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Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen

Historische Textgrammatik
und Historische Syntax des Deutschen
Traditionen, Innovationen, Perspektiven

Herausgegeben von
Arne Ziegler

unter Mitarbeit von


Christian Braun

Band 1:
Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch

Band 2:
Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch

De Gruyter
ISBN 978-3-11-021993-7
e-ISBN 978-3-11-021994-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York


Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Vorwort
Vom 7. bis 10. Mai 2008 fand am Institut für Germanistik der Karl-
Franzens-Universität Graz der internationale linguistische Kongress zum
Thema Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen im
Rahmen des Forschungsschwerpunktes Text – Korpus – Sprache der Geis-
teswissenschaftlichen Fakultät statt.
Der vorliegende Sammelband publiziert die ausgearbeiteten und teil-
weise erweiterten auf dem Kongress gehaltenen Vorträge, ergänzt um fünf
Aufsätze von ursprünglich angemeldeten TeilnehmerInnen, die leider in
letzter Minute aufgrund nachvollziehbarer Gründe absagen mussten. Es
handelt sich um die Beiträge von Mathilde Hennig, Britt-Marie Schuster,
Anja Voeste, Claudia Wich-Reif und Ingo Warnke. Insgesamt werden
somit in zwei Bänden 52 Beiträge von Autoren aus 12 Ländern präsen-
tiert, die ein eindrucksvolles Bild vom Facettenreichtum und von der Vita-
lität der aktuellen internationalen Sprachgeschichtsforschung im Bemühen
um eine linguistische Auseinandersetzung mit den Untersuchungsgegen-
ständen Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen
bieten. Die positive Resonanz der wissenschaftlichen Gemeinschaft so-
wohl auf den Kongress als auch auf den vorliegenden Sammelband zeugt
davon, dass mit dem Rahmenthema einerseits ein zentraler Bereich der
germanistischen Sprachgeschichte fokussiert ist und andererseits gerade in
diesem Bereich offensichtlich rezente Desiderata existieren, die zahlreiche
interessante Untersuchungen provoziert haben und wohl auch in Zukunft
weiterhin anregen werden.
So gilt mein Dank zuallererst natürlich den Beitragenden, die diesen
Sammelband erst möglich gemacht haben und auf das Anschaulichste
demonstrieren, wie ungebrochen aktuell das Interesse der gegenwärtigen
Sprachgeschichtsforschung an einer Historischen Textgrammatik und
Historischen Syntax des Deutschen ist. Ihnen ist es zu verdanken, dass
mit dem vorliegenden Sammelband ein ergiebiges Kompendium zur
Thematik und gleichermaßen ein Kaleidoskop aktueller sprachhistorischer
Forschung entstehen konnte.
Darüber hinaus ist es selbstverständlich nur einem engagierten Redak-
tionsteam, das mit hohem Zeitaufwand die Arbeit unermüdlich vorange-
trieben hat, zu verdanken, dass die vorliegenden Bände in relativ kurzer
Zeit nach Abschluss des Kongresses das Licht der wissenschaftlichen
Welt erblicken können. Namentlich sei in diesem Zusammenhang ganz
VI Vorwort

herzlich Frau Stefanie Edler und Frau Melanie Glantschnig für die redak-
tionelle Betreuung, die mitunter mühevolle Recherche und intensive For-
matierungsarbeit gedankt. Herr Dr. Christian Braun, der die gesamte Re-
daktionsarbeit koordiniert und detailliert betreut hat, hat sich in der Arbeit
an dem Sammelband herausragende Verdienste erworben – ihm gilt mein
besonderer Dank.
Danken möchte ich auch dem Verlag de Gruyter sowie insbesondere
Herrn Prof. Dr. Heiko Hartmann für die angenehme und fruchtbare Zu-
sammenarbeit und Unterstützung, ohne die die Publikation des Sammel-
bandes in der vorliegenden Form sicher nicht möglich gewesen wäre.
Verbunden mit meinem Dank an alle, die zur Publikation der vorlie-
genden Bände beigetragen und die Arbeit daran unterstützt haben, ist der
Wunsch nach einer weiteren intensiven und konstruktiven Zusammenar-
beit im Bereich der Historischen Textgrammatik und der Historischen
Syntax des Deutschen.

Graz, im Herbst 2009 Arne Ziegler


Inhalt

Band I: Diachronie, Althochdeutsch,


Mittelhochdeutsch

Vorwort .............................................................................................................. V

Arne Ziegler
Historische Textgrammatik und Historische Syntax
des Deutschen – Eine kurze Einleitung ......................................................... 1

Diachronie

Hubert Haider
Wie wurde Deutsch OV? Zur diachronen Dynamik
eines Strukturparameters der germanischen Sprachen .............................. 11

Franz Simmler
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in
Aussagesätzen in biblischen Textsorten vom
9. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ............................................................ 33

Ulrike Freywald
Obwohl vielleicht war es ganz anders. Vorüberlegungen
zum Alter der Verbzweitstellung nach
subordinierenden Konjunktionen ................................................................. 55

Elke Ronneberger-Sibold
Die deutsche Nominalklammer. Geschichte,
Funktion, typologische Bewertung ............................................................... 85

Roland Hinterhölzl
Zur Herausbildung der Satzklammer im Deutschen.
Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse ......................... 121
VIII Inhalt

Ursula Götz
vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders
schwermen kan. Nominalphrasen mit jemand
und niemand in der Geschichte des Deutschen ......................................... 139

Rosemarie Lühr
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch ............................................... 157

Thomas Gloning
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik.
Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur und
der syntaktischen Organisation von Texten ............................................. 173

Maxi Krause
Wie eine historische Grammatik der temporalen
Relationen aussehen könnte … .................................................................. 195

Isabel Buchwald-Wargenau:
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen .............................. 221

Andreas Bittner
Aspekte diachronischer Fundierung. Historische Linguistik
und mentale Repräsentation flexionsmorphologischen
Wissens ........................................................................................................... 237

Markus Denkler
Adjektive in Inventarlisten – Beobachtungen
zur Syntax und zum Textsortenwandel ..................................................... 261

Althochdeutsch

Hans-Werner Eroms
Additive und adversative Konnektoren
im Althochdeutschen .................................................................................... 279

Natalia Montoto Ballesteros


Einige textlinguistische Aspekte der
ahd. Konnektoren inti und joh ..................................................................... 305

Susumu Kuroda
Inkorporation im Althochdeutschen ............................................................. 317
Inhalt IX

Svetlana Petrova / Michael Solf


Pronominale Wiederaufnahme im ältesten Deutsch. Personal-
vs. Demonstrativpronomen im Althochdeutschen ................................. 339

Oliver Schallert
Als Deutsch noch nicht OV war. Althochdeutsch
im Spannungsfeld zwischen OV und VO ................................................. 365

Christian Braun
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung
von Funktionsverbgefügen im Althochdeutschen ................................... 395

Eva Schlachter
Zum Verhältnis von Stil und Syntax. Die Verbfrüherstellung
in Zitat- und Traktatsyntax des althochdeutschen Isidor ....................... 409

Claudia Wich-Reif
„Das Spiel vom Fragen“ – (k)ein Problem
der althochdeutschen Syntax? ..................................................................... 427

Mittelhochdeutsch

Mechthild Habermann
Pragmatisch indizierte Syntax des Mittelhochdeutschen ........................ 451

Heinz-Peter Prell
Konstruktionsmuster und -strategien im
mittelhochdeutschen Satzgefüge. Ein Werkstattbericht ......................... 471

Sandra Waldenberger
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit.
Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik –
das Werkstück ‚Präposition‘ ........................................................................ 483

Ursula Schulze
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts.
Zur syntaktischen und semantischen Wertigkeit
mittelhochdeutscher Subjunktionen .......................................................... 497
X Inhalt

Jürg Fleischer
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer
Personalpronomen im Prosalancelot (Lancelot I) ................................... 511

Gisela Brandt
Textsortenabhängige syntaktische Variation in Christine
Ebners Schwesternbuch des Dominikanerinnenklosters
Engelthal (Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie? ........................................ 537

Catherine Squires
Konstantes und Variables im Aufbau von deutschen
mittelalterlichen heilkundlichen Texten
und angrenzenden Textsorten ..................................................................... 561

Wernfried Hofmeister
Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher
deutschsprachiger Texte. Veranschaulicht an
Werkausgaben zu Hugo von Montfort ...................................................... 589

Band II: Frühneuhochdeutsch,


Neuhochdeutsch

Frühneuhochdeutsch

Andreas Lötscher
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex im
Frühneuhochdeutschen – Textlinguistik und Grammatik ...................... 607

Hans Ulrich Schmid


wir muessen etwas teutsch reden … Empirische Wege zur
historischen Mündlichkeit ............................................................................ 631

Ingo Warnke
Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel
der Raumerfassung in Albrecht Dürers
Vnderweyſung der meſſung (1525) ..................................................................... 647
Inhalt XI

Britt-Marie Schuster
Gibt es eine Zeitungssyntax? Überlegungen und Befunde
zum Verhältnis von syntaktischer Gestaltung und
Textkonstitution in historischen Pressetexten .......................................... 665

Dana Janetta Dogaru


Umfang und Ausbildung der Ganzsätze in den Hermannstädter
Ratsprotokollen der Zeit 1556-1562 .......................................................... 689

Monika Rössing-Hager
Konkurrierende Strukturen für die Relation
Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen Schriften
Martin Luthers. Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven
und kommunikativen Funktion .................................................................. 711

Albrecht Greule
Textgrammatik und historische Textsorten am Beispiel
sakralsprachlicher Texte ............................................................................... 741

Alexander Lasch
Es sey das Fewer in der Stadt. Textpragmatische und
-grammatische Überlegungen zu vormodernen
Feuerordnungen ............................................................................................ 759

Odile Schneider-Mizony
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen
in der Grammatikographie 1500-1700 ....................................................... 781

Manja Vorbeck-Heyn
Syntaktische Strukturen in den Summarien in
Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts ...................................................... 799

Lenka Vaňková
Zum Ausdruck der kausalen Relation in den
spätmittelalterlichen medizinischen Texten .............................................. 829

Marija Javor Briški


Instruktion Kaiser Maximilians I. vom 7. August 1515 an
die Krainer Landstände und ainer ersamen landschaft undertanige
antwort. Ein vergleichende syntaktische Untersuchung ........................... 841
XII Inhalt

Eckhard Weber
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation –
Ehre und Öffentlichkeit in der Fehde des späten Mittelalters .................... 859

Andrea Hofmeister-Winter
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ – Graphetische Syntax-Marker
am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe ................................................ 875

Neuhochdeutsch

Vilmos Ágel
Explizite Junktion. Theorie und Operationalisierung ............................. 899

Mathilde Hennig
Aggregative Koordinationsellipsen
im Neuhochdeutschen ................................................................................. 937

Anja Voeste
Im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
Populäre Techniken der Redewiedergabe
in der Frühen Neuzeit .................................................................................. 965

Józef Wiktorowicz
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber
aus dem 18. Jahrhundert .............................................................................. 983

Rainer Hünecke
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten
Syntaxforschung – dargestellt an einer Studie
zur Syntax des 18. Jahrhunderts .................................................................. 989

Stephan Elspaß
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des
19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein Plädoyer für die
Verknüpfung von historischer und Gegenwartsgrammatik ................. 1011

Jörg Riecke
Grammatische Variation in der Chronik
des Gettos Lodz / Litzmannstadt ............................................................ 1027
Inhalt XIII

Daniel Czicza
Das simulierende es. Zur valenztheoretischen
Beschreibung des nicht-phorischen es am
Beispiel eines neuhochdeutschen Textes ................................................ 1041

Michaela Negele
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der
Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen –
Standard oder Substandard? ...................................................................... 1063
Historische Textgrammatik und
Historische Syntax des Deutschen –
Eine kurze Einleitung

Arne Ziegler (Graz)

1. Warum Historische Textgrammatik und


Historische Syntax?
Die Wahl des Rahmenthemas „Historische Textgrammatik und Histori-
sche Syntax des Deutschen“ ist selbstverständlich nicht zufällig erfolgt.
Mit der Wahl der Thematik sollte vielmehr zweierlei geleistet werden.
Erstens wurde explizit der Anschluss an die – wenn man so will – „Vor-
gängerpublikation“ von Anne Betten aus dem Jahre 1990 gesucht, wo
einerseits die Frage gestellt wird, „welche methodischen Impulse die soge-
nannten ‚Bindestrich-Linguistiken’ […] einem alt-etablierten Fach wie der
historischen Syntaxforschung geben können“ (Betten 1990: XI) und ande-
rerseits die Forderung geäußert wird, dass bei zukünftigen Tagungen und
den resultierenden Publikationen alle im Bereich einer historischen Syntax
Arbeitenden, ungeachtet der jeweiligen theoretischen und methodischen
Ausrichtung, zum Dialog über den Gegenstandsbereich eingeladen wer-
den sollten (vgl. Betten 1990: XIf.).
Sicherlich konnten nicht „alle“ eingeladen werden, und dies obwohl
im Vorfeld zur Tagung im Rahmen einer breit angelegten Ausschreibung
versucht wurde, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen ganz unter-
schiedlicher theoretischer Positionen zur Diskussion und zum Beitrag
einzuladen, nicht zuletzt, da es gerade ein Ziel war, ein einigermaßen ge-
wichtetes Bild des aktuellen Forschungsstandes liefern zu können. Von
diesem Versuch zeugen auch die Beiträge des vorliegenden Sammelban-
des, die ganz verschiedene theoretische, methodische und methodologi-
sche Ansätze verfolgen und somit ein durchaus disparates Bild der aktuel-
len sprachhistorischen Forschung im Bereich der Historischen Text-
grammatik und Historischen Syntax zeichnen.
2 Arne Ziegler

Darüber hinaus scheint in den meisten der Beiträge des vorliegenden


Sammelbandes die von Anne Betten seinerzeit zu Recht gestellte Frage
heute, nahezu 20 Jahre danach, zumindest implizit beantwortet. Kaum
einer der vorgelegten Aufsätze abstrahiert dezidiert von pragmatischen,
textlinguistischen oder soziolinguistischen Faktoren und berücksichtigt
ausschließlich sprachformale Kriterien in der Untersuchung. Ganz im
Gegenteil: Es scheint, dass eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit
sprachlichen Äußerungen in historischen Zusammenhängen eine integra-
tive Perspektive auf Sprache geradezu verlangt; eine Sichtweise, die näm-
lich in der Lage scheint, Aspekte des Sprachgebrauchs an solche des
Sprachsystems anzubinden und zu einer Aufhebung der vermeintlichen
Dichotomie von Gebrauch und System in der sprachhistorischen Analyse
führen kann. Sie trägt somit letztlich dazu bei, Sprachgeschichte nicht nur
als eine Geschichte sprachlicher Formen, sondern insbesondere als eine
Geschichte der über Sprache möglichen und kommunikativ notwendigen
Realisierungen sprachlicher Handlungen zu begreifen. Da diese Realisie-
rungen in Texten über grammatische Regularitäten fassbar werden, liefern
sie das Grundgerüst nicht nur für eine Sprachgeschichte, sondern vor
allem für eine Geschichte der kommunikativen Praktiken.
Zudem umreißt der Titel „Historische Textgrammatik und Histori-
sche Syntax des Deutschen“ zwei sprachhistorische Forschungsbereiche,
die vielleicht auf den ersten Blick relativ unverbunden nebeneinander
platziert scheinen. Dies ist allerdings keinesfalls intendiert. Mit der Titel-
gebung ist vielmehr grundsätzlich die Annahme impliziert, dass Text-
grammatik und Syntax nicht bloß zwei grammatische Teilbereiche darstel-
len, die in einer Art additivem Verfahren lediglich nebeneinander und
nacheinander zu betrachten sind, sondern dass Syntax und Textgrammatik
zwei unmittelbar miteinander in Beziehung stehende und aufeinander zu
beziehende Bereiche der Grammatik darstellen.
So kann einerseits eine Historische Syntax im Sinne einer Satz-
grammatik quasi eine notwendige Subkomponente einer Historischen
Textgrammatik darstellen. Einzelne Arbeiten gehen dabei sogar so weit,
dass angenommen wird, eine Textgrammatik reduziert sich letztlich unter
Berücksichtigung der textkonstitutiven und diskursfunktionalen Größen
auf eine Satzgrammatik (vgl. Abraham 1997: 181). Andererseits lassen sich
verschiedene syntaktische Einheiten (z.B. Proformen, Konnektoren, text-
gliedernde Phrasen) funktional nur in Bezug auf den Text – zumindest
aber in Bezug auf den Kotext – vollständig analytisch erfassen. Natürlich
– und das relativiert das Verhältnis von Textgrammatik und Syntax wie-
derum – gibt es demgegenüber auch zahlreiche grammatische Erschei-
nungen, die zwar durchaus textuell motiviert, aber bereits auf „Basis der
Einheit ‚Satz’ erklärt werden können und auch (auf der Grundlage unter-
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen 3

schiedlicher Grammatiktheorien) behandelt worden sind“ (Helbig 2003:


21). 1
Ausgangspunkt wohl jeder textgrammatischen Auseinandersetzung ist
die Auffassung, dass der Text die oberste linguistische und mithin gram-
matische Einheit darstellt und auch heute noch das von Hartmann einge-
führte Diktum vom Text als primum datum uneingeschränkt gilt (vgl.
Hartmann 1964). Natürlich sind die Begriffe Textgrammatik und Syntax in
hohem Maße polysem und stehen in einem komplexen Spannungsfeld
grammatischer Forschung unterschiedlicher theoretischer Provenienz.
Dennoch lassen sich bei aller Heterogenität der verschiedenen Ansätze ein
paar wesentliche Gemeinsamkeiten formulieren, die den disparaten Auf-
fassungen zugrunde liegen (vgl. Ziegler 2008).
So geht es in einer Textgrammatik immer um die Analyse und die
Darstellung satzübergreifender grammatischer Regularitäten. Die Textgram-
matik ist entsprechend als eine Grammatik der Textverflechtung bzw. der
Konnexion konzipiert. Eine solcherart verstandene Textgrammatik muss
in der Konsequenz die Kohäsionsmittel verschiedener Ebenen hinsicht-
lich der Textsyntax erfassen und beschreiben. Ihr Gegenstand sind somit
zuallererst die grammatischen Beziehungen zwischen syntaktischen Ein-
heiten im Text, d.h. „die Erfassung der Regularitäten, Rekurrenzen und
Distributionen, die Text konstituieren“ (Lewandowski 1994: 1164). Diese
Perspektive wird u.a. in den Aufsätzen von Montoto Ballesteros, Eroms,
Greule, Petrova / Solf und Schuster thematisiert.
In der syntaktischen Untersuchung stehen demgegenüber üblicherwei-
se Sätze und ihre Elemente – syntaktische Einheiten – als Analysegegen-
stände im Mittelpunkt. Einen solchen syntaktischen und teilweise mor-
phosyntaktischen Ausgangspunkt wählen beispielsweise die Beiträge von
Bittner, Braun, Buchwald-Wargenau, Dogaru, Freywald, Götz, Haider,
Hinterhölzl, Hofmeister-Winter, Javor Briški, Krause, Kuroda, Lühr, Prell,
Schallert, Vorbeck-Heyn, Wich-Reif, Waldenberger. Die syntaktischen
Einheiten (etwa Nominalphrase, Verbalkomplex, aber auch bisher unent-
deckte syntaktische Textmuster usw.) stellen dabei in einer kohärenten
Folge gleichzeitig textgrammatische Elemente dar, die in der textuellen
Entfaltung (via Kontinuität und Progression) durch die Mittel der Text-
verflechtung (Verknüpfung und Anknüpfung) aneinander gebunden sind
(vgl. Lim 2004: 25; Ziegler 2008: 392f.). Auf diese Zusammenhänge ver-
weisen etwa die Beiträge von Brandt, Czicza, Fleischer, A. Hofmeister,
Ronneberger-Sibold, Simmler, Schlachter, Schulze, Squires, Vaňková im

_____________
1 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Zentralität des Verbs, die Klammer-
bildung, die Genus-Kongruenz oder die Negation (vgl. Helbig 2003: 21f.).
4 Arne Ziegler

vorliegenden Band, gleichwohl auch in diesen Aufsätzen die Syntax den


Ausgangspunkt der Untersuchung bildet.
Welche Perspektive man auch einnehmen mag – syntaktisch oder
textgrammatisch –, der Bezug zur jeweils anderen Ebene ist der Betrach-
tung quasi inhärent. Wie auch immer das Verhältnis also charakterisiert
wird – eine unmittelbare Beziehung zwischen Textgrammatik und Syntax
scheint in der linguistischen Diskussion jedenfalls allgemein angenommen
und nicht in Frage zu stehen. Die weitaus meisten der in den vorliegenden
Bänden versammelten Aufsätze verweisen deutlich – explizit oder auch
implizit – auf diese Zusammenhänge.
Daneben zeigen aber auch nicht wenige Beiträge (hier seien die Artikel
von Denkler, Gloning, Habermann, Hünecke, Lasch, Lötscher, Rössing-
Hager, Schneider-Mizony, Schulze, Warnke, Weber, Wiktorowicz exem-
plarisch genannt), dass neben einer grammatischen Explikation von Text-
kohärenz und Textkonsistenz der Bezug auf textthematische Momente
und textpragmatische Faktoren in der sprachhistorischen Analyse zwin-
gend erforderlich erscheint. Eine textgrammatische und/oder syntaktische
Analyse kann zwar die sprachspezifisch formalen Mittel erfassen, eine
umfassende Antwort auf die Frage „warum werden diese Mittel verwen-
det?“ kann sie allein aber kaum leisten. Dies führt zwangsläufig zu einer
Erweiterung des Gegenstandsbereichs, insofern ist davon auszugehen,
dass die syntaktische Ebene als abhängig von der textsemantischen Ebene
und diese als abhängig von Kontext (logisch-semantischen und pragmati-
schen Parametern) sowie vom Weltwissen der an der Kommunikation
Beteiligten aufgefasst werden kann (vgl. Wolf 1982). Das ist freilich keine
neue Erkenntnis. Bereits Oller (1974), wie später auch die IDS-
Grammatik (vgl. Zifonun u.a. 1997: 99), machen auf die Tatsache auf-
merksam, dass jede Erforschung der Sprache die Berücksichtigung des
Zusammenspiels von Syntax, Semantik und Pragmatik berücksichtigen
muss, d.h. die Pragmatik oder die pragmatischen Elemente sind nicht nur
ein zusätzlicher Teilbereich grammatischer Analyse, sondern fester Be-
standteil derselben.
Alle textgrammatischen Elemente, die eine syntaktische Einheit des
Textes auf einen Kontext sowie eine Kommunikationssituation hin de-
terminieren, umfassen somit neben den syntaktischen und semantischen
auch die pragmatischen Komponenten (vgl. Schmid 1983: 65). So ver-
wundert es nicht, dass verschiedene Beiträge des vorliegenden Bandes das
in der neueren sprachhistorischen Forschung thematisierte Spannungsfeld
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit i.w.S. zum Gegenstand erheben.
Dies betrifft etwa die Beiträge von Ágel, Elspaß, Hennig, Negele, Riecke,
Schmid und Voeste.
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen 5

Insgesamt verdeutlichen die Beiträge des Sammelbandes, dass das


„Historische“ einer Historischen Textgrammatik und Historischen Syntax
nicht etwa lediglich darin zu sehen ist, dass der Untersuchungsgegenstand
historisch verankert wird, sondern vielmehr in den Verfahren und Metho-
den, die aus den Besonderheiten und Bedingungen historischer Untersu-
chungsgegenstände resultieren.

2. Aufbau und Gliederung


Der Band versammelt Arbeiten von Forscherinnen und Forschern, die
sich der skizzierten Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.
Die Beiträge reflektieren sowohl Ergebnisse aus empirischen sprachhisto-
rischen Einzeluntersuchungen als auch zu kontrovers diskutierten theore-
tischen Themenkomplexen sowie Vorschläge zu einer textgrammatischen
und/oder syntaktischen Modellbildung. Sämtliche der vorliegenden Bei-
träge zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie stets den Bezug auf das
konkrete sprachliche Material wahren. Der Band umfasst Beiträge u.a. zu
folgenden Schwerpunkten:
• Empirische Untersuchungen zu textgrammatischen und syntakti-
schen Phänomenen in den älteren Sprachstufen des Deutschen
aus diachroner und/oder synchroner Perspektive
• Aktuelle Entwicklungen in historischer Grammatikarbeit
• Anforderungen an ein zeitgemäßes Beschreibungsinstrumentari-
um für den sprachhistorischen Kontext
• Texttypologien und ihre Bedeutung für diachrone Untersuchun-
gen in Textgrammatik und Syntax
• Probleme der Korpusbildung einer Historischen Syntax und/oder
Historischen Textgrammatik
• Referenzstrukturen und ihre Bedeutung für eine Historische Syn-
tax
• Die Bedeutung von Textmusterbildungen in der sprachhistori-
schen Analyse

Quer zu diesen Schwerpunktbildungen werden verschiedene Forschungs-


perspektiven aufgezeigt und diskutiert. Insbesondere Aspekte, die sich in
den folgenden Punkten benennen lassen:

• Methoden einer zeitgemäßen Empirie im Rahmen historiolingu-


istischer Untersuchungen
6 Arne Ziegler

• Pragmatische Ansätze einer historischen Grammatik des Deut-


schen
• Integration syntaktischer Ansätze in den Rahmen einer Histori-
schen Textlinguistik
• Möglichkeiten und Grenzen sprachhistorischer Analytik und
Korpusbildung
• Fragen diachroner Entwicklungen grammatischer Erscheinungen
des Deutschen

An dieser Stelle seien auch ein paar erklärende Anmerkungen zur vorlie-
genden Gliederung des Bandes in die Hauptkapitel Diachronie, Althoch-
deutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch angefügt.
Bedingt durch die Aufteilung der Beiträge auf zwei Teilbände sowie durch
die Tatsache, dass jeder Versuch, eine durch den gewählten grammati-
schen Untersuchungsgegenstand der Beiträge begründete und einigerma-
ßen gleich gewichtete Verteilung vorzunehmen, im Ansatz gescheitert ist,
wurde die Einteilung in der vorliegenden Form gewählt. Insofern ist der
Gliederung sicherlich eine gewisse subsumierende Mühe zu unterstellen,
und nicht in jedem Fall ist die Einordnung eines einzelnen Beitrags unter
eine der Hauptkapitel zwingend. Diese – cum grano salis – nach sprachpe-
riodischen Kriterien und damit eher klassische Strukturierung wurde ge-
wählt, da nur so eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Beiträge
gewährleistet schien. Abweichend von einer „traditionellen“ Periodisie-
rung der deutschen Sprachgeschichte wurde ein Kapitel Neuhochdeutsch –
im Sinne einer historischen Sprachstufe des Deutschen – ergänzt, um
somit einerseits der Diskussion um eine stärkere Berücksichtigung der
jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen im Rahmen der aktuellen
Sprachgeschichtsforschung explizit Rechnung zu tragen (vgl. u.a. Elspaß
2007: 2ff.; Ernst 2008) und andererseits, um eben jene Arbeiten berück-
sichtigen zu können, die im Rahmen einer jüngeren Sprachgeschichtsfor-
schung des Deutschen anzusiedeln sind.
Ergänzt wurde überdies ein einleitendes Hauptkapitel Diachronie, das
Beiträge versammelt, welche sich einem grammatischen Phänomen aus
dezidiert diachroner Perspektive nähern und damit die Grenzen der ein-
zelnen Sprachperioden systematisch überschreiten (so z.B. die Beiträge
von Buchwald-Wargenau, Denkler, Freywald, Götz, Hinterhölzl, Ronne-
berger-Sibold, Simmler) oder aber eher generelle und/oder sprachtheore-
tische Aspekte der Sprachgeschichtsforschung ins Zentrum ihrer Überle-
gungen stellen (vgl. etwa die Beiträge von Bittner, Gloning, Lühr, Haider
und Krause).
Auf die Einrichtung von Registern ist für den vorliegenden Sammel-
band in Absprache mit dem Verlag ausdrücklich verzichtet worden, um
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen 7

den Umfang der zweibändigen Publikation nicht noch stärker zu belasten.


So bleibt es dem Leser überlassen, sich über das Inhaltsverzeichnis und
natürlich über die Lektüre der Beiträge die Inhalte zu erschließen.

3. Ausblick
Ziel der vorliegenden Publikation ist einerseits eine Bestandsaufnahme
und andererseits ein Ausblick auf rezente Desiderata im Bereich der histo-
rischen Grammatik des Deutschen.
Der Band soll insgesamt dazu beitragen, die Relevanz der Grammatik-
forschung für die Anforderungen einer zeitgemäßen Sprachgeschichtsfor-
schung im Spannungsfeld zwischen Syntax, Morphosyntax, Textgramma-
tik, und Pragmatik zu konturieren und etablierte Auffassungen zur
Grammatikarbeit mit aktuellen Problemen zu konfrontieren. Insofern soll
auch ein Beitrag zu einer systematischen Historischen Grammatik des
Deutschen einschließlich ihrer methodischen Umsetzung geboten werden,
so dass der Sammelband auch geeignet scheint, als Referenzwerk im Hin-
blick auf spezifische Fragen syntaktischer und textgrammatischer Arbeit in
der Sprachgeschichtsforschung zu fungieren.
Die freudigste Erkenntnis nach Lektüre sämtlicher Beiträge des vor-
liegenden Sammelbandes ist sicher eine, die der historischen Grammatik-
forschung Mut machen kann. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass
nunmehr für eine Historische Textgrammatik und eine Historische Syntax
des Deutschen nichts mehr zu tun bliebe; ganz im Gegenteil: Die großen
Postulate bleiben weiterhin bestehen – eine diachron ausgerichtete kor-
pusbasierte Historische Textgrammatik und eine ebensolche Historische
Syntax des Deutschen!

Literatur

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unterschiedliche Aufgaben?“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Lite-
ratur (PBB ), 119 / 2, 181-213.
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Elspaß, Stephan (2007), „‚Neue Sprachgeschichte(n)’. Einführung in das Themen-
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Wolf, Norbert Richard (1982), Probleme einer Valenzgrammatik des Deutschen, (Mitteilun-
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Ziegler, Arne (2008), „Sprachgeschichte als Textgeschichte. Überlegungen zu einer
diachronen Textgrammatik des Deutschen“, in: Waldemar Czachur / Marta Czy-
Ŝewska (Hrsg.), Vom Wort zum Text – Studien zur deutschen Sprache und Kultur. Fest-
schrift für Professor Józef Wiktorowicz zum 65. Geburtstag, Warschau, 391-401.
Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997), Grammatik der deutschen
Sprache, Berlin, New York.
Diachronie
Wie wurde Deutsch OV?
Zur diachronen Dynamik eines Strukturparameters
der germanischen Sprachen

Hubert Haider (Salzburg)

1. Das Rätsel
Ausgangspunkt ist der rätselhafte Auslöser der syntaktischen Ausdifferen-
zierung der modernen germanischen Sprachen, dessen Resultat nun zwei
syntaktisch deutlich kontrastierende Sprachgruppen sind; die eine VO und
die andere OV. Die heutigen nordgermanischen Sprachen (Dänisch, Fa-
röisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch, und alle regionalen Varietä-
ten) sowie das von nordgermanischen und französischen Kontakten be-
einflusste Englisch sind strikte VO-Sprachen. In strikten VO-Sprachen
sind alle phrasenbildenden Kategorien linksperipher, das heißt, der Kern
der Phrase geht den abhängigen Elementen voran.1
Die westgermanischen Sprachen (z.B. Afrikaans, Deutsch, Friesisch,
Letzeburgisch, Niederländisch, Schwyzertütsch, und alle regionalen Varie-
täten) hingegen sind OV-Sprachen, das heißt, die Position des Verbs als
Kern der Verbalphrase ist final.2 Dieser Grundkontrast (OV3 vs. VO) impli-
ziert systematisch eine Kaskade von jeweils typabhängigen syntaktischen
Folgeerscheinungen (s. Anhang).

_____________
1 Englisch ist repräsentativ dafür: [give the reader a hint]VP, [conversion of waste into fuel]NP,
[into fuel]PP, [unrelated to German]AP, [the book]DP, [that this is so]CP, ...
2 Final ist die Grundposition des Verbs. Darüber gelagert ist die pangermanische V-2-
Eigenschaft: Das finite Verb, und nur das finite Verb, steht im Deklarativsatz an zweiter Stel-
le, d.h. unmittelbar hinter der ersten Konstituente.
3 Die germanischen OV-Sprachen sind keine strikten OV-Sprachen, wie etwa Japanisch oder
Türkisch. Im strikten Typ sind alle phrasenbildenden Elemente rechtsperipher, d.h. alle
Phrasen sind kopf-finale Phrasen. In den westgermanischen Sprachen sind ‚bloß‘ V und A
finale Phrasenköpfe (VP, AP), alle übrigen phrasenbildenden Köpfe sind initial, wie in VO-
Sprachen. Da aber VP und AP (in Kopulakonstruktionen) die Basis für den Aufbau der
Satzstrukturen bilden, ergibt sich daraus, dass Sätze klare OV-Charakteristika aufweisen.
12 Hubert Haider

Das Rätselhafte an dieser Situation wird deutlich, wenn man nach Ur-
sachen im Sprachwandel sucht, die für diese Differenzierung verantwort-
lich gemacht werden könnten. Es werden immer noch populäre Legenden
bemüht, wonach morphologischer Wandel den syntaktischen Wandel
getrieben habe. Im Deutschen sei das Flexionssystem nach wie vor diffe-
renziert genug, nicht aber in Sprachen wie Dänisch, Schwedisch, Norwe-
gisch oder auch im Englischen. In den genannten skandinavischen Spra-
chen beschränkt sich die Verbalflexion bekanntlich auf die Unterschei-
dung von Präsens, Präteritum und Infinitiv, ohne irgendeine Person- oder
Numerusdifferenzierung. Kasusmorphologie existiert auch nicht. Das
genau sei der Auslöser für die Entwicklung zur SVO-Wortstellung, da in
letzterer die Subjektsposition durch die Wortstellung klar von der Ob-
jektsposition zu unterscheiden sei und damit die strikte Wortstellung die
Funktion übernehme, die im Deutschen durch die Kongruenz- und Ka-
susmorphologie geleistet werde, nämlich die Markierung der jeweiligen
Satzgliedfunktionen.
Um festzustellen, dass diese plausibel klingende Geschichte keinerlei
Erklärungswert beinhaltet, genügt es, sich den Status der grammatischen
Morphologie in den germanischen Sprachen insgesamt kurz zu vergegen-
wärtigen. Unbestreitbares Faktum ist, dass die beiden germanischen
Sprachgruppen – die VO-Gruppe und die OV-Gruppe – sich nicht kon-
sistent nach morphosyntaktischen Kriterien sortieren lassen. Jede der
beiden Gruppen enthält Sprachen mit einem reichlich differenzierten
morphologischen Inventar, und jede der beiden Gruppen enthält mor-
phosyntaktisch ‚insuffiziente‘ Mitglieder:
Zu den Sprachen, die den morphologischen Reichtum der älteren
Sprachstufen gut konserviert haben, gehören Isländisch (strikt VO) und
Faröisch (strikt VO) einerseits, und Deutsch (OV) andererseits. Morpho-
logiearme Sprachen, was die grammatische Morphologie anlangt, sind
sicher die oben genannten kontinentalskandinavischen Sprachen (allesamt
VO), aber auch Niederländisch (OV), und, noch extremer, Afrikaans
(OV). Dessen Flexionsdefizit entspricht genau dem einer kontinental-
skandinavischen Sprache. Nichtsdestoweniger ist Afrikaans OV,4 und
nicht VO, und andererseits haben Isländisch und Faröisch sich trotz
reichhaltigster Morphosyntax und trotz ihrer abgeschiedenen Inselexistenz
_____________
4 Dies darf umso mehr verwundern, als Afrikaans ja ursprünglich keiner Normierung unter-
worfen war, und sich gleichsam in freier Wildbahn entwickeln durfte. Wenn Morpholo-
giemangel eine treibende Kraft wäre, hätte sie alle Chancen gehabt, im Süden Afrikas in
weiter Ferne vom sprachlichen Mutterland der Niederlande ihre Wirksamkeit zum Wohle
der syntaktischen Strukturierung zu entfalten. Sie tat es aber nicht. Also ist anzunehmen,
dass es sie gar nicht gibt, oder dass sie so schwach ist, dass sie jedenfalls nicht für den syn-
taktischen Wandel in den skandinavischen Sprachen haftbar gemacht werden kann.
Wie wurde Deutsch OV? 13

zu strikten VO-Sprachen entwickelt. Es ist somit offensichtlich nicht die


Erosion des morphosyntaktischen Inventars, die den Treibsatz des Wan-
dels liefert. Die Spaltung der germanischen Sprachengruppe in eine OV-
und eine VO-Gruppe entspringt keinem Drift als Folge eines kompensa-
torischen Wandels der Satzstruktur. Was aber ist es dann?
Was war die Situation vor der Spaltung? Vom heutigen Zustand her
betrachtet sind grundsätzlich zumindest drei verschiedene Szenarien alter-
nativ möglich. Die erste Möglichkeit ist, dass eine Gruppe der Fortsetzer
eines innovativen Dialekts ist, der sich aus der Grundsprache entwickelte,
und die heutigen zwei Gruppen die Fortsetzer des konservativen und des
innovativen Dialekts sind. Dies entspräche dem Szenario 1. oder 2. Die
andere Möglichkeit ist die, dass die Grundsprache keinem der heutigen
zwei Typen entsprach und beide Gruppen Fortsetzer von jeweils einem
Dialekt als Protovarietät für die weitere Entwicklung in die zwei Gruppen
sind, und die Dialekte durch Dialektspaltung aus der Grundsprache her-
vorgegangen sind. Dies ist Szenario 3.
1. SOV, mit Abspaltung zu SVO? (Innovation im nordger-
manischen Dialekt?)
2. SVO, mit Abspaltung zu SOV? (Innovation im westger-
manischen Dialekt?)
3. XVX, mit Wandel zu OV und VO? (postgermanische Innova-
tion?)
Szenario 1. und 2. sind sehr unwahrscheinlich. Was die alten Texte zeigen,
lässt unschwer erkennen, dass die altgermanischen Sprachen weder Spra-
chen des heutigen germanischen OV-Typs noch des VO-Typs waren. Sie
haben syntaktische Struktureigenschaften gemeinsam, die weder dem
heutigen OV-Typ noch dem heutigen VO-Typ entsprechen. Wie kommt
es dann aber dazu, dass die zwei Gruppen wie Varianten einer forced
choice, d.h. einer entweder-oder Entscheidung, aussehen? Es sind nämlich
nicht irgendwelche syntaktischen Eigenschaften, in denen sich die zwei
Gruppen unterscheiden,5 sondern präzise Eigenschaftsbündel, die genau
der Entwicklung in den OV- und den VO-Typ entsprechen (s. Anhang).

_____________
5 Ein Beispiel dafür bieten die romanischen Sprachen. Alle sind OV. Daneben gibt es ‚quer-
beet‘ laufende Unterschiede. Z.B. gibt es eine Gruppe mit der Null-Subjekt-Eigenschaft
(Beispiel: Italienisch) und eine, der diese Eigenschaft fehlt (Beispiel: Französisch). Anderer-
seits gibt es Varietäten mit Clitic-doubling (Objektklitikum trotz vorhandenen Objekts;
Beispiel: Spanisch), und solche, die das nicht zulassen (z.B. Französisch).
14 Hubert Haider

Bleibt somit als wahrscheinliches Szenario die Situation 3.: OV und


VO sind die verschränkten Partner6 in einer syntaktischen Entwicklung,
die ihren Ausgang nahm von einem Typ, der weder OV noch VO war,
und als Aufspaltungsoption genau die zwei Möglichkeiten anbot. Gesucht
ist somit eine geeignete und empirisch absicherbare syntaktische Modellie-
rung von 3. Den Anhaltspunkt dafür liefert eine germanische Sprache, die
als lebendiges Mittelalter betrachtet werden darf, nämlich Jiddisch.

2. Jiddisch – der weiße Rabe


Dem kundigen Leser wird nicht entgangen sein, dass in der Auflistung der
germanischen Sprachen im vorangehenden Abschnitt eine Sprache fehlt,
die nicht fehlen darf. Es ist Jiddisch. Jiddisch ist ein sprachhistorischer
Glücksfall, denn es bildet den missing link für die anstehende Problema-
tik. Die kritische syntaktische Eigenschaft des Jiddischen wird in folgender
Frage akut: Ist Jiddisch eine OV- oder VO-Sprache? Die Antwort ist strit-
tig. Genau das ist der Punkt, um den es hier geht. Sie ist deswegen strittig,
weil Jiddisch weder genau den OV-Eigenschaften des Deutschen ent-
spricht, noch genau zu den VO-Eigenschaften wie im Isländischen oder
Englischen passt. Das führte zu einer Kontroverse, in der Jiddisch entwe-
der zu einer Variante von VO (vgl. Diesing 1997), oder einer Variante von
OV (vgl. Geilfuß 1991) erklärt wurde. Hier ist ein repräsentatives Beispiel
für die ambivalente Typzuschreibung. Alle drei Abfolgen in (1) sind mög-
liche Abfolgen.
(1a) [X Y V°]VP Max hot [Rifken dos buch gegebm]
(1b) [V° X Y]VP Max hot [gegebm Rifken dos buch]
(1c) [X V° Y]VP Max hot [Rifken gegebm dos buch]
Die Abfolge (1a) entspricht wortwörtlich einer deutschen Abfolge. (1b)
ergibt, wenn man die entsprechenden englischen Wörter einsetzt, einen
perfekten englischen Satz. (1c) aber passt weder zu Englisch noch zu
Deutsch. Das eröffnet zwei konkurrierende Deutungsmöglichkeiten. Für
Diesing (1997) ist (1b) die typ-konforme VO-Abfolge. (1a) und (1c) ergä-
ben sich in ihrer Sicht durch einen Voranstellungsprozess, den sie mit der
Deutschen Abfolgevariation im Mittelfeld vergleicht. Somit ist Jiddisch für
sie eine VO-Sprache mit einem zusätzlichen syntaktischen Prozess, der
_____________
6 Das ist eine terminologische Anleihe aus der Physik (‚verschränkte Teilchen‘). ‚Verschränk-
te Partner‘ meint zwei Grammatikvarianten, die sich aus einer Grundvariante dadurch er-
geben, dass ein einziger Faktor vorliegt, der nur eine binäre Wertbelegung zulässt. Aus der
Belegungsalternative ergeben sich genau zwei Systeme, die sich bloß in der Wertbelegung
dieses Faktors unterscheiden.
Wie wurde Deutsch OV? 15

(1c) und (1a) als Varianten von (1b) liefert. Problematisch an dieser Analy-
se ist, dass es keine unabhängige Bestätigung dafür gibt, dass irgendeine
VO-Sprache diese postulierten Umstellungen zuließe.
Vikner (2002) weist ausführlich nach, dass Jiddisch insgesamt die typi-
schen Eigenschaften von OV-Sprachen7 aufweist, nicht aber die von VO-
Sprachen. Was nicht ins Bild passt, ist die Wortstellungsvariation im Satz,
wie in (1b) und (1c). Wenn nämlich Jiddisch ein OV-Typ wäre wie
Deutsch, müsste (1a) die typkonforme Abfolge sein, und (1b, c) müssten
abgleitet werden durch Nachstellung von nominalen Satzgliedern. Genau
das ist aber in den germanischen OV-Sprachen ausgeschlossen. Nachge-
stellt werden nämlich gerade keine nominalen Argumente, sondern einge-
bettete Sätze oder Präpositionalphrasen. Nominalausdrücke werden nur
als Adverbiale nachgestellt, oder in Sonderfällen als Nachstellung von sehr
‚gewichtigen‘ Phrasen,8 was als heavy NP shift bekannt ist. Die putativ
nachgestellten Phrasen in (1b, c) sind sicher nicht ‚heavy‘.
Wer hat recht? In dieser Situation liegt die Lösung darin, zu erkennen,
dass und warum keine der beiden Sichtweisen recht haben kann. Jiddisch
ist nämlich weder VO noch OV. Es ist ein dritter Typ, dessen unmittelbar
verknüpfte Varianten VO und OV sind. Jiddisch ist zwar damit singulär
unter den derzeitig gesprochenen germanischen Sprachen, der Typus
selbst ist aber keineswegs singulär. Um dies verständlich machen zu kön-
nen, ist es nötig, kurz zu explizieren, was den VO-, und was den OV-
Typus ausmacht, und wie der dritte Typus sich dazu verhält.

3. OV, VO und das Dritte


Die sachdienlichen Ausführungen in diesem Abschnitt beschränken sich
auf das für das Verständnis nötige Minimum an Information. Ausführli-
che Argumentation und empirische Begründung sind nachlesbar in Haider
(1992 / 2000, 2005 und 2009). Die Struktureigenschaften von kopf-finalen
und kopf-initialen Phrasen ergeben sich aus folgenden Axiomen:
A1: Phrasen sind binär strukturiert und endozentrisch.
A2: Phrasen sind im internen Aufbau universell links-geschichtet:
[ X [ Y [ (...) h° (...)]]]

_____________
7 U.a.: Auxiliarabfolge, Variation in den Auxiliarabfolgen, Partikel-Verbabfolge, keine Kon-
gruenz von Subjekt und adjektivischem Prädikat.
8 Typisches Beispiel sind Ansagen am Bahnsteig: „Achtung, auf Gleis drei fährt ein [der ICE
aus Frankfurt nach München mit Planankunft um ....]“.
16 Hubert Haider

A3: Phrasenköpfe haben eine parametrisierte, kanonische Lizenzie-


rungsrichtung.
A4: Die Argumente des Phrasenkopfes müssen streng lizenziert sein.
Ein Argument A ist streng lizenziert durch den Kopf der Phrase
h°, gdw.
a. A (oder eine Projektion / ein Kettenglied von) h° einander
minimal und wechselseitig c-kommandieren, und
b. die Position von A in der Phrase von h° sich in der kanonischen
Domäne9 von h° befinden.
Aus diesen Annahmen folgt, dass sich die unterschiedlichen Eigenschaf-
ten von OV- und VO-Strukturen letztlich aus A4 ableiten lassen. Der
Phrasenkopf befindet sich an der tiefsten Position, oder, anders formu-
liert, der Aufbau einer Phrase beginnt mit dem Kopf, der sich mit einer
Phrase verbindet, an die schrittweise weiter Phrasen angelagert werden,
aber nur nach links, was aus (A2) folgt. Hier ein Beispiel einer deutschen
VP (2a-c), und eingebettet in einem finiten, eingeleiteten Satz in (2d).
(2a) [etwas verzeihen]VP
(2b) [jemandem [etwas verzeihen]]VP
(2c) [Subjekt [jemandem [etwas verzeihen]]]VP
(2d) [dass [jeder [jemandem [etwas verzeiht]]]VP]
Das Verb lizenziert in (2) nach links, und der Phrasenaufbau erfolgt ge-
mäß A2 ebenfalls nach links. Daher ergibt sich ein geschichteter Aufbau,
in dem das Verb oder eine seiner Projektionen die jeweils angelagerte
Phrase in der kanonischen Richtung, nämlich links, vorfindet.
In kopf-initialen Phrasen gestaltet sich der Aufbau ebenso zwangsläu-
fig, wirkt aber komplizierter, weil in diesem Fall die Lizenzierungsrichtung
nach rechts gegenläufig zum Aufbau gemäß A2 ist. Betrachten wir ein Bei-
spiel:
(3a) [forgive something]
(3b) [someone [forgive something]]
(3c) [forgive [someone [forgive something]]]
(3d) [Subjekt [forgive [someone [forgive something]]]]
(3e) [that [everybody [forgives [someone [forgive something]]]]]
In (3a) befindet sich das Objekt in der geforderten Lizenzierungsrichtung.
Wird nun gemäß A2 das indirekte Objekt angelagert, so muss es links
_____________
9 Die kanonische Domäne von h° oder einer Projektion von h° ist der c-Kommando-
Bereich von h° in der kanonischen Richtung.
Wie wurde Deutsch OV? 17

angelagert werden (3b). Damit ist es aber nicht auf der kanonischen Seite
für einen Kopf, der nach rechts lizenziert. Die Antwort der Grammatik
darauf ist in (3c) angegeben: Der Kopf muss neuerlich instantiiert werden,
und zwar links davon (3c). Da es aber nur ein einziges Verb als Kopf gibt,
bleibt die ursprüngliche Position leer. Es sei denn, das Verb ist ein Parti-
kelverb. In diesem Fall kann die Partikel an der ursprünglichen Verbposi-
tion verharren, was zu der für Deutschsprecher(innen) erstaunlichen Par-
tikelposition zwischen indirektem und direktem Objekt im Englischen
führt (4):
(4a) Valerie [packedi [her daughter [ei-up a lunch]]] (Dehé 2002, 3)
(4b) Susan [pouredi [the man [ei-out a drink]]]
Partikelzusätze von Verben sind, wie auch das Deutsche zeigt, stets dem
Verb benachbart, können aber durch Umstellung des Verbs von diesem
getrennt werden. Im Deutschen passiert dies dann, wenn das Verb in der
V2-Position zu stehen kommt.
Susanne gossi dem Mann ein Getränk ein-ei
Im Englischen, und in allen VO-Sprachen, die optional Partikelabspaltung
erlauben (z.B. Norwegisch und Isländisch), zeigt die aus OV-Perspektive
eigenartig anmutende Partikelpositionierung in (4) an, dass sich zwischen
den Objekten eine Verbposition befinden muss, an der die Partikel zu-
rückgelassen werden kann. Dass das Verb in einer VP selbst nie in dieser
Position zu finden ist, erklärt sich aus der zwangsweisen Voranstellung, in
Erfüllung von A4, b.
Schließlich wird auch das Subjekt angelagert (3d). Diese Struktur (3d)
ist die Struktur einer SVO-Sprache. In einer VSO-Sprache würde das Verb
noch einmal instantiiert werden, wonach sich dann alle Argumente, inklu-
sive Subjekt, in der kanonischen Domäne befinden. In einer SOV-Sprache
befinden sich ebenfalls alle Argumente in der kanonischen Domäne (2c).
Das Subjektsargument einer SVO-Sprache hingegen befindet sich zwar in
der VP, ist aber nicht kanonisch lizenziert (3d). Dazu bedarf es eines zu-
sätzlichen Kopfes, wie in der AcI-Konstruktion (6a), in der richtigen Rich-
tung, oder das Subjektsargument wird in die Spec-Position einer funktio-
nalen Projektion gebracht, deren funktionaler Kopf die ursprüngliche
Position lizenziert (6b).
(6a) let → [VP Susan [pouri [the man [ei-out a drink]]]]
(6b) [IP Susanj [I° has → [VP ej [pouredi [the man [ei-out a drink]]]]]]
Eine Konsequenz dieser Umstände ist folgende Eigenschaft von SVO-
Sprachen. Die funktionale Subjektsposition ist obligatorisch. Ist kein Ar-
gument vorhanden, muss sie mit einem Expletivum besetzt werden. Auf
18 Hubert Haider

eine OV-Sprache trifft das nicht zu. Deutsch beispielsweise verbietet ein
Expletivum in subjektlosen Passivsätzen (7b, d), während dieses in den
skandinavischen Sprachen (7a, c) mandatorisch ist. Ebenso wenig erlaubt
Deutsch ein Expletivum in der Präsentativkonstruktion, die in den skan-
dinavischen Sprachen und dem Englischen mit einem Expletivum kon-
struiert wird.
(7a) að */??(Það) hefur verið dansað Isländisch
dass (EXPL) hat gewesen getanzt
(7b) daß (*es) getanzt wurde
(7c) Í dag er *(Það) komin ein drongur Faröisch
heute is (EXPL) gekommen ein Junge
(7d) Heute ist (*es) ein Junge gekommen
Fassen wir zusammen: kopf-finale und kopf-initiale Phrasen unterschei-
den sich, was die Strukturprinzipien anlangt, lediglich im Richtungspara-
meter. Dieser Unterschied hat allerdings Folgen bei der Implementierung.
Eine komplexe kopf-initiale Struktur, im Unterschied zu einer kopf-
finalen, erfordert die mehrfache Instantiierung des Kopfes (8a).
(8) a. kopf-initiale VP:10 b. kopf-finale VP:
… …
VP <z,x,y> VP <z,x,y>

Vi° VP <z,x,y> XP V´ <z,x,y>

XP V´ <z,x,y> YP V° <z,x,y>

vi° YP
<z,x,y>

Außerdem ergibt sich zwangsläufig, dass die kopf-initiale VP kompakt ist,


nicht aber die kopf-finale. Dies impliziert, dass die Objekte nicht durch
Adverbien getrennt werden können (9a) und dass Objekte nicht umge-
stellt werden dürfen (9b). In beiden Fällen ist die Minimalitätsbedingung

_____________
10 In den Spitzklammern sind die Argumentstellen angegeben, die in die syntaktische Struktur
projiziert werden. Die durchgestrichene Stelle bedeutet, dass sie bereits abgearbeitet ist,
d.h. in die Struktur eingefügt wurde.
Wie wurde Deutsch OV? 19

von A4, a die Ursache. Sowohl das Adverb in (9a), wie auch das aus seiner
Grundposition umgestellte Objekt zerstört die minimale c-Kommando-
Relation. Das Verb in (9a) c-kommandiert minimal das Adverb oder das
umgestellte Objekt in (9b), nicht aber das lizenzierungsbedürftige Argu-
ment.
(9a) He showed (*voluntarily) the students (*secretely) the solution
(9b) *He [showedj [the appartmenti [ej the guests [ej ei]]]
In einer kopf-finalen Phrase tritt dieses Problem nicht auf, da stets eine
Verbalprojektion als Schwesterknoten der links angedockten Phrase auf-
tritt (s. 8b). Im Deutschen ist daher die VP nicht kompakt und außerdem
können die Argumente umgestellt werden:
(10a) Er hat [den Studenten [freiwillig [die Lösungen gezeigt]]]
(10b)Er hat [den Studenten [die Lösungen [freiwillig gezeigt]]]
(10c) Er hat [die Lösungeni [den Studenten [ei [ freiwillig gezeigt]]]]
Wie passt Jiddisch in dieses Bild? Jiddisch repräsentiert den dritten Typus,
der sich dann ergibt, wenn die kanonische Richtung nicht spezifiziert ist. In
diesem Fall gibt es die Möglichkeit, kopf-final zu konstruieren, wie im
Deutschen (11a), oder kopf-initial, wie im Englischen (11b), oder auf eine
dritte Weise (11c).
(11a) Max hot [Rifken [dos buch gegebm]]VP
(11b)Max hot [gegebm Rifken [ei dos buch]]VP
(11c) Max hot [Rifken [gegebm dos buch]]VP
Die dritte Weise (11c) startet mit Lizenzierung nach rechts, wie Englisch,
und setzt fort mit Lizenzierung wie Deutsch, nämlich nach links. Das
Ergebnis ist die Sandwich-Stellung des Verbs, zwischen indirektem und
direktem Objekt. Es ist diese Abfolge, an der sich der dritte Typ zu er-
kennen gibt. Die ersten beiden Möglichkeiten sind die OV-artige und die
VO-artige Konstruktion. Daraus erklärt sich auch, warum Jiddisch miss-
verständlich als OV-Sprache oder als VO-Sprache angesehen werden
konnte. Ist der Wert für die kanonische Richtung spezifiziert, wie das in
VO oder OV der Fall ist, dann kann die Sandwich-Abfolge eben gerade
nicht auftreten.
Hier nun liegt der Schlüssel zum Verständnis des germanischen
OV / VO-Rätsels. Die älteren germanischen Sprachen sind vom dritten
Typ. Die Dialektspaltung ist das Ergebnis des Wechsels von der Unterspe-
zifikation des Richtungsparameters hin zur Spezifikation. Spezifikation
bedeutet die Festlegung auf einen möglichen Wert. Da es nur zwei Werte
gibt (‚davor‘, ‚danach‘), ist die Dialektspaltung die Folge der Wahl des
komplementären Parameterwertes.
20 Hubert Haider

4. Ältere germanische Sprachen sind vom dritten Typ


Hier seien einige Belegstellen quer durch die ältere Germania aufgeführt,
die das Sandwich-Muster zeigen, und damit die Bestätigung liefern, dass
der dritte Typ vorliegt. Man findet dieses Muster in allen älteren germani-
schen Sprachen.
Beispielsbelege 1 – Altenglisch (nach Fisher / van Kemenade / Koop-
man / van der Wurff 2000, 51):
(12a) Se mæssepreost sceal [mannum [bodian þone soþan geleafan]]VP
(Ælet 2 (Wulfstan 1) 175)
Der Priester muss den Leuten predigen den wahren Glauben
(12b)þæt hi [urum godum [geoffrian magon ðancwurðe onsægednysse]
(ÆCHom I, 38.592.31)
dass sie unserem Gott opfern mögen dankbares Opfer
(12c) Ac he sceal [þa sacfullan gesibbian] (Ælet 2 (Wulfstan 1) 188.256)
aber er muss die Streitenden versöhnen
(12d) Se wolde [gelytlian þone lyfigendan hælend] (Ælet 2 (Wulfstan 1)
55.98)
Er wollte erniedrigen den lebendigen Heiland
In (12a) und (12b) liegt die gesuchte Mittelstellung des Verbs vor. Das
indirekte Objekt geht voran, das direkte Objekt folgt. In (12c) ist das Verb
in der VP kopf-final, in (12d) ist es kopf-initial. Laut Fisher u.a. (2000,
172) zog sich die Fixierung des VO-Musters (d.h. der Wandel hin zu einem
fixen Richtungswert) vom 13. bis zum 15. Jh. hin. Ein deutlicher Indikator ist
die Partikelpositionierung. Im Mittelenglischen erst sind mehr als 85 %
aller Partikelvorkommen postverbal, so wie im heutigen Englischen. Laut
Pintzuk / Taylor (2006) betrug der Anteil an echten OV-Abfolgen (d.h. in
Sätzen mit nicht-finitem Hauptverb) vor 950 58,5 %, ging bis 1150 auf
51,7 % zurück, um danach stark abzufallen (29,7 % zwischen 1150-1250).
Ab 1350 (4,3 % OV) darf von strikter VO Struktur ausgegangen werden.
Beispielsbelege 2 – Althochdeutsch (Notker, aus Schallert 2006, 139 u.
142):
(13a) áz sie [nîoman [nenôti des chóufes]] (NB 22,13)
dass sie niemand NEG-nötigten des Kaufes
(13b)tánne sie [búrg-réht [scûofen demo líute]] (NB 64,13)
dass sie Burgrecht gewährten dem Volk
(13c) Úbe dû [dero érdoDAT [dînen sâmenAKK beuúlehîst]] (NB 47,4)
ob du [der Erde [deinen Samen gibst]]
Wie wurde Deutsch OV? 21

(13d) Tisêr ûzero ordo [...] mûoze [duingeni [mit sînero unuuendigi
[ei [diu uuendigen ding]]]] (NB 217,20)
diese äußere Ordnung muss bezwingen mit seiner Unwandelbar-
keit die unwandelbaren Dinge
Die Belege unter (13) illustrieren alle Stellungsmuster des dritten Typs.
(13a) und (13b) haben das Verb in der Position zwischen den Objekten.
(13c) ist kopf-final, und (13d) kopf-initial.
Beispielsbelege 3 – Älteres Isländisch (Hróarsdóttir 2000; Schallert 2006,
157f.):
(14a) hafer Þu [Þinu lidi [jatat Þeim]]
hast Du deine Hilfe versprochen ihnen
(14b)hefir hann [ritað sýslungum sínum bréf]
hat er geschrieben Landsleuten seinen (einen) Brief
(14c) Því eg get ekki [meiri liðsem [Þér veitt]]
da ich kann nicht mehr Hilfe dir bieten
Auch hier zeigt sich das gleiche Bild, nämlich die Triade von Mittelstel-
lung (14a), kopf-initialer Stellung (14b), und kopf-finaler Stellung in (14c).
Auch hier zeigt sich der unterspezifizierte Richtungsparameter bei der
Lizenzierung der Phrasen durch den Kopf innerhalb seiner Projektion.
Insgesamt entspringt die Wortstellungsfreiheit der älteren germani-
schen Sprachen zwei Hauptquellen. Einerseits ist es die fakultative Posi-
tionierung des Verbs in kopf-finaler, kopf-initialer, und intermediärer
Position als Systemeigenschaft des dritten Typs, und anderseits ist es die
für OV-Sprachen typische Variation der Abfolge der Argumente im Mit-
telfeld dank der nicht kompakten Organisation der links-lizenzierend auf-
gebauten Phrasen.

5. Auf dem Weg zu OV / VO


Die Entwicklung hin zum Zustand mit fixiertem Richtungswert und der
damit verbundenen Aufspaltung in OV und VO zog sich ganz offenbar
über einige Generationsspannen hin und war keineswegs in den älteren
Sprachstufen abgeschlossen. Was Deutsch anlangt, war Mittelhochdeutsch
offenbar noch immer eine Sprache mit unterspezifiziertem Richtungswert.
Das zeigt sich im Jiddischen, als Fortsetzter einer mittelhochdeutschen
Grammatik, und ebenso in anderen mittelhochdeutschen Varietäten. Prell
(2003, 245) formuliert das so:
Im mhd. Aussagesatz steht das finite Verb im Nhd. prinzipiell an zweiter Stelle
(V2), im eingeleiteten Nebensatz jedoch nicht unbedingt an letzter, sondern lediglich
22 Hubert Haider

später als an zweiter Stelle. [...] Die absolute Endstellung tritt nach 1250 in über
65% aller eingeleiteten Nebensätze auf.
Der springende Punkt dabei ist, dass nominale Objekte dem Verb folgen
können (Prell 2003, 246):
(15) So wirt dir [vergeben von got din missetat] (Hoffmannsche Predigt-
sammlung)
Das nicht-finite Verb geht fakultativ nominalen Objekten voran, wie das
für den dritten Typ typisch ist. Die entscheidende Frage ist daher folgen-
de. Wie kommt es, dass eine Reihe einzelsprachlicher Entwicklungen auf
denselben Typ hin konvergiert und damit einer ganzen Sprachgruppe
zukommt? Mit anderen Worten, wie kommen beispielsweise Spre-
cher(innen) des frühen Mittelenglischen und des frühen Mittelisländischen
unabhängig voneinander zum selben Zustand ihrer jeweiligen Grammatik,
nämlich einer mit fixiertem Richtungswert für den VO-Typ? Die analoge
Frage stellt sich für die Sprachen des OV-Typs.
Es muss einerseits möglich gewesen sein, dass eine innovative Varian-
te neben der etablierten koexistieren konnte, und es muss ein syntakti-
scher Umstand als Drift im Sinne Sapirs (1921) dingfest gemacht werden,
der eine allmähliche Präponderanz in Richtung OV (beziehungsweise VO)
als der innovativen Variante bewirkte. Anderenfalls ist es nicht verständ-
lich, wie der Wandel in Richtung fixer Direktionalität sich konvergent und
sprachenübergeifend durchsetzen konnte.
Der fragliche Faktor findet sich in einer zweischneidigen Auswirkung des
Richtungsparameters. Einerseits regelt er die Position des Kopfes relativ
zu den vom Kopf abhängigen Phrasen, und andererseits regelt der Rich-
tungsparameter indirekt die Verbabfolge in Sätzen mit Auxiliaren und
Quasi-Auxiliaren (z.B. Modal- und Kausativverben), da auch diesen Ver-
ben eine Selektionsrichtung zukommt.
In VO-Sprachen ist die Abfolge der Verben im einfachen Satz aus-
nahmslos die, die dem Richtungsparameter entspricht. Es gibt keine ande-
re Abfolge. (16) ist ein Beispiel dafür:
(16) Surely, you [VP must → [VP have → [VP been → [VP joking]]]]
Der Richtungsparameter wirkt sich auf die Verbabfolge dadurch aus, dass
Verben andere Verb(phras)en selegieren. (17) illustriert die Situation im
heutigen Englisch. Jedes Auxiliarverb selegiert eine VP, die in der kanoni-
schen Richtung lizenziert wird. Daraus folgt zwangsläufig, dass die abhän-
gige VP, und somit das abhängige Verb dem selegierenden Verb folgt.
Wie wurde Deutsch OV? 23

(17a) must → [VP V ....]


(17b)have → [VP V ....]
(17c) must → [VP have → [VP V ....]]]
Betrachten wir nun den Reanalysefall in der Koexistenzperiode. Das ist
jenes Muster, das sowohl mit der ‚alten‘ Grammatik als auch mit der ‚neu-
en‘ Grammatik kompatibel ist und so den allmählichen Wandel ermög-
licht. Dabei ist mitzubedenken, dass in den (germanischen) OV-Sprachen
eingeschachtelte VPs eine Struktur mit Zentraleinbettung ergäben, weil sie
als linke Komplemente eingebettet wären. Das wird strikt gemieden.
Stattdessen wird ein Verbalkomplex (d.h. eine Konstituente, bestehend
aus den Verben allein) gebildet. Für Details sei auf Haider (2003 und 2009,
Kapitel 7) verwiesen. In (18a) fehlt daher das Muster [VP [V XP]VP Aux].
Es ist unzulässig, weil die VP-Einbettung unstatthaft ist. Es wird obligat
ein Verbalkomplex gebildet und in diesem sind die Verben benachbart.
Daher gibt es keine Möglichkeit, dieses Muster auf grammatische Weise
zu erzeugen. Die Fakten bestätigen dies.
(18a) [Aux [V XP]], [Aux [XP V]], [XP [V Aux]] ‚alt‘
(18b)[Aux [V XP]VP]VP ‚neu‘
In einer Sprache mit Phrasenaufbau des dritten Typs sind alle Abfolgen in
(18a) zulässig. Sie ergeben sich aus dem frei bestimmbaren Wert für die
Lizenzierungsrichtung. Unter den drei möglichen Mustern ist das erste
identisch mit dem Muster (18b), also dem VO-Muster. Die Grammatik für
(18b) ist zumindest einfacher als die für (18a). Erstens weist sie einen einzi-
gen Richtungsfaktor auf, der für alle Komplemente der Verben einheitlich
gilt. Zum Zweiten ist die Auswahl auf ein einziges Strukturmuster reduziert.
Das allein kann aber noch nicht ausreichend sein, denn es sind eben nicht
alle germanischen Sprachen in den strikten VO-Typ gewechselt.
Was ergab den Anstoß in die VO-Richtung? Es ist der Beitrag der
Voranstellung des finiten Verbs (i.e. die germanische V2-Eigenschaft).
Dadurch ergibt in vielen Fällen das erste und dritte Muster von (18a) eine
identische Abfolge. Wenn nun auch im eingeleiteten Nebensatz eine Finit-
umstellung möglich ist, wie das in allen modernen skandinavischen Spra-
chen der Fall ist, dann gibt es insgesamt eine sehr hohe Frequenz der Ab-
folgen in (19).
(19a) [Auxfinit-i [V XP ei]] drittes Muster aus (18a)
(19b)[Auxfinit [V XP]] erstes Muster aus (18a), sowie (18b)
Es ist die Präponderanz dieser Muster, was sich als konstanter Driftfaktor
zugunsten von (19b) ausgewirkt haben mag, und die für die VO-
Entscheidung relevante Richtungsfestlegung begünstigte. Aus der alten
24 Hubert Haider

Grammatik spaltete sich eine neue ab. Die Koexistenz der alten und neu-
en Grammatik änderte sich allmählich zugunsten der Ausbreitung der
neuen Grammatik mit fixer Richtungsfestlegung und (19b) als dem einzi-
gen Muster, durch die abnehmende Frequenz der anderen Muster.
Bleibt nun die Frage, wie es andererseits zu einem Drift in Richtung
des OV-Typs kommen kann. Auch hier dürfte die Abfolgevariation in
Sätzen mit Auxiliar- und Quasi-Auxiliar-Verben eine entscheidende Rolle
spielen. Auffällig ist zum Ersten, dass in den germanischen OV-Sprachen,
anders als in den VO-Sprachen (21), in eingeleiteten Sätzen keine
Hauptsatzwortstellung11 möglich ist. Auffällig ist auch, dass in den germa-
nischen VO-Sprachen die direkte Einbettung eines Satzes mit Hauptsatz-
wortstellung nicht zulässig ist (vgl. Vikner 1995). Es muss ein eingeleiteter
Satz sein. Im Deutschen ist es genau umgekehrt, wie (20a) im Vergleich zu
(20c) belegt.
(20a) Man sagt, diese Verbstellung sei gut möglich
(20b)Man sagt, dass diese Verbstellung gut möglich sei
(20c) *Man sagt, dass diese Verbstellung sei gut möglich
(21a) He said *(that) [never before] has he read such a good article
(21b)Han sagde *(at) [aldrig før] havde han læst sådan en god artikel
Dänisch
(21c) *er sagt, (dass) [nie zuvor] hatte er gelesen solch einen guten Ar-
tikel
Die Existenz der satzinternen V2-Abfolge deutet darauf hin, dass es schon
vorher diese Linksstellung gab, die die Linksstellung der nicht-finiten Ver-
ben im dritten Typ verstärkte und eine Frequenz von Linksstellungsmus-
tern ergibt, die die Reanalyse zu fixer Linksköpfigkeit begünstigte.
Was muss der Fall sein, damit sich eine Bevorzugung der Muster er-
gibt, die zur Fixierung auf Rechtsköpfigkeit führte? Die Antwort findet
sich in einer Eigenschaft, die alle OV-Sprachen gemeinsam haben, näm-
lich die Bildung von Verbalkomplexen. Diese Eigenschaft ergibt sich aus
der Vermeidung von Zentraleinbettung von eingebetteten VPs (22a), ana-
log zu (16) in VO. In OV-Sprachen weisen alle Indizien auf eine Struktur
wie in (22b) hin (vgl. Haider 2003): mehrgliedriger Verbalkomplex anstelle
von zentraleingebetteten VPs.

_____________
11 Hauptsatzwortstellung = besetztes Vorfeld und finites Verb in der linken Klammer. Einzi-
ge Ausnahme ist Friesisch, wo es V2-Muster in eingeleiteten Sätzen gibt. Ob dies eine
Neuerung ist oder nicht, ist unklar (vgl. De Haan / Weerman 1986).
Wie wurde Deutsch OV? 25

(22a) dass [er [ VP [VP [VP [VP das Problem gelöst] haben] müssen] wür-
de]]
(22b)dass [er [VP das Problem [[[gelöst haben] müssen] würde]]
In (22b) gibt es eine einzige VP, und nicht eine Kaskade von vier VPs
(22a). Auf diese Weise wird das Problem vermieden, das kopf-finale Ein-
bettungen beinhalten, nämlich das von Zentraleinbettung gleicher Konsti-
tuenten. (22a) ist extrem parserunfreundlich, denn es ist für den Parser
nicht möglich, die Anzahl der zu öffnenden VP-Knoten zu bestimmen
ohne das Satzende zu kennen. In VO-Strukturen tritt das Problem nicht
auf, denn jede VP präsentiert dem Parser zuerst das Verb der jeweils
übergeordneten VP. Das Problem (22a) wird gelöst, indem die Grammatik
eine Verbalkomplexbildung anbietet. Es gibt keine geschachtelten VPs. Es
gibt nur eine VP und die Verben sind im Verbalkomplex versammelt.
Dieser hat zwar ebenfalls eine ungünstige, weil linksverzweigende, Struk-
tur, doch diese ist auf einen lokalen Bereich beschränkt. Aber auch hier
‚sinnt‘ die Grammatik auf Auswege: In allen germanischen VO-Sprachen
gibt es Verbstellungsvariation, die zur Reduktion der Linksverzweigung im
Verbalkomplex führt:
(23a) dass [er [VP das Problem [würde [[gelöst haben] müssen]]
(23b)dat hij het probleem [zou [moeten [hebben opgelost]]]
Niederländisch
(23c) *dass er das Problem würde müssen haben aufgelöst
Niederländisch hat die radikalste Umstrukturierung des Verbalkomplexes
erreicht. Er erlaubt die komplette Spiegelbildanordnung zum Deutschen
(23b). Damit ist der ‚Makel‘ der Linksverzweigung eliminiert. Aber im
Niederländischen, wie im Deutschen, gibt es Variation in der Abfolge der
Verben im Verbalkomplex. Das ist ein germanisches OV-Merkmal. In
keiner VO-Sprache gibt es Variation unter den Auxiliarabfolgen, aber in
jeder germanischen OV-Sprache gibt es sie:
(24a) alles, was er hätte gesehen haben können
(24b)alles, was er gesehen hätte haben können
(24c) alles, was er gesehen haben hätte können
(24d) dat hij niets kan hebben gezien Niederländisch
dass er nicht kann haben gesehen (Geerts u.a. 1984, 1069)
(24e) dat hij niets kan gezien hebben
(24f) dat hij niets gezien kan hebben
Den heutigen Varietäten des Deutschen ist gemeinsam, dass auch dann,
wenn die Umstellung über den Verbalkomplex hinaus in das Mittelfeld
26 Hubert Haider

hinein möglich ist, das Vollverb stets in der finalen Position verharrt und
damit die Rechtsköpfigkeit der VP festhält.
(25a) dass er für sie nicht hatte die Firma am Leben halten wollen12
(25b)Man hätte (halt) müssen die Polizei verständigen13
(25c) das si am Grendel wöt sine verlore chlause zruggeh14
dass sie dem Grendel wollte seine verlorene Pfote zurückgeben
Dass die Verbstellungsvariation spezielle Berücksichtigung verdient, be-
tont auch Prell (2003, 245):
Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Nhd. besteht darin, dass im mehrteiligen
Verbalkomplex im mhd. Nebensatz die Abfolge der Verbformen nicht fest geregelt
ist. Auch hier dominiert bereits die nhd. Stellung (Infinitum vor Finitum) mit
Werten zwischen 68 und 75 % pro Jahrhunderthälfte, die umgekehrte Abfolge
einschließlich der Distanzstellung der Verbformen ist aber auch jederzeit erwart-
bar
Die folgenden Belege entnimmt Prell (2003, 245) dem Mühlhausener
Reichsrechtsbuch.
(26a) hivte ist der vroliche tak daz vnser herre wollte varn ze ierl’m. vn
die mrter liden vmbe alle die mennischen die er heilen wolte.
(Kuppitsch’sche Predigtsammlung)
(26b)Hinach is beschribin daz ein iclich man hi zv mvlhusen in die ri-
chis stat sal vride habi in simmi huz
(26a) ist ein Beleg mit beiden möglichen Abfolgen im Verbalkomplex im
selben Satz. Der erste Satz zeigt die ‚niederländische‘ Abfolge ‚wollte farn‘
(plus Nachstellung einer Präpositionalphrase). Im zweiten Satz von (26a)
liegt die Abfolge wie im Nhd. vor. In (26b) gibt es eine Voranstellung des
finiten Auxiliars ins Mittelfeld hinein, aus dem Verbalkomplex heraus, wie
es auch im Nhd. in Ersatzinfinitivkonstruktionen üblich ist.
Nun, da wir die ‚Hauptverdächtigen‘ für den Wandel in Richtung der
OV/VO-Dialektaufspaltung dingfest gemacht zu haben glauben, ist der
Punkt erreicht, um die Erklärungshypothese zu fixieren. Ausgangslage ist
eine Grammatik mit nicht fixiertem, d.h. unterspezifiziertem Richtungs-
wert für die Kategorie V. Es kann alternativ nach rechts oder nach links
lizenzieren.

_____________
12 Zitat aus: Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie.
13 Dies ist ein sehr frequentes Muster in der Wiener Umgangssprache: Das nicht-finite Mo-
dalverb geht an die Mittelfeldspitze. Es befindet sich aber nicht in der linken Klammer, zu-
sammen mit dem finiten Verb, denn Partikel und Pronomina an der Wackernagelposition
treten dazwischen: ‚Er hätt‘ sich müssen wärmere Socken anziehen.‘
14 Schwytzerdytsch, aus Wurmbrand (2006).
Wie wurde Deutsch OV? 27

Diese Grammatik erklärt die Tatsache, dass wir sowohl VO-Muster


finden, als auch OV-Muster, aber auch Muster, die weder OV- noch VO-
kompatibel sind, nämlich die Sandwich-Stellung des Verbs zwischen zwei
seiner Objektsaktanten. Diese Grammatik trifft für die älteren Sprachstu-
fen zu und ist bis in die ‚mittleren Perioden‘ (Mittelhochdeutsch, Mittel-
englisch, etc.) wirksam. In dieser Periode setzt ein Wandel ein. Sein End-
punkt sind Sprachen mit einer Grammatik, in der der Richtungswert für V
nicht mehr unterspezifiziert, sondern fixiert ist. Da es nur zwei mögliche
Werte gibt (links, rechts), ist das Resultat jeweils eine von zwei Möglich-
keiten, nämlich fix rechts-lizenzierend (VO), oder fix links-lizenzierend
(VO). Dieser Wandel ist aber einer, der jeweils eine ganze Gruppe einheit-
lich ‚infizierte‘. Das ist die noch offene Frage. Welche ‚Infektion‘ der
Grammatik hat sich hier jeweils uniform auszubreiten begonnen?

6. Konvergierende Drifts?
Der Wandel besteht in der Fixierung der Lizenzierungsrichtung. Die
Grammatik mit frei wählbarer, weil unterspezifizierter Lizenzierungsrich-
tung des Verbs ändert sich zu einer mit fixierter Richtung. Da es bei dieser
Fixierung eine Alternative gibt, sehen wir heutzutage zwei Grammatikfa-
milien. Eine ist die OV-Familie der westgermanischen Sprachen, und die
andere die VO-Familie der nordgermanischen Sprache sowie Englisch.
Wegen des Mangels an repräsentativ erhobenen und analysierten Da-
ten aus detaillierten, sprachvergleichenden Recherchen zum fraglichen
Sprachzustand kann hier bloß eine Konjektur formuliert werden, wie die
oben formulierte Generalhypothese („von unterspezifiziert zu fixiert“) in
der grammatischen Implementierung funktioniert haben kann. Hier ist sie:
Der Wandel vom unterspezifizierten zum fixierten Wert hat jeweils
klare Konsequenzen, die sich aus der konsequenten Implementierung und
den dadurch ausgelösten Folgewirkungen ergeben. Die Implementierung
als ‚fixiert auf rechts-lizenzierend‘ ergibt eine Festlegung auf die Verbab-
folge 1-2-3 als relative Abfolge, und die V-Objekt-Abfolge. Diese ist in
allen Fällen mit nur zwei Verben deckungsgleich mit der Variante, die sich
aus der Voranstellung des finiten Verbs ergibt. Die Reanalyse wird be-
günstigt, wenn es die Möglichkeit der Voranstellung des Finitums auch in
eingebetteten Sätzen gab, so wie in den heutigen skandinavischen Spra-
chen.
In der Variante ‚fixiert auf links-lizenzierend‘ ergibt sich die relative
Verbabfolge 3-2-1 und eine Objekt-V-Abfolge. Wiederum führt die Vor-
anstellung des Finitums zu 1-2-Abfolgen. Entscheidend ist aber auch, dass
mit der Linkslizenzierung der Ersatz von VP-Einbettung durch Verbal-
28 Hubert Haider

komplexbildung verbunden ist. Das äußert sich in den Daten als Objekt-V2-
V1- neben einer Objekt-V1-V2-Abfolge. Begünstigt wird die Erkennbarkeit
der Fixierung auf kopf-final, wenn es, so wie in den heutigen germani-
schen OV-Sprachen, keine Finit-Voranstellung in eingeleiteten Sätzen
gibt, die die V2-V1-Abfolge maskiert, weil dann die Voranstellung von V1
als linksköpfig in vielen Kontexten nicht von der Finitvoranstellung zu
unterscheiden ist.
Der jeweilige nachhaltige Drift ergibt sich dadurch, dass in den fixier-
ten Varianten der Grammatik die zulässigen Wortstellungsmöglichkeiten
eine Teilmenge jener Stellungsmuster bilden, die von der Vorgänger-
grammatik zugelassen sind. Das führt dazu, dass die aktiv gebrauchten
Muster im innovativen Dialekt eine Teilmenge des Grunddialekts sind,
und die anderen Muster passiv zugelassen werden, zum Teil als tolerierte
Varianten, in der Weise, wie wir uns auch heute nicht daran stoßen, wenn
jemand eine Variante gebraucht, die man selbst aktiv nicht benützt.
Der Grund für die Reanalyse, die überhaupt erst einen Drift begrün-
dete, liegt aber in der ‚Konkurrenz‘ zwischen Verbvoranstellung infolge
der Finitumstellung (als pangermanische Eigenschaft) und den Voranstel-
lungsvarianten infolge der Alternative zwischen Rechts- und Links-
Lizenzierung. Der Wandel zu fixer Lizenzierung entspricht einer gramma-
tischen ‚Flurbereinigung‘ als Reduktion der Quellen für Verbumstellung,
oder mit anderen Worten, einer Vereinfachung des Verhältnisses zwischen
Linearisierung und syntaktischer Strukturierung. Es gibt viele Sprachen
des dritten Typs, aber darunter sind keine Sprachen mit obligater Finitum-
stellung.

7. Zusammenfassung
Die heutigen germanischen Sprachen sind, was die Verbalphrase betrifft,
jeweils entweder kopf-final (westgermanische OV-Sprachen) oder kopf-
initial (nordgermanische VO-Sprachen). Das ist Ergebnis eines syntakti-
schen Wandels. Der gemeinsame sprachliche Vorfahre war weder OV
noch VO, sondern vom dritten Typus, nämlich unterspezifiziert hinsicht-
lich des Richtungswertes von V°. Der Wandel wurde nicht durch mor-
phosyntaktischen Abbau angetrieben.
Der primäre Wandel ist der von ‚unterspezifiziert‘ zu ‚spezifiziert‘ im
Richtungswert des Verbums. Dieser Wandel ermöglichte zwei einander
ausschließende Implementierungswege, nämlich als links-lizenzierend
(OV) oder als rechts-lizenzierend (VO). Jede dieser Möglichkeiten setzt
einen Drift in Gange.
Wie wurde Deutsch OV? 29

Der nachhaltige Wandel, der zur Dialektspaltung führte, wird durch


die Auswirkung des jeweils fixierten Wertes auf die Verbabfolge in einfa-
chen Sätzen mit mehreren Verben (Auxiliaren, Quasi-Auxiliaren) getragen.
Die Option, die zu VO führt, besteht in der Bevorzugung der Verbvoran-
stellung, während die Option, die zu OV führt, eine Verbalkomplexbil-
dung auslöst, mit Stellungsvariationen im Komplex.
Was noch aussteht sind syntaxtheoretisch versierte, systematisch
sprachvergleichende empirische Studien zur Korrelation zwischen den Abfol-
gemustern von V° und Objekt (also V-O, O-V) einerseits und den Abfol-
gemustern der Verben andererseits, unter Berücksichtigung und analyti-
scher Eliminierung der maskierenden Faktoren, wie Finitumstellung im
eingeleiteten Satz. Diese Studien sind unabdingbar, um die Entschei-
dungsgrundlage zu festigen für die hier behauptete Trennung in bevorzug-
te Voranstellung (und damit für den Weg zu VO) und bevorzugte Verbal-
komplexbildung (und damit für den Weg zu OV). Für Altenglisch haben
Van Kemenade (1987) und Koopman (1990) bereits Grundlagen erarbei-
tet (s. auch Fischer u.a. 2000, 28). Erst wenn eine hinreichende Datenbasis
gegeben ist, lässt sich eine konklusive Argumentation erzielen.

Literatur

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30 Hubert Haider

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tionsschrift, Universität Tübingen.
Wurmbrand, Susi (2006), „Verb Clusters, Verb Raising, and Restructuring“, in: Martin
Everaert / Henk van Riemsdijk (Hrsg.), The Blackwell Companion to Syntax, Vol. V.,
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Anhang: Syntaktische Korrelate von OV bzw. VO


Was korreliert direkt mit OV?
• (nicht-finites) Verb folgt in der VP-Grundposition seinen nominalen
Aktanten (abgesehen von Ausklammerungsphänomenen wie heavy
NP shift):
[Obj Obj V]VP – *[Obj V Obj]VP – *[V Obj Obj]VP
• Abfolge der Aktanten ist variabel (‚freie‘ Wortstellung = Scramb-
ling)
• Partikel von Partikelverben ist präverbal (wenn nicht durch
V-Umstellung abgespalten)
• keine strukturell ausgezeichnete Subjektsposition, und daher
Wie wurde Deutsch OV? 31

• keine strukturell bedingten Subjektsepletiva


• V+Aux-Abfolge, mit Variation (wenn es eine Sprache mit Verbvor-
anstellung ist)
• kompakter Verbalkomplex, mit Stellungsvariation der Verben im
Komplex
Was korreliert direkt mit VO?
• (nicht-finites) Verb geht in der VP-Grundposition seinen Objekts-
aktanten voraus:
[V Obj Obj]VP – *[Obj V Obj]VP – *[Obj Obj V]VP
• Abfolge der Aktanten ist invariabel (‚fixe‘ Wortstellung)
• Partikel von Partikelverben ist postverbal
• ausgezeichnete strukturelle Subjektsposition, präverbal, und daher
• obligatorisches strukturelles Subjektsexpletiv
• Aux+V-Abfolge, ohne Variation
• kein Verbalkomplex; Adverbien auch zwischen den nicht-finiten
Verben: Aux-Adverb-V
• edge effect: Kopf der präverbalen Adverbialphrase muss adjazent
sein zur VP (vgl. Haider 2005)
Was korreliert mit dem dritten Typ XVX?
• Verbposition erscheint variabel:
• Es gibt neben OV- und VO-Abfolge auch die OVO-Abfolge, d.h.
[…. [VPObjekt [V Objekt]]]
• Abfolge der Aktanten vor der satzinternen V-Position ist variabel
(‚freie‘ Wortstellung = Scrambling), wie in OV (es sei denn, funk-
tionale Positionen sind damit bestückt, wie im Ungarischen)
• spezielle Subjektsposition nur dann, wenn konsequent das VO-
Muster instantiiert ist, und dann auch mit Expletivsubjekt (Expletiv
erscheint daher, als ob es fakultativ wäre)
• Aux-V-Abfolge und auch V-Aux-Abfolge (bei finitem und nicht-
finitem Aux), auch in Distanzstellung
• Verbalkomplexbildung ist fakultativ
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats
in Aussagesätzen in biblischen Textsorten
vom 9. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts

Franz Simmler (Berlin)

1. Forschungsstand, Problemstellung, Erkenntnisziel,


Materialgrundlage
Die Ermittlung von Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen
und anderen Satzarten wird in der Althochdeutschen Syntax von R.
Schrodt skeptisch beurteilt. Wegen lateinischer Vorlagen bzw. wegen der
Reimverwendung entstehe das Problem, die „wirklichen“, die „regelhaf-
te[n]“ und die „genuine[n]“ Serialisierungsregeln des Althochdeutschen zu
erkennen.1 Kommen Übereinstimmungen zwischen lateinischer Vorlage
und deutscher Übersetzung vor und zeigen sich dabei Abweichungen von
den in zur deutschen Gegenwartssprache in Grammatiken erfassten Seria-
lisierungsregeln, dann wird auf einen lateinischen Einfluss geschlossen,2 so
dass Serialisierungsregeln existieren, die nicht genuin seien:
(1a) et accesserunt ad eum discipuli eius (T, M, 133.31; Mt 5,1)3
(1b) Inti giengun tho zi Imo sine iungiron (T, M, 133.31)
(2a) .& tunc confitebor illis. (T, M, 163.30; Mt 7,23)
(2b) thanne gih ih in (T, M, 163.30)

_____________
1 Schrodt (2004, § S 183, 200).
2 Vgl. Maurer (1926, § 67ff.).
3 Zitiert wird die Tatianbilingue (= T) nach der Edition von Masser (1994) (= M) mit Seiten-
und Zeilenangabe. Zum besseren Vergleich der verschiedenen Textsortentraditionen wird
auch noch die Bibelstelle angegeben. Da eine syntaktische Analyse vorliegt, ist die
s-Graphie normalisiert; die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verän-
dert. Die Verba finita sind durch Fettdruck hervorgehoben.
34 Franz Simmler

(3a) ;Igitur ex fructibus eorum cognosc&is eos., (T, M, 163.18f.; Mt


7,20)
(3b) uuarlihho fon iro uuahsmen furstant& ir sie., (T, M, 163.18f.)
(4a) Sic omnis arbor bona ! fructus bonos facit., (T, M, 163.1f.; Mt
7,17)
(4b) So giuuelih guot boum guotan uuahsmon tuot. (T, M, 163.1f.)
So zeigen sich in den Beispielen (1) bis (4) im lateinischen Textteil (a) und
im deutschen Textteil (b) in Aussagesätzen in der Tatianbilingue Erst-,
Zweit-, Dritt- und Endstellungen des Prädikats, des Verbum finitum. Nur
die Übereinstimmungen in der Erst-, Dritt- und Endstellung werden als
nicht-genuin angesehen. Die Übereinstimmungen in der Zweitstellung
werden jedoch nicht auf einen lateinischen Einfluss zurückgeführt, da in
der Gegenwartssprache der Aussagesatz „gewöhnlich die Form des Verb-
zweitsatzes“ besitze4 und die Verbzweitstellung zu den „Sprachtypologi-
sche[n] Vorgaben“5 gehöre. Gegenwartssprachliche Abweichungen von
der Feldertypologie werden mit einem Vorvorfeld erklärt, das aber nicht
in die Serialisierungsregeln einbezogen wird und deren Elemente in ihrem
syntaktischen Status und in ihrer kommunikativen Funktion weder exakt
noch widerspruchsfrei erfasst sind.6 Die sprachtypologische Verengung
der Stellungsregularitäten im Aussagesatz in der deutschen Gegenwarts-
sprache bestimmt auch die Behandlung der historischen Überlieferungen
des Deutschen und führt zu einer Überschätzung des lateinischen Einflus-
ses auf die Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen.
Im Folgenden ist es daher das Erkenntnisziel, erstens den postulierten
lateinischen Einfluss auf das Deutsche einer Überprüfung zu unterziehen,7
zweitens die mit den Serialisierungsregeln verbundenen Textfunktionen
aufzuzeigen, da die grammatischen Phänomene in Texten und nicht in
isolierten Einzelsätzen vorkommen, und drittens im Hinblick auf die Se-
rialisierungsregeln sprachliche Entwicklungstendenzen aufzuzeigen.
Als Materialgrundlage wird aus der biblischen Übersetzungsliteratur
das Matthäus-Evangelium ausgewählt, das umfangreich in die Diatessa-
ron-Tradition einbezogen ist und auch in Übersetzungen des Neuen Tes-
taments und in Gesamtbibeln vollständig überliefert ist. Im Einzelnen
werden folgende Handschriften und Drucke berücksichtigt:

_____________
4 Gallmann (2005, 903).
5 Fritz (2005, 1133).
6 Dazu mit neuen Beispielen und in Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen
Prämissen Simmler (2008a); Wich-Reif (2008).
7 Dazu auch Dittmer / Dittmer (1998, 36).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 35

• Diatessaron-Traditionen
1. Tatianbilingue, lateinisch – althochdeutsch (Stiftsbibliothek St.
Gallen, Cod. 56) (9. Jh.) (= T + M)
2. Zürich, Zentralbibliothek, C 170 App. 56 (13. / 14. Jh.) (= Zü)
• Bibel-Traditionen
3. Luthers Septembertestament, Neues Testament, Wittenberg
1522 (= LS)
4. Zürcher Bilingue, Neues Testament, lateinisch – deutsch, Dru-
cker: Christoph Froschauer, Zürich 1535 (Zentralbibliothek Zü-
rich, Cod. III C 341) (= ZüD)
5. Die Bibel, Gesamtbibel, Stuttgart 1980 (= Einheitsübersetzung =
EÜ)
• Lateinische Traditionen
6. Erasmus von Rotterdam, Neues Testament, griechisch – latei-
nisch, Drucker: Iohannes Frobenius, Basel 1519 (VD 16 B 4197;
IDC No. HB-126) (= ER)
7. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart 4. Aufl. 1994 (=
Biblia)
Für die Fragestellung von besonderer Relevanz sind die Bilinguen Nr. 1
und Nr. 4, denen ein lateinischer Textteil beigegeben ist, der sich in Nr. 1
auf die Vulgata-Tradition (Nr. 7) und in Nr. 4 auf den Text des Erasmus
von Rotterdam stützt (Nr. 6). Der Text von Erasmus von Rotterdam liegt
auch Luthers Septembertestament (Nr. 3) zugrunde. Die Übersetzung von
Luther ist über einen Zürcher Nachdruck von 1524 auch die Grundlage
des deutschen Textteils der Zürcher Bilingue (Nr. 4).8
In der Untersuchung konzentriere ich mich auf die Tatianbilingue
(Nr. 1), Luthers Septembertestament (Nr. 3) und die Zürcher Bilingue
(Nr. 4). Ein Ausblick wird auf die Einheitsübersetzung (Nr. 5) und beson-
dere Serialisierungsregeln im Frühneuhochdeutschen Prosaroman und in
Romanen der Gegenwartssprache gegeben. Die lateinischen Texte des
Erasmus von Rotterdam (Nr. 6) und der Vulgata (Nr. 7) werden bei Be-
darf herangezogen.

_____________
8 Vgl. Simmler (2008b).
36 Franz Simmler

2. Unterschiede zwischen lateinischen und deutschen


Serialisierungsregeln und ihre Textfunktionen
2.1. Erststellung des Prädikats im Deutschen

Abweichend von der lateinischen Textgrundlage kommen in der deutsch-


sprachigen Überlieferung folgende Erststellungen des Prädikats vor:
(5a) cum uenissent ergo qui circa undecimam horam uenerant
acceperunt singulos denarios (T, M, 371.23-25; Mt 20,9)
(5b) tho thie quamun thiedar umbi thia einliftun zit quamun
Intfiegun suntrigon phenninga (T, M, 371.23-25)
(5c) Do kamen / die umb die eylfften stund gedinget waren / und
empfieng ein iglicher seynen grosschen. (LS, Bl. XVIr, Z. 32f.)9
(5d) Et cum uenissent quia circa undecimam horam uenerant, acce-
perunt singuli denarium. (ZüD, 48a, Z. 9-12)10
(5e) Do kamend die vmb die eylfftenn stund gedinget warend / vnnd
empfieng ein yetlicher seinen groschen. (ZüD, 48b, Z. 10-14)
(5f) Et cum uenissent qui circa undecimam horam uenerant, accepe-
runt singuli denarium. (ER, 44b, Z. 24-26)
(5g) cum venissent ergo qui circa undecimam horam venerant
acceperunt singulos denarios (Biblia, 1556)
(5h) Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben
hatte, und jeder erhielt einen Denar. (EÜ, 1101)
(6a) tamquam ad latronem existis cum gladiis et fustibus
comprehendere me cotidie apud uos eram docens in templo (T,
M, 607.18-22; Mt 26,55)
(6b) samaso zi thiobe giengut ir mit suerta Inti mit stangon mih
zifahanne gitago uuas ich mit iu lerenti in themo temple (T, M,
607.18-22)

_____________
9 Da eine syntaktische Untersuchung vorliegt, wurden auch bei den Textexemplaren Nr. 2,
4f. und 7 verschiedene s- und r -Graphien vereinheitlicht, übergeschriebene Buchstaben
wurden nachgestellt, diakritische Zeichen über <y> weggelassen und Abkürzungen aufge-
löst. Die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verändert. Zitiert wird je-
weils nach der originalen Blatt- oder Seitenzählung und der Zeilenanzahl; r = recto, v =
verso.
10 In ZüD wird zusätzlich die Spalte angegeben; a = linke Spalte, b = rechte Spalte.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 37

(6c) yhr seytt aus gangen als zu eynem morder / mit schwerdten vnd
mitt stangen / mich zu fahen / bynn ich doch teglich gesessen
vnd hab geleret ym tempel / (LS, Bl. XXIIv, Z. 19-21)
(6d) Tanquam ad latronem existis cum gladijs et fustibus ad
comprehendum me: quotidie apud uos sedebam docens in
templo (ZüD, 94a, Z. 26-31)
(6e) Ir sind auszgangen als zuo einem moerder mit schwaerten vnd
mit stangen mich zefahenn / bin ich doch taeglich gesaessen
vnd hab geleert im tempel / (ZüD, 94b, Z. 28-32)
(6f) Wie gegen eien Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln
ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag saß ich im
Tempel und lehrte, (EÜ, 1111)
(7a) Et terra mota est et petre scissae sunt et monumenta aperta sunt
et multa corpora sanctorum qui dormirant surrexerunt. (T, M,
647.21-27; Mt 27,51f.)
(7b) Inti erda girourit uuas Inti steina gislizane uuarun Inti grebir uur-
dun giofanotu Inti manage lihhamon thiedar sliefun erstuontun.
(T, M, 647.21-27)
(7c) vnd die erde erbebete / vnd die felsen zu ryssen / vnd die greber
thetten sich auff / vnd stunden auff viel leybe der heyligen / die
da schlieffen / (LS, Bl. XXIIIIr, Z. 17-19)
(7d) et terra motra est, et petrae scissae sunt, et monumenta aperta
sunt, et multa corpora sanctorum, qui dormierant, surrexerunt,
(ZüD, 101b, Z. 9-13)
(7e) Vnd die erd erbidmet / vnd die velsen zerrisssend / vnnd die
greber thettend sich auf / vnnd stuondend auf vil leyb der hey-
ligen die da schlieffend. (ZüD, 101a, Z. 9-14)
(7f) Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffne-
ten sich, und die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren,
wurden auferweckt. (EÜ, 1114)
In der Beispielgruppe (5) ist in den deutschsprachigen Textteilen ein un-
terschiedliches Verhalten gegenüber der lateinischen Vorlage zu erkennen.
In den Beispielen (5a) und (5b) befinden sich die Verba finita acceperunt
und Intfie(n)gun in Zweitstellung, die Serialisierungen des Prädikats ent-
sprechen sich. Das erste Satzglied ist von einem Temporalsatz besetzt,
dessen Subjekt in (5a) aus einem Subjektsatz besteht; in (5b) ist das Sub-
jekt thie, das durch einen Attributsatz erweitert ist. In Verbindung mit den
38 Franz Simmler

Verba finita acceperunt und Intfie(n)gun ist ein Subjekt syntaktisch nicht reali-
siert. Dieses fehlt jedoch nicht,11 sondern die Subjektinformation ist auf-
grund der spezifischen morphologischen Struktur des Lateinischen und
des Althochdeutschen durch die Personkategorie in der finiten Verbform
ausgedrückt und muss daher nicht immer durch ein eigenes Satzglied aus-
gedrückt werden.12 In Luthers Septembertestament (5c) ist das Subjekt ein
iglicher realisiert und befindet sich in Zweitstellung nach dem Prädikat
empfieng, das die erste Position einnimmt. Diese Serialisierung bleibt in der
Zürcher Bilingue (5e) erhalten. In der Einheitsübersetzung (5h) wird die
Zweitstellung des Prädikats eingeführt. Mit der Änderung der Serialisie-
rung des Prädikats ist in (5c) gegenüber (5b) ein anderer Gesamtsatzauf-
bau verbunden. In (5c) liegt eine Hypotaxe aus Hauptsatz 1 – Nebensatz
(einem Subjektsatz zum Verbum finitum kamen des ersten Hauptsatzes) –
Hauptsatz 2 vor, in (5b) eine Hypotaxe aus einem Nebensatz 1 (einem
Temporalsatz), einem Nebensatz 2 (einem Attributsatz zum Nukleus thie,
dem Subjekt des Temporalsatzes) und einem Hauptsatz.
In der Beispielgruppe (6) existieren Serialisierungsunterschiede auch
zwischen der lateinischen Vorlage und der althochdeutschen Übersetzung.
Im Lateinischen befinden sich eram (6a) und sedebam (6d) in Drittstellung.
Diese wird im Althochdeutschen nicht übernommen; uuas hat eine Zweit-
stellung (6b), und zusätzlich ist mit ih ein syntaktisch realisiertes Subjekt
vorhanden, das im Lateinischen durch die morphologische Struktur signa-
lisiert ist. Noch stärker von der lateinischen Vorlage weicht Luther ab, der
die Erststellung des Verbum finitum bynn einführt (6c), was von der Zür-
cher Bilingue übernommen wird (6e). In der Einheitsübersetzung (6f)
erscheint wieder die Zweitstellung.
In der Beispielgruppe (7) stimmen die Serialisierungen im Lateinischen
und Althochdeutschen wieder überein; die Prädikate surrexerunt (7a) und
erstuontun (7b) befinden sich in Zweitstellung; ihnen geht jeweils ein Sub-
jekt voraus, dessen Nukleus um einen Attributsatz erweitert ist. Luther
stellt wiederum das Prädikat stunden auff an die erste Position (7c), gefolgt
vom Subjekt viel leybe der heyligen. Die Zürcher Bilingue folgt gegen den
selbst verwendeten lateinischen Textteil (7d) im deutschen Textteil (7e)
erneut Luther. In der Einheitsübersetzung (7f) ist die Zweitstellung des
Prädikats vorhanden.
Die Beispielgruppen zeigen exemplarisch, dass die Erststellung von
Prädikaten im Lateinischen und Deutschen vorkommt (1a, 1b) und sich
das Althochdeutsche am stärksten in der Serialisierung an das Lateinische
anlehnt, ohne jedoch davon sklavisch abhängig zu sein (vgl. 6b mit 6a).
_____________
11 So Schrodt (2004, § S 186), bei Imperativ- und Wunschsätzen.
12 Vgl. Simmler (1997, 107ff.).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 39

Die Erststellung des Prädikats mit folgendem Subjekt erweist sich als eine
Serialisierung, die auch das Lateinische verwendet, die aber im Deutschen
unabhängig von einer lateinischen Vorlage eingesetzt wird. Sie ist daher als
genuine Serialisierungsregel des Deutschen anzusehen13 und ist nicht ein-
fach eine unmittelbare „Fortführung der idg. Verhältnisse“.14 Sie besitzt
eine spezifische Textfunktion, die über die bisher erwähnte „satzverknüp-
fende und emphatische Funktion“15 hinausgeht. Ihre Textfunktion wird in
der Verbindung von Teilsätzen innerhalb von Gesamtsätzen realisiert und
besteht darin, einen unmittelbaren Anschluss an eine vorausgehende
Handlung herzustellen und mit syntaktischen Mitteln einen Handlungszu-
sammenhang herzustellen. In (5c) wird so die großzügige und überra-
schende Entlohnung hervorgehoben, in (6c) der Widerspruch zwischen
der Art der Gefangennahme Christi und seinem öffentlichen Auftreten im
Tempel und in (7c) der Zusammenhang zwischen natürlichen Ereignissen
und der übernatürlichen Auferstehung der Heiligen. Dieser syntaktisch
markierte Zusammenhang geht in der Einheitsübersetzung in (6f, 7f)
durch die Übersetzung mit jeweils zwei Gesamtsätzen verloren und ist nur
inhaltsseitig aus der Abfolge der Gesamtsätze herzuleiten.

2.2. Drittstellung des Prädikats im Deutschen

Eine von der lateinischen Vorlage abweichende Drittstellung des Prädikats


in der deutschsprachigen Überlieferung zeigt sich in folgenden Beispielen:
(8a) Sic omnis arbor bona ! fructus bonos facit., (T, M, 163.1f.; Mt
7,17)
(8b) So giuuelih guot boum guotan uuahsmon tuot. (T, M, 163.1f.)
(8c) Also eyn iglicher guter bawm bringt gutte fruchte / (LS, Bl. Vv,
Z. 30f.)
(8d) Sic omnis arbor bona fructus bonos facit: (ZüD, 20a, Z. 13-15)
(8e) Also ein yetlicher guoter baum bringt guote frucht / (ZüD, 20b,
Z. 15-17)
(8f) Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, (EÜ, 1083)
(9a) et nemo mittit uinum nouum in utres ueteres alioquim rumpet
uinum nouum utres. (T, M, 199.11-14; Mt 9.17 und Mc 2.22)
_____________
13 Zu weiteren Beispielen Simmler (2007, 61f.).
14 Schrodt (2004, § S 184).
15 Ebd.
40 Franz Simmler

(9b) neque mittunt vinum novum in utres veteres alioquin rumpun-


tur utrres et vinum effunditur et utres pereunt (Mt 9,17; Biblia,
1538)
(9c) et nemo mittet vinum novellum in utres veteres alioquin dis-
rumpet vinum utres et vinum effunditur et utres peribunt (Mc
2,22; Biblia, 1577)
(9d) Inti nioman sentit niuuan uuin in alte belgi elles brihhit ther niu-
ua uuin thie belgi (T, M, 199.11-14)
(9e) Man fasset auch nit den most ynn alte schleuche / anders die
schleuche zu reyssen / vnd der most wirtt verschutt / (LS, Bl.
VIIr, Z. 22f.)
(9f) Neque mittunt uinum nouum in utres ueteres, alioque rumpun-
tur utres, et uinum effunditur, et utres pereunt, (ZüD, 26a, Z.
23-26)
(9g) Man fasset auch nit den most in alte schleüch / anders die schle-
üch zerreyssennd / vnd der most wirdt verschütt: (ZüD, 26b,
Z. 25-28)
(9h) Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen
die Schläuche, der Wein läuft aus, und die Schläuche sind un-
brauchbar. (EÜ, 1085)
(10a) Quia si in tyro et sidone facte fuissent uirtutes quae facte sunt in
uobis olim in cilicio et cinere poenitentiam egissent., (T, M,
219.12-16; Mt 11,21)
(10b)bithiu oba in tyro inti in sidone gitanu uuarin megin thiu in iu gi-
tanu sint forn in haru inti in ascun riuua tatin., (T, M, 219.12-16)
(10c) weren solche thatten zu Tyro vnd zu Sidon geschehen / als bey
euch geschehen sind / sie hetten vortzeytten ym sack vnnd ynn
der asschen bussz than / (LS, Bl. IXr, Z. 19-21)
(10d) quoniam si in urbe Tyri aut Sidonis factae fuissent uirtutes, quae
facte sunt in uobis, olim in facto et cinere scelerum suorum poe-
nitentiam egissent. (ZüD, 34a, Z. 23-28)
(10e) waerend soeliche thaten zuo Tyro und zuo Sidon geschehen / als
bey euch geschehen sind / sy hettend vor zeytenn im sack vnd
in der aeschen buosz gethon. (ZüD, 34b, Z. 26-31)
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 41

(10f) Wenn einst in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären,
die bei euch geschehen sind – man hätte dort in Sack und Asche
Buße getan. (EÜ, 1088)
(11a) Ideo omnis scriba doctus in regno celorum similis est homini pa-
tri familia (T, M, 241.26-28; Mt 13,52)
(11b)bithiu giuuelih bouhhari gelerter in rihhe himilo gilih ist manne
fateres hiuuiskes (T, M, 241.26-28)
(11c) Darumb eyn iglicher schrifftgelerter der zum hymelreych gelert
ist / ist gleich eynem haus vatter / (LS, Bl. XIv, Z. 29f.)
(11d) Propterea omnis scriba doctus ad regnum coelorum, similis est
homini patrifamilias, (ZüD, 45b, Z. 28-31)
(11e) Darumb ein yetlicher gschrifftgelerter der zum himmelreych ge-
leert ist / ist gleych einem hauszuatter / (ZüD, 45a, Z. 29-32)
(11f) Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreichs ge-
worden ist, gleicht einem Hausherrn, (EÜ, 1093)
(11g) Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden
ist, gleicht also einem Hausherrn – Also gleicht jeder Schriftge-
lehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem
Hausherrn
(12a) qui ergo iurat In altare iurat In eo et In omnibus quae super illud
sunt. (T, M, 499.31-501.3; Mt 23,20)
(12b)thiede suerit in themo alttere ther suerit In themo Inti in allen
thiu dar obar Imo sint (T, M, 499.31-501.3)
(12c) darumb / wer do schweret bey dem alltar / der schweret bey
dem selben vnnd bey allem das droben ist / (LS, Bl. XIXr, Z. 20-
22)
(12d) Qui ergo iurauerit per altare, iurat per ipsum, et per omnia quae
super illud sunt. (ZüD, 78a, Z. 36- 79b, Z. 1)
(12e) Darumb waer da schweert bey dem Altar / der schweert bey
dem selben / vnd bey allem das darauff ist. (ZüD, 78b, Z. 39-
79a, Z. 1)
(12f) Wer beim Altar schwört, der schwört bei ihm und bei allem, war
darauf liegt. (EÜ, 1105)
(13a) amen amen dico tibi quia haec nocte antequam gallus cantet ter
me negabis (T, M, 565.16-19; Mt 26,34)
42 Franz Simmler

(13b)uuar uuar quidu ih thir uuanta In theru naht er thanne hano singe
thriio stunt forsehhis mih (T, M, 565.16-19)
(13c) warlich ich sage dyr / ynn dyser nacht / ehe der hane krehet /
wirstu meyn drey mal verleugnen / (LS, Bl. XXIIr, Z. 25-27)
(13d) Amen dico tibi, quod in hac nocte antequam gallus cantet, ter me
negabis. (ZüD, 92a, Z. 25-28)
(13e) Warlich ich sag dir / In diser nacht ee der Han kraeyet / wirst
du mein drey mal verlougnen. (ZüD, 92b, Z. 28-31)
(13f) Amen, ich sage dir: In dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht,
wirst du mich dreimal verleugnen. (EÜ, 1110)
(13g) In dieser Nacht wirst du mich dreimal verleugnen, noch ehe
der Hahn kräht. – Noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich in
dieser Nacht dreimal verleugnen.
(13h)In dieser Nacht noch vor dem Hahnenkrähen wirst du mich
dreimal verleugnen. – In dieser Nacht wirst du mich noch vor
dem Hahnenkrähen dreimal verleugnen.
(14a) Centurio autem et qui cum eo erant custodientes ihesum uiso
terre motu et his quae fiebant timuerunt uualde glorificantes
(deum) et dicentes hic homo iustus est uero dei filius. (T, M,
649.1-9; Mt 27,54)
(14b)ther hunteri Inti thie mit imo uuarun bihaltenti then heilant ge-
sehenemo erdgirournessi Inti then dar uuarun forhtun in thrato
got diurisonti Inti quedenti theser man rehtliho ist uuarliho
gotessun. (T, M, 649.1-9)
(14c) Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Je-
sus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was ge-
schah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, das war
Gottes Sohn! (EÜ, 1114)
In der Beispielgruppe (8) wird die Endstellung des Prädikats in (8a) und
(8b) von Luther (8c) in eine Drittstellung verändert. Dies behält die Zür-
cher Bilingue (8e) gegen die beigegebene lateinische Textgrundlage (8d)
bei.
In der Beispielgruppe (9) befindet sich das Prädikat in den lateinischen
Traditionen (9a-c, 9f) und im deutschen Textteil der Tatianbilingue (9d) in
Zweitstellung, während es bei Luther (9e) und in der Zürcher Bilingue
(9g) die Drittstellung einnimmt. Obwohl nach dem Verbum finitum in
(9e) kein Satzglied mehr folgt, handelt es sich nicht um einen eindeutigen
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 43

Beleg für eine Endstellung. Methodisch sind die Satzglieder vom Beginn
des isoliert gebrauchten einfachen Satzes bzw. des Teilsatzes durchzu-
nummerieren; in diesem Falle befindet sich zu reyssen in dritter Position.
Auch bei Sätzen wie Er schläft und Er trinkt kommt niemand auf den Ge-
danken, eine Endstellung anzusetzen. Eine Endstellung ist bei einer Vari-
abilität der Serialisierungsregeln wie im Althochdeutschen zwingend erst
dann gegeben, wenn sich mehrere Satzglieder vor dem Verbum finitum
befinden und auch der Vergleich zum Lateinischen die Interpretation
stützt.
In der Beispielgruppe (10) zeigen sich bis zur Zürcher Bilingue diesel-
ben Serialisierungsregeln wie in der Beispielgruppe (8). Der Unterschied
besteht darin, dass die erste Satzgliedposition in Luthers Septembertesta-
ment (10c) von einem Konditionalsatz, der um einen Komparativsatz
erweitert ist, besetzt ist. Diese Konstruktion wird in der Einheitsüberset-
zung beibehalten (10f): An die Stelle des Komparativsatzes tritt ein Attri-
butsatz, die Drittstellung des Verbum finitum hätte wird beibehalten; der
Konditionalsatz wird vom folgenden Hauptsatz durch einen Gedanken-
strich abgegrenzt. Dadurch wird die im Hauptsatz gegebene Schlussfolge-
rung durch eine Interpungierung und die Drittstellung des Verbum fini-
tum besonders hervorgehoben.
In der Beispielgruppe (11) hängt die Bestimmung der Satzgliedposi-
tionen davon ab, ob das Prädikativum als Satzglied gewertet wird oder
nicht; die unterschiedlichen Serialisierungen im Lateinischen und Deut-
schen sind jedoch von dieser Entscheidung nicht betroffen. Wird das
Prädikativum als Satzglied gewertet, dann nehmen est in (11a) und ist in
(11b) eine Viertposition ein; wird das Prädikativum als Teil des Prädikats
verstanden, liegen in similis est (11a) und gilih ist (11b) Drittpositionen vor
mit der Abfolge Prädikativum plus Kopula. Bei einer Wertung als Satz-
glied befindet sich ist bei Luther (11c) und in der Zürcher Bilingue (11e) in
Drittposition und das Prädikativum in Viertposition. Wird eine Wertung
als Satzgliedteil vorgenommen, ist das Prädikat in Drittstellung mit der
Abfolge Kopula plus Prädikativum. In der Einheitsübersetzung (11f)
hängt die Ermittlung der Serialisierung von der syntaktischen Wertung
von also ab. Wird es aufgrund der positionellen Nähe zu Schriftgelehrte als
postnukleares Adverb-Attribut aufgefasst, mit der textuellen Funktion,
eine vorausgegangene Argumentation weiterführend wieder aufzunehmen,
dann befindet sich gleicht in Zweitstellung. Werden Permutationen wie in
(11g) akzeptiert, müsste von einer Drittstellung ausgegangen werden mit
einer Fernstellung des Attributsatzes zum Nukleus Schriftgelehrte.
In der Beispielgruppe (12) befindet sich das Prädikat in der lateini-
schen Vorlage (12a) und in der althochdeutschen Übersetzung (12b) in
Zweitstellung, die erste Position wird von einem Subjektsatz eingenom-
44 Franz Simmler

men. Bei Luther (12c) kommt das Prädikat in Drittstellung vor, weil dem
Subjektsatz ein Adverbiale darumb vorangestellt wird, das in der lateini-
schen Vorlage (12d) kein Äquivalent besitzt. Diese Struktur wird in der
Zürcher Bilingue (12e) beibehalten. In allen deutschsprachigen Überset-
zungen wird der Subjektsatz durch ein Demonstrativum wieder aufge-
nommen. In der Einheitsübersetzung (12f) wird auf das Adverbiale ver-
zichtet, so dass das Prädikat wieder die Zweitstellung einnimmt.
In der Beispielgruppe (13) liegen unterschiedliche lateinische Kon-
struktionen vor, in (13a) ein Kausalsatz und in (13d) ein Objektsatz. In
beiden Fällen befindet sich das Prädikat negabis in Endstellung. In der
Tatianbilingue (13b) nimmt das Prädikat forsehhis im koordinierten Kausal-
satz die Viertposition ein. Ihm gehen zwei temporale Informationen vor-
aus, ein Temporaladverbiale In theru naht und ein Temporalsatz er thanne
hano singe, und ein Modaladverbiale thriio stunt. Der Temporalsatz hat dabei
die Funktion, die allgemeine Zeitangabe des Temporaladverbiales zu prä-
zisieren. Bei Luther (13c) nimmt das Verbum finitum die Drittstellung ein;
die beiden temporalen Informationen bleiben vor dem Verbum finitum
stehen, das Modaladverbiale wird in die Satzklammer aus Verbum finitum
und infinitum integriert. Diese Struktur wird in der Zürcher Bilingue (13e)
beibehalten und findet eine Kontinuität in der Einheitsübersetzung (13f).
Die unterschiedlichen Funktionen der temporalen Informationen und ihr
Satzgliedstatus bzw. ihre Rückführbarkeit auf ein Satzglied lassen sich
durch Permutationen (13g) und Substitutionen (13h) nachweisen.
Die Drittstellung des Prädikats ist in lateinischen Vorlagen und in
deutschen Übersetzungen vorhanden (3a, 3b). Sie kommt aber auch un-
abhängig vom Latein vor, so dass auch bei der Drittstellung von einer
genuinen Stellungsregularität des Deutschen ausgegangen werden muss.
Wenn es von der lateinischen Vorlage unabhängige Drittstellungen des
Prädikats gibt, dann spricht auch nichts dagegen, in gemeinsamen Dritt-
stellungen wie in (3a vs. 3b) und (14a vs. 14b) ebenfalls Serialisierungsre-
geln beider Sprachen zu erkennen. Am häufigsten werden lateinische
Endstellungen in Drittstellungen verändert (8a vs. 8c, 10a vs. 10c, 13a vs.
13c); aber auch lateinische Zweitstellungen werden in Übersetzungen in
Drittstellungen wiedergegeben (9a vs. 9c, 12a vs. 12c). Die Tatianbilingue
folgt am häufigsten der Vorlage, verändert aber einmal eine Endstellung in
eine Viertstellung (13a vs. 13b), einmal wird die Abfolge von Prädikativum
plus Kopula umgestellt (11a vs. 11b). Wenn es von der lateinischen Vorla-
ge unabhängige Drittstellungen des Prädikats gibt, dann spricht auch
nichts dagegen, in gemeinsamen Drittstellungen (wie in 3a und 3b) eben-
falls Serialisierungsregeln beider Sprachen zu erkennen (vgl. ferner Bei-
spielgruppe 14). Es ist also nicht so, dass es für eine „in der Literatur gele-
gentlich erwähnte grammatische Drittstellung im Aussagesatz […] keine
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 45

sicheren Belege“ gebe.16 In der Tradition der Textsorte (Geoffenbarter) Be-


richt lassen sich auch in der Gegenwartssprache Drittpositionen belegen
(10f, 13f, 11f unter bestimmten Voraussetzungen). Unter textuellem As-
pekt befinden sich in der historischen Tradition viermal Adverbialen in
Erstposition (8c, 9e, 11e, 12c). Sie nehmen einen begründenden Anschluss
an vorausgegangene Ausführungen vor. Zweimal werden mit einem Kon-
ditionalsatz plus Subjekt (10c) und einem Temporaladverbiale plus einem
Temporalsatz (13c) die Ausgangssituationen für die folgenden Ausführun-
gen spezifiziert.

3. Viertstellung und Endstellung des Prädikats


im Deutschen und Lateinischen
Eine Viertstellung des Prädikats im Lateinischen und Deutschen kommt
in folgenden Belegen vor:
(15a) .qui solem suum oriri facit super malos et bonos., (T, M,
145.28f.; Mt 5,45)
(15b).ther the sunnun ufgangen tuot ubar ubile inti ubear guote (T, M,
145.28f.)
(15c) ego autem dico uobis., Diligite inimicos uestros. benefacite his
qui uos oderunt. et orate pro persequentibus et calumniantibus
uos ut sitis filii patris uestri qui in caelis est. qui solem suum oriri
facit super malos et bonos., et pluit super iustos et iniustos., (T,
M, 145.21-30; Mt 5,44f.)
(15d) ih quidu íu minnot iuuara fiianta tuot then uuola thei íuuih haz-
zont Inti betot furi thie áhtenton Inti harmenton íu thaz ír sít
kind iuuares fater ther in himile ist. Ther the sunnun úfgangen
tuot ubar ubile inti ubar guote Inti reganot ubar rehte inti ubar
únrehte (T, M, 145.21-30)
(15e) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch
verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet;
denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und
er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (EÜ, 1081)
(15f) Denn er lest seyn Sonne auff gehen vbir die bosen vnd vbir die
gutten / (LS, Bl. IIIIv, Z. 5f.)

_____________
16 Schrodt (2004, § S 188.3, S 202, Anm. 1); zu weiteren Beispielen Simmler (2007, 60).
46 Franz Simmler

(15g) quia solem suum exoriri finit super malos ac bonos (ZüD, 14a,
Z. 33f.)
(15h)Dann er laszt sein Sonn aufgon über die boesen vnd über die
guoten / (ZüD, 14b, Z. 35-37)
(16a) nouissime autem omnium et mulier defuncta est. (T, M, 429.9f.;
Mt 22,27)
(16b)tho zi iungisten allero thaz uuib arstarb. (T, M, 429.9f.)
(16c) zu letzt nach allen starb auch das weyb. (LS, Bl. XVIIIr, Z. 43f.)
(16d) Nouissime autem omnium defuncta est et mulier. (ZüD, 75b,
Z. 29-31)
(16e) zuo letst nach allem starb auch das weyb. (ZüD, 75a, Z. 33f.)
(16f) Als letzte von allen starb die Frau. (EÜ, 1104)
(17a) Statim autem post tribulationem dierum illorum. sol obscurabi-
tur et luna non dabit lumen suum (T, M, 519.22-25; Mt 24,29)
(17b)sliumo after arbeiti thero tago. sunna uuirdit bifinstrit inti mano
nigibit sin lioht (T, M, 519.22-25)
(17c) Bald aber nach dem trubsall der selbigen tzeyt / werden sonn
vnd mond den scheyn vorlieren / (KS, Bl. XXr, Z. 22f.)
(17d) Statim autem post afflictionem dierum illorum sol obscurabi-
tur,et luna non dabit lumen suum (ZüD, 83b, Z. 13-16)
(17e) Bald aber nach dem truebsal der selbigenn zeyt werdend Sonn
vnd Mon den scheyn verlieren / (ZüD, 83a, Z. 15-18)
(17f) Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne ver-
finstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen (EÜ, 1107)
In der Beispielgruppe (15) hängt die Ermittlung der Serialisierungsregeln
des Prädikats vor allem in (15a) und (15b) von der Einbeziehung des Kon-
textes ab und von den Repräsentationstypen, die auf Satzbegrenzungen
hinweisen. Der relevante Kontext ist in (15c) und (15d) gegeben. Die Rep-
räsentationstypen Punkt (unten) plus Minuskel und Punktvirgel plus &
(= et) weisen in (15c) auf die Abfolge zweier isoliert gebrauchter einfacher
Sätze hin,17 die in der Abfolge der Satzglieder eine syntaktische Parallelität
besitzen. Das lat. qui befindet sich somit am Beginn eines neuen Satzes
und drückt eine kausale Funktion aus, die mit 'denn dieser' wiedergegeben
_____________
17 Vgl. Simmler (2007, 62).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 47

werden kann.18 Diese Inhaltsseite wird im Althochdeutschen durch ther


signalisiert, das sich somit als Demonstrativum 'dieser' und nicht als Rela-
tivum erweist.19 Wird dieser Argumentation gefolgt, dann befinden sich
die Verba finita facit und tuot in Viertstellung in einem isoliert gebrauchten
einfachen Satz. Auch Luther (15f) gibt die begründende Funktion des
Satzanschlusses wieder, indem er mit Denn einen neuen Gesamtsatz be-
ginnen lässt. Diese Struktur ist auch im deutschen Textteil der Zürcher
Bilingue vorhanden (15h), obwohl im lateinischen Textteil die Begrün-
dung mit der Subjunktion quia eingeleitet wird und somit ein hypotakti-
scher Kausalsatz vorliegt (15g). Anders als in der Tatianbilingue befindet
sich das Prädikat bei Luther und im deutschen Textteil der Zürcher Bilin-
gue in Zweitstellung, die auch in der Einheitsübersetzung (15e) vorhanden
ist.
In der Beispielgruppe (16) ist im Gegensatz zur Beispielgruppe (15) in
(16a) und (16b) von einer Endstellung des Prädikats auszugehen, da kein
weiteres Satzglied mehr folgt. Wiederum entsprechen sich die Endstellun-
gen im Lateinischen und Deutschen, und wiederum wird diese Serialisie-
rung von Luther aufgegeben. Bei Luther ist eine Drittstellung vorhanden
(16c). Diese zeigt sich auch in der Zürcher Bilingue sowohl im deutschen
(16e) als auch im lateinischen Textteil (16d). Durch beide Überlieferungen
wird die Anzahl der Belege mit Drittstellung erhöht. In der Einheitsüber-
setzung (16f) ist das Prädikat in Zweitstellung.
Eine Endstellung des Prädikats kann auch in (17a) und (17b) nachge-
wiesen werden. Seit Luther liegt eine Zweitstellung vor (17c), wobei je-
doch zu beachten ist, dass er aus den zwei Teilsätzen der lateinischen Tra-
ditionen (17a, 17d) einen einzigen Teilsatz bildet.
Die Beispiele zeigen, dass die Viertstellung des Prädikats nur im Latei-
nischen und Althochdeutschen zu belegen ist. Dabei entsprechen sich die
Serialisierungsregeln in beiden Sprachen weitgehend. Allerdings wird ein-
mal eine lateinische Endstellung in der Tatianbilingue durch eine Viertstel-
lung wiedergegeben (13b), die sich somit – wenn auch in geringer Fre-
quenz – als genuine Stellungsregularität erweisen dürfte. Ein anderer
Befund begegnet bei der Endstellung. Diese kann im Deutschen aus-
schließlich in der Tatianbilingue belegt werden und ist immer an die latei-
nische Vorlage gebunden, so dass – mit aller Vorsicht und mit Gültigkeit
nur für die untersuchte Tradition des Matthäus-Evangeliums – davon
ausgegangen werden könnte, dass die Endstellung des Prädikats in Aussa-
gesätzen im Althochdeutschen aus dem Lateinischen entlehnt wurde und

_____________
18 Vgl. Georges (1992, II, Sp. 2153).
19 Vgl. Schützeichel (2006, 72).
48 Franz Simmler

nicht zu den genuinen Stellungsregularitäten des Deutschen gehörte.20 Ein


eingeschränktes Verständnis des Satzinhalts ist mit der Entlehnung der
Endstellung des Prädikats nicht verbunden.

4. Textsortengebundene Entwicklungstendenzen
im Frühneuhochdeutschen
und in der Gegenwartssprache
4.1. Frühneuhochdeutscher Prosaroman (Melusine 1538)

Der in den Textexemplaren LS und ZüD ermittelte Befund gilt nicht ge-
nerell für die ganze frühneuhochdeutsche Sprachperiode. Im ‚Frühneu-
hochdeutschen Prosaroman‘ können im Textexemplar der Melusine von
1538,21 das auf ein französisches Versepos zurückgeht, neben der Erst-,
Zweit-, Dritt- und Viertstellung auch die Fünftstellung in geringer Fre-
quenz und die Endstellung in deutlich höherer Frequenz nachgewiesen
werden.22
(18) . Dardurch sich nun gar grosse klag zuo hoff erhuob / inn son-
derhait von der Graeuin vnd von jren kindern / […] (Au, Kap.
7, Bl. Cij/r, Z. 1921)23
(19) : Liebenn freünd eüwer gefangner bin ich auff heüt worden /
vnd beger das jr on auffzug ein schatzung ordnen woellent die
mir vermüglich vnd leidenlich sey / sollichs vmb eüwer fromm-
kait / mit anderen meinen freünden vnd günnern zuo allen zeyt-
ten beger ich zu verdienen. (Au, Kap. 25, Bl. Hij/r, Z. 4-9)
(20) . Das [der Schwur] er jr aber darnach nit hielt / darumb verlor er
sein schoene vnnd allerliebste frawen […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r,
Z. 4-6)
(21) . Ich hab jn inn dem wald verlorn / deszgleichen die andern den
merern theil auch sagen / […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r, Z. 10f.)
_____________
20 Zu Endstellungen im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ im Textexemplar der Melusine
von 1538, das auf eine französische Versfassung zurückgeht, vgl. Simmler (2009).
21 Benutzt wurde das Exemplar Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoenen Melusina
(1538), Augsburg, Drucker Heinrich Steiner (= VD 16 M 4470) aus der Stadt- und Univer-
sitätsbibliothek Augsburg, ab 4° Ink adl. 16 (zitiert als Au). Der Bibliothek danke ich herz-
lich für die Überlassung eines Mikrofilms.
22 Zu weiteren Belegen vgl. Simmler (2009).
23 Zitiert wird nach einer selbst eingeführten Kapitelnummerierung und nach der originalen
Blattzählung und der Zeilenzahl; r = recto, v = verso.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 49

(22) . Der Apt vnd das gantz couent / gieng jm entgegen / vnd wa-
rent seiner zuokunfft fro / die selb freüd aber schnell ein end
nam / dann Goffroy was grymmigs zorns vol / vnd sprach zuo
dem Apt vnd zuo jn allen. Ir vnseligen münch […] (Au, Kap. 40,
Bl. Nij/r, Z. 14-17)
Die Fünftstellung ist in der Autorenrede (18) und in der Figurenrde (19)
zu belegen. Eine besondere textuelle Funktion ist mit dieser Stellungsregu-
larität nicht verbunden.
Dies ist bei der Endstellung anders. Auch sie ist auf die Autorenrede
(20, 22) und die Figurenrede (21) verteilt. In einer Gruppe von Belegen ist
eine besondere Textfunktion vorhanden; sie tritt bei Erzählereinschaltun-
gen und moralisch zu verurteilenden Handlungen auf und hebt die dem
Verbum finitum vorangehenden Satzglieder besonders hervor. In (20)
wird mit dem Demonstrativum Das auf vorher Erzähltes verwiesen; die in
den folgenden Satzgliedern berichtete Handlung wird vom Erzähler nega-
tiv bewertet. In anderen Erzählereinschaltungen erweist sich der Erzähler
als allwissender Autor, indem er Erzählerbewertungen mit Vorausdeutun-
gen verbindet (22).

4.2. Romane der Gegenwart

In den beiden in einer umfangreicheren Untersuchung behandelten Ro-


manen der Gegenwart24 lassen sich ebenfalls Erst-, Zweit-, Dritt- und
Viertstellungen des Verbum finitum in Aussagesätzen belegen, aber keine
Fünft- und Endstellungen:
(23) Denn dies Rauschen ist nicht jetzt in der Zeit […] die Erde wird
schwanger werden durch das Manneswasser des Himmels und
wird dampfen und dünsten vor Lust, wie ich es rieche, und wer-
den die Anger voll Schafe sein und die Auen dick stehen im
Korn, dass man jauchzt und singt. (JB, 82)
(24) „Hure! Ein Wort. Trösten sich die tugendhaften alten Fräuleins
damit, die ihr neidisch sind. Hat auch die Königin Esther zuerst
nicht wissen können, ob sie nicht des Ahasverus Kebsweib
wird.“ (JS, 23)

_____________
24 Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart (erste Gesamtausgabe Stockholm
1948) (= JB); Feuchtwanger, Lion (2004), Jud Süß. Roman, Berlin (= JS). Zu umfangreiche-
rem Quellenmaterial und zu Detailargumentationen vgl. Simmler (2008a),; Simmler
(2008b).
50 Franz Simmler

(25) Sein Leben während der letzten fünfundzwanzig Jahre erschien


seinem feierlichen Sinnen im Lichte kosmischer Entsprechung,
[…] (JB, 117)
(26) Süß, nach einem langen Schweigen, meinte unvermittelt, […]
(JS, 197)
(27) Wirklich, ob Abram nun hoch und greisenschön wie Eliezer oder
vielleicht klein mager und krumm von Statur gewesen war, - auf
jeden Fall hatte er Mut bewiesen, […] (JB, 316)
(28) Endlich, bei Tafel, mit hundert Komplimenten verbrämt, be-
stellte er ihr den Befehl des Herzogs, sie habe die Residenz zu
verlassen, sich auf ihre Güter zurückzuziehen. (JS, 50)
In allen Beispielen25 sind in der Gegenwartssprache mit den Stellungsregu-
laritäten in den beiden Romanen spezifische Textfunktionen verbunden.
Die Erststellung (23f.) kennzeichnet einen unmittelbaren Anschluss an
vorhergehende Sätze. In den Gesamtsätzen (23) kommt bei Thomas
Mann noch eine weitere Textfunktion hinzu; die der inhaltsseitig begrün-
deten Zweiteilung der Gesamtsatzstruktur in zwei sich ergänzende oder
einander entgegengesetzte Aspekte; in (23) wird dem Regen seine frucht-
bringende Wirkung gegenübergestellt. Bei der Drittstellung kommt es
durch die Positionierung von Adverbialen zwischen Subjekt und Verbum
finitum (25f.) zu der Funktion, einzelne Begleitumstände von Handlungen
stärker auf das Subjekt der Handlungen zu beziehen. Bei der Viertstellung
(27f.) werden durch die Konzentration verschiedener Adverbialen vor
dem Verbum finitum die Ausgangssituationen und die externen Rahmen-
bedingungen für besondere Handlungen, Vorgänge und Ereignisse festge-
legt.

5. Ergebnisse
Aus der Untersuchung der Überlieferungstradition des Matthäus-Evange-
liums bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und aus dem Ausblick auf die
Überlieferung des ‚Frühneuhochdeutschen Prosaromans‘ können textsor-
tengebunden folgende Entwicklungstendenzen hergeleitet werden:
1. Die Erststellung des Prädikats in Aussagesätzen hat eine sprachli-
che Kontinuität bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und weiter bis in
die Gegenwartssprache. In der Tatianbilingue ergibt sich diese Se-
_____________
25 Vgl. Simmler (2008a); Simmler (2009).
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 51

rialisierungsregel aus der spezifischen morphologischen Struktur


der Verbformen. Bei Luther und in der Zürcher Bilingue ist ebenso
wie im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ und in den beiden
Romanen der Gegenwartssprache die Erststellung mit der spezifi-
schen Textfunktion des unmittelbaren Anschlusses an vorangehen-
de Handlungen verbunden. In der Einheitsübersetzung ist eine
Erststellung nicht mehr vorhanden.
2. Die Zweitstellung zeigt eine ungebrochene Tradition bis in die Ge-
genwart hinein. Ihre Frequenz wird durch Veränderungen anderer
Serialisierungsregeln ständig erhöht. Sie wird zur häufigsten, aber
nicht einzigen Serialisierungsregel; eine spezifische Textfunktion
wie bei den anderen Serialisierungsregeln existiert nicht. Mit der
Zweitstellung können jedoch besonders komplexe erste Satzglieder
verbunden werden, die in dieser Position eine spezifische Textfunk-
tion erfüllen.
3. Die Drittstellung des Prädikats besitzt eine ungebrochene Tradition
von der Tatianbilingue bis in die Gegenwart. Sie ist bei Luther und
in der Zürcher Bilingue ebenso wie im ‚Frühneuhochdeutschen
Prosaroman‘ und den beiden Romanen der Gegenwartssprache
produktiv. Durch die Drittstellung des Prädikats erhalten die beiden
ersten Satzglieder eine besondere textuelle Funktion. Sie geben bei
den biblischen Textsorten einen begründenden Anschluss an vo-
rausgegangene Ausführungen und spezifizieren die Ausgangssitua-
tion für die im Prädikat folgende Aussage. Im ‚Frühneuhochdeut-
schen Prosaroman‘ dominieren die Textfunktionen der Satzver-
knüpfung und der Chronologiesicherung, in den beiden Romanen
der Gegenwartssprache werden Ausgangsbedingungen für die im
Verbum finitum vollzogenen Handlungen markiert. Zur Einheits-
übersetzung hin nimmt die Frequenz der Drittstellung deutlich ab,
ohne jedoch vollständig zu verschwinden (10f, 11f). Auf die lateini-
sche Vorlage bezogen werden lateinische Endstellungen und Zweit-
stellungen durch Drittstellungen wiedergegeben.
4. Die Viertstellung kommt nur einmal unabhängig von der lateini-
schen Vorlage in der Tatianbilingue vor (13b) und besitzt in der
Textsortentradition des Matthäus-Evangeliums keine Kontinuität.
Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ ist mit der Viertstellung
keine besondere Textfunktion verbunden. In den Romanen der
Gegenwartssprache dagegen legen die Satzglieder vor dem Verbum
52 Franz Simmler

finitum die externen Rahmenbedingungen für besondere Handlun-


gen, Vorgänge und Ereignisse fest.
5. Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ sind – anders als in der
Tradition der biblischen Textsorten und in den Romanen der Ge-
genwartssprache – auch Fünft- und Endstellungen vorhanden. Mit
der Fünftstellung sind keine spezifischen Textfunktionen verbun-
den. Die Endstellung markiert dagegen mit den ihr vorausgehenden
Satzgliedern Erzählereinschaltungen und moralisch zu verurteilende
Verhaltensweisen. In der Tradition der biblischen Textsorten ist ei-
ne Endstellung nur in der Tatianbilingue in Anlehnung an die latei-
nische Vorlage vorhanden. Eine darüber hinausreichende Kontinui-
tät existiert in den biblischen Textsorten nicht.
6. Unter dem Aspekt der Genuinität von Serialisierungsregeln erwei-
sen sich im deutschen Aussagesatz in der Tradition des Matthäus-
Evangeliums die Serialisierungsregeln der Erst-, Zweit-, Dritt- und
in geringer Frequenz auch der Viertstellung als genuin. Die Endstel-
lung könnte im Althochdeutschen vom Lateinischen entlehnt sein;
da sie jedoch im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ vorhanden
ist, dürfte auch sie genuin sein.
7. Die sprachlichen Variabilitäten und die mit ihnen verbundenen
Textfunktionen sind in allen Sprachstufen des Deutschen bei den
Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen umfangreicher
und vielfältiger, als in Grammatiken dargestellt. Insgesamt herrscht
die Tendenz, die Variabilität bei gleicher Funktionalität zu reduzie-
ren und bei einer Kontinuität den Serialisierungsregeln textsorten-
gebunden immer spezifischere Textfunktionen zuzuweisen.

Quellen

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rich Steiner, aus der Stadt- und Universitätsbibliothek Augsburg, (VD 16 M
4470), Augsburg.
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ER = Erasmus von Rotterdam (1519), Neues Testament, griechisch – lateinisch, Drucker:
Iohannes Frobenius, (VD 16 B 4197; IDC No. HB-126), Basel.
EÜ = Die Bibel. Gesamtbibel (1980), Stuttgart.
JB = Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen 53

JS = Feuchtwanger, Lion (2004), Jud Süß. Roman, Berlin.


LS = Luthers Septembertestament, Neues Testament (1522), Wittenberg.
T, M = Masser, Achim (Hrsg.) (1994), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue. Stiftsbib-
liothek St. Gallen Cod. 56, unter Mitarbeit v. Elisabeth De Felip-Jaud, (Studien zum
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Deutsch, 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., (Duden 4), Mannheim, Leipzig, Wien,
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len zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter
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Schrodt, Richard (2004), Althochdeutsche Grammatik II. Syntax, Tübingen.
Schützeichel, Rudolf (2006), Althochdeutsches Wörterbuch, 6. Aufl., Tübingen.
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54 Franz Simmler

Simmler, Franz (2008a), „Serialisierungsregeln von Satzgliedern und Attributen in der


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Sonderheft. [im Druck]
Simmler, Franz (2008b), Synchrone lexikalische, syntaktische und makrostrukturelle Variabili-
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Waldemar Czachur / Marta Czyzewska / Agnieszka Frącek (Hrsg.), Wort und
Text. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Warszawa, 219-233.
VD = Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. VD
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Bezzel, 26 Bde., Stuttgart.
Wich-Reif, Claudia (2008), „Zur Relevanz des Vorvorfeldbegriffs in Gegenwart und
Geschichte“, in: Sprachwissenschaft, 33 / 2008, 173-209.
Obwohl vielleicht war es ganz anders
Vorüberlegungen zum Alter der Verbzweitstellung
nach subordinierenden Konjunktionen∗

Ulrike Freywald (Potsdam)

1. Einleitung
Bei der Diskussion von substandardsprachlichen Strukturen im heutigen
Deutsch stellt sich stets auch die Frage, ob es sich hierbei um Erscheinun-
gen sprachlichen Wandels oder aber um althergebrachte Strukturen han-
delt, die sich in nicht bzw. weniger stark normierten Varietäten mögli-
cherweise schon über lange Zeit erhalten haben. Da solche Muster erst
seit vergleichsweise kurzer Zeit diskutiert werden, besteht allgemein die
Gefahr, dass allein schon durch die Gewahrwerdung eines bestimmten
sprachlichen Phänomens (und die daraus resultierende erhöhte Aufmerk-
samkeit) dasselbe als quantitativ zunehmendes oder gar als neu entstande-
nes Phänomen empfunden wird. So wird etwa die Verwendung des Mo-
dalverbs brauchen mit reinem Infinitiv – vgl. (1) – gemeinhin als aktuelle
und sich ausbreitende Entwicklung wahrgenommen: „In den letzten Jahr-
zehnten hat sich die Tendenz immer mehr entwickelt, brauchen in Verbin-
dung mit folgendem Infinitiv ohne zu zu verwenden“ (Scaffidi-Abbate
1973, 1).
(1a) Vollverb brauchen
Sie braucht dringend neue Schuhe.
(1b) Modalverb brauchen
Sie braucht die neuen Schuhe nicht (zu) kaufen.

_____________
∗ Für Anregungen und Kommentare danke ich den Diskussionsteilnehmer/innen auf der
Tagung „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ im Mai 2008
in Graz sowie Horst Simon, der das Manuskript durchgesehen hat.
56 Ulrike Freywald

Gleichzeitig ist diese Verwendungsweise noch immer z.T. harscher


Sprachkritik ausgesetzt.1 Das Verb brauchen ist mit modaler Semantik be-
reits seit dem 16. Jh. nachweisbar und ist wohl aus dem entsprechenden
Vollverb hervorgegangen (vgl. Kolb 1964; Scaffidi-Abbate 1973; Lenz
1996); strukturell unterscheiden sich die Modalverb- und die Vollverbvari-
ante von brauchen zunächst darin, dass modales brauchen einen zu-Infinitiv
regiert, während das Vollverb brauchen eine Nominalphrase als Komple-
ment nimmt. Seit wann sich die Eingliederung ins System der Modalver-
ben auch formal in einer Angleichung an die syntaktischen und morpho-
logischen Merkmale der Modalverben manifestiert, seit wann also etwa
der Infinitivmarker zu ausgelassen wird, ist noch weitgehend unerforscht.2
Allzu neu kann diese Entwicklung jedenfalls nicht sein, schließlich wird sie
bereits von Wustmann (1908, 292) in seinen „Sprachdummheiten“ kons-
tatiert und als „gemeine[r] Provinzialismus“ bezeichnet. Andernorts ist bei
Wustmann zu lesen: „Bei brauchen darf natürlich zu beim Infinitiv nicht
fehlen. Das hättest du ja nicht sagen brauchen – ist Gassendeutsch“ (ebd.,
61). Zumindest in der gesprochenen Sprache ist brauchen ohne zu also
keineswegs so neu. Auch in literarischen Texten lassen sich seit Mitte des
19. Jahrhunderts vereinzelte Belege finden (vgl. etwa die Beispiele in Bech
1955, 210f. und Scaffidi-Abbate 1973, 5f.). Die Analyse eines rein schrift-
sprachlichen Korpus in Gelhaus (1969) hat ergeben, „daß in der gegen-
wärtigen deutschen Hochsprache der Infinitiv nach brauchen durchweg mit
zu angeschlossen wird“ (ebd., 317) und sich hier „ein nicht zu übersehen-
der Gegensatz zwischen gesprochener (Umgangs-)Sprache und geschrie-
bener (Hoch-)Sprache auf[tut]“ (ebd., 321). Der intuitiv plausible Unter-
schied zwischen Schrift- und Umgangssprache ist allerdings empirisch
bislang keineswegs nachgewiesen, da es „keine repräsentative Untersu-
chung für die Frage gibt, ob und wieweit in Mundart und Umgangsspra-
che der Infinitiv nach brauchen tatsächlich ohne zu angeschlossen wird“
(ebd., Anm. 41) – Gelhaus’ Einlassung hat m.W. ihre Gültigkeit bis heute
_____________
1 Erst jüngst wurde in den „Sprachnachrichten“, dem Vereinsblatt des Vereins Deutsche
Sprache, als Kriterium guten Sprachgebrauchs genannt, dass die Sprache die Regeln der
Grammatik und Orthographie beachten müsse; „brauchen ohne zu“ wird in diesem Zusam-
menhang als „schlechtes Beispiel“ angeführt (Götze 2007, 11). Ebenso beruft sich Wein-
rich (2005, 301) auf den „guten Sprachgebrauch“, wenn er schreibt: „Als einziges Modal-
verb der deutschen Sprache steht brauche (nicht) […] immer vor einem Infinitiv mit
vorangestellter Präposition zu, doch weicht die Umgangssprache nicht selten von dieser
Regel ab“; damit erklärt er brauchen zum „Sonderfall im System der Modalverben“.
2 Weitere Angleichungstendenzen an die Charakteristika der modalen Präterito-Präsentien
sind neben der Auslassung von zu vor Infinitiv: Wegfall der Flexionsendung -t in der 3. P.
Sing. Präsens (er / sie / es brauch; Wurzel 1984, 149), Fehlen der Imperativform, Verwen-
dung des Ersatzinfinitivs (Er hätte nur fragen brauchen / *fragen gebraucht; Kolb 1964, 76f.),
Umlaut im Konjunktiv (bräuchte vs. brauchte; ebd., 74), epistemische Verwendung (Reis
2001, 312).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 57

nicht verloren.3 Ebenso wenig lassen sich ohne empirische Fakten verläss-
liche Aussagen zum quantitativen Verhältnis der Vorkommen von brauchen
mit und ohne zu oder zu der ‚gefühlten‘ Zunahme der Variante ohne zu
treffen.4
Ganz ähnlich verhält es sich mit der von Sprachpflegern als vermeint-
lich aktuelle sprachliche Entgleisung aufs Korn genommenen Wendung in
2008, also einer Jahresangabe mit einfacher Präposition anstelle von im
Jahr(e) 2008 oder einfach 2008. Von Schullehrern wie von Sprachkritikern
wird das Muster in 2008 heute ganz überwiegend als nicht standardkon-
form angesehen (vgl. die Ergebnisse einer Befragung unter Lehrern in
Davies / Langer 2006, 133) und auf einen derzeit starken Einfluss des
Englischen zurückgeführt. Entsprechend findet sich die Konstruktion in
der aktuellen sprachkritischen Anglizismen-Diskussion (vgl. z.B. König
2004, 11). Die Duden-Sprachberatung merkt in ihrem Newsletter vom
13.06.2008 an:
In der Wirtschafts- und Werbesprache wird gelegentlich die aus dem englisch-
sprachigen Raum stammende Verbindung der Präposition in mit einer Jahreszahl
verwendet. […] Allerdings wird dieser Anglizismus nicht allgemein akzeptiert.
Auf der Homepage des Vereins Deutsche Sprache (VDS) wird in 2007 auf
den „Anglizismenindex“ gesetzt. Ziel dieses Index ist es, „überflüssigen
Anglizismen schon im Anfangsstadium ihres Erscheinens [zu begegnen].
Er ist damit ein aktuelles Nachschlagwerk für Wörter von heute“ (online
im Internet: http://www.vds-ev.de/anglizismenindex; 30.01.2009). Und in
einer Zwiebelfisch-Kolumne von Sick heißt es schließlich:
Die Präposition ‚in‘ vor einer Jahreszahl ist ein Anglizismus, der vor allem im
Wirtschaftsjargon allgegenwärtig ist. Die deutsche Sprache ist jahrhundertelang
ohne diesen Zusatz ausgekommen und braucht ihn auch heute nicht. (Sick 2006,
229)
Hier irrt Sick allerdings, denn die deutsche Sprache erträgt diesen „Zu-
satz“ seit mindestens anderthalb Jahrhunderten offensichtlich recht gut,
d.h. dessen Erscheinen befindet sich gewiss nicht im „Anfangsstadium“,
wie der VDS vermutet. Wie Davies / Langer (2006, 134) dokumentieren,
wird die Konstruktion ‚in + Jahreszahl‘ seit dem ausgehenden 19. Jahrhun-

_____________
3 Lediglich für das Mosel- und das Rheinfränkische liegt mit Girnth (2000) inzwischen eine
empirische Studie zum Modalverb brauchen vor. Girnth konstatiert hier eine Progression
der Paradigmatisierung von brauchen anhand des Merkmals t-Ausfall in der 3. P. Sing. Präs.
(und zwar erstaunlicherweise sowohl beim Vollverb als auch beim Modalverb). Eine Zu-
nahme von zu-Ausfall vor Infinitiv lässt sich weitaus weniger klar erkennen (ebd., 115-136).
4 Eine Tendenz zur Ausbreitung von brauchen ohne zu unterstellt implizit auch die Duden-
Sprachberatung: „In der geschriebenen Sprache allerdings wird das zu vor dem Infinitiv
meistens noch gesetzt“ (Newsletter vom 12.07.2002; online im Internet:
http://www.duden.de/deutsche_sprache/sprachberatung/newsletter/).
58 Ulrike Freywald

dert in diversen Sprachratgebern erwähnt (Matthias 1921 bringt Zeitungs-


belege aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) und meist französischem, selte-
ner auch englischem Einfluss zugeschrieben. So schreibt etwa Wustmann:
Wie mit nach hier und nach dort, verhält sichs auch mit in 1870, das man neuerdings
öfter lesen kann. […] Es ist eine willkürliche Nachäfferei des Französischen und
des Englischen. (Wustmann 1908, 258)
Diese beiden Beispiele sollen genügen, um die stete Neigung zu illustrie-
ren, Konstruktionen, die normativ diskriminiert sind, als neu zu betrach-
ten, da man wohl glaubt, Ungewohntes könne nur deshalb ungewohnt
erscheinen bzw. als unpassend empfunden werden, weil es noch nicht
etabliert, eben neu ist.5 Offensichtlich können ‚nicht etablierte‘ Strukturen
diesen Status aber über sehr lange Zeit beibehalten – entweder weil sie
sich tatsächlich nicht (oder nicht vollständig) ins Sprachsystem einpassen
oder weil sie, obwohl vom grammatischen Verhalten her längst integriert
und im nicht-normierten Sprachgebrauch durchaus etabliert, kontinuier-
lich als nicht normgerecht gebrandmarkt werden.
Im Folgenden werde ich mich mit einem besonders kontrovers disku-
tierten Phänomen etwas ausführlicher beschäftigen, nämlich mit der
Hauptsatzwortstellung (V2) nach traditionell subordinierenden Konjunk-
tionen. Nach einem Überblick über Hypothesen und Vermutungen zu
Häufigkeit und Alter der weil-V2-Konstruktion (Abschnitt 2.1.) werde ich
den Blick auf ähnliche Konstruktionen mit anderen subordinierenden
Konjunktionen ausweiten (Abschnitt 2.2. und 2.3.) und mich anschließend
der Frage widmen, inwieweit es sich bei diesen Strukturen um altherge-
brachte Muster handeln könnte (Abschnitt 3.).

2. V2 nach ‚subordinierenden‘ Konjunktionen


2.1. V2 nach weil

Die teilweise heftig debattierte Hauptsatzwortstellung in weil-Sätzen ist ein


weiterer und beinahe schon klassisch zu nennender Fall für das Auseinan-
derklaffen von bewusster Wahrnehmung und tatsächlicher Emergenz
einer Struktur, vgl. (2):
(2) Sie rauchen „Milde Sorte“, weil das Leben ist schon hart genug.
(Extrabreit, „Polizisten“, 1981)
_____________
5 Vgl. auch Lehmann (1991, 495): „[…] should anyone be inclined to conclude that just
because something is currently in the colloquial language but condemned by normative
grammar, it must be a recent development or indicative of an ongoing change, it is benefi-
cial to read Sandig, 1973.“
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 59

Dieses Phänomen wird in der linguistischen Fachliteratur seit den 1990er-


Jahren intensiv diskutiert6 und ist spätestens seit Gründung der Hambur-
ger Aktionsgemeinschaft „Rettet den Kausalsatz“ im Jahre 1992 (s. hierzu
Eisenberg 1993) zu einem Lieblingsthema der Sprachkritik geworden.7 Es
gibt auf Ebene der Satzsyntax wohl kaum ein ‚Wandel‘-Phänomen, das im
Bewusstsein linguistischer Laien derart präsent ist wie die Hauptsatzwort-
stellung in weil-Sätzen. Diese außerordentliche Präsenz wird wohl mit dazu
geführt haben, dass auch Linguisten aufmerksamer hingehört haben und
dass sie der ‚neuen‘ Verwendungsweise von weil fortan vermeintlich immer
häufiger begegneten. Folglich wurde und wird weil+V2 oft als rezente
Entwicklung eingeordnet, als ein Beispiel für aktuellen Sprachwandel.
Dem stehen diachron orientierte Untersuchungen gegenüber, in denen
Kausalkonjunktionen, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten können,
als strukturelles Merkmal angesehen werden, das seit dem Beginn der
deutschen Sprachgeschichte durchgehend vorhanden war. Entsprechend
decken die Hypothesen zur Existenz dieser Konstruktion ein zeitliches
Spektrum ab, das vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zurück ins Althoch-
deutsche reicht:
• „seit ungefähr zehn Jahren in zunehmendem Maße“ (Gaumann
1983, 152)
• „in der letzten Dekade“ (Zifonun u.a. 1997, 465)
• „during the last ten to fifteen years“ (Günthner 1996, 323)
• „in jüngster Zeit“ (Helbig 2003, 6)
• „seit einiger Zeit“ (Uhmann 1998, 92)
• das „neue weil “ (Keller 1993, 221)

_____________
6 Stellvertretend für die umfangreiche Literatur sei hier auf Gaumann (1983), Küper (1991),
Keller (1993), Wegener (1993; 1999), Uhmann (1998) sowie Gohl / Günthner (1999) ver-
wiesen.
7 Wie stark der normative Druck auch heute noch ist, wo die weil-V2-Konstruktion im
Allgemeinen nicht mehr als Fehler diskreditiert wird, zeigt sehr schön eine für den Fremd-
sprachenunterricht entwickelte DVD des Goethe-Instituts. Hier wird – neben anderen
Anpassungen an den Schriftstandard – ein von DJ Illvibe im Interview geäußerter weil-V2-
Satz im dazugehörigen Booklet als denn-Satz verschriftet:
(I a) O-Ton DJ Illvibe
„Ich würd mich schon als gleichberechtigter Musiker sehen, weil dieses Konzept DJ Band
gibts sehr viel und sehr oft missverstanden.“
(I b) Text im Booklet
„Ich würde mich schon als gleichberechtigten Musiker sehen. Denn dieses Konzept ‚DJ-
Band‘ gibt es sehr viel, und es wird oft ein bisschen missverstanden.“
(KuBus Magazin, Begleitheft, S. 13)
60 Ulrike Freywald

• „at least since the early 1970s“ (Farrar 1999, 1)


• „seit den 1920er Jahren“ (von Polenz 1999, 357)
• „since Old High German“ (Lehmann 1991, 526)
• mit Unterbrechung seit dem Althochdeutschen (vgl. Selting 1999)
• „bekanntlich das im Substandard immer bewahrte ältere Muster“
(Breindl 2009).
Doch nicht nur über die Entstehungszeit, auch über die Ausbreitung von
weil-V2-Sätzen wird spekuliert.8 Immer wieder ist von einer Zunahme der
weil-V2-Konstruktion die Rede, für Weinrich (1984, 101f.) ist sie „ziemlich
oft und mit vielleicht zunehmender Tendenz“ zu finden; Küper (1991,
133) konstatiert „zunehmenden Gebrauch“; Keller (1993, 218) sieht sie
„unaufhaltsam auf dem Vormarsch“ und auch Willems (1994, 261) geht
davon aus, dass „die Verbendstellung in Nebensätzen, die durch die Kon-
junktion weil eingeleitet werden, immer mehr durch die Verbzweitstellung
verdrängt wird“; laut Glück / Sauer (1997, 41) „scheint [sie] an Terrain zu
gewinnen“; Zifonun u.a. (1997, 465) sprechen von der „in der letzten
Dekade immer stärker verbreiteten Verbzweitstellung in weil-Sätzen“,
Farrar (1999, 1) von einer „increasing tendency to have V2 in dependent
clauses“; von Polenz (1999, 337) glaubt eine „immer häufiger werdende
Verwendung der Nebensatzkonjunktionen weil, obwohl, während (adversativ)
mit Hauptsatzwortstellung“ zu beobachten. Keine dieser Aussagen beruht
auf empirischen Daten, lediglich Uhmann (1998) und Wegener (1999)
stützen ihre Aussagen zum quantitativen Verhältnis von weil+VL und
weil+V2 auf Korpusanalysen.
Wegener (1999, 7ff.) glaubt, von den 1960er- bis zu den 1990er-Jahren
einen zahlenmäßigen Anstieg der weil-V2-Konstruktion (auf Kosten von
denn) nachweisen zu können, und zwar hauptsächlich für das norddeut-
sche Sprachgebiet. Die Zahlen für die 60er-Jahre stammen für das nord-
deutsche Gebiet aus Texten des Freiburger Korpus, die Fernseh- und
Rundfunkaufnahmen des SFB, RIAS und NDR beinhalten,9 d.h. in diesen
Texten ist mit einer außerordentlich starken Standardorientierung zu
rechnen. Für den süddeutschen Sprachraum werden hingegen Basisdia-
lekt-Daten herangezogen (und zwar Eisenmanns Auszählung von fränki-
_____________
8 Dies entspricht den beiden wesentlichen und methodisch sauber zu trennenden Aspekten
von Sprachwandelphänomenen actuation und transmission (Weinreich / Labov / Herzog
1968).
9 Hierbei wird offenbar vorausgesetzt, dass in norddeutschen Sendern nur mit norddeut-
schen Interview- und Diskussionspartnern gesprochen wird. Das gesamte Freiburger Kor-
pus umfasst auch Aufnahmen von überregionalen Sendern (z.B. ARD, ZDF) und von
Sendeanstalten im süddeutschen Sprachraum (z.B. SWF, ORF).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 61

schen, schwäbischen, bairischen und alemannischen Texten des Zwirner-


Korpus; vgl. Eisenmann 1973).10 Die Ausgangslage ist damit etwas schief,
denn dass in den standardnahen Interviews Non-Standard-Strukturen
selten(er) auftreten, ist zu erwarten. Die norddeutschen Vergleichszahlen
für die 90er-Jahre entstammen privater Konversation und einigen Ver-
kaufsgesprächen, also nicht-öffentlichen Kommunikationssituationen (im
Gegensatz zu den Rundfunksendungen im Freiburger Korpus). Dass die
Zahlen für weil-V2-Verwendungen hier höher ausfallen, mag also durchaus
an der Textsorte und weniger am zeitlichen Abstand liegen.

2.2. V2 nach anderen subordinierenden Konjunktionen

Ähnliche Probleme für die Einschätzung der quantitativen Entwicklung


und für die zeitliche Einordnung tun sich selbstverständlich auch für die
anderen traditionell als subordinierend klassifizierten Konjunktionen auf,
die im Deutschen mit Hauptsatzstellung konstruiert werden können. Im-
mer wieder genannt werden in diesem Zusammenhang obwohl (einschließ-
lich der Varianten obschon und obgleich), konjunktionales wobei sowie adver-
satives während (mit seinen Entsprechungen währenddem und wo(hin)gegen):
(3a) Es ist nämlich tatsächlich etwas dran, daß man nicht immer das
Teuerste kaufen muß. Obwohl natürlich Kleiderstoffe oder solche
Sachen, die kauf ich in meinem Alter gern solide, weil ich nicht
so nach der Mode jedes Jahr gehe, net wahr?
(AGD,11 alemannischer Hintergrund, 1961)
(3b) 21 Dora: en Stipendium
22 dadurch eh (.) verHINdert man natürlich,
23 dass die richtig integriert sind im unibetrieb.
24 Nora: mhm
25 Greta: wo- wobei (.) es hat alles immer zwei seiten.
(Günthner 2000, 314)
(3c) Für Theater interessier ich mich schon, also da geh ich öfters mal
hin und auch ins Kino, während Kunstausstellungen hab ich mir
eigentlich selten angeguckt.
(AGD, rheinfränkischer Hintergrund, 1961)

_____________
10 Für Details zu diesen Korpora s. Anm. 14.
11 Korpora des Archivs für Gesprochenes Deutsch, vgl. Anm. 14.
62 Ulrike Freywald

Meistens bleibt es jedoch bei der bloßen Nennung12 (und der stillschwei-
genden Annahme, diese Konjunktionen verhielten sich im Prinzip genau-
so wie weil) sowie bei der Behauptung, V2 sei hier weniger stark verbreitet
als bei weil. So findet sich in Küper (1991, 149) die Feststellung, „daß ob-
wohl-Sätze […] sehr viel seltener mit Hauptsatzstellung gebraucht wer-
den“, und Günthner (1993, 39) fragt, „weshalb sich diese Tendenz speziell
bei WEIL- und OBWOHL-Teilsätzen zeigt, weniger bei WÄHREND und gar
nicht bei anderen unterordnenden Konjunktionen (z.B. DA, WENN, ALS)“.
Ähnlich meint Farrar (1999, 1): „However, the change seems not to be
restricted to weil-clauses, even if it is most evident at present. V2 is also
found after obwohl and to a more limited extent after während.“ Auch für
Selting (1993, 167) spielen obwohl und während hinsichtlich V2 eine unter-
geordnete Rolle: „Zu diesen Konjunktionen gehören allen voran die Kon-
junktion weil, aber auch obwohl und eventuell während.“
Erstaunlich ist hieran zweierlei: Zum ersten ist die These, V2 trete
nach anderen Konjunktionen als weil wesentlich seltener auf, offenbar nie
empirisch überprüft worden. Es existieren scheinbar keine Untersuchun-
gen, die eine solche Beobachtung belegen würden. Zum zweiten können
Aussagen zur relativen Häufigkeit dieser Konstruktionen nur getroffen
werden, wenn man jeweils das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und
V2-Instanzen pro Konjunktion berücksichtigt. Die absolute Zahl von
obwohl- und während-Sätzen mit V2 mag zwar tatsächlich kleiner sein als die
der weil-V2-Sätze, dies liegt aber lediglich daran, dass diese Konjunktionen
generell seltener verwendet werden.13
Die Auszählung der IDS-Korpora (Freiburger Korpus, Pfeffer-
Korpus und Zwirner-Korpus; letzteres nur für obwohl, während und wobei)14
zeigt eine deutlich höhere Frequenz sämtlicher weil-Sätze (VL und V2) ge-
genüber den entsprechenden obwohl-, wobei- und adversativen während-Sät-
zen, vgl. Abbildung 1:

_____________
12 Die einzigen detaillierteren Arbeiten liegen mit Günthner (1999) zu obwohl und Günthner
(2000) zu wobei vor.
13 So schon Gaumann (1983, 45) mit Bezug auf Eisenmann (1973). Diese Bemerkung ist
offensichtlich in der Folge vielfach als vermeintliche Aussage über die relative Häufigkeit
missinterpretiert worden.
14 Freiburger Korpus (Grundstrukturen): Umfang ca. 593.300 Wörter; Fernseh- und Rund-
funkaufnahmen, weitere private und öffentliche Kommunikationssituationen; Erstellungs-
zeitraum: 1960-1974. Pfeffer-Korpus (Deutsche Umgangssprachen): Umfang ca. 645.500
Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstellungszeitraum: 1961. Zwirner-Korpus (Deut-
sche Mundarten): Umfang ca. 3.292.000 Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstel-
lungszeitraum: 1955-1960. Die Korpora sind über die Datenbank Gesprochenes Deutsch
(DGD) online nutzbar. DGD ist Teil des Archivs für Gesprochenes Deutsch (AGD) am
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, online im Internet: http://agd.ids-
mannheim.de/.
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 63

2000
168
V2
VL

1500
N Sätze

1000
1859

500 37

34
0
366
196 150
0
weil obwohl während wobei

Abbildung 1: Anzahl der mit weil, obwohl, adversativem während und wobei eingeleiteten Sätze.

Die Gesamtzahl der weil-Sätze übersteigt die jeweilige Anzahl der mit ob-
wohl, während oder wobei eingeleiteten Sätze um ein Vielfaches. Der Ein-
druck, weil stehe öfter mit V2 als andere Konjunktionen, ist wohl in der
Tat (auch) darauf zurückzuführen, dass bei weil-Sätzen die Menge der
Tokens generell größer ist.
Betrachtet man dagegen das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und
V2-Vorkommen für jede Konjunktion einzeln, also den Anteil der V2-
Konstruktionen an der Gesamtzahl der jeweiligen Nebensätze, so ergibt
sich das Bild in Abbildung 2.
Hier zeigt sich, dass (a) wobei in den analysierten Korpora gar keine
V2-Sätze einleitet; und dass (b) weil diejenige Konjunktion mit dem kleins-
ten Anteil an V2-Sätzen ist.
Letzteres steht den Intuitionen, die in den oben zitierten Vermutun-
gen zur Häufigkeit von weil+V2 zum Ausdruck kommen, diametral entge-
gen. Überraschenderweise leitet das meist gar nicht oder nur am Rande
erwähnte während nahezu doppelt so oft V2-Sätze ein wie weil oder obwohl.
Und der Anteil der V2-Sätze an der Gesamtmenge der obwohl-Sätze bleibt
auch nicht, wie angenommen, hinter dem der weil-Sätze zurück, sondern
liegt sogar etwas darüber.
64 Ulrike Freywald

100%
100%
91,7% 90,8%
85,2% VL
V2
80
%

60
%

40
%

14,8%
20
% 8,3% 9,2%

0%
0%
weil obwohl während wobei
Abbildung 2: Prozentuales Verhältnis von VL- und V2-Sätzen.

Dass für wobei überhaupt keine V2-Belege zu finden sind, kann entweder
daran liegen, dass wobei-Sätze in den Korpora generell sehr selten sind (150
Sätze) und daher kein repräsentatives Bild liefern, oder aber daran, dass
V2 nach wobei vor 30-40 Jahren tatsächlich ungebräuchlich bzw. noch
kaum verbreitet war. Die Möglichkeit, nach wobei einen V2-Satz zu kon-
struieren, setzt zunächst die Entwicklung des wobei vom Relativadverb zur
Konjunktion voraus. Die Verwendung als Konjunktion bzw. als Korrek-
tur- oder Dissensmarker (vgl. Günthner 2000, 332) ist aus der Funktion
hervorgegangen, die wobei als Relativadverb hat – komitative und dik-
tumskommentierende Nebensätze einzuleiten (Zifonun u.a. 1997, 2323f.)
– und dürfte wesentlich jünger sein. Es liegt also durchaus nahe, V2 nach
wobei als relativ rezente Erscheinung zu betrachten (auch wenn der empiri-
sche Beweis hierfür freilich noch fehlt). Günthner (2000) macht in ihrer
Untersuchung zu wobei-V2-Sätzen Beobachtungen, die eine solche An-
nahme stützen: Sie stellt in ihrem 1983-1998 erhobenen Korpus eine Zu-
nahme von wobei mit V2 bei denselben Sprechern fest, während sie für die
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 65

Zeit vor 1980 (etwa in Rundfunkdaten der 1930er- und 40er-Jahre) keine
solchen Belege ausmachen kann (ebd., 335ff.).15

2.3. V2 nach dass

Eine andere bislang ungeklärte Frage ist die, wie viele und welche Kon-
junktionen im Deutschen eigentlich sowohl VL- als auch V2-Sätze einlei-
ten können. Auch hier wird meist vorbehaltlos davon ausgegangen, die
Reihe dieser janusköpfigen Einleitungselemente sei im Gegenwartsdeut-
schen auf weil, obwohl und maximal während beschränkt (schon wobei wird
selten erwähnt). Doch ist diese Liste wirklich so klar begrenzt? Ja und
nein. Ja, weil unbestritten ist, dass nicht alle konjunktional eingeleiteten
Nebensätze eine V2-Variante aufweisen.16 Es muss also eine Begrenzung
geben dahingehend, dass nur bestimmte Konjunktionen eine solche Dop-
pelfunktion besitzen (können). Nein, weil eine Grenze nicht eindeutig
gezogen werden kann. Man weiß heute einfach (noch) nicht genau, welche
Konjunktionen dazugehören und welche nicht. Unter den weniger häufi-
gen Konnektoren sind durchaus einige weitere ‚verdächtige Kandidaten‘
zu vermuten, wie z.B. trotzdem oder insofern:
(4a) insofern + VL
Insofern die Krankheit eine Störung des Wohlbefindens ist, muss
die Therapie auf dessen Wiederherstellung gerichtet sein.
(Pasch u.a. 2003, 715; Hervorhebung UF)
(4b) insofern + V2
Moderator Gab’s mal so’n Punkt, wo Sie gedacht ham, wir
kriegen das nicht hin?
Schmidt Nein, aber’s gab schon Tage, wo’s wirklich auch
knüppelhart kam […] Das sind alles keine Dinge,
die nicht lösbar sind. Insofern solche Tage gab es,
aber in der Regel – ich war davon überzeugt, dass
das notwendig ist, bin davon überzeugt, dass es
notwendig ist.
_____________
15 Auch Auer (1997, 75) merkt an (allerdings ohne diese Annahme zu begründen): „In der ge-
sprochenen Sprache ist das Inventar der beiordnenden Konjunktionen bekanntlich zumin-
dest um weil, obwohl, konzessives wobei und adversatives während erweitert. Zumindest bei
wobei dürfte es sich um eine neue Entwicklung handeln.“
16 Dies impliziert auch, dass das Deutsche nicht eine generelle Tendenz zur Aufgabe der
Verbletztstellung in Konjunktionalsätzen zeigt, wie anfänglich von manchen Autoren ge-
schlussfolgert wurde (s. z.B. Kann 1972, 379; Vennemann 1974; Gaumann 1983, 157). Zu
verschiedenen Hypothesen, wieso die V2-Option nur bei bestimmten subordinierenden
Konjunktionen auftritt, vgl. Wegener (2000) und Miyashita (2003).
66 Ulrike Freywald

(RBB Inforadio, Interview mit Gesundheitsministerin Ulla


Schmidt, 22.01.2005)
Ein Beispiel für eine außerordentlich frequente subordinierende Konjunk-
tion, um die die Liste der VL / V2-Einleiter zu ergänzen ist, liegt mit dass
vor. Auf diese Erweiterung des ‚VL / V2-Bestands‘ möchte ich im Fol-
genden etwas genauer eingehen.
Im gesprochenen Deutsch werden auch dass-Sätze unter bestimmten
Bedingungen mit V2 gebildet, wie z.B. in (5):
(5) Ich würde sagen, dass beide haben ihre Performanzvorteile.
(Diskussionsteilnehmerin auf der Tagung „Historische Text-
grammatik und Historische Syntax des Deutschen“ in Graz,
2008)
Diese Konstruktion ist auf den ersten Blick in der Tat ungewöhnlich –
wohl ebenso ungewöhnlich, wie vielen die weil-V2-Sätze beim erstmaligen
bewussten Hören erschienen sein mögen. Die klassische subordinierende
Konjunktion dass leitet in (5) einen Objektsatz ein, der nicht wie zu erwar-
ten mit VL, sondern mit V2 gebildet ist. Was diese dass-V2-Sätze von den
oben besprochenen V2-Adverbialsätzen grundsätzlich unterscheidet, ist
ihr Argumentstatus. Ihrer syntaktischen Funktion nach stellen sie not-
wendige Satzglieder dar. Sie sind in all jenen Funktionen zu finden, die
auch argumentrealisierende dass-VL-Sätze einnehmen können:
(6) Subjekt
dazu kommt AUCH, dass manche der OBERflächenbeschich-
tungen – silikonharzfarben, dispersionsfarben – enthalten organi-
sche BEImengungen
(Deutschlandfunk, Interview, 12.11.2004)
(7) Objekt
Ich würde sagen, dass beide haben ihre Performanzvorteile.
(8) Prädikativ
das wesentliche ist DAran ja daß der regisseur sitzt UNten und
sieht mich von kopf bis ZEH
(AGD, RIAS, Diskussion, 1962)
(9) Komplementsatz zum Nomen (‚Attribut‘-Satz)
aber ich hab MANCHmal, an MANchen stellen den eindruck,
dass HIER steht der poeta doctus dem dichter im WEG
(Deutschlandfunk, Diskussion, 20.10.2004)
Solche Vorkommen von dass-V2-Sätzen unterscheiden sich funktional von
den entsprechenden VL-Pendants und sind also nicht als bloße Folge
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 67

eines Planungsfehlers oder als Satzabbruch zu sehen. Wie in Freywald


(2008 und 2009) dargelegt, lässt sich das Auftreten von V2 in dass-Sätzen
als systematisches Muster der gesprochenen Gegenwartssprache beschrei-
ben. Mit den V2-Sätzen nach weil, obwohl usw. teilen dass-V2-Sätze das
Merkmal, dass der ursprüngliche Nebensatz durch die formale Kenn-
zeichnung als potentiell selbständige Äußerung (mittels V2) pragmatisch
aufgewertet wird und außerdem über eigene illokutive Kraft verfügt. Im
Falle der dass-V2-Sätze ist die Illokution auf Assertion festgelegt: In sämt-
lichen mir bekannten Belegen sind die dass-V2-Sätze assertiert und enthal-
ten die relevante, eigentliche Information der gesamten Äußerung. Damit
korreliert die empirische Beobachtung, dass mit dass angeschlossene V2-
Sätze nie mit negierten / negierenden, interrogativischen oder faktischen
Matrixprädikaten auftreten. Die plausible Erklärung hierfür liegt eben in
der Assertiertheit der dass-V2-Sätze – sie kommen nur in Kontexten vor,
die assertionsverträglich sind; eine Negation im Matrixsatz etwa würde mit
dem Wahrheitsanspruch, der im folgenden dass-V2-Satz erhoben wird, in
Konflikt geraten. Der kommunikative Vorteil einer solchen Konstruktion
liegt darin, dass der Sprecher der im dass-Satz geäußerten Behauptung
durch die V2-Form mehr Gewicht und Nachdruck verleihen kann.
Mit der pragmatischen Aufwertung des dass-V2-Satzes ist eine Rück-
stufung des Matrixsatzes verbunden. Die Matrixsätze in dass-V2-Kon-
struktionen sind semantisch blass und fungieren lediglich als eine Art An-
kündigung oder Interpretationsanweisung in Bezug auf den eigentlichen
Inhalt der Äußerung, der im dass-V2-Satz ausgedrückt wird. Der funktio-
nale Beitrag der Matrixsätze ist auf Diskursebene zu verorten: Sie dienen
der Aufmerksamkeitssteuerung, der Kodierung von epistemischer
und / oder evidentieller Information sowie der Organisation der Spre-
cher-Hörer-Interaktion; typische Matrixprädikate sind z.B. Einstellungs-
verben, wie wissen, sagen, meinen, Verben der Sinneswahrnehmung sowie
Konstruktionen wie wichtig / interessant / schön sein bzw. der Punkt ist…, das
Ding ist…, das Interessante / Spannende ist… u.ä. (s. hierzu ausführlich Frey-
wald 2008).
(10) das SPANnende daran ist, dass die lehrerinnen haben das lehrbuch
SELber gemacht
(Hörbeleg, niedersächsischer Hintergrund, 2003)
Ein dass-V2-Satz ist also, was seinen Mitteilungswert angeht, seinem Mat-
rixsatz nicht untergeordnet. Dies sollte sich auch in der syntaktischen
Analyse dieser Konstruktionen widerspiegeln. Dementsprechend wird in
Freywald (2009) eine Struktur vorgeschlagen, die eine parataktische Ver-
knüpfung von Matrix- und dass-V2-Satz vorsieht (für eine solche Analyse
sprechen darüber hinaus auch genuin syntaktische Argumente, wie Stel-
68 Ulrike Freywald

lungsverhalten, Bindungsdaten und sogenannte Hauptsatzphänomene).


Dabei ist der Matrixsatz (der nun eigentlich nicht mehr Matrixsatz heißen
sollte) als eine Art Satzfragment mit redeeinleitender Funktion dem mit
dass verknüpften, potentiell eigenständigen V2-Satz vorgeschaltet. Ähnlich
wie im Falle der parataktischen Varianten von weil, obwohl usw. hat dass hier
also nicht den Status einer subordinierenden Konjunktion. Im Gegensatz
zu den erstgenannten verbindet dass jedoch nicht zwei völlig voneinander
unabhängige Sätze oder Äußerungsteile. Durch die offene Argumentfor-
derung im einstigen Matrixsatz bleibt dieser unvollständig; es ist gerade
dieser syntaktische Spannungsbogen, der wesentlich zu einer Funktionali-
sierung des Matrixsatzes als hinweisendes, aufmerksamkeitsforderndes
Element beiträgt. Vielmehr verknüpft dass ein diskursbezogenes Syntagma
mit einem potentiell eigenständigen Satz und kennzeichnet diesen explizit
als (als wahr unterstellte) Behauptung – das ehemals subordinierende dass
hat hier die Funktion eines Assertionsmarkers.
Die Liste von Konjunktionen, die sowohl VL- als auch V2-Sätze ein-
leiten, ist also durchaus erweiterbar. Hier ist noch weitere Forschungsar-
beit notwendig; an deren Anfang sollte die aufmerksame, unvoreinge-
nommene Beobachtung stehen.

3. Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen
als ‚altes Substandardmuster‘?
Auch die Frage nach dem Neuigkeitswert der Hauptsatzwortstellung in
Nebensätzen stellt sich gleichermaßen für sämtliche genannten Konjunk-
tionen, allerdings wurde bislang nur für weil versucht, sie zu beantworten.
Die historische Entwicklung der deutschen Kausalkonjunktionen ist an
sich sehr gut untersucht (vgl. z.B. Arndt 1959; Eroms 1980; insbesondere
zum Aufkommen von weil+V2 Selting 1999 sowie Wegener 1999 u. 2000).
Kurzgefasst: Die Tatsache, dass ein und dieselbe kausale Konjunktion
sowohl VL- als auch V2-Sätze einleitet, stellt demnach vom Alt- bis Früh-
neuhochdeutschen durchaus den Normalfall dar:
(11) Althochdeutsch
(11a) uuanta + V2
qui manet In me therder In mir uuonet
et ego In eo hic fert Inti ih in imo ther birit
fructum multum mihilan uuahsmon.
quia sine me uuanta uzzan mih
nihil potestis facere. nimugut ir niouuiht duon.
(Tatian, 283, 11-15)
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 69

(11b)uuanta + VL
uuánda iz fóne dír chám
(Notker, Boethius, 21, 2; zit. nach Petrova 2008)
(12) Mittelhochdeutsch
(12a) wande / wan + V2
Dâ soltû rehte deheinen zwîvel an hân, wan ez ist diu rehte
wârheit
(Berthold, I, 75, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104)
(12b)wande / wan + VL
wan iu und iuwern kindern des himelrîches als nôt ist, sô sult ir
iuwer kinder selber ziehen
(Berthold, I, 34, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104)
(13) Frühneuhochdeutsch
(13a) wan / wenn mit V2
Die edel kindelpetterinn die het nï kain rue, wann die geschëft
die waren gros
(H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 21, 26-28, Wien 1445-1452;
Bonner Fnhd.-Korpus)
(13b)wan / wenn mit VL
vnd ich mües hait die kran [= Krone] behalten in der kamer […]
vnd ich behielt das vnder dem pett mit grossen sorgen, wann wir
chain truhen da nicht heten.
(H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 13, 20-24, Wien 1445-1452;
Bonner Fnhd.-Korpus)
Die jeweilige kausale V2 / VL-Konjunktion wurde mit ähnlicher Funk-
tionsaufteilung wie beim modernen weil einerseits zur epistemischen bzw.
sprechaktbezogenen Begründung (mit V2), andererseits zur Begründung
der im Bezugssatz ausgedrückten Proposition (mit VL) verwendet. In
(12a) etwa begründet der Kausalsatz wan ez ist diu rehte wârheit nicht (nur)
die Proposition des Vordersatzes ('daran sollst du keinen Zweifel haben'),
sondern vor allem den Sprechakt als Ganzes; er liefert also eine Begrün-
dung für die Aufforderung, keinerlei Zweifel zu hegen. Ähnlich gibt wann
die geschëft die waren gros in (13a) eine epistemische Begründung, während
der Kausalsatz in (13b) für einen Sachverhalt (die Krone musste unter
dem Bett aufbewahrt werden) den faktischen Grund nennt (es gab keine
Truhe). Neben einer solchen V2-VL-Konjunktion gab es noch weitere
Kausalkonjunktionen, wie sîd / sît, darumb daz, umbe daz u.a., die jedoch
stets VL-Sätze einleiteten.
70 Ulrike Freywald

Im Frühneuhochdeutschen wird das multifunktionale wan / wenn von


denn und weil abgelöst, womit sich das neuhochdeutsche System – denn+V2
vs. weil+VL – etabliert (vgl. Arndt 1959, 389).17 Gemäß dieser Interpreta-
tion scheint es so zu sein, dass seit dem Ausgang des Frühneuhochdeut-
schen keine Kausalkonjunktion mehr existiert, die sowohl VL- als auch
V2-Sätze einleitet: „Festzuhalten ist schließlich, daß denn und weil […] als
neue Konjunktionen für Hauptsätze und Nebensätze disjunkt sind“
(Eroms 1980, 113). Ob jedoch die Struktur weil+V2 in (gesprochenen)
Substandard-Varietäten nicht doch bereits seit dem Aufkommen von weil
als Kausalkonjunktion zumindest als marginale Option existiert hat, ist
freilich nicht sicher zu entscheiden, da uns naturgemäß aus dieser Zeit nur
schriftliche Quellen zur Verfügung stehen, die – insbesondere im Zuge
der Herausbildung und Etablierung eines Schriftstandards – mündliche
Phänomene nur sehr bedingt widerspiegeln (vgl. zu diesem methodischen
Problem Simon 2006). So konstatiert denn Selting (1999) auch eine „Be-
schreibungslücke“ vom 16.-19. Jahrhundert (ebd., 191), die sie mit empiri-
schen Nachforschungen zu füllen versucht. Im Ergebnis bleibt die Lücke
allerdings im Wesentlichen bestehen – es lassen sich auch in mündlich-
keitsnahen Texten des fraglichen Zeitraums keine sicheren Belege für weil-
V2-Sätze finden (was aber umgekehrt auch noch kein Beweis für die
Nicht-Existenz dieser Konstruktion ist).
Vom gegenwärtigen Standpunkt aus lässt sich die weil-V2-Konstruk-
tion mühelos bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen,
sie findet sich z.B. in Arbeiten zur Dialektsyntax (vgl. (14)), aber auch in
literarischen Werken, wie in Canettis „Blendung“ aus den 30er Jahren –
vgl. (15):
(14a) weil bei mir ist es nicht sicher
(Peller 1941, 40; Mundart des Traunseegebietes)
(14b)saue nich ales ain, wail … ich mus⋅es wider rēne machn
(Baumgärtner 1959, 106; Leipziger Umgangssprache)
(15) Jung ist sie, ein Weib ist sie, und ich kann mit ihr machen, was
ich will, weil ich bin der Vater.
(Canetti 1993, 117; Erstveröffentlichung 1935)
Auch die in Betten (1995) dokumentierten Gespräche mit nach Israel
emigrierten deutschsprachigen Juden enthalten weil-V2-Sätze – vgl. (16):18
_____________
17 Die Konjunktion denn wurde anfänglich auch mit VL verwendet (in oberdeutschen Texten
hält sich denn / dann + VL bis ins späte 17. Jahrhundert, vgl. Brooks 2006, 176ff.).
18 Für weitere weil-V2-Belege in diesen Gesprächen vgl. Weiss (2000). In einem kleinen
Korpusausschnitt von ca. 9.900 Wörtern weisen acht von 31 weil-Sätzen Verbzweitstellung
auf (= 26 %).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 71

(16) Ich bekam ganz plötzlich die Aufforderung zur Alija, zur Ein-
wanderung bereit zu sein, ähm, einige Zeit später meine Schwes-
ter auch, weil es handelt sich um Jugendliche im Alter zwischen 15
und 17 Jahren.
(Betten 1995, 154; Transkription vereinfacht)
Dies ist als Hinweis auf eine frühe Verwendung dieser Konstruktion zu
sehen, da es sich hier um ein Deutsch handelt, „das heute außerhalb des
deutschen Sprachraums gesprochen wird […], aber im wesentlichen das
gesprochene Deutsch der 20er Jahre und 30er Jahre […] repräsentiert“
(Betten 1995, 3). Diese Vorkommen von weil+V2 sind besonders auf-
schlussreich, da sich die Sprache der interviewten Emigranten generell
durch einen „hohe[n] Grad syntaktischer Normorientierung“ auszeichnet
(ebd., 5).
Einen kleinen Vorstoß zur Verkleinerung der Beschreibungslücke lie-
fert Elspaß (2005) mit Belegen aus der Mitte des 19. Jh., die sich in Brie-
fen von nach Amerika ausgewanderten Deutschen finden:
(17) als wir das getan hatten da war unser akord gebrochen Weil wir
wusten nicht daß sei [sie] zusammen hielten
(Heinrich Küpper aus Loikum / Niederrhein (ndfr.), Reiseauf-
zeichnungen, 1847ff.; Elspaß 2005, 300)
Trotz der hohen Plausibilität der sogenannten Kontinuitätshypothese ist
die Frage nach wie vor ungeklärt, ob das ‚mhd. System‘ als solches weiter-
besteht oder ob es re-etabliert wurde.
Die für die Kausalkonjunktionen gut beschriebenen historischen Ge-
gebenheiten werden oft dahingehend verallgemeinert, dass das heutige
Substandardphänomen ‚V2 im eingeleiteten Nebensatz‘ ganz allgemein
(also auch für konzessive und adversative Konjunktionen) direkt auf die
generell ‚freiere‘ Wortstellung im Alt- und Mittelhochdeutschen zurückzu-
führen sei. Autoren, die diese Ansicht vertreten,19 beziehen sich in der
Regel auf Sandig (1973). Sandig beruft sich in ihrer Erklärung von
Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen auf die „Tendenz zur Nebenord-
nung“ in gesprochener Sprache (Baumgärtner 1959, 102) und postuliert:

_____________
19 So z.B. Lehmann (1991, 526): „[s]uch constructions […] have been in the language since
Old High German“; von Polenz (1999, 358): „Nebensätze mit Hauptsatzwortstellung als
sehr alte Substandardmuster“; Selting (1999, 180): „historische Kontinuität seit zumindest
dem Mittelhochdeutschen“ oder Breindl (2009): „bekanntlich das im Substandard immer
bewahrte ältere Muster“.
72 Ulrike Freywald

Für den „Nebensatz“ gab es von Anfang an zwei Wortstellungsmöglichkeiten:


daz er komen ist
daz der vater ist komen (Sandig 1973, 41)20
Zugrunde liegt einer solchen Argumentation die Auffassung, dass die
Verbstellung im historischen Deutsch (bzw. bis heute bewahrt in mündli-
chen Varietäten) generell freier war (bzw. ist) als in der gegenwärtigen
Standard- bzw. standardnahen Umgangssprache. Diese Erklärung beruht
vermutlich auf der Fehlinterpretation von Aussagen in der traditionellen
Literatur wie den folgenden: „im Althochdeutschen [existieren] sehr viele
Varianten der Verbstellung im eingeleiteten Nebensatz“ (Admoni 1990,
75), „Sätze mit unvollständigem Rahmen [verschwinden] doch nie gänz-
lich“ (ebd., 200), es gäbe „keine festere Regelung im Nebensatz“ (Sonder-
egger 2003, 350) o.ä. Sie ist jedoch in mindestens dreierlei Hinsicht prob-
lematisch.
Zum ersten – und dies ist wohl das Hauptproblem – erweisen sich
„Varianten der Verbstellung“, „unvollständige[r] Rahmen“ usw. in aller
Regel als Serialisierungsvarianten, die sich am rechten Satzrand, also in-
nerhalb des Verbalkomplexes oder mit Bezug auf Nachfeldbesetzung,
abspielen. Ein vermeintliches Schwanken zwischen VL und V2 ist daraus
nicht herzuleiten. So ist alles andere als klar, ob in dem von Sandig zitier-
ten Beispiel daz der vater ist komen tatsächlich Hauptsatzwortstellung vor-
liegt. Nebensatzwortstellung heißt im Deutschen ja nicht zwangsläufig
absolute Verbletztstellung. Die Endstellung des finiten Verbs kann in der
konkret realisierten Satzgliedfolge durch verschiedene Prozesse, wie etwa
Ausklammerungen oder Umstellungen innerhalb des Verbalkomplexes,
oberflächlich verwischt sein. In mehrgliedrigen Verbalkomplexen ist etwa
die Abfolge der finiten und infiniten Verbalteile bis heute variabel. In der
gegenwärtigen Standardsprache betrifft diese Variabilität hauptsächlich
IPP-Konstruktionen (sog. ‚Ersatzinfinitiv‘). In älteren Sprachstufen und in
den Dialekten existiert(e) jedoch eine noch weitaus größere Variantenviel-
falt, hier sind auch in drei- und zweigliedrigen Prädikaten, in denen kein
IPP-Effekt zum Tragen kommt, Serialisierungsunterschiede zu beobach-
ten.21 Die beiden von Sandig angeführten Nebensatzstrukturen unter-
scheiden sich also topologisch betrachtet womöglich gar nicht voneinan-
der, es liegen lediglich verschiedene Serialisierungen innerhalb des Verbal-
_____________
20 Das Beispiel hat Sandig Behaghel (1932, XIII) entnommen, der damit allerdings nicht
explizit die Verbstellung im Nebensatz, sondern die Wirkung rhythmischer Faktoren – hier
die Variation zwischen er und der vater – auf die Abfolge der verbalen Elemente innerhalb
des Verbalkomplexes illustriert.
21 Vgl. z.B. Härd (1981) zur Diachronie, Patocka (1997) zum Bairischen, Seiler (2004) zu
schweizerdeutschen Varietäten sowie Wurmbrand (2004) für einen Vergleich verschiedener
deutscher Dialekte.
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 73

komplexes (= rechte Satzklammer) vor – in beiden Fällen handelt es sich


wohl um VL. Diese in der Generativen Syntax als „Verb Raising“ be-
zeichnete Erscheinung schließt auch ein, dass noch Konstituenten zwi-
schen finites Verb und infinite(n) Verbalteil(e) treten, wie in (18) – dies
wird gemeinhin unter dem Begriff „Verb Projection Raising“ gefasst:22
(18) Er hat gesagt, daß er hat unbedingt nach Hause gehen müssen.
(Helbig / Buscha 1994, 109)
Mit (18) liegt somit ein hinsichtlich der Verbstellung unentscheidbarer Fall
vor, da die Zweitstellung von hat eine bloß scheinbare sein kann, denn
auch mit mehr als einer Konstituente vor dem finiten Verb (womit
zugrunde liegend VL vorliegt) bleibt der Satz grammatisch:
(19) Er hat gesagt, daß er nach dem Essen hat unbedingt nach Hause
gehen müssen.
Diese Verwechslung von oberflächlicher und ‚echter‘ V2 liegt m.E. einer
ganzen Reihe von Belegen zugrunde, die als Beispiele für V2 in eingeleite-
ten Nebensätzen angegeben werden, so etwa in dem immer wieder als
früher Beleg für weil+V2 angeführten Satz aus Blatz (1900) – vgl. (20a) –
oder in dem in Eroms (1980, 114) zitierten Beleg aus dem Wienerischen –
vgl. (20b):
(20a) Dem Wandersmann gehört die Welt, weil er kann über Thal und
Feld so wohlgemut hinschreiten.
(Blatz 1900, 765)
(20b)weil der Doktor hat gesagt
(Jezek 1928, 158; hier standardsprachlich wiedergegeben)
Ebenso kann Ausklammerung, also die Versetzung von Konstituenten aus
dem Mittelfeld ins Nachfeld, V2-ähnliche Strukturen ergeben, vgl. (21a)
sowie die desambiguierte Version in (21b):
(21a) Paula ist schon ganz aufgeregt, weil sie verreist nächste Woche.
(21b)Paula ist schon ganz aufgeregt, weil sie zum ersten Mal verreist
nächste Woche.
Strukturen, die an der Oberfläche so aussehen wie V2, in denen aber ge-
wissermaßen bloß zufällig nur eine Konstituente vor dem finiten Verb
steht, müssen klar geschieden werden von Konstruktionen, in denen das
finite Verb tatsächlich die syntaktische Zweitposition besetzt. Dazu sind
_____________
22 Ausführlich zu diesen Konzepten und zum theoretischen Hintergrund vgl. Haege-
man / van Riemsdijk (1986) sowie den Überblick in Schönenberger (1995).
74 Ulrike Freywald

fein abgestimmte, syntaxtheoretisch fundierte Diagnostika erforderlich


(wie sie in traditionellen syntaktischen Arbeiten oft nicht angewendet
werden). Zieht man solche Kriterien heran, um eindeutige von nicht ein-
deutigen bzw. nicht einschlägigen Fällen sauber zu trennen, so ergibt sich,
dass die Hauptsatz-Nebensatz-Unterscheidung bereits im ältesten Deutsch
weitgehend syntaktisch gesteuert ist, d.h. dass eine subordinierende Kon-
junktion stets VL nach sich zieht:23
Endstellung des finiten Verbs liegt bei eingeleiteten Nebensätzen vor […], ist je-
doch, wie gesagt, aufgrund verschiedener Umstellungen häufig nicht als solche
erkennbar […]. (Lenerz 1984, 130)
Mit einem geschärften Beschreibungsinstrumentarium können nun auch
Unterschiede bei einzelnen Konjunktionen sichtbar gemacht werden.
Allgemeine Aussagen wie „freiere Wortstellung“, „von Anfang an zwei
Wortstellungsmöglichkeiten“ oder „[d]as Mittelhochdeutsche unterschied
Haupt- und Nebensätze nur nach der Verbstellung, nicht durch unter-
schiedliche Konjunktionen“ (Wegener 1999, 12) suggerieren, dass eine
Wahlmöglichkeit zwischen VL und V2 bei allen Konjunktionen bestanden
habe. Dies scheint aber in nennenswertem Umfang nur auf die Kausal-
konjunktion uuanta / wan(de) zuzutreffen, womit die funktionalen Vorläu-
fer von weil offenbar einen Sonderfall darstellen. Legt man strengere for-
male Kriterien an, so lassen sich im Althochdeutschen nur äußerst wenige
eingeleitete Nebensätze finden, die klar V2 aufweisen. So enthält der Alt-
hochdeutsche Tatian nur etwa 15 eindeutig als solche identifizierbare V2-
Sätze nach subordinierender Konjunktion, wovon bemerkenswerterweise
zehn Fälle Kausalsätze sind (vgl. Petrova 2008).
Wenn man weil exemplarisch die Konjunktion dass gegenüberstellt,
zeigen sich erhebliche Unterschiede. Im Althochdeutschen ist V2 in thaz-
Sätzen extrem selten, vgl. aber (22):
(22a) dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zu dhir
quia dominus exercituum misit me ad te
(Isidor 236, zit. nach Axel 2007, 106)

_____________
23 Aussagen zum Althochdeutschen wie „fast alle Partikeln, die als Einleitungsstücke mit
Endstellung bzw. Späterstellung des Vf. verbunden werden können, begegnen auch am
Eingang von Sätzen mit Verbzweitstellung“ (Ebert 1978, 20) sind in diesem Zusammen-
hang höchst verwirrend, da hier nicht die Homonymie von koordinierenden und subordi-
nierenden Konjunktionen gemeint ist, sondern die von konnektiven Adverbien und subor-
dinierenden Konjunktionen (wie z.B. auch im informellen Gegenwartsdeutschen das
Adverb trotzdem in Trotzdem hat sie angerufen homonym zur subordinierenden Konjunktion
ist in …,trotzdem sie angerufen hat).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 75

(22b)táz er béiz ímo sélbemo ába die zúngûn


(Notker, Boethius, De Consolatione II 91,3; zit. nach Axel 2007,
94, Anm. 69)
Weiß (i. Dr.) zählt lediglich acht thaz-V2-Sätze in einem Korpus von 247
thaz-Sätzen.24 Auch im Althochdeutschen Tatian sind so gut wie keine eindeu-
tigen thaz-V2-Sätze zu finden, scheinbare V2-Fälle sind als die oben be-
schriebenen verschleierten Verbletztstellungen zu analysieren, wie sie
durch Extraposition o.ä. zustandekommen (vgl. Fleischer u.a. 2008). Fürs
Althochdeutsche ist also mit Axel (2007, 104) festzuhalten: „There are
only very few dhazs-clauses which exhibit postfinite material of such a kind
that an extraposition analysis is unlikely.“ Heutige dass-V2-Konstruktionen
sind offenbar nicht ebenso geradlinig auf eine historisch bereits einmal
existente Situation rückführbar wie weil-V2-Sätze. Für die Konjunktionen
obwohl und während stehen empirische Untersuchungen zur Diachronie
noch aus. Eine einfache Übertragung der Ergebnisse zu Geschichte und
Vorgeschichte von weil ist jedoch mit einiger Sicherheit zu kurz gedacht
(allein schon deshalb, weil der konjunktionale Gebrauch von obwohl und
während wesentlich jünger ist).
Ein zweites Problem ist die etwas missverständliche Erklärung, dass
die den Dialekten bzw. allgemein der gesprochenen Sprache immer wieder
zugesprochene Tendenz zur Parataxe (z.B. Arndt 1959, 408: „Neigung zur
Aufgabe der Endstellung des finiten Verbs“) zur Entstehung bzw. zur
Bewahrung von V2 in eingeleiteten Nebensätzen geführt habe. Eine Prä-
ferenz für parataktische Strukturen – sofern diese tatsächlich vorliegt,
siehe den folgenden Absatz – bedeutet ja nicht automatisch, dass ein und
dieselbe subordinierende Konjunktion alternativ auch parataktisch ge-
braucht wird. ‚Neigung zur Parataxe‘ ist wohl vielmehr so zu verstehen,
dass in den Mundarten hypotaktische Strukturen generell vermieden wer-
den und dass stärker als in der Schriftsprache von parataktischen Konnek-
toren oder asyndetischer Verknüpfung Gebrauch gemacht wird. Die
eigentliche Frage, nämlich ob es auch in älteren Sprachstufen Konjunk-
tionen gab, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten konnten, so wie sie
heute mit weil, obwohl, während, wobei und dass (sowie möglicherweise weite-
ren) vorliegen, bleibt also nach wie vor unbeantwortet.
Drittens schließlich ist diese vermeintliche Bevorzugung der Parataxe
in mündlicher Kommunikation womöglich gar nicht in dem Umfang ge-
geben wie häufig unterstellt. Wie Auer (2002) gezeigt hat, sind bestimmte
Nebensatztypen, etwa wenn- und dass-Sätze, in der gesprochenen Sprache
sogar häufiger als in der geschriebenen (vgl. Auer 2002, 133f.). Auer zu-
_____________
24 Das Korpus umfasst Belege aus Köbler (1986) sowie die Auswertung des ahd. Isidor in
Robinson (1997).
76 Ulrike Freywald

folge werden hypotaktische Strukturen aufgrund ihrer schwierigeren Pro-


zessierbarkeit nicht, wie meist angenommen, in gesprochener Sprache
generell gemieden, sondern nur dann, wenn die Einbettungsrichtung der
zeitlichen Linearität des Sprechens / Hörens entgegenliefe (was das Pro-
zessieren tatsächlich deutlich erschweren würde). Zudem wird in mündli-
cher Kommunikation die syntaktische Integrationstiefe möglichst gering
gehalten, die Integration als solche wird aber umfassend eingesetzt (vgl.
ebd., 136).
Eine allgemeine ‚Tendenz zur Nebenordnung‘ in mündlichen Varietä-
ten aufgrund von zu hohem Verarbeitungsaufwand komplexer Sätze ist
daher als Erklärung für die Existenz von V2-Sätzen nach subordinieren-
den Konjunktionen weder ausreichend noch plausibel. Eher sind hier
wohl Faktoren ausschlaggebend, die die speziellen Diskursanforderungen
und -strategien in der mündlichen Interaktion betreffen.
Die drei genannten Überlegungen sollten deutlich machen, dass bei
der Frage nach dem Alter von ‚subjunktional‘ eingeleiteten V2-Sätzen
durchaus eine gewisse Vorsicht geboten ist und dass es sich lohnt, auch
vermeintliche Allgemeinplätze immer wieder neu zu hinterfragen. Bevor
man vorschnell auf plausibel erscheinende Zusammenhänge schließt, soll-
te man sich also stets fragen, ob es nicht auch ganz anders (gewesen) sein
könnte.
Was konkret Alter und Häufigkeit der weil-V2-Konstruktion betrifft,
gilt dies natürlich in beiden Richtungen: Ebenso wenig wie das vermeint-
lich hohe Alter pauschal auf die Gesamtheit verwandter Strukturen über-
tragen werden darf, sollten Aussagen zu grammatischen Entwicklungen
nicht auf das mehr oder weniger zufällig am besten untersuchte Phäno-
men reduziert werden. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, kann ein
solchermaßen verengter Blick umgekehrt dazu führen, dass Dinge, die
zusammengehören, nicht als zusammengehörig erkannt werden, m.a.W.
dass systematische Zusammenhänge unbemerkt bleiben. Ein Beispiel
hierfür demonstriert – unfreiwilligerweise – die IDS-Grammatik (vgl.
Zifonun u.a. 1997). Hier wird für obwohl- und weil-Sätze ein funktionaler
Unterschied zwischen VL und V2 angenommen: „Alles spricht dafür, daß
diese Formdifferenzierung funktional erklärt werden muß“ (ebd., 465).
Die V2-Sätze in (23) werden hingegen als anakoluthisch angesehen – ob-
wohl sie den weil- und obwohl-Sätzen strukturell ganz ähnlich sind:
(23a) Ich bin überzeugt, daß, wenn es einmal im Gange ist, so muß es
(…) sich (…) sehr weit verbreiten.
(23b)(…) dann sind Sie bei ner Fünfzigstundenwoche angelangt→
und das . bei schönem Wetter ↓ . mutmaßlich ↓ ((0.8)) ja . wäh-
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 77

rend also der normale Werktätige ((0.8)) kämpft um ne Vierzig-


stundenwoche.
(23c) (…) diese Kalziumbehandlung machen wobei wenn man dann
merkt daß das mit Kalzium besser wird heißt das nicht, daß das n
Kalziummangel is ↓
(Zifonun u.a. 1997, 462f.; Unterstreichung markiert Akzent,
Kursivierung UF)
Zifonun u.a. (1997, 462) führen die eingebetteten wenn-Sätze in (23a,c) als
Grund für den „Konstruktionswechsel“ an (beide V2-Sätze sind nicht in
einen VL-Satz umformbar) und sehen darin folglich eine anakoluthische
Konstruktion. Auch wenn die wenn-Sätze die V2-Form hier begünstigen
mögen, so sind sie doch keine notwendige Bedingung (vgl. die Beispiele in
(3c) und (5), in denen während und dass auch ohne einen solchen Auslöser
mit V2 konstruiert werden). Zugleich würde einen ebenso konstruierten
weil-Satz niemand als Anakoluth bezeichnen (vgl. Wichtig sind viele Pausen,
weil wenn die Konzentration nachlässt, kommt es zu Flüchtigkeitsfehlern.). Es ist
also ganz unangemessen, dass Zifonun u.a. (ebd., 466) den folgenden
Schluss einzig mit Bezug auf weil ziehen und die betreffenden anderen
Konjunktionen dabei außer Acht lassen: „Die behandelte weil-Kon-
struktion ist also kein Anakoluth mehr, sondern eine diskursspezifische
syntaktische Konstruktion.“ Eine Erklärung hierfür wird allerdings wohl
darin zu suchen sein, dass nur weil in der Fachliteratur so prominent disku-
tiert worden ist.

4. Zusammenfassung
Ziel des vorliegenden Beitrages war es zu zeigen, dass Intuitionen hin-
sichtlich Vorkommenshäufigkeit und Alter von sprachlichen Phänomenen
trügerisch sein können, wenn man sich hauptsächlich auf die eigene
Wahrnehmung verlässt bzw. wenn man die Ergebnisse einer Analyse
mehr oder weniger ungeprüft auf ähnliche Phänomene überträgt, nur weil
dies intuitiv plausibel erscheint.
Am Beispiel von Nebensatzkonjunktionen, die im Gegenwartsdeut-
schen nicht nur subordinierend, sondern auch parataktisch gebraucht
werden, habe ich zu zeigen versucht, dass es zu Fehleinschätzungen füh-
ren kann, wenn zu voreilig von einem Vertreter, hier dem vergleichsweise
gut untersuchten weil, auf andere Konjunktionen mit ähnlichen Eigen-
schaften geschlossen wird. So hält der von vielen Linguisten geteilte Ein-
druck, V2-Sätze seien mit weil verbreiteter als mit obwohl u.a., einer empiri-
schen Überprüfung nicht stand. Im Gegenteil, der Anteil von
78 Ulrike Freywald

parataktischen Verknüpfungen ist bei den eher als marginal angesehenen


Konjunktionen während und obwohl in Wirklichkeit sogar höher als bei weil
(vgl. Abschnitt 2.2.). Und interessanterweise gibt es hier keine Schmähur-
teile von Seiten der Sprachkritik oder gar ‚Rettungsaktionen‘.
Ebenso ist die Annahme, die heutige Situation mit einer ganzen Reihe
von janusköpfigen Konjunktionen entspreche einem historisch schon
einmal dagewesenen System, so wohl nicht haltbar. Die Verhältnisse im
Bereich der Kausalkonjunktionen, zu deren Inventar tatsächlich bis ins
Frühneuhochdeutsche stets auch eine Konjunktion zählt, die VL- und V2-
Sätze einleitet, müssen als Spezialfall gewertet werden. Verweise auf die
‚freiere Wortstellung‘ im älteren Deutsch geben keinen Anlass zu der An-
nahme, es habe in eingeleiteten Sätzen generell pro Konjunktion mehrere
Optionen bezüglich der Verbstellung gegeben. Bei näherem Hinsehen und
theoretisch ausgefeilteren Analysen wird deutlich, dass ein großer Teil der
vermeintlichen Verbstellungsvarianz auf Umstellungen innerhalb des Sat-
zes zurückzuführen ist, die die Nebensatzposition des finiten Verbs (d.h.
VL) gar nicht berühren. Vielmehr bewirken andere, von Haupt- oder Ne-
bensatzstatus ganz unabhängige Gründe, dass nach dem Verb in syntakti-
scher Letztstellung noch weitere Konstituenten erscheinen, so dass eine
Form entsteht, die zufällig wie V2 aussieht. Die historischen Beschrei-
bungsansätze, die für weil und seine Vorläufer existieren, sind also nicht
ohne weiteres auf obwohl u.a. übertragbar (vgl. Abschnitt 3).
Wie alt die VL / V2-Variation bei diesen anderen Konjunktionen tat-
sächlich ist und in welcher Weise die Entwicklung dieser Strukturen ihren
Anfang genommen hat, konnte und sollte im Rahmen dieses Beitrags
nicht geklärt werden. Es ging lediglich darum, den Blick dafür zu schärfen,
dass eine Non-Standard-Struktur, wie weil + Hauptsatzwortstellung, nicht
ganz neu sein muss, nur weil sie erst seit kurzem bewusst wahrgenommen
wird, und dass umgekehrt damit verwandte Konstruktionen nicht ebenso
alte Vorläufer haben müssen, wie dies für den prominenten Fall, eben die
Kausalkonjunktionen, gilt. Es wäre z.B. durchaus denkbar – und dies ist
an dieser Stelle eine reine Hypothese –, dass die V2-Option nach obwohl,
während, wobei oder dass tatsächlich eine relativ neue Entwicklung ist, die
sich in Analogie zu den Kausalsätzen vollzogen hat (ob weil-V2-Sätze da-
bei ein durchgehendes oder aber ein wiederauflebendes Muster darstellen,
ist für diesen Gedanken erst einmal unerheblich). Um dem Phänomen
von hauptsatzförmigen Strukturen nach Nebensatzkonjunktionen auf die
Spur zu kommen, ist eine übergreifende Betrachtung notwendig sowie –
und es ist wohl unnötig, dies zu betonen – mehr Empirie.
Wir sind also noch nicht am Ende der Diskussion zu den VL / V2-
Konjunktionen. Jedoch steht mittlerweile ein differenziertes Beschrei-
bungsinventar zur Verfügung, das diskursanalytische Analysen verbinden
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen 79

kann mit moderner Syntaxforschung, die es ermöglicht, unter die Oberflä-


che von syntaktischen Erscheinungen zu schauen. So sind bei kluger
Quellenauswahl und umsichtiger Analyse interessante Ergebnisse insbe-
sondere auch für die historische Syntax zu erwarten.

Quellen

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Jahre in Israel, Teil I: Transkripte und Tondokumente, unter Mitarbeit von Sigrid
Graßl, Tübingen.
Bonner Fnhd.-Korpus = Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, 2009,
http://www.korpora.org/Fnhd/ (Stand: 28.02.2009).
Canetti, Elias (1993), Die Blendung, Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1935).
Köbler, Gerhard (1986), Sammlung kleinerer althochdeutscher Sprachdenkmäler, Gießen.
KuBus Magazin, Goethe-Institut (Hrsg.) (2007), Ausgabe 77, München.
Tatian = Die althochdeutsche Tatianbilingue, Achim Masser (Hrsg.) (1994), Handschrift
St. Gallen Cod. 56, Göttingen.

Literatur

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Arndt, Erwin (1959), „Das Aufkommen des begründenden weil“, in: Beiträge zur Ge-
schichte der deutschen Sprache und Literatur, 81 / 1959, 388-415.
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sprochenen Deutsch“, in: Peter Schlobinski (Hrsg.), Syntax des gesprochenen Deutsch,
Opladen, 55-91.
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Axel, Katrin (2007), Studies on Old High German Syntax. Left Sentence Periphery, Verb
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Die deutsche Nominalklammer
Geschichte, Funktion, typologische Bewertung

Elke Ronneberger-Sibold (Eichstätt)

1. Einleitung
In diesem Aufsatz wird die Geschichte der deutschen Nominalklammer
unter typologischem Gesichtspunkt beleuchtet. Die Einordnung des
Deutschen nach den herkömmlichen Kriterien ‚synthetischer vs. analyti-
scher Sprachbau‘ und ‚OV-typische vs. VO-typische Serialisierung‘ berei-
tet notorische Schwierigkeiten.1 So ist z.B. einerseits der Ausdruck von
Definitheit als grammatische Kategorie durch die Artikel sicherlich ein
Schritt in Richtung Analytizität, andererseits sind die stark komprimierten
und unregelmäßigen, kaum anders als durch Suppletion beschreibbaren
Formen des bestimmten Artikels hochgradig synthetisch. Was die Wort-
stellung angeht, so vereinigt gerade die Nominalphrase mit der OV-typi-
schen Stellung der kongruenzfähigen Attribute und Artikelwörter links
und der VO-typischen Stellung der nicht kongruenzfähigen Attribute und
des Relativsatzes rechts vom Kernsubstantiv beide Stellungstypen in sich.
Beide wurden im Übrigen durch Sprachwandel herbeigeführt: Einerseits
wurden nachgestellte Adjektive vorangestellt, andererseits das vorange-
stellte Genitivattribut nachgestellt.
Diese (und weitere) typologischen Ungereimtheiten sind in Ronneber-
ger-Sibold (1991; 1994; 1997; 2007) versuchsweise durch ein typologisch
relevantes Prinzip erklärt, das synchron wie diachron den anderen typolo-
gischen Tendenzen übergeordnet ist. Dieses Prinzip ist das so genannte
klammernde Verfahren. In diesem Aufsatz wird dieser Gedanke mit
einem speziellen Fokus auf der Nominalklammer weiter ausgebaut.

_____________
1 Vgl. verschiedene Beschreibungen und Erklärungen der typologischen Widersprüche in
Askedal (1996; 2000); Eisenberg (1994, insbesondere 371-376), Hawkins (1986, insbeson-
dere Kapitel 9-11), Hutterer (1990, insbesondere 452-467), Primus (1997), Roelcke (1997,
insbesondere Kap. 4 und 5).
86 Elke Ronneberger-Sibold

Im Folgenden wird zunächst in Abschnitt 2 gezeigt, wie die Tendenz


zur Klammerbildung das gesamte neuhochdeutsche Sprachsystem auf
allen Ebenen wie ein roter Faden durchzieht. In vielen Fällen ist dazu die
Einbeziehung von Substandardvarietäten notwendig, in denen sich Ten-
denzen durchsetzen können, die in der stärker normierten Standardspra-
che nicht akzeptiert sind.
In Abschnitt 3 wird die Funktion des klammernden Verfahrens disku-
tiert. Abschnitt 4 ist der diachronen Perspektive am Beispiel der Nominal-
klammer gewidmet. In einem diachronen Längsschnitt durch die deutsche
Sprachgeschichte werden die wichtigsten Schritte bei der Herausbildung
dieser Konstruktion verfolgt. Es geht dabei also nicht um die Frage, wie
häufig die einmal etablierte Nominalklammer zu welcher Zeit in welchen
Textsorten war, wie komplex ihr Innenaufbau war, welche Durchbre-
chungen möglich waren, wie all dies gegebenenfalls durch bestimmte
Texttraditionen und bestimmte außersprachliche Entwicklungen motiviert
war usw. Dazu ist viel geleistet worden.2 Hier wird vielmehr danach ge-
fragt, welche Veränderungen und Bewahrungen notwendig waren, um
diese Konstruktion überhaupt entstehen zu lassen. Davon betroffen sind
die Wortstellung (4.1.) sowie die Morphologie des linken (4.2.) und des
rechten Klammerrandes (4.3.). Die Veränderungen, die den rechten
Klammerrand betreffen, reichen diachron am weitesten in die Vergangen-
heit zurück. Sie werden daher besonders ausführlich dargestellt, zumal sie
bisher kaum im Hinblick auf ihre Funktion für das klammernde Verfahren
untersucht wurden (vgl. aber Ronneberger-Sibold 2007 und i. Dr.).
In sprachvergleichender Perspektive zeigt sich, wie das Deutsche sich
unter anderem durch diese Veränderungen und Bewahrungen typologisch
mehr und mehr von den genetisch verwandten übrigen germanischen
Sprachen entfernt hat, die eine andere Entwicklung nahmen. In diesem
Aufsatz sind das Englische und das Schwedische als besonders deutliche
Beispiele gewählt. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht wird
hier also die Meinung vertreten, dass das Deutsche in typologischer Hin-
sicht nicht einfach nur konservativer ist als die meisten anderen germani-
schen Sprachen, sondern dass es sich in eine andere Richtung, eben auf
das klammernde Verfahren hin entwickelt hat. Diese typologische Ausein-
anderentwicklung wird bis zu ihren frühesten Ansätzen zurückverfolgt, die
sich bereits im Germanischen ausmachen lassen.
Alle Erscheinungen, die im synchronen und im diachronen Teil dieses
Aufsatzes zur Sprache kommen, haben bzw. hatten jede für sich ihre eige-

_____________
2 Vgl. die einschlägigen Handbücher, v.a. Behaghel (1932, insbesondere 177-226 und 241-
251), Ebert (1986), Admoni (1990), Solms / Wegera (1991), als wichtige Monographie We-
ber (1971) sowie die Aufsätze von van der Elst (1988), Lötscher (1990).
Die deutsche Nominalklammer 87

nen Motive: Sie dienen bzw. dienten von Fall zu Fall der Verkürzung oder
auch der Verdeutlichung des Ausdrucks, der Vereinheitlichung der Wort-
stellung, der Steuerung der Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers und
anderen Zwecken mehr. Keines dieser Motive soll in Abrede gestellt wer-
den. Was jedoch alle diese Erscheinungen verbindet, ist ihre Nützlichkeit
für das klammernde Verfahren. Diese verschaffte ihnen, so die hier vorge-
tragene These, einen Selektionsvorteil gegenüber anderen, konkurrieren-
den Neuerungen mit ihren eigenen, oft konträren Motiven. Je mehr
Klammerkonstruktionen auf diese Weise entstanden, umso stärker wurde
ihre musterbildende Kraft und umso größer der Selektionsvorteil für wei-
tere Klammern. Als solche lawinenähnliche Prozesse dürfte sich die
Durchsetzung nicht nur des klammernden Verfahrens, sondern jedes
typologisch relevanten Zugs in einem Sprachsystem modellieren lassen.
Anders ist schwer vorstellbar, wie sich angesichts der vielen, einander
widerstreitenden Motive innerhalb einer Sprachgemeinschaft und sogar
innerhalb desselben Sprechers beim selben Sprechakt überhaupt ein typo-
logisch einheitliches Sprachsystem herausbilden kann.3 Insofern versteht
sich dieser Aufsatz auch als ein Beitrag zur allgemeinen Theorie des
Sprachwandels.

2. Das klammernde Verfahren im Neuhochdeutschen


2.1. Definition

Das klammernde Verfahren besteht darin, dass bestimmte Bestandteile


eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, dass der
Hörer / Leser aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer
Wahrscheinlichkeit schließen kann, dass der betreffende Bestandteil erst
dann beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprech-
kette erscheint (vgl. auch Ronneberger-Sibold 1994, 116). Die beiden Sig-
nale können, aber müssen nicht in einer engen strukturellen Beziehung
zueinander stehen. Sehr eng ist sie z.B. zwischen den beiden Teilen der
Zirkumfixe zur Markierung des Partizips Perfekt ge...(e)t (ge-sag-t, ge-red-et)
oder ge...en (ge-komm-en); sehr lose, wenn überhaupt vorhanden, ist sie da-
gegen zwischen einer Subjunktion oder einem Relativpronomen am An-
fang und dem finiten Verb am Ende eines eingeleiteten Nebensatzes.4 Für
die Performanz des Lesers / Hörers macht das keinen Unterschied: Er
_____________
3 Tatsächlich sind ja die meisten Sprachsysteme typologisch nicht vollkommen einheitlich.
4 Mit Weinrich (2007) wird das Relativpronomen hier (anders als in Duden 2005) als linker
Klammerrand betrachtet.
88 Elke Ronneberger-Sibold

kann sich ebenso darauf verlassen, dass eine Verbform, die mit ge- beginnt,
höchstwahrscheinlich mit -(e)t oder -en endet5, wie dass ein Nebensatz, der
mit dass oder ob beginnt, höchstwahrscheinlich durch sein finites Verb
abgeschlossen wird. Wegen dieses performanzbezogenen Kriteriums wer-
den hier zum klammernden Verfahren auch solche Konstruktionen ge-
zählt, die in der Grammatikschreibung bislang nicht (oder nicht einhellig)
als solche betrachtet werden.

2.2. Die Nominalklammer

Als Beispiel für die diesem Aufsatz zugrunde gelegte Definition der No-
minalklammer dient der folgende Textabschnitt, der aus einem Zitat aus
einer Musikkritik und unserem kurzen grammatischen Kommentar dazu
besteht. Die Nominalklammern sind durchnummeriert und durch Kursiv-
druck der Ränder hervorgehoben.
„(1) Der herbstlich mürbe Tonfall, (2) die immer (3) im Atemrhythmus (4) der Musiker
flexibel sich aufbauenden Klanggespinste, (5) die auf Melancholie zielende Verhalten-
heit – da sind (6) die Ebènes zu Hause.“6 (7) Dieser aus (8) einer Fülle (9) ähnlicher Bei-
spiele relativ willkürlich herausgegriffene Satz enthält sechs hier vorsorglich
durchnummerierte, teils parallele, teils ineinander geschachtelte Beispiele für (10)
die deutsche Nominalklammer.
Als Nominalklammer werden hier alle diejenigen Nominalphrasen be-
zeichnet, die mit einem stark flektierten Element am linken Rand begin-
nen und mit dessen Bezugssubstantiv – dem so genannten Kernsubstantiv
der Klammer – enden. Zur starken Flexion wird hier auch die Flexion des
bestimmten Artikels gezählt, auch wenn sich beide lautlich z.T. stark un-
terscheiden. Ausschlaggebend sind die Distinktivität der Formen, die in
den beiden Paradigmen nahezu gleich ist, die Kongruenzfähigkeit und die
Möglichkeit, eine Nominalklammer zu eröffnen.
Die letztgenannte Möglichkeit hat die so genannte schwache Adjektiv-
flexion nicht. Sie ist bekanntlich auf attributiv verwendete Adjektive be-
schränkt, die im Inneren einer Nominalklammer nach einem stark flektier-
ten Determinans am linken Rand stehen, z.B. mürb-e in Klammer (1), sich
aufbauend-en in (2). Außerdem ist die Distinktivität der schwachen Adjek-
tivflexion im Vergleich zur pronominalen stark eingeschränkt: Die einzig
möglichen Endungen sind -e und -(e)n. Ihre wesentliche Funktion ist, dem
_____________
5 Ausnahmen sind nur Verben mit festem ge- wie gehören, gelingen, gerinnen, genießen. Bei diesen
sind -(e)t und -en auch als Personalendungen (er / sie / es ge-hör-t; wir / sie ge-hör-en) und au-
ßerdem andere Endungen (-st, -end, Null) möglich.
6 Brembeck, Reinhard J., „Wehmut der Konversation. Das Quatuor Ebène mit Haydn,
Fauré und Schubert in München“, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2009, 12.
Die deutsche Nominalklammer 89

Hörer / Leser zu signalisieren, dass er sich bei der syntaktischen Dekodie-


rung gerade im Inneren einer Nominalklammer befindet. Ganz unflektiert
sind Adjektive in prädikativer und adverbialer Verwendung, auch inner-
halb der Nominalklammer, z.B. herbstlich in (1) in Opposition zu an dieser
Stelle ebenfalls denkbarem attributivem herbstliche, parallel zu mürbe.
Eine Füllung der Klammer ist nach der hier gegebenen Definition
nicht notwendig: Auch z.B. (3), (4), (6), (8) und (9) zählen als Nominal-
klammern. Dem Kernsubstantiv nachgestellte Attribute wie etwa die Ge-
nitivattribute in (4) und (9) sind nicht Teil der Nominalklammer: der Musi-
ker ist zwar Teil der Nominalphrase mit dem Kernsubstantiv Atemrhyth-
mus, aber nicht Teil seiner Nominalklammer.
Der linke Klammerrand ist in den Klammern (1) bis (6) durch den be-
stimmten Artikel besetzt (in (3) verschmolzen mit einer Präposition); diese
Funktion kann aber auch ein anderes Determinans wie dieser in (7) oder
der unbestimmte Artikel in (8) sowie ein stark flektiertes Adjektiv wie
ähnlicher in (9) übernehmen. Die eigentliche Klammer wird aber nicht
durch diese Wortarten und die Wortart Substantiv an ihrem rechten Rand
gebildet, sondern durch ihre Flexion und das Genus des Kernsubstantivs.
Am linken Rand wird nämlich im Hörer / Leser nicht nur die Erwartung
auf irgendein Kernsubstantiv erweckt, sondern auf ein Kernsubstantiv,
das in Genus, Kasus und Numerus zum linken Klammerelement passt. Es
handelt sich also (in herkömmlicher Terminologie) um eine Kongruenz-
klammer.7
Die Kongruenz zwischen linkem und rechtem Klammerrand ist des-
halb für das Deutsche so wichtig, weil alle von den Attributen abhängigen
Konstituenten mit in die Klammer aufgenommen werden. Sie stehen dort
im Einklang mit der Tendenz zur OV-Stellung links von ihrem Bezugs-
wort. Diese Regelung, die zu den berüchtigten langen und komplexen
deutschen Nominalklammern führt, hat zur Folge, dass der Hörer / Leser
vor dem Kernsubstantiv bereits zahlreiche weitere antrifft. Wenn diese
keine eigene Klammer besitzen, verhindern einzig die mangelnde Kon-
gruenz und gegebenenfalls der Textsinn ein vorzeitiges Schließen der
Klammer (eine so genannte „Garden-Path-Analyse“, Pritchett 1988) wie
z.B. der Bezug von dieses auf Ausländern in der Nominalphrase dieses Aus-
ländern nur schwer vermittelbare System (vgl. Ronneberger-Sibold 1994, 121).
Wie wichtig die Kongruenz für die reibungslose Dekodierung deut-
scher Nominalklammern ist, zeigen die glücklicherweise nicht sehr häufi-
_____________
7 Das Zusammenwirken der verschiedenen an der Nominalphrase beteiligten Wortarten mit
ihren Flexionen ist in der Literatur sehr unterschiedlich beschrieben bzw. interpretiert
worden. Vgl. z.B. Werner (1979, s. dort auch die Aufarbeitung der älteren Literatur), Wur-
zel (1984, 90ff.), Admoni (1990, 18), Gallmann (1990), Ágel (1996). Für das Funktionieren
des klammernden Verfahrens spielen diese Beschreibungsvarianten jedoch keine Rolle.
90 Elke Ronneberger-Sibold

gen Fälle, in denen das System versagt, weil zufällig vor dem Kernsubstan-
tiv ein weiteres mit derselben Genus-Kasus-Numerus-Kombination steht,
das zudem auch inhaltlich passen könnte. Beispielsweise enthält der ein-
gangs zitierte Text auch den folgenden Satz: ...erst bei der Wiederholung findet
er eine Höhe mit Tiefe versöhnende Lösung. Die anfängliche Fehlanalyse von eine
Höhe (eventuell sogar eine Höhe mit Tiefe) als Nominalphrase ist fast unver-
meidlich (zumal im Original Höhe am Zeilenende steht).8 In einem weite-
ren Beispiel aus demselben Text vermeidet lediglich ein Komma eine
Fehlanalyse: Dieser kommunikative, Distanz meidende Akt in geradezu intimer
Atmosphäre. Ohne das Komma vor Distanz bzw. eine Pause beim lauten
Lesen würde man unweigerlich kommunikative auf Distanz statt auf Akt
beziehen, zumal auch diese Lesart einen vernünftigen Textsinn ergäbe.
Solche Beispiele zeigen, warum eine möglichst große Anzahl an ver-
schiedenen grammatischen Subkategorien (z.B. drei Genera) für das klam-
mernde Verfahren günstig ist: Je größer die Anzahl an möglichen Kombi-
nationen, umso kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig dieselbe
Kombination mehrmals in derselben Nominalphrase vorkommt und da-
durch solche Fehlanalysen wie bei eine Höhe möglich werden. Diese Über-
legung wird eine Rolle im diachronen Teil dieses Aufsatzes spielen.
„Unfälle“ wie diese ereignen sich jedoch hauptsächlich in solchen
überdehnten schriftsprachlichen Klammern wie in unseren Beispielen.
Wie Thurmair (1991) gezeigt hat, funktioniert das klammernde Verfahren
dagegen recht gut in seinem eigentlichen Bereich, in dem es auch ur-
sprünglich entstanden ist, nämlich den relativ kurzen Sätzen der mündli-
chen Alltagskommunikation.
In diesem Bereich funktioniert das klammernde Verfahren auch, ob-
wohl in den meisten Fällen weder die Endungen der pronominalen Flexi-
on noch die der Substantive eindeutig sind. Beispielsweise kann die Form
der Nom. Sg. Mask. oder Dat. / Gen. Fem.9 oder Gen. Pl. sein. Erst das
Kernsubstantiv am Ende der Nominalklammer bringt Eindeutigkeit: Ein
Maskulinum im Singular entscheidet für die erste Möglichkeit (z.B. der
Akt), ein Femininum im Singular für die zweite (der Wiederholung) und
irgendein Substantiv im Plural unabhängig vom Genus für die dritte (der
Akte / Wiederholungen / Konzerte). Im Neuhochdeutschen tragen sie sogar
weitgehend die für die Syntax wichtige Kasusunterscheidung mit: Der
Numerusgegensatz zwischen der Akt und der Akte unterscheidet z.B.
gleichzeitig zwischen Nominativ und Genitiv; der Genusgegensatz zwi-

_____________
8 Weitere Beispiele in Agricola (1968).
9 Die Homonymie von Genitiv und Dativ Singular im Femininum gehört zu den grundsätz-
lichen Synkretismen des Deutschen, die nicht durch Flexion aufgelöst werden können.
Die deutsche Nominalklammer 91

schen der Akt und der Wiederholung zwischen Nominativ und Genitiv / Da-
tiv.
Wegen der Bedeutung der Kongruenz für das Funktionieren der No-
minalklammer eröffnen unflektierte10 Einleitewörter wie z.B. das in unse-
rem Beispieltext unterstrichene Zahladjektiv sechs in der Nominalphrase
sechs...Beispiele nach der hier gewählten Definition keine Nominalklammer
im engeren Sinne, selbst wenn sie sich direkt auf das Kernsubstantiv be-
ziehen: Sechs lässt zwar ein Kernsubstantiv im Plural erwarten, aber es sagt
nichts über dessen Genus und Kasus aus. Entsprechendes gilt für Präposi-
tionen: Sie lassen zwar ein Substantiv in einem bestimmten Kasus erwar-
ten, aber nicht in einem bestimmten Numerus und Genus. Immerhin
stehen jedoch Präpositionalphrasen und Nominalphrasen mit unflektier-
ten, direkt auf das Kernsubstantiv bezogenen Einleitewörtern der Nomi-
nalklammer im engeren Sinne näher als komplexe Nominalphrasen mit
vorangestellten Attributen, aber ohne irgendein direkt auf das Kernsub-
stantiv bezogenes Einleitewort. Würde z.B. in der Nominalphrase
sechs...Beispiele das Zahlwort sechs fehlen, so wären die Grenzen zwischen
den Konstituenten nicht klar: hier oder sogar hier vorsorglich könnte entwe-
der auf enthält oder auf durchnummeriert bezogen werden. Da dieser uner-
wünschte Effekt durch Präpositionen und unflektierte Einleitewörter
verhindert werden kann, wenn auch nicht so sicher und effizient wie
durch stark flektierte Elemente, könnte man Präpositionalphrasen und
Nominalphrasen mit Zahlwörtern usw. als Nominalklammern im weiteren
Sinne bezeichnen. Dies ist oben durch Unterstreichung anstelle von Kur-
sivsatz symbolisiert.

2.3. Verschmelzungsformen von Präposition und Artikel

Verschmelzungsformen zwischen Präposition und Artikel wie z.B. im < in


dem in Klammer (3) machen auch aus Präpositionalphrasen vollwertige
Nominalklammern, weil durch sie die mit dem Kernsubstantiv kongruie-
rende Flexion ganz an den linken Rand rückt. Neben ihrer „vordergründi-
gen“ phonetischen Motivation können solche Formen also auch „im Hin-
tergrund“ durch das klammernde Verfahren motiviert sein. Dies dürfte
mit eine Erklärung für die außerordentliche Produktivität dieser Form der
_____________
10 „Unflektiert“ ist in bestimmten Formen von „endungslos“ wie z.B. im Nom. Sg. Mask. /
Neutr. und im Akk. Sg. Neutr. bei ein, kein und den Possessivpronomina zu unterscheiden;
da die anderen Formen dieses Paradigmas flektieren, kann man aus der Endungslosigkeit
auf eben diese Kategorienbündel schließen. Weitere unflektierte Einleitewörter von Nomi-
nalklammern sind u.a. solche indefiniten „Artikelwörter“ wie etwas, nichts, genug (vgl. Duden
2005, 386f.).
92 Elke Ronneberger-Sibold

Enklise sein. Einzelne Formen stehen sogar bereits in funktionaler Oppo-


sition zur unverschmolzenen Verbindung (zur Schule gehen vs. zu der Schule
gehen). Im mündlichen Sprachgebrauch bilden Verschmelzungsformen
inzwischen ganze Paradigmen.11 Nach diesen und anderen Kriterien lässt
sich im Deutschen eine deutliche Tendenz zu flektierten Präpositionen
ausmachen, auch wenn eine volle Grammatizität derzeit (noch?) nicht
erreicht ist (vgl. Nübling 1998).

2.4. Die Satzklammern

Die so genannten Satzklammern sind – vor allem in der Außenperspekti-


ve – die auffälligste Anwendung des klammernden Verfahrens in der
deutschen Gegenwartssprache, besonders in konzeptionell schriftsprachli-
cher Verwendung. Daher sind sie auch synchron wie diachron die mit
Abstand am besten untersuchte Klammerkonstruktion. Wenige Bemer-
kungen mögen hier genügen:
Traditionell unterscheidet man die Hauptsatz- und die Nebensatz-
klammer. Die Hauptsatzklammer füllt das so genannte Mittelfeld: Ihr
linker Rand ist das finite Verb, der rechte entweder ein so genannter ab-
trennbarer Verbzusatz (Typ 1: Ich gebe das Buch zurück)12, oder der infinite
Teil eines Verbkomplexes (Typ 2: Ich habe das Buch zurückgegeben). Die Ne-
bensatzklammer wird durch eine unterordnende Konjunktion oder ein
Relativpronomen eröffnet und durch den Verbkomplex i.Allg. mit End-
stellung des Finitums geschlossen (Typ 3: ...dass ich das Buch zurückgegeben
habe). Da sowohl in Typ 2 als auch in Typ 3 die Ergänzungen und Anga-
ben vor ihrem Verb stehen, ergibt sich hier aus dem klammernden Ver-
fahren die oben erwähnte OV-Folge (Genaueres s. in Abschnitt 3).
Unter dem Gesichtspunkt des klammernden Verfahrens lässt sich
auch das Vorfeld des Hauptsatzes als Klammerkonstruktion interpretie-
ren, selbst wenn dies terminologisch nicht üblich ist. Sie wird gebildet
durch den linken Satzrand und das finite Verb: #Seit drei Wochen regnet es
ununterbrochen. Gegebenenfalls kann das finite Verb gleichzeitig das Vorfeld
schließen und das Mittelfeld eröffnen: #Seit drei Wochen hat es ununterbrochen
geregnet.

_____________
11 Ausführlich ist dies z.B. für das Berndeutsche in Nübling (1992, 211ff.) gezeigt.
12 Wegen ihrer großen und immer noch – etwa in der Jugendsprache (vgl. Thurmair 1991) –
stark zunehmenden Häufigkeit in der deutschen Gegenwartssprache ist für Weinrich
(1988) diese von ihm so genannte Lexikalklammer ein wesentliches Argument für seinen
Vorschlag, die Distanzstellung eines zweiteiligen Verbs als Grundwortstellung des Deut-
schen zu betrachten.
Die deutsche Nominalklammer 93

Die Funktion der Satzklammern wird im Allgemeinen in den subtilen


Möglichkeiten der Aufmerksamkeitssteuerung gesehen, die sie zusammen
mit der Felderstruktur eröffnen. Auch diachron wird angenommen, dass
beides sich aus bestimmten Mustern der informationsstrukturellen Gliede-
rung des Satzes entwickelt habe.13 Dieses Motiv kann sehr gut im oben
erwähnten Sinne durch das klammernde Verfahren als Hintergrundmotiv
begünstigt worden sein.

2.5. Verschmelzungsformen von Subjunktionen


und enklitischen Personalpronomina

Viel weniger weit vorangeschritten ist die Grammatikalisierung der Ver-


schmelzungsformen zwischen Subjunktionen und bestimmten enkliti-
schen Personalpronomina wie z.B. wemmer [vεmɐ] < wenn wir. Während
dieser Fall eine phonologisch sehr durchsichtige Sandhi-Erscheinung dar-
stellt, ist z.B. weilmer [vaIlmɐ] < weil wir schon weniger leicht durchschau-
bar. Hier ist der Anlaut von mer [mɐ] nicht unmittelbar durch regressive
Assimilation erklärbar. Vielmehr nimmt man an, dass diese Form als
Schwachton-Variante von wir durch Sekretion aus phonologisch motivier-
ten Fällen wie eben wemmer oder hammer [hammɐ] < haben wir entstanden
ist.14 Noch undurchsichtiger ist das bair. wenn-st (z.B. wennst moanst 'wenn
du meinst'), entstanden durch falsche Abtrennung der ganzen Endung der
2. Person Singular -st statt nur des total assimilierten postverbalen enkliti-
schen -t < du z.B. in ha-st < *hast-t < hast du. Synchron entsteht so der
Eindruck einer verbal flektierten Konjunktion (Harnisch 1989). In einem
bair. eingeleiteten Nebensatz wie z.B. und wennsd ån a so an Dûûg fümf oda
sechse oda-ràà zeen Laid hûsd (vgl. König u.a. 1991, 50ff.) kommt man daher
wohl nicht umhin, von kongruierenden Endungen der Subjunktion und
des finiten Verbs zu sprechen – genau dem linken und rechten Rand der
Nebensatzklammer. Diese erhält dadurch eine formale Markierung, die
ihrer funktionalen Wirkung entspricht.

_____________
13 Vgl. Lühr (2008), Donhauser / Solf / Zeige (2006).
14 Vgl. Werner (1988). Im Bairischen ist dieses reduzierte mer sogar sekundär wieder verstärkt
worden zur neuen Vollform mir, etwa im selbstbewussten mir san mir 'wir sind wir'.
94 Elke Ronneberger-Sibold

2.6. Trennbare Präpositionaladverbien:


Die „Adverbialklammer“15

Nicht nur Neuerungen haben in der älteren und jüngeren Sprachgeschich-


te zur Durchsetzung des klammernden Verfahrens beigetragen, sondern
auch erstaunlich hartnäckige Bewahrungen von klammernden Konstrukti-
onen in der Umgangssprache gegen den normativen Druck der normati-
ven Grammatik. Ein solcher Fall ist die Trennung der so genannten Pro-
nominaladverbien wie z.B. davon oder dafür in Sätzen wie da weiß ich nichts
von, da kann ich nichts für bzw. mit Verdoppelung von da in der (nach Be-
haghel 1932, 249) eher süddeutschen Variante Da weiß ich nichts davon, da
kann ich nichts dafür.16 Standardsprachlich zulässig ist jedoch nur die Kon-
taktstellung: Davon weiß ich nichts, dafür kann ich nichts. Diese normative Re-
gelung hat sich in der gesprochenen Sprache jedoch nie gegen die alte
Tendenz zur Distanzstellung mit anaphorischem da am Satzanfang und
spätergestellter Präposition durchsetzen können. Schon im Muspilli (Z. 5)
lesen wir z.B. dar pagant siu umpi (von Steinmeyer 1971, 66), wörtlich: 'da
streiten sie um' (nämlich um diu sela 'die Seele'). Dieser Satz zeigt bereits
eine strukturelle Möglichkeit, die diese Konstruktion bietet: nämlich auch
bei einteiligem Verbkomplex eine Hauptsatzklammer zu konstruieren, die
den ganzen Satz einschließt.17

2.7. Morphologie und Phonologie

Selbst auf die Morphologie und Phonologie des Deutschen wirkt sich das
klammernde Verfahren aus, etwa in Gestalt der Zirkumfixe beim Partizip
Perfekt (ge-sag-t, ge-red-et, ge-sung-en) und in Wortbildungen wie Ge-birg-e, Ge-
kreisch-e, be-fried-igen, ver-ängst-igen sowie in den bekannten phonologischen
Grenzsignalen des Wortes wie der Auslautverhärtung, vor allem aber dem
Kehlkopfverschlusslaut im Anlaut vor Vokal, der eine liaison an das vor-

_____________
15 Eine etwas ausführlichere Darstellung s. in Ronneberger-Sibold (1991).
16 Die Verdoppelung des da ist im ganzen Sprachgebiet obligatorisch bei vokalisch anlauten-
der Präposition: Da glauben wir noch nicht recht dran (Süddeutsche Zeitung vom 19./20.1.1991,
17, Spalte 4). *Da glauben wir noch nicht recht an wäre ungrammatisch.
17 Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass an dieser Textstelle bereits die Konstruktion
einer Satzklammer der primäre Grund für die Wortstellung gewesen sei. Dieser ist wohl
eher im Satzrhythmus zu suchen, auch ist dar an dieser Stelle noch nicht unbedingt rein
pronominal (als Wiederaufnahmeform für diu sela 'die Seele') zu interpretieren; auch eine
lokale oder temporale Lesart ist möglich. Aber dass der Konstruktionstyp sich bis heute
gehalten hat und ausgebaut wurde, und das sogar gegen normativen Druck, dürfte mit dem
Ausbau des klammernden Verfahrens zusammenhängen.
Die deutsche Nominalklammer 95

hergehende Wort ausschließt, etwa in dt. ein Ei [Ɂain.Ɂai] vs. engl. an egg
[ə.nεg].18

3. Die Funktion des klammernden Verfahrens


Wie aus der bisherigen Erörterung hervorgeht, sehen wir die primäre
Funktion des klammernden Verfahrens in einer speziellen Erleichterung
der syntaktischen Dekodierung: Dadurch, dass die jeweils zueinander
passenden Klammerränder die Grenzen von (verschieden definierten)
Konstituenten klar markieren, weiß der Hörer / Leser während des De-
kodierprozesses jederzeit, ob er sich am Anfang, im Inneren oder am
Ende einer Konstituente befindet.
Das Erkennen der Grenzen von Konstituenten ist damit im Deut-
schen strukturell sogar mehr begünstigt als das Erkennen ihrer syntakti-
schen Kategorien (Nominalphrase, Verbalphrase usw.) und ihrer syntakti-
schen Funktionen (Subjekt, direktes Objekt usw.). Die Kategorien muss
der Hörer / Leser aus den Wortarten erschließen, was im Deutschen noch
relativ gut funktioniert, die Funktionen aus der Kasusmorphologie. Letz-
tere ist im Vergleich zu den Konstituentengrenzen im Neuhochdeutschen
erstaunlich stiefmütterlich behandelt. Z.B. ist der fundamentale Unter-
schied zwischen Subjekt und direktem Objekt nur noch in Nominalphra-
sen im Mask. Sg. durch Flexion realisiert (der – den, gut-er – gut-en, ein –
einen, er – ihn), in allen anderen Fällen muss der Hörer / Leser ihn aus
einer Kombination aus Textsinn, der Default-Stellung S vor O und der
Satzintonation (eventuellen Kontrastakzenten) erschließen.
Durch diese Bevorzugung der Grenzen vor den Kategorien und
Funktionen unterscheidet sich das klammernde Verfahren im Deutschen
von anderen typologisch relevanten Ausdrucksverfahren wie dem flektie-
renden, etwa vertreten durch die älteren indogermanischen Sprachen, und
dem isolierenden mit fester Wortfolge, weitgehend bereits vertreten durch
das moderne Englisch. In beiden hat das Erkennen der grammatischen
Funktionen erste Priorität (Ronneberger-Sibold 2007). Z.B. erkennt man
das Subjekt im Lateinischen an der Nominativflexion seiner Glieder und
im Englischen an seiner Stellung vor dem finiten Verb. Aber was alles
zum Subjekt gehört, das muss sich der Hörer oder Leser im Lateinischen
(manchmal recht mühsam) im Satz „zusammensuchen“ und im Engli-
schen aus dem Wechsel von einer nominalen Wortart zum Verb erschlie-
_____________
18 In der Zunahme von phonologischen Prozessen zur Stärkung der Wortränder in der
deutschen Sprachgeschichte manifestiert sich nach Szczepaniak (2007) sogar ein lauttypo-
logischer Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache.
96 Elke Ronneberger-Sibold

ßen, was angesichts der Konversionsfreudigkeit des Englischen und der


fehlenden formalen Unterscheidung zwischen dem Partizip Perfekt und
dem Präteritum bei den schwachen Verben durchaus schwierig sein
kann.19
Dem optimalen Erkennen der grammatischen Kategorien (noch vor
den syntaktischen Funktionen) dient das ebenfalls in der Performanz be-
gründete Prinzip „Early immediate constituents“, das Hawkins (1994)
zufolge von vielen verschiedenen Sprachen befolgt wird. Es besagt, grob
und in traditioneller Terminologie gesprochen,20 dass erstens in jeder syn-
taktischen Phrase dasjenige Element möglichst weit am Anfang stehen
sollte, an dem der Hörer / Leser eindeutig die syntaktische Kategorie
dieser Phrase erkennen kann (bei einer Verbalphrase z.B. das finite Verb)
und dass zweitens in komplexen Phrasen die unmittelbaren Konstituenten
so angeordnet sein sollten, dass sie alle möglichst früh erkannt werden
können (enthält z.B. eine Verbalphrase eine kürzere und eine längere
Nominalphrase als Objekt oder Angabe, sollte die kürzere vorangehen,21
weil umgekehrt der Hörer / Leser erst die längere vollständig dekodieren
müsste, ehe er entdeckt, dass noch eine weitere folgt). Insgesamt laufen
Hawkins’ performanzorientierte Prinzipien also darauf hinaus, möglichst
viel strukturelle Information am linken Rand einer syntaktischen Phrase
zu versammeln. Der rechte Rand ist dagegen in dieser Theorie ganz unin-
teressant: Woher der Hörer bzw. Leser eigentlich weiß, dass die Phrase,
deren Kategorie er an ihrem Anfang erkannt hat, zu Ende ist, wird nicht
problematisiert. Damit spiegelt Hawkins Theorie recht gut die Struktur
seiner Muttersprache Englisch (und damit im Grunde einer VO-Sprache)
wider: Für ihn steht die Optimierung derjenigen Performanzleistungen des
Hörers / Lesers im Vordergrund, die von der Sprachstruktur des Engli-
schen begünstigt werden. Dass aus dieser Sicht die deutschen Satzklam-

_____________
19 Der häufig zitierte „Garden-Path-Satz“ The horse raced past the barn fell (Pritchett 1988)
beruht gerade auf dieser grammatischen Homonymie.
20 Das Folgende ist eine extrem knappe und ein Stück weit interpretierende Zusammenfas-
sung von Hawkins (1994, 57ff.).
21 Man fühlt sich an Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder erinnert (vgl. Behaghel
1932, 6).
Die deutsche Nominalklammer 97

mern eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen,22 ist verständlich, favorisieren sie


doch eine andere Performanzleistung.
Für das Funktionieren des klammernden Verfahrens ist dagegen der
rechte Rand, an dem die Klammer geschlossen wird, so wichtig, dass –
ganz im Gegensatz zum ersten oben genannten Prinzip von Hawkins –
das Kernlexem einer eingeklammerten Konstituente häufig gerade für
diese Position aufgespart wird: das Kernsubstantiv in der Nominalklam-
mer, der gesamte Verbkomplex im eingeleiteten Nebensatz, das infinite
Hauptverb in der Hauptsatzklammer, die Präposition in der Adverbial-
klammer. Auf diese Weise kann die Erwartung des Hörers bzw. Lesers
nicht enttäuscht werden, denn das wichtigste Element der ganzen Konsti-
tuente, auf dessen Erscheinen er sich auf jeden Fall verlassen kann,
schließt die Klammer ab.
Da bei diesem Verfahren die anderen eingeklammerten Elemente, die
von dem Kernlexem abhängen, diesem vorausgehen müssen, ergibt sich
automatisch eine OV-typische Wortfolge. Der Zusammenhang zwischen
Klammern und OV-Stellung ist auch von anderen Autoren beobachtet
worden, z.B. im Hinblick auf die Nominalklammer von Askedal (2000).
Allerdings betrachtet er, anders als wir, die Klammer als Folge der OV-
Stellung und nicht umgekehrt. Wir sehen dagegen das klammernde Ver-
fahren als primär an, weil es im deutschen Sprachsystem weiter verbreitet
ist als die OV-Stellung. Es gibt zwar Klammern ohne OV-Stellung, z.B.
die äußerst produktive Klammer aus finitem Verb und Verbzusatz (ich gebe
ihm das Buch zurück), aber kaum OV-Stellung ohne einen Zusammenhang
mit einer Klammer.
Innerhalb der Klammern werden die Elemente im Allgemeinen nach
logisch-semantischen und nach informationsstrukturellen Kriterien ange-
ordnet.23 Beim eingeleiteten Nebensatz resultiert die Klammer direkt aus
diesen Bauprinzipien: Das am stärksten rhematische Element, das Verb,
steht ganz rechts, die Junktion am Vortext links. Da diese Argumentation
_____________
22 Hawkins (1994, 402): „...a language of type (6.51) [d.h. eine klammernde] marks both the
onset and the offset of the VP, and this may have certain functional advantages for con-
stituent recognition over marking just one periphery via a construction category.“ Bei rich-
tiger Betrachtung passen die hier eher widerwillig eingeräumten „certain functional advan-
tages“ übrigens sehr gut zu der grundsätzlichen Beobachtung in Hawkins (1986, 6ff.), dass
das Deutsche detailliertere und explizitere Ausdrucksmittel für die zugrunde liegenden
Strukturen habe als das Englische. Dass er die deutschen Klammern nicht als ein solches
Ausdrucksmittel erkennt, liegt daran, dass er an dieser Stelle nur die semantische Interpre-
tation von Oberflächeneinheiten im Blick hat und dabei nicht bedenkt, dass der Hörer
bzw. Leser ja zunächst einmal die Einheit im Redefluss abgrenzen muss, die er semantisch
interpretieren soll.
23 Vgl. dazu mit explizitem Bezug auf die Klammerbildung v.a. Weinrich (1988; 2007) sowie
Kolde (1985), Eichinger (1993) für den nominalen und Eroms (1999) für den verbalen Be-
reich.
98 Elke Ronneberger-Sibold

für die Hauptsatzklammer mit finitem Hilfs- oder Modalverb in Zweitstel-


lung nicht zutrifft, zieht Eroms (1999) ein zweites funktionales Argument
hinzu: Durch die Flexion des finiten Verbs (und entsprechend des Artikels
bei der Nominalklammer) erfährt der Hörer bzw. Leser frühzeitig die für
das Satzverständnis wesentlichen Informationen, die in den grammati-
schen Kategorien kodiert sind: real vs. irreal, jetzt vs. nicht jetzt usw.
Auch nach dieser Interpretation ergeben sich die Klammern also se-
kundär als Epiphänomen aus anders motivierten Stellungsregularitäten.
Nach der hier vertretenen Ansicht ist dagegen das klammernde Verfahren
das primäre Merkmal des deutschen Sprachbaus: Als Dekodierhilfe für
den Hörer bzw. Leser sollen die Grenzen der Konstituenten klar markiert
werden. Daraus von Fall zu Fall resultierende weitere Performanzvorteile
unterstützen die Motivation, sind ihr aber nicht vorgeschaltet. Dieses gilt
auch für das seit Drach (1937) immer wieder angeführte Motiv des inhalt-
lichen Spannungsbogens zwischen linkem und rechtem Klammerrand.

4. Die Herausbildung der Nominalklammer


in der deutschen Sprachgeschichte
Wie in der Einleitung angedeutet, ist die Nominalklammer der deutschen
Gegenwartssprache durch ein sehr langfristiges Zusammenwirken ver-
schiedener Veränderungen und Bewahrungen in der Geschichte der deut-
schen Morphologie und Syntax zustande gekommen. Diese Veränderun-
gen und Bewahrungen betreffen 1. die Wortstellung innerhalb der
Nominalphrase, 2. die Flexion der Adjektive und Determinantien am lin-
ken Klammerrand sowie 3. die Flexion, das Genus und damit die Wort-
bildung der Substantive am rechten Klammerrand. In ihrer Gesamtheit
unterscheidet sich durch sie die Entwicklung der deutschen Nominalphra-
se in charakteristischer Weise von ihren Entsprechungen in den anderen
germanischen Sprachen. Eine vollständige und detaillierte Erforschung
der diachronen Vorgänge im nominalen Bereich sowie ihres Zusammen-
wirkens untereinander und mit den entsprechenden Veränderungen im
verbalen Bereich in Abhängigkeit von Zeit, Ort, Textsorte, ja sogar von
einzelnen Autoren ist ein Desiderat. Hier soll lediglich ein systematischer
Überblick über die Phänomene gegeben werden, die in diesem Zusam-
menhang relevant sind und daher zusammen in den Blick genommen
werden sollten. Wir verfolgen dabei die Entwicklung „rückwärts“ von der
Gegenwart aus in die Sprachgeschichte hinein.
Die deutsche Nominalklammer 99

4.1. Die Wortstellung innerhalb der Nominalphrase

Die jüngste der in Rede stehenden Entwicklungen ist die endgültige


Durchsetzung der Regelung, nach der kongruenzfähige Attribute links,
nicht kongruenzfähige Attribute und Relativsätze rechts vom Kernsub-
stantiv stehen. Die wichtigsten zu diesem Ziel notwendigen Veränderun-
gen waren 1. die Verschiebung des Genitivattributs nach rechts, 2. die
Verschiebung aller attributiven Adjektive und Partizipien nach links und 3.
die Integration aller Erweiterungen der attributiven Adjektive und Partizi-
pien in die Nominalklammer vor ihrem Bezugswort.

4.1.1. Das Genitivattribut

Nach Behaghel (1932, 179) stand ein nicht-partitives Genitivattribut noch


im Althochdeutschen normalerweise vor dem Kernsubstantiv. Hatte die-
ses einen Artikel oder ein anderes Determinans als Begleiter, konnte das
Genitivattribut in eine Nominalklammer eingeschlossen werden, z.B. umbi
dhea christes chumft (Isidor 25, 12, nach Behaghel 1932, 179), then liohtes kindon
(Tatian 108, 4, nach ebd.). Enthielt das Genitivattribut selbst einen Artikel
oder ein anderes Determinans, so konnten (selten) beide nebeneinander
stehen. So noch bei von Lohenstein (Arminius und Thusnelda, 1689, 606):
diese des Papagoyens Worte. Eine solche Häufung von Determinantien am
Anfang der Nominalklammer wurde jedoch i.Allg. vermieden. Die übliche
Lösung war, auf ein Determinans des Kernsubstantivs zu verzichten: dero
sunnun verte, (Notker 14, 6, nach Behaghel 1932, 184), der mitternächtischen
Landschafften Meister (von Lohenstein1689 / 1973, 601), der Weisheit letzter
Schluss (Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, nach Dal 1966, 180f.).24 Im
Sinne des klammernden Verfahrens war diese Lösung doppelt ungünstig:
Erstens fehlte der übergeordneten Nominalphrase eine Klammer, und
zweitens führte zudem das einleitende Determinans in die Irre: Je mehr
sich die Klammerkonstruktion bei Nominalphrasen ohne vorangestelltes
Genitivattribut durchsetzte, umso mehr waren vermutlich die Hörer und
Leser geneigt, jedes Determinans zunächst einmal als Eröffnung einer
Klammer zu betrachten, die durch das Kernsubstantiv der ganzen NP
geschlossen wurde. Im oben genannten Beleg von Lohenstein hätte eine
solche Strategie z.B. zu der Annahme geführt, dass die Klammer nach
Landschafften beendet war und die Funktion eines Objekts oder einer An-

_____________
24 Eine seltenere, nur mit dem unbestimmten Artikel des Kernsubstantivs mögliche Lösung
war eine Art Ausklammerung des Genitivattributs nach links vom Typ: unsers orden ein bruo-
der, armes volkeleches ein michel teil (Berthold, nach Behaghel 1932, 180).
100 Elke Ronneberger-Sibold

gabe im Genitiv hatte. Im vorliegenden Satz ist eine solche Analyse sogar
vom Kontext her möglich. Er lautet: Der Himmel selbst schien allenthalben sein
Beystand zu sein, also daß er in weniger Zeit der mitternächtischen [sic] Landschafften
Meister ward. Der mitternächtischen Landschafften ist hier entweder als Genitiv-
objekt zum Phraseologismus [einer Sache] Meister werden zu interpretieren
(wie nhd. [einer Sache] Herr werden), oder als Genitivattribut zu Meister, also
[Meister der nördlichen Landstriche] werden andererseits.
Eine für das klammernde Verfahren günstigere und zudem durch den
partitiven Genitiv vorgeprägte Lösung war dagegen die Nachstellung des
Genitiv-Attributs wie in ein har thes fahses (Tatian 30,4, nach Behaghel 1932,
177f.). Diese Stellung setzte sich daher aus eher bescheidenen Anfängen
im Laufe der Sprachgeschichte immer mehr durch, auch wenn dies einem
einheitlichen OV-typischen Aufbau der Nominalphrase zuwiderlief. Das
klammernde Verfahren erwies sich hier als der typologisch wichtigere
Parameter. Die vorwiegende und schließlich obligatorische Nachstellung
betraf zunächst nicht-onymische Sach- und Abstraktbezeichnungen, dann
nicht-onymische Personenbezeichnungen und zuletzt die Eigennamen
von Personen (vgl. Behaghel 1932, 181ff.). Noch heute kann ein Perso-
nenname oder eine wie ein Personenname gebrauchte Verwandtschafts-
bezeichnung voranstehen: Peters Jacke, Onkel Ottos Bild (vgl. Duden 2005,
834), so auch Vaters / Opas Jacke und andere Eigennamen: Deutschlands
Urlaubsregionen, Karlsruhes Trainer.25
Alternative Lösungen, die eine Voranstellung des Determinans und
sogar zusätzlich ein klammeröffnendes Artikelwort in Kongruenz mit dem
Kernsubstantiv ermöglichen, sind das so genannte „unechte“ Determina-
tivkompositum, z.B. die Mutterliebe, und das so genannte relationale Adjek-
tiv, z.B. die mütterliche Liebe statt der / einer Mutter Liebe bzw. die Liebe der /
einer Mutter. Es ist daher kein Wunder, dass auch diese Konstruktionen im
Frühneuhochdeutschen das vorangestellte Genitivattribut ablösen (vgl.
_____________
25 Behagel (1932, 194) begründet die von ihm dargestellte chronologische Reihenfolge vor
allem mit dem „Gesetz der wachsenden Glieder“: „[...] [N]ichtpersönliche Substantive
werden viel häufiger mit Bestimmungen, insbesondere mit adjektivischen, belastet als Per-
sonenbezeichnungen. Und unter diesen erfahren wieder persönliche Gattungsbezeichnun-
gen leichter eine Ergänzung als Personenbezeichnungen.“ Obwohl letzteres sicherlich zu-
trifft, scheint mir der entscheidende Faktor für die mögliche Voranstellung der
Eigennamen weniger ihre Kürze zu sein als ihre Artikellosigkeit. Ein artikelloser Eigenna-
me im Genitiv kann mangels Determinans die oben beschriebene „Garden-Path-Analyse“
nicht in Gang setzen. Im Gegenteil: Für einen solchen Namen ist die Funktion als Genitiv-
attribut so typisch, dass der Hörer automatisch in der Umgebung nach einem Bezugssub-
stantiv sucht. Dafür spricht auch, dass die Voranstellung eines Eigennamens sehr stark
markiert ist, sobald dieser den bestimmten Artikel bei sich führt: *der Schweiz / des Tessins
Urlaubsregionen ist extrem archaisch, wenn nicht bereits ungrammatisch. Normal ist die Ur-
laubsregionen der Schweiz / des Tessins, parallel zu den inzwischen nahezu obligatorisch nach-
gestellten nicht-onymischen mehrteiligen Genitivattributen.
Die deutsche Nominalklammer 101

Pavlov 1983, Sattler 1992) und in der Gegenwartssprache vor allem in


Textarten gern verwendet werden, in denen komplexe Sachverhalte kom-
primiert dargestellt werden sollen. So finden sich etwa in dem in 2.2.
mehrmals zitierten Pressetext Ausdrücke wie der ARD-Preis (statt der Preis
der ARD) oder die Höllen der Wagnerschen Chromatik (statt die Höllen der
Chromatik Wagners oder die Höllen von Wagners Chromatik).26
Bekanntlich sind in der gesprochenen Umgangssprache heute weitge-
hend nachgestellte präpositionale Ersatzkonstruktionen an die Stelle des
Genitivattributs getreten: die Jacke von Peter / Vater / Opa, die Urlaubsregionen
von / in Deutschland / im Tessin, die Goldmedaillen von der erfolgreichen Schwimme-
rin, der Verbrauch von schwefelarmem Erdöl. Dagegen steht die nur in gespro-
chener Umgangssprache verbreitete Ersatzkonstruktion für den possessi-
ven Genitiv (dem) Peter / Vater / Opa seine Jacke wegen des mit dem
Kernsubstantiv kongruierenden Possessivpronomens links vom Kernsub-
stantiv. Dennoch ist sie für das klammernde Verfahren nicht optimal, weil
auch sie keinen linken Klammerrand in Kongruenz mit dem Kernsubstan-
tiv zulässt: *die (dem) Peter / Vater / Opa seine Jacke ist ungrammatisch. Ja,
das (umgangssprachlich sogar bei Eigennamen) sehr häufige Determinans
im Dativ am Anfang kann sogar die syntaktische Dekodierung fehlleiten,
wenn es als linker Klammerrand der ganzen Phrase interpretiert wird und
folglich ein Kernsubstantiv im Dativ erwarten lässt. In den normalerweise
relativ kurzen mündlichen Äußerungen ist dieses Problem geringer als in
langen, schriftsprachlichen Nominalklammern. Dies könnte das in Duden
(2005, 835) als „eigenartig“ bewertete Faktum erklären, dass diese Kon-
struktion „bisher nicht in die geschriebene Standardsprache aufgenommen
worden [ist]“.

4.1.2. Das Adjektivattribut

Die Möglichkeit, ein Adjektivattribut (vorzugsweise, aber nicht ausschließ-


lich unflektiert, s.u.) seinem Bezugssubstantiv nachzustellen, wurde im
Laufe der deutschen Sprachgeschichte immer mehr beschränkt. Die De-
tails hängen teils von der Gestaltung der Nominalphrase als ganzer, insbe-
sondere von eventuellen weiteren Attributen ab, teils auch von der Text-
art. Ein einzelnes nachgestelltes Adjektiv war schon früh vor allem auf die
dichterische Sprache beschränkt, besonders in der Funktion als Reimwort
(vgl. Behaghel 1932, 199), aber auch im Versinneren: Vom Himmel hoch, da
komm ich her (Luther). Dieser Sprachgebrauch ist z.B. bewusst „im Volks-

_____________
26 Hierzu s.a. Eichinger (1982).
102 Elke Ronneberger-Sibold

liedton“ archaisierend aufgenommen in Goethes Röslein rot (vgl. Dal 1966,


179), so auch im Kinderlied: Hänschen klein.
Davon zu trennen ist das in der Gegenwartssprache zunehmende Auf-
treten der Konstruktion in der Sprache der Werbung, v.a. in Produktna-
men (Henkell trocken), Rezeptnamen (Whisky pur, Aal blau) und in Produkt-
beschreibungen, z.B. in Bestelllisten (70 Nagelfeilen rund nach DIN 8342).27
In den Rezeptnamen dürfte französischer und englischer Sprachgebrauch
das Vorbild abgegeben haben (truite au bleu 'Forelle blau', whisky sour
'Whisky mit Zitronensaft'), während bei 70 Nagelfeilen rund die Nachstel-
lung sich aus dem Aufbau einer Bestellliste ergibt, in deren Spalten sinn-
vollerweise das Spezifizierte vor dem Spezifizierenden angeordnet ist. Der
modische Gebrauch in einem bestimmten Presse-Stil (Leben pur, Fußball
brutal aus Hörzu nach Duden 2005, 350) dürfte seinerseits eher an die Re-
zeptnamen anknüpfen als an den Volksliedton. Insgesamt ist zu fragen, ob
es sich tatsächlich um Attribute handelt oder nicht eher um prädikative
oder appositive Strukturen: Zwischen Aal blau und blauer Aal besteht mei-
nes Erachtens nicht nur ein Unterschied in der Wortfolge (und damit der
stilistischen Wirkung), sondern auch in der syntaktischen Funktion (und
damit der Semantik) des Adjektivs, während das im Mittelhochdeutschen
bei der winter hart und der harte winter wohl noch nicht der Fall war. Dieses
Problem kann hier jedoch nicht vertieft werden.

4.1.3. Die Erweiterungen des Adjektiv- / Partizipialattributs

Die Regel, dass mit den vorangestellten attributiven Adjektiven und Parti-
zipien auch deren sämtliche Erweiterungen links vom Kernsubstantiv
stehen müssen, hat sich nach Weber (1971, 199) ab dem 16. Jahrhundert
nach und nach etabliert. Bis ins Neuhochdeutsche finden sich jedoch
immer wieder Durchbrechungen, z.B. die aufgewälzten Berge zu des Ruhmes
Sonnenhöhen (Schiller nach Dal 1966, 180),28 eine Textstelle, die nicht nur
wegen ihrer ungewöhnlichen Metaphorik, sondern eben auch wegen der
nachgestellten Erweiterung zum Partizip aufgewälzten heute nur noch
schwer verständlich ist. Die seltenen Beispiele in der Gegenwartssprache
sind, wenn nicht rundheraus ungrammatisch, dann häufig nur deshalb
akzeptabel, weil sie auch Lesarten bieten, in denen eine nachgestellte Er-
weiterung sich direkt auf das Kernsubstantiv beziehen lässt, so z.B. in die
lebenswichtigen Funktionen der Moral im sexuellen Verhalten für den einzelnen und
_____________
27 Vgl. Duden (2005, 350).
28 Weitere Beispiele bei Dal (ebd.), bei Behaghel (1932, 245f.), Weber (1971, 199f.), Lötscher
(1990).
Die deutsche Nominalklammer 103

die Gesellschaft (Helmut Schelsky nach Eggers 1957-1958, 266). Für den
einzelnen und die Gesellschaft lässt sich sowohl auf lebenswichtigen als auch als
Funktionen beziehen.
Es ist eine gewisse Ironie der Sprachgeschichte, dass durch die neue
Stellungsregel dieselben Probleme am linken Klammerrand entstanden,
die in der Geschichte des Genitivattributs gerade vermieden worden wa-
ren: Da die Erweiterungen nach der Regel der OV-Folge vor den sie regie-
renden Adjektiven bzw. Partizipien stehen müssen, können sich Determi-
nantien häufen (das die Vertragserfüllung fordernde Gesetz, Weber 1971, 198),
und wenn das nicht der Fall ist, können „Garden-Path-Analysen“ entste-
hen wie in dem bereits oben zitierten Beispiel eine Höhe mit Tiefe --- versöh-
nende Lösung, wo der Artikel des Kernsubstantivs irrtümlich auf die Erwei-
terung des Attributs bezogen wird. Solche Konstruktionen gehören zu
den heute nicht mehr sehr zahlreichen „Lücken“ in dem ansonsten mitt-
lerweile recht eng gestrickten „Sicherheitsnetz“ der deutschen Klammer-
konstruktionen. Wenn – mit aller gebotenen Vorsicht – ein Blick in die
Zukunft gestattet ist, so möchte ich vermuten, dass diese „Löcher“ durch
den ohnehin seit althochdeutscher Zeit zunehmenden Artikelgebrauch
mehr und mehr geschlossen werden, auch um den Preis von Artikelhäu-
fungen: also z.B. eine die Höhe mit der Tiefe --- versöhnende Lösung. In Nomi-
nalphrasen, in denen diese Möglichkeit nicht besteht, z.B. bei indefiniten
im Plural, beobachtet man auch jetzt schon häufig die Verwendung von
relativ inhaltsleeren Adjektiven wie bestimmt oder gewiss, die offenbar im
Wesentlichen dazu dienen, den linken Klammerrand zu füllen: Zum Bei-
spiel wäre die Gefahr einer „Garden-Path-Analyse“ in Der Boden besteht aus
Wasser und Stickstoff --- bindenden Bakterien (vgl. Agricola 1968, 11) in Der
Boden besteht aus bestimmten, Wasser und Stickstoff bindenden Bakterien behoben.

4.2. Der linke Klammerrand

Die zuletzt analysierten Beispiele haben bereits gezeigt, wie wichtig der
linke Klammerrand für das Funktionieren der Nominalklammer ist. In der
Tat führten mehrere Entwicklungen und Bewahrungen in der Geschichte
der deutschen Flexionsmorphologie dazu, dass – im Gegensatz zu den
anderen germanischen Sprachen – der linke Klammerrand immer wieder
gestärkt oder zumindest nicht lautlich abgeschwächt wurde. Die wich-
tigsten Stationen auf diesem Weg werden im Folgenden zusammengefasst.
Die älteste spezifisch deutsche Entwicklung in diesem Zusammen-
hang ist die Schöpfung der Form der (Nom. Sg. Mask. des bestimmten
Artikels) aus älterem, lautgesetzlich entstandenem de und dem Personal-
pronomen er im frühesten Althochdeutschen. Mit Recht betrachtet Dal
104 Elke Ronneberger-Sibold

(1942) diese Schöpfung als einen Angelpunkt in der typologischen Aus-


einanderentwicklung der germanischen Sprachen. Sie hatte dabei eher den
Erhalt der Kasusflexion im Blick, eine Funktion, an deren Erfüllung der
bestimmte Artikel ja in der Tat maßgeblich beteiligt war und noch ist.
Gleichzeitig damit wurde aber auch ein wichtiger Baustein für die Nomi-
nalklammer geschaffen, und aus heutiger Perspektive muss man sagen,
dass das klammernde Verfahren sich in der folgenden deutschen Sprach-
geschichte als bedeutend vitaler erwiesen hat als die Kasusflexion.
Der nächste Schritt war konsequenterweise die Schöpfung der – eben-
falls nur im Deutschen vorkommenden – stark flektierten „Langformen“29
des Adjektivs nach dem Muster des bestimmten Artikels: ahd. guoter, guotiu,
guotaz nach der, diu, daz. Nach diesem Paradigma konnten auch Nominal-
phrasen ohne bestimmten Artikel einen stark flektierten linken Klammer-
rand erhalten. Außer den Adjektiven waren das vor allem die Determinan-
tien wie dieser und jener.
Die daneben erhaltene lautgesetzlich endungslos gewordene Form guot
im Nom. Sg. aller drei Genera und zusätzlich im Akk. Sg. Neutr. – bald
auch als echte unflektierte Form auf die anderen Kasus / Numeri übertra-
gen – erlaubte darüber hinaus eine morphologische Differenzierung zwi-
schen attributivem und prädikativem Gebrauch. Die spätere, oben darge-
stellte Beschränkung auf die pränukleare Position konnte dann aus der
starken Flexion der Adjektive, Artikel und sonstigen Determinantien ein
(fast eindeutiges) Signal für die Eröffnung einer Nominalklammer ma-
chen. Es ist unbestritten, dass damit zunächst auch eine weitgehend ein-
deutige Markierung für Kasus, Numerus und Genus der ganzen Nominal-
phrase gegeben war (die so genannte Monoflexion), aber auch diese
Funktion wurde durch die weitere Sprachentwicklung auf das oben (in
2.2.) dargestellte Zusammenwirken von Determinans oder stark flektier-
tem Adjektiv einerseits und dem Kernsubstantiv andererseits verlagert –
eben auf die beiden Glieder der Nominalklammer.
Ein drittes Mal wurde ein Element der starken Adjektivflexion im Mit-
tel- und Frühneuhochdeutschen vor den Folgen des reduktiven Lautwan-
dels bewahrt, dieses Mal nicht durch „Reparatur“ bereits entstandener
„Schäden“ auf analogischem Wege, sondern durch Blockieren eines Laut-
_____________
29 Wegen des Einflusses des bestimmten Artikels / einfachen Demonstrativpronomens
werden diese Formen in der historischen Grammatik, z.B. bei Braune / Reiffenstein
(2004, 218), häufig als pronominal bezeichnet. Das einfache Demonstrativpronomen hat
jedoch im Laufe der germanischen Sprachgeschichte wiederholt als Muster für die Verstär-
kung einzelner Formen der starken Adjektivflexion gedient, ohne dass aber die entspre-
chenden lautgesetzlich kürzeren, so genannten nominalen Formen erhalten geblieben wä-
ren. Zur Unterscheidung von diesen gemeingermanischen pronominalen Formen bevorzu-
gen wir die Bezeichnung der ausschließlich althochdeutschen als „Langformen“ in Opposi-
tion zu den nominalen „Kurzformen“.
Die deutsche Nominalklammer 105

wandels, nämlich der Apokope von /-ə/. Wie Lindgren (1953) gezeigt hat,
traf dieser Lautwandel ausgerechnet in der starken Adjektivflexion auf den
stärksten funktional begründeten Widerstand. Das lässt sich sogar in einer
so apokope-freundlichen Mundart wie dem Bairischen beobachten: Mhd.
grôze vüeze 'große Füße' entspricht bair. /gro:sə fiɐs/: Das /-ə/ von mhd.
grôze ist erhalten, dasjenige von vüeze nicht. Dabei diente die Konservie-
rung der Endung /-ə/ nicht der Unterscheidung von den anderen Adjek-
tivendungen nach Kasus, Genus und Numerus – diese wäre auch bei einer
endungslosen Form gegeben gewesen – sondern der Distinktion von eben
der endungslosen Form in prädikativer (und im Zuge der Apokope von
/-ə/ beim Adverb zunehmend auch adverbieller) Verwendung. Eine en-
dungslose Form in der starken Adjektivflexion hätte nicht mehr (nahezu)
eindeutig den Beginn einer Nominalklammer signalisiert. Dies wäre dem
klammernden Verfahren extrem abträglich gewesen.
Schließlich kann der linke Klammerrand nicht nur durch Blockade
von Lautwandel oder „Reparatur von Lautwandelschäden“ gestärkt wer-
den, sondern auch durch den Lautwandel selbst. Das ist der Fall bei den
oben (in 2.3.) besprochenen Verschmelzungsformen von Präposition und
Artikel am linken Rand einer Präpositionalphrase.
Insgesamt reichen in der Entwicklung der Nominalklammer die mor-
phologischen Stärkungen des späteren linken Klammerrandes offenbar
weiter in die Vergangenheit zurück als die syntaktischen Veränderungen
der Wortfolge. Es sieht so aus, als hätte zunächst die Morphologie be-
stimmte „Bausteine“ zur Verfügung gestellt – die Artikelform der, die
Langformen der starken Adjektivflexion –, die erst dann von der Syntax
zur Errichtung eines „Klammergebäudes“ genutzt wurden. Dieser Ein-
druck verstärkt sich noch bei der Betrachtung des rechten Klammerrandes
im nächsten Abschnitt.

4.3. Der rechte Klammerrand

Wie in 2.2. dargestellt, wird der rechte Rand der Nominalklammer gebildet
durch die Flexion des Substantivs nach Kasus / Numerus und durch sein
Genus. Von diesen drei Kategorien sind Numerus und Genus in der deut-
schen Sprachgeschichte bedeutend besser konserviert worden als Kasus.
Beim Numerus ist das vor allem der so genannten Numerusprofilierung
zu verdanken, beim Genus einerseits den bereits erwähnten Veränderun-
gen und Bewahrungen an den Begleitern und Attributen des Substantivs
am linken Klammerrand, andererseits aber auch am rechten Klammerrand
durch verschiedene Veränderungen und Bewahrungen in der Wortbildung
106 Elke Ronneberger-Sibold

der Substantive, die bis auf wenige Ausnahmen sicherstellen, dass jedes
Substantiv genau eines der drei Genera hat.

4.3.1. Die Numerusprofilierung

Unter der Bezeichnung Numerusprofilierung werden zahlreiche morphologi-


sche Veränderungen zusammengefasst, die im Laufe der deutschen
Sprachgeschichte dazu geführt haben, dass im Neuhochdeutschen (bis auf
bestimmte Ausnahmen vom Typ Lehrer mit zugrunde liegendem /ə/ in
der Endsilbe) nahezu jedes Substantiv eine eindeutige Pluralform hat.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Frühneuhochdeutschen,
als durch Bildung neuer Flexionsklassen (v.a. der so genannten gemischten
Flexion) und durch massenhaften Flexionsklassenwechsel30 die zahlrei-
chen numerusambigen Flexionstypen des Mittelhochdeutschen nahezu
alle untergingen. Eine besondere Rolle spielten dabei die starken Feminina
vom Typ mhd. diu / guotiu gebe 'die / gute Gabe' – die / guote gebe 'die / gute
Gaben'. Als durch den Zusammenfall von mhd. diu / guotiu und die / guote
in nhd. die / gute eine komplette Numerusambiguität der ganzen Nominal-
phrase drohte, wurde dies nicht, wie schon so häufig, durch „Reparatur“
der starken Adjektivflexion vermieden, sondern durch „Reparatur“ der
Numerusflexion am Substantiv. Man kann dies als eine Stärkung des rech-
ten Klammerrandes in einer Epoche interpretieren, in der dieser auch
syntaktisch an Bedeutung zunahm, weil das Kernsubstantiv durch die
oben geschilderten Wortstellungsveränderungen ein immer zuverlässigeres
Signal für das Ende des kongruenzfähigen Teils der Nominalphase wurde.
Es wäre jedoch verfehlt, die Numerusprofilierung auf diesen Zeitraum
zu beschränken. Sie kam zwar im Frühneuhochdeutschen zu ihrer größten
Entfaltung, und dies vermutlich, weil sie in den Dienst der Klammerbil-
dung gestellt wurde, aber als Erscheinung ist sie viel älter. Ihre früheste
Manifestation scheint der in voralthochdeutsche Zeit zurückreichende
völlige Verlust des stammhaften -i(-) im Sg. der mask. i-Stämme über den
lautgesetzlichen Bereich hinaus zu sein, (also auch im Nom. / Akk. Sg. der
kurzsilbigen: ahd. slag vs. as. slegi, aengl. slege 'Schlag'),31 während im Plural
in allen Endungen lautgesetzlich ein i-Laut erhalten blieb. Unter den übri-
gen altgermanischen Sprachen hatte nur das Gotische eine ähnlich klare
_____________
30 Prominentestes Beispiel sind die starken Neutra vom Typ mhd. wort (Sg. wie Pl.), die alle in
andere Klassen übertraten, z.B. nhd. Wört – Wörter (wie Lamm – Lämmer) und Wort – Worte
(wie Tag – Tage).
31 Vgl. Krahe / Meid (1969, Bd. II, 26), Ronneberger-Sibold (i. Dr.). S. dort auch weitere
Details zu den anderen obliquen Kasus und zum Vergleich mit den anderen altgermani-
schen Sprachen.
Die deutsche Nominalklammer 107

Verteilung (bis auf die notorisch ungeklärte, speziell gotische Endung -e


im Genitiv Plural). Im Ahd. musste diese Verteilung lautgesetzlich zur
Beschränkung des Umlauts auf den Plural führen (ahd. gast – gesti, slag –
slegi), der damit automatisch zum Pluralkennzeichen wurde. Ähnliches gilt
für die Reflexe der idg. es- / os-Stämme als Quelle des ebenfalls nur alt-
hochdeutschen Pluralsuffixes -ir mit obligatorischem Umlaut eines um-
lautfähigen Wurzelvokals: ahd. kalb – kelbir 'Kalb – Kälber'.32 Im Altengli-
schen und Altnordischen gab es keine entsprechend klare Verteilung von
Formen mit i-haltiger Endung und ohne eine solche auf den Plural und
den Singular respektive. Daher lag eine Morphologisierung des Umlauts
als Pluralkennzeichen nicht nahe.33 Im Altenglischen erfasste der Umlaut
das ganze Paradigma, im Altnordischen trat wortweise verschiedener pa-
radigmatischer Ausgleich entweder zugunsten der umgelauteten oder der
nicht umgelauteten Formen ein (vgl. Noreen 1923, 271f.).
Man gewinnt also auch bei der Numerusprofilierung auf der Basis der
ehemaligen i- und es- / os-Stämme den Eindruck, dass bereits in vorahd.
Zeit ein „Baustein“ für die spätere Errichtung der Nominalklammer be-
reitgestellt wurde. Unter den nord- und westgermanischen Sprachen steht
das spätere Althochdeutsche damit alleine da – ähnlich wie bei den Lang-
formen der starken Adjektivflexion und beim Nom. Sg. Mask. des be-
stimmten Artikels. Anders als bei diesen hat es bei der frühen Numerus-
profilierung jedoch eine überraschende Parallele im Gotischen. Diese zeigt
sich auch bei der Geschichte des zweiten Bausteins am rechten Rand der
Nominalklammer, nämlich der Vermeidung von Substantiven, die ohne
formale Veränderung mehrere Genera haben können.

4.3.2. Die Vermeidung von Genusambiguität beim Substantiv

Damit das Kernsubstantiv am rechten Rand einer Nominalklammer seine


Funktion erfüllen kann, die Klammer zu schließen und gleichzeitig den
Numerus, das Genus und damit in den meisten Fällen auch den Kasus der
ganzen Nominalphrase endgültig festzulegen, ist es notwendig, dass dieses
Substantiv nicht nur im Numerus, sondern auch im Genus eindeutig ist.
Das heißt, dass jedes Substantiv nur genau ein Genus haben darf. Das
ganze klammernde Verfahren beruht ja darauf, dass beim Hörer oder
_____________
32 Vgl. Werner (1969). Bekanntlich hat sich auch diese sehr saliente Form der Pluralmarkie-
rung im Deutschen stark ausgebreitet, so dass sie im Neuhochdeutschen auch bei Maskuli-
na Verwendung findet, z.B. Mann – Männer.
33 Hinzu kamen im Gegensatz zum Althochdeutschen weitere morphophonemische Alter-
nanzen durch u-Umlaut, Palatalisierung usw., die die Klarheit der Paradigmen zusätzlich
beeinträchtigten. Zum Englischen im Vergleich zum Deutschen vgl. Kastovsky (1994).
108 Elke Ronneberger-Sibold

Leser am linken Klammerrand die Erwartung auf ein bestimmtes Mor-


phem bzw. Merkmal oder zumindest eine bestimmte, nicht zu umfangrei-
che Auswahl an Morphemen bzw. Merkmalen geweckt und am rechten
Klammerrand erfüllt wird. Würde diese Auswahl zu groß, wäre die Erwar-
tung zu unbestimmt, und das ganze Verfahren würde nicht mehr funktio-
nieren.
Man kann sich leicht davon überzeugen, indem man versuchsweise in
einer einigermaßen komplexen Nominalklammer annimmt, dass einzelne
Substantive z.B. maskulines oder feminines Genus haben könnten. Wäre
das etwa in der oben (in 2.2.) bereits (ohne das entscheidende Komma)
behandelten Nominalphrase Dieser kommunikative Distanz meidende Akt
beim Substantiv Distanz der Fall, so könnte Dieser statt erst auf Akt auch
schon auf Distanz bezogen werden. Dies würde fast unweigerlich zur an-
fänglichen „Garden-Path-Analyse“ von Dieser kommunikative Distanz als
Nominalphrase im Nominativ und folglich als Subjekt des Satzes führen.
Deutsche Sprachbenutzer haben durchaus eine Intuition für die Wich-
tigkeit eines eindeutigen Genus ihrer Substantive. Das zeigt sich z.B. an
der Erbitterung, mit der sie darüber streiten können, ob die oder das Nutel-
la „richtig“ sei (vgl. Sick 2004, 19), während sie viele andere sprachliche
Zweifelsfälle ungerührt überhören oder dem persönlichen Sprachgebrauch
überlassen. Die Sprachgemeinschaft duldet offenbar nur äußerst ungern,
dass dasselbe Substantiv verschiedene Genera haben kann.34
Dies gilt sogar dann, wenn der Genusunterschied mit einem Bedeu-
tungsunterschied einhergeht, es sich in semantischer Hinsicht also gar
nicht um dasselbe Substantiv handelt. Zwar gibt es einige echte Homo-
nyme wie der Kiefer vs. die Kiefer, die Mark vs. das Mark, aber eine systema-
tisch produktive Quelle solcher Wörter wird nicht geduldet.
Eine solche Quelle wäre etwa die Ausnutzung des Genus zur Be-
zeichnung von männlichen und weiblichen Personen mit derselben Funk-
tion, wie von Pusch (1984, 63) vorgeschlagen: der Student für einen männli-
chen, die Student für einen weiblichen Studenten. Schon die Tatsache, dass
die Autorin diesen Vorschlag wohl selbst nicht ganz ernst genommen hat
und er sogar in feministischen Kreisen und von Luise Pusch selbst als
„der verrückte Pusch-Vorschlag“ apostrophiert wurde (Pusch 1990), zeigt
die grundsätzliche Unvereinbarkeit dieser Struktur mit der deutschen
Grammatik. In einem anderen Sprachsystem wie etwa dem französischen
bereitet sie dagegen keine Schwierigkeiten. Dort ist sie längst etabliert (un
adversaire 'ein Gegner' – une adversaire 'eine Gegnerin') und wird sogar offi-

_____________
34 Selbst landschaftlich verschiedener Gebrauch, bei dem die verschiedenen Genera gewis-
sermaßen auf verschiedene Sprachgemeinschaften verteilt sind, wie etwa die Butter vs. der
Butter, erzeugt jenseits der jeweiligen Dialektgrenzen starke Abwehrreaktionen.
Die deutsche Nominalklammer 109

ziell als eine von verschiedenen Möglichkeiten zur Vermeidung sexisti-


schen Sprachgebrauchs empfohlen, z.B. un juge 'ein Richter' – une juge 'eine
Richterin' (vgl. Becquer u.a. 1999, 22).
Solche so genannten Utra würden einige der sattsam bekannten stilis-
tischen Probleme des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs lösen und
außerdem Frauen in der Sprache sichtbarer machen als die entsprechen-
den genusambigen Formulierungen in anderen germanischen Sprachen
wie engl. a teacher 'ein Lehrer oder eine Lehrerin' oder schwedisch en lärare
'dito': Weil diese Sprachen ihre Genusunterscheidung an den Begleitern
des Substantivs eingebüßt haben, erfährt man hier erst bei einer eventuel-
len pronominalen Wiederaufnahme z.B. durch engl. he oder she, schwed.
hon oder hun, ob ein Mann oder eine Frau gemeint ist.35 Im Deutschen
würde das bereits durch die Artikel deutlich. Trotz aller dieser Vorteile
sind solche Utra als systematische paarweise Bezeichnung von männlichen
und weiblichen Personen für das deutsche Sprachsystem nicht tragbar,
eben weil sie eine systematische und hoch produktive Quelle von genus-
ambigen Substantiven darstellen und damit das Funktionieren der Nomi-
nalklammer empfindlich beeinträchtigen würden.36 Aus grammatischer
Sicht dürfte das der tiefste Grund sein, warum der deutsche geschlechter-
gerechte Sprachgebrauch auf der systematischen Kennzeichnung von
femininen Personenbezeichnungen durch das Motionssuffix -in besteht.37
Damit soll keineswegs die Funktion dieses Suffixes zur sprachlichen
Sichtbarmachung von Frauen geleugnet werden. Tatsächlich wird durch
die mehrfache Nennung des femininen Genus am Substantiv und an sei-
nen Begleitern das weibliche Geschlecht der bezeichneten Person beson-
ders deutlich zum Ausdruck gebracht, und im Plural (die Lehrer – die Lehre-
rinnen) ist das Motionssuffix (mit dem dadurch bedingten Pluralallomorph
-en) der einzige Hinweis auf das weibliche Geschlecht der bezeichneten
Personen. Aber hinter diesem offensichtlichen und der sprachlichen Intui-
tion leicht zugänglichen Motiv steht das den naiven Sprachbenutzern we-
_____________
35 Genaueres in Nübling (2000).
36 Lediglich bei substantivierten, nach stark flektiertem Determinans schwach flektierten
Partizipien (der / die Studierende), die ihre Genushomonymie aus ihrer Flexionsart mitbrin-
gen, wird diese Lösung geduldet. Daher werden sie gerne zur Umgehung der Probleme mit
suffigierten Formen eingesetzt. Man beachte aber, dass der Status als Partizip keinesfalls
aufgegeben wird: Nach den unflektierten Formen des unbestimmten Artikels werden sie
stark und damit genussensitiv flektiert: ein Studierend-er – ein-e Studierend-e. Tritt ausnahms-
weise Lexikalisierung der schwach flektierten Form ein, wie bei der / ein Junge, wird ein ein-
deutiges Genus zugewiesen. Weiteres in Ronneberger-Sibold (2007).
37 Dies gilt sogar für Entlehnungen aus dem Englischen wie Hairstylist, obwohl sie die Ge-
nusneutralität aus ihrer Ursprungssprache gewissermaßen mitbringen könnten. Vgl. Ron-
neberger-Sibold (2007), auch zu Wörtern wie Guru, die aus phonotaktischen Gründen kei-
ne Suffigierung durch -in zulassen.
110 Elke Ronneberger-Sibold

niger zugängliche, aber umso langfristiger wirkende grammatische Motiv


des klammernden Verfahrens. Sonst wäre ja nicht wirklich zu erklären,
warum englisch- oder schwedischsprachige Frauen soviel weniger Wert
auf sprachliche Sichtbarmachung legen sollten als deutsche. Vor allem
aber wäre sonst nicht zu erklären, warum dieser Unterschied zwischen den
drei Sprachen sich bereits durch ihre gesamte Sprachgeschichte hindurch-
zieht, also auch in Zeiten bereits greifbar war, in denen von geschlechter-
gerechtem Sprachgebrauch noch nicht die Rede sein konnte. Dies wird im
Folgenden in Umrissen gezeigt.
Zunächst fällt auf, dass von dem germanischen Motionssuffix *-inju /
-unjo zwar auf den ältesten Stufen aller drei Sprachen Reflexe erhalten sind
(z.B. in ahd. gutin, aengl. gyden 'Göttin' und an. asynja 'Asin'), von diesen
aber nur der deutsche in ungebrochener Tradition bis heute produktiv
geblieben ist. Bedingung dafür war eine formale Stärkung im Althochdeut-
schen durch Benutzung der ursprünglichen Akkusativform -inna auch im
Nominativ, so dass der Vollvokal /-i-/ unter dem Nebenton die Vokalre-
duktion in unbetonter Silbe überdauerte. Aengl. -en und an. -ynja starben
dagegen bald aus. Sie wurden zeitweise durch verschiedene andere, teil-
weise entlehnte Motionssuffixe ersetzt, von denen sich aber keines auf
Dauer halten konnte. Heute existieren zwar engl. -esse und schwed. -inna
(das germanische Suffix zum zweiten Mal entlehnt aus dem Mittelnieder-
deutschen), aber beide werden nicht mehr produktiv gebraucht, weil sie
negative Konnotationen entwickelt haben (vgl. Wessén 1970; Kastovsky /
Dalton-Puffer 2002). Obwohl das ein häufiges Schicksal von Motionssuf-
fixen ist, trat eine entsprechende semantische Veränderung im Deutschen
nie ein.
Die Geschichte der Movierung durch Wortbildung ist also seit dem
Althochdeutschen im Deutschen in bezeichnender Weise anders verlaufen
als in den beiden anderen Sprachen. Der grundsätzliche Unterschied in
Bezug auf genusambige Personenbezeichnungen ist jedoch sogar noch
älter. Das wichtigste Mittel des Germanischen zur Genusdifferenzierung
bei Personenbezeichnung waren nämlich noch nicht die Motionssuffixe,
sondern verschiedene Flexionsklassen, insbesondere bei den bevorzugt
zur Bildung von Personenbezeichnungen verwendeten n-Stämmen. Als
indogermanisches Erbe war die n-Stamm-Flexion ursprünglich für alle drei
Genera gleich gewesen. Bereits in indogermanischer Zeit traten jedoch
Differenzierungen in Abhängigkeit vom Genus auf. Diese wurden im
Voralthochdeutschen (und bemerkenswerterweise wiederum im Vorgoti-
schen) bedeutend konsequenter aufgenommen und ausgebaut als im Vor-
altenglischen und im Urnordischen.
Das Althochdeutsche und das Gotische besitzen eine in sich sehr re-
gelmäßige feminine n-Flexion (ahd. zung-a, zung-ūn usw., got. tugg-ō, tugg-ōns
Die deutsche Nominalklammer 111

usw.), die auf eine systematische Durchführung von urgerm. /o:/ im


stammbildenden Suffix im ganzen Paradigma zurückgeht (vgl. Krahe /
Meid 1969, Bd. II, 48). Dieser Typ unterscheidet sich im Gotischen in
allen Formen von den entsprechenden Maskulina, die die ursprüngliche
n-Stamm-Flexion beibehalten haben, im Althochdeutschen in allen For-
men bis auf den Genitiv und Dativ Plural. Althochdeutsche Beispiele sind
etwa: forasaga 'Prophetin' vs. forasago 'Prophet', (gast)geba '(Gast)geberin' vs.
gebo 'Geber', später auch zu mask. ja-Stämmen auf -āri gestellt: zuhtāra
'Erzieherin' vs. zuhtāri 'Erzieher'. Zudem gehen viele feminine Personen-
bezeichnungen ohne direktes maskulines Pendant nach der n-Flexion:
wituwa 'Witwe', diorna 'Mädchen', huor(r)a, zaturra, zatara 'Hure' usw. (vgl.
Braune / Reiffenstein 2004, 210f.). Gotische Beispiele sind: mawilo 'Mäd-
chen' vs. magula 'Knabe', garazno 'Nachbarin' vs. garazna 'Nachbar', arbjo
'Erbin' vs. arbja 'Erbe' usw. (vgl. Krause 1968, 164).
Der Formtyp an sich ist sehr alt (vgl. lat. natiō, natiōnis und griech.
α̉γών, α̉γω̃νος mask.(!); vgl. Krahe / Meid 1969, Bd. II, 48). Dass er aber
im Germanischen so systematisch zur Bildung von femininen Personen-
bezeichnungen ausgebaut wurde, liegt nach Krahe / Meid (ebd.) sicherlich
daran, dass hier das charakteristische /o:/ dieser Klasse ursprünglich mit
dem stammbildenden /o:/ < idg. /a:/ der starken Feminina vom Typ
ahd. geba, got. giba 'Gabe' zusammengefallen war, was zu zahlreichen
Übertritten von der starken in die schwache Klasse führte. Dieser Vor-
gang fand im Urgermanischen statt, noch vor der Veränderung dieses /o:/
in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung durch die Auslautgesetze
(vgl. Krahe / Meid 1969, Bd. I, 133f.; Bd. II, 48f.). Er musste also in den
Vorstufen des Altenglischen und Altnordischen dieselben strukturellen
Voraussetzungen geschaffen haben. Trotzdem wurden sie dort nicht in
derselben Weise zur Etablierung einer eigenen femininen n-Flexion ge-
nützt wie in den Vorstufen des Gotischen und Althochdeutschen. Im
Altenglischen unterscheiden sich die maskulinen und femininen n-Stämme
nur im Nominativ Singular (wicca 'Zauberer' vs. wicce 'Zauberin, Hexe').
Ansonsten ist die alte Genusindifferenz beibehalten. Im Altnordischen
flektieren die beiden Genera zwar verschieden (granni, 'Nachbar' vs. granna
'Nachbarin'), aber diese Unterschiede gehen nicht auf eine konsistente
Neuschöpfung einer femininen n-Flexion zurück, sondern auf eine Viel-
zahl kleinerer Analogiebildungen auch im Bereich der Maskulina. Zudem
war keine klare Zuordnung zwischen dem Flexionstyp granni, maskulinem
grammatischem und männlichem natürlichem Geschlecht einerseits sowie
zwischen dem Flexionstyp granna, femininem grammatischem und weibli-
chem natürlichem Geschlecht andererseits gegeben (Details in Noreen
1923, 277ff.; s.a. Ronneberger-Sibold 2007 und i. Dr.).
112 Elke Ronneberger-Sibold

Wie schon bei der frühen Numerusprofilierung bei den i-Stämmen


gehen also auch bei der Vermeidung von Genusambiguität bei den
n-Stämmen die Vorstufen des Althochdeutschen und Gotischen einen
anderen Weg als die des Altenglischen und Altnordischen.38 In unserem
Zusammenhang ist vor allem interessant, dass in beiden Fällen, sowohl bei
den i-Stämmen als auch bei den n-Stämmen, bereits in sehr früher Zeit
„Bausteine“ geschaffen wurden, die ab dem Althochdeutschen bei der
Etablierung des rechten Randes der Nominalklammer Verwendung fan-
den. Leider ist es eine müßige Frage, ob Ähnliches auch im Gotischen
geschehen wäre, wenn diese Sprache nicht untergegangen wäre.

5. Zusammenfassung: Zielgerichteter Sprachwandel?


Überblickt man die dargestellten historischen Entwicklungen insgesamt,
so entsteht ein fast gespenstischer Eindruck: Es sieht so aus, als hätte ein
geheimnisvoller „Spracharchitekt“ vor gut zwei Jahrtausenden beschlos-
sen, die deutsche Nominalklammer zu bauen, und zu diesem Zweck sys-
tematisch zunächst einmal die Bausteine für den rechten Rand hergestellt.
Dazu dienten
1. die Schöpfung einer femininen Flexion der n-Stämme (noch vor der
Wirkung der Auslautgesetze auf /o:/),
2. die Beschränkung der i-haltigen Endungen auf den Plural bei den
i-Stämmen als Auftakt der Numerusprofilierung.
Danach hätte er sich dem linken Klammerrand zugewandt und
3. die Form der (Nom. Sg. Mask.) für den im Entstehen begriffenen
bestimmten Artikel geschaffen, sowie mit dessen Hilfe
4. die „Langformen“ vom Typ guoter, guotiu, guotaz der starken Adjek-
tivflexion.
Damit diese ihre Funktion, den linken Klammerrand zu markieren, auch
klar erfüllen konnten, hätte er ab der althochdeutschen Periode auch syn-
taktische Maßnahmen ergriffen. Diese waren

_____________
38 Dieser Befund könnte ein neues Licht auf die alte Frage nach den Verwandtschaftsverhält-
nissen und frühen Kontakten zwischen den germanischen Sprachgruppen werfen. Dies ist
jedoch ein facettenreiches Thema, das eingehenderer Untersuchung bedarf, als es mir mög-
lich ist, zumal in diesem Aufsatz. Ich möchte ihn daher ausdrücklich nicht als ein Plädoyer
für eine engere Verwandtschaft des Ostgermanischen mit dem Westgermanischen als mit
dem Nordgermanischen verstanden wissen.
Die deutsche Nominalklammer 113

5. die Schaffung einer unflektierten Form des Adjektivs für den prädi-
kativen Gebrauch. Zu diesem Zweck hätte er zunächst im Nom.
Sg. Mask. und Fem. sowie im Nom. / Akk. Sg. Neutr. die dort laut-
gesetzlich entstandenen endungslosen starken Formen vom Typ
guot verwendet. Um aber auch im Plural und in den obliquen For-
men des Sg. die attributive Verwendung formal deutlich von der
prädikativen unterscheiden zu können, hätte er den Gebrauch der
endungslosen Formen auch auf diese Fälle ausgedehnt;
6. die Bewahrung der schwachen Adjektivflexion und ihre Einschrän-
kung auf den Gebrauch nach Determinantien, obwohl sie als Zei-
chen für die Definitheit einer Nominalphrase durch den bestimm-
ten Artikel eigentlich überflüssig geworden war. Sie war aber
trotzdem nützlich für die Nominalklammer, weil durch sie auch die
attributiven Adjektive in definiten Nominalphrasen formal sowohl
von den prädikativen als auch von den stark flektierten Determi-
nantien am linken Klammerrand unterschieden waren.
Dem Zweck, dass die so geschaffene Nominalklammer auch wirklich so
viel wie möglich gebraucht wurde, diente
7. der schrittweise Verzicht auf die Möglichkeit, ein attributives Ad-
jektiv nachzustellen.
Während dieser syntaktischen Veränderungen im Althochdeutschen stand
der Lautwandel nicht still. Durch die Phonologisierung der Umlautallo-
phone entstand der Pluralumlaut bei den ehemaligen i- und es- / os-Stäm-
men. Im Sinne des klammernden Verfahrens war dies eine sehr willkom-
mene Stärkung des rechten Klammerrandes, die selbstverständlich nicht
durch Übertragung des Umlauts in den Singular gefährdet werden durfte.
Daraus folgt im Althochdeutschen (im Gegensatz zum Altnordischen mit
seinem komplizierteren Paradigma)
8. der Verzicht auf paradigmatischen Ausgleich des Umlauts bei den
ehemaligen i- und es- / os-Stämmen (gast – geste, kalb – kelber). Der
Umlaut erwies sich sogar so nützlich als Pluralkennzeichen, dass
unser „Spracharchitekt“ ihn noch in der alt- und mittelhochdeut-
schen Periode auf verschiedene Weisen, die hier nicht erörtert wer-
den können, weiter im Wortschatz verbreitete.
Die Reduktion der unbetonten Vokale hatte jedoch nicht nur positive
Auswirkungen für den rechten Klammerrand: Sie drohte, die Opposition
zwischen maskuliner und femininer n-Flexion zu zerstören (lautgesetzlich
ahd. gebo 'Geber' und geba 'Geberin' > mhd. gebe 'Geber' und 'Geberin')
114 Elke Ronneberger-Sibold

und damit massenweise Utra zu schaffen. Dem wirkte unser „Spracharchi-


tekt“ entgegen durch
9. die Stärkung des femininen Motionssuffixes -in mittels Ersatz durch
die Akkusativform -inna.
Trotz der Numerusprofilierung bei den ehemaligen i- und es- / os-
Stämmen blieben im Mhd. noch viele numerusambige Flexionstypen be-
stehen (z.B. wort, hirte, gebe). Dieser Zustand war nicht mehr tragbar, als
auch noch in der starken Adjektivflexion diu, guotiu (Nom. Sg. Fem. und
Nom. / Akk. Pl. Neutr.) mit die, gute (Akk. Sg. Fem. und Nom. / Akk. Pl.
Mask. / Fem. sowie dere, guotere (Gen. / Dat. Sg. Fem. und Gen. Pl. aller
Genera) mit der, guoter (Nom. Sg. Mask.) zusammenfielen. Die Lösung des
Problems war
10. die frühneuhochdeutsche Numerusprofilierung.
Damit war, was die Flexion angeht, der moderne Stand erreicht, bei dem
die beiden Ränder der Nominalklammer noch mehr aufeinander angewie-
sen sind als vorher. Nur zusammen drücken sie durch ihre Flexion und
das Genus des Kernsubstantivs den Kasus und (in den verbliebenen nu-
merusambigen Fällen) den Numerus der ganzen Nominalphrase aus. Der
linke Klammerrand wurde daher gegen weiteren reduktiven Lautwandel
geschützt durch
11. die Blockierung der frühnhd. Synkope von /ə/ in der starken Ad-
jektivflexion.
Bis zum neuhochdeutschen Stand hatte unser „Spracharchitekt“ nur noch
einige syntaktische Bereinigungen durchzuführen:
12. die obligatorische Integration der Erweiterungen von attributiven
Adjektiven und Partizipien in die Klammer,
13. die Verschiebung des Genitivattributs hinter sein Bezugssubstan-
tiv, da es nicht mit diesem kongruiert.
Selbstverständlich ist der „Spracharchitekt“ eine Erfindung. Die „Archi-
tekten“ ihres Sprachsystems sind ja die Sprachbenutzer selbst. Aber an-
ders als wirkliche Architekten planen sie nichts voraus, sie sind sich der
Regeln ihres Systems ja nicht einmal bewusst. Alles, was sie tun, ist
sprachlich zu handeln, um ihr jeweiliges begrenztes kommunikatives Ziel
zu erreichen. Wie aber kann es sein, dass sich aus der riesigen Zahl dieser
individuellen, völlig unkoordinierten Sprechakte eine derartig geradlinige,
scheinbar zielgerichtete Entwicklung ergibt? Dies ist eine der Grundfragen
aller Sprachwandeltheorien, die hier nicht grundsätzlich erörtert werden
kann. Wir beschränken uns daher auf einige Bemerkungen im Hinblick
Die deutsche Nominalklammer 115

auf das klammernde Verfahren, obwohl das prinzipielle Problem nicht nur
dieses, sondern jede typologische Sprachentwicklung betrifft:
1. Für jede der oben angeführten dreizehn Veränderungen und Be-
wahrungen gibt es außer ihrer Funktion für das klammernde Ver-
fahren auch andere Motive. Die Sprachbenutzer müssen sie also
nicht notwendigerweise direkt für das klammernde Verfahren
durchgeführt haben.
2. Ab einem bestimmten Zeitpunkt entdeckten die Sprachbenutzer
aber, dass bestimmte Varianten des Sprachgebrauchs, die sie aus
ganz anderen Gründen geschaffen hatten, für das klammernde Ver-
fahren verwendbar waren. In diesem Fall hatte eine solche Variante
einen Selektionsvorteil vor anderen Varianten.
3. Je mehr solcher Varianten endgültig ins Sprachsystem aufgenom-
men wurden, umso wahrscheinlicher wurde die Entdeckung weite-
rer für das klammernde Verfahren verwendbarer Varianten.
4. Schließlich wurden bestimmte Veränderungen möglicherweise di-
rekt oder zumindest vorwiegend durch das klammernde Verfahren
motiviert.
Es handelt sich also um einen selbstverstärkenden Prozess (das Bild einer
Lawine drängt sich auf): Kleine, zufällig entstandene Strukturen werden
irgendwann wegen einer ebenfalls zufällig entstandenen funktionellen
Gemeinsamkeit miteinander vernetzt, ziehen weitere, ähnliche Strukturen
an sich, bilden möglicherweise Makrostrukturen aus, bis sie schließlich ein
ganzes System beherrschen.
Im Fall der deutschen Nominalklammer steht zu vermuten, dass min-
destens die ersten „Bausteine“ für den rechten Klammerrand, also die
Veränderungen unter 1. und 2., solche zufälligen Anfänge waren. Sie kön-
nen sehr gut durch das Bedürfnis nach überschaubar strukturierten Flexi-
onsparadigmen motiviert gewesen sein, wie es immer wieder im Sprach-
wandel wirkt, auch ohne klammerndes Verfahren im Hintergrund. Auch
die Form der kann noch zufällig entstanden sein. Das Personalpronomen
der 3. Person und das entsprechende einfache Demonstrativum werden ja
bis heute konkurrierend gebraucht: Da geht Peter. Er / der sieht heute krank
aus. Eine formale Kontamination ist also nicht unwahrscheinlich. Dass
aber der sich gegen de mit seinen verschiedenen Varianten (dhe, the, thie; vgl.
Braune / Reiffenstein 2004, 247) durchsetzte, könnte bereits mit seiner
Entdeckung als möglicher linker Rand für eine Nominalklammer zusam-
menhängen. Der entscheidende Schritt könnte hier die Vernetzung der
nominalen klammernden Strukturen mit den sicher zunächst unabhängig
116 Elke Ronneberger-Sibold

aus ganz anderen Quellen und Motiven entstandenen entsprechenden


verbalen Strukturen im Althochdeutschen gewesen sein. Ab diesem Mo-
ment, so unsere Vermutung, haben alle weiteren Schritte mindestens von
einem Selektionsvorteil durch das klammernde Verfahren profitiert.
Übrigens schließt dies weder logisch noch faktisch aus, dass in einem
anderen System ähnliche Schritte mit ihren eigenen Motiven unabhängig
von der Existenz eines klammernden Verfahrens durchgeführt werden. So
hat z.B. im Mittelenglischen auch ohne klammerndes Verfahren eine Art
Numerusprofilierung bei den Substantiven durch Verallgemeinerung der
Endung -es stattgefunden (vgl. Brunner 1962, 16ff.).
Dieser Aufsatz hat mehr Fragen über die Geschichte der deutschen
Nominalklammer gestellt als beantwortet. Vieles wäre genauer zu erfor-
schen. Es konnte aber hoffentlich gezeigt werden, dass sich die Suche
nach Antworten lohnt – zum besseren Verständnis der deutschen Sprach-
geschichte und zum besseren Verständnis von langfristigem, typologisch
orientiertem Sprachwandel.

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Zur Herausbildung der Satzklammer
im Deutschen
Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse

Roland Hinterhölzl (Berlin)

1. Einleitung
Dieser Artikel behandelt die Herausbildung der Satzklammer aus einer
informationsstrukturellen Perspektive. Zunächst wird anhand von Diffe-
renzbelegen aufgezeigt, dass die Tatian-Übersetzung eine Vielzahl von
originären Strukturen in Nebensätzen aufweist, in denen Objekte und
Prädikate, die im modernen Deutschen nicht extraponierbar sind, post-
verbal erscheinen. In Abschnitt 2 wird gezeigt, dass die Verteilung präver-
baler und postverbaler Konstituenten nicht gut mit dem Gesetz der wach-
senden Glieder erklärt, sondern auf eine informationsstrukturelle
Regularität zurückgeführt werden kann, in der nachgestellte Konstituenten
Informationsfokus darstellen und vom Hintergrundbereich des Satzes
durch das (finite) Verb getrennt werden. In Abschnitt 3 wird erläutert,
dass die Grammatikalisierung des definiten Artikels eine entscheidende
Rolle in der Herausbildung der Satzklammer des modernen Deutschen
gespielt hat, indem präverbale diskursanaphorische determinierte Nomi-
nalphrasen zur Abschwächung einer prosodischen Bedingung führen, die
das Mittelfeld für schwere und betonte Konstituenten öffnet. In Abschnitt
4 werden die wichtigsten Schlussfolgerungen dieser Analyse zusammenge-
fasst.

1.1. Gemischte Wortstellungen in der Tatian-Übersetzung

Die älteren germanischen Sprachen zeichnen sich durch eine Vielzahl von
Wortstellungsoptionen aus. So finden sich im Altenglischen (vgl. Pintzuk
1999) und im Altnordischen (vgl. Hróarsdóttir 2009) in eingebetteten
Sätzen sowohl OV- als auch VO-Abfolgen. Dieselbe Variation ist auch in
122 Roland Hinterhölzl

Texten des Althochdeutschen zu finden. Allerdings ist die Überlieferungs-


situation im Ahd. eine solche, dass es sich bei den größeren, für syntakti-
sche Untersuchungen geeigneten Texten entweder um Übersetzungen
oder um metrische Texte handelt, sodass im Zweifel steht, welche Abfol-
gen einer autochthonen althochdeutschen Grammatik zugeschrieben wer-
den können. Insbesondere wurden VO-Abfolgen in der Tatianüberset-
zung oft lateinischem Einfluss zugeschrieben (vgl. Lippert 1974).
Neuerdings hat aber die Tatian-Übersetzung, die den umfangreichsten
Prosatext vor 850 darstellt, in der Bewertung seiner Lateinabhängigkeit
eine Neuinterpretation erfahren (vgl. Dittmer / Dittmer 1998; Fleischer /
Hinterhölzl / Solf 2008). Aufgrund der interlinearen Übersetzungsstrate-
gie lassen sich Korrespondenz- und Differenzbelege zum Latein relativ
einfach ermitteln. Letztere können dann als hinreichend sichere Quelle für
authentische althochdeutsche Strukturen herangezogen werden.
In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant festzustellen,
dass sich in den Differenzbelegen des Tatian eine nicht geringe Anzahl
von nachgestellten Subjekten (1), Prädikaten (2-3) und Objekten (4-5)
findet, wie die folgenden Beispiele zeigen.
(1) thaz gibrieuit uuvrdi al these umbiuuerft (T 35,9)
dass aufgelistet würde all diese Menschheit
(2) [& ecce homo erat In hierusalem.]’/ cui nomen simeon
[senonu tho uuas man In hierusalem.]’/
thes namo uuas gihezzan Simeon (T 37, 23ff.)
des Namen war geheissen Simeon
(3) Beati misericordes
salige sint thiethar sint miltherze (T 60, 12)
selig sind die da sind barmherzig
(4) ut in me pacem habeatis
thaz in mir habet sibba (T 290, 8)
damit in mir habt Frieden
(5) non resistere malo
thaz ír niuuidarstant& ubile (T 65, 1)
dass ihr nicht wiedersteht dem Übel
Da Subjekte, Prädikate und Objekte im Neuhochdeutschen nicht ausge-
klammert werden können, müssen die Strukturen in (1)-(5) als VO-Abfol-
gen gelten und werfen daher folgende Fragen auf. 1. Wie sind Sprachen zu
charakterisieren, die sowohl OV- als auch VO-Eigenschaften aufweisen?
2. Welche Faktoren sind dafür maßgeblich, ob eine Konstituente im Mit-
telfeld oder Nachfeld positioniert ist?
Zur Herausbildung der Satzklammer 123

1.2. Erklärungen dieser gemischten Abfolgen

In traditionellen Grammatiken werden die gemischten Abfolgen im älte-


ren Germanischen maßgeblich auf stilistische Faktoren zurückgeführt. So
bemerkt Behaghel (1932), dass Pronomen und unmodifizierte Nomen
dem Verb vorausgehen, während modifizierte Nomen, Präpositionalphra-
sen und anderes schweres Material diesem nachfolgen und formuliert
daraufhin das Gesetz der wachsenden Glieder.
(6) Leichte Elemente gehen im AE, AN und AHD schweren Ele-
menten voraus.
Dabei stellt sich die Frage, was in diesem Zusammenhang mit leicht ge-
meint ist. Wenn ich Behaghel richtig interpretiere, so ist unter (6) leicht im
Sinne von prosodischem Gewicht zu verstehen, da er an anderer Stelle
vermerkt, dass ein weiteres machtvolles Gesetz auf die Wortstellung ein-
wirke, das verlange, dass das Wichtige später stehe als das Unwichtige (vgl.
Behaghel 1932, 4). Letztere Aussage kann als eine Vorwegnahme der Ein-
sicht gelten, dass die Wortstellung im älteren Germanischen im Wesentli-
chen informationsstrukturell determiniert war, da Behaghel zwei Zeilen
später spezifiziert, was damit gemeint ist: „das heißt, es stehen die alten
Begriffe vor den neuen.“
In der Theorie der Informationsstruktur geht man davon aus, dass
(kooperative) Sprecher ihrem Gegenüber signalisieren, was sie in ihrer
jeweiligen Äußerung als bereits bekannt voraussetzen (Hintergrund) und
was sie als wichtige, neue Information assertieren (Fokus). Das Studium
der Informationsstruktur einer Sprache involviert daher eine Untersu-
chung der prosodischen, morphologischen oder syntaktischen Mittel, mit
denen diese pragmatischen Rollen der Teilkonstituenten eines Satzes aus-
gedrückt werden. Dabei sind, was den Begriff des Fokus anbelangt, noch
folgende Unterscheidungen von Belang. Wie in (7) illustriert, unterschei-
det man zwischen weitem und engem Informationsfokus auf der einen
Seite und kontrastivem Fokus auf der anderen Seite. Informationsfokus
stellt im jeweiligen Kontext neue Information dar – in (7) durch eckige
Klammern angezeigt – und lässt sich am besten anhand eines Fragekon-
textes veranschaulichen. Während nominale Ausdrücke, die Informations-
fokus tragen, stets neue Diskursreferenten einführen, können nominale
Ausdrücke, die kontrastiv fokussiert sind, auch bekannte Diskursreferen-
ten bezeichnen. Ausdrücke, die bekannte Diskursreferenten bezeichnen
(und nicht fokussiert sind), sogenannte diskursanaphorische Ausdrücke,
werden dem Hintergrund zugerechnet.
124 Roland Hinterhölzl

(7a) Was hat der Hans gemacht? (weiter Informationsfokus)


Hans hat [der Maria ein Buch gegeben].
(7b) Was hat der Hans der Maria gegeben? (enger Informationsfokus)
Hans hat der Maria [ein Buch] gegeben.
(7c) Hans hat der Maria [das BUCH] gegeben, nicht die Zeitschrift.
(kontrastiver Fokus)
Eine erste informationsstrukturelle Sichtung der Differenzbelege im Ta-
tian legt nahe, dass die Stellung des finiten Verbs in eingebetteten Sätzen
im Wesentlichen dazu diente, Hintergrund und Fokusbereich voneinander
zu trennen, wie in (8) illustriert ist.
(8) C Hintergrund V Fokus (wird unten revidiert werden)
In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass sich die
Bedingungen in (6) und (8) in ihren Voraussagen teilweise überlappen, da
Hintergrundmaterial in der Regel als leicht und Fokusmaterial allein schon
wegen des Akzents als prosodisch schwer zu bewerten ist. Daher stellt
sich die Frage, ob das Gesetz der wachsenden Glieder nur das oberflächli-
che Korrelat einer zugrundeliegenden informationsstrukturellen Regelmä-
ßigkeit sein könnte, oder auf ein eigenständiges prosodisches Gesetz zu-
rückzuführen ist, das mit informationsstrukturellen Bedingungen inter-
agiert.
Wenn man sich innerhalb des Germanischen die Fälle genauer an-
sieht, in denen prosodisches Gewicht eine entscheidende Rolle für die
Wortstellung spielt, so zeigt sich, dass verzweigende und insbesondere
rechtsverzweigende Konstituenten als prosodisch schwer einzustufen
sind. Beispielsweise erlaubt das Englische – im Gegensatz zum Deutschen
– keine schweren Adverbien im Mittelfeld, wie in (9) gezeigt ist (vgl. Hai-
der 2004).
(9a) John carefully read the book
Hans sorgfältig las das Buch
(9b) *John with care read the book
Hans mit Sorgfalt las das Buch
(10a) John more often read the book
Hans öfter las das Buch
(10b)*John more often than Peter read the book
Hans öfter als Peter las das Buch
Dabei ist interessant, dass diese Adverbien zwar modifiziert – also durch-
aus verzweigen können – aber nicht rechtswärtig erweitert werden kön-
Zur Herausbildung der Satzklammer 125

nen, wie in (10) illustriert wird. In der Annahme, dass diese Einschrän-
kung auf eine Abbildungsbedingung zwischen syntaktischer Struktur und
prosodischer Struktur zurückzuführen ist und dass rechtsverzweigende
Phrasen auf rechtsköpfige phonologische Phrasen abgebildet werden,
ergibt sich als möglicher Kandidat für den grammatischen Hintergrund
des Gesetzes der wachsenden Glieder die Beschränkung in (11).
(11) Eine rechtsköpfige prosodische Phrase darf nicht auf einem lin-
ken (syntaktischen) Zweig gegenüber dem Verb sitzen, mit dem
sie eine gemeinsame prosodische Konstituente bildet.
Auf die Relevanz dieser Bedingung für die Herausbildung der Satzklam-
mer werde ich noch genauer in Abschnitt 3 eingehen. Im folgenden Ab-
schnitt soll genauer untersucht werden, ob die Wortstellung in der Tatian-
übersetzung primär vom Gesetz der wachsenden Glieder oder primär
informationsstrukturell bestimmt ist.

2. Die Rolle der Informationsstruktur


bei der (Nicht-)Ausklammerung
In diesem Abschnitt sollen die Differenzbelege, die Umstellungen einer-
seits ins Mittelfeld und andererseits ins Nachfeld betreffen, genauer auf
ihre informationsstrukturellen Eigenschaften untersucht werden. Dabei
gehe ich von der Annahme aus, dass nicht verzweigende Konstituenten
als prosodisch leicht und verzweigende Konstituenten als prosodisch
schwer (im Sinne des Gesetzes der wachsenden Glieder) zu bewerten sind.
Die Grundlage für diese kleine empirische Untersuchung bilden die von
Dittmar / Dittmar (1998) aufgelisteten Differenzbelege. Dabei sind vor-
angestellte schwere Konstituenten und im Nachfeld verbleibende leichte
Konstituenten von besonderem Interesse.
Dittmar und Dittmar listen insgesamt 142 Belege auf, in denen (in ei-
nem eingebetteten Satz) eine Konstituente aus dem Nachfeld ins Mittel-
feld vorgerückt wird. Die große Mehrzahl davon (insgesamt 102 Fälle)
sind pronominale Subjekte und Objekte, die sowohl als prosodisch leicht
als auch eindeutig als diskursanaphorisch zu analysieren sind. Nun ist es
interessant festzustellen, dass unter den 30 vorangestellten nominalen
Subjekten 23 Belege eine zweigliedrige Konstituente aufweisen, die als
prosodisch schwer zu beurteilen ist. Eine Analyse dieser Beispiele im
Kontext zeigt aber, dass diese schweren Subjekte ausnahmslos diskursa-
naphorisch verwendet sind und daher dem Hintergrund zuzurechnen
sind. Zwei exemplarische Fälle sind in (12) aufgeführt, wobei jeweils die
126 Roland Hinterhölzl

Ausdrücke das Mädchen und die Flut im vorausliegenden Text vorerwähnt


sind.
(12a) ubi erat puella iacens
thar thas magatin lag (T 96, 25)
wo das Mädchen lag
(12b)donec venit diluuium
unc thiu flout quam (T 257, 7)
bis die Flut kam
Wenn wir nun umgekehrt die Differenzbelege betrachten, in denen eine
Konstituente aus dem Mittelfeld ins Nachfeld gerückt wird, so zeigt sich,
dass sich unter den zehn Belegen sieben Fälle finden, die eine eingliedrige
Konstituente aufweisen, die keinesfalls als prosodisch schwer zu beurtei-
len ist. Wie die Beispiele in (13) und (14) aber zeigen, sind diese Konstitu-
enten eindeutig als fokussiert zu interpretieren.
(13) zeigt ein Beispiel, in dem das eingliedrige Objekt nachgestellt
wird, während die schwerere (zweigliedrige) PP im Mittelfeld verbleibt.
Die informationsstrukturelle Analyse des Beispiels zeigt aber, dass diese
Konfiguration durchaus Sinn macht, da hier eine kontrastierende Aussage
gemacht wird, in der die PPs kontrastive Topiks und die Akkusativobjekte
jeweils Fokus darstellen (analog zu der Diskursfrage „was habt ihr in mir
und was habt ihr in der Welt?“).
(13) Haec locutus sum vobis thisu sprahih iu
ut in me pacem habeatis thaz in mir habet sibba (T 290, 10)
in mundum presuram habebitis in therru weralti habet ir thrucnessi
dies sage ich euch, damit ihr in mir Frieden habt, in der Welt habt ihr Un-
ruhe
(14) zeigt, dass die Wortstellungsregularitäten im Tatian nicht nach der
einfachen Regel beschrieben werden können, dass Pronomen vorange-
stellt werden, während DPs gemäß der lateinischen Vorlage in ihrer Posi-
tion sitzen bleiben. In (11) ist entgegen der Vorlage ein schwaches Pro-
nomen ins Nachfeld gestellt. Allerdings macht der Kontext deutlich, dass
dieses Pronomen fokussiert ist. Die Passage ist so zu verstehen, dass die
Betonung auf das Pronomen fällt: wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht
werden. Im modernen Deutschen wird eine Fokuspartikel verwendet (um
das nur schlecht betonbare Reflexivum zu verstärken), im Althochdeut-
schen wird das Pronomen in die rechtsperiphere Fokusposition verscho-
ben.
Zur Herausbildung der Satzklammer 127

(14) Quia omnis bidiu uuanta iogiuuelih (T 195, 16)


qui se axaltat thiedar sih arheuit
humiliabitur uuirdit giotmotigot
qui se humiliat exaltabitur inti therdar giotmotigot sih wirdit arhaban
deshalb wird jeder, der sich erhöht, erniedrigt werden und der sich ernied-
rigt, wird erhöht werden
Zusammenfassend können wir feststellen, dass gewichtiger als gewichtiger
im informationsstrukturellen Sinn zu verstehen ist: Mehrgliedrige Konsti-
tuenten können vorangestellt werden, wenn sie dem Hintergrund zuzu-
rechnen sind, und eingliedrige Konstituenten können nachgestellt werden,
falls sie neue, wichtige Information beisteuern.
Eine genauere Sichtung der Differenzbelege zeigt allerdings auch, dass
die Generalisierung in (8) verfeinert werden muss, da kontrastive Foki,
auch gegen das Latein, wie Beispiel (15) zeigt, generell vorangestellt wer-
den. Dabei ist wiederum interessant, dass kontrastive Foki unabhängig
von ihrem prosodischen Gewicht in adjazenter präverbaler Position reali-
siert werden. PPs erscheinen im Tatian gemäß dem Gesetz der wachsen-
den Glieder überwiegend im Nachfeld. Wie (16) aber zeigt, wird eine PP,
die kontrastiv zu interpretieren ist, präverbal realisiert. Daher muss die
informationsstrukturelle Generalisierung in (8) dergestalt revidiert werden,
dass sich die syntaktischen Positionen von Kontrastfokus und Informati-
onsfokus, wie in (17) skizziert, von einander unterscheiden.
(15) tu autem cum ieiunas/ unge caput tuum/ & faciem tuam laua/ ne uideatis
hominibus/ ieiunans. Sed patri tuo
thane thu fastes/ salbo thin houbit/ Inti thin annuzi thuah/ zithiu
thaz thu mannon nisís gisehan/ fastenti.
úzouh thinemo fater (T 68, 28-32)
that you to-men not-be seen fasting
wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, sodass du
nicht den Menschen fastend erscheinst, sondern deinem Vater
(16) orantes autem. nolite multum loqui/ sicut &hnici.’/ putant enim quia in
multiloquio/ exaudiantur.
b&onte nicur& filu sprehan/ sósó thie heidanon mán/ sie uuanen
thaz sie in iro filusprahhi / sín gihórte (T 67, 23-26)
that they in their many words are heard
wenn du betest, verwende keine leeren Wiederholungen wie es die Heiden
tun, denn sie glauben, dass sie (nur) durch ihre vielen Wörter gehört wer-
den
(17) C Hintergrund Kontrastfokus V Informationsfokus
128 Roland Hinterhölzl

Während die Syntax des Althochdeutschen eine Unterscheidung zwischen


kontrastivem und präsentationellem Fokus trifft, ist es zentral hervorzu-
heben, dass die Prosodie generell zwischen weitem und engem Fokus
differenziert, indem das Verb mit einer eng-fokussierten Phrase eine pro-
sodische Konstituente bildet:
(18) A narrow focused phrase undergoes phonological restructuring
with an adjacent verb (vgl. Nespor / Vogel 1986; Frascarelli
2000).
Diese Eigenschaft ist zentral für die Bestimmung der unmarkierten Wort-
stellung in einer Sprache. Nespor / Guasti / Christophe (1996) stellen
fest, dass Kinder im Syntaxerwerb sehr früh für prosodische Muster sensi-
tiv sind und schlagen vor, dass die unmarkierte Wortstellung auf der Basis
der Position des starken Elements in phonologischen Phrasen festgelegt
wird (rhythmic activation principle). Deswegen kommt (engem) Fokus
aufgrund der Erzeugung links- oder rechtsköpfiger phonologischer Phra-
sen mit dem Verb eine zentrale Rolle in der Bestimmung der unmarkier-
ten Wortstellung bezüglich des Verbs zu.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das frühe Althoch-
deutsche sowohl OV- also auch VO-Abfolgen erlaubt, da aufgrund von
präverbalem Konstrastfokus und postverbalem Informationsfokus ver-
mutlich beide Abfolgen in dieser Grammatik als unmarkiert zu bewerten
sind.
Dieser Zustand hat sich aber vom späten Althochdeutschen an, wenn
auch nur in langsamen Schritten, geändert. Postverbale nicht extraponier-
bare Konstituenten, wie Objekte und Prädikate wurden sukzessive abge-
baut, was letztlich zur Herausbildung der neuhochdeutschen Satzklammer
geführt hat. Daher stellt sich in diesem Ansatz die Frage, wie es zum Ver-
lust der postverbalen Fokusposition kam.

3. Die Rolle des definiten Artikels


bei der Satzklammerbildung
In diesem Abschnitt soll genauer untersucht werden, wie es zum Wandel
von OV / VO zu OV im Deutschen kam. Mit anderen Worten, es stellt
sich die Frage, wie man von dem System in (17), in dem die Definitheit
eines nominalen Ausdrucks im Wesentlichen positionell ausgedrückt wird,
zum neuhochdeutschen System kommt, in dem der Artikel die definite
beziehungsweise indefinite Interpretation eines nominalen Ausdrucks
anzeigt. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Grammatikalisierung
Zur Herausbildung der Satzklammer 129

des definiten Artikels dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben könn-
te.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klar zu machen, dass das
neue lexikalische System nicht ganz deckungsgleich mit der Unterschei-
dung zwischen diskursgegebenen und diskursneuen Referenten des alten
syntaktischen Systems ist. Im heutigen Deutsch signalisiert der definite
Artikel, dass der Diskursreferent, ob gegeben oder neu, eindeutig im Kon-
text identifizierbar ist, wie das Beispiel in (19) zeigen soll.
(19) Maria hat sich ein kleines Häuschen am Land gekauft.
Nächstes Wochenende will sie die Hütte abreißen.
In dem Minitext in (19) kann die Nominalphrase die Hütte sowohl dis-
kursanaphorisch sowie als einen neuen Diskursreferenten einführend
interpretiert werden. In diskursanaphorischer Verwendung, unter Deak-
zentuierung, wird die Referenz des Ausdrucks die Hütte mit dem vorer-
wähnten Häuschen identifiziert und der semantische Gehalt des Nomens
Hütte appositiv dazu interpretiert. Daneben gibt es eine Lesart, in der der
nominale Ausdruck eine Hütte bezeichnet, die zu dem kleinen Häuschen
gehört (bridging). In diesem Fall führt der Ausdruck die Hütte einen neuen
Diskursreferenten ein und wird dabei betont. Der definite Artikel legiti-
miert sich durch die eineindeutige logische Relation zum vorerwähnten
Häuschen. Bevor im Abschnitt 3.2. die Rolle des definiten Artikels in der
Herausbildung der Satzklammer näher beleuchtet wird, wollen wir uns
zunächst über den grammatischen Status dieser Entwicklung im Klaren
werden.

3.1. Die Herausbildung der Satzklammer


als grammatische Entwicklung

Die Herausbildung der Satzklammer im Deutschen wird in der gesamten


Literatur als rein stilistische Entwicklung dargestellt. Traditionelle Gram-
matiker betrachten diese Entwicklung als ein nichtgrammatisch bedingtes
Phänomen der Stilentwicklung, für das soziokulturelle Faktoren verant-
wortlich gemacht wurden: das Vorbild des Humanistenlatein (vgl. Behag-
hel 1892), der Einfluss der Schulgrammatik (vgl. Biener 1922 / 23) sowie
– zuletzt – die Verbreitung von Kanzleistilen (vgl. Ebert 1986). Die Mög-
lichkeit, dass Stilpräferenzen auch eine grammatische Basis haben könn-
ten, bleibt dabei unbeachtet.
Selbst Lenerz (1984) argumentiert in seiner generativen Studie zur
Entwicklung der Wortstellung im Deutschen, dass der besagte Wandel
kein kategorieller oder grammatischer sein kann, da man selbst im heuti-
130 Roland Hinterhölzl

gen Deutsch noch Argumente ausklammern kann, wie das Beispiel in (20)
zeigen soll.
(20) Auf Gleis 5 fährt ein | der IR nach Straubing
Der Satz in (20) zeigt ein nachgestelltes fokussiertes Subjekt. Er ist zwar
als grammatisch zu bewerten, aber in höchstem Grade prosodisch mar-
kiert, da er nur in Form von zwei getrennten Intonationsphrasen realisiert
werden kann, wie in (21) gezeigt ist, und damit die Schnittstellenbedin-
gung in (22) verletzt.
(21) [iP (Auf Gleis 5) (fährt ein) ] [iP (der Interregio) (nach Straubing)]
(22) Focus constituents are mapped into the intonational phrase
which contains the verb (Nespor / Vogel 1986).
Daher ist (21) auf Grund seiner Markiertheit nur in speziellen kommuni-
kativen Situationen einsetzbar. Diese Diagnose legt nahe, dass der allmäh-
liche Abbau nachgestellter Argumente und Prädikate auf eine grammati-
sche Änderung zurückzuführen ist, die zur Folge hat, dass ein postver-
baler Fokus nicht mehr in die Intonationsdomäne des Verbs integriert
werden kann. Wir werden auf diese grammatische Regel in Sektion 3.3.
zurückkommen.
Auf Grund der beiden Fokuspositionen und auf der Basis von Fokus-
restrukturierung können wir annehmen, dass das Ahd. zwei unmarkierte
Wortstellungen aufwies: Präverbaler Fokus ist verantwortlich für prosodi-
sche Phrasen vom Typ (s w) und postverbaler Fokus ist verantwortlich für
prosodische Phrasen vom Typ (w s). Das heißt, wenn wir einen Faktor
identifizieren können, der zu einer verstärkten Verwendung von fokussier-
ten und damit betonten präverbalen Konstituenten führt, können wir eine
langsame Entwicklung voraussehen, in der gewisse prosodische Muster
mehr und mehr marginalisiert werden, bis ein Punkt erreicht wird, an dem
postverbale betonte Konstituenten so stark markiert sind, dass sie nur
noch eingeschränkt auf spezifische Kontexte verwendet werden können,
wie das der Fall im Beispiel (20) ist. Im folgenden Abschnitt soll dargelegt
werden, dass dieser unabhängige Faktor in der Grammatikalisierung des
definiten Artikels zu finden ist.

3.2. Die Grammatikalisierung des definiten Artikels


im Deutschen

Es gibt drei Gründe, die dafür sprechen, dass die Grammatikalisierung des
definiten Artikels tatsächlich der Auslöser für die Herausbildung der Satz-
klammer im Deutschen war.
Zur Herausbildung der Satzklammer 131

Erstens stimmen neuere Studien zur Grammatikalisierung des defini-


ten Artikels (vgl. Oubouzar 1992, Leiss 2000, Demske 2001) darin über-
ein, dass der definite Artikel, der auf ein Demonstrativpronomen zurück-
geht, zuerst in Kontexten mit pragmatisch definiter Interpretation
auftaucht. Diese Studien beziehen sich auf die Unterscheidung Löbners
(1985) zwischen pragmatischen und semantischen Definita. Semantische
Definita sind nominale Ausdrücke, deren Referenzobjekte allein auf
Grund ihrer lexikalischen Bedeutung eindeutig identifizierbar sind. Einfa-
che Beispiele für semantische Definita sind sogenannte funktionale Kon-
zepte, wie Sonne, Himmel, Ehefrau oder Präsident. Pragmatische Definita
hingegen sind nominale Ausdrücke, deren Referenzobjekt erst durch Zu-
hilfenahme des Kontextes eindeutig identifizierbar ist. Die Hauptverwen-
dungen pragmatischer Definita sind in (23) kurz illustriert.
(23a) Ich kann das Ufer erkennen. (deiktische Verwendung)
(23b)Das Arbeitszimmer hat ein großes Fenster.
Das Fenster geht nach Süden. (anaphorische Verwendung)
(23c) das Fenster, das nach Süden geht (endophorische Verwendung
im Relativsatz)
Die Grammatikalisierung des definiten Artikels setzt in den ältesten alt-
hochdeutschen Texten ein und ist mit Notker (frühes 11. Jh.) abgeschlos-
sen. Bei ihm erscheinen alle semantischen Gruppen von Nomen, inklusive
Abstrakta und eindeutig referierender Ausdrücke, mit dem definiten Arti-
kel. Der langsame, stufenweise Prozess der Grammatikalisierung des defi-
niten Artikels kann anhand von Otfrids Evangelienharmonie exemplifi-
ziert werden. In diesem Text tritt der definite Artikel bereits regelmäßig
mit pragmatischen Definita auf, also in diskurs-anaphorischen Verwen-
dungen, wie in (24) illustriert ist, fehlt allerdings noch bei semantischen
Definita, wie in (25) gezeigt wird. Die Beispiele stammen von Demske
(2001).
(24) ein burg ist thar in lante…(O.I 11.23)
eine Stadt ist da im Lande
zi theru steti fuart er thia druhtines muater (O.I.11.26)
zu dieser Stadt führt er die Gottes Mutter
(25a) tho ward himil offan (O.I.25.15)
da wurde der Himmel offen
(25b)inti iz hera in worolt sante (O.I.13.5)
und es hier in die Welt sandte
132 Roland Hinterhölzl

(25c) in ira barm si sazta [barno bezista] (O.I.13.10)


in ihren Schoß sie setzte [das meist-geliebte Kind]
Zweitens stimmt die oben konstatierte stufige Grammatikalisierung des
finiten Artikels mit der Beobachtung von Behaghel (1932) überein, dass
Nominalphrasen mit dem definiten Artikel zuerst präverbal auftauchen –
vgl. (26) – da diskursanaphorische NPen im Ahd. typischerweise präverbal
realisiert werden – vgl. (17). Daher können wir eine Entwicklung in zwei
Phasen annehmen, wie sie in (27) spezifiziert ist.
(26) Behaghel (1932, 79): „Substantiva mit Pronomen stehen auf der
Seite der einfachen Wörter; zum Teil mag das daher rühren, daß
ihnen der Artikel früher fehlte.“
(27) Phase 1: Der Artikel wird bei diskursgegebenen Referenten
präverbal eingeführt.
Phase 2: Die Setzung des Artikels wird auf alle eindeutig identi-
fizierbaren NPen ausgedehnt, wobei diese dem Mus-
ter aus Phase 1 folgend präverbal erscheinen.
In diesem Zusammenhang sind zwei Konsequenzen von Interesse.
Stimmt das Szenario in Phase 2, so hätte das zur Folge, dass präverbal
mehr betonte Nominalphrasen auftreten, die aufgrund von Fokusrestruk-
turierung das prosodische Muster (s w) verstärken. In diesem Szenario
kann angenommen werden, dass, wenn die vermehrte Anzahl von präver-
balen betonten Nominalphrasen einen gewissen Schwellenwert übersteigt,
der IS-prosodische Parameter in (28) auf den Wert F > V (will heißen, das
Verb restrukturiert ausschließlich nach links) gesetzt wird. Dies hätte zur
Folge, dass postverbale fokussierte Konstituenten, wie in (21) gezeigt,
prosodisch ausgeklammert werden müssen. Ob dies der Fall ist, soll in
Abschnitt 4 genauer diskutiert werden.
(28) IS-requirements on the prosodic mapping of syntactic structures:
A focussed constituent introduces an IP-boundary on one side
and restructures with the adjacent verb on its other side (general-
isiert nach Frascarelli 2000).
Trifft das Szenario in Phase 2 nicht zu, so hätte bereits die Einführung des
Artikels mit diskursanaphorischen Nominalphrasen in Phase 1 einen tief-
gehenden Effekt auf die Prosodie der Sprache, da präverbale determinier-
te Nominalphrasen rechtsverzweigende Konstituenten auf einem linken
Zweig (gegenüber dem Verb) einführen und damit auch das Mittelfeld für
schwere Konstituenten öffnen.
Dabei können wir annehmen, dass, wenn der Artikel zuerst in diskurs-
anaphorischen Kontexten eingeführt wird, dieser betont ist, wobei das
Zur Herausbildung der Satzklammer 133

diskursanaphorische Nomen deakzentuiert sein dürfte, sodass die ur-


sprüngliche Einführung des Artikels in der präverbalen Domäne die pro-
sodische Bedingung in (11) nicht verletzt haben würde. Im Verlauf der
Grammatikalisierung wird der Artikel deakzentuiert und die Betonung fällt
per default auf das Nomen (auf der Basis, dass lexikalische Köpfe stärker
sind als funktionale), sodass mehr und mehr rechtsverzweigende Konsti-
tuenten in der präverbalen Domäne entstehen.
Drittens wird das Gesamtszenario in (27) durch den parallelen Zeit-
rahmen dieser Entwicklungen gestützt. Bolli (1975) und Borter (1982), die
die Entwicklung der Satzklammer im Deutschen untersuchen, stellen fest,
dass im spätalthochdeutschen Notker verstärkt die Voranstellung von
Akkusativobjekten einsetzt. Dies deckt sich genau mit der Periode, in der
der definite Artikel vollständig grammatikalisiert wird.
Bevor wir uns an die Überprüfung des Szenarios in (27) machen, wol-
len wir zunächst feststellen, ob die Artikelhypothese auch im weiteren
germanischen Kontext tragbar ist.

3.3. Die Entwicklung des definiten Artikels


in den anderen germanischen Sprachen

Wenn sich das Szenario in (27) als richtig erweist, so stellt sich die Frage,
warum die Einführung des definiten Artikels nicht denselben Effekt in der
Geschichte der anderen germanischen Sprachen zeitigte. Auch im Ae.
(vgl. Kroch / Pintzuk 1989) und im An. (vgl. Hróarsdóttir 2009) gehorcht
die Wortstellung dem Gesetz der wachsenden Glieder: Leichte Elemente
(typischerweise Pronomen und bloße Nomen) gehen dem Verb voraus,
schwere Elemente (inklusive fokussierter Konstituenten) folgen dem
Verb. In diesem Zusammenhang ist zu erklären, warum in diesen Spra-
chen die Grammatikalisierung des definiten Artikels nicht gleichermaßen
zur Einführung schwerer Konstituenten im Mittelfeld geführt hat.
Dabei ist, was diese Fragestellung anbelangt, zumindest das Nordger-
manische unproblematisch, da bereits Leiss (2000) feststellt, dass der defi-
nite Artikel im Altisländischen zunächst bei diskursneuen NPen eingesetzt
wird, um anzuzeigen, dass diese entgegen ihrer syntaktischen Position als
definit zu interpretieren sind.
Nicht so einfach zu erklären ist aber, warum im Englischen nicht der-
selbe Effekt eintritt wie im Deutschen. Philippi (1997) stellt fest, dass das
Ae. noch keinen definiten oder indefiniten Artikel besitzt, sondern Pro-
nomen benutzt, die noch eindeutig als Demonstrativa oder Numeralia zu
klassifizieren sind. Wenn die Aussage von Philippi tragfähig ist und auf die
gesamte altenglische Periode zutrifft, könnte dies bedeuten, dass die
134 Roland Hinterhölzl

Grammatikalisierung des Artikels im Englischen später als im Deutschen,


nämlich erst im Me. erfolgt ist.
Das Ae. hatte zwei unterschiedliche Demonstrativpronomen, se ('that')
und þes ('this'). Hróarsdóttir (2006) berichtet, dass das Demonstrativpro-
nomen se, das im Ae. mehrere Kasusformen hatte, im Übergang vom Ae.
zum Me. in zwei invariante Formen the (Artikel) und that (Demonstrati-
vum) aufgespalten wurde. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass der
englische definite Artikel einen anderen Grammatikalisierungspfad ge-
nommen hat als der deutsche Artikel. Wenn wir annehmen, dass the unbe-
tont war, so würde daraus folgen, dass es mit dem zugehörigen Nomen
gemäß der Bedingung (11) postverbal eingesetzt wird.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Artikelhypothe-
se, was das Deutsche und das Skandinavische anbelangt, die richtigen
Voraussagen für die globale Wortstellungsentwicklung der beiden Spra-
chen macht: Die Einführung des definiten Artikels führt im Skandinavi-
schen zur Verstärkung, im Deutschen aber zur Abschwächung der proso-
dischen Bedingung in (11). Für das Englische kann gesagt werden, dass
mit dem, was man über die Grammatikalisierung des definiten Artikels im
Englischen weiß, die Hypothese kompatibel ist. Im folgenden Abschnitt
soll abschließend diskutiert werden, ob das in Phase 2 skizzierte Szenario
in (27) tatsächlich für die Entwicklung des Deutschen maßgeblich gewe-
sen sein könnte.

4. Die Veränderung der Wortstellung


von Tatian zu Notker
Das Gesamtszenario in (27) macht folgende Voraussagen. Wir erinnern
uns, dass in der Tatian-Übersetzung Konstituenten mit Informationsfokus,
das heißt im Wesentlichen Prädikate und diskursneue NPen, postverbal
realisiert werden. Falls der Effekt der Grammatikalisierung des definiten
Artikels in Phase 2 tatsächlich der ist, dass auch diskursneue determinierte
Nominalphrasen präverbal realisiert werden, dann sollte es ein Stadium
geben, in dem eine gesteigerte Anzahl von fokussierten DPen präverbal
auftaucht, während fokussierte Prädikate (prädikative Adjektive, Nomen
und Partizipien) noch mehrheitlich postverbal auftreten. Dieses Stadium
sollte mit der vollständigen Grammatikalisierung des Artikels, also bei
Notker, erreicht sein.
Zur Herausbildung der Satzklammer 135

4.1. Eine quantitative Analyse der Veränderungen

Einer genaueren informationsstrukturellen Analyse der Wortstellung in


den Nebensätzen Notkers vorgreifend, habe ich zur Überprüfung dieser
Voraussage rein quantitativ die Stellung der Komplemente (Objekte plus
Prädikate) gegenüber dem finiten Verb in den Nebensätzen in der Tatian-
Übersetzung (linke Spalte) und im 1. Buch von Notkers Consolatio (rechte
Spalte) miteinander verglichen.
Die Daten sind in (29) angegeben. Da die Anzahl der relevanten Bele-
ge im 1. Buch von Notkers Consolatio beispielsweise bei Prädikatsnomen
relativ gering ist, habe ich diese Zahlen mit der Auswertung von Näf
(1979) in (30) und (31) verglichen, der den Gesamttext von Notkers Conso-
lation analysiert. Daraus geht hervor, dass die Zahlen in (29) durchaus
aussagekräftig sind.
(29) • direkte Objekte: 33 % postverbal 25 % postverbal
(von 100 Belegen) (v. 124 B.)
• indirekte Objekte: 33 % postverbal 20 % postverbal
(von 21 Belegen) (v. 54 B.)
• Prädikatsnomen: 33 % postverbal 20 % postverbal
(von 31 Belegen) (v. 26 B.)
• Partizipien: 55 % postverbal 15 % postverbal
(von 46 Belegen) (v. 15 B.)
(30) Stellung der Subjekte und Komplemente in Nebensätzen laut
Näf
• Subjekte: 8 % postverbal (von 339 Belegen)
• direkte Objekte: 28 % postverbal (von 233 Belegen)
• indirekte Objekte: 32 % postverbal (von 53 Belegen)
• Prädikatsnomen: 21 % postverbal (von 56 Belegen)
(31) Stellung der Subjekte und der direkten Objekte in Hauptsätzen
laut Näf
• Subjekte: 32 % postverbal
• Direkte Objekte: 53 % postverbal

Während die Daten in (29) einen allgemeinen Rückgang postverbaler


Komplemente ausweisen, kann nicht festgestellt werden, dass die Objekte
als determinierte NPen den Prädikaten in dieser Entwicklung vorausge-
hen. Im Gegenteil, rein quantitativ betrachtet, scheint die Entwicklung
vornehmlich von den Prädikaten angestoßen zu werden. Jedenfalls ist der
Rückgang postverbaler Partizipien am deutlichsten.
Natürlich müssen diese Zahlen in einer qualitativen Analyse erst be-
stätigt werden. Beispielsweise sind die Zahlen, was die Objekte und Sub-
136 Roland Hinterhölzl

jekte anbelangt, gemäß definiter und indefiniter Lesart zu differenzieren.


Dabei könnte sich herausstellen, dass die überwiegende Anzahl definiter
Objekte bereits präverbal realisiert wird und dass die relativ hohe Anzahl
postverbaler Objekte auf indefinite Nominalphrasen zurückzuführen ist.
Ein weiterer interessanter Aspekt, der sich aus dem Vergleich der
Zahlen in (30) und (31) bei Näf ergibt, ist die Beobachtung, dass es eine
eklatante Diskrepanz in der Herausbildung der Satzklammer zwischen
Hauptsätzen und Nebensätzen zu geben scheint. In (31) wird die Stellung
von Subjekten und Objekten bezüglich der aus Auxiliar und Partizip be-
ziehungsweise aus Modal und Infinitiv gebildeten verbalen Klammer ge-
zeigt. Dabei ist erklärungsbedürftig, warum in Hauptsätzen Subjekte vier-
mal so oft und Objekte immerhin noch fast doppelt so oft wie in Neben-
sätzen ausgeklammert sind.

4.2. Schlussfolgerungen

Was immer eine differenzierte Analyse, die definite und indefinite nomi-
nale Ausdrücke separat behandelt, ergibt, die Daten in (29) und (30) legen
nahe, die Rolle der Stellungsveränderungen der Prädikate in einer umfas-
senden Erklärung zur Herausbildung der Satzklammer zu berücksichtigen.
Dabei ist von der Artikelhypothese ausgehend zunächst einmal abzuklä-
ren, ob die gesteigerte Anzahl präverbaler Prädikate bei Notker auf eine
größere Anzahl präverbaler schwerer Prädikate gegenüber den Zahlen im
Tatian zurückzuführen ist. In dem Fall könnte nämlich die Stellungsverän-
derung der Prädikate indirekt wiederum auf die Grammatikalisierung des
Artikels bezogen und als eine Konsequenz der Abschwächung der proso-
dischen Bedingung durch diskursanaphorische Nominalphrasen interpre-
tiert werden.
Unabhängig davon ist es wichtig festzustellen, dass die gesteigerte An-
zahl präverbaler Prädikate denselben Effekt wie präverbale DPen auf die
Polung der IS-prosodischen Bedingung in (28) hat, da Prädikate regelhaft
eine phonologische Phrase mit dem Verb bilden und somit gleichermaßen
das prosodische Muster (s w) bezüglich des Verbs verstärken.
Als ein weiterer wichtiger Aspekt der Daten in (29) bis (31) ist zu un-
tersuchen, welche Faktoren für die Diskrepanz zwischen verbaler Klam-
mer im Hauptsatz und der Satzklammer im Nebensatz verantwortlich zu
machen sind. Diese Fragestellung erfordert, so wie die Untersuchung der
Stellung der Prädikate und Objekte bei Notker, eine qualitative Detailana-
lyse, die die informationsstrukturelle Rolle der relevanten Konstituenten
berücksichtigt.
Zur Herausbildung der Satzklammer 137

Ich hoffe gezeigt zu haben, dass wir durch die Berücksichtigung in-
formationsstruktureller Kategorien zu einem tieferen Verständnis von
Sprachwandelprozessen wie der Herausbildung der Satzklammer im Deut-
schen kommen können, da eine derart angereicherte Analyse es uns er-
laubt, grammatische und (text-)funktionale Aspekte und Faktoren aufein-
ander zu beziehen.

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vnd schwermen so waidlich /
als jemandt anders schwermen kan
Nominalphrasen mit jemand und niemand
in der Geschichte des Deutschen

Ursula Götz (Rostock)

1. Einleitung
Das grammatische Phänomen, dessen Geschichte im Folgenden unter-
sucht werden soll, kann anhand von zwei gegenwartssprachlichen Presse-
belegen vorgestellt werden.
(1) Noch jemand Bedeutendes fehlte beim Boxabend. (Hamburger Morgen-
post, 4.7.2005)1
(2) Ob in der ASG-Zentrale in Innsbruck auch nominell jemand Neuer Ein-
zug halten wird, ist aber offen. (Tiroler Tageszeitung, 12.02.2000)2
Beide Belege enthalten eine Verbindung von jemand mit einem substanti-
vierten Adjektiv. In Beispiel (1) hat das Adjektiv die Endung -es, wie das
die Adjektive im Nominativ Singular Neutrum haben, im zweiten Beispiel
ist die Adjektivendung -er wie im Nominativ Singular Maskulinum. Dabei
handelt es sich, wie durch die Auswahl einer Hamburger und einer Tiroler
Zeitung für die Belegpräsentation gezeigt werden sollte, um eine regionale
Variante der Standardsprache. Die Formen auf -es treten vor allem im
Norden des deutschen Sprachgebiets auf, die -er-Formen im Süden. Diese
Verteilung gilt nicht nur für das substantivierte Adjektiv nach jemand (und
niemand), sondern auch, wie die Belege (3) und (4) zeigen, für ander. In der
Hamburger Morgenpost heißt es jemand anderes, in der Süddeutschen Zei-
tung dagegen jemand anderer.

_____________
1 Online im Internet: http://www.ids-mannheim.de/cosmas2
(Cosmas-Recherche 27.04.2006).
2 Ebd.
140 Ursula Götz

(3) Am Mittwoch beim VfL Gummersbach könnte es dann so aussehen, dass


zunächst vereinsintern jemand anderes auf der Trainerbank Platz nimmt.
(Hamburger Morgenpost, 17.10.2005)3
(4) Thannhuber behauptet, dass er in dieser Firma nichts zu sagen hatte; je-
mand anderer sei Geschäftsführer gewesen. (Süddeutsche Zeitung,
15.12.2003)4
Interessant ist dabei, dass die regionale standardsprachliche Verteilung
nicht die dialektalen Verhältnisse abbildet. Das zeigt etwa der einschlägige
Eintrag in Johann Andreas Schmellers Bayrischem Wörterbuch: „eppƏ,
eƏm.d Fremms, jemand Fremder“.5 J.A. Schmeller gibt die Dialektform auf
-s (eppƏ, eƏm.d Fremms) mit der Südstandardform auf -er (jemand Fremder)
wieder.
Weder die Arbeiten zu den regionalen Varianten der Standardsprache6
noch die gegenwartssprachlichen Grammatiken,7 soweit sie die Variante
überhaupt erwähnen, geben eine Erklärung für die regionale Verteilung.
Dies gilt auch für die Untersuchung „Zur Nominalflexion in der deut-
schen Literatursprache nach 1900“ von Ivar Ljungerud, der eine Vielzahl
von Belegen anführt und dabei auch auf die regionalen Unterschiede hin-
weist.8 Insofern liegt es nahe, der Geschichte dieser Fügungen nachzuge-
hen und dort nach möglichen Erklärungen zu suchen. Dabei soll es im
vorliegenden Beitrag zunächst und vor allem um die Darstellung und Er-
klärung der überlieferten Formen seit der althochdeutschen Sprachperiode
gehen. Der letzte Abschnitt befasst sich mit der Frage, wann und wie die
heutige regionale Verteilung zustande gekommen ist.

_____________
3 Ebd.
4 Online im Internet: www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/539/23516/article.htm
(Stand 20.5.2006).
5 Schmeller (1985, Sp. 820).
6 Ebner (1998, 31); Meyer (1989, 44).
7 Die regionale Variante wird nur in der Dudengrammatik (vgl. Abschnitt 2) und bei Johan-
nes Erben (1980, 239) erwähnt sowie in den früheren Auflagen der Grammatik von Ulrich
Engel (1996, 672 und 680). In der Neubearbeitung (2004, 375 und 379) werden die regio-
nalen Unterschiede nicht mehr erwähnt. Zur Berücksichtigung dieser und anderer regiona-
ler grammatischer Varianten der Standardsprache vgl. auch Götz (1995, 222ff.).
8 Vgl. Ljungerud (1955, 191ff.). Die vermutlich jüngste Arbeit zum Thema, Roehrs (2008,
1ff.), spricht die Regionalität des Phänomens nicht an, sondern erklärt das Nebeneinander
von jemand anderer und jemand anderes als „variation in the preference of individual speakers“
(3). Der Beitrag von Dorian Roehrs ist mir erst nach Abschluss meiner Untersuchung be-
kannt geworden. Interessant ist, dass Dorian Roehrs, der sich aus sprachvergleichender ge-
nerativer Perspektive mit dem Problem beschäftigt, in einem wichtigen Punkt eine ähnliche
Einordnung vornimmt wie die vorliegende Darstellung. Vgl. dazu Anm. 37.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 141

2. Gegenwartssprachlicher Befund
Bevor die Geschichte der einschlägigen Fügungen betrachtet wird, sollen
die gegenwartssprachlichen Verhältnisse anhand der Darstellung in der
Dudengrammatik kurz umrissen werden. Peter Gallmann schreibt hier:
Nach den Pronomen jemand, niemand und wer kann eine enge Apposition stehen,
gewöhnlich in Form eines substantivierten Adjektivs. Solche Substantivierungen
weisen im Nominativ und Akkusativ standardsprachlich meist die Endung -es auf
[…]. Es handelt sich um einen ursprünglichen Genitiv, der jedoch heute meist als
Nominativ / Akkusativ Neutrum empfunden wird. Vor allem im Süden des deut-
schen Sprachraums sind daneben auch maskuline Formen üblich.
[...]
Beim Adjektiv andere tritt außerdem die unveränderliche Form anders auf (auch im
Dativ), es besteht also teilweise die Wahl zwischen drei [...] Varianten.9
Im Text werden sehr viele Beispiele genannt; die darin enthaltenen ein-
schlägigen Formen sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt.

Nord Süd
Neutrum Maskulinum
Nom. jemand Unbekanntes jemand Unbekannter
Dativ jemand Unbekanntem jemand Unbekanntem
Akk. jemand Unbekanntes jemand Unbekannten

Neutrum unverändert Maskulinum


Nom. jemand anderes jemand anders jemand anderer
Dativ jemand anderem jemand anders jemand anderem
Akk. [kein Beleg] jemand anders jemand anderen
Übersicht 1: In der Dudengrammatik angeführte Möglichkeiten der Flexion von ander
oder einem substantivierten Adjektiv nach jemand / niemand

Nicht in die Tabelle aufgenommen sind die Formen mit flektiertem je-
mand, niemand also etwa ich sehe jemanden Unbekannten, weil sie für die hier
behandelte Frage keine Rolle spielen. Entscheidend sind die grundsätzli-
chen Typen, die P. Gallmann anführt: für den Norden die neutralen For-
men, für den Süden die maskulinen und bei anders zusätzlich die unverän-
derten Formen.
_____________
9 Duden (2005, Nr. 1587).
142 Ursula Götz

3. Zur Geschichte der Nominalphrasen


mit jemand und niemand
3.1. Der Genitiv bei jemand und niemand

Peter Gallmann erwähnt beiläufig auch die Geschichte des Phänomens,


wenn er über Formen wie jemand Schönes etc. schreibt: „Es handelt sich um
einen ursprünglichen Genitiv, der jedoch heute meist als Nominativ /
Akkusativ Neutrum empfunden wird.“10
Ein „ursprünglicher Genitiv“ lässt sich in einer ganzen Reihe heutiger
Sprachformen ausmachen, da in früheren Sprachstufen Pronomen, Quan-
titätsadjektive und ähnliche Wörter häufig mit dem Genitiv verbunden
wurden. Dies gilt, wie die Belege (5) und (6) zeigen, unter anderem auch
für jemand und niemand bzw. ihre Vorformen.
(5) nemet balde disen rucke hin!
kome ieman armer liute her,
der es geruoche oder ger,
dem teilet disen rucke mite (Gottfried von Straßburg, Tristan,
V. 2989)11
(6) daz die herren von dem Cl=ster / nîeman der B[ur]ger hîe ze Jsine sFlit a-
dersuva biclagen / dan vor ir amman (Urkunde, Isny 1. Juni oder 2.
Juli 1290)12
Der hier vorliegende Typ des adnominalen Genitivs wird im Allgemeinen
als partitiver Genitiv bezeichnet, als Teilungsgenitiv. In der Gegenwarts-
sprache würde man in diesen und vergleichbaren Sätzen eine andere Kon-
struktion verwenden, da der Gebrauch des partitiven Genitivs im Lauf der
Sprachgeschichte stark zurückgegangen ist.13 Teilweise wird der Genitiv
durch andere Konstruktionen ersetzt, etwa durch eine Präpositionalphrase
mit von (also nicht Gib mir etwas des Brotes, sondern Gib mir etwas von dem Brot
o.Ä.).14 Häufig wird bzw. wurde der ursprüngliche Genitiv aber auch um-

_____________
10 Duden (2005, Nr. 1587).
11 Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 79) und 1DWB IV,II, Sp. 2302, als Bei-
spiel für partitiven Genitiv. Die Belege werden jeweils nach den im Quellenverzeichnis an-
gegebenen Ausgaben zitiert.
12 CaOU, II, Nr. 1262 (504, 28).
13 Vgl. Kiefer (1910) und die in den folgenden beiden Fußnoten jeweils exemplarisch genann-
ten Darstellungen.
14 Vgl. Behaghel (1923, § 384); Demske (2001, 266f.).
Nominalphrasen mit jemand und niemand 143

gedeutet, reanalysiert. Dieser seit langem bekannte sprachgeschichtliche


Vorgang15 soll kurz an schematisierten Beispielen vorgeführt werden.
Der deutliche partitive Genitiv in Phrasen wie etwas der Liebe oder viel
der Hühner war seit dem Spätmittelhochdeutschen, wenn er ohne Artikel
auftrat, im Femininum und im Plural nicht mehr eindeutig als Genitiv zu
erkennen: etwas Liebe, viel Hühner. Diese Formen konnten dann auch als
Nominativ aufgefasst werden. Davon ausgehend wurden dann auch ‚ech-
te‘ Nominativ-Anschlüsse gebildet, wie etwas Brot (trotz eindeutigem mhd.
etwaz (des) brôtes), oder es wurden auf der Basis dieser ‚Schein-Nominative‘
auch flektierte Formen in anderen Kasus gebildet, wie mit viel Hühnern.
Auch bei den Adjektiven gibt es Umdeutungsmöglichkeiten, auf die P.
Gallmanns Aussage vom „ursprünglichen Genitiv“ offenbar abzielt. Das
Flexionsparadigma der Adjektive im Alt- und Mittelhochdeutschen zeigt
im Genitiv Singular die Endung -es, im Genitiv Plural zunächst -ero, später
dann aber -er.16 Dabei unterscheidet sich die Genitivendung zunächst
lautlich von der Endung im Nominativ Singular Neutrum (ahd. -az, mhd.
-ez), im 13. Jahrhundert fallen die s-Laute aber zusammen,17 so dass die
Endungen lautlich übereinstimmen.
Fasst man die bisher angeführten sprachhistorischen Befunde zusam-
men, so ergibt sich ein im Hinblick auf die Erklärung von jemand Neues /
Neuer vielversprechendes Bild: Jemand und niemand werden in früheren
Sprachstufen häufig mit dem Genitiv verbunden. Zum Neuhochdeut-
schen hin werden ältere Genitivanschlüsse oft umgedeutet, reanalysiert.
Die mittelhochdeutschen Genitivendungen lauten -es im Singular und -er
im Plural.

3.2. Unterschiedliche Erklärungsansätze der Forschungsliteratur


zur Entstehung der heutigen Formen

Die angeführten sprachhistorischen Befunde dürften die Basis für den


ersten der im Folgenden angeführten Erklärungsansätze der Forschungsli-
teratur darstellen. Der Bearbeiter des Artikels niemand im Deutschen Wör-
terbuch, Matthias von Lexer, schreibt:
besonders gerne steht aber in der alten sprache bei niemand (wie bei jemand) ein
adjectivischer genitiv pluralis oder singularis […], welche genitivische fügung

_____________
15 Vgl. Dal (1966, § 25, 25f.); Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, § S 35).
16 Vgl. Paul (2007, § M 23).
17 Vgl. ebd., § L 123.
144 Ursula Götz

noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie niemand guter, niemand fremder, niemand
fremdes, niemand anders u.s.w.18
Diese Darstellung wirkt zunächst plausibel; es wäre nur noch zu klären,
warum im Süden die Genitiv-Plural-Formen erhalten bzw. reanalysiert
sind, im Norden dagegen die Genitiv-Singular-Formen.
Zweifel an M. von Lexers Darstellung ergeben sich, wenn man seinen
Wörterbuchartikel zu niemand mit dem zu jemand vergleicht, der von Moriz
Heyne verfasst wurde. Auch hier findet sich eine Aussage zur Verbindung
mit dem Genitiv: „besonders gern steht in der alten sprache der gen. plur.
von adjectiven bei jemand.“19 M. von Lexer übernimmt M. Heynes Aussage
wörtlich, ergänzt allerdings den „genitiv singularis“, was – als Erklärung
für die modernen -es-Formen (jemand Gutes) – auch sehr gut passen würde.
Überprüft man allerdings die Belege, die M. von Lexer bietet, dann finden
sich keine Belege im Genitiv Singular wie iemen guotes oder ähnliche, son-
dern nur Belege im Genitiv Plural sowie ein Beleg für anders:
besonders gerne steht aber in der alten sprache bei niemand (wie bei jemand) ein
adjectivischer genitiv pluralis oder singularis (gramm. 4,456,739): ahd. nieman guo-
tero. Notker ps. 80,8; nieman anderro. 21.12; mhd. nieman, niemen guoter. Walther
18,33. Wigal. 180,16; ander niemen. Nibel. 437,6. 1084,4; niemen anders Iwein 3223,
6237, welche genitivische fügung noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie nie-
mand guter, niemand fremder, niemand fremdes, niemand anders u.s.w.20
Auch die Überprüfung anderer Wörterbücher und Grammatiken sowie
verschiedener alt- und mittelhochdeutscher Texte erbrachte fast nur Bele-
ge für den Genitiv Plural, und zwar sowohl bei den (seltenen) substanti-
vierten Adjektiven als auch bei ander.
(7) hân ich getriuwer iemen, dine sól ich niht verdagen (Nibelungenlied
147,3)21
(8) Vnde verzihen vns aller der gnaden / die wir haben an vnseren hantvestinon
/ von dem babiste oder von ieman anderer (Urkunde, Reichenau 5. No-
vember 1270)22
Daneben gibt es einige wenige Belege, in denen ander eine Flexionsendung
zeigt, die mit dem Pronomen übereinstimmt.
(9) So uuer se sachun sinu [...] uuemo andremo uersellan uuilit [...] uuizze-
tathia sala ce gedune geulize. (Trierer Kapitulare)23
_____________
18 1DWB VII, Sp. 826.
19 1DWB IV,II, Sp. 2302.
20 1DWB VII, Sp. 826.

21 Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 129) als Beispiel für Genitivanschluss
nach ieman.
22 CaOU, I, Nr. 145B (180, 26).
Nominalphrasen mit jemand und niemand 145

Genitiv-Singular-Formen treten nicht auf, außer eben – und zwar recht


häufig – anders. Insofern ist zu fragen, ob es sich hier wirklich um einen
Genitiv Singular handelt. Zweifel an dieser Einordnung äußerte bereits
Jacob Grimm. In der Deutschen Grammatik heißt es:
Unschlüssig ist die beurtheilung des mhd. ander bei iemen, niemen und manec. […]
wenn Reimar Ms. 1, 63b sagt: ‚und w#r ich ander iemen alsô unm#re manigen tac,
dem h#t ich gelâzen den strît,‘ so kann hier ander nur gen. pl. sein, abhängig von
dem dat. iemen. […] auch steht der sg. anders: ûf niemen anders Iw. 3223; nieman
anders sach Iw. 6237, oder soll dies, wie im nhd. jemand anders, niemand anders,
das adv. sein?24
J. Grimm schlägt also vor, anders in iemen anders und vergleichbaren Fügun-
gen als Adverb zu klassifizieren. Adverbien, die insgesamt eine sehr hete-
rogene Wortart bilden,25 werden insbesondere dazu verwendet, den Ver-
balvorgang semantisch zu modifizieren.
(10) Wir müssen die Sache anders erklären.
Entsprechende Verwendungen des Adverbs anders sind schon im Alt-
hochdeutschen belegt.
(11) soso mir iz bi druncanheidi giburidi, soso mir iz anderes geburidi (Reiche-
nauer Beichte)26
Dabei ist das Adverb anders historisch auf einen Genitiv Singular zurück-
zuführen,27 wie dies für eine ganze Reihe von Adverbien, etwa auch das
neuhochdeutsche Temporaladverb morgens, gilt.28 Anhand des gegenwarts-
sprachlichen Beispiels morgens kann auch die auf ein Substantiv bezogene,
attributive Verwendung des Adverbs gezeigt werden.
(12) Das Aufstehen morgens fällt mir schwer.
Wenn nicht, wie im vorliegenden Beispiel, die Wortstellung eine entspre-
chende Einordnung nahelegt, bleibt häufig offen, ob das Adverb sich nur
auf das Substantiv oder auf den ganzen Satz bezieht.
(12a) Mir fällt das Aufstehen morgens schwer.
Solche Belege lassen sich auch in früheren Sprachstufen finden:

_____________
23 Von Steinmeyer (1916, 305, 7f.).
24 Grimm (1999, 456).
25 Vgl. Eisenberg (2006, 208).
26 Von Steinmeyer (1916, 332, 31). Nach AWB (1968, I, Sp. 506f.) ist dies einer der ältesten
Belege für das Adverb anders.
27 Vgl. AWB (1968) I, Sp. 506); FWB, I, Sp. 1068.
28 Vgl. Paul (2007, 231).
146 Ursula Götz

(13) swes ieman anders phlac,


diz enkam von ir herzen nie,
unz man des andern nahtes gie
slâfen nâch gewonheit. (Hartmann von Aue, Der arme Heinrich,
V. 512)
(14) Wann es mit der Religion hincken / vnnd auff faulen Beinen stehen wil /
so hincken sie mit / vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders
schwermen kan. (G. Müller, Ein Christliche Predigt, Regensburg
1592, Bl. Cijr)
In derartigen Sätzen ist womöglich auch der Ursprung der adsubstantivi-
schen Verwendung von anders im Alt- und Mittelhochdeutschen zu sehen.
Formal ist nicht zu entscheiden, ob in Belegen wie iemen anders eine solche
adsubstantivische Verwendung des Adverbs anders vorliegt oder ob anders
hier ein adnominaler Genitiv ist, da das Adverb aus der Genitiv-Singular-
Form entstanden ist und formal völlig mit ihr übereinstimmt.29 Die Ein-
ordnung als Adverb trägt der Tatsache Rechnung, dass nach jemand und
niemand normalerweise nur der Genitiv Plural auftritt, und zwar nicht nur
von Substantiven30 und substantivierten Adjektiven, sondern auch von
ander. Entsprechend wird anders in Fügungen wie jemand anders auch in der
Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs oder im Wörterbuch der
Mittelhochdeutschen Urkundensprache als Adverb eingeordnet.31
Im Hinblick auf die Vorgeschichte von jemand anders / jemand anderer
und jemand Neues / jemand Neuer kann man also für eine erste Phase, die
vom Althochdeutschen bis zum älteren Frühneuhochdeutschen gilt, Fol-
gendes festhalten.
Niemand und jemand verbinden sich entweder mit dem Genitiv Plural
von ander oder einem substantivierten Adjektiv oder mit dem Adverb
anders. Neben diesen beiden Haupttypen gibt es noch einige Belege mit
kongruierendem ander, die allerdings zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen.

_____________
29 Die formale Unterscheidung von Adverb anders und flektierter Adjektivform anderes bzw.
andres erfolgt erst im 19. Jahrhundert. Vgl. 1DWB, I, Sp. 306, 311f.
30 Das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache enthält in den Artikeln etewer,
ieman und nieman neben einer Vielzahl von pluralischen Belegen einen einzigen Beleg mit
einem Substantiv im Genitiv Singular: „also, daz wir noch vnsers létes nieman noch enhei-
ner vnser erben siv dar an vérbaz me besw(ren vñ geirren svln“ (WMU, II, 1309).
31 Vgl. 2DWB, I, Sp. 809; WMU, II, 913 und 1309. Dagegen wird bei BMZ, I, 36, anders in
niemen anders als „genit. des singul.“ klassifiziert.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 147

jemand / niemand
+
ander substantiviertes Adjektiv

im Genitiv Plural im Genitiv Plural

Adverb anders

Übersicht 2: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand
bis zum älteren Frühneuhochdeutschen

Dieser Befund gilt bis ins ältere Frühneuhochdeutsche. Ab dem


16. Jahrhundert tritt dann ein neuer Belegtyp auf. In Beispielen wie (15)
zeigt das substantivierte Adjektiv nicht die Genitiv-Plural-Endung, son-
dern geht auf -s aus, im Beispiel also jemand Fremds.
(15) VND Eleasar der Priester / nam die ehernen Pfannen [...] Zum Gedecht-
nis der kinder Jsrael / das nicht jemands frembds sich erzu mache (Luther-
Bibel 1545, Num. 16, 40)32
Eine mögliche Erklärung für diese Formen auf -s liefert M. Heyne im
Artikel jemand im Deutschen Wörterbuch. Zunächst weist er darauf hin,
dass „in verbindungen wie jemand anders u. ähnl. […] das beiwort ursprüng-
lich ebenfalls genitivisch zu nehmen“ sei, wodurch sich die unveränderte
Form auch in den obliquen Kasus erkläre. Nachdem er einige Beispiele für
niemen anders, jemanden anders u.Ä. angeführt hat, kommt M. Heyne auf
Belege mit substantivierten Adjektiven zu sprechen. „aber man scheint
doch frühe schon dieses anders als neutrum gefaszt zu haben [...], denn
man bildete nun analog auch jemand vertrautes zu seiner lieb zu schicken“.33
M. Heyne geht nicht direkt auf die Frage ein, ob das „ursprünglich ge-
nitivische“ anders als Adverb oder als Genitiv Singular von adjektivischem
ander zu klassifizieren ist. Allerdings nimmt er wohl eher letzteres an, weil
damit die Uminterpretation der Endung -(e)s als neutrale Adjektivendung
plausibler erscheint. Diese reanalysierte Endung wäre dann nach M. Hey-
ne auch auf die Adjektive übertragen worden, so dass jemand Fremdes als
Verbindung von jemand mit dem Nominativ Singular Neutrum des sub-
stantivierten Adjektivs zu klassifizieren wäre.

_____________
32 Die Luther-Bibel (2003, 606).
33 1DWB IV, II, Sp. 2302f.
148 Ursula Götz

3.3. Alternativer Erklärungsvorschlag für jemand Fremdes

Dem Ansatz von M. Heyne ist in vielen Punkten zuzustimmen, allerdings


lassen sich die Adjektivformen auf -s auch ohne die Annahme einer Um-
deutung von anders als Neutrum erklären. Grundsätzlich kann das Auftre-
ten analoger Bildungen in diesem Bereich nicht erstaunen. Da der adno-
minale partitive Genitiv im 16. Jahrhundert stark zurückgeht, stehen die
Genitiv-Plural-Formen für den Anschluss von ander oder ein substantivier-
tes Adjektiv an jemand oder niemand nicht mehr zur Verfügung. Während
es bei ander aber eine nicht (mehr) genitivische Konstruktion als Alternati-
ve gibt, nämlich die Verbindung von jemand / niemand mit dem Adverb
anders, fehlt eine solche Möglichkeit für die substantivierten Adjektive
zunächst. Die Annahme M. Heynes, dass die neuen Adjektivkonstruktio-
nen auf -s in Analogie zu den Formen jemand / niemand anders gebildet sind,
scheint vor diesem Hintergrund absolut plausibel.
Allerdings muss man nicht unbedingt davon ausgehen, dass die anders-
Formen als Neutra aufgefasst und dass nach diesem Vorbild neutrale Ad-
jektivformen gebildet wurden. Ohne den Umweg einer Uminterpretierung
der Adverbformen kommt man aus, wenn man annimmt, dass analog zu
den unveränderten anders-Formen auf -s auch unveränderte Adjektivfor-
men auf -s gebildet wurden. Dabei besteht der Unterschied zwischen un-
veränderten Formen und Neutrum-Formen nur an einer Stelle im Para-
digma, nämlich im Dativ:

Neutrum Unverändert

Nom. jemand Fremdes jemand Fremdes

Dativ mit jemand Fremdem mit jemand Fremdes

Akk. jemand Fremdes jemand Fremdes

Übersicht 3: jemand + neutrales Adjektiv / jemand + unverändertes Adjektiv

Wenn also die Adjektivformen in Analogie zur Adverbform anders gebildet


sind, müssten sich entsprechende Dativbelege auf -s nachweisen lassen.
Im Hinblick darauf, dass die Verbindung von jemand / niemand + substan-
tiviertes Adjektiv von vornherein kein allzu häufiges Phänomen darstellt
und der Dativ im Vergleich zu Nominativ und Akkusativ grundsätzlich
wesentlich seltener auftritt, ist hier allerdings nicht mit großen Belegmen-
Nominalphrasen mit jemand und niemand 149

gen zu rechnen. Immerhin finden sich aber doch einige einschlägige Bei-
spiele. M. Heyne selbst führt einen Goethebeleg an:
(16) Da ist ein Brief; er muß von jemand Hohes sein (J. W. v. Goethe, Die
Mitschuldigen, I, 6)34
Auch das Schwäbische Wörterbuch weist entsprechende Dativformen auf:
„Mod. stets n[iemand] -s: n[iemand] rechtes, braves, gutes, auch von, bei n[iemand]
-s“.35 Schließlich erbringt eine einfache Internetsuche für die Gegenwarts-
sprache zahlreiche Belege in informeller Schriftlichkeit, wie etwa Be-
leg (17):
(17) Wem Fremdes bringt man aber nicht solch ein Vertrauen entgegen, den re-
gulären Betrieb abzublocken.36
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich eine größere Anzahl ein-
schlägiger historischer Belege finden ließe. In jedem Fall spricht aber das
Vorhandensein der anders nur schwer erklärbaren unveränderten Dativbe-
lege für die hier vorgetragene These von der Bildung analoger unveränder-
ter Adjektivformen nach dem Muster des Adverbs anders.37

_____________
34 Vgl. von Goethe (1990, 38). Heyne, 1DWB IV, II, Sp. 2303, stellt diesen Vers als die Form
der „erste[n] abfassung“ einer späteren Fassung „er muss von jemand hohem sein“ gegen-
über. Die entsprechende Änderung lässt sich wohl auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts
zurückführen, die unten (Abschnitt 4) angesprochen werden.
35 Schwäbisches Wörterbuch (1904-1936, Sp. 2040).
36 Online im Internet: http://www.nostria-saga.de/forumscroll/ [etc.] (Stand 20.04.2006).
Auch in Duden. Richtiges und gutes Deutsch, 491 und 651, wird die Variante von jemand Fremdes,
niemand Fremdes akzeptiert, allerdings werden keine Belege angeführt; die Form mit flektier-
tem Adjektiv (von jemand Fremdem) gilt aber als „verbreiteter“.
37 Dass -s nicht als neutrale Endung aufgefasst wurde, legt auch der Befund des Niederdeut-
schen nahe, wo heute ebenfalls die Formen auf -s gelten, vgl. Lindow / Möhn / Nie-
baum / Stellmacher / Taubken / Wirrer (1998, 182), obwohl das Adjektiv im Neutrum,
soweit es nicht endungslos ist, wegen der nicht durchgeführten zweiten Lautverschiebung
hier auf -t ausgeht (191f.), so dass die Endungen von Genitiv Singular und Nominativ
Neutrum also nie zusammengefallen waren. Kiefer (1910, 68) nimmt an, dass die Formen
auf -s aus dem Süden übernommen wurden. Roehrs (2008, 3) sieht in der Endung des Ad-
jektivs in Konstruktionen wie jemand Nettes ebenfalls keine neutrale Flexionsendung, son-
dern klassifiziert -s hier ebenso wie in Fällen wie etwas Schönes als „special -s“. Allerdings
führt Roehrs dieses special -s nicht auf das Adverb anders zurück. Ander wird bei Roehrs
immer nur als Adjektiv angesprochen, an keiner Stelle der Untersuchung wird das Adverb
anders erwähnt; bei der Konstruktion jemand / niemand + ander nennt Roehrs nur die Varian-
ten jemand anderer oder jemand anderes, nicht aber die Variante jemand anders.
150 Ursula Götz

4. Ausblick: Zur Entstehung der regionalen Varianten


jemand Fremdes / jemand Fremder
Die folgende Übersicht fasst die bisher besprochene Entwicklung noch
einmal zusammen:

I. Bis ca. 15. Jahrhundert


jemand / niemand
+
ander substantiviertes Adjektiv

im Genitiv Plural im Genitiv Plural

Adverb anders

II. Ab ca. 16. Jahrhundert


jemand / niemand
+
ander substantiviertes Adjektiv

Adverb anders unverändert (auf -s)

Übersicht 4: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand
vom Althochdeutschen bis zum 18. Jahrhundert

Das bis ins ältere Frühneuhochdeutsche gültige System, in dem nach je-
mand und niemand entweder das Adverb anders oder Genitiv Plural-Formen
von ander und substantivierten Adjektiven auftreten, wird (nach einer ge-
wissen Übergangszeit) im Laufe des 16. Jahrhunderts durch ein System
ersetzt, in dem auf jemand und niemand nur mehr das Adverb anders oder
analog dazu gebildete Adjektivformen auf -(e)s folgen. Dieses System gilt
im Großen und Ganzen bis ins 18. Jahrhundert.
Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts treten – neben den unveränderten
Formen – auch flektierte Belege auf, die als maskuline oder neutrale For-
men von ander oder den substantivierten Adjektiven einzuordnen sind.
Der Unterschied zwischen maskulinen und neutralen Formen besteht
Nominalphrasen mit jemand und niemand 151

natürlich nur im Nominativ Singular, wo neutralem niemand anderes (18)


maskulines niemand anderer (19) oder jemand Fremder (20)38 gegenübersteht.
(18) Denn der Adam, um den es sich in dem Romane handelt, ist eben kein
wirklicher Adam, sondern in jedem Sinn ein Kostüm-Adam und in Wahr-
heit niemand anderes als der Abbé Mouret selbst (Theodor Fontane,
Graf Petöfy)39
(19) Zu meinem Erstaunen erblickte ich jetzt auch mitten im Wasser eine größe-
re schwarze Gestalt, die niemand anderer als der arme Pfarrer im Kar war.
(Adalbert Stifter, Bunte Steine)40
(20) und vielleicht rührte meine Schüchternheit als Knabe zum Teile daher, daß
ich in große Verlegenheit geriet, sooft mich jemand Fremder ansprach
(Franz Grillparzer, Selbstbiographie)41
Und die maskulinen Formen finden sich tatsächlich nur im Süden.42 Diese
er-Formen können natürlich keine Fortsetzer der alten Genitiv-Plural-
Formen sein, da diese bereits im 16. Jahrhundert vollständig verschwun-
den waren. Es muss sich also um eine neuere Entwicklung handeln. Bei
grammatischen Entwicklungen, die im ausgehenden 18. und im 19. Jahr-
hundert auftreten, ist – stärker als in den vorangehenden Sprachstufen –
mit einem Einfluss der normierenden Grammatikschreibung oder auch
nur mit Standardisierungs- und Systematisierungsbestrebungen im Bereich
der Schule oder der literarischen Öffentlichkeit zu rechnen.43
Dass die einschlägigen Standardisierungsbestrebungen im Süden des
deutschen Sprachraums zu einem anderen Ergebnis führten als im Nor-
den, lässt sich möglicherweise mit der Sprechereinstellung, und hier ganz
besonders mit dem unterschiedlichen sprachlichen Selbstbewusstsein in
Nord und Süd erklären. Im sprachlich selbstbewussten Norden nahm man
die überkommenen unveränderten Formen so, wie sie waren. Im Rahmen
der stärkeren grammatischen Systematisierung werden die formal an
Neutra erinnernden Formen dann entsprechend flektiert, ohne dass die
grammatische Korrektheit dieser Formen in Zweifel gezogen worden
wäre. Der Süden war und ist dagegen mit einem sprachlichen Minderwer-
_____________
38 Die Adjektivform auf -es (jemand Fremdes) kann als neutrale oder unveränderte Form aufge-
fasst werden.
39 Bertram (2004, 27868).
40 Ebd., 157470.
41 Ebd., 62826.
42 Daneben treten im Süden auch Formen auf -es auf. Vgl. die Belegzusammenstellung bei
Ljungerud (1955, 191ff.).
43 Vgl. von Polenz (1999, 229f.) und die entsprechenden Hinweise im Abschnitt „Entwick-
lungstendenzen der Standardsprache“, 338ff.
152 Ursula Götz

tigkeitsgefühl behaftet. Hier verbindet sich das Streben nach grammatisch


richtigen Formen mit dem Bewusstsein, dass die dialektal gebräuchlichen
Formen meistens falsch sind. Insofern werden im Süden häufig maskuline
Formen des substantivierten Adjektivs verwendet. Diese kongruieren mit
dem Pronomen jemand und wirken insofern besonders korrekt,44 zudem
unterscheiden sie sich stark von den dialektalen -s-Formen, was ebenfalls
als Indiz für Standardsprachlichkeit gewertet wird.

5. Fazit
Der Nachweis für die zuletzt vorgetragene These dürfte nicht ganz leicht
zu führen sein, da ein vergleichsweise selten auftretendes Phänomen wie
die Verbindung von jemand oder niemand mit substantiviertem Adjektiv
oder ander in der einschlägigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wohl
nicht allzu häufig thematisiert worden ist.45 In jedem Fall bleibt aber fest-
zuhalten, dass es sich bei den Formen auf -er und -es (jemand Neuer / Neues
bzw. anderer / anderes) nicht um Fortsetzer der alten Genitivformen han-
deln kann, sondern dass wesentlich differenziertere sprachgeschichtliche
Entwicklungen vorliegen. Die regionalen Varianten der Standardsprache
zeichnen sich also nicht nur durch eine besondere Stellung im Varietäten-
gefüge der Gegenwartssprache aus, sie dürfen auch in sprachgeschichtli-
cher Hinsicht besonderes Interesse beanspruchen.

_____________
44 Diese Auffassung wird offenbar nicht von allen Sprachbenutzern bzw. Sprachpflegern
geteilt. Im Sprachratgeber des Dudenverlags jedenfalls wird die er-Form eindeutig abge-
lehnt: „Nicht standardsprachlich ist der Gebrauch des Maskulinums im Nominativ: Das ist
jemand Fremder.“ Vgl. Duden (2007, 491).
45 Bei einer ersten Überprüfung verschiedener Grammatiken und Wörterbücher des 18. und
19. Jahrhunderts (J. Chr. Adelung, C. F. Aichinger, H. Braun, J. Chr. Gottsched, J. S. V.
Popowitsch) fanden sich einige Aussagen, die durchaus mit dem hier untersuchten Thema
in Verbindung stehen. So lehnt J. Chr. Adelung Fügungen wie niemand Vornehmes ab und
empfiehlt dafür die Formulierung kein Vornehmer, vgl. Adelung (1971, 691). Für eine umfas-
sende Analyse der Herausbildung des Nebeneinanders jemand / niemand Fremder / Fremdes
bzw. anderer / anderes reicht das Material bisher allerdings nicht.
Nominalphrasen mit jemand und niemand 153

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_____________
46 Das Quellenverzeichnis enthält nur die Texte, aus denen Belege zitiert werden. Auf eine
Nennung der für allgemeine Häufigkeitsangaben oder zur (erfolglosen) Ermittlung weiterer
Belege geprüften Texte wird aus Raum- und sonstigen Praktikabilitätsgründen verzichtet.
154 Ursula Götz

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AWB = Althochdeutsches Wörterbuch, aufgrund der v. Elias von Steinmeyer hinter-
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156 Ursula Götz

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lin 1994ff.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch

Rosemarie Lühr (Jena)

1. Einleitung
Im Neuhochdeutschen gibt es bei den Konditionalsätzen zwei unter-
schiedliche Typen, der eine ist mit Konjunktion eingeleitet, der andere hat
das finite Verb an erster Stelle:
(1a) Wenn ich den Bus erwischt hätte, müsste ich nicht zwanzig Mi-
nuten warten.
(1b) Hätte ich den Bus erwischt, müsste ich nicht zwanzig Minuten
warten.1
Wenn man einen Sprecher des heutigen Deutsch fragt, wann er welchen
der beiden Typen verwendet, bekommt man keine klare Antwort, da kon-
ditionale V1-Sätze in vielen Fällen mit den wenn-Sätzen funktionsgleich
sind.2 Umso auffallender ist, dass es in den älteren Sprachstufen des Ger-
manischen offenbar feste Regeln dafür gibt. Ein Beispiel ist die mittel-
alterliche Rechtsprosa. Wie Hans Ulrich Schmid3 nachgewiesen hat, wird
in uneingeleiteten Konditionalsätzen ein rechtsrelevanter Sachverhalt ge-
nannt, wobei eine Handlungsfokussierung vorliegt. Dagegen werden in
den mit ob 'wenn' eingeleiteten Konditionalsätzen einschränkende oder
zusätzliche Bedingungen genannt. Voraus geht aber ein agensbezogener
verallgemeinernder Relativsatz, ein sogenanntes Irrelevanzkonditionale:

_____________
1 Gallmann (2005, 876).
2 Vgl. König / Auwera (1988); Zifonun u.a. (1997, 2113 und 2349) interpretieren daher die
konditionalen V1-Sätze analog zu den kanonischen wenn-Sätzen mit Verbendstellung als
eingebettete Sätze, die das Vorfeld ihres deklarativen V2-Bezugssatzes (Apodosis) beset-
zen.
3 Vgl. Schmid (2005, 360f.), anders Iatridou / Embick (1993).
158 Rosemarie Lühr

(2) Schwabenspiegel II 46,1


Swer sô werkit eynis anderen mannis lant unwizzende, wirt her dâ
umme beschuldegit die wîle her iz eret, sîn arbeit virlûsit her dâ
an, ob iz jene behalt
Wer eines anderen Mannes Land unwissentlich bearbeitet [allgemeiner =
konditionaler Relativsatz], wird er dessen angeklagt [uneingeleiteter Kondi-
tionalsatz], während er es pflügt, so verliert er den Ertrag daran, sofern je-
ner es beansprucht [mit ob eingeleiteter Konditionalsatz im Sinne einer Zu-
satzbedingung].

Dass hier eine germanische juristische Fachsprachensyntax vorliegt, wurde


auch in Lühr (2007) gezeigt: Die altfriesischen Rechtstexte haben ebenfalls
derartige Abfolgen. Zur Interpretation habe ich aber die Informations-
struktur herangezogen, also die Gliederung nach Topik und Kommentar
sowie Fokus und Hintergrund.
• Mit Konjunktion eingeleitete Bedingungssätze haben in den mit Ir-
relevanzkonditionalia beginnenden Textabschnitten eine besondere
textstrukturelle Funktion: Sie lenken auf das Topik zurück oder
führen ein neues Diskurstopik ein, wozu dann in der Apodosis
neue Information hinzukommt. Geht ein Konditionalsatz mit
Verbspitzenstellung einem solchen mit Konjunktion eingeleiteten
Bedingungssatz voraus, so ist dieser enger an den vorausgehenden
Text angeschlossen.4
(3) Die gemeinfriesischen Siebzehn Küren 14
Thit is thiv fiuwertinde liodkest: sa hwersa en ungeroch kind ut of
londe lat werth thruch sellonge tha thruch hirigongar, werth sin
god ieftha sin erue urset tha urseld, jef thet kind to londe kumth
and to sina liodon, mi hit thenne bikanna brother and swester
and to nomande wet sine nesta friond and sinne feder and sine
moder, mi hit sines eina erues enigene ekker bikanna, sa hach
thet kind […]
Dies ist die vierzehnte Volksküre: Wann auch immer ein unmündiges Kind
aus dem Lande weggeführt wird durch Verkauf oder durch Heergang, wird
sein Gut oder sein Grundbesitz (darauf) verpfändet oder verkauft, so soll,
wenn das Kind (später wieder) ins Land zu seinen Leuten kommt und es
dann Bruder und Schwester wiedererkennen kann und seine nächsten

_____________
4 Nach Szadrowsky (1961, 117) ist jedoch die dritte Bedingung der zweiten deutlich unterge-
ordnet.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 159

Verwandten und seinen Vater und seine Mutter zu nennen weiß und es ir-
gendeinen Acker seiner Grundstücke erkennen kann, das Kind [...]5

Somit ergibt sich für das Altfriesische folgendes Schema:


1. Universales Irrelevanzkonditionale zur Einführung eines indefiniten
Diskursreferenten oder zur Rahmensetzung in einem allgemeinen
Rechtsfall.
2. Mit Verb eingeleiteter Konditionalsatz mit anaphorischer Referenz
zur Bezeichnung einer Präzisierung des allgemeinen Falls.
3. Mit Konjunktion eingeleiteter Konditionalsatz mit anaphorischer
Referenz oder einem neuen Diskursreferenten zur Rücklenkung
oder Neuetablierung des Topiks.6
Zu überprüfen ist nun, ob derartige Regeln auch außerhalb der germani-
schen juristischen Fachsprache gelten. Dies scheint zumindest im Alt-
hochdeutschen nicht der Fall zu sein. So findet sich bei Dieter Wunder
(1965, 165) zu den Konditionalsätzen bei Otfrid: „[...] im oba-Gefüge geht
man vom Hauptsatz aus und gibt für diesen eine hypothetische Bedingung
an; im konjunktionslosen Gefüge wird die Bedingung gesetzt und aus ihr
ergibt sich der Sachverhalt des Hauptsatzes [...]“. Wunder nennt solche
Bedingungssätze demgemäß setzende Bedingungssätze. Nach Richard Schrodt
(2004, 156) bleibt jedoch „der funktionelle Unterschied zu vorangestellten
oba-Sätzen [...] kaum nachvollziehbar, so dass eine eigene inhaltliche Kate-
gorie nicht ausreichend begründet ist.“ Aber auch Schrodts These, bei
vorangestellten konjunktionslosen Konditionalsätzen erscheine die Bedin-
gung als eine vorausgesetzte Annahme, der Inhalt des anschließenden
Hauptsatzes als Folge, hilft nicht viel weiter, da diese Beschreibung auch
für konjunktionshaltige Konditionalsätze zutrifft.7 Versuchen wir daher in
Anschluss an Schmids Beschreibung und die oben erwähnten Regeln, die
Informationsstruktur zur Erklärung für den Wechsel der beiden Typen
von Konditionalsätzen heranzuziehen. Bleibt man dabei wegen seiner
weitgehenden Unabhängigkeit vom Latein bei Otfrids Evangelienbuch, so
ist die These, dass konjunktionshaltige und konjunktionslose Konditional-
sätze bei Otfrid eine irgendwie geartete voneinander verschiedene text-
strukturelle Funktion haben. Um dieser Funktion näher zu kommen, ist
_____________
5 Buma / Ebel (1963, 38ff.).
6 Szadrowsky (1961, 119) drückt dies folgendermaßen aus: „Man muss ganze Satzungen
lesen, um zu prüfen, was die ungebrochene Wucht des Hauptsatzes bedeutet. Atem
schöpft der Gesetzsprecher zu markigem Einsatz der Hauptsache.“
7 Nach Reis / Wöllstein (2007) ist hier zwischen semantisch independent (Ursache / Conditio)
und semantisch dependent (Wirkung / Consequens) zu unterscheiden.
160 Rosemarie Lühr

die Textgestaltung des Evangelienbuchs zu berücksichtigen. Ein Struktu-


rierungsmittel ist hier auf jeden Fall der Unterschied zwischen direkter
Rede einerseits und Erzählung und Kommentar andererseits.8
Wir betrachten zuerst die direkte Rede und da den Redebeginn. Denn
der Redebeginn markiert jeweils einen Neuansatz. Der Sprecher möchte,
dass sich der Hörer auf ihn einstellt. Da hierbei perspicuitas 'Durch-
sichtigkeit' besonders wichtig ist, könnte der Sprecher auch zu Beginn von
Reden syntaktische Strukturen in ihrer Grundfunktion verwenden, einfach
um sicher zu gehen, dass der Hörer ihn versteht. Wir beschränken uns auf
die vorausstehenden Konditionalsätze, weil diese insgesamt weitaus häufi-
ger als die nachgestellten Konditionalsätze sind.

2. Konjunktionshaltige Konditionalsätze
2.1. Zu Beginn der direkten Rede

Da fällt nun auf: Die vorangestellten, eine direkte Rede einleitenden Kon-
ditionalsätze sind bei Otfrid mit der Konjunktion ob oder oba 'wenn' einge-
leitet:9
(4) II 4, 53ff.
Er ínan in thie wénti sazta in óbanenti,
thar ríaf er ímo filu frúa thrato rúmana zúa:
„Oba thu sís“, quad, „gótes sun, laz thih nídar hérasun
in lúfte filu scóno, so scal sún frono.
Er setzte ihn auf die Zinne auf die Spitze, da rief er ihm bald zu: „Wenn
du“, sagte er, „Gottes Sohn bist, lass dich hier nieder in die Luft recht
schön, wie es dem heiligen Sohn geziemt.“
In diesem wie in den folgenden Beispielen liegt eine kontextuell deutlich
erschließbare Kontrastivität vor. Der Satan distanziert sich von dem, was
_____________
8 Vgl. dazu Lühr (2005, 177ff.).
9 Einmal findet sich am Kapitelanfang oba. Auch hier erscheint ein impliziter Kontrast:
Ich widme dieses Buch, nachdem ich es vollendet habe, den St. Gallener Mönchen Hartmut und Werinbert.
Dennoch ist es möglich, dass ich einige Textstellen falsch gedeutet habe.
Hartmuat 1ff.:
Oba íh thero búacho gúati hiar iawiht missikérti,
gikrúmpti thero rédino thero quít ther evangélio:
Thuruh Krístes kruzi bimíde ih hiar thaz wízi,
thuruh sína gibúrt;
Wenn ich (aber) etwas aus den heiligen Büchern falsch erklärt habe, habe ich den Sinn, den
das Evangelium aussagt, verdreht, so möge ich durch Christi Kreuz, durch seine Heilsge-
burt hier der Züchtigung entgehen.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 161

Jesus gesagt hat: Wenn du tatsächlich, d.h. anders als ich annehme, Gottes Sohn
bist. Ähnlich auch in der Anrede des einen Räubers am Kreuz:
(5) IV 31,1ff.
Thero scáchoro (ih sagen thir) éin, want er hángeta untar zuéin,
deta ímo, so man wízzi, thia selbun ítwizzi.
„Oba thu Kríst“, quad er, „bíst, hílf thir, nu thir thúrft ist;
joh dúa thar thina gúati, hilf úns ouh hiar in nóti!“
Der eine von den Räubern (ich sage dir), denn er hing zwischen zweien,
trieb mit ihm, wie man weiß, eben jenes Gespött. „Wenn du der Geweihte
bist, hilf dir, wenn du es nötig hast; ja zeige deine Göttlichkeit, hilf auch
uns hier in der Not.“
Wenn du wirklich, d.h. wenn du aber, anders als ich annehme, der Geweih-
te bist.
In der Tat enthält der redeeinleitende wenn-Satz gegebenenfalls ein Wort
wie aber. Vgl. mit Bezug auf Johannes:
(6) I 27,23ff.
fragetun s3+ ávur thuruh nót, so man in héime gibot:
„Oba thu Helías avur bíst, ther uns kúnftiger ist,
thaz gizéli thI uns nu sár, thaz wír iz avur ságen thar.“
Sie fragten aber voll Ungestüm, wie man ihnen zu Hause auftrug: „Wenn
du aber Elias bist, der zu uns kommen wird, das sage uns nun sofort, damit
wir es dort wiederum sagen.“
Das Subjekt ist in diesen Sätzen das Personalpronomen du, dem die Ko-
pula und ein Prädikatsnomen folgen. Das Prädikatsnomen trägt dabei
sicher einen Kontrastakzent. Es handelt sich um eine implizite Korrektur
mit einem Kontrastfokus: Wenn du aber Elias (und nicht Christus) bist (vgl.
auch (13)). Nun noch zu dem Wort aber. Für die Bedeutungsanalyse des
Wortes aber passt von den vielen Vorschlägen der von Ewald Lang10 am
ehesten für unsere Deutung der oba-Sätze. Nach Lang ist aber Indikator
einer Behauptung entgegen anders liegender Erwartung.
• Es gilt: Satz S1 aber S2: S1 wird behauptet und dann S2, und zwar
auf dem Hintergrund, dass S1 Neg-S2 erwartet lässt. Die Satzbe-
deutung SB1 zieht normalerweise SB3 nach sich, die Negation von
SB2.

_____________
10 Lang (1977, 170). Vgl. aber Brauße (1982, 11).
162 Rosemarie Lühr

(7a) Renate ist krank, aber sie arbeitet.


S1 S2
(7b) Renate ist krank, und sie arbeitet nicht.
S3
Der Auffassung Langs zufolge steht dabei S[atz]B[edeutung]3 der SB1
näher als der SB2, da SB3 eine implizite Folgerung aus SB1 ist. SB2 ist mit
SB3 unverträglich. Verbindet man nun dieses Schema mit einer impliziten
Korrektur, ergibt sich folgende semantische Struktur:
(7c) Renate ist krank; es ist aber nicht der Fall, dass sie, wie man er-
warten würde, nicht arbeitet, sondern sie arbeitet.

2.2. Innerhalb der direkten Rede

Kehren wir nun zu Otfrid zurück, so kommt auch innerhalb der direkten
Rede die Verbindung ob avur vor:
(8) IV 21,15ff.
Ther líut ther thih mír irgab, zálta in thih then rúagstab;
thie selbun záltun alle mír thesa béldi fona thír.
Ob ávur thaz so wár ist, thaz thu iro kúning nu ni bíst:
bi híu ist thaz sie thih námun, sus háftan mir irgábun?
Die Menge, die dich mir überhab, erhob gegen dich Anklage; sie nannten
mir alle diese Kühnheiten von dir. Wenn aber das so wahr ist, dass du ihr
König nun nicht bist, wie kommt es, dass sie dich gefangen nahmen, (dich)
mir so gefesselt übergaben?

Auch hier lässt sich eine implizite Korrektur annehmen: Wenn das aber wahr
(und nicht falsch) ist. Vgl. auch:
(9) III 3,23ff.
Er wolta sínes thankes wíson thar thes scálkes;
zemo súne, sih nu zálta, giládoter ni wólta.
Ob únsih avur ladot héim man ármer thehéin,
thuruh úbarmuati in wár so suíllit uns thaz múat sar;
Freiwillig nämlich wollte er dort jenen Diener besuchen, zum Sohn, wie ich
nun erzählte, da wollte er nicht eingeladen sein. Wenn uns hingegen ir-
gendein armer Mensch einlädt, schwillt uns wahrlich aus Hochmut alsbald
das Herz.

Gemeint ist: Wenn uns aber irgendein armer Mensch (und nicht ein reicher) einlädt.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 163

Wie am Redenanfang kann auch in der Rede das Wörtchen avur feh-
len. Dennoch wird ein Gegensatz ausgedrückt; vgl. die Übersetzung von
Kelle:
(10) I 19,25ff.
Thia gilóub%, ih sagen thir wár, thia láz ih themo iz lísit thar;
ni scríbI ih hiar in úrheiz thaz ih giwísso ni weiz.
Ob ih giwísso iz wésti, ih scríbi iz hiar in fésti;
thoh mag man wízan thiu jár, wío man siu zélit thar.
Den Glauben, ich sage dir es aufrichtig, den gebe ich jedermann, der dieses
liest, hier völlig frei; Ich schreibe ja nicht in Schwärmerei, was ich nicht völ-
lig sicher weiß. Doch wüsste ich es für gewiss, so machte ich es hier be-
kannt. Doch wissen mag man immerhin, wie man die Jahre dort zählt.
Vgl. wieder mit impliziter Korrektur: Wenn ich es für gewiss (und nicht für unge-
wiss) wüsste.

2.3. In Anreden an den Leser

Implizite Kontraste in konjunktionshaltigen Konditionalsätzen findet man


des Weiteren in Anreden an den Leser:
(11) III, 20, 135ff.
Wir wizun álle thaz gimáh thaz got zi Móysese sprah,
joh ougt er ímo follon then sinan múatwillon.
Wanana thérer avur íst, thes wíht uns sar io kúnd nist;
ni wízun wir in wára sínes selbes fúara.“
Oba thu scówost thaz múat, thánne nist thaz wórt guat,
wanta wántun harto thés thaz síe mo batin úbiles.
Wir kennen alle die Tatsache, dass Gott zu Moses sprach, und er hat ihm
ganz und gar seinen Willen offenbart. Von wann aber dieser ist, das ist uns
völlig unbekannt; wir kennen in Wahrheit seinen Verlauf nicht. Wenn du
(aber) auf ihren Willen schaust, so war der Ausspruch nicht gut, sie glaub-
ten nämlich, dass sie den Blindgeborenen verfluchten, wenn sie ihm zurie-
fen.

Wenn du aber ihren Willen (und nicht nur ihre Worte) betrachtest.
164 Rosemarie Lühr

Umfangreicher ist die Paraphrase für (12):


(12) Hartmuot 103ff.
Thó sie thaz gifrúmitun, thie júngoron firjágotun:
so war sunna líoht leitit so wúrtun sie zispréitit.
Óba thu es bigínnis, in búachon thu iz fíndis,
thaz wír nu niazen thráto thero drúhtines drúto.
Nachdem sie (die Juden) dieses ausgeführt hatten, vertrieben sie die Jünger:
soweit die Sonne ihr Licht verbreitet, wurden sie zerstreut. Wenn du dich
(aber) darum bemühst, findet du es in der Bibel, was wir uns nun eifrig zu
Nutzen machen sollen in Bezug auf die Freunde Gottes.

Wenn du dich aber darum bemühst und die Sache nicht aufgibst, weil sie zu
aufwendig ist.

2.4. In Kommentaren

Den gleichen implizite Kontraste betreffenden Sprachgebrauch findet man


in Kommentaren:
(13) II 4, 69
Ním nu gouma hárto thes sátanases wórto,
wialicha únredina er zi ímo sprah hiar óbana.
Ob er spráchi ubar ál, so man zi gótes sune skál,
spráchi thanne in thésa wis, thaz wári so gizámlih:
„Oba thu sis gótes sun, far thanne héimortsun
hina ubar hímil% alle; so irkénnit man thih thánne.“
Richte nun deine Aufmerksamkeit auf des Satans Worte, welche Unge-
reimtheit er zu ihm hier oben sprach. Wenn er (aber) überall gesprochen
hätte, wie man zu Gottes Sohn (sprechen) soll, hätte er dann folgenderma-
ßen gesprochen, das wäre geziemend gewesen: „Wenn du Gottes Sohn
bist, dann begib dich nach Hause, hin über den Himmel; so erkennt man
dich dann.“ (Zum zweiten oba-Satz vgl. (4), (5), (6).)

Wenn er aber überall gesprochen hätte, wie man zu Gottes Sohn (sprechen)
soll und nicht so, wie er es in Wirklichkeit getan hat.
Es lässt sich somit festhalten: Mit Konjunktion eingeleitete, vorausstehende
Konditionalsätze haben bei Otfrid eine klare Funktion: Zu Beginn von Re-
den, also an einer Stelle, wo man Deutlichkeit in besonderem Maße erwartet,
aber auch in Anreden an den Leser und in Kommentaren, also alles Textpar-
tien, die klar an einen Hörer oder Leser appellieren, drücken mit oba eingelei-
tete Konditionalsätze aus, dass der Sprecher eine Bedingung formuliert, die
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 165

zu anderen als den erwarteten Folgehandlungen oder zu einer Revision von


bisherigen Annahmen führt. Diese Umkehrung kommt dadurch zustande,
dass diese Konditionalsätze Kontrastfoki enthalten, die implizite Korrektu-
ren auslösen.

3. Gegenbeispiele
Nachdem dieser Befund eindeutig zu sein scheint, müssen auch vermeint-
liche Gegenbeispiele betrachtet werden. Dabei möchte ich ausdrücklich
nicht von Reimzwang sprechen; denn ein so sprachgewaltiger Autor wie
Otfrid hätte sicher die Reime so gebildet, dass sie den Sprachregeln ent-
sprechen. Nun findet sich in der Redeeinleitung folgender Satz mit Verb-
erststellung, der von Behaghel11 als Konditionalsatz aufgefasst wird. Da
aber redeeinleitende Konjunktionalsätze bei Otfrid eine Konjunktion
haben12, muss (14) eine andere syntaktische Struktur haben: Es handelt
sich um keinen Konditionalsatz, sondern um eine Frage:
(14) I 27, 13ff.
Sie thaz árunti giríatun joh iro fért3 iltun.
tho spráchun sie bi hérton sus thésen worton:
„Bistu Kríst guato? ság+ uns iz gimúato,
tház wir hiar ni duéllen, thaz árunti ni mérren.“

_____________
11 Behaghel (1928, 636).
12 Eine weitere Ausnahme gibt es. Marthas Worte in einer Anrede an den Herrn, in der nach
einem Vokativ ein Konditionalsatz mit Verberststellung folgt, werden einige Verse später
mit der umgekehrten Reihenfolge ‚Konditionalsatz mit Verberststellung – Vokativ‘ wieder-
holt:
(a) III 24, 11ff.:
Mártha sih tho kúmta, so si zi Kríste giilta,
sérlichero wórto; sia rúartaz filu hárto.
„Drúhtin“, quad si, „quamist thu ér, wir ni thúltin thiz sér;
ginádaz thin ni hángti thaz tód uns sus io giángti;
Martha klagte da, als sie zu Christus eilte, mit Worten voller Schmerz; sie war sehr bewegt.
„Herr“, sprach sie, „wärest du früher gekommen, wir würden nicht diesen Schmerz er-
leiden“.
(b) III 24,50:
(irbéit si thes er kúmo); joh sprah zi drúhtine thó:
„Wárist thu híar, druhtin Kríst, ni thúltin wír nu thesa quíst;
ther brúader min nu lébeti, joh ih thiz léid ni habeti!“
Kaum konnte sie es erwarten; und sie sprach da zu dem Herrn: „Wärst du hier gewesen,
Herr, wir duldeten nicht diese Qual; mein Bruder würde noch leben; und ich hätte dieses
Leid nicht!“.
(b) ist hier aber offensichtlich (a) nachgebildet.
166 Rosemarie Lühr

Sie beratschlagten diese Botschaft und beschleunigten ihre Fahrt. Da spra-


chen sie wechselweise mit diesen Worten so: „Bist du der heilige Christ?
Sage es uns aus dem Grunde deines Herzens, damit wir hier nicht verwei-
len, die Nachricht nicht verzögern.“

Anders liegt der Fall in (15). In der direkten Rede wird einmal ein redeein-
leitender konjunktionshaltiger Konditionalsatz durch einen konjunktions-
losen Konditionalsatz fortgeführt:
(15) IV 19, 17ff.
Mit wángon tho bifílten bigán er ántwurten,
mánota sie thes náhtes thes wízzodes réhtes:
„Ob íh hiar úbilo gispráh, zéli thu thaz úngimáh;
spráh ih avur alawár, ziu fíllist thu mih thanne sár?“
Nachdem er auf die Wangen geschlagen worden war, begann er zu antwor-
ten, er erinnerte sie an das rechte Gebot. „Wenn ich hier unrichtig sprach,
so nenne du das, was sich nicht gehört; sprach ich aber wahr, warum
schlägst du mich dann gleich?“

Wie in den vorher besprochenen Beispielen kommt auch in (15) klar ein
Kontrast zum Ausdruck, diesmal aber ein explizit ausgedrückter: unrichtig
und wahr bilden Kontrastfoki, wie auch das Wörtchen aber bezeichnet.
Nur noch einmal erscheint bei Otfrid in einem konjunktionslosen Kondi-
tionalsatz das Wörtchen aber:
(16) III 18, 45f.
Íh irkennu inan ío; spríchu ih avur álleswio,
bin ih thanne in lúginon, gilicher íuen redinon;
Ich aber kenne ihn jeder Zeit, und spräche ich es aber anders aus, bin ich
dann ein Lügner, ganz ähnlich euerm Lügenwort.

Vergleicht man nun diese beiden Textstellen, so erscheint jedes Mal das
Wort sprechen, bezogen auf eine vorausgehende Sprachhandlung. In (15)
wird sogar im konjunktionslosen Nebensatz das Verb sprechen vom kon-
junktionshaltigen ersten Nebensatzteil übernommen, d.h. gegebenes Ma-
terial wird wieder aufgenommen, wodurch die beiden Teilsätze eng ver-
bunden sind. Daher kann man folgende Regel für die konjunktionslosen
Konditionalsätze in (15) und (16) formulieren: Bei besonders engem An-
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 167

schluss an den vorausgehenden Text können auch konjunktionslose Kon-


ditionalsätze einen Kontrast ausdrücken.13

4. Konjunktionslose Konditionalsätze
Dass aber der enge Anschluss an den vorausgehenden Text tatsächlich ein
Merkmal der konjunktionslosen Konditionalsätze ist, soll nun gezeigt
werden. Konjunktionslose Konditionalsätze bezeichnen bei Otfrid oft-
mals einen Einzelfall,14 dem die Bezeichnung eines allgemeinen geltenden
Sachverhalts vorausgeht. Einige wenige Beispiele genügen:
(17) L 23ff.
Riat gót imo ofto in nótin, in suaren árabeitin;
gigiang er in zála wergin thár: druhtin hálf imo sár
In nótlichen wérkon, thes scal er góte thankon;
Gott stand ihm oft in Gefahr und in schwerer Mühsal bei; kam er irgendwo
in Not, der Herr half ihm sofort bei schwierigen Werken: dafür soll er Gott
danken.

_____________
13 Ein enger Anschluss des zweiten Teils eines Konditionalsatzes begegnet auch in folgendem
Beispiel. Der Sinn ist hier aber konzessiv. Hinzu kommt die Topikalisierung einer NP (mit
suórgon):
III 18, 37
Er gáb in thes mit thúlti suazaz ántwurti,
ríhta sies in war mín, thoh wíht sies ni firnámin:
„Óba ih mih mit rúachon biginnu éino gúallichon,
mit suórgon dúan ouh thanne tház, thaz ist niwíht allaz.“
Geduldig gab er ihnen darauf die Antwort voller Süßigkeit; er klärte sie hierüber auf, ob-
wohl sie es nicht verstanden. „Wenn ich es versuchen wollte, mich allein zu verherrlichen,
mit Sorgfalt täte ich auch das, das ist alles nichts.“
14 Eine andere Funktion ist die des konjunktionslosen Temporalsatzes:
I 1, 21ff.:
joh mézent sie thie fúazi,
thie léngi joh thie kúrti, theiz gilústlichaz wúrti.
Éigun sie iz bithénkit, thaz síllaba in ni wénkit,
sies álleswio ni rúachent, ni so thie fúazi suachent;
Was sie schaffen, ist erfüllt von süßem Wohllaut; sie messen die Versfüße, nach Länge und
Kürze, damit es Wohlgefallen errege. Haben sie geprüft, ob nicht eine Silbe gegen die
Ordnung verstößt, dann gilt ihr Hauptaugenmerk der Füllung der Versfüße. (Vollmann-
Profe 1976, 81).
168 Rosemarie Lühr

(18) I 5, 53ff.
Nist in érdriche thár er imB ío instríche,
noh wínkil untar hímile thár er sih ginérie.
Flíuhit er in then sé, thar gidúat er 3mo wé,
gidúat er imo frémidi thaz hoha hímilrichi.
Auf der Erde gibt es keinen Ort, wohin er [der Satan] vor ihm entfliehen
und unter dem Himmel keinen Winkel, wo er sich in Sicherheit bringen
könnte. Und stürzt er sich flüchtend ins Meer, so erreicht ihn seine Strafe
selbst dort, und das hohe Himmelreich verschließt er vor ihm.15

Vor Gott kann der Satan nicht fliehen. Flüchtet er ins Meer, wird er auch
dort bestraft.
Ähnlich in (19):
(19) I 15, 41ff.
Óffan duat er tháre thaz wir nu hélen híare;
ist iz úbil odowar: unforhólan ist iz thár.
Offenkundig macht er da, was wir hier nun verhehlen.
Ist es etwa böse, ist es da nicht verborgen.

Die Menschen können Gott nichts verbergen. Ist es etwas Böses, wird es auch
offenkundig.
In allen diesen Fällen kann man die Bezeichnung des Einzelfalls mit z.B.
anschließen:
(20) V 1, 27ff.
Mit thíu ist thar bizéinit, theiz ímo ist al giméinit
in érdu joh in hímile inti in ábgrunte ouh hiar nídare.
Bi thiu níst in themo bóume thaz mánnilih gilóube,
thes fríuntilih giwís si, thaz thar úbbiges si.
Leg iz nídarhaldaz – iz zeigot ímo iz allaz,
fíar hálbun umbiríng állan thesan wóroltring;
Damit ist dort gemeint, dass es alles ihm gegeben ist auf Erden und im
Himmel und selbst im Abgrund unten dort. Darum ist nichts an diesem
Baum, das glaube jeder, davon sei jeder überzeugt, was da bedeutungslos
ist. Leg du es [das Kreuz] [z.B.] wagrecht hin, so weist es ihm alles zu, was
nach vier Seiten ringsherum ist, diesen ganzen Weltenkreis.

Auch in Gleichnissen – das sind Textpartien, die auf besondere Beispiele


Bezug nehmen – werden konjunktionslose Konditionalsätze verwendet. Z.B.
_____________
15 Ebd., 193.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 169

betrachtet Otfrid die steinernen Gefäße, die bei der Hochzeit von Kana
verwendet werden, als gleichnishaft für die leeren Herzen der Diener Gottes,
die wie die Krüge durch Wasser erst durch die Heilige Schrift und geistlichen
Wein gefüllt werden:
(21) II 9, 21ff.
Séhsu sint thero fázzo, tház thu es weses wízo,
thaz wórolt ist gidéilit, in séhsu giméinit.
Irsúachist thu thiu wúntar inti ellu wóroltaltar,
erzélist thu ouh thia gúati, waz íagilicher dáti:
Tharana maht thu irthénken, mit brúnnen thih gidrénken,
gifréwen ouh thie thíne mit géistlichemo wíne.
Sechs sind der Krüge, damit du es genau wissest, die Welt ist geteilt, in
sechs Elemente festgesetzt. Durchsuchst du [z.B.] die Wunder und alle
Weltalter, gehst du auch das Edle durch, was hier jeder getan hat, so sollst
du daran denken, dich mit Wasser zu erfrischen, zu erfreuen auch die dei-
nen mit geistlichem Wein.

Ebenso wie die Krüge mit Wein gefüllt sind, sollen sich also die Menschen
mit göttlichem Wein erfrischen; und die Bezeichnung eines konkreten
Einzelfalls wird hier wieder durch konjunktionslose Konditionalsätze
eingeleitet.
Sucht man nun auch diesen Gebrauch informationsstrukturell zu be-
schreiben, so bieten sich hier die Diskursrelationen von Asher / Lascari-
des (2003)16 an: Es handelt sich um die Relation Elaboration.
• Elaboration (α, β) liegt dann vor, wenn β weitere Information zu
dem in α genannten Ereignis bereitstellt. Dabei herrscht zwischen
den zwei Ereignissen eine temporale Inklusion, und Diskursmarker
sind Wörter wie zum Beispiel.
Genau diese Diskursmerkmale sind in den Belegen (18) bis (21) gegeben.
Hinzu kommt aber noch Folgendes: Die Diskursrelation Elaboration ist
eine unterordnende Relation;17 d.h. dadurch findet eine enge Verknüpfung
mit dem vorausgehenden Satz statt. Überlegt man sich, ob in solchen
Fällen eher ein konjunktionshaltiger oder ein konjunktionsloser Konditio-
nalsatz mit Verberststellung diese Verknüpfung signalisiert, so ist es sicher

_____________
16 Vgl. auch Reese u.a. (2007).
17 Jedenfalls haben die altgermanischen konditionalen V1-Sätze keinen narrativen Charakter.
In diesem Punkt stimmen sie mit den neuhochdeutschen überein (vgl. Reis / Wöllstein
2007).
170 Rosemarie Lühr

der konjunktionslose Konditionalsatz. Wie in vielen anderen Sprachen


auch steht hier Verberststellung für engen Anschluss an den Vordersatz. 18

5. Fazit
Für die untersuchten konjunktionshaltigen und konjunktionslosen Kondi-
tionalsätze hat sich folgende Verteilung ergeben: Von diesen beiden Arten
erscheinen zu Redebeginn, also wenn der Sprecher neu ansetzt und sich
klar ausdrücken sollte, in der Regel konjunktionshaltige Konditionalsätze.
Sie bezeichnen implizite Korrekturen mit Kontrastfoki und weisen be-
stimmte Erwartungen hinsichtlich Folgehandlungen oder mögliche An-
nahmen zurück. Auch innerhalb von direkten Reden, in Anreden an den
Leser und in Kommentaren, Textpartien mit einer besonderen Appell-
funktion, konnte diese Informationsstruktur bei den konjunktionalhaltigen
Konditionalsätzen aufgezeigt werden. Dagegen dienen uneingeleitete
Konditionalsätze der Bezeichnung von Einzelfällen und führen einen
allgemeinen Fall weiter aus; sie sind mit z.B. anschließbar, und es herrscht
die subordinierende Diskursrelation Elaboration. 19 Wie lässt sich nun aber
dieser Befund mit dem der mittelhochdeutschen und altfriesischen
Rechtssprache vereinen? Die Nennung eines rechtsrelevanten Sachver-
halts weist auf den Einzelfall und zeigt durch die Verberststellung im
Konditionalsatz wie bei Otfrid einen engeren Anschluss an das Vorherge-
hende. Dagegen passt die Einschränkungsfunktion der mit ob 'wenn' ein-
geleiteten Konditionalsätze in den Rechtstexten zum Ausdruck von impli-
ziten Kontrasten in den konjunktionshaltigen Konditionalsätzen bei
Otfrid. Denn durch solche Konditionalsätze kommen zusätzliche Bedin-
gungen ins Spiel. Es scheint also, als ob die konjunktionshaltigen und
konjunktionslosen Konditionalsätze bei Otfrid der allgemein im Germani-
schen bei diesen Sätzen geltenden Informationsstrukturierung entspre-
chen. 20

_____________
18 Vgl. etwa das Altgriechische; vgl. Bornemann / Risch (1973).
19 Vgl. Günthner (1999, 220), die in konditionalen V1-Sätzen eine mögliche Thematisierungs-
strategie sieht. Es ist zu prüfen, ob sich die konditionalen V1-Gefüge hinsichtlich Fokus-
sierung wie parataktische Gefüge verhalten. So nimmt Reis (2000, 217) hier zwei Fokus-
Hintergrund-Gliederungen an.
20 Zur Entwicklung der linksperipheren eingeleiteten Adverbialsätze zu Gliedsätzen vgl. Axel
(2002) und (2007, 227ff.).
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch 171

Quelle

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Halle 1882, Hildesheim u.a.

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Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997), Grammatik der deutschen
Sprache, Berlin, New York.
Funktionale Textbausteine
in der historischen Textlinguistik
Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur
und der syntaktischen Organisation von Texten∗

Thomas Gloning (Gießen)

Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine


Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel
und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so ver-
schieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und
dort.) (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 11)

1. Ausgangspunkt: Umrisse einer funktionalen,


historischen Texttheorie
In diesem Beitrag stelle ich Überlegungen an, wie man die funktionalen
Aspekte historischer Texte mit der Frage nach ihrer syntaktischen Gestal-
tung verbinden kann. Ein Anknüpfungspunkt dafür sind sog. funktionale
Textbausteine mit ihren mehr oder weniger typischen syntaktischen Reali-
sierungsformen. Der Rahmen für diese Überlegungen ist eine funktionale
und evolutionäre Textauffassung, die ich im Folgenden kurz skizziere.
Texte kann man einer verbreiteten Auffassung zufolge betrachten als
Werkzeuge der Kommunikation, als Mittel zur Lösung kommunikativer
Aufgaben.1 Ein Kochrezept ist in dieser Perspektive ein Werkzeug, um
eine kulinarische Zubereitungsweise zu beschreiben, ältere medizinische
Rezepte dienen dazu, die Zubereitung und Anwendungsweise eines Heil-
mittels zu charakterisieren. Pflanzenmonographien in Kräuterbüchern
werden verwendet, um medizinische und zum Teil auch botanische Eigen-
_____________
∗ Für Hinweise und Unterstützung danke ich Gerd Fritz, Anita Langenhorst, Hsin-Yi Cheng,
Kerstin Vieritz, Kristina Schneider, Bastian Schmidt und Marc Kuse sehr herzlich.
1 Vgl. Strecker (1986), (1994); Fritz (1993); IDS-Grammatik (1997). In vielen zeitgenössi-
schen Textlinguistik-Konzeptionen ist auch die Frage nach den grammatisch-syntaktischen
Mitteln integriert. Für kommunikationsbezogene und grammatische Aspekte in der histori-
schen Textlinguistik vgl. zum Beispiel Grund (2003); Ziegler (2003); Schuster (2004).
174 Thomas Gloning

schaften von Kräutern zu beschreiben, mit Zeitungsmeldungen kann man


über aktuelle Ereignisse informieren. Texte sind manchmal auch Mehr-
zweckwerkzeuge, mit denen unterschiedliche Funktionen gleichzeitig rea-
lisiert werden können. So dienen Theaterkritiken in vielen Fällen dazu,
über unterschiedliche thematische Aspekte von Aufführungen zu infor-
mieren, sie unter bestimmten Gesichtspunkten zu beurteilen und für die
Leser Handlungsorientierungen zu geben.
Wer sich heute daran macht, ein Kochrezept, eine Theaterkritik oder
eine Zeitungsmeldung zu schreiben, kann sich einerseits auf etablierte
Lösungsverfahren stützen, er oder sie kann aber auch kreative und neuar-
tige textuelle Lösungen anwenden. Die in einer Sprach- und Kommunika-
tionsgemeinschaft mehr oder weniger stark etablierten textuellen Lö-
sungsverfahren kann man als Texttypen betrachten. Texttypen sind
etablierte Lösungsmuster für wiederkehrende textuelle Aufgaben, man
kann sie ansehen als mehr oder weniger stark verfestigte Traditionen des
sprachlichen Handelns mit Texten. Es gehört zum Wesen von Traditio-
nen, dass sie nur im Handeln selbst laufend aktualisiert und dabei stabili-
siert oder verändert werden − und sei es nur geringfügig und in kleinen
Schritten.
Bei der Beschreibung von Texttypen bzw. von textuellen Mustern und
ihrer Entwicklung kann man eine Reihe von grundlegenden Parametern
der Textorganisation nutzen, durch die Texttypen charakterisiert sind.
Diese Parameter sind gleichzeitig Aspekte der Textorganisation und auch
Aspekte möglicher Veränderungen bzw. möglicher historischer Verfesti-
gungen. Die im Folgenden genannten Aspekte hängen teilweise auch un-
tereinander zusammen. Zu den grundlegenden Parametern der Textorga-
nisation gehören in erster Linie:
1. der Zweck / die Funktion von Texten eines Typs;
2. typische sprachliche Handlungen (Züge), die mit Textteilen realisiert
werden, und ihre Abfolge;
3. Themen, Teilthemen, Formen der Themenentfaltung und des The-
menmanagements;
4. Äußerungsformen (im Hinblick auf Lexik und Syntax), Formulie-
rungs- und Vertextungsstrategien;
5. Kommunikationsprinzipien (zum Beispiel Verständlichkeit, Origi-
nalität, Aktualität, Informativität);
6. Handlungsbedingungen (zum Beispiel Personenkonstellation, Wis-
sen);
7. Aufmachungsformen, zum Beispiel formale Textbausteine;
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 175

8. Aspekte der Einbettung in die weiteren Zusammenhänge ei-


ner Lebensform.
Historische Texttypen, wie sie zu einem bestimmten Zeitschnitt belegt
sind, kann man betrachten als eine jeweils spezifische Ausprägung von
Konstellationen dieser Parameter. Ein Texttyp verändert sich, wenn sich
mindestens einer der Parameter in seiner typischen Belegung dauerhaft
verändert. Will man in dieser Perspektive einen historischen Texttyp zu
einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben, kann oder muss man die typi-
sche Belegung dieser Parameter, aber auch ihre Realisierungsspielräume
und ihr Zusammenwirken beschreiben.2 Die Variation und die Spielräume
bei der Belegung der Parameter gehören mit zur Tradition. Will man Text-
typen-Dynamik, also die Entwicklung und möglicherweise die Verände-
rung eines historischen Texttyps beschreiben, muss man die Entwicklun-
gen in den gerade genannten Parametern, in ihren veränderten Spielräu-
men und ihrem veränderten Zusammenwirken beschreiben. Textmuster-
wandel kommt dadurch zustande, dass eine etablierte textuelle Praxis
durch Innovation oder kleinschrittige Variation verändert wird, die von
anderen Nutzern aufgegriffen wird und die sich schließlich weiträumig
verbreitet und etabliert. Auf dem Weg von der Innovation bis zur Etablie-
rung gibt es allerdings auch möglicherweise nur eingeschränkte Verbrei-
tungsdomänen und Grade der Verfestigung.

2. Kompositionalität kommunikativ:
Das Handlungspotenzial von Texten,
kommunikative Aufgaben
und funktionale Textbausteine
Die Beantwortung der Frage, wie Verständigung funktioniert und funk-
tionieren kann, ist eine der zentralen sprachtheoretischen Aufgaben. Eine
Teilfrage bezieht sich auf das Problem, wie komplexe sprachliche Ausdrü-
cke, zum Beispiel Sätze oder Texte, zu ihrer Bedeutung kommen und wie
Verständigung mit komplexen Ausdrücken dieser Art möglich ist. Eine
wichtige Grundannahme, das sog. Kompositionalitätsprinzip, besagt, dass die
Bedeutung komplexer Ausdrücke sich systematisch ableiten lässt aus der
_____________
2 Eigene Arbeiten liegen vor u.a. zu Kochrezepten (14.-18. Jh.), zu Urkunden, zu Pflanzen-
monographien in Kräuterbüchern (12.-18. Jh.), zur Zeitungsberichterstattung und zu
Streitschriften des 16. und 17. Jahrhunderts, zu Spielarten der Theaterkritik und zu Textty-
pen im Bereich der Medizin des 19. Jahrhunderts. Vgl. die Nachweise im Literaturver-
zeichnis.
176 Thomas Gloning

Bedeutung des Gesamtausdrucks und aus der syntaktischen Organisation


der Gesamtausdrucks. Gottlob Frege hat das Prinzip erstmals mit einiger
Klarheit formuliert und in Bezug auf einzelne Erscheinungen (Referenz-
ausdrücke, Wahrheitswertpotenziale elementarer Propositionen, Formen
der Koordination in Gedankengefügen) auch schon behandelt. Er schreibt:
Erstaunlich ist es, was die Sprache leistet, indem sie mit wenigen Silben unüber-
sehbar viele Gedanken ausdrückt, daß sie sogar für einen Gedanken, den nun
zum ersten Male ein Erdbürger gefaßt hat, eine Einkleidung findet, in der ihn ein
anderer erkennen kann, dem er ganz neu ist. Dies wäre nicht möglich, wenn wir
in dem Gedanken nicht Teile unterscheiden könnten, denen Satzteile entsprä-
chen, so daß der Aufbau des Satzes als Bild gelten könnte des Aufbaues des Ge-
dankens. Freilich sprechen wir eigentlich in einem Gleichnisse [...] Sieht man so
die Gedanken an als zusammengesetzt aus einfachen Teilen und läßt diesen wie-
der einfache Satzteile entsprechen, so wird es begreiflich, daß aus wenigen Satz-
teilen eine große Mannigfaltigkeit von Sätzen gebildet werden kann, denen wieder
eine große Mannigfaltigkeit von Gedanken entspricht. (Frege 1923, 36)
Das Kompositionalitätsprinzip gilt einerseits als ein hochrangiges sprach-
theoretisches Prinzip, das unter anderem für die Erklärung von Verständi-
gungsleistungen benötigt wird. Eine offene Frage ist derzeit, inwiefern das
Prinzip der freien Kombinatorik von Äußerungseinheiten beschränkt bzw.
ergänzt wird durch stärker festgelegte komplexe Muster, „prepatterned
speech“, Wendungen, Konstruktionen usw. (vgl. u.a. Goldberg 2003;
Günthner / Imo 2006; Feilke 2007). Das Kompositionalitätsprinzip ist
zum anderen eine wichtige Grundlage im Rahmen der formalen Semantik,
wo versucht wird, Repräsentationen des syntaktischen Aufbaus von Äuße-
rungsformen mit semantischen Repräsentationen in mehr oder weniger
strenger Form zu parallelisieren. Eine prominente Formulierung des
Kompositionalitätsprinzips verdanken wir Barbara Partee (1984, 281):
The compositionality principle, in its most general form, can be expressed as fol-
lows: The meaning of an expression is a function of the meanings of its parts and
of the way they are syntactically combined. [...] In its most general form, the prin-
ciple is nearly uncontroversial; some version of it would appear to be an essential
part of any account of how meanings are assigned to novel sentences. But the
principle can be made precise only in conjunction with an explicit theory of mea-
ning and of syntax, together with a fuller specification of what is required by the
relation ‚is a function of‘.
Man kann die zentrale Passage dieses Zitats im Deutschen versuchsweise
so wiedergeben: Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks hängt syste-
matisch ab von der Bedeutung der Teilausdrücke und der Art, wie die
Teilausdrücke syntaktisch organisiert sind. Wichtig ist in diesem Zitat auch
der Hinweis darauf, dass es bei der Durchführung des Kompo-
sitionalitätsprogramms von entscheidender Bedeutung ist, welche Bedeu-
tungskonzeption zugrunde gelegt wird, welche Art von syntaktischem
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 177

Beschreibungsrahmen gewählt wird und wie man die systematischen Zu-


sammenhänge zwischen Formaufbau und Bedeutungsaufbau genauer
bestimmt.
Wenn man eine instrumentelle Textauffassung vertritt, steht das kon-
ventionelle Handlungspotenzial von Texten im Mittelpunkt, die Möglich-
keit also, mit Texten komplexe kommunikative Handlungen zu vollziehen
und mit Teiltexten und kleineren Äußerungseinheiten auf geeignete Weise
dazu beizutragen. Eine der zentralen Fragen lautet in dieser Perspektive
dann, wie das konventionelle Handlungspotenzial von Texten zustande
kommt. Man kann eine kommunikativ gewendete Version des Komposi-
tionalitätsproblems vielleicht so formulieren:
Wie kommen kommunikative Handlungspotenziale von Texten zu-
stande? Welche Rolle spielt dabei die syntaktische Organisation und
wie wirken Syntax und andere textuelle Organisations- und Verwen-
dungsprinzipien zusammen?
Das konventionelle Handlungspotenzial eines Textes besteht darin, dass
man mit der Verwendung des betreffenden Textes bestimmte komplexe
Text-Handlungen realisieren kann und dass diese Texthandlungen durch
sprachliche Gepflogenheiten weitgehend gestützt sind.3 Zu den Text-
Handlungen gehört auch der Ausdruck von Propositionen, die Behand-
lung thematischer Aspekte und die Realisierung kommunikativer Aufga-
ben wie zum Beispiel der Ausdruck von Sprechereinstellungen, die Anga-
be von Quellen oder Gewissheitsgraden, Querverweise im Text usw. Will
man zeigen, wie komplexe Handlungspotenziale beim Aufbau von Texten
aus kleineren Texteinheiten zustande kommen, dann ist die Idee der funk-
tionalen Textbausteine ein nützliches Werkzeug bei der Erledigung dieser
Aufgabe, das auch Anknüpfungspunkte für historische Entwicklungen
bietet.

_____________
3 Mit dem Verweis auf konventionelle Aspekte sollen Fälle zunächst ausgeschlossen werden,
bei denen Texte aufgrund von bestimmten Handlungsbedingungen für weiterführende Zie-
le verwendet werden. So kann man unter bestimmten Bedingungen mit einem Kurztext
wie „Du hast verloren. Goethe ist 1832 gestorben“ jemandem mitteilen, dass er bzw. sie
1000 Euro bezahlen muss (weil er bzw. sie eine Wette verloren hat), das gehört aber nicht
zum konventionellen Handlungspotenzial, sondern gehört zum Bereich der Indirektheit,
der konversationellen Implikaturen, der weiterführenden Handlungszusammenhänge und
der dafür notwendigen Verständigungsressourcen.
178 Thomas Gloning

3. Funktionale Textbausteine
Funktionale Textbausteine stellen eine Schnittstelle dar zwischen der
pragmatisch-funktionalen Organisation und der grammatisch-lexikalischen
Realisierung von Texten. Funktionale Textbausteine sind Textteile unter-
schiedlicher Komplexität mit einer bestimmten kommunikativen Teilfunk-
tion im Rahmen einer Texthandlung. Sie werden in vielen Fällen, aber
nicht immer, auch mit mehr oder weniger stereotyp organisierten Realisie-
rungsmitteln bestritten. Ihre Rolle für die historische Textlinguistik lässt
sich in drei Abschnitten charakterisieren: 1. Funktionale Textbausteine
und ihre Rolle für die Handlungsstruktur; 2. Funktionale Textbausteine
und syntaktische Muster; 3. Funktionale Textbausteine, syntaktische Mus-
ter und Aspekte der historischen Entwicklung.

3.1. Funktionale Textbausteine und Handlungsstruktur

Ich bespreche zunächst den Zusammenhang von Handlungsstruktur und


funktionalen Textbausteinen und kommentiere zur Veranschaulichung ein
Textbeispiel des Typs Spezifizierung einer Heilanzeige. Der folgende Textaus-
schnitt ist Teil der Beschreibung des Heilpotenzials in einer Pflanzenmo-
nographie zum Wermut aus der Dioscurides-Übersetzung von 1610:
(1a) Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet ist nütz angestrichen
wider die Halßgeschwer (Anginas) vnd mit Wasser wider die
Blattern oder Geschwer Epinyctidas (Kräuterbuch 1610, 164)
Der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzeige erfüllt eine bestimmte
Funktion: Er dient dazu, über eine einzelne Heilanwendung einer Pflanze
zu informieren. In den Pflanzenmonographien von Kräuterbüchern sind
in der Regel mehrere Textteile dieser Art in einem thematischen Abschnitt
zum gesamten Heilpotenzial zusammengestellt. Der zitierte Textausschnitt
enthält zwei Angaben mit jeweils einer Heilanzeige, die mit vnd koordiniert
sind. Der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzeige ist intern komplex
strukturiert, er enthält kleinere Textbausteine, die ihrerseits eine spezifi-
sche Funktion erfüllen. Die Teilfunktionen bzw. die kommunikativen
Teilaufgaben im Rahmen dieses Textbausteins sind:
1. eine bestimmte Heilwirkung spezifizieren (ist nütz wider Y);
2. eine Zubereitungsweise beschreiben und dabei die nötigen Ingre-
dienzien nennen (Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet);
3. eine Anwendungsweise spezifizieren (angestrichen; mit Wasser).
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 179

Wenn man die funktionalen Einheiten durch Klammerung kennzeichnet


und mit den Ziffern für die drei genannten Teilaufgaben versieht, ergibt
sich folgendes Bild:
(1b) 2[ Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet ] 1a[ ist nütz ] 3[ an-
gestrichen ] 1b[wider die Halßgeschwer (Anginas)] vnd 2[ <Wer-
mut> mit Wasser ] 1[ <ist nütz> wider die Blattern oder
Geschwer Epinyctidas ]
Solche Teilfunktionen und die darauf bezogenen Textelemente sind in der
medizinischen Textgeschichte bekannt unter Stichwörtern wie Indikation,
Aufzählung der Ingredienzien, Herstellungsanweisung und Applikationsanweisung
(vgl. Goltz 1976, 15ff.). In unserem Beispiel ist erkennbar, dass die funkti-
onalen Bausteine zum einen weiter zerlegbar sind, zum anderen intern
weiter ausbaubar sind und zum dritten auch ineinander eingeschachtelt
werden können. Bei der Angabe der Heilwirkung besteht die Möglichkeit,
kleinere Teile zu identifizieren, etwa die Angabe einer Krankheit, gegen
die eine Pflanze wirkt, in anderen Fällen können auch positive Heilwir-
kungen bestimmt sein. Den Bestandteil eine Krankheit spezifizieren kann man
ausbauen, indem man zusätzlich ein Äquivalent zur Krankheitsbezeich-
nung in einer anderen Sprache angibt (die Blattern oder Geschwer Epinyctidas).
Die Möglichkeit der Einschachtelung wird im Beispiel verdeutlicht durch
die Tatsache, dass sowohl die Herstellungsanweisung als auch die Angabe
zur Anwendungsweise Bestandteile der Angabe zur Indikation sind. Nur
ein auf bestimmte Weise zubereitetes und angewendetes Heilmittel hat das
entsprechende Heilpotenzial. Ein weiteres Beispiel ist das Verfahren, die
nötigen Ingredienzien im Rahmen der Spezifizierung der Arbeitsschritte
zu nennen und nicht in einen eigenen Textblock auszulagern, ein textuel-
les Verfahren, das in medizinischen Rezepten ebenfalls häufig belegt ist.
Das Textbeispiel zeigt weiterhin, dass Textbausteine diskontinuierlich
stehen können. So wird die Spezifizierung der Heilwirkung unterbrochen
durch die Angabe zur Anwendungsweise: 1a[ ist nütz ] 3[ angestrichen ]
1b[ wider die Halßgeschwer (Anginas) ].

Das Beispiel soll zunächst verdeutlichen: Aus kleineren funktional be-


stimmbaren Textbausteinen unterschiedlicher Ausdehnung lassen sich
größere funktionale Einheiten aufbauen, die für die Handlungsstruktur
und die damit zusammenhängende thematische Struktur von Texten von
zentraler Bedeutung sind.
Die Kombinations- und Aufbaumöglichkeiten funktionaler Textbau-
steine sind vielfältig und von unterschiedlichen Graden der Offenheit
bzw. der Schematisierung geprägt. Pflanzenmonographien, Kochrezepte,
Zeitungsberichte, Streitschriften um 1600 zum Beispiel haben jeweils typi-
sche Aufbauschemata mit eher engen Variationsspielräumen. Es kann ein
180 Thomas Gloning

aufschlussreicher Aspekt der Charakterisierung von Texttypen sein, den


jeweiligen Schematisierungsgrad bzw. den Grad der Offenheit zu bestim-
men.
Die Handlungsstruktur von Texten umfasst den Aspekt der Art von
sprachlichen Handlungen und die damit verbundenen thematischen As-
pekte (vgl. Schröder 2003). So gibt es zahlreiche Textbausteine, die cha-
rakterisiert sind durch funktionale und thematische Gesichtspunkte. Ein
wesentliches Aufbauprinzip von Film- oder Theaterkritiken ist beispiels-
weise eine Kombinatorik von wenigen zentralen Handlungsformen wie
Informieren, Bewerten, Veranschaulichen einerseits und zahlreichen, vom
jeweiligen Gegenstand ableitbaren thematischen Aspekten andererseits
(vgl. Stegert 1993). Für Theaterkritiken sähe eine solche erweiterbare
Kombinationsmatrix folgendermaßen aus, sie erzeugt Textbausteine des
Typs Informieren über die Publikumsreaktion oder die Publikumsreaktion veran-
schaulichen usw.:
(...)
(...) den Autor des Stücks
informieren über den Inhalt des Stücks
bewerten das Regiekonzept
beschreiben die Zuordnung Rolle / DarstellerIn
veranschaulichen die schausp. Leistung eines Darstellers
(...) das Publikum, die Publikumsreaktionen
(...)
Darstellung 1: Kombinationsmatrix für Theaterkritiken

Die einzelnen Äußerungseinheiten für solche illokutionär-thematischen


Einheiten können auf vielfältige Weise kombiniert und auf ebenso vielfäl-
tige Weise syntaktisch realisiert werden. Im folgenden Beispiel wird eine
Einheit Informieren über den Inhalt syntaktisch als Nominalphrase realisiert
und mit einer Einheit Informieren über die Publikumsreaktion kombiniert.4
(2) <INF_INH> Die Geschichte des Veroneser Liebespaares, das
verfeindeten Häusern angehört und in diesem Umfeld aus Hass
und Intoleranz zugrunde geht</INF_INH>, <INF_PUBL-
RE> wurde vom Premierenpublikum mit viel Applaus aufge-
nommen. </INF_PUBL-RE>

_____________
4 Die Markierungen besagen folgendes: <INF_INH> = hier fängt ein Baustein mit dem
Profil Informieren über den Inhalt an, </INF_INH> = hier hört er auf, <INF_PUBL-RE> =
hier fängt ein Baustein mit dem Profil Informieren über die Publikumsreaktion an usw. Quelle:
Marburger Neue Zeitung, 16.2.2004.
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 181

Die Vielfalt in den Gestaltungsmöglichkeiten solcher Texte, die den Text-


linguisten so viel Kopfzerbrechen macht(e), ist unter anderem darauf zu-
rückzuführen, dass Textproduzenten große Spielräume in mindestens drei
Hinsichten haben: 1. bei der Auswahl solcher illokutionär-thematischer
Bausteine; 2. bei ihrer Sequenzierung und Kombinatorik sowie 3. bei ihrer
syntaktisch-lexikalischen Realisierung.
Ein Beispiel für einen sehr viel stärker standardisierten Texttyp ist die
Pflanzenmonographie in den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts: Das
illokutionäre Profil der Textbausteine liegt vorwiegend beim Beschreiben,
es gibt ein in der Abfolge stark standardisiertes Schema von thematischen
Aspekten und ein sehr viel übersichtlicheres Spektrum syntaktisch-lexika-
lischer Realisierungsformen.5

3.2. Funktionale Textbausteine und syntaktische Muster

Funktionale Textbausteine müssen mit bestimmten Äußerungsformen


sprachlich realisiert werden, die eine grammatisch-syntaktische Struktur
und lexikalische Eigenschaften haben. Auch auf dieser Ebene ist zu beob-
achten, dass sich für wiederkehrende funktionale Textbausteine ein Reper-
toire von Realisierungsmustern mit jeweils eigener grammatisch-lexika-
lischer Typik herausbilden kann. Wenn man auf die syntaktische Organi-
sation von Texten in funktionaler Perspektive blickt, könnten einige
darauf bezogene Leitfragen lauten:
• Welchen Beitrag leisten einzelne syntaktische Muster zur Realisie-
rung typischer funktionaler Textbausteine?
• Gibt es prototypische syntaktische Muster für einzelne kommuni-
kative Aufgaben?
• Wie ist der Zusammenhang von funktionalen Textbausteinen und
grammatisch-lexikalischen Realisierungsmustern in historischen
Texttypen ausgeprägt, wie entwickelt er sich in der Zeit?
Ich will diese Zusammenhänge nun zunächst an einigen Beispielen aus
dem Bereich der Fach- und Gebrauchstexte veranschaulichen.

_____________
5 Vgl. Habermann (2001, Kap. 9); Gloning (2007, Abschnitt 4.1.).
182 Thomas Gloning

3.2.1. Syntaktische Muster für die Formulierung von Arbeitsschritten

Wie oben bereits erwähnt, ist der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzei-
ge grundlegend für die Funktion von älteren Kräuterbüchern als medizini-
sche Informationstexte. Dementsprechend ist dieser Textbaustein beim
gewaltigen Umfang der Kräuterbücher sehr häufig belegt. Ein ebenso
häufig belegter Bestandteil innerhalb dieses Textbausteins ist die Formulie-
rung von Arbeitsschritten als Teil der Spezifizierung einer Zubereitungs-
weise. Der Textbaustein Formulierung von Arbeitsschritten kommt auch in
anderen Texttypen mit handlungsanleitendem Charakter sehr häufig vor.
Für die syntaktische Realisierung des Textbausteins steht eine Reihe von
Mustern zur Verfügung, zum Beispiel Imperative (Nimm), Infinitivkon-
struktionen (den Hecht schuppen) oder man-Konstruktionen (man nimmt).
Daneben finden sich aber auch Konstruktionen, die in dieser Funktion
bislang kaum beachtet wurden: Partizipien. Im folgenden Beispiel einer
Heilanzeige, die nur aus einer Spezifizierung der Zubereitung und einer
Angabe der Indikation (... hilfft ...) besteht, dient eine Nominalphrase mit
nachgestelltem Partizipialattribut der Formulierung des Arbeitsschritts,
wobei die nötigen Ingredienzien ebenfalls genannt werden.
(3) [ Lattich würczel, gesoten mit starkem wein oder mit ezzig ], daz
hilfft dem, der czüpleet ist (15. Jh.; Greifswald 8° Ms 875, 68r;
ed. Baufeld 2002)
Auch im folgenden Beispiel wird im Zubereitungsbaustein der Arbeits-
schritt mit einem nachgestellten Partizipialattribut realisiert, allerdings sind
die beiden Bausteine eingebettet in eine komplexere Spezifizierung einer
Heilanzeige, die aus vier funktionalen Textbausteinen besteht: der Angabe
einer Quelle (1), der Spezifizierung der Zubereitung (2), der Spezifizierung
der Anwendung (3) und der Angabe der Indikation (4):
(4) 1[Der wirdig meister Auicenna in synem andern buoch in dem
capitel Altea spricht ] ... daz 2[ die wuortzel gesotten mit dem kru-
de ] vnde 3[ uff die harten geswer geleyt ] 4[ weichet sye ]. (Gart
der gesuntheit 1485)
Das Muster X gemacht begegnet als Formulierungsmuster für Arbeitsschrit-
te auch in älteren Kochrezepten. Die folgende Liste zeigt in schematisier-
ter Form die wichtigsten Formulierungstypen für Arbeitsschritte in älteren
Kochrezepten (vgl. detaillierter Ehlert 1990):
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 183

• schneide X
• X schneiden
• man schneidet X
• man soll / muss X schneiden
• man schneide X
• X geschnitten
• X wird geschnitten
Das folgende Rezept aus einem handschriftlichen Kochbuch vom Ende
des 18. Jahrhunderts zeigt, dass die unterschiedlichen (im Textbeispiel
kursivierten) Formulierungstypen für Arbeitsschritte auch in unmittelbarer
textueller Nachbarschaft vorkommen konnten:
(5) Eingemachte Lung Bradl und anderes.
Saubere diesen, und ein wenig gebükelt und etwas gesalzen, in reindl
ein stükl Butter heiß werden lassen und Dämpfen ['dämpfe ihn']
schön ob, hernach giebt man ein wenig Mairon Roßmarin, Lor-
berblätter, Zwiefel Knobloch, nach diesen ein wenig Essig und
Suppen, wanß darmit genug gekocht hat, gieb auch Gewurz, und
sauern Schmeten, wann es nicht dick genug wer, so thut man es
ein wenig einbrennen, und giebt ein wenig Citroniplatel, auch
geschnitene Citronischalen oder Caperl zuletzt darein, und lasset es
aufkochen. [...] die Soß wird durchgetrieben, [...] (hs. Kochbuch The-
resia Lindnerin, c. 1780)
Diese Aspekte habe ich in den beiden Beiträgen zu Kräuter- und Kochbü-
chern schon behandelt, ich möchte nun eine weitere exemplarische Er-
kundung machen im Fachgebiet der Geburtshilfe. Als Text wähle ich
Rößlins Rosegarten (1513) und Georg Wilhelm Steins Theoretische Anleitung
zur Geburtshülfe (1797a), dessen Gegenstand die normale Geburt ist, wäh-
rend seine Practische Anleitung zur Geburtshülfe aus demselben Jahr die Lehre
von der „Geburtshülfe, in widernatürlichen und schweren Fällen“ (1797b,
XIX) umfasst. Ich beginne mit Steins Büchern. Der erste Befund ist, dass
in beiden Werken Formulierungen von Arbeitsschritten bzw. Handlungs-
weisen eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund stehen viel-
mehr medizinische Grundlagen wie zum Beispiel anatomische Verhältnis-
se. In den Kapiteln, in denen der Textbaustein zu erwarten wäre und sich
auch in mäßiger Frequenz findet, werden aber nicht die schematisch ge-
nutzten älteren syntaktischen Muster gebraucht, sondern freier formulierte
Texte. Hier ein Beispiel aus dem Abschnitt „Von der Untersuchung oder
dem Angriffe und dessen Nutzen“ (1797a, 65):
184 Thomas Gloning

(6) §. 201. Die bisher gewöhnliche Untersuchung durch den innerli-


chen Angriff mittelst der Finger (Exploratio interna, seu uterina),
als das nöthigste und nützlichste Geschäft in der Geburtshülfe,
verrichtet man am besten mit dem Zeige- und Mittelfinger, wel-
che man von unten her gegen die Mitte der großen Lefzen an-
setzt, und damit durch den Schließmuskel der Mutterscheide
dergestalt in der Mutterscheide selbst krumm heraufgeht, daß der
Daumen über die Schoosbeine zu liegen komme, der Ring- und
Mittelfinger aber gestreckt über den Damm weg laufe, und man
solchergestalt bis zu dem Muttermunde selbst gelange.
Die eigentliche Beschreibung der Verfahrensweise ist syntaktisch realisiert
in einer komplexen Präpositionalphrase (mit dem Zeige- und Mittelfinger, wel-
che ...). Innerhalb der Beschreibung sind die Handlungsweisen mit man-
Konstruktionen realisiert (man setzt an, man geht krumm herauf). Im Unter-
schied zu den Formulierungen von Arbeitsschritten in den Kräuterbü-
chern enthält dieser Textbaustein auch Angaben zu den Resultaten bei
erfolgreicher Ausführung (daß der Daumen über die Schoosbeine zu liegen kom-
me), ein textuelles Verfahren, das zum Beispiel auch in älteren Kochbü-
chern und in modernen Gebrauchsanleitungen vorkommt, dort etwa in
Form der Erläuterung von Ergebnisbildschirmen in Computerhandbü-
chern. Der zweite Befund lautet also, dass von einer weitreichenden syn-
taktischen Standardisierung bzw. Schematisierung dieses Textbausteins in
Steins Geburtshilfe-Text nicht die Rede sein kann.6
Die beiden Befunde zur Frequenz und zum Grad der syntaktischen
Schematisierung des Textbausteins tragen mit bei zur sprachlichen Cha-
rakterisierung dieser Art von Lehrbüchern, wie sie zum Teil in mehreren
Auflagen begleitend zu Vorlesungen über längere Zeiträume verwendet
wurden. Sehr viel stärker schematisiert sind demgegenüber die Hand-
_____________
6 Ein zweites Großkapitel, das ich daraufhin geprüft habe, ist „Das neunte Capitel. Von der
Hülfe, die man Kreissenden in der natürlichen Geburt schuldig ist“ (1797a, 203ff.). Zu den
hier belegten Ausdrucksweisen gehören auch solche mit Nominalisierungen als Kern der
Konstruktion: „Es besteht aber dieser durch die zweyte und dritte Zeit (§. praec.) anwend-
bare Handgriff in [ einer peripherischen, allmäligen und sanften Erhebung des Muttermun-
des über diejenigen Theile, welche in ihm stehen ], damit diese in ihm so herunter sinken,
wie jener sich über sie hinauf begiebt“ (208; Herv. TG). Auf Seite 209 schreibt der Verfas-
ser, es sei „dieses ganze Manuel freylich bey der Geburt besser zu zeigen, als hier zu leh-
ren“ (Manuel 'Handgriff; Verfahrensweise, die mit der Hand ausgeführt wird'). Das könnte
eine Erklärung dafür sein, dass die Formulierungen von Arbeitsschritten in diesem Buch
insgesamt eine untergeordnete Rolle spielen. Eine weitere Beobachtung ist, dass durch die
sog. aphoristische Darstellungsweise zum Teil Aspekte, die zu ein und demselben Arbeits-
schritt gehören, auf unterschiedliche Abschnitte verteilt werden, z.B. §. 676, wo ein Ar-
beitsschritt formuliert wird, und §. 677, wo die zeitlichen Aspekte dieses Arbeitsschrittes
separat behandelt werden (1797a, 211); dagegen §. 680 auf S. 212, wo beide Aspekte sich
im selben Paragraphen befinden.
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 185

lungsanleitungen und die darin enthaltenen Formulierungen von Arbeits-


schritten in Eucharius Rößlins Der Swangeren Frauwen vnd hebammen Rosegar-
ten (1513), die im Abschnitt über die Vorgehensweisen bei unterschiedli-
chen Kindslagen typischerweise diesem Muster folgen: Wo / So / Ob (aber)
<Bedingung> So sol man / sol die hebamm <Formulierung von Handlungs-
schritten>:
(7) Jtem ob das kind sich mitt dem hindern erzeugte/ So soll die
hebamm mit yngelaßner hand das kind vbersich heben/ vnd mit
den fue ssen vßfue ren (E2a)
Diese ersten Beobachtungen zur syntaktischen Gestaltung des Textbau-
steins Formulierung von Arbeitsschritten bezogen sich auf dreierlei Dimensio-
nen: 1. die Frage nach den mehr oder weniger typischen syntaktischen
Realisierungsmustern für eine kommunikative Aufgabe; 2. die Frage nach
den Zusammenhängen von Texttyp, Frequenz und Realisierungsformen
des Textbausteins; 3. die Frage nach historischen Verhältnissen bzw. Ent-
wicklungen.

3.2.2. Funktionale Textbausteine und syntaktische Muster


in Theaterkritiken

Aktuelle Theaterkritiken können als Beispiel dafür dienen, wie standardi-


sierte Realisierungsformen für Textbausteine neben freieren Konkurren-
ten gebraucht werden. Ein wiederkehrender Textbaustein in Theater- und
Filmkritiken ist die Zuordnung von Darsteller/-in und Rolle, die vielfach
im Rahmen von Nominalphrasen realisiert wird. Das Bild, das sich hier
ergibt, ist weitgehende Standardisierung mit einem übersichtlichen Spekt-
rum von Haupttypen, für das folgende Beispiele stehen mögen:7
(8) Romeo (Robert Stadlober); Romeo (glänzend Robert Stadlober)
(9) Robert Stadlober (Romeo)
(10) Guido Lambrecht (in der Rolle) als verdatterter Tybalt
(11) Bruder Lorenzo, bei Jörn Ratjen ein flotter Mönch mit Wollmütze
(12) Julia, Ensembleneuzugang Jana Schulz
(13) der Diener Theodor Daneggers
Daneben findet man aber immer wieder auch weniger schematisierte,
kreativere Lösungen:
_____________
7 Nachweise in Gloning (2008) zu den Spielarten der Theaterkritik.
186 Thomas Gloning

(14) Denn kein Geringerer als der süße ‚Sonnenallee-Wuschel‘, Kino-


liebling Robert Stadlober mühte sich dort oben ... als Romeo ab.
(15) Endlich – den jungen Maler Dubedat gab Moissi: der vor drei
Jahrzehnten erschaffen worden ist, um diese Rolle zu spielen.
Um dieser Mensch in diesem Werk zu sein. (Alfred Kerr, 1908)
Die Realisierung mit Nominalphrasen ist tendenziell stärker schematisiert,
die satzförmigen Realisierungen erlauben tendenziell mehr Gestaltungs-
spielraum und größere Originalität, wie insbesondere das Zitat von Alfred
Kerr zeigt, das eine ganz ungewöhnliche Formulierung darstellt und des-
halb die herausragende Bewertung der schauspielerischen Leitung unter-
stützt. Es scheint sich hier um ein Verfahren zu handeln, das auch aus der
Theorie der sprachlichen Höflichkeit bekannt ist: Erhöhter sprachlicher
Aufwand signalisiert Wertschätzung. Ein weiterer Grund, nicht Standard-
formulierungen wie (8) bis (13) zu verwenden, ist die sehr viel bessere
Möglichkeit, weitere sprachliche Aufgaben im Vorbeigehen zu realisieren.
Zwar kann man auch im Rahmen von Nominalphrasen andere Funktio-
nen anlagern, zum Beispiel die Bewertung in (8) oder die Rollencharakteri-
sierung in (10) und (11), aber satzförmige Realisierungen wie (14) erlauben
es, Aspekte der Charakterisierung auch im Prädikat unterzubringen (mühte
sich ab für den Aspekt der schauspielerischen Leistung).
In historischer Perspektive stellt sich die Frage, wie sich das Reper-
toire der sprachlichen Realisierungsformen für die Zuordnung von Rolle /
DarstellerIn herausgebildet und entwickelt hat. Eine erste Sichtung von
Theaterkritiken des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts8 ergibt zu-
nächst, dass in diesem Zeitraum ein breites Spektrum von Realisierungs-
formen zu belegen ist, zu dem auch viele der oben genannten Muster
gehören. So finden sich bei Fontane, der ein fleißiger Theaterkritiker war,
unter anderem satzförmige Muster („Herr Kahle gab den Brutus“, 1969,
395), Nominalphrasen mit Genitivattribut („Fräulein Stollbergs Tullia“,
ebd., 396), die erwähnten Klammerausdrücke wie „Fräulein Meyer (Lucre-
tia)“ (ebd.), andererseits aber auch die Zuordnung über Verfahren des
Rückbezugs: „Die Rolle des Tarquinius Superbus ist nicht bedeutend;
Herr Klein machte, was daraus zu machen war. Als sein glänzendster Mo-
ment erschien mir der, wo er ...“ (ebd., 395f.). Die Beispiele mit der kursi-
ven Hervorhebung zeigen auch, dass hier eine Vertextungsstrategie wirkt,
die an den einzelnen Schauspielern und ihrer Leistung orientiert ist. Es
gibt aber auch Formulierungsstrategien von den Rollen her: „Die Beset-
zung der Titelrolle mit Herrn Klöpfer war insofern nicht glücklich, als der
Künstler in seiner Naturanlage die romanische Wesensart des Hans nicht
_____________
8 Vgl. Fontane (1969); Rühle (1988).
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 187

herausbringen konnte; dafür spielte er ...“ (1916; Rühle 1988, 49). In die-
sem Beispiel ist die Zuordnung Rolle / DarstellerIn mit einer Nominal-
phrase realisiert (Die Besetzung der Titelrolle mit Herrn Klöpfer), die funktional
mit einer Beurteilung der Besetzungsentscheidung kombiniert ist. Insge-
samt erscheint das Repertoire um 1900 reichhaltig, nur zum Teil schemati-
siert, die Bausteine mit den Zuordnungen Rolle / DarstellerIn sind häufig
mit anderen Bausteinen kombiniert und in einem eigenen thematischen
Abschnitt konzentriert. Beim Gebrauch von syntaktischen Mustern für die
Zuordnung von Rolle / DarstellerIn ist vielfach ein Prinzip der Variation
erkennbar. Auch die Abfolge der Elemente für SchauspielerInnen / Rol-
len ist variabel. Im folgenden Beispiel sind zwei Zuordnungen jeweils mit
Nominalgruppen realisiert, deren Kern sich im ersten Fall auf den Darstel-
ler, im zweiten Fall auf die Rolle bezieht. Ich kennzeichne den Zuord-
nungsbestandteil SchauspielerIn / Rolle mit <S-R>, die Teile zum Schau-
spieler mit <S>, die Teile zur Rolle mit <R>:
(16) <S-R> <S>Der Schauspieler Gustav Rodegg</S>, <R>wel-
cher den älteren Bruder spielte</R></S-R>, zeigte sich sehr
gewachsen. [...] Ausgezeichnet. <S-R> <R>Sein jüngerer Bru-
der</R>, <S>Herr Bildt,</S> </S-R> war nicht aus dem El-
saß. Zu sehr aus Norddeutschland. Ansonsten jedoch straff und
wacker. (Rühle 1988, 51f.)
Eine kommunikative Einflussgröße, die den Zusammenhang von funktio-
nalen Textbausteinen und ihrer Realisierung mit beeinflusst, sind die
Kommunikationsprinzipien. Für die syntaktische Gestaltung gilt in unter-
schiedlichen Texttypen ein Prinzip der syntaktischen Komprimierung,
zum Beispiel in juristischen Texten oder der Zeitungsberichterstattung.
Auch in Theaterkritiken finden sich Formen der syntaktischen Verdich-
tung von funktional-thematischen Bausteinen. Der folgende Abschnitt aus
einer Theaterkritik von 1973 ist ein Beispiel dafür, wie ein Trägersatz An-
gaben zu Genre (Ballettkomödie), Titel (‚Der Bürger als Edelmann‘), Regisseur
(von Barrault) und Regiekonzept (entfesseltes Spektakel) beinhaltet, eingelagert
− als Apposition zur einleitenden Nominalphrase − ist eine komprimierte
Inhaltsangabe in Form einer weiteren, komplexen Nominalphrase (die
Geschichte ... liebt):
(17) [...] Die Ballettkomödie ‚Der Bürger als Edelmann‘, <INF_
INH> die Geschichte des reichen, aber höchst bürgerlichen
Herrn Jourdain, der verzweifelt nach aristokratischen Allüren
strebt, Fechten, Singen, Tanzen und Philosophieren studiert, von
einem bankrotten Hochgeborenen schamlos ausgenützt und
schließlich durch einen gewaltigen Mummenschanz alla turca da-
zu gebracht wird, seine Tochter dem Jüngling zu verheiraten, den
188 Thomas Gloning

sie liebt, </INF_INH> war von Barrault zum entfesselten Spek-


takel aufbereitet worden. [...] ( Pizzini 1973)
In ähnlicher Weise bietet die folgende kurze Passage komprimierte und
integrierte Angaben zur Zuordnung von Darsteller und Rolle, zur Publi-
kumsreaktion (mit Jubel begrüßt), zwei positive Bewertungen (ganz und gar
köstlich; allergrößtes Pepi-Format), eine wiedergegebene Bewertung (die Sache
mit dem Jubel), eine negative Bewertung (Outrage), Angaben zur Charakte-
risierung der Rolle (von liebenswerter, kindlicher Großmannssucht) und zum
sonstigen Profil des Darstellers (die sonst seine Sache nicht sind), die auf ganz
unterschiedliche syntaktische Elemente verteilt sind:
(18a) Selbst Josef Meinrad, mit Jubel begrüßt, ein ganz und gar köstli-
cher Jourdain von liebenswerter, kindlicher Großmannssucht,
der im ersten Teil zu allergrößtem Pepi-Format vorstieß, mußte
sich in diesem Türkenbild zu Outragen zwingen lassen, die sonst
durchaus seine Sache nicht sind. (ebd.)
Um den Komprimierungsaspekt herauszustellen, kann man die Passage
versuchsweise umformulieren und jeder der hier integriert realisierten
kommunikativen Aufgaben einen eigenen Satz und einen damit vollzoge-
nen eigenen, selbstständigen Sprechakt widmen:
(18b)Joseph Meinrad spielte die Rolle des Jourdain. Er wurde mit Ju-
bel begrüßt. Er spielte den Jourdain köstlich. Wenn Sie mich
nach dem Ausmaß der Köstlichkeit fragen, kann ich sagen: ganz
und gar. Er spielte einen Jourdain von liebenswerter, kindlicher
Großmannssucht. Im ersten Teil stieß er zu allergrößtem Pepi-
Format vor. Dazu gab es einen Gegensatz. Im Türkenbild mußte
er sich zu Outragen zwingen lassen. Joseph Meinrad spielt nor-
malerweise nicht Rollen, die outragiert (übertreiben, überzogen)
angelegt sind.
So schreibt natürlich kein Mensch, und wir alle sehen die Vorteile der
tatsächlich praktizierten Schreibweise. Gleichwohl muss man sagen, dass
die Geschichte der syntaktischen Komprimierung als einer janusköpfigen
Schreibstrategie − das eine Augenpaar richtet sich auf die Syntax, das
andere auf die Texttypen und die damit verbundenen kommunikativen
Aufgaben − erst in Ansätzen geschrieben ist und noch nicht wirklich auf
der Tagesordnung der historischen Syntax, der historischen Textlinguistik
und der darauf bezogenen Integrationsdisziplinen steht. Seit wann gibt es
syntaktische Formen der Komprimierung? Für welche kommunikativen
Aufgaben und Zwecke? In welchen Texttypen? Mit welchen Realisie-
rungsstrategien? Wie entwickeln sie sich historisch? Und: Wie spielen
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 189

funktionale Textbausteine, die darauf bezogenen syntaktischen Muster


und die dafür verwendeten lexikalischen Realisierungsmittel zusammen?

3.3. Funktionale Textbausteine, syntaktische Muster und Aspekte


der historischen Entwicklung

Die Frage nach funktionalen Textbausteinen, nach syntaktischen Mustern,


nach ihren textuellen Zusammenhängen und nach Aspekten der histori-
schen Entwicklung hat einerseits stärker empirisch orientierte und ande-
rerseits stärker prinzipienorientierte Ausrichtungen. Einige dieser Frage-
stellungen will ich hier wenigstens aufzählungsweise nennen:
• Wie wurden einzelne funktionale Textbausteine in bestimmten
Sprachstadien und in bestimmten Texttypen realisiert?9
• Wie und unter welchen Bedingungen haben sich einzelne funktio-
nale Textbausteine im Lauf der Zeit entwickelt?
• Wie haben sich die einzelnen syntaktischen Realisierungsweisen
und das gesamte Spektrum der Realisierungen für einen funktiona-
len Textbaustein entwickelt?
• Inwiefern kann man die Realisierungscharakteristik für funktionale
Textbausteine nutzen, um historischer Texttypen und ihrer Ent-
wicklung zu charakterisieren?
• Inwiefern tragen die Befunde zu einzelnen Texttypen und Textbau-
steinen auch dazu bei, unser Wissen über das Funktionspotenzial
einzelner grammatischer Konstruktionen zu bereichern (zum Bei-
spiel Partizipien zur Formulierung von Arbeitsschritten; selbststän-
dig verwendete Nominalgruppen als Ereignisangaben in Tagebü-
chern)?10
• Welche Faktoren und evolutionären Muster lassen sich für die
Entwicklung funktionaler Textbausteine, ihrer syntaktischen Muster
und ihres Zusammenhangs beschreiben? Wie lassen sich Entwick-
lungen erklären?

_____________
9 Vgl. z.B. zu Formen der Quellenkennzeichnung: Fritz (1991), (1993); Schröder (1995);
Haß-Zumkehr (1998). Zu Querverweisen: Gloning (2003, Kap. 4.).
10 Zur funktionalen Syntax von Tagebüchern vgl. Admoni (1988).
190 Thomas Gloning

• Wie lässt sich der gesamte Fragenkomplex des Zusammenhangs


von textueller und syntaktisch-lexikalischer Organisation in eine
evolutionäre Theorie der Sprachentwicklung11 integrieren?
Die Bearbeitung dieser teils stärker empirisch, teils stärker theoretisch
ausgerichteten Fragestellungen gehört mehrheitlich noch zu den Zu-
kunftsaufgaben im Schnittbereich von historischer Textlinguistik und
funktionaler historischer Syntax.

4. Zusammenfassung und Ausblick


Das Konzept der funktionalen Textbausteine ist ein nützliches Werkzeug
bei der Beschreibung der Handlungsstruktur (einschließlich der Themen-
struktur) von historischen Texten und bei der Beschreibung des Zusam-
menspiels von Handlungsstruktur und syntaktischer Organisation von
Textbausteinen, auch in ihrer historischen Entwicklung.
Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht zu zeigen und anhand von
Beispielen zu verdeutlichen, dass die Untersuchung der historischen Aus-
prägung und Entwicklung funktionaler Textbausteine, die Analyse der
dafür verwendeten syntaktischen Muster und die Bestimmung ihres Bei-
trags zur Charakteristik historischer Texttypen und ihrer Entwicklung
lohnende Unternehmungen an der Schnittstelle von historischer Textlin-
guistik und historischer Syntax sind, die auch Ausstrahlungen zur histori-
schen Lexikologie aufweisen.
Die textuell-syntaktischen Fragen im Schnittbereich von Grammatik
und Textpragmatik sind darüber hinaus auch ein lohnendes Feld für eine
evolutionäre Texttheorie, für die Frage nach der Rolle von „Konstruktio-
nen“ und für die Frage nach der Mechanik und den Bedingungsfaktoren
des Sprachwandels.

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_____________
11 Vgl. hierzu u.a. Keller (1990), (1995); Heringer (1998).
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik 191

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Wie eine historische Grammatik
der temporalen Relationen aussehen könnte ...

Maxi Krause (CRISCO) ∗

1. Vorbemerkung
Der Vergleich der alt-, mittel- und auch noch frühneuhochdeutschen
Sprachdenkmäler mit dem heutigen Deutsch ist prinzipiell problematisch, da
er dialektale Zeugnisse mit einer ziemlich stark normierten Standardform
konfrontiert. Methodisch sauberer wäre es, die Entwicklung von den alten
Sprachstadien zu den entsprechenden Dialektvarianten der heutigen Zeit
aufzuzeichnen und diese dann der Norm der Standardsprache gegenüber-
zustellen. Dies ist an dieser Stelle leider nicht möglich. Da das Thema sehr
komplex ist, lassen sich Zusammenhänge hier nicht in Einzelheiten kom-
mentieren; die zeitweise tabellarische Darstellung dürfte aber genügen, das
zentrale Anliegen anhand dreier Fallstudien deutlich zu machen.

2. Einleitung
Was sind eigentlich temporale Relationen? Oder besser: Was wird im Fol-
genden als temporale Relation angesehen?
Ich verstehe darunter das Einordnen von Prozessen in einen zeitli-
chen Rahmen, ihre Datierung, sei sie nun vage oder genau, absolut oder
relativ (2008, damals, vorhin, am Sonntag, in drei Stunden …). Dies kann ver-
bunden sein mit dem Ausdruck von Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit – es
handelt sich dabei prinzipiell um ein Verhältnis des Aufeinanderfolgens,
das eben unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden
kann (erst wird zugehört, dann wird diskutiert / vor dem Essen bitte Hände wa-
schen.) – sowie von Gleichzeitigkeit (er studiert und nebenher fährt er Ta-
xi / beim Frühstück Zeitung lesen). Zum dritten verstehe ich darunter die
_____________
∗ Universität Caen Basse-Normandie.
196 Maxi Krause

Angabe der Dauer (Er hat den ganzen Winter über / zwei Jahre lang nichts ge-
schrieben). Ein Grenzfall einer temporalen Relation wäre die Präzisierung
dessen, was zum wievielten Mal stattfindet oder stattgefunden hat, d.h.
Reihenfolge und Frequenz (sie war zum ersten Mal in Graz, er schon mehrmals).
Temporale Relationen können auf vielfältige Art und Weise zum Aus-
druck gebracht werden, sei es durch ein einziges, sei es durch mehrere,
kooperierende Mittel: Durch Verbformen (er hatte gegessen und legte sich ins
Bett.); durch temporale Nebensätze, die entweder durch ausschließlich
temporale Subjunktionen eingeleitet werden (solange es regnet, bleiben wir hier)
oder durch Subjunktionen, die nur unter bestimmten Bedingungen tem-
poralen Wert haben (wenn er da war, war sie glücklich / während sie arbeitet, geht
er einkaufen.); durch Präpositionen, Postpositionen und Circumpositionen
in Verbindung mit bestimmten Kasus, wobei es auch hier ausschließlich
temporale Adpositionen gibt (seit 2005) neben solchen, die nur unter be-
stimmten Bedingungen temporal sind, was sehr viel häufiger ist (nach / vor
dem Mittagessen); durch eindeutig und ausschließlich temporale Adverbien
(gestern, heute, damals, seither) sowie Adverbien und Adverbkombinationen,
die nur in bestimmten Kontexten temporal sind (danach, hinterher, darüber
hinaus); durch Nominalgruppen im Genitiv und Akkusativ (letztes Jahr, jeden
Dienstag / eines schönen Tages); und schließlich durch verbale und nominale
Lexeme (folgen, Folge / Anfang, Ende).
Lässt man Tempora, Nebensätze sowie flektierende Lexeme einmal
beiseite, bleiben invariable Elemente übrig (Adpositionen, Adverbien), die
hier vorerst im Vordergrund stehen sollen, auf die sich eine historische
Grammatik der Relationen aber nicht beschränken sollte. Prinzipiell gibt
es drei Möglichkeiten, sich der Geschichte dieser Relationsträger zu nä-
hern: (1) Einmal die isoliert morpho-phonetische Beschreibung, d.h. die
Etymologie einzelner Signifikanten. Sie lässt Syntax und Semantik – not-
gedrungen – weitgehend beiseite. So steht beispielsweise unbestreitbar
fest, dass nhd. seit auf mhd. sît und ahd. sîd zurückgeht. (2) Zum zweiten
eine die Syntax und Semantik berücksichtigende Beschreibung ohne Be-
zug auf irgendeine Systematik. Eine solche Herangehensweise vernachläs-
sigt Distributionsregeln. Falls entsprechende Kapitel in Grammatiken
überhaupt existieren, ist Verzicht auf Systematik fast der Regelfall.1 (3)
Und schließlich eine Beschreibung, in der die unterschiedlichen sprachli-
chen Mittel eingeordnet werden in eine Systematik der Relationen; dies ist
eine Vorgehensweise, die es gestattet, Fälle von Kooperation und Kom-
plementarität aufzudecken und Gebrauchsbedingungen (Distributionsre-

_____________
1 Ich beschränke mich hier auf die Standardgrammatiken der von W. Braune begründeten
Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte; eine Ausnahme bildet die Althochdeutsche
Grammatik II. Syntax von R. Schrodt.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 197

geln) auf die Spur zu kommen. Bei einem solchen Ansatz wird schnell
deutlich, dass die oben genannten Kriterien (Vor- / Nach- / Gleichzeitig-
keit; Dauer, Reihenfolge und Frequenz) der Ergänzung und Verfeinerung
bedürfen. Die drei Möglichkeiten seien anhand der folgenden Beispiele
kurz illustriert.
Das Beispiel sīt – sîd – seit: Die Etymologie ist unbestritten. Allerdings
erfährt man2 damit nichts über die Art der Verwendung von seit / sît und
sîd. Weder etwas darüber, dass mittelhochdeutsches sît auch als Adverb
auftreten konnte, z.B. im Nibelungenlied (NL)
(1) sît wart sie mit êren eins vil küenen recken wîp (NL I,18)
[Später wurde sie in allen Ehren eines sehr kühnen Recken Weib]
(2) mit dem jungen künege swert genâmen sie sît. (NL II,28)
[mit dem jungen König erhielten sie später / danach das Schwert.]
noch etwas darüber, dass althochdeutsches und mittelhochdeutsches sîd /
sît nur selten durch neuhochdeutsches seit wiedergegeben werden kann.
(3) Pilatus giang zen liutin sid tho thesen datin | wolt er in gistillen thes
armalichen willen. (Otfrid IV 23,11)
[Danach ging Pilatus wieder zu den Leuten...]
(4) Sid tho thesen thingon fuar Krist zen heimingon, (Otfrid II 14,1)
[Danach begab sich Christus wieder heimwärts...]
Das Beispiel nach: Nach geht rein morphologisch auf mhd. nâch und ahd.
nâh zurück, aber temporales nhd. nach hat als semantischen Vorgänger
zwar mhd. nâch, ahd. jedoch after und sīt (vgl. zu letzterem supra die Bei-
spiele (3) und (4)):
(5) After worton managen joh leron filu hebigen | [...] so giang er in den
oliberg (Otfrid III 17,1)
[Nach vielen Worten / Reden und vielen Belehrungen […] ging er zum
Ölberg]
(6) er hete sich nâch dem slage | hin vür geneiget unde ergeben (Iwein
1108)
[Er hatte sich nach dem Schlag vorgeneigt / verbeugt und ergeben]
Aus dem bisher Angedeuteten ergibt sich die zweite Möglichkeit, sich der
Geschichte der temporalen Relationsträger zu nähern, nämlich über ihre
Semantik und ihr syntaktisches Verhalten. Relativ einfach ist dies, wenn
ein Signifikant ersetzt wird durch einen anderen (so zum Beispiel ahd. after
durch mhd. und nhd. nach). Weniger einfach ist es in Fällen wie sīt – sîd –
_____________
2 Zum Beispiel in Kluge (2002, 839).
198 Maxi Krause

seit, wo der Signifikant erhalten bleibt, sein semantischer Gehalt und unter
Umständen auch seine kategoriale Zugehörigkeit sich jedoch ändern. Und
hier klafft eine riesenhafte Lücke. Schlägt man in sprachwissenschaftlichen
Lexika nach unter dem Stichwort Bedeutungswandel, findet man zwar Bei-
spiele zu Substantiven und Verben, seltener zu Adjektiven (vgl. bei Glück
2005; Bussmann 2002), aber nicht eines zu invariablen Lexemen wie in, an
oder eben seit und nach. Und in der Tat gibt es unzählige Untersuchungen
zum Bedeutungswandel einzelner sogenannter Autosemantika, allerdings
bisher relativ sehr wenig zum Bedeutungswandel sogenannter Synseman-
tika (hierzu vor allem Publikationen in den Beiträgen zur Geschichte der deut-
schen Sprache und Literatur). Ich verwende die beiden Begriffe Auto- und
Synsemantikon hier der Einfachheit halber, im Grunde neige ich eher dazu,
diese Unterteilung als ungerechtfertigt zu betrachten.
Es bedarf also eines Instrumentariums und einer Systematik, die es
gestatten, dem Bedeutungswandel so unauffälliger Lexeme wie es Parti-
keln zu sein scheinen, auf die Spur zu kommen. Grundgedanke ist dabei,
dass ein invariabler Signifikant X im Prinzip ein einziges Signifikat hat,
d.h. eine Menge von Merkmalen, die entweder alle gleichzeitig oder aber
auch nur teilweise aktualisiert werden und zwar je nach Funktionsbereich
(Raum, Zeit, Abstraktion), nach Zugehörigkeit zu einem System oder
Subsystem von Relationen sowie nach Erscheinungsweise (als Adposition,
Adverb oder Teil von Adverbien, trennbare oder untrennbare Verbalpar-
tikel). Der zweite Grundgedanke ist, dass Relationen sich systematisieren
lassen, zum einen nach den oben genannten Funktionsbereichen, zum
andern nach bereichsspezifischen Kriterien, wie zum Beispiel ± Achsen-
bezug (Raum), lineare oder punktuelle Bezugsgröße (Zeit), noch zu entwi-
ckelnde Kriterien (Abstraktion).
Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es eine solche
Systematik nicht. 1972 erschien die Habilitationsschrift eines französi-
schen Germanisten, Philippe Marcq, mit dem Titel Prépositions spatiales en
allemand ancien, in welcher er anhand der Untersuchung des Althochdeut-
schen und Mittelhochdeutschen bis Berthold von Regensburg eine Syste-
matik der spatialen Relationen entwickelte, die er in späteren Publikatio-
nen auch aufs Neuhochdeutsche und Französische ausdehnte und um den
Bereich der temporalen Relationen erweiterte.3 1978 erscheint die erste
Arbeit Marcqs zu den temporalen Relationen im Tatian, 1988 der Band
Spatiale und temporale Relationen im heutigen Deutsch und Französisch. 1992 folgt
aus meiner Feder eine Arbeit zu den Zeitangaben bei Otfrid, 1994 zu den

_____________
3 Für die spatialen Relationen liegt eine durchgehende Behandlung bis zum Neuhochdeut-
schen vor durch die Arbeit eines Schülers von Marcq; vgl. Desportes (1984). Punktuelle
Ergänzungen zum Neuhochdeutschen finden sich in meinen eigenen Arbeiten.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 199

Zeitangaben im Gotischen, 1997 Konkurrenz und Komplementarität in einem Teilbe-


reich der temporalen Relationen sowie 2000 der Aufsatz Binnenstruktur temporaler
Nominalgruppen im Akkusativ und Genitiv. Alle genannten Arbeiten bauen
auf Marcq auf, desgleichen die Magisterarbeit von Sébastien Guillardeau
Les prépositions et cas dans la localisation temporelle chez Gottfried von Straßburg et
Hartmann von Aue (Caen, 2000). Es fehlt also bislang eine durchgehende
Untersuchung der temporalen Relationen vom Althochdeutschen bis zum
Neuhochdeutschen. Außerdem blieben in den genannten Arbeiten die
Adverbien weitgehend ausgeschlossen. Hier besteht also Forschungsbe-
darf.

3. Die Systematik von Philippe Marcq


Die Systematik der temporalen Relationen ergab sich für Marcq aus der
Systematik der spatialen Relationen. Temporale Relationen sind prinzipiell
abstrakter Natur; da sie sich jedoch leicht abgrenzen lassen von anderen
abstrakten Relationen wie beispielsweise dem Ausdruck der Finalität oder
Kausalität, ist es berechtigt, sie als einen besonderen Untersuchungsge-
genstand zu behandeln. Zudem basieren die allermeisten der von Adposi-
tionen getragenen temporalen Relationen auf spatialen Bildern.4
Hier muss nun kurz die Marcq'sche Systematik erläutert werden, etwas
gerafft und mit Beispielen aus dem heutigen Deutsch: Da Zeit, im Ver-
gleich zum Raum, eindimensional ist, kann sie mittels einer (per conven-
tionem nach rechts orientierten) Achse dargestellt werden. Prozesse (in-
klusive des Prozesses sein) werden auf dieser Achse lokalisiert und zwar im
Verhältnis zu mindestens einer, häufig auch zwei Bezugsgrößen. Die eine
Bezugsgröße, die notwendigerweise immer vorhanden ist, kann entweder
als Punkt oder als Segment auf der Zeitachse verortet werden und wird im
Folgenden als Bezugstermin bezeichnet. Ob dieser (z.B. Ferien) als Punkt
oder als Segment aufgefasst wird, hängt ausschließlich von der Intention
des Sprechers ab:
vor den Ferien nach den Ferien
(7a) ●
vor der Reise / dem Essen nach der Reise / dem Essen

in den Ferien
(7b)
auf der Reise / beim Essen
_____________
4 Vgl. dazu Krause (2008, 15ff.).
200 Maxi Krause

Dieser immer vorhandene Bezugstermin (Punkt oder Segment) kann ent-


weder ein Zeitabschnitt sein (z.B. Ferien, Weihnachten) oder ein Prozess
(z.B. Reise, Essen). Personennamen sowie Orte repräsentierende Nomina
(Toponyme und andere) können einen Zeitabschnitt vertreten:
(8) vor Hitler (= vor 1933)
Er kennt ihn von der Universität / Berlin her (= seit seinem Studi-
um / seit seiner Zeit in X)
Die zweite Bezugsgröße, die in manchen Fällen von Belang ist, ist die
Bezugsperson, welche entweder der Sprecher selbst sein kann oder eine
andere Person.
(9) Seit fünf Uhr regnet es.
Bezugstermin ist fünf Uhr; die Bezugsperson befindet sich irgendwo rechts
davon und ist im obigen Beispiel identisch mit dem Sprecher / Denker.5
Marcq unterscheidet vier Systeme:6
• Ein System I mit punktuellem Bezugstermin; in diesem System wird
der Prozess entweder links oder rechts des Bezugspunkts lokalisiert.
• Ein System II mit linearem Bezugstermin; hier wird der Prozess in-
nerhalb des Bezugssegments lokalisiert.
• Ein System der Ko-Okkurrenz (in dem bestimmte Oppositionen
aufgehoben sind); die Opposition Punkt – Segment spielt hier keine
Rolle.
• Ein kleines, nur zwei besondere Relationen beinhaltendes System
des Aufeinanderfolgens und Erwartens.
Es gibt prinzipiell vier Relationen,7 in denen sich der lokalisierte Prozess
zur Bezugsgröße befinden kann, eine statische und drei dynamische:
• die statische Relation: lokalisierter Prozess und Bezugsgröße befin-
den sich in einem statischen Verhältnis zueinander:
(10) Vor den Ferien hat er wahnsinnig viel gearbeitet. (System I)
In den Ferien ” ” ” ” ” (System II)

_____________
5 Der Terminus Sprecher wird hier im weitesten Sinne verwendet: Auch die Person, deren
Gedanken wiedergegeben werden (innerer Monolog bzw. berichtete Rede) fällt darunter (daher
die Erweiterung auf Denker), ebenso wie der Autor schriftlicher Äußerungen.
6 Teilweise wurden diese von Schrodt (2004) übernommen.
7 Zuzüglich der Relation des Aufeinanderfolgens und der Relation des Erwartens.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 201

• die direktive Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt sich auf
den Bezugstermin zu:
(11) Wir arbeiten bis 16 Uhr. (System I)
Wir arbeiten bis in die Nacht hinein. (System II)
• die perlative Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt über den
Bezugstermin hinaus (System I) bzw. füllt ihn aus (System II):
(12) Wir planen über das Jahr 2015 hinaus. (System I)
Wir arbeiten die ganze Nacht hindurch. (System II)
• die ablative Relation: der lokaliserte Prozess beginnt beim bzw. im
Bezugstermin:
(13) Wir arbeiten ab 8 Uhr. (System I)
Wir haben von Kind auf gearbeitet. (System II)
Die drei dynamischen Relationen implizieren den Begriff der Dauer; die
statische Relation impliziert Gleichzeitigkeit (was in System II und im
System der Ko-Okkurrenz deutlicher zum Ausdruck kommt als in Sys-
tem I).
Nun gibt es häufig mehrere sprachliche Mittel, die ein und dieselbe
Relation tragen können. Diese Mittel verhalten sich zueinander entweder
komplementär oder konkurrierend, teilweise auch kooperierend. Ein
schönes Beispiel für komplementäre Distribution bieten heutzutage in +
DAT. und an + DAT. im System II:
(14) Am Sonntag waren wir in Paris.
Im Winter waren wir in Paris.
Ein Beispiel für die Konkurrenz zweier Signifikanten bieten z.B. von +
Adv. + an sowie von + Adv. + ab:
(15) Von jenem Tag an rauchte er nicht mehr.
Von jenem Tag ab rauchte er nicht mehr.
Und Kooperation besteht im zweiten Satz in (16) zwischen ab und von:
(16) Ab heute rauche ich nicht mehr.
Von heute ab rauche ich nicht mehr.
Stehen für ein und dieselbe Relation mehrere Signifikanten zur Verfügung,
schränken im Allgemeinen Distributionsregeln die Auswahl ein. Überge-
ordnetes Kriterium ist die Art der Bezugsgröße: Zeitspanne oder Prozess.
202 Maxi Krause

(17) im Winter (Zeitspanne) - *in der Fahrt (Prozess)


*auf dem Winter - auf der Fahrt
den Winter über - *die Diskussion über
Weitere Differenzierung erfolgt
• durch die Eingrenzung der Mittel, welche die Bezugsgröße be-
zeichnen: bestimmte Wortarten (z.B. Substantiv oder Adverb) und
semantische Gruppen innerhalb einer Wortart sowie einzelne Wör-
ter;
• gruppenintern durch notwendige Zusätze (bzw. Weglassung) von
Determinativen, Quantoren und anderen Elementen, durch Kate-
gorien wie Numerus, zählbar – unzählbar etc.;
• gruppenextern durch Verbform (einfach oder zusammengesetzt)
und Art des Verbs (punktuell oder linear);
• durch Differenzierung der syntaktischen Mobilität (frei bzw. fi-
xiert).8
Mit anderen Worten: Das Regelgeflecht weist – ausgehend von relativ
übergeordneten Kriterien über speziellere – feinste Verästelungen auf, an
deren Endpunkten festgefügte Einheiten stehen können, wie z.B. auf der
Stelle und auf einmal; selbst für solche Einheiten kann es jedoch noch Dif-
ferenzierungen geben, wie z.B. folgende:
(18) Auf einmal wurde es dunkel.
[System II; statische Relation; + inchoativ; syntaktisch relativ
mobil: ausgeschlossen ist die Position, die für auf einmal = gleich-
zeitig reserviert ist.]
(19) Bitte nicht mehr als drei Personen auf einmal.
[System II; statische Relation; + quantitative Konnotation; syn-
taktisch fixiert auf den Platz unmittelbar hinter der Nominal-
gruppe mit – obligatorischem – Quantor.]
Festzuhalten ist, dass sich die lexikalisierten Einheiten in das allgemeine
Schema einordnen.
Zu den bisher genannten Kriterien kommt noch ein weiteres, welches
schwerer zu fassen ist, nämlich das der Stilebene und / oder Textsorte:
(20) Binnen eines Jahres hat er Englisch gelernt.
In einem Jahr hat er Englisch gelernt.

_____________
8 Vgl. zum Neuhochdeutschen Krause (1997, 225ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 203

Beide Sätze liefern dieselbe Information, aber – um es vorsichtig auszu-


drücken – binnen ist weniger umgangssprachlich als in, dem jedoch keines-
falls im Umkehrschluss das Etikett nur umgangssprachlich anzuheften ist. Des
Nachts ist eindeutig nicht umgangssprachlich, etc.
Die meisten temporalen Präpositionen und temporal gebrauchten
obliquen Kasus haben nicht von sich aus temporalen Wert (eine Ausnah-
me ist seit), sie erhalten diesen erst in der Kombination mit anderen Ele-
menten – umgekehrt werden aber auch letztere durch ihr Umfeld einge-
grenzt, präzisiert, festgelegt. Beispiel: Lesen kann temporale Bezugsgröße
sein in
(21) Über dem Lesen hab ich das ganz vergessen.
aber auch eine Fähigkeit bezeichnen:
(22) Lesen gehört zu den Grundfertigkeiten.
Die Festlegung erfolgt also immer in zwei Richtungen. Rein strukturelle –
auf welcher Ebene auch immer angesiedelte – Kriterien reichen oft nicht
aus, Eindeutigkeit herzustellen; sie sind unabdingbar, aber genauso unver-
zichtbar ist Welt- und Kontextwissen:
(23) Erster Bosnien-Hilfstransport der Reutlinger Caritas nach Dayton.
[Schwäb. Tagblatt 11.5.96]
Nach kann nur dann als temporal erkannt werden, wenn der Leser weiß,
dass Dayton ein US-amerikanischer Ortsname ist, dass an diesem Ort
politische Absprachen getroffen wurden und dass somit der Ortsname
einen Zeitpunkt repräsentiert.

4. Die Systematik nach Marcq, tabellarisch (20. Jh.)


Ausführliche Kommentare sind hier nicht möglich.9

4.1. System I : punktuelle Bezugsgröße (Bezugstermin)

Bei der statischen Relation (4.1.1.) sind zwei Konstellationen zu unter-


scheiden.

_____________
9 Vgl. dazu Marcq (1988) und Krause (1994b), (1997), (1998) sowie (2002a).
204 Maxi Krause

4.1.1. Statische Relation

hinter + DAT. vor + DAT.

Bezugsperson = Bezugstermin (Verben: nur liegen, haben,


sein)
(24) Endlich hatte ich das hinter mir. / Das liegt noch vor dir.

vor + DAT.; gegen + A nach + DAT.

Bezugstermin
[Position der Bezugsperson rechts oder links vom Bezugs-
termin]
(25) vor Weihnachten; gegen Ende des Jahres / nach Weihnachten; nach dem
Essen, nach der Reise

Sonderfall: In die Zukunft oder Vergangenheit versetzte statische Relati-


on:
vor + DAT. (+ Quantor) in + DAT. (+ Quantor)

Bezugstermin [± heute, gestern; Montag…] und Bezugsperson


befinden sich am gleichen Punkt.
(26) (heute / gestern / Montag) vor drei Tagen / in drei Tagen

4.1.2. Direktive Relation

auf + AKK. + zu / hin


auf + AKK. (selten)

Bezugstermin
(27) Es geht auf Weihnachten zu; er paukt auf die Prüfung hin.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 205

DAT. + entgegen

Bezugsperson Bezugstermin
(28) Wir gehen schweren Zeiten entgegen.

4.1.3. Perlative Relation

vorbei / vorüber [+ gehen oder sein]; um oder rum [+ sein]

Bezugstermin = Bezugsperson
(29) Es geht alles vorüber / vorbei; endlich war die Stunde (r)um.

über + AKK. hinaus

Bezugstermin [Position der Bezugsperson ist belanglos]


(30) Wir planen über das Jahr 2015 hinaus.

4.1.4. Ablative Relation

von + DAT. / ADV. + an [am häufigsten]


von + DAT. / ADV. + ab [weniger häufig]
ab + DAT. / ADV. [Relikt]

Bezugstermin [Position der Bezugsperson ist belanglos]


(31) Von da an / ab konnte er das Wort „Präposition“ nicht mehr hö-
ren. / Ab morgen gibt es nur noch Wasser.

seit + DAT. / ADV.



Bezugstermin Bezugsperson
(32) Seit Weihnachten / gestern regnete es / hat er nicht mehr angerufen.
206 Maxi Krause

seit + DAT. (+ Quantor)10




Bezugstermin Bezugsperson
([es + her + sein] + AKK. [Quantor + Subst.])
(33) Seit drei Tagen regnete es. / Es ist keinen halben Tag her, da hat er
noch gesungen…

4.1.5. Sonderfall: Lokalisierung in Bezug auf zwei punktuelle


Bezugstermine

Nur statische Relation:


zwischen + DAT.

1. Bezugstermin 2. Bezugstermin
(34) Das machen wir zwischen Weihnachten und Neujahr.

Statische Relation (sporadisch realisierter Prozess):


von + DAT. X + zu + DAT. X [identischer Dativ: ausschließlich Zeit]

1. Bezugstermin 2. Bezugstermin n-ter Bezugstermin


(35) Von Zeit zu Zeit treffen sie sich zum Kaffee.

Übergang von einem punktuellen Bezugstermin zu einem andern:


von + DAT. X + zu + DAT. X
[identischer Dativ ohne Determinativum]
[+ Ausdruck des Zunehmens oder Abnehmens]

1. Bezugstermin 2. Bezugstermin n-ter Bezugstermin


(36) Sie wurde von Tag zu Tag schöner. / Ihre Angst wuchs von Minute
zu Minute.

_____________
10 Andauernder Prozess oder iterativ + abgeschlossen.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 207

4.2. System II (lineare Bezugsgröße)11

4.2.1. Statische Relation

AKK., GEN., an + D, in + D, auf + D, während + G, unter + D, über + D,


auf einmal

(37) Letztes Jahr waren wir auf Ischia. Eines schönen Tages kam er zu-
rück. Am Montag / am Abend gehen wir ins Kino. Im Winter / auf
der Fahrt; während des Winters / der Fahrt. Unter verlegenem Räuspern
verließ er den Salon. Über dem Kochen hab’ ich das ganz vergessen.
Auf einmal waren alle weg. / Redet doch nicht alle auf einmal!

In die Zukunft versetzte statische Relation:


auf + A, für + A, in + A

(38) Die Sitzung verschieben wir auf nächsten Montag. Die Konferenz
war für Dienstagnachmittag angesetzt. Das verlegen wir in die Zeit
vor Weihnachten.

Der lokalisierte Prozess umschließt die Grenzen des Segments: um + A

(sehr kurzes Segment: präzise Angabe) (langes Segment: vage Angabe)


(39) um 20 Uhr 30 / um die Jahrhundertmitte

_____________
11 Distributionsregeln, vgl. Krause (1997, 236ff.); A = Akkusativ; D = Dativ; G = Genitiv.
208 Maxi Krause

4.2.2. Direktive Relation:12

bis + A, bis (in + A) ± hinein, bis (an + A), (bis) auf + A

(40) Bis 1989 gab es quer durch Europa den „Eisernen Vorhang“. Sie
schufteten bis in die Nacht (hinein). Ich bleibe bei euch bis ans Ende
aller Tage. Damit machte er sich unvergesslich bis auf den heutigen
Tag.

4.2.3. Perlative Relation

in + D, innerhalb + G / von, binnen + D / G, auf+ A, für + A, durch + A


[sehr selten], während + G / D, AKK (± lang), AKK + (hin)durch, AKK +
über, über + A (± hinweg)

(41) Ich weiß nicht, ob ich das in drei Tagen schaffe. Innerhalb kürzester
Zeit / von drei Tagen hatte er sich das Notwendige angeeignet. Bin-
nen weniger Sekunden war es stockdunkel geworden. Sie hat ihn
auf / für drei Wochen in die Berge geschickt. Dieses Buch hat mich
durch all die Jahre immer wieder getröstet. Während längerer
Zeit / der ganzen Fahrt herrschte Ruhe. Wir bleiben den ganzen Tag
am Strand. Er war fünf Tage (lang) verschüttet. Der Motor ist die
Nacht durch gelaufen. Ich habe die ganze Nacht über kein Auge zu-
getan. Über Ostern bleiben wir zu Hause. Über mehrere Jahre hinweg
waren junge Taschendiebe aus Südosteuropa ein Topthema der
Boulevardpresse.

_____________
12 Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 209

4.2.4. Ablative Relation13

aus + D, seit + D, von + D + auf, von + D / Adv. + her

(42) Ein Märchen aus uralten Zeiten / eine Kirche aus dem 9. Jahrhundert;
dazu wurde er von Kind / klein auf angehalten; er kennt ihn von der
Uni / vom Krieg her.

4.3. System der Ko-Okkurenz (Neutralisatoren)14

4.3.1. Statische Relation

bei + D, mit + D, zu + D.
(43) Bei Ostwind bleibt das Fenster zu; beim Frühstück liest er Zeitung;
mit der beginnenden Dämmerung zündet die Mutter die Kerzen an.
Zur Zeit nicht vorrätig.

4.3.2. Direktive Relation

bis [± andere Präp.+ DAT.]+AKK (meist nicht zu erkennen)


oder bis + ADV.
(44) Der Schnee blieb bis zum späten Vormittag liegen. / bis nächsten
Montag.
(vgl. System II)

4.3.3. Ablative Relation

Vgl. System II.

_____________
13 Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz.
14 Einzelheiten bei Krause (1998), (2002b), (2002c) und (2002d).
210 Maxi Krause

4.4. System des Aufeinanderfolgens und Erwartens

Aufeinanderfolgen: auf + A
(45) Auf Regen folgt Sonnenschein.
Erwarten: auf + A
(46) Er ist gespannt auf die neue Lehrerin.

5. Diachronie der Relationen: Drei Fallstudien


Wie bereits erwähnt, ist eine systematische diachronische Studie der tem-
poralen Relation bislang ein Desideratum. Was im Folgenden
ausschnitthaft dargestellt wird, basiert auf wenigen Texten, die allerdings –
soweit es die Adpositionen betrifft – vollständig ausgewertet wurden. Für
Substitute, Sub- und eventuell Konjunktionen ist die Auswertung noch zu
leisten. Fürs Althochdeutsche steht hier Otfrids Evangelienbuch (O), fürs
Mittelhochdeutsche stehen Gottfried von Straßburg (Go) sowie Hart-
mann von Aue (Ha). Die Befunde fürs Mittelhochdeutsche sind jene der
Abschlussarbeit von Sébastien Guillardeau; Beispiele aus dem Nibelun-
genlied wurden von mir gesammelt. Fürs Neuhochdeutsche stehen Auto-
ren des 20. Jahrhunderts sowie Zeitungsartikel (vor allem Schwäbisches Tag-
blatt und Die Zeit), teils von mir selbst zusammengetragen, teils Krause
1994, 1998, 2002a-d entnommen.

5.1. Fallstudie I: System I, statische Relation


(Position der Bezugsperson belanglos), diachron

Adpositionen:
ahd. er + D; fora + D; fora + Instr. (thiu) after + D, after + INSTR. (thiu); sid + D
mhd. vor + D; wider + (?); gegen / gein + D nâch + D
nhd. vor + D; gegen + A nach + D

Substitute (teilweise Adverbien):15


ahd. fora thiu (referiert auf Sachverhalte) after thiu (referiert auf Sachverhalte)
tharfora (? Spat. od. temp. ?) sīd

_____________
15 Vgl. dazu Krause (2003, 101ff.) und (2007, 453ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 211

mhd. dâ vor sît


nhd. davor [ziemlich selten] danach; (später); (hernach); hinterher
vorher; zuvor

(47) So was io wort wonanti er allen zitin worolti […] (O II 1,5); Was iz
ouh giwisso fora einen ostoron so, theso selbun dati, fora theru wihun
ziti. (O III 6,13.14); Sehs dagon fora thiu quam er zi Bethaniu,
[…] (O IV 2,5); After worton managen joh leron filu hebigen […] so
giang er in then oliberg (O III 17,1); Was siu after thiu mit iru sar
thri manodo thar (O I 7,23); Pilatus giang zen liutin sid tho thesen
datin (O IV 23,1); Er muases sid gab follon fiar thusonton
mannon (O III, 6,53)
(48) Vor einer vesperzîte huop sich grôz ungemach (NL 814,1); […] vor
disen sunewenden sol er und sîne man sehen hie vil manigen, der im
vil grôzer êren gân. (NL 7751,3); Bî der sumerzîte und gein des
meien tagen […] (NL 295,1); hiute ist der ahte tac nach den sunewen-
den (I 2941); Sold' er rehte wizzen, wie es nâch der stunt zer hôhge-
zîte ergienge […] (NL 781,2); ir vater der hiez Dancrât, der in diu
erbe liez sît nach sime lebene […] (NL 7,3); Kriemhilt in ir muote
sich minne gar bewac. sit lebte diu vil guote vil manegen lieben
tac (NL 18,2)
(49) vor Weihnachten; vor dem Essen; vor 2008; gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts; gegen 20 Uhr; nach Weihnachten; nach dieser Rede; nach dem Fest

5.2. Fallstudie 2: System I, statische Relation (synchron, 20. Jh.)

Die Bezugsperson befindet sich links oder rechts des Bezugstermins


Adpositionen:
vor + DAT.; gegen + A nach + DAT.

Substitute:
davor; vorher; zuvor danach; (später); (hernach)
hinterher
Subjunktionen:
bevor nachdem
212 Maxi Krause

In die Zukunft oder Vergangenheit versetzte statische Relation: Bezugs-


termin = Bezugsperson:
Adpositionen:
vor + D [+ Quantor bzw. NPlur.] in + D [ + Quantor]

Substitute:
vorhin / [gerade] / [kürzlich] nachher / [gleich] / [später]
davor darin / danach
Subjunktionen:
(kurz) bevor … wenn … (dann)
nachdem
Aus dieser Übersicht geht hervor, dass für den links der Bezugsgröße
befindlichen Teil der Zeitachse in beiden Fällen die Präposition vor zu-
ständig ist, ein Substitut davor allerdings nur dann stehen kann, wenn die
Position der Bezugsperson belanglos ist. Sie zeigt auch, dass mit da- gebil-
dete Substitute nur sehr eingeschränkt einsetzbar sind.16 Ähnliches scheint
für Subjunktionen zu gelten. Durchgestrichene Signifikanten zeigen, dass
ihre Verwendung hier ausgeschlossen ist.
(50) Das Rigorosum war gut gelaufen, obwohl er die Nacht davor fast
nicht geschlafen hat / Na, da bist du ja endlich. Wo warst du
denn vorhin? – *Wo warst du denn davor?
Nachdem er promoviert hatte, fand er erst mal keine Stel-
le. / Wenn du dann einkaufen gehst, bring mir bitte Milch mit.
Aber vorher solltest du noch schnell die Wäsche abhängen. –
*Aber vorhin solltest du noch schnell die Wäsche abhängen.

5.3. Fallstudie 3: System II (diachronisch)

In eckigen Klammern wird einerseits die Art der Bezugsgröße präzisiert


(Zeitspanne oder Prozess) oder aber – bei eingeschränkter Auswahl mög-
licher (Pro-)Nomina – die entsprechenden Lexeme. Kurzkommentare
geben Hinweise auf die Kombinatorik. DET steht für Determinativum. Mit
initialem Ausrufezeichen sind diejenigen Signifikanten gekennzeichnet, die
entweder ganz verschwunden sind oder heute nicht mehr genau in dersel-
ben Funktion oder in denselben Kombinationen auftreten. Neu hinzu-
kommende Signifikanten(-gruppen) sind durch Unterstreichung gekenn-
zeichnet. Ø bedeutet, dass es im betreffenden Korpus keinen entspre-
_____________
16 Vgl. dazu Krause (2007, 458ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 213

chenden Beleg gibt; was nicht heißt, dass dazu innerhalb der Gesamtheit
einer Sprachstufe keine sprachlichen Mittel zur Verfügung standen. Zif-
fern präzisieren die Anzahl der Belege.

5.3.1. Statische Relation

ahd. AKK. [+ sar (io) thia wîla]


!DAT. (nur 5 Belege) [Zeitspanne]
GEN. [Zeitspanne; genau messbare Einheiten]
!GEN. [Prozess: fart]
in + DAT. (am häufigsten) [Zeitspanne; „Lebensabschnitt“]
in + DAT. (Prozess / DAT. = Gerundivum + sîn; Prozess]
!in + AKK. (weit weniger häufig) [Zeitspanne; „Lebensabschnitt“]
!innan + GEN. [thes] (häufig) [→ nhd. indes]
!innan + INSTR. [thiu] (2 Belege)
mhd. AKK. [40 bei Go / Ha; Zeitspanne; rechtsdeterminiert nur morgen,
ohne Links-DET.; alle übrigen linksdeterminiert]
GEN. [65 bei Go / Ha; Zeitspanne, auch wîle; ± DET. (links)
sowie links- und rechtsdeterminiert]
an + DAT. [Zeitspanne (49, davon 30 stunt); + DET.; Prozess
(14 Belege); insg. 67 Belege; 1 Beleg mit Bezugstermin „Lebensab-
schnitt“]
in + DAT. [Zeitspanne; Prozess (relativ selten); + DET.; 97 Be-
lege; 10 Belege mit Bezugstermin „Lebensabschnitt“]
[in und an konkurrierend; im Nhd. komplementär]
binnen + DAT. [Go, 1; Prozess; + DET.]
ûf + DAT. [8 Belege; Prozess; + DET.]
under + DAT. [7 Belege; Zeitspanne (2); Prozess (5)]
!under + INSTR. [thiu, (3)]
nhd. AKK. [nur Zeitspanne; Namen der Wochentage; Woche, Monat,
Jahr, Namen der Jahreszeiten + oblig. dies-, letzt-; nächst-; kommend-;
vergangen-; bei Namen von Wochentagen fakultativ; referiert auf
Gegenwart der Bezugsperson = Sprecher); + jed- referiert nicht
auf die Gegenwart des Sprechers]
GEN. [sehr selten; Zeitspanne; Tageszeiten; Tag; + ein-: einmali-
ger Prozess; + des: kann repetitiv sein (allerdings nicht mit Tag)]
an + D [Zeitspanne: Tageszeiten (außer Nacht) + Wochentage;
Tag; Namen von Feiertagen u. allg. Festen; falls i. Plural: jede
Teilmenge fungiert isoliert als Bezugsgröße]
an + D [Prozess: subst. Infinitiv; Prädikat: sein oder bleiben]
214 Maxi Krause

in + D [Zeitspanne; alles, was nicht mit an kombinierbar; falls


Plural: Teilmengen konstituieren zusammen eine einzige Bezugs-
größe]
in + D [Prozess: subst. Infin. / Subst.; Prädikat: nicht sein oder
bleiben]
auf + D [Prozess („veranstaltet“); Subjekt ist am Prozesse der Be
zugsgröße direkt beteiligt]
während + G [Prozess; Subjekt ist am Prozesse der Bezugsgröße
nicht unbedingt beteiligt]
während + G [Zeitspanne; im Prinzip keine Einschränkungen]
unter + D [Zeitspanne; marginal; nur mit Woche, Jahr; Konnota-
tion: Bezugsgröße ist Arbeitszeit]
unter + D [Prozess; + subst. Infinitiv / anderes Subst; bes.
nomina actionis; Bezugsprozess linear; + modale Funktion; WIE?]
über + D [ Prozess; + subst. Infinitiv, selten andere Subst., bes.
nomina actionis; lokalisierter Prozess linear im Vergleich mit dem
Bezugsprozess; + kausale Funktion: WARUM?]
auf einmal [lexikalisiert; Bezugsprozess u. lokalis. Prozess sind
identisch; = gleichzeitig]

5.3.2. Direktive Relation

ahd. !unz + ... [Überschneidung mit System I; wohl der Ko-Okkurrenz


zuzuordnen]
!unz + AKK. (2) [Zeitspanne]
!unz + DAT. (1) [Zeitspanne]
!unz + anan + AKK. (2) [Zeitspanne]
!unz + in + AKK. (8)[Zeitspanne]
!unz + in + ADV. (1) [unz in nu]
!unzan + DAT. od. AKK.? (1 Beleg; „Lebensabschnitt“)
mhd. !unz an + ACC. [34; Zeitspanne]
!unz ûf + ACC. [4; Zeitspanne] } Problem: System I oder
!uns vür + ACC. [1; Zeitspanne] II (bzw. Ko-Okkurrenz)?
nhd. bis [± andere Präp.+ AKK. / DAT.]+AKK [meist nicht zu er-
kennen]
oder
bis (in + A) ± hinein,), bis (an + A), bis (auf + A)
bis + ADV.
Historische Grammatik der temporalen Relationen 215

5.3.3. Perlative Relation

ahd. AKK. (40) [Zeitspanne]


!GEN. (2) [Zeitspanne]
!GEN. (1) [Prozess] [es muss offen bleiben, ob hier eine perlative
Relation – während der ganzen Reise – oder eine statische Relation
vorliegt: auf der Reise]
in + DAT. [Zeitspanne]
!in + AKK. (nur 1 Beleg) [Zeitspanne]
ubar + AKK. (7) [Zeitspanne]
!untar + DAT. (1) [Prozess]
mhd. AKK. [102; Zeitspanne; ohne DET. nur naht unde tac; sonst fast
immer linksdeterminiert, nur 1-mal rechtsdeterminiert]17
AKK. + alsô lanc [1; den tac alsô lanc]
!GEN. [7; Zeitspanne; ohne DET. nur nahtes (2); sonst Links-
DET.]
in + DAT. [20; Zeitspanne; Ø + ADJ. (kurz, 19; unlanc, 1]
innerhalp + DAT. [Go; 4; Zeitspanne; + NUMkard.]
!innen + dis- + DAT. [Go, 2; Zeitspanne; + NUMkard.]
!inner + DAT. [Go, 1; Zeitspanne; + NUMkard.]
nhd. AKK (± lang) [Zeitspanne, + ein-, halb- oder ganz- bzw. NUM
kard.]
AKK + (hin)durch [Zeitspanne; im Prinzip ohne Zahl; + best.
Art.]
AKK + über [Zeitspanne; ohne Zahl; + best. Art. bzw. Name
von Feiertagen u. ä.]
in + D [Zeitspanne; i. Sing. + ein- + halb-; i. Plur.: Zahl ; im Prin-
zip ohne Art.]
innerhalb + G / VON [Zeitspanne; wie IN]
binnen + D / G [Zeitspanne; wie IN]
auf + A / + ADV. (immer / ewig) [Zeitspanne; Zahl mögl., nicht
notwendig]
für + A / + ADV. (immer) [Zeitspanne; Zahl möglich, nicht not-
wendig]
durch + A [sehr selten]
über + A [Zeitspanne; ohne Zahl; best. Art. eher selten; wenn
ohne Art., dann Name von Feiertagen (häufig) und Nacht]
über + A + hinweg [Zeitspanne]
_____________
17 Im Folgenden: LinksDET., RechtsDET.; NUMkard = Kardinalzahl; Art. = Artikel; best. =
bestimmt.
216 Maxi Krause

während + G / D [Zeitspanne; Zahl möglich bzw. anderer


Quantor]
während + G / D [Prozess; ohne Zahl; best. Art. + ganz-]

5.3.4. Ablative Relation

Sie ist nicht leicht zu trennen vom System der Ko-Okkurrenz, eventuell
dort anzusiedeln. Die Opposition Punkt – Segment ist neutralisiert.
ahd. fon + DAT. [„Lebensabschnitt“; Prozess]
mhd. von + DAT. [4; [„Lebensabschnitt“: von kinde / von Kanêles
jâren (3); Zeitspanne + LinksDET. (1)]
nhd. aus + D
seit + D
von + D + auf
von + D + her
von + Adv + her

6. Fazit
Der Unterschied zwischen der Herangehensweise von Marcq und seinen
Nachfolgern einerseits und andererseits den Vorgängern, die sich punktu-
ell sehr ausführlich mit Präpositionen und Kasus beschäftigten, ist folgen-
der: Bis 1972 liegen Einzeluntersuchungen zu bestimmten Signifikanten,
auch Signifikantengruppen vor, die häufig ungemein detailgenau und aus-
führlich sind und in denen auch schon anklingt, dass die genaue Bedeu-
tung und Funktion eines Elementes X des Vergleichs mit einem oder
mehreren semantisch und funktionell benachbarten Element(en) Y und /
oder Z bedarf.18 Marcq bezeichnet diese Art von Arbeiten als „atomis-
tisch“.19 Sein Ansatz ist, ohne ausdrücklich so bezeichnet zu werden, eher
ein onomasiologischer Ansatz, indem sein Hauptaugenmerk darauf gerich-
tet ist, bestimmte Raster (Systeme) herauszuarbeiten, denen dann jeweils
einzelne Bedeutungsträger zugeordnet werden können. Allerdings ergeben
sich solche Raster erst aus der genauen Untersuchung einzelner Signifi-
kanten. Auch hier erfolgt also Erkenntnis und Zuordnung immer im
Wechselspiel.
_____________
18 So zum Beispiel die Arbeiten von Krömer (1959, 323ff.) [sowie weitere Beiträge von
Krömer in anderen Nummern].
19 Marcq (1972, 2a).
Historische Grammatik der temporalen Relationen 217

Systematisierung ist unabdingbar für den Vergleich unterschiedlicher


Signifikanten (→ Distributionsregeln), unterschiedlicher Sprachen (syn-
chronisch; kontrastiv) sowie unterschiedlicher Sprachstadien (diachro-
nisch). Erst die Systematisierung gestattet präzise Aussagen zu Sprach-
wandelprozessen.
Eine historische Grammatik der temporalen Relationen sollte also
Adpositionen, Adverbien und Sub- bzw. Konjunktionen zusammenhän-
gend darstellen, nach Relationen geordnet (und gegebenenfalls mit Quer-
verweisen zu Verbalpartikeln). Wenn eine derartige Grammatik Teil einer
alles umfassenden historischen Grammatik wird – und wenn vergleichbare
Teilgrammatiken bzw. Großkapitel zu den spatialen und abstrakten Rela-
tionen erarbeitet sind –, dann lässt sich das, was bisher unter Syntax fir-
miert und sehr Unterschiedliches enthält, prinzipieller gestalten mit Aus-
sagen zur Verbstellung in Haupt- und Nebensatz, zur Herausbildung von
Klammerkonstruktionen etc. Grundsätzlich bleibt jedoch festzuhalten:
Syntax ohne Semantik hat wenig Sinn – und: Semantik ohne Syntax ist
unvollständig.

Quellen

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218 Maxi Krause

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Historische Grammatik der temporalen Relationen 219

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Schröbler, neu bearb. u. erweitert v. Heinz-Peter Prell, Tübingen.
Schrodt, Richard (2004), Althochdeutsche Grammatik II: Syntax, Tübingen.
Zur Herausbildung
der doppelten Perfektbildungen∗

Isabel Buchwald-Wargenau (Kassel)

1. Einleitung
Die doppelten Perfektbildungen, d.h. Konstruktionen des Typs ich habe
vergessen gehabt und ich bin angekommen gewesen sind in den letzten Jahren
vermehrt Gegenstand linguistischer Betrachtung geworden (z.B. Litvi-
nov / Radčenko 1998, Hennig 1999 u. 2000, Ammann 2005, Buchwald
2005, , Rödel 2007 u. Topalovic 2009). Dabei konnte gezeigt werden, dass
es sich bei den doppelten Perfektbildungen nicht um eine sprachliche
Neuerung der Gegenwartssprache, sondern um ein wenigstens 600 Jahre
altes Phänomen handelt, welches (zumindest in der Gegenwartssprache)
weder diatopische noch diastratische Markierungen aufweist und sich bei
weitem nicht nur der ‚Umgangssprache‘ zuschreiben lässt.1
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der Herausbil-
dung der doppelten Perfektbildungen. Die Herausbildungshypothesen der
bisherigen Doppelperfektforschung werden dabei zunächst vorgestellt,
woran sich der Versuch anschließt, die jeweils dargelegte Hypothese an-
hand eines historischen Korpus doppelter Perfektbildungen zu überprü-
fen. Dem Anliegen des Textes, einen Beitrag zur Erklärung der Doppel-
perfektentstehung zu leisten, geht die Überzeugung voran, dass es sich bei
doppelten Perfektbildungen um ein Phänomen handelt, dessen Entste-
hungsursachen im Kontext von Umstrukturierungs- und Reorganisations-
prozessen (Terminus nach Leiss 1992) im Verbalbereich zu suchen sind.

_____________
∗ Für Hinweise und Korrekturen danke ich Vilmos Ágel, Mathilde Hennig und Claudia
Telschow.
1 Anhand eines Zitates aus der IdS-Grammatik, das später angeführt wird, wird deutlich,
dass die doppelten Perfektbildungen in gegenwartssprachlichen Grammatiken durchaus als
diatopisch markiert ausgewiesen werden, was jedoch anhand von Korpora der doppelten
Perfektbildungen widerlegbar ist.
222 Isabel Buchwald-Wargenau

2. Herausbildungshypothesen
Sich in der bisherigen Literatur zum Doppelperfekt einen Überblick über
die vorhandenen Herausbildungshypothesen zu verschaffen, anhand derer
die Genese des Phänomens erklärt wird, stellt keine Schwierigkeit dar. Es
lassen sich zwei wesentliche Grundpositionen ausmachen, wovon in vor-
liegendem Beitrag die erste als ‚traditionelle‘, die zweite als ‚innovative‘
Hypothese bezeichnet wird. Im Folgenden (Kap. 2.1.) soll Hypothese I
vorgestellt und überprüft werden. Die Darstellung und der Überprüfungs-
versuch von Hypothese II finden im Anschluss in Kap. 2.2. statt.

2.1. ‚Traditionelle‘ Hypothese: Die Präteritumschwundhypothese


2.1.1. Erklärung der Hypothese

Die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen in direktem Zusam-


menhang mit dem Präteritumschwund und dem damit verbundenen Ver-
lust des Plusquamperfekts zu sehen, scheint in der germanistischen Lingu-
istik so etwas wie eine Tradition geworden zu sein. Bereits in den
frühesten Grammatiken (z.B. bei Ölinger 1574, 154) werden die doppelten
Perfektbildungen in diesem Sinne als Plusquamperfektäquivalent charakte-
risiert. Die der Präteritumschwundhypothese zugrunde liegende Argumen-
tation sieht folgendermaßen aus:

Präteritum- führt zum Schwund des führt zur Herausbildung der


schwund Plusquamperfekts doppelten Perfektbildungen

Abbildung 1: Herausbildung der doppelten Perfektbildungen


nach der Präteritumschwundhypothese

Die Erklärung des Phänomens Doppelperfekt mithilfe des Präteritum-


schwundes setzt sich in deutschen Grammatiken über Jahrhunderte bis
hin zu den jüngsten Grammatiken fort, was es legitimiert, die Präteritum-
schwundhypothese als ‚traditionell‘ zu bezeichnen. Exemplarisch wird im
Folgenden die IdS-Grammatik (1997, 1687) für das 20. Jahrhundert ange-
führt:
In der Übersicht nicht aufgenommen sind die sogenannten ‚superkomponierten
Formen‘ aus finitem Hilfsverb + Partizip II des Hilfsverbs + Partizip II des
Vollverbs, z.B. Gestern habe ich geschlafen gehabt. Solche Formen sind regional als Er-
satzformen des Präteritumperfekts da gebräuchlich, ‚wo die präteritale Form ganz
geschwunden ist oder zugunsten des [Präsens-]Perfekts in starkem Maße zurück-
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 223

tritt‘ (Hauser-Suida / Hoppe-Beugel 1972, 257). Dies ist laut Hauser / Hoppe in
den oberdeutschen Mundarten der Fall, aber auch in den ost- und westmittel-
deutschen.
Die dargelegte Argumentation lässt sich nicht nur in Grammatiken, son-
dern auch in der einschlägigen Literatur zum Doppelperfekt ausmachen.
Gersbach stellt in seiner Monographie zu den Vergangenheitstempora des
Oberdeutschen fest, „[d]aß dopp.Perf. ganz überwiegend als Ersatz für
Pl.perf. fungiert“ (1982, 228). Auch Trier (1965, 201) deutet das Doppel-
perfekt in dieser Art und Weise:
Wenn man erzählendes Perfekt als süddeutsche Weise zugibt, dann muß man
einsehen, daß ein solcher Erzähler im Rückblick aus dem Kreuzungspunkt seines
Erzähltempus noch ein Tempus braucht, das die Leistung übernimmt, die beim
Rückblick vom hochsprachlichen Imperfekt aus das hochsprachliche Plusquam-
perfekt zu erfüllen hat. Es bleibt ihm nichts übrig, als hinter dem Perfekt ein
zweites, gesteigertes Perfekt, ein doppeltes Perfekt, eben ein Ultraperfekt, aufzu-
bauen.
In den letzten Jahren mehren sich jedoch auch kritische Stimmen in Be-
zug auf die Präteritumschwundhypothese. So stellt bspw. Dorow
(1996, 78) fest, „daß sich die Doppelumschreibungen ganz unabhängig
vom Phänomen des oberdeutschen Präteritumschwundes betrachten las-
sen“.2
Vermutet man, dass sich die doppelten Perfektbildungen durch den
Präteritumschwund als funktionales Äquivalent zum Plusquamperfekt
herausgebildet haben, dann lässt sich folgende anfängliche Belegsituation
theoretisch konstruieren:
1. Die ersten doppelten Perfektbildungen dürften ca. in der Mitte des
15. Jahrhunderts erscheinen.
2. Es dürften sich zunächst nur Doppelperfektbelege finden.
3. Die Belege dürften zunächst nur aus dem Oberdeutschen stammen.
4. Es dürften zunächst nur haben-Belege erscheinen.
Wenn die frühesten doppelten Perfektbildungen Eigenschaften gemäß
diesen vier Bedingungen aufweisen, sind klare Anhaltspunkte für die Rich-
tigkeit der Hypothese gewonnen. Ist dies nicht der Fall, ist die Hypothese
in Frage zu stellen. Im Folgenden werden die Bedingungen näher charak-
terisiert:

_____________
2 Es wird an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit den in der Forschung jeweils
angeführten Argumenten für oder gegen die Präteritumschwundhypothese verzichtet und
stattdessen auf die einschlägige Literatur verwiesen, da deren exhaustive Darstellung nicht
Anliegen des Beitrages ist.
224 Isabel Buchwald-Wargenau

Ad 1.: Wenn zwischen Präteritumschwund und Herausbildung der


doppelten Perfektbildungen ein monokausaler Zusammenhang
anzunehmen ist, dann muss das erste Auftreten doppelter Per-
fektbildungen mit dem Beginn der Präteritumschwundphase
zusammenfallen. Das Einsetzen des Schwundes lässt sich nach
Lindgren (1957), dessen Studie nach wie vor als richtungswei-
send gelten kann, auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts da-
tieren. Doppelperfektbelege dürften dementsprechend erstmals
zu dieser Zeit erscheinen.
Ad 2.: Da die Doppelperfektherausbildung in engem Zusammenhang
gesehen wird mit dem Präteritum- und dem daraus resultieren-
den Plusquamperfektschwund, ergibt sich zwingend, dass die
als Plusquamperfektersatz dienende doppelte Perfektbildung
über keine präteritale Komponente verfügen darf. Das ist bei
Doppelperfekt, aber nicht bei Doppelplusquamperfekt der Fall,
so dass im Rahmen der vorliegenden Herausbildungstheorie le-
diglich frühe Doppelperfektbelege erklärbar sind. Frühe Dop-
pelplusquamperfektbelege wären ein klarer Beweis für die
Nichthaltbarkeit der Hypothese.
Ad 3.: Da der Präteritumschwund im Oberdeutschen aufkam, dürften
zunächst nur Belege aus dem Oberdeutschen auftreten.
Ad 4.: Im Oberdeutschen ist das Präteritum nicht von allen Verben
kategorisch ge- oder verschwunden. Die Präteritalformen von
sein und einigen Modalverben sind bis heute erhalten (vgl. Mai-
wald 2002, 91). Da das Plusquamperfekt der Verben, die das
Auxiliar sein selegieren, somit noch bildbar ist, dürften nur
Doppelperfektbelege mit dem Auxiliar haben zu erwarten sein.

2.1.2. Überprüfung der Hypothese

Der Überprüfung liegt ein selbst erstelltes historisches Korpus3 an doppel-


ten Perfektbildungen zugrunde, das 225 Belege mit haben und 326 Belege
_____________
3 Als Grundlage der Korpuserstellung diente v.a. das an der Universität Kassel im Rahmen
eines Projektes zur Erstellung einer neuhochdeutschen Grammatik unter Leitung von Vil-
mos Ágel und Mathilde Hennig aufgebaute Nähekorpus, das den Zeitraum 1650-2000 um-
fasst. Die Bezeichnung ‚Nähekorpus‘ verrät bereits die konzeptuelle Besonderheit des
Korpus: Es umfasst historische Texte, die konzeptionell gesprochensprachliche Merkmale
aufweisen. Um frühere Zeiträume berücksichtigen zu können, wurden zudem die im Inter-
net zugänglich gemachten Texte des Bonner Korpus Frühneuhochdeutsch ausgewertet
sowie Belege aus Grammatiken und Sekundärliteratur einbezogen.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 225

mit sein umfasst.4 Im Folgenden wird nun dargelegt, wie der empirische
Abgleich mit den oben formulierten Bedingungen aussieht:
Ad 1.: ‚Die ersten doppelten Perfektbildungen erscheinen ca. in der
Mitte des 15. Jahrhunderts‘: Für die haben-Belege kann diese
Bedingung bejaht werden, denn Belege, die vor dem 15. Jahr-
hundert datiert sind, wurden nicht gefunden. Es ließ sich je-
doch ein ripuarischer sein-Beleg5 aus der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts im Bonner Korpus Frühneuhochdeutsch ausma-
chen:
(1) Item in desem Sexterne sall men vynden die geschychte
ind verhandelunge, die van den ghenen, die sych noement
van den geslechten, bynnen Coelne vurtzijtz verhandelt
haint, darumb dat vplouffe ind mancherleye vngelucke
bynnen der Stat van Coelne vntstanden geweyst synt.
Item in desem Sexterne steit ouch dat Instrument sulchs
bekentnisse, as her Heynrych vam Staue in syme lesten
gedain hait. (Bonner Korpus Fnhd 151)
Die Tatsache, einen Doppelperfektbeleg aus dem 14. Jahrhun-
dert vorzufinden, muss nicht sofort die Präteritumschwund-
hypothese in Frage stellen. Vielmehr ist es möglich, dass der
Präteritumschwund im gesprochenen Frühneuhochdeutsch be-
reits früher einsetzte, als die in der Lindgren’schen Analyse
verwendeten (ausschließlich medial geschriebensprachlichen)
Textsorten vermuten lassen. Diese Vermutung äußert auch Jörg
(1976). Dass hier jedoch ein solch alter Beleg aus einem Dia-
lektraum vorliegt, der nicht vom Präteritumschwund erfasst
war, lässt erste ernsthafte Zweifel an der Hypothese aufkom-
men.
Ad 2.: ‚Es finden sich zunächst nur Doppelperfektbelege‘: Im analy-
sierten Korpus überwiegen die Doppelperfektbelege und die
afiniten Belege, bei denen die Tempusbestimmung des Auxi-
_____________
4 Hierbei ist anzumerken, dass nicht alle sein-Belege doppelte Perfektbildungen darstellen.
Aufgrund einer zunächst rein formalen Belegsuche sind neben doppelten Perfektbildungen
auch solche sein-Prädikationen erfasst worden, die Passiv- bzw. Kopulakonstruktionen dar-
stellen.
5 Bei vorliegender sein-Prädikation handelt es sich eindeutig um ein Doppelperfekt. Da mit
dem Verb entstehen ein intransitives Verb vorliegt, ist eine Interpretation als Passivkonstruk-
tion nicht möglich. Auch die Interpretation von entstanden als adjektivisch (womit die vor-
liegende sein-Prädikation als Kopulakonstruktion interpretierbar wäre) ist selbst im Ge-
genwartsdeutschen unwahrscheinlich, da das Partizip weder durch Gradpartikeln wie sehr
oder so ergänzbar noch durch un- präfigierbar ist.
226 Isabel Buchwald-Wargenau

liars nicht präzise rekonstruierbar ist. Es findet sich jedoch auch


folgender Doppelplusquamperfektbeleg aus dem 15. Jahrhun-
dert:
(2) Det konig Tybor und die sin wurden sere erfert vnd
stalten sich zu der werde das beste sie mochten, want der
konig selbe ein gut ritter alle sin tage gewesen waß, vnd
werte sich so lange, sonder daß er sich nit gefangen wolt
geben, mit daß er erslagen wart inn siner eygen statt, als ir
wol verstanden hant, wie yme die von den hyden
angewonnen waß worden, das ein grosser schande waß,
nachdem als er alle sin zyt wol herkommen waz vnd nach
grossen eren gelebt hatte gehabt. Da nun leyder die
konigynne gesach, daß ir herre erslagen, statt vnd die burg
verloren waß, da mocht sie nit betrupter noch truriger
gesin. (Pontus und Sidonia 48)
Der Beleg stammt aus einer anonymen Übersetzung aus dem
Französischen, was Zweifel an dessen Beweiskraft hervorruft.
Da es im Französischen analoge Konstruktionen zu den dop-
pelten Perfektbildungen gibt (die sog. temps surcomposés),
werfen auch Litvinov / Radčenko (1998, 92) die Frage auf, ob
„der Übersetzer nach dem Prinzip der wortgetreuen Wiederga-
be verfuhr und das Original an diesen Stellen kopierte“. Sie
wenden daraufhin jedoch ein, dass „irgendwie [...] die Möglich-
keit der DPF [Doppelperfektformen] im Deutschen also bereits
im 15. Jahrhundert vorgegeben gewesen sein [muß]“ (Litvinov
/ Radčenko 1998, 93), um solche in einem deutschen Text zu
verwenden. Es ist somit festzuhalten, dass ein sehr früher
Doppelplusquamperfektbeleg existiert, dessen Überzeugungs-
kraft jedoch durch die Tatsache, dass es sich um eine mögli-
cherweise wortwörtliche Übersetzung aus dem Französischen
handelt, geschmälert wird.
Ad 3.: ‚Die Belege stammen zunächst nur aus dem Oberdeutschen‘:
Für diese Bedingung konnten klare Gegenbelege im Korpus ge-
funden werden. Für doppelte Perfektbildungen mit sein liegt,
wie bereits dargelegt, ein ripuarischer Beleg aus dem 14. Jahr-
hundert vor. Der früheste mitteldeutsche haben-Beleg stammt
aus dem 16. Jahrhundert. Im Folgenden wird ein Beleg aus ei-
nem ostmitteldeutschen Text des 17. Jahrhunderts angeführt:6
_____________
6 Die Einordnung des Textes als ostmitteldeutsch basiert auf der Identifizierung von ein-
schlägigen Dialektmerkmalen.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 227

(3) Von solchen Spargement war nun die gantze Stadt voll!
Ich hatte mich auch gäntzlichen resolviret, sie zu hey-
rathen und hätte sie auch genommen, wenn sie nicht ihr
Herr Vater ohne mein und ihrer Wissen und Willen einen
andern Nobel versprochen gehabt. Was geschahe? Da-
migen bath mich einsmahls, daß ich mit ihr muste an ei-
nen Sonntage durch die Stadt spazieren gehen, damit mich
doch die Leute nur sähen [...]. (Reuter 17)
Sowohl die Tatsache, dass eine doppelte Perfektbildung in ei-
nem nicht-oberdeutschen Text vorkommt als auch der Text-
ausschnitt an sich, der neben dem afiniten Doppelperfektbeleg
Präteritum und Plusquamperfekt als weitere Tempora aufweist,
stellen klare Indizien gegen die Präteritumschwundhypothese
dar.
Ad 4.: ‚Es finden sich zunächst nur haben-Belege‘: Auch diese Bedin-
gung ist klar zu verneinen. Es wurde bereits dargestellt, dass der
erste vorliegende Beleg überhaupt ein sein-Beleg aus dem 14.
Jahrhundert. ist. Die Existenz doppelter Perfektbildungen mit
sein trotz nach wie vor realisierbarem Plusquamperfekt stellt ein
weiteres Indiz dafür dar, dass der Präteritumschwund allein
keine hinreichende Begründung für die Herausbildung doppel-
ter Perfektbildungen darstellen kann.
Als Ergebnis der Überprüfung lässt sich daher festhalten, dass die vorlie-
gende Hypothese durch 2. in Frage gestellt, durch 1., 3. und 4.) sogar ent-
kräftet werden konnte. Der Präteritumschwund kann demzufolge nicht
(alleinige) Entstehungsursache der doppelten Perfektbildungen sein.

2.2. ‚Innovative‘ Hypothese: Die Aspekthypothese


2.2.1. Erklärung der Hypothese

Obwohl die bisherige Doppelperfektforschung bereits auf die Unzuläng-


lichkeiten der Präteritumschwundhypothese aufmerksam geworden ist,
sind weitere Herausbildungshypothesen bisher bis auf Rödel (2007) nicht
formuliert worden. Erst Rödel (2007) arbeitet eine neue Hypothese her-
aus, die daher als ‚innovativ‘ bezeichnet und im Folgenden charakterisiert
werden soll.
Ausgehend von seiner Auffassung, dass mit den doppelten Perfektbil-
dungen eine nicht temporale, sondern aspektuelle Erscheinung vorliegt,
formuliert Rödel die These, dass es sich bei den Partizipien gehabt und
228 Isabel Buchwald-Wargenau

gewesen „um einen Erweiterungsmechanismus handelt, der in der Perfekt-


konstruktion angelegt ist und unabhängig von Tempus und Modus des
finiten Verbs funktioniert“ (2007, 193). Schon allein die Interpretation der
doppelten Perfektbildungen als ein aspektuelles Phänomen verlangt nach
einer Herausbildungstheorie, die der zugewiesenen aspektuellen Bedeu-
tung Rechnung tragen kann. Rödels Ausgangspunkt ist der Verlust des
aspektuell gegliederten Verbalsystems, das in älteren Sprachstufen durch
die Opposition Ø – Präfix ge/ga/gi- bestanden hat (2007, 185).7 In engem
Zusammenhang damit steht die Grammatikalisierung des Perfekts. Den
ersten Grammatikalisierungsschritt vollzieht das Perfekt durch die Aufga-
be der Kongruenz von perfektivem Partizip8 und Objekt. Die zunehmen-
de Deaspektualisierung des Präfixes ge- (das sich nun zum Verbalflexiv
entwickelt) ermöglicht im Weiteren auch nichtperfektiven Verben, ein
Perfekt zu bilden. Die Konstruktion öffnet sich für temporale Lesarten
und kann damit in Konkurrenz zum Präteritum treten.9 Für Rödel ist
diese Grammatikalisierungssituation des Perfekts ausschlaggebend für die
Herausbildung der doppelten Perfektbildungen, in denen er die perfekti-
ven Partner des nun aspektuell neutralen Perfekts (sprachtypologisch jetzt
eher ein past als ein perfect) sieht. Damit wird die Aspekthypothese auch
nicht vollkommen losgelöst vom Präteritumschwund betrachtet. Das
Verhältnis von Präteritumschwund und doppelten Perfektbildungen ist
jedoch ein anderes: Wird in Hypothese I ein direkter kausaler Zusammen-
hang angenommen, so stellen in Hypothese II sowohl Doppelperfekt als
auch Präteritumschwund Folgen der Perfektgrammatikalisierung dar.

_____________
7 Die Frage, ob ältere Sprachstufen des Deutschen tatsächlich ein aspektuell gegliedertes
Verbalsystem besaßen, wird durchaus kontrovers diskutiert. Auf einen Überblick über die
Forschungsliteratur wird an dieser Stelle verzichtet. Siehe hierzu z.B. Schrodt / Donhauser
(2003).
8 Das Perfekt ist zu diesem Zeitpunkt nur mit perfektiven Verben bildbar. Erst ab dem 13.
Jahrhundert wird die Perfektbildung mit durativen Verben häufiger. Vgl. hierzu Oubouzar
(1974).
9 Die Grammatikalisierung des Perfekts kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden.
Ausführlicher widmen sich dieser Problematik bspw. Oubouzar (1974 u. 1997), Leiss
(1992), Kuroda (1997) und Teuber (2005).
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 229

Verlust des Aspektsystems

Grammatikalisierung des Perfekts,


temporale Komponente mit
wachsendem Gewicht

Konkurrenz zum Präteritum Doppelte Perfektbildungen

Präteritumschwund Möglichkeit des Rückgriffs auf


aspektuelle Ausdrucksmöglichkei-
ten
zur Realisierung von
Vorvergangenheit

Abbildung 2: Herausbildung der doppelten Perfektbildungen nach Rödel (2007, 195)

Für die Aspekthypothese fällt es schwer, Bedingungen für die Beschaffen-


heit der frühesten Doppelperfektbelege zu konstruieren. Vielmehr er-
scheint es sinnvoll, sich der Herausbildungsfrage über den Grammatikali-
sierungsstatus des ge-Präfixes zu nähern. Im Folgenden soll eine erste Idee
hierzu formuliert werden.
Bei Rödel ist die Entstehung von Doppelperfekt an den Aspektverlust
gekoppelt. Aspektverlust heißt hier, dass eine fortschreitende Grammati-
kalisierung und Deaspektualisierung des ge-Präfixes hin zum obligatori-
schen Verbalflexiv der Perfektkonstruktionen stattfindet. Indiz für die
Deaspektualisiertheit von ge- stellt dessen Vorkommen am Partizip aller
Verbtypen dar. Kommen Verbtypen noch ohne ge- vor, so kann ge-
schlussfolgert werden, dass ge- mit dem vorliegenden Verbtyp (noch) nicht
kompatibel ist, d.h. dass deren Bedeutungen redundant sind. Das ist vor
allem bei perfektiven Verben zu vermuten, bei denen die Verbsemantik
mit einer (Rest-)Perfektivbedeutung des Präfixes ge- kollidieren würde.
Eine solche Unvereinbarkeit von ge- und perfektivem Verb lässt sich als
Zeichen für die noch nicht vollständige Grammatikalisierung von ge- wer-
ten. Umgekehrt lässt sich daraus schließen, dass Perfektkonstruktionen
230 Isabel Buchwald-Wargenau

mit perfektiven Partizipien ohne ge- selbst noch über eine (die temporale
Lesart) dominierende aspektuelle Semantik verfügen.10 Deutet man nun
die doppelten Perfektbildungen gerade als Möglichkeit, die in den Hinter-
grund getretene aspektuelle Bedeutung der Perfektkonstruktionen zu
kompensieren, dürften doppelte Perfektbildungen erst bei stark überwie-
gendem Gebrauch von ge- mit Partizipien aller Verbtypen vorkommen.

2.2.2. Überprüfung der Hypothese

Als Überprüfungsgrundlage für die Hypothese dient zunächst die Chronik


des Elias Laichinger (S. 178-258), ein oberdeutscher (alemannischer) Text
aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Zeit also, in der doppelte
Perfektbildungen bereits seit zwei Jahrhunderten belegt sind. Im Text
konnten vier doppelte Perfektbildungen nachgewiesen werden, ein Dop-
pelperfekt mit haben, zwei afinite Konstruktionen mit haben und ein Dop-
pelperfekt mit sein. Darunter finden sich auch doppelte Perfektbildungen
perfektiver Verben:
(4) den 5 diß Ist Vnßer gnädiger Landtsfürst Vnd herr, Nachdem er
In dem schönen holtz Vff die 45 wilder schwein Inn eim Jagen
gefangen gehabt, Vnd 3 Reh alhero komen (Laichinger 199)
Die Bildung des Partizips mit ge- von einem perfektiven Verb scheint also
im vorliegenden Text prinzipiell möglich. Weitere Textbeispiele sollen dies
untermauern:
(5) Den 15 Aperellen als am Ostertag Ist der hanß Jacob Veter
hürsch wirtt In der herrlichen herberg Vorm thor Zu todt gefal-
len. In die Stieg hinab (Laichinger 193)
(6) Anno 1662 Den 3 Jenner wie auch noch Vorherr ist ein rechte
früelings Zeit geweßen als daß man Die frielings Bliemlein, als
feigelein Vnd dergleichen hat in gärtten Vnd waßen gefunden,
gott geb daß es Etwas guotts Bedeith. (Laichinger 220)
In der Chronik finden sich jedoch auch zahlreiche Partizipbildungen per-
fektiver Verben ohne ge-. Diese erscheinen, ohne genaue statistische An-

_____________
10 Vgl. Ebert u.a. (1993, 238), die den Ausfall von ge- „im Zusammenhang der ‚perfektiven‘
Verben auch als Indiz für das noch bestehende Nebeneinander einer Verwendung als
Wortbildungspräfix oder einer Verwendung als paradigmatisch eingebundenen Flexiv-
bestandteils“ werten. Des Weiteren wird auf phonotaktisch und morphologisch motivierte
ge-Ausfälle aufmerksam gemacht (vgl. ebd.).
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 231

gaben erhoben zu haben, sogar häufiger als Partizipien perfektiver Verben


mit ge-. Im Folgenden werden einige Beispiele angeführt:
(7) den 14 februari Ist der Bernhardt Veter Megxer oder Starckh
geNandt, Oberhalb Eißlingen todt In einem graben funden
worden. (Laichinger 195)
(8) Den tag Ist der Marttin Mayer meßer Schmidt, mit frauw Pflege-
rin, Nacher Blawbeiren gefahren Zu Ihrem Sohn welcher Im
Closter, da mahl wahr Vnd hat er Vnderwegs, Vnglickh gehabt
Vnd ist Im ein Bein Brochen. (Laichinger 206)
Zuweilen erscheinen mit ge- versehene Partizipien, deren Bildung sich
später im standardsprachlichen Gebrauch ohne ge- durchsetzt:
(9) Den 18 Jener Ist Der herr Comensari wider weckh gmarschiert.
(Laichinger 200)
Diese Belege lassen die Schlussfolgerung zu, dass ge- hier möglicherweise
noch als Präfix zur Herstellung perfektiver Semantik genutzt wird, also als
Möglichkeit, die ‚Tätigkeit des Wegmarschierens‘ in (9) als abgeschlossen
zu kennzeichnen.11
Die uneinheitliche Bildung der Partizipien in vorliegendem Text weist
auf eine noch nicht vollständige Grammatikalisierung von ge- hin. Dass
dennoch doppelte Perfektbildungen vorkommen, scheint zunächst die
Aspekthypothese in Frage zu stellen. Bevor jedoch weitreichendere
Schlussfolgerungen gezogen werden, soll ein weiterer Text untersucht
werden.
Als zweiter Text wurde das Tagebuch eines Fähnrichs aus der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts ausgewählt. Der Text stammt aus nicht-
oberdeutschem Sprachgebiet.12 Es finden sich darin 18 doppelte Perfekt-
bildungen mit haben und 17 Bildungen des Typs sein + Partizip + gewesen.13
Ein Beispiel für vorkommende doppelte Perfektbildungen mit haben wird
im Folgenden angeführt:

_____________
11 Leiss (2002, 14) weist darauf hin, dass es „Relikte von ge-Verben [...] bis heute in süddeut-
schen Dialekten, etwa im Bairischen [gibt]: Danke, des glangt jetzt vs. nhd. Danke, das langt
jetzt; Do muaßma zuoglanga vs. Da muss man zulangen.“ In obigem Beispiel gmarschiert ist jedoch
auch die Möglichkeit einer Bildungsunsicherheit aufgrund des Lehnwortstatus nicht zu
vernachlässigen.
12 Die regionale Einordnung des Textes soll hier nur grob als nicht-oberdeutsch erfolgen, da
die Herkunft des Verfassers unklar ist und Dialektmerkmale eine Einordnung sowohl in
mitteldeutsches als auch in niederdeutsches Sprachgebiet zulassen.
13 An dieser Stelle wird ganz bewusst der Terminus ‚doppelte Perfektbildungen‘ vermieden,
da es sich nicht bei allen sein-Formen um solche handelt. Vgl. Fußnote 3.
232 Isabel Buchwald-Wargenau

(10) Diesen Morgen wurden 2 Dragoner von dem Corbonschen Re-


giment aufgehenkt, welche sich von 9, so durchgehen wollen,
ausgespielet gehabt, wozu von jeder Nation etliche Manschaft
commendiret wurden, der Execution beyzuwohnen. (Hannover-
sche Rotröcke 95)
Auch in vorliegendem Text lassen sich Partizipien ohne ge- belegen, wie
folgendes Beispiel zeigt:
(11) Die Kranken von allen drey Regimentern wurden hierselbst ins
Hospital bracht. (Hannoversche Rotröcke 35)
Der stark überwiegende Teil der Partizipien wird jedoch im Gegensatz zur
zuvor betrachteten oberdeutschen Laichinger Chronik sehr regelmäßig mit
ge- gebildet. Das trifft auch auf die Partizipien perfektiver Verben zu:
(12) Diese Nacht wurden viel Bomben hineingeworfen; weilen es
aber übel geworfen, thaten sie schlechte Würkung, nunmehr
wird mit 18 Mörsern zu werfen angefangen. (Hannoversche
Rotröcke 84)
(13) Wurd bey allen Regimentern etwas alt Kupfer von deme, was
man in Modon gefunden, auf jedes regiment 170 Pfund, aus-
getheilet, welches verkaufet und davor Wein, denen Soldaten zu
vertrinken gegeben, sollte gekaufet werden. (Hannoversche
Rotröcke 101)
Es kann festgestellt werden, dass die ge-Verwendung als Verbalflexiv im
nicht-oberdeutschen Text weiter fortgeschritten ist als in der oberdeut-
schen Chronik. Im Umkehrschluss lässt das vermuten, dass eine Verwen-
dung von ge- als aspektuelles Präfix im nicht-oberdeutschen Text nicht
mehr in dem Maße gegeben ist, wie das im oberdeutschen der Fall zu sein
scheint.14 Dass in dem Text, der eine fortgeschrittenere ge-Grammatikali-
sierung aufweist, eine deutlich höhere Anzahl an doppelten Perfektbildun-
gen belegt werden konnte,15 stellt ein bekräftigendes Argument für die
Aspekthypothese dar. Um die Möglichkeit einer rein zufälligen Korrela-
tion von ge-Grammatikalisierung und Vorkommen der doppelten Perfekt-
bildungen auszuschließen, sind natürlich detailliertere Analysen weiterer
historischer Texte notwendig.

_____________
14 Auch Leiss (2002, 14) weist im Zusammenhang mit dem Abbau der Aspektverben auf ein
Nord-Süd-Gefälle hin.
15 Der unterschiedliche Umfang der Texte wurde beim Vergleich der Anzahl doppelter
Perfektbildungen natürlich berücksichtigt.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen 233

3. Fazit und Ausblick


Der vorliegende Beitrag widmete sich der Herausbildungsfrage der dop-
pelten Perfektbildungen. Es wurden zwei Hypothesen vorgestellt und
anhand eines historischen Korpus doppelter Perfektbildungen überprüft.
Dabei hat sich die Präteritumschwundhypothese v.a. aufgrund von frühen
nicht-oberdeutschen Belegfunden sowie frühen sein-Belegen als nicht halt-
bar erwiesen. Auch die Aspekthypothese schien durch die Ergebnisse der
untersuchten oberdeutschen Chronik fragwürdig zu sein. Zweifel an der
Hypothese erweckte v.a. die Tatsache, dass trotz noch nicht vollständiger
Grammatikalisierung von ge- als Verbalflexiv doppelte Perfektbildungen
auftraten. Die Untersuchung eines zweiten, nicht-oberdeutschen Textes
ergab jedoch ein anderes Bild. Hier konnte sowohl eine fortgeschrittenere
Grammatikalisierung von ge- als auch eine größere Anzahl an doppelten
Perfektbildungen festgestellt werden. Somit scheint das untersuchte empi-
rische Material kompatibel mit der Hypothese, dass doppelte Perfektbil-
dungen sich zur Kompensation der mit der ge-Grammatikalisierung verlo-
ren gegangenen Möglichkeit zur Wiedergabe aspektueller Bedeutung
herausbildeten. Die Ergebnisse der Untersuchungen tragen ebenso Er-
kenntnissen aus der Grammatikalisierungsforschung Rechnung, die bei
Sprachwandelprozessen ein vorübergehendes Nebeneinander neuer und
alter Formen für eine bestimmte Kategorie bis zum ‚Sieg‘ der neuen Form
konstatieren. Unter diesem Gesichtspunkt stellen auch die Ergebnisse aus
der oberdeutschen Chronik keinen Widerspruch mehr zur zugrunde lie-
genden Hypothese dar.
Es sei abschließend betont, dass die Beantwortung vieler Fragestellun-
gen im vorliegenden Beitrag lediglich fragmentarisch erfolgen konnte. Zur
kritischen Überprüfung und Bewertung der hier gewonnenen Eindrücke
sind weitere Untersuchungen anhand größerer Textmengen aus verschie-
denen Dialektgebieten und Zeiträumen erforderlich.

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Laichinger Chronik I = Laichinger, Elias, Chronik, Transkription, Stadtarchiv Göppin-
gen.
234 Isabel Buchwald-Wargenau

Pontus und Sidonia = Pontus und Sidonia. In der Verdeutschung eines Unbekannten aus dem
15. Jahrhundert, kritisch hrsg. von Karin Schneider, (Texte des späten Mittelalters
4), Berlin, 45-354.
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schreibung zu Wasser und Lande, (Sammlung Dieterich 346), Leipzig 1696 / 1972.

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2007. [im Druck]
Aspekte diachronischer Fundierung
Historische Linguistik und mentale Repräsentation
flexionsmorphologischen Wissens∗

Andreas Bittner (Münster)

Was sich im Wandel durchsetzt, muss … psychisch real sein


Für Gustav und Willi

1. Einleitung
An Fakten der historischen linguistischen Forschung und Standards der
historischen Grammatikschreibung sollen im folgenden Text Ergebnisse
und Überlegungen aus dem Spracherwerb überprüft werden, aus denen
sich über die Form der mentalen Repräsentation grammatischen Wissens
zwar tendenzielle, aber keineswegs eindeutige Aussagen ableiten lassen.
Bei der Analyse der diachronischen Daten aus Sprachgeschichte und
Sprachwandel geht es nicht um eine Diskussion der Detailgenauigkeit und
tatsächlichen Haltbarkeit der in den Grammatiken postulierten sprachhis-
torischen Entwicklungen. Im Zentrum steht vielmehr die Herausarbeitung
verallgemeinerbarer Tendenzen und auf ihnen basierender Schlussfolge-
rungen für eine sprachtheoretische Modellierung. Diesem Vorgehen liegt
die Überzeugung zugrunde, dass sprachtheoretische Beschreibungen und
Hypothesen nur durch die Einbeziehung von Wissen über Sprachge-
schichts- und Sprachwandelprozesse, vom „Erkenntnispotential der dia-
chronischen Grammatik“ (Wurzel 2000, 418), dem Gegenstand Sprache
gerecht werden können. Die Idee, in diesem Beitrag die theorierelevante
Rolle der historischen Linguistik zu betonen und sie ganz selbstverständ-
lich als Instanz der Entscheidung über die Adäquatheit von Aussagen über
die Sprache heranzuziehen, geht auf zwei Aufsätze zurück, Mayerthaler

_____________
∗ Für die Diskussion und für kritische Hinweise danke ich besonders den Teilnehmern des
Kongresses ‚Historische Textgrammatik und historische Syntax des Deutschen‘. Gewidmet
ist der Beitrag dem Andenken an Willi Mayerthaler und Gustav Wurzel.
238 Andreas Bittner

(1981b) und Wurzel (2000), die leider kaum rezipiert wurden. Deren zen-
trale Überlegungen werden hier in die Diskussion um die mentale Reprä-
sentation von grammatischem Wissen eingebracht. Die Beispielfälle ent-
stammen der deutschen Verbflexion, behandelt werden also Fakten aus
dem Bereich des morphologischen Wandels, wobei eine Beschränkung auf
die Fragen des Auftretens und der Rolle von paradigmatischen Kennfor-
men und deren Verknüpfung mit spezifischem, paradigmatisch organisier-
tem Flexionsverhalten vorgenommen wird. Aus den jeweiligen Wandelbe-
obachtungen werden Schlüsse für die mentale Repräsentation grammati-
schen Wissens gezogen.

2. Ausgangsüberlegungen:
Spracherwerb – mentale Repräsentation
Den konkreten Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen stellen
Untersuchungen zum späten Spracherwerb im Bereich der Verbmorpho-
logie des Deutschen dar, die Antworten auf Fragen zur mentalen Reprä-
sentation grammatischen Wissens und ihrer Modellierung geben sollten.
Die Datengrundlage lieferte eine Pilotstudie mit ausnahmslos mutter-
sprachlich Deutsch sprechenden Schülern einer 5. Jahrgangsstufe, die
2005 in Münster durchgeführt wurde. Dabei waren fünf Kunstverben in
jeweils vier morphosyntaktische Kontexte (Singular Präsens, Singular Prä-
teritum, Konjunktiv II, Partizip II) einzubetten (zu den Details vgl. Bitt-
ner / Köpcke 2007).
Überprüft werden sollte, ob die mentale Repräsentation morphologi-
schen Wissens auf der Grundlage eines gebrauchsbasierten Modells (‚Us-
age-Based Model‘) erfolgt, das von einer schematischen Repräsentation
ausgeht, und ob ein solches Modell den empirischen Tatsachen eher ge-
recht wird als ein Regel-und-Listen-Modell. Es wurde also weder ange-
nommen, dass die Sprecher nur zwischen regulärer (regelmäßiger,
-geleiteter) und irregulärer (einzeln speichernder) Flexionsweise unter-
scheiden, noch dass auftretende unbekannte Verben ausnahmslos
schwach flektiert werden.
Wichtige Grundannahmen gebrauchsbasierter Modelle lassen sich so
formulieren:
• Der Gebrauch sprachlicher Formen in Produktion und Perzeption
beeinflusst die mentale Repräsentation sprachlichen Wissens,
• Wörter und Wortformen schließen sich im mentalen Gedächtnis
des Sprechers zu Mustern (oder Schemata) zusammen; Mus-
Aspekte diachronischer Fundierung 239

ter / Schemata sind mehr oder weniger starke Abstraktionen kon-


kreter Wörter / Wortformen,
• die Stärke eines Musters / Schemas („lexikalische Stärke“) be-
stimmt sich aus seiner Type-Frequenz, seiner Token-Frequenz und
seiner Validität.
Verifiziert wurden auf dieser Basis zwei Hypothesen. Zum einen die
Hypothese, dass nicht jede (neue) phonematische Struktur automatisch als
Kandidat für schwaches Flexionsverhalten interpretiert wird, sondern
Sprecher Muster / Schemata identifizieren, also gespeichert haben, die
mehr oder weniger eindeutig mit schwachem oder starkem Flexionsver-
halten assoziiert werden können. Welche phonologischen Strukturen, von
denen angenommen werden kann, dass sie direkt als Muster / Schemata
starker Flexion fungieren können, Gegenstand der Untersuchung waren,
wird anhand der fünf Testitems deutlich, die hinsichtlich ihrer Prototypi-
kalität für starke Flexion geordnet in Abbildung 1 dargestellt sind.

schwach stark

[[#__/a/__#]St [[#__/ai/__#]St [[#__/i+NASAL+(KONS)/]St ən]V


ən]V ən]V
[[#__/i+n/]St [[#__/i+nk/]St [[#__/i+ŋ/]St
ən]V ən]V ən]V

schlasen schleiten pfrinnen prinken wingen


(blasen) (gleiten) (rinnen) (trinken) (singen)
Abbildung 1: Prototypikalitätsskala starker phonematischer Muster / Schemata (5 Testitems)

Zum anderen wurde die Hypothese überprüft, dass die Favorisierung des
starken Flexionsmusters gegenüber dem schwachen nicht nur von der
spezifischen lexikalischen Stärke eines phonematischen Musters / Sche-
mas abhängig ist, sondern auch von der jeweils stark realisierten gramma-
tischen Kategorie. Treten starke Flexionsformen im Singular Präsens auf,
dann sollten starke Formen auch im Präteritum, Konjunktiv II und Parti-
zip II auftreten. Ist das Präteritum stark realisiert, sollten auch Konjunktiv
II und Partizip II stark flektiert werden, nicht aber notwendigerweise der
Singular Präsens usw. Daraus ergibt sich wiederum eine Prototypikali-
tätsskala (vgl. Abbildung 2, zu den Details nochmals Bittner / Köpcke
2007).
240 Andreas Bittner

stark schwach

3.Ps.Sg.Präsens Präteritum (Konjunktiv II) Partizip II


Präteritum (Konjunktiv II) Partizip II
(Konjunktiv II) Partizip II
Partizip II
Abbildung 2: Prototypikalitätsskala starker phonematischer Muster / Schemata
(Kategorienbezug)

Die Ergebnisse ließen in der Tendenz Hypothese 1 plausibel erscheinen,


dass die Items als Muster / Schemata starker Flexion interpretiert und
umso eher wie starke Verben behandelt werden, je weiter rechts sie auf
der Prototypikalitätsskala (1) angeordnet sind. Sie verwiesen darüber hin-
aus im Sinne von Hypothese 2 auch auf eine Verknüpfung der analysier-
ten Muster / Schemata mit spezifischem Flexionsverhalten in implikati-
ven, wenn-dann-bestimmten Strukturkombinationen.
Die starken Verben sind diesen Überlegungen zufolge im mentalen
Lexikon1 der Sprecher nicht als sprachliche Einzeltatsachen abgelegt und
als Ausnahmen zu Regeln gekennzeichnet. Vielmehr werden Verben all-
gemein von Sprechern zu unterschiedlich großen Gruppen zusammenge-
schlossen, die auf validen und für das Flexionsverhalten relevanten ge-
meinsamen Eigenschaften beruhen (vgl. Bittner / Köpcke 2007).
Trotz der deutlich werdenden Tendenz der Sprecher zu eher konnek-
tionistisch beschreibbaren Verfahrensweisen blieben die Evidenzen für
die Präferierung einer schematischen Repräsentation (assoziative Netze)
gegen ein bloßes Wörter- und Regelmodell (bzw. eine umgekehrte Präfe-
renz) doch relativ vage. Die Ergebnisse sprachen eher für die Annahme
eines Nebeneinanders von Techniken, die von Sprechern einzeln auf die
jeweils für sie einschlägige Gruppe angewandt werden. Das reicht von der
generellen Regel über motivierte Muster / Schemata, (mehr oder weniger)
direkter Analogie geschuldete Cluster bis zu Einzelspeicherung. Die Rela-
tion, in der die einzelnen Techniken zueinander stehen, und die konkrete
Verknüpfung von Mustern / Schemata mit Bündeln von Kategorienreali-
sierungen (Wort- bzw. Flexionsformen) blieben dabei allerdings unklar
und bedürfen einer genaueren Untersuchung. Außerdem stellt die Gerich-
tetheit (hierarchische Implikativität) sowohl des Kontinuums als auch der
Kategorienrealisierungen ein Problem für die theoretische Beschreibung
und Erklärung besonders auch im Rahmen assoziativer Netzwerke dar.

_____________
1 Der Begriff mentales Lexikon steht hier für den Speicherort, an dem die Sprecher flexions-
morphologisches Wissen ablegen.
Aspekte diachronischer Fundierung 241

Ich möchte im Folgenden die Überlegungen auf einen weiteren Fak-


tenbereich ausdehnen, um die dargestellten Ergebnisse und Tendenzen
überprüfen und vertiefen zu können, und die genannten Defizite zu be-
leuchten. Was liegt näher, als sich dazu Prozessen der Sprachveränderung
als Prüffeld grammatiktheoretischer Überlegungen und für Hypothesen
zur mentalen Repräsentation sprachlichen Wissens zuzuwenden? Wo
sonst als im Sprachwandel sollten die tatsächlich etablierten, psychisch
realen, d.h. vom Sprecher angewandten grammatischen Strukturen und
Zusammenhänge deutlich sichtbar werden?

3. Sprachgeschichte / Sprachwandel
als zentraler Modellierungs-, Test-
und Faktenbereich
Noch vor dem Spracherwerb und der Kindersprache stellt die Sprachver-
änderung den zentralen Faktenbereich2 dar, um Einsichten in die Struktur
einer Sprache (und von Sprache generell) und ihr Funktionieren und da-
mit in die Organisation von Grammatik – um die es hier im Wesentlichen
geht – zu gewinnen. Dabei werden sich in der Sprachgeschichte manifes-
tierende grammatische ‚Gesetzmäßigkeiten‘ angenommen, Sprachge-
schichtsprozesse nicht als zufällig und unmotiviert bzw. als Sonderfälle
sprachlicher Entwicklung verstanden. Variabilität, zumal diachronische, ist
eine grundlegende universelle Eigenschaft von Sprache. In ihr und in der
auf ihr basierenden Veränderung von Sprache werden grammatische Zu-
sammenhänge erfahrbar. Auf den unmittelbaren Zusammenhang von
Sprachwandel und Spracherwerb weist nicht nur Mayerthalers (1981, 25)
Statement, „was sich im Wandel durchsetzt, muß erworben, also auch
psychisch real sein. [...] [E]s [gibt] kein adäquates Verständnis des Sprach-
wandels ohne das des kindlichen Spracherwerbs [...]“, hin.
Auch für den Aspekt, dass an die Sprachgeschichte, enger gefasst: an
die historische Grammatikforschung, als empirische und theoretische
Wissenschaft auch hinsichtlich der Ausschöpfung ihrer sprachtheoreti-
schen Potenzen Forderungen zu formulieren sind, können seine provo-
kanten Überlegungen herangezogen werden: „Eine wohlverstandene his-
torische Sprachwissenschaft macht empirisch überprüfbare [falsifizierbare]
_____________
2 Weitere einschlägige Faktenbereiche für falsifizierbare sprachtheoretische Hypothesen
(nicht nur bezogen auf die Flexionsmorphologie) sind z.B. die Behandlung von neuen
Wörtern bzw. die von Kunst- oder Nonsenswörtern, die Fehlerlinguistik, die Akzeptabilität
grammatischer und ungrammatischer Formen, aphasische Störungen und der ungesteuerte
Fremdsprach- bzw. Zweitspracherwerb, vgl. z.B. Bittner (1996, 66ff.).
242 Andreas Bittner

Prognosen und trägt deshalb in einem wissenschaftstheoretisch relevanten


Sinn [...] zur Sprachtheorie bei [...]“ (ebd., 37). Die Basis dafür und damit
für den generell ‚experimentellen‘ Charakter von historischer Sprachent-
wicklung und Sprachveränderung ist einleuchtend:
Welch besseren und vielfältigeren Testbereich für das Problem der psychischen
Realität kann es eigentlich geben? [...] Man verfügt über hinreichend große Popu-
lationen, über Beobachtungszeiträume, welche diejenigen üblicher psycholinguis-
tischer Experimente als im Grenzwert gegen Null tendierend erscheinen lassen
und die Experimente einer immer wieder versuchten Sprachoptimierung werden
seit hunderten von Jahren in kontrollierbarer Weise reproduziert. Was will man
mehr von einer Versuchsanordnung als einer solchen, wie sie Sprachwandel kon-
stituiert? (ebd., 24)
Im Sinne Mayerthalers sollen nun also Daten aus der Sprachveränderung
(Sprachentwicklung) zur Verifizierung der Hypothesen herangezogen
werden, die auf der Basis von Spracherwerbsdaten postuliert wurden.

3.1. Grundannahmen zur sprachtheoretischen Relevanz


von Sprachveränderung

Einschlägig sind dabei natürlich Sprachveränderungen, die die Folge von


Konflikten im Sprachsystem selbst sind, die „im System angelegt“ sind
(Paul 1975), und somit grammatisch (und nicht sozial) initiiert sind. Ab-
bildung 3 gibt eine Übersicht über Sprachwandeltypen und ihre Abhän-
gigkeiten und macht deutlich, dass die hier behandelten Veränderungen
unter der Bezeichnung system-initiierter Wandel firmieren.
Grammatisch initiierter Wandel ist dadurch motiviert, dass durch ihn
grammatische Komplexität, die die menschliche Sprachkapazität hinsicht-
lich bestimmter Eigenschaften – diese Einschränkung bzw. Konkretisie-
rung ist wichtig – belastet (auch Markiertheit genannt), im Bereich von
Phonologie, Morphologie und Syntax abgebaut wird.3 Er führt damit zu
weniger komplexen, präferenteren grammatischen Strukturen.
Das theoretisch Konzeptionelle, das die folgende Auswahl von Unter-
suchungsinstrumentarien und Erklärungsmustern steuert, ist vor allem im
Rahmen von Natürlichkeits- und Präferenztheorien unter dem Gesichts-
punkt der Markiertheit grammatischer Erscheinungen und ihrer Rolle im
Sprachwandel entwickelt worden (vgl. für den Zusammenhang hier z.B.
Bailey 1973; Mayerthaler 1981a; Vennemann 1983, 1990; Wurzel 1984,
1994; Dressler u.a. 1987; Bittner 1996).

_____________
3 Für den semantisch initiierten Wandel ist das bisher wenig untersucht.
Sprachwandel

nicht- intendiert
intendiert

system- außersprach- sprach- sozial-


initiierter lich initiier- kontakt- initiierter
Aspekte diachronischer Fundierung

Wandel ter Wandel initiier- Wandel


ter W.

gramma- semantisch
tisch ini- initiierter
tiierter W. W.
lexikalisch- Entleh- Sprach- Pid- Sprachnor-
semant. nung mi- gin / mierung,
phonol. morphol. syntakt. Grammati- lexikalisch- Wandel zur schung Kreo- -planung,
Wandel Wandel Wandel kalisierung semant. Beseitigung lisie- -politik;
Wandel v. Bezeich- rung Schaffung
nungsdefi- von
ziten Fachspra-
chen / Ter-
Kontakt gelehrt minologien

Abbildung 3: Sprachwandeltypen (nach Bittner, A. in Wurzel 1994, 99)


243
244 Andreas Bittner

Die folgende konkrete Analyse sprachlicher Daten erfolgt ausschließlich


auf der Basis historischer Grammatiken (vgl. Literaturliste), dem Duden
und Bittner (1996, 1998). Sie übernimmt außerdem Daten aus und orien-
tiert sich an Wurzel (1999, 2000). Die Problematik dieser Quellenauswahl
(vgl. dazu z.B. Wegera 1990, Leiss 1998) wird dabei bewusst in Kauf ge-
nommen. Der Fokus der Erörterungen liegt auf der Interpretation
sprachhistorischer Fakten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die linguisti-
sche Theoriebildung und in Bezug auf die Art und Weise ihrer Einbin-
dung in sprachtheoretische Überlegungen. Aus möglichen Ungenauigkei-
ten der Daten, die der unzureichenden Quellenlage zuzuschreiben sind,
sollten keine grundsätzlichen Gegenargumente zur vorgenommenen In-
terpretation resultieren – es sei denn, man stellte die bisherige Sprachge-
schichtsschreibung insgesamt zur Disposition. Genereller Untersuchungs-
bereich ist die deutsche Verbmorphologie, konkret sollen Aspekte der
mentalen Repräsentation grammatischen Wissens mit Fakten des Über-
tritts von den starken zu den schwachen Verben konfrontiert werden.

3.2. Hypothesen zum Wandel

Zunächst sollen die o.g. Hypothesen für eine Überprüfung im Rahmen


des Sprachwandels angepasst und konkretisiert werden.
• Hypothese 1: Sprachhistorische Veränderungen / Sprachwandel-
prozesse verweisen bezogen auf die segmentale Repräsentation der
Lexeme im mentalen Lexikon (Repräsentation morphologischen
Wissens) darauf, dass diese Repräsentation auf der Basis prädiktiver
Kennformen (Muster / Schemata) erfolgt, sie ist außerdem wort-
und nicht (stamm)morphembasiert.
• Hypothese 2: Sprachhistorische Veränderungen / Sprachwandel-
prozesse verweisen bezogen auf die Repräsentation morphologi-
schen Wissens darauf, dass die Spezifizierung des flexionsmorpho-
logischen Verhaltens (Prinzipien der Zuordnung zu Flexionsklas-
sen) auf der Basis nichtmorphologischer Eigenschaften dieser
prädiktiven Kennformen (Muster / Schemata) und im Rahmen ge-
richteter paradigmatischer Strukturbedingungen erfolgt.
Aspekte diachronischer Fundierung 245

4. Verifizierung der Hypothesen:


Beobachtung einschlägiger Sprachveränderungen
4.1. Wandelbeobachtung 1 zu Hypothese 1

Es genügt ein Blick auf die bekannten Standardbeispiele, den auch Wur-
zel (2000) bereits vorgenommen hat. Das Ahd. weist vier relativ stabile
verbale Flexionsklassen auf. Die Verben der einzelnen Klassen mit (par-
tiell) unterschiedlichem Flexionsverhalten unterscheiden sich in der pho-
nologischen Form der Infinitive: Die Klasse der starken Verben (geban)
steht drei schwachen Klassen gegenüber, der jan-Klasse (suochen),4 der ōn-
Klasse (salbōn) und der ēn-Klasse (habēn).5 Wie zu sehen ist, liegt die pho-
nologische Distinktivität nicht im Wortstamm, sondern in den morpholo-
gischen (‚wortartspezifizierenden‘) Endungen.
Phonologischer Wandel (Neutralisation der Vokale unbetonter (Ne-
ben-)Silben) führt dann im Übergang zum Mhd. zur Vereinheitlichung
aller Infinitivmarker zu phonetisch [-ən], vgl. mhd. geben, suochen, salben,
haben. Nach dieser Neutralisierung beginnen Sprecher ursprünglich starke
Verben schwach zu flektieren, was auch noch im Gegenwartsdeutschen
geschieht, wenn auch sprachpflegerisch, durch Normierungsdruck und
schulische Sozialisation behindert; vgl. frnhd. bellen, kreischen, schmiegen –
Präteritum boll, krisch, schmog > nhd. Präteritum bellte, kreischte, schmiegte
(Bsp. nach Wurzel 2000, 419). Gegenwärtig vollzieht sich bei mehr als 50
Verben dieser Übergang zur schwachen Flexionsweise, vgl. z.B. fechten,
gären, hauen, melken, schallen und saugen – Präteritum focht, gor, hieb, molk,
scholl, sog > fechtete, gärte, haute, melkte, schallte, saugte (vgl. Bittner 1996, 111).
Dies lässt sich folgendermaßen interpretieren: Es drängt sich bei der
durch die Fakten skizzierten Abfolge die Schlussfolgerung auf, dass das
Auftreten dieses morphologischen Wandels von der phonologischen
Form des Wortes abhängig ist, die sich im Deutschen in der Form des
Infinitivs (und teilweise in den abgeleiteten Wortformen) bestens manifes-
tiert. Wurzel (2000, 420) konstatiert, dass der Wandel dann einsetzt,
„wenn man dieser Form die Flexionsklassenzugehörigkeit der Lexeme“
und damit die Flexionsweise „nicht mehr ansehen kann“. Solange der
Infinitiv eines Verbs auf -an endet, kann das entsprechende Verb nicht
schwach flektiert werden. Deshalb treten Wandelerscheinungen wie die
_____________
4 Starke j-Präsentia, die im Infinitiv und in der Präsensflexion wie schwache jan-Verben
aussehen, sind ahd.: intrīhhen (I), bitten, liggen, sitzen (V), swerien, scephen, heffen, intseffen (VI) und
erien (reduplizierend); vgl. (Braune 1987, 282f. und 264ff.).
5 Bei den drei schwachen ahd. Verbklassen finden sich Reste einer jeweiligen semantischen
Motivierung: Intensiva, Iterativa (ōn-Verben); Durativa, Inchoativa (ēn-Verben); Kausativa
(en-(< jan)Verben).
246 Andreas Bittner

Übergänge von starken Verben zu den schwachen erst nach den phonolo-
gischen Neutralisierungen auf, wenn also z.B. das schwache Verb leben und
das starke Verb geben in der Form des Infinitivs hinsichtlich der Flexions-
weise nicht mehr unterschieden werden können.
Plausibel erscheint die Annahme Wurzels (vgl. ebd., 420f.), dass ein
starkes Verb wie geban und ein schwaches Verb wie suochen im mentalen
Wissen der Sprecher des Ahd. als [[geb]BM an]V bzw. [[suox]BM en]V abge-
legt sind6 und nicht als [geb]VBM, stark bzw. [suox]VBM, schwach (also als
Stammmorphem mit diakritischer Flexionsangabe), weil bei letzterer Re-
präsentation „das Auftreten des Wandels gerade zum Zeitpunkt der pho-
nologischen Neutralisierung [...] sich [...] nicht sinnvoll erklären [läßt]“
(ebd., 420).
Daraus folgt, dass die mentale Repräsentation der Verben im Ahd. in
der Form des Infinitivs realisiert wird, die damit die lexikalische Grund-
bzw. Kennform darstellt, die als Basis für die Ableitung sämtlicher Flexi-
onsformen fungiert. Die ahd. Verbflexion ist auf dieser Faktenbasis von
den Sprechern „wortbasiert und nicht morphembasiert organisiert“ (ebd.,
421). Diese strikte Annahme über die Organisation flexionsmorphologi-
schen Wissens in Sprachen mit ausgeprägter Flexionsmorphologie könnte
für das Deutsche ab dem Mhd., also nach der phonologischen Neutralisie-
rung der Vokale der morphologischen Endungen, angezweifelt werden.
Es wird zu zeigen sein, dass auch in den auf das Ahd. folgenden Sprach-
perioden eine Form wie [[geb]BM mn]V als Kennform und Ableitungsbasis
dient, also keine Stammmorphembasierung der Verbflexion vorliegt (vgl.
auch Bittner / Köpcke 2007). Der Infinitiv trägt also nicht nur strukturelle
Merkmale der wortartspezifischen Flexion und fungiert über eindeutige
grammatische Morpheme als Auslöser der entsprechenden Flexionsweise
und -klassenzugehörigkeit. Mit diesen Trägern grammatischer Information
muss auch ein Bündel distinktiver, gerichteter Flexionsformen verknüpft
sein.
Da die Sprecher des Mhd. dem Verlust dieses Indikators für Flexions-
verhalten durch phonologischen Wandel nichts entgegengesetzt haben,
liegt die Vermutung nahe, dass das Zulassen dieses phonologischen Wan-
dels Teil eines morphologischen Wandelprozesses ist, bei dem das bishe-
rige mindestens aus vier Klassen bestehende, ursprünglich semantisch
motivierte Zuordnungssystem verändert, (wieder) eindeutiger gemacht
werden soll. Die Sprecher hatten wohl den Eindruck, dass die Komplexi-
tät der semantischen Motivierung dieses morphologischen Teilsystems
und die ihr innewohnenden Überschneidungen und Mehrdeutigkeiten, die
_____________
6 Sie werden dann mhd. phonologisch zu [[geb]BM mn]V bzw. [[suox]BM mn]V neutralisiert (V –
Verb, BM – Basismorphem, VBM – verbales Basismorphem), vgl. Wurzel (2000, 420).
Aspekte diachronischer Fundierung 247

eine entsprechende Komplexität der morphologischen Kennzeichnung


erforderten, die Handhabbarkeit des morphologischen Codesystems un-
nötig erschweren. Merkmale der phonologischen Struktur bzw. ihrer Rea-
lisierung sollen als Indikatoren möglichst eindeutiger, distinkter Inhalte
bzw. Funktionen dienen, zumal sie ständig der Gefahr artikulatorischer
Aufwandsbeschränkung ausgesetzt sind. Der so motivierte morphologi-
sche Veränderungsprozess orientiert sich an der morphologischen Kenn-
zeichnung der Unterscheidung der ‚Wortart‘ Verb von anderen ‚Wortar-
ten‘ und zunehmend weniger an der Binnendifferenzierung von
Verbtypen. Das Zulassen der phonologischen Neutralisation signalisiert
die morphologische Umorganisation in Richtung der Flexionsweise bzw.
-klasse, die hinsichtlich unterscheidender Merkmale für Inhalte / Funktio-
nen eindeutiger ist und den Sprecherkriterien Uniformität, Transparenz
und Ikonizität (vgl. Mayerthaler 1981a; Dressler u.a. 1987; Wurzel 1984)
besser entspricht. Das geht in der Regel damit einher, dass diese das Sys-
tem dominieren bzw. Systemangemessenheit erlangen und auch hinsicht-
lich der Type-Frequenz die jeweils mächtigere Flexionsweise darstellen
(vgl. Bittner 1996, 20ff.).
Damit sind universelle Kriterien morphologischer Kategorienkenn-
zeichnung benannt, wobei noch einmal hervorgehoben werden soll, dass
Sprachnutzer morphologische Eigenschaften an nichtmorphologische
binden, also nichtmorphologische Eigenschaften von Lexemen nutzen,
und zu einer relativen (funktional gesteuerten) Vereinheitlichung von
Kennzeichnungsmitteln und -systemen tendieren.

4.2. Wandelbeobachtung 2 zu Hypothese 1

Der skizzierte morphologische Wandel führt nach der phonologischen


Veränderung des Infinitivs (und abgeleiteter Formen) tendenziell, d.h.
keineswegs unmittelbar und ausnahmslos, zu einer Veränderung der Fle-
xionsformen des Singulars Präsens, des Präteritums, des Konjunktivs
Präteritum (Konjunktiv II) und des Partizips Perfekt (Partizip II), was
zunächst einmal darauf hinweist, dass nicht alle Formen eines Paradigmas
einfach lexikalisch gespeichert bzw. nach einheitlichen Regeln erzeugt sein
können, vgl. die Übersichten 4 und 5, außerdem Bittner (1996) und Bitt-
ner / Köpcke (2007).
248 Andreas Bittner

4.3. Schlussfolgerungen zu 4.1. und 4.2.

Aus den beiden Wandelbeispielen lassen sich für die mentale Repräsenta-
tion von grammatischem Wissen folgende Schlüsse ziehen, die gleichzeitig
eine Verifikation der Hypothese 1 beinhalten:
1. Flexionsmorphologisches Wissen ist in Form von Kennformen
(Grundformen; Mustern / Schemata) repräsentiert. Das geschieht
durch konkrete Wortformen (nicht durch Stammmorpheme). Au-
ßerdem weist die Wandelbeobachtung 2 darauf hin, dass nicht
sämtliche Flexionsformen des Paradigmas lexikalisch gespeichert
sind, das dürfte lediglich bei starker Suppletion der Fall sein.
2. Die prädiktive Kennform (Muster / Schema) für die deutsche
Verbflexion ist der Infinitiv.
Die Schlussfolgerung, dass der Infinitiv, eigentlich eine Nominalform (?),
die Kennform des deutschen Verbs bilden soll, wird nicht so ohne Weite-
res auf Akzeptanz stoßen. Ein kurzer Exkurs soll für einige, die Feststel-
lung plausibel machende Fakten sorgen.

4.4. Exkurs: Probleme mit dem Infinitiv

Welche Zweifel sind am Infinitiv zu hegen? Man kann argumentieren,


dass der Infinitiv eine Nominalform und damit gar nicht Teil des Verbpa-
radigmas ist, also auch nicht dessen Kennform sein kann. Er steht außer-
dem in Konkurrenz zur 3.Ps.Sg.Präs.Ind., die eine hohe Token-Frequenz
aufweist, bzw. zu einer anderen singularischen Präsensform, z.B. der
1.Ps.Sg.Präs.Ind. Auch hier soll ein Blick auf einschlägige Wandelprozesse
zu Antworten führen.

4.4.1. Wandelbeobachtung: Richtung von Wandelprozessen

Auf der Suche nach entsprechenden Gegenargumenten sollen die Aus-


gleichsprozesse im Präsensvokalismus und -konsonantismus der starken
Verben betrachtet werden.
Im Frnhd. erfahren starke Verben mit ie-eu-Wechsel im Präsens einen
Ausgleich des Präsensvokalismus durch den Vokal [ī] (vgl. z.B. frnhd.
fliegen, fliege, fleug(e)st, fleug(e)t, (wir) fliegen > nhd. fliegen, fliege, fliegst, fliegt, (wir)
fliegen). Im Paradigma des starken Verbs sehen bspw. wird ebenfalls im
Frnhd. die (konsonantische) Alternation zwischen [ç] und ∅ (vgl. frnhd.
sehen, sehe, sichst, sicht, (wir) sehen) zugunsten der ∅-Formen aufgegeben (vgl.
Aspekte diachronischer Fundierung 249

nhd. sehen, sehe, siehst, sieht, (wir) sehen). Das deverbale Nomen Sicht wird
davon nicht erfasst. Was auffällt ist, dass beide Alternationstypen zuguns-
ten einer Form aufgegeben werden, die (auch) die des Infinitivs ist, aber
nicht die der 3.Ps.Sg.Präs.Ind.
Die starke Verbklasse und die (größere) Klasse der schwachen jan-
Verben stimmen im Ahd. in ihrer Präsensflexion überein. Es finden aber
keine Übergänge zwischen den Klassen statt. Wäre die 1.Ps.Sg.Präs.Ind.
oder eine andere Form des Präsens Indikativs die Kennform, sollten sol-
che Übergänge zumindest tendenziell auftreten.7

4.4.2. Grundform vs. Stammflexion

Auf eine notwendig durch die Kennform zu erfüllende strukturelle Eigen-


schaft muss explizit hingewiesen werden. Die deutsche Verbflexion (vom
Ahd. bis zum Nhd.) funktioniert nach dem Prinzip der Stammflexion (vgl.
ahd. nëm-an – nim-u (1.Ps.Sg.Präs.Ind.) und nhd. nehm-en – nehm-e). Für eine
wortbasierte morphologische Repräsentation ist es also wichtig, dass die
Kennformen (Muster / Schemata) morphologisch gegliedert repräsentiert
sind, Flexionsregularitäten Zugriff auf den Stamm haben (z.B. ahd. nëman
als [[nëm]St an]V, nhd. nehmen als [[ne:m]St mn]V, vgl. Wurzel 1999).8

4.4.3. Interpretation der Beobachtungen

Der Infinitiv der Verben im Deutschen erfüllt offensichtlich wichtige


Anforderungen an eine Kennform (Muster / Schema), indem er ganz oder
partiell ([[ge:b]St mn]V) die Eingabevoraussetzungen für die Anwendung
von Flexionsregularitäten (ob Regelmodell oder Vernetzung) liefert, hin-
sichtlich seiner Kategoriensemantik wenig komplex ist (vgl. Mayerthaler
1980, 11ff.) und weitgehende Informationen über das Flexionsverhalten
des jeweiligen Lexems enthält.

_____________
7 Nicht alle Ausgleichsprozesse innerhalb eines Paradigmas müssen in Richtung Kennform
verlaufen. So kommt es im Frnhd. zur Entwicklung von zemen – es zimt zu ziemen – es ziemt,
wobei der Vokal der 3.Ps.Sg., der bei unpersönlichen Verben häufigsten Personalform,
verallgemeinert wird. Da solche Ausgleichsprozesse nur innerhalb eines Flexionsparadig-
mas stattfinden, spricht das für die Zugehörigkeit des Infinitivs zum verbalen Paradigma.
8 Auch für das Erkennen der Kunstverben und die Schemaidentifikation auf der Basis von
Eigenschaften der phonologischen Struktur im Rahmen der Tests zum späten Spracher-
werb war die Präsentation als ganze Wortform, die dann von den Kindern mühelos geglie-
dert wurde, notwendig (vgl. Bittner / Köpcke 2007).
250 Andreas Bittner

4.5. Erklärungsansatz für die Übertritte


der starken zu den schwachen Verben

Ausgangspunkt für diesen Typ von Wandel sind die Sprecher / Hörer
einer Sprache mit ihrer Kapazität zur Sprachverarbeitung und ihrem
sprachlichen Agieren. Sprachliche Strukturen und systematische Zusam-
menhänge werden von ihnen hinsichtlich ihrer Komplexität, ihrer Eindeu-
tigkeit und ihrer Funktionalität einer ökonomischen Analyse unterworfen,
die immer eine auf spezifische Eigenschaften einer Ebene des Sprachsys-
tems bezogene, skalare Ergebnisorientierung hat. Wenn man sich fragt,
weshalb in den skizzierten Fällen Übergänge von starker zu schwacher
Flexionsweise tatsächlich eintreten, bietet sich als plausibles Erklärungs-
muster an, dass grammatisch initiierter phonologischer, morphologischer
und syntaktischer Wandel dadurch motiviert ist, dass durch ihn immer die
menschliche Sprachkapazität belastende grammatische (hier morphologi-
sche) Komplexität (Markiertheit) abgebaut wird (vgl. Wurzel 1994).
Bei den sprachhistorischen Veränderungen der Flexionsweise deut-
scher Verben würde somit ein Abbau ‚zusätzlicher‘ Spezifikationen im
mentalen Lexikon der Sprecher diese Verringerung belastender Komplexi-
tät bewirken. Welcher Art sind diese ‚zusätzlichen‘ Spezifikationen? An die
phonologische Struktur der gegliederten Kennform knüpfen Sprecher
Informationen hinsichtlich des Flexionsverhaltens mit unterschiedlichem
Spezifikationsgrad. Außerdem müssen auch da, wo man den jeweiligen
Kennformen nicht mehr eindeutig ansehen kann, wie das Lexem flektiert
wird, Verben im mentalen Lexikon distinkt repräsentiert sein, wenn sie
unterschiedlich flektiert werden sollen. Aus den Beispielen wird deutlich,
dass da, wo Verben mit den gleichen außermorphologischen (phonologi-
schen) Eigenschaften unterschiedlich konjugiert werden, jeweils die weni-
ger normale Flexionsweise im mentalen Lexikon durch das Einbeziehen
spezifischerer Eigenschaften (z.B. spezifische Konstellationen der phono-
logischen Struktur) bzw. durch zusätzlich gespeicherte Kennformen
und / oder Marker spezifiziert ist. Bei dieser Motivierung von Verände-
rungen treten Lexeme immer zur weniger zusätzlicher Komplexität bedür-
fenden Flexionsweise über (vgl. ausführlich Bittner 1996).
Da bei den bisherigen Beispielen nur die Nutzung von phonologi-
schen Eigenschaften der Kennformen als Schlüssel für die zu realisierende
Flexionsweise diskutiert wurde, soll kurz auf weitere Möglichkeiten der
Verknüpfung mit unabhängigen außermorphologischen Eigenschaften
hingewiesen werden:
Seit dem Frnhd. benutzen Sprecher das ursprüngliche Vollverb brau-
chen ('benötigen, genießen, sich einer Sache bedienen') in Kontexten mit
Negation mit einer modalen Bedeutung. Bei diesem modalen Gebrauch
Aspekte diachronischer Fundierung 251

findet im gesprochenen Nhd. häufig eine Veränderung in der


3.Ps.Sg.Ind.Präs. statt: (er) braucht > (er) brauch. Es handelt sich dabei nicht
um einen phonologischen, sondern um einen morphologischen Wandel,
denn die 2.Ps.Pl.Ind.Präs. ((ihr) braucht) ist davon nicht betroffen (*(ihr)
brauch). Modal genutztes brauchen ('gezwungen sein, etwas zu tun') wird mit
der Präsensflexion der übrigen Modalverben versehen, vgl. (er) darf, kann,
muss, obwohl es im Nhd. nur sieben Verben gibt, die die 3.Ps.Sg.Ind.Präs.
ohne -t bilden (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen, wissen), während
ca. 4000 Verben den Marker -t aufweisen (letzteres sollte eindeutig für eine
größere ‚Normalität‘ der t-Klasse sprechen). Für die Zuweisung der Flexi-
onsweise wird aber die Eigenschaft, Modalität auszudrücken, favorisiert.
Brauchen mit modaler Bedeutung tendiert auch syntaktisch dazu, wie ein
Modalverb behandelt zu werden, z.B. bei Er brauch nicht kommen für Er
brauch nicht zu kommen (vgl. Bittner 1996).
Es sind also nicht nur phonologische Eigenschaften der Kennform,
sondern auch syntaktische und semantische Eigenschaften, die von den
Sprechern genutzt werden. Wenn sich solche Eigenschaften verändern,
führt das tendenziell zu Übertritten zu einer anderen Flexionsweise. Wie
stark das Bestreben der Sprecher ist, unabhängig gegebene Eigenschaften
der Lexeme (und ihrer Kennformen) für ihre Zuordnung zu den Flexi-
onsklassen zu nutzen, zeigen die Herausbildung der Klasse der Modalver-
ben und der an brauchen illustrierte aktuell verlaufende Wandel.

4.6. Wandelbeobachtung 1 zu Hypothese 2 –


schrittweiser Übergang von starken
zu den schwachen Verben

Beim Übergang starker Verben zur schwachen Flexion werden im Deut-


schen häufig nicht alle Flexionsformen eines starken Verbs auf einmal
durch schwache Formen ersetzt. Der Übergang erfolgt vielmehr schritt-
weise (vgl. Abbildung 4 und Bittner 1996).
Charak- Stammvokal 1./3. -i- und/oder Vokalwechsel dentallose Prät.- Ablaut Umlaut Part.Perf.
252

teristika Sg.Prät. ∅-Endg. Sg.Präs. bzw. form und/oder ∅- Prät. Konj. (Ablaut,
≠ Sg.Imp. 2./3. Sg.Präs. Endung Prät. -en)
Stammvokal 1./3. Sg.Prät.
2.Sg. & 1.-3.
Verben Jh.
Pl.Prät. 1.P. 2.P. 3.P.
bannen 13. - +
14. + + +(-)
15. +/- +/- +/- +(-)
16. - - - - -(+)
18. - - - -(+)

bellen 15. + + +(-) + + + +


16. + - + + + + +
17. +(-) +(-) +(-) +(-) +
18. - - -(+) -(+) -(+) -(+)
19. - -(+) -(+) -(+) -(+)
20. - - - - - -
smiegen 13. + - + + + + +
16. +(-) +(-) - +(-) + + +
17. - - - - - - +(-)
malen 16. - - ∅ + + + + +
18. - - - - - - - +

Abbildung 4: Beispiele für (schrittweise) Übergänge von starker zu schwacher Flexion (Mhd. – Nhd.; nach Grimm 1854ff., +: starke
Andreas Bittner

Form belegt, -: schwache Form belegt, ( ): weniger häufig)


Aspekte diachronischer Fundierung 253

Solche partiellen Übernahmen einer anderen Flexionsweise, bei denen


quasi gerichtet ‚Mischflexionen‘ entstehen, wie z.B. bei melken, melke, (er)
melkt, (er) melkte, (er) melkte, gemolken (schwacher Imperativ, schwaches Prä-
sens (ohne Vokalwechsel), schwaches Präteritum, schwacher Konjunk-
tiv II, Beibehaltung des starken Partizips II) oder gebären, gebäre, (sie) gebärt,
(sie) gebar, (sie) gebäre, geboren (Imperativ und Präsens schwach, Beibehaltung
starker Präterital-, Konjunktiv- und Partizipformen), sind zumal in institu-
tionell normierten Sprachen durchaus Konstrukte sprachlicher Entwick-
lung von langfristigem Bestand, was an Beispielen wie backen, laden, raten,
mahlen, winken, salzen, schinden deutlich wird (vgl. Bittner 1996, 90ff. und
Wurzel 1998). Status und Veränderung der genannten Verben werden in
Bittner (1996, 184ff.) über zusätzliche Markereinträge und deren Verände-
rung beschrieben: melken [VW/Imp.Sg.] > melken [Abl, -ən/Part. II], gebä-
ren [VW/Imp.Sg.] > gebären [Abl/Prät.], mahlen, winken, … [Abl, -ən/Part.
II].
Diese Fakten sprechen dafür, dass die Wörter im mentalen Lexikon,
dass flexionsmorphologisches Wissen schlechthin – wenn es sich nicht
eindeutig aus Eigenschaften der Kennform (Muster / Schema) ergibt –
hinsichtlich des Auftretens bestimmter Flexionsformen in ihren Paradig-
men spezifiziert sind. Nicht prädiktables, komplexeres (aber nicht supple-
tives) Flexionsverhalten drückt sich im Auftreten spezifischer Marker im
mentalen Lexikon aus, prädiktables in deren Nichtauftreten. Darauf
nimmt auch die ‚minimalistische‘ Hypothese Bezug, dass Lexikoneintra-
gungen der Wörter keine Angaben prädiktabler Eigenschaften enthalten
(vgl. Wunderlich / Fabri 1995).9
Ein zentraler Aspekt der Erörterungen dieses Abschnitts soll noch
einmal hervorgehoben und in einen generelleren Zusammenhang gestellt
werden: Im Fall von nicht prädiktabler, ‚zusätzlicher‘ Komplexität sind im
mentalen Lexikon Kennformen bzw. Kategorienmarker als Indikatoren
des Flexionsverhaltens spezifiziert. Wenn beim hier dargestellten Wechsel
der Flexionsweise von stark zu schwach Spezifikationen (Einträge) im
mentalen Lexikon der Sprecher getilgt bzw. durch andere ersetzt werden,
heißt das auch, dass es Grade von Komplexität (Markiertheit) hinsichtlich
des Flexionsverhaltens gibt. Eine graduelle Komplexität wird aber durch
eine binäre Distinktion ,regulär‘ vs. ‚irregulär‘ (bzw. ‚markiert‘ und ‚un-
markiert‘) – sie stellt den Normalfall in der einschlägigen Fachliteratur dar
_____________
9 Bei suppletiven Verben, d.h. Verben, in deren Paradigmen mehrere Stämme auftreten, die
(synchron) nicht durch phonologische Regeln aufeinander beziehbar sind, müssen natür-
lich die Stämme im mentalen Lexikon repräsentiert sein, die eine vom Infinitiv abweichen-
de Ableitungsbasis für weitere Flexionsformen bilden, also wiederum den Charakter von
Kennformen haben, oder Einzelformen sind, vgl. z.B. gehen, ging(en), ?(ge)gang(en); denken,
dacht(en), (ge)dacht; sein, bin, ist, war(en), (ge)wes(en).
254 Andreas Bittner

– nur unzureichend reflektiert. Es existiert vielmehr eine Skala der Regula-


rität zwischen der am stärksten regulären (unmarkierten) Flexion und der
am stärksten irregulären (am stärksten markierten) Flexion durch Bezug-
nahme auf konkrete Flexionseigenschaften der Lexeme. Das soll am
schon diskutierten Beispiel des stufenweisen Übergangs von starken zu
den schwachen Verben in einem zweiten Schritt noch deutlicher heraus-
gearbeitet werden.

4.7. Wandelbeobachtung 2 zu Hypothese 2

Beim Übergang von starken Verben zur schwachen Flexion, der, wie ge-
sagt, nicht konsequent geschieht, sondern zunächst (oder auch dauerhaft)
nur bestimmte Formen des Paradigmas betrifft, werden die Flexionsfor-
men in einer bestimmten Reihenfolge vom Übergang erfasst (interessant
und hier aufgelistet sind vor allem die Paradigmenformen, in denen sich
schwache und starke Flexionsweise unterscheiden (vgl. Bittner 1996, pas-
sim). Nach den jeweils vom Wandel betroffenen bzw. nicht betroffenen
Formen lassen sich die in Abbildung 5 dargestellten ‚Übergangstypen‘
ausmachen (werfen steht für ein konsequent stark gebliebenes Verb; die im
Wandel entstandenen schwachen Formen sind hervorgehoben):

Infinitiv Imperativ Präsens Präteritum Konj.II Part.Perf.


werfen wirf (sie) wirft warf wärfe /würfe geworfen
graben grabe (sie) gräbt grub grübe gegraben
heben hebe (sie) hebt hob höbe gehoben
schinden schinde (sie) schindet schindete schünde geschunden
melken melke (sie) melkt melkte melkte gemolken
bellen belle (sie) bellt bellte bellte gebellt
Abbildung 5: Auftretende Paradigmentypen bei Übergangsprozessen
von starker zu schwacher Flexion

Die ‚Übergangstypen‘ beschreiben eine gerichtete Abfolge des Wandels.


Sofern etwa ein starkes Präteritum nachweisbar ist, sollte auch starke Fle-
xion beim Konjunktiv II und beim Partizip II auftreten, nicht aber not-
wendig bei der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. usw. Andere Kombinationen von starken
und schwachen Formen gibt es in den vom Wandel erfassten Verbpara-
digmen nicht.
Aus diesen Fakten können für den Aufbau der Paradigmen deutscher
Verben hinsichtlich eines speziellen Strukturaspekts, nämlich der mögli-
chen Verteilung von schwachen und starken Flexionsformen im Über-
gangsbereich zwischen starker und schwacher Konjugation, zwei mehrstu-
Aspekte diachronischer Fundierung 255

fige, gegenläufige Implikationen abgeleitet werden (vgl. Abbildung 6), mit


denen Sprecher operieren. Die Implikationsmuster basieren auf Bittner
(1996, 80).10

(1) (a) st.Imp. ⊃ st.Präs. (2) (a) sw.Part.Perf. ⊃ sw.Konj.II.


(b) st.Präs. ⊃ st.Prät. (b) sw.Konj.II. ⊃ sw.Prät.
(c) st.Prät. ⊃ st.Konj.II (c) sw.Prät. ⊃ sw.Präs.
(d) st.Konj.II ⊃ st.Part.Perf. (d) sw.Präs. ⊃ sw.Imp.
Abbildung 6: Implikative Paradigmenstrukturbedingungen starker und schwacher Verben

Flexionsparadigmen in Systemen mit mehreren Flexionsklassen haben


eine auf implikativen Relationen beruhende hierarchische formale Struk-
tur. Das bedeutet, dass die einzelnen Flexionsformen innerhalb der Para-
digmen einen unterschiedlichen Status aufweisen. Bestimmte Flexions-
formen fungieren dort, wo der Infinitiv für die Erschließung der Flexion
nicht ausreicht, als Kennformen der Paradigmen und sind (s. o.), im men-
talen Lexikon als Indikatoren der Flexionsklassenzugehörigkeit spezifi-
ziert.
Die implikativen Relationen zwischen den Flexionsformen bzw. ihren
Markern strukturieren die Flexionsparadigmen (sind Paradigmenstruktur-
bedingungen, vgl. Wurzel 1984). Die Implikationen führen zu einem Kon-
tinuum der deutschen Verben auf der Basis der Übereinstimmung mit
bzw. der Abweichung von der präferierten / unmarkierten schwachen Bil-
dungsweise (für Details vgl. Bittner 1996). Der so determinierte Paradig-
menaufbau stellt den Rahmen möglicher Sprachveränderungen dar und
äußert sich steuernd im Erwerbsprozess (vgl. Bittner 1991).11 Die Grenzen
eines Paradigmas ergeben sich in Sprachen wie dem Deutschen aus den
Paradigmenstrukturbedingungen, d.h. aus den formalen Relationen zwi-
schen den einzelnen Wortformen. Im Deutschen sind Infinitiv-, Impera-
tiv- und Partizip II-Formen Teil des Verbparadigmas (anders als vom
Verb abgeleitete Nomina wie z.B. Sicht, Wurf, Schwur).

_____________
10 Die Modalverben, die eine eigene semantisch motivierte Flexionsklasse bilden (vgl. Bittner
1996, 104ff.), und die Rückumlautverben (vgl. z.B. Bittner 1996, 99f.; Nübling / Dammel
2004, 185f.) bleiben hier unberücksichtigt.
11 Flexionsparadigmen haben somit eine reale Existenz; sie sind keine Erfindungen von
Grammatikern. Ihr auf Implikationen der Wortformen beruhender hierarchischer Aufbau
ist wohl ein generelles Strukturprinzip von Flexionsparadigmen.
256 Andreas Bittner

5. Zusammenfassung und vorläufiges Fazit –


mentale Repräsentation
Ausgehend von den im Spracherwerb gewonnen Erkenntnissen lässt die
sprachhistorische Überprüfung der Hypothesen 1 und 2, mit denen eine
Beschränkung der Analyse der mentalen Repräsentation grammatischen
Wissens auf das Vorhandensein und die Rolle morphologischer Kenn-
formen (Muster / Schemata) von Lexemen und die Art ihrer Verknüp-
fung mit den eine spezifische Flexionsweise dokumentierenden paradig-
matischen Wortformen vorgenommen wurde, folgende Schlussfolgerun-
gen zu:
• Flexionsmorphologisches Wissen ist in Form von Kennformen
(Mustern / Schemata) repräsentiert, d.h. durch konkrete, geglieder-
te Wortformen, die als Ableitungsbasis dienen;
• nicht sämtliche Flexionsformen des Paradigmas sind lexikalisch ge-
speichert;
• als prädiktive Kennform (Muster / Schema) fungiert der Infinitiv;
• die Flexionsweise der Lexeme ist tendenziell durch phonologische
und / oder syntaktische und / oder semantische Eigenschaften ih-
rer Kennform bestimmt;
• davon abweichendes Flexionsverhalten wird im mentalen Lexikon
der Sprecher durch zusätzliche Kennformen bzw. Kategorienmar-
ker (oder Einzelformen) spezifiziert, die als Indikatoren der Flexi-
onsweise (-klassenzugehörigkeit) fungieren, prädiktables Flexions-
verhalten wird nicht spezifiziert;
• Komplexität (Markiertheit) hinsichtlich des Flexionsverhaltens ist
graduell;
• Relationen zwischen Flexionsformen (bzw. ihren Kategorienmar-
kern) sind implikativ (gerichtet) und bilden die Strukturregularitäten
(Paradigmenstrukturbedingungen) von Flexionsparadigmen.

5.1. Blick auf Theorienkonzepte

Im Hinblick auf die Repräsentation grammatischen Wissens im mentalen


Lexikon müssen sich Erklärungstheorien den diskutierten sprachhistori-
schen Befunden stellen. Dabei ergeben sich unterschiedliche Schwierigkei-
ten, von denen einige sehr kurz zusammengefasst werden sollen:
Aspekte diachronischer Fundierung 257

Konnektionistische Netzwerke haben bspw. Probleme mit der Ge-


richtetheit von Strukturbedingungen und Wandelprozessen. Während die
Darstellung der schwachen Verbflexion im Rahmen der Netze (entgegen
der allgemeinen Diskussion in der Literatur) nicht nur in dieser Hinsicht
unproblematisch ist, da die einzelnen Formen relativ gleichwertig sind und
sich wechselseitig implizieren, müssen für die nichtschwache Flexion Ähn-
lichkeitskriterien der Muster / Schemata hervorgehoben und die mit ihnen
verknüpften Formen in spezifischer Reihenfolge aktiviert werden. Hierzu
reicht Frequenz als Kriterium nicht aus.
Wörter und Regel-Modelle sind in ihrer Regel- vs. Ausnahmestruktur
zu grob, können (und wollen) historisch gewordene und werdende Zu-
stände dadurch nur unzureichend abbilden und die diskutierten Misch-
formen nicht erklären. Minimalistische Modelle haben durch ihre aus-
schließlich synchrone Strukturaspekte reflektierende Ausrichtung Proble-
me mit der diachronen Abfolge und der Gewichtung sprachlicher Ent-
wicklungsprozesse, die mit den Repräsentationen in Wechselbeziehung
stehen.
Optimalitätsmodelle weisen bei der Begründung von Rankingprozes-
sen grundsätzliche Defizite auf. Sie sind Produkt sprachlichen Wandels,
sollen aber gleichzeitig Wandel motivieren und erklären.
Schema- und Markiertheitsmodelle scheinen im Gegensatz dazu in der
Lage zu sein, durch einheitliche Prozesse und außermorphologische Moti-
vierung Gerichtetheit, paradigmatische Verankerung, Abbildung von
Komplexität und Reduktion ganzheitlicher Speicherung auf den so ge-
nannten Nahbereich miteinander zu verbinden.

5.2. Präsentation, Kennform / Schema


und Paradigmenstrukturbedingungen

Untersucht wurde, wie Indikatoren, die eine spezifische Flexionsweise


auslösen, und ihre Verknüpfung mit diesem Flexionsverhalten mental
repräsentiert sind, wenn sie sich nicht direkt (eindeutig) aus dem jeweiligen
Muster / Schema ableiten lassen, wie z.B. bei werden, heben, schinden, und ob
spezifische, die Komplexität der Prozedur erhöhende ‚Einträge‘ im menta-
len Lexikon denkbar sind, mit denen die Abweichungen vom unmarkier-
ten Flexionsverhalten – in diesem Fall der schwachen Konjugation – ge-
kennzeichnet werden.
Der von mir favorisierte Ansatz geht für die deutschen Verben davon
aus, dass jeweils Gruppen (Klassen) von ihnen eine einheitliche flexions-
morphologische Behandlung erfahren. Diese kann in der Anwendung
einer unspezifischen abstrakten Regel, in der Nutzung spezifischerer und
258 Andreas Bittner

weniger abstrakter Muster / Schemata oder noch spezifischerer und noch


weniger abstrakter analogischer Cluster bzw. Ableitungen bestehen.
Daneben stehen wenige wortspezifische Einzelfälle. Für die im Nhd. mit
95 % mehr als deutlich überwiegende Gruppe (Klasse) der schwachen
Verben reicht also die auf keine weiteren Eigenschaften Bezug nehmende
Identifikation der phonologischen Struktur der Kennform (Infinitiv) als
‚Verb‘ aus, um die entsprechende schwache Flexionsweise anzuwenden.
Ein neues bzw. unbekanntes Verb wird also generell schwach flektiert,
wenn die Sprecher keine spezifische Muster- bzw. Schemaähnlichkeit usw.
feststellen. Andernfalls nehmen sie ‚Einträge‘ in ihrem mentalen Lexikon
vor. Die unspezifizierte Form des Infinitivs als ganz abstrakter seman-
tisch-funktionaler Ausdruck des grammatischen Konzepts ‚Verb‘ ist also
strikt mit schwachem Flexionsverhalten verknüpft. Hier spielt Type-
Frequenz eine große Rolle. Bei Identifikation als einem Muster / Schema,
einem analogischen Cluster usw. zugehörig (bzw. als Einzelfall erkannt)
erfolgt von der schwachen Bildungsweise ganz oder partiell abweichende
(starke) Flexion. Die Muster / Schemata, Cluster usw. gewinnen an Kon-
kretheit, die Type-Frequenz wird schrittweise von der Token-Frequenz
überlagert, wobei die mit den Mustern / Schemata, Clustern usw. ver-
knüpften implikativen Merkmale die entsprechende Einordnung im Rah-
men des skizzierten Verbkontinuums fixieren. Sie bestimmen, bei welcher
Kategorie der Eintritt in die nichtschwache Konjugation erfolgt. Die kon-
kretesten Muster / Schemata sind letztlich direkte (reimende) Analogiebil-
dungen (während die unspezifische abstrakte Regel sozusagen das abstrak-
teste Muster / Schema darstellt), Einzelfälle (oft suppletiv) sind keine
Muster / Schemata. Die Veränderungsrichtung verläuft von konkretem zu
abstrakterem Muster- / Schemabezug. Damit kann der Zusammenhang
von Muster / Schema und Kontinuum formal charakterisiert werden (vgl.
Bittner 1996).

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Adjektive in Inventarlisten – Beobachtungen
zur Syntax und zum Textsortenwandel

Markus Denkler (Münster)

1. Attributiv und prädikativ verwendete Adjektive


Adjektive können bekanntlich attributiv, prädikativ und adverbial ge-
braucht werden. Die Verwendung als Attribut und die Verwendung als
Prädikativum sind dabei näher miteinander verwandt, denn bei beiden
bezieht sich das Adjektiv auf eine nominale Konstituente. Typisch für den
attributiven Gebrauch eines Adjektivs sind die Voranstellung vor das Sub-
stantiv und die Flexion: ein zartes Spinnlein. Als obligatorisch wird man
diese Merkmale allerdings nicht ansehen, denn auch ohne Flexiv – ein zart
Spinnlein – kann das Adjektiv attributive Funktion erfüllen und die post-
nominale Stellung kommt ebenfalls vor: ein Spinnlein zart.1 Vor allem aus
sprachhistorischer Perspektive ist dies bedeutsam, denn zum einen sind
etwa die ‚starken‘ pronominalen Flexive -er (Mask.) und -es (Neutr.) beim
attributiven Adjektiv in einem langwierigen Diffusionsprozess im deut-
schen Sprachraum übernommen worden. Dieser Prozess nahm seinen
Ausgang vom Oberdeutschen und war im 18. Jahrhundert noch nicht
abgeschlossen, sodass man in norddeutschen Texten jener Zeit durchaus
noch flexivlose pränominale Adjektive verwendete (vgl. Voeste 1999;
Ebert u.a. 1993, § M 35; Denkler 2005, 81ff.). Zum anderen stellt sich die
Frage, wann und in welchen Kontexten die Nachstellung als markiert zu
gelten hat (vgl. Behaghel 1930).
Die prädikative Funktion eines Adjektivs wird durch eine Kopula, z.B.
‚sein‘, hergestellt: Die Touristen sind wieder frei. In bestimmten Kontexten

_____________
1 Zum postnominalen Adjektiv im Deutschen vgl. Dürscheid (2002), die die markierte
Nachstellung des Adjektivs vor allem als Mittel der Informationsgliederung analysiert; wei-
ter Hellwig (1898), Paul (1919 / 1968, § 72), Behaghel (1930), Marschall (1992).
262 Markus Denkler

kommen aber auch Konstruktionen ohne Kopula vor: Touristen wieder frei.2
Auch hierbei handelt es sich um eine Topik-Kommentar-Struktur, d.h.
semantisch gesehen sorgt das Adjektiv für eine Prädikation. Solche Struk-
turen weisen eine gewisse Nähe zu attributiven Konstruktionen mit post-
nominalem Adjektiv auf, sodass bisweilen schwer zu entscheiden ist, ob
ein Adjektiv als attributiv oder prädikativ einzustufen ist,3 z.B. bei Pro-
duktbezeichnungen wie Körbchen rechteckig oder Rahmspinat tiefgefroren: „Syn-
tagmen dieser Art finden sich auf Speisekarten, in Versandhauskatalogen,
in Kleinanzeigen, Prospekttexten, auf Schildern, auf Etiketten, auf alpha-
betisch geordneten Listen“ (Dürscheid 2002, 62). Nach Weinrich (1993,
480), der aus textgrammatischer Perspektive argumentiert, handelt es sich
sowohl bei der Attribution als auch bei der Prädikation um eine Determi-
nation. Die prädikative Funktion ist demnach eine besondere Form der
Determination, bei der eine „ausdrückliche, argumentativ relevante Fest-
stellung“ einer Eigenschaft gemacht wird. Auf diese funktionale Defini-
tion soll im Folgenden zurückgegriffen werden.
In dem vorliegenden Beitrag geht es um den Gebrauch von Topik-
Kommentar-Strukturen, die aus einer Nominalphrase und einem Adjektiv
bestehen. Dabei soll insbesondere die Kontrastierung mit funktionsähnli-
chen attributiven Konstruktionen (mit pränominalem Adjektiv) Auf-
schluss über funktionale Zusammenhänge geben. Als Grundlage der Ana-
lysen dient ein Korpus von Nachlassinventaren aus der Frühen Neuzeit.
Nachlassinventare sind in bestimmten, rechtlich umrissenen Kontexten
erstellte Verzeichnisse hinterlassener Mobilien, gegebenenfalls auch hin-
terlassener Haustiere und Immobilien, die also im Kern aus Listen beste-
hen. Wir finden dort Listeneinträge wie 1 Mey Kalb schwartz. Das histori-
sche, diachron angelegte Quellenkorpus sowie die verwendete Textsorte
werden im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt. Anschließend werden die
Sprachdaten ausgewertet; zeitliche Konturen des Gebrauchs der unter-
suchten Konstruktion sowie die Adjektivsemantik stehen dabei im Mittel-

_____________
2 Dürscheid (2002, 73) schreibt hierzu: „Prinzipiell kann jedes postnominale Adjektiv als
prädikativer Teil einer Kopulakonstruktion analysiert werden, sofern es nicht-idiomatisiert
ist.“ Vgl. hierzu auch Sprachen ohne Kopula wie das Russische oder das Arabische, in de-
nen das prädikative Adjektiv allein das Prädikat bildet (vgl. Hentschel / Weydt 2003, 205,
340).
3 Die meisten Definitionen der prädikativen Funktion der Adjektive könnten sich auch auf
die attributive Funktion beziehen und umgekehrt, vgl. etwa: „Sie [Prädikativkomplemente]
weisen diesen [durch Subjekt- oder Akkusativkomplement denotierten Gegenständen] eine
Eigenschaft zu und weisen sie damit als Elemente oder Teilmengen einer Klasse aus“ (Zi-
fonun u.a. 1997, 3, 1106). Wenn es bei Eisenberg (2004, 235) heißt: „Die primäre Leistung
der Attribute besteht darin, das von einem Substantiv bezeichnete ‚näher zu bestimmen‘“,
dann sind hiermit nur restriktive Attribute abgedeckt, die die Referenzleistung des Substan-
tivs beeinflussen, nicht aber nicht-restriktive Attribute.
Adjektive in Inventarlisten 263

punkt. Der vierte Abschnitt bietet einen Erklärungsversuch für die auffäl-
ligen Verwendungsmuster. Hierbei rücken textlinguistische Aspekte in den
Fokus; es soll gezeigt werden, dass Elemente des Textsortenwandels mit
dem Wandel im Gebrauch der adjektivischen Determination in einem
näheren Zusammenhang stehen.

2. Westfälische Nachlassinventare
Die zugrunde gelegten Nachlassinventare stammen aus Westfalen aus der
Zeit von 1500 bis 1800 (vgl. Denkler 2006, 35ff.). Das Korpus besteht aus
1.618 Inventaren, die im Zusammenhang der Erhebung einer leibherrli-
chen Abgabe von unfreien Bäuerinnen und Bauern, den so genannten
Eigenbehörigen, erstellt wurden. Diese Abgabe wurde beim Tod eines
oder einer Eigenbehörigen fällig und in Relation zu dem jeweiligen Nach-
lass erhoben. Die Abgabe wird Sterbfall genannt, die Inventare dement-
sprechend auch Sterbfallinventare (vgl. Hüffmann 1966; Homoet u.a.
1982).
Das Rechtsgeschäft, durch das die Höhe dieser Abgabe festgesetzt
wurde, die die Nachkommen und Hoferben dem Leibherrn zu entrichten
hatten, geschah zunächst mündlich. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts
wurde es dann auch schriftlich festgehalten, häufig in Form eines Inven-
tars, das die materielle Grundlage der zu entrichtenden Abgabe, den
Nachlass, dokumentierte. Dies lässt sich allerdings kaum als ein reiner
Medienwechsel beschreiben, da die volkssprachige mündliche Praxis nun
mit der traditionellen – in der Regel lateinischen – Schriftpraxis zusam-
menkam; d.h. bei der Textsortenentstehung flossen traditionelle Muster
der Schriftpraxis ein (vgl. Frank 1996, 18). Diese Muster sind zum einen
Elemente der Textsorte (Gerichts)Protokoll und zum anderen die primo-item-
Liste.
Züge der Textsorte (Gerichts)Protokoll (vgl. hierzu Mihm 1995; Niehaus
/ Schmidt-Hannisa 2005; Topalović 2003; Hille 2008) haben sich in vieler-
lei Hinsicht mit der zugrunde liegenden mündlichen Praxis verbunden.
Techniken der Wiedergabe wörtlicher Rede und des raffenden und trans-
formierenden Notierens können auf die Musterwirkung der Textsorte
(Gerichts)Protokoll zurückgeführt werden (vgl. Denkler 2006, 29ff.,
118f.). In den frühen Inventaren des 16. und beginnenden 17. Jahrhun-
derts erscheinen in den Metatexten, die den Inventarlisten vorangestellt
sind, die Syntagmen Erbtag gehalten (erffdach geholden) und ist geerbteilt worden
(vgl. Denkler 2006, 47ff.), die darauf verweisen, dass das Rechtsgeschäft
bereits an Ort und Stelle beendet wurde. Daraus wird gleichzeitig ersicht-
lich, dass solche Texte allein zu Dokumentationszwecken angefertigt und
264 Markus Denkler

aufbewahrt wurden; für die Durchführung des Vorgangs – der Erhebung


der leibherrlichen Abgabe – hatten sie weiter keine Bedeutung (vgl. auch
Mersiowsky 2000, 340 zur Textsorte Rechnung). Dies sollte sich im Laufe
der Zeit ändern (s.u., Abschnitt 4).
Bedeutender als das Protokoll ist für die Entwicklung der Textsorte
Nachlassinventar die primo-item-Liste gewesen.4 Eine Profilierung in diese
Richtung lässt sich sehr deutlich erkennen, auch wenn teils widersprüchli-
che Entwicklungstendenzen auszumachen sind. Hierzu als Beispiel ein
Ausschnitt aus einem Nachlassinventar des Jahres 1542:5
Jt(em) noch syntt Dar vij wassel svyne
Jt(em) nocht syntt Dar xxij vercken
Jt(em) nocht syntt Dar vij syden speckes
Jt(em) nocht syntt Dar ij swyne De he nocht mest
Jt(em) nocht syntt dar xxxx honder
Jt(em) nocht synt dar xvj gosse vnd ey(n) gant
Jt(em) nocht synt Dar ij yme
Mit Peter Koch lässt sich festhalten, dass in Listen syntaktisch-
semantische Kohärenz durch das „Prinzip der syntagmatischen Similari-
tät“ (Koch 1997, 69) hergestellt wird, d.h. durch die Gleichartigkeit des
Aufbaus der Listeneinträge, durch die Serialisierung der Informationsspar-
ten.6
In diesem Beispiel ist die syntagmatische Similarität sehr deutlich er-
kennbar. Sie wird nicht nur durch die gleichartige Reihung der Informa-
tionssparten hergestellt, sondern auch durch die syntaktische Struktur der
Listeneinträge sowie durch lexikalische und optische Mittel. Als lexikali-
sches Gliederungssignal dient Jtem bzw. Jtem noch (vgl. Schirmer 1911, 89;
Denkler 2006, 70f.): Jeder Listeneintrag ist durch Jtem noch als solcher ge-
kennzeichnet. Dies kann insbesondere dadurch Wirkung entfalten, dass
jeder Listeneintrag in einer eigenen Zeile steht, das Inventar also als Ein-
zelbuchungsinventar aufgebaut ist und nicht als Textblockinventar mit voll ge-
schriebenen Zeilen (vgl. Denkler 2006, 66ff.; Mersiowsky 2000). Die
räumliche Anordnung der Einträge auf der Seite ist demnach, besonders

_____________
4 Vgl. etwa die Reliquienliste in einem lateinischen Inventar des Stiftes St. Egidius und St.
Erhard in Schmalkalden vom 13. Januar 1389:
Primo brachio sancti Egidii cum annulo et magno saphiro.
Item reliquas sancti Erhardi cum cycla aurea in pede argenteo.
Item digitum sancti Andree cum monstrancia cristallina […] (Wendehorst 1996, 72).
5 Landesarchiv NRW Staatsarchiv Münster, Kloster Benninghausen, Akten 10, fol. 35v-36r.
6 Im Unterschied dazu sind Textsorten wie Briefe oder Predigten durch „syntagmatische Kon-
tiguität“ (Koch 1997, 70) gekennzeichnet.
Adjektive in Inventarlisten 265

wenn es um Texte mit „similaritätsbasierende[m] Ordnungsprinzip“


(Koch 1997, 67) geht, mit ins Kalkül zu ziehen.

3. Determinierende Adjektive in Inventarlisten


Im Fokus der Untersuchung stehen Adjektive und Partizipien wie in den
folgenden Beispielen:
1 Mey Kalb schwartz (Burgsteinfurt 1676)
2. beschlag wagen halb geschlitten (Münster 1714)
2 Eymers holtzern (Bramsche 1757)
1 alt(en) beschmiedete wag(en) unbrauchbar (Quernheim 1767)
In die Analyse einbezogen werden auch mit einem Adverb erweiterte
Adjektive wie im zweiten Beispiel. Nicht selten erscheinen in solchen
Strukturen auch pränominale Adjektive, hier im vierten Beispiel.
Wie bereits zu Beginn dargelegt, kann das Adjektiv in diesen Beispie-
len „als Prädikativum gelesen werden“ (Dürscheid 2002, 73),7 das für eine
„ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung“ (Weinrich 1993, 480)
einer Eigenschaft verwendet wird. Diese Konstruktion wird dementspre-
chend als zweigliedrige Topik-Kommentar-Struktur aufgefasst.
Bisweilen werden die beiden Elemente der Konstruktion durch ein
Komma getrennt: 1. Brandtruthe, schlecht (Quernheim 1786), was als Indiz
dafür gelten kann, dass hier kein attributiver Gebrauch vorliegt – der Cha-
rakter des ‚ausdrücklichen Kommentars‘ ist hierbei hervorgehoben (anders
Dürscheid 2002, 74). Es findet sich eine Reihe weiterer syntaktischer
Formen, die dem behandelten Typ sehr nahe stehen:
4. silberne leffelß so alt (Münster 1714)
Ein schaabellen und 2 schoß Stühle N(ota)B(ene) alt (Bielefeld 1799)
j leibstücke von schwartzen wande ist verschließen (Sassenberg 1599)
ein alt Wandt Liffke(n), ist zerbrochen (Stromberg 1631)
Jt(em) ey(n) haluen wagen vnd ey(ne) halue ploch vnd iß olt (Liesborn 1540)

_____________
7 Vereinzelt lassen sich Belege wie die folgenden finden: 1 tisch langer (Münster 1788), 4
Hemde alte (Herford 1793). Hier könnten die Flexionsendungen als Argument dafür ange-
führt werden, dass die Adjektive als Attribute aufzufassen sind, was sie auch vermutlich
sind. Zu beachten ist allerdings, dass in den westfälischen Inventaren die starken Langfor-
men im Maskulinum und Neutrum Singular erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
üblich werden (vgl. Denkler 2005, 81ff.) und sich damit ein typologischer Unterschied zwi-
schen pränominaler (flektierter) und postnominaler (unflektierter) Attribuierung manifes-
tiert. Im Zuge dieses Prozesses ist mit Hyperkorrektionen zu rechnen, also mit der Auswei-
tung des Gebrauchs der Flexionsendungen auf prädikative Adjektive.
266 Markus Denkler

Als Signale für die Kommentarfunktion der Adjektive dienen hier das
Relativwort so, das kanzleisprachige Lexem Nota Bene und natürlich das
Kopulaverb sein.8 Das Komma im vorletzten und die Konjunktion und im
letzten Beispiel sind Zeichen dafür, dass hier jeweils zwei eigenständige
Teile vorliegen und diese Einträge nicht als ‚normale‘ Sätze aufzufassen
sind. Dies hat damit zu tun, dass die Listeneinträge funktional und teilwei-
se auch syntaktisch (vgl. Denkler 2006, 59f.) in den gesamten Text einge-
bettet sind – sie dienen der Beschreibung des jeweiligen Nachlasses. Die
in den Listeneinträgen verzeichneten Gegenstände sind dabei nur in den
seltensten Fällen bereits vorerwähnt, daher sind solche Einträge doppelt
rhematisch. Ein Eintrag wie 6 hemde schlecht wäre also zu paraphrasieren:
'Hier befinden sich sechs Hemden. Diese sind in einem schlechten Zu-
stand.'
In diesem Beispiel wird durch das Adjektiv eine Eigenschaft ins Spiel
gebracht (schlecht), die in gewisser Weise eine ‚Einschränkung‘ der ersten
Aussage darstellt: Nicht sechs Hemden als solche sollen hier verbucht
werden, sondern deren Zustand ist ausdrücklich mit zu berücksichtigen.
Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Taxierung der Gegenstän-
de, die hierauf Rücksicht zu nehmen hat. Angesprochen ist damit die
Textfunktion, die Bereitstellung einer soliden und transparenten Grundla-
ge für die Festlegung einer Abgabe. Der ‚einschränkende‘ Charakter des
Kommentars wird auch oftmals durch die Partikel aber signalisiert, wie in
den beiden folgenden Beispielen:
Noch ein Jser(n) Kettel Vo(n) 2 ½ eimer(n) nates aber gantz nichts wurdigh
(Münster 1621)
1 Bette spane und eine für den Knecht Aber gar schlegt (Herford 1687)
Um diese Struktur besser beurteilen zu können, werden nun zwei Fragen
untersucht: 1. Wird in solchen Konstruktionen ein bestimmter Adjektiv-
typ bevorzugt verwendet? 2. In welchem Zeitraum tritt dieses Format
hauptsächlich auf?
Zur Beantwortung der ersten Frage werden exemplarisch vier Adjek-
tivgruppen untersucht. Dies sind erstens Stoffadjektive (relationale Adjek-
tive) wie blechern, kupfern oder steinern,9 zweitens Farbadjektive (qualifizie-

_____________
8 Solche Konstruktionen werden im vorliegenden Beitrag nicht behandelt. Der Zusammen-
hang des hier besprochenen Formats mit den Kopula-Konstruktionen liegt natürlich auf
der Hand.
9 Im Einzelnen: blechern, ehern, eisern, gläsern, holzen / hölzern, irden, kupfern, porzellanen, silbern,
steinen / steinern und zinnen / zinnern.
Adjektive in Inventarlisten 267

rende Adjektive) wie braun, fuchsig oder fahl,10 drittens qualifizierende Ad-
jektive der räumlichen Dimension wie breit, groß oder lang11 und viertens
Zustandsadjektive (qualifizierende Adjektive) wie unbrauchbar, gut oder
verschlissen.12 Zum Vergleich ist auch die attributive (pränominale) Verwen-
dung der Adjektive ausgezählt worden. Die beiden Zahlen lassen sich so
zueinander in Relation setzen. Das Ergebnis der Auszählung zeigt die
folgende Tabelle:

Anteil
Adjektivgruppe Beispiel Format 1 Format 2 Summe
Format 2
Stoffadjektive kupfern 2965 10 2975 0,3 %
Farbadjektive grün 1364 22 1386 1,6 %
Dimensionsadjektive groß 915 37 952 3,9 %
Zustandsadjektive schlecht 1288 324 1612 20,1 %
Tabelle 1: Auszählung nach Adjektivtypen13

Von den untersuchten Adjektiven werden vor allem die Zustandsadjektive


in einer Topik-Kommentar-Struktur verwendet. Der entsprechende pro-
zentuale Anteil ist weit größer als bei den anderen drei Gruppen. Stoff-,
Farb- und Dimensionsadjektive kommen nicht einmal auf 5 %; von den
Zustandsadjektiven werden hingegen über 20 % in diesem Format ver-
wendet. Es lassen sich also deutlich zwei Gruppen erkennen: Auf der
einen Seite charakterisierende Adjektive, die fast ausschließlich attributiv
(pränominal) verwendet werden, und auf der anderen Seite evaluierende
Adjektive, die in beträchtlichem Ausmaß auch in einer Topik-Kommen-
tar-Konstruktion zum Einsatz kommen.14 Eine Erklärung für diesen Be-
fund wird demnach die Semantik der beteiligten Adjektive berücksichtigen
müssen.

_____________
10 Im Einzelnen: braun, fuchsig / gefuchst, grau, grün, rot, schwarz und weiß. Neben den Farbadjek-
tiven im engeren Sinne wurden in diese Gruppe aufgenommen: couleurt, fahl, hell, licht 'hell'
und gestreift.
11 Im Einzelnen: breit, groß, klein, kurz und lang. Nicht berücksichtigt sind hier Adjektive mit
Maßangaben (3. voet lanck) und Paarformeln (kort vnd lanck 'von verschiedener Länge').
12 Im Einzelnen: alt, (un)brauchbar, gut, löchrig / gelöchert / durchlöchert / zerlöchert, mittelmäßig, neu,
nichtswürdig, nutz(e) / nütz(e) / nutzend / nützig / abgenutzt, schlecht, verschlissen / geschlissen,
(un)tauglich / tüchtig und ziemlich 'angemessen, geeignet, ordentlich'.
13 Format 1: Nominalphrase mit attributivem (pränominalem) Adjektiv: 1 langer tisch;
Format 2: Topik-Kommentar-Struktur mit Adjektiv: j. kettell iseren
14 Von ihrer Semantik her sind evaluierende Adjektive für eine Determination des Typs
ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung prädestiniert (vgl. Weinrich 1993, 528).
268 Markus Denkler

Die zeitliche Entwicklung des Anteils der Zustandsadjektive im For-


mat 2 zeigt das folgende Diagramm. Eingetragen ist der gleitende Mittel-
wert. Abgebildet ist der Zeitraum von 1500 bis 1800.

Diagramm 1: Anteil der Zustandsadjektive in der Topik-Kommentar-Konstruktion

Zu Beginn des Untersuchungszeitraums, in der ersten Hälfte des 16. Jahr-


hunderts, ist der Anteil evaluierender Adjektive in der Topik-Kommentar-
Konstruktion verschwindend gering. Er steigt in der Folge an, sinkt aber
zunächst immer wieder auf Werte unter 5 %. Erst im 18. Jahrhundert
erreicht er zuerst die 20%- und dann um 1770 sogar die 40%-Marke. In
der zweiten Jahrhunderthälfte wird also mehr als ein Drittel der unter-
suchten Zustandsadjektive in den Listeneinträgen zur argumentativ rele-
vanten Feststellung einer Eigenschaft gebraucht, andere Adjektive, wie
gezeigt, dagegen kaum. Eine Erklärung für diesen Befund soll auf Beob-
achtungen zum Wandel der Textsorte Nachlassinventar aufbauen.

4. Textsortenwandel
In dem Inventarausschnitt, der in Abschnitt 2 als Beispiel gegeben wird,
fällt auf, dass die Listeneinträge als vollständige Sätze organisiert sind: Jtem
nocht syntt dar xxxx honder. Die Nominalphrasen, mit denen die Gegenstän-
de bezeichnet werden, bilden das jeweilige Subjekt der Sätze und stehen
an letzter Stelle. Zusammen mit Jtem noch sorgt das in jedem Listeneintrag
des Textausschnitts verwendete Prädikat syntt dar für einen sehr hohen
Grad an Gleichartigkeit der Listeneinträge. Den Anteil der Inventare im
Korpus mit diesen Merkmalen zeigt das folgende Diagramm:
Adjektive in Inventarlisten 269

Diagramm 2: Profilierung der Textsorte Nachlassinventar in der Mitte des 16. Jahrhunderts
(Anteil der Inventare mit ausgewählten textlichen Merkmalen)

Mit durchgezogener dunkler Linie eingetragen ist der gleitende Mittelwert


des Anteils der Inventare, die satzförmige Listeneinträge mit ist / sind dar
bzw. dar ist / sind enthalten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts steigt der
Anteil an; in der Mitte des Jahrhunderts weist mehr als ein Viertel der
Inventare Listeneinträge mit dar ist / sind auf; der Anteil nimmt danach
allerdings rasch wieder ab. Der letzte Beleg stammt aus dem Jahr 1589
(vgl. Denkler 2006, 75f.). Die helle Linie zeigt die Entwicklung der Ein-
zelbuchung – die Verwendung einer eigenen Zeile für jeden Listeneintrag
– und die gepunktete Linie die Verwendung von item bzw. item noch als
lexikalische Markierung der Listeneinträge. Man erkennt, dass sich diese
drei Merkmale in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – wenn auch
nicht im gleichen Maße, so doch zeitgleich – zu Merkmalen der Inventar-
listen entwickeln, bevor sie ab etwa 1550 wieder abgebaut werden.15 Die
Kennzeichnung des Listenanfangs durch ein lexikalisches Gliederungssig-
nal (verschiedene volkssprachige Entsprechungen von lateinisch primo)
_____________
15 Der Abbau der genannten (und weiterer) Textsortenmerkmale lässt sich als Teil eines
umfassenden Prozesses der kulturellen Neuorientierung interpretieren (vgl. hierzu etwa
Lasch 1910 / 1972; Maas 1988), mit dem sich die sprachhistorische Forschung im Zuge
der Untersuchung des Schreibsprachenwechsels vom Niederdeutschen zum Neuhochdeut-
schen beschäftigt. In den westfälischen Inventaren werden ebenfalls ab der Mitte des 16.
Jahrhunderts sprachliche Neuerungen, zunächst vor allem im lautlich-graphischen Bereich,
übernommen, die aus dem hochdeutschen Sprachraum stammen. Zeitgleich kommt es zur
Übernahme weiterer Kulturtechniken aus dem Süden, wie der arabischen Zahlen (inkl. des
Stellenwertsystems) und der Datierung nach den Monatstagen (vgl. Denkler 2006, 44ff.).
Man kann hier von einem technology cluster sprechen (vgl. Denkler 2007, 455): In der Wahr-
nehmung der Übernehmer können verschiedene neue Technologien zusammengehören,
also ein Cluster bilden, sodass diese Technologien auch zusammen übernommen werden.
Daneben kommt es zu einem Abbau von etablierten bzw. sich etablierenden kulturellen
Mustern, der hier zur Nivellierung der Textsorte Nachlassinventar führt. Vgl. in diesem Zu-
sammenhang auch das Konzept der ‚kulturellen Expressivität‘ von Textsorten (Tophinke
1996, 103).
270 Markus Denkler

steigt zeitversetzt an – dies zeigt die gestrichelte Linie. Lexikalische Bau-


steine wie ten ersten, int erste, vor erst und erstlich haben Ende des 16. Jahr-
hunderts ihren Höhepunkt (vgl. Denkler 2006, 60f.); sie erscheinen in
knapp 60 % aller Inventare aus den letzten drei Jahrzehnten des 16. Jahr-
hunderts. Danach verlieren sie langsam an Bedeutung; im 18. Jahrhundert
werden sie kaum noch verwendet.

Diagramm 3: Profilierung der Textsorte Nachlassinventar Ende des 18. Jahrhunderts


(Anteil der Inventare mit ausgewählten textlichen Merkmalen)

Bei einem der besprochenen Merkmale ist eine weitere Trendwende zu


beobachten; der Gebrauch des Einzelbuchungsinventars nimmt Ende des
17. Jahrhunderts wieder zu und kann sich dann im 18. Jahrhundert gegen
das Textblockinventar durchsetzen (vgl. Denkler 2006, 67f.). Dieser An-
stieg ist verbunden mit dem Anstieg eines weiteren Merkmals der Inventa-
re im 18. Jahrhundert (s. Diagramm 3): der Taxierung der aufgelisteten
Gegenstände, also der Schätzung ihres Wertes. In Einzelbuchungsinventa-
ren können Taxierungen zu jedem gebuchten Gegenstand einzeln ange-
bracht werden; die Taxierungen können so auf dem Papier addiert wer-
den, um den Wert des Nachlasses rechnerisch zu bestimmen. Solche
‚rationalen‘ Nachlassinventare bilden dann Ende des 18. Jahrhunderts die
Grundlage für die Erhebung des Sterbfalls. Als Beispiel sei folgender Aus-
schnitt aus einem Nachlassinventar des Jahres 1733 abgedruckt (vgl. auch
Abb. 1):16

_____________
16 Fürstlich Bentheimisch-Steinfurtisches Archiv, Johanniterkommende Steinfurt, Akten 224,
fol. 163v.
Adjektive in Inventarlisten 271

[…] rth. sch. d.


Einen unbeschlahgenen wahgen setze ad 5
Zwey pfluge mit Egden setze ad 4
Zwey Erdt Kahren setze ad 2
ahn bette
Vier ZugesPredte bette setze ad 12
ahn bettlacken setze ad 3
Eine Kiste setze ad 3
Eine alte Kiste setze ad 1
Ein schap setze ad 4
Ein alt schap setze ad 1
Einen Langen dichß undt stule setze ad 2
Einen Runden dichß setze ad 1
Einen Kufferen Kessel groß 4 emmer ad 4
Einen Kufferen Kessel groß 2 emmer ad 2
Einen Eiernen pott so Klein setze ad 14
Zwey iserne potte setze ad 1
Zwey Halle undt tange setze ad 1
Eine pfanne Eisen undt Roster setze ad 1
ahn Holtzen geschier setze ad 3
Eine schnidtlahde undt messer setze ad 1
flogels grepen undt wannen setze ad 1
bracken HasPels undt sPinrade setze ad 1
Exze barde schutten undt siegde setze ad 2
Summa 163

Homoet u.a. (1982, 12ff.) führen vor Augen, wie in den verschiedenen
Aktennotizen des Stiftes Quernheim (Ostwestfalen) auf die Inventare
verwiesen wird, um den Betrag, der an das Stift zu entrichten ist, festzu-
setzen und schließlich die Zahlung zu quittieren.
Eine solche Analyse einzelner Textbausteine (vgl. Fritz 1993) mit vari-
ablenlinguistischen Methoden macht den Textsortenwandel greifbar. Die
Merkmale können sich zu prototypischen Mustern verdichten und somit
intertextuelle Konstanten und Variablen sichtbar machen (vgl. auch
Warnke 1996).
272 Markus Denkler

Abbildung 1: Nachlassinventar aus dem Jahr 1733 aus Burgsteinfurt (Ausschnitt)


Adjektive in Inventarlisten 273

Die starke Zunahme im Gebrauch der Topik-Kommentar-Konstruk-


tion mit Zustandsadjektiv erfolgte ungefähr zur selben Zeit wie die Profi-
lierung des Nachlassinventars zu einem rationalen Instrument der Abga-
benerhebung (Einzelbuchung, zeilenbezogene Taxierungen zur rechneri-
schen Ermittlung des Wertes der nachgelassenen Güter). Derart aufgebau-
te Inventare beförderten diese Strukturen, denn Angaben zum Zustand
der inventarisierten Gegenstände waren von großer Relevanz – nicht für
die Verbuchung an sich, sondern für die Taxierung. Sie stellten ein wichti-
ges Bindeglied zwischen diesen beiden Informationssparten dar; insbe-
sondere Abweichungen von einer allgemein üblichen Wertansetzung be-
durften einer ‚Begründung‘. Insofern lag es nahe ‚ausdrückliche‘ Muster
zur Determination zu verwenden. Die Listeneinträge können also mit dem
kommentierenden Zustandsadjektiv eine weitere Informationssparte ent-
halten, die zwischen der eigentlichen Verbuchung des Gegenstandes und
der Taxierung steht, sodass ein Eintrag maximal aus Ordnungszahl, nume-
rischer Angabe, Gegenstandsbezeichnung, Bemerkung zum Zustand und
Taxierung zusammengesetzt ist:17
30, ein klapptisch alt – 12 [reichstaler] –
Ordnungszahl Anzahl Gegenstandsbezeichnung Zustand Taxierung

5. Zusammenfassung
In diesem Beitrag wurde ein Fall von pragmatisch indizierter Syntax vor-
gestellt: Die Gebrauchsfrequenz von Konstruktionen des Typs 6 hemde
schlecht (mit evaluierendem Adjektiv) nimmt in westfälischen Nachlassin-
ventaren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zu. Diese Zu-
nahme lässt sich als Merkmal eines umfassenden Textsortenwandels erklä-
ren.
Die neu entstandene Textsorte Nachlassinventar wird zunächst durch
den Einbezug von Elementen der traditionellen lateinischen Schriftpraxis
(primo-item-Liste) profiliert. Diese Profilierung wird noch während des 16.
Jahrhunderts aufgrund einer kulturellen Neuorientierung aufgegeben. So
kommt es wieder zu einer Nivellierung dieser Textsorte. Im 18. Jahrhun-
dert entwickelt sie sich dann zu einem rationalen Instrument der Abga-
benerhebung: Merkmale gewinnen an Bedeutung, die dazu geeignet sind,
das Inventar zu einem transparenten Dokument der Nachlasstaxierung
und damit zu einer verlässlichen Grundlage einer späteren Festsetzung der
_____________
17 Wie das vorgenannte Beispiel zeigt, wird in den Inventaren durch lexikalische Bausteine
wie setze ad, ad oder estemieret explizit eine Verbindung zwischen der Verbuchung der Ge-
genstände und der Taxierung angezeigt (vgl. Denkler 2006, 69).
274 Markus Denkler

Abgabe zu machen. Die Anschlusskommunikation spielt nun also eine


größere Rolle als noch im 17. Jahrhundert: Auf der Grundlage der Inven-
tare und mit ausdrücklichem Bezug zu den Inventaren werden Texte er-
stellt, mit denen die Abgabe festgelegt sowie zuletzt die Bezahlung quit-
tiert wird (vgl. Homoet u.a. 1982, 12f.).
So bildet sich in den Inventaren eine Reihe von Textsortenmerkmalen
heraus, die vor allem mit der seriellen und gleichförmigen Anordnung von
Informationen oder generell mit der gezielten Nutzung des Raums auf der
Seite zu tun hat. Große Bedeutung kommt hierbei also sprachökonomi-
schen und optisch-graphischen Faktoren zu. In diesem Kontext sind auch
Konstruktionen des Typs 1. Mannskleid mittelmäßig (Quernheim 1771) zu
sehen, deren Gebrauch zunimmt. Es handelt sich dabei um doppelt rhe-
matische Topik-Kommentar-Strukturen mit evaluierendem Adjektiv. Die
Verwendung dieser durch Kürze gekennzeichneten Konstruktion ist zum
einen mit den angesprochenen sprachökonomischen und optisch-
graphischen Faktoren zu erklären. Zum anderen sorgt das Adjektiv in
diesem Format für eine ausdrückliche Feststellung einer in Bezug auf die
Textfunktion relevanten Information.

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Althochdeutsch
Additive und adversative Konnektoren
im Althochdeutschen

Hans-Werner Eroms (Passau)

1. Additive und adversative Koordination


Die Erforschung der Konnexion in Satz und Text hat in den letzten Jah-
ren einen großen Aufschwung zu verzeichnen. Dies gilt zunächst in syn-
chron-funktionaler Hinsicht. Es sei nur auf das Handbuch der deutschen Kon-
nektoren verwiesen 1 , das in einem ersten Band die Semantik der
parataktischen und hypotaktischen Konnektoren im Deutschen erfasst.
Ein zweiter Band, der der Syntax gewidmet sein wird, ist in Vorbereitung.
Auch der sprachgeschichtliche Aspekt hat zunehmend Beachtung ge-
funden. Der von Yvon Desportes herausgegebene Sammelband Konnekto-
ren im älteren Deutsch 2 untersucht vor allem das Althochdeutsche, ein kurzer
diachroner Abriss findet sich in der Abhandlung „De l’érosion des con-
necteurs et de la précession des ligateurs“ von Eroms. 3
Semantische und syntaktische Aspekte sind in der Behandlung der
Konnektoren kaum zu trennen. Das zeigen die zahlreichen Arbeiten vor
allem zur Koordinationsreduktion. Insbesondere die Arbeiten der genera-
tiv-transformationellen Grammatik haben den Blick dafür geschärft, dass
„unter der Oberfläche“ der Phrasen und Sätze Prozesse ablaufen, die
ihren Niederschlag in kompakten Oberflächenstrukturen finden. 4 Gerade
die auf den ersten Blick so einsträngig und in ihrer Funktion einfach er-
scheinende „reine“ Koordination, die in der deutschen Gegenwartsspra-
che durch den Konnektor und vorgenommen wird, verstellt den Blick

_____________
1 Vgl. Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003).
2 Vgl. Desportes (Hrsg.) (2003).
3 Vgl. Eroms (1996, 329ff.).
4 Auf den grammatiktheoretischen Aspekt kann hier nicht eingegangen werden. Es sei hier
auf die Überblicksartikel zur generativ bestimmten Sicht von van Oirsouw (1993, 748ff.)
und zur dependenziellen Darstellungsweise von Lobin (2006, 973ff.) verwiesen.
280 Hans-Werner Eroms

dafür, dass Koordination ein höchst komplexer Vorgang ist, der sich zu-
dem aus unterschiedlichen Quellen speist.
In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass in der ge-
schichtlichen Darstellung der deutschen Syntax von Otto Behaghel die
Konnektoren nicht in ihrer historischen Schichtung erfasst werden. Be-
haghel behandelt sie in ihren hypo- und parataktischen Funktionen unter
dem Titel „Die Konjunktionen“ in alphabetischer Reihenfolge.5 Erklärlich
ist dieses Vorgehen nur, wenn man annimmt, dass die Funktionsunter-
schiede jeweils klar an die lexikalische Form gebunden sind und dass diese
sich im Laufe der Sprachgeschichte relativ gleichartig verändern.
Die Veränderungen, denen die Konnektoren unterworfen sind, betref-
fen meist aber das jeweilige Feld, in dem sie stehen, als Ganzes. Im Be-
reich der Subjunktoren ist dies seit Jahrzehnten für die kausalen Konnek-
toren ein Dauerthema in der Forschung, vor allem auch, weil sich hier
Übergänge zu parataktischen Konstruktionen zeigen.6
Aber auch die einzelnen Konnektoren weisen keinesfalls immer eine
konstante Bedeutung auf, weder synchron-funktional, noch im histori-
schen Prozess. Exemplarisch lässt sich dafür für das Althochdeutsche auf
den Kernbereich der Konnektoren verweisen. Die in der deutschen Ge-
genwartssprache unmarkiert geltende Konjunktion und etabliert sich erst
im Althochdeutschen und verdrängt ihre Konkurrenten, und der adversa-
tive Konnektor avur kommt gerade erst auf, er manifestiert sich im Rah-
men eines längeren Prozesses im Deutschen. Er bekommt im Laufe der
Sprachgeschichte mehrere Konkurrenten, vor allem allein und in der
jüngsten Zeit nur.7 Sprachgeschichtlich und typologisch ist es von großem
Interesse, dass diese beiden Konnektorentypen, der additive und der ad-
versative, funktionsverwandt, ja im Gebrauch teilweise austauschbar sind.
Begründet ist dies häufig dadurch, dass die Wörter gleiche Wurzeln haben
oder dass ähnliche Wurzeln konvergieren, wie an der Etymologie von und
gezeigt worden ist. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Der
tiefere Grund für solche Konvergenzen ist aber ein diskursiv-textuelles
Moment: Das „Anknüpfen weiterer Gesichtspunkte“ im Text und im
Diskurs bedient sich vornehmlich der Strategie der Absetzung vom bisher
Angeführten. Dies ist besonders deutlich in dialogischen Situationen. Bei
ihnen erfolgt die Anknüpfung sehr häufig dadurch, dass zu einer geäußer-
ten Ansicht des Gesprächspartners eine dazu konträre oder zumindest in
andere Bereiche reichende Ansicht vorgetragen wird. Dafür sind merkli-
che Signale, vor allem an der Satzspitze nötig, um die Aufmerksamkeit des
_____________
5 Behaghel (1928, 48ff.).
6 Vgl. zusammenfassend: Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003, 369ff., 392ff., 403ff.).
7 Vgl. Pérennec (1989, 451ff.) und Eroms (1994, 285ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 281

Gesprächspartners zu erregen.8 In monologischen Texten kann man sich


die dialogische Situation gleichsam auf eine einzige Ebene verlagert den-
ken, in der die unter Umständen nötigen Gegenmeinungen von der spre-
chenden oder schreibenden Person selber vorgetragen werden. Alle diese
Strategien unterliegen der stilistischen Abnutzung und Abschwächung.
Zwar verdrängt der adversative Konnektorentyp den additiven nicht
grundsätzlich, aber die einfache Koordination mit dem Konnektor und
lässt häufig eine adversative Komponente erkennen.

1.1. Additive Verknüpfung

Wenden wir uns zunächst den Bezeichnungsmöglichkeiten für die einfa-


che Verknüpfung, die additive Koordination, im Althochdeutschen zu.

1.1.1. enti / inti im Althochdeutschen

Zu beginnen ist mit den Vorgängern der nhd. Konjunktion und: enti und
inti. Verbreitung und Etymologie von ahd. enti und inti sind mehrfach
gründlicher untersucht worden. Die Monographie von Edward H. Sehrt9
und die Abhandlung von Rosemarie Lühr10 haben die Vorgeschichte des
nhd. Wortes und geklärt. Dieses geht auf die ahd. Form inti zurück, wäh-
rend sich germ. anti direkt z.B. in engl. and fortsetzt. Strittig war und ist
aber das genaue Verhältnis der beiden Formen enti und inti zueinander.
Während R. Lühr in Bezug auf enti und inti für eine gemeinsame Wurzel
plädiert und die Formenunterschiedlichkeit durch vorurgermanische Ent-
wicklungen erklärt, geht Búa11 direkter von zwei vorgermanischen Varian-
ten aus. Wie sie sich im Indogermanischen zueinander verhalten, ist für
unsere Zwecke nicht erheblich. Es ist aber davon auszugehen, dass die
ursprüngliche Bedeutung von germ. *anþi 'demgegenüber, dagegen' gewe-
sen ist.12 Als etymologische Anknüpfungspunkte kann hier auf Wörter wie
lat. anti oder deutsch Antwort (im Sinne etwa von 'das Gegen-Wort, das
Wider-Wort') verwiesen werden. Die „Entgegensetzung“, die mit ant- zum
Ausdruck gebracht wird, ist jedenfalls deutlich. Die genaue Herleitung der
heute im Deutschen ausschließlich herrschenden Form und kann hier of-
fen bleiben. Sie ist jedoch zweifellos aus inti, wahrscheinlich über eine
_____________
8 Vgl. für die deutsche Gegenwartssprache Christl (2004).
9 Vgl. Sehrt (1916).
10 Vgl. Lühr (1979, 117ff.).
11 Vgl. Búa (2005, 111ff.).
12 Vgl. ebd., 118.
282 Hans-Werner Eroms

Rundungs-Entdrundungsversion entstanden. Kaum geklärt werden kann,


ob die additive Bedeutung 'und' zunächst stärker an die inti- und weniger
an die enti-Formen geknüpft gewesen ist. Es kann sich entweder um eine
schon vor dem Aufkommen verschrifteter Formen bestehende Konver-
genz handeln, oder aber die beiden Formen weisen parallele Entwicklun-
gen auf, wobei im Verlauf der Sprachgeschichte die eine, inti, und, die an-
dere, enti (aus anti) verdrängt. Dies scheint mir die wahrscheinlichere
Entwicklung zu sein. Denn die „Abschwächung“ adversativer Bedeutun-
gen zu einer rein additiven ist ein universaler Vorgang.13
Thomas L. Markey schreibt in seinem Artikel über den Konnektor und
im Althochdeutschen: „We find the contrastive, adversative semantics of
and highly significant.“14 Die adversative Bedeutung von enti lässt sich an
einer prominenten Stelle des Wessobrunner Gebetes sehr deutlich erken-
nen:
(1) Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo,
enti do uuas der eino almahtico cot,
manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan
cootlihhe geista. enti cot heilac... (Wessobrunner Hymnus und
Gebet 6-9, Althochdeutsches Lesebuch, 86)
Damals gab es da nichts an Enden und Grenzen. Aber da war der eine all-
mächtige Gott, der gütigste der Männer; und da waren bei ihm auch viele
edle Geister.
Das erste enti zeigt die adversative Setzung sehr deutlich, die folgenden
sind in ihrer Funktion eher kopulativ. Allgemein lässt sich über den Passus
und die Bestimmung der Bedeutung von enti sagen: Im epischen Fortgang
fällt das konnektive und und das adversative aber an den Stellen dramati-
scher Zuspitzung zusammen, wie es hier deutlich zu sehen ist. In jedem
Fall ist enti der Konnektor im Althochdeutschen, der für die Signalisierung
adversativer und additiver Verhältnisse allmählich an die Stelle von joh
tritt.

1.1.2. joh im Althochdeutschen

Dieser Konnektor stirbt im Althochdeutschen langsam ab. Etymologisch


scheint joh eine Zusammensetzung eines pronominalen j- oder der Partikel
ja mit der Partikel ouh zu sein,15 es ist also verweisend. Im Deutschen hat
_____________
13 Vgl. Búa (2005, 118).
14 Markey (1987, 391).
15 Vgl. Grimm / Grimm (1877, Sp. 2327).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 283

ouh kopulativen, aber ebenfalls auch adversativen Sinn. Die Frühgeschich-


te dieses Wortes ist von Duplâtre herausgearbeitet worden.16 Auch hier
finden wir wieder mehrere Wurzeln, die im Laufe der Sprachgeschichte
konvergieren. Bestimmend scheint der Bezug auf eine Wurzel zu sein, die
in indogerm. *aug- 'vermehren' eine Bedeutung des Hinzufügens erkennen
lässt.
Was die Bedeutung und die Funktion von joh im Vergleich mit enti /
inti betrifft, so heißt es bei Otto Behaghel:
Der Gegensatz beider ist lediglich zeitlicher Art: joh ist das ältere, im Untergang
begriffene Wort (es reicht nur noch in Ausläufern ins Mhd. hinein), enti das an
seine Stelle tretende jüngere Wort. Schon im Isidor wird joh nur noch ganz ver-
einzelt zur Verbindung von Wortgruppen oder Sätzen verwandt, meist nur noch
zur Verknüpfung von zweigliedrigen Formeln, die ja gerne das Ältere weiter füh-
ren.17
Das Verhältnis entspreche etwa lat. et und -que, wie man es zum Beispiel in
den Murbacher Hymnen sehen könne. Hier finden wir zudem die bis zum
Neuhochdeutschen fortlebende Konnektivpartikel auh, quoque, deren
Grundfunktion ebenfalls adversativ-konnektiv ist:
(2) ioh dera naht mittera zite
paul auh inti sileas
christ kabuntane in charchare
samant lobonte inpuntan uurtun.
Noctisque medię tempore
paulus quoque et sileas
christum uincti in carcere
conlaudantes soluti sunt. (Murb. Hymn. I, 11-14)
Und zur Mitternachtszeit wurden Paulus und Sileas, als sie gefesselt im
Kerker gemeinsam Christus lobten, losgebunden.
Im Folgenden wird auf die Abgrenzung und eine mögliche Deutung funk-
tionaler Unterschiedlichkeiten der Konnektoren im Althochdeutschen
genauer eingegangen.

1.1.3. enti / inti und ioh im Althochdeutschen

Wie unsere Überlegungen zu Anfang und die Eingangsbeispiele erkennen


ließen, ist die Situation im Althochdeutschen u.a. dadurch gekennzeichnet,
dass für die einfache Verknüpfung zwei Ausdrücke zur Verfügung stehen,
_____________
16 Vgl. Duplâtre (2006, 73ff.).
17 Behaghel (1928, 200).
284 Hans-Werner Eroms

enti / inti und ioh. Ihre regionale Verteilung und ihre Abgrenzung zu ande-
ren Konnektoren wird bei Markey18 genauer analysiert.
Aufschlussreich ist jedoch, dass sich weder eine scharfe Abgrenzung
in regionaler Hinsicht findet, noch dass in den einzelnen Denkmälern nur
jeweils ein Konnektor vorkommt. Der Normalfall ist eher der, dass beide
Konnektoren begegnen. Daher liegt es nahe, dass immer wieder nach
Bedeutungsunterschieden oder sonstigen funktional zu verstehenden Un-
terscheidungen gesucht worden ist, wie es das obige Zitat von Otto Be-
haghel schon zeigt. Behaghel plädiert allerdings eher für funktionale Iden-
tität und nur für ein zeitliches Nacheinander der beiden Ausdrücke. Bei
Piper heißt es aber zu joh:
Die Erscheinungen sind hier ähnlich wie bei inti, nur verbindet letzteres mehr das
durch seinen Inhalt auf einander Angewiesene und unter sich Zusammenhängen-
de, während ioh die zufällige äussere Verbindung ausdrückt.19
Valentin formuliert für Otfrid die Abgrenzung folgendermaßen:
Otfrids Sprache gehört prinzipiell dem ioh-Bereich, nicht dem inti-Bereich an. joh
ist der normale kopulative Konnektor, der besagt, dass zwei oder mehr Proposi-
tionen oder Äußerungen zusammengenommen werden sollen, das heißt, dass sie
zusammen eine höhere argumentative Einheit bilden.20
Die Suche nach Unterscheidungsmöglichkeiten ist nur zu berechtigt, wenn
die Ergebnisse auch allenfalls zu subtilen Unterschieden führen. Denn das
Vorkommen mehrerer Konnektoren für die Bezeichnung der einfachen
Anknüpfung im Althochdeutschen ist sprachvergleichend gesehen kein
Einzelfall. Das bekannteste Beispiel ist das Latein, das mit et, dem enkliti-
schen -que und weiteren Konnektoren, vor allem ac und atque eine ähnliche
Situation aufweist. Während die Tendenz im Deutschen seit dem Mittel-
hochdeutschen dahin geht, das Vorkommen mehrerer kopulativer Kon-
nektoren zurückzunehmen, ist das Althochdeutsche eben durch eine ganz
andere Situation gekennzeichnet: durch das Nebeneinanderbestehen meh-
rerer Konnektoren, wenn sich auch schon deutlich abzeichnet, wohin die
Entwicklung gehen wird. Im Heliand ist das Nebeneinandervorkommen
mehrerer Konnektoren noch ausgeprägter als im Althochdeutschen. Ne-
ben endi als dem am häufigsten belegten Konnektor kommt noch eine
Reihe weiterer Ausdrücke vor, die zur Signalisierung des Anschlusses
dienen: ia, ge / gi, gie / gia, iac, gec und giac. Diese Wörter sind sehr unter-
schiedlich häufig belegt. So kommt ia 16-mal vor, gec ist nur einmal be-
legt.21 Die Bedeutungsbestimmung ist nicht ganz einfach. In den meisten
_____________
18 Vgl. Markey (1987, 380ff.).
19 Piper (1884, 225).
20 Valentin (2003, 185).
21 Vgl. Robin (2003, 140ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 285

Fällen scheinen die Konnektoren austauschbar zu sein. Doch ist der jewei-
lige semantische Weg unterschiedlich. So vermutet Robin: „Der Konjunk-
tor ia funktioniert wie ein Korrelator, das heißt, er weist auf eine ältere
Stufe des Konnektierens hin.“22
Auch im Althochdeutschen lassen sich Schichtungen erkennen. Auf
sie wird im Folgenden noch eingegangen. Allerdings ist es nicht einfach,
Schichtungen in ihrer historischen Dimension auszumachen. Daher sollen
hauptsächlich funktionale Unterschiedlichkeiten, so weit sie überhaupt zu
erkennen sind, im Mittelpunkt stehen.
Koordinationen sind mit die häufigsten syntaktischen Operationen
und die Sprachen tendieren dahin, ihre morphologischen und syntakti-
schen Markierungen möglichst einfach zu bewerkstelligen. Dass die dabei
ablaufenden kognitiven Prozesse alles andere als einfach sind, zeigt für die
Syntax die kaum zu überblickende Zahl einschlägiger Arbeiten, wofür hier
nur auf den Überblicksartikel von Lobin für die Arbeiten des dependenz-
grammatischen Ansatzes hingewiesen werden soll.23 In der deutschen
Gegenwartssprache gibt es für die einfache Koordination in allen ihren
Ausprägungen nur den Konnektor und. Diese auf den ersten Blick redu-
zierte Sachlage wird allerdings durch eine Reihe von Maßnahmen kom-
pensiert. So lassen sich über das Konnektiv auch, wie verschiedentlich
gezeigt worden ist,24 konnektive Funktionen signalisieren, die dann weitere
Bedeutungselemente transportieren, worauf hier nicht weiter eingegangen
werden soll. Das Althochdeutsche ist dagegen typologisch eher als Nor-
malfall anzusehen, indem immerhin zwei Konnektoren zur Verfügung
stehen. Auf deren teilweise sehr unterschiedliche Verteilung in den größe-
ren Denkmälern wird weiter unten eingegangen. Schon ein Blick auf die
kleineren Denkmäler kann zeigen, dass inti und ioh nebeneinander vor-
kommen. So finden sich etwa im Ludwigslied und sogar in den Würzburger
Markbeschreibungen beide Ausdrücke:
(3) Thō nam her skild indi sper. (Braune 1994, 137) [Das Ludwigs-
lied, 42]
(4) Ioh alle saman sungun ‚Kyrrieleison‘. (Braune 1994, 137) [Das
Ludwigslied, 47]
(5) Sô sagant daz sô sî Uuirziburgo marcha unte Heitingesveldôno
unte quedent daz in dero marchu sî ieguuedar, ióh chirihsahha
sancti Kiliânes ióh frôno ióh frîero Franchôno erbi. (Braune
1994, 7f.) [Würzburger Markbeschreibungen]
_____________
22 Ebd., 141.
23 Vgl. Lobin (2006, 973ff.).
24 Zuletzt Duplâtre (2006, 81f.).
286 Hans-Werner Eroms

Ióh ist hier allerdings schon formelhaft festgelegt für die Ausdrucksweise
'sowohl … als auch'. So begegnet das Wort auch im Tatian, worauf noch
eingegangen wird.
Eine zweite Auffälligkeit des Althochdeutschen ist es, dass die mit der
Koordination verbundenen weiteren Funktionen aktiviert werden können.
Auch dies ist keine Besonderheit des Althochdeutschen an sich, denn das
ist wiederum universal zu erwarten. Wie wir aber bereits im Eingangsbei-
spiel aus dem Wessobrunner Gebet gesehen haben, ist das für enti offenbar
damit zu erklären, dass die beiden Wurzeln des Wortes durchschlagen. So
finden sich in vielen Denkmälern Belege für die adversative Funktion von
enti / inti. Im Ludwigslied heißt es etwa:
(6) Ther ther thanne thiob uuas, Ind er thanana ginas,
Nam sīna vaston: Sīdh uuarth her guot man.
Sum uuas lugināri, Sum skāchāri,
Sum fol lōses, Ind er gibuozta sih thes. (Braune 1994, 137) [Das
Ludwigslied 15-18]
Aber auch er büßte das ab.

1.2.4. avur im Althochdeutschen

Bei diesem Konnektor ist die in der Gegenwartssprache herrschende ad-


versative Bedeutung sekundär. Ihre Entstehung lässt sich als konversatio-
nelle Implikatur der Ausgangsbedeutung 'wieder, wiederum' denken, wie
sie sich im Althochdeutschen in der Mehrzahl der Verwendungen findet
und sich auch in der Gegenwartssprache bis heute in der Wortbildung,
etwa bei abermals nachweisen lässt. Wie enti / inti ist auch dieses Wort
Fortsetzer zweier urgermanischer Grundformen *afar und *afur.25 Das
Althochdeutsche Wörterbuch zeigt in seiner ausführlichen Dokumentati-
on der Belege den Weg von der Ausgangsbedeutung hin zur adversati-
ven.26 Erst bei Notker und Williram ist dieses Stadium vollgültig erreicht.
Vorher finden sich für die Markierung adversativer Verhältnisse nur ver-
einzelte Belege. In einer statistischen Aufbereitung zeigt Meineke für Wil-
lirams Paraphrase des Hohen Liedes, wie die Verteilung in diesem späten

_____________
25 Vgl. Lloyd / Springer / Lühr (1988, Sp. 401f.).
26 Vgl. Karg-Gasterstädt / Frings (1973, Sp. 700ff.). Die konjunktionalen Belege werden in
zwei Großgruppen gegliedert: „Gegenüberstellung, adversative Weiterführung“ (Sp. 715-
740) und „kopulative Weiterführung“ (Sp. 740-749). Auch hier wird deutlich, dass adversa-
tive und kopulative (additive) Anknüpfung bei einer Konjunktion, hier bei einer dominant
adversativen, nebeneinander bestehen.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 287

Denkmal aussieht.27 Danach weisen die überwiegende Mehrzahl der Bele-


ge die adversative und die übrigen Belege ein weites Spektrum von Bedeu-
tungen auf.28
Aber eignet sich in seiner adversativen Bedeutung in besonderem Ma-
ße dafür, in dialogischen Situationen, aber auch in monologischen Texten,
sowohl in argumentativen, als auch in erzählenden Textsorten in irgendei-
ner Weise gegensätzliche Positionen miteinander zu verbinden und über
diese gegensätzliche Anknüpfung einen Textfortschritt zu erzielen. Denn
unter stilistischen Gesichtspunkten wird eine „Verlebendigung“ auch des
Erzählten erwartet. Dazu tragen adversative Mittel in besonderem Maße
bei. Diese Mittel wiederum nutzen sich – womit ebenfalls allgemeine stilis-
tische Gesichtspunkte zum Tragen kommen – im Gebrauch schnell ab
und es werden neue Mittel benötigt. So konkurrieren in der deutschen
Sprache im Laufe der Zeit neben und in seiner adversativen Funktion aber
sowie doch und später allein und nur, das sich in der Gegenwartssprache
gerade als adversativer Konnektor mit der speziellen Bedeutung 'das gera-
de Gesagte ist mit folgender Einschränkung gültig' etabliert.29 Auch die
mit aber vorgenommene Verknüpfung setzt das gerade Gesagte nicht vol-
lends außer Kraft. Dies zeigt seine ursprüngliche Bedeutung, die auch in
der rein adversativen noch in dem Sinne aufrufbar ist, dass im Gegensatz
das vorher Angeführte als 'noch mit zu Bedenkendes' weitergilt.

2. Untersuchung additiver und adversativer Konnexion


in althochdeutschen Texten
Wenn auch die schon zitierte Ansicht von Behaghel überzeugt, dass
hauptsächlich das Alter der Quelle für die Distribution der konnektiven
Konjunktionen maßgeblich ist, so ändert das nichts an der Möglichkeit,
dass ein Text, der mehr als einen konnektiven Konnektor enthält, doch
eine Unterschiedlichkeit in der Verwendung erkennen lässt. Dies ist mit
gutem Grund verschiedentlich angenommen worden, worauf in Abschnitt
1.1.2. schon hingewiesen worden ist. Bevor auf die zu diesem Zweck in
der Forschung schon behandelten Textdenkmäler eingegangen wird, sol-
len zwei Denkmäler herangezogen werden, die bislang, soweit ich sehe,
unter diesem Gesichtspunkt noch keine genauere Beachtung gefunden
haben. Das eine sind die Murbacher Hymnen und das andere die Monseer
Fragmente.
_____________
27 Vgl. Meineke (2003, 41ff.).
28 Vgl. ebd., 64f. mit den Diagrammen 3 und 4.
29 Vgl. dazu Pérennec (1989, 451ff.) und Eroms (1994, 285ff.).
288 Hans-Werner Eroms

2.1. Die Murbacher Hymnen

Die Murbacher Hymnen sind deswegen für unseren Zweck sehr gut geeignet,
weil sie sich eng an den lateinischen Ausgangstext halten und erkennen
lassen, wie der Übersetzer versucht, die Unterschiedlichkeiten des Lateins
in seiner Sprache wiederzugeben. In diesem Denkmal finden sich inti, ioh
und ouh, dazu avvur, und diese Ausdrücke sind in ihrer Verwendung aus-
schließlich danach verteilt, welches lateinische Wort in der Vorlage steht.
So entspricht ausnahmslos inti lat. et, ioh -que und ac, ouh quoque. Dafür
einige Beispiele:
(7) lux lucis et fons luminis, leoht leohtes inti prun[n]o leohtes
(Murb. Hymn. III, 1,3)
(8) Et nos psallamus spiritu inti uuir singem atume (Murb.
Hymn. XIII, 3,1)
(9) Uerusque sol inlabere, uuarhaft ioh sunna in slifanne
(Murb. Hymn. III, 2,1)
(10) Christe, qui lux es et die christ du der leoht pist inti take
(Murb. Hymn. XVI, 1,1)
(11) omne cęlum atque terra eocalihc himil inti ioh herda (Murb.
Hymn. VII, 8,3)
(12) noctem discernis ac diem, naht untarsceidis ioh tak (Murb.
Hymn. XV, 1,2)
Während also et immer mit inti wiedergegeben wird und -que sowie ac mit
ioh, wird atque durch die Kombination der beiden althochdeutschen Kon-
nektoren ausgedrückt: inti ioh. Diese Entscheidung des Übersetzers mag
auf den ersten Blick etwas mechanisch anmuten, doch lässt sie erkennen,
dass die beiden Ausdrücke offensichtlich als mit leicht unterschiedlicher
Bedeutung anzusetzen sind. Dies lässt sich aber sicher nicht generalisieren.
Stellen wie die folgende legen nahe, dass auch im Lateinischen im Allge-
meinen kein Unterschied festzustellen ist:
(13) Aeternę rerum conditor, euuigo rachono felahanto
noctem diemque qui regis naht tac ioh ther rihtis
et temporum dans tempora, inti ziteo kepanti ziti (Murb. Hymn.
XXV, 1,1-3)
Dass der althochdeutsche Übersetzer nicht völlig mechanisch vorgegan-
gen ist, ist daraus zu erkennen, dass er an einer Stelle von der für -que obli-
gatorischen Nachstellung abweicht und die deutsche Wortstellung wählt:
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 289

(14) Quid hoc potest sublimius, uuaz diu mak hohira


ut culpa querat gratiam, daz sunta suache ast
metumque soluat caritas, ioh forahtvn arlose minna
reddatque mors uitam nouam argebe ioh tod lip niuuan (Murb.
Hymn. XX, 6)
In der dritten Zeile dieser Strophe wird die dem Deutschen angemessene
Wortstellung gewählt, während in der vierten wieder die mechanische
Umsetzung erfolgt.
Die Adversativpartikel auur entspricht an fünf von insgesamt 11 Bele-
gen ergo:
(15) Surgamus ergo strenue, arstantem auur snellicho
gallus iacentes excitat hano lickante uuechit (Murb. Hymn.
XXV, 5,1f.)
Eine wirklich adversative Bedeutung ist nicht auszumachen.

2.2. Die Monseer Texte

Die Texte aus der Monseer Gruppe sind aus einem anderen Grund auf-
schlussreich. Sie halten sich zwar auch an die Vorlage, lassen aber eine viel
größere Unabhängigkeit erkennen. Dies gilt bereits für die Bruchstücke
der Übersetzung des Matthäusevangeliums, die, wie die anderen Stücke
des Korpus, selbst wieder Umsetzungen einer rheinfränkischen Vorlage
sind.

2.2.1. Monseer Matthäus

Für die Situation im frühen Althochdeutschen ist die Übersetzung des


Monseer Matthäus besonders charakteristisch. Hier finden sich, wie in den
bisher betrachteten Denkmälern, ebenfalls enti und ioh nebeneinander.
Aber enti überwiegt ganz eindeutig. Das Wort kommt 352-mal vor, wäh-
rend ioh nur 25-mal belegt ist.30 Daraus lässt sich zunächst schließen, dass
der Text ein Beleg dafür ist, dass ioh auf dem Rückzug ist. Enti ist die
Konjunktion, die sich bereits als die normale durchgesetzt hat. Auf-
schlussreich ist es aber, genauer zu prüfen, in welchen Konstruktionen ioh
noch vorkommt und wo enti eindeutig dominiert. Enti wird in verbenthal-
_____________
30 Auszählungen nach dem Titus-Projekt der Universität Frankfurt (Texteingabe: Emil
Kroymann, Berlin 2005, Korrekturen, Formatierung und Annotationen von Thorwald Po-
schenrieder, Berlin 24.1. 2006, Textversion von Jost Gippert, Frankfurt 29.6. 2006).
290 Hans-Werner Eroms

tenden Strukturen sehr häufig, in nominalen weniger verwendet. Die we-


nigen Vorkommen von enti in nominalen Koordinationsstrukturen sind
solche, bei denen das angeschlossene Glied einfache Koordinationsreduk-
tion zeigt:
(16) Duo uuart imo fram brun gan der tiubil hapta uuas — blinter enti
stum mer enti ga heilta inan so daz — aer ga sprah enti ga sah; Enti
uuntrentiu uur tun elliu dhiu folc enti quatun inu — nu dese ist
dauites sunu; (Monseer Fragm. V, 14-18)
Ioh begegnet z.B. an folgenden Stellen:
(17) so huuer so auh — in ernust — uuillun — uurchit mines fater — der
inhimilū — ist — Der ist miin bruoder — enti suester — ioh moter;
(Monseer Fragm. VII, 27-29)
(18) enti fuorun uz — sine scalcha in dea uuega enti kasamnotun alle
so huuelihhe so sie funtun — ubile ioh guote (Monseer Fragm.
XV, 21-23)
(19) Enti dęr suerit — bi demo temple — suerit in demo ioh in demo —
dar inne ar tot — Enti dær suerit bi himile — suerit — bi hoh sedle
gotes — ioh bi demo dar oba *** (Monseer Fragm. XVII, 12-14)
Hier lässt sich gut ein nicht nur im Monseer Matthäus offensichtlicher Un-
terschied zwischen enti und ioh erkennen: Enti steht hier als Konnektor
zwischen Sätzen, bindet also Propositionen mit ihrem Satzmodus, ioh ist
Konnektor auf tieferer Ebene. Allerdings kommt ioh auch in der satzver-
bindenden Funktion vor:
(20) Enti qui dit Ibu uuir uuarim in unserero for drono tagum — ni
uuarim — uuir — iro —ka mahhun in fora sagono bluote — Ioh des
birut — ir — iu selbun urchundun — daz ir dero suni birut dero dea
fora sagun sluo gun. (Monseer Fragm. XVIII, 8-12)
(21) Ant uur tun deo uuisorun — quuedanteo — Niodo nist — uns — ioh —
iu — hear — kanoga (Monseer Fragm. XX, 12f.)
(22) Duo kasah iudas — der inan dar forreat — daz — ær ga ni drit uuas —
hrau — sih — duo enti arboot dea drizuc — pen di go — silabres dem
herostom — euuartū ioh dem furistom mannum (Monseer Fragm.
XXIII, 27-30)
(23) Bi diu ist eo — ga huuelih — scriba galerit — in himilo rihhę, Galiih
ist — manne — hiuuis ches — fater — der fram tregit — fona sinemo
horte — niu — uui — ioh fir Ni (Monseer Fragm. X, 26-28)
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 291

Als Fazit für den Monseer Matthäus lässt sich für das Verhältnis von enti und
ioh festhalten: Enti ist die gewöhnliche Konjunktion zum Ausdruck kon-
nektiver Verhältnisse. Die Verwendungsunterschiede zu ioh sind nicht sehr
auffällig. Enti scheint aber in verbenthaltenden Strukturen zu dominieren,
während ioh bei einfachen, vor allem in nominalen Konnexionen zu fin-
den ist. Als satzverbindender Konnektor, also in der Funktion, die wir
eingangs als besonders wichtig für die Textbildung benannt haben und in
der sich vor allem eine zu vermutende adversative Bedeutung bemerkbar
macht, ist enti im Monseer Matthäus mehrfach zu belegen. Da das Wort in
dieser Funktion das lateinische satzeinleitende et wiedergibt, ist nicht mit
letzter Sicherheit zu sagen, in wieweit sich hier eigenständige Möglichkei-
ten zeigen oder sich nur die Übersetzung niederschlägt.
Als adversative Konjunktionen kommen im Monseer Matthäus auh und
auur vor. Auh ist 52-mal belegt, auur nur 31-mal. Die oben angeführte
Textstelle (16) wird fortgesetzt mit
(24) Pharisaera auh daz — ga horrente quua tun — dese ni uz tribit tiubila
nibu durah beelze bub tiubilo furostun — (Monseer Fragm. V, 19-
21)
Die Gegensatzbedeutung ist in vielen Belegen zu erkennen, so etwa in der
der angeführten Textstelle unmittelbar folgenden:
(25) Iħs auh uuissa — iro ga dancha — Quuad im […] (Monseer Fragm.
V, 22)
Besonders bei Verben des Sagens ist dies bemerkbar:
(26) Ih sagem auh — iu — daz allero uuorto — un bi dar bero — diu — man
sprehhant — redea sculun dhes argeban — in tuom tage […] (Mon-
seer Fragm. VI, 21-23)
Auh hat aber auch die konnektive Bedeutung 'auch', so in den folgenden
Stellen:
(27) Auh ist — galihsam — himilo rihhe — demo — suohhenti ist — guote —
mari greoza — fun tan — auh — ein tiur lich — mari greoz — genc —
enti for chaufta — al daz — aer — hapta — enti ga chauf ta — den —
Auh ist galiih himilo rihhi — seginun […] (Monseer Fragm. X, 12-
16)
Dies ist besonders deutlich an der folgenden Stelle:
(28) enti quatun petre Zauuare du auh dero bist — *** auh diin
sprahha — dih for meldet (Monseer Fragm. XXIII, 14f.)
292 Hans-Werner Eroms

In dieser Funktion steht es auch satzeinleitend, wie die vorher angeführten


Belege zeigen.
Der Konnektor auh (ouh) ist für das Althochdeutsche durch die Arbeit
von Desportes31 gut untersucht, Eroms32 führt die Analyse für das Mittel-
hochdeutsche weiter. Während auh in der althochdeutschen Isidorüberset-
zung besonders nachdrücklich die rational-argumentierenden Funktionen
zum Ausdruck bringt, ist etwa in den Erzähltexten Wolframs von
Eschenbach ein weites Spektrum von Bedeutungen nachzuweisen. Wich-
tig ist ferner, dass bei auh, wie bei enti / inti und avur / avar, anscheinend
mehrere Wurzeln konvergieren.33 Auuar lässt im Monseer Matthäus gut seine
Bedeutung 'abermals, wiederum' erkennen, allerdings nur an wenigen Stel-
len:
(29) der frumita bruthlauft sinemo sune enti sentita sine scalcha —
halon dea kaladotun za demo brut — hlaufte — enti ni uueltun —
queman — Auuar sentita andre scalcha (Monseer Fragm. XV, 6-9)
Mehrmals findet sich die bis in die Gegenwartssprache belegbare Nach-
stellung des Wortes nach einem nominalen Ausdruck im Vorfeld:
(30) Daz auuar — in guota — haerda — uuarth gasait — daz ist der uuort —
gahorit — enti for stan tit — (Monseer Fragm. IX, 19f.)
Auch nach ibu findet sich das Wort (Monseer Fragm. XIV, 13). Die alt-
hochdeutschen Wortstellungsmöglichkeiten lassen es zu, dass das Wort
auch die Drittstelle im Satz einnimmt:
(31) Siedes auuar ni rohhitun (Monseer Fragm. XV, 11)
Ähnliches gilt für Imperativstrukturen:
(32) Ferit auur — uz in daz kalaz dero uuego (Monseer Fragm.
XV, 19f.)
Für auuar ist zusammenfassend festzustellen: Das Wort lässt überwiegend
seine adversative Bedeutung erkennen. Es lehnt sich häufig an das Vor-
gängerwort an und fokussiert es, so dass der im Satz zum Ausdruck ge-
brachte Gegensatz zum vorher Gesagten als fokussierte Fortführung un-
ter einer gegensätzlichen Perspektive erscheint. Als unabhängige adversa-
tive Konjunktion ist das Wort noch nicht zu belegen.
So ergibt sich für den Monseer Matthäus folgendes Bild: Enti ist der
vorherrschende konnektive Konnektor. Er lässt alle Funktionen erkennen,
_____________
31 Vgl. Desportes (2003, 271ff.).
32 Vgl. Eroms (2006, 105ff.).
33 Vgl. Duplâtre (2006), 74) und Kluge (1999, 61f.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 293

die auch sonst im Althochdeutschen begegnen. Ioh ist aber auch noch
vorhanden, wenn sein Vorkommen auch auf weniger als ein Zehntel der
Belege von enti geschrumpft ist. Bemerkenswert ist, dass enti vielfach die
„biblische“,34 durch das Latein vermittelte Anschlussfunktion von Sätzen,
die mit dem Wort beginnen, aufweist. Eine solche Anknüpfungsweise
lässt sich bis zu einem gewissen Grade als adversativ auffassen und ist
sicher ein Grund dafür, dass das in späterer Zeit explizit den Gegensatz
markierende auuar noch nicht in dieser Funktion benötigt wurde.

2.2.2. Die übrigen Texte der Monseer Gruppe

Die Beobachtungen, die sich für die Konnektoren im Monseer Matthäus


finden, lassen sich mit gewissen Abstrichen auf die im gleichen Korpus
überlieferte Homilie De vocatione gentium, das Fragment einer weiteren Ho-
milie, die Augustinische Predigt LXXVI, sowie Isidors Traktat De fide catholica
contra Judaeos übertragen. Für den letzteren kann – punktuell – ein Ver-
gleich mit dem althochdeutschen Isidor vorgenommen werden.

2.2.2.1. enti und ioh


Die satzeinleitende Funktion von enti ist in diesen Texten noch ausgepräg-
ter als im Monseer Matthäus:
(33) Enti ih uuillu daz — du for stantes — heilac — karuni — huuanta ih
bim truhtin (Monseer Fragm. XXXIV, 9f.)
Vergleichbare Fälle kommen 21-mal vor. Diese Funktion ist sicher durch
die argumentative Textsorte bedingt. Wenn auch die Überlieferung der
Monseer Textgruppe insgesamt fragmentarisch ist, so ist doch ein rudi-
mentärer Vergleich erzählender und argumentativer Textpassagen mög-
lich. Bei enti fällt unter anderem auf, dass sich hier besonders koordinative
Verkettungen finden:
(34) Enti so — auh gascriban ist; Daz xpīst — ist — haubit — allero —
cristanero — enti — alle dea — gachora nun — gote — sintun sines —
haubites — lidi; Enti — auh der — selbo — aposłs — diz quad; Gotes —
minni — ist — gagozan — in unseremuot — uuillun […](Monseer
Fragm. XXIX, 5-8)
(35) Der selbo auh — hear after folgento quad — Lobo enti frauuui dih
— siones tohter — bidiu huuanta see ih quimu — enti in dir mit teru
— arton — quad truhtin. Enti in demo tage — uuer dant manago
_____________
34 Vgl. den Beitrag von Natalia Montoto Ballestros in diesem Band.
294 Hans-Werner Eroms

deotun — kasamnato — zatruhtine — enti uuer dant mine liuti — enti


ih arton in dir mitteru — Enti du uueist — daz uueradeota truhtin
sentita mih za dir — (Monseer Fragm. XXXV, 12-17)
Die formelhafte Bindung zweier nominaler Ausdrücke mit ioh findet sich
auch in diesen Texten:
(36) daz er — ist got — ioh truhtin (Monseer Fragm. XXXIV, 2)
(37) In einerueo — gahuueliheru steti ga scauuuont enti gasehant gotes —
augun guote ioh ubile; (Monseer Fragm. XXVII, 22f.)
Diese „Zwillingsformeln“ werden bei vorausgehender Koordination, wie
im Monseer Matthäus, beim ersten Glied mit enti, beim zweiten mit ioh for-
muliert:
(38) Minno dinan — truhtin — got — allu her çin — enti in ana — uual geru
— dinero — selu — enti allu dinu muotu — ioh maganu; (Monseer
Fragm. XXX, 19-21)
Dass enti und ioh nicht nur in den Murbacher Hymnen, sondern auch vom
Verfasser des Monseer Matthäus beziehungsweise des Isidorübersetzers als
in der Bedeutung nicht gänzlich identisch aufgefasst werden, geht aus der
folgenden Stelle hervor:
(39) Diz quad truhtin — mine mo xpē truhtine — enti ioh daz ist — nu un
zui flo — leoht samo — za forstantanne — daz diz — ist gaquetan — in
unseres truhtines nemin (Monseer Fragm. XXXIV, 20-22)
Hier kommen enti und ioh unmittelbar hintereinander vor, und wenn die
Stelle nicht verderbt ist, müsste man sie mit 'und weiter, und fernerhin'
wiedergeben. In der Isidorübersetzung, also der Vorlage für den Monseer
Text, lauten die Verse ganz entsprechend,35 und sie haben keine direkte
Vorlage im Latein, sind also offenbar vom Übersetzer hinzugefügt.
Auch im Monseer Matthäus zeigt sich also, wie in anderer Weise in den
Murbacher Hymnen, dass die beiden Wörter nicht als völlig identisch
aufgefasst wurden. Dies wäre auch nicht zu erwarten. Dass das eine da-
von, ioh, im Absterben begriffen war, bedeutet nicht, dass es durch das
neue in völlig identischer Bedeutung ersetzt worden wäre. Wie oben
schon angedeutet, ist dies bei der Entwicklung von Bedeutungsfeldern
generell nicht zu erwarten.

_____________
35 Endi ioh dhazs ist nu unzuuiflo so leohtsamo zi firstandanne, dhaz dhiz ist chiquhedan in
unseres druhtines nemin (Der althochdeutsche Isidor 1893, 8).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 295

2.2.2.2. auh und auuar


Auuar / auar ist insgesamt in diesen Textpartien zehnmal belegt, auh 21-
mal.
(40) Uuarut — auh — iu — huanne — finstri — nu — auar leoht — (Monseer
Fragm. XL, 2)
Hier ist die Gegensatzbedeutung in ihrer dennoch dominanten Anknüp-
fungsfunktion deutlich. Bei auh scheint die Gegensatzbedeutung stärker
durchzuschlagen, vgl. die folgende Stelle:
(41) Enti so der selbo auh kascribit ******** — uuirde — enti lob — sanc
dir singe (Monseer Fragm. XXVIII, 16f.)
Sonst überwiegt die anknüpfende Bedeutung:
(42) Enti so — auh — gascriban ist; Daz xprīst — ist — haubit — allero —
christanero. (Monseer Fragm. XXIX, 5f.)

2.2.3. Vergleich des Monseer Matthäus und entsprechender Stellen


aus dem Tatian

Verglichen worden ist das Textstück Hench VI, VII und X (Tat. 62,8-12;
57,1-8; 76,5-77,15). Dabei sind, wie es bei Koordinationen fast immer der
Fall ist, die meisten Belege unspektakulär. Es dominieren bei enti / inti die
einfachen verbalen Koordinationen einschließlich der Vorkommen des
Wortes am Satzbeginn mit 16 Fällen, gefolgt von einfachen nominalen
(substantivischen und adjektivischen) Koordinationen (11 Fälle).
(43) so selb auh — so io nas uuas — in uuales uuambu — dri ta ga — enti
drio naht (Monseer Fragm. VII, 1f.)
(44) Soso uúas Ionas in thes uuales uuámbu thrí taga inti thriio naht
(Tat. 57,3)
tribus diebus et tribus noctibus
(45) Danne gengit enti ga halot — sibuni andre gheista — mit imo — uuir
sirun — danne — aer — enti in gan gante artont dar — enti uuer dant —
dea aftrun — des mannes argorun dem erirom. (Monseer Fragm.
VII, 15-18)
(46) Thanne ferit inti nimit sibun geista andere mit imo uuirsiron
thanne her si, inti ingangante artont thar, inti sint thanne thie
iungistun thes mannes uuirsirun then erirun. (Tat. 57,8)
296 Hans-Werner Eroms

Tunc vadit et assumet septem alios spiritus secum nequiores se,


et intrantes habitant ibi, et fiunt novissima hominis illius peiora
prioribus.
Hier ergeben sich erwartungsgemäß keine Unterschiede. Auf die seit län-
gerem bekannte, insbesondere in den Arbeiten von Klaus Matzel hervor-
gehobene souveräne Sprachkompetenz des Verfassers der Vorlagen der
Monseer Texte und auch des Monseer Schreibers36 braucht hier nicht
eingegangen zu werden. Doch ist auch bei unserer Thematik an einigen
Stellen die unabhängigere Formulierungskunst des Verfassers zu spüren,
etwa in der Handhabung des erst in jüngster Zeit gerecht gewürdigten
Tempus- und Aktionsartensystems des Althochdeutschen,37 das die Mög-
lichkeiten des Althochdeutschen selbständig nutzt. So werden etwa die
Verschränkungen der Verlaufsformen mit dem Erzähltempus des Präteri-
tums im Monseer Matthäus wesentlich selbständiger eingesetzt als im Tatian,
der allerdings durchaus auch die systematischen Möglichkeiten, die das
Althochdeutsche bietet, erkennen lässt (vgl. etwa den Textbeleg 56). Vor
allem aber ist für unseren Zusammenhang wichtig, dass im Monseer Mat-
thäus, anders als im Tatian, die adversative Bedeutungskomponente des
koordinativen Konnektors enti deutlich zu spüren ist, wie der folgende
Textbeleg zeigen kann:
(47) Enti aer ant uurta demo zaimo sprah — quad — h Huuer ist miin
muo ter enti huuer sintun mine bruo der — (Monseer Fragm. VII,
24f.)
Im Tatian wird der Anknüpfungsoperator thô, und zwar in Nachstellung
nach dem Subjekt verwendet:
(48) Hér thó ántlinginti imo sus quedantemo quad: uuie ist mín
muoter inti uuie sint mine bruder? (Tat. 59,3)
Thô ist, wie Betten38 und Simmler39 gezeigt haben, der hauptsächliche
Anknüpfungsoperator im Tatian. In der lateinischen Vorlage findet sich
die explizit adversative Konjunktion at:
(49) At ille respondens dicenti sibi ait: quæ est mater mea et qui sunt
fratres mei?
Der adversative Vergleich wird in beiden Texten mit enti bzw. inti ange-
schlossen, der lat. Text enthält et:
_____________
36 Vgl. Matzel (1970).
37 Vgl. vor allem Schrodt (2004, 1ff.).
38 Vgl. Betten (1987, 395ff.).
39 Vgl. Simmler (2003, 9ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 297

(50) Guot — man fona — guotemo — horte — au git guot — enti — ubil man
— fona ubilemo horte — ubil fram bringit — (Monseer Fragm. VI,
19f.)
(51) Guot man fon guotemo tresouue bringit guotu, inti ubil man fon
ubilemo tresouue bringit ubilu. (Tat. 62,11)
Bonus homo de bono thesauro profert bona, et malus homo de
malo thesauro profert mala.
Joh ist im Tatian insgesamt nur dreimal belegt. Zweimal gibt es lat. etiam
wieder (67,3 und 145,17). Der dritte Beleg enthält die Zwillingsformel
joh…joh (170,6), die lat. et…et wiedergibt. Hier hat sich also in einer Nische
die additive Bedeutung erhalten:
(52) Nu gisahun inti hazzotun ioh mih ioh minan fater. (Tat. 170,6)
Nunc autem et viderunt et oderunt et me et patrem meum.
Aus einem anderen Textstück lässt sich entnehmen, dass auch bei den
Konnektiven auh und abur Unterschiede zwischen dem Monseer Matthäus
und dem Tatian bestehen. So enthält der Monseer Matthäus in Abschnitt X,
16 auh, was an dieser Stelle lat. iterum wiedergibt. Tatian hat abur, und das
Wort lässt seine Bedeutung 'wiederum, weiterhin' erkennen:
(53) Auh ist galiih himilo rihhi — seginun — in seu — ga sez zi teru — enti
allero fisc — chunno ga huuelihhes — samnontiu. (Monseer Fragm.
X, 16.f.)
(54) Abur gilih ist rihhi himilo seginu giuuorphaneru in seo inti fon
allemo cunne fisgo gisamanontero. (Tat. 77,3)
Iterum simile est regnum cęlorum sagenę missę in mari et ex
omni genere piscium congreganti.
Ähnlich ist der Beleg (26) zu beurteilen (als Beleg (55) wiederholt). Hier
gibt im Monseer Matthäus auh lat. autem wieder, im Tatian findet sich keine
Entsprechung:
(55) Ih sagem auh — iu — daz allero uuorto — un bi dar bero — diu man —
sprehhant — redea sculun dhes argeban — in tuom tage — (Monseer
Fragm. VI, 21-23)
(56) Ih quidu iu, thaz iogiuuelih uuort unnuzzi, thaz man sprehhenti
sint, geltent reda fon themo in tuomes tage. (Tat. 62,12)
Dico autem vobis, quoniam omne verbum otiosum quod locuti
fuerint homines, reddent rationem de eo in die iudicii.
298 Hans-Werner Eroms

2.3. Bemerkungen zu Otfrid

Otfrids Evangelienbuch markiert einen relativ altertümlichen Stand, was die


Verteilung der additiven Konnektoren betrifft. Inti und ioh sind im Ver-
hältnis von ungefähr 1:10 zu belegen. Die genauen Zahlenverhältnisse
sind: inti + int: 133 Belege, ioh: 1249 Belege.40 Dieser quantitative Unter-
schied ist der wichtigste Faktor. Auf einen zwischen den beiden Konnek-
toren von Valentin angenommenen semantischen Unterschied ist oben
schon hingewiesen worden.41 Valentin gibt zu bedenken, dass der Unter-
schied meist kaum festzustellen ist, führt aber noch Folgendes aus: „An
mehreren Stellen drängt sich jedoch der Verdacht auf, inti drücke mehr als
reine Verbindung aus; es verknüpft nämlich Segmente miteinander, die
nicht unbedingt genau parallel zueinander stehen“42 und führt den folgen-
den Beleg an:
(57) Er lósota iro uuórto — ioh giuuáro hárto
in mittén saz er éino — inti frág&ta sie kléino (O. I, 22,35f.)
Dazu schreibt er: „Man könnte hier 'und sogar befragte sie' verstehen, um
so mehr als kleino dahinter steht, 'obwohl er so jung war'“.43 Diese Vermu-
tung scheint in die Richtung zu gehen, hier eine adversative Komponente
anzusetzen, was mir berechtigt erscheint.
Auf Belege für die einfache nominale und die einfache verbale An-
knüpfung sei hier verzichtet. Bemerkenswert ist, dass die beiden Konnek-
toren relativ häufig in einer Zeile begegnen. Dabei nutzt Otfrid ihre unter-
schiedliche Silbenzahl, um die Versgestaltung damit in Einklang zu brin-
gen. Semantische Gründe für den Wechsel lassen sich dabei nicht erken-
nen.
(58) er uuas in sítin fruater — ioh héilag inti gúater. (O. I, 8,10)
(59) ioh uuáz siu hiar bizéine — inti uns zi frúmu meine. (O. V, 12,54)
Mehrfach, besonders im ersten Buch, verwendet Otfrid aber auch die
verkürzte Form von inti, int. Dadurch würde sich die Setzung von ioh aus
bloßen Gründen des Versrhythmus erübrigen. Dies ist aber nicht der Fall,
wie der folgende Beleg zeigt, bei dem ioh kurz nach int eintritt:
(60) Sálig thiu nan uuátta — int inan fándota
ioh thiu in bétte ligit ińne — mit súlichemo kinde (O. I, 11,43f.)

_____________
40 Auszählung nach Shimbo (1990).
41 Vgl. Valentin (2003,185).
42 Ebd., 186.
43 Ebd., 186.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 299

Die adversative Komponente, vor allem bei der Satzverknüpfung, ist


schon von Piper bemerkt worden.44 Er führt die Stellen I, 4,56; I, 10,19;
II, 6,29; IV, 11,22 und V, 9,23 an. Besonders der Beleg IV, 11,22 lässt
diese Bedeutung erkennen:
(61) Ist drúhtin quad gilúmplih — thaz thú nu uuásges mih?
inti íh bin eigan scálk thin — thu bist hérero min? (O. IV, 11,21f.)
ich aber / dagegen ich
Von solcher Art gibt es aber noch weitere Belege, etwa:
(62) Vuio mág thaz quad si uuérdan — thu bist iúdusger mán —
inti ih bin thésses thi&es — thaz thú mir so gibí&es (O. II,
14,17f.)
Der Konnektor auur hat bei Otfrid in der Mehrzahl der Belege die Aus-
gangsbedeutung 'wieder, zurück' oder 'ferner':
(63) Ni lázu ih íúih uueison — ih íúer áuur uuison (O. IV, 15,47)
ich suche euch wieder auf
(64) thie selbun záltun alle mír — thesa béldi fona thír
Ob áuur thaz so uuár ist — thaz thu iro kúning nu ni bíst. (O. IV,
21,14f.)
ferner, ob es wahr ist, dass…
Adversative Bedeutung lässt sich aber durchaus auch nachweisen. Der
Anschluss an die Bedeutungen 'wieder, wiederum' ist meist deutlich:
(65) Thó sprah thara ingégini — áuur thiu selba ménigi (O. III, 16,27)
Hier ist der „Gegensatz“ direkt thematisiert (ingegini), der Konnektor lässt
sich dennoch als Markierung der ein weiteres Argument anführenden
Fortführung auffassen. Gegenüberstellungen sind auch sonst häufig, etwa:
(66) Ther ni thúingit sinaz múat — ioh thaz úbil al gidúat.
zéllu ih thir in alauuár — ther házzot íó thaz líoht sar […]
Ther auur uuola uuirkit — er állesuuio iz bithénkit (O. II, 12,91-
95)
Fast alle Belege enthalten das Wort in dieser Funktion in Nachstellung.
Aber es findet sich auch ein Beleg, bei dem avur im Vor-Vorfeld erscheint:
(67) Súmenes farent thánana — thio iro suéster zúa
afur thísu in min uuár — ist émmizigen íó thar (O. IV, 29,57f.)
_____________
44 Vgl. Piper (1884, 223f.).
300 Hans-Werner Eroms

Nur hier ist die adversative konnektive Funktion voll zu erkennen. Wenn
sie auch bei Otfrid extrem selten ist, so ist sie immerhin damit schon im
Althochdeutschen präsent.
Was ouh betrifft, so sei hier auf eine weitere Bemerkung Valentins hin-
gewiesen. Er sagt: „ouh kann mit ioh kombiniert auftreten, jedoch anschei-
nend nicht mit inti, was die Vermutung verstärkt, ioh sei in dieser Sprache
der echte reine Koordinator.“45

3. Fazit
Die zuletzt angeführte Bemerkung Paul Valentins wirft noch einmal ein
Licht auf die grundsätzlichen Verhältnisse im Althochdeutschen. Anders
als im Neuhochdeutschen ist die Situation im Althochdeutschen dadurch
gekennzeichnet, dass mehrere Ausdrücke für die Signalisierung der „rei-
nen“ Koordination zur Verfügung stehen. Dies ist, sprachvergleichend
gesehen, eher der Normalfall, das Neuhochdeutsche mit seinem einzigen
Konnektor, und, ist der markierte Fall. Aber wir haben im Althochdeut-
schen keineswegs eine gleichmäßig für alle Regionen geltende Distribution
vor uns, sondern jedes Denkmal weist mehr oder weniger unterschiedliche
Verhältnisse auf. Vergleichbar ist jedoch die grundsätzliche Situation, dass
fast immer mehrere Konnektoren vorliegen, aus denen gewählt werden
kann, auch wenn einer dabei dominiert. Ich habe versucht, die in den
bisherigen einschlägigen Arbeiten festgestellten Funktionsunterschiede
aufzunehmen und die Texte selbst einer Prüfung zu unterziehen, die vor
allem auf die Deutung der „reinen“ weiterführenden Konnexion in Ab-
grenzung zu adversativen Momenten nachging. Es hat sich gezeigt, dass
der für die spätere Zeit im Deutschen hauptsächliche adversative Konnek-
tor, auur, der bekanntlich aus dem Bezeichnungsfeld der „wiederholenden
Anknüpfung“ stammt, im frühen Althochdeutschen jedenfalls noch nicht
dominiert. Dies kann daran liegen, dass vor allem enti / inti diese Funktion
noch übernehmen kann. Wenn es richtig ist, dass enti / inti zwei etymolo-
gisch getrennte Bereiche in sich vereinigt, die sich verknappt mit 'und' und
'aber' benennen lassen, ist dieses Faktum erklärlich.
Darüber hinaus lässt das Althochdeutsche mit seinem viel offeneren,
noch nicht auf standardmäßige Gebräuche festgelegten Zustand die gene-
rellen Leistungen der Konnektoren klarer erkennen. Diese sind, zumindest
im Bereich der koordinativen Verknüpfung, dadurch gekennzeichnet, dass
sie einen relativ weiten Spielraum in semantischer Hinsicht zulassen, wäh-
rend sich die Beschränkung in syntaktischer Hinsicht aus allgemeinen
_____________
45 Valentin (2003, 187).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen 301

syntaktischen Bedingungen ergibt. Hier wäre es allerdings aufschlussreich


zu untersuchen, ob die ausgefeilten Möglichkeiten der Koordination, die
sich im modernen Deutsch46 finden, bereits im Althochdeutschen vor-
handen waren. Dies scheint nicht der Fall zu sein. So fehlen offenbar
eindeutige Belege für Gappingfälle. In funktional-semantischer Hinsicht
jedoch ist das Spektrum weit. Die reichen Möglichkeiten werden etwa im
Sammelband von Desportes deutlich. Für einen einzelnen Konnektor sei
auf den Artikel avur im Althochdeutschen Wörterbuch verwiesen. Was die
„reine“ koordinative Verknüpfung betrifft, so ergibt sich aus dem Neben-
einander verschiedener Konnektoren mit von Denkmal zu Denkmal etwas
unterschiedlicher Abgrenzung bereits eine breite Palette an Ausdrucks-
möglichkeiten. Darüber hinaus lassen die Konnektoren erkennen, dass sie
selber sprachgeschichtlich zu bestimmende Fixpunkte sind, die einerseits
ihre Herkunft aus verschiedenen Wurzeln erkennen lassen und anderer-
seits universalen Bedingungen gehorchen, insbesondere dass die kommu-
nikative Strategie der „Anknüpfung“ generell dazu benutzt wird, andere
sprachliche Strategien damit zu verbinden, die der Abgrenzung oder der
Entgegensetzung.

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2687, Teil 1: Text, hrsg. u. bearb. v. Wolfgang Kleiber unter Mitarbeit v. Rita
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Tat. = Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar, hrsg. v. Eduard Sievers, 2.
neubearb. Ausg., unveränderter Nachdruck, Paderborn 1966.

_____________
46 Vgl. z.B. Lobin (2006, 973ff.) und Eroms (2003, 161ff.).
302 Hans-Werner Eroms

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Einige textlinguistische Aspekte
der ahd. Konnektoren inti und joh∗

Natalia Montoto Ballesteros (Leipzig)

1. Einleitung
In den letzten Jahren haben einige Studien die Aufmerksamkeit auf die
Konnektoren in den älteren Sprachstufen gerichtet.1 Die Schwierigkeiten,
die es mit sich bringt, diese Kategorie von Wörtern zu beschreiben, in der
verschiedene Wortarten vertreten sind, die sich nur aufgrund ihrer ver-
knüpfenden Funktion im Text zusammenstellen lassen, werden beim älte-
ren Deutsch wegen der spezifischen Textsorten sowie der Überlieferungs-
lage und der noch unfesten Syntax noch deutlicher. In der Frage, welche
Einheiten der Gruppe der Konnektoren angehören, gehen die Meinungen
der Autoren auseinander. Während z.B. Paul Valentin2 die Subjunktionen
aus der Gruppe der Konnektoren ausschließt (da nach seiner Definition
Konnektoren zur Parataxe und nicht zur Hypotaxe gehören), weisen im
Handbuch der Deutschen Konnektoren sowohl koordinierende als auch subor-
dinierende Konjunktionen die dort aufgeführten Konnektoren-Merkmale
auf.3
Bei der Untersuchung des umfangreichen Materials der ahd. Konjunk-
tionen inti und joh fällt eine Gruppe von Belegen auf, die syntaktisch stark
von der Mehrheit der Belege abweicht. Für diese Gruppe trifft die Inter-
_____________
∗ Die in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse wurden aus dem Kapitel Konnexion auf
Textebene meiner Dissertation Die Konnektoren inti und joh im Althochdeutschen. Syntaktische und
semantische Aspekte. entnommen. Die Dissertation untersucht das Belegmaterial der Kon-
nektoren inti und joh aus dem Archiv des Althochdeutschen Wörterbuchs der Sächsischen
Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
1 Vgl. u.a. Desportes (2003), Betten (1987, Bd. I, 395ff.) sowie Desportes (1992, 295ff.).
2 Vgl. Valentin (2003, 179ff.).
3 Vgl. Pasch u.a. (2003, 5). Diese Merkmale sind: Ein Konnektor ist nicht flektierbar, vergibt
keine Kasusmerkmale an seine syntaktische Umgebung, seine Bedeutung ist eine zweistelli-
ge Relation, die Relate der Bedeutung des Konnektors sind Sachverhalte und müssen durch
Sätze bezeichnet werden können.
306 Natalia Montoto Ballesteros

pretation als (satz)koordinierende Konjunktionen im eigentlichen Sinne


nicht mehr zu. Es gilt also, einen anderen Weg der syntaktischen Be-
schreibung zu finden. Im Anschluss wird versucht, die ahd. Konjunktio-
nen inti und joh als Textkonnektoren darzustellen und einige Spezialfälle
aus dieser Gruppe von Belegen zu beschreiben.

2. Konnexion vs. Koordination


Ein Blick auf das Material von ahd. inti und joh lässt erkennen, dass diese
in der ahd. Überlieferung hauptsächlich als koordinierende Konjunktionen
fungieren. Dabei werden verschiedene syntaktische Einheiten durch inti
und joh verbunden, die in der Koordination eine größere Einheit mit der-
selben Funktion wie die ursprünglichen, kleineren Einheiten ergeben.
Wörter und Wortgruppen werden zu funktionell gleichen Syntagmen ver-
bunden, (Teil-)Sätze zu größeren Sätzen in Form von Satzreihen. In den
ahd. Texten ist jedoch eine weitere Art der Verbindung durch inti und joh
zu finden, die nicht mehr in das Schema der Satzkoordination passt. In
diesen Fällen werden ebenfalls Sätze verbunden, allerdings ergeben diese
Verbindungen nicht mehr komplexe Sätze als übergeordnete Größen,
sondern Texte. Diese Stellen sind als Konnexion zu erklären, d.h. als die
durch Konnektoren hergestellten Beziehungen zwischen Sätzen zu Text-
einheiten.4 In den hier vorgestellten Fällen dienen inti und joh der Text-
strukturierung: Sie werden eingesetzt, um einen Satz innerhalb eines Dis-
kurses einzuordnen. Die Analyse solcher Verbindungen soll mit Hilfe der
Textgrammatik unternommen werden, da sie sich mit den internen Struk-
turen und der Kohärenz von Texten auseinandersetzt.
Das Problem bei der Unterscheidung von Koordination und Konne-
xion besteht darin, dass beide als Mittel zur Verbindung von Sätzen die-
nen. Da die Einleitung eines Satzes durch inti / joh immer eine Verbin-
dung zum Vorhergesagten herstellt, geht es darum zu entscheiden, ob der
inti/joh-Satz eine Einheit mit dem vorhergehenden Satz bildet (d.h. eine
Satzverbindung) oder ob es sich um eine Anknüpfung handelt, die als
größere Einheit den Text selbst hat. Auf die Schwierigkeiten dieser Unter-
scheidung hat schon Albrecht Greule hingewiesen:
Die Wortgrammatik wird von der Syntax und diese wiederum von der Text-
grammatik überlagert in dem Sinne, daß die Syntax die Wortgrammatik und die
Textgrammatik die Syntax jeweils voraussetzen. […] Es könnte der Eindruck ent-

_____________
4 So u.a. bei Greule (1997, 287ff.): „Konnexion, ein Begriff, der mit den Termini Konnektor
bzw. Konnektiv oder Konjunktion korrespondiert und das Phänomen bezeichnen soll,
dass zwei Sätze eines Textes durch einen Konnektor aufeinander bezogen sind“.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 307

stehen, daß zwischen Text- und Satzgrammatik / Syntax eine klare Grenze gezo-
gen werden kann. Dem ist jedoch nicht so. Syntaktische Probleme, die sich ohne
Bezug auf den Text nicht lösen lassen […], bilden eine breite Zone, in der Text-
grammatik und Syntax ineinander übergehen.5
Die genaue Trennung der Ebenen der Satz- und der Textsyntax wird
durch die Gegebenheiten der ahd. Überlieferung noch erschwert. Mittel,
die helfen könnten, die Grenze zwischen Satz- und Textsyntax zu ziehen,
wie eine feste Interpunktion und Orthographie, können für die ahd. Texte
nicht berücksichtigt werden, da sie nicht original sind, sondern auf der
Interpretation moderner Ausgaben beruhen. Außerdem spielen Faktoren
wie der Zustand der überlieferten Handschriften, ob es sich um eine
Übersetzung handelt und wie sehr der ahd. Text von seiner lateinischen
Vorlage abhängt, eine große Rolle. Im Folgenden wird auf die Funktion
von inti / joh als textstrukturierende Einheiten eingegangen und es werden
einige Beispiele für Konnexion auf Textebene durch diese Konnektoren
präsentiert. Dies geschieht u.a. bei: Kapitelüberschriften, beim so genann-
ten ‚biblischen‘ und, bei Parenthesen, bei der Redeeinleitung sowie in be-
sonderer Weise bei den Texten Notkers.

2.1. Kapitelüberschriften

An einigen Stellen ist die Grenze zwischen der Koordination von Sätzen
und der Konnexion auf Textebene auch im ahd. Text aufgrund der äuße-
ren Zeichen deutlich, wie z.B. in dem folgenden Beleg aus dem ahd. Isi-
dor:6
(1) Endi bihuuiu man in Iudases chunnes fleische Christes bidendi
uuas
Et quia de tribu Iuda secundum carnem Christus expectandus esset
I 34,8
Es handelt sich um die Überschrift von Kapitel VIII. Sie steht in der Edi-
tion wie in der Handschrift gesondert vom restlichen Text und ist außer-
dem in Kapitälchen geschrieben.7 Hier ist zwar die anknüpfende und wei-
terführende Funktion von inti erkennbar, eine Koordination zur Bildung
einer Satzreihe ist jedoch nicht möglich. Die Überschrift wird in Verbin-
dung zum gesamten vorhergehenden Diskurs gebracht und dieser so mit
neuen Argumenten fortgesetzt.
_____________
5 Greule (1982, 94).
6 Die ahd. Belege werden nach den Zitierausgaben und den Richtlinien des Althochdeutschen
Wörterbuchs zitiert.
7 Vgl. das Faksimile der Seite in der Edition, 35.
308 Natalia Montoto Ballesteros

2.2. ‚Biblisches‘ und

Viele Texte der ahd. Überlieferung haben die Heilige Schrift entweder als
direkte Quelle oder als wichtigen Bestandteil in Form von Zitaten aufge-
nommen. Wie auch in späteren Übersetzungen (v.a. in den Übersetzungen
von M. Luther) wurde schon in ahd. Zeit angestrebt, den Bibelstil auch in
der Zielsprache beizubehalten. Als Stilmerkmale der Bibel nennt Birgit
Stolt neben zweigliedrigen Verbalausdrücken, der Aufforderung Siehe und
der Einleitungsformel Es begab sich auch die parataktische Anreihung mit
und.8 Dies bildet für sie kein Element der Umgangssprache, sondern ist ein
Stilistikum, das bewusst bei der Übersetzung vom Hebräischen ins Grie-
chische und später ins Lateinische übernommen und so zu einem Merk-
mal sakraler Sprache wurde. In den meisten Fällen halten sich die Über-
setzer der ahd. Denkmäler bei der Wiedergabe dieser parataktischen
Anreihung an den lateinischen Text und setzen inti für et.
(2) Inti umbigieng ther heilant alla Galileam, lerenti in iro samanun-
gun
Et circuibat Ihesus totam Galileam, docens in sinagogis eorum T 22,1
(Kapitelanfang)
(3) quad imo: effeta, thaz ist intuo. Inti tho sliumo giofnotun sih si-
nu orun
ait illi: effeta, quod est adaperire. Et statim apertae sunt aures eius
T 86,1
Beispiele für diese Art der Konnexion sind vor allem in der ahd. Tatian-
übersetzung zu finden, da dort der biblische Text (in Form einer Evange-
lienharmonie) fortlaufend und nicht nur in Auszügen übersetzt wird. Je-
doch wird dort nicht wie bei einer Interlinearversion mechanisch inti für et
übersetzt, sondern es wird, wie Anne Betten nachweist, an jeder Stelle neu
entschieden; so werden z.T. andere ahd. Konnektoren eingesetzt, wie bei-
spielsweise das von Betten untersuchte tho.9 Nicht selten stehen an sol-
chen Stellen (wie oben im Beleg T 86,1) Verbindungen von inti mit ande-
ren Konnektoren als Einleitung (z.B. inti tho für lat. et).
Das Ziel dieser Konnexion ist die Weiterführung der in dem Text
erzählten Geschichte, die thematische Anknüpfung, wobei die Ereignisse
narrativ verkettet werden. Es wird eine Linearität des Erzählten angestrebt
und durch solche Elemente erreicht.
_____________
8 Vgl. Stolt (1983, Bd. 1, 179ff.).
9 Vgl. Betten (1987, 398). Lateinisch et wird nach Betten im ahd. Tatian in 86 Fällen mit tho
wiedergegeben, das nach inti der meist eingesetzte Konnektor in diesem Denkmal ist. Bet-
ten zählt weitere 24 Stellen, an denen et ohne jegliche Entsprechung bleibt.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 309

Einen anderen Fall bilden Belege mit inti / joh, in denen Passagen aus
der Bibel als Zitate in einen anderen Text eingefügt werden. Es handelt
sich um Stellen wie:
(4) so dhar auh after ist chiquhedan: ‚Endi got chiscuof mannan
anachiliihhan endi chiliihhan gote chifrumida dhen‘
sic enim subiungitur: ‚Et creavit deus hominem ad imaginem et similitudi-
nem dei creavit illum‘ I 7,17
(5) fona dhemu selbin folghet hear auh after: ‚Endi chirestit oba imu
gheist druhtines
de quo etiam sequitur: ‚Et requiescit super eum spiritus domini I 40,4
Es ist auszuschließen, dass inti in diesen Beispielen zur Koordination von
Sätzen eingesetzt wurde. Obwohl in dem lateinischen Vulgatatext die
durch et eingeleiteten Sätze z.T. Teilsätze in einer Koordination sind, wur-
den diese bei der Übersetzung ins Ahd. aus ihrem Kontext herausgerissen,
so dass sich ihre syntaktische Analyse auch verändern muss.10 Hier wurde
wieder der Originaltext penibel übersetzt, einerseits, um den Bibelstil bei-
zubehalten, andererseits aber auch, um die Grenze zwischen argumentati-
vem Text und Zitat, d.h. zwischen Text und Subtext, klar zu ziehen. Inti
dient daher an solchen Stellen als textstrukturierendes Element und mar-
kiert den Anfang der wie ein Fremdkörper wirkenden Zitate. Diese Zitate
werden im Diskurs als Basis für eine Weiterführung und Bestätigung der
Argumentation eingefügt, sind jedoch selbst nicht ein Teil davon.

2.3. Parenthesen

Als ein Problem der Grenzziehung zwischen Satzsyntax und Textgramma-


tik bezeichnet Albrecht Greule die Parenthese bei Otfrid und begründet
dies damit, dass es dabei „um das Verhältnis zweier selbständiger und
abgeschlossener Sätze zueinander geht“.11 Otfrid verwendet die Parenthe-
se sehr oft (Greule spricht von ca. 300 Fällen), um Kommentare in den
Text einzuschieben. Einige dieser Parenthesen werden von joh eingeleitet,
das der häufigere von beiden Konnektoren bei Otfrid ist; demzufolge ist
es auch dieses Denkmal, in dem die meisten Fälle der Konnexion auf
Textebene durch joh zu finden sind:
_____________
10 Für eine abweichende Interpretation dieser Stellen vgl. Desportes (1992, 295ff.), wo der
Kontext der biblischen Stellen rekonstruiert und deren syntaktische Analyse auf den ahd.
Text übertragen wird.
11 Greule (1982, 95 u. Anm. 20f.). Der Begriff Parenthese wird hier im Sinne von A. Greule
verwendet. Damit wird die Einschaltung verschiedener Elemente gemeint, in welchem
Umfang auch immer, die jedoch die Konstruktion des umgebenden Satzes nicht stören.
310 Natalia Montoto Ballesteros

(6) tho gab er imo antwurti, thoh wirdig er es ni wurti (joh det er
thaz hiar ofto), filu mezhafto O 2,4,92
(7) thaz er si uns ginathic, thoh ih ni si es wirthic; hohi er uns thes
himiles (joh muazin frewen unsih thes!) insperre Oh 159
Die Einleitung mit joh (es finden sich im Evangelienbuch Otfrids keine
inti-Belege für diese Art der Textkonnexion) wäre bei diesen Parenthesen
nicht nötig, verleiht aber den eingeschalteten Ausdrücken Nachdruck. Joh
wirkt emphatisierend und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die
Aussage in der Parenthese. Gleichzeitig wird ein inhaltlicher Zusammen-
hang zu dem umgebenden Kontext hergestellt (dies geschieht z. T. durch
den Einsatz weiterer Konnektoren; in den oben genannten Belegen sind
es die Pronomina thaz und thes), jedoch ohne dass daraus syntaktisch eine
Satzkoordination entsteht. Diese syntaktische Unabhängigkeit vom umge-
benden Satz ist auch bei anderen Einschubsätzen deutlich zu erkennen,
die, obwohl sie von Subjunktionen eingeleitet werden, nicht den Charakter
von Nebensätzen besitzen.12 Einige Parenthesen können als ein erklären-
der Kommentar zum umgebenden Diskurs und somit als eine Art ‚Fußno-
te‘ verstanden werden, andere wiederum zeigen eine Möglichkeit des Au-
tors sich in den Text einzuschalten, dabei sich direkt an den Leser zu
wenden und ihn in den Text einzubeziehen.

2.4. Redeeinleitung und Zitierung

Einige Denkmäler der ahd. Überlieferung verwenden als Mittel der Narra-
tion oder Argumentation die direkte Rede. Diese kann in Form von zitier-
ten Aussagen einer Person (selbst Gottes) erscheinen oder sogar die Dia-
logform annehmen, indem sich zwei Sprecher in der Argumentation
abwechseln. Die Rede-Passagen bilden eine Art Text-im-Text und wären
ohne Einleitung nicht aus dem laufenden Text hervorgehoben. Auch an
solchen Stellen spricht Greule von einem „Grenzbereich zwischen Satz-
und Textgrammatik“.13 An diesen Stellen erscheinen neben dem Konnek-
tor andere Elemente, die die eigentliche Redeeinleitung darstellen, wie die
Verben des Sprechens (diese sind dann z.T. in die Rede selbst eingescho-
ben, wie oft bei quedan), während inti / joh der Grenzziehung zwischen
beiden Textebenen dient.
(8) fona imu quhad dher psalmscof: ‚Endi in imu uuerdhant chiuui-
hit alliu ærdhchunni, allo dheodun lobont inan.‘ Endi umbi dhen
_____________
12 Vgl. dazu die Untersuchungen über die so-Einschubsätze in Wunder (1965).
13 Greule (1982, 96).
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 311

samun dhurah dhen selbun Esaian quhad druhtines stimna: ‚Ih


bibringu fona Iacobes samin [...]
de quo psalmista ait: ‚Et benedicentur in eo omnes tribus terrae, omnes gen-
tes magnificabunt eum‘. De hoc semine et per eundem Esaiam vox domini
loquitur: ‚Educam, inquid, de Iacob semine I 34,1
(9) ganganti nah themo sevvu Galile gisah zuuene bruoder, Si-
monem, thie giheizan ist Petrus, inti Andream sinan bruoder,
sententi iro nezzi in seo, uuanta sie uuarun fiscara. Inti quad her
in: quemet
ambulans autem iuxta mare Galileae vidit duos fratres, Simonem qui voca-
tur Petrus et Andream fratrem eius, mittentes rete in mare, erant enim pis-
catores. Et ait illis: venite T 19,2
(10) triuuo du uueist toh . uuannan alliu ding chamen. Taz uueiz ih.
Unde chad ih sar . got ten uuesen
atqui scis unde cuncta processerint. Novi inquam. Deumque esse respondi
Nb 47,5
In diesen Belegen steht inti immer als Verbindung zwischen der eigentli-
chen Erzählung / Argumentation und der in ihr enthaltenen direkten
Aussage. Es wirkt im Falle des Isidor-Beleges argumentativ, da es zwei
Redezitate (das erste aus Psalm 72,17, das zweite aus Esaias 65,9) mitein-
ander in Verbindung bringt. Hier kann eine Satzkoordination nicht statt-
finden, da der inti-Satz zwischen beiden Zitaten, die eine eigene Ebene des
Textes bilden, steht. In dem Tatian-Beleg steht inti ebenfalls vor dem Verb
(quad), das die direkte Rede einleitet, die im Anschluss an eine narrative
Passage steht. Inti ordnet die Rede in die Reihe der Ereignisse ein und
trägt so dazu bei, dass die Linearität der Erzählung hergestellt wird. In
dem Notker-Beleg steht die uneingeleitete direkte Rede neben der durch
den inti-Satz eingeleiteten Rede; damit entsteht eine Dialogstruktur. In all
diesen Belegen markiert inti als Grenze zur direkten Rede eine neue Ebene
des Diskurses, und hat deshalb Signalcharakter, während es gleichzeitig an
das Vorhergesagte anknüpft.

2.5. Die Texte Notkers

Die Unterscheidung zwischen Koordination und Konnexion wird bei den


Übersetzungen Notkers des Deutschen erst dann eindeutig, wenn man die
Genese dieser Texte berücksichtigt. Schon Stefan Sonderegger und Anton
Näf u.a. haben auf die verschiedenen Stufen der Texte Notkers hingewie-
312 Natalia Montoto Ballesteros

sen.14 Darin erkennt man beide Hauptziele Notkers: Zum einen die Über-
setzung lateinischer Texte ins Deutsche und zum anderen die Kommen-
tierung bestimmter Textstellen meist mit Hilfe von schon vorhandenen
und anerkannten Kommentaren. Dafür hat Notker zunächst die Wortstel-
lung der lateinischen Originaltexte umgeordnet, anschließend die Texte in
Perikopen gegliedert, diese übersetzt und an einigen Stellen Kommentar-
Passagen eingefügt. Er hat somit in die originale Textstruktur eingegriffen
und sie verändert. So können z.B. Teilsätze, die in dem lateinischen Text
miteinander koordiniert eine Satzreihe bildeten, in der ahd. Übersetzung
geteilt und durch einen mehr oder weniger umfangreichen Kommentar
voneinander getrennt erscheinen. Es handelt sich um Beispiele wie:
(11) tiz sint tie den uuuocher unde den ezisg tero rationis ertemfent .
mit tien dornen uuillonnes. Taz chit mit iro uuillechosonne . er-
gezzent sie man sinero rationis. Unde menniskon muot stozent
sie in dia suht . sie nelosent sie nieht
hae sunt enim quae necant infructuosis spinis affectuum . uberem segetem
fructibus rationis. Hominumque mentes assuefaciunt morbo . non liberant
Nb 12,12
(12) vnde do irdonerota truhten fone himele. Sie sint sin himel . uu-
anda er an in sizzet . fone in deta er chunt gentibus euangelium.
Vnde der hohesto sprah in uz . uuanda sie archana dei (gotes
tougeni) sageton
et intonuit de caelo dominus. Et altissimus dedit vocem suam NpNpw
17,14
Bei einer Analyse des ahd. Textes können solche Stellen jedoch nur als
Konnexion auf Textebene interpretiert werden, da die Koordination
durch die Kommentareinschübe aufgehoben wurde. Stefan Sonderegger
hat im Zusammenhang der verschiedenen Stufen der Texte die Markie-
rungen dieser Kommentare untersucht und festgestellt, dass u.a. durch
Wiederaufnahme von Begriffen oder durch Verweise eine Beziehung zum
Vorhergesagten hergestellt wird.15 Ähnlich fungieren die Konnektoren inti
und joh als Markierung für die Wiederaufnahme der Übersetzung, indem
die Gedanken, Argumente und Äußerungen des lateinischen Originaltex-
tes fortgeführt werden und an die schon bestehenden Argumente ange-
knüpft wird.

_____________
14 Vgl. Sonderegger (1997, 141ff.); Näf (1979, 58ff.).
15 Vgl. ebd.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 313

3. Fazit
All diese Stellen zeigen, dass die Mittel der Satzgrammatik die inti / joh-
Verbindungen nicht immer adäquat beschreiben. An den eben gezeigten
Beispielen (und an weiteren ähnlichen) kann man die weiterleitende, an-
knüpfende Funktion der Konnektoren erkennen, die auch bei der Koor-
dination von Satzteilen oder Sätzen festzustellen ist. Allerdings bezieht
sich diese Weiterführung auf den ganzen Text, auf die gesamte Verkettung
von Ereignissen, Argumenten oder Redeteilen und nicht nur auf eine
Satzreihe. So eingesetzt wirken inti und joh textbildend und verlangen bei
ihrer Untersuchung eine intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten
Text. Die Analyse der Konnektoren hilft dabei, sich aufgrund ihrer Häu-
figkeit ein genaues Bild über den Erzählstil des Textes zu machen.
Die durch inti / joh eingeleiteten Sätze werden nicht bloß wie bei der
Koordination aneinandergereiht, sondern in einem besonderen Verhältnis
in die Struktur des Textes eingegliedert. Die Wirkung der Konnektoren
lässt sich in folgenden Aspekten zusammenfassen:
1. Die Konnektoren markieren die Grenzen zwischen den verschie-
denen Textebenen, z.B. zwischen Kapitelüberschriften und Text,
oder zwischen Zitat und dem Text, in dem es eingebettet ist. Auch
bei Dialogpassagen fungieren sie als Signal für die direkte Rede, vor
der sie stehen.
2. Gleichzeitig verknüpfen inti und joh all diese Ebenen miteinander
und helfen dem gesamten Text Kohärenz zu verleihen. Dies gilt be-
sonders bei Texten mit komplizierter Verschachtelung von Über-
setzung und Kommentaren, bei denen es schwer fällt, der Argu-
mentationskette zu folgen (wie im Falle der Notker’schen Texte).
Wenn dann noch diese Argumentationen durch Kommentare un-
terbrochen werden, sind Mittel notwendig (wie die Konnektoren in-
ti / joh), die den argumentativen Faden wieder aufnehmen.
3. Durch die Wiederholung bestimmter Konnektoren ergibt sich in
einigen Texten ein Erzählstil, der ein markantes Erkennungsmerk-
mal dieser Texte darstellt. So erkennen wir den sakralen Stil der
Heiligen Schrift sowohl in den Bibelzitaten des ahd. Isidor, als auch
in der ahd. Tatianübersetzung oder in Notkers Psalmenüberset-
zung. Dies ist natürlich durch die lateinischen Vorlagetexte bedingt,
jedoch hätten die Übersetzer dieser Texte prinzipiell auch andere
Ausdrucksmittel zur Verfügung gehabt und entschieden sich trotz-
dem an vielen Stellen für die Anknüpfung durch inti / joh.
314 Natalia Montoto Ballesteros

Die Untersuchung der Konnektoren inti und joh mit Hilfe der Textsyntax
lässt erkennen, dass diese Elemente mehr als nur verbindende Konjunk-
tionen darstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um textbildende Einhei-
ten, deren Analyse Einblick in die Struktur des Textes erlaubt.

Quellen

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Pariser Codex nebst critischem Texte der Pariser und Monseer Bruchstücke, mit
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Tübingen, 1-363.
Np = Piper, Paul (Hrsg.) (1883), „Psalmen und katechetische Denkmäler nach der St.
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Npw = Heinzel, Richard / Scherer, Wilhelm (Hrsg.) (1876), Notkers Psalmen nach der
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O = Erdmann, Oskar (Hrsg.) 1882), Otfrids Evangelienbuch, (Germanistische Handbib-
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Oh = Erdmann, Oskar (Hrsg.) (1882), „Hartmuate et Uuerinberto Sancti Galli mo-
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Halle (Saale), 317-322.
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Glossar, 2., neubearb. Ausgabe, (Bibliothek der ältesten deutschen Literatur-
Denkmäler 5), Paderborn.

Literatur

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Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh 315

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des Pariser Kolloquiums zur Erforschung des Althochdeutschen 1994, Heidelberg, 141-160.
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Wunder, Dieter (1965), Der Nebensatz bei Otfrid. Untersuchungen zur Syntax des deutschen
Nebensatzes, Heidelberg.
Inkorporation im Althochdeutschen∗

Susumu Kuroda (Tsukuba)

1. Einleitung
Die Wortbildung dient als ein Prozess, der von einer lexikalischen Einheit
ausgehend eine andere erzeugt, in erster Linie zur Erweiterung des Wort-
schatzes, sie kann aber auch mitunter syntaktische Effekte hinterlassen.
Dies ist vor allem bei der Konversion deutlich, die den Wechsel der Wort-
art und des syntaktischen Status des Lexems erwirkt: z.B. Öl – ölen, essen –
(das) Essen.
Auch bei der Affigierung, bei der die morphologische Veränderung
des Lexems deutlicher hervortritt als bei der Konversion, kann eine ande-
re syntaktische Eigenschaft festgestellt werden als beim Ausgangslexem,
auch wenn dabei die Wortart des Lexems nicht abgeändert wird. Bekannt
ist dies im Fall des Verbalpräfixes be-, das die Valenzstruktur des Aus-
gangsverbs modifizieren kann:
(1a) Man jammerte über den Verlust.
(1b) Man bejammerte den Verlust.
(2a) Der Gärtner pflanzt Rosen auf das Beet.
(2b) Der Gärtner bepflanzt das Beet mit Rosen.1
Bei (1a) und (1b) sowie (2a) und (2b) handelt es sich jeweils um zwei Satz-
paare, die aus der semantischen Sicht hinlänglich äquivalent gelten kön-
nen. Die a-Sätze und b-Sätze unterscheiden sich darin, dass in den letzte-
ren das Verb mit be- präfigiert ist und über eine Valenzstruktur verfügt, die
von der des Verbs in den a-Sätzen abweicht. Dabei ist die Akkusativer-
gänzung der b-Sätze als äquivalent zur Präpositionalergänzung der ent-
sprechenden a-Sätze aufzufassen – so entspricht die Präpositionalphrase
_____________
∗ Dieser Beitrag entstand während meines Forschungsaufenthalts an der Universität Passau
als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung. Teilweise liegen ebenfalls die For-
schungsergebnisse aus meinem JSPS-Projekt zugrunde. This research was partially suppor-
ted by the Japan Society for the Promotion of Science (Grant-in-Aid for Young Scientists
(B), 18720099).
1 Die Beispiele (1a) bis (2b) stammen aus Eroms (1980).
318 Susumu Kuroda

über den Verlust in (1a) dem Akkusativ den Verlust in (1b), die Präpositional-
phrase auf das Beet in (2a) dem Akkusativ das Beet in (2b) –, so dass hier
eine Akkusativierung der Präpositionalergänzung angenommen werden
kann.
Dass die Valenzstruktur einer Präfigierung manchmal eine Akkusativ-
ergänzung erhält, die in der Valenzstruktur des Simplex als solche nicht
vorhanden ist, wurde bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Präfix
be- diskutiert, ist aber ebenso bei den Präfigierungen durch andere Präfixe
durchaus festzustellen. So kann sie z.B. auch bei der Präfigierung mit über-
wie in (3), mit um- wie in (4) oder mit an- wie in (5) angenommen werden.
Die Akkusativergänzung von übergießen unterscheidet sich von der des
Simplex gießen, die als direktes Objekt zu charakterisieren ist; die Simplizia
von umstehen und ansprechen verfügen über eine intransitive Valenzstruktur
und daher keine Akkusativergänzung:
(3) Sie übergießt den Pudding mit Soße.
(4) Riesige Eichen umstanden das Haus.
(5) Luise spricht den fremden Mann an.
Dieses Phänomen, das in den letzten Jahren insbesondere unter dem un-
ten noch zu besprechenden Stichwort Inkorporation intensiv diskutiert
wurde, kann unter verschiedenen Perspektiven aufgegriffen werden. Häu-
fig wird auf den Zusammenhang mit dem Verbalaspekt hingewiesen, der
gleichzeitig mit der Valenzstrukturveränderung in der Regel eine starke
Perfektivität erhält.2 Der historische Hintergrund der Entstehung dieser
Valenzstrukturveränderungsmöglichkeit wird bei Hinderling3 eingehend
besprochen. Besonders intensiv wurde dieses Phänomen aber vor allem in
der theoretischen Grammatik, wo man den syntaktischen Mechanismus zu
klären versuchte, der die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigie-
rung verursacht, behandelt.4
Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die entsprechenden Fälle im
Althochdeutschen zu betrachten, und dadurch den Unterschied zum Ge-
genwartsdeutschen festzustellen. Unser Augenmerk richtet sich dabei
hauptsächlich auf die Erfassung der Konfigurationen, unter denen die
Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung stattfinden kann. Vor-
erst wird auf die grammatiktheoretische Diskussion nicht eingegangen,
aber hierdurch kann womöglich die historische Entwicklung dieser Va-
lenzstrukturveränderungsoperation genauer rekonstruiert werden, was
_____________
2 Vgl. z.B. ebd., 45ff.
3 Vgl. Hinderling (1982).
4 Vgl. Wunderlich (1987) oder Olsen (1996).
Inkorporation im Althochdeutschen 319

schließlich doch zur Vertiefung der theoretischen Diskussion beitragen


könnte. Auf die aspektuelle Modifizierung, die beim Verb gleichzeitig mit
der Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung auftreten kann,
wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen, da sie sich
unabhängig von der Valenzstrukturveränderung beobachten lässt und
somit wohl nicht zwangsläufig damit allein zusammenhängt. Außerdem ist
die Ermittlung des aspektuellen Werts der Verben in den historischen
Texten methodisch sehr problematisch, da er meist nur subjektiv ermittel-
bar ist.

2. Zum Begriff Inkorporation


Die Veränderung der Valenzstruktur des Verbs durch die Präfigierung ist
in der Erforschung der deutschen Sprache längst bekannt, findet man
doch entsprechende Hinweise bereits in der Literatur zur deutschen
Grammatik seit Grimm5 und auch in den Angaben zu einzelnen Präfigie-
rungen in den einschlägigen Wörterbüchern des Deutschen. Allerdings
steht dabei die Funktion der Transitivierung deutlich im Vordergrund, die
jedoch nur auf die Ableitung aus einem intransitiven Simplex zutrifft.
Der grammatische Mechanismus, der die Modifizierung der Valenz-
struktur ermöglicht, wurde jedoch hauptsächlich erst seit den 1980er Jah-
ren eingehend diskutiert, nachdem diese Operation bei Eroms6 als Umor-
ganisierung der Valenzstruktur im Passivsystem (als Lokalphrasenpassiv)
positioniert wurde. Dabei ist man darauf aufmerksam geworden, dass in
vielen Fällen die Präpositionalphrase von der Akkusativierung betroffen
ist, wie es oben bei (1) und (2) zu sehen ist, und dass die Präfigierungen,
die die Valenzstrukturveränderung verursachen, mit der Präposition auf
eine gemeinsame Wurzel zurückgehen.7
So hat sich die Idee etabliert, dass diese Valenzstrukturveränderung
von einem Statuswechsel der Präpositionalergänzung des Simplex verur-
sacht wird. Es wurde eine Operation angenommen, die die Präpositional-
ergänzung zerlegt und das Argument der Präposition in die Objektposi-
tion überführt, wobei sie gleichzeitig die Präpositionen an sich enklitisch

_____________
5 So wird die Veränderung der Verbrektion durch die Präfigierung bei Grimm (1967) an
verschiedenen Stellen angesprochen. Dieses Phänomen wird in Bezug auf das Gegen-
wartsdeutsche besonders ausführlich behandelt bei Kühnhold / Wellmann (1973).
6 Vgl. Eroms (1980).
7 Vgl. Harnisch (1982).
320 Susumu Kuroda

dem Verbstamm anhängt.8 Bei den Fällen wie mit be-, bei denen die Präfi-
gierung über keine formal entsprechende Präposition verfügt, wird ange-
nommen, dass be- nicht nur eine bestimmte Präpositionen ersetzen kann.
Für diese Operation findet sich aktuell Inkorporation als geläufigste Benen-
nung.9
Diese Auffassung, die wohl erstmals bei Wunderlich10 ausführlich be-
gründet wurde, stellt eine attraktive Erklärung dar, die gleichzeitig der
Valenzänderung durch die Präfigierung und der etymologisch bedingten
morphologischen Similarität zwischen der Präfigierung und der Präposi-
tion, die bei zahlreichen Verbpaaren besteht, Rechnung tragen kann. Frei-
lich erklärt die Inkorporation nicht alle Umstände der Valenzstrukturverän-
derungen, die durch die Präfigierung eintreten können. So bleibt z.B. un-
geklärt, unter welcher Motivation die unterschiedliche Kasusverleihung an
das inkorporierte Argument der Präpositionalphrase erfolgt, da dieses nicht
nur durch den Akkusativ, sondern ebenso durch den Dativ oder Genitiv
(s. unten) realisiert werden kann. Auch sind Fälle zu registrieren, wo das
Verb durch die Präfigierung eine Akkusativergänzung erhält, auch wenn
das Simplex über keine entsprechende Präpositionalergänzung verfügt, so
dass die Bezeichnung Inkorporation nicht angemessen ist. Es gibt auch An-
sätze, die die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung nicht als
eine Umorganisierung der Valenzstruktur ansehen, sondern als eine holis-
tische Anpassung einer abweichenden Valenzstruktur an das Simplex.11
Mit der Aufnahme in die Duden-Grammatik12 kann aber die Inkorporations-
Analyse als weitgehend akzeptiert angesehen werden.

3. Methodische Schwierigkeit der Erfassung


der syntaktischen Funktion der Präfigierung
aus sprachhistorischer Perspektive
Die Erforschung der Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung
im Althochdeutschen ist mit verschiedenen Schwierigkeiten behaftet.
Zunächst könnte man meinen, dass man über die Sekundärliteratur den
_____________
8 Diese Auffassung ist allerdings als eine Elaborierung der z.B. bei Paul (1919, 242ff.) vorzu-
findenden Idee anzusehen, dass die präfigierten Verben manchmal ein von der Präfigie-
rung abhängiges Objekt mit sich führen.
9 Der Begriff Inkorporation ist erstmals von Baker (1988) in die sprachwissenschaftliche
Diskussion eingeführt worden, wobei Baker dabei nicht den Übergang einer lokalen Er-
gänzung zur Objektergänzung diskutierte.
10 Vgl. Wunderlich (1987).
11 Vgl. z.B. Koch / Rosengren (1996).
12 Vgl. Duden: Die Grammatik (2005, 703).
Inkorporation im Althochdeutschen 321

notwendigen Zugang zu den Informationen über das Verhalten der Präfi-


gierung schaffen könnte, zumal bereits äußerst ausführliche Glossarien zu
verschiedenen althochdeutschen Schriften zur Verfügung stehen. Aller-
dings werden bei den Glossarien häufig unterschiedliche Prinzipien für die
Erfassung des Sprachzustands verwendet, so dass die Angaben daraus
keine Information darüber liefern, wie der über den Einzeltext hinausge-
hende Sprachzustand aussieht.
Dieses Problem ist bereits bei der Feststellung der Elemente bemerk-
bar, die als Präfigierung charakterisiert werden dürfen. So sind z.B. die
Verbbildungen mit ingegini- 'entgegen', wie z.B. ingeginifaran 'entgegengehen'
in (6), in den Otfrid-Glossarien von Kelle13 und Piper14 als Lemmata an-
gegeben, so dass es anzunehmen ist, dass Kelle und Piper diese Verben als
abgeleitete Verben betrachteten:
(6) Ioh theiz ni uuas ouh boralang . thaz.heriskaf.mit imo sang. / uuio engilo
menigi . fuar thar al ingegini . / (O 2, 3, 14)
[lies …] und dass es nicht zu lang dauerte, dass die Schar mit ihm sang, wie
die Engelschar da entgegen kam.

(7) uuelih cuning farenti zigifremenne gifeht uuidar anderan cuning nibi her er
sizzenti thenke oba her mugi mit zehen thusuntin themo ingegin faran ther
mit zueinzug thusuntin quam zi imo (T 105, 2)
Welcher König plant einen Krieg gegen einen anderen König zu führen,
wenn er nicht vorher darüber nachdenkt, ob er mit zehntausend (Soldaten)
dem entgegenkommen kann, der mit zwanzigtausend zu ihm kommt.

Das Lemma ingeginifaran gibt es aber im Tatian-Glossar von Sievers nicht,


obwohl sich ein mit (6) vergleichbarer Beleg (7) im Tatian finden lässt. Im
Glossar von Sievers findet man keine Lemmata, bei denen ingegini- als eine
Präfigierung, d.h. ein Teil des Verbs angegeben ist. Alle ingegini-Stellen im
Tatian gibt Sievers stattdessen konsequent in seinem Tatian-Glossar als
Adverb an.
Vor diesem Hintergrund ist die Notwendigkeit einer eigenständigen
Untersuchung, bei der mehrere Texte aus einem einheitlichen Prinzip
untersucht werden, für eine textübergreifende Erfassung des Sprachzu-
stands im Althochdeutschen klar. Dem vorliegenden Beitrag liegt hierfür
die Untersuchung eines Korpus zugrunde, das aus drei größeren althoch-

_____________
13 Vgl. Kelle (1963).
14 Vgl. Piper (1884).
322 Susumu Kuroda

deutschen Texten, Otfrids Evangelienbuch, Tatian und Isidor besteht.15 Die-


ses Korpus kann als relativ homogen eingestuft werden, da alle umfassten
Texte im Westmitteldeutschen im frühen 9. Jahrhundert verfasst sind, und
der Rezipientenkreis der Texte hauptsächlich im klerikalen Kreis anzu-
nehmen ist. Das Korpus umfasst insgesamt 24.630 Verbformen, unter
welchen insgesamt 350 Verbpaare festgestellt wurden, zwischen denen
eine Ableitungsbeziehung angenommen wird. Eingehend untersucht wur-
den so insgesamt 7.597 Datensätze.
Da man bei der Untersuchung des Althochdeutschen als Materialquel-
le ausschließlich auf die schriftlich fixierten Texte angewiesen ist, lassen
sich häufig jene Entscheidungen nicht leicht treffen, die für die Untersu-
chung grundlegend sind. So ist es meist unklar, ob eine Präfigierung als
Präfix oder als Partikel einzustufen ist. Das Präfix und die Partikel unter-
scheiden sich satzstrukturell durch unterschiedliche Positionen, die aller-
dings in der Nebensatzstruktur und infinitivischen Struktur aufgehoben
werden. So ist beim Nebensatz grundsätzlich nicht einwandfrei festzustel-
len, ob die Präfigierung als Präfix oder als Partikel anzusehen ist, abgese-
hen davon, dass, vor allem im Tatian, die hinsichtlich der gegenwartsdeut-
schen Entsprechung und der deutlich lokalbezogenen Semantik als
Partikel in Frage kommende Präfigierung auch in der Hauptsatzstruktur
nicht selten unmittelbar vor dem Verb, d.h. in einer präfixtypischen Posi-
tion, auftritt. Aus diesem Grund wollen wir hier die Präfigierungen in die
A-Präfigierungen und die B-Präfigierungen unterteilen. Die A-Präfigierungen sind
diejenigen, die aufgrund ihrer Position in den Belegen und der Entspre-
chung im Gegenwartsdeutschen nur als Präfix charakterisierbar sind; die
B-Präfigierungen sind hingegen diejenigen, die sowohl als Präfix als auch als
Partikel charakterisiert werden können.
Es ist auch nicht leicht zu entscheiden, ob bei einer Präfigierung ein
abgeleitetes Verb vorliegt oder vielmehr ein eigenständiges Lexem, das
vom Ausgangsverb getrennt behandelt werden muss. So sind firstantan
'verstehen' oder intstantan 'verstehen' nicht als Präfigierung von stantan116
'stehen' anzusehen, da zwischen beiden keine semantische Beziehung

_____________
15 Außerdem liegen zu Otfrids Evangelienbuch und Tatian moderne Editionen vor: Kleiber
(2004) und Masser (1994), was auch einen Anlass für eine erneute Erfassung des Sprachzu-
stands in diesen Texten darstellt. Der Untersuchung wurden diese Ausgaben zugrunde ge-
legt, für den althochdeutschen Isidor die Ausgabe von Eggers (1964). Die Stellenangaben der
Beispielsätze im vorliegenden Beitrag beziehen sich auf die Stellen in diesen Editionen.
16 Wenn zu einem Verb mehrere stark voneinander abweichende Bedeutungs- oder Valenz-
strukturvarianten in unserem Korpus nachzuweisen sind, werden die Varianten auseinan-
der gehalten, wobei die jeweilige Variante durch tiefgestellte Ziffern markiert werden, so
z.B. stantan1 'stehen' – stantan2 'aufstehen' .
Inkorporation im Althochdeutschen 323

angenommen werden kann.17 Die Feststellung der Valenzstruktur stellt


ohnehin ein schwieriges Unterfangen dar. So ist ein umsichtiges Herange-
hen an das Material unerlässlich, auch wenn das zugrundeliegende Material
einen relativ kleinen Umfang aufweist.

4. Typologie der Valenzstrukturveränderung


durch die Präfigierung im Althochdeutschen
Aus der Untersuchung des Korpus hat sich ergeben, dass man insgesamt
bei 118 Verbpaaren eine Valenzstrukturveränderung durch Präfigierung
feststellen kann. Die Valenzstrukturveränderungen lassen sich dabei in
einige Typen einordnen, die im Folgenden besprochen werden. Als „be-
sonders wichtige Valenzänderungen“, die durch die Präfigierung eintreten
können, gibt Erben18 drei Typen der Valenzstrukturveränderung an: 1)
Valenzreduktion (z.B. Der Mann schlägt ihn – schlägt zu); 2) Reflexivierung
(Max läuft – verläuft sich); 3) Akkusativierung (Er trödelt – vertrödelt die Zeit;
Ich wohne in dem Haus – bewohne das Haus; Man droht ihm – bedroht ihn). Im
Fall unserer Untersuchung sollten hierzu noch die Einführung des Dativs
bzw. des Genitivs in die Valenzstruktur genannt werden, da diesen im Fall
des Althochdeutschen hinsichtlich der Häufigkeit solcher Veränderungs-
typen eine gewisse Relevanz einzuräumen ist.19

Typ I: Einführung des Akkusativs


Hierbei handelt es sich um die Valenzstrukturveränderung wie sie mit den
Beispielen (1) bis (5) vergleichbar ist. Diese ist am häufigsten (bei 45
Verbpaaren) festzustellen und somit als Haupttyp anzusehen. Darunter
sind besonders die Präfigierungen mit bi-, ir- und ana- gut vertreten.
In vielen Fällen ist beim entsprechenden Simplex diejenige Präpositi-
onalergänzung belegt, die als Entsprechung für den Akkusativ des präfi-
gierten Verbs angesehen werden kann, d.h. auf die der Akkusativ zurück-
gehen kann. Es gibt Fälle, in welchen der Akkusativ der Ableitung auf die
direktive Präpositionalergänzung des Simplex zurückgeführt werden kann,
wie bei (8a) und (8b) giozan 'gießen' – bigiazan 'begießen', wie bei (9a) und
_____________
17 Die Präfigierungen aus den Verben wesan 'sein', werdan 'werden' und tuon 'tun' werden
ebenfalls außer Acht gelassen, da diese Simplizia von äußerst allgemeiner Bedeutung sind
und es deshalb nicht hinreichend klar überprüft werden kann, ob zwischen der Präfigie-
rung und dem Simplex eine semantische Verwandtschaft angenommen werden kann.
18 Erben (2000, 81).
19 Es gibt noch einige andere Typen der Valenzstrukturveränderung, die nur vereinzelte
Verben betreffen und deshalb hier außer Acht gelassen wurden.
324 Susumu Kuroda

(9b) senten 'senden' – anasenten 'werfen auf', die den Fällen wie oben (2) und
(3) im Gegenwartsdeutschen entsprechen. Bei (6b) führt aber die Akkusa-
tivierung der Präpositionalphrase zu einer doppelakkusativischen Valenz-
struktur, die im Gegenwartsdeutschen nicht zulässig ist:
(8a) Nam maria nardon . filu diuren uuerdon / uuas iru thaz thionost suazi .
thia goz si in sine fuazi / (O 4, 2, 16)
Maria nahm äußerst wertvolles Nardenöl – es war für sie ein angenehmer
Dienst – und goss es auf seine Füße.
(8b) Vuio thar thio fruma niezent . thie hiar thia sunta riezent / sih hiar io
thara liezent . thie sih mit thiu bigiazent / (O 5, 23, 8)
Wie er dort Heil genießt, wer hier seine Sünde beklagt, sich dem Jenseits
weiht, und sich mit Tränen benetzt.

(9a) gisah zuuene bruoder simonem ther giheizan ist petrus Inti andream sinan
bruoder sententi iro nezzi in seo uuanta sie uuarun fiscara (T 54, 13)
(Er) sah zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt ist, und Andreas, seinen
Bruder. Sie warfen ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer.
(9b) ther thie uzan sunta si iuuar zi eristen sente sia stein ana (T 199, 5)
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie.

Durch eine Gegenüberstellung der Ausgangsstruktur und der abgeleiteten


Struktur kann man aber feststellen, dass die als akkusativiert anzusehende
Präpositionalergänzung nicht immer lokal zu charakterisieren ist. So geht
der Akkusativ im Beispiel (10c) mit biruahhen 'Sorge tragen für' auf ein
Präpositionalargument bei ruohhen 'beachten' wie in (10a) zurück, dem
kaum ein lokales Bedeutungsmoment zuzusprechen ist.20 Außerdem kann
die Akkusativierung nicht nur bei den Präpositionalergänzungen ange-
nommen werden, sondern auch bei der Genitiv- oder Dativergänzung in
der Ausgangsstruktur. So entspricht der Akkusativ im soeben besproche-
nen Beispiel (10c) mit biruahhen 'Sorge tragen für' dem Genitiv bei ruohhen
'beachten' wie in (10b), der als Alternativform zur Präpositionalphrase
anzusehen ist. Bei (11a) und (11b) mit swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan
'betrügen' liegt eine Ableitung vor, bei der der Dativ der Ausgangsstruktur
dem Akkusativ der abgeleiteten Valenzstruktur entspricht. Es gibt ferner
auch Ableitungen, bei denen unklar ist, welche Form akkusativiert wird.
Bei (12a) und (12b) mit liuhten 'leuchten' – inliuhten '(er)leuchten, sehend

_____________
20 Dies ist übrigens auch im Gegenwartsdeutschen der Fall, wie z.B. bei achten auf – beachten,
sprechen über – besprechen.
Inkorporation im Althochdeutschen 325

machen; hell werden' hat der Akkusativ der Ableitung keine entsprechen-
de Phrase in der Ausgangsstruktur:
(10a) Mit uuorton iz gimeinta . mit zeichonon gisceinta / al thaz iro fruma uuas .
sie ni ruahtun bi thaz / (O 3, 20, 186)
(Er) erklärte es mit Worten, zeigte es mit Wundertaten. All das war für ih-
ren Nutzen, aber es kümmerte sie nicht.
(10b)Ih zell in thanne in gahun . thaz sie mir kund ni uuarun / theih er sie hal
iu lango . ni ruach ih iro thingo / (O 2, 23, 28)
Ich sage ihnen dann sofort, dass ich sie nicht kannte, dass ich sie schon
früher lange nicht berücksichtigte, und dass sie mich jetzt nicht kümmern.
(10c) Thia zit eigiscota er fon in so ther sterro giuuon uuas queman zi in . / bat
sie iz ouh biruahtin . bi thaz selba kind irsuahtin / (O 1, 17, 44)
Er erkundigte sich von ihnen nach der Zeit, in der der Stern immer zu ih-
nen kam, und bat sie, sich darum zu kümmern, nach dem Kind zu suchen.

(11a) Er ouh iacobe ni sueih . tho er themo bruader insleih / uuas io mit imo
thanne . in themo fliahannE / (O H, 81)
Er ließ auch Jacob nicht im Stich, als er vor seinem Bruder floh, war dann
immer bei ihm auf der Flucht.
(11b)oba thin zesuuua ouga thih bisuihhe arlosi iz thanne Inti aruuirphiz fon
thir (T 63, 24)
Wenn dich dein rechtes Auge betrügt, dann lös es heraus und wirf es von
dir weg.

(12a) so liuhte iuuar lioht fora mannon thaz sie gisehen iuuaru guotu uuerc Inti
diurison iuuaran fater thie in himilon ist (T 61, 28)
So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie euer gutes Werk
sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist.
(12b)Thaz lioht ist filu uuar thing . inliuhtit thesan uuoroltring / ioh mennis-
gon ouh alle . ther hera in uuorolt sinne / (O 2, 20, 13)
Das Licht ist ein sehr wahres Ding, erleuchtet diese Welt und alle Men-
schen, die auf diese Welt kamen.

Typ II: Einführung des Dativs


Es gibt auch Verbpaare, bei denen die Einführung einer Dativergänzung
in die Valenzstruktur durch die Präfigierung angenommen werden kann,
so z.B. (13a) und (13b) faran 'gehen' – forafaran 'vorbeigehen, vorausgehen',
326 Susumu Kuroda

(14a) und (14b) stantan 'stehen' – obastantan 'stehen über' wie (15a) und
(15b) gangan 'gehen' – intgangan 'entgehen'. Dieser Typ der Valenzstruktur-
veränderung wird im Zusammenhang mit der Inkorporation nur selten dis-
kutiert,21 ist aber auch im Gegenwartsdeutschen festzustellen, wie kommen
– entkommen (Der Kommissar entkam seinen Verfolgern), fahren – vorfahren (Ich
fahre dir vor) oder setzen – vorsetzen (Ich setze dir einen kleinen Imbiss vor). Die
Einführung des Dativs ist allerdings weit weniger ausgeprägt als die Ein-
führung des Akkusativs, wie es auch im Gegenwartsdeutschen der Fall ist.
Insgesamt lassen sich 15 Verbpaare für diesen Veränderungstyp feststel-
len:
(13a) Inti her ferit fora Inan In geiste Inti In megine heliases. (T 27, 4)
Und er geht vor ihm mit Geist und Kraft von Elias.
(13b)Ih faru dhir fora endi chidhuuingu dhir aerdhriihhes hruomege. (I 156)
Ich gehe dir voran und erniedrige die Ruhmreichen auf der Erde.

(14a) Thoh ih tharzua hugge . thoh scouuon sio zi rugge / bin mir menthenti . in
stade stantenti / (O 5, 25, 100)
Wenn ich daran denke, und auf sie zurückblicke, stehe ich mit Freude am
Ufer.
(14b)Ih chisah druhtin sitzendan oba dhrato hohemu hohsetle, endi seraphin dhea
angila stuondun dhemu oba. (I 348)
Ich sah den Herrn auf einem sehr hohen Thron sitzen. Und Serafim, die
Engel, standen über ihm.

(15a) inti mittiu ana sazta in sino henti gieng thana; (T 162, 4)
und nachdem er ihnen seine Hände auflegte, ging er weg.
(15b)Sie arabeitotun . thia naht al in gimeitun . / thie fisga in al ingiangun .
niheinan ni gifiangun . / (O 5, 13, 6)
Sie bemühten sich die ganze Nacht umsonst, alle Fische ent-gingen ihnen,
sie fingen keinen einzigen.

Typ III: Einführung des Genitivs


Für die Einführung einer kasuellen ablativischen Ergänzung, die den Aus-
gangspunkt der Bewegung bezeichnet, kann neben dem Dativ wie in (15b)
auch der Genitiv zum Einsatz kommen, so wie (16a) und (16b) mit bintan
_____________
21 Vgl. Wunderlich (1987).
Inkorporation im Althochdeutschen 327

'binden'– intbintan 'losbinden'. Dieser Veränderungstyp ist wie die Einfüh-


rung des Dativs auch nicht besonders ausgeprägt. Er ist lediglich bei sechs
Verbpaaren festzustellen, so dass er nur als ein Randtyp angesehen werden
kann:
(16a) Inti sih nahenti bant sina uuvntun goz thara ana oli Inti uuin. (T 210,
24)
(Er) nahte ihm, verband seine Wunden und goss darauf Öl und Wein.22
(16b)Er tho in alauuari . then liutin deta mari / thaz iz uuas ther heilant . ther
inan thes seres inbant / (O 3, 4, 48)
Dann tat er dem Volk fürwahr kund, dass es der Heiland war, der ihn von
seinem Leiden befreite.

Typ IV: Reflexivierung


Bei einer Reihe von Belegen der präfigierten Verben ist ein Reflexivum
festzustellen. Allerdings weist es meist kein besonderes Verhalten gegen-
über den nicht-reflexivischen Ergänzungen auf, so dass es analog zu nor-
malen Ergänzungen im entsprechenden Kasus aufgefasst werden soll. Als
Reflexivierung wollen wir deshalb nur diejenigen Fälle auffassen, in welchen
die Einführung eines Reflexivums durch die Präfigierung angenommen
werden kann, dem kein voller Satzgliedstatus23 zuzuerkennen ist. So ein
Fall liegt in (17a) und (17b) mit swerren 'schwören' – furswerren 'falsch
schwören' vor, aber sonst ist ein vergleichbarer Fall nur einmal festzustel-
len:
(17a) uso uuer so suerit bi themo temple ther nist niouuiht therde suerit In gold
temples scal. (T 244, 17)
Wenn jemand beim Tempel schwört, gilt es nicht. Wer beim Gold des
Tempels schwört, soll es tun.
(17b)Thaz man sih ni firsuerie . thaz uuan ih uuizod uuerie / minu uuort
thiu uuerrent . thaz ir sar ni suerrent . / (O 2, 19, 7)
Meineidig zu sein – glaube ich – verbietet das Gesetz. Meine Worte verbie-
ten, überhaupt zu schwören.

_____________
22 Im Beispiel (16a) fehlt allerdings die dem Genitiv in (16b) entsprechende Ergänzung.
23 Der Satzgliedstatus lässt sich durch verschiedene Kriterien feststellen, z.B. dadurch, ob ihm
eine eigenständige Kasusrolle zugeschrieben werden kann.
328 Susumu Kuroda

Typ V: Reduktion
Es ist auch in unserem Korpus anzunehmen, dass die Präfigierung die
Reduzierung der Valenzstruktur verursacht. Meist ist davon die Präposi-
tionalergänzung betroffen, wie es bei (18a) und (18b) werfan 'werfen' –
ziwerfan 'auseinanderwerfen' beobachtet werden kann. Hierbei handelt es
sich um eine relativ große Gruppe, die aus 41 Verbpaaren besteht:
(18a) Sie uuurfun tho zi zesue . thaz iro nezzi in then se / in quam sar ingegi-
ni . fisgo mihil menigi / (O 5, 13, 15)
Sie warfen da ihr Netz nach rechts in den See, sogleich kam eine Menge
von Fischen zu ihnen.
(18b)Giang er in thaz gotes hus . dreip se al thanan uz / ziuuarf er al bi noti .
thio iro bos.heiti / (O 4, 4, 66)
Er ging ins Gotteshaus, trieb sie alle von dort hinaus, und warf all ihr eitles
Ding auseinander.

Im vorliegenden Beitrag wollen wir uns aber vorerst auf die Typen mit der
Einführung der Akkusativergänzung konzentrieren, die am häufigsten
auftreten und als Haupttypen anzusehen sind. Die anderen Typen sollen
bei einer künftigen Gelegenheit noch ausführlicher diskutiert werden.

4.1. Gruppe α: Einführung der lokalen Akkusativergänzung

Wie aus der obigen Betrachtung hervorgeht, ist die Einführung der Akku-
sativergänzung in die Valenzstruktur sowohl bei der A- (nur als Präfix) als
auch bei der B-Präfigierung (Präfix als auch Partikel) zu beobachten. Aber
bei näherer Betrachtung zeigt sich ein gewisser Unterschied im Verhalten
der beiden Präfigierungstypen im Zusammenhang mit der Einführung der
Akkusativergänzung.
Zunächst ist es besonders auffallend, dass die Akkusativierung der
nicht-lokalen Präpositionalergänzung des Simplex wie oben in (10a) bis
(12b) überwiegend bei der A-Präfigierung anzunehmen ist. Sicherlich kann
bei der B-Präfigierung auch die Akkusativierung der Präpositionalergän-
zung angenommen werden, aber diese scheint weitgehend den Präpositio-
nalergänzungen lokalen Charakters vorbehalten. Dabei handelt es sich
meist um Direktivergänzung, wie vorhin die Beispiele (9a) und (9b) mit
senten 'senden' – anasenten 'werfen auf'. Zusätzlich könnten Verbpaare wie
(19a) und (19b) wenten 'wenden' – anawenten 'anlegen' oder wie (20a) und
(20b) sezzen 'platzieren' – furisezzen 'vorlegen' als weitere Beispiele genannt
werden, wobei bei (19b) und (20b) wie bei (9b) eine doppelakkusativische
Inkorporation im Althochdeutschen 329

Valenzstruktur vorliegt. Die Akkusativierung der lokativen Präpositional-


ergänzung durch die Partikelpräfigierung kann auch wie bei (21a) und
(21b) wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' angenommen werden:
(19a) Sie ougun zi imo ouh uuentent . ioh forahtente stantent / ist in harto in
muate . uuio er bi sie gibiete / (O 5, 20, 61)
Sie richten ihre Augen auf ihn und stehen mit Furcht. Es liegt ihnen schwer
am Herzen, wie er über sie entscheidet.
(19b)Druhtin ist er guater . ioh thiarna ist ouh sin muater / er tod sih
anauuentit . in themo thritten dage irstaentit / (O 1, 15, 34)
Er ist der gnadenvolle Herr, und seine Mutter ist auch Jungfrau. Er erleidet
den Tod und er steht am dritten Tag auf.

(20a) merun therra minna nioman habet thanne thaz uuer sin ferah seze furi
sina friunta. (T 284, 10)
Niemand hat eine größere Liebe, als dass einer für seine Freunde sein Le-
ben hingibt.
(20b)Inti thar uuonet unzir uz faret., ezente Inti trinkente thiu man iuuih fu-
risezze. (T 76, 28)
Und bleibt dort, bis ihr weggeht, und esst und trinkt, was man euch vor-
legt.

(21a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In
hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16)
Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb
in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(21b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan
ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38)
Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf
ihm.

Die Akkusativierung der lokalen Präpositionalergänzung kann freilich


auch bei der A-Präfigierung angenommen werden, wie es oben bei (8a)
und (8b) giozan 'gießen' – bigiazan 'begießen' zu sehen war. Aber eine sol-
che lokalbezogene Valenzstrukturveränderung ist bei den A-Präfigier-
ungen weit weniger ausgeprägt. In meinem Korpus stehen fünf
A-Präfigierungs-Verbpaare mit lokalbezogener Valenzstrukturveränderung
(Gruppe α) 15 mit nicht-lokaler Valenzstrukturveränderung (Gruppe β)
gegenüber, d.h. erstere machen lediglich ein Drittel aus.
330 Susumu Kuroda

Die Akkusativierung der lokalen Präpositionalergänzung durch die


Präfigierung können wir in unserem Korpus bei folgenden Verbpaaren
annehmen. Hierbei handelt es sich um Verben, die eine Lokalbezogenheit
bereits in der Verbsemantik enthalten, wobei die B-Präfigierungen deut-
lich dominieren (20 Präfigierungen gegenüber fünf A-Präfigierungen):

A-Präfigierung
bi-
giozan '(ver)gießen' – bigiazan 'begießen'
stantan 'stehen' – bistantan 'stehen um'
werfan 'werfen' – biwerfan 'zuwerfen'
fir-
gangan 'gehen' – firgangan 'vorübergehen'
loufan 'laufen' – firloufan2 'überholen'24
B-Präfigierung
ana-
blasan 'einhauchen' – anablasan 'einhauchen'
gangan 'gehen' – anagangan 'herankommen an'
leggen 'legen' – analeggen 'anlegen'
queman 'kommen' – anaqueman 'kommen zu'
senten 'senden' – anasenten 'werfen auf, setzen'
wenten1 'wenden' – anawenten 'anlegen'25
werfan 'werfen' – anawerfan 'bewerfen'
thuruh-
faran 'fahren' – thuruhfaran '(hin)durchgehen'
fora / furi-
faran 'fahren' – forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen'26
gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen'
loufan 'laufen' – furiloufan 'vorrücken, überholen'
queman 'kommen' – foraqueman 'zuvorkommen'
sezzen 'plazieren' – furisezzen2 'vorlegen'27

_____________
24 firloufan2 'überholen' ist hier von der intransitiven Variante firloufan1 'laufen' unterschieden.
25 wenten1 'wenden' ist hier von der intransitiven Variante wenten2 'wenden' unterschieden.
26 forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen' ist hier von der den Dativ regierenden Variante forafa-
ran2 'vorbeigehen, vorausgehen' unterschieden.
27 furisezzen2 'vorlegen' ist hier von der bitransitiven Variante furisezzen1 'vorlegen' unterschie-
den.
Inkorporation im Althochdeutschen 331

in-
gangan 'gehen' – ingangan2 'gehen in'
ubar-
gangan 'gehen' – ubargangan 'übergehen'
faran 'fahren' – ubarfaran 'hin(weg)gehen über'
wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über'
umbi-
bisehan 'sehen, sorgen für' – umbibisehan 'umherblicken'
gangan 'gehen' – umbigangan 'herumgehen (um)'
graban 'graben' – umbigraban 'mit einem Graben umgeben'

4.2. Gruppe β: Einführung der nicht-lokalen Akkusativergänzung

Hingegen überwiegen die A-Präfigierungen bei der Akkusativierung der


nicht-lokalen Präpositionalergänzung, wie wir sie oben bei den Beispielen
(1a) und (1b) mit jammern – bejammern oder den althochdeutschen Beispie-
len (10a) bis (12b) mit ruohhen 'beachten' – biruahhen 'Sorge tragen für',
swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen' oder liuhten 'leuchten' – in-
liuhten '(er)leuchten, sehend machen; hell werden' beobachtet haben. Bei
dieser Gruppe handelt es sich um Verben, bei denen die Bewegung oder
die Positionierung nicht in der Bedeutung vorliegt. Dabei ist die Ergän-
zung des Simplex, die der Akkusativergänzung der Ableitung entspricht,
nicht nur auf die Präpositionalergänzung beschränkt. So wollen wir im
Folgenden die betreffenden Verbpaare auflisten, wobei auch auf die mut-
maßlichen Ausgangsformen geachtet wird:

Ausgangsform: Genitiv
A-Präfigierung
bi-
ruohhen 'beachten' – biruahhen 'Sorge tragen für'
sworgen 'in Sorge sein wegen' – bisworgen 'Sorge tragen für'
trahton 'betrachten' – bitrahton 'erwägen'
fir-
lougnen 'verleugnen' – firlougnen 'verleugnen'
ir-
faren 'nachstellen' – irfaren 'ergreifen'
jehan 'sagen' – irgehan 'zeugen von'
332 Susumu Kuroda

B-Präfigierung
ubar-
hogen / huggen 'denken an' – ubarhugen 'verachten'

Ausgangsform: Dativ
A-Präfigierung
bi-
swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen'
wankon 'wanken' – biwankon 'unterlassen'
fir-
geltan2 'vergelten' – firgeltan2 'vergelten'28

Ausgangsform: Präpositionalphrase
A-Präfigierung
bi-
zellen2 'zuschreiben' – bizellen 'beschuldigen'29
ir-
rahhon 'erzählen' – arrahhon 'erzählen'
B-Präfigierung
ana-
zellen2 'zuschreiben' – anazellen 'beschuldigen'
ubar-
winnan 'kämpfen' – ubarwinnan 'besiegen'

Ausgangsform: unklar
A-Präfigierung
bi-
scinan 'scheinen' – biscinan 'bescheinen'
fir-
sprehhan 'sprechen' – firsprehhan 'sprechen für'
int-
liuhten 'leuchten' – inliuhten2 '(er)leuchten, sehend machen; hell wer-
den'
_____________
28 geltan2 'vergelten' und firgeltan2 'vergelten' sind jeweils von der Variante geltan1 'geben' bzw.
firgeltan1 'geben' unterschieden.
29 zellen2 ist hier von der Variante zellen1 'erzählen' unterschieden.
Inkorporation im Althochdeutschen 333

ir-
suohhen 'suchen' – irsuohhen2 'durchsuchen, verhören'
B-Präfigierung
untar-
weban 'weben' – untarweban 'untereinander verweben'
Hier ist die Überlegenheit der A-Präfigierungen (15 Präfigierungen gegen-
über vier B-Präfigierungen) deutlich zu erkennen. So kommt der Verdacht
auf, dass die Nähe der B-Präfigierung zur Partikel wohl zu einer bevorzug-
ten Lokalbezogenheit der Valenzstrukturveränderung führt. Die Präfixe
sind nämlich generell weniger lokalbezogen, während die Partikeln hinge-
gen freier vom Verb sind als die Präfixe, so dass die Nähe zum Lokalad-
verb stärker zum Vorschein kommt.

5. Besondere Transitivierungsfunktion
der B-Präfigierung
Ferner fällt auf, dass bei einigen B-Präfigierungen der Gruppe α Valenz-
strukturveränderungen beobachtet werden können, die im Gegenwarts-
deutschen nicht möglich sind. So haben wir bereits oben bei (9b) mit ana-
senten 'werfen auf', (19b) mit anawenten 'anlegen' und (20b) mit furisezzen
'platzieren' aus der gegenwartsdeutschen Sicht ungewöhnliche Valenz-
strukturveränderungen gesehen, die eine doppelakkusativische Struktur
herstellen.
Allerdings ist es nicht nur die doppelakkusativische Valenzstruktur an
sich, die hier auffällt. Vielmehr ist es interessant, dass die B-Präfi-
gierungen, die den gegenwartsdeutschen Partikeln entsprechen, auch die
Akkusativeinführung zu ermöglichen scheinen, obwohl dies im Gegen-
wartsdeutschen beinahe nicht möglich ist. Als Beispiel hierfür können
(22a) und (22b) mit gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen' und
(23a) und (23b) mit wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' hinzugefügt
werden. Hier werden intransitive Verben transitiviert, wobei als
a-Beispiele Sätze mit Simplizia mit entsprechenden Präpositionalergän-
zungen angegeben sind:
(22a) Zit uuard tho gireisot . thaz er giangi furi got . / opphoron er scolta . bi
thie sino sunta . / (O 1, 4, 11)
Da war die Zeit gekommen, in der er zu Gott gehen und für seine Sünde
Opfer bringen sollte.
334 Susumu Kuroda

(22b)In thero fiordun uuahtu thero naht gisehenti sie uuinnente quam zi in gan-
ganter oba themo seuue. Inti uuolta furigangan sie (T 119, 17)
In der vierten Nachtwache sah er, dass sie sich abmühten, und kam zu ih-
nen auf dem See gegangen und wollte an ihnen vorübergehen.

(23a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In
hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16)
Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb
in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(23b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan
ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38)
Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf
ihm.

Vor dem Hintergrund der bisher besprochenen Beispiele können wir an-
nehmen, dass im Althochdeutschen bei der Einführung der Akkusativer-
gänzung in die Valenzstruktur den Präfixen und Partikeln jeweils unter-
schiedliche Operationen zugrunde liegen.
Die Präfixe, die sich wesentlich früher als Verbzusatz etabliert haben
als die Partikeln, haben generell weit mehr lokalen Bezug eingebüßt als die
Partikeln.30 Die Präfixe bi-, ir-, fir-, die in meinem Korpus am häufigsten
auftreten, stellen eine klitisierte Form dar, die die Verwandtschaft mit den
entsprechenden Präpositionen oder Adverbien umbi, uz, furi nicht unmit-
telbar erkennen lassen. Bei der Präfigierung erwirken sie auch nicht immer
eine Bedeutungsmodifikation, die als lokal zu charakterisieren wäre. Hin-
gegen behalten die Partikeln die gleiche Form wie die entsprechenden
Präpositionen oder Lokaladverbien bei und bringen häufiger als die Präfi-
xe Bedeutungskomponenten in die Bedeutungsstruktur des Ausgangs-
verbs ein, denen lokative Eigenschaften unterstellt werden können.
Die Präfixe, die bereits im Gotischen weitgehend enklitisiert sind, sind
möglicherweise in althochdeutscher Zeit als grammatisches Mittel für die
Valenzstrukturveränderung etabliert. So vermochten sie wohl relativ frei
die Akkusativeinführung zu erwirken. Hingegen sind die Partikeln ent-
sprechend ihrer historischen Wurzel stärker an die lokale Bedeutung ge-
bunden und im Grammatikalisierungsgrad den Präfixen in dem Sinne
unterlegen, dass sie nur lokative Substantive akkusativieren. Aber sie hat-
ten womöglich als valenzmodifizierendes Mittel mehr Möglichkeiten als

_____________
30 Der lokale Bezug ist bei den Präfixen durch- und um- noch mitunter zu spüren, aber generell
ist der Abbau der Lokalbezogenheit bei den Präfixen deutlicher als bei den Partikeln.
Inkorporation im Althochdeutschen 335

im Gegenwartsdeutschen, die Valenzstruktur um ein lokatives Argument


zu erweitern.

6. Unterschiedliche Entwicklung der A- und


B-Präfigierung zum Gegenwartsdeutschen
Im Hinblick auf die Entwicklung zum Gegenwartsdeutschen hin ist inte-
ressant, dass man annehmen kann, dass sich die Präfixe und Partikeln
unterschiedlich entwickelt haben.
Im Gegenwartsdeutschen ermöglicht die Partikel-Präfigierung grund-
sätzlich keine Transitivierung der Intransitiva. Eine Ausnahme bildet dabei
die Partikel an- wie im bereits angesprochenen Beispiel (5), der wohl ein
Sonderstatus zukommt. Aber sonst ist eine vergleichbare Valenzstruktur-
veränderung bei den anderen Partikeln nicht zu verzeichnen. So besteht
der Verdacht, dass die Transitivierungsfunktion der Partikel im Laufe der
Zeit reduziert worden ist.
Außerdem ist im Gegenwartsdeutschen bei der Ableitung aus einem
transitiven Ausgangsverb die Valenzstrukturveränderungsfunktion der
Partikeln kaum ausgeprägt. Das einzige Beispiel, das ich gefunden habe, ist
(24) mit anschreiben; hier kodiert der Akkusativ nicht das Objekt des Aus-
gangsverbs schreiben, sondern den Adressaten. Dies spricht ebenfalls für
den Rückgang der Valenzstrukturveränderungsfunktion der Partikel.
(24) Mein Schuldenberater hat meine Gläubiger per E-Mail angeschrieben.
Dieser Umstand steht im deutlichen Gegensatz zum Präfix, dessen Va-
lenzstrukturveränderungsfunktion im Laufe der historischen Entwicklung
massiv an Bedeutung zunimmt. Von dieser Funktion wird im Gegen-
wartsdeutschen nachweislich weit mehr Gebrauch gemacht als im Alt-
hochdeutschen.31
Es ist sicherlich nicht abzustreiten, dass sich die Funktionsbereiche
des Präfixes und der Partikel überlagern. Aber das Verhalten der Präfixe
und Partikeln ist sowohl im Alt- als auch im Gegenwartsdeutschen unter-
schiedlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die beiden Kategorien unter-
schiedliche Entwicklungsprozesse erfahren haben. Dies ist eine vorläufige
Bilanz, der Gegenstand muss aber noch eingehender untersucht werden,
wobei natürlich auch die Veränderungstypen, die im Rahmen des vorlie-
genden Beitrags nicht behandelt wurden, mit in die Überlegung einbezo-
gen werden müssen.

_____________
31 Vgl. Kuroda (2007).
336 Susumu Kuroda

Quellen

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Monseer Fragmenten, Tübingen.
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Pariser Codex nebst critischem Texte der Pariser und Monseer Bruchstücke mit Einleitung,
grammatischer Darstellung und einem ausführlichen Glossar, Straßburg.
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tik, Metrik, Glossar, Nachdruck der Ausgabe 1881, Aalen.
Kleiber, Wolfgang (Hrsg.) (2004), Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch, Band I: Edition
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Masser, Achim (Hrsg.) (1994), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St.
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Piper, Paul (Hrsg.) (1884), Otfrids Evangelienbuch, Freiburg, Tübingen.
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Literatur

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der deutschen Verbalpräfixe, Heidelberg.
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1878, Hildesheim.
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deusz Zuchewicz (Hrsg.), Das Deutsche als Forschungsobjekt und als Studienfach,
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Lang / Gisela Zifonun (Hrsg.), Deutsch – typologisch, Berlin, New York, 261-288.
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German be-Verbs“, in: Linguistics, 25 / 1987, 283-311.
Pronominale Wiederaufnahme
im ältesten Deutsch
Personal- vs. Demonstrativpronomen im Althochdeutschen∗

Svetlana Petrova und Michael Solf (Berlin)

1. Untersuchungsgegenstand
Der vorliegende Beitrag untersucht die Distribution von Personalprono-
men und selbständig (substantivisch) gebrauchten Demonstrativprono-
men der dritten Person im älteren Deutsch. Leseproben aus verschiede-
nen Quellen der ältesten deutschsprachigen Überlieferung zeigen, dass
Formen der beiden Pronominalreihen bereits im Althochdeutschen paral-
lel auftreten, um einen vorerwähnten Diskursreferenten zu benennen, d.h.
sie fungieren gleichermaßen als Mittel der anaphorischen Referenz im
Diskurs. Zur Verdeutlichung führen wir ein Minimalpaar aus dem ahd.
Tatian an. Ein im vorangehenden Kontext in Form eines indefinit ge-
brauchten Nomens (sun) eingeführter Diskursreferent wird in (1) mittels
des Personalpronomens her, in (2) mittels des selbständig gebrauchten
Demonstrativpronomens ther wiederaufgenommen:
(1) thin quena elysab&h / gibirit thir sun. / Inti nemnis thû sinan namon
Iohannem. / Inti her ist thir gifeho Inti blidida/ […] her ist uuârlihho
mihhil fora truhtine (T 26, 25-30)
(2) seno nu Inphahis In reue Inti gibiris sun. / Inti ginemnis sinan namon
heilant, / ther ist mihhil. Inti thes hoisten sun / ist ginemnit (T 28,
17-20)

_____________
∗ Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen unserer Arbeit im DFG-finanzierten Sonder-
forschungsbereich „Informationsstruktur: die sprachlichen Mittel der Gliederung von Äu-
ßerung, Satz und Text“ der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Für wertvolle Anregungen danken wir Milena Kühnast (ZAS Berlin) und Augustin Speyer
(Tübingen).
340 Svetlana Petrova / Michael Solf

Weitere Belege zeigen, dass sich der anaphorische Gebrauch selbständiger


Demonstrativpronomen im Althochdeutschen nicht nur auf die sog. ein-
fachen Formen wie ther in (2) beschränkt, sondern auch die zusammenge-
setzten Formen wie theser in (3) umfasst. Wir betrachten daher beide For-
men der Demonstrativpronomen als eine einheitliche Klasse referierender
Ausdrücke im Diskurs:
(3) oba theser uuari uuizago / her uuessi iz giuuesso (T 238, 10-11)
Auf den ersten Blick sind weder Kriterien zu erkennen, die die Setzung
des Personal- oder des Demonstrativpronomens bestimmen, noch seman-
tische Unterschiede festzustellen, die mit der Wahl der jeweiligen Pro-
Form einhergehen. Insbesondere in Beispielen wie jenen in (1) und (2) ist
man kaum in der Lage, Anhaltspunkte für grammatische Faktoren zu
finden, die die Distribution der beiden Pronominalreihen in anaphorischer
Funktion steuern. Vielmehr fällt auf, dass die Kontexte, in denen die bei-
den Pronomen auftreten, inhaltlich und lexikalisch vollkommen identisch
sind: Es wird jeweils die Geburt eines Sohnes prophezeit, über den im
nachfolgenden Satz eine Aussage getroffen wird. Damit liegt zwar die
Vermutung nahe, dass es sich hierbei um freie Varianten handelt, die ohne
einen erkennbaren semantischen Unterschied eingesetzt werden können.
Wie aber in Abschnitt 3 zu zeigen sein wird, wäre das nach allem, was wir
über Anapherresolution wissen, überraschend. Im Folgenden soll deshalb
untersucht werden, ob die Verwendung von Personal- vs. Demonstrativ-
pronomen als Mittel der anaphorischen Referenz im Althochdeutschen
tatsächlich optional ist oder bestimmten Regeln unterliegt.

2. Forschungsrückblick
Die Frage nach den Parametern, die die Setzung von Personal- und selb-
ständig gebrauchten Demonstrativpronomen im Althochdeutschen be-
stimmen, ist unseres Wissens in der bisherigen Althochdeutschforschung
noch nicht eingehend untersucht worden. Die einschlägigen historischen
Standardwerke geben keine Auskunft darüber, dass die Verwendung von
Formen der beiden Pronominalreihen in irgendeiner Art und Weise gere-
gelt bzw. mit semantischen Interpretationseffekten verbunden sein kann.
Als zentral galt bislang die Frage nach der Herkunft der jeweiligen Flexi-
onsformen. In dieser Tradition steht auch die Arbeit von Lühr (1991), die
sich der Entstehung der erweiterten Formen des Demonstrativ- und Rela-
tivpronomens denen, deren, derer und dessen im Frühneuhochdeutschen wid-
met. Es handelt sich dabei ausgerechnet um jene Formen des einfachen
Demonstrativpronomens, die sich von den entsprechenden Paradigmen-
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 341

stellen beim bestimmten Artikel (hier den, der, der und des) im heutigen
Standarddeutschen unterscheiden. Die Bedingungen für den Gebrauch
der Demonstrativa gegenüber dem Personalpronomen werden bei Lühr
(1991) aber nicht weiter untersucht.
Ähnlich verhält es sich in den Spezialuntersuchungen, die sich insbe-
sondere in jüngster Zeit gezielt mit den Formen der Wiederaufnahme im
ältesten Deutsch auseinandersetzen. Der Gebrauch von selbständigen
Demonstrativpronomen als Mittel der anaphorischen Referenz wird in
einigen von ihnen1 knapp erwähnt, eine semantische Opposition zu der
Wiederaufnahme durch Personalpronomen wird jedoch nicht thematisiert.
Erst in jüngster Zeit, in der Arbeit von Solf (2008), wird die Frage nach
den Parametern gestellt, die für die Setzung des Demonstrativpronomens
gegenüber dem Personalpronomen im Althochdeutschen relevant sind.
Die dort im Rahmen eines Teils der Studie dokumentierten Beobachtun-
gen werden in der vorliegenden Arbeit erneut aufgegriffen und im größe-
ren Kontext der modernen theoretischen Diskussion zur Anapherresolu-
tion erörtert.

3. Er vs. der im Neuhochdeutschen


Auch im heutigen Deutschen besteht im Bereich der anaphorischen Wie-
deraufnahme Varianz zwischen Personal- und selbständig gebrauchten
Demonstrativpronomen der dritten Person. Wie die Beispiele in (4) zei-
gen, ist die Wiederaufnahme des im vorangehenden Satz etablierten Dis-
kursreferenten eine Frau sowohl durch das Personalpronomen sie in (4a) als
auch durch das Demonstrativpronomen die in (4b) möglich. Die verwen-
deten Subskripte zeigen die jeweilige Identität von Referenten an, d.h.
gleiche Indizes stehen für die Koreferenz von Antezedens und Anapher:
(4) Paul sah eine Fraui kommen.
(4a) Siei trug einen schwarzen Mantel.
(4b) Diei trug einen schwarzen Mantel.
Beispiele wie jene in (4) haben zu der Auffassung geführt, dass die beiden
Pronominalreihen im heutigen Deutsch weitgehend funktionsidentisch
_____________
1 Valentin (2003, 180f.) erwähnt die anaphorische Wiederaufnahme durch selbständig ge-
brauchte Demonstrativpronomen bei Otfrid, wobei als Beispiele dafür lediglich Neutra ge-
nannt werden, die sich nicht auf konkrete Diskursreferenten beziehen, sondern vorab dar-
gestellte Ereignisse oder Aussagen zusammenfassend bezeichnen. Auch Lefevre (2005,
225) gibt einen kurzen Hinweis auf den anaphorischen Gebrauch von selbständigen De-
monstrativa im 17. Jh.
342 Svetlana Petrova / Michael Solf

sind, wobei die Wahl des Demonstrativpronomens als eine vorwiegend


für die Umgangssprache typische Erscheinung beurteilt wird. Frühere
Ausgaben der Duden-Grammatik geben dazu folgenden Hinweis: „Die
Rückweisung im Nominativ, Dativ oder Akkusativ Singular oder Plural
durch der usw. statt durch das Personalpronomen wird oft als umgang-
sprachlich empfunden und in der Literatur stilistisch genutzt“ (1995, 333).
Die Wahl zwischen den beiden Pronominalreihen wird damit zu einer
Frage des Stils erklärt.
In der Neubearbeitung zur siebten Ausgabe der Duden-Grammatik
(2006) fehlen Angaben über eine rein stil- bzw. registergesteuerte Ver-
wendung von Personal- vs. Demonstrativpronomina im Gegenwartsdeut-
schen. Darüber hinaus führen neuere Untersuchungen zur Pronominalre-
solution wie Abraham (2002), Bosch u.a. (2003, 2007), Bosch und
Umbach (2007) Beispiele an, in denen die Wahl von Formen der beiden
Pronominalreihen Unterschiede in der Auflösung der Referenzbeziehun-
gen nach sich zieht und damit Einfluss auf die semantische Interpretation
der Aussage nimmt. Betrachten wir die Möglichkeiten der pronominalen
Auflösung in (5a) vs. (5b):
(5) Pauli wollte mit Peterj laufen gehen,
(5a) aber eri / j war erkältet.
(5b) aber der*i / j war erkältet. (Vgl. auch Bosch u.a. 2007, 146)
Der Satz in (5a) ist ambig: Obwohl eine klare Präferenz festgestellt wird,
das Personalpronomen er auf das Subjekt des vorangehenden Satzes, also
auf Paul, zu beziehen, ist ein Bezug durch er auf das Objekt, also auf Peter,
ebenfalls möglich. Diese Ambiguität verschwindet, wenn man anstatt des
Personalpronomens das Demonstrativum der einsetzt, vgl. (5b). In diesem
Fall bezieht sich das Demonstrativpronomen ausschließlich auf denjeni-
gen Referenten, der im Objekt des vorangehenden Satzes realisiert ist, also
auf Peter. Dagegen ist ein Bezug von der auf das Subjekt des vorangehen-
den Satzes, also auf Paul, nicht möglich. Ein Asterisk vor dem jeweiligen
Referenzindex in (5b) signalisiert, dass die Referenzidentität zwischen der
und Paul blockiert ist.
Damit steht fest, dass die Wahl des Pronomens bei Vorliegen mehre-
rer potentieller Bezugsreferenten Auswirkungen auf die pronominale Re-
solution haben kann. Die Distribution von Personal- vs. Demonstrativ-
pronomen im heutigen Deutsch ist demnach nicht optional oder
registergesteuert. Es steht zu überprüfen, ob im System des ältesten
Deutsch ähnliche semantische Effekte zu beobachten sind, die mit der
Wahl der jeweiligen Form der anaphorischen Wiederaufnahme verknüpft
sind.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 343

4. Grammatischer Exkurs:
Salienz und Anapherresolution
Von entscheidender Bedeutung für unsere Fragestellung sind demnach die
Faktoren, die für die Wahl von referierenden Ausdrücken im Diskurs
verantwortlich sind. Damit ist ein zentraler und hochaktueller Untersu-
chungsgegenstand der modernen diskursorientierten Linguistik benannt,
der in jüngster Zeit zu einer Vielzahl von Lösungsansätzen im Rahmen
verschiedener theoretischer Richtungen geführt hat.
Ausgangspunkt der Kontroverse um die Prinzipien der Anapherreso-
lution ist die Beobachtung, dass Sprachen über eine Vielzahl von formal
unterschiedlichen Mitteln verfügen, um auf ein und dieselbe Entität im
Diskurs zurückzuverweisen. Dieses Phänomen bezeichnet man in der
heutigen Literatur als Referential Choice. Allen Ansätzen gemeinsam ist dabei
die Ansicht, dass zwischen der Form des referierenden Ausdrucks und
dem kognitiven Status des Antezedens ein enger Zusammenhang besteht.
Die Bandbreite von Ausdrucksformen der anaphorischen Referenz
reicht – über die Einzelsprachen hinaus betrachtet – von vollen lexikali-
schen Phrasen über verschiedene pronominale Mittel bis hin zu Null-
Elementen. Dadurch ergibt sich eine Skala von Ausdrucksmitteln, deren
Grad an lexikalischer Explizitheit kontinuierlich abnimmt:
(6) volle definite Phrase > pronominale Mittel > Null-Element
Es wird allgemein angenommen, dass sich die lexikalische Explizitheit der
Anapher umgekehrt proportional zum Grad der Aktiviertheit bzw. Zu-
gänglichkeit des Referenten in der jeweiligen Phase im Diskurs verhält: Je
weniger aktiviert bzw. zugänglich der Referent eines Ausdrucks ist, desto
lexikalisch expliziter ist die Form, mit der er bezeichnet wird.
Der Grad der Aktiviertheit bzw. Zugänglichkeit eines Diskursreferen-
ten im gemeinsamen Wissensbereich von Sprecher und Hörer zu einer
bestimmten Phase im Diskurs wird mit dem Begriff Salienz bezeichnet.
Mit anderen Worten hängt die Form eines referierenden Ausdrucks mit
der Salienz des entsprechenden Antezedens zusammen. Auf unser Prob-
lem übertragen bedeutet das, dass für die Distribution von Personal- vs.
Demonstrativpronomen im Deutschen die Salienzeigenschaften der zu-
grunde liegenden Bezugsreferenten von Bedeutung sind.
Aber welche Faktoren sind für die Ermittlung des Salienzstatus von
Diskursreferenten relevant? Genau an diesem Punkt unterscheiden sich
die Antworten, die uns die verschiedenen theoretischen Richtungen in-
nerhalb der gegenwärtigen Forschung bieten. Wir geben einen kurzen
Überblick über die relevantesten Ansätze und ihre Kernaussagen.
344 Svetlana Petrova / Michael Solf

4.1. Salienz und grammatische Funktion von Ausdrücken

Die Centering Theory, eine der Theorien, die sich am intensivsten mit Fragen
der Anapherresolution und Salienzskalierung befassen, verbindet die Sa-
lienz von Referenten mit der grammatischen Funktion, die der sie be-
zeichnende Ausdruck im Subkategorisierungsrahmen des regierenden
Verbs im vorangehenden Satz einnimmt. Brennan u.a. (1987, 156) schla-
gen folgende Anordnung von grammatischen Relationen in Hinblick auf
die Salienz der in ihnen benannten Diskursreferenten vor: „[F]irst the
subject, object, and object2, followed by other subcategorized functions,
and finally adjuncts“. Demnach ergibt sich folgende Skalierung von
grammatischen Relationen, die den Salienzgrad von Diskursreferenten
bestimmen:
(7) Subjekt > Objekt [1] > Objekt [2] > … > Adjunkte
Dieses Schema lässt sich wie folgt interpretieren: Der Referent, der in der
grammatischen Funktion des Subjekts realisiert wurde, stellt den salien-
testen Diskursreferenten für den Folgediskurs bereit. Ihm folgt der Refe-
rent des Objekts, das vom lexikalischen Verb, also als Schwester von V°,
selegiert wurde. Dieser ist wiederum salienter als der Referent des Objekts,
das von einer Zwischenprojektion V’, d.h. von der Verbindung des lexika-
lischen Verbs mit seinem ersten Objekt, gefordert wurde. Schließlich fol-
gen die Referenten, die in der Funktion von Modifikatoren (Attributen)
bzw. Adjunkten (Umstandsangaben) auftreten.
Am Beispiel eines dreiwertigen Transferverbs wie dt. geben bedeutet
dies, dass hier das Subjekt salienter ist als das direkte Akkusativobjekt,
dieses salienter ist als das indirekte Dativobjekt, welches salienter ist als die
Referenten in Modifikatoren oder Adjunkten der Aussage, vgl. (8):
(8) Salienzskala der Referenten eines dreiwertigen Transferverbs wie
geben:
Nom-Subjekt > Direktes Objekt > Indirektes Objekt > Rest
Bezogen auf die Verhältnisse in unserem Ausgangsfall in (1) und (2) bringt
dieser Ansatz noch keine entscheidende Lösung mit sich: Es ist unschwer
zu erkennen, dass hier verschiedene Formen der anaphorischen Wieder-
aufnahme für Referenten gebraucht werden, deren Antezedentien ein und
dieselbe grammatische Funktion im vorangehenden Diskurs ausüben,
nämlich die des direkten Objekts.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 345

4.2. Salienz und Gegebenheit

Ein anderer prominenter Ansatz geht von der Annahme aus, dass der
Salienzgrad von Diskursreferenten mit ihrer kognitiven Zugänglichkeit,
also mit ihrer Gegebenheit im aktuellen Diskursabschnitt zusammenhängt.
Demnach ist für die Salienzskalierung von Bedeutung, ob ein Diskursrefe-
rent im gegebenen Kontext eine bereits bekannte oder eine neue Entität
darstellt. Doch insbesondere seit der Arbeit von Prince (1981) steht fest,
dass die Zugänglichkeit von Referenten kaum mehr mit der traditionellen
Dichotomie von gegeben vs. neu erfasst werden kann. Prince macht deutlich,
dass dieses Begriffspaar nicht ausreicht, um sämtliche im Diskurs vor-
kommenden Stufen der kognitiven Aktiviertheit von Referenten zu be-
nennen. Stattdessen wird eine neuartige Typologie vorgeschlagen, die auf
der Dreiteilung von gegebener, inferierbarer und neuer Information basiert und
darüber hinaus weitere Differenzierungen innerhalb dieser Kategorien
unternimmt. Die Begriffe gegeben und neu – oder die jeweiligen Unterklas-
sen dieser Begriffe – stellen damit die Endpole einer skalaren Anordnung
von Kategorien dar, die von der expliziten Vorerwähnung im unmittelbar
vorangehenden Kontext über verschiedene Arten der Erschließbarkeit aus
dem Diskurshintergrund bzw. aus dem Weltwissen der Diskurspartizipan-
ten heraus bis hin zur Neueinführung brandneuer Entitäten reicht.
Gundel u.a. (1993) vertreten die Ansicht, dass den unterschiedlichen
Gegebenheitsstufen von Referenten im Diskurs unterschiedliche formale
Mittel der Wiederaufnahme entsprechen. Sie stellen in Anlehnung an
Prince (1981) eine Hierarchie von sechs Gegebenheitsstufen zusammen.
Ihnen werden die formalen Mittel zugeordnet, die in einer Vielzahl von
Sprachen als Korrelat der jeweiligen Gegebenheitsstufe identifiziert wur-
den. Die ermittelten Ausdrucksformen reichen von unbetonten Personal-
pronomen über verschiedene semantische Arten von Definitphrasen bis
hin zu Indefinitphrasen, vgl. (9):
(9) The Givenness Hierarchy von Gundel u.a. (1993)
in uniquely type
focus > activated > familiar > identifiable > referential > identifiable
that
{indefinite
{it} this {that N} {the N} {a N}
this N}
his N

Es liegt nahe, die von uns untersuchten Mittel der anaphorischen Wieder-
aufnahme – die Personal- und selbständig gebrauchten Demonstrativpro-
346 Svetlana Petrova / Michael Solf

nomen im Deutschen – mit den von Gundel u.a. (1993) vorgesehenen


Ausdrücken it und that / this zu identifizieren. Demzufolge stellt das Per-
sonalpronomen in der Regel den Bezug auf unmittelbar vorerwähnte, im
Mittelpunkt der Auseinandersetzung im Diskurs liegende Entitäten her.
Das Demonstrativpronomen nimmt ebenfalls Bezug auf Entitäten, die
sich im Kurzzeitgedächtnis der Partizipanten befinden; es kann aber kon-
textuell ferner liegende Antezedentien wiederaufnehmen bzw. Einheiten
bezeichnen, die zwar noch nicht explizit benannt wurden, aber zum un-
mittelbaren sprachlichen oder außersprachlichen Kontext gehören.
Gundel u.a. (1993) räumen jedoch ein, dass jeder referierende Aus-
druck aus dem Inventar in (9) nicht nur auf Referenten mit der jeweils
zugewiesenen Gegebenheitsstufe verweist, sondern auch auf alle schwä-
cheren Stufen, d.h. auf die Stufen, die sich jeweils links in der Skala befin-
den. Bezogen auf unseren Untersuchungsgegenstand ergibt sich daraus,
dass sich das selbständig gebrauchte Demonstrativum sowohl auf die
Gegebenheitsstufe activated als auch auf die links davon eingeordnete Stufe
in focus beziehen kann. Mit anderen Worten kann die Wahl eines De-
monstrativums als Mittel der anaphorischen Referenz im Diskurs densel-
ben Bedingungen unterliegen, die auch für die Wahl eines Personalpro-
nomens gelten. In unserem Ausgangsfall in (1) und (2) trifft das genau zu:
Den Unterschieden auf der Formseite der gewählten Ausdrucksmittel
stehen identische Verhältnisse in Hinblick auf den kontextuell rekon-
struierbaren Gegebenheitsstatus der Antezedentien gegenüber.
Darüber hinaus machen Bosch und Umbach (2007) auf eine Beson-
derheit im Gebrauch von Personal- und Demonstrativpronomen im
Deutschen aufmerksam, die in unmittelbarem Widerspruch zu der von
Gundel u.a. (1993) gegebenen Differenzierung der semantischen Eigen-
schaften von Ausdrucksformen der Stufen activated und in focus steht. Wie
(10) zeigt, sind im Deutschen sowohl Personal- als auch Demonstrativ-
pronomen in der Lage, einen Referenten zu benennen, der kein explizites
Antezedens im jeweiligen Kontext aufweist, sondern aus der jeweiligen
Diskurssituation erschließbar ist. So ist die Verwendung beider Pro-
Formen in (10) auch ohne Vorerwähnung des Referenten möglich, z.B. in
der Situation, wenn jemand einen Raum betritt und sieht, dass eine Person
versucht, einen vollen Bücherschrank von der Stelle zu rücken:
(10) Wenn du die Bücher nicht rausnimmst, kriegst du ihn / den nie
von der Stelle. (Vgl. Bosch / Umbach 2007, 47)
Demnach muss man nach weiteren Kriterien suchen, um die Gemeinsam-
keiten und die Unterschiede in der Verwendung von Personal- vs. De-
monstrativpronomen im Deutschen zu erklären.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 347

4.3. Salienz und Informationsstruktur

Bosch und Umbach (2007) gelangen zu der Einsicht, dass für die Ermitt-
lung des Salienzstatus von Diskursreferenten die informationsstrukturelle
Gliederung der vorangehenden Äußerung ausschlaggebend ist. Den sa-
lientesten Diskursreferenten stellt nach ihnen das bereits etablierte Topik
der vorangehenden Aussage bereit.2 Unterschiede in der Referenz anapho-
rischer Ausdrücke sind demnach dann zu erwarten, wenn der unmittelbar
vorangehende Kontext eine klare Topik-Kommentar-Gliederung erken-
nen lässt und wenn neben dem Topik ein weiterer nicht-topikaler Referent
als potentieller Kandidat der Anapherresolution in Frage kommt.
Gegenüber früheren Modellen der Salienzskalierung bringt dieser An-
satz Vorteile in mehreren wesentlichen Punkten mit sich. Zum einen sieht
er vor, dass auch Nicht-Subjekte den ranghöchsten Diskursreferenten der
nachfolgenden Äußerung bereitstellen können, wenn sie bereits als Topik
der Aussage etabliert worden sind. Zum anderen ergibt sich hiermit die
Möglichkeit, Differenzierungen zwischen mehreren gleichermaßen vorer-
wähnten Diskursreferenten vorzunehmen, denn in der Regel hat nur einer
von ihnen das Topik der vorangehenden Aussage bereitgestellt.
Anhand des Faktors Topikalität ermitteln Bosch und Umbach (2007)
den relevanten Parameter, der die Distribution von Personal- vs. De-
monstrativpronomen im Gegenwartsdeutschen bestimmt. Sie zeigen, dass
Demonstrativpronomen eine Präferenz für nicht-topikale Konstituenten
aufweisen, unabhängig davon, ob diese als Subjekt oder Nicht-Subjekt der
vorangehenden Äußerung fungieren. Einschlägig sind in diesem Zusam-
menhang die Beispiele in (11a und b). Der Kontext etabliert den Referen-
ten Karl als Topik der nachfolgenden Aussagen, während Peter Teil der
assertierten (neu hinzugefügten) Information im Erstkonjunkt von (11a
und b) ist und daher in diesen Sätzen nicht als Topik in Frage kommt. In
solchen Fällen ist der Bezug des Demonstrativpronomens der auf das To-
pik Karl grammatisch nicht möglich:
(11) Woher Karli das weiß?
(11a) Peterj hat es ihmi gesagt. Derj / *i war gerade hier.
(11b) Eri hat es von Peterj gehört. Derj / *i war gerade hier. (Vgl.
Bosch und Umbach 2007, 48)
_____________
2 Auch Strube und Hahn (1999) vertreten die Ansicht, dass entgegen der ursprünglichen
Auffassung der Centering Theory von Brennan u.a. (1987) nicht die grammatische Rolle, son-
dern vor allem die informationsstrukturellen Eigenschaften des Antezedens für die Salienz-
ermittlung von Bedeutung sind. Strube und Hahn (1999) beschränken sich dabei jedoch le-
diglich auf den Gegebenheitsstatus des Referenten im Diskurs, was stark in Richtung des
bereits diskutierten Ansatzes von Gundel u.a. (1993) rückt.
348 Svetlana Petrova / Michael Solf

Der Unterschied in den Referenzeigenschaften von Personal- und De-


monstrativpronomen im heutigen Deutsch liegt also darin, dass De-
monstrativa ein topikales Antezedens abweisen.3 Folglich nimmt der in-
formationsstrukturelle Faktor Topikalität Einfluss auf den Salienzgrad der
Referenten im Diskurs.

4.4. Salienz und Diskursstrukturierung

Aber wie lange gilt der hohe Salienzstatus eines bereits etablierten Topiks
im Diskurs? Wie verhalten sich bereits etablierte Topik-Referenten im
Rahmen größerer Diskursabschnitte, z.B. über Episoden- und Kapitel-
grenzen hinweg? Eine Antwort darauf vermitteln uns Ansätze, die bei der
Salienzbewertung nicht nur die Eigenschaften des Antezedens, sondern
auch den Aufbau des Diskurses berücksichtigen wollen.
Ein solches Modell haben Grüning und Kibrik (2005) vorgestellt. Es
kann deshalb als ein multifaktorielles Modell der Salienzbewertung be-
zeichnet werden, weil es nicht die Isolierung bzw. die Identifikation eines
einzelnen relevanten Parameters der Salienzskalierung in den Vordergrund
stellt, sondern davon ausgeht, dass verschiedene Parameter bei der Sa-
lienzbewertung von Diskursreferenten interagieren. Grüning und Kibrik
(2005) differenzieren folgende zwei Gruppen von salienzsteuernden Fak-
toren:

_____________
3 Als Folge dieser Generalisierung ergibt sich Abrahams Beobachtung, dass Demonstrativa
als Anaphern von Pronomen generell unnatürlich sind. In (1)-(2) sind durch die jeweiligen
Pronomen im Zweitkonjunkt jeweils verschiedene Referenten des Erstkonjunkts als To-
piks instantiiert. In beiden Fällen ist ein Verweis auf diese Topiks durch das Demonstrativ-
pronomen im Drittkonjunkt ausgeschlossen:
(1) Hansi traf Alfonsj. Eri trug einen Regenmantel. Der*i fror trotzdem.
(2) Hansi traf Alfonsj. Derj trug einen Regenmantel. Der*j fror trotzdem. (Abraham 2002,
461).
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 349

• Eigenschaften des Antezedens: Zu nennen sind dabei die weiter


oben erläuterten Faktoren wie Gegebenheit, grammatische Funktion‚ To-
pikalität4 usw.5
• Eigenschaften des Diskursaufbaus: die Einteilung des Textes in
Episoden, Abschnitte, Kapitel etc.
Ausschlaggebend ist der Gedanke, dass der Beginn einer neuen Diskurs-
sequenz den Salienzstatus von Referenten senkt, d.h. die Salienz eines
Referenten minimiert, selbst wenn alle anderen Faktoren für einen hohen
Salienzstatus des Referenten aus der Beschaffenheit des vorangehenden
Satzes zutreffen. Im konkreten Fall bedeutet das, dass ein Referent, der im
vorangehenden Diskurs als Topik der Aussage fungiert, mit Beginn einer
neuen Diskurssequenz den Wert des salientesten Diskursreferenten ver-
liert, was sich in der Wahl der formalen Mittel niederschlagen kann, mit
denen auf ihn zurückverwiesen wird.
Wir wenden uns nun vor diesem Hintergrund den althochdeutschen
Daten zu und versuchen die Faktoren zu bestimmen, die die Wahl ana-
phorischer Pronomen im Diskurs bedingen können.

5. Setzung anaphorischer Pronomen


im Althochdeutschen
5.1. Übersetzungsgleichungen selbständiger Pronomen

Angesichts der Entstehungsgeschichte der meisten Texte liegt zunächst


die Frage nahe, ob die Wahl althochdeutscher Pronomen entscheidend
von lateinischen Vorbildern abhängen könnte. Tatsächlich finden wir auf
den ersten Blick systematische Entsprechungen von Pronominalreihen,
deren Regelmäßigkeit von Pronomen zu Pronomen allerdings schwankt.
Den lateinischen Pronomen is, ille, ipse, iste und hic stehen im Althochdeut-
schen das Personalpronomen und das Demonstrativpronomen (ther, dazu
die erweiterte Form theser) gegenüber. Dabei fällt auf, dass die Pronomen
_____________
4 Grüning und Kibrik (2005) gehen von einem Faktor Protagonistship aus. Wir wollen in
diesem Rahmen nicht die Frage vertiefen, inwiefern Protagonistship und Topikalität im Ein-
zelnen übereinstimmen. Wir setzten hier eine grundsätzliche konzeptuelle Gemeinsamkeit
zwischen Protagonistship und Topikalität voraus.
5 Grüning und Kibrik (2005) betrachten die Belebtheit von Referenten ebenfalls als einen
relevanten Faktor für die Bewertung der Salienzeigenschaften von Referenten. Wir be-
schränken uns in unserer Studie auf belebte Referenten, weshalb die Literatur zu diesem
Faktor ausgeklammert bleibt. Wir verweisen dennoch darauf, dass neueste psycholinguisti-
sche Studien zum Erwerb anaphorischer Mittel den Faktor Belebtheit als bei der Anapherre-
solution entscheidend bewerten, vgl. Kühnast (2007).
350 Svetlana Petrova / Michael Solf

is, ille und ipse in der Regel durch ein althochdeutsches Personalpronomen
wiedergegeben werden:
(12) lat. & Interrogauerunt eum / discipuli sui.
ahd. Inti fragetun Inan / sine Iungiron. (T 220, 14-15)
(13) lat. non noui illum neque scio / quid dicas.
ahd. niuueiz ih inan noh ih niuueiz / uuaz thu quidis. (T 300, 4-5)
(14) lat. ipsum uero non Inuenerunt
ahd. inan giuuesso nifunden. (T 331, 16)
Besonders häufig ist das üblicherweise anaphorisch genannte is, das, wenn
es selbständig steht, nur in wenigen Ausnahmen nicht einem althochdeut-
schen Personalpronomen entspricht. Etwa halb so häufig tritt ille auf, das
diese Entsprechung in etwa vier Fünfteln der Fälle zeigt. Einen Sonderfall
stellt das noch einmal etwa halb so häufige ipse dar, das erwartungsgemäß
in einem großen Teil der Fälle mit selb- übersetzt wird.
Diesen Entsprechungen stehen die Gleichungen von hic und iste ge-
genüber, die nahezu ohne Ausnahme mit althochdeutschen Demonstra-
tivpronomen wiedergegeben werden:
(15) lat. nolumus hunc regnare / super nos.
ahd. niuuollemes thesan rihhison / obar unsih. (T 264, 16-17)
(16) lat. sicut unum ex istis
ahd. só ein fon thesen (T 70, 30)
Diese Gruppe wird vor allem von hic repräsentiert, während iste in den
lateinischen Vorlagen nur in einer Handvoll Stellen überhaupt vorkommt.
Dass die Übersetzungsgleichungen nicht rein formal, sondern funktio-
nal zu verstehen sind, zeigt nun die Beobachtung, dass die Entsprechun-
gen regelmäßigen Abweichungen unterworfen sind. So entsprechen selbst-
verständlich attributiv verwendete Pronomen im Lateinischen immer
einem formalen Demonstrativpronomen im Althochdeutschen (17). Das
gleiche gilt für Antezedentien von Relativsätzen (18):
(17) lat. Ab illo ergo die / cogitauerunt Interficere eum
ahd. fon themo tage / thahtun erslahan Inan (T 234, 22-23)
(18) lat. ís / qui te & illum uocauit
ahd. ther / ther thih Inti inan giladota (T 180, 17-18)
Stellt man diese Ausnahmen in Rechnung, wird die Teilung der selbstän-
digen Pronomen in zwei Gruppen umso deutlicher: Während is, ille und
ipse mit einem Personalpronomen übersetzt werden, entsprechen hic und
iste einem Demonstrativpronomen.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 351

Die Frage, ob man die Ursache dafür in der Semantik der lateinischen
Pronomen suchen darf, liegt nahe, wird aber durch die Tatsache er-
schwert, dass diese in der Spätantike, aus der die Vorlagen in der Regel
stammen, erstens keine muttersprachliche Grundlage mehr besitzen und
sich zweitens in den gesprochenen Volkssprachen in einer differenzierten
Entwicklung befinden, die mit der Herausbildung des Artikels in den ro-
manischen Sprachen zugleich das deiktische System der Demonstrativ-
pronomen neu ordnet.
Vor diesem Hintergrund überrascht einerseits die Regelmäßigkeit der
Entsprechungen in der räumlich und zeitlich ja weit auseinander gezoge-
nen althochdeutschen Überlieferung. Da andererseits Abweichungen nur
sehr selten sind, liegt die Annahme nahe, dass ein Übersetzer von einer
durch lange Übung erworbenen Gleichung nur dann abweichen wird,
wenn seine Muttersprache eine stärker motivierte Regel dagegenstellt.

5.2. Bestimmung der Salienz


von Antezedentien althochdeutscher Pronomen

Um diese Regel zu erkennen, müssen geeignete kritische Kontexte einer


Durchsicht unterzogen werden. Wie wir schon gesehen haben, müssen
wir bei eindeutiger Auflösung von Anaphern bei nur einem möglichen Re-
ferenten mit einer gewissen stilistischen Varianz rechnen. Für die Frage
der Auflösung von Anaphern sind geeignete kritische Kontexte deshalb in
erster Linie solche, in denen mindestens zwei verschiedene potentielle
Kandidaten für einen Bezug denkbar sind. Dazu sollen die Salienzeigen-
schaften der Antezedentien althochdeutscher Pronomen und die informa-
tionsstrukturelle Gliederung der vorangehenden Aussage untersucht wer-
den. Mit Rücksicht auf die oben diskutierten Ansätze wird dabei ange-
nommen, dass ein Diskursreferent salienter als ein anderer ist, wenn er
• das Topik der vorangegangenen Aussage ist, was voraussetzt, dass
diese überhaupt eine Topik-Kommentar-Gliederung besitzt, oder
• im gegebenen Kontext eine bereits bekannte Entität darstellt
und / oder
• grammatisch prominenter ist, wobei weiter angenommen wird, dass
Subjekte prominenter sind als direkte Objekte, diese prominenter
als indirekte Objekte, gefolgt von Modifikatoren und Adjunkten.
Da mit einer gewissen Abhängigkeit von lateinischen Mustern gerechnet
werden muss, soll die Evidenz abweichender Übersetzungsgleichungen
besondere Gewichtung erfahren.
352 Svetlana Petrova / Michael Solf

5.2.1. Ahd. Personalpronomen

Ein klares Bild ergibt sich in der Regel, wenn wir die Antezedentien alt-
hochdeutscher Personalpronomen betrachten:
(19) lat. & erat plebs expectans zachariam / & mirabantur quod tardar&
ipse in templo./ egressus autem ø non poterat loqui ad illos / &
cognouerunt quod uisionem ø uidiss& In templo.
ahd. Inti uuas thaz folc beitonti zachariam / Inti uuvntorotun thaz her
lazz&a in templo. / heruzgangenti nimohta sprehhan zi in / Inti
forstuontun thaz her gisiht gisah In templo (T 27, 22-25)
Unter den aktuellen Diskursreferenten, Zacharias und dem vor dem Tem-
pel wartenden Volk, ist es der erstere, der im vorangehenden Diskurs
bereits als Topik etabliert worden war (Kriterium 1). Er wird hier durch
ein Personalpronomen aufgenommen, und zwar auch dann, wenn dem
Übersetzer aufgrund des Fehlens einer lateinischen Entsprechung ein
Spielraum zur Verfügung steht. Zwar ist auch der zweite Diskursreferent
schon bekannt (Kriterium 2), aber das Personalpronomen verweist hier
auf Zacharias, den salientesten Diskursreferenten, der bereits im unmittel-
bar vorangegangenen Kontext aktiviert war. Dieses in Konkurrenzsitua-
tionen immer wiederkehrende Muster zeigt sich besonders deutlich dort,
wo ausnahmsweise und entgegen der ganz herrschenden Übersetzungs-
gleichung ein Personalpronomen für ein lateinisches Demonstrativpro-
nomen steht:
(20) lat. Nonne hic est qui sedebat / & mendicabat. alii dicebant / quia
hic est
ahd. eno niist thiz ther thie thar sáz / Inti b&olata. andere quadun /
her ist íz (T 221, 3-5)
Die Menge fragt sich angesichts eines von Blindheit Geheilten, ob es sich
dabei um einen bereits allen bekannten Bettler handelt. Dieser erweist sich
im Kontext als Topik der vorangegangenen Aussagen. Hier, wo das latei-
nische Demonstrativpronomen die Setzung eines althochdeutschen De-
monstrativpronomens herausfordert, ist die Wiederaufnahme durch ein
Personalpronomen also nur möglich, weil wir es bereits mit dem salien-
testen Diskursreferenten der vorangegangenen Aussage zu tun haben.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 353

5.2.2. Ahd. Demonstrativpronomen

Das Demonstrativpronomen finden wir regelmäßig in davon vollkommen


verschiedenen Kontexten. Betrachten wir dazu einen typischen Fall am
Beispiel einer Stelle, die, wie es zunächst den Anschein hat, treu dem latei-
nischen Vorbild folgt. Wie gesagt, entspricht das lateinische Pronomen hic
praktisch immer einem althochdeutschen Demonstrativpronomen, so
auch hier:
(21) lat. defunctus / efferebatur. filius unicus / matris suæ. 2&
1ecce

hæc uidua erat.


ahd. 1senu arstorbaner / uúas gitragan einag sun / sinero muoter
2Inti thiu uuas uuituuua (T 84, 22-24)
Hier treffen wir auf zwei Referenten, die im ersten Satz des Beispiels als
neu in den Diskurs eingeführt werden. Diesem Präsentationssatz fehlt
eine klare Topik-Kommentar-Gliederung; damit wird also auch kein To-
pik etabliert (Kriterium 1). Der Bezug auf Nicht-Topiks ist nun für selb-
ständige Demonstrativpromonina besonders augenfällig, allerdings ist
dieses Kriterium in unserem Fall für eine Entscheidung über die Auflö-
sung der Anapher noch nicht hinreichend. Da beide Referenten neu ein-
geführt werden, unterscheiden sie sich auch nicht in Bezug auf eine Ei-
genschaft ‚Gegebenheit‘ (Kriterium 2). Für eine Entscheidung über die Sa-
lienzeigenschaften bleibt uns hier nichts als die Gewichtung der Aus-
drücke über die Funktionen, die sie im Subkategorisierungsrahmen des
regierenden Verbs im ersten Satz ausfüllen (Kriterium 3). In dieser Hin-
sicht nun liegen die Unterschiede auf der Hand: Einag sun 'einziger Sohn'
ist Subjekt der vorangegangenen Aussage, sinero muoter 'seiner Mutter' ein
dazugehöriges Genitivattribut, ein gemäß unserer Annahme grammatisch
weniger prominenter Modifikator.
Wir dürfen also schließen, dass in der vorausgehenden Aussage sun
der gegenüber muoter salientere Diskursreferent ist. Das Pronomen des
folgenden Satzes ist nun morphologisch und kontextuell eindeutig mit
sinero muoter in Verbindung zu bringen. Bemerkenswert ist, dass sich der
Übersetzer dazu des Demonstrativpronomens bedient, das hier also ers-
tens auf ein Nicht-Topik und zweitens auf den in der vorangegangenen
Aussage weniger prominenten Kandidaten verweist.
Überprüfen wir diese aufgrund der möglichen Lateinabhängigkeit der
Stelle unsichere Aussage pars pro toto an zwei aussagekräftigeren Differenz-
belegen, zunächst an einem der wenigen Beispiele, in denen ein selbstän-
diges ille mit einem althochdeutschen Demonstrativpronomen wiederge-
geben wird:
354 Svetlana Petrova / Michael Solf

(22) lat. & desideria patris uestri uultis facere. / ille homicida erat ab
Initio.
ahd. Inti lusta Iúuares fater uuoll& Ir tuon. / ther uuas manslago
fon anaginne. (T 218, 20-21)
In (22) treffen wir auf eine vergleichbare Situation: Ein Vater, der Leibhaf-
tige, und seine Nachkommenschaft stellen die Diskursreferenten des Ab-
schnittes und sind bereits im voranstehenden Textabschnitt eingeführt
worden. Dennoch befindet sich einer der beiden in einer schwächeren
grammatischen Position: Während ir für das Subjekt des Satzes steht, ist
Iúuares fater wiederum als Genitivattribut ein vergleichsweise niedrigrangi-
ger Modifikator. Hier, wo eine Lateinabhängigkeit der Pronomenwahl
ausgeschlossen ist, entscheidet sich der Übersetzer wie in (21) für ein De-
monstrativpronomen, um auf den in der vorangegangenen Aussage weni-
ger prominenten Diskursreferenten zu verweisen, und ihn damit zugleich
als Topik der Folgeaussage zu etablieren.
Das folgende vergleichbare Beispiel bietet insofern noch einmal ge-
steigerte Evidenz für die grundsätzliche Vermutung, dass Demonstrativ-
pronomina in Konkurrenzsituationen auf den weniger salienten Diskurs-
referenten verweisen, weil die lateinische Vorlage an der entscheidenden
Stelle gar kein Pronomen enthält, der althochdeutsche Übersetzer also frei
entscheiden konnte, ob und welches Pronomen gesetzt werden soll:
(23) lat. abiit ad eum & rogabat eum / ut descender& & sanar& / fili
um eius. ø Incipiebat enim mori.
ahd. gieng zi imo inti bát inan / thaz her nidarstigi inti heilti / sinan
sún ther bigán thó sterban (T 90, 14-16)
Hier sind sogar drei Diskursreferenten im Spiel: Ein Vater, dessen Sohn,
schließlich Jesus als Heiler. Das Demonstrativpronomen im Folgesatz
referiert hier, wie aus dem Kontext erhellt, auf den sterbenden Sohn. Die-
ser ist weder Topik der vorangegangenen Aussage (Kriterium 1) noch,
anders als die beiden anderen Diskursreferenten, überhaupt vorher gege-
ben (Kriterium 2), sondern wird erst mit dieser Aussage in den Diskurs
eingeführt. Dazu kommt, dass sich sinan sún als direktes Objekt des regie-
renden Verbs der vorangegangenen Aussage in einer grammatisch weniger
prominenten Stellung befindet (Kriterium 3). Auch hier referiert das De-
monstrativpronomen also auf den am wenigsten salienten unter den in
Frage kommenden Diskursreferenten. Da die Anapher, die den Singular
eines Maskulinums signalisiert, ihrer Form nach nicht eindeutig aufzulösen
wäre, kommt der Entscheidung für das Demonstrativpronomen hier eine
gewisse Bedeutung für das Verständnis der Stelle zu. Diesen letzten As-
pekt soll ein weiteres instruktives Beispiel verdeutlichen:
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 355

(24) lat. Mittet filius hominis angelos suos, et colligent de regno eius
omnia scandala et eos qui faciunt iniquitatem, et
mittent eos in caminum ignis.
ahd. Sentit mannes sunu sine angila enti samnont fona sinemo rihhe
alle dea (a)suuihi — enti dea ubiltatun — enti tuoit dea in
fyures — ouan (MF X, 3-5)
Als Diskursreferenten treten auf: Jesus, seine Engel und die Bösen und
Übeltäter. „Der Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln
aus seinem Reich alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft diese in
den Feuerofen.“ Diese Stelle ist durch zwei Besonderheiten gekennzeich-
net: Erstens weicht der althochdeutsche Text im letzten Halbsatz von der
lateinischen Vorlage insofern ab, als er die Rolle des Agens abweichend
besetzt: Hier ist es Gott selbst, der dea in den Feuerofen wirft. Im lateini-
schen Text, durch den Plural des Verbs deutlich, ist es eine Mehrheit, die
eos in dieser Weise bestraft. Zwar ist streng genommen auch hier nur
durch den Kontext klar, dass die Engel die Übeltäter in den Feuerofen
werfen und nicht umgekehrt; der Kontext stellt den richtigen Bezug aber
ohne weiteres her.
Die zweite Besonderheit der althochdeutschen Übersetzung dieser
Stelle besteht nun darin, dass hier ausnahmsweise ein dea einem lateini-
schen eos entspricht, einer der seltenen Fälle, in denen das lateinische
anaphorische Pronomen im Althochdeutschen durch ein Demonstrativ-
pronomen wiedergegeben wird. Offenkundig verwendet der Übersetzer
gerade dieses Pronomen, um ein Missverständnis zu vermeiden. Betrach-
tet man nämlich die Salienzverhältnisse der Diskursreferenten, fällt auf,
dass sich das Demonstrativpronomen wiederum auf den am wenigsten
salienten Diskursreferenten bezieht: Lassen wir die Frage der Gegebenheit
offen, so kommen doch alle dea (a)suuihi — enti dea ubiltatun am wenigsten
unter den drei möglichen Kandidaten für die Position des Topiks der
vorangegangenen Aussage in Betracht. Die Engel allerdings haben dort
Subjektstatus, die Übeltäter Objektstatus, eine schwächere grammatische
Position, die nach unseren Annahmen auch nachgeordnete Salienz mit
sich bringt. Dem Übersetzer bleibt nun zum Verweis auf diesen schwä-
cheren Kandidaten nur mehr das Demonstrativpronomen, um eine Irrita-
tion seiner Leser zu vermeiden, dieselbe, die auch wir noch empfinden,
wenn wir an dieser Stelle mit einem Personalpronomen übersetzen: „Der
Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln aus seinem Reich
alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft sie in den Feuerofen.“
356 Svetlana Petrova / Michael Solf

5.2.3. Exkurs: Relativpronomen im relativischen Anschluss

Die eben aufgezeigte Funktion von Demonstrativpronomina im Althoch-


deutschen, den Salienzstatus von Diskursreferenten zu erhöhen, kommt
bei einer Beleggruppe besonders stark zur Geltung, wo der althochdeut-
schen Pro-Form ein lateinisches Pronomen der Reihe qui, quae, quod ent-
spricht. Die syntaktische Bestimmung solcher Konstruktionen ist noto-
risch schwierig, da sie sowohl als Relativsätze, die durch ein Demonstra-
tivpronomen eingeleitet sind, als auch als selbständige Folgekonjunkte mit
Hauptsatzstatus interpretiert werden können. Diese zwei Lesarten werden
in den neuhochdeutschen Übersetzungen in (25a) und (25b) wiedergege-
ben:
(25) lat. Iudex quidam erat In quadam cuiuitate/ qui deum non timebat
ahd. sum tuomoi uuas In sumero burgi/ theiri niforhta got (T 200,
31-32)
(25a) Ein Richter war in einer Stadt, der sich vor Gott nicht
fürchtete. (Relativsatz)
(25b) Ein Richter war in einer Stadt, der fürchtete sich nicht
vor Gott. (selbständiges Folgekonjunkt)
Ein besonderes Merkmal der althochdeutschen Belege dieser Gruppe liegt
darin, dass sie die Zweitstellung des finiten Verbs aufweisen, selbst wenn
das Latein ein anderes Wortstellungsmuster vorgibt, wie etwa die Endstel-
lung in (25). Aber die Verbstellung allein ist kein hinreichendes Kriterium,
wenn über den Haupt- oder Nebensatzstatus dieser Sätze zu entscheiden
ist. Denn auch bei eindeutig als Relativsätze zu bestimmenden Strukturen
ist im Althochdeutschen eine Früherstellung des finiten Verbs – auch
gegen das Latein – nicht ausgeschlossen, wie das im freiem Relativsatz in
(26) der Fall ist:
(26) lat. beati pacifici
ahd. salige sint thiethar sint sibbisame (T 60, 16)
Weitere Hinweise zur Interpretation der althochdeutschen Struktur in (25)
finden wir in der gegenwärtigen Forschung zu relativsatzähnlichen Struk-
turen mit Verb-Zweit-Stellung im Neuhochdeutschen, wo sie in Opposi-
tion zu kanonischen Relativsätzen mit Endstellung des finiten Verbs ste-
hen, vgl. (27) aus Endriss / Gärtner (2005):
(27a) Das Blatt hat eine Seite, die ganz schwarz ist. (kanonischer Rela-
tivsatz)
(27b)Das Blatt hat eine Seite, die ist ganz schwarz. (V2-Relativsatz)
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 357

Endriss und Gärtner (2005), die sich mit der Varianz der beiden Kon-
struktionen im Neuhochdeutschen eingehend beschäftigen, haben folgen-
de Bedingungen ermittelt, unter denen die relativsatzähnliche Verb-Zweit-
Struktur möglich ist:
• Ein Verb-Zweit-Relativsatz ist nur als rechtsextraponierter Nach-
satz möglich, nicht jedoch, wenn er im Mittelfeld eines Hauptsatzes
steht, vgl. (28a) vs. (28b); Letzteres ist für einen kanonischen Verb-
End-Relativsatz durchaus möglich, vgl. (28c).
• Ein Verb-Zweit-Relativsatz muss durch ein d-Relativum eingeleitet
werden, nicht aber durch ein w-Relativum, vgl. (29a); dabei kann ein
d-Relativum im V2-Relativsatz durch das Adverbial da ersetzt wer-
den, vgl. (29b).
(28a) Die Apfeldorfer haben viele Häuser gebaut, die stehen heute
leer.
(28b) *Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die stehen heute leer,
gebaut.
(28c) Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die heute leer stehen,
gebaut.
(29a) *Es gibt Länder, wo kostet das Bier ein Vermögen.
(29b) Es gibt Länder, da kostet das Bier ein Vermögen.
Ferner zeigen Endriss und Gärtner (2005), dass auch bestimmte Bedin-
gungen im vorangehenden Satz erfüllt sein müssen, damit ein Verb-Zweit-
Relativsatz möglich ist:
• Der vorangehende Satz muss ein affirmativer Deklarativsatz sein;
vgl. (30a-b) vs. (30c).
• Das Antezedens des d-Relativums muss einen Diskursreferenten
benennen, auf den anaphorischer Bezug im Folgesatz möglich sein
soll6; vgl. (30c) vs. (30a) und (30d).
• Der vorangehende Satz hat für sich genommen einen geringen Mit-
teilungswert und wird erst durch die Information im Folgesatz

_____________
6 Im Idealfall ist das Antezedens des d-Relativums ein Indefinitum, vgl. eine Frau in (30c). Es
kann aber u.U. auch ein sog. indefinites Demonstrativum sein, also eine definit gekennzeich-
nete Phrase, die jedoch weder einen explizit vorerwähnten Diskursreferenten noch eine im
Kontext zugängliche Entität benennt, vgl. Endriss und Gärtner (2005): „Im Sommer gab
es plötzlich diesen Moment, da klappte einfach alles.“
358 Svetlana Petrova / Michael Solf

komplettiert; u.U. führt die isolierte Verwendung des Erstkonjunkts


zur Ungrammatikalität,7 vgl. (31a) vs. (31b).

(30a) *Ich kenne keine Frau, die besitzt ein Pferd.


(30b)*Kennst du eine Frau, die besitzt ein Pferd?
(30c) Ich kenne eine Frau, die besitzt ein Pferd.
(30d) *Ich kenne jede Frau, die besitzt ein Pferd.
(31a) Das Blatt hat eine Seite, die ist ganz schwarz.
(31b)*Das Blatt hat eine Seite. Die ist ganz schwarz.
Es kann gezeigt werden, dass die o.g. Bedingungen auch für die relativ-
satzähnlichen Verb-Zweit-Strukturen im Althochdeutschen gelten. Auch
hier haben wir es mit Nachsätzen zu tun, die einem affirmativen Deklara-
tivsatz mit schwachem Eigenwert nachfolgen. Die Hauptgruppe der Erst-
konjunkte sind Präsentationssätze oder Existentialkonstruktionen, die eine
Diskursentität als Topik eines nachfolgenden Konjunkts bereitstellen. Die
Antezedentien der Relativeinleiter sind in Form von Indefinita realisiert,
vgl. (32):
(32) lat. & ecce homo erat In hierusalem.’/ cui nomen simeon
ahd. senonu tho uuas mani In hierusalem / thesi namo uuas gihez-
zan simeon (T 37, 23-24)
Wenn die relativsatzähnlichen Verb-Zweit-Strukturen im Althochdeut-
schen die grammatischen und distributionellen Eigenschaften ihrer neu-
hochdeutschen Entsprechungen aufweisen, so liegt es nahe zu behaupten,
dass sie ihnen nicht nur formal, sondern auch funktional gleichstehen.
Bezüglich der neuhochdeutschen Konstruktion schlagen Endriss und
Gärtner (2005) folgende Funktionsbestimmung vor: Die relativsatzähnli-
chen Verb-Zweit-Strukturen sind – anders als die kanonischen Verb-End-
Relativsätze – keine abhängigen Sätze, sondern selbständige Konjunkte,
die mit einem Demonstrativpronomen eröffnet sind, wobei dieses mit
dem d-Relativpronomen formal übereinstimmt. M.a.W. liegt eine paratak-
tische Verbindung zweier selbständiger Konjunkte vor, wobei die Funk-
tion des Folgekonjunkts darin besteht, ein Kommentar über das im Erst-
konjunkt etablierte Vor-Topik abzugeben. Die Leistung relativsatzähn-

_____________
7 Wir wissen, dass ein Blatt immer zwei Seiten hat. Daher ist der Inhalt des Erstkonjunkts als
selbständige Aussage nicht möglich. Man kann nicht behaupten, dass ein Blatt nur eine Sei-
te hat.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 359

licher Verb-Zweit-Sätze im Neuhochdeutschen liegt folglich im Bereich


der Topikauszeichnung.
Ähnliches muss für die althochdeutschen Entsprechungen gelten, falls
wir von einem identischen Konstruktionstyp ausgehen. Die satzeröffnen-
de Pro-Form ist in diesem Fall kein Relativpronomen, sondern ein selb-
ständig gebrauchtes Demonstrativpronomen in einem parataktisch ange-
schlossenen Hauptsatz, dessen Leistung darin besteht, ein Vor-Topik im
vorangehenden Diskurs wieder aufzunehmen und es erstmalig als Topik
einer Aussage zu realisieren.

5.2.4. Stilistische Schwankungen

Wie gesagt ist bei der Wahl zwischen Personal- und Demonstrativprono-
men im Althochdeutschen in den Übersetzungstexten tatsächlich eine
gewisse Abhängigkeit vom lateinischen Vorbild zu beobachten. Der Grad
der Abhängigkeit schwankt von Pronomen zu Pronomen, und gerade
dort, wo die Auflösung der Anapher mangels eines zweiten potentiellen
Referenten im Kontext eindeutig ist, finden wir bei gleicher Struktur der
Vorlage durchaus eine gewisse Variation der lexikalischen Mittel:
(33) lat. Beati misericordes / quoniam ipsi misericordiam consequentur.
ahd. salige sint thiethar sint miltherze / uuanta sie folgent miltidun
(34) lat. Beati mundo corde / quoniam ipsi deum uidebunt
ahd. salige sint thiethar sint subere in herzon /uuanta thie gisehent got
(T 60, 12-15)
Die Seligpreisungen der Bergpredigt, die in (33) und (34) ausschnittsweise
wiedergegeben werden, stellen dafür ein instruktives Beispiel dar. Perso-
nal- und Demonstrativpronomen können hier, wie es scheint, ohne Un-
terschied in ihrer Leistung bei der Wiederaufnahme verwendet werden:
Beispiel (33) zeigt ein Personalpronomen, Beispiel (34) ein Demonstrativ-
pronomen. Trotz gleicher Vorlage (ipse), trotz gleicher Kontextbedingun-
gen beobachten wir hier eine Varianz, die die Frage, ob die Wahl der Pro-
nomen auch eine Stilfrage ist, eindeutig beantwortet: Offenkundig ist das
so. Wie wir gesehen haben, gibt es allerdings Kontexte, in denen die Wahl
des Pronomens spezifischen Zwecken dient. Das gilt übrigens nicht nur
für die Fälle der Übersetzungsgleichungen, sondern auch für diejenigen
Stellen, an denen im Lateinischen gar kein Pronomen steht und der alt-
hochdeutsche Übersetzer sich für ein Pronomen entscheiden muss oder
will:
360 Svetlana Petrova / Michael Solf

(35) lat. Beati pacifici / quoniam ø filii dei uocabuntur.


ahd. Salige sint thiethar sint sibbisame / uuanta sie gotes barn sint
ginennit (T 60, 16-17)
Gibt es also einerseits Bereiche, in denen unser Instrument zur Auswahl
von Referenten seine Wirksamkeit nicht entfalten kann und deshalb auch
nicht funktional verwendet wird, müssen wir andererseits damit rechnen,
dass das beobachtete Muster mit anderen Mitteln zur Anaphernauflösung
konkurriert. Bei Otfrid etwa finden wir auch in kritischen Kontexten un-
erwartete Personalpronomen:
(36) Drof ni zuívolot ir thés, bigínnit er es náhtes,/ ni er blíntilingon wérne joh
séro firspúrne! / Mír“, quad er, „so fólge ther réhto gangan wólle [...] (O
III, 23, 37-39)
Zweifelt nicht weiter daran: Er sollte es nicht nachts beginnen, dass er sich
nicht wie ein Blinder abmühe und vollkommen fehlgehe! Mir, sprach er,
folge nach, wer recht gehen will.
Das Personalpronomen er bezieht sich hier nacheinander auf zwei ver-
schiedene Diskursreferenten. Eine Zuweisung zum richtigen Antezedens
ist nur dem weiteren Kontext zu entnehmen.
Auch in anderen Fällen gewährleisten nur die grammatischen Katego-
rien der Pronomen und der Kontext eine korrekte Auflösung der Anapher
– allerdings selbst dort, wo der Widerspruch zu den gerade angestellten
Überlegungen so deutlich ausfällt wie im folgenden Beispiel:
(37) Gisah tho drúhtin einan mán blíntan gibóranan;/ wás er fon gibúrti in
thera selbun úngiwurti. (O III, 20, 1–2)
Jesus sah da einen Mann, einen blind geborenen / der war von Geburt an
in dieser traurigen Lage.
Diese Sequenz steht am Anfang eines neuen Kapitels, führt mit drúhtin
und einem mán blíntