln und versprachlicht diese als Zusammenhang von
Voraussetzungen (konditional) und Folgen (konsekutiv). Die daraus resul-
tierende Argumentationsdichte des Textes zeigt sich in (11). Hier werden
der konsekutive Konnektor darumb, der konditionale Subjunktor wen, der
temporale Konnektor so und die Modalverben sollen und müſen in einem
Satz enggeführt:
(11) Darumb wen vill geſchen ſoll werde ſo müſen die ſelben ding
von einander geteylt werden [...]. (UDM1, 85v)
Die Formulierung von Bedingungen der richtigen Projektion fällt auch aus
dem Rahmen der Ich-Du-Perspektivierung, die für die übrige Unterwei-
sung in die geometrische Konstruktion charakteristisch ist. Da es Dürer
hier nicht um die Versprachlichung der Lehrer- und Schülerposition geht,
sondern um die Aufzeichnung von notwendigen Voraussetzungen einer
rationalen künstlerischen Praxis, verschwindet die Position des Schülers
und teilweise auch des Lehrers. An die Stelle des persönlichen Ich und Du
tritt die 3. Person Singular als sachlicher Bezugspunkt: „Das aug ſicht“
(UDM1, 85v). Besonders deutlich ist das im Gebrauch des Indefinitums
man. Während der letzte Abschnitt zu den Proportionen noch mit der Ich-
Du-Perspektive endet (12a), findet sich gleich im ersten Satz zur Theorie
der Perspektive das Du entpersonalisiert (12b):
(12a) Wie ich das hernach hab aufgeriſſen / das magſt du piß auf hun-
dert pfunt fu[e]ren. (UDM, 83v)
(12b)SO ich daforen manicherley corpora wie man die mach anzeigt
hab / will ich auch leren ſo man ſoliche gemecht anſicht wie man
die in ein gemel můg pringe[n] (UDM, 84r)
Nach Köller (2004, 482) werden Indefinitpronomen „in der Regel auch
nur in solchen Redesituationen gebraucht, in denen es nicht darauf an-
kommt, konkrete abgrenzbare Inhalte zu objektivieren, sondern darauf,
Funktionselemente in bestimmten Relationen zu benennen“. Außerhalb
der Lektüresituation der Unterweisung im Ich-Du-Wechsel wird die Zen-
tralperspektive durch Abstrahierung vom Adressaten erläutert. Dürer
führt aus, was man tun und lassen soll, um zu einer angemessenen Projek-
tion zu gelangen. Die Besonderheit seines Vorhabens, eine Theorie der
Grammatische Mittel der Raumerfassung 661
3. Fazit
Die Analyse grammatischer Merkmale der Raumerfassung in Dürers
Vnderweyſung zeigt, dass die instruktive Aufbereitung von geometrischen
Wissensbeständen auch eine Aufgabe der Sprache ist. Insoweit ist die
Vnderweyſung eine verschriftete Geometrie und das jenseits fachterminolo-
gischer Problemstellungen. Im Spannungsfeld von Imagination und Ab-
bildung werden Raumkonstrukte mit einem regelhaften Set sprachlicher
Ausdrücke linearisiert und referentiell erfasst. Das Ich des Autors beför-
dert mentale Bilder beim Leser, der Leser wird als Du zur Nachahmung
auf dem Papier angeregt. Die höhere Schule der perspektivischen Zeich-
nung entwickelt Dürer als rationale Theorie von Voraussetzungen und
Folgen. Seine Sprache greift in diesem abschließenden Teil auf gänzlich
andere Formbestände zurück, als dies in den übrigen Textteilen über Ge-
ometrie der Fall ist. Damit ist Dürers Vnderweyſung nicht nur ein zentraler
Text der Kunsttheorie in der Renaissance, sondern auch ein bedeutendes
Zeugnis der frühneuhochdeutschen Erfassung des Raums im Medium der
Schrift.
662 Ingo H. Warnke
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Gibt es eine Zeitungssyntax?
Überlegungen und Befunde zum Verhältnis von syntaktischer
Gestaltung und Textkonstitution in historischen Pressetexten
_____________
1 Vgl. Fritz (1993, 34ff.); Demske-Neumann (1996, 70ff.; Lühr (1991, 145ff.); Schuster
(2008a); Michel (2001, 223ff.).
2 So bspw. in den Aufsätzen von Nail (1983, 30ff.); Nail (1988, 122ff.).
666 Britt-Marie Schuster
_____________
5 Das gesamte Korpus bilden zusätzlich: die Koloniegründungen (27. Februar bis 2. März
1885), die Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (27. Mai bis 2. Juni
1875), das Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 (2.-8. Januar 1900), der Ausbruch des
Ersten Weltkrieges (29. Juli bis 5. August 1914) und diverse Friedensforderungen (6.-13.
Juli 1917).
6 Vgl. auch Jakob (2000, 104f.).
7 Vgl. Püschel (1997, 176ff.).
8 Vgl. Püschel (1994, 163ff.); Püschel (1997, 176ff.).
668 Britt-Marie Schuster
2. Vorgehen
Die Untersuchung basiert auf der Transkription der ausgewählten Presse-
texte sowie auf der tabellarischen Erfassung und Klassifikation des gesam-
ten Bestandes der realisierten Nominalphrasen. Die Erfassung der Nomi-
nalphrasen der Attributstrukturen orientiert sich am Vorschlag von
Schmidt,9 für Einzelfragen wurden Engel,10 Heringer11 und Weinrich12
_____________
9 Schmidt (1993).
10 Engel (2004, 269ff.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 669
3. Entwicklungstendenzen
im Bereich der informierenden Texte
Im Zeitraum von 1871 bis 1931 bleibt das Verhältnis von nicht-
attribuierten und attribuierten Nominalphrasen nahezu konstant. Bei 1671
ausgewerteten Nominalphrasen liegt der Anteil von nicht-attribuierten
Nominalphrasen (Nominalphrasen mit Nullartikel oder einem Determi-
_____________
11 Heringer (1988).
12 Weinrich (1993, S.317ff.).
670 Britt-Marie Schuster
nierer) bei durchschnittlich 42,4 %. Allerdings zeigt sich auch, dass dieser
Anteil gerade 1931 auch Spitzenwerte von 81,4 % in den Meldungen der
Frankfurter Zeitung erreichen kann. Im gesamten Zeitraum sind attributi-
ve Nachfeldbesetzungen – vom Genitivattribut bis hin zu mehrfach ge-
stuften Attributtreppen – mit einem durchschnittlichen Anteil von rund
54 % am häufigsten vertreten, gefolgt von Vorfeldbesetzungen, die in
einfacher Form, v.a. durch ein Adjektivattribut, selten durch ein Adverbi-
alattribut und in komplexer Form durch Attributionen bis zum vierten
Abhängigkeitsgrad vorliegen können. Die Kombination von attributiver
Vor- und Nachfeldbesetzung ist mit einem durchschnittlichen Anteil von
14,2 % am niedrigsten vertreten. Im Bereich der Vorfeldbesetzungen wei-
sen die Texte von 1871 und 1890 die komplexesten Muster auf, wobei die
Besetzungen – wie im folgenden Beispiel – bis zur vierten Abhängigkeits-
stufe reichen können: „das zur Beschleunigung der Feldpostsendungen an
die und von den badischen Truppen in Frankreich eingerichtete Feld-
Eisenbahn-Postbureau“ (FZ, 26.01.1871). Während durch ein Attribut
(vorwiegende Präpositionalattribute) erweiterte Partizipialattribute wie
(1) „die durch das Bombardement entstandene Verwüstung“ (GA,
25.01.1871), „einen durch lebhaftes Artilleriefeuer unterstützten
Ausfall“ (FZ, 26.01.1871), „eine der Gewerbefreiheit zuwiderlau-
fende Protektion“ (FZ, 20.03.1890) „die vom Kabinett beschlos-
sene Regierungserklärung“ (FZ, 15.03.1912)
im gesamten Zeitraum nachzuweisen sind, sind durch mehrfach gestufte
und koordinierte Attribute bzw. deren Mischformen erweiterte Partizipial-
attribute ausschließlich (!) im Zeitraum von 1871 bis 1912 nachzuweisen.
Hier ergibt sich, wie anhand der folgenden Beispiele ersichtlich wird, ein
großes Spektrum an Realisierungen:
(2) „die größten bis dahin vor Paris erreichten Schußweiten“ (GA,
25.01.1871), „ein gerechter, dem wie dem Besiegten ge-
nugthuender Frieden“ (GA, 24.01.1871), „nach ihren sechstägi-
gen, in rastlosem Vorwärtsgehen durchgeführten Kämpfen“(GA,
25.01.1871), „sehr dringliche, im wirtschaftlichen Interesse lie-
gende Bedürfnisse“ (FZ, 20.03.1890), „eine den Reisenden be-
queme und zuverlässige Verbindung“ (FZ, 20.03.1890), „die ges-
tern von der Arbeiterschutz-Conferentz gewählten Commi-
ssionen“ (GA, 20.03.1890), „der mit einer hydrografischen Mis-
sion an der Küste von Madagaskar betraute Schiffsfähnrich“
(FZ, 13. 01. 1912)
Während erweiterte Partizipialattribute im Vorfeld noch 1931 mit einem
hohen Anteil von 20 % vorhanden sind, werden komplexere Strukturen
Gibt es eine Zeitungssyntax? 671
(5) „die aus Versailles durch den König von Preußen erfolgte Noti-
fizierung der Aufnahme der deutschen Kaiserwürde“ (GA,
24.01.1871), „der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waf-
fengüter landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „der
von den vereinigten Riemendrehereibesitzern gefaßte Beschluß,
bei fortdauerndem Ausstand der Gesellen am 21. D. Mts. die Be-
triebe zu schließen“ (FZ, 20.03.1890), „die kaiserliche Genehmi-
gung des gestrigen Entlassungsgesuches des Fürsten Bismarck
als Reichskanzler und Ministerpräsident“ (GA, 20.03.1890)
Bei der Gestaltung der Nominalphrase zeigt sich sowohl Wandel als auch
Konstanz. Zu den Wandelerscheinungen gehören: der Abbau von Attri-
buten im Vorfeld, der Abbau von Nominalphrasen, bei denen Vor- und
Nachfeld durch komplexe Unterordnungen realisiert werden, und die
Beschränkung auf einige, besonders häufig verwendete Gestaltungen.
Konstanz lässt sich am ehesten für die Nachfeldbesetzungen zeigen,
wenngleich sich auch hier die Komplexität verringert und Attributtreppen
im Nachfeld eher vereinzelt erscheinen. Konstanz und Wandel korres-
pondieren mit textsortengeschichtlichen Entwicklungen. Denn es zeigt
sich, dass auch 1871 komplexe Nominalphrasen nicht in jedem Text mit
gleichermaßen hohen Werten realisiert werden. Während sie sich nur ver-
einzelt in Meldungsblöcken, also in Rudimentärformen des Berichtens
finden, zeigen sich Spitzenwerte in Texten, die einen beschreibenden,
bisweilen narrativen Charakter besitzen. Es handelt sich dabei um Augen-
zeugenberichte vom Kriegsschauplatz, die Elemente von Vor-Ort-Repor-
tagen aufweisen und die für die Zeitungsberichterstattung des 19. Jahr-
hunderts alles andere als ungewöhnlich sind.13 Zum anderen sind beson-
ders komplexe Realisierungen bei der Wiedergabe institutionell gebunde-
ner Vorgänge vorhanden: Das können die Diskussion von Gesetzesvor-
lagen im Parlament, (parlamentarische) Beschlussfassungen oder Wahlen
sowie die Wiedergabe juristischer Auseinandersetzungen sein. In der Regel
lehnen sich Presseberichte hier an den amts- oder rechtssprachlichen
Duktus von Originaldokumenten an, indem diese reformuliert, selten aber
direkt zitiert werden.
Bei der Kriegsberichterstattung von 1871 ist auffällig, dass zu Hand-
lungsträgern, zu temporaler und lokaler Situierung präzise Angaben ge-
macht werden. Diese präzisen Angaben können zumeist zu einer extre-
men Belastung des Vorfeldes oder Nachfeldes führen.
(6) „etwa 2000 Ellen vom Fort entfernte Stellung“ (GA, 25.01.
1871), „die bei der Schlacht am 19. d. Mts. betheiligten deut-
_____________
13 Püschel (1991, Bd. 3, 34f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 673
der Kriegsberichterstattung steht, wenn man auf die Zeitungen des 17.
und frühen 18. Jahrhunderts blickt, in einer langen Tradition.14
Die zweite Traditionslinie, mit deren Gestaltung komplexe Nominal-
phrasen verbunden sind, ist die Kontextualisierung eines amtssprachlichen
Duktus, die sich z.T. an den Stil der offiziellen Direktive anlehnt, der für
den Zeitungsjahrgang 1890 ebenso wie für den Zeitungsjahrgang 1912
charakteristisch ist:
(8) „der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waffengüter
landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „zu der heute
Morgen 11 Uhr im Stadthaussaale stattgefundenen Wahl von
Stadtverordneten zum Kreistage“ (FZ, 20.03.1890), „in der von
der Regierung dem Landtag gemachten Vorlage auf Errichtung
eines Floßhafens in Würzburg“ (FZ, 20.03.1890), „Ausschreiben
vom 28. Februar vom 28. Februar, betreffend die Revision des
Gerichtskostenwesens in den Jahren 1888 und 1890“ (GA,
20.03.1890)
(9) „eine sichere Einnahme von rund einer halben Million Mark aus
dem Betriebe der Staatslotterie“ (GA, 15.01.1912), „einen erneu-
ten Waffenstillstand in der Weiterbehandlung der Frage Fabrik
und Handwerk und der verwandten Fragen“ (GA, 15.01.1912),
„einen Schrittmacher zur Behandlung des Antrags der ständigen
Kommission auf Uebertragung der Arbeiten für den Hausein-
tunnel an die Firma Berger in Berlin“ (GA, 13.01.1912), „die Er-
nennung des slowenisch-klerikalen Abgeordneten Schustersitz
zum Landeshauptmann in Krain“ (FZ, 12.01.1912), „die Reich-
tagsstichwahl im 3. Pfälzischen Wahlkreis Germersheim zwi-
schen dem Kandidaten des Zentrums und dem Nationallibera-
len“ (FZ, 15.01.1912)
Der folgende Text stellt ein Beispiel für die Gestaltung informierender
Texte dar. Er weist neben komplexen Nominalphrasen charakteristische
Merkmale des amtssprachlichen Stils auf, so: Koreferenzketten, die vor-
wiegend durch Lexemrekurrenz und kaum durch Pronominalisierung
erzeugt werden, die Verwendung von Funktionsverbgefügen, die Bevor-
zugung des Relativpronomens welche, die Dislozierung von Attributstruk-
turen („die augenblickliche Regung keine vorübergehende sei“) sowie
insgesamt eher hypotaktische denn parataktische Verknüpfungen. Es darf
vermutet werden, dass sich Teile dieses Textes eng an die Vorlagen anleh-
nen und diese reformulieren. Das führt jedoch nicht notwendig zu einer
stilistisch homogenen Textur, sondern greift auch andere, schibboletharti-
_____________
14 Vgl. Schuster (2008a, 15f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 675
4. Entwicklungstendenzen
im Bereich der räsonierenden Texte
Im Bereich der räsonierenden Texte müssen die beiden Zeitungen ge-
trennt voneinander betrachtet werden. Während nämlich der Anteil der
nicht-attribuierten Nominalphrasen im gesamten Zeitraum im GA bei gut
einem Drittel (32,2 %) liegt, stellen die nicht-attribuierten Nominalphra-
sen in der FZ gut die Hälfte dar (49,6 %). Im GA von 1890 liegt der An-
teil von nicht-attribuierten Realisierungen sogar nur bei 25 %, während er
zeitgleich in der FZ einen Anteil von 49 % besitzt. Bevor hier die Realisie-
rung der einzelnen Texte betrachtet wird, sollte auch betont werden, dass
der Anteil von Vorfeld- und Nachfeldbesetzungen stärkeren Schwankun-
gen unterliegt. Während sowohl im GA als auch in der FZ bisweilen auch
die Vorfeld- die Nachfeldbesetzung deutlich dominieren kann (so mit
einem Anteil von 69,8 % der Nachfeldbesetzung in FZ von 1871), pendelt
sich das Verhältnis von Vorfeld- und Nachfeldbesetzung ab 1912 deutlich
ein – ab diesem Zeitpunkt halten sich Vor- und Nachfeldbesetzung kon-
stant mit einem Anteil von je 40 % im GA und in der FZ die Waage, eine
Kombination von beiden Besetzungsarten liegt in beiden Zeitungen bei
einem durchschnittlichen Anteil von 20 %. Hinsichtlich der Gestaltungs-
möglichkeiten der Vorfeldbesetzung zeigt sich zwischen beiden Zeitungen
die Gemeinsamkeit, dass das einfache Adjektivattribut am häufigsten reali-
siert wird und dass sein Anteil bis zum Zeitungsjahrgang wiederum bis zu
sehr hohen Werten (90 % in der FZ 1931) steigt. Auch hier zeigen sich
wiederum Homogenisierungsprozesse, da komplexe Formen im betrach-
teten Zeitraum wie die folgenden aus dem Zeitungsjahrgang 1871 zuneh-
mend ausgesondert werden.
(14) „das naturgemäße, berechtigte Ergebnis einer langjährigen, ohne
Hast und Übereilung, aber stetig und unwiderstehlich vorwärts
strebenden geschichtlichen Entwicklung“ (GA, 25.01.1871), „der
endgiltige, feierliche Abschluß des 1866 zur Entscheidung ge-
brachten Kampfes zwischen dem deutschen Nationalstaat Preu-
ßen und der aus Deutschland hinausgewachsenen österreichi-
schen Nationalitäten-Monarchie“ (GA, 25.01.1871), „die zwi-
schen uns und dem gebildetsten Theile der österreichischen
Staatsangehörigen bestehende Stammesverwandtschaft“ (GA,
25.01.1871), „die kaum mehr zu bezweifelnde Kunde von der
definitiven Amtsniederlegung des größten Staatsmannes und Po-
litikers unseres Jahrhunderts“ (GA, 20.03.1890).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 679
Anders als in den Zeitungsausgaben des 20. Jhs. wird das Nachfeld der
Nominalphrase auch durch (koordinierte) Attributsätze besetzt, die z.T.
selbst wieder komplexe Nominalphrasen aufweisen, vgl.:
(15) „die deutsche Sache, die von Kaiser und Reich teils aus Schwä-
che und Unfähigkeit, teils aus Eifersucht gegen den mächtig em-
porstrebenden Brandenburger im Stich gelassen wurde“ (GA, 25.
01.1871), „kaum ein Tag verging seitdem, der nicht von ein-
schneidenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kaiser
und seinem obersten Rathgeber zu berichten und im Anschlusse
von dem bevorstehenden Rücktritte des Fürsten von Bismarck
gerüchtweise zu melden gewußt hätte […]“ (GA, 20.03.1890).
Die Belege stammen aus dem Anzeiger. Dieser unterscheidet sich also
nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses von attribuierten und nicht-
attribuierten Nominalphrasen, sondern auch hinsichtlich der Komplexität
der Nominalphrasen von der Frankfurter Zeitung. Dieser Unterschied zeigt
sich am deutlichsten in den Kommentaren zur Reichsgründung. Während
im GA das Kaisertum als konsequente historische Entwicklung gepriesen
wird, äußert sich die FZ erstaunlich skeptisch über diese politische Ent-
wicklung. Der Stil der jeweils realisierten Texte könnte nicht unterschied-
licher sein: Der GA wählt einen zeremoniellen Stil (vgl. die Belege
11 / 12), bei dem sich Wiederholungs- und Amplifikationsfiguren zeigen
und sich entsprechend komplexe Nominalphrasen ergeben. Am 20. Januar
1871 äußert sich die FZ hingegen zunächst nur kurz zur Proklamierung
des Kaiserreichs, indem sie auf die verhaltene Reaktion der Bevölkerung
verweist: „den Mangel eines allgemeineren Hervortretens von Freude,
dem Widerstand gegen jegliche Entwicklung im freiheitlichen Sinne“ (FZ,
20.01.1871). Die Zugriffsweise der FZ bleibt in den Folgetagen ironisch,
spöttelnd und bissig und fügt sich in Traditionen der politischen Essayis-
tik und Satire ein, weshalb die Bezugnahme auf Börne am Beginn des
folgenden Textes alles andere als zufällig sein dürfte:
(16) „Börne sagte einmal, Minister fallen wie die Butterbrode fallen,
immer auf die geschmierte Seite. Dieses Wort ist gewiß ebenso
wahr, wie jener andere Erfahrungssatz, daß Völker immer auf die
ungeschmierte Seite fallen […] sie fallen dann gewöhnlich auf ei-
nen schmutzigen Sandboden und sehen dann in Folge dessen so
unappetitlich aus, daß gewisse Leute dann auszurufen pflegen,
‚seh’t nur das schmutzige Volk an, wir müssen es erst ein wenig
cultiviren und menschlich zustutzen.‘ Auf diese Weise entstehen
Volksbarbiere und Volkstribune der verschiedesten Sorten und
Grade […] Nun erst hat das Volk seine eigentliche Bedeutung,
680 Britt-Marie Schuster
zen“, „die politische Konsequenz aus den gestrigen Wahlen“, “das prak-
tisch Mögliche“, ,,unter dem Motto ‚Poincare‘“, „einen Sieg des dogmati-
schen Sozialismus“, „in geschlossener Phalanx“, „ausschlaggebender Fak-
tor“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1928). Bei der Kommentierung der Wahl
von 1928 in der FZ und im GZ ist jeweils gerade mal ein Beleg vorhan-
den, der relativ komplex ist: „Insbesondere die nicht interessenpolitisch,
sondern geistig-politisch eingestellten Massen der jungen Wähler und
Wählerinnen“ (FZ, 21.05.1928) und „Die Zeit der überlaufenen Volksver-
sammlungen, die leider allzu oft auf das persönliche zugespitzten Dialoge
von Parteigrößen jeglichen Formats“ (GA, 22.05. 1928). Wenn man von
vereinzelten Beispielen 1912 absieht, so zeigt sich insgesamt eine große
Konstanz. Die Hauptunterschiede zwischen der Wahlberichterstattung
von 1912 und 1928 sind die, dass im Nachfeld mehrere Attributsätze mit-
einander koordiniert werden, was 1928 nur einmal der Fall ist, und dass
mittels eines satzförmigen Attributes an ein Genitivattribut angeschlossen
wird, vgl.
(23) „auf das Konto der zahlreichen ‚Mitläufer‘, die ihr als der radi-
kalsten Partei wegen der allgemeinen Verärgerung, ja, Empörung
des deutschen Volkes aus allen Parteien zuströmten“, „ange-
sichts der großen sozialdemokratischen Wahlerfolge, die ihn zur
Magd der Sozialdemokratie erniedrigen und die Lösung der na-
tionalen Aufgaben im kommenden Reichstag erschweren“, „die,
statt den Damm, den der Liberalismus gegen die ‚rote Flut‘ bilde-
te, zu schirmen, verkündeten, Nationalliberale und Fortschrittler
seien bei den Wahlen der Sozialdemokratie gänzlich gleich zu
achten und daher ebenfalls auf schärfste zu bekämpfen“ (alle Be-
lege aus GA, 22.05.1912).
Ansonsten zeigt sich auch das, was sich schon bei den informierenden
Texten als allgemeine Tendenz ausmachen ließ: das durch mehr als ein
Attribut erweiterte Partizipialattribut, das gelegentlich auch im Nachfeld
auftritt, vgl.:
(24) „den vielfach fast mehr gegen links als gegen rechts gerichteten
Kampf“, „ohne restlose Unterstützung der ihnen politisch am
nächsten stehenden Partei“, „einen einigermaßen klaren Über-
blick über die durch den ersten Gang der Reichstagswahlen ge-
schaffene Situation“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1912), „ein Teil
der Schuld an dem für ihn ungünstigen Ausgang der Hauptwah-
len“, „sein in nationalen Dingen ebenso unzuverlässiger An-
hang“ (alle Belege aus GA. 22.05.1912).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 685
_____________
18 Schuster (2008b, 161f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 687
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Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
in den Hermannstädter Ratsprotokollen
der Zeit 1556-1562
1. Forschungsgegenstand
Dass die Sätze in den kanzleisprachlichen Texten aus der frühen Neuzeit
einen beträchtlichen Umfang und eine tiefgestaffelte Struktur haben, ist
ein allgemein bekannter Topos in der syntaktischen Beschreibung früh-
neuhochdeutscher Texte aus dem binnendeutschen Sprachraum. Erinnert
sei hier nur an das „Ungetüm“ mit 44 hypo- und parataktisch verknüpften
Sätzen und einer Abhängigkeit der Gliedsätze bis zum 15. Grad aus dem
Schreiben des Erzbischofs Werner von Trier und des Kurfürsten Ludwig
III. von der Pfalz an den Bürgermeister und Rat von Frankfurt aus dem
Jahre 1411.1
Die Frage, die sich einem Sprachwissenschaftler aus Siebenbürgen
stellt, ist, ob sich dieses prägende syntaktische Kennzeichen frühneuhoch-
deutscher Urkunden auch in zeitgleichen Amtstexten aus der geografisch
zwar entfernten, politisch und wirtschaftlich aber in engem Kontakt zum
geschlossenen deutschen Sprachgebiet stehenden Sprachinsel findet. Ziel
des vorliegenden Aufsatzes ist es darzulegen, welchen Aufbau gramma-
tisch und inhaltlich fertige Sätze in den siebenbürgischen Urkunden des
16. Jahrhunderts haben. Im Einzelnen sind mithin 1. der Umfang der
Elementarsätze, d.h. die Anzahl der Satzglieder und die Anzahl sie konsti-
tuierender Wörter, 2. die Anzahl der Elementarsätze in einem gramma-
tisch und inhaltlich geschlossenen Ganzsatz und 3. die Verknüpfungsstra-
tegien der Elementarsätze zu einem Ganzsatz, d.h. die hierarchischen
Verhältnisse in den Ganzsätzen zu beleuchten.
_____________
∗ Die Recherchen zu meinen Archivstudien wurden dankenswerterweise von der Marga und
Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert.
1 Vgl. Admoni (1980, 44ff.); Admoni (1972, 245) gibt 45 Sätze an.
690 Dana Janetta Dogaru
2. Vorgehensweise
Für die Analyse wurde das Corpus fortlaufend elektronisch erfasst, auf der
Satzebene analysiert und mit grammatisch kodifizierten Kürzeln verse-
hen.4 Mithilfe eines Computerprogramms wurden im nächsten Schritt
Sortierungen nach den Parametern der Fragestellung vorgenommen: die
Auslese der Elementarsätze, der Ganzsätze, letztere als Aussagesätze,
Satzverbindungen, Satzgefüge und Gefügereihen unterschieden, und der
Parataxen auf der Hauptsatz- und Gliedsatzebene. Die Gliedsätze wurden
hinsichtlich ihrer Funktion, des Abhängigkeitsgrades und ihrer Stellung
gegenüber dem übergeordneten Elementarsatz ausgewertet.
Die rasche Bündelung der Ergebnisse ist nicht nur arbeitsökonomisch
von Vorteil – denn nach der syntaktischen Kodierung sind beliebig unter-
schiedliche Sortierungen möglich –, sondern auch die quantitative Erfas-
sung des Materials ist rechnerisch als zuverlässig zu bewerten, wenn auch
Fehler beim Zählen nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.5
_____________
2 Admoni (1982, 255).
3 Vgl. Dogaru (2006, 97f.).
4 Die Vorgehensweise geht auf Rössing-Hager (1972, 276ff.) zurück.
5 Zum rechnerunterstützten Analyseverfahren vgl. Dogaru (2006, 29ff.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 691
3. Das Corpus
Das Corpus der vorliegenden Untersuchung bilden 31 vom königlichen
Notar in der Zeit von 1556 bis 1562 verfasste Sitzungsprotokolle des
Hermannstädter Magistrats in einem Umfang von 44 eng beschriebenen
Seiten, die im Manuskript die Seiten 359 bis 414 umfassen.6 Der in ge-
presstes braunes, mit Verzierungen gestanztes Leder gebundene Band
Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dom-
mini 1522 feliciter ceptum et congestum (im Folgenden als MagProt bezeichnet)
umfasst 446 beschriebene (und 61 unbeschriebene) Seiten. Die Wahl der
genannten Zeitspanne ergibt sich aus zwei Gründen: Zum einen erfolgen
erst ab dem Jahr 1556 Eintragungen vermehrt in deutscher Sprache,7 zum
anderen stammen alle Protokolle dieser Zeit von einem und demselben
Notar, Joannes Rhyssus, was somit eine einheitliche Sprachverwendung
gewährleistet. Aufgrund der vorzufindenden Korrekturen durch Hinzufü-
gen oder Durchstreichen von Wörtern8 ist davon auszugehen, dass Rhys-
sus die Protokolle im Nachhinein anhand von während der Sitzungen
angefertigten Vorlagen im Protokollbuch niedergeschrieben hat; es han-
delt sich mithin um reflektierte Schriftlichkeit.9 Dokumentiert werden
Übertragungen von Immobilien und Kaufgeschäfte über solche, die nur
mit Wissen und Einwilligung des Hermannstädter Magistrats erfolgen
durften – vermutlich aus der Gefahr einer Übergabe an Fremde, d.h. an
solche, die nicht Siebenbürger Sachsen waren, heraus und als Gewähr
dafür, dass die Minderjährigen nicht um ihr Erbe betrogen werden oder
die Eltern nicht in eine sie benachteiligende Lage geraten.10 Akten des
Hermannstädter Stadt- und Stuhl-Magistrats sind erst aus dem Jahr 1701
erhalten, können also nicht Untersuchungsgegenstand für die frühneu-
hochdeutsche Sprachepoche sein.11
_____________
6 Es handelt sich um erste Untersuchungen zur syntaktischen Gestaltung siebenbürgischer
Amtstexte. Außer den Produktionen der Hermannstädter Magistratskanzlei müssten (zu-
mindest) die Dokumente aus der zweiten großen siebenbürgischen Kanzlei Kronstadt
(rum. Braşov) gesichtet werden. Zum Corpus der Hermannstädter Ratsprotokolle liegen
zwei Syntax-Studien vor: eine Untersuchung zum Verbalkomplex (vgl. Dogaru 2006-2007)
und eine zum Repertoire der Gliedsätze (vgl. Dogaru 2009).
7 Ab 1521, dem Jahr, aus dem die ersten Protokolle stammen, bis 1556 werden die Sitzungs-
protokolle auf Latein niedergeschrieben.
8 An einer Stelle (MagProt, 413) wird sogar ein ganzer Teilsatz am Seitenrand ergänzt.
9 Hierzu Dogaru (2009, 72).
10 Zum Inhalt der einzelnen Protokolle vgl. Duzinchevici / Buta / Gündisch (1958).
11 Vgl. hierzu ebd., 5; Zimmermann (1901, 73ff.).
692 Dana Janetta Dogaru
_____________
12 Er wird in einem solchen Fall also zu einer Paarformel ausgebaut. S. dazu auch weiter
unten.
13 Häufig werden die Elementarsätze durch Attributsätze erweitert, s. hierzu Absatz 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 693
_____________
14 Zur Struktur und Funktion der Paarformeln vgl. z.B. Schmidt-Wiegand (1984, Sp. 1387-
1393) u. Schmidt-Wiegand (1991, 283-299).
15 Haage (1974, 29) stellt für die offizielle, gehobene Sprachebene von der Mitte des 14. bis
Mitte des 17. Jahrhunderts fest: „Nicht die inhaltliche Seite der synonymen Wiederholung,
sondern ihre formal-rhetorische steht im Vordergrund: das ‚Schmücken‘ der Rede mit dem
mehrgliedrigen Ausdruck“.
16 Zum Wesen der Teilsätze vgl. z.B. Dogaru (2006, 377f.).
694 Dana Janetta Dogaru
Gliedsätze mit
Abhängigkeitsgrad „einfache“ Gliedsätze
Teilsatzbildung
g117 195 66
g2 136 21
g3 78 5
g4 28 1
g5 2 1
g6 1 -
Gesamt: 534 440 94
Tabelle 1: Anzahl der „einfachen“ Gliedsätze und jener mit Teilsätzen nach Abhängigkeitsgrad
t1+t2 33
t1+t2+t3 10
t1+t2+t3+t4 1
t1+t2+t3+t4+t5+t6 1
Tabelle 2: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Aussage- / Hauptsätzen
t1+t2 48
t1+t2+t3 12
g1
t1+t2+t3+t4 4
t1+t2+t3+t4+t5+t6 2
t1+t2 13
g2 t1+t2+t3 6
t1+t2+t3+t4 2
t1+t2 4
g3
t1+t2+t3 1
g4 t1+t2+t3 1
g5 t1+t2 1
Tabelle 3: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Gliedsätzen
_____________
17 Zur Auflösung der Kodierungen s. Abkürzungsverzeichnis.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 695
_____________
18 Zum überdurchschnittlichen Anteil der Hypotaxe in Kanzleitexten vgl. neben den erwähn-
ten Untersuchungen von Admoni (1980) auch Brooks (2006, 22ff.).
696 Dana Janetta Dogaru
Nicht nur die Anzahl der Satzgefüge gegenüber der Zahl einfacher
Aussagesätze ist also hoch, auch die Anzahl von Satzgefügen mit mehre-
ren Gliedsätzen pro Hauptsatz ist signifikant, wenn auch die Hauptsätze
mit nur einem einzigen Gliedsatz quantitativ führend sind. Die Hypotaxe
als Bauprinzip der Ganzsätze in den Hermannstädter Sitzungsprotokollen
spiegelt sich zudem auch qualitativ in der hierarchischen Verknüpfung der
Elementarsätze, wie nachfolgend zu sehen sein wird.
Die relativ große Anzahl der Gliedsätze pro Satzgefüge geht einerseits mit
einer tief reichenden Staffelung und andererseits mit der zwei- und mehr-
gliedrigen parataktischen Anordnung der Gliedsätze und der Unterord-
nung zweier funktional unterschiedlicher Gliedsätze unter einen einzigen
Regenzsatz einher. Obgleich einer der Gliedsätze im letzten Fall in der
Regel ein Attributsatz ist, zeigt sich eben in dieser Fähigkeit eines Satzes,
zwei Unterordnungen zugleich zu tragen, die Festigkeit der Hypotaxe als
Strukturmittel des Satzbaus.19
Die Gliedsätze ersten Grades überwiegen zwar (s. Tabelle 5), diejeni-
gen zweiten, dritten Grades und gar vierten Grades haben aber ebenfalls
einen bemerkenswerten Anteil an der hypotaktischen Satzbildung:
Abhängigkeitsgrad g1 g2 g3 g4 g5 g6
Anzahl der Gliedsätze 261 157 83 29 3 1
Tabelle 5: Tiefenstaffelung der Satzgefüge
Die große Anzahl der tiefer gestaffelten Gliedsätze, gemeint sind solche
dritten und höheren Grades, geht vor allem auf die Verwendung von At-
tributsätzen, häufig sprachökonomisch als Partizipialkonstruktion reali-
siert,20 zurück (s. Tabelle 6).
_____________
19 Es bleibt zu prüfen, ob die Hypotaxe auch beim Wortgruppenbau mit gleicher Wirksam-
keit zum Tragen kommt.
20 Die Partizipialkonstruktionen kommen in einem Prozentsatz von 20,1 der Attributsätze
vor (vgl. die absoluten Zahlen bei Dogaru 2009, Tabelle 1).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 697
Abhängigkeitsgrad g1 g2 g3 g4 g5 g6
Anzahl der Gliedsätze 1130 405 95 14 10 2
Tabelle 7: Tiefenstaffelung der Satzgefüge in zeitgleichen siebenbürgischen Predigten
_____________
23 Zur Terminologie vgl. Dogaru (2006, 302f. und 322f.).
24 Zu den Neststrukturen vgl. Kap. 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 699
Die Stellung aller Gliedsätze vor den Hauptsatz spielt in den Sitzungspro-
tokollen keine große Rolle in der Verknüpfung der Elementarsätze; stei-
gende Satzgefüge machen den kleinsten Anteil der Satzgefüge aus. Das
Vorfeld des Hauptsatzes wird mit maximal drei verschiedenen Gliedsätzen
besetzt, die aber durch Reihung – sowohl mit gemeinsamen Elementen als
auch ohne solche – gut ausgebaut sein können. Der Satzgefüge eröffnende
Gliedsatz, der als Protasis einen Spannungsbogen zum Hauptsatz, der
Apodosis, baut, ist in fast allen Fällen ein Temporalsatz, d.h. ein Gliedsatz
mit allgemeiner Tendenz zur Voranstellung:25
(8) g1,1.k.at Nach dem Myr obgemelten Erasmi Schneiders sein an-
bringen vnd erynnerung, verhörtt vnd vernomen hatten,
g1,2.k0.at.a vnd vns dasselbig,
g2.k.o4.el> das es also,
g3.cr.am.el wie es hie erczellt vnd gesagt,
g1,2.k0.at.e Noch im gutten Synn vnd gedechtnüs hetten,
g1,3.k0.at vnd auch vormals durch ein recht in der massen beschey-
den sindt worden,
_____________
25 Zur Voranstellung der Temporalsätze vgl. z.B. Behaghel (1932, 260-264). Zu Protasis und
Apodosis vgl. Lausberg (1984, 146f.); in Bezug auf Luther bei Rössing-Hager (1972, 253f.)
und Rössing-Hager (1984, 82f.).
700 Dana Janetta Dogaru
h<<< So haben mirs durch genanten Erasmi Bitt vnd begehr, in sei-
ner Schuester son gemelter lang Jörgen kegenwertt, zu stetten ge-
dechtnüs in das Stattbuch lassen einschreiben, Jm Jar vnd tag,
wie oben (MagProt, 369).
5.3.4. Neststrukturen
_____________
26 Es handelt sich selbstverständlich lediglich formal um Attributsätze, semantisch sind es
Inhaltssätze zum metakommunikativen Funktionsverbgefüge ein vrteill gefellet; vgl. auch Do-
garu (2009, 83f.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 703
sowohl vom zuerst stehenden Gliedsatz ersten Grades, als auch vom
übergeordneten Hauptsatz. Es handelt sich aber um die formelhafte Be-
schließung der Sitzungsprotokolle, so dass seine gedankliche Zuordnung
dennoch herzustellen ist.
Dabei ist anzumerken, dass die abhängigkeitswidrige Diskontinuität
nicht die alleinige „Schuld“ an den Zuordnungsschwierigkeiten hat: Im
ersten Satzgefüge der Gefügereihe folgt dem Hauptsatz h,1 ein inhaltlich
geforderter Finalsatz g1.k.af.t1+t2 (bestehend aus zwei Teilsätzen), der
aber formal mit der Konjunktion für Objektsätze ob (die zur indirekten
Formulierung von Fragen gebraucht wird) eingeleitet ist – der gramma-
tisch notwendige „Brücken“satz mit einem verbum dicendi zwischen dem
Hauptsatz und dem ob-Satz ist vermutlich aus sprachökonomischen Über-
legungen ausgespart worden.
Etwas einfacher auf den ersten Blick scheint die Herstellung gramma-
tischer Bezüge im folgenden Fall zu sein, bei dem die sich an den Haupt-
satz mit verbum dicendi anschließende subordinierende Konjunktion das
erwartungsgemäß einen Objektsatz indiziert. Dieser wird nicht fortge-
führt, sondern es folgt die ausführlich formulierte Voraussetzung für den
angekündigten Sachverhalt:
(14) h> Alda hatt der vorbestympt Thomas Waldörpfer in person
vnd Namen seines Bruders frantz Waldörffers, vns für-
gebracht vnd angeczeigt,
g1.k.o4.t1.a>> Das
g2,1.k.ac/at> Nach dem der vorsichtige herr Thomas gold-
schmidt ein Styepfvatter h: Emanuelis. das Recht
verloren hett,
g3.cr.xt> So er mit vnd wider den frantz Waldörffer
hett geübett vnd gehabt, von wegen der Erb-
schapft seiner Stiepftochter, fides, die francz
Waldörffern,
g4.cr.xt So on Leibs Erben abgangen vnd gestor-
ben ist,
g2,2.k.ac/at Als er aber nichts hatt kennen mit rechten an im
erlangen,
g1.k.o4.t1.f+> So hett nu der h: Emanuel,
g2.mr.xt welcher ein rechter pruder der verstorbenen francz
Waldörfferin geuesen,
g1.k.o4.t1.e Den vorbestympten francz Waldörffer seynen Schuoger
fur das Recht genomen,
706 Dana Janetta Dogaru
6. Fazit
Die Durchschnittslänge der Elementarsätze variiert in den Sitzungsproto-
kollen des Hermannstädter Magistrats in der Anfangszeit des Verfassens
auf Deutsch (Anfang der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) mit ihrer
Funktion im Text zwischen 60 Wörtern, wenn Angaben zu den beteiligten
Personen gemacht werden, und zehn Wörtern bei der Schilderung von
Geschehenseinzelheiten.
Die Ganzsätze werden hauptsächlich als Satzgefüge realisiert, wobei
gelegentlich zwei Satzgefüge gereiht stehen können. Ein Satzgefüge kann
in einem Einzelfall aus bis zu 17 Elementarsätzen bestehen, 111 Satzgefü-
ge von 135 haben bis zu sieben Elementarsätze. Die Tiefenstaffelung geht
zwar nur bis zum sechsten Abhängigkeitsgrad, die Vorkommenshäufigkeit
der Gliedsätze vierten Grades kann aber (verglichen z.B. mit ihrer Fre-
quenz in zeitgleichen Predigten) als überdurchschnittlich hoch bewertet
werden.
Neben der hypotaktischen Verknüpfung stellt eine wichtige Verknüp-
fungstechnik die Anknüpfung von grammatisch und funktional gleichen
Gliedsätzen, mit und ohne Aussparung gemeinsamer Elemente, dar.
Mit Bezug auf die Kompositionstypen der Satzgefüge lassen sich ne-
ben der geradlinigen abhängigkeitskonformen Abfolge der Gliedsätze –
die fallenden und steigend-fallenden Satzgefüge überwiegen – besonders
häufig die Neststrukturen nachweisen, die bei syntaktischem Bruch inhalt-
lich Zusammengehörendes auch zeitlich nebeneinander darbringen. Bei
Neststrukturen zuweilen, häufiger aber bei den abhängigkeitswidrigen
Diskontinuitäten verursachen mangelnde Merkmale der Unterordnung
oder der Zu(sammen)gehörigkeit Unklarheiten. Die Gestaltung der Satz-
gefüge in den Hermannstädter Ratsprotokollen entspricht mithin hinsicht-
lich der Strukturkomplexität, nicht aber der Realisierung von nachvoll-
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 707
Quelle
Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dommini 1522
feliciter ceptum et congestum.30
Literatur
Admoni, Wladimir G. (1972), „Die Entwicklung des Ganzsatzes und seines Wortbe-
standes in der deutschen Literatursprache bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts“,
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Admoni, Wladimir G. (1982), Der deutsche Sprachbau, 4. Aufl., München.
Behaghel, Otto (1932), Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 4: Wortstel-
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Brooks, Thomas (2006), Untersuchungen zur Syntax in oberdeutschen Drucken des 16.-18.
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Dogaru, Dana Janetta (2006), Rezipientenbezug und -wirksamkeit in der Syntax der Predigten
des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr (ca. 1535-1585), (Documenta Lin-
guistica, Studienreihe 7), Hildesheim, Zürich, New York.
_____________
30 Das Manuskript befindet sich bei der Kreisdirektion der Nationalen Archive Hermann-
stadt / Sibiu; Signatur: Magistratul Oraşului şi Scaunului Sibiu. Protocoale de ŞedinŃă nr. 1.
708 Dana Janetta Dogaru
_____________
31 Bestandsaufnahme der Sitzungsprotokolle des Hermannstädter Magistrats 1521-1700, Allgemeine
Direktion der Staatsarchive, Bukarest 1958.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 709
Zimmermann, Friedrich (1901), Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen
Nation. Ein Führer durch dasselbe, 2. Aufl., Hermannstadt.
Abkürzungsverzeichnis
1. Sätze:
h Aussage- / Hauptsatz
g Gliedsatz
g1(-n) Abhängigkeitsgrad des g von h
g1,1(-n) Koordination mehrerer g mit gleicher Abhängigkeit
von h
g1.k durch eine Konjunktion eingeleiteter g
g1.mr durch ein substantivisches Relativpronomen eingeleite-
ter g
g1.dr durch ein attributivisches Relativpronomen eingeleiteter g
g1.cr durch ein Relativadverb eingeleiteter g
g1.cmr durch ein Pronominaladverb eingeleiteter g
g1.k0 das Initialelement wird nicht wiederholt
g1.zi satzwertige Infinitivkonstruktion mit „zu“
g1.vp satzwertige Partizipialkonstruktion (Perfektpartizip)
g1.k.o4 Satzgliedfunktion des g (hier: Akkusativobjekt)
g1.k.w weiterführender Nebensatz ohne Satzgliedfunktion
t1(-tn) Teilsatz
t1+ der Teilsatz enthält ein bzw. mehrere gemeinsame Ele-
mente
2. Satzfunktionen:
o4 Akkusativobjekt
ac Grund
af Zweck
ak Einräumung
am Art und Weise
as Folge
at Zeit
xt Attribut
3. Sonstiges:
.el elliptisches Element
.a Anfang einer unterbrochenen Struktur
710 Dana Janetta Dogaru
4. Sonderzeichen:
/ trennt alternative Notationen.
Pfeile signalisieren neben der Kodierung eines Elementarsat-
zes, dass ein von ihm abhängiger Gliedsatz diesem folgt
oder vorausgeht:
> der untergeordnete Elementarsatz folgt dem überge-
ordneten;
< der untergeordnete Elementarsatz geht dem übergeord-
neten voraus;
<> dem übergeordneten Elementarsatz geht ein Gliedsatz
voraus, einer folgt ihm;
<<< >>> Anzahl untergeordneter, koordinierter oder aber nicht
koordinierter Gliedsätze gleicher oder unterschiedlicher
syntaktischer Funktion, die dem übergeordneten Ele-
mentarsatz vorausgehen bzw. folgen.
Konkurrierende Strukturen für die Relation
Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen
Schriften Martin Luthers
Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven und
kommunikativen Funktion
1. Fragestellung, Textkorpus
und methodische Vorbemerkungen
Die Relation Voraussetzung – Folge wird im Folgenden im Hinblick auf
satzförmige Konditionalfügungen behandelt. Die zugehörigen Teilsätze
sind in der Grammatik-Tradition geläufig unter den Bezeichnungen Prota-
sis für die meist vorangestellte Bedingung und Apodosis für die Konse-
quenz, bzw. unter deren lateinischen und deutschen Entsprechungen An-
tezedens – Konsequens/z und Vordersatz – Nachsatz. In der Grammatikogra-
phie wurde und wird gelegentlich darauf verwiesen, dass die Termini
gleichzeitig stellungs- und funktionsspezifische Geltung haben, so z.B. in
der älteren Grammatik explizit von Carl Friedrich Aichinger für protasis
und apodosis, 1 in der Gegenwart von Peter Eisenberg für Antezendens und
Konsequenz, mit Hinweis auf die Überlappung von syntaktischem und se-
mantischem Aspekt. 2 Ich benutze im Folgenden die ebenfalls geläufigen
Termini Konditional- bzw. Bedingungssatz für den die Voraussetzung betref-
fenden Teilsatz, Konsequenz- bzw. Folgesatz für den die Bedingtheit / die
Folge betreffenden. Syntaktisch-funktionale und logisch-semantische As-
pekte überlagern sich auch bei ihnen.
Die Darstellung ist konzipiert als eine durch thematische Vorgaben
erweiterte Fallstudie, die auf jede Art von numerischen bzw. statistischen
Angaben verzichtet. Vielmehr besteht die Absicht, zwei syntaxspezifische
_____________
1 Vgl. Aichinger (1972, 518).
2 Vgl. Eisenberg (1994, 362).
712 Monika Rössing-Hager
Textbausteine, auf die der Autor mehrfach zurückgreift und die er beim
Verwenden zweckgebunden formt und bei Bedarf erweitert, im Hinblick
auf ihre textkonstitutive und kommunikative Funktion näher zu betrach-
ten.
Das Textkorpus umfasst vier Schriften Martin Luthers aus den ersten
Jahren der Reformation. Unter dem Gesichtspunkt der Verbreitung gehö-
ren sie alle zu den ‚Flugschriften‘. Thematisch und im Hinblick auf Text-
sorte und -funktion haben sie trotz großer Unterschiede Gemeinsamkei-
ten, durch die bestimmte Spezifika besonders deutlich hervortreten. 3 Es
handelt sich um folgende Textexemplare:
Martin Luther, Von den guten Werken (1520). WA VI, 202-276.
- Thematik und Textsorte: Religiöse Lehrschrift,
- Textfunktion: Allgemeinverständliche Lehre, verbunden mit Ap-
pellfunktion.
Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). WA VII,
20-38.
- Thematik und Textsorte: Religiöser Traktat,
- Textfunktion: Erörternde Unterweisung, eloquent, verbunden mit
Appellfunktion.
Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christli-
chen Standes Besserung (1520). WA VI, 404-467.
- Thematik und Textsorte: Religiöse Programm- und Kampfschrift,
- Textfunktion: Aufdecken religiöser und sozialer Missstände im
kirchlichen und weltlichen Bereich; Aufforderung an Angehörige
aller Stände, das ihnen Mögliche zur Beseitigung beizutragen.
Dominante Appellfunktion, im Einzelnen stark ausdifferenziert.
Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sak-
rament (1525). WA XVIII, 62-125 (1. Buch); WA XVIII, 134-214 (2.
Buch).
- Thematik und Textsorte: Religiöse Streitschrift,
- Textfunktion: Offensive Erörterung mit den Zielen, strittige
Glaubensfragen zu klären, den Gegner (Karlstadt und seine An-
hänger) bloßzustellen und unschädlich zu machen, den Rezipien-
ten für den eigenen Standpunkt zu gewinnen; verbunden mit
Appellfunktion.
Auf Grund ihrer logischen Grundkonzeption sind die Texte von Bedin-
gungsgefügen durchsetzt. Aus der Vielzahl der Vorkommen werden im
_____________
3 Im Einzelnen ist dies dargestellt in Rössing-Hager (2009).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 713
2. Strukturvarianten
der im Korpus verwendeten Konditionalfügungen
Die in den untersuchten Textteilen vorkommenden Konditionalfügungen
repräsentieren nahezu das gesamte Spektrum der bei Luther und im
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 715
wie der mensch an den gebotten (...) gnug hat, (...) warumb
sucht er dan andere (...)? WA VI, 276.05-10. 6
2. Abfolge der Teilsätze:
a) B – K (vgl. Bsp. unter (1a) und (1b))
b) K – B (seltener):
so ist hlffe und rad da (...), wo des glaubens lere fest und reyn
bleybt. 9,04f.
c) K.anf. – B – K.end.:
einn Christen mensch, der in dieser zuvorsicht gegen got lebt,
weiß alle dingk, 6,26-28.
3. Markierung der Abhängigkeit einer Konditionalfügung von einem
vorgeschalteten Satz mit Verbum dicendi, sentiendi o.ä.:
a) kein formales Abhängigkeitssignal, d.h. einem Doppelpunkt ähn-
licher Übergang. Die Konditionalfügung bleibt in struktureller
‚Selbstständigkeit‘:
Szo radt ich den selbenn kindeln, (...),
wollen die ubirsten nit laub geben zu beichten die heymlichen
sund, (...), ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder (...),
2,01-04.
b) Abhängigkeitsmerkmal: Der Matrixsatz der Konditionalfügung
wird zum Gliedsatz, der mit der Subjunktion dass eingeleitet ist
und durch den Bedingungssatz unterbrochen wird:
Auß dissem allen ists nu offenbar,
das alle ander werck, die nit gebotten sein, ferlich sein und leicht
zu erkennen, WA VI, 276.01 f. 7
c) Als Abhängigkeitssignal steht die Konjunktion dass, der Matrix-
satz behält jedoch die Form eines Hauptsatzes bei (Anakoluth),
d.h. die Konditionalfügung bleibt in ihrer Struktur unverändert;
sie erscheint ‚selbstständig‘ wie unter (3a): 8
Den ich hab (...) yn den glauben gestellet alle ding,
das,
wer yhn hat, sol alle ding haben 5,43-46.
_____________
6 Hierbei handelt es sich um eine nicht als Textbeleg verwendete Stelle aus der Schrift Von
den guten Werken.
7 Wie Anm. 6.
8 Hierzu Franke (1922, § 202,3); im Einzelnen zu den von Luther verwendeten Konstruk-
tionsvarianten: Rössing-Hager 1984, 81ff.).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 717
3. Spezifische Verwendungszusammenhänge
für einzelne Strukturtypen der Konditionalfügungen
und für deren Kombination
zu textkonstitutiven Strukturmustern
3.1. Appelle
T1
Am markantesten ist eine Textstelle in der Streitschrift von 1525 Wider die
himmlischen Propheten, in der sich Luther scharf mit seinem Gegner Karl-
_____________
9 Vgl. Rössing-Hager (2009, I.2.4, II.2.3, III.2.2, IV.2.3.).
718 Monika Rössing-Hager
hut dich,
05 wo du nicht Gottes wort hrest, das dich heyst odder verpeut,
da yrre und kere dich nicht an,
wenns gleich Christus selbst thet,
Ists nicht gnug gesagt? Es heyst ‚Deyn wort ist meyn leuchte‘
Psal.118.
Das wort, Das wort solls thun, Hrestu nicht?
2. Spezifizierend: In einer Sequenz von vier Konditionalfügungen, 10-18,
werden denkbare Detailausprägungen der Verführung genannt und für
jeden Fall eine schlagkräftige Zurückweisung empfohlen, durch Hand-
lungsanweisungen, die die entsprechenden verbalen oder – im letzten Fall
– nonverbalen Handlungen vorgeben. Dem Rezipienten werden Erwide-
rungen in den Mund gelegt, die ihn unerschrocken, scharf und sachkundig
erscheinen lassen und die simulieren, dass ihm eine solche Haltung zuzu-
trauen ist, 10 11, 13, 15f.
Die Konditionalfügungen haben alle die Abfolge B – K. Der vierfache
Wechsel der Eröffnung des Konditionalsatzes – drei verschiedene Kon-
junktionen, 10, 12, 14, und einmal Erststellung des finiten Verbs, 17, –
unterstützt die Vorstellung von einem wechselnden Ansatz der Versu-
chung; die viermal mit so beginnenden und zusätzlich partiell wortgleichen
Konsequenzsätze reflektieren das für alle Fälle empfohlene, im Prinzip
gleich bleibende Reaktionsverhalten:
10 Wenn man dyr n furhelt, wie Christus gethan habe,
so sprich frisch drauff: Wolan er hats gethan, Hat ers auch geleret
und heyssen thun?
Item, wo man dyr furhellt, das hat Christus nicht gethan,
so sprich frisch drauff: Hat ers auch verpoten?
Und so sie dyr nicht seyn wort drauff anzeygen,
15 so sprich: Thu hyn, lasse her, das gehet mich nicht an,
es sind auch nicht exempel, es sind wercke fur seyne eygene per-
son gethan,
Sagen sie: Omnis Christi actio est nostra instructio,
so las sie sagen,
_____________
10 Das Warnen durch Hinweis auf Indizien für gefährliche und daher zu meidende Personen
und deren Auftreten ist eine Sprachhandlung, die zeitübergreifend in Texten mit edukati-
ver, aber auch manipulativer Komponente geläufig ist. In ähnlicher Ausprägung wie in T 1
findet sie sich z.B. in Eberlin von Günzburgs Flugschriftensammlung Bundesgenossen (1521),
am deutlichsten an einer Stelle im Sechsten Bdg., der weitgehend Stellen aus Erasmus’ Laus
Stultitae in freier Übersetzung dem eigenen Text einpasst. Vor dem Hintergrund solcher
vergleichbarer Stellen wird besonders deutlich, wie unmittelbar eindringlich und persönlich
die Verhaltensanleitung Luthers ist.
720 Monika Rössing-Hager
Der Appell endet mit einer expliziten Entschärfung der für den Rezipien-
ten bedrohlichen Situation. Der Rezipient wird aufgefordert, die Aussage
des potentiellen Gegners auf das tatsächlich Gemeinte zu überprüfen, mit
dem Hinweis, der Gegner gelte nicht mehr als er selbst. Der Abschluss
erfolgt in dezidiert einfacher Diktion durch die Reihung von einem Auf-
forderungssatz und zwei Aussagesätzen ohne formale Bindeelemente oder
einen sonstigen Hinweis auf logische Beziehungen, 19-21. Es ist der Ton,
der auf Glaubwürdigkeit deutet und das Vertrauensverhältnis zwischen
Autor und Rezipient unterstreicht:
Aber sihe drauff, was er meynet mit der instructio,
20 Eyn mensch hats gesagt,
der gillt so viel als du selbst. WA XVIII, 116.27-117.12.
In ähnlicher Form wie hier begegnet ein erläuternder Nachtrag des Öfte-
ren in vergleichbarer Situation. Er vermittelt dem Angesprochenen die
Überzeugung, dass die vorausgehende Verhaltensanweisung tatsächlich
realisierbar ist und auch in seinen Kräften liegt, beruhigt ihn, nimmt ihm
ein eventuelles Angstgefühl und ermuntert ihn zu mutigem Vorgehen in
eigener Sache. 11
T2
Ähnlich wie der erste Textbeleg umfasst auch der zweite eine in sich abge-
schlossene Episode. Er gehört in Luthers Programm- und Kampfschrift
von 1520 An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes
Besserung in den Teil, der sich kritisch, zum Teil schonungslos, mit religiö-
sen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensformen in den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen und Ständen befasst, ein Bewusstsein für die
Ursachen herrschender Missstände schafft und zu deren Beseitigung auf-
ruft.
Subthematischer Zusammenhang des Textbelegs ist die Bestärkung von
Ordensleuten in ihrer persönlichen Position gegenüber den Oberen. Lu-
ther richtet hier an Kloster-Insassen, die sich in einer unerträglichen Kon-
fliktsituation befinden, eine Verhaltensempfehlung, wie sie sich, bei beste-
hendem Beichtzwang, von heymlichen sunden selbst befreien könnten.
Die psychologisch relevanten Handlungsschritte hierzu sind im Detail
empfehlend ausgeführt. Einem vorgeschalteten Satz mit dem Verbum
dicendi radt folgt, ohne Abhängigkeitsmerkmal, eine Konditionalfügung:
der Bedingungssatz mit Erststellung des finiten Verbs, 02, die Konse-
quenz als Reihe von Aufforderungssätzen für die empfohlenen Handlun-
_____________
11 Vgl. Beleg T 2.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 721
gen, 04-07. In den zugehörigen Attributsätzen, 03, 05, 07, erfolgt beglei-
tend und nahezu einhämmernd eine explizite Willensstärkung der Ange-
sprochenen. Der letzte Aufforderungssatz der Reihe, 08, der nur schein-
bar zu den vorausgehenden mit Konsequenzfunktion gehört, hat
Bedingungsfunktion und bildet zusammen mit dem folgenden Aussage-
satz eine zweite Konditionalfügung, 08f. In ihr wird die Zusicherung ge-
geben, dass das angeratene Vorgehen gelingen werde:
01 Szo radt ich den selbenn kindeln, brudern unnd schwestern,
wollen die ubirsten nit laub (‚Erlaubnis‘) geben zubeichten die
heymlichen sund,
wilchem du wilt,
ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder odder schwester,
05 dem odder do du wilt,
laß dich absolvirnn und trosten, ganck unnd thu drauff
was du wilt unnd solt,
gleub nur 12 fest, das du seyst absolvirt,
so hat es nit nodt.
Es folgt eine abschließende Ermutigung und Beruhigung, die die themati-
sierte Situation entschärft durch Klärung des interaktiv relevanten Sach-
verhalts, dass der Rezipient nicht gefährdet ist, weil die angedrohten Stra-
fen gar nicht auf seinen speziellen Fall zutreffen. Auch hier besteht, wie
im ersten Textbeleg, der bestärkende Nachtrag aus einer lockeren Reihung
von Aufforderungs- und Aussagesätzen in dezidiert einfacher Diktion,
ohne dass Konnektoren die vorhandenen logischen Beziehungen zwi-
schen den Aussagen signalisieren, 13 10-14:
10 Und den ban, irregularitet odder was sie mehr drewen,
laß dich nit betruben noch yrre machennn,
sie gelten nit weytter, den auff die offentlichen oder bekanten sunden,
ßo die ymant nit wolt bekennenn,
es trifft dich nichts. WA VI, 444.08-15.
_____________
12 Dieses beruhigend ermutigende nur, 08, begegnet in vergleichbaren Appellen häufiger und
kennzeichnet die vertrauenerweckende persönliche Hinwendung des Appellierenden zu
seinem Gesprächspartner, so z.B. im Trostbrief an seine schwerkranke Mutter: Seid nur ge-
trost (...), wodurch das vorher mehrfach zitierte Bibelwort zu einem persönlichen Trostwort
in der konkreten kommunikativen Situation wird, WA Br. VI 1820, Z. 90.
13 Der mit ßo eingeleitete Teilsatz, 13, ist ein attributiver Relativsatz, bezogen auf die offentli-
chen (...) sunden, der abschließende Aussagesatz, 14, bezieht sich auf die vorausgehende Ge-
samtaussage, 10-13.
722 Monika Rössing-Hager
T3
Der nachfolgende Textbeleg gehört in Luthers Traktat von 1520 Von der
Freiheit eines Christenmenschen.
Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, ein gutes Werk in
der richtigen Gesinnung, nur aus Nächstenliebe, zu tun. Die Konstruktion
ist der vorausgehenden bemerkenswert ähnlich. Auch hier bleibt der er-
öffnende Satz mit dem Verbum dicendi raten vorgeschaltet, ohne formale
Abhängigkeit zu erzeugen. Und auch hier greifen zwei Konditionalfügun-
gen ineinander, aber nach einem etwas anderen Prinzip: Die erste Voraus-
setzung-Folge-Relation besteht aus einem Konditionalsatz mit Spitzenstel-
lung des Finitums, 02, der mit einem Aufforderungssatz, 03, korrespon-
diert, dem zwei weitere folgen, die formal mit dem ersten Aufforderungs-
satz koordiniert sind, 04f. Inhaltlich stehen sie jedoch zu diesem in
correctio-Beziehung. Sie haben nicht nur die Funktion einer Konsequenz
aus dem vorausgehenden Konditionalsatz, sondern bilden zugleich selbst
in einer zweiten Konditionalfügung die Voraussetzung zu der Konse-
quenz im nachfolgenden mit so eingeleiteten Aussagesatz, 06.
Auch inhaltlich greifen die beiden Konditionalfügungen eng ineinan-
der: Der Folgesatz der zweiten, 06, enthält einen Bestätigungshinweis für
das gute Ergebnis, das mit der empfohlenen Handlungsweise verbunden
ist. Diese abschließende Konsequenz kennzeichnet die Gesamtaussage des
Appells als Orientierungshilfe für eine richtig verstandene christliche Le-
bensführung:
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 723
T4
Auch in Luthers Lehrschrift von 1520 Von den guten Werken begegnet un-
ter einer Vielzahl verschieden geformter Appelle ein Textbeleg, der be-
sonders stark die persönliche Nähe des Autors zum Rezipienten verdeut-
licht.
Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, sich bezüglich guter
Werke auf die zu beschränken, die sich aus den Zehn Geboten ergeben.
Der Appell besteht aus einer Konditionalfügung, die die Abfolge B, B – K
zeigt. Sie wird ohne vorausgehendes Appell-Signal unmittelbar eröffnet
durch zwei asyndetisch gereihte Aufforderungssätze als Voraussetzung,
01f.; die Konsequenz besteht aus einem mit so eingeleiteten Aussagesatz,
der durch zwei koordinierte Objektsätze erweitert ist, 03-05. Die Kondi-
tionalfügung hat also dieselbe Grundstruktur wie der jeweils zweite Teil
der beiden vorausgehenden Belege 2,08f. und 3,05f.
Die Konsequenz verweist auf eine Einsicht, die aus der empfohlenen
Handlungsweise zu erwarten ist und als Orientierungshilfe für die zu än-
dernde Grundeinstellung des Rezipienten – Überwindung der Werk-
frömmigkeit – dienen soll:
01 Alßo nym fur dich deyne feynnd, die undanckbarn,
thu yhn wol,
so wirstu finden,
wie nah odder ferne du vonn dissem gebot seyest,
05 unnd wie du dein lebenlang wirst ymmer zuschaffen haben mit
ubunge disses werckis, WA VI, 272.38-273.03
Der Appell steht in einem Kontext, der besonders stark vom Aufzeigen
logisch bedingter Sachverhaltszusammenhänge bestimmt ist, WA VI,
270.27-273.13. Der unmittelbare Einsatz mit der Aufforderung im Impe-
rativ, ohne vorausgehendes Signal des Ratens o.ä., statt dessen eröffnet
mit einem konkludierenden Alßo, wirkt, im Anschluss an die unmittelbar
vorausgehenden Ausführungen, als entlastender Einschnitt und zugleich
als Auftakt zum Abschluss des subthematischen Textteils.
724 Monika Rössing-Hager
T5
Im Freiheitstraktat führt Luther unter der subthematischen Leitfrage Wie
gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen, 02, schrittweise die Suche
des Menschen nach einem Lösungsweg für die Bewältigung einer Aufgabe
vor, der er sich nicht gewachsen sieht, und zeigt als ausweglos erscheinen-
des Endstadium der wachsenden Unruhe und Hilflosigkeit die Verzweif-
lung, die zugleich die Voraussetzung für eine Kehrtwende ist: Suche nach
Hilfe von außen, und in dieser Situation Hinweis auf das Angebot Gottes:
den Glauben, als einzigen Rettungsanker. Es folgt, ebenso schrittweise,
der Aufbau von Zuversicht, Hoffnung, Vertrauen.
Die Ausführungen zu diesem Thema bieten eine Anzahl von Bemer-
kungen Luthers über psychische Befindlichkeiten des Menschen bei sei-
nem Bestreben, die göttlichen Gebote zu halten. Es handelt sich um eine
rational untermauerte psychologisierende Argumentation, die weitgehend
auf dem Nachweis von greifbaren Ursachen und deren konkreten Wir-
kungen beruht. Luther bietet hier metadiskursiv Äußerungen, die als auf-
schlussreiche Hintergrundinformationen im Hinblick auf die Intentionen,
aus denen heraus er einen Teil seiner Appelle formuliert, gelesen werden
können. Insbesondere die Verbindungen zu T 1 und T 2 erscheinen nicht
zufällig.
Subthematischer Zusammenhang: erörternd wertende Gegenüberstellung von Ge-
bot und Verheißung, Werk und Glauben. Der streng gegliederte Textteil be-
ginnt mit der Leitfrage nach der Ursache, warum allein der Glaube ohne alle
Werke fromm mache, trotz der vorgeschriebenen Gebote, 02-04:
01 [Czum achten]
Wie gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen,
und on alle werck ßo berschwencklich reychtumb geben,
ßo doch sovill gesetz, gebot, werck (...) uns furgeschrieben seyn
ynnn der schrifft?
Die Ausgangsthese, 05f., betrifft die Bedeutung des Glaubens, die anschlie-
ßende Divisio, 07-09, eine Gegenüberstellung von Gottes Geboten (I) und
Gottes Verheißung (II):
_____________
contrapositionem bzw. consequentia ex contrapositione: Erotemata dialectices. CR XIII, 701f. Un-
abhängig von diesem bei Luther zweifellos vorhandenen engen Bezug der Figur zur ars dia-
lectica ist sie natürlich auch über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart fester Bestandteil
der kommunikativen Verhaltensmuster bestimmter Situationen im Alltagsgespräch und war
auch als solche Luther vertraut.
726 Monika Rössing-Hager
_____________
15 Luther fasst in seiner Schrift Von den guten Werken mit Verweis auf Paulus, Ro. vij, beide
Gebote als Einheit, WA VI 276.10-20.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 727
20 Als, das gebott ‚Du solt nit bß begird haben‘ beweysset, das wir al-
lesampt sunder seyn,
und kein mensch vermag, zu sein on bße begirde, er thue was
er will,
Darauß er lernet an yhm selbs vortzagen und anderßwo suchen hulff,
das er on bße begird sey,
und alßo das gebott erfulle durch eynen andern, das er auß yhm selb nit
vormag:
25 alßo sein auch alle andere gebott uns unmuglich.
Überleitung von I zu II: Die weiterführende Folgerung aus dem Vorausge-
henden geschieht in einer Konditionalfügung, 27-31, mit komplexem
Vorfeld, 27-29, in dem schrittweise eine starke Spannung aufgebaut wird:
Im eröffnenden Konditionalsatz mit nachfolgendem Konsekutivsatz er-
folgt eine nachdrücklich differenzierende Wiederholung des bisherigen
Argumentationsergebnisses: Der Mensch hat sein Unvermögen kognitiv
und emotional wahrgenommen (gelernet und empfunden), 27, und hat daher
Angst davor, wie er die Gebote erfüllen könne. Eine Parenthese verschärft
begründend (Syntemal) die Angst durch eine komprimiert geäußerte Zu-
satzbedingung, 29, die indirekt die innere Überzeugung des Menschen
wiedergibt, dass er die Gebote halten muss, weil er verdammt würde,
wenn er sie nicht erfüllt. Der wachsende psychische Druck hat an dieser
Stelle seinen Höhepunkt erreicht.
Die Konsequenz zeigt – als Lösung der Spannung – ein psychologisch
deprimierendes Ergebnis: Der Rezipient registriert seine Niederlage (gede-
mütigt und zu nicht worden in seynen augen), 30. Argumentativ ist die Basis für
das Wirken der göttlichen Verheißung (II) gelegt, 30f.:
[Czum neunden,]
Wen nu der mensch auß den gebotten sein unvormgen gelernet und
empfunden hatt,
das yhm nu angst wirt, wie er dem gebott gnug thue,
Syntemal das gebot muß erfullet seyn, oder er muß vordampt seyn,
30 So ist er recht gedemtigt und zu nicht worden ynn seynen augen,
findet nichts yn yhm, damit er mag frum werden.
Ad II: Die göttliche Verheißung beginnt mit der Zuversicht weckenden An-
kündigung, dass Voraussetzung für die Erfüllung der Gebote der Glaube
an Christus sei. Die Aussage erfolgt, eingeführt durch ein Verbum dicendi,
in einer formal ‚selbstständigen‘ Konditionalfügung in der Abfolge B – K,
mit Verb-Erststellung im Koditionalsatz und einem Aufforderungssatz als
Konsequenz, beide durch einen weiterführenden Relativsatz ergänzt,
33-36.
728 Monika Rössing-Hager
_____________
16 Vgl. z.B. die Belege T 7 bis T 10, besonders den Umkehrschluss T 10, mit dem Luther auf
seiner Flucht von der Wartburg nach Wittenberg in einem unerschrockenen Brief seinem
Landesherrn, Friedrich dem Weisen, seine Verzagtheit vorhält und ihn vereindringlichend
zu einer dezidierten Haltung gegenüber dem Kaiser auffordert, 10,01-05.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 729
Dan ßo kumpt das ander wort, Die gottlich vorheyschung und zusa-
gung und spricht
‚wiltu alle gepott erfullen, deyner bßen begirde und sund loß
werden
wie die gebott zwyngen und foddern,
35 Sihe da, glaub in Christum,
in wilchem ich dir zusag alle gnad, gerechtigkeit, frid und frey-
heyt,
glaubstu,
so hastu,
glaubstu nit,
40 so hastu nit.
Den das dir unmuglich ist mit allen wercken der gebott (...),
das wirt dir leycht und kurtz durch den glauben.
Den ich hab kurtzlich yn den glauben gestellet alle ding,
das,
45 wer yhn hat,
sol alle ding haben und selig seyn,
wer yhn nit hatt
soll nichts haben‘.
Conclusio: Es erfolgt eine Synthese der Ausführungen von I und II, in
einem Aussagesatz mit zwei Prädikatgruppen, die durch anaphorisch-
parallele Objektsätze erweitert sind, mit einem anschließenden Finalsatz
im Verheißungston, 49-51:
Alßo geben die zusagung gottis, was die gepott erfoddern,
50 und volnbringen, was die gepott heyssen,
auff das es alles gottis eygen sey, Gepott und erfullung (...).
WA VII, 23.24-24.25
T6
Im nachfolgenden Textbeleg, der in Luthers Lehrschrift Von den guten
Werken gehört, wird der argumentative Duktus verstärkt durch die Ver-
wendung von drei doppelten Konditionalfügungen, eine zur Eröffnung der Aus-
führungen, 05-10, die beiden anderen, unmittelbar aufeinander folgend,
als deren Abschluss, 13-25; 27-39. Bedingt durch ihre rahmende Position und
die damit verbundenen unterschiedlichen Funktionen differieren sie er-
heblich in der gedanklichen und formalen Struktur sowie in ihrem Um-
fang und der sprachlichen Ausgestaltung.
730 Monika Rössing-Hager
got nit einß ist odder tzweiffelt dran, 33. Die konträren, psychisch tiefgreifenden
Folgen sind jeweils auf einer stark expandierten Hauptsatzebene zunächst
generalisierend benannt – 29; 34 – und anschließend in einer Häufung von
Prädikatgruppen, 29-31, bzw. weiteren Aussagesätzen, 34-39, konkreti-
siert. Im zweiten Fall münden sie in dem Fazit, dass alle Handlungen der
Werkfrömmigkeit als Ergebnis die Verzweiflung haben, 37:
26 Alßo
einn Christen mensch,
der in dieser zuvorsicht gegen got lebt,
weiß alle dingk, vormag alle dingk, vormisset sich aller ding, was
zu thun ist,
30 und thuts alles frolich und frey, nit umb vil guter vordinst und
werck zusamlen,
ßondern das yhm (...) daran benuget, das es got gefellet.
Widderumb
der mit got nit einß ist odder tzweiffelt dran,
der hebt an, sucht und sorget,
35 wie er doch wolle gnugthun und mit vil wercken got bewegen.
Er leufft zu sanct Jacob, Rom, Hierusalem (...) und findet doch
nit ruge, und thut das alles mit grosser beschwerung, vortzweyfflung
und unlust seines hertzen (...).
Dartzu seinß nit gute werck und alle verloren. Er sein vil drober
doll worden und vor angst in alle jamer kummen. (...) WA VI
206.08-208.05.
Ein formales Indiz für das eindeutige Ende des zweiten Teils der doppel-
ten Konditionalfügung fehlt. Der Inhalt der zweiten Konsequenz findet
seine Fortsetzung in den Folgesätzen, 36ff. Das gleitende Auslaufen
nimmt der Figur ihre Konturen und entsprechend der Aussage eine gewis-
se Schlagkraft. Stattdessen dominiert das Besonnen-Abwägende mit Blick
auf das im realen Alltagsleben relevante konkrete Detail. Es ist daher im
Hinblick auf den dargelegten Sachverhalt durchaus die angemessene Dar-
stellungsform.
Als Vergleichsgrundlage für die extreme Ausgestaltung der ersten
doppelten Konditionalfügung in T 5, 37-40, sind im Folgenden ergänzend
einige besonders scharf formulierte Belege angeführt: aus Luthers Schrift
Wider die himmlischen Propheten T 7 bis T 9, sowie einer der zahlreichen 18 aus
seinen Briefen, T 10.
_____________
18 Eine kleine Zusammenstellung findet sich in Rössing-Hager (1972, 243, Anm. 1).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 733
T7
Subthematischer Zusammenhang: Zu Beginn des 2. Buches Wider die himmlischen
Propheten verkündet Luther die siegessichere Zuversicht, das begonnene
Werk der Reformation trotz gegnerischer Behinderungsversuche zu voll-
enden. Als Grundlage bekennt er sein rückhaltloses Gottvertrauen.
Intention: Einschüchterung der Gegner, primär Karlstadts und seiner
Anhänger, durch eine unerschrockene Drohgebärde.
Nach vorgeschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung für die folgende
Äußerung, 01, folgt eine doppelte Konditionalfügung, 02-05, als Alterna-
tiv-Indikator. Die zweite Konsequenz, 05, bietet eine Ergebenheitserklä-
rung für den Fall des Irrtums – der jedoch implizit als ausgeschlossen
suggeriert wird. Die knapp geäußerte Alternative signalisiert vielmehr, dass
der Verkünder alles auf eine Karte setzt. Die beiden Folgesätze enthalten
eine erläuternde Bekräftigung, 06f.:
01 Ich habs offt und lengst gesagt:
Ists aus Gott, was ich hab angefangen,
so solls niemant dempffen,
Ists nicht aus Gott,
05 so hallts eyn ander, ich wills freylich nicht erhalten.
Ich kann nichts dran verlieren, denn ich habe nichts drauff ge-
wand.
Das weys ich aber wol, das myrs soll niemand nemen on Gott al-
leyne. WA XVIII 134.01-12
T8
Intention: Entlarvung des Gegners, um ihn unschädlich zu machen. Nach vor-
geschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung der folgenden Äußerung, 01,
folgt eine an mehreren Stellen durch parenthetische Argumente erweiterte
doppelte Konditionalfügung. Der Umkehrschluss dient als Kriterium zur
Beurteilung des Gegners. Der logische Duktus in bündiger Formulierung
schließt suggestiv jeden Widerspruch aus. Die zweite Konsequenz ist po-
lemisches Signal für das unanfechtbar Zutreffende der Aussage. Es zeigt
sich eine Muster-Ähnlichkeit mit T 7:
734 Monika Rössing-Hager
T9
Subthematischer Zusammenhang: sachlich erörternde Ausführung über richtiges
und falsches Lehren.
Eröffnende Behauptung: Vorrang hat die Lehre des Glaubens gegenüber
der Lehre von den guten Werken, 01. Der Umkehrschluss bietet die Be-
weisgrundlage für die vorausgehende (begründende) Behauptung. Die dop-
pelte Konditionalfügung, 02-08, ist chiastisch angeordnet: Zwei Irrelevanz-
bedingungssätze bilden den Rahmen der Konstruktion, 03; 08. Sie
unterstreichen die absolute Nutzlosigkeit der Werke. Die negative erste
Konsequenz steht vor der zugehörigen Bedingung: 04, 05, und die positive
zweite Konsequenz hinter ihrer Bedingung: 07, 06. Hierdurch entsteht eine
verstärkte Spannung zwischen den Alternativ-Aussagen. Es besteht Mus-
ter-Ähnlichkeit mit dem eröffnenden Umkehrschluss in T 6, 05-10. In
beiden Fällen hat die logische Figur Beweisfunktion in einem erörternden
Textteil.
01 Denn es ligt mehr an der lere des glaubens (...) denn an der lere
gutter werck.
Syntemal
ob gleych die werck feylen,
so ist hlffe und rad da, das man sie kann anrichten,
05 wo des glaubens lere fest und reyn bleybt.
Aber wo des glaubens lere enhyndern gesetzt und die werck erfur
zogen werden,
da kann nichts guts, widder rad noch hulffe seyn,
On das die werck eyttel ehre mit sich bringen (...). WA XVIII,
63.21-30
T 10
Thematik und Textsorte: freimütiger Rechtfertigungsbrief Luthers wegen
seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg trotz kurfüstlichen
Verbots.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 735
4. Schlussbemerkung
Es zeigt sich, dass das Strukturmuster der doppelten Konditionalfügung
für die Folgerung aus dem Gegenteil eine außerordentliche Flexibilität hat,
je nach der im Einzelfall intendierten kommunikativen und textkonstituti-
ven Funktion. Entsprechend dem Vorhandensein von Merkmalen der
formalen Ausgestaltung tritt es im Textkontinuum deutlich als eigenstän-
dige Einheit hervor oder bleibt unauffällig. Zwischen beiden Extremen
sind vielfache Übergangsmöglichkeiten, von denen hier nur einige berück-
sichtigt werden konnten.
Je schärfer zugespitzt die Aussage ist, desto eher hebt sich die doppel-
te Konditionalfügung auch formal aus dem Textkontinuum ab. Häufig
bewirkt der Einsatz mit dem finiten Verb in den Konditionalsätzen einen
weitgehenden Gleichlauf der paarweise korrespondierenden, oft sehr kur-
zen Glieder, die sich im Extremfall nur durch die vorhandene bzw. feh-
lende Negation unterscheiden. Je gemäßigter der Ton, desto eher erfolgt
der Einsatz mit einer Konjunktion, wobei die Kontrastierung der beiden
Teilaussagen durch Verwendung derselben Konjunktion und weitere
anaphorische Elemente gestützt werden kann oder durch das Fehlen die-
ser Markierungen die Äußerung den Anschein des eher beiläufig Mitgeteil-
ten hat und hierdurch in der Vermittlung eines besonders relevanten in-
haltlichen Details umso wirksamer sein kann. Die Beobachtungen
verweisen auf Tendenzen. Für jede der genannten Erscheinungen bieten
sich auch Gegenbeispiele. Im Einzelfall spielen Kontextfaktoren zusam-
men, die die Bevorzugung bestimmter Formen begünstigen. Die im Hin-
blick auf die jeweils speziell intendierte kommunikative Wirkung getroffe-
ne (intuitive) Entscheidung bei der Wahl bestimmter Formelemente und
736 Monika Rössing-Hager
Quellen
Eberlin von Günzburg, Johann (1896), Bundesgenossen, Ludwig Enders (Hrsg.), (Aus-
gewählte Schriften I), Halle a. d. S.
[Luther, Martin] (1522), An den Christlichen || Adel deutscher Nation: || von des Christli-
chen || standes besserung: || D. Martinus || Luther. || Durch yhn selbs ge- || mehret
vnd corrigirt. || Vuittemberg, [1520], Mü SB Rar.
Luther, Martin (1520), An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes
Besserung, WA VI 381-469.
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738 Monika Rössing-Hager
cher rechte Licentiate-/ auß dem La | tein ins teutsch transferiert vnd zu0= | sam-gefast/ so
allen den mit schrift | lichen künsten vmbgeen/ nicht | weniger nutz dann not | ist zuowissen,
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Erben, Johannes (1954), Grundzüge einer Syntax der Sprache Luthers, Berlin.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 739
mit, die diese Oberpfälzer Gemeinde singen durfte: von Lichtmess bis
Palmsonntag „Nun bitten wir den heiligen Geist“ und „Sancta Maria,
Mutter reine“, von Ostern bis Pfingsten „Christ ist erstanden“ und „Also
hehr ist dieser Tag“, in der Weihnachtszeit: „Uns ist geboren ein Kind“
(vgl. Greule 1998, 386).
2. Beispiele
2.1. Petruslied
_____________
3 Faksimile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 43).
4 Text nach Faksimile aus einer Klosterneuburger Handschrift (neumiert) des 14. Jh. Faksi-
mile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 29). Die Handschrift bezeugt ausdrücklich den Ge-
sang des Liedes durch das Volk: „…populus succinat Christ…“.
744 Albrecht Greule
_____________
5 Wiedergabe der vermuteten drei Kernstrophen nach Cod. germ. berol. oct. 53, Mitte 15.
Jh., Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Nicolaus in undis, Straßburg. Als Dichter
wird der Mystiker Tauler vermutet (Greule 1992, 65-77).
6 Luthers Bearbeitung erscheint zuerst in den „Erfurter Enchiridien“, Erfurt 1524, hier ohne
Melodie, und im „Geistlichen Gesangbüchlein von Johann Walter“, Wittenberg 1524.
Wiedergabe des Textes in einer Fassung, die dem Abdruck in Becker u.a. (2001, 87) folgt,
die Zeilen aber nach Minimalen Texteinheiten anordnet.
Textgrammatik und historische Textsorten 745
_____________
7 Textwiedergabe nach Bachmann (1886,15).
746 Albrecht Greule
3. Überlieferung
Betrachtet man die Überlieferung von deutschen Kirchenliedern im Über-
blick, dann sind folgende Fakten erkennbar.
1. Die aus althochdeutscher Zeit überlieferten Texte (neben dem Pet-
ruslied ist noch das Georgslied zu erwähnen) bleiben ohne lebendi-
ge Tradition im liturgischen Leben. Diese setzt offenbar erst im 15.
Jahrhundert mit dem Lied „Christ ist erstanden“ (siehe 2.3.) ein. 8
2. Die Textmenge bleibt aber auch in dieser Traditionslinie dürftig.
Dies ändert sich erst in reformatorischer Zeit und zwar zuerst
durch Einflüsse aus Böhmen, wo die Hussiten seit 1465 den volks-
sprachlichen Kirchengesang pflegten (vgl. Greule 2004, 229f.).
3. Die ältesten Texte, auch des althochdeutschen Petrusliedes, sind so
genannte Leisen, weil sie mit der Akklamation „Kyrie-leis“ enden,
was vage Rückschlüsse auf den Anlass für den Volksgesang in einer
ansonsten von Klerikern und Mönchen getragenen lateinischen Li-
turgie zulässt.
4. Die mediale Überlieferung der Texte erfolgte auf unterschiedliche
Arten: Die frühesten sind handschriftlich überliefert; später liegen
die Texte gedruckt vor. Handschriftliche und gedruckte Liedtexte
werden auch einzeln überliefert. So sind die frühesten von Luther
verfassten Lieder als Flugschriften gedruckt und einzeln überliefert.
Meist sind sie aber entweder mit anderen Liedtexten (Liederheften,
Liederbüchern, Gesangbüchern) oder mit Texten anderer Gattun-
gen zusammen überliefert.
5. Im Verlauf der Gebrauchsgeschichte werden die einstrophigen Lie-
der um weitere Strophen erweitert. Teilweise werden mehrstrophige
Lieder um Strophen gekürzt. Die Eingriffe in die Liedtexte und ihre
Strophenstruktur verfolgen meist theologisch bedingte Ziele, teil-
weise geht es dabei aber auch einfach um stilistische Eingriffe. 9
_____________
8 Kaum für den gottesdienstlichen Gebrauch waren die geistlichen Lieder Walthers von der
Vogelweide und die des Mönchs von Salzburg (2. Hälfte 14. Jh.) bestimmt.
9 Vgl. Greule (1992), wo die Entwicklung der Liedzeile „(Christe) qui noctis tenebrae dete-
gis“ des lateinischen Hymnus „Christe qui lux es“ in 17 Übersetzungen durch die Zeit ver-
folgt wird.
Textgrammatik und historische Textsorten 747
4. Kirchenlieder
in der sprachwissenschaftlichen Forschung
Bevor wir zu den Analysen übergehen, möchte ich einige Punkte zu den
Zielen der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Kirchenliedern
festhalten:
1. Die Sprachwissenschaft kann heute dazu beitragen, den Text eines
„alten“ Liedes verständlich zu machen, so dass es in einer volks-
sprachlichen Liturgie, deren Texte von der gesamten Gemeinde
verstanden werden sollen, verwendet werden kann.
2. Die Sprachwissenschaft kann durch ihren historischen Zugriff
sprachgeschichtliche Entwicklungen im Verlauf der Tradition eines
Liedes nachzeichnen und so einen Beitrag insbesondere zur histori-
schen Morphologie, zur Lexik und zur historischen Semantik leis-
ten.
3. Die Sprachwissenschaft kann dazu beitragen, auf den verschiede-
nen Ebenen der Sprachstruktur Liedtexte als sprachliche Kunst-
werke zu erweisen, als welche sie wegen ihrer Verwendung im Got-
tesdienst erwartet werden dürfen (pragmatisches Argument). Ich
werde das an einem Luther-Lied und einer Dichtung Paul Ger-
hardts im Folgenden zeigen.
4. Die Sprachwissenschaft kann einen Liedtext der Sprachkritik unter-
ziehen. Dies wird weniger bei Texten, wie ich sie im Folgenden in
den Vordergrund stellen will, notwendig sein, als vielmehr, wie die
Erfahrung lehrt, beim so genannten Neuen geistlichen Lied der Fall
sein und wird auch von den Liturgiepraktikern von der Sprachwis-
senschaft eingefordert.
Wir stehen seit einiger Zeit vor dem Problem, in der Tradition von Otto
Behaghel eine neue diachrone Syntax der deutschen Sprache zu verfassen,
die aber der verbesserten Quellenerschließung, dem durch lange Diskussi-
onen geschärften Theorie- und Methodenbewusstsein und nicht zuletzt
der Digitalisierung Rechnung tragen soll. Diese Aufgabe ist nicht mehr
durch eine/n Forscher/in allein zu bewältigen. Deshalb hat sich im Juni
2005 eine Forschergruppe zusammengetan, die sich den durchaus nicht
falsch zu verstehenden Namen DiSynDe (Diachrone Syntax Deutsch) gegeben
hat und die sich dieser Aufgabe stellen will (vgl. Schmid 2007, 51ff.).
Die Vorgehensweise der Gruppe zeichnet sich durch folgende Kern-
punkte aus: Das Korpus umfasst nur Texte der Gebrauchsprosa. Ein pro-
748 Albrecht Greule
visorisches Textkorpus, das brauchbare Texte des 11. bis 17. Jahrhunderts
enthält, liegt digitalisiert vor; die Probleme der Annotierung stehen im
Rahmen einer Pilotphase vor der Lösung. Das Gesamtprojekt ist – den
Ebenen der Sprachstruktur entsprechend – nach vier Projektbereichen
gegliedert. Die Textgrammatik, um die es mir in den folgenden Überle-
gungen geht, nimmt in den Planungen der Forschergruppe ebenfalls einen
festen Platz ein.
Vor dem Hintergrund, dass in der Diachronen Syntax Deutsch vorerst
nur Texte der Gebrauchsprosa als Datenbasis dienen und poetische Texte
(was auch immer das genau heißt) ausgeschlossen bleiben, möchte ich
meine Ausführungen als eine Art Korreferat verstanden wissen. Es soll
ausgelotet werden, wie künftig auf der Folie der Analyse von Gebrauchs-
prosa mit dem Texttyp Kirchenlied in einer historischen Grammatik des
Deutschen umgegangen werden kann. Bietet es sich an, sie in eine ergän-
zende diachrone Syntax poetischer Texte aufzunehmen oder soll man
besser eine textsortenspezifische Syntax anpeilen, zumal Kirchenlieder
eher dem Performanzbereich des Gebrauchs als dem der Poetik zugeord-
net werden könnten? Exemplarische Analysen sollen zeigen, wo die Prob-
leme liegen.
Zuvor bleibt noch zu klären: Was sind sakrale bzw. sakralsprachliche
Texte? Es sind Texte, die für den Gebrauch im Gottesdienst als Rede und
Gesang vorgesehen sind und im konkreten Gottesdienst auch gesprochen
oder gesungen werden oder wurden. Der sakrale, liturgische Bereich ist im
Hinblick auf die Klassifikation von Texten ein Zwischenbereich: Er unter-
scheidet sich deutlich vom profanen Bereich, aus dem er durch den Ort
des Gottesdienstes, die Kleidung, die Musik und die Sprache hervorgeho-
ben ist. Dennoch handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um
Gebrauchssprache. Kirchenliedtexte sind demnach sakrale Texte, die im
Gottesdienst durch die Jahrhunderte gesungen wurden und deren
Gebrauch höchstens durch Änderungen der Liturgie selbst intensiviert
oder minimiert wurde.
Auf sakrale Texte, in dem eben definierten Sinn, fanden die Erkennt-
nisse der Textgrammatik bislang kaum Anwendung; das gilt für sakral-
sprachliche Texte der Gegenwart (vgl. Greule 1995, 2000, im Zusammen-
hang mit der Revision des deutschen Messbuchs) genauso wie für
historische Texte. Auf einen Bibeltext habe ich die Methode in der Fest-
schrift für Rolf Bergmann diachron angewandt (vgl. Greule 1997). Des-
halb stelle ich hier die textgrammatische Analyse zweier geistlicher Lieder
als Fallbeispiele vor, ohne sie gleich in das Korsett einer Textgrammatik
zu pressen, sondern vielmehr um die Tauglichkeit für das Textverständnis
insgesamt zu überprüfen.
(MTE 3), das die Satzstrecke der hulffe thu, das wir gnad erlangen (MTE
2) wiederaufnimmt. Kataphorisch (nicht nach links im Text zurück,
sondern nach rechts voraus) verweist das Fragepronomen Wen
(MTE 2), das den Ausdruck du herr alleyne (MTE 3) vorwegnimmt.
Eine Koferenzkette (besser: ein Koreferenzstrang) entsteht aber
nicht auf diese Weise, sondern durch die mehrfache transphrasti-
sche Referenz auf die Sendergruppe WIR mit den Deiktika wir, Uns,
unser, unns (MTE 1, 2, 4, 8) einerseits und den Adressaten GOTT
mit den attribuierten Deiktika du herr alleyne, dich herr, du ewiger gott
(MTE 3, 4, 8) andererseits. Existentiell begründete Kontiguität sehe
ich in der Kette todt – hulffe / gnad – pittern todes nott (MTE 1, 2, 8).
4. Eine Isotopie-Ebene, die durch die Gottesprädikation konstituiert
und durch attributive Adjektive, Prädikate und Substantive ausge-
drückt wird, bilden: hulffe thu, gnad, herr, erzurnet, Heylig, strack, barm-
hertzig, ewig (MTE 2-8). Die von Gerhard Hahn festgestellte „bild-
haft emotionale Eindringlichkeit“ (Hahn 2004, 69) kann auch an
der durch die meisten Prädikate gebildeten Isotopie-Ebene text-
grammatisch nachgewiesen werden: synd…umbfangen (MTE 1) und
versynncken (MTE 8) bilden eine Klammer; reuet (MTE 4), erzurnet hat
(MTE 4) stehen paarig in der selben MTE.
Die Analyse erlaubt es, die Dramaturgie der Strophe zu verdeutlichen.
Rein quantitativ stehen die durch den Koreferenzstrang WIR – DU
GOTT ausgedrückte simulierte Kommunikationssituation und die Isoto-
pie ‚Eigenschaften Gottes‘ im Vordergrund; sie sind die wichtigsten Trä-
ger der Kohärenz. Dass ein Sprecher oder eine Sprechergruppe zu Gott
spricht, ist die Grundkonstellation der Textsorte Gebet. Der Gebets- und
Liedtext setzt damit ein, dass eine Sprechergruppe WIR (die Gottes-
diensteilnehmer, die das Lied singen) die „Erfahrung der bedrohlichen
Situation“ (Hahn 2004, 72) zum Ausdruck bringt (MTE 1 und 8) und
damit im zweiten Schritt GOTT fragend und bittend um Hilfe angeht
(MTE 2, 3 und 8), nachdem sie sich die eigene Schuld eingestanden hat
(MTE 4). Dieser Ablauf wird durch die eingeschobenen prädizierenden
Gottesanrufungen des Subtextes aus der Karfreitagsliturgie (MTE 5-8)
geradezu dramatisch intensiviert. Durch das gewohnte Kyrieleyson
kommt das Gebet ausklingend zur Ruhe.
752 Albrecht Greule
6.1.2. Strophe-Strophe-Kohärenz
Es wäre interessant, auch die von Luther selbst verfassten Strophen 2 und
3 ebenso detailliert zu analysieren wie die Eingangsstrophe. Wesentlich
neue Erkenntnisse zur Textgrammatik wären nicht zu gewinnen. Das
hängt mit der „perfekten Parallelität, in der die beiden ‚neuen‘ Strophen zu
der alten ‚ersten‘ gesetzt sind“ (Franz 2001, 87) zusammen.
Die Kohärenz der Strophen untereinander wird wesentlich durch
Strukturrekurrenz geschaffen. Abgesehen von der durch Rhythmus und
Reimschema vorgegebenen Identität der Strophen wird die Rekurrenz
syntaktischer Strukturen noch gestützt und geschärft durch Repetitionen.
Die MTE 1 in jeder Strophe wird jeweils durch die Präposition Mitten yn
eingeleitet. Die MTE 2 ist jeweils ein Fragesatz, der mit einem
w-Fragewort beginnt. Die MTE 3 ist jeweils die Antwort auf die Frage der
MTE 2, mit nahezu identischer lexikalischer Repetition das / das, du / -tu /
dir herr alleyne; die Inhalte der Prädikate der MTE 3 werden aber über das
Pro-Verb thun (Str. 2, MTE 3) bis zum Schwund des Prädikats immer
schwächer; Str. 3, MTE 3 ist eine Ellipse. Die MTE 5-7 (das Dreimal-
Heilig) sind in allen Strophen identisch. Ausgerechnet der Subtext erweist
sich damit durch seine refrainartige Wiederholung als hoher Kohärenzträ-
ger. Die MTE 8 ist ein nach dem Muster las / laß unns / uns nicht + Infini-
tiv + vom Infinitiv abhängige Präpositionalgruppe gebildeter Satz.
Auf eine außergewöhnliche, die Strophen verbindende, mehrfache
und theologisch begründete Kontiguität hat Gerhard Hahn (2004, 72)
durchaus im Sinne der Textgrammatik schon aufmerksam gemacht. Er
spricht von der „sinntragenden Kette“ leben (Str. 1, MTE1) – tod (Str. 1,
MTE 1; Str. 1 MTE 8; Str. 2, MTE 1) – helle (Str. 2, MTE 1; Str. 2, MTE 8;
Str. 3, MTE 1) – sunde (Str. 3, MTE 1, 4) – glaube (Str. 3, 8). Nur in Strophe
2 wird auch die Isotopie ‚Emotion‘, die wir aus der Analyse von Strophe 1
kennen, mit den Verben yamert (Str. 2, MTE 4) und vertzagen (Str. 2, MTE
8) fortgesetzt und eine Teilkohärenz bewirkt.
Die viel gerühmte Sprachgewalt Luthers lässt sich auch mit den Mitteln
der Textgrammatik zeigen. Abgesehen von einer sprachlichen Glättung
des überkommenen Textes (s.o.) nimmt Luther die Struktur des Liedes
auf und ergänzt sie behutsam nur um das Kyrieleyson. Die Grundstruktur
eines Gebetes, in das die dreimalige Preisung Gottes eingeschoben wird,
bleibt erhalten, oder textgrammatisch ausgedrückt, die simulierte Kom-
munikationssituation wird das sprachliche und inhaltliche Gerüst, nach
Textgrammatik und historische Textsorten 753
dem die beiden anderen Strophen streng geformt werden. Es gelingt Lu-
ther einerseits durch die Parallelismen in den drei Strophen sowie mittels
der Wiederholung des Dreimalheilig und des Kyrieleyson, die gleichsam
Ruhezonen in der emotionalen Dramaturgie des Liedes bilden, die Rezep-
tion des ganzen Liedtextes durch die Singenden zu erleichtern. Anderer-
seits intensiviert er durch ein Geflecht von rasch wechselnden und weit
über den Text der Strophe gespannten Kontiguitäten sowie durch Isoto-
pien die bedrohliche Ausgangssituation von Strophe zu Strophe, ent-
schärft aber durch die in allen Strophen gleich bleibende Isotopie der
Gottesprädikation die bedrohliche Situation wieder. Fassen wir den domi-
nanten Koreferenzstrang WIR – DU GOTT und die dominante Isotopie-
ebene der Gottesprädikation zusammen, dann können wir die kommuni-
kative Funktion des Liedes als Gebet und das Thema als Preis Gottes
bestimmen. Und genau dies fasst Luther in dem Wort Lobsanck, das er als
Überschrift über das Lied setzen lässt, zusammen.
Der gesamte Text ist, rein äußerlich betrachtet, ein aus zehn gleich ge-
bauten, parataktisch aufeinander bezogenen Teiltexten (= Strophen) be-
stehendes Gebilde. Der textgrammatischen Analyse stellt sich nun die
Aufgabe, die grammatische und vor allem die semantische und pragmati-
sche Kohärenz jeder einzelnen Strophe zu ergründen, um danach festzu-
stellen, ob und wie die Strophen im Rahmen des Gesamttextes zusam-
menstimmen. Letztendlich suchen wir nach dem „psychodramatischen“
Programm, das Gerhardt diesem Lied gegeben hat. Wir werden, wenn uns
die Suche gelingt, dann nicht nur das sprachkulturelle Niveau herausstel-
len können, sondern auch erklären können, warum dieses Lied schon
allein auf Grund des Textes den Beter und Sänger im Innersten ergreift
und bewegt.
Der Gesamttext wird durch die lyrische, monologische Kommunika-
tionssituation, die der Dichter durch die Sprache evoziert, zusammen-
gehalten: Ein ICH spricht zu einem DU. Diese beiden kommunikativen
Grundgrößen werden im Verlauf des Textes durch Prädikationen präzi-
siert: (z.B.) „hie steh ich Armer“ oder „Du edles Angesichte“. Die anderen
Grundgrößen der Kommunikation, Ort und Zeit, werden nicht themati-
siert. Der Text ist lokal und temporal offen, was ihn auch offen hält für
verschiedenste Kommunikationssituationen an anderen Orten und zu
anderen Zeiten. Die Prädikationen über das DU sind zahlreich und syn-
_____________
11 Vgl. Text 2.6.
754 Albrecht Greule
taktisch integriert und sie gipfeln in Strophe 8, in der dem DU ein Name
gegeben wird: „O Jesu, liebster Freund“.
Durch die Reduktion einzelner Strophen auf eine dominante Sprach-
handlung des ICH ergeben sich nach meiner Auffassung drei Strophen-
gruppen, und zwar werden die Strophen 1, 2 und 3 durch den Ausdruck
des Entsetzens zusammengehalten. In den Strophen 4 bis 7 besinnt sich
das ICH auf sich selbst und auf seine Schuld; in den Strophen 8, 9 und 10
dominiert der Ausdruck der Hoffnung, in der eigenen Todesnot gerettet
zu werden.
Die einfache, schlichte ICH-DU-Konstellation, die jedem lyrischen
Ausdruck zugrunde liegt und durch die auch die Strophen textgramma-
tisch zusammengehalten werden, wird durch mehrere Isotopiestränge
gleichsam umrankt. Während die Textgrammatik die Kohärenz eines Tex-
tes auf seiner „Oberfläche“ mit Hilfe von Koreferenzketten erfasst (in
unserem Fall ist es die Kette der Deiktika als Ausdruck der ICH-DU-
Konstellation), operiert sie im semantischen Bereich mit so genannten
Isotopien, d.h. Wörtern, die ein und dasselbe semantische Merkmal ent-
halten und sich wie ein Teppich durch einen Text ziehen. Als Beispiel
kann die Prädikation des lyrischen DU, die sich auf die Strophen 2, 4, 5, 7
und 8 beschränkt, dienen.
Auf solche Isotopie-Ebenen oder Isotopiestränge konzentriert sich
die literarische Interpretation von „O Haupt voll Blut und Wunden“ (vgl.
Lehnertz 1983, 761ff.). So durchzieht die ersten drei Strophen die Isotopie
„menschliches körperliches und seelisches Leiden“; sie wird konstituiert
durch die Ausdrücke Blut, Wunden, Schmerz, Hohn, Spott, gebunden, Dornen
Kron, schimpfiret (Str. 1), bespeit, erbleichet, schändlich zugericht (Str. 2), des blassen
Todes Macht, hingerafft (Str. 3). Sie durchzieht – weniger dicht – auch die
folgenden Strophen, wobei die Referenz allmählich vom leidenden DU
zum leidenden ICH übergeht, z.B. erduldet, Last tragen (Str. 4), verachten,
Herze bricht, erblassen, Todesstoß (Str. 6), deinem Leiden, deinem Kreuz (Str. 7),
Todes Schmerzen, erkalte, mein Ende (Str. 8), Tod leiden, am allerbängsten, Ängste,
Angst und Pein (Str. 9), Tod, Kreuzesnoth (Str. 10). Auf diesen wichtigsten
Isotopie-Strang ist antonymisch ein anderer bezogen: gezieret, Ehr und Zier,
edel, Augenlicht, der Roten Lippen Pracht, Leibes Kraft. In beide hinein verwo-
ben ist eine Farben-Isotopie (erbleichet, Licht, Farbe, rot, blass). Ein weiterer
Isotopie-Strang findet sich – sehr dicht – nur in Strophe 5: mein Hüter, mein
Hirte, Quell aller Güter, viel Guts, gelabet, süße Kost, Himmelslust. Die Wortkette
erinnert an einen Locus amoenus; Marlies Lehnertz (1983, 765) sieht darin
Anklänge an die biblische Schilderung des verheißenen Landes.
Ich breche hier in dem Bewusstsein, längst nicht alle Isotopien gefun-
den und expliziert zu haben, aus Platzmangel ab. Das Lied fordert gerade
in diesem Bereich die Forschung noch weiter heraus. Es sollte aber deut-
Textgrammatik und historische Textsorten 755
lich geworden sein, mit welcher Sprachkraft Paul Gerhardt die Isoto-
piestränge gestaltet (vgl. Greule 2008).
7. Schlussfolgerungen
1. Volkssprachliche Kirchenliedtexte sind pragmatisch in den Gottes-
dienstablauf eingebunden und durch ihren Gebrauch determiniert.
2. Volkssprachliche Kirchenliedtexte wurden im Verlauf der Ge-
brauchsgeschichte hinsichtlich Textqualität und Textquantität im-
mer wieder verändert.
3. Die Menge der Texte steigt seit der Reformation überproportional
an und
4. (was nicht vergessen werden darf) die Texte sind melodieabhängig.
5. Hinsichtlich ihrer Produktion befinden sich die Kirchenlieder in
einer für die Sakralsprache typischen Grauzone zwischen hoher
Dichtung und gottesdienstlichen Gebrauchstexten.
Unsere Ausgangsfrage möchte ich daher beim gegenwärtigen Stand der
Forschung kurz und bündig so beantworten: Die Erfassung des Texttyps
Kirchenlied als eine Quellenart für eine diachrone Grammatik des Deut-
schen ist nicht angezeigt. Es bedarf weiterer Forschungen zu einzelnen
Liedern, mit dem Ziel einer spezifischen diachronen Beschreibung des
Texttyps von der graphematischen Ebene bis hinauf zur Textgrammatik.
Die textgrammatische Analyse geistlicher Lieder allein ist freilich ein uner-
setzliches Hilfsmittel, um die sakralsprachliche, ja poetische Qualität die-
ser Texte beurteilen zu können.
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Adamzik (2001, 267, 273 u.ö.) für eine Klasse von Texten, die nach einer Reihe von
Merkmalen spezifiziert werden können und denen eine spezielle kommunikative Routine
zugrunde liegt. Sie sind also „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche
Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situati-
ven), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen)
Merkmalen beschreiben“ (Brinker 2001, 135).
2 Vgl. von Polenz (2000, Bd. 1, 123).
760 Alexander Lasch
_____________
3 Ebd.
4 Zur überregionalen Entwicklung und zum Zusammenhang zwischen Bau- und Feuerord-
nung vgl. Binding (1980, Sp. 1670) und ders. (1993); Junk (1989, Sp. 422f.) und ders. (1983,
Sp. 564). Zur historischen Forschung in Bezug auf Katastrophen in urbanen Lebensräu-
men vgl. vor allem Körner (1999/2000); weiter Jankrift (2003).
5 „Die jeweils unterschiedlichen ökonomischen, soziokulturellen, politischen und schließlich
auch sprachlichen Voraussetzungen führen zu unterschiedlichen kommunikativen Anfor-
derungen und somit zu spezifischen Formen der Kommunikation, die für jede Stadt eine
gesonderte Betrachtung und Untersuchung fordern und selten eine allgemeine Gültigkeit
beanspruchen können“ (Ziegler 2001, 121).
6 Vgl. Greule (2001, 16). Zum Terminus Kanzleisprache: „Der am Texterzeuger orientierte
und erst seit dem 18. Jh. gebräuchliche Terminus Kanzleisprache meint die geschriebene
Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spmhd. und Frnhd. An
den Textsorten orientiert sind die Termini Urkunden- und Geschäftssprache, wobei letzterer
der allgemeinere ist, da in den Kanzleien bzw. im Auftrage der Kanzleien auch Briefe […]
entstanden“ (Bentzinger 2000, Sp. 1665).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 761
die Gefahren im Blick haben, die städtische Siedlungen seit jeher bedroh-
ten. Einer der häufigsten Katastrophen,10 dem Stadtbrand, konnte man –
im Gegensatz zu Überschwemmungen – versuchen vorzubeugen, sie
möglicherweise sogar abwenden.11 Nicht nur den Landesherren, denen die
Bauaufsicht oblag, waren die Faktoren bekannt, die das Feuer begünsti-
gen:12 Holzbau, Schindeldeckung, Viehhaltung in der Stadt und übermäßi-
ge Brennstoffvorräte der Einwohner. So sind es zunächst die landesherrli-
chen Bauordnungen im Anschluss an ältere Rechtssammlungen, in denen
sich präventive Maßnahmen zur Feuervermeidung finden lassen. Als An-
reiz, um bspw. bei der Neueindeckung eines Hauses auf Schilf oder Stroh
zu verzichten, suchten die Landesherren durch ‚Bauerleichterungen‘ be-
reits 1474 und nach der Erhebung zur Residenz 1486 die Dresdner Stadt-
bevölkerung zu massiveren Bauweisen anzuhalten – mit mäßigem Er-
folg.13 Am 15. Juni 1491 brannte, ausgehend von einem Brandherd hinter
der Kreuzkirche, die halbe Stadt nieder: 240 von 470 Häusern, die Kreuz-
kirche, das Pfarrhaus und die Schule waren in wenigen Stunden zerstört.
Herzog Albrecht, von seinem Sohn Georg (1500-1539) vom Ausmaß der
Zerstörung unterrichtet, gab strenge Auflagen für den Wiederaufbau, den
er durch eigene Mittel unterstützte, vor: Gefordert wurden massive Erd-
geschosse, massive Eckhäuser und Ziegeldeckung. Wer nicht in der Lage
war, zu diesen Bedingungen zu bauen, musste sein Baugrundstück verkau-
fen.14 Diese Ordnung von 1492 ist leider ebenso verloren wie eine Ord-
nung von 1521. In diesen Ordnungen, wie auch in einer Ordnung von
1549, dürften allerdings nur die „allernothdürftigsten [feuerpolizeilichen]
Vorkehrungen“ getroffen worden sein.15
Bis 1500 sind die durch den Stadtbrand entstandenen Schäden wieder
beseitigt. 1519 wird das Viertel um die Frauenkirche durch Herzog Georg
(1500-1539) unter Ratsaufsicht gestellt, Kurfürst Moritz (1541-1553) be-
zieht das Viertel in seine Fortifikationspläne mit ein, die am Ende des 16.
Jahrhunderts abgeschlossen sind. Der Bastionärbefestigung muss sich
auch der Rat des rechtselbischen Altendresdens beugen, das 1549 auf
kurfürstlichen Befehl mit Dresden vereinigt wird.16
_____________
10 Vgl. Schott (2003, 6).
11 Vgl. Oberste (2005/2006, 331).
12 Vgl. bereits Richter (1885, 344 u.ö.) sowie Bauer (1911, 13f.).
13 Vgl. ebd.
14 Vgl. Richter (1900, 87f.) sowie in Anlehnung an Richter vgl. auch Oberste (2005/2006,
331f.).
15 Richter (1891, 311). Vgl. dazu etwa die Ordnung aus dem ernestinischen Sachsen: Von
Gotts gnaden Johans Friderich. Zum Zusammenhang von Bau- und Feuerordnung vgl. die Ka-
pitel LXIIII („Bawen“) und LXXXIX („Fewer ordnunge“).
16 Vgl. Blaschke (2005/2006b, 295).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 763
_____________
17 Vgl. Blaschke (2005/2006a, 361).
18 Dieser große Stadtbrand am Ende des 17. Jahrhunderts soll hier nicht im Vordergrund
stehen. Vgl. dazu Blaschke (1999/2000, 157-171).
19 Vgl. Richter (1891, Bd. 1, 303).
20 Ebd.
21 Die hier beschriebenen Feuerordnungen gehören zum Bestand der Sächsischen Landesbib-
liothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB).
764 Alexander Lasch
Nachdeme durch Gottes des Almechtigen gnade vnnd vorleihung / diese Stadt
Dreßden / an Manschafft vnd anderm Volck / auch sonst / in ein zimlich zu-
nehmen gerathen / das die erweitert / Vnd derhalben auch souiel mehr von
n=ten / das allerley gutte Ordenungen darinnen auffgericht / fFrgenohmen /
vorbessert / vnd erhalten werden / das wir demenach von wegen des Fewers
n=ten vnd anderer aufflauff / welche seine Almacht aller gnedigist abwenden
wollte / aus undertheinigisten gehorsam / domit wier dem Durchlauchtigisten
Hochgebornen FFrsten vnnd Herrn Herrn Augusten Hertzogen zu Sachssen [...]
unserm gnedigisten Herren zugethan / vnd trewer wolmeinung / so wir kegen
euch alle vnsere Burgerschafft / gesinnet / folgende Fewer Ordenung stellen
[...].22
Die Erweiterung der Stadt in der Mitte des Jahrhunderts wird durch die
Stadtherren als Begründung dafür angegeben, dass die bisher eher dürfti-
gen feuerpolizeilichen Regelungen in einen eigenständigen Text überführt
werden, der textstrukturell analog zu anderen Ordnungen aufgebaut ist.
Der Text mit einem Umfang von elf Blättern ist in der Dresdner Kanzlei
entstanden, der 1558 Michael Weisse als Stadtschreiber vorsteht.23 Eine
erste überarbeitete Fassung erscheint wohl 1572,24 die 1589 (Stadtschrei-
ber Burkhardt Reich)25 und 1608 noch einmal in revidierter Fassung
(durch Stadtschreiber Caspar Schober) mit je einem Umfang von 15 Blät-
tern gedruckt wird.26 1642 wird eine Feuerordnung mit einem Umfang
von 60 Seiten veröffentlicht (Stadtschreiber Georg Börner),27 die alle vor-
liegenden Fassungen berücksichtigt, allerdings vollständig überarbeitet
und neu ordnet. Diese vollständige Neufassung wird weitestgehend bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts gültig sein. Sie wird erneut 1662 (Stadt-
schreiber Georg Börner) und wohl 1678 gedruckt, 1716 (Stadtschreiber
Hieronymus Gottfried Behrisch) gekürzt herausgegeben28 und in der Mitte
des 18. Jahrhunderts noch einmal erweitert.29
_____________
22 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2.
23 Vgl. Richter (1885, 130f. und für die Liste der Stadtschreiber 380ff.).
24 Die Ordnung von 1589 unterscheidet sich nach Richter nur hinsichtlich der Neueinteilung
der Stadt von der Ordnung von 1572, die die Bestimmungen für einzelne Handwerksberu-
fe und Hausgenossen bereits verfügt hatte, mir jedoch leider nicht vorliegt; vgl. Richter
(1891, Bd. 1, 314).
25 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589.
26 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608. Die mir vorliegende Fassung von 1608 beschreibt
Richter nicht, er nennt dafür eine Fassung von 1604. Es liegt die Vermutung nahe, dass
diese Fassungen identisch sind; vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311).
27 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642.
28 Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung 1716. Die Fas-
sung von 1678 liegt mir nicht vor, Richter wiederum erwähnt die Fassung von 1716 nicht;
vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311).
29 Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden 1751.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 765
Die Entwicklung der Textsorte Feuerordnung für die Stadt Dresden lässt
sich in zwei Phasen beschreiben, die mit der Stadtgeschichte eng verwo-
ben sind, wie besonders an der Feuerordnung von 1589 deutlich wird. Seit
1556 war die Stadt in fünf Viertel eingeteilt, wie es in der Ordnung von
1558 dokumentiert ist.30 Diese Einteilung erwies sich u.a. wegen der star-
ken Neubebauung am Neumarkt und in der Kreuzgasse hinsichtlich der
Häuserzahl in den einzelnen Vierteln als äußerst ungleichmäßig und be-
durfte einer Neugliederung. Per Ratsbeschluss werden am 28. März 1589
die Viertel neu eingeteilt, der Kurfürst erteilt seine Genehmigung am 7.
August31 – die neue Feuerordnung wird bereits am 10. August 1589 ge-
druckt:32
ZVm fFnfften / Demnach die Stadt sind erweitert worden / der Nawstadt hal-
ben / in fFnff Theil geteilet gewesen / vnd dahero grosse unrichtigkeit in Muste-
rungen / Auffwarten / Wachen vnd andern / der vngleichheit halben entstan-
den / das ein Theil vmb viel gr=sse in anzahl der Heuser vnd Wirthe / denn das
andere gewesen / Als ist vor rahtsam geachtet / die Stadt in vier / so viel
mFglich / gleiche Theil zu bringen / Haben derowegen / so sich ein jedes Viertel
anfahen / vnd sich enden / vnd wes sich ein jedes vorhalten sol / hiermit vor-
melden wollen /.33
Die schnelle Entwicklung im 16. Jahrhundert zieht also eine Reihe von
überarbeiteten Textfassungen nach sich, die mit der Ausgabe von 1608
schließlich bald nach dem Abschluss der Fortifikationsarbeiten zunächst
ihren Schlusspunkt erreicht haben. Mit der Ausgabe von 1642 setzt eine
neue Phase ein, die mit dem ersten Text den Status vormoderner instituti-
oneller Texte eindrucksvoll markiert.
Im Folgenden möchte ich die Feuerordnungen des 16. und 17. Jahr-
hunderts geleitet durch die eingangs formulierten Arbeitshypothesen ana-
lysieren.
diesem teil Fewers not fFr fFr fiele / So sol das nachfolgende Andere teil / dem-
selben mit seinem Hausgesinde vnnd Gesellen / vnseumlich zu Hilffe kommen.36
Neben der Vierteilseinteilung und der Benennung von Mitgliedern des
Rates und der Gemeinde, die für jedes der Viertel verantwortlich sind,
werden einzelne Anweisungen gegeben, was bei einem Brand im jeweili-
gen Viertel der Stadt zu tun sei – z.B. eilen dem ersten Viertel im Brandfall
Bürger, Hausgesinde und Gesellen aus dem zweiten Viertel zu Hilfe. Ähn-
liche Regelungen werden für alle Viertel getroffen, das vierte Viertel bildet
jedoch zugleich die Reserve:
Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im Marstalh
hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die Viertels Meis-
ter / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern sollen bis zum
abeleschen / alda wartten.37
Der Feueralarm, mit dem die Hilfsmaßnahmen anlaufen, wird von der
Wache auf dem Turm der Kreuzkirche ausgelöst:
WAnn nun / das Gott gnediglich vorhFtte / an einem ort der Stad ein fewer auf-
fgieng Sol der Hausman auffm Creutz Thorm / so zu teglichen vnd nechtlichen
wache / dohin vor ordenet / auffs erste vnd fFrderlichste einen Glockenschlag
thun / auch alsbalde / so es am tage / eine Rote fewer Fahne / do es aber bey
der nacht / eine Lattern mit einem brennenden Liecht / gegen dem teil / in wel-
chem das fewer ist / heraus stecken oder hengen / hiernach man sich zurichten
habe.38
Die Hilfsmannschaften nutzen die in den Hausgemeinschaften, den Zünf-
ten und an öffentlichen Plätzen, Brunnen oder Röhrkästen vorgehaltenen
Mittel zur Feuerwehr wie lederne Eimer, Schleifen, Bütten und Schutz-
bretter (zur Anstauung des durch die Stadt verlegten Kaitzbaches).39 Dass
diese Regelungen im Katastrophenfall mehr für Verwirrung gesorgt haben
dürften, als dem Feuer gemeinschaftlich Herr zu werden, deutet sich in
den nachfolgenden Revisionen deutlich an. In der Ordnung von 1608 sah
sich der Rat genötigt, die Zünfte z.B. explizit aufzufordern, die ledernen
_____________
36 Ebd., fol. 4v-5r.
37 Ebd., fol. 7r.
38 Ebd., fol. 7v-8r.
39 Anfang des 15. Jahrhunderts wird ein künstlicher Arm des Kaitzbachs durch die Stadt
geleitet, um die Wasserqualität zu verbessern. Außerdem wurden Röhrwasserleitungen an-
gelegt und 1483 ein Röhrmeister angestellt. Das System aus Röhrwasserleitungen wurde im
16. Jahrhundert erweitert und diente ebenfalls der Feuerwehr; vgl. Blaschke (2005/2006c,
184); Schleifen (auf kleinen Rädern lagernde Schlitten) werden – im Gegensatz zu Fuhrwer-
ken – von menschlicher Muskelkraft bewegt und dienen dazu, Wasser zum Brandherd zu
bringen.
768 Alexander Lasch
Eimer, die jede Zunft vorhalten sollte, zum Feuer zu bringen, damit sie
auch gemeinschaftlich genutzt würden:40
1558: HierFber vnd jnn sonderheit / sol auch eine jtzliche Zunfft der Handtwer-
ger / eine anzal Lid derne Eimer / als vngefehrlich Funfftzig oder Secht-
zig / halten vnd haben.
1589: HierFber vnd insonderheit / sol auch eine jetzliche Zunfft der Handwerger
/ eine anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dressig / nach
gr=sse des Handwergs halten vnd haben.
1608: HierFber vnnd in sonderheit / soll auch eine jetzliche Zunfft der Hand-
wercker / ein anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dreissig /
nach gr=sse des Handwercks halten vnd haben. Vnd do Fewer auffgieng / also bald
den halben theil dahin verschaffen.41
Ein weiteres Beispiel betrifft die Anordnung für einen Teil der Lösch-
mannschaft, die in Bereitschaft warten soll – erst 1589 wird expliziert,
worauf:
1558: Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im
Marstalh hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die
Viertels Meister / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern
sollen bis zum abeleschen / alda wartten.
1589: Do aber im selben dritten Theil kein Fewer / so sol dis vierdte Theil auffm Na-
wenmarck zusammen kommen / Doselbst sollen die Viertels Meister zehen Personen
ins Creutz Thor / vnd zehen Personen an das Ziegel Thor vorordenen / die andern sollen
bis zum ableschen vorwarten / wozu sie vorordenet werden m=chten.42
Auch in anderen Bereichen geht der Rat dazu über, den arbeitsteiligen
Prozess der Feuerwehr zu organisieren und zu explizieren, Wissen zu
deklarieren und mögliche Handlungsalternativen anzuzeigen. Dies setzt
natürlich erst einmal voraus, dass man alle Bewohner der Stadt in die Feu-
erwehr einbezieht. Deshalb wird z.B. die Viertelseinteilung präzisiert. Die
ungenaue Angabe von 1558 und 1589 wurde 1608 ergänzt durch die An-
gabe aller Gassen, die sich im jeweiligen Viertel befinden:
DAs Erste Viertel fehet sich an hinter der Creutzkirchen / an Hans Tuchmans
Haus am Eck / vnd endet sich in der Willischen Gaß vnten am Thor / an Peter
Richters Eckhaus.
In dieses Viertel geh=ren: Die halbe Gaß von Hans Tuchmans Haus / an der Prediger heuser,
herfFr nach dem Marck zu: Die Schreibergaß. Die Breitegaß. Die Seegaß. Die Zahnsgaß. Die
_____________
40 Veränderungen gegenüber der vorhergehenden Fassung sind kursiviert.
41 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 3v-4r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 4
und Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v.
42 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 7r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 8v.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 769
Webergaß. Die Scheffelgaß. Die halbe Willischegaß bis an Peter Richters / des Trabanten
Haus.
Vom Rath seind zu diesem Viertel derzeit verordnet: Ernst Harr. vnd Jacob
Kupffer.
Von der Gemeine. Hans Simen. Gottschalk Spracht. Heinrich Deckert.
VNd do in vnsers Gnedigisten Herrn Schloß / oder Gebewden / das Gott gne-
diglich abwende / Fewer auffgieng / sol dis Theil bey jhren Eydspflich-
ten / sampt jhren Gesellen vnd Gesinde zulauffen / vnd trewlich wehren.
Do aber in diesem Virtel Fewersnoth fFrfiel / so sol das nachfolgende Ander
Theil / demselben mit seinem Hausgesinde vnd Gesellen / vnseumlich zu hFlffe
kommen.43
Damit werden die, die zur Hilfe verpflichtet sind, als Einwohner explizit
angesprochen und zur Hilfe verpflichtet – dies war vorher nicht der Fall.
Beginnend mit der Ordnung von 1589 werden einzelne Einwohnergrup-
pen mit unterschiedlichen Aufgaben betraut:
Hierauff sollen alsbalde alle Zimmerleute / Mewrer / Ziegel vnd Schiefferdecker
/ Bader / Schmiede / Schlosser / BFchssenmacher / Schwertfeger / Messer vnd
Kupperschmiede / sie seyen gesessen in welchem Viertel die wollen / sich zu
dem Fewer vorfFgen / vnd bey jhren Eydespflichten / den sie vnserm gne-
digsten Herrn dem ChurfFrsten / vnd vns dem Rath dieser Stadt geschwo-
ren / jhren besten vnd mFglichsten fleis mit leschen fFrwenden /.44
Es wird nicht mehr nur Alarm mit der Hoffnung ausgelöst, dass das Feuer
dann auch gelöscht werden möge, sondern das Zeichen des Alarms wird
als Beginn eines gemeinsamen und zu steuernden Prozesses verstanden, in
dem jeder Einwohner der Stadt seine Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Ar-
beitsteilung, die die Mehrgliedrigkeit des Feuerlöschprozesses und das
Ineinandergreifen der Hilfsmaßnahmen deutlich macht, wird in den nach-
folgenden Jahren noch verfeinert. Dafür möchte ich abschließend ein
Beispiel aus der Feuerordnung von 1642 geben, die spezielle Regelungen
für „Witweyber, die eigene Häuser haben“, vorlegt:45
ZVm Sechßzehenden: Die Witweiber / so eygene Haeuser haben / weß Standes
die auch seyn / sollen aus jhren Haeusern jhre Maegde vnd Diensbothen mit
Wasserkannen vnd andern Gefaessen an den Orten / da die Katzbach auf-
geschwellet / auch bey den Brunnen vnd Roehrkasten / abordnen / vnd jhnen
befehlen / die Wasserbuetten zu fuellen / das Wasser in die Eymer einzu-
schoepffen / vnd zuzutragen / Eines theiles vin denenselben sollen geordnet
_____________
43 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r.
44 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 9v-10r.
45 Da die Ordnung von 1642 vollständig umgestaltet ist, wird auf die Kursivierung zur Her-
vorhebung von Änderungen gegenüber älteren Fassungen verzichtet.
770 Alexander Lasch
werden die gefuellten Eymer vnd Geschirre von einer Hand in die andere zu rei-
chen / damit durch destoweniger Muehe vnd hin vnnd wieder lauffen das Wasser
an die Brandtstat gebracht / vnnd außgegossen werden moege.46
Das Augenmerk soll nicht auf dem Einschub „wer der auch sey“ liegen, son-
dern auf der Ergänzung einer vollständigen Regelung, die gegenüber der
Ordnung von 1589 vorgenommen wurde. Diese neue Einheit wird zwar
durch eine explizite Wiederaufnahme der Feuerlöschgeräte textgramma-
tisch angeschlossen, dennoch ist die Verknüpfung ohne Hintergrundwis-
_____________
46 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 37, Kap. 2 §16.
47 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v.
48 Ebd., fol. 5v-6r.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 771
Mit der Gliederung und Unterteilung der Kapitel in Paragraphen steht ein
effektives Mittel für die Verweisung innerhalb des Textes zur Verfügung,
das die Orientierung innerhalb der Ordnung erleichtert und damit die
Ordnung auch als einen institutionellen Text ausweist. Rechtsbezüglich-
keit54 auf der einen und funktionale Gliederung und Ordnung auf der
anderen Seite, die wohl nicht zuletzt auch durch den Buchdruck befördert
wird, kennzeichnen die städtische Kanzleisprache.
Die Veränderungen auf textgrammatischer und textstruktureller Ebe-
ne sind also nicht zuletzt mit der Entwicklung der Textsorte vor dem
Hintergrund eines Institutionalisierungsprozesses der städtischen Verwal-
tung zu sehen: Feuerordnungen werden von informierenden und hand-
lungsanleitenden, appellativen Texten zu direktiven Texten.
Im Vorwort der Feuerordnung von 1642 wird erstmals nicht nur „Gebot
und Befehl“ expliziert, sondern gleichzeitig die Sanktion angedroht, zu der
der Rat bevollmächtigt ist: Die Bürger der Stadt sind seiner Iurisdiction
unterworfen – hier wird die Legitimität und Befugnis des Rates ausgestellt.
Nicht nur mit der Verwendung lateinischer Terminologie (hier der Do-
mäne des Rechts) wird der Text als Text einer Institution ausgewiesen,
sondern auch mit der Heraushebung des Rates als einer städtischen Insti-
tution erstmals im Titel des Textes.60 Die „vnnachlaessige ernste Strafe“
zielt deswegen z.B. nicht allein auf den Modus ab, sondern auch auf die
zeitliche Dauer der Strafe: Der Text und die darin aufgeführten Regelun-
gen, Anordnungen und Sanktionen werden aus dem Hier-und-Jetzt heraus-
gehoben. Diese Merkmale institutioneller Texte lassen sich nicht plötzlich
und abrupt an einem Textexemplar beobachten, sondern die Übergänge
zwischen den einzelnen Stadien in der Entwicklung der Textsorte sind
fließend. Erst die Feuerordnung von 1642 stellt einen prototypischen
Vertreter der (institutionellen) Textsorte dar, für die erste Phase der Ent-
wicklung (bis 1608) lässt sich daher immer nur von eher mehr oder eher
weniger prototypischen Textbausteinen bzw. ersten Textstrukturen spre-
chen. In diesem Zusammenhang wurde bereits ein Indiz für die Heraus-
_____________
58 Vgl. ebd., Sp. 1609.
59 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2v und FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 4.
60 Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Moser (1985, Sp. 1399).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 775
hebung aus einer konkreten historischen und sozialen Situation und damit
aus der lokalen und temporalen Situationsdeixis auf Außersprachliches des
Hier-und-Jetzt thematisiert: die Explikation der Viertelseinteilung ab 1608.61
Durch die Angabe der Gassen, die in einem Viertel liegen, besteht keine
Veranlassung mehr, den Text immer dann erneut vollständig setzen und
drucken zu lassen, wenn etwa ‚das Eckhaus bei der Kreuzkirche‘ seinen
Besitzer wechselt:
1558: Das Erste Teil sahet sich an / an der Ecken an Doctor Heußlers / seligen
Hause / bey der CreutzKirchen / vnd endet sich an der Scheffelgassen / bey
Doctor Kommerstadts Hause.
1589: DAs Erste Viertel fehet sich an hinder der Creutzkirchen / an Hans J=stels
Hauß am Eck / vnd endet sich in der Willischengaß vnden am Thor / an
Christoff Jeniegens Eckhauß.62
_____________
61 Vgl. Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r.
62 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, Blatt 4v und Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589,
fol. 5v.
63 Ebd., fol. 4v.
776 Alexander Lasch
Das Fuenffte Capitul. Wenn mit Goettlicher Huelffe die entstandene Fe-
werßbrunst gedempfft vnd geleschet / wie es ferner gehalten werden sol.
1. ERstlich: Bey deme / so das Fewer außkommen / sol wegen der verwarlosung
vnd verursachunge / fleissige erkundigung eingezogen / welcher darauff nach
befindung von Vns dem Rathe wuercklich bestraft werden sol [...].64
4. Fazit
An den Dresdner Feuerordnungen, die vor dem Hintergrund der stadtge-
schichtlichen Entwicklung im 16. Jahrhundert glücklicherweise in regel-
mäßigen Abständen in Druck gegeben worden sind, lässt sich die Institu-
tionalisierung einer Textsorte beschreiben, die sich ausgehend von der
bloßen Handlungsanweisung hin zu einem direktiven Text mit der Expli-
kation von Norm und Sanktion entwickelte. Dabei bin ich auf drei Aspek-
te eingegangen, die sich graduell und systematisch nicht streng voneinan-
der scheiden lassen, da sie auf kommunikativer, auf textgrammatischer
und textstruktureller sowie auf der Ebene der Entwicklung einer institu-
tionellen Textsorte aus unterschiedlichen Perspektiven ein Phänomen
beleuchten.
In den Feuerordnungen wird gemeinsames Handeln der Stadtbevölke-
rung in einem Katastrophenfall organisiert, Kommunikation gelenkt und
es werden Aufgaben und Verantwortlichkeiten festgeschrieben. Zur Ent-
wicklung der Textsorte gehört, dass sich diese geplanten Handlungen und
die vorgeschlagenen Aufgabenverteilungen erst bewähren müssen, bevor
sie als deklaratives Wissen in die Texte eingehen und als obligatorischer
Bestandteil der Textsorte aufgefasst werden können. Auf textgrammati-
_____________
64 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 50, Kap. 5 §1.
65 Vgl. etwa: „Man sol auch nach geleschtem Fewer erkundigung einnemen / welche von obgedachten
Handwergern darbei gewesen / v] rettung thun helffen. Vnd do einer oder mehr befunden / welche vorset-
ziglich vnd ohne sonderbare erhebliche entschFldigung dauon blieben / die sollen darumb nach gelegenheit in
straff genommen werden. […]“ (Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 10).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 777
Quellen
Von Gotts gnaden Johans Friderich / Hertzog zu Sachsen / des heiligen R=mischen Reichs Ertz-
marschahl vnd ChurfFrst […] [Anordnung]. 1541, gegeben zu Torgau. Abgedruckt in: Der
durchleuchtigen / hochgebornen FFrsten vnd Herrn / Herrn Johans Friderichen / des Mittlern
/ Herrn Johans Wilhelm / vnd Herrn Johans Friderichen / des JFngern / gebrFdere / Hert-
zogen zu Sachssen […] Pollicey vnd Landtsordenung / zu wolfart vnd bestem / der selben
Landen vnd Vnterthanen / bedacht vnd ausgangen, Gedruckt durch Christian R=dinger, Jena
1556.
_____________
66 Vgl. wieder Ziegler (2001, 121).
67 Lichtenberg (1983, 129).
778 Alexander Lasch
Fewer Ordenung der Stadt Dreßden. Gedruckt zu Dreßden durch Matthes St=ckel, Dresden
1558.
Fewer Ordenung der Stadt Dreßden / vornewert vnd wieder auffgerichtet / Jm Jahr nach Christi
Geburt / M.D.LXXXIX. Gedruckt zu Dreßden / durch Matthes St=ckel, Dresden
1589.
Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden / vernewert vnd wieder auffgerichtet im Jahr nach Christi
Geburt / M.DC.VIII. Gedruckt zu Dreßden / durch Hieronymum SchFtz, Dresden
1608.
FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden. Gedruckt bey Eimel Bergens Sel. Erben, Dresden 1642.
Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung / und denen
hernach von der hohen Landes-Obrigkeit ergangenen Befehlen, so viel allen und jeden BFrgern,
auch Einwohnern sowohl in Neu- als Alt-Dreßden und in den Vor-St(dten zu wissen n=thig.
Gedruckt bey Jacob Harpetern, Dresden 1716.
Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden. Gedruckt bey Johann Wil-
helm Harpetern, Dresden 1751.
Lichtenberg, Georg Christoph (1983), Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher, Frag-
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Syntaktische Präferenzen
als Kommunikationsmaximen
in der Grammatikographie 1500-1700
_____________
2 Vgl. Schneider-Mizony (2003, 229).
3 Wenn die sprachliche Form tatsächlich existiert!
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 783
In die Kodifikation gehen die Varianten ein, die als gut bzw. schön be-
trachtet werden und deren Gebrauch gutgeheißen wird. Die Kodifikation
ist ein Prozess, der die Spuren zahlreicher Eingriffe seitens der Lexikogra-
phen und Grammatiker zeigt. Er läuft darauf hinaus, Variation zu beseiti-
gen und eine einzige Form als die bessere zu privilegieren, denn darin
sieht der Grammatiker seine eigentliche Aufgabe, wie es Schottel am An-
fang seines zweiten Buches in variierender Formulierung nicht müde wird
zu betonen:
(10) [Es wird] […] für nötig und rühmlich geachtet / nemlich die
HauptSprache der Teutschen / so voll rauher wilder Freyheit
gewesen / Kunst- und regelmessig zufassen / und nicht länger
so gar Sprachkunstlos zu lassen.
[Zweck seines Werkes sei] Eine so reumige / reiche / weit aus-
gebreitete und enderlicher Freyheit eingewickelte Sprache zum
KunstStande zubringen / und so viel tausend ordnungslosen
_____________
7 Vgl. Albertus (1895, 120f.).
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 787
(18b)Die anastrophe oder verkehrung der worte stehet bey uns sehr
garstig als: Den sieg die Venus kriegt; für: Die Venus kriegt den
Sieg. Item: Sich selig dieser schätzen mag; für: Dieser mag sich
selig schätzen. Vnnd so ofte dergleichen gefunden wird / ist es
eine gewisse anzeigung / das die worte in den verß gezwungen
und gedrungen sein. (Ebd., 37)
Im Beispiel 18a wirkt die Künstlichkeit der semantischen Argumentation
entlarvend, denn aus dem Kontext heraus dürfte die Rollenverteilung
überhaupt klar sein, je nachdem, ob das Tier ein Lamm oder ein Löwe ist.
Aber gerade die argumentative Gezwungenheit zeigt die beginnende Stig-
matisierung der Verbendstellung im Hauptsatz. Zu diesem Zeitpunkt ist
die Verbstellung schon funktionalisiert.
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 791
ten hab(e)t, gedienet hab(e)t, aber das Verb sein wird auch in so uns dienlich gewe-
sen ausgelassen.
(26) Von den Hülfwörtern ist sattsamlich im andern Buche an seinem
Orte gesaget worden. Allhie ist zuwissen: Daß sie gemeiniglich in
der Rede von ihrem Zeitworte getheihlet / die Beyrede zwischen
gesetzt das Hauptzeitwort aber biß zuletzt gesparet werde: Sol-
ches gibt einen sonderlichen Wollaut / und schleust sich füglich und wol
/ als:
Wir haben euch allezeit / weil ihr euch wol verhalten / treulich
uns gedienet / und keine Mühe / so uns dienlich gewesen /
gesparet /sonderen mit grosser Lebensgefahr / unsere Wolfahrt
embsigst gesuchet / und solches alles in dem Werk selbst ofters
erwiesen / geliebet / weil etc. (Schottel, Teutsche Hauptsprache
(1663), 743)
Er fährt mit einem Kommentar fort, in dem der lateinische Text, der kei-
ne genaue Übersetzung der deutschen Formulierung darstellt, eine beson-
ders interessante Markierung anbietet. Die kondensierte Variante ent-
spricht dem Charakter der deutschen Sprache, wenn man es der Litotes
glauben darf: Sie widerspricht keinesfalls dem Sprachgenius – nec linguae
genius repugnat. Die evaluative Markierung mit Rückgriff auf eine sprachna-
tionale Komponente zeigt den hohen Sprachwert, der jetzt dieser kom-
primierten Ausdrucksweise zukommt:
(27) Die Hülfwörter / so zu einiger vergangenen Zeit gehören / wer-
den in Teutscher Sprache zum oftern ausgelassen / und unter dem
Zeitworte gar wol verstanden. […] Verba auxiliaria, etsi temporis
rationem indicant, saepe tamen omittuntur, nec linguae genius re-
pugnat [...].
Demnach endlich der Unmuth jhre Sinne verdunkelt / und die
dunkele Nacht jhre Aeugelein beschlossen / (verdunkelt hatte /
beschlossen hatte.) (Ebd., 744)
Als letzter Beleg für die hohe Einschätzung dieser sprachlichen Erschei-
nung diene noch die schlichte Formulierung des angesehensten Briefstel-
lers der Zeit, Stielers Sekretariat-Kunst: Ohne begleitenden metasprachli-
chen Diskurs stellt er fest, dass solche Ausdrucksweise sich für den ‚hohen
Stil‘ eigne, das heißt für den förmlichen Stil, den Untergebene Standesper-
sonen gegenüber schreiben sollen, und er präsentiert ein vierzigzeiliges
Briefmodell, in welchem alle Nebensätze afinit realisiert werden:
(28) Das Sechste Kapitel. Von den Dankschreiben.
Ein Exempel in hoher Schreibart kan folgendes seyn:
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 795
4. Zum Schluss
Die Erfassung von Markierungen eröffnet einen Blick auf den sprachtheo-
retischen Kenntnisstand und das Sprachverständnis der Zeit: Die vielfälti-
gen Markierungen zeigen, wie ganz andere als objektive Faktoren für den
Sprachbeschreiber eine Rolle spielen: Häufigkeit, nationaler Charakter,
Stilistisches oder Ästhetisches. Die subjektive Herangehensweise an die
Sprache macht vor Sprachfantasien nicht Halt. Gerade deswegen sind
diese Markierungen als ‚weiche Daten‘ in einer sprachgeschichtstheoreti-
schen Perspektive interessant. Ihre Einzelauswertung für die zwei bespro-
chenen Phänomene aus der Verbsyntax hat gezeigt, wie Sprachwandel und
epilinguistisches Bewusstsein miteinander verwoben sind. Zwei Erkennt-
nisse sollen aus der Untersuchung gezogen werden, einmal zum Zusam-
menhang zwischen Markierungspraxis und Norm und dann zum mögli-
chen Zusammenhang zwischen Markierungspraxis und Systemgeschichte:
1. Zur Beziehung zwischen Markierungen und Normgeschichte: In
der Frühphase der Grammatikographie ist eine gewisse Zurückhal-
796 Odile Schneider-Mizony
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pingen, 113-145.
_____________
10 Vgl. Bergmann (1982, 278).
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 797
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798 Odile Schneider-Mizony
_____________
1 Zur Sprachstufe des Frühneuhochdeutschen vgl. Hartweg / Wegera (2005); Schmidt
(2004).
2 Vgl. das Evangelienbuch des Matthias von Beheim (1343). Eine ausführliche Handschrif-
tenbeschreibung findet sich in Vorbeck-Heyn (2008, 43ff.).
3 Vgl. die Bibel von Johann Mentelin (Straßburg, 1466), vgl.
http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de (Stand: 06.05.2008).
4 Evangelien in so genannten Evangeliaren bilden Textallianzen von Textexemplaren einer
einzigen Textsorte und werden aufgrund ihrer externen Variablenkonstellation und der in-
ternen Merkmale der Makrostrukturen und der syntaktischen und lexikalischen Merkmale
als (Geoffenbarter) Bericht klassifiziert. Im Vergleich dazu ist eine Vollbibel eine Textallianz
aus Textexemplaren unterschiedlicher Textsorten. Zur Typologie religiöser Textsorten,
insbesondere der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht, vgl. Simmler (2000, 676ff.); Simmler
(2004a, 343ff.); Simmler (2004b, 379ff.).
800 Manja Vorbeck-Heyn
_____________
5 Überblicksliteratur zur deutschsprachigen Bibeltradition vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 34).
6 Zum Terminus Makrostruktur vgl. Simmler (1985, 213ff.). Die Definition der Makrostruk-
turen wird aus ebd., 213f. übernommen.
7 Wulf (1991, 385).
8 Ebd.
9 Vgl. Schmid (1892); Berger (1976); Fischer (1985).
10 Wulf (1991, 385). Zum Forschungsstand und zur Abgrenzung der Termini Summarium,
Tituli, Breves und Capitula vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 521ff. ).
11 Es handelt sich um das Evangeliar Zürich, Zentralbibliothek (um 1360), Ms. C 55 und das
Neue Testament Weimar (um 1475), Herzogin Anna Amalia Bibliothek, fol. 10. Ausführliche
Handschriftenbeschreibungen vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 47f. und 79f.).
Syntaktische Strukturen in Summarien 801
tig besteht seine Funktion darin, auf die inhaltlichen Hauptpunkte der Evange-
lienkapitel bzw. auf die ersten Verse eines Evangelienkapitels hinzuweisen.12
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, neben den Anordnungsprinzi-
pien die unterschiedlichen syntaktischen Strukturen sowie die inhaltlichen
Bezüge zwischen den Summarien und den Kapiteln in den Evangelientex-
ten in der Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts zu erfassen und
den derzeitigen Forschungsstand mit differenzierteren Angaben über die
genaue Funktionsbestimmung der die Bibeltradition begleitenden und
ergänzenden Summarien um die Drucktradition des 15. und 16. Jahrhun-
derts zu erweitern.
3. Quellengrundlage
In der Quellengrundlage sind Evangelien mit dem Textgliederungsprinzip
der Summarien aus dem 15. und 16. Jahrhundert in vorlutheranischen
Bibeldrucken (3.1.), in katholischen (3.2.) und Zürcher Bibeldrucken (3.3.)
und in Luther-Drucken (3.4.) zusammengestellt.
_____________
12 Ebd., 590.
13 Bibel von Anton Koberger (Nürnberg, 1483).
14 Erstens die Bibel von Johann Grüninger (Straßburg, 1485), zweitens die Bibel von Johann
Schönsperger (Augsburg, 1487), drittens die Bibel von Johann Schönsperger (Augsburg,
1490).
802 Manja Vorbeck-Heyn
_____________
15 Neues Testament von Peter Quentel (Köln, 1528), vgl. http://www.vdlb.de/ (Stand:
29.09.2008), vgl. Reinitzer (1983, 198). In der ersten Ausgabe des Neuen Testaments in der
Übersetzung des Hieronymus Emser, gedruckt 1527 durch den Dresdner Wolfgang Stö-
ckel, sind keine Summarien enthalten.
16 Bibel von Peter Jordan für Peter Quentel (Mainz, 1534), vgl. Reinitzer (1983, 203ff.)
17 Bibel von Alexander Weißenhorn (Augsburg, 1537).
18 Bibel von Christoffel Froschauer (Zürich, 1531).
Syntaktische Strukturen in Summarien 803
3.4. Luther-Drucke
4. Auswertung
Die Auswertung der Summarien in diesen vier Traditionen erfolgt nach
drei Kriterien. Zunächst werden die Anordnungsprinzipien der Repräsen-
tationstypen untersucht, zweitens werden die syntaktischen Strukturen der
Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele beschrieben
und drittens werden die syntaktischen Strukturen mit den Evangelientex-
ten verglichen, um zu klären, in welcher Beziehung die Summarien zu den
Textteilen der Kapitel in den Evangelien stehen. Dabei wird überprüft, ob
die Textteile aus den Evangelientexten zitiert, paraphrasiert oder frei for-
muliert im Summarium wiedergegeben werden. Die Auswertung dieser
Traditionen hat zu folgenden Ergebnissen geführt:
_____________
19 Bibel von Hans Lufft (Wittenberg, 1541).
20 Bibel von Hans Krafft (Wittenberg, 1572).
21 Reinitzer (1983, 259).
22 Ebd., 261. Bibel von Johann Feyerabend (Frankfurt / Main, 1583). Zwei weitere Luther-
Bibel-Drucke am Ausgang des 16. Jahrhunderts sind hinsichtlich der Textgliederungsstruk-
tur der Summarien noch zu überprüfen: Zum einen handelt es sich um die von Zacharias
Lehmann in Wittenberg gedruckte Bibel (1594), VD 16: B 2822, zum anderen um die von
Christoff Raben in Herborn gedruckte Bibel (1598), VD 16: B 2833.
804 Manja Vorbeck-Heyn
reiht sind: Wy maria von dem // engel gegrFst ward . vnd auƒ vermanung des en=
// gels elizabeth heimsucht . vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie
sein mund er=ffent ward.
Das Beispiel 2 besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die
durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander
abgegrenzt sind. Es können nominale sowie verbale Satzstrukturen nach-
gewiesen werden. Zunächst treten zwei isoliert gebrauchte einfache Sätze
mit nominaler Struktur auf: Von der // vasten vnd versFchung Christi . Vnd von
seiner // lere vnd predig. Daran schließt sich ein selbständig gebrauchter
Adverbialsatz (Modalsatz) an: Vnd wie Jhesus einen besessen // menschen
erlediget ., gefolgt von einem selbständig gebrauchten Adverbialsatz mit
einer Ellipse von wie Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und gereihten
Nuklei: Auch die swiger petri . vnd // vil ander siech gesund machet.
Das Beispiel 3 besteht aus syntaktischen Einheiten, die durch die Rep-
räsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander abgegrenzt
sind. Es liegt ein Gesamtsatz vor, der aus zwei Teilsätzen – Verbalsätzen –
Hauptsätzen besteht: Hie be // schreybt der ewangelist den passion . vnd daz ley
// den cristi . biƒ auff das stuck und einem Verbalsatz – Nebensatz – Attri-
butsatz, von stuck abhängig: als Jhesus pylato // vberantwurt ward.
Ausdrucksseitig ist nur das erste Kapitel von den anderen innerhalb
eines Evangeliums abgrenzbar. Aus syntaktischer Sicht werden die Sätze
in den Summarien verschieden eingeleitet: 1. mit dem Adverb wy / wie, 2.
mit der Präposition von oder 3. durch den Verbalsatz beschreybt der evangelist.
16 Summarien im Lk25 werden mit dem Adverb wy / wie eingeleitet, fünf26
mit der Präposition von und zwei mit dem Verbalsatz beschreybt der
evangelist.27 Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten
Nebensatzes, eines Modalsatzes, und es leitet die Kapitel ein, in denen
etwas über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung
berichtet wird. Die Teilsätze im Summarium verweisen auf den Inhalt des
Kapiteltextes, folgen diesem chronologisch und dienen dem Bibelbenutzer
als Lektürehilfe. Die Präposition von leitet jeweils einen Nominalsatz ein,
der der Überschrift, die ebenfalls in Form eines Nominalsatzes realisiert
wird, folgt.28 Diese Summarien weisen ebenfalls inhaltliche Spezifika auf.
Das achte, 17. und 18. Kapitel beinhalten Gleichnisse, die Jesus an seine
Jünger richtet. Im Vergleich dazu werden die Summarien des 13. und 15.
_____________
25 Kapitel 1, 2, 3, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 20, 21, 24.
26 Kapitel 4, 8, 17, 18, 19.
27 Kapitel 22, 23.
28 Die Annahme einer generellen Ellipse der dritten Person Singular des Vollverbs sein mit
der Inhaltsseite handelt von wird aufgrund der geringen Frequenz des Typus als abwegig ein-
gestuft, obwohl es dafür zwei Belege im Mt und Mk für das jeweils erste Kapitel gibt (Mt
1,1: Bl. 470v, Z. 1a-5a; Mk 1,1: Bl. 485v, Z. 1a-8a).
Syntaktische Strukturen in Summarien 807
Kapitels mit dem Adverb wie eingeleitet, obwohl es sich auch hier um
Gleichnisse handelt, die Jesus spricht. Der Unterschied besteht jedoch
darin, dass hier nicht die Jünger Jesu die Adressaten sind, sondern im 13.
Kapitel Menschen aus dem Volk, die Jesus von den Galiläern berichten,
und im 15. Kapitel sind es die Zöllner, Sünder, Pharisäer und Schriftge-
lehrten. In den Summarien zum vierten und 19. Kapitel handelt es sich
nicht um Gleichnisse. In ihnen tritt Jesus als Subjekt auf. Es wird hier
nicht nur etwas über Jesus berichtet, sondern er ist innerhalb der Hand-
lung Agens. Im vierten Kapitel versucht ihn der Teufel. Die Versuchungs-
geschichte steht am Anfang vom Wirken Jesu. Im 19. Kapitel richtet sich
Jesus an Zachäus. Sein Wort bringt die Entscheidung, er spricht Zachäus
Heil.
Der Verbalsatz beschreybt der evangelist tritt in den Summarien zum 22.
und 23. Kapitel im Lk auf. Beide Kapitel sind der Passionsgeschichte zu-
zuordnen. Der Vergleich mit den anderen drei Evangelien ergibt, dass
auch hier die Summarien, die über den Verbalsatz beschreybt der evangelist
eingeleitet werden, inhaltlich jeweils den Leidensweg Jesu bis zu seiner
Grablegung wiedergeben. Der Verbalsatz markiert die Sonderstellung
dieser Kapitel, die als Einheiten in der Osterliturgie verwendet werden.29
Insgesamt sechsmal ist es in den vier Evangelientexten der Koberger-
Bibel nicht möglich, den Beginn der Summarien einer bereits bekannten
Eingangsformel zuzuordnen. Dabei handelt es sich um die Summarien zu
Mt 7, Mt 28, Lk 16, Joh 1, Joh 10 und Joh 13. Das Summarium vor Lk
16,1 wird nicht mit der Präposition von eingeleitet, obwohl es sich um die
Beschreibung eines Gleichnisses handelt, das Jesus an seine Jünger richtet,
sondern hier wird der Textteil explizit als Gleichnis bezeichnet (Bsp. 4):
(4) t [SZ in R] Das [D = RS] . XVI . Capitel . [C = RS] Ein [E =
RS] [„t […] Ein“ = SchG (2)] // gleychnuƒ von einem
boƒhafftigen mayr . Vnd [V = RS] // wie nyemant zweyen
herren dienen mFg . Vnd [V = RS] // dz mFglicher sey . das
hymel vnd erd zergee . dann // ein buchstab vomm gesetz . Auch
[A = RS] vomm eebruch . // Vnd [V = RS] von dem reychen
mann . vnd dem armen lazaro . (SU vor Lk 16,1: Bl. 504v, Z. 29a-
34a).
_____________
29 Mt: Bl. 482v, Z. 6b-10b; Bl. 483v, Z. 41a-43a; Mk: Bl. 492r, Z. 12b-15b; Bl. 493r, Z. 34a-36a;
Joh: Bl. 519v, Z. 1a-5a.
808 Manja Vorbeck-Heyn
vnd versFchung Christi ., das erste Auftreten Jesu in Galiläa und die Ableh-
nung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,14-30) Vnd von seiner lere // vnd predig .,
Jesus in der Synagoge von Kafarnaum (Lk 4,31-37) Vnd wie Jhesus einen
besessen // menschen erlediget ., die Heilung der Schwiegermutter des Petrus
(Lk 4,38-39) Auch die swiger petri . und die Heilung von Besessenen und
Kranken (Lk 4,40-41) vnd // vil ander siech gesund machet. In diesem Summa-
rium (Bsp. 2) wird der Kapitelinhalt chronologisch wiedergegeben. Es
fehlt aber der Hinweis auf den Textteil, in dem der Aufbruch nach Kafar-
naum (Lk 4,42-44) geschildert wird. Die Sätze des Summariums (Bsp. 2)
werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 12-16):
(12) vnd warde versFchet von dem // tewfel . vnd aƒ nichts in disen
tagen . (Lk 4,2f.: Bl. 496v, Z. 42bf.).
(13) vnd er lert in iren synagogen // vnd ward groƒgemachet von
allen . (Lk 4,15: Bl. 497r, Z. 24af.).
(14) Vnd [V = RS] Jhe // sus [J = RS] strafft in sagend . Erstumm .
[E = RS] vnd geeauƒ von im . vnd do er het auƒgeworffen den
teufel . in die mit // te gieng er auƒ von im . (Lk 4,35: Bl. 497r, Z.
23b-26b).
(15) Er [E = RS] gieng in dz // hauƒ symonis . vnd die schwiger
symonis wz be // griffen mit grossem fieber . vnd sy batten in
vmm // sie . Er [E = RS] stund ob ir . vnd gebot dem fieber .
vnd er // lieƒ sie . zehand stund sie auff vnd dienet in .
(Lk 4,38f.: Bl. 497r, Z. 33b-37b).
(16) alle die do hetten // die siechen mit maniger kranckheyt . die
fFrten sy // zu im . er legt auff die hende allen . vnd machet //
sie gesund . (Lk 4,40f.: Bl. 497r, Z. 38b-41b).
Im Beispiel 15 wird die Schwiegermutter als die des Simon bezeichnet, im
Summarium (Bsp. 2) als die des Petrus. Die unterschiedlichen Attribuie-
rungen ergeben sich aus der Namensgebung (Joh 1,42): „Du bist Simon,
der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels
(Petrus)“,30 sagt Christus zu Petrus, nachdem Andreas, der Bruder, ihn zu
Jesus geführt hat. Im Beispiel 15 wird das Prädikat und das Modaladverbi-
al machet gesund aus dem Evangelientext übernommen, ansonsten handelt
es sich bei den Sätzen des Summariums (Bsp. 2) um freie Formulierungen
des Übersetzers.
Das Summarium zum 22. Kapitel des Lk (Bsp. 3) ordnet das Kapitel
explizit der Passionsgeschichte zu und zwar biß auff das stuck als Jhesus pylato
_____________
30 Die Bibel. Einheitsübersetzung (2003, 1183).
810 Manja Vorbeck-Heyn
vberantwurt ward. Die Auslieferung Jesu an Pilatus ist dem 23. Kapitel zuge-
ordnet.
Die Summarien sind Textteile, die sich jeweils zwischen den Kapitelüber-
schriften und dem in Kapitel gegliederten Evangelientext befinden (Bsp.
1-3). Die Kapitelüberschriften und die sich anschließenden Textteile kön-
nen aufgrund von ausdrucks- und inhaltsseitigen Merkmalen voneinander
unterschieden werden. Die Kapitelüberschriften sind eingliedrige Nomi-
nalsätze, deren Nukleus Capitel explizit auf die Makrostruktur Kapitel hin-
weist und keinen Hinweis auf den folgenden Kapitelinhalt bietet. Mit der
Attribuierung mit einem Zahladjektiv wird auf eine explizite Num-
merierung der Gesamtzahl der Evangelienkapitel hingewiesen. Die von
Wulf eingangs angeführte Definition der Kapiteltituli, bei denen es sich
um Kapitelüberschriften handeln soll, „die in knapper Form den Inhalt
des nachstehenden Text[e]s wiedergeben“,31 erweist sich demnach als zu
ungenau. Zwischen den Kapitelüberschriften und dem folgenden Text-
korpus befinden sich eigene Textteile, die die Initiatorenfunktion des Ka-
pitelbeginns verstärken und dazu dienen, dem jeweiligen Kapitel des
Evangelientextes eine Inhaltsangabe voranzustellen. Zwei Repräsenta-
tionstypen zur Markierung der Makrostruktur Summarium sind in dieser
Texttradition nachweisbar: Der Repräsentationstyp SZ + Ü + SU + Bild
+ In (7z)-Maj + SchG (2, 2z) tritt nur einmal beim ersten Summarium in
den Evangelien auf (Bsp. 1), über den Repräsentationstyp SZ + Ü + SU +
In (3z)-Maj + SchG (2) erfolgt die Markierung der anderen Summarien
(Bsp. 2 und 3).
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten,
es können isoliert gebrauchte einfache Sätze, aber auch Gesamtsätze aus
mindestens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung
der Sätze in den Summarien erfolgt über die Repräsentationstypen P(u) +
Min und P(u) + Maj.
Eine Differenzierung der Summarien ist aufgrund der verschiedenen
Eingangsformeln wie, von und der evangelist beschreybt möglich, quantitativ am
häufigsten tritt die Eingangsformel wie auf (Bsp. 1). Die Eingangsformeln
übernehmen eine syntaktische Funktion und verweisen auf inhaltliche
Spezifika. Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten
Nebensatzes, eines Modalsatzes, und leitet die Kapitel ein, in denen etwas
über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung berichtet
_____________
31 Wulf (1991, 385).
Syntaktische Strukturen in Summarien 811
(17) [Spa] Das Erst Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ [Spa] // [Spa] Uon
Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // vnd wie
der Engel Marie den gruß gepracht / Auch was lob- // gesangk
der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie //
Christum empfangen / Das Magnificat gemacht hat. [Spa] //
ZV [Z = In (3z)] der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war //
eyn priester an stad Abia / mit namen Zachari // as / (Lk 1,5:
Bl. 74v, Z. 7-14).
(18) [Spa] Das IIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Uon der
fasten / vnnd versuchung Christi / wie sich Jhesus // vor den
Judenn verborgenn / wie ein beseßner entledigt / vnnd // wie
er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht
hat. [Spa] // IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes /
kam widder // von dem Jordan / (Lk 4,1: Bl. 83r, Z. 12-18).
Für die Summarien in der katholischen Übersetzung von Hieronymus
Emser kann der Repräsentationstyp Ü + Spa + NoS [♣ Summa. ♣]-ZU-
Spa-SU [kl. SchG] + ZU + In (3z)-Maj nachgewiesen werden. Im Mt, Mk
und Joh ist die Überschrift zusätzlich mit einem ihr unmittelbar vorausge-
henden Evangelistenbild kombiniert, das im Lk mit dem Vorwort 1,1-4
verbunden ist, das heißt, ausdrucksseitig sind im Mt, Mk und Joh nur
jeweils das erste Kapitel von den anderen durch den Holzschnitt abgrenz-
812 Manja Vorbeck-Heyn
Der Beginn des Summariums (Bsp. 18) wird durch den Nominalsatz Sum-
ma. signalisiert, der zusätzlich von zwei Kleeblättern eingerahmt wird. Das
Ende des Summariums wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR markiert.
Das Summarium besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die
durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und Virgel + Min voneinan-
der abgegrenzt werden. Es kommen neben verbalen auch nominale Satz-
strukturen vor.
Der Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus
vier Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz mit zwei gereihten Nuk-
lei: Uon der fasten / vnnd versuchung Christi /, einem Nebensatz – Adverbial-
satz = Modalsatz: wie sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, einem Neben-
satz – Adverbialsatz = Modalsatz: wie ein beseßner entledigt / mit einer Ellipse
des Subjekts Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und einer Ellipse von hat
aufgrund von Nacherwähntheit und einem Nebensatz – Adverbialsatz =
Modalsatz: vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema //
cht hat.
(19) [Spa] Das. XXIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Christus
wirt tzu Pilaten / vnd von dannen fur Herodem // gefurt /
Strafft die weyber / die yhn beweyneten / wirt gecreu= // tzigt
vnd begraben. [Spa] // VNd [V = In (3z)] der gantz hauffe
stund auff / vnd furten ihn // fFr Pilatum (Bl. 114r, Z. 12-17).
Der Beginn des Summariums (Bsp. 19) wird über den eingliedrigen No-
minalsatz Summa. markiert, das Ende über einen P(u) + Spa bis ZR. Es
können verschiedene syntaktische Einheiten durch die Repräsentationsty-
_____________
32 Holzschnitt im Mt: Bl. 1r, Holzschnitt im Mk: Bl. 47r, Holzschnitt im Joh: Bl. 118r.
Syntaktische Strukturen in Summarien 813
pen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel + Maj abgegrenzt werden. Eine
Abgrenzung der Teilsätze erfolgt jedoch nicht in allen Fällen.
Der erste Gesamtsatz (Parataxe) besteht aus zwei Teilsätzen: einem
Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von gefurt aufgrund von Nacherwähnt-
heit: Christus wirt tzu Pilaten / und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellip-
se von Christus wirt aufgrund von Vorerwähntheit: vnd von dannen fur Hero-
dem // gefurt /. Der zweite Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer
Struktur besteht aus vier Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz mit
Ellipse von Christus aufgrund von Vorerwähntheit: Strafft die weyber /, ei-
nem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: die yhn beweyneten /, einem
Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus aufgrund von Vorer-
wähntheit: wirt gecreu= // tzigt und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit El-
lipse von Christus wird aufgrund von Vorerwähntheit: vnd begraben.
Ausdrucksseitig sind die Summarien innerhalb des Lk nicht voneinan-
der abgrenzbar, in den anderen drei Evangelien nur das erste von den
anderen. Aus syntaktischer Sicht werden die Summarien in den Evange-
lien verschieden eingeleitet: Erstens erfolgt die Einleitung zweimal33 mit
dem Adverb wie (Bsp. 20), zweitens 15-mal34 mit der Präposition von (Bsp.
18) oder drittens fehlt siebenmal35 in dieser Bibeltradition eine Eingangs-
formel (Bsp. 19). Mit dem Adverb wie wird ein Modalsatz eingeleitet und
die Präposition von leitet ein präpositionales Satzglied ein, das einen ein-
gliedrigen Nominalsatz konstituiert. In dieser Bibeltradition übernehmen
die Eingangsformeln keine Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika, son-
dern verweisen ausschließlich auf den Inhalt des Kapiteltextes.
(20) [Spa] Das XXIIII. Cap. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Wie die
frawen / den begraben Jesum vergebenlich such= // ten / wie
Petrus tzum grab lieff vnd die tzween bylgram gen // Emaus
giengen / wie Jesus mitten ynder den iungern stund / // vnd wie
er tzu hymmel fuhr. [Spa] // ABer [A = In (3z)] der Sabather
einen kamen sie tzum gra= // be seer frue / (Bl. 115v, Z. 32-Bl.
116r, Z. 2).
Das Summarium zum ersten Kapitel im Lk (Bsp. 17) verweist auf ver-
schiedene Textteile aus dem ersten Kapitel. Die beiden Teilsätze Uon
_____________
33 Kapitel 9, 24.
34 Kapitel 1, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 21, 22.
35 Kapitel 2, 3, 11, 12, 13, 20, 23.
814 Manja Vorbeck-Heyn
Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // beziehen sich auf die Ver-
heißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) und die Geburt des Täufers
(Lk 1,57-80), der Teilsatz vnd wie der Engel Marie den gruß gepracht / auf die
Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38). Auf das Benedictus (Lk 1,68-
79), in dem Zacharias zum einen das Handeln Gottes an seinem Volk
besingt und zum anderen Johannes den Täufer als endzeitlichen Heils-
mittler weissagt, und auf das Magnificat, in dem Maria von den Taten
Gottes berichtet und die Großtaten Gottes an Israel preist, wird im Sum-
marium explizit mit den folgenden Sätzen hingewiesen: Auch was lob- //
gesangk der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie // Christum empfangen
/ Das Magnificat gemacht hat. Die Sätze des Summariums folgen dem Kapi-
telinhalt nicht chronologisch und werden im Evangelientext folgenderma-
ßen wiedergegeben (Bsp. 21-25):
(21) ZV der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war eyn priester an
stad Abia / mit namen Zachari // as / vnnd seyn weyb von den
t=chtern Aaron // deren nam war Elizabeth (Lk 1,5: Bl. 74v,
Z. 12-15).
(22) Elizabeth kam jhr tzeit / das sie geperen solt / vnd // sie gebar
einen son / (Lk 1,57: Bl. 76r, Z. 33f.).
(23) Vnd der // Engel kam tzu yhr hineyn / vnd sprach. Gegrusset
seye= // stu [voll genaden/] der Herr ist mit dir du bist gebene
// deyet vnder den weybern. (Lk 1,28: Bl. 75r, Z. 32-34).
(24) Do sprach Maria. Meyn seel macht groß den Her // ren / vnd
meyn Geyst hat sich gefrewet jn Godt mey= // nem heyland.
(Lk 1,46: Bl. 76r, Z. 15-17).
(25) Vnd seyn vatter Zacharias ward erfFllet von dem // heyligen
geyste / weissaget vnd sprach / Gebenedeyet // sey Gott der
Herr von Jsrael / denn er hat besucht vnd // erl=set sein volck/
(Lk 1,67: Bl. 76v, Z. 16-19).
Die Beispiele 21-25 zeigen, dass es sich bei den Sätzen des Summariums
um freie Formulierungen des Übersetzers handelt.
Das Summarium zum vierten Kapitel (Bsp. 18) bezieht sich auf fol-
gende Textteile: die Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) Uon der fasten / vnnd
versuchung Christi /, die Ablehnung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,16-30) wie
sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, Jesus in der Synagoge von Kafar-
naum (Lk 4,31-37) wie ein beseßner entledigt / und die Heilung der Schwie-
germutter des Petrus (Lk 4,38-39) und von Besessenen und Kranken (Lk
4,40-41) vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht
hat. In diesem Summarium wird der Kapitelinhalt chronologisch wieder-
Syntaktische Strukturen in Summarien 815
gegeben. Es fehlt aber der Hinweis auf die Tetxtteile, in denen das erste
Auftreten in Galiläa (Lk 4,14-15) und der Aufbruch aus Kafarnaum (Lk
4,42-44) geschildert werden. Wie die Beispiele 26-30 zeigen, handelt es
sich bei den Sätzen des Summariums um freie Formulierungen des Über-
setzers:
(26) IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes / kam widder
// von dem Jordan / vnd ward getrieben vom Geyst // jn die
wGste viertzig tag langk / vnd ward versuch // et von dem
tewffell / vnd er aß nichts jn den selbigenn // tagen / vnd da die
selbigen ein ende hatten / hungerthe // jhn. (Lk 4,1f.: Bl. 83r,
Z.16-21).
(27) Vnd // da der teuffel alle versFchung vollendet hatte / weych //
er von yhm / byß auff eyn tzeyth. (Lk 4,13: Bl. 81r, Z. 10-12).
(28) Aber er gieng mitten durch sie hin. (Lk 4,30: Bl. 81v, Z. 33).
(29) Vnnd es war ein mensch in der schule / besessen mit // einem
vnreynen tewffel / […] Er gepeuth mit macht vnd gewalt den
vnreynen // geysten / vnd sie faren auß Vnd es erschall sein
geschrei // in alle orte des vmbligenden landes. (Lk 4,33-37:
Bl. 81v, Z. 37-Bl. 82r, Z. 12).
(30) Aber Jhesus stund auff vnd gieng auß der schulen in // das haws
Simonis / vnd die Schwiger Simonis war mit einem harrten
fieber behafftet / vnd sie bathen jhn // fFr sie / vnd er trat tzu
yhr / vnd gebot dem fieber / vnnd // es verlies sie / vnd bald
stund sie auff / vnd dienete yhn. // [Spa] Vnnd do die Sonne
vndergangen ware / alle die do // krancken hatten von
manicherley seuchten / die brach // ten sie zu yhm / vnd er legt
auff eynen ytzliche die hende / // vnd machet sie gesund (Lk
4,38-40: Bl. 82r, Z. 13-19).
Das Summarium zum 23. Kapitel (Bsp. 19) bezieht sich auf folgende
Textteile: die Auslieferung an Pilatus (Lk 23,1-5) Christus wirt tzu Pilaten /,
die Verspottung durch Herodes (Lk 23,6-12) vnd von dannen fur Herodem //
gefurt /, die Verhandlung vor Pilatus (Lk 23,13-25) Strafft die weyber / die yhn
beweyneten /, die Kreuzigung (Lk 23,26-43) wirt gecreu= // tzigt und das
Begräbnis Jesu (Lk 23,50-56) vnd begraben. Es fehlt der Hinweis auf den
Textteil mit der Schilderung des Todes Jesu (Lk 23,44-49), der Kapitelin-
halt wird chronologisch wiedergegeben. Es handelt sich bei den Sätzen im
Summarium um freie Formulierungen des Übersetzers, wie die Beispiele
aus dem Evangelientext zeigen (Bsp. 31-35):
816 Manja Vorbeck-Heyn
(31) VNd der gantz hauffe stund auff / vnd furten jhn // fFr Pilatum
(Lk 23,1: Bl. 114r, Z. 16).
(32) vnd als er [Pilatus] vernam das // er [Jesus] vnder Herodes
=birkeit geh=ret / vbersand er yhn zu // Herodes / (Lk 23,7:
Bl. 114r, Z. 28-30).
(33) Es volget yhm aber noch eyn grosser hauffe vol= // cks vnnd
weyber / die klagten vnnd beweyneten yhn/ // Jhesus aber
wandt sich vmb zu yhn / Vnd sprach yhr // t=chter von
Hierusalem / weynet nicht vber mich / son= // der weynet vber
euch selbs / vnnd vber ewre kinder. (Lk 23,27f.: Bl. 114v, Z. 35-
Bl. 115r, Z. 3).
(34) vnd als sie kamen an die stedt die do heist Scheddel= // stedt /
Creuzigeten sie yhn do selbs / (Lk 23,23: Bl. 115r, Z. 13f.).
(35) der [Josef] gieng zu Pilato vnd // bat vmb den leib Jhesu / vnd
nam yhn ab / wickelt yhn // in leynwat / vnd legt yhn in ein
gehawen grab / (Lk 23,53: Bl. 115v, Z. 22-24).
In der ersten katholischen Übersetzung der ganzen Bibel aus der Refor-
mationszeit durch den Dominikaner Johann Dietenberger sind die Summ-
arien durch eine kleinere Schriftgröße ausdrucksseitig abgrenzbar, ein
Segmentierungszeichen als hervorhebendes Mittel steht zu Beginn der
Summarien, die Einleitung erfolgt also nicht wie bei Emser durch den
Nominalsatz Summa. In diesem Bibeldruck ist der Repräsentationstyp Ü +
Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + Holzschnitt + BildIn (9z)-Maj für
das jeweils erste Summarium in den Evangelien36 und der Repräsentati-
onstyp Ü + Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + BildIn (5z)-Maj für
die anderen Summarien nachweisbar.37 Ausdrucksseitig ist nur jeweils das
erste Summarium von den anderen abgrenzbar, da bei diesem eine Kom-
bination mit einem Holzschnitt und einer neunzeiligen Bildinitiale vor-
kommt, in den anderen Fällen entfällt der Holzschnitt und das Summari-
um ist mit einer fünfzeiligen Bildinitiale kombiniert.
Hinsichtlich der syntaktischen Strukturen und deren Kennzeichnung,
hinsichtlich der Eingangsformeln, der eigenständigen Formulierungen des
Übersetzers und der inhaltlichen Bezüge der Summarien und der Kapitel-
inhalte sind keine Unterschiede zur Übersetzung des Hieronymus Emser
aus dem Jahre 1528 feststellbar.
_____________
36 Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // s Uon Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johan-
nem gebo= // renn / vnd wie der Engel Marie den grFß gebracht / Auch // was lobge-
sang der Zacharias / des gleichen wie Ma // ria nach dem sie // Christum empfangen /
das Magnificat gemacht hat. // Holzschnitt [Evangelistenbild] // ZV [Z = BildIn (9z)] der
zeit Hero [SchG (2)] // dis / des k=nigs Judee // war einn priester an // statt Abia / mit
namen // Zacharias / (Bl. 473v, Z. 1b-10b).
37 Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // s Von der fastenn vnnd versFchung Christi
/ wie sich Jesus // vor den Juden verborgen / wie ein beseßner entledigt / vnd // wie er
die schwiger Petri sampt andern vilen // gesundt gemacht hat. [Spa] // IEsus [I = BildIn
(5z)] aber vol des heiligen geists / // kam widder vonn dem Jordan / // (Bl. 476r, Z. 37a-
43a).
818 Manja Vorbeck-Heyn
In der katholischen Bibel in der Übersetzung des Johann Eck können für
die Summarien zwei Repräsentationstypen festgestellt werden, zum einen
der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + Holz-
schnitt + ZU + In (14z)-Maj,38 zum anderen der Repräsentationstyp Ü +
Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + In (5z)-Maj.39 Ausdrucksseitig kann in
dieser Texttradition demnach nur das erste Kapitel von den anderen Kapi-
teln aufgrund der Kombination des Summariums mit einem Holzschnitt
und einer 14-zeiligen Schmuckinitiale abgegrenzt werden. Die Summarien
der anderen Kapitel sind mit fünfzeiligen Initialen kombiniert. Ausdrucks-
seitig ist allen Summarien gemeinsam, dass für ihren Druck eine kleinere
Schriftgröße gegenüber den anderen Textteilen gewählt wurde.
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten,
es können isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze aus mindes-
tens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung der Sätze
in den Summarien erfolgt wie in der Übersetzung des Hieronymus Emser
über die Repräsentationstypen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel +
Maj. In dieser Texttradition werden die Summarien quantitativ am häu-
figsten mit der Präposition von eingeleitet,40 ohne dass hierfür inhaltliche
Spezifika festgestellt werden können. In den anderen Summarien fehlt
eine spezifische Einleitungsformel.41 Die Summarien verweisen auf den
Inhalt des Kapiteltextes.
Wie in der Übersetzung Emsers handelt es sich bei den Textteilen der
Summarien um freie Formulierungen des Übersetzers, die aber gegenüber
Emsers Übersetzung eigenständig sind. Es bestehen auch in dieser Tradi-
_____________
38 Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // Von Johannes geburt / vnd wie der Engel //
Mari$ grüeßt / das lobgesang Zacharie / vnd // Marie Magnificat. [Spa] // Holzschnitt
[Evangelistenbild] // ZV [Z = SchmuckIn (14z)] der zeit // Hero= // dis / des // künigs
// Judee // war ein // priester // in der // ordnung // Abia / // mit na= // men Za //
charias // (Bl. 27v, Z. 35b-Bl. 28r, Z. 13a).
39 Zum Beispiel: [Spa] Das VI. Capitel [Spa] // Von außhülsung der (hern / von der dürre
hand / er= // w=lung der Apostel die / feind zG lieben / vnd frid zG // haben / vnd nie-
mants vrtailen soll. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es geschach auf ain after // sabbath / dz er
durchs getraid // gieng / (Bl. 31v, Z. 14a-20a).
40 Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // Von der fasten vnd versGchung Christi /
wie sich Jhe= // sus verbarg / einbesesnen entledigt / vnd die schwi= // ger Petri samt
andern gesund macht. [Spa] // JHESVS [J = In (10z)] aber vol des // hailigen gaists / kam
// wider von dem Jor= // dan: (Bl. 30r, Z. 14b-21b).
41 Zum Beispiel: [Spa] Das II. Capitel. [Spa] // Die welt würdt beschriben / Die junckfraw
gebürt / // die hirten wachen über ihr herdt / Jhesus würdt be= // schnitten / Simeon
vnd Anna weißsagen / vnd das // kindlin Jhesus sitzt in der Sinagog / mitten vnder //
den doctorn. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber zG der zeit / // das ain gebot auß-
gieng von // dem Kaiser Augusto / dz alle // welt beschriben wurde. (Bl. 29r, Z. 8a-17a).
Syntaktische Strukturen in Summarien 819
_____________
42 Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß
vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie
/ Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis
des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= //
charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b).
43 Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger
b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel
auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des
teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalck-
heyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl.
226v, Z. 22b-29b).
44 Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste /
wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / pre-
diget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen be-
kennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse
zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem
Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b).
820 Manja Vorbeck-Heyn
_____________
45 Zum Beispiel: [Spa] Das xviij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Er leert wie man empfig
vnnd verharrlich b(tten sol: ver= // wirfft die Phariseische frommkeyt: die kindlin lasst er
zG jm kommen: berichtet den der jn fraget was er thGn sol das er ins l(= // ben komme /
verheyßt belonung denen die vmb seinent willen // das jr verlierend vnd jm anhangend.
[Spa] // ER [E = In (5z)] sagt jnen aber ein gleychnuß // daruon / (Bl. 231r, Z. 20b-27b).
46 Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß
vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie
/ Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis
des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= //
charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b).
47 Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste /
wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / pre-
diget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen be-
kennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse
zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem
Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b).
48 Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger
b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel
auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des
teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalck-
heyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl.
226v, Z. 22b-29b).
49 Zum Beispiel: [Spa] Das v. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jn disem Capitel werdennd
etliche zeychen beschriben die // Jesus gethon hatt / die berFffung Mathei / der zanck der
// Phariseern wider Christum vnd seine jünger. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber
/ do jnn das // volck überfiel zeh=ren das wort // Gottes / (Bl. 222r, Z. 8a-14a). Beispiel:
[Spa] Das xxij. Capitel. [Spa] // Hie facht der Euangelist das leyden Christi zG beschreyben
/ w(ret biß ins xxiiij. Capitel. [Spa] // ES [E = In (5z)] was aber naach das f(st der SFssen
broten / (Bl. 233v, Z. 15b-19b).
Syntaktische Strukturen in Summarien 821
Der Beginn der Summarien wird in dieser Texttradition nicht durch ein
hervorhebendes Mittel (Initialengebrauch, Segmentierungszeichen) bzw.
durch eine syntaktische Einheit in Form eines Nominalsatzes signalisiert,
für den Textteil der Summarien ist aber eine kleinere Schriftgröße gewählt,
das Ende der Summarien wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR signali-
siert.
Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) besteht aus verschiede-
nen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen Virgel +
Maj und Virgel + Min voneinander abgegrenzt werden. Teilsätze und
Satzgliedteile werden durch Virgel + Min signalisiert, Virgel + Maj mar-
kiert den Beginn eines neuen Gesamtsatzes, insgesamt bilden drei Ge-
samtsätze dieses Summarium. Es kommen verbale als auch nominale Satz-
strukturen vor. Der erste Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer
Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz:
Vorrede dieser Historien /, einem Verbalsatz – Hauptsatz: dem alten Zacharia /
[…] verheisset ein Engel // einen Son / Johannem /, einem Verbalsatz – Ne-
bensatz – Attributsatz: der eine vnfruchtbar Ehe hatte /, einem Verbalsatz –
Hauptsatz: das glaubt er nicht /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse
von er aufgrund von Vorerwähntheit vnd erstummet / und einem Verbalsatz
– Hauptsatz: doch wird Elisabeth schwanger /. Der zweite Gesamtsatz mit
parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem
Verbalsatz – Hauptsatz: Der En= // gel Gabriel verkFndigt der Jungfrauwen
Maria /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Objektsatz: daß sie einen Son /
Jesum Christ / geberen sol / durch die // crafft deß H=hesten /, einem Verbalsatz
– Nebensatz – Attributsatz: dem kein ding vnmFglich /, einem Verbalsatz –
Hauptsatz: darauff gehet sie zu Elisabeth /, einem Verbalsatz – Nebensatz –
Attributsatz: von welcher sie eben dasselbe h== // ret / und einem Verbalsatz –
Hauptsatz mit Ellipse von sie aufgrund von Vorerwähntheit: vnd preiset mit
jrem Lobgesang den HERRN /. Der dritte Gesamtsatz mit parataktisch-
Syntaktische Strukturen in Summarien 823
Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) verweist auf verschiedene
Textteile aus dem ersten Kapitel. Der erste Nominalsatz 1 Vorrede dieser
Historien / bezieht sich auf das Vorwort (Lk 1,1-4), der Textteil zur Ver-
heißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) wird im Summarium durch
die Teilsätze 2 dem alten Zacharia / der eine vnfruchtbar Ehe hatte / 4 verheisset
ein Engel // einen Son / Johannem / 5 das glaubt er nicht / vnd erstummet / 6 doch
wird Elisabeth schwanger / wiedergegeben. Auf die Verheißung der Geburt
Jesu (Lk 1,26-38) wird mit dem Gesamtsatz 7 Der En= // gel Gabriel
verkFndigt der Jungfrauwen Maria / 8 daß sie einen Son / Jesum Christ / geberen sol
/ 9 durch die // crafft deß H=hesten / dem kein ding vnmFglich / verwiesen, auf
den Besuch Marias bei Elisabet (Lk 1,39-56) mit den Teilsätzen 10 darauff
gehet sie zu Elisabeth / von welcher sie eben dasselbe h== // ret / 11 vnd preiset mit
jrem Lobgesang den HERRN / und auf die Geburt des Täufers mit dem
Gesamtsatz 12 Elisabeth gebieret einen Son / vnd leßt jn Johannes // heissen / 13
welches Zacharias schrifftlich bestetigt / fahet damit wider an zu reden / 15 vnd
preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang.
5. Zusammenfassung
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Summarien nicht notwendige,
aber mögliche Textteile innerhalb der Textexemplare der Textsorte (Geof-
fenbarter) Bericht sind. Diese Textgliederungsstruktur tritt bereits in der
vorlutheranischen Bibeltradition auf, in der Reformationszeit zunächst in
katholischen und Zürcher Drucken und erst 1583 in einer korrigierten
Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung.
Die ausdrucksseitig nachweisbaren hervorhebenden Merkmale der
Summarien in der Handschriftentradition sind um die gewonnenen Er-
kenntnisse aus der Drucktradition zu erweitern: Neben einer Rubrumver-
wendung in den Handschriften für die Textteile der Summarien sind in
der Drucktradition kleinere Schriftgrößenwahl, die Platzierung zwischen
den Kapitelüberschriften und den Evangelienkapiteln und die mögliche,
aber nicht notwendige Verwendung eines eingliedrigen Nominalsatzes mit
dem Nukleus Summa. zu nennen.
Inhaltsseitig besteht die Funktion der Summarien in der Drucktradi-
tion des 15. und 16. Jahrhunderts darin, auf die Hauptpunkte der Evange-
lienkapitel hinzuweisen. Neben ihrer Funktion, den Evangelientext inhalt-
lich zu erschließen, kommt ihnen eine Orientierungsfunktion zu, sie die-
nen dem Bibelbenutzer als Lektürehilfe. Bei den Textteilen der
Summarien in den verschiedenen Drucktraditionen des 15. und 16. Jahr-
hunderts handelt es sich ausschließlich um eigene Formulierungen der
Übersetzer.
Syntaktische Strukturen in Summarien 825
Quellen
Literatur
Berger, Samuel (1976), Histoire de la Vulgate pendant les premiers siècles du moyen âge, Nach-
druck der Ausgabe Paris 1893, Hildesheim.
Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testa-
ment (2003), Ökumenischer Text, 4. Aufl., Stuttgart.
826 Manja Vorbeck-Heyn
Abkürzungsverzeichnis
In = Initiale
Joh = Johannesevangelium
Lk = Lukasevangelium
Maj = Majuskel
Mk = Markusevangelium
Mt = Matthäusevangelium
Min = Minuskel
NoS = Nominalsatz
P(u) = Punkt unten
R = Rubrum
RS = Rubrumstrich
SchG = Schriftgröße
Spa = Spatium
SU = Summarium
SZ = Segmentierungszeichen
Ü = Überschrift
z = zeilig
ZU = Zeilenumbruch
/ = Virgel
// = Zeilenende
Zum Ausdruck der kausalen Relation in den
spätmittelalterlichen medizinischen Texten
1. Einleitung
Ende der 90er-Jahre wies Anne Betten (1998) in ihrem Beitrag „Zur Text-
sortenspezifik der Syntax des Frühneuhochdeutschen“ darauf hin, dass die
Syntax der deutschen Fachprosa von der Forschung vernachlässigt wird
und dass – wahrscheinlich auch demzufolge – in den Lehrwerken und
Überblickswerken zum Frühneuhochdeutschen fast ausschließlich Belege
aus kanzleisprachigen Texten oder aus verschiedenen Gattungen der Er-
zählprosa präsentiert werden.
Im letzten Jahrzehnt ist diese Lücke in der Erforschung der frühneu-
hochdeutschen Syntax durch mehrere Analysen gefüllt worden, die zum
großen Teil medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen mittelalterlichen
sowie frühneuzeitlichen Texten gewidmet wurden. In diesem Zusammen-
hang ist z.B. an die Arbeiten von Irmtraud Rösler (1997), Mechthild Ha-
bermann (2001) oder Jörg Riecke (2004) zu erinnern.
Die Untersuchung der Satzstruktur bildet auch einen der Schwerpunk-
te in der Arbeit „Medizinische Fachprosa aus Mähren. Sprache – Struktur
– Edition“ (Vaňková 2004). Als Materialquelle dienten hier fachsprachli-
che Texte, die im 15. Jahrhundert aufgeschrieben worden sind und deren
Handschriften sich in Olmützer Archiven und Bibliotheken befinden. Aus
den Olmützer Texten wurde ein vielfältiges Korpus zusammengestellt, das
insgesamt 233 Folioseiten umfasst und in dem unterschiedliche Textsor-
ten wie Traktat, Rezeptar, Herbar vertreten sind.
830 Lenka Vaňková
ten komplizierte Satzgefüge finden, die nicht selten aus sieben oder acht
Sätzen bestehen (1):
(1) Vnd ist, das das eisen kain schafft nicht hat, so scholt du fragen den, der ge-
schossen ist, wie er gestanden sey, da man in schos, vnd wa er den smerczen
des eysen enpfinden vnd wa er sei oben oder vnden oder derneben, ab du des
selber nicht envust. (OW 178v)
Die Unterschiede im syntaktischen Bau zwischen den einzelnen Textsor-
ten sind auf die unterschiedlichen Funktionen der jeweiligen Textsorte
zurückzuführen. Es wurden aber auch im Rahmen derselben Textsorte
(Traktat) größere Unterschiede festgestellt, die durch die Wirkung mehre-
rer Faktoren verursacht wurden. Unter diesen spielten die Persönlichkeit
des Autors, seine Kenntnisse, seine Motivation, seine stilistische Begabung
und das Bestreben, den Text stilistisch abzusondern, eine wichtige Rolle.
Nicht zu vergessen ist der angestrebte Rezipientenkreis: Das Bemühen,
das Wissen auf für die Adressaten verständliche Art und Weise zu vermit-
teln, war einer der Faktoren, die sich auf die syntaktische Textstruktur
ausgewirkt haben. Auch die territoriale Zugehörigkeit des Textes, bzw.
seiner Vorlage, gehörte zu den Faktoren, die u.a. die Wahl und Distributi-
on von Einleitungsmitteln der einzelnen Nebensätze beeinflusst haben
dürften.
_____________
4 Zu dieser Problematik vgl. Duden (2005, 1096ff.).
832 Lenka Vaňková
3.1. Causa
Die Causa, d.h. die Bezeichnung der Ursachen der jeweiligen Krankheit,
stellt in Traktaten eines der obligatorischen Elemente der Makrostruktur
dar. Sie wird meistens mithilfe einer Präpositionalphrase formuliert, in der
die Präposition von in Verbindung mit den Verben sein, werden, kommen,
geschehen, die fast synonym gebraucht werden, auftaucht. Die Ursache der
Krankheit wurde in Übereinstimmung mit der damals vorherrschenden
Viersäftelehre5 oft in einem gestörten Verhältnis der vier Körpersäfte des
Menschen gesehen. Es werden also als Verursacher der Krankheit Blut,
Cholera, Flegma usw. genannt (2, 3). Daneben findet man – besonders bei
der Darstellung von Ursachen einer Verletzung – nach der Präposition von
oft substantivierte Infinitive (4, 5). Wesentlich seltener erscheinen nach von
Verbalabstrakta (6). Manchmal tritt die Präposition von zusammen mit
wegen auf (7):
(2) Item etwan werden platern am haubt von uil haizzer feicht des leibs oder
von dem grunenten flegma. (OK11v)
(3) Item chumpt dz hauptwee von der colera, dj da rott ist…(OK 54r)
(4) Damma haist ain vnsynnikait, chumpt von põsem essen vnd vbrigem
trinckhen starcks weins oder von haisser kost… (OK 64 r)
(5) Furcula ist das pain, das oben an di achssel stost, vnd prycht offt von schwer
tragen vnd offt von vallen vnd offt von einen starken slag ... (OW 184v)
(6) Ist der wetag in der mitt des haubcz, so ist es von der aufriechung des ma-
gen von den tãmpffen. (OK 54v)
(7) Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz
wegen… (OK 62r)
Nur selten wird die Ursache in Form eines Nebensatzes ausformuliert: Es
geht in diesen Fällen um eine mögliche Ursache, die entweder in Form
eines Bedingungssatzes (8) oder (auch wenn es sich in der Tiefenstruktur
um eine konditionale Beziehung handelt) als ein mit das eingeleiteter In-
_____________
5 Die Viersäftelehre geht davon aus, dass den Körpersäften des Menschen (Blut,
Schleim / Rotz, Gelbe und Schwarze Galle) die alles konstituierenden vier Elemente (Feu-
er, Wasser, Luft und Erde) mit ihren Primärqualitäten (heiß, feucht, kalt und trocken) ent-
sprechen. Für die Gesundheit des Menschen ist die Ausgewogenheit der Säfte notwendig.
Zum Ausdruck der kausalen Relation 833
Eine ähnliche Situation findet man bei der Bezeichnung der Symptome
einer Krankheit. Diese werden oft ganz allgemein formuliert, und zwar
mithilfe einer Präpositionalkonstruktion, in der die Präpositionen zu (czu)
(12), für (fur, vor) (13, 14), wider (wedir, veder) (15), auf (of) sowie das
lateinische contra oder ad vorkommen. Solche Formulierungen sind auch in
den Überschriften anzutreffen (z.B. Contra dolorem dencium, Ad memoriam,
Czu brochen), wo sie eine erste Auskunft über den Indikationsbereich
geben. Dabei wird nur selten vorausgesetzt, dass dem Rezipienten die
einzelnen Bedingungen, unter denen das Medikament oder das Heilver-
_____________
6 Von den Linguisten werden die satzwertigen Präpositionalfügungen meist als Ausdruck der
Neigung zur abstrakten Ausdrucksweise gewertet. Nach Möslein (1974, 181) steht der
Nebensatz der konkreten Widerspiegelung von Geschehen und Zuständen näher als die
nominale Gruppe.
834 Lenka Vaňková
_____________
7 Zum Relativsatz in der Funktion und Bedeutung eines Konditionalsatzes vgl.
Paul / Schröbler / Wiehl / Grosse (1998, 418); Haage (1982, 368). Zu den einzelnen Ty-
pen dieser Sätze vgl. Vaňková (2004c, 210ff.).
Zum Ausdruck der kausalen Relation 835
den Relativum swer bzw. swaz ist häufig im Mhd. vorhanden und ent-
spricht den im Lat. mit si bzw. nisi eingeleiteten Sätzen.8
Als Bestätigung der funktionalen Nähe dieser Relativsätze zu den
Konditionalsätzen ist die Verwendung des Korrelats so im Hauptsatz zu
betrachten (21). Als anderer Beweis kann das Anfügen eines konjunk-
tionalen (bzw. uneingeleiteten) konditionalen Nebensatzes an den Relativ-
satz dienen, wobei sich beide NS auf denselben HS beziehen (22).
(20) Welich man an freude ist an seinem dinge, vor das seynt gut fencheln worcze-
len mit veyne (OKr 216v)
(21) Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz
wegen, so recipe grana iuniperi, tere bene in mortario, postea fiat ad sac-
culum. (OK 62r)
(22) Ver vorerret ist an dem sloffe, ruchet her sye dikke, her wirt sloffende.
(OKr 210r)
Das Spektrum der Signale der Konditionalsätze, durch die Krankheits-
symptome bezeichnet werden, ist in den untersuchten medizinischen Tex-
ten sehr breit und variiert von Text zu Text. Am häufigsten sind ob, so,
wen / wan und die sog. ist-Syntagmen zu verzeichnen (23, 24). Bei der
Wahl der einzelnen Verknüpfungsmittel wirkten sich mehrere Faktoren
aus, unter denen die territoriale Zugehörigkeit des Textes sowie sein stilis-
tisches Niveau nicht zu unterschätzen sind.
(23) Ob ain mensch siech oder amãchtig wãr an dem herczen: Recipe ain han…
(OK 99r)
(24) So du nit lust hast zu essen, so schab dein zung, vnd was du ab schabst, dz
streich auf ain prot. (OK 109v)
_____________
8 Putzer (1979, 207) belegt die Konditionalsätze in Form eines Relativsatzes in dem von ihm
untersuchten Text ‚Erkenntnis der Sünde‘. Sie sind auch in spätmittelalterlichen Rezepten
nachgewiesen (vgl. Ehlert 1990, 264; Mildenberger 1997, 2272f.).
9 Im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ wurden insgesamt 13 Möglichkeiten der Realisierung
der konditionalen Relation verzeichnet, vgl. Vaňková (2004c, 208).
836 Lenka Vaňková
_____________
10 Rösler (1998, 157) weist darauf hin, dass die veränderte Reihenfolge von Bedingung und
Folge bewirkt, dass die Angabe der Bedingung an kommunikativem Gewicht verliert und
eher den Charakter einer Nebenbemerkung hat. Denselben Eindruck – fast einer parenthe-
tischen Ergänzung – erweckt die Einschaltung des uneingeleiteten Konditionalsatzes in
den übergeordneten Satz, die im ‚Olmützer Kompendium‘ und im ‚Kräuterbuch’ zu ver-
zeichnen ist (vgl. Bsp. 31).
Zum Ausdruck der kausalen Relation 837
(34) Ist dan sach dz das pluet her aus get oder aitter, den selben magstu wol hai-
len. Ist dz nichcz her aus get vnd stet also drochen, still vnd faul, so wiß, dz
gar chumerlich zu haillen is, es sy dann mit grosser arbait. (OK 17v)
(35) Wãr aber sach das dz plutspeiben her oben abchãm von dem haubt, so leg
dz pflaster auf dj schlaff ader, ... (OK 87r)
Reale, tatsächliche Gründe werden in den medizinischen Texten viel sel-
tener als potentielle Ursachen genannt. Sie erscheinen oft, wenn auf die
Faktoren hingewiesen wird, die die erfolgreiche Therapie gefährden könn-
ten. Reale Ursachen werden in Form eines mit wann / wenn eingeleiteten
Satzes formuliert. In den untersuchten Texten zeigt sich eine deutliche
regionale / dialektale Distribution der Formen wenne / wen / ven und wan-
ne / wan. Die Form mit -e ist in den Texten belegt, welche eine omd. Prä-
gung aufweisen; wann dominiert dagegen in Texten, die den Einfluss des
obd. Sprachraums nicht verleugnen können.
In den untersuchten Texten überwiegt in den mit wann / wenn eingelei-
teten Sätzen noch die Drittstellung des finiten Verbs, was als Hinweis
darauf aufgefasst werden könnte, dass es um Sätze von kausaler Bedeu-
tung geht, die zu dem Satz, dessen Inhalt sie begründen, in einem paratak-
tischen Verhältnis stehen (36).11 (Wann / wenn würde also dem nhd. denn
entsprechen).12 Parallel zu den Sätzen mit der Drittstellung des finiten
Verbs finden sich aber im untersuchten Korpus auch Kausalsätze mit
wann / wenn, die die Endstellung des finiten Verbs aufweisen (37, 38). Es
sind auch solche Satzstrukturen zu belegen, in denen wann / wenn parallel
sub- und koordinierend auftritt (39). Diese Fälle zeugen davon, dass sich
auch im Bereich des kausalen Verhältnisses die hypotaktische Struktur –
wahrscheinlich auch unter dem Einfluss der allgemein zunehmenden Hy-
potaxe – stärker durchzusetzen begann.
(36) …dy schal eppe vormiden, wan an das kindes libe werden vnreyne bloteren,
vele vnd sweren. (OKr 214r)
(37) Is schadet auch den frawen,[…] wen sy do won dy kinder czu wnczeyt gewy-
nen. (OKr 215v)
(38) Doch tribs nit zu lang, wann sõlichs pãen geren swach macht. (OK 140r)
_____________
11 Das kausale wann / wenn (mhd. wan(e) / wand / want) hatte im Deutschen ursprünglich
beiordnende Funktion. Im Mhd. kann es sowohl sub- als auch koordinierend gebraucht
werden, vgl. Arndt (1959).
12 Nach Arndt (1959, 415) beginnt der Prozess des ‚Absterbens‘ des begründenden ‚wann‘ in
der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In der Zeitspanne zwischen 1400 und 1550 geht
kausales wann / wenn unter und wird im Laufe des 15. Jahrhunderts im Kausalbereich durch
dann / denn und weil verdrängt.
838 Lenka Vaňková
(39) Sy ist czweyerley: dy grosse, wen zy gruze worczeln hot; dy mynner, wen sy
subirt den frawen, dy do kinder haben. (OKr 226r)
Kausale Nebensätze mit einer anderen Einleitung als wann / wenn sind nur
selten belegt. Als ihre Einleitung erscheint die Konjunktion darum das (40).
(40) …seyn begiren czv frawen ist klain, vnd mag auch nicht vil, darvm das er
truken vnd feucht ist. (OW 143v)
Das Fehlen anderer Mittel zum Ausdruck der kausalen Relation wie
dann / denn und dieweil / weil, die jedoch vor dem 15. Jahrhundert kaum
kausal vorkommen, zeugt davon, dass die Entstehungszeit der vorliegen-
den Texte am Anfang des Frnhd. zu suchen ist.
4. Fazit
Die Kausalität spielt in mittelalterlichen medizinischen Texten eine be-
sondere Rolle: Es mussten die Ursachen für eine Krankheit genannt wer-
den, es mussten alle Umstände beschrieben werden, unter welchen das
jeweilige Medikament zu verabreichen war, es mussten Warnungen vor
negativen Einflüssen formuliert werden, die die Genesung beeinträchtigen
könnten. Dabei ging es nicht nur um die Bezeichnung der unmittelbaren
Gründe, sondern um die Darstellung aller möglichen, potenziellen Ursa-
chen. Der vorliegende Beitrag zielte darauf ab, anhand des ‚Olmützer
medizinischen Korpus‘ die syntaktischen Möglichkeiten des Frühneu-
hochdeutschen zur Bezeichnung der kausalen Relation darzustellen, wobei
keine statistische Auswertung der tatsächlichen Nutzung angestrebt wur-
de. Es hat sich gezeigt, dass neben Nebensätzen auch bestimmte Präpo-
sitionalphrasen zum Ausdruck der Ursache-Wirkung-Relation dienten.
Ihre Verwendung beschränkte sich jedoch nur auf bestimmte Bereiche,
wie Formulierung der Ursachen der Krankheit und Beschreibung der
Symptome, bzw. Bedingungen für die Indikation eines Medikaments.
In diesen Fällen setzte man voraus, dass den Fachleuten (bzw. den
fachkundigen Laien) die gegebenen Zusammenhänge bekannt waren und
dass nicht alle Bezüge explizit genannt werden mussten. Die Präpositio-
nalphrasen stellen somit eine Art Verallgemeinerung dar, die auf früherem
Wissen basierte.
Bei der Formulierung der Heilbedingungen verwendeten die Autoren
der medizinischen Texte ausschließlich Nebensätze. Der Gebrauch von
Nebensätzen ermöglichte es nämlich, den prozessualen Charakter der
Behandlung zu vermitteln und erlaubte es auch zusätzliche, für die Hei-
lung wichtige Informationen beizufügen.
Zum Ausdruck der kausalen Relation 839
Quellen
OCh = „Olmützer Chirurgie“, in: Kodex CO 352, Zweigstelle des Troppauer Landes-
archivs, Olmütz, 192r-197r.
OK = „Olmützer medizinisches Kompendium“, in: Olmützer Arzneibuch, MI 204,
Wissenschaftliche Staatsbibliothek, Olmütz.
OKr = „Olmützer Kräuterbuch“, in: Kodex CO 352, Zweigstelle des Troppauer
Landesarchivs, Olmütz, 208r-226v.
OlB = „Olmützer Öl-, Salben-, Pulver- und Pflasterbuch“, in: Kodex CO 352, Zweig-
stelle des Troppauer Landesarchivs, Olmütz, 131r-133v.
OW = „Olmützer Wundarznei“, in: Kodex CO 352, Zweigstelle des Troppauer Lan-
desarchivs, Olmütz, 143r-191v.
Literatur
Arndt, Erwin (1959), „Das Aufkommen des begründenden weil“, in: Beiträge zur Ge-
schichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB), 81 / 1959, 388-415.
Betten, Anne (1998), „Zur Textsortenspezifik der Syntax im Frühneuhochdeutschen.
Anmerkungen zu ihrer Berücksichtigung in neueren Standardwerken und Skizze
einiger Forschungsdesiderata“, in: John Ole Askedal (Hrsg.), Historische germanische
und deutsche Syntax. Akten des internationalen Symposiums anläßlich des 100. Geburtstages
von Ingerid Dahl, Oslo, 27. 9.-1.10. 1995, Frankfurt a. M., 287-295.
Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch (2005), 7., völlig neu bearb. u.
erw. Aufl., (Duden 4), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich.
Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Hans-Joachim / Wegera, Klaus-
Peter (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen.
Ehlert, Trude (1990), „‚Nemet ein junges Hun, ertränktes mit Essig‘. Zur Syntax
spätmittelalterlicher Kochbücher“, in: Irmgard Bitsch / Trude Ehlert / Xenja
von Ertzdorff (Hrsg.), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Vorträge eines in-
terdisziplinären Symposions vom 10.-13. Juni 1987 an der Justus-Liebig-Universität Gießen,
Sigmaringen, 261-276.
Haage, Bernhard Dietrich (1982), „Zum hypothetischen Rezepteingang im Arznei-
buch des Erhart Hesel“, in: Gundolf Keil (Hrsg.), Fachprosa-Studien. Beiträge zur
mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, Berlin, 363-370.
Habermann, Mechthild (2001), Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-
medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, (Studia
Linguistica Germanica 61), Berlin, New York.
Keil, Gundolf (1961), Die ‚Cirurgia‘ Peters von Ulm. Untersuchungen zu einem Denkmal
altdeutscher Fachprosa mit kritischer Ausgabe des Textes. Ulm a.d. Donau.
840 Lenka Vaňková
1. Einleitung
Das Textcorpus der vorliegenden Untersuchung bilden zwei Landtagsak-
ten, die im Staatsarchiv von Slowenien1 aufbewahrt werden. Es handelt
sich zum einen um die vom 7. August 1515 in Wien datierte Instruktion
Kaiser Maximilians des I. an den Freisinger Bischof Philipp und andere
kaiserliche Kommissare der Krainer Landstände und zum anderen um
deren Antwortschreiben, das am 24. August 1515 auf dem in Ljubljana
gehaltenen Landtag dem Kaiser übermittelt wurde.
Die Landstände für Krain rekrutierten sich zunächst aus dem Land-
adel, Mitte des 15. Jahrhunderts fanden noch die Prälaten Aufnahme und
Ende des 15. / Anfang des 16. Jahrhunderts schließlich noch die landes-
fürstlichen Städte. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts wurden die Landstän-
de vom Landesfürsten auf den sog. Landtagen einberufen, wo sie ihr Mit-
spracherecht bei der Festlegung von Landessteuern geltend machen
konnten. Die Vertreter des Landesfürsten überbrachten den Landständen
seine Steuerforderungen. Sie mussten sie zwar mehr oder weniger bewilli-
gen, konnten aber für ihre Zustimmung auch eigene Forderungen heraus-
handeln.2 Das ist auch den besagten Quellen zu entnehmen.
In der vorliegenden Instruktion Kaiser Maximilians geht es vor allem
um die Niederschlagung des sog. slowenischen Bauernaufstandes (Windi-
_____________
1 Signatur: AS, Stan. I, 315 (fasc. 211), rote Registratur 67, 68 und 69.
2 Zum historischen Abriss der Stände vgl. Kološa (1999, 314f.).
842 Marija Javor Briški
scher Bauernbund)3 von 1515, der insbesondere durch die schlechte wirt-
schaftliche Lage, die steigenden Robotleistungen und Abgaben der Bauern
an ihre Grundherren ausgelöst wurde, und die Bestrafung aller, die an der
Rebellion beteiligt waren. Es wurden Geldstrafen verhängt, die Rädelsfüh-
rer des Aufstandes sollten aber unverzüglich hingerichtet werden. Ein
nicht geringeres Anliegen des Kaisers war die Bewilligung außerordentli-
cher Steuern. Das veranschlagte straff und hilfgelt wollte er, wie in der In-
struktion formuliert wird, zu unserm und unser land und leut gemainen nutz
gebrauchen. Darunter verstand er die Unterdrückung ‚bäuerlichen Unge-
horsams‘, die Sicherung der Grenzen gegen die Venetianer, die Eroberung
Friauls und die Verteidigung gegen die Türken. Im Bewusstsein der Ge-
fahr, welche Konsequenzen seine Abwesenheit im Land nach sich ziehen
könnte, wenn den Anliegen der Bauern und den Beschwerden des Adels
gegen ihre Untertanen kein Gehör geschenkt wird – zumal er sich für sein
spätes Eingreifen im Bauernaufstand entschuldigt hatte –, ermächtigte er
den Kardinal von Gurk an seiner Statt unverzüglich Abhilfe zu schaffen.
Im Antwortschreiben bewilligen die Landstände nach anfänglichen
Höflichkeitsbekundungen zwar im Großen und Ganzen die kaiserlichen
Forderungen und Direktiven, sie danken ihm für seine Hilfeleistungen,
erwarten aber auch gewisse Zugeständnisse des Kaisers. Sie befürworten
einspruchslos die Hinrichtung der Anführer des Aufstandes, bei den
Geldforderungen wollen sie jedoch die Höhe der Beträge und ihre Bedin-
gungen aushandeln. So sollen beispielsweise die Truppen, falls es bei der
Eintreibung der Gelder zu Widerständen kommen sollte, von einem Teil
der Einnahmen besoldet werden. Schließlich bringen auch die Landstände
ihre Bitten vor: Sie fordern eine harte Bestrafung der aufrührerischen
Bauern, die durch Plünderung und Verwüstung von Schlössern, Ermor-
dung von Adligen und andere schwere Delikte große Schuld auf sich gela-
den haben, die Entschädigung eines gewissen Juryschitsch, dem ihm von
einem Adligen anvertraute Schätze geraubt wurden, die Beschlagnahmung
aller Waffen in den Händen von Bauern und die Instandsetzung der
Fluchtburgen, wo die bäuerliche Bevölkerung bei den Türkeneinfällen
Schutz und Zuflucht suchte. Soviel zur inhaltlichen Information über die
Texte.
Zur Sprache der kaiserlichen Kanzlei gibt es schon einige Studien,4 die
sich vor allem mit der Graphematik befassen. Die folgende Untersuchung
soll dagegen einige syntaktische Aspekte beleuchten. Sie fokussiert auf die
Typen der Nebensätze, die nach semantischem, formalem und satzfunk-
tionalem Aspekt betrachtet werden, die satzäquivalenten Infinitivkon-
_____________
3 Vgl. Štih / Simoniti / Vodopivec (2008, 133).
4 Wie z.B. Moser (1977) und Tennant (1985).
Instruktion Kaiser Maximilians I. 843
_____________
5 Verbič (1980, 151ff. u. 156ff).
6 Vgl. ebd., XIX.
7 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 29).
8 NS bedeutet Nebensatz, die nachfolgenden arabischen Ziffern kennzeichnen den Grad der
Abhängigkeit, die Kleinbuchstaben die Nummerierung der Nebensätze gleichen Grades
und das e markiert einen eingebetteten Nebensatz. Das R weist auf die Weiterführung eines
unterbrochenen Satzes hin. Inf. ist die Abkürzung für Infinitivkonstruktion und HS für
Hauptsatz. Die römischen Ziffern kennzeichnen die verschiedenen Hauptsätze in einer
Satzperiode.
844 Marija Javor Briški
Der zitierte Text bildet eine Satzperiode, wobei die vor dem Punkt ste-
henden ‚Elementarsätze‘9 Nebensätze bzw. satzwertige Infinitivkonstruk-
tionen verschiedenen Grades darstellen, in die zum Teil abhängige Ne-
bensätze eingebettet sind, der erste Hauptsatz steht dagegen erst nach
dem Punkt. Die Satzzeichen wurden also in der Analyse, wenn notwendig,
revidiert.
Nicht eingeleitete Sätze treten nur selten auf, als Beispiel sei genannt:
(3) ... solcher fürsorg ..., √11 die sachen weren p[o]sser und ungestiemmer, auch
villeicht unsern landtleuten zuswer worden. (S. 152)
_____________
9 Zum Begriff vgl. Admoni (1990, 4f.).
10 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 419f.).
11 Das Zeichen √ markiert eine Auslassung.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 845
(37) ... und welh des rechtn uberhabn mit den mug unser genadigister herr der
cardinal von Gurk oder seiner furstlich gnaden verordent componiern nach
gutbedunkn, ... (S. 157)
Als Einleitungselemente von Konditionalsätzen findet man ob (4), wo (3)
und wan (2):
(38) ... das ir kay. mt. in dem gsloss Laybach ain zeughaus aufzerichtn verorden,
und das mit veldgeschutz, harnasch, helbmpartn und ander weer fursehn tue,
ob sich ainigerlay aufrur im land erhebn, sich damit in gegenwer zuschigkhn.
(S. 158)
(39) Wo aber der angezaygtn ausgab in der bestimbtn zeyt aine erstund, so bittn
ain landschaft ... (S. 157)
(40) ... doch wan ain aufpot im land ersteet, oder das von den Turkhn oder an-
dern widerwärtigen ain einzug bescheh, das den pawrn alsdan solh wer inen
wider zuantwortn beuolhn. (S. 158f.)
Bei den Kausalsätzen sind die Einleitungselemente dieweyl (7), nachdem (4)
und das (2):
(41) Und nachdem ain landschaft, landleut, und irer mt. commissari vor langst
verordent das fridgelt einzenemen und dieweyl sy nu den maystn tayl von den
urbarsleutn und den andern einpracht, solhs ain landschaft kay. mt. unan-
gezaygt nit lassen welln. (S. 158)
(42) Ein ersame landschaft sagt auch irer kay. mt. als irm allergnedigisten herrn
undertanign hochn und grossen dank, das ir mt. disem land gegen den
puntherrn und radlfurern mit tapfer hilf zu ross und fuess zugeschigkt hat,
und das ir mt. solh strafgelt allain irer mt. land und leutn gemainen nutz,
bewarung der granitzn gegen den Venedigern und zu erobrung Fryaul
brauchn und anlegn welle, ... (S. 158)
Einleitungselemente von Komparativsätzen sind wie (5), als (2) und als-
uil (1):
(43) ... ir kay. mt. welle an dem ain guldn ungrisch wie oben angezaygt ist, gena-
digklich ersettigt sein, ... (S. 157)
(44) ... die sich aus irer leychtfertigkait und unuerstant in irn samlungn offenlich
haren lassen, als solten ir kay. mt. ob irm rebell und unpillichn furnemen ...
gefalln tragn ... (S. 156f.)
(45) Das auch die stett und burger ... zu gutwilliger steur und hilf irer mt.
raychn, alsuil inen zu ainem vierdtn tayl von zehen taussent guldn reinisch,
... gepurt, ... (S. 158)
850 Marija Javor Briški
Sehr häufig vertreten sind Attributsätze (ca. 38 Mal), vor allem in Form
von Relativsätzen, z.B.:
(50) ... das die pawrn gar vil mer als drey reinisch guldn so ir kay. mt. begert ver-
schuld hetten, ... (S. 157)
Auch das-Sätze bilden Attributsätze, z.B.:
(51) Dieweyl auch die instruction inhelt das ain yetzlicher urbarsman von seiner
huebn zu ewiger gedachtnus seinem herrn jarlichn zwen oder drey kreuzer
gebn soll ... (S. 157)
Subjektsätze sind nicht vorhanden, dagegen findet man relativ häufig Ob-
jektsätze (ca. 20 Mal) in der Form von Konjunktionalsätzen –
(52) Und als ir kay. mt. in der instruction anzaygt, das all anfenger, haubtleut,
radlfurer und ursacher der empörung und puntnuss der pawrschaft im land,
... an alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)
Instruktion Kaiser Maximilians I. 851
3. Nebensatzäquivalente Infinitivkonstruktionen
Ohne das Verhältnis von Nebensätzen und satzwertigen Infinitivkon-
struktionen im Einzelnen analysieren und die Infinitivsätze in ihrer Voll-
ständigkeit auflisten zu wollen, kann man feststellen, dass in der Instruk-
tion Kaiser Maximilians ca. 30 Infinitivkonstruktionen vorhanden sind,
und zwar in der Funktion von Finalsätzen (8), Objektsätzen (6), Ergän-
zungen eines prädikativen Adjektivs (5) und Ergänzungen eines prädikati-
ven Substantivs (6). Der Anteil an Infinitivkonstruktionen im Vergleich zu
den Nebensätzen mit finitem Verb beträgt ungefähr 27 %. In der Antwort
der Landstände sind etwa 20 zu finden, davon hat eine die Funktion eines
Finalsatzes, 12 sind Objektsätze, zwei Ergänzungen eines prädikativen
Adjektivs und drei Ergänzungen eines prädikativen Substantivs. Hier sind
die Infinitivkonstruktionen mit einem Anteil von ca. 14 % im Vergleich
zur Quote in der kaiserlichen Instruktion schwächer vertreten.
Von der Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs gibt es auch einige
Abweichungen, und zwar:
• bei Fortsetzungen von Hauptsätzen, die mit und eingeleitet wer-
den:12
(55) Und sonderlich unsernthalben nit die maynung gewesst ist, wie wir als uns
anlangt, von etlichen verdacht und beschuldigt worden, ... (S. 151)
• bei Sätzen „mit anaphorischem Anschluß an einen vorangehenden
Satz“:13
(56) Dardurch wir doch ainst zu ainem endt mit Frannczosen und Venedi-
gern komen mechten, ... (S. 152)
Auch in Nebensätzen treten Ausklammerungen gewöhnlich dann auf,
wenn sich hypotaktische Satzkonstruktionen daran anschließen, z.B.:
(57) ... das der pawrn empörung, ungehorsam und beswerlich furnemen am
maysten bewegt und her geflossen sein mechten aus nachfolgenden ursachen,
nämblich das sy etwa durch die herschaften in den ordinari renten und diens-
ten gestaigert. (S. 153)
_____________
12 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 431).
13 Ebd., 431.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 853
_____________
14 Vgl. ebd., 440f.
854 Marija Javor Briški
Relativ häufig (17 Mal) ist dagegen die Inkongruenz des Numerus zwi-
schen Subjekt und Prädikatsverb im Antwortschreiben der Krainer Land-
stände zu finden, und zwar bei folgenden Wörtern: jeder landman (1), yetzli-
cher urbarsman (1), landschaft (10), kay. mt. (5). Die Wörter landman und
urbarsman vertreten durch die vorangestellten Pronomen eine Gattung,
weswegen die Pluralform beim Verb verwendet wird,16 landschaft hat dage-
gen kollektive Bedeutung. Die Pluralform bei kay. mt. steht bekanntlich als
Ausdruck der Höflichkeit und Ehrerbietung, doch konkurriert die Plural-
form hier mit der Singularform, die sogar überwiegt (7).
7. Zusammenfassung
In Bezug auf die Typen der Nebensätze, hat die Analyse ergeben, dass in
beiden Texten die Relativsätze bei weitem die zahlreichsten sind, gefolgt
werden sie von den Komparativsätzen in der Instruktion und den Kondi-
tionalsätzen im Antwortschreiben. Die Kausalsätze stehen, was die Häu-
figkeit anbelangt, in beiden Quellen an dritter Stelle, gefolgt werden sie
von den Konditionalsätzen im kaiserlichen Schreiben und von den Kom-
parativsätzen in der Mitteilung der Krainer Landstände. Nichteingeleitete
Nebensätze sind in beiden Schriftstücken ein Ausnahmefall.
Als Einleitungselement dominiert bei den Relativsätzen sowohl im
ersten als auch im zweiten Text mit großem Vorsprung die Relativpartikel
_____________
15 Vgl. ebd., 422f.
16 Vgl. ebd.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 855
so, die vor allem für die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache typisch ist.17
Alle anderen Einleitungselemente kommen mehr oder weniger vereinzelt
vor. Komparativsätze werden in beiden Landtagsakten vornehmlich durch
wie eingeleitet, mit als dagegen nur zweimal. Bei den Kausalsätzen ist in
beiden Fällen die für die Zeit zwischen 1400 und 1550 typische18 Kon-
junktion dieweil / dieweyl vorherrschend. Die häufigste Einleitung in Maxi-
milians Anweisung bildet bei Konditionalsätzen wo, vor allem dann, wenn
der Nebensatz vorangestellt ist,19 an zweiter Stelle folgt ob, eine Konjunk-
tion, die im Frühneuhochdeutschen vor allem in dieser Funktion verwen-
det wird.20 Beim Antwortschreiben liegt dagegen die umgekehrte Reihen-
folge vor, allerdings halten sich beide Einleitungswörter die Waage, so
dass ein großer Unterschied in der Verteilung nicht festgestellt werden
kann. Unter satzfunktionalem Aspekt überwiegen in beiden Quellen bei
weitem die Attributsätze, die formal vor allem als Relativsätze realisiert
werden, stark vertreten sind auch die Objektsätze insbesondere als sog.
das-Sätze.
Der Anteil an satzwertigen Infinitivkonstruktionen ist in Maximilians
Schreiben höher als im Antwortschreiben der Landstände. In der Instruk-
tion haben sie vor allem die Funktion von Finalsätzen. In dieser Funktion
ist die Infinitivkonstruktion im Antwortschreiben nur einmal vertreten,
was auf dessen Inhalt und den Texttyp zurückzuführen ist. Objektsätze in
Form von Infinitivsätzen kommen dagegen in beiden Quellen relativ häu-
fig vor.
Was die Verbstellung anbelangt, so ist in der kaiserlichen Instruktion
bei aussagenden Hauptsätzen die Erst- bzw. Zweitstellung des finiten
Verbs vorherrschend und die Bildung des Satzrahmens durch Endstellung
des zweiten Prädikatsteils. Nur selten findet man Ausklammerungen,
hauptsächlich bei hypotaktischer Weiterführung der Sätze, was auch bei
Nebensätzen der Fall ist. Eine Ausklammerung ist im Antwortschreiben
nur einmal zu finden. Wenn auch vereinzelt vorkommend, bildet die nur
im Antwortschreiben auftretende Spitzenstellung des finiten Verbs durch
Auslassung des expletiven es ein interessantes stilistisches Merkmal.
Stilprägend sind im Antwortschreiben der krainischen Landstände die
zeittypischen,21 sehr häufig vorkommenden afiniten Ellipsen bei Passiv-
und Perfektbildungen, während sie in der kaiserlichen Instruktion nicht so
zahlreich vertreten sind.
_____________
17 Vgl. ebd., 447 u. Erben (1985, 1342).
18 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 473).
19 Vgl. die Verteilungstabelle in Rieck (1977, 204).
20 Vgl. Rieck (1977, 150).
21 Vgl. Erben (1985, 1342f.).
856 Marija Javor Briški
_____________
22 Zum Begriff vgl. Admoni, zit. n. Betten (1987, 159).
23 Tennant steht aufgrund ihrer Untersuchungen einer schreibsprachlichen Führungsrolle der
Kanzleisprache Maximilians eher kritisch gegenüber; vgl. Tennant (1985, 130ff.).
Instruktion Kaiser Maximilians I. 857
Quellen
Verbič, Marija (Hrsg.) (1980), Deželnozborski spisi kranjskih stanov, Bd. 1, Ljubljana.
Literatur
1. Fehdekommunikation im Spätmittelalter
„Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als
Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die an-
deren zu Freien“.1 Mit Blick auf das Mittelalter wurde vorgeschlagen die-
ses berühmte Zitat von Heraklit umzuschreiben und Krieg mit Fehde zu
ersetzen. Denn die historische wie rechtshistorische Forschung hat ge-
zeigt, welche zentrale Rolle die Fehde in der mittelalterlichen Realität ein-
nahm. Kontrovers diskutiert wurde und wird aber, welche rechtliche, poli-
tische, wirtschaftliche oder auch soziale Qualität die Fehde im Mittelalter
hatte.
Lange wurde die Fehde als Faustrecht, als Recht des Stärkeren gedeu-
tet und der Fehde führende mittelalterliche Ritter wurde als Raubritter
eingestuft, auch wenn diese Bezeichnung in den Quellen nicht belegt ist.2
Im Blick auf unseren Untersuchungszeitraum, das 15. Jahrhundert, hat die
Raubritterthese durch die Diskussion über das Spätmittelalter als eine
Epoche der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die
der ungehemmten Gewaltanwendung besonders von Seiten des Nieder-
adels Vorschub geleistet habe, eine gewisse Renaissance erfahren.3 Die
Rede vom Spätmittelalter als einer Zeit der Krise am Übergang zur Neu-
zeit ist bis in die Gegenwart ein gängiges Deutungsmuster. Als Beispiel
mag Erich von Meuthens Handbuch über Das 15. Jahrhundert genügen, wo
es heißt:
_____________
1 Diels (1951, 162, Fragment 53).
2 Vgl. Rösener (1982, 469ff.).
3 Vgl. Rothert (1940, 145ff.); Rösener (1982, 469-488).
860 Eckhard Weber
Das Spätmittelalter ist insgesamt eine in höchstem Maße gewalttätige Epoche gewe-
sen. [...] Die Kriegslust des Feudaladels kann dabei durchaus als Hoffnung zu
verstehen sein, seine sozialökonomischen Schwierigkeiten in dem ihm standesei-
genen Kriegerberuf zu meistern. Beliebte Opfer waren Kaufleute und Städte, die
Träger der handelswirtschaftlichen Bedrohung landadeliger Existenz.4
Die pauschale Annahme einer allgemeinen Verarmung des Niederadels
und seiner Verdrängung in die politische Bedeutungslosigkeit hat sich
jedoch nicht als haltbar erwiesen. Die Übergangsphase vom mittelalterli-
chen Personenverbandstaat zum frühneuzeitlichen Territorialstaat bot
auch dem Niederadel Möglichkeiten, sich den veränderten Bedingungen
anzupassen, was zu einem Differenzierungsprozess innerhalb des Adels
geführt hat.5 Zudem konnte gezeigt werden, dass sich der Aufbau der
fürstlichen Territorialstaaten gerade mit den Mitteln der Fehdeführung
vollzog. So kann die spätmittelalterliche Fehdepraxis auch als politisches
und soziales Phänomen gedeutet werden, das entscheidend zur Strukturie-
rung und Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung des Spätmittelalters
beitrug.6
Ganz im Gegensatz zur Deutung der Fehdeführung als Raubrittertum
wird heute meist die rechtliche Bedeutung der Fehde hervorgehoben.
Demnach gilt die mittelalterliche Fehde als die in der Rechtsgewohnheit
verankerte, zur Klage vor Gericht bzw. Schiedsgericht oder Zweikampf
zumindest subsidiär alternative und legitime Selbsthilfe zur Durchsetzung
von Rechtsansprüchen. Die Anwendung von Gewalt bei der Durchset-
zung von Rechtsansprüchen, mittels der dem Fehdegegner Schaden zuge-
fügt werden konnte, war im Rahmen einer Fehde also legitim. Betont wird
dabei die Alterität des Mittelalters, das noch kein staatliches Gewaltmono-
pol kannte und dessen Rechtssystem stark von Rechtsgewohnheiten ge-
prägt war.7
Eine Gesellschaft, welche ihren Angehörigen nicht [...] zu ihrem Recht verhelfen
kann, weil sie weder über die nötigen Machtmittel noch über einen entsprechen-
den Verwaltungsapparat verfügt, die also den für eine konsequente Verbrechens-
verfolgung nötigen ‚Gesamtwillen‘ nicht bilden kann, muss dem Verletzten weit-
gehend das Recht zur Selbsthilfe lassen, soll die verletzte Ordnung
wiederhergestellt werden.8
Als rechtliches Institut wird die Fehde auch in den Gottes- und Landfrie-
den des 11. bis 15. Jahrhunderts behandelt. Hier tritt die Fehde aber in
_____________
4 Von Meuthen (1996, 11f.).
5 Vgl. Görner (1987); Zmora (1997).
6 Vgl. Algazi (1995, 39ff.); ders. (1996). Algazis Arbeiten wurden besonders wegen ihrer zu
schmal angelegten Quellengrundlage kritisiert. Vgl. Graf (1998); Morsel (1996, 140ff.).
7 Vgl. besonders Brunner (1973); Obenaus (1961); Patschovsky (1997, 145ff.); Fischer (2000,
123-ff.).
8 Kaufmann (1971, Sp. 1084).
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 861
erster Linie als etwas auf, das es zu beschränken gilt, indem ihre Legitimi-
tät an die Einhaltung bestimmter Formen gebunden wird. Als Elemente
eines solchen technischen Fehderechts sind das Vorliegen eines Rechts-
grundes, die Rechtsverweigerung durch alternative Rechtsinstitute, die
öffentliche schriftliche Ankündigung der Fehde sowie die Einhaltung
einer Frist von drei Tagen vor Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.
Das neue Friedenskonzept der Landfrieden formulierte jedoch einen Soll-
Zustand, der für seine Realisierung des Strukturwandels vom mittelalterli-
chen Personenverband zum Staat neuzeitlicher Prägung bedurfte. Inso-
fern blieben die Regelungen der Landfrieden bis zum Ausgang des Spät-
mittelalters hauptsächlich Programm.9 Wie sehr die Rechtsgewohnheit der
Fehdeführung trotz der Regelungen der Landfrieden ein Strukturelement
der mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit war, zeigt sich insbesondere
daran, dass der Aufbau eines neuzeitlichen Gewaltmonopols selbst mit
den Mitteln des Fehdewesens, dem – wenn nicht Vater aller Dinge, dann
doch zumindest – „Motor der modernen Welt“ erreicht wurde.10
Für den mittelalterlichen Kommunikationsstil ganz allgemein wurde
hervorgehoben, dass er einen ritualisierten Charakter aufweist und immer
im Bezug zur Öffentlichkeit steht. Durch die öffentliche „Inszenierung“
und „Demonstration“ mittels nicht-sprachlicher und sprachlicher Hand-
lungen erhielten die in den Vorverhandlungen getroffenen Absprachen ein
höchstes Maß an Verbindlichkeit.11 Der wechselseitige Bezug von Ehre,
Recht und Öffentlichkeit wird bei der Fehde besonders deutlich. Denn
jeder mittelalterliche Rechtsstreit wird öffentlich ausgetragen und ist dem
Urteil der Öffentlichkeit ausgesetzt.12 Diese Tendenz zur Öffentlichkeit
bedingt eine starke Bindung der Parteien. In der von Rechtsgewohnheiten,
die auf Konsensbildung innerhalb der Rechtsgemeinschaft abzielen,13
gekennzeichneten mittelalterlichen Gesellschaft musste sich folglich alles
politische und rechtliche Handeln vor der Instanz der Öffentlichkeit
rechtfertigen.14 Öffentlichkeit konstituiert sich im Mittelalter nach den
Prinzipien der Situativität und Präsenz und kann somit okkasionell ge-
nannt werden.15
Für die spätmittelalterliche Fehde gilt also: Die Anerkennung eines
subjektiven Rechtsanspruches, der mittels einer Fehde durchgesetzt wer-
_____________
9 Vgl. Gernhuber (1952, 73ff.); Buschmann (2002, 95ff.); Götz (2002, 31ff.).
10 Patschovsky (1997, 169).
11 Vgl. den Sammelband von Althoff (1997); ders. (1998, 154ff.); ders. (1999, 1ff.); Kamp
(1996, 675ff.).
12 Vgl. Obenaus (1961, 67).
13 Vgl. zum Thema Rechtsgewohnheit Schulze (1992, 9ff.); Dilcher (1992, 21ff.).
14 Vgl. Thum (1990, 65ff.).
15 Vgl. ebd., 65ff., besonders 65-72; vgl. Patschovsky (1997, 152).
862 Eckhard Weber
den sollte, und die Legitimität der Fehdeführung entschieden sich im We-
sentlichen erst durch die Konsensbildung vor dieser Instanz. Dies setzte
aber auch ein hohes Maß an Kommunikation voraus. Der Diskurs der
Ehre nimmt dabei eine zentrale Rolle ein: Zum einen wird gegen die
Handlungen der gegnerischen Partei polemisiert und zum anderen die
Ehrenhaftigkeit und somit Legitimität der eigenen Position zum Ausdruck
gebracht sowie um ihre Anerkennung vor der Entscheidungsinstanz Öf-
fentlichkeit geworben.16 Der „Kampf um die Gunst der öffentlichen Mei-
nung“17 muss daher als ein wesentliches Element der spätmittelalterlichen
Fehdeführung betrachtet werden.18 Der Bezug zur Öffentlichkeit ist aber
auch schon in der mittelalterlichen Konzeption von adeliger Ehre selbst
gegeben, die in erster Linie immer Standesehre und somit an den Konsens
der öffentlichen Meinung der Adelsgesellschaft geknüpft war.19
In einem Zwischenresümee kann somit festgehalten werden:
1. Im allgemeinsten Sinn fällt unter Fehde
jede Art der gewaltsamen Selbsthilfe [...], mithin jede Form von eigenmäch-
tiger Gewalt, die im Fall einer Rechtsverletzung von der verletzten Seite ange-
wandt wird, um eine Wiederherstellung des Rechts durch Vergeltung, Genug-
tuung oder Sühne zu erreichen.20
2. Mittels Fehdeführung konnten zwar auch wirtschaftliche, soziale
oder politische Ziele verfolgt werden, in erster Linie ist die Fehde
aber der Sphäre des Rechts zuzuordnen.
3. Die in den Landfrieden versuchte Beschränkung des Fehderechts
speist sich aus der römisch-kanonischen Rechtskonzeption, sie
blieb aber hauptsächlich Programm, solange dem Staat die Exeku-
tionsorgane nicht zur Verfügung standen.
4. Mit den in den Landfrieden formulierten Friedenskonzepten kon-
kurriert im Rechtsverständnis des deutschen Mittelalters die
Rechtsgewohnheit, die das Recht auf Fehdeführung prinzipiell an-
erkannte.
5. Die Rechtsgewohnheit hebt dabei auf Konsensbildung vor einer re-
levanten Öffentlichkeit ab. Die legitime Fehde konstituiert sich also
nicht nur aus der Einhaltung des in den Landfrieden formulierten
_____________
16 Vgl. Althoff (1993, 49f.); Morsel (1996,160f.); Zmora (1995, 92ff.).
17 Graf (1997, 177).
18 Vgl. Obenaus (1961, 68).
19 Vgl. Zmora (1995, 100); Moeglin (1995, 77): „Ehre (honor) kann als ideelles Kapital an
öffentlicher Achtung begriffen werden, das ein Mensch aufgrund seiner sozialen Stellung
und seiner politischen Rolle zu beanspruchen vermag.“
20 Wadle (1999, 74).
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 863
Fehderechts, sondern auch und vor allem durch den Konsens der
Öffentlichkeit.
6. Zur Herstellung dieser Öffentlichkeit wird in der Fehdepraxis des
Spätmittelalters ein enormer Aufwand an Kommunikation getrie-
ben: durch die Produktion zahlreicher Schriften bzw. Briefe, in de-
nen für die eigene Rechtsauffassung geworben wird und die oft
nicht nur an die gegnerische Partei, sondern auch an weitere für die
Konsensbildung in der Öffentlichkeit relevante Parteien verschickt
werden. Auch im formalen Regelwerk der Landfrieden wird das
Prinzip der Herstellung von Öffentlichkeit in der Pflicht zur „Ver-
klarung“, also der öffentlichen Ansage der Fehde greifbar.
7. Öffentlichkeit und Recht stehen im engen Bezug zum mittelalterli-
chen Ehrbegriff. Der Diskurs der Ehre nimmt in den Fehdebriefen
daher eine zentrale Rolle ein.
Angesichts der großen Bedeutung von Kommunikation in der Fehdepra-
xis und der Herstellung von Öffentlichkeit liegt es auf der Hand, dass sich
hier auch ein Forschungsfeld für die historische Pragmatik anbietet. Ihre
Aufgabe ist die
Rekonstruktion der kommunikativen Handlungsebenen in einzelnen Texten, hin-
ter denen freilich allgemeinere Möglichkeiten des sprachlichen Handelns in be-
stimmten historischen Konstellationen (einschließlich ihrer flexiblen Ausgestal-
tung und Veränderbarkeit) sichtbar gemacht werden müßten.21
Es wurde vorgeschlagen, die Fehde als komplexes Handlungsmuster22
aufzufassen, das aus sprachlichen wie auch aus nicht-sprachlichen Hand-
lungen besteht. Dabei werden ganze soziale Netze aktiviert oder sind zu-
mindest betroffen. Neben den fehdeführenden Kontrahenten sind das
zum einen Fehdehelfer, die die jeweilige Position einer Konfliktpartei
rhetorisch oder tatkräftig, etwa als Boten oder Mitkämpfer, unterstützen.
Zum anderen können Vermittler eingeschaltet werden, die möglicherweise
von beiden Parteien als neutrale Schiedsrichter anerkannt werden. Zuletzt
sind die von den Schadenshandlungen direkt Betroffenen zu nennen, wie
Bauern, Hintersassen und Stadtbürger. Zudem konnte die für die mittelal-
terliche Gesellschaft so charakteristische Organisation im auf dem Le-
henssystem beruhenden Personenverband dazu führen, dass aus einem
begrenzten ein Konflikt in weit größerem politischen Maßstab wurde. Ein
Handlungsmodell der Fehde muss also alle Kommunikationsteilnehmer
einbeziehen, nur so kann es der Komplexität des Fehdegeschehens ge-
recht werden.
_____________
21 Cherubim (1998, 541f.).
22 Im Folgenden vgl. Janich / Weber (2004, 163ff.).
864 Eckhard Weber
Der prototypische Verlauf einer Fehde stellt sich wie folgt dar:
1. Jede Fehde hat eine Vorgeschichte, die einen zumindest subjektiven
Rechtsgrund (für Klagen, Verhandlungen oder schließlich die Feh-
deeröffnung) liefert.
2. Auf diese Vorgeschichte folgen meist Verhandlungen der Konflikt-
parteien und / oder Klagebriefe, in denen gegenüber dem Gegner
aber auch vor allem gegenüber Dritten der eigene Rechtsanspruch
dargestellt wird.
3. Für die legitime Fehde von zentraler Bedeutung ist die darauf fol-
gende Fehdeankündigung in Form der schriftlichen Absage / Wi-
dersage, die den Schädigungshandlungen vorausgehen muss. Auch
diese kann zugleich Dritten zugesendet werden, um die nötige Öf-
fentlichkeit zu schaffen.
4. Auf die Fehdeabsage erfolgt normalerweise eine Reaktion des Be-
schuldigten und darauf wieder entsprechende Gegenreaktionen.
Diese Phase kann verschiedene Handlungen umfassen:
• gegenseitige materielle Schädigungen durch nicht-sprachliche
Handlungen,
• direkte mündliche und / oder indirekte schriftliche Verhand-
lungen,
• Austrag des Rechtstreits durch Schiedsgericht oder gerichtli-
chen Zweikampf,
• Unterbrechung der Fehde durch verabredete Friedenszeiten in
der Form des Handfriedens.
Diese Phase kann Handlungswiederholungen sowie parallele Hand-
lungsstränge aufweisen. Im konkreten Fall hängt das davon ab, ob
einzelne Handlungen scheitern oder erfolgreich sind.
5. Die Beendigung der Fehde erfolgt entweder durch die Urfehde, in
der mittels Schwur auf zukünftige Feindschaft verzichtet wird,
und / oder durch die Sühne, einem Vertrag der die Schadensersatz-
verpflichtungen regelt.
Sprachliche Handlungen innerhalb dieses Handlungsmusters sind zum
Beispiel die schriftliche Fehdeankündigung, Verhandlungen mit dem Feh-
degegner oder das Schwören einer Urfehde zur Beilegung der Fehde.
Nicht-sprachliche Handlungen vollziehen sich hauptsächlich im so ge-
nannten Schädigen, wie Belagern, Plündern, Kämpfen oder Brandschat-
zen. Für die Bewertung der Fehdeführung als legitim und damit für die
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 865
_____________
23 Vgl. ebd., 167f.
866 Eckhard Weber
vmb solchen vnrechtz vnnd mutwillen wegen, den sy an meiner mume Ar-
nolcz weip von Tristhof gethan haben
• Schaden androhen:
vnnd alle dy ich uf euren schaden bringen mag
• Bewahrung der Ehre:
vnnd wil auch dez also meine ere gen euch vnd gen den euren amptleuten be-
wart haben.
und schalklich lüg sind/ dem offt benanten, vnendlichen, Newfundigen, lu-
genhaften, treulosen
• Feststellung / Behauptung der eigenen ehrenhaften Position:
als vil der unser ere, wird und gelimpfen berührend/ So wellen wir darczu
antwurten, das wir hoffen, das vnser ere, sein schand vnd darczu gleich sey.
• Angebot zum Rechtsaustrag:
Aus den vorgenannten vnsern waren geschriften vnd rechtlichen geboten, die
wir zu volligem und entlichen austrag [...] geboten haben und bieten
These 3: .Auch der Fehdegegner kann seinen Rechtsanspruch und seine Ehre nur
dadurch bewahren, dass er sich auch gegenüber dritten rechtfertigt und Gegendarstellun-
gen liefert oder gegebenenfalls Gegenforderungen stellt.
Textbeispiel 3: Brief des Erzbischofs Johann von Mainz an die Stadt
Frankfurt a. M., 6. August 1404.
Iohann erzbischoff zu Mencze.
Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford. [...] Wir clagen uch
mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Missen mit namen
marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime brudere, marggrave
Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iungeren des egenanten
marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche unrecht, daz si widder
got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und ere mit rechtem muͤtwillen
und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und lude gelacht hant und noch te-
gelichin legen. Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes
getruwe manne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave
Wilhelm der eltere in der stad zu Furcheim und der egenante marggrave Fryde-
rich der eltere in der stad zu Nurnberg sliche manlehen von uns liplichin in
geynwertigkeid fursten, herren und viel erber lude enphangen und unserme stifte
getruwe und hold zu sin huldunge getan han, als solicher manlehen recht und
gewonheid ist. [...] Und duncket uns, daz den vorgenanten marggraven ernster sii
unsere und unsers stifte sloße, land und lude an sich zu bringen, das doch der
allmechtige god und der gude sant Mertin wol verwaren sollen, dann yn lieb sii ire
eygene truwe, ere, buntnisse und ingesigele zu versorgen. [...] so wollen wir des zu
eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gnedigen herren deme Romi-
schen konige und dem riche, und so me kurfursten, fursten, graven, herren, ritte-
re, knechte und erberliute dabii weren und gesin mochte, so uns lieber were,
wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer wahrheid wol biibrengen mogen
und verwar gleuben und ez davor han, daz nye keyme fursten in großerme glau-
ben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den egenanten
marggraven. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, 390ff.)
868 Eckhard Weber
Die Haupthandlung ist wieder das Werben für die Rechtmäßigkeit der
eigenen Position. Relevante Teilhandlungen sind:
• Schaffung von Öffentlichkeit durch Adressierung des Briefes an
Dritte:
Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford
• Klage über unehrenhafte und illegitime Schadenshandlungen der
Fehdegegner:
Wir clagen uch mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Mis-
sen mit namen marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime
brudere, marggrave Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iun-
geren des egenanten marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche
unrecht, daz si widder got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und
ere mit rechtem mFtwillen und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und
lude gelacht hant und noch tegelichin / daz nye keyme fursten in großerme
glauben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den
egenanten marggraven.
• Begründung: Verstoß gegen Lehnsverpflichtungen:
Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes getruwe man-
ne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave Wilhelm
der eltere [...] manlehen von uns liplichin in geynwertigkeid fursten, herren
und viel erber lude enphangen und unserme stifte getruwe und hold zu sin
huldunge getan han, als solicher manlehen recht und gewonheid ist.
• Angebot zu Rechtsaustrag vor König und Reich in möglichst gro-
ßer Öffentlichkeit:
so wollen wir des zu eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gne-
digen herren deme Romischen konige und dem riche, und so me kurfursten,
fursten, graven, herren, rittere, knechte und erberliute dabii weren und gesin
mochte, so uns lieber were, wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer
wahrheid wol biibrengen mogen
These 4: Fehdehelfer und Parteigänger können einerseits nur durch sprachliche Darstel-
lungs- und Aufforderungshandlungen überzeugt und zur Unterstützung verpflichtet
werden; andererseits müssen die Fehdehelfer selbst unter Umständen zur Wahrung
ihrer eigenen Ehre ihre Handlungen rechtfertigen, indem sie ihre Parteinahme begrün-
den.
Textbeispiel 4: Absagebrief Ulrich Strobels u.a. an Friedrich Markgraf von
Brandenburg und Burggraf von Nürnberg, 7. Juli 1420.
Hochgeporen ffwrst vnd H. H. ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd
purckgraf zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein von
wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von solcher
spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben, vnd will mich dez
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 869
mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren steten vnd merckten be-
wart haben vnd will ewch awch hin nihsze mer zu plitig vnd zu don sein vnd will
in irn ffriden vnd unfriden (sis) sein, ich vnd der her nach geschriben stett [...].
Vlreich Strobell, Jorgen Stengell, Hans krewsslein
(Codex diplomaticus brandenburgensis, 163)
Haupthandlung ist die Ankündigung der Fehde durch Fehdehelfer. Rele-
vante sprachliche Teilhandlungen sind:
• Erklärung der Feindschaft als Fehdehelfer:
Hochgeporen ffwrst [...] ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd purckgraf
zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein
• (pauschale) Begründung mit Rechtsanspruch:
von wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von
solcher spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben
• Bewahrung der Ehre:
vnd will mich dez mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren ste-
ten vnd merckten bewart haben
Die Haupthandlung ist hier die Beilegung des Konfliktes. Relevante Teil-
handlungen sind:
• Verzichtserklärung auf Rechte an den Schlössern Eschwege und
Sontra:
Darumbe verciihen wir Iohann ertzbischoff, Iohann dumprobst, Eberhard de-
chand und daz capitel gmeynlich des důmes zu Mentze fur uns unde alle unse-
ren nachkommen uff die vorgenanten halben teile der sloße Eschenweg und
Sůntra mit yren zugehorungen und ußern uns der sloße unde alles rechten, daz
wir daran han, zu ewigen ziiten
• Lösung vorheriger Rechtsverpflichtungen in aller Öffentlichkeit:
und han auch darumbe die egenanten marggraven unde ire erben aller burg-
hůde und darczů alle manne, burgmanne, amptlude, rete, bugere und arme lute
zu den vorgenannten sloßen gehorende alle ire eide und globde, die sie uns ge-
tan han, mit unsern offen brieven ledig und lois gesaget und sagen sie auch der
in crafft diesis brieves ledig
• Verzichtserklärung auf zukünftige Gewaltanwendung:
unde verziihen gentzlich daruff unde sollen noch wollen die vorgenannten
sloße semptlich oder besunder nummerme vertedigen, ingenemen noch die in
kunfftigen ziiten ansprechen in einche wise
• Versprechen (Schwur), den Verzicht in ehrenhafter Weise einzuhal-
ten (mit guten truwen: Ehrenwort):
Alle und igliche vorgeschriben stucke, půnte und artikele redden wir [...] in gu-
ten truwen stete, vaste und unverbrochenlich zu halten und darwidder nicht
zu thůn noch schaffen getan werden geistlich noch werntlich, heimlich noch
offenbar, in dheine wiis, an alle geverde und ane argelist.
3. Schlussbemerkung
Diese Ansätze zu einer Analyse der sprachlichen Haupt- und Teilhandlun-
gen von Fehdetexten erfassen die kommunikativen Strategien der Fehde-
kommunikation selbstverständlich noch nicht vollständig. Detailliertere
Analysen müssen folgen, um für das prototypische Modell der Fehde als
komplexes Handlungsmuster gültige Aussagen treffen zu können. Es ist
m.A.n. aber deutlich geworden, dass der Diskurs der Ehre und der Bezug
zur Öffentlichkeit eine zentrale Rolle in den sprachlichen Handlungen der
Fehdekommunikation einnehmen. Wie gezeigt, können an allen Stationen
des oben angedeuteten prototypischen Verlaufs einer Fehde sprachliche
Handlungen nachgewiesen werden, die Öffentlichkeit herstellen sollen
und auf das Moment der Ehre rekurrieren bzw. mittels des Ehrbegriffs
argumentieren.
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 871
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_____________
24 Zmora (1995, 109).
25 Vgl. Graf (1998).
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874 Eckhard Weber
1. Einleitung
Die Interpunktion hat insbesondere die Funktion, die grammatische Struktur ei-
nes Textes für den Leser transparent zu machen. Sie dient der Ausgrenzung von
Ganzsätzen, der Anzeige einer Koordination von Wörtern, Wortgruppen oder
Teilsätzen sowie der Anzeige der Subordination von satzwertigen Konstituenten
und von Herausstellungen. Weiterhin hat sie in Teilbereichen pragmatische Funk-
tionen. In erster Linie setzt die Beherrschung der Interpunktion aber grammati-
sche Kenntnis voraus.1
Was hier in kompakter Form über unsere moderne Zeichensetzung ausge-
sagt wird, trifft bekanntlich für historische Sprachstufen nur teilweise zu,
wenngleich manche der aufgezählten Funktionen bereits für fnhd. Texte
tendenziell gelten. Insbesondere der Anspruch, aus der Interpunktion die
‚grammatische Struktur‘ eines Textes ablesen zu wollen – übrigens ebenso
wenig treffend wie der Versuch, in Anlehnung an antike Schriften aus-
schließlich nach rhetorischen Funktionen zu fahnden, führte lange Zeit zu
einer Verkennung von Intention und Wirkung der Verschriftlichungsstra-
tegien mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften. In diesem
Bereich hat die historische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten
stark aufgeholt und manches Missverständnis ausräumen können. Den-
noch ist noch viel zu tun, denn gerade für die Zeit des Spätmittelalters
und der Frühen Neuzeit mit ihrem immensen Anstieg der Textproduktion
in allen Lebensbereichen konnten viele Textsorten noch gar nicht syste-
matisch in Hinblick auf ihr Inventar an Textgliederungsmitteln und deren
Funktionen untersucht werden.2
_____________
1 Weingarten (2003, 807f.).
2 Vgl. Simmler (2003, 2474).
876 Andrea Hofmeister-Winter
Meine kleine Studie zu einem fnhd. Gebrauchstext darf sich nicht an-
maßen, bereits einen vollwertigen Beitrag zur Erforschung der Syntax
historischer Texte liefern zu können, möchte aber mit der Bereitstellung
von geeignetem Basismaterial und mit der Mitteilung einiger viel verspre-
chender Beobachtungen den ersten Schritt dazu setzen. Ein umfassendes
Bild von diesem Segment der historischen Schreibsprache kann sicher erst
aus der Summe möglichst vieler Einzeluntersuchungen, möglichst breit
über das gesamte Spektrum der Textsorten gestreut, erlangt werden. Die
Umsetzung dieser banalen Forderung wird aber erschwert durch die Tat-
sache, dass seit jeher ein Mangel an solchen Editionen von handschriftli-
chen Überlieferungsträgern herrscht, welche die dafür nötigen Informati-
onen liefern.3 Ich bin in der glücklichen Lage, über ein umfangreiches
elektronisches Textkorpus zu verfügen, in dem durch eine spezielle Form
der Datenaufnahme dafür gesorgt ist, dass u.a. auch Fragen zu den Text-
gliederungsmitteln sehr detailliert untersucht werden können.
Vor allem seit dem Spätmittelalter bieten handgeschriebene Texte eine
Fülle von verschiedenen graphischen Auszeichnungs- und Gliederungs-
mitteln, deren Gebrauch in einzelnen Überlieferungsträgern so stark vari-
iert, dass der Eindruck entsteht, Auswahl und Kombination der vielfälti-
gen Möglichkeiten seien allein der Willkür der Schreiber überlassen. Es ist
jedoch davon auszugehen, dass diese graphischen Mittel im Kommunika-
tionsakt zwischen Schreiber und Leser ganz bestimmte Funktionen zu
erfüllen hatten, darunter vielleicht auch solche, die unser modernes, nor-
miertes Textgliederungs- und Interpunktionssystem vermissen lässt.4 Wel-
che Funktionen das sind, hängt von der Textsorte ab und ist zudem im
Einzelfall wohl auch speziell auf die individuellen Bedürfnisse eines Textes
und seines intendierten Publikums abgestimmt.
Nach einer kurzen Vorstellung meines konkreten Untersuchungsge-
genstandes möchte ich an diesen folgende drei Fragen richten:
• Wie wird markiert, d.h., welche graphischen Mittel werden vom
Schreiber eingesetzt?
• Was wird markiert: Sprechpausen, Intonationsverläufe, syntaktische
oder Sinneinheiten etc.?
• Wozu wird markiert: Welchen potenziellen Nutzen hat der Leser
davon oder welchen Sinn kann das aufwendige Markierungsverfah-
ren sonst noch haben?
_____________
3 Eine löbliche Ausnahme: Fiebig (2000).
4 Vgl. Stolt (1990, bes. 385).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 877
2. Untersuchungsgegenstand:
Das Brixner Dommesnerbuch5
Als Untersuchungsgegenstand steht mir ein umfangreiches Autograph des
Brixner Dommesners Veit Feichter (um 1510-1560) zur Verfügung, das
eine selten vertretene und daher in der Forschung bislang kaum bekannte
Textsorte repräsentiert. Da es sich um die sehr detailreich ausformulierte
Niederschrift der Dienstverpflichtungen des Mesners im Lauf des Kir-
chenjahres handelt, scheint mir für diese paraliturgische Gebrauchsschrift
in Anlehnung an die Benennung ähnlicher Texte die schlichte Bezeich-
nung ‚Dommesnerbuch‘ gerechtfertigt. Entstanden ist der Codex mit dem
nachträglich von anderer Hand hinzugefügten Titel Directorium seu Rubrica
pro vtilitate chori ac Editui Eccl(es)ie Brixinen(sis)6 um 1558 und stellt den ein-
drucksvollen Versuch dar, althergebrachte Traditionen über eine Um-
bruchszeit hinweg zu retten7 – immerhin fand gerade zu jener Zeit das
Konzil von Trient (1545-1563) statt, das die Gegenreformation einleitete
und auch im liturgischen Bereich eine Reihe von einschneidenden Maß-
nahmen setzte.
Im Zuge der Erstedition des Brixner Dommesnerbuches (DMB) habe ich
vor einigen Jahren ein mehrstufiges Editionskonzept entwickelt, das ich
als ‚Dynamische Edition‘ bezeichne. Diese Editionsmethode versucht,
bewährte Editionsformen und -methoden zu verbinden, indem über meh-
rere Editionsstufen verschiedene Ebenen des Textes präsentiert werden:
Faksimile, diplomatischer Abdruck und in beliebigem Grad normalisierte
Lesefassungen unterscheiden sich voneinander im Wesentlichen durch
zunehmende Abstraktion von der handschriftlichen Vorlage und rücken
jeweils eine ausgewählte Ebene des Gesamtbefundes ins Zentrum der
Aufmerksamkeit, z.B. die paläographische, die (ortho)graphische, die in-
haltliche Ebene. Der schichtweise vorgenommene Informationsabbau in
diesem nach oben offenen Editionsprozess erfolgt mit Hilfe linguistischer
Methoden der Graphetik und Graphemik in kontrollierter Form und ga-
rantiert von jeder Stufe aus in hohem Maße die Rückführbarkeit auf das
Original. Um den stark divergierenden Benutzeranforderungen entgegen-
zukommen und vor allem auch sprachwissenschaftlichen Interessen zu
dienen, wird für die Präsentation der einzelnen Editionsstufen das jeweils
optimale Publikationsmedium gewählt.
_____________
5 Zu Autor und Werk vgl. Hofmeister-Winter (2001, 15ff.).
6 Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices. Kodikologische Beschreibung vgl.
Hofmeister-Winter (2001, 34ff.).
7 Es seý aúch mier / dúrch meinem herren Cústor verpotten das Ich der Cústorei kain Neẃerung sol
aúffpringen (DMB 45r/16f., zit. nach der gedruckten Edition von Hofmeister-Winter (2001).
878 Andrea Hofmeister-Winter
seits um das lateinische Wort Item, das als Anfangssignal von grö-
ßeren oder kleineren Abschnitten funktional einem ‚Aufzählungs-
punkt‘ entspricht, zumal, wenn es seriell eingesetzt wird; anderer-
seits haben wir es mit einem traditionellen Kürzungssymbol zu tun,
das für die lateinische Phrase et cetera steht, einem Morpho-
gramm16 sozusagen, welches das Ende von Sinnabschnitten kenn-
zeichnet und zumindest im späten Mittelalter und in der frühen
Neuzeit immer seltener als ‚Auslassungszeichen‘ zu interpretieren
ist. In der Paläographie werden solche deverbalisierten Schriftsym-
bole, die oft auch zur optischen Füllung der restlichen Zeile dien-
ten, als Terminatoren (‚Schlusssignale‘) bezeichnet.17
5. Doch nun zu den Interpungierungsmitteln: An ‚echten‘ IP-Mitteln, also
graphischen Elementen, die ausschließlich oder zumindest teilweise
textgliedernde Funktionen übernehmen, sind bei Veit Feichter
(nach abnehmender Häufigkeit gereiht) Virgel, Punkt, Kolon und
runde Klammern vertreten. Semikola verwendet Feichter nicht,
Rufzeichen und Fragezeichen, obwohl in mittelalterlichen Hand-
schriften bereits verwendet, kommen bei ihm textsortenbedingt
nicht vor.18
Der Punkt (in kursiven Schriften selten kreisrund, sondern oft
mit erkennbarem ‚Abstrich‘ in Schreibrichtung) und die Virgel (von
rechts oben nach links unten geführter Strich im Mittelbandbereich,
ungefähr parallel zur Schriftneigung) stehen einander besonders in
kursiven Schriften mitunter formal so nahe, dass die Gefahr der
graphischen Konvergenz droht.19 Die formale Abgrenzung zwi-
schen diesen beiden Graphtypen ist daher in Einzelfällen schwierig
und mitunter nur willkürlich zu treffen. Beide IP-Symbole werden
von Feichter außer zur Textgliederung auch zur Markierung von
Zahlenangaben eingesetzt, indem sie arabische und römische Zah-
len zu beiden Seiten rahmen. In dieser Funktion sind Punkt und
_____________
16 Insofern das Morphogramm ‚etc.‘ nicht auf eine spezielle Lautform, sondern unabhängig
von der (in diesem Fall lateinischen) Einzelsprache auf lexikalische Bedeutungen referiert,
handelt es sich eigentlich um ein Logo- oder Ideogramm; vgl. analog dazu die arabischen
Ziffernsymbole oder konventionale Abkürzungen für Maßeinheiten. Vgl. Hofmeister-
Winter (2003, 181f.).
17 Vgl. Mazal (1986, 145).
18 Nicht zu den IP-Mitteln zu zählen sind also Trennzeichen und Einfügungszeichen sowie
Kürzungspunkte, Apostroph, Bindestriche etc., eine Zwischenstellung haben Ausgren-
zungsmittel wie Klammern und Anführungszeichen.
19 Vgl. Hofmeister-Winter (2003, 210f.).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 883
_____________
20 Palmer (1991, 241) spricht in diesem Zusammenhang von ‚Isolierungspunkten‘.
21 Vgl. Gallmann (1985, 29).
884 Andrea Hofmeister-Winter
also durch ein anderes ersetzt. Eine dritte Gruppe von roten IPZ ist je-
doch überhaupt erst in der Revisionsphase in den Text gelangt: Hierbei
handelt es sich ebenfalls um eine Art Korrektur, nämlich um die Ergän-
zung von (aus Sicht des Autors) Fehlendem.24
Auf diese Weise wurde die Zahl der IP-Mittel in Ausschnitt II gegen-
über Ausschnitt I erheblich vermehrt, und zwar in weit höherem Maße, als
durch den um ca. 16 % größeren Textumfang dieses Ausschnitts erklärbar
wäre!25 Das lässt sich statistisch nachweisen: Stellt man die Zahl der IP-
Zeichen im jeweiligen Textausschnitt zur Gesamtanzahl der Graphwörter
in Beziehung, so kommen in Textausschnitt I auf 100 Graphwörter 13
IPZ, in Ausschnitt II 18, also fast um die Hälfte mehr!
Die genauere statistische Auswertung der Basistransliteration nach den
Repräsentationstypen der IPZ fördert folgenden Befund zutage:
stehen dort drei innerhalb von roten Überschriften, gehören also zur
Grundschicht und sind nicht als Revisionsmaßnahme zu werten; nur in
einem einzigen Fall handelt es sich hier um eine nachträgliche Ergänzung.
Ebenfalls interessant für die Syntaxforschung sind die revidierten IP-
Symbole (Kodierung ‚/4‘ und ‚/5‘), aber solche Fälle sind in beiden Aus-
schnitten eher selten.
Diese Beobachtungen eröffnen uns die nicht alltägliche Gelegenheit,
direkt in die Schreibwerkstatt eines Autors zu blicken, indem wir etwa die
Unterschiede zwischen den beiden Passagen feststellen und fragen, was
den Autor dazu bewogen haben mag, im Lauf eines relativ kontinuierli-
chen Schreibprozesses seine IP-Gewohnheiten so gravierend zu verän-
dern. Dazu müsste man die Textausschnitte detailliert nach speziell festzu-
legenden Gesichtspunkten analysieren und annotieren. Die Schwierigkeit
ist zu entscheiden, nach welchen Kriterien wir dabei vorgehen sollen, die
der Intention des Autors am besten gerecht werden. Ich muss gestehen,
dass ich hierin über einen ersten oberflächlichen Versuch noch nicht hin-
ausgekommen bin:
Um die Strukturen des Textes in der Basistransliteration deutlicher
sichtbar zu machen, habe ich die Grenzen zwischen Perioden durch visu-
elle Markierungen hervorgehoben (vgl. Abb. 2 und 4): Alle Periodenan-
fänge wurden mit vorangestelltem ‚►‘ markiert, und zwar dort, wo der
Autor selbst durch eindeutige graphische Mittel eine Markierung gesetzt
hat (vergrößerte Majuskel, Unterstreichung, Rubrizierung – oft in Kombi-
nation). Periodenenden (egal, ob durch graphische Mittel symbolisiert
oder als Leerstelle vorhanden) habe ich durch nachgestelltes ‚◄‘ gekenn-
zeichnet. Innerhalb dieser größeren Abschnitte habe ich weiter segmen-
tiert in satzwertige (auch hypotaktische) Abschnitte, die jeweils eine ge-
schlossene Aussage umfassen (z.B. eine Anweisung, die isoliert einen
vollständigen Sinn ergäbe). Die Grenze zwischen solchen Abschnitten
habe ich durch ‚■‘ bezeichnet. In derselben Weise könnte man nun auch
noch Gliedsätze markieren, um zu sehen, ob und durch welche IPZ diese
vom Autor gekennzeichnet sind. Diese visuelle Segmentierung zeigt fol-
genden Befund:
• Die beiden Passagen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer
makrostukturellen Gliederung (in Überschriften und Absätze), son-
dern hauptsächlich im mikrostrukturellen Bereich unterhalb des
Niveaus von Ganz- und Teilsätzen.
• Eine Hierarchie der beiden IP-Symbole Virgel und Punkt ist vor-
läufig nicht festzulegen. Zwar scheint der Punkt tendenziell häufi-
ger am Zeilenende aufzutreten, falls an dieser Stelle überhaupt ein
IPZ gesetzt wird, doch müsste dieser Eindruck erst quantitativ
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 887
Literatur
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_____________
34 Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 26ff.).
35 Vgl. Rachoinig (2009).
36 Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 19).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 891
Abkürzungsverzeichnis
BT Basistransliteration
DMB Brixner Dommesnerbuch
DMI Inventar der Brixner Domsakristei
DMU Brixner Dommesner-Urbar
IP Interpungierung
IPZ Interpungierungszeichen
892 Andrea Hofmeister-Winter
Anhang
Relation wird durch den Subjunktor weil eindeutig ausgedrückt. Die Junk-
tionstechnik ist stark integrativ.
Die satzsemantisch − durch Inhaltsrelationen − begründete Junk-
tionstheorie von Raible sieht insgesamt acht Techniken vor, die der Junk-
tionsdimension zuzuordnen sind. Diese Junktionstechniken werden zwi-
schen maximaler Aggregation und maximaler Integration verortet und
drücken diverse Inhaltsrelationen aus. Raibles Theorie ist zwar der Aus-
gangspunkt der vorzustellenden Theorie, aber keine Endstation. Aus drei
Gründen nicht:
Erstens, weil Raibles Modell ausgehend von den strukturellen Ei-
genschaften romanischer Sprachen entwickelt wurde. Die sich aus
der deutschen Felderstruktur ergebenden zusätzlichen Junk-
tionstechniken und weitere Merkmale der Junktion im Deutschen
konnten also nicht berücksichtigt werden. Da diese im Handbuch der
deutschen Konnektoren (= HdK) ausführlich beschrieben werden,
konnten die Theorien von Raible und des HdK mit eigenen Über-
legungen verbunden werden. Den Phänomenbereich, der mit dieser
Theorie abgedeckt werden soll, nennen wir im Projekt „Explizite
und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pi-
lotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeut-
schen“, explizite Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der
sog. „expliziten Sprache“ (von Polenz 1985, 24f.) zuzurechnen ist. 2
Der zweite Grund ist, dass wir im Projekt meinen, dass eine Junk-
tionstheorie nicht nur diejenigen Verknüpfungen von Sachverhalts-
darstellungen zu modellieren hat, die explizit sind, d.h. durch eine
reguläre Realisierung von Sprachzeichen erfolgen, sondern auch dieje-
nigen, die elliptisch sind, d. h. durch eine reguläre Nichtrealisierung von
Sprachzeichen erfolgen (vgl. Beispiel (2) oben). Dies ist der Phä-
nomenbereich, den man in den Ellipsentheorien Koordinationsel-
lipsen (Klein 1993) oder Ana- bzw. Katalepsen (Hoffmann in der
IDS-Grammatik 1997, 409ff.) nennt. Diesen Phänomenbereich, um
den wir die Theorie der expliziten Junktion ergänzen wollen, nen-
nen wir elliptische Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der
sog. elliptischen Weise des Ausdrucks (von Polenz 1985, 25f.) zu-
zurechnen ist. Überlegungen zu einer Theorie der elliptischen Junk-
tion und zur Integration der expliziten und elliptischen Junktion
wurden von Mathilde Hennig angestellt (Hennig 2008 und Hennig
2009).
_____________
2 Zum Projekt vgl. Ágel / Hennig 2007 und die Projekthomepage online im Internet:
http://www.uni-kassel.de/%7Ehennig/junktion.html.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 901
_____________
3 Um das konzeptionelle Leitprinzip des Langfristprojekts umzusetzen, sind wir dabei, ein
Nähekorpus des Nhd. aufzubauen und grammatisch zu erschließen. Dazu wurde der Zeit-
raum 1650-2000 in sieben Abschnitte à 50 Jahre (I = 1650-1700; II = 1700-1750 ... VII =
1950-2000) eingeteilt. Der jeweilige Entstehungsabschnitt ist den Zitierformen der Korpus-
texte zu entnehmen. „Güntzer I“ ist beispielsweise ein Nähetext aus der Zeit zwischen
1650 und 1700.
902 Vilmos Ágel
1.2. Ziele
_____________
4 V1 = Verbum finitum, V2 = direktes Dependens von V1, V3 = direktes Dependens von
V2. Die Serialisierung im dreigliedrigen Verbalkomplex ist vererdt worden folgt – im Gegen-
satz zu heute − nur im infiniten Bereich (V3V2) dem Dependenzprinzip ‚rechts determi-
niert links’, während die Abfolge des zweigliedrigen Komplexes verdienet habe ganz dem
Prinzip entspricht. Ausführlich s. Ágel 2001.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 903
_____________
6 In Anlehnung an das HdK spreche ich im technischen Sinne von Konnekten, d.h. von zu
jungierenden oder jungierten syntaktischen Strukturen, die jeweils Sachverhaltsdarstellun-
gen repräsentieren.
906 Vilmos Ágel
Folgende Strukturen sollen die einzelnen Klassen − von links nach rechts,
also nach zunehmender Integrativität − einführend exemplifizieren:
(11a) Peter geht nicht zur Schule. Er ist nämlich krank.
(11b)Weil Peter krank ist, geht er nicht zur Schule.
(11c) Wegen seiner Erkrankung kann Peter nicht zur Schule gehen.
(11d) Seine Erkrankung ist der Grund dafür, dass Peter nicht zur
Schule gehen kann.
Da die einzelnen Klassen und die diesen zugeordneten Junktionstechniken
weiter unten begründet werden, soll an dieser Stelle nur auf die Unter-
scheidungskriterien für die einzelnen Klassen eingegangen werden:
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 907
Abbildung 2: Junktionsklassen7
_____________
7 R = Relator (Junktor), K = Konnekt. Die Großbuchstaben K, S und I stehen für die
Klassen Koordination, Subordination und Inkorporation. Mit dem Terminus Inkorporation − im
Unterschied zu Inkorporierung − soll sowohl die Familienähnlichkeit zwischen der Junkti-
onsklasse und dem Wortbildungsverfahren als auch der Domänenunterschied (Syntax vs.
Wortbildung) erfasst werden.
908 Vilmos Ágel
sentiert und daher syntaktisch voll in das andere Konnekt eingegliedert ist.
Inkorporierende Junktoren sind Adpositionen, die regierten Konnekte
Nominalgruppen, die eine Sachverhaltsdarstellung komprimiert ausdrü-
cken.
Bei der Unifikation, deren regierte Konnekte verbal wie nominal sein
können, spielt das sekundäre Unterscheidungskriterium keine Rolle, weil
das Besondere an der Unifikation darin besteht, dass die beiden Konnekte
über einen Prädikatsausdruck vereint werden. Unifizierende Junktoren un-
terscheiden sich also entscheidend von den Junktoren der drei anderen
Klassen, die alle unflektierbaren Wortarten angehören. Dass unifizierende
Junktoren Prädikatsausdrücke sind, ist der Grund dafür, dass sie, obwohl
sie in der Regel weniger grammatikalisiert sind als koordinierende, subor-
dinierende und inkorporierende Junktoren, die beiden Konnekte am
stärksten integrieren.
Im Folgenden sollen die den einzelnen Junktionsklassen zugeordneten
Junktionstechniken vorgestellt werden. Junktionstechniken sind einzelsprach-
liche syntaktische Jungierungsoptionen, die ausschließlich nach der Aggre-
gations- / Integrations-Skala begründet werden. In diesem Sinne stellen
(12a) und (12b) zwei verschiedene Koordinationstechniken dar, obwohl
sie mit demselben Junktor operieren:
(12a) Die Suppe war gut. Dagegen war das Schnitzel nicht saftig genug.
(12b)Die Suppe war gut. Das Schnitzel dagegen war nicht saftig genug.
Doch ist die Gemeinsamkeit zwischen den Junktionstechniken in (12a)
und (12b) nicht zu übersehen. Dieser Gemeinsamkeit trägt das HdK
Rechnung, wenn es dagegen in beiden Fällen als Adverbkonnektor identifi-
ziert.8 Deshalb ist es angebracht, einen Unterschied zwischen Junktionstech-
nik und (Junktions-)Grundtechnik zu machen. Die Grundtechnik − Koordi-
nation durch einen AP-Junktor − ist (12a) und (12b) gemeinsam,
unterschiedlich sind die Junktionstechniken. Ein Junktionssystem, das auf
der Unterscheidung zwischen Techniken und Grundtechniken basiert, soll
ein zweidimensionales Junktionssystem genannt werden.
_____________
8 Im Rahmen des Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhoch-
deutschen“ sprechen wir von AP-Junktoren (= Adverb- und Partikeljunktoren), da nicht alle
Adverbkonnektoren Adverbien sind.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 909
3.2. Junktionstechniken
3.2.1. Koordinationstechniken
Abbildung 3: Koordination
_____________
9 In Anlehnung an die Felderstruktur des HdK. NF / NS = Nachfeld- oder Nachsatzstelle,
VF / MF = Vorfeld oder Mittelfeld, VE / NE = Vorerst- oder Nacherststelle.
910 Vilmos Ágel
_____________
10 K1 = erstes Konnekt, K2 = zweites Konnekt.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 911
3.2.2. Subordinationstechniken
_____________
11 PK = Partizipialkonstruktion, IK = Infinitivkonstruktion.
12 Während die Aggregations- / Integrations-Skala von Raible (1992) infinite Techniken
enthält (Technik V bei Raible), werden sie bei Fabricius-Hansen (1992, 458), die sich auf
„Subordination im engeren Sinne“ beschränkt, explizit ausgeklammert.
912 Vilmos Ágel
Der Vergleich der Belege (14) bis (16) zeigt, dass eine Unterscheidung
zwischen finiter und infiniter Grundtechnik nicht ausreicht, da im Nhd.
die infinite Junktionstechnik ohne zu noch präsent ist (s. (15) und die Infi-
nitivkonstruktion mit reinigen in (16)). Wir betrachten − trotz Infinitheit −
diese Grundtechnik als besonders aggregativ, weil der Infinitiv ohne zu
normalerweise statusregiert ist und daher − als Teil eines Verbalkomple-
xes − keine neue Sachverhaltsdarstellung indiziert. Ähnlich aggregativ sind
Partizipialkonstruktionen, aber aus einem anderen Grund: Die auszudrü-
ckende Inhaltsrelation lässt sich nur pragmatisch inferieren, was Partizi-
pialkonstruktionen inhaltlich in die Nähe von Juxtapositionen rückt. Syn-
taktisch sind sie jedoch qua Infinitheit integriert.
Bei den finiten Junktionstechniken unterscheiden wir in Anlehnung an
das HdK je nach Rektum des internen − durch den Junktor eingeleiteten
− Konnekts Verbzweitsatzeinbetter und Subjunktoren (die man auch
Verbletztsatzeinbetter nennen könnte). Im Gegensatz zum HdK betrach-
ten wir die Subordination durch Postponierer nicht als eine eigene Grund-
technik, da Postponierer (wie z.B. sodass, wobei) ebenfalls Verbletztsatzeinbet-
ter sind. Dass sie weniger integrieren als die Subjunktoren, die auch
anteponiert werden können, wird bei der Operationalisierung zu berück-
sichtigen sein.
Hinsichtlich des Junktionsgrades nehmen wir noch eine Grundtechnik
an, die Subordination durch Subjunktorersatz:
(17) Kaum hatte ich die Arbeit beendet, klingelte das Telefon.
(17a) Kaum dass ich die Arbeit beendet hatte, klingelte das Telefon.
(18) Mir kam es vor, als hätte ich ewig gewartet.
(18a) Mir kam es vor, als ob ich ewig gewartet hätte.
(19) Ist es hier ungemütlich, können wir auch wo anders hingehen.
(19a) Wenn es hier ungemütlich ist, können wir auch woanders hinge-
hen.
Unter Subjunktorersatz verstehen wir die Techniken (17) bis (19), die als
Alternativen der subjungierenden Techniken (17a) bis (19a) dienen. Die-
sen Techniken gemeinsam ist die Subjunktor-Reduktion und deren Indi-
zierung durch Nicht-Verbletzt. Durch die Subjunktor-Reduktion bleibt
entweder nur die besondere Wortstellung – vgl. (19) – oder zusätzlich ein
Restsubjunktor wie in (17) und (19) übrig.13
_____________
13 Typ (19) sind auch uneingeleitete Konzessivsätze mit mag / möge + Inf. zuzuordnen (Ba-
schewa 1983, 98ff.).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 913
_____________
14 Der „zunehmende Integrationsgrad“ gilt wie erwähnt für 1 und 2 bzw. für 3 und 4 nicht,
die als gleich aggregativ / integrativ zu betrachten sind. Entsprechend wird bei der Opera-
tionalisierung (4.2.) von vier Grundtechniken der Subordination auszugehen sein.
15 Die Unterscheidung zwischen infiniter Subordination mit zu ohne und mit Infinitivjunktor
(z.B. ohne…zu) wird bei der Operationalisierung zu berücksichtigen sein.
914 Vilmos Ágel
Befindet sich das interne Konnekt außerhalb der Felderstruktur (in der
sog. Nullstelle), ist die Verbindung besonders aggregativ:17
(20) Um meine Familie zu sehen, ich fahre nach Hause.
Etwas integrativer sind diejenigen Techniken, bei denen sich das interne
Konnekt im Nachfeld befindet. Hier unterscheiden wir drei Techniken:
(21a) Ich fahre nach Hause dazu, um meine Familie zu sehen.
(21b)Ich fahre nach Hause, um meine Familie zu sehen.
(21c) Ich fahre dazu nach Hause, um meine Familie zu sehen.
Entscheidend ist hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala, dass
man zwei Typen von Korrelaten unterscheiden muss: resumptive (= re-
sumptiv) und nichtresumptive (= +KORR).18 Resumptive Korrelate be-
_____________
16 Zugunsten der Übersichtlichkeit wurde hier ein gewisser Grad an terminologischer Unprä-
zision in Kauf genommen, da sich (a) die Nullstelle nicht außerhalb der Felderstruktur,
sondern nur außerhalb der Kernfelderstruktur befindet und (b) die internen Konnekte der
resumptiven Techniken vor dem Vorfeld und nach dem Nachfeld zu positionieren sind.
17 Die Vorstellung der verschiedenen Techniken basiert auf demselben Grundbeispiel, was
zur Folge hat, dass im Gegenwartsdeutschen nicht jedes Beispiel einwandfrei ist.
18 Zur Resumption im Allgemeinen vgl. König / van der Auwera (1988).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 915
setzen die letzte Stelle im vorangestellten Hauptsatz (vgl. (21a)) und die
erste Stelle im nachgestellten Hauptsatz (vgl. (23a)). Sie sind versetzend:
rechtsresumptive Korrelate rechtsversetzend, linksresumptive linksverset-
zend. Nichtresumptive Korrelate befinden sich unabhängig von der Stel-
lung des Hauptsatzes in dessen Mittelfeld (vgl. (21c) und (23c)). (21a) ist
demnach rechtsresumptiv. Verglichen mit der korrelatlosen (= −KORR)
Technik (21b) ist es aggregativ, weil das resumptive Korrelat einen direk-
ten Anschluss an das erste (externe) Konnekt verhindert.
Am integrativsten ist die Technik (21c) mit (nichtresumptivem) Kor-
relat, weil das nichtresumptive Korrelat den Anschluss des internen Kon-
nekts nicht nur ermöglicht (wie −KORR), sondern auch antizipieren lässt.
Im Mittelfeld besteht nur die Option − / +KORR:
(22a) Ich fahre, um meine Familie zu sehen, nach Hause.
(22b)Ich fahre dazu, um meine Familie zu sehen, nach Hause.
Am besten untersucht sind die Techniken, bei denen das interne Konnekt
im Vorfeld steht.19 Diese sind zu den Nachfeld-Techniken quasi spiegel-
bildlich (linksresumptiv, –KORR, +KORR):
(23a) Um meine Familie zu sehen, dazu fahre ich nach Hause.
(23b)Um meine Familie zu sehen, fahre ich nach Hause.
(23c) Um meine Familie zu sehen, fahre ich dazu nach Hause.
3.2.3. Inkorporationstechniken
Abbildung 6: Inkorporation
3.2.4. Unifikationstechniken
So wie bei der Inkorporation ist auch hier nur eine Grundtechnik anzu-
nehmen:21 beidseitige Integration der Konnekte durch einen Prädikatsaus-
druck, der den unifizierenden Junktor darstellt. Es ist diese Beidseitigkeit der
Integration (= zwei regierte Konnekte), die die Annahme begründet, dass
diese Grundtechnik am integrativsten ist. Beidseitigkeit hat die theoretische
Konsequenz, dass die Unterscheidung zwischen externem und internem
Konnekt entfallen muss. Wir unterscheiden drei Unifikationstechniken:
_____________
21 Diese Technik fehlt bei Raible. Breindl / Waßner (2006, 47) rechnen dagegen mit „spezifi-
sche[n] Nomina und Verben“ (= LEX) als konnexionsstiftenden formalen Mitteln. LEX
entsprechen den unifizierenden Junktoren.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 917
Abbildung 7: Unifikation
4. Operationalisierung
4.1. Methode
4.2. Punktgebung
(28) Der See ist zugefroren und die Kinder spielen auf dem Eis.
Im Gegensatz zu der „real-word“-„content“-Verbindung in (28) ist jedoch
(27) epistemisch. Die Subordination in (27a) versagt aus analogen Grün-
den wie die anti-ikonischen Kodierungen in (25a) und (26a). P1 besagt
also, dass dieselbe Technik bei epistemischen und Sprechakt-Verknüpfungen,
die wir der Einfachheit halber nichtpropositional nennen, höher zu bewerten
ist als bei propositionalen Verknüpfungen. Die andere Konsequenz, die
sich aus LP1 ergibt, ist
P2: Vagheit der semantischen Relation reduziert den Junktionsgrad
derselben Technik.
P2 soll an drei Typen von Fällen exemplifiziert werden:
(29) Schieß also meinen Busser loß, daß die Kugel in eine Eichen
ging. (Güntzer I, 43r)
(30) […] Zog mit mihr biß an das Landts zu Meren zu dem Ende,
mich als ein junger Gesell um daz Gelt zu pringen. (Güntzer I,
45r)
(31) Seinen Abgang verdankt er seinem Verhalten.
In all diesen Fällen sind die durch die Junktoren ausgedrückten semanti-
schen Relationen vage, die semantische Integration der Sachverhaltsdar-
stellungen bedarf zusätzlicher interpretativer Anstrengungen. Bei den
wohlbestimmten Kontrastfällen greift P2 dagegen nicht:
(29a) […] sodass die Kugel in eine Eiche einschlug.
(30a) […], um mich um das Geld zu bringen.
(31a) Sein Abgang folgt aus seinem Verhalten.
Eine Art Bonus-Pendant von P2 ist
P3: Emphatische Verstärkung der semantischen Relation erhöht den
Junktionsgrad derselben Technik.
Die Wirkung von P3 soll an einem Typus exemplifiziert werden, für den
auch P2 einschlägig ist:
(32) Dieser Hauptman Widmarckter, ob er nuhn gleich höchstgedach-
ter Ihrer Majestät in vielen Occasionen sein tapferes, treues Ge-
müt […] bezeuget […] (Söldnerleben Widmarckters I, 70)
Es handelt sich um einen diskontinuierlichen Subjunktor mit vagem Erst-
lexem, weshalb für das Erstlexem P2 gilt. Da jedoch die Vagheit durch das
Zweitlexem, das in diesem noch nicht grammatikalisierten Stadium von
922 Vilmos Ágel
emphatische Verstärkung
Internes Konnekt im VF
Felderstruktur oder NF
konterkarierende Wort-
halb der Felderstruktur
Nichtpropositionalität
Junktor außerhalb der
Paarigkeit
resumptiv
Basiswert
KORR +
KORR –
oder NF
stellung
Grundtechni-
ken
on
Koordination
Konjunktor 1 X 1 1 X X X X X X -1 X -1
AP-Junktor 2 -1 1 1 X X X X X X -1 X -1
Subordinati-
on
3 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
PK/IK-zu
V2-Einbetter 4 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
/ Subj.ersatz
Subjunktor 5 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
6 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
IK+zu
Inkorporati-
7 X X X -1 0 1 X X X X X -1
on
Unifikation 8 X X X X X X -1 0 1 X X -1
Tabelle 1: Punktgebungsverfahren
Im abschließenden Kapitel wenden wir uns nun der Berechnung des Junk-
tionswertes auf der Grundlage des in Tabelle 1 zusammengefassten
Punktgebungsverfahrens und der Junktionsintensität zu.
Die Proto-Texte im Bereich der expliziten Junktion sind mit denen des
Nähe-Distanz-Modells identisch (zur Begründung vgl. Ágel / Diegelmann
im Druck, zu den Proto-Texten vgl. Ágel / Hennig 2006b). Es handelt
sich um den Proto-Nähetext Daniel Domian VII und den Proto-
Distanztext Kant III. Die detaillierte Junktionsanalyse der Proto-Texte
befindet sich in Ágel / Diegelmann (im Druck). Die für die Feststellung
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 925
Wir sehen, dass − bezogen auf dieselbe Textlänge (1.782 bzw. 1.784
Wortformen) − der proto-aggregative Text nahezu doppelt so viele Kon-
nekte hat wie der proto-integrative Text (212 bzw. 116). Dies bedeutet,
dass eine durchschnittliche Sachverhaltsdarstellung bei Kant in etwa dop-
pelt so lang ist wie bei Daniel Domian. Da per definitionem nur Sachver-
haltsdarstellungen jungiert werden können, ist die Anzahl der Konnekte
der entscheidende Bezugspunkt für die anderen Werte.
In diesem Sinne sind die Basispunkte (= Punktzahl der eingesetzten
Grundtechniken) und die Gesamtpunkte (= Basispunkte + Bonuspunkte
− Maluspunkte) zu beurteilen. Diese liegen bei Kant deshalb nur unwe-
sentlich höher, weil sie sich auf halb so viele Konnekte beziehen. Relativ
zu der Anzahl der Konnekte hat Kant mehr als doppelt so viele Basis-
punkte (1,9 vs. 0,9 pro Konnekt) und doppelt so viele Gesamtpunkte (1,8
vs. 0,9) wie Daniel Domian. Die auf ein Konnekt bezogenen Werte wer-
den in Tabelle 3 zusammengefasst:
Diese Werte für Daniel Domian VII und Kant III definieren die End-
punkte von zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basis-
punkte, und Q Gesamtpunkte. Der Abstand beträgt bei Q Basispunkte: 1,00
0,9 1,9
0,9 1,8
Unser einzuordnender Text ist ein Nähetext aus dem 17. Jh. (Bauernle-
ben I). Die detaillierte Junktionsanalyse von Bauernleben I befindet sich im
Anhang. Der besseren Vergleichbarkeit halber werden die Daten von
Bauernleben I in Tabelle 2 eingefügt.
Da die analysierte Textlänge von Bauernleben I nicht mit der der Proto-
Texte identisch ist, müssen die Zahlen von Bauernleben I an die Textlänge
der Proto-Texte (= 1783) angeglichen werden. Die analysierte Textlänge
der Proto-Texte macht 85 Prozent der analysierten Textlänge des einzu-
ordnenden Textes aus, sodass die Werte von Bauernleben I um 15 Pro-
zent reduziert werden müssen.
Die Werte für Daniel Domian VII und Kant III wurden als Endpunkte
der Skalen definiert. Der Abstand zwischen diesen beiden Endpunkten
bildet den Ausgangspunkt für die Verortung des Textes.
Q Basispunkte:
Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Basispunkte: 1,00.
Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,6.
Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet
werden:
1,00 0,6
---- = ---- x = 60 %
100 x
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregati-
onspol 60 Prozent und vom Integrationspol 40 Prozent beträgt. Der Text
Bauerleben I erhält in Bezug auf Q Basispunkte einen Aggregationswert
von 40 Prozent und einen Integrationswert von 60 Prozent.
Q Gesamtpunkte:
Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Gesamtpunkte: 0,9.
Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,3.
Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet
werden:
0,9 0,3
---- = ---- x = 33,3 %
100 x
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregati-
onspol 33,3 % und vom Integrationspol 66,7 % beträgt. Der Text Bauer-
leben I erhält in Bezug auf Q Gesamtpunkte einen Aggregationswert von
66,7 % und einen Integrationswert von 33,3 %.
Die unterschiedlichen Werte von Bauernleben I bezogen auf die Ska-
len Q Basispunkte, und Q Gesamtpunkte sind nicht überraschend, schließlich
bildet die Skala Q Basispunkte nicht das zweidimensionale Junktionssystem
928 Vilmos Ágel
mit Grundtechniken und Techniken, sondern nur das Basissystem ab. Die
besonderen junktionstechnischen Variationen des Textes manifestieren
sich in der Skala Q Gesamtpunkte. Dass Bauernleben I tatsächlich weit von
der Integrativität von Kant III entfernt ist, davon zeugen folgende Daten:
1. Paarige Junktion kommt in Bauernleben I kein einziges Mal vor, in
Kant III sieben Mal.
2. Das interne Konnekt ist in Bauernleben I 33-mal außerhalb der Fel-
derstruktur oder im Nachfeld, in Kant III 13-mal.
3. 15 vagen semantischen Relationen in Bauernleben I stehen fünf in
Kant III gegenüber.23
Von den zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basispunk-
te, und Q Gesamtpunkte definiert also die Skala Q Gesamtpunkte den Junk-
tionswert des Textes. Da Aggregationswert und Integrationswert kom-
plementär sind − bei Bauerleben I 66,7 % bzw. 33,3 % −, ist es − so wie
auch bei den Nähe- oder Distanzwerten − egal, welchen Wert man angibt.
Der Junktionswert wird wie folgt festgelegt:
Der Junktionswert ist der Abstand vom Aggregationspol.
Bauernleben I hat demnach einen relativ niedrigen Junktionswert: 33,3 %.
4.3.3. Junktionsintensität
Vergleicht man in den drei untersuchten Texten den Anteil der Junktionen
(= der Aussagenverknüpfungen) an der Gesamtzahl der Konnekte, be-
kommt man ein Bild darüber, wie intensiv in einem Text jungiert wird. Die
entsprechenden Prozentwerte beziffern also die Junktionsintensität eines
Textes in Bezug auf Extension A (zu den Junktionsextensionen vgl. Kapi-
tel 2.).
_____________
23 Alle drei Daten von Bauernleben I beziehen sich auf die ursprüngliche Textmenge (2.098
Wortformen), sodass der relative Unterschied bei 1 etwas größer, bei 2 und 3 etwas kleiner
ist (Kant III = 1.782 Wortformen).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 929
Konnekte können jedoch nicht nur (im Sinne von Extension A) jungiert
werden, sondern auch durch grammatische Relationen wie Subjekt, Ob-
jekt und Attribut verbunden werden. Es gibt also nicht nur syntaktische
Techniken der Aussagenverknüpfung, sondern auch Techniken, die der
Einbettung einer Aussage in eine andere Aussage und dem Hinzufügen
einer Aussage zu einer anderen Aussage dienen (Extension B). Man muss
also berücksichtigen, dass ein Konnekt, das nicht jungiert ist, durchaus
verbunden sein kann. Und wenn es anderweitig, also nicht durch Junktion,
verbunden ist, steht es für eine Junktionsrelation oft nicht mehr zur Ver-
fügung:
(35) Ich kenne ein gutes Lokal, das *deshalb / *trotzdem weit von
der Uni ist.
(36) Du gehst selten aus. Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert
mich trotzdem nicht.
(37) Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert mich deshalb nicht,
weil du oft ausgehst.
Beim Attributsatz wären gewiss nicht alle Inhaltsrelationen blockiert, aber
kausal und konzessiv scheinen sie ausgeschlossen zu sein. Die Hauptsätze
von (36) und (37) können zwar konzessiv und kausal jungiert werden, der
jeweilige Hauptsatz ist jedoch nicht mit dem jeweiligen Subjektsatz, son-
dern mit vorangehenden und nachfolgenden Konnekten verbunden. Die
Subjektsätze sind zwar verbunden mit ihren Hauptsätzen, sind aber eben-
falls schlecht jungierbar.
Im Sinne von Extension B muss man also unverbundene und verbun-
dene Konnekte unterscheiden. Unverbundene Konnekte gehen keinerlei
syntaktische Beziehungen zu benachbarten Konnekten ein. Verbundene
Konnekte sind alle Konnekte − inklusive natürlich der (im Sinne von
Extension A) jungierten Konnekte −, die nicht unverbunden sind. Die
Proportion von verbundenen und unverbundenen Konnekten in den drei
Texten sieht wie folgt aus:
930 Vilmos Ágel
Quellen
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Dominik Sieber (Hrsg.), (Selbstzeugnisse der Neuzeit 8), Köln, Weimar 2002.
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934 Vilmos Ágel
Abkürzungsverzeichnis
APJ Adverb- und Partikeljunktor
IK-zu Infinitivkonstruktion ohne zu
IK+zu Infinitivkonstruktion mit zu
KORR (nichtresumptives) Korrelat
MF Mittelfeld
NE Nacherstposition
NF Nachfeld
PK Partizipialkonstruktion
S Subjunktor
Subj.ersatz Subjunktorersatz
V2-Einbetter Verbzweitsatzeinbetter
VE Vorerstposition
VF Vorfeld
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 935
Anhang
132
300
82
36
31
Summe
0
6
0
6
0
vage semantische
-14
-15
-1
Relation
Nichtpropositio-
X
X
0
nalität
konterkarierende
-2
-2
X
X
Wortstellung
X
0
KORR +
X
0
KORR −
-12
-2
-6
-4
X
X
resumptiv
internes Konnekt
X
X
0
im VF
internes Konnekt
X
X
0
im MF
internes Konnekt
außerhalb der
-31
-33
-1
-1
X
X
Felderstruktur
oder NF
emphatische
X
X
1
3
Verstärkung
X
X
0
Paarigkeit
Junktor außerhalb
X
X
X
X
X
X
0
der Felderstruktur
oder NF
185
359
82
36
35
6
0
8
7
0
Basiswert
Punktgebungstabelle: Bauernleben I
Anzahl an Bele-
147
82
37
18
0
2
0
1
gen
Einbetter / Subj.ersatz
und kombinierte
Grundtechniken
Subordination
Inkorporation
Koordination
Unifikation
Techniken
PK / IK-zu
KJ + APJ
S + APJ
IK+zu
APJ
V2-
KJ
S
Aggregative Koordinationsellipsen
im Neuhochdeutschen∗
1. Einleitung
Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Koordinationsellipsen im
Neuhochdeutschen wie in den folgenden Beispielen:1
(1) und blieb also die gantze gemeinde in der kirchen und […] höreten
mit fleiß zu (Nehrlich II)2
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Aus heutiger Sicht wirken die Beispiele ungrammatisch, weil die nicht
realisierte Konstituente im elliptischen Konjunkt und die als Bezugsele-
ment fungierende Konstituente im benachbarten Konjunkt nicht identisch
sind: In Beispiel (1) steht das Subjekt im ersten Konjunkt im Singular,
während das Prädikat höreten im zweiten Konjunkt ein pluralisches Subjekt
nahe legt. In Beispiel (2) steht die angesprochene Person im ersten Kon-
junkt im Dativ und fungiert im zweiten Konjunkt als Subjekt, wäre also
nominativisch zu realisieren.
_____________
∗ Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Explizite und elliptische
Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zur Sprachstufengrammatik
des Neuhochdeutschen“.
1 Der Beitrag beschränkt sich auf Koordinationsellipsen auf Satzebene. Koordinationsellip-
sen auf Phrasenebene (das alte und das neue Rathaus) werden nicht berücksichtigt.
2 Bei der Wiedergabe der Beispiele werden die Auslassungen durch eckige Klammern und
die Bezugselemente durch Kursivsetzung markiert. Wenn es keine Kursivsetzung gibt,
heißt das, dass keine Konstituente des benachbarten Konjunkts als Bezugselement fun-
giert. Die römischen Ziffern hinter den Namen der Quellentexte bezeichnen Zeitabschnit-
te: I = 1650-1700, II = 1701-1750, III = 1751-1800 usw.
938 Mathilde Hennig
2. Koordinationsellipsen in Ellipsentheorie
und Sprachgeschichtsforschung
2.1. Ellipsentheorie
2.2. Sprachgeschichtsforschung
beiden Texte haben eine Kontrollfunktion, d.h., mit ihnen soll überprüft
werden, ob aggregative Koordinationen auch in Distanztexten und in
gegenwartssprachlichen Nähetexten nachweisbar sind. Das Korpus setzt
sich aus den folgenden Texten zusammen:6
Der Text Güntzer I ist eine Autobiographie eines Kannengießers aus dem
Elsässischen. Augustin Güntzer ist viel gereist und berichtet vor allem von
seinen diesbezüglichen Erlebnissen. SchuhmacherChronik II ist die Chronik
eines Schuhmachers aus Reutlingen. Im Gegensatz zu Güntzer bemüht
sich der Autor hier um eine möglichst neutrale Schilderung der Ereignisse
in seinem Dorf. Bei Kant III handelt es sich um die Prolegomena zu einer jeden
künftigen Metaphysik. Briefwechsel V ist der Briefwechsel eines Braunschwei-
ger Ehepaares aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 1871. Bei
Sprachbiographien VII schließlich handelt es sich um Interviews, die mit
ehemaligen DDR-Bürgern in den 90er-Jahren durchgeführt worden sind.
Wie man an der Verteilung der Texte auf verschiedene Sprachräume
und verschiedene Textsorten erkennen kann, wurde keine Homogenität
bezüglich dieser beiden Textparameter angestrebt. Auswahlkriterium war
allein der Grad der Nähesprachlichkeit der Texte.7
_____________
6 Alle Texte haben einen Umfang von ca. 12.000 Wortformen.
7 Das Korpus des Projekts „Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“ befindet sich
derzeit noch im Aufbau. Deshalb war es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, Krite-
rien der genannten Art in die Korpusbildung einzubeziehen.
948 Mathilde Hennig
Mit einem Umfang von fünf Texten, wobei je ein Nähetext aus dem
17.-20. Jahrhundert vorliegt, ist das Korpus zu klein für valide Schlussfol-
gerungen. Das Korpus kann hier deshalb nur als Fundament für grundle-
gende Überlegungen zur Beschreibung und Typisierung aggregativer Ko-
ordinationsellipsen dienen. Aus den statistischen Angaben zur Belegvertei-
lung lassen sich dagegen lediglich Tendenzen ableiten.
Ausgangspunkt der Untersuchungen zur aggregativen Koordination
ist die folgende, im Rahmen der Nähe-Distanz-Theorie entstandene Defi-
nition:
Bei einer aggregativen Koordination ist die im zweiten Konjunkt implizit geblie-
bene Kategorie nicht identisch mit der expliziten Kategorie im ersten Konjunkt.
(Ágel / Hennig 2006c, 388)
Im Rahmen der im Zusammenhang mit der empirischen Analyse er-
folgenden Überlegungen zur Typisierung aggregativer Koordinationen
wird zu überprüfen sein, ob diese Definition tatsächlich alle Typen aggre-
gativer Koordination abdeckt. Deshalb kann sie hier zunächst nur als
Ausgangsdefinition betrachtet werden.
_____________
Zugrunde gelegt wurde die Berechnung der Mikronähesprachlichkeit (Ágel / Hennig
2006b, 35ff.). Da sich der vorliegende Beitrag nicht mit der Nähesprachlichkeit von Texten
im allgemeinen Sinne beschäftigt, sondern ausschließlich mit aggregativen Merkmalen,
wurde der alle Parameter des Nähesprechens berücksichtigende Mikrowert mit dem Mik-
rowert für den (für aggregative Strukturen verantwortlichen) Zeitparameter verrechnet.
Auf der Basis dieser Analyse ergeben sich die folgenden Werte für die Nähetexte des Kor-
pus:
Güntzer I: Nähe Mikro allgemein = 28,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter (= Durch-
schnittswert des allgemeinen Mikrowertes und des den Zeitparameter betreffenden Mik-
rowertes): 38,4 %.
SchuhmacherChronik II: Nähe Mikro allgemein = 17,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter =
53,6 %.
Briefwechsel V: Nähe Mikro allgemein = 37,7 %; Nähe Mikro + Zeitparameter = 43,2 %.
Sprachbiographien VII: Nähe Mikro allgemein = 29,6 %; Nähe Mikro + Zeitparameter =
34 %.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 949
Text Beleganzahl
Güntzer I 57 34,1 %
SchuhmacherChronik II 90 53,9 %
Kant III 0 -
Briefwechsel V 20 12,0 %
Sprachbiographien VII 0 -
Gesamt 167 100 %
Übersicht 2: Verteilung der Belege auf die Texte
Insgesamt sind nur vier der Belege für aggregative Koordination rück-
wärtselliptisch, verteilt auf die Texte Güntzer I und Briefwechsel V. Dass
offenbar eine Korrelation zwischen aggregativer Koordination und Vor-
wärtsellipse besteht, verwundert nicht, da Rückwärtsellipsen einen höhe-
ren Planungsaufwand erfordern: Wenn sich eine Ellipse auf ein Folgeele-
ment bezieht, muss das folgende Konjunkt bereits mit geplant sein, um
die Ellipse auf dieses abstimmen zu können. Aggregative Strukturen sind
dagegen gerade ein Indiz für spontane Diskursgestaltung, bei der Planung
und Produktion zeitgleich verlaufen. Diese Einschätzung führt zu der
950 Mathilde Hennig
Bei den folgenden Überlegungen zur Typisierung beziehe ich mich auf die
in 2.1. zitierten Tilgungsregeln integrativer Koordinationsellipsen (Klein
1993, 770; Hoffmann 1997, 574). Aggregative Koordinationen können ex
negativo als solche Koordinationsellipsen bestimmt werden, die von die-
sen Tilgungsregeln abweichen. Auf diese Weise können die Tilgungsregeln
den Ausgangspunkt für die Typisierung aggregativer Koordinationen bil-
den. Die Tilgungsregeln für integrative Koordinationsellipsen betreffen
die folgenden Bereiche:
• Konstituenten gleichen Typs, Identität der Kategorien
• Identische Sätze, Parallelität der Position
• Identität des Redegegenstandes.
Aus diesen Bedingungen lassen sich nun Grundtypen aggregativer Koor-
dination ableiten, indem sie als Abweichungen von je einer dieser Bedin-
gungen bestimmt werden. Ich bezeichne die Abweichung von der Bedin-
gung ‚Identität der Kategorien‘ als ‚kategoriale Aggregation‘, die
Abweichung von der Bedingung ‚identische Sätze‘ als ‚strukturelle Aggre-
gation‘ und die Abweichung von der ‚Identität des Redegegenstandes‘ als
‚referentielle Aggregation‘. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
In Beispiel (2) liegt ein Wechsel im Bereich der Kasuskategorisierung vor,
und zwar von Dativ zu Nominativ. Es handelt sich also um kategoriale
Aggregation.
(16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener daß
Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger Burckholtz
begraben (SchumacherChronik II)
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 951
Eine deutliche Präferenz für den Typ der kategorialen Aggregation ist klar
erkennbar. Allerdings gibt es Unterschiede in den einzelnen Texten: For-
men struktureller Aggregation kommen vor allem in der Schuhmacher-
Chronik II vor. Bei Güntzer I ist die Bevorzugung der kategorialen Ag-
gregation noch deutlicher als in der Gesamtwertung. Der text
Briefwechsel V weist fast nur kategoriale Aggregationen auf.
Bezugnehmend auf Hypothese 2 soll nun der Einfluss der Art der
Satzverbindung auf die aggregative Koordination untersucht werden:
_____________
8 Die Prozentzahlen kennzeichnen den Anteil an den aggregativen Koordinationen insge-
samt (167).
952 Mathilde Hennig
1. Art der kategorialen Aggregation: Was für ein Kategorientyp ist be-
troffen? Hier berufe ich mich auf die Unterscheidung zwischen
Wort- und Einheitenkategorien durch Peter Eisenberg (2006, 16ff.).
2. Ort der kategorialen Aggregation: Was für Bestandteile des Satzes
sind betroffen? Hier unterscheide ich zunächst zwischen Nominal-
gruppen und Verbalgruppen betreffenden kategorialen Aggregatio-
nen. In einem weiteren Schritt kann spezifiziert werden, um was für
Formen von Nominal- und Verbalgruppen es sich handelt. Auf
eine solche weitere Spezifizierung verzichte ich aus Platzgründen.
Die folgenden Beispiele sollen die Unterscheidung illustrieren:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Hier ist – wie bereits in Kapitel 3.3. besprochen – die nominale Kategorie
Kasus von der aggregativen Koordination betroffen. Art der Kategorisie-
rung ist die Einheitenkategorie Kasus, Ort ist die Nominalgruppe.
(18) unßer fornemen, wahr weidt zu Reißen vnd […] kondten Nicht
alen tag bey vnßern eltern, gelt vnd gleider abhollen, (Güntzer I)
Wie in Beispiel (2) bleibt auch in (18) der Wechsel innerhalb der Nomi-
nalgruppe. Während hier Kasus, Person und Numerus konstant bleiben,
wird der Bezug zur 1. Person Singular Nominativ im Bezugskonjunkt
durch einen Possessivartikel hergestellt, während er im elliptischen Kon-
junkt als Personalpronomen zu realisieren wäre. Somit ist die Wortkatego-
rie Wortart betroffen.
(19) ich und Meine geferdten hatten Noch wol gelt ieweder […] bey
20 Gulden (Güntzer I)
In diesem Beispiel finden mehrere Wechsel im Bereich verbaler Einhei-
tenkategorien statt: Das realisierte finite Verb hatten im ersten Konjunkt ist
in Bezug auf die Kategorisierungen Person und Numerus als 1. Person
und Plural kategorisiert. Im zweiten Konjunkt wäre das finite Verb als 3.
Person und Singular zu kategorisieren.
(20) Den anderen Tag wie man die Huldigungs Gnad hat angenomen
ist man vor umb 8 Uhr morgens in die Kirch gegangen […] dem
Keyser umb glickliche Regierung gebetten (SchuhmacherChro-
nik II)
Von kategorialer Aggregation ist hier das Perfektauxiliar betroffen: Das
Verb gehen des Bezugskonjunkts verlangt eine Perfektbildung mit sein,
954 Mathilde Hennig
_____________
9 Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 98 kategorialen Aggrega-
tionen.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 955
(21) vnder solche Beße Buben vndt Merdter bin ich auch gevallen
vndt […] Nahe ermordtet worden so Mich Mein gott Nicht er-
halten hette (Güntzer I)
Der folgende Überblick über mögliche Formen struktureller Aggregation
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern spiegelt lediglich die
Situation im Korpus wider.
1. Nebensatz – Hauptsatz
(16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener
daß Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger
Burckholtz begraben (SchumacherChronik II)
Dieses Beispiel wurde bereits in 3.3. zur Illustration des Grundtyps
‚strukturelle Aggregation‘ zitiert und kommentiert. Im Korpus ist
nur der hier illustrierte Fall des Wechsels von Nebensatz zu Haupt-
satz belegt. Der umgekehrte Fall des Wechsels von Haupt- zu Ne-
bensatz kommt nicht vor.
2. Verbalsatz – verbloser Satz
(22) den 6ten ein Schne gefallen und […] kalt darauff (Schuhma-
cherChronik II)
Wie im Fall der referentiellen Aggregation (Beispiel 17) behält das
Subjekt des ersten Konjunkts nicht seine Geltung für das zweite
Konjunkt. Der Unterschied besteht darin, dass hier keine Struktur-
parallelität vorliegt, sondern ein Wechsel von einer verbalen in eine
verblose Struktur. Die Bindung des zweiten Konjunkts an das erste
wird dadurch loser als in den anderen bisher besprochenen Fällen.
3. Konjunkt – Satzglied
(23) den 20igsten war es wider Schön u. recht warm u. […] cont. zum End
deß Monats (SchuhmacherChronik II)
In diesem Beispiel bezieht sich das elliptische Subjekt im zweiten
Konjunkt auf das gesamte erste Konjunkt, das erste Konjunkt ist
also referenzidentisch mit dem elliptischen Subjekt des zweiten
Konjunkts.
956
Schuhmacher-
10 22,7 % 9 20,0 % 20 44,4 % 0 - 39 86,7 %
Chronik II
4. Konsequenzen
Abschließend sollen Konsequenzen des hier vorgestellten Ansatzes
• für die Ellipsentheorie,
• für die Sprachgeschichtsforschung
• und für die Nähe-Distanz-Theorie
erörtert werden.
Mit vorliegendem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, dass eine aus-
schließlich an integrativen Formen von Koordinationsellipsen ausgerichte-
te Ellipsentheorie kein vollständiges Bild von Koordinationsellipsen zu
zeichnen vermag. Eine gegenwartsgrammatisch perspektivierte und
schriftzentrierte Ellipsentheorie wird nicht nur nicht dem Prinzip der
sprachhistorischen Adäquatheit (= Viabilitätsprinzip, vgl. Ágel 2001) ge-
recht, sondern ist auch zwangsläufig präskriptiv orientiert, weil sie die
nicht ihren Tilgungsregeln entsprechenden Ellipsen als mögliche Formen
von Koordinationsellipsen ausschließt.
Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Typen aggregativer Ko-
ordination schlage ich vor, die bisher vorrangig dichotomisch orientierte
_____________
10 Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 44 strukturellen Aggrega-
tionen.
958 Mathilde Hennig
kontext- nicht-kontext-
kontrollierte kontrollierte
Ellipsen Ellipsen
weniger kontextkontrollierte Ellipsen:
aggregative Koordinationen
Aber nicht nur die Ellipsentypen sind skalar zu modellieren, sondern auch
aggregative und integrative Koordinationen:
aggregative integrative
Koordination Koordination
Dabei gilt: Bei integrativer Koordination weisen die Konjunkte einen ge-
ringeren Grad an Selbständigkeit in der Organisation auf. Die Konjunkte
sind in höherem Maße voneinander abhängig. Bei aggregativer Koordina-
tion ist der Grad an Selbständigkeit in der Organisation höher, der Zu-
sammenschluss der beiden Konjunkte wird dadurch schwächer.
Relativ einfach sind Abstufungen der Aggregativität im Bereich der
kategorialen Aggregation festzulegen, indem die Anzahl der Aggregatio-
nen berücksichtigt wird. So ist bspw. von dem bereits mehrfach zitierten
Beispiel (2) nur eine Kategorisierung betroffen:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Die Aggregation betrifft hier nur die Kategorisierung Kasus, alle anderen
Kategorisierungen bleiben gleich. Folgendes Beispiel weist dagegen zwei
Kategorisierungswechsel auf:
(25) fanden aber keine als die bloße Erde und dicken Dreck wo man
immer drin fest saß und […] nicht aus der stelle kommen konn-
ten (Briefwechsel V)
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 959
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[unveröffentlicht]
962 Mathilde Hennig
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Im Spannungsfeld
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Populare Techniken der Redewiedergabe
in der Frühen Neuzeit
1. Fragestellung
Die Sprachgeschichtsschreibung verweist immer wieder auf ein zentrales
Ereignis, das die sprachliche Entwicklung in der Frühen Neuzeit entschei-
dend beeinflusst hat: die Dissoziierung von gesprochener und geschriebe-
ner Sprache.1 Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist von einer „Schrift-
sprache der Gebildeten“ auszugehen, die sich strukturell im Laufe der Zeit
immer stärker von der gesprochenen Sprache unterschied. Gleichzeitig
übte diese Schriftsprache aber auch einen so starken Einfluss als Leitvarie-
tät aus, dass sich nach und nach eine sekundäre, schriftsprachlich geprägte
Oralität auszubilden begann. Mündlichkeit und Schriftlichkeit standen
somit in einem Abstoßungs-, aber auch in einem Anziehungsverhältnis
zueinander, unterlagen also zwei divergierenden Trends. Beide Entwick-
lungen wurden bekanntlich von der Elite der ständischen Gesellschaft
getragen, besonders vom städtischen Patriziat und den Akademikern.
Verhältnismäßig wenig bekannt ist dagegen, wie sich populare Schrei-
ber, also jene, die nicht zur Elite der ständischen Gesellschaft zählten,2 in
diesem Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhielten.
War ihnen die Dissoziierung, die Differenz zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit, bekannt und bewusst? In diesem Fall müsste sich nachwei-
sen lassen, dass auch populare Autoren gezielt prototypisch schriftsprach-
liche Strukturen wählten – sei es, um sich den Prestigezugewinn zu si-
chern, oder einfach, um die andersartigen medialen Anforderungen zu
bedienen. Oder war ihnen die Differenz zwischen Mündlichkeit und
_____________
1 Vgl. etwa Reichmann (2003).
2 Vgl. zur Definition Brändle (2001, 441).
966 Anja Voeste
Schriftlichkeit nicht bekannt bzw. nicht bewusst? Haben sie sie – auch das
ist theoretisch möglich – gar absichtlich nicht berücksichtigt, um „Nähe“
zum potenziellen Leser herzustellen? Dann dürften sich Strukturen, die
prototypisch schriftsprachlich sind, gerade nicht finden lassen, sondern
stattdessen solche, die der gesprochenen Sprache näher stehen. Oder
muss man als dritte Möglichkeit sogar mit einer Mischung von beidem
innerhalb eines Textes rechnen? Daten zur Verwendung von Vergleichs-
partikeln aus dem 19. Jahrhundert zeigen z.B., dass es die Schreiber mit
Elementarschulbildung waren, die in Privatbriefen sowohl die „schrift-
sprachlichste“ und somit wohl prestigereichste Variante ([größer] denn) als
auch die stigmatisierteste Variante ([größer] als wie) nutzten, während sich
die Schreiber mit Sekundarschulbildung auf die Varianten [größer] als und
[größer] wie beschränkten.3 Muss man sich auch für die Frühe Neuzeit auf
ein solches Nebeneinander geschrieben- und gesprochensprachlicher
Muster innerhalb eines Textes einstellen? Wie wären solche theoretisch
möglichen Fälle überhaupt zu interpretieren? Wären, um bei diesem Bei-
spiel zu bleiben, etwa alle [größer] als wie per se als unbewusst gewählte
„Alltagsvarianten“ zu klassifizieren, wenn daneben ein sicherlich strate-
gisch platziertes [größer] denn im Sonntagsanzug auftaucht? Oder kann es
so etwas wie eine „Zwitterorientierung“ an geschriebensprachlichen Dis-
tanz- und gesprochensprachlichen Nähemustern gleichermaßen geben –
nach dem Motto: „Ich bin zwar gebildet, aber trotzdem einer von euch“?
Um einen kleinen Schritt in Richtung auf die Beantwortung dieser
Fragen zu gehen, möchte ich im Folgenden drei autobiographische Texte
von Handwerkern der Frühen Neuzeit in den Blick nehmen. Die Abfas-
sung der Texte ist dem Umstand zu verdanken, dass die Autoren aufgrund
ihres religiösen Familienhintergrunds schon früh mit Lesen und Schreiben
vertraut waren und dass Schriftlichkeit, insbesondere die religiöse Lektüre,
zeitlebens eine besondere Bedeutung für sie hatte, denn alle drei Autobio-
graphen wurden aus religiösen oder ökonomischen Gründen aus ihren
angestammten Sozialverbänden ausgeschlossen. Lesen und Schreiben
waren für sie Rückzugstechniken, mit denen sie sich von ihrem feindlich
gesinnten Umfeld abkapseln konnten. Erst ihre soziale Außenseiterrolle
hat den Impuls für die Abfassung der Texte geliefert – und uns somit
seltene, vormodern-individuelle Zeugnisse beschert. Das bedeutet aber im
Umkehrschluss auch, dass weder die Verfasser noch ihre Texte als typisch
für populares Schreiben gelten können und letztlich nur faute de mieux
herangezogen werden. Typisch für populares Schreiben wären allenfalls
berufsspezifische Notizen, Bestell- und Inventarlisten, Rechnungen und
_____________
3 Vgl. Elspaß (2005, 35).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 967
_____________
4 Vgl. „Die Autobiographie des Täufers Georg Frell von Chur“, in Rageth (1942).
5 Vgl. Güntzer (2002). Herangezogen wurde das erste Buch „Mein Kindtheitt undt Lehrjah-
ren betr=ffent“, 80-113.
6 Ebd., 68.
7 Vgl. Nehrlich (1997). Ausgewählt wurde der zweite Teil des Lebenslaufs, 72ff.
8 Die Originaltexte von Güntzer und Nehrlich sind über die Universitätsbibliothek Basel
bzw. das Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle) zugänglich, der Text von Frell befin-
det sich in Privatbesitz.
9 Es ist davon auszugehen, dass die Editoren im Bereich der hier interessierenden syntakti-
schen Konstruktionen nicht eingegriffen haben. Das betrifft jedoch nicht die – im Folgen-
den außer Acht gelassene – Interpunktion, die besonders bei Frell dem späteren Gebrauch
angepasst wurde. Zu Fragen der Markierung der direkten Rede vgl. Simmler (1998).
968 Anja Voeste
2. Untersuchungsgegenstand
Als Untersuchungsgegenstand wurde die syntaktische Bearbeitung wörtli-
cher Rede, genauer: die Verbindung von Redeeinleitung10 und Redewie-
dergabe, gewählt. Die Fokussierung auf syntaktische Konstruktionen der
Redewiedergabe war von folgenden Annahmen geleitet:
1. Bei der Dissoziierung von gesprochener und geschriebener Sprache
mögen den popularen Schreibern zunächst die „großen“, die syn-
taktischen Unterschiede ins Auge gefallen sein, die durch die neuen
Strukturmuster der Schriftsprache entstanden: Die Klammerstruk-
turen wurden hier (weiter) ausgebaut, die Satztypen differenzierten
sich durch Verbzweit- und Verbletztstellung, die Hypotaxe nahm
zu.11 Eine Fokussierung der Analyse auf syntaktische Phänomene
erschien auch deshalb angeraten, weil sie nicht nur beim aktiven
Lesen, sondern auch beim Vorlesen mittransportiert wurden: Die
popularen Schreiber mögen sich die neuen syntaktischen Muster so
– durch Lesen und durch Zuhören – auch vergleichsweise leichter
angeeignet haben – im Gegensatz etwa zu (ortho)graphischen.
2. Es musste gewährleistet sein, dass den Autoren eine „freie“ Wahl-
option zwischen alten und neuen, d.h. gesprochen- und geschrie-
bensprachlichen Mustern zur Verfügung stand. Für die Frühe Neu-
zeit muss ja berücksichtigt werden, dass viele der neuen gramma-
tischen Strukturen durch die beginnende Standardisierung der
Schriftsprache festzementiert wurden. Wenn ältere Muster – etwa
durch Grammatikalisierung – verdrängt oder in den Grammatiken
negativ etikettiert wurden,12 verwendete man sie gemeinhin auch
nicht mehr alternativ zu den neuen Mustern – es sei denn, man
nahm einen Prestigeverlust in Kauf. Deshalb musste ein Gegen-
stand gewählt werden, bei dem die alten schriftsprachlichen Muster
nicht durch neue verdrängt wurden. Die Einbettung der Redewie-
dergabe in den syntaktischen Kontext erfüllt diese Voraussetzung:
Bis heute existiert ein Spektrum an Möglichkeiten, Gesprochen-
sprachliches wiederzugeben, z.B. durch direkte Rede, indirekte Re-
de oder durch einen dass-Satz.
3. Es sollte ein Thema gewählt werden, bei dem ein besonderes Span-
nungspotenzial zwischen gesprochen- und geschriebensprachlichen
Mustern zu erwarten war. Auch das ist bei der Redewiedergabe der
_____________
10 Zur Terminologie vgl. Wilke (2006, 281, FN 71).
11 Vgl. dazu im Einzelnen und im systematischen Zusammenhang: Ágel (2000).
12 Vgl. dazu generell Knoop (1987) und speziell Davies / Langer (2006).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 969
3. Redewiedergabe –
mündlich und schriftlich geprägte Techniken
Eine mündlich geprägte Technik der Redewiedergabe verlangt vom Spre-
cher oder Schreiber verhältnismäßig wenig. Er muss sich an den Wortlaut
der Rede erinnern und diesen dann ohne eine aufwendige Weiterbearbei-
tung wiedergeben. Die „Bürde“, wie Frans Plank es nennt, „daraus den
richtigen Sinn zu entnehmen“,13 trägt der Zuhörer oder der Leser. In einer
face-to-face-Situation ist dies unproblematisch: Mit performativen Mitteln
wie Intonation, Mimik und Gestik können Sachverhalte und deren Bezüge
leicht vereindeutigt werden. Anders in der Schriftsprache: Der Zusam-
menhang zweier Sachverhalte muss (syntaktisch gesprochen) deutlicher
markiert werden als in der Mündlichkeit, weil die performativen Mittel
fehlen. Eine literate Technik verlangt daher vom Schreiber sehr viel mehr:
Er muss die deiktischen Angaben transponieren und durch Moduswech-
sel, die Verwendung von Junktoren oder die Veränderung der Verbstel-
lung Abhängigkeiten syntaktisch anzeigen. So wird aus einer mündlich
geprägten, aggregierenden Reihung von Redeeinleitung und -wiedergabe
wie Christoph hat gesagt: „Ich habe die Katze nicht gesehen“ eine syntaktisch in-
tegrierende, hierarchische Unterordnung wie Christoph sagt, dass er die Katze
nicht gesehen habe. Bei einer schriftlich geprägten Technik greift der Schrei-
ber interpretierend ein und gibt dem Leser so Hilfestellung bei der Deko-
dierung, erleichtert ihm also seine „Bürde“. Doch das muss nicht sein: Je
weiter der Pfad der Dissoziierung beschritten wird, desto stärker werden
integrierende syntaktische (im Gegensatz zu aggregierenden pragmati-
schen) Techniken eingesetzt. Aber je integrierter und komprimierter eine
syntaktische Konstruktion ist, desto mehr Informationsträger – deiktische
Mittel, verbale Kategorien oder Ergänzungen – können verloren gehen,
vgl. Christoph beklagt das Nichtsehen der Katze. Wenn sich die literaten Tech-
niken auf diese Weise „verselbständigen“, dienen sie nicht mehr der Ver-
_____________
13 Plank (1986, 298).
970 Anja Voeste
_____________
14 Vgl. Raible (1992, 221): „Generell gilt freilich, daß ein Diskurs in dem Maße integrierter
wird, in dem er vom Produzenten vorkonzipiert und reflektiert wurde, also Bühlers
Sprachwerk entspricht; daß mit dem zunehmenden Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit
der Grad an Integrativität zunimmt, daß ein zu hohes Maß an Integrativität jedoch die Ver-
ständlichkeit nicht unbedingt fördert.“
15 Plank unterscheidet acht Typen der Redewiedergabe, vgl. Plank (1986, 304).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 971
_____________
16 Diese wird jedoch diachron und diatopisch unterschiedlich realisiert und hier nicht berück-
sichtigt. Vgl. dazu zuletzt ausführlich Wilke (2006, 71ff.).
972 Anja Voeste
(10) Er sprach: Es muß sein, mit ime muß ich ein Kampff außstehen. [Günt-
zer, 94]
Lesart a: Er1 sprach, es müsse sein, mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf
ausstehen.
Lesart b: Er1 sprach: „Es muss sein.“ Mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf
ausstehen.
Lesart c: Er1 sprach: „Es muss sein. Mit ihm2 muss ich1 einen Kampf
ausstehen.“
Erst wenn der Schreibende den größeren Aufwand auf sich nimmt und
auch den Moduswechsel durchführt, kann der Dekodierungsprozess er-
leichtert werden. Die stärkere Integration der Redewiedergabe vereindeu-
tigt das Verhältnis der Redeteile zueinander. Doch selbst wenn alle deikti-
schen und morphosyntaktischen Transpositionen durchgeführt sind, kann
diese Wiedergabetechnik trotz ihres höheren Integrationsgrades noch
aggregative Züge tragen – in semantischer Hinsicht. Das sieht man an
inkohärenten Belegen wie: … so giengend sy ab der arbeyt zum win [Wein] unnd
verthädend das gelt und verpaten mir by erstechen, ich sölte dem meyster nüt sagen
[Frell, 462]. Hier ist das redeeinleitende Verb verbieten per se schon negativ,
wird aber mit einem indirekt wiedergegebenen Verbot, der negativen sol-
len-Konstruktion (sölte nüt), gekoppelt, sodass der Leser die integrativ dar-
gebotenen, semantisch aber aggregativ organisierten Sachverhalte erst in
ihrer Beziehung zueinander interpretieren muss. (Man vergleiche dagegen
die Realisierung mit direkter Rede: und verpaten mir by erstechen, du darfst dem
meyster nüt sagen.) Es bleibt zu diskutieren, wie solche Beispiele zu interpre-
tieren sind: Einerseits vermittelt die Konstruktion den Eindruck einer
spontanen Realisierung, bei der der Planungsgrad gering ist.17 Das würde
für eine mündliche Technik sprechen. Andererseits legt die mechanische
Einhaltung der Consecutio temporum (auf einleitendes Präteritum folgt
Konjunktiv Präteritum) einen höheren Planungsgrad und somit eher eine
literate Technik nahe. Es könnte daher zu kurz greifen, einen solchen
Beleg mechanisch als mündlich induziert zu werten: Ebenso gut mag die
syntaktische Konstruktion ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich
gezogen und so den semantischen Kohäsionsbruch – also die Aggregation
– erst bewirkt haben.
Typ 3:
(11) Der hats innen ouch in gen [eingegeben] und befolhen, das sy söliche große
barmhertzickheyt an mir bewysind … [Frell, 462]
_____________
17 Solche Inkongruenzen oder Kohäsionsbrüche werden von der Gesprochenen-Sprache-
Forschung als on-line-Phänomene beschrieben, vgl. Auer (2000).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 973
(12) Diße 2 Pfaffen setzten … an mich, daß ich die evanielische Religion, meinen
Glauben, verleignen soll … [Güntzer, 97]
(13) … bitte aber, das mir es nicht übel möchte geteutet werden … [Nehrlich,
88]
In Beispielen dieses Typs bleibt zwar nach wie vor die Satzgrenze erhal-
ten, aber der Redeteil hat seine syntaktische Autonomie an die Redeeinlei-
tung verloren. Die Verbletztstellung (bewysind, soll) und der einleitende
Junktor (im Allgemeinen dass)18 sind Kennzeichen einer stärkeren syntakti-
schen Integration als die Verbzweitstellung19 und der „Nulljunktor“20 in
Typ 2. Obwohl der Konjunktiv zur Markierung der Redewiedergabe hier
nicht erforderlich ist, bevorzugen ihn Frell und Nehrlich. Sie nehmen
somit eine Übercharakterisierung der indirekten Rede vor.
Belege mit Verbzweitstellung sind bei allen drei Texten in der Minder-
zahl. Die Autoren realisieren Typ 3 mehrheitlich mit Verbalklammer, sei
es mit Verbspäter- oder mit Verbletztstellung. Innerhalb der zwei- und
mehrgliedrigen Verbalkomplexe wird die Serialisierung nicht einheitlich
gehandhabt. Das kanzleisprachliche Prestigemuster21 infinit-finit konkur-
riert hier mit der weniger papierenen, vermutlich durch die Mündlichkeit
gestützten Reihenfolge finit-infinit, vgl. gon welte vs. welte schaffen:
(14) … und seyt [sagt] mier nüt, das er gon welte. [Frell, 464]
(15) Aber jederman gab mir ein bösen trost, was ich hie welte schaffen … [Ebd.,
466].
Während sich das Verhältnis von Verbspäter- zu Verbletztstellung bei
Güntzer bereits stark zugunsten der Verbletztstellung verschoben hat (vgl.
Übersicht 1),22 tritt bei Nehrlich eine neue Konkurrenzvariante auf den
Plan, nämlich die afinite Konstruktion: … so erzehlt er mir das sein Herr
schwiger vatter gar nicht mit ihm zufriden [Nehrlich, 40].
_____________
18 Bei Fragen fungieren Interrogativpronomen oder -adverbien als Junktor, bei Entschei-
dungsfragen ob.
19 Oder die Verberststellung bei Nichtrealisierung des Subjektpronomens.
20 So Weinrich (2003, 903).
21 Vgl. Ebert (1986, 105); Härd (1981, 123f.); Voeste (2000).
22 Die absoluten Zahlen sind hier jedoch gering (Zweitstellung / Späterstellung / Letzt-
stellung / afinit): Frell 0 / 4 / 5 / 0, Güntzer 3 / 2 / 12 / 0, Nehrlich 3 / 8 / 24 / 13.
974 Anja Voeste
Beispielsatz Integrationsindikatoren
Er sagt, dass er ist Junktor + deikt.
von mir enttäuscht. Transposition
Er sagt, dass er sei Junktor + deikt. + Moduswech-
von mir enttäuscht. Transposition sel
_____________
23 Vgl. dagegen Wilke (2006, 312ff.), die die afinite Konstruktion nicht als syntaktischen
Marker der Einbettung (alternativ zur Verbletztstellung), sondern als Möglichkeit der Re-
dundanzvermeidung (alternativ zum Indikativ) interpretiert.
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 975
Typ 4:
(16) Unnd verhieß mir, mich in sinen costen zG leeren [lehren] … [Frell, 460]
(17) Gieng in ein kFche … und hieß mir zessen drum [um einen halben
Batzen] geben. [Frell, 463]
(18) Mein Vatter befilcht dem Schreiner, mihr einen Dodtenbaum [Sarg] zu
machen. [Güntzer, 105]
(19) … so wurde ich rahtes, dem Herrn PfarHer in Apfelstet es zu verstehen zu
geben. [Nehrlich, 85]
Bei Typ 4 ist die Redewiedergabe mit einem Infinitiv realisiert. Dadurch
gehen wesentliche Eigenschaften verloren, die für Sätze typisch sind. Es
„fehlt“ nun einerseits das Subjekt im Nominativ, andererseits die verbalen
Kategorien Person, Numerus und Modus,24 die mit Finitheit einhergehen
(vgl. im Kontrast dazu Und verhieß mir, er wolle mich auf seine Kosten lehren).
Dadurch ist ein höherer Grad an Integration erreicht als bei Typ 3. Aber
im Gegensatz zu Typ 3 stützt die Integration nun nicht mehr die Deko-
dierung. Im Gegenteil: Durch das Fehlen der Finitheitsmarker büßt Typ 4
wesentliche Informationsträger ein, die die Dekodierung stützen.
Typ 5:
(20) … unnd begert ein fründtlichen abscheydt von im [ihm] … [Frell, 462f.]
(21) Er … treyet [droht] mihr meinen Undergang undt schandlichn Dodt …
[Güntzer, 101]
_____________
24 Tempus und Genus verbi sind auch beim Infinitiv gegeben, vgl. Inf. Präs. Aktiv / Passiv
und Inf. Perf. Aktiv / Passiv.
976 Anja Voeste
(22) … wird meine liebe dochter … dem lieben Herrn professor schon meinen
letzten abschied laßen wissen … [Nehrlich, 92]
Der integrativste Typ der Redewiedergabe liegt bei Nominalisierungen
vor. Der Satzstatus des Redeteils geht verloren, und die Verben der Re-
dewiedergabe werden als Objekte oder Attribute paraphrasiert. Im Ver-
gleich zu einer weniger integrativen Technik wie Typ 2 (Ich sagte, ich wolle
mich freundlich ['in Güte'] von ihm verabschieden) oder Typ 3 (Ich bat ihn, dass er
mich freundlich verabschiede) wird der Unterschied offenbar: Die Nominalisie-
rung bedeutet einen weiteren Verlust an Explizitheit, die durch das Verb
(insbesondere das finite Verb) transportiert wird. Auch im Vergleich zur
Realisierung mit Infinitiv in Typ 4 (Ich begerte, mich freundlich von ihm zu verab-
schieden oder Ich begerte von ihm, mich freundlich zu verabschieden) gehen somit
noch einmal wesentliche Informationen verloren, die im ungünstigsten
Fall – wie hier bei Frell – zu Ambiguität führen können.
Aus dieser kurzen Zusammenschau möglicher Techniken der Rede-
wiedergabe (vgl. auch Tabelle 2) wird deutlich, dass integrative Verfahren
nicht unbedingt effektiver zur Verständnissicherung beitragen als aggrega-
tive Verfahren. Vergleicht man die Typen 1 bis 5 hinsichtlich ihrer seman-
tischen Dekodierbarkeit, sind es die Typen 2 und 3, die das Verhältnis der
Sachverhaltsdarstellungen (Redeeinleitung und Redewiedergabe) zueinan-
der am deutlichsten abbilden können, da sie alle vereindeutigenden In-
formationsträger (deiktische Transposition, Moduswechsel, Junktor, Ver-
balklammer / Afinitheit) enthalten. Bei ihnen ist der Planungsaufwand am
höchsten; dafür tragen sie aber auch am besten zur Verständnissicherung
bei.
Daraus lässt sich schließen, dass die Autoren mit den literaten Techniken
durchaus vertraut waren. Sie kannten die andersartigen Anforderungen,
die ein schriftlicher Text stellte, – die Dissoziierung von gesprochener und
geschriebener Sprache war ihnen also bewusst. Dass sie in hohem Maße
die direkte Rede wählten, mag durch ihre Bildungssituation oder auch
durch die Emotionalität des Themas bedingt sein: Alle drei Autoren schil-
dern intensive, z.T. traumatische persönliche Erlebnisse.
Vergleicht man die Typenverteilung bei den einzelnen Autoren mit-
einander, fällt die Ähnlichkeit bei Frell und Nehrlich auf: Ihre Belegvertei-
lung unterscheidet sich nur bei Typ 2 und Typ 3. Beide Autoren präferie-
ren die direkte Redewiedergabe und nutzen Typ 4 und 5 nur wenig. Ihr
Schwerpunkt liegt auf den aufwendigen, verständnissichernden Verfahren
(Typ 2 und 3), die gemeinsam jeweils einen Anteil von mehr als 50 %
_____________
25 Die absoluten Zahlen sind (1a / 1b / 2 / 3 / 4 / 5): Frell 4 / 13 / 15 / 9 / 3 / 2, Güntzer
3 / 21 / 19 / 21 / 17 / 11, Nehrlich 22 / 41 / 21 / 48 / 7 / 9.
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 979
ausmachen. Dazu passt auch ein anderer Befund: Wie wir oben gesehen
haben (vgl. Übersicht 1), vermeidet Frell bei Typ 2 die Verbzweitstellung
ganz und nutzt stattdessen klammernde Verfahren; Nehrlich präferiert
Verbletztstellung und wählt in fast einem Drittel der Fälle afinite Kon-
struktionen. Beide entscheiden sich damit für verständnissichernde, aber
gleichzeitig auch typisch schriftsprachliche und prestigeträchtige Kon-
struktionen.
Sehr viel ausgeglichener ist dagegen die Verteilung der Typen bei
Güntzer. Bei ihm nimmt der Anteil der wörtlichen Rede nur etwa 25 %
ein und die Typen 4 und 5, also jene, die für besonders literate Techniken
stehen, werden weitaus häufiger angewandt als bei Frell und Nehrlich.
Dieser Unterschied ist vermutlich kein diachronischer, denn Frell und
Nehrlich verhalten sich in dieser Hinsicht gleich. Er könnte hingegen mit
sozialen Unterschieden zusammenhängen: Güntzer stammte aus einer
angesehenen zünftischen Handwerkermeisterfamilie, erhielt mehrere Jahre
Schulunterricht und wurde, wie viele andere Kinder bessergestellter Elsäs-
ser Familien, für ein Jahr zum Französischunterricht ins frankophone
Lothringen geschickt. Güntzer mag somit bessere Bildungsvoraussetzun-
gen besessen haben als Frell und Nehrlich, in sprachlichen Dingen sensib-
ler und in literaten Techniken bewanderter gewesen sein.
Dennoch bleibt eine wesentliche Frage zu beantworten: Warum haben
sich die Autoren die literaten Techniken zu eigen gemacht und prestige-
trächtige Formen gewählt, wenn es sich um eine private, und zudem so
persönliche, erzählende Textsorte handelte? Wie wäre eine zielgerichtete,
prestigeheischende Schreiberstrategie hier überhaupt zu erklären? Die
Wahl der sprachlichen Mittel, könnte man argumentieren, wurde ent-
scheidend von der Schreibintention beeinflusst. Die Autoren nutzten das
autobiographische Erzählen, um ihre Deprivation aus persönlichen
(Güntzer hatte einen entstellenden Hautausschlag), religiösen (alle drei
wurden in ihrer Gemeinde zu religiösen und sozialen Außenseitern) oder
politischen Krisen (Dreißigjähriger Krieg) abzuleiten und so zu rechtferti-
gen. Prestigeträchtige sprachliche Mittel halfen, diese Selbststilisierung zu
unterstützen, und konnten zur intendierten Sozialpositionierung beitra-
gen. 26 Das gilt vielleicht in besonderem Maße für Güntzer: Er besaß das
städtische Bürgerrecht in Colmar, verfügte über ein stattliches Vermögen
und gehörte nach seiner Heirat mit einer angesehenen Witwe zur protes-
tantischen Elite der Stadt. Die Rekatholisierung Colmars, die Emigration,
der Kauf des Straßburger Bürgerrechts, Steuern, Inflation, die zweite
Emigration und der Verlust des Bürger- und Berufsrechts haben zu einem
Sturz von „weit oben“ nach „ganz unten“ geführt. Doch in der statusbe-
_____________
26 Vgl. dazu ausführlicher Müller / Voeste [im Druck].
980 Anja Voeste
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Themenentfaltung und Textstruktur
in einem Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert
1. Einleitung
In meinem Beitrag will ich zeigen, wie die Themenentfaltung in einem
Textausschnitt aus einem Ratgeber für junge Leserinnen erfolgt. Der be-
handelte Ratgeber ist Ende des 18. Jahrhunderts entstanden und wurde
von einem bekannten Autor geschrieben, der vor allem als Lexikograph
bekannt ist, und zwar von Joachim Heinrich Campe (1789).
Dabei möchte ich auch auf die mentalitätsgeschichtlichen Aspekte
eingehen, die die Themenentfaltung in besonderer Weise beeinflussen.
Bekanntlich war Fritz Herrmanns (1995) einer der ersten Linguisten, die
auf den Zusammenhang der Sprachgeschichte mit der Mentalitätsge-
schichte hingewiesen haben. Durch die Analyse des Sprachgebrauchs
einer Sprachgemeinschaft können interessante Erkenntnisse über das
kollektive Denken und Fühlen einer Sprachgemeinschaft gewonnen wer-
den. Die Analyse von Texten aus früheren Epochen kann uns wertvolle
Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen Gruppen liefern. Unter
Mentalität versteht man die Gesamtheit von Gewohnheiten bzw. Disposi-
tionen des Denkens und Fühlens in sozialen Gruppen.
Fritz Herrmanns betrachtet die Mentalitätsgeschichte als einen Teil
der Sprachgeschichte, wobei er mentalitätsgeschichtlich relevante Aspekte
der Sprachgeschichte in der historischen Semantik sieht, die unter dem
mentalitätsgeschichtlichen Aspekt relevante Wörter untersucht. Die se-
mantische Analyse mentalitätsgeschichtlich wichtiger Wörter kann in der
Tat einen interessanten Einblick in den Wandel der Mentalität sozialer
Gruppen liefern, aber auch eine textlinguistische Analyse von Texten, die
bestimmte Aspekte der sozialen Relationen in den früheren Epochen
behandeln, kann wichtige Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen
Gruppen zutage fördern.
984 Józef Wiktorowicz
kann, daher versucht er, den potenziellen Einwand der Leserin zu entkräf-
ten. Die folgende Proposition beginnt mit dem anaphorischen hierin:
Hierin nun ist an sich gar nichts Böses; nichts, was deinem Geschlechte auch nur
im geringsten zur Unehre oder zum Nachtheile gereichen kann (Campe, 4455)
Diese Behauptung wird wiederum mit dem generellen Argument begrün-
det:
Abhängig zu sein, ist ja im Grunde das Loos aller Menschen, so viel ihrer auf Er-
den leben, des Mannes so gut als des Weibes, des Fürsten so gut wie des niedrigs-
ten seiner Unterthanen. (Campe, 4455)
Diese generelle Aussage wird mit dem nachfolgenden Satz begründet, der
mit dem konnektierenden auch eingeleitet wird:
Auch kann ein auf Vernunft und Gesetze gegründeter Grad von Abhängigkeit,
mit menschlicher Zufriedenheit und Glückseligkeit nicht nur gar wohl bestehn,
sondern die Natur des Menschen und einer jeden menschlichen Gesellschaft ma-
chen es auch durchaus nothwendig, daß immer Einer dem Andern, und Alle dem
Gesetze untergeordnet sein müssen. (Campe, 4456)
Um die Analyse übersichtlich zu gestalten, werden die Propositionen des
Textes in knapper Form gefasst:
1. Behauptung: Die Verhältnisse des Weibes in der Gesellschaft sind
ungünstig.
2. Explikation: Die Weiber (Frauen) leben und müssen notwendig in
einem abhängigen Zustand leben.
3. Behauptung: Das ist keine angenehme, aber eine nötige Nachricht.
4. Begründung der 2. Behauptung: Der Autor will die Leserin nicht
täuschen, er will die bittere Wahrheit nicht verbergen.
5. Aufforderung: Trotz der negativen Lage soll die Leserin nicht den
Kopf sinken lassen.
6. Versprechen: Eine Verbesserung der Lage ist möglich.
7. Aufforderung: Die Leserin soll erfahren, warum ihre Lage ungüns-
tig ist.
8. Versprechen: Die Leserin wird die Mittel kennen lernen, ihre Posi-
tion zu verbessern.
9. Explikation: Mit Hilfe der Körpermetapher wird die Relation
Mann-Weib erläutert.
10. Explikation: Eigenschaften des Weibes: schwach, klein, zart, emp-
findlich, furchtsam, kleingeistig; Eigenschaften des Mannes: stark,
fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr, kraftvoll.
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber 987
3. Resümee
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Themenentfaltung nicht nur von den
individuellen Besonderheiten des Stils des Autors, sondern in hohem
Grad von den Denkstrukturen und Denkmustern der jeweiligen sozialen
Gruppen abhängig ist. Diese Abhängigkeit von den Denkmustern zeigt
sich besonders deutlich in den explikativ-argumentativen Texten, in denen
sozial relevante Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen erläutert
werden und daher die Argumentationsstränge durch die in den sozialen
Gruppen geltenden Denkmuster beeinflusst werden.
Unsere Ablehnung der Argumentationsweise von Campe resultiert aus
der Tatsache, dass wir das Textthema (die ungünstige Lage der Frauen)
akzeptieren, aber unsere Argumentationsweise – entsprechend den im 21.
Jahrhundert geltenden Denkmustern – anders verlaufen würde.
Ich hoffe auch gezeigt zu haben, dass es sich lohnt, die Themenentfal-
tung und Textstruktur unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Denkmus-
ter und der Mentalität der sozialen Gruppen zu betrachten.
Literatur
1. Einführung
Eine zentrale Fragestellung historisch soziolinguistischer Forschung ist die
nach den Möglichkeiten, sprachliches Agieren von Individuen allgemein,
in historischen Zusammenhängen und mit Rekurs auf die soziale Schich-
tung herauszuarbeiten.
Eine Möglichkeit bieten institutionell geprägte Situationen. Jede Ge-
sellschaft verfügt auf jeder ihrer Entwicklungsstufen über ein dieser Ent-
wicklungsstufe entsprechendes Spektrum von Institutionen und entspre-
chenden sozialen Objektivationen – Organisationen. Diese bestehen aus
Personen und Personengruppen, die formal miteinander verbunden und
denen gewöhnlich spezifische Funktionen zugeordnet sind (vgl. Acham
1992, 36).
Die in Organisationen interagierenden Personen und Personengruppen
sind durch soziale, funktionale und geschlechtliche Merkmale geprägt. Ihr
sprachliches Handeln in diesen Organisationen ist durch wiederkehrende
Diskurse geprägt. Der Diskurs wird hier verstanden als Textensemble
oder Textgeflecht (vgl. Hermanns 1995, 88). Die Einheit eines Diskurses
wird durch thematische und intertextuelle Zusammenhänge gewährleistet.
Direkt oder zumindest indirekt beziehen sich die Texte eines Diskurses
aufeinander und auf das übergeordnete Thema. Diskurse besitzen nicht
nur – wie man aus den Forschungen der historischen Semantik vermuten
könnte – einen singulären Charakter, sondern werden als Typen von
Handlungen latent wiederholt und weisen eine entsprechende soziale Zu-
sammensetzung auf. Die in diesen Diskursen interagierenden Personen
und / oder Personengruppen handeln beruflich, berufsbegleitend oder
gelegentlich. Sie gehen graduell unterschiedliche Diskursbeziehungen ein.
990 Rainer Hünecke
Der Umfang dieser Beziehungen ergibt sich aus dem Charakter, den Ab-
sichten und Anforderungen des Diskurses. In der Realisierung dieser Be-
ziehung bilden sich nach und nach feste Handlungsmuster heraus, die den
Charakter von Ritualen annehmen können. In den Diskursen ist „weitge-
hend festgelegt, wer mit wem worüber und auf welche Art“ (Hartung
1983, 358) sprachlich handelt. Das sprachliche Handeln der interagieren-
den Personen und Personengruppen wird hier sowohl durch die Leis-
tungsanforderungen der Institution als auch durch die agierenden so-
zi(ofunktion)alen Gruppen als Leistungsträger geprägt. Die sprachlich
Handelnden können im Rahmen der konkreten Sprachhandlung aus dem
gesellschaftlich approbierten und konventionalisierten Repertoire von
Textmustern auswählen und variieren. Bei der Wahl einer Formulierung
spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Mit diesen Formulierungs-
mustern kann innovativ oder durch Traditionen gesteuert umgegangen
werden.
Die Aufarbeitung historischer Diskurse macht es möglich, von einem
historischen Einzeltext zu einem historischen Diskurs vorzudringen. Lü-
cken in der Überlieferung können virtuell gefüllt werden. Im Rekonstrukt
des historischen Diskurses werden neben den Texten auch die funktiona-
len Beziehungen zwischen den Texten und die sozialen Beziehungen zwi-
schen den Textproduzenten erkennbar. Selbst bei dürftiger Textüberliefe-
rung kann über dieses Rekonstrukt ein repräsentatives Korpus für die
Sprachdatenerhebung formiert werden.
Im Rahmen einer umfangreicheren Studie (Hünecke 2008) wurden
von mir mit dieser Methode am Beispiel der kursächsischen Bergverwal-
tung des 18. Jahrhunderts Bedingungen, Formen, Möglichkeiten und
Grenzen individuellen sprachlichen Handelns aufgedeckt. Es kann gezeigt
werden, welche soziale Breite und Tiefe sprachliches Handeln in diesem
institutionellen Ausschnitt hatte, dass nicht nur Berufsschreiber schriftlich
handelten, sondern auch Personenkreise, von denen das bisher nicht be-
legt war.
Zu den primären Aufgaben der Bergverwaltung gehörte die Leitung
der Bergwerksbetriebe und der Aufbereitungsanlagen des Reviers (Be-
triebsführung, Finanzwesen), dazu kamen das Personal- und Sozialwesen
(Bestallung, Fürsorge) und die Gerichtsorganisation (freiwillige, zivile und
Strafgerichtsbarkeit). Den Referenzrahmen für diese Studie bildet der
„Betriebsführungsdiskurs“ in der Verwaltung des kursächsischen Berg-
baus im 18. Jahrhundert. Die von den interagierenden soziofunktionalen
Gruppen produzierten Textexemplare bilden die Grundlage für die Analy-
se der Oberflächensyntax. Auf diese Weise wird es möglich sein, gruppen-
spezifisches Sprachhandeln, bezogen auf die jeweilige Textsorte, in einem
abgrenzbaren Diskurs zu erschließen. In der Auswertung des Untersu-
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 991
wertschöpfend
wertverwaltend Institution
…
Organisationen
sozial
funktional
Interagierende geschlechtlich
Personen(gruppen)
beruflich
berufsbegleitend Sprachliches Handeln
gelegentlich „Diskurse“
steuern
informieren
Textsorten
drücken aus
…
Vertextungs- und
tradiert
innovativ
Formulierungsmuster
renden, der den Vollzug des Befehls meldete. Die Initiative für diesen
Diskurs lag auf Seiten des Befehlsgebers, der den Diskurs initiierte.
Auf der Verwaltungsebene des Bergamtes wurde für die Kontrolle der
Befehlsausführung die soziofunktionale Gruppe der Geschwornen rekru-
tiert, die mit niederer Befehlsgewalt ausgestattet war und somit unmittel-
bar vor Ort im Zusammenwirken mit der Leitung der Gruben und Aufbe-
reitungsanlagen Planungs- und Leitungsaufgaben erfüllte, gleichzeitig
damit die Arbeit vor Ort kontrollierte und der übergeordneten Leitungs-
ebene, dem Bergamt, rechenschaftspflichtig war. Auf der Verwaltungs-
ebene der Gruben und Aufbereitungsanlagen wurde diese Kontrolltätig-
keit von der Gruppe der Schichtmeister, die für die ökonomischen
Belange zuständig waren, und von der Gruppe der Steiger, die für die
technischen Belange zuständig waren, ausgeführt. Alle drei Gruppen wa-
ren dem kollegialen Bergamt mit dem Bergmeister an der Spitze rechen-
schaftspflichtig. Das kollegiale Bergamt war der nächstübergeordneten
Verwaltungsebene, dem Oberbergamt, rechenschaftspflichtig. Die Kon-
trollhandlungen vollzogen sich in Form von Inspektionen vor Ort und
von Befragungen, die im Anschluss daran in entsprechenden Schriftsätzen
schriftlich niedergelegt werden mussten.
In der vorliegenden Studie werde ich mich auf die Bestätigungs- oder
Rechenschaftshandlung der vier soziofunktionalen Gruppen kollegiales
Bergamt (Bergmeister / Bergschreiber), Geschworne, Schichtmeister und
Steiger beschränken. Die sprachliche Umsetzung dieser Handlung erfolgte
in Form von unterschiedlich umfangreichen Berichtshandlungen.
Die Rechenschaftspflicht des Bergamtes gegenüber dem Oberbergamt
erfolgte in Form der quartalsmäßigen Haushaltsextracte. Diese Texte bilde-
ten eine Art Zwischenbilanz in der Haushaltsführung des Bergamtes. Hier
wurden alle Aktivitäten des Bergamtes im verflossenen Quartal festgehal-
ten. Durch das Kollegium des Bergamtes wurden jährlich einmal sog.
Generalbefahrungen durchgeführt. An diesen Grubenbefahrungen nah-
men alle Mitglieder des Bergamtes teil. Die Generalbefahrungen hatten
das Ziel, den Bergmeister und sein sitzendes Bergamt vom Bergamtstisch
vor Ort zu bringen, um so die Bergarbeit vor Ort persönlich in Augen-
schein zu nehmen. Über jede Generalbefahrung wurde ein Bericht verfer-
tigt, der sog. Generalbefahrungsbericht.
Die Geschwornen inspizierten ihr Revier täglich. Der Vollzug dieser
Inspektion musste zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen
Berichtsformen gemeldet werden. Wöchentlich wurde den Geschwornen
ein sog. Fahrbogen, quartalsmäßig das sog. Fahrbuch als Kontrollbericht
abverlangt. In beiden Fällen war der Bericht nach Wochentagen geglie-
dert. Zu jedem Wochentag wurden mehr oder weniger lange Eintragun-
gen vorgenommen. Neben den Fahrbüchern wurde den Geschwornen
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 993
3. Variation im Gebrauch
syntaktischer Formulierungsmuster
3.1. Zur Stabilität im Gebrauch
syntaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert
Nach Aussage der Fachliteratur und der exemplarischen Analyse von Hü-
necke (2004) war das so nicht zu erwarten. Einem Einfachsatz standen
sieben Satzgefüge gegenüber (vgl. Hünecke 2004, 133). Bezieht man nun
die Aussagen von Blackall (1966) und Schildt (1976) in die Interpretation
mit ein, liegt die Schlussfolgerung nahe, im vorliegenden Fall eine Schreib-
tradition anzunehmen, die nicht in der Tradition der Rechtsliteratur oder
der publizistischen Literatur und auch nicht der Wortkunstwerke stand.
Gleichwohl muss aber darauf hingewiesen werden, dass die untersuchten
Texte aus dem Funktionsbereich des kursächsischen Bergbaus wohl dem
kanzelarischen Schrifttum zuzuordnen sind.
Aus der bisherigen Darstellung ist die Frage abzuleiten, ob denn nicht
soziale Faktoren in die weitere Betrachtung einzubeziehen sind. Dabei ist
zu fragen, ob und inwieweit im vorliegenden Fall eine gruppenspezifische
Schreibtradition vorliegt. Als ein erstes Kriterium der Gruppenbildung hat
sich hier der Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen bewährt
(vgl. Hünecke 2006). Mit diesem soziofunktionalen Kriterium lassen sich
in einem ersten Zugriff Gruppen bilden, die berufsmäßig mit schriftlichen
Kommunikationsformen Umgang hatten (Berufsschreiber), die begleitend
zu ihrer beruflichen Tätigkeit mit schriftlichen Kommunikationsformen
Umgang hatten (berufsbegleitende Schreiber) und die gelegentlich (zu
bestimmten Anlässen) mit schriftlichen Kommunikationsformen Umgang
hatten (Gelegenheitsschreiber).
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 997
Vergleicht man nun den Gebrauch der Einfachsätze und der Satzge-
füge in beiden Gruppen, so ist zu beobachten, dass beide Gruppen zu
Beginn des 18. Jahrhunderts deutliche Unterschiede aufwiesen. In der
Gruppe der Berufsschreiber war der Gebrauch der Satzgefüge zu Beginn
des 18. Jahrhunderts mit 78,9 % relativ hoch, wohingegen der Gebrauch
der Satzgefüge in der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber zu Beginn
des 18. Jahrhunderts mit 14,8 % relativ gering war. Am Ende des 18.
Jahrhunderts hatten sich beide Schreibergruppen im Gebrauch der Satzge-
füge stark angenähert. In der Gruppe der Berufsschreiber war der Anteil
der Satzgefüge auf 41,0 % gesunken, in der Gruppe der berufsbegleiten-
den Schreiber auf 35,0 % angestiegen. Der Gebrauch dieser hypotakti-
schen Konstruktionen näherte sich in beiden Gruppen an.
Die in der Forschungsliteratur beobachtete Tendenz der Abnahme
des Gebrauchs der hypotaktischen Satzkonstruktionen war also nur für
die Gruppe der Berufsschreiber zutreffend. Denn in der Gruppe der be-
rufsbegleitenden Schreiber stieg hingegen der Gebrauch hypotaktischer
Konstruktionen an. In der einschlägigen Forschungsliteratur wurden bis-
her auch nur die Berufsschreiber betrachtet. Das Phänomen berufsbeglei-
tenden Schreibens wurde in der germanistischen Sprachgeschichtsschrei-
bung bisher so nicht thematisiert. Aus den Ergebnissen meiner bisherigen
Untersuchungen kann ich schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schrei-
ben überhaupt erst am Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Die
vorliegende Studie zeigt in diesem Sinne den Beginn berufsbegleitenden
Schreibens an einem kleinen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Bezogen auf die oben dargestellten Untersuchungsergebnisse kann man
mit aller Vorsicht schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schreiben nicht
an den Traditionen und Konventionen beruflicher Schreibpraxis anknüpf-
te. Die Untersuchungsergebnisse zeigen zwei verschiedene Schreibtradi-
tionen. Der Gebrauch der Satzgefüge ist also deutlich soziofunktional
markiert. Die Aussagen der Forschungsliteratur sind in diesem Sinne zu
ergänzen. Eine Zäsur scheint allerdings die Mitte des 18. Jahrhunderts
darzustellen. In dieser Zeit ist eine deutliche Annäherung beider Tradi-
tionsstränge zu beobachten, wobei die Präferenz eines Traditionsstranges
nicht sichtbar ist.
Für beide Gruppen wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Anforde-
rungen zum Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen deutlich
höher. Noch am Ende des 17. Jahrhunderts finden sich in den Akten des
Bergarchivs Freiberg nur sporadisch Texte. Zu Beginn des 18. Jahrhun-
derts hingegen ist die Überlieferungzahl deutlich höher. Daraus kann man
schlussfolgern, dass an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert neue
kommunikative Anforderungen an diese Gruppen gestellt wurden, die von
diesen nur noch in schriftlicher Form realisiert werden konnten.
Mit dem Einstieg in die Schriftlichkeit wurden von beiden Gruppen
zunächst parataktische Formulierungsmuster (Einfachsätze) verwendet.
Das bedeutet nicht, dass diese Gruppen nur über diese Muster verfügten.
Es bedeutet aber, dass das Verschriftlichen von den Schreibern als ein
Prozess verstanden wurde, in dem zunächst sukzessive eine vollzogene
Handlung nachvollzogen wurde. Die Abfolge von Handlungen stand
1006 Rainer Hünecke
4. Fazit
In institutionellen Situationen treffen für diese konstitutive Individuen
aufeinander, die dafür charakteristische Rollen zu erfüllen haben, die aus
spezifischen (gesellschaftlichen) Anforderungen erwachsen. Das sprachli-
che Handeln der Individuen wird geprägt von diesen Anforderungen und
den Erwartungen der Organisation, durch die sprachlichen Kenntnisse,
Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen und von den Möglichkeiten
des sprachlichen Systems. Es findet seinen Niederschlag in einer für die
Situation typischen Textproduktion nach entsprechenden Text- und For-
mulierungsmustern bzw. in der Abwandlung und Anpassung dieser an
eine sich wandelnde und / oder gewandelte Situation. An den produzier-
ten Texten ist ablesbar, wer unter Anpassungsdruck steht / stand und in
welche Richtung diese Anpassung verläuft / verlief. Darin wird ein Zu-
sammenhang zwischen der historischen Situation, der sozialen Situation
und der sprachlichen Situation deutlich. Im Ergebnis der Rekonstruktion
entsteht ein Ensemble von Diskursen mit den für diese Diskurse typi-
schen Produkten sprachlichen Handelns, den Textsorten sowie den
sprachhandelnden Individuen und deren kommunikativen / diskursiven
Beziehungen.
Bezogen auf das untersuchte Korpus konnte an der Verwendungswei-
se von Einfachsätzen und Satzgefügen gezeigt werden, dass der Gebrauch
hypotaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert variierte. Die in
der Fachliteratur verankerte Auffassung, dass im 18. Jahrhundert der
Gebrauch hypotaktischer Formulierungsmuster rückläufig sei, ist zu modi-
fizieren. Die Aussage ist für die Berufsschreiber zutreffend, nicht jedoch
für die im 18. Jahrhundert greifbaren berufsbegleitenden Schreiber. Die
berufsbegleitenden Schreiber verfügten über ein deutlich anderes Sprach-
handeln als die Berufsschreiber. Der Einstieg dieser Schreibergruppe war
geprägt durch ein relativ niedriges Niveau im Gebrauch der Satzgefüge.
Deutlich wird dieser Unterschied zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In der
Mitte des 18. Jahrhunderts veränderte sich das Sprachhandeln und näherte
sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an die Konvention der Berufs-
schreiber an, wobei diese Annäherung ein gegenseitiger Prozess war.
Innerhalb der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber ist eine deutli-
che Stufung erkennbar. Je geringer die kommunikativen Anforderungen
an die jeweilige Gruppe sind, desto niedriger ist das Niveau im Gebrauch
der Satzgefüge. Vorsichtig interpretiert verbirgt sich dahinter auch das
Niveau der sprachlichen Bildung. Am Beispiel des Sprachhandelns der
Steiger kann eine solche Vermutung angestellt werden.
Neben einer gruppenspezifischen Variation im Sprachhandeln war
aber auch eine funktionale Variation beobachtbar. Es gibt Textsorten, in
1008 Rainer Hünecke
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Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Ein Plädoyer für die Verknüpfung von historischer und
Gegenwartsgrammatik
1. Einleitung
In jüngster Zeit ist der Gegenstandsbereich der sprachhistorischen For-
schung erheblich erweitert worden. Untersuchenswert erscheinen nicht
mehr nur Entwicklungen, die geradewegs auf der Hauptstraße zu unserer
heutigen geschriebenen Standardsprache zuliefen, sondern auch sprach-
historische Umwege, Nebenpfade und auch Sackgassen. Entscheidend für
die Erweiterung des Blickfelds war wohl das aufgekommene Interesse
zum einen an historischer Regionalität und zum anderen an historischer
Mündlichkeit, deren quantitative Ausprägungen übrigens durchaus in
einem Zusammenhang zu stehen scheinen (vgl. Denkler / Elspaß 2007).
Die neuen Interessenlagen brachten es mit sich, dass sich Forscherinnen
und Forscher heute Texte anschauen, die man früher keines Blickes ge-
würdigt hätte, oder dass man überhaupt nach Texten sucht, von denen
man lange glaubte, dass sie gar nicht existieren. Ich meine etwa Texte wie
Tagebücher, private Chroniken und Privatbriefe, gerade auch vom nicht-
gelehrten Teil der Bevölkerung. Den Bereich der historischen Mündlich-
keit hätte man früher meist mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit seiner
Erforschung (da eben das gesprochene Wort nicht überliefert ist) oder
den Verweis auf die Dialekte – und damit den Untersuchungsgegenstand
der historischen Dialektologie – abgetan. Es bedurfte der Einsicht, dass
Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen Wort und somit auch histori-
sche Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen historischen Wort gleich-
zusetzen ist. Dahingehend am überzeugendsten wirkten in der jüngeren
Sprach(geschichts)forschung die Modelle der Romanisten Ludwig Söll,
Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die zwischen der Dichotomie des
gesprochenen und geschriebenen Mediums einerseits und der kontinual zu
1012 Stephan Elspaß
2. Das Problem
Mit solchen Texten historischer Mündlichkeit des 19. und beginnenden
20. Jahrhunderts habe ich mich in den letzten Jahren im Zuge einer Un-
tersuchung von Hunderten von Briefen deutschsprachiger Schreiberinnen
und Schreibern aus dem Kontext der Massenauswanderung nach Amerika
intensiv befasst. Dass solche Texte in einer solchen Masse und einer sol-
chen regionalen und sozialen Distribution erhalten sind, ist ein Glücksfall.
Nun lässt sich der Grad der Mündlichkeit derartiger Texte tatsächlich
messen. Nach dem Verfahren, das Vilmos Ágel und Mathilde Hennig
entwickelt haben, weisen diese Briefe aus der Hand unroutinierter Schrei-
ber einen Nähegrad zwischen 34 % (vgl. Elspaß 2008, 159) und 41 % (vgl.
Ágel / Hennig 2006, 278) auf – und das gehört schon zu den Spitzenwer-
ten für Texte aus dem 19. Jahrhundert; der bisher ermittelte höchste Wert
für einen einzelnen historischen Text (ein Hexenverhörprotokoll) liegt bei
gut 50 % – nicht mehr (vgl. ebd., 140).
Wenn man sich diese Texte vornimmt und etwa auf grammatische
Strukturen historischer Mündlichkeit hin durchsuchen will, steht man
zunächst vor einem Problem: Die historischen Grammatiken haben sich
meist nicht um die Mündlichkeit gekümmert und präsentieren eine
Grammatik der Schriftsprache. Die Grammatiken und die Forschungs-
arbeiten, die die Grammatik des Mündlichen beschreiben, konzentrieren
sich auf die Gegenwartssprache, und da im Wesentlichen auf die gespro-
chene Sprache (ich betone ,im Wesentlichen‘, da man mit dem Aufkom-
men der neuen Medien nun auch massenhaft Texte im graphischen Be-
reich zur Verfügung hat, die starke Merkmale von Mündlichkeit haben,
vgl. Koch / Oesterreicher 2007, 358f.). Ein gewisses Dilemma bei der
grammatischen Beschreibung von Texten wie etwa Privatbriefen des 19.
Jahrhunderts lag lange Zeit darin, dass die in ihnen sichtbar werdenden
Merkmale historischer Nähesprachlichkeit zunächst einmal nur mit Kate-
gorien beschrieben werden konnten, die für gesprochene Texte der Ge-
genwart entwickelt wurden. Anders ausgedrückt: Als ich mir diese Texte
vor etwa 10 Jahren zum ersten Mal vornahm, hätte ich sie weder im Ge-
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1013
mit einer Arbeit von Emilija Grubačič aus dem Jahre 1965 zu Ausklam-
merungen in der Prosadichtung des 20. Jahrhunderts verglich. Es geht mir
im Folgenden nicht so sehr um die Frage, welche dieser Textgruppen
mehr oder weniger zur Ausklammerung neigt. Zahn jedenfalls kann die
These von der Ausklammerungsfreundlichkeit der „gesprochenen Spra-
che“ nicht bestätigen. Vielmehr interessiert mich der Befund Zahns
(ebd., 122f.), dass es in qualitativer Hinsicht „beachtliche“ Unterschiede
zwischen geschriebener und gesprochener Sprache geben soll, dass näm-
lich „in gesprochener Sprache [...] mehr Stellungselemente ausgeklammert
[würden], von denen man dies bislang nicht erwartet hätte“. Genannt
werden insbesondere Nominativ-, Akkusativ- und Prädikativergänzun-
gen.5 Wie sieht nun diesbezüglich das Ausklammerungsprofil geschriebe-
ner alltagssprachlichter Texte des 19. Jahrhunderts aus (vgl. Tabelle 1)?
_____________
5 Ähnliches liest man in Auer (1991, 147).
6 Die Angaben sind der Arbeit von Zahn (1991) entnommen.
1016 Stephan Elspaß
(4) nun Stets beim guten Fleis kan einer vertienen 25 grochen bis
einen Thaler am Tag eures gelts, nun ist die Kost und hausr-
miten auch deuer, in einer Statt und gelegenem Zimmer wiert
bezalt vür ein Monath fünf bis 6 Thalar rente [...] ferte Sint hier
keine weil Sie heisen die ferte Keil8 [Wiemar Stommel,
24.06.1850]
(5) Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wun-
dern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon;
da graben sie 6 oder 8 Pfähle in die Erde, legen oben quer auf
lange Bäume, bringe oben Stroh hinauf und der Seiten mit
Bretter beschlagen, (viele auch nicht) und der Stall ist fertig [Phi-
lippe Lépine, 04.01.1885]
• Prädikative:
(6) Lieber Vater keine besondre Neuigkeiten weiß ich nicht als der
fortwährende Krieg Blutvergießen und Landesschulden welche
sind nach der letzten spezial Rechnung titto: 1.740.690.489 Dol-
lars und 40 Cents also siebzehn hundert, vierzich Millionen
sechs hundert neunzich tausend vier hundert achtzich und neun
Dollars und 40 Cent und daß der Vater Abraham Linkoln der
_____________
7 Für die Stichprobe wurden Ausklammerungen in drei Zeitabschnitten untersucht. Ich habe
dafür zwischen 35 und 40 Briefe von Schreibenden der Geburtsjahrzehnte 1810-20,
1830-40 und 1850-60 ausgewählt; die Gesamttextmenge liegt für jede Gruppe bei ca.
20.000 Wortformen. Die ausgeklammerten Formen wurden nach verschiedenen Typen
von Ergänzungen, adverbialen Angaben und Attributen getrennt ausgezählt.
8 Heisen zu hessen 'die Hessen durchschneiden', Hessen: 'Kniebug an den Hinterfüßen, nament-
lich der Pferde' (Schiller / Lübben 1876, 259f.); Keil zu Keilbein, hier: 'Fußwurzelknochen'.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1017
3.2. ,Linksversetzungen‘
_____________
11 Das zeigt übrigens einmal mehr die Arbitrarität und Inkonsequenz normativer Setzungen
in der Standardgrammatik.
12 Vgl. Behaghel (1932, 256), Paul (1989, 334), Reichmann / Wegera (1993, 349, 433). Sieg-
fried Grosse (in Paul 1989, 334) betont, dass Herausstellungen des Nominativs „besonders
häufig in den Prosatexten der mhd. Predigtliteratur“ erscheinen. Dies bestätigen auch die
Untersuchungen von Lötscher (1994, 47f.).
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1019
wir sind des Abends 2 Uhr in der Kutsche alle in die Stadt gefah-
ren [...] Meine schwester Anna auch sie hatt mir nicht mal wis-
sen lassen das sie einen jungen sohn empfangen haben [Ludger
II (Große) Osterholt, 25.12.1877]
(15) Käthe und ich auch wier denken Täglich ach hätten wier doch
Groß Mutter hier. [Pauline (Rogosch-) Wendt, 15.05.1890]
(16) Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wun-
dern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon
[Philippe Lépine, 04.01.1885]
Die Rückbeziehung kann, wie schon Lötscher (1994, 34) für ältere Texte
feststellte, auch durch Personalpronomina erfolgen – und sogar durch
Pronominaladverbien, wie in Beispiel (16). In drei der vorgenannten Fälle
(1. bzw. 2. Person) ist etwa die Wiederaufnahme durch ein Demonstrativ-
pronomen gar nicht möglich. Im folgenden Beleg für eine doppelte Links-
versetzung treten beide Formen der Rekurrenz nebeneinander auf:
(17) Denn die Amerikaner Weiber Arbeiten daß können Sie nicht
nur ein Schöner Garten halten und den Tag enweder Spazieren
gehe oder auf dem Clavier hier Pieano genant spielen.13 [Baltha-
sar Schmitz, 30.01.1866]
Die häufige Realisierung der Linksversetzung in der geschriebenen All-
tagssprache erklärt sich durch die Funktion der Thematisierung (vgl. Alt-
mann 1981, 48) bzw. einer „Steigerungsmöglichkeit der thematischen
Heraushebung“ (Eroms 2000, 353): Gerade in den nicht immer linear
organisierten, d.h. auch thematisch wenig strukturierten Briefen der unge-
übten Schreibenden, dem typischen „vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-
Kommen“ mit häufigem und oft abruptem Wechsel des Gegenstands
oder der Personen, von denen aktuell die Rede ist, erscheint die entspre-
chend klare Kennzeichnung eines neuen Themas geradezu als Verste-
hensnotwendigkeit. Das zeigt in besonderer Deutlichkeit Beispiel (11).
Mein drittes und letztes Beispiel betrifft die Nebensatzklammer bzw. die
Auflösung der Nebensatzklammer in einem speziellen Fall, der in der Ge-
genwartsgrammatik heftig diskutiert wird. Gemeint sind Verbzweitstellun-
_____________
13 Linksversetzung 1: Denn die Amerikaner-Weiber, sie können nicht arbeiten.
Linksversetzung 2: Arbeiten, das können sie nicht.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1021
under schiet wie bei euch. ich haben Hensten gesehen die nicht
under vier huntert Thaler zu kaufen waren. [Wiemar Stommel
(aus Kurtsiefen, Siegkreis), 24.06.1850]14
Dann gibt es auch Fälle, in denen die Verbzweitstellung nach weil wieder
anders erklärt werden könnte, nämlich durch Besonderheiten der Seriali-
sierung im Verbalkomplex. In den Auszügen (24) bis (26) könnte es sein,
dass die unterstrichenen finiten Formen der Hilfsverben in den zwei- bzw.
dreigliedrigen Verbkomplexen vorgezogen wurden – das ist eine in den
Briefen des 19. Jahrhunderts durchaus häufig zu findende Verbstellung:
(24) diese 3 Mädle [wo ich von] Stuttgart auch nach Amerika sind
hatte ich in Maintz getroffen, die hatten aber schon Geselschaft
getroffen auf d[em] Wege, die hatten sich so Gemein aufgeführt
auf dem Weg schon und auf der See es waren 2 Schneidergesel-
len mit diesen Madle habe ich Ver[druß] beko^en, weil ich hab
die Lied[er]lichkeit nicht ansehen kö]en die eine ist nach Vi-
ladelfe15 u. die eine in New Jork. [Anna Maria Klinger (aus Korb-
Steinreinach bei Waiblingen), 18.03.1849]
(25) Liebe Bruder du Schreibist mir das du wolltest im Herbst wieder
kommen das muß du selber wissen wie es hir so ist das weiß du
wohl von früher aber von verdinst ist es viel schlechter den das
Weben ist ganz aus und das kömt von den amerikänischen Krig
weil keine Baumwolle kan erhalten werden denn das Pfund
Baumwollen Garn kostet 20 Sgr so das gar nicht mer hir gewebt
wird [Heinrich Brandes (aus Ochtrup, Westfalen), 20.07.1863]
(26) Lieber Freund 4½ Thaler bekom ich im Tag, für euch wäre es
noch beser weil auch deine Frau könt verdinen, eine Frau so-
vil machen als der man wen sie wil. [Josef Schabl (aus dem Bur-
genland), 13.08.1922]
Es ließen sich noch weitere mögliche Einflussfaktoren auf die Entwick-
lung der Verbzweitstellung nach weil nennen, z.B. die afiniten Nebensatz-
konstruktionen, die ja offen lassen, in welcher Stellung das finite Verb zu
stehen käme, wie in Auszug (27):
_____________
14 Die Ausklammerung selbst nominaler Ergänzungen in weil-Sätzen war zumindest in der
Lyrik des 19. Jahrhunderts aus Gründen der Metrik und des Reims eine akzeptierte Satz-
gliedstellung:
Denn vor Gott ist alles herrlich, / Eben weil er ist der Beste; / Und so schläft nun aller
Vogel / In dem groß und kleinen Neste. (Goethe: West-östlicher Divan)
15 Philadelphia.
1024 Stephan Elspaß
(27) So bitte ich Euch liben Eltern nochmahls dringend, Laßt Euch
ein Bild von das Orignal Bild abnehmen und schikt uns dan das
Bild welches wir an Euch geschikt haben es wird Euch gewiß,
nichts aus machen solte es nicht ganz genau so sein weil Ihr das
Kind doch nicht gekant aber es i[ch] zu genau getroffen auf
das Haubt Bild deshalb möchten wir es [um] jeden Preis wider
haben. [Hermann Reibenstein, 05.06.1870]
Hier breche ich ab. Ich hoffe, ich konnte Folgendes deutlich machen: Um
diese Wortstellung, die uns heute als markiert erscheint, zu erklären, ist es
nicht nur notwendig, die Geschichte der kausalen Konjunktionen zurück-
zuverfolgen, sondern man muss sich auch einen Überblick verschaffen
über die historische Varianz und die Entwicklungen der Klammerstruktu-
ren. Im vorliegenden Fall ist es m.E. mit dem Hinweis auf eine „lokale
Umschichtung im Lexikon der deutschen Funktionswörter“ (Uhmann,
nach Selting 1999, 180), also die Ersetzung des schriftsprachlichen denn
durch das alltagssprachlichere weil nicht getan. Denn diese Übernahme traf
auf bestimmte syntaktische Bedingungen: Ermöglicht wurde sie durch
Stellungsvarianten bei mehrgliedrigen Verbalkomplexen, durch die zu-
nehmend genutzte Möglichkeit der Ausklammerung und der auch noch
verwendeten afiniten Nebensatzkonstruktionen. Diese verschiedenen
Varianten können als Katalysatoren gewirkt und zusammen genommen
die Funktionsübernahme des denn durch weil befördert haben.
4. Schluss
Mein Schlussplädoyer ist kurz. Die Fallbeispiele aus dem weiteren Bereich
der Klammerstrukturen des Deutschen sollten deutlich machen, dass die
geschriebene historische Nähesprache – gerade diejenige, die unserer Ge-
genwartssprache unmittelbar vorausgeht, – nicht nur der Forschung zur
historischen Grammatik wie auch der zur Gegenwartsgrammatik neue
Erkenntnisse liefern kann, sondern dass sie auch (um im Bild zu bleiben)
eine wichtige Klammer zwischen historischer und Gegenwartsgrammatik
bildet: Die Ergebnisse haben gezeigt, dass Entwicklungen, die erst in der
jüngeren Forschung zur gesprochenen Sprache (oder auch zur Sprache in
informellen Texten der neuen Medien) als ‚auffällig‘ beschrieben und dis-
kutiert werden, in gleicher Weise oder zumindest im Prinzip schon in der
geschriebenen Alltagssprache des 19. Jahrhunderts zu beobachten waren.
Um Tendenzen in der Gegenwartssprache adäquat erklären zu können, ist
es notwendig, ihre unmittelbaren historischen Vorläufer bzw. Formen zu
berücksichtigen, die offenbar während der ganzen Zeit unter der bereinig-
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1025
Literatur
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Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000, Tübingen.
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che 7), Berlin, New York.
1026 Stephan Elspaß
1. Einleitung
Während viele Aspekte der ‚Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus‘
inzwischen gut erforscht sind, gibt es bisher kaum Untersuchungen dazu,
ob und wie die Opfer des Nationalsozialismus ihre Entrechtung, Verfol-
gung und – in vielen Fällen – ihre Deportation in Gefängnisse, Gettos
und Lager sprachlich bewältigt haben. Die Gründe für diese Zurückhal-
tung mögen vielfältig sein; es hat bis in die jüngere Vergangenheit jedoch
vor allem an einer geeigneten Textgrundlage gefehlt, um diese Frage zu-
mindest in Ansätzen beantworten zu können. Mit dem Erscheinen der
Edition der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt liegt nun aber eine
umfangreiche Quelle vor, die einen tiefen Einblick in das ‚Schreiben im
Holocaust‘ erlaubt.1 Es lassen sich nun Überlegungen zur Funktion der
‚Sprache unter erschwerten Lebensbedingungen‘ anstellen sowie textlingu-
istische und lexikologische Aussagen treffen. Bei der Vorbereitung der
Edition sind die Herausgeber daneben vergleichsweise häufig auch auf
grammatische Merkmale gestoßen, die nicht mit der Norm der deutschen
Standardsprache übereinstimmen. Das war bei einem Text, der in den
Jahren 1941 bis 1944 entstanden ist, nicht von vornherein in diesem Aus-
maß zu erwarten. Vielfach war zunächst unklar, ob es sich bei diesen Auf-
fälligkeiten um Fehler handelt, die in der Ausgabe korrigiert werden soll-
ten oder ob doch in manchen Fällen bestimmte sprachliche Gesetzmäßig-
keiten vorliegen, die es erlauben, die Abweichungen in der Edition stehen
zu lassen. Es stellte sich dann darüber hinaus die Frage, warum der Text
überhaupt so viele Abweichungen enthält. Eine Erklärungsmöglichkeit
bietet sich dann, wenn man die grammatische Variation in der Chronik
und auch in allen anderen, im Getto Lodz entstandenen Texten vor dem
_____________
1 Vgl. Leibfried / Feuchert / Riecke (2007).
1028 Jörg Riecke
_____________
2 Vgl. Riecke (2009), bes. 107-114.
3 Dazu ausführlicher Löw (2007, 145ff.); Feuchert (2007, 167ff.). Vgl. auch ders. (2004).
Grammatische Variation in einer Chronik 1029
2. Die Schreibsituation
im Getto Lodz / Litzmannstadt
Die Errichtung des Gettos Lodzer bzw. Litzmannstadt, so lautete der
Name der Stadt nach der Umbenennung nach einem deutschen General,
gehörte zu den ersten Maßnahmen der deutschen Besatzer in Polen. Auf
engstem Raum vegetierten zeitweilig bis zu 160.000 Menschen. Das Getto
bestand in den Jahren 1940 bis 1944. Dieses Leben war für die meisten
Bewohner geprägt durch die völlige Abgeschlossenheit von der Außen-
welt, die schlechte Versorgungslage und den Wechsel von erzwungener
Untätigkeit und erzwungener Schwerstarbeit bei Arbeitseinsätzen. Die
Menschen waren entkräftet und hungerten. Dazu kam die völlige Unge-
wissheit über das weitere Schicksal.
Es fällt heute schwer zu glauben, dass Menschen unter diesen extre-
men Bedingungen überhaupt willens und in der Lage waren, Texte zu
verfassen. Aber für viele war das Schreiben offensichtlich die einzige
Möglichkeit, das täglich erlebte Grauen wenigstens ansatzweise zu verar-
beiten. Neben der vor diesem Hintergrund entstandenen ‚privaten Schrift-
lichkeit‘, die sich vor allem in Tagebüchern und Essays niederschlägt, gibt
es unter den Bedingungen des Gettos auch eine gewissermaßen ‚halböf-
fentliche‘ Schriftlichkeit, deren Textzeugen das Schreiben unter dem Na-
tionalsozialismus durch sonst bisher nicht bekannte Varianten bereichern.
Um das Überleben, oder zumindest doch das Weiterleben einer größeren
Gruppe der Gettoinsassen zu sichern, hat die jüdische Getto-Selbstver-
waltung das Getto in Übereinstimmung mit den deutschen Behörden in
eine Produktionsstätte für die Erzeugung ziviler und kriegswichtiger Er-
zeugnisse aller Art umgewandelt. Dies bedeutete aber nun zugleich, dass
diejenigen, die ohne feste Arbeit waren, in höchstem Maße von der De-
portation in das Vernichtungslager Kulmhof bedroht waren. Für die große
Zahl der Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Künstler, die
nicht ohne Weiteres in den Produktionsprozess eingegliedert werden
konnten, wurden daher geeignete Arbeitsplätze in der Getto-Verwaltung
geschaffen. So erklärt sich auch die Errichtung einer „Statistischen Abtei-
lung“ und eines „Archivs“, deren ‚Beamte‘ maßgeblich mit der Abfassung
von Texten über den Alltag im Getto befasst waren. Die spezifischen
Lebensumstände des Gettos haben, anders als etwa in einem Konzentrati-
onslager, trotz aller Beschränkung der persönlichen Freiheit den Men-
schen doch noch den Raum zur Verfertigung von Texten gelassen. Zwei
Beispiele sollen das verdeutlichen:
1030 Jörg Riecke
_____________
7 Ebd., 206.
8 Ebd., 44.
9 Dazu ausführlicher Riecke (2006, 82ff.).
1032 Jörg Riecke
_____________
10 „Getto-Enzyklopädie“, zitiert nach Riecke (2006, 92). Eine Edition der Enzyklopädie ist in
Vorbereitung.
11 Weinrich (1994, 47).
12 Dazu ausführlicher Riecke (2006, 91f.).
Grammatische Variation in einer Chronik 1033
_____________
13 Man vergleiche dazu ausführlicher die in Anm. 3 genannte Literatur.
14 Zur Schreibsituation der Chronisten und weiteren editorischen Problemen vgl. Leib-
fried / Turvold (2007, Bd. 5, 205ff.).
1034 Jörg Riecke
Aber nicht nur die Schreiberinnen, auch die Chronisten selbst bringen
in nicht geringem Maße regionalen Sprachgebrauch in die Chronik ein.
Das zeigt sich an vielen Lexemen, meist Fremdwörtern, die aus der öster-
reichischen Amts- und Verwaltungssprache stammen. Sie gehören, da
über Wörterbücher meist auch in ihren graphischen Variationen eindeutig
identifizierbar, nicht zur Gruppe der editorischen Zweifelsfälle. Dazu
zählen eher morphologische Abweichungen von der deutschen Standard-
sprache, etwa Pluralbildungen wie Läger statt Lager und Wägen statt Wagen
oder das Wortbildungsmorphem -hältig statt -haltig, die für die oberdeut-
sche Herkunft der Chronisten kennzeichnend sind. Noch heute sind für
das österreichische Deutsch unter anderem folgende Erscheinungen cha-
rakteristisch:
das grammatische Geschlecht der Substantive 15
die Aussprache bzw. Schreibung von Fremdwörtern 16
Fugenelemente in der Komposition. 17
Für all diese Merkmale lassen sich in der Chronik – in unterschiedlicher
Dichte und Häufigkeit – Beispiele finden, etwa Fabrikszigarette statt Fabrik-
zigarette, der Kartoffel statt die Kartoffel oder Fremdwortschreibungen wie
Brochen 'Broschen', Emmission, Plaidoyer, Restringtion und Strapazzen. Beson-
ders auffällig sind die immer wiederkehrenden Schwankungen im Kasus-
gebrauch, insbesondere bei der Verwendung von Dativ und Akkusativ:
Es verlautet, dass erst nach den 1. März derartige Bitten behandelt werden kön-
nen (Chronik, 23.2.1943); 18 … bis in den späten Abendstunden hatte er nichts zu
sich genommen (15.12.1943); Der Offizier stellte den Präses einige Fragen
(3.1.1944); … und unbedingt vermeiden, dass jemand anders in dem Genuss die-
ser Wohltat gelangt (25.6.1943); Von diesem Gesichtspunkt aus interessiert ihm
nicht die Familie der Arbeitenden (16.10.1943); im Einklang zu bringen
(5.1.1944); im Umlauf gesetzt (22.2.1944); … wobei die unbeteiligten Zuschauer
der Magen knurrte (19.4.1943).
Nur ganz selten sind diese Abweichungen in einem anderen Textzeugen
korrigiert worden, so etwa „Küchenpersonal in frischer, sauberer Klei-
dung wartete bei vollen Kesseln, Pfannen sozusagen auf den [in einer
anderen Fassung korrigiert: aus dem] Gongschlag“ (25.6.1943).
Es gehören hierher auch die Adverbvarianten hieher, hiefür oder hiemit
als Kurzformen statt der seit Adelung üblichen hierher, hierfür, hiermit. In
_____________
15 Vgl. Ammon (2004, LXIII-LXXI).
16 Vgl. ebd., LIX-LXII.
17 Vgl. ebd., LXXIIf.
18 Hervorhebungen durch J.R. – Alle Belege aus der Chronik des Gettos Lodz / Litzmann-
stadt (wie Anm. 1). Man vergleiche auch Riecke (2007, 191ff.).
Grammatische Variation in einer Chronik 1035
der Chronik sind sie annähernd der Regelfall. Solche Kürzungen finden
sich durchaus schon im Althochdeutschen, sind bei Luther die Regel, bei
Goethe noch – gegen Adelung – in der Überzahl. Typisch südost-deutsch
ist auch die Verwendung von wieviel, soviel statt wieviele, soviele auch dann,
wenn kein Adjektiv mit klarer Kasuskennzeichnung folgt. In den in Wien
verfassten Tagebüchern Elias Canettis, der als gebürtiger Bulgare Deutsch
nur aus einer Grammatik gelernt hat und daher ein exzellentes Standard-
Deutsch schreibt, ist dieser Gebrauch von wieviel nebenbei bemerkt das
einzige regionalsprachliche Merkmal.
Alle diese Merkmale prägen den Text nachdrücklich und sind deshalb
nicht an die Normen des Gegenwartsdeutschen in Deutschland angepasst
worden. Eine solche Entscheidung wäre auch deshalb nicht zu verantwor-
ten gewesen, weil zum Zeitpunkt der sprachlichen Sozialisation der Chro-
nisten, also etwa im Zeitraum um das Jahr 1900, selbst die Grammatiken
und Sprachratgeber in der Orthographie und Formenbildung zahlreicher
Wörter schwanken. Und dies verstärkt sich umso mehr, je weiter man sich
von den duden-geprägten orthographischen Zentren des ostmitteldeut-
schen Raumes entfernt. Die Durchsicht der Chronik gibt viele Hinweise
darauf, dass die Art eines großen Teils der Abweichungen tendenziell dem
entspricht, was sich beispielsweise auch für den Sprachgebrauch Franz
Kafkas sagen lässt.19 Hier kommt hinzu, dass einzelne Formen – wie etwa
in dem Satz „ich sende auch heute die Zeitung, Äpfel und paar Nüsse“ im
so genannten Prager Deutsch unter dem Einfluss des Tschechischen ent-
standen sein dürften.20 Man vergleiche: „Das Gemüse / Kopfsalat / klein
geschnitten mit paar Kartoffeln und wenig Wasser weichkochen“
(21.6.1943). Heutigen Kennern der deutschen Gegenwartssprache er-
scheinen solche Sätze ungrammatisch, sie sind jedoch nur Bestandteil
eines anderen Schreibusus.
In die Edition Eingang gefunden haben auch eine ganze Reihe weite-
rer Abweichungen, die jedoch beim derzeitigen Forschungsstand nicht
ausschließlich als regionale Abweichungen gedeutet werden dürfen. Hier
handelt es sich um einige syntaktische Besonderheiten, die heute in
Deutschland und Österreich als ungewöhnlich empfunden werden. Dazu
gehören die so genannte ‚Inversion nach und‘ sowie einige Auffälligkeiten
bei der Kongruenz von Subjekt und Prädikat.
Zunächst einige Beispiele für die Inversion nach und:21
_____________
19 Vgl. dazu Bauer (2007, 42ff.); Blahak (2007, 79ff.).
20 Julie Kafka an Franz, zitiert nach Bauer (2007, 59).
21 Maßgeblich zur Inversion nach und ist noch immer Behaghel (1932, 30ff.), der die Kon-
struktion bereits 1932 als „veraltet“ einstuft. Vereinzelte Beispiele finden sich allerdings,
abgesehen von den Buddenbrooks auch in Thomas Manns Josephs-Roman und im Dr. Faustus.
1036 Jörg Riecke
Der Mann wurde den Behörden ausgeliefert und sind im Zusammenhang mit
dieser Affäre schon 180 Personen im Getto verhaftet worden (15.2.1943); Der
Transport hätte in den heutigen Morgenstunden abgehen sollen und stand die
Gruppe bereits reisefertig im Hofe des Zentral-Gefängnissen (9.3.1944); Die
Transporte fahren jeweils um 7 Uhr früh ab und muss mit dem Einladen um 6
Uhr früh begonnen werden (18.6.1944); Dortselbst werden die Möbel, Hausgerä-
te, Waren, Wäsche, Kleider u.s.w. geschätzt, und wird der Gegenwert bar ausge-
zahlt (20.6.1944).
Damit verwandt sind Sätze, in denen das Pronomen fehlt:
Der Preis für den Talon beträgt Mk. 2,- und werden den Betrieben schon in den
nächsten Tagen zugestellt (8.11.1943)
Vereinzelt erscheint die Inversion auch nach sondern:
Ab nächster Woche werden diese Trauungen nicht mehr am Kirchplatz 4 statt-
finden, da der hiezu gewählte Saal sich als zu klein erwies, sondern wird der Prä-
ses im Kulturhause die heiratslustigen Paare zusammenführen (27.12.1942).
Die Chronisten verwenden darüber hinaus immer wieder auch Konstruk-
tionen, in denen keine Kongruenz von Subjekt und Prädikat besteht. Das
findet sich fast immer in Verbindung mit Substantiven wie Teil oder An-
zahl, auf die ein Prädikat im Plural folgt. Etwa in:
… und referierte, so dass noch ein Teil dieser Personen eine Zuteilung erhielten“
(18.4.1943); Es verbreitete sich sofort das Gerücht, dass wieder eine grosse An-
zahl von Maennern zur Arbeit ausserhalb des Gettos angefordert wurden
(31.8.1943).
In anderen Fällen richtet sich das Prädikat nach dem Objekt, so in:
Der bekannte Spezialarzt Dr. Mazur, den der Praeses seinerzeit aus Warschau ins
Getto gebracht hat, ging gerade in der Richtung Siegfriedstrasse, als ein Auto mit
zwei Herren der Getto-Verwaltung und A. Jakubowicz vorbei fuhren (7.10.1943).
oder
Das Gebäude Hanseatenstrasse 63, wo sich die Privatwohnung des Praeses und
der Familie Fuchs befinden (15.2.1944).
Man fühlt sich erinnert an eine veraltete Konstruktion des Englischen
vom Typ „I and my colleges are discussing it“ bzw. „My colleges and I am
discussing it“, wo Singular oder Plural nach dem Prinzip nearest to the predi-
cate verteilt wird. Für das Beispiel „Das Feuer wurde erstickt und die Ka-
mine gefegt“ (7.4.1944) gilt, dass sich das Prädikat nach dem ersten Sub-
stantiv richtet. Beim zweiten Beispiel „Aber hundert Fälle, die kompli-
zierter liegen, weil Familie mit Familie zusammenleben, sind noch
ungelöst“ (5.6.1944), ist ebenfalls das erste Substantiv maßgebend, aber
hier könnte für weil Familie mit Familie zusammenleben auch an das Phäno-
men des Mengenplurals gedacht werden, das im Englischen etwa in Sätzen
wie: „The police are coming“ auftritt.
Grammatische Variation in einer Chronik 1037
Auffällig ist schließlich auch die Flexion des Wortes Kartoffel, das nicht
durchgängig, aber doch in gewisser Häufigkeit dann nicht flektiert wird,
wenn eine unbestimmte Menge zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein
Beispiel für viele: „Das Getto atmet auf und mit jedem Wagen Kartoffel,
das über den Baluter Ring ins Getto rollt […]“ (17.7.1943). An dieser
Stelle wurde ein sogar zunächst getipptes n (Kartoffeln) nachträglich gestri-
chen. Abweichend ist die Pluralbildung im Akkusativ häufig auch bei den
Lebensmittel statt Lebensmitteln oder Instruktore statt Instruktoren.
Die große Zahl an systematisch wiederkehrenden Abweichungen von
der Norm der deutschen Gegenwartssprache lässt – insbesondere im
Hinblick auf das historische (Prager) Deutsch Franz Kafkas – auf die
Existenz eines vermutlich süddeutsch-österreichisch-habsburgisch gepräg-
ten Schreibusus schließen, der allerdings erst in Ansätzen untersucht ist.
Wenn es neben dem preußisch-norddeutsch geprägten Duden-Deutsch
eine Varietät der deutschen Standardsprache gab, dann ist auch in editori-
schen Zweifelsfällen ein größtmögliches Maß an Zurückhaltung geboten.
Deshalb ist auch bei der Großschreibung von adjektivischen Komposita
mit einem Substantiv als Bestimmungswort (Betrachtkommend, Knochenent-
kalkt), der Wiedergabe von Tageszeiten („Mittag 5 Grad Wärme“, Inzwi-
schen ist es spät abends geworden“), dem Gebrauch des Genitivs („wegen
Diebstahl“, „wegen Wiederstand“) oder im Fall von bestimmten Formen
der Kürzung wie etwa „3 Lungenentzündung“ oder „3 Tuberkul. Gehirn-
hautentzündung“ statt „3 Fälle von Lungenentzündung“ oder „3 Tuber-
kul. Gehirnhautentzündungen“ der Sprachgebrauch des Originals bewahrt
worden, auch dann, wenn er wegen der komplizierten Schreibsituation
selten einheitlich ist. In all diesen Fällen ist die Menge der gleichartigen
Abweichungen dennoch so groß, dass nicht von Fehlern oder Irrtümern im
herkömmlichen Sinne gesprochen werden kann.
4. Resümee
Die Texte aus dem Getto Lodz / Litzmannstadt besitzen eine Reihe lexi-
kalischer, besonders aber auch grammatischer Merkmale wie den spezifi-
schen Gebrauch des Dativs statt des Akkusativs oder die anders gesteuerte
Kongruenz von Substantiv und Prädikat, die zur Zeit der Abfassung der
Chronik nicht Bestandteil der Standardsprache waren. Die Autoren haben
selbst, soweit sich dies heute rekonstruieren lässt, vor ihrer Deportation
diese Merkmale nicht verwendet, sondern sich exakt an die geltende Stan-
dardnorm gehalten. Ganz offensichtlich haben die Chronisten versucht,
sich auch sprachlich von dem Deutsch ihrer nationalsozialistischen Zeit-
genossen zu unterscheiden. Die sprachliche Variation insbesondere in der
1038 Jörg Riecke
Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt kann daher als eine Art sprach-
lichen Widerstandes gedeutet werden. Die Getto-Chronik wäre dann der
letzte Zeuge einer südlichen Varietät der deutschen Standardsprache, die
von ihren Autoren, assimilierten modernen Juden des 20. Jahrhunderts,
eigentlich schon aufgegeben war, aber noch einmal eingesetzt wurde, um
sich vom nationalsozialistisch kontaminierten Deutsch der 40er-Jahre
abzugrenzen. Es gehört zu den vordringlichen Aufgaben der Sprachger-
manistik, diese verlorene Varietät genauer zu untersuchen.
Literatur
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Das simulierende es
Zur valenztheoretischen Beschreibung des nicht-phorischen
es am Beispiel eines neuhochdeutschen Textes
1. Einleitung
Im Untertitel ihres 1995 in der Deutschen Sprache erschienenen Aufsatzes
bezeichnete Gisela Zifonun das nicht-phorische es als „Prüfstein gramma-
tischer Theoriebildung“. Dies spiegelte die Tatsache wider, dass der eine
„Zweig“ der einschlägigen Forschung sich intensiv mit dem syntaktischen
Status von es und dessen theoretischer Beschreibung und Erklärung ausei-
nandergesetzt hatte, was Konsequenzen für die jeweilige Grammatiktheo-
rie nach sich gezogen hat.1 Ein anschauliches Beispiel hierfür war und ist
die Behandlung von es in generativen Arbeiten, die dort einerseits zu der
Annahme eines Wandels der strikten Subkategorisierung bzw. verschiede-
ner Basisgenerierungsmöglichkeiten bei Verben führte (vgl. bspw. Pütz
1975, Lenerz 1985 und Cardinaletti 1990), andererseits die Etablierung
leerer Kategorien („dummy“ oder „empty category“, vgl. Hoeing 1994)
nach dem so genannten Leerstellenprinzip bewirkte, was wiederum be-
kanntlicherweise einen wesentlichen Beitrag zu der Diskussion über Posi-
tion und Generierung des Subjekts in der X-bar-Theorie leistete (vgl. dazu
Haider 1993, 132ff.).
Mit Zifonun (1995, 59) wird an dieser Stelle die Ansicht vertreten,
dass die vorfindlichen generativen Beschreibungen des nicht-phorischen es
nicht im Stande sind, dessen oberflächensyntaktisch ermittelbares gram-
matisches Verhalten adäquat zu erfassen. Den eingangs erwähnten Ge-
danken Zifonuns aufgreifend ruft daher der vorliegende Beitrag eine ande-
re Grammatiktheorie, nämlich die Valenztheorie, zu Hilfe und setzt sich
zum Ziel,
_____________
1 Der andere „Zweig“ ist gekennzeichnet durch Versuche, die verschiedenen es-Gebrauchs-
weisen zu klassifizieren, vgl. u.a. Pütz (1975), Admoni (1976) und Askedal (1990).
1042 Dániel Czicza
1. den Begriff der „Valenzsimulation“ (Ágel 2000a, 229) auf die Be-
schreibung des nicht-phorischen es anzuwenden und daran anknüp-
fend
2. den Status des Korrelat-es zwischen phorischen und nicht-
phorischen es-Vorkommen zu bestimmen.
Die folgenden Überlegungen bilden einen Teil einer größeren Arbeit, in
der eine umfassende funktional-grammatische Beschreibung des es-
Gesamtsystems2 im Neuhochdeutschen auf empirischer Basis unter Be-
rücksichtigung neuester grammatiktheoretischer Ergebnisse angestrebt
wird. Als Materialbasis für die kommende Darstellung dient ein neuhoch-
deutscher Text aus dem 18. Jh. (Nehrlich 1723 / 1997), der die Aufzeich-
nungen eines Handwerkers im Zusammenhang mit einem religiös moti-
vierten Streit im späten 17. Jh. beinhaltet. Der Beitrag gliedert sich in vier
Teile: Zunächst sollen die beiden Grundtypen, das phorische und das
nicht-phorische es, kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran wird der
Begriff der Valenzsimulation erklärt, wobei zwei Typen der Simulation
angenommen und beschrieben werden. Darauf folgt ein Kapitel zum Kor-
relat-es, in dem ein möglicher Weg der Integration dieser es-
Gebrauchsweise ins es-Gesamtsystem und eine Erweiterung bzw. Präzisie-
rung der Valenzsimulationstypologie vorgeschlagen werden. Schließlich
werden die Ergebnisse zusammengefasst und Desiderata formuliert.
_____________
2 Zu diesem Begriff und dem ihm zu Grunde liegenden Gedanken vgl. Admoni (1976, 225).
3 In Klammern steht die jeweilige Zeilenzahl der Dateiversion des Textes.
Das simulierende es 1043
Seefranz-Montag 1995, 1279; Beispiel (7)) sowie fixes es6 (vgl. Zifonun
1995; Beispiele (2) und (8)) verwendet.
Während in der heutigen Forschungsliteratur größtenteils Konsens
darüber herrscht, das es in Beispielen wie (1), (3) und (4) bzw. (2) und (6)
bis (8) als phorisch bzw. nicht-phorisch einzustufen,7 scheiden sich die
Köpfe beim Korrelat-es (5). Zifonun (1995 bzw. 2001, 76) betrachtet das
Korrelat-es z.B. als einen Typus ohne Phorik und bezeichnet es als „rein
strukturelle[n] Verweis innerhalb des Satzes“, für Askedal (1990, 217) ist
es dagegen ein Typ mit (Kata-)Phorik. Wie in Kapitel 4 zu zeigen sein
wird, ist es möglich, das Korrelat-es als Zwischenstufe zwischen phori-
schem und nicht-phorischem es zu sehen, um dadurch das dichotomische
Verortungsproblem in grammatiktheoretischer Hinsicht auch historisch
vertretbar zu überwinden. Dass eine dichotomische Herangehensweise
hier zu kurz kommt, zeigen die Überlegungen in Czicza (2003, 39).
_____________
6 Gelegentlich wird auch formales Subjekt- bzw. Objekt-es benutzt.
7 Abgesehen etwa von der Annahme einer übernatürlichen Größe als Referenzpunkt im
Hintergrund bei Behaghel (1923, 318), die im fixen es bei Witterungsimpersonalia (Typ: es
regnet) zum Ausdruck kommt.
8 Es ist wichtig zu betonen, dass es hier nicht um die kontextuell-situative Realisierung der Va-
lenz, also um das Verhältnis von Valenz und Text geht, sondern um Fragen der Sprach-
struktur und deren Verhältnis zur Valenz (ebd.).
Das simulierende es 1045
sicht recht heterogen sind, man findet hier es-Vorkommen, die Naturer-
scheinungen, Zeitverhältnisse, Existenz usw. zum Ausdruck bringen (vgl.
auch Helbig / Buscha 2001, 398ff.). Und obwohl sie in Anlehnung an
Ágel (2000a, 229) alle Valenzsimulationen darstellen, sind sie nicht nur
semantisch heterogen, sondern auch syntaktisch. Auch Ágel (ebd.) räumt
ein, dass man hier „den teils differierenden Eigenschaften der nicht phori-
schen es-Typen Rechnung tragen [...]“ sollte. So stellt Szatmári (1998,
235ff.) bezogen auf die von ihr untersuchten sich-lassen-Fügungen und
andere es-Vorkommen (s. o.) fest, dass verschiedene Stufen der Sub-
jekthaftigkeit von es anzunehmen sind in Abhängigkeit von dessen obliga-
torischer oder fakultativer Setzung bzw. Nicht-Realisierung im Vor- und
Mittelfeld. Tatsächlich gilt, dass das Vorfeld-es bei Besetzung des Vorfel-
des durch ein anderes Element obligatorisch wegfällt, während das fixe es
in jeder Position vorhanden sein muss12 und das es in sich-lassen-Gefügen
unterschiedliche Verhaltensmuster zeigt (ebd.). An dieser Stelle muss dar-
auf hingewiesen werden, dass unter „Subjekt-“ in „Subjekthaftigkeit“ im
Sinne der obigen Überlegungen simulierte Subjekte zu verstehen sind. Um
dem heterogenen Wesen nicht-phorischer es-Typen Rechnung zu tragen,
zieht Ágel (2000a, 230) die Grammatikalisierungstheorie heran und postu-
liert eine Skala mit zwei „Extremen“:
Das eine Extrem stellen dabei primär nullwertige VT [Valenzträger, D.C.] dar,
deren Valenzsimulation voll grammatikalisiert ist (Typ: es blitzt). [...] Das andere
Extrem mit es nur im Vorfeld bilden Sätze, bei denen die Valenzsimulation keine
INSP-Simulation beinhaltet.13
In der Übergangszone zwischen diesen beiden Polen befinden sich nach
Ágel (ebd.) Mittelkonstruktionen, darunter auch die von Szatmári (1998)
untersuchten sich-lassen-Konstruktionen mit optionalem es (Typus: Hier
lässt es sich gut leben.) und Experiencer-Impersonalia mit (ebenfalls) optiona-
lem es (Typus: mich friert (es) und (7)). Eine solche skalare Abbildung der
Verhältnisse ist zwar einleuchtend, lässt sich aber historisch schwer un-
termauern, und zwar aus zwei Gründen:
1. Das funktionale Spektrum von es ist bereits zu althochdeutscher
Zeit recht breit (s. Große 1991).
2. Es ist schwierig festzustellen, welcher Pol der von Ágel postulierten
Skala den Anfang und welcher das Ende des das nicht-phorische es
betreffenden Grammatikalisierungsprozesses darstellen soll.
_____________
12 Kritisch kann hier angemerkt werden, dass es Verbspitzenstellungsphänomene gibt, bei
welchen dies nicht gilt, vgl. Auer (1993, 196f.).
13 Für diesen letzteren Fall vgl. (6).
Das simulierende es 1047
_____________
14 Vogel nimmt an, dass heutigen Spaltsätzen (Es ist Peter, der heute nicht kommt.) ähnliche
Fügungen mit textreferentiellem es, Kopula und Prädikatsnomen den Ausgangspunkt bilde-
ten, wobei im Falle von Vollverben statt Kopula eine syntaktische Reanalyse stattfand, so-
dass das ehemals echte Subjekt-es zu einem reinen Vorfeldmarker wurde.
1048 Dániel Czicza
Standardwert ausgegangen, der die 3.Ps.Sg. ist und der durch ein zusätzli-
ches, (notgedrungen) korrespondierendes Vorfeld-es ergänzt werden kann,
wenn das Vorfeld nicht anderswie besetzt wird. Subjektlose Passivsätze
unterscheiden sich von subjekthaltigen, nicht impersonalen aktivischen
(oder auch passivischen) Sätzen des Weiteren auch darin, dass sie „event-
zentraler“ sind (vgl. dazu oben bzw. Vogel 2006, 226, 234).
Dieses recht komplizierte, in Vogel (2006) aber auf ausgezeichnete
Weise systematisierte Bild soll hier nicht weiter präzisiert werden,18 son-
dern es wird lediglich festgehalten, dass sich aktivische und passivische
Sätze mit Vorfeld-es zwar in wesentlichen Merkmalen unterscheiden, aber
unter dem Aspekt der Valenzsimulation doch auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen sind.
Im Falle von Sätzen wie (2) und (7)-(11) wird mit Ágel (2000a, 230) und
entsprechend den Ausführungen oben davon ausgegangen, dass diese eine
INSP-Simulation aufweisen. Auch diese Gruppe ist heterogen und muss
weiter ausdifferenziert werden. Zunächst werden die einzelnen es-
Vorkommen dargestellt, dann wird die Frage nach der Konstruktionalität
und somit auch der Begriff konstruktionelle Valenzsimulation geklärt. Expe-
riencer-Impersonalia (7) können mit oder ohne es stehen, vgl.:
(15) [...] den ich wuste selber nicht, wie mir war, wen ich auff der gaßen
gieng [...] (391)19
Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie primäre Thetizität darstellen (vgl.
Vogel 2006, 225) und kein persönliches grammatisches Subjekt enthalten.
Zunächst erscheint im Mittelhochdeutschen das Vorfeld-es in solchen
Konstruktionen20 (vgl. ebd., 194), später, in der neuhochdeutschen Perio-
de, in der dann der Prozess der Subjektivierung den ganzen Bereich der
Thetizität erfasst, wird ein formales Subjekt-es eingefügt, das auch im Mit-
telfeld erscheinen kann, ja in bestimmten Fällen tendenziell zunehmend
sogar muss (vgl. Wegener 1999, 192). Ágel (2000b, 1872) bezeichnet die-
sen Prozess als Umkodierung. Dabei können im Deutschen zwei Typen
von Umkodierungen unterschieden werden (ebd.): 1. Der Zweitaktant
wird nominativiert, vgl. mir fehlt + Gen → mir fehlt + Nom; 2. Der akkusati-
vische / dativische Erstaktant wird nominativiert, vgl. mich friert → ich
friere. Ein wichtiger Vorgang ist hierbei die Einführung von Formalsubjek-
ten (vgl. von Seefranz-Montag 1995, 1279), was „die formale Anpassung
des Satzmusters an den 1. Umkodierungstyp“ (Ágel 2000b, 1872) bedeu-
_____________
18 Bspw. könnte man es ausgehend von der Valenz der beteiligten Verben in (13) und (14)
hinsichtlich eines implizierten oder fehlenden Patienssubjekts weiter ausführen.
19 Zu weiteren Beispielen mit anderen Verben (mich friert usw.) s. von Seefranz-Montag (1995)
und Vogel (2006).
20 Dies würde dort eine positionale Simulation bedeuten.
1050 Dániel Czicza
Fillmore / Kay / O’Connor (1988, 504). In Czicza (2007) habe ich diese
es-Vorkommen ausführlich besprochen. Unter Rückgriff auf die vorange-
henden Überlegungen gehe ich davon aus, dass die Valenzsimulation die-
ser es-Typen konstruktionell bedingt ist, und spreche im Falle von (2) und
(8) bis (10) von konstruktioneller Valenzsimulation. Da zum formalen Objekt-
es (11) keine so detaillierten Forschungen wie zum formalen Subjekt-es
bekannt sind, muss hier auf seine Analyse verzichtet werden.
Zum historischen Einwand bezüglich der Grammatikalisierung der
Valenzsimulation (s. oben bzw. Ágel 2000a, 230) lässt sich nun auf Grund
der Fachliteratur (s. oben) Folgendes sagen:
• Primäre Impersonalia (es regnet) sind seit althochdeutscher Zeit be-
legt und sind am ältesten.
• Okkasionelle Ereignisverben erscheinen zuerst im Althochdeut-
schen, kommen häufiger aber erst ab mittelhochdeutscher Zeit vor.
• Das Vorfeld-es erscheint im Mittelhochdeutschen.
• Experiencer-Impersonalia erscheinen zunächst mit Vorfeld-es im
Mittelhochdeutschen, „bekommen“ ihr konstruktionelles es aber
erst später und werden in der neuhochdeutschen Periode umstruk-
turiert.
Möglich ist eine Entwicklung, während der die primären Impersonalia als
Muster dienen, zu denen analog okkasionelle Ereignisverben gebildet
werden. Die Grammatikalisierung würde in diesem Sinne innerhalb der
Gruppe der okkasionellen Ereignisverben stattfinden, indem immer mehr
verbale Wortfelder an diesem Prozess beteiligt sind, also die Generalisie-
rung durch es auf andere Kontexte ausgeweitet wird, ein typischer Zug
von Grammatikalisierungsprozessen. Zu berücksichtigen wären hier dann
so genannte „context types“ (Diewald 2006), insbesondere für den Anfang
und die Verbreitung wichtige „untypical“ und „critical contexts“ (ebd. 4).
Als parallele Entwicklung dazu lässt sich das Aufkommen des Vorfeld-es
als sekundärer Thetizitätsmarker betrachten (vgl. dazu Vogel 2006). Die
Experiencer-Impersonalia ließen sich auf diese Weise ins System integrie-
ren, da sie als primär thetische Fügungen zuerst ein zusätzliches Vorfeld-es
bekommen, das entsprechend der zunehmenden (formalen) Subjektivie-
rung deutscher Sätze umgedeutet werden kann.
1054 Dániel Czicza
4. Das Korrelat-es
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Korrelat-es als ein Fall von
Valenzsimulation interpretiert und somit in das in Kapitel 3 dargestellte
System integriert werden kann und als Übergang vom phorischen zum
simulierenden es anzusehen ist. In einem ersten Schritt soll die grammati-
sche Argumentation erfolgen, im Anschluss daran wird auf die sprachhis-
torischen Aspekte eingegangen. Zunächst sollen hier die einschlägigen
Beispiele wiederholt werden:
(4) ach meine liebe Mutter hat grose liebe und sorge vor mich, ach ich
kan es dem lieben Gott und ihr nicht gnug dancken. (189)
(5) es trug sich aber einmal zu, das ich beÿ meiner tochter, welche
noch durch Gottes gnade lebet, des Abends gantz alleine war [...]
(1814)
Der Unterschied zwischen (4) und (5) ist in erster Linie formaler Natur.
Beide stellen zwar einen pro-propositionalen Bezug her (vgl. Kapitel 2),
leisten dies jedoch in unterschiedlicher Weise. Das es in (4) ist anapho-
risch, das in (5) kataphorisch, wobei die Bezugnahme in (5) – gegenüber
(4) – in einer festen Hauptsatz-Nebensatz-Struktur erfolgt. Genau das ist
der Grund dafür, dass Zifonun (1995 und 2001) hier nicht mehr von Pho-
rik spricht. Hinzu kommt allerdings noch folgendes Problem: Ob wir von
einem Korrelat und damit von einem strukturellen Verweis ausgehen oder
ein phorisches, verallgemeinernd-summierendes es (vgl. Admoni 1976)
annehmen, dürfte vielfach von der Integriertheit des Nebensatzes abhän-
gen. Bekannt sind nämlich so genannte abhängige Hauptsätze und unein-
geleitete Nebensätze, die in einem Kontinuum zwischen eindeutiger Hy-
potaxe und eindeutiger Parataxe stehen, da sie nicht alle, sondern nur
einige Hauptsatz- oder Nebensatzmerkmale (oder sogar nur ein einziges
Merkmal) aufweisen (vgl. Auer 1998, 298f.). Die folgenden Belege sollen
dies verdeutlichen:
(20) [...] hir beÿ habe ich auch zu beseufzen, das mir auch oft (wie
ichs den mercklich gespirt) von Satan recht greulige und unflatti-
ge treume sind eingeraunet worden [...] (1104)
(21) [...] da sold ihr zu mir kommen, auch aus der gantzen gemeinde
wer da wil, wir wollens eben so machen, wollen aus Johann
Arnds Christenthum lesen [...] (512)
Korrelate werden funktional definiert, indem man sie als Bezugselemente
bezeichnet, aber formale Gesichtspunkte spielen ebenfalls eine Rolle,
indem man sie als Elemente beschreibt, die in einem Hauptsatz vorkom-
Das simulierende es 1055
men und den nachfolgenden Nebensatz vertreten. Will man sich am For-
malen festhalten, so widerspricht das bei (20)-(21) dem funktionalen Kri-
terium. Es ist anzunehmen, dass das es hier in gleicher Weise funktioniert,
unabhängig davon, ob die Bedingung Hauptsatz + Nebensatz besteht oder
nicht. Unter formalem Gesichtspunkt haben wir es in (20) mit einem Ein-
schub zu tun (wie ichs den mercklich gespirt), zu dem das Segment das mir auch
oft […] die satzförmige Zweitaktantenrealisierung (Objekt) darstellt. Die-
ser Zweitaktant tritt im Einschub in Form eines klitisierten Korrelats auf.
Zugleich ist aber dieses Segment auch Objektsatz zum Hauptsatz hir beÿ
habe ich auch zu beseufzen. Wohlgemerkt, der Einschub, in dem das Korrelat
steht, hat nicht die Form eines Hauptsatzes. In (21) liegt ebenfalls kein
Nebensatz zum Korrelat-es vor, sondern Verberst. Man müsste also den
Korrelat-Begriff weiter fassen und zwischen verallgemeinernd-summieren-
dem, phorischem es und Korrelat-es ein Kontinuum ansetzen, das auf der
Unterscheidung zwischen Hypo- und Parataxe basiert und mehrere Stufen
postuliert24 (vgl. hierzu ausführlicher auch Czicza 2004). Damit im Zu-
sammenhang könnte auch der Frage nach der Obligatorik und Fakultativi-
tät des Korrelats – einem sowohl grammatiktheoretisch als auch didak-
tisch relevanten Problemfeld25 – nachgegangen werden. Da dies jedoch
den vorliegenden Rahmen sprengen würde, wird auf die Diskussion an
dieser Stelle verzichtet.
Die obigen Überlegungen haben gezeigt, dass das Korrelat-es als
Übergang vom phorischen zum nicht-phorischen es angesehen werden
kann, indem die Annahme eines Korrelat-es von der grammatischen Ver-
festigung der beteiligten Propositionen abhängt, also davon, ob die gram-
matikalisierte Hauptsatz-Nebensatz-Struktur vorliegt oder nicht. Als
Übergangsfall lässt sich das Korrelat-es somit auch als ein Fall von Valenz-
simulation betrachten. Nach Eisenberg (2006, 176) ist dieses es „nicht eine
selbständige Ergänzung, sondern bildet gemeinsam mit dem extraponier-
ten Ausdruck das Subjekt“. In Anlehnung an diese Auffassung soll hier
folgende Ansicht vertreten werden: Das es ist kein selbständiger Aktant,
sondern bildet zusammen mit dem Nebensatz ein Diskontinuum. Es simu-
liert die Erst- oder Zweitaktantenrealisierung sowohl syntaktisch – indem
es die nebensatzförmige Ergänzung im Hauptsatz vertritt und auf sie
strukturell verweist – als auch semantisch (Simulierung der semantischen
Rolle); die semantische Rolle bekommt der korrespondierende Nebensatz
zugeschrieben. Das Korrelat-es als rein struktureller Verweis und als Va-
_____________
24 Hinzu kommt hier auch noch die Frage nach der Ersetzbarkeit des es durch das, denn die
Substituierbarkeit durch das scheint umso wahrscheinlicher zu sein, je mehr Hauptsatz-
merkmale die jeweilige Konstruktion besitzt, vgl. die Überlegungen bei Pütz (1975, 60ff.).
25 Vgl. hierzu u.a. Zitterbart (2002) und Kemme (1979).
1056 Dániel Czicza
Valenzsimulation
positional konstruktionell
(6) und (12)
pro-phrasal pro-propositional
(7)-(11) (5)
Die Valenzsimulation in (7) bis (11) wird pro-phrasal genannt, weil diese es-
Vorkommen als simulierende Erst- bzw. Zweitaktanten Bezugnahmen auf
Phrasen (in erster Linie Nominalphrasen) simulieren. Das Korrelat-es stellt
eine pro-propositionale Valenzsimulation dar, indem hier die grammatikali-
sierte Version des pro-propositionalen Bezugs in (4) angenommen wird.
Quellen
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Das simulierende es 1059
Vogel, Petra (2006), Das unpersönliche Passiv. Eine funktionale Untersuchung unter besonderer
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Welke, Klaus (2002), Deutsche Syntax funktional. Perspektiviertheit syntaktischer Strukturen,
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Zifonun, Gisela (1995), „Minimalia grammaticalia: das nicht-phorische es als Prüfstein
grammatischer Theoriebildung“, in: Deutsche Sprache, 23 / 1995, 39-60.
Zifonun, Gisela (2001), Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Pronomen.
Teil I: Überblick und Personalpronomen, Mannheim.
Zitterbart, Jussara P. (2002), „Zur Mittelfeldfähigkeit des Korrelats es in Verbindung
mit Subjektsätzen“, in: Sprachwissenschaft, 27 / 2002, 149-195.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien
in der Alltagssprache
des jüngeren Neuhochdeutschen –
Standard oder Substandard?
1. Fragestellungen
In meinem Beitrag werde ich eine Untersuchung zu diskontinuierlichen
Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeut-
schen vorstellen und der Frage nachgehen, ob sie eher als standardlich
oder als substandardlich einzuordnen sind. Einleitend soll ein kurzer
Überblick über Pronominaladverbien in der Standardsprache gegeben
werden. Hier wird neben ihrer Bezeichnung vor allem ihr syntaktischer
Status zur Sprache kommen. Den Schwerpunkt bildet ein Überblick über
die Verwendung von diskontinuierlichen Pronominaladverbien in der
Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen, wobei nach einer kurzen
Verortung der Alltagssprache im Varietätenkontinuum des Deutschen die
Ergebnisse einer Korpusuntersuchung zu Pronominaladverbien vorge-
stellt werden sollen. Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, ob
diskontinuierliche Pronominaladverbien dem gesprochenen Standard
angehören bzw. ob sich im Vergleich zum einfachen Pronominaladverb
ein funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen nachweisen
lässt.
Als Nächstes soll der Frage nach dem syntaktischen Status von Pronomi-
naladverbien nachgegangen werden. Da die Wortartzuordnung in den
Grammatiken sehr heterogen ist, soll hier ein Vorschlag gemacht werden,
der sowohl formale wie auch funktionale Aspekte berücksichtigt. Im We-
sentlichen orientiert sich das folgende Klassifikationsschema an der Du-
den-Grammatik (2005).
_____________
1 Zur genaueren Abgrenzung vgl. Kapitel 2.2.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1065
3. Diskontinuierliche Pronominaladverbien
in der Alltagssprache des Neuhochdeutschen
Bevor es an die konkrete Korpusuntersuchung geht, soll das doch ziem-
lich heterogene Korpus bezüglich seiner Zusammensetzung, seiner Mög-
lichkeiten, aber auch seiner Grenzen vorgestellt werden. Eine notwendige
Voraussetzung hierfür ist die Klärung des Begriffs der Alltagssprache, der
diesen Analysen zugrunde liegt.
3.2. Korpusbeschreibung
Verfügung standen. Die regionale Verteilung der Briefe über das deutsche
Sprachgebiet ist aus Abbildung 3 ersichtlich:
Abbildung 3: Schematische Karte zur regionalen Verteilung des Korpus (absolute Zahlen)
Neben den beiden eben vorgestellten Textkorpora wurde auch das von
Stephan Elspaß und Robert Möller 2003 ins Leben gerufene Projekt Atlas
zur deutschen Alltagssprache (AdA) bei den Auswertungen berücksichtigt, vor
allem, da es Auskunft über die aktuellsten Entwicklungen in der Alltags-
sprache zu geben vermag. Seit 2003 finden jährlich Interneterhebungen
zum regionalen Sprachgebrauch in allen deutschsprachigen Ländern und
den deutschsprachigen Gebieten der Nachbarländer statt, in denen primär
Varianten des Wortschatzes abgefragt werden, aber auch phonologische
und syntaktische Varianten ermittelt werden können. Ein Beispiel syntak-
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1071
im Vorfeld habe. Dies ist insofern erwähnenswert, als dass man ja auch
davon ausgehen könnte, dass der Verdoppelung eine Spaltungskonstruk-
tion zugrunde liegt, bei der anschließend die ‚gestrandete‘ Präposition
wieder zu einem Pronominaladverb vervollständigt wird. Das würde be-
deuten, dass nicht das da im Vorfeld, sondern das bei der Präposition
stehende da verdoppelt, also ‚neu‘ hinzugefügt wird.
Zu 2. Regionale und stilistische Zuordnung:
Sehen wir uns nun die Angaben der Grammatiken über die regionale und
stilistische Zuordnung diskontinuierlicher Pronominaladverbien genauer
an. Was die Spaltungskonstruktion angeht, so erfährt man aus der Duden-
Grammatik (2005, § 1360), dass „in vielen regionalen Varietäten des Deut-
schen“ Pronominaladverbien aufgespalten werden können, Admoni
(1982, 206) ordnet diese Konstruktion ohne weitere Differenzierung der
Umgangssprache zu. Nach Aussagen der IDS-Grammatik (1997, 2085) wird
sie „überwiegend nur regionalsprachlich im Norden“ verwendet. In der
Wahrig-Grammatik (Götze 2002, 301) werden Spaltungskonstruktionen
generell als ungrammatisch eingestuft:
Ein weiterer Fehler, wieder vor allem in der gesprochenen Sprache, ist die Auf-
splitterung des Pronominaladverbs im Satz:
*Da kann ich nichts für. (richtig: Dafür kann ich nichts.)
*Hier sag’ ich nichts zu. (richtig: Hierzu sag ich nichts.)
Die Tatsache, dass die Verfasser einer Grammatik von 2002 im Falle von
gesprochener Sprache ausschließlich mit den Kategorien falsch bzw. rich-
tig operieren, macht deutlich, wie wenig regionale Variation in Standard-
grammatiken bisher akzeptiert wird. Sofern es überhaupt Aussagen über
die regionale Verteilung der Verdoppelungskonstruktion gibt, bleiben
diese ziemlich vage, man finde sie laut Duden (2005, § 1360) „in vielen
regionalen Varietäten des Deutschen“, laut Eisenberg (2004, 198) „in
vielen Dialekten“. Verlässt man sich hier also auf die Informationen der
Grammatiken, so steht man der Frage nach der diatopischen und diapha-
sischen Variation ziemlich ratlos gegenüber. Man kann sich des Eindrucks
kaum erwehren, dass die Aussagen darüber ziemlich willkürlich getroffen
werden und somit kein realistisches Abbild der Sprachwirklichkeit zu ge-
ben vermögen.
Zu 3. Phonologische Struktur der Präposition:
Ob ein Pronominaladverb nun prinzipiell eher zur Spaltung oder zur Ver-
doppelung neigt, wird laut Aussagen der Grammatiken gemeinhin von der
phonologischen Struktur der Präposition abhängig gemacht. Eisenberg
(2004, 198) nimmt dabei eine komplementäre Verteilung an: Zur Spaltung
käme es demnach bei Pronominaladverbien mit konsonantisch anlauten-
der Präposition (da haben sie nichts von gelernt), bei vokalisch anlautender
1074 Michaela Negele
3.3.2. Korpusuntersuchung
4. Diskontinuierliche Pronominaladverbien:
Standard oder Substandard?
4.1. Funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen
_____________
9 Unter unsilbischer Variante sollen in Anlehnung an Jürg Fleischer Formen wie da …
dran / drüber / drauf verstanden werden, die ihren Vokal verloren haben, sodass ein redu-
ziertes Pronominaladverb mit unsilbischem dr- zurückbleibt (vgl. Fleischer 2002, 17).
1076 Michaela Negele
kann man sich fragen, worin denn eigentlich im Vergleich zum einfachen
Pronominaladverb der funktionale ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Struktu-
ren besteht, der ihre Verwendung gerade in der gesprochenen Sprache so
‚attraktiv‘ macht.
1. Erfüllung zweier Wortstellungstendenzen:
Was die topologischen Stellungsmöglichkeiten betrifft, konnte die
Korpusuntersuchung die theoretischen Aussagen der Grammatiken
empirisch bestätigen. Das anaphorische pronominale Element be-
fand sich meist in satzinitialer Position, wo es unmittelbar vorher
Erwähntes wieder aufnehmen kann, die Präposition in nahezu allen
Fällen in unmittelbarer Verbnähe. Aus diesen unterschiedlichen to-
pologischen Präferenzen ergibt sich natürlich bei dem einfachen
Pronominaladverb eine gewisse Spannung. Diese unterschiedlichen
Wortstellungstendenzen können nun gerade durch eine diskontinu-
ierliche Stellung des Pronominaladverbs beide erfüllt werden.
2. Klammerung als Prinzip der deutschen Satzstruktur
Außerdem nützen diskontinuierliche Varianten eine weitere Eigen-
schaft des Deutschen, das eine Tendenz zur Klammerstruktur auf-
weist. Elke Ronneberger-Sibold (1994, 115) und Hans-Werner
Eroms (2000) sprechen von einem „klammernden Verfahren“ als
wesentliches Merkmal der Topologie der nhd. Standardsprache.
Dieses besteht genau darin, dass bestimmte Bestandteile eines Sat-
zes von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, um den Hörer
bei der syntaktischen Dekodierung zu unterstützen.
Im Falle getrennt stehender Pronominaladverbien, die eine so
genannte Adverbialklammer bilden, kann der Hörer also im Normal-
fall davon ausgehen, dass ein am Anfang des Satzes geäußertes da
im weiteren Verlauf noch durch eine passende Präposition ‚vervoll-
ständigt‘ werden wird.
Opfer fallen, könnte ihnen das mittelfristig den Weg in den schriftlichen
Standard ebnen und sie aus ihrem Dasein als dialektal stigmatisierte Er-
scheinungsform befreien.
Literatur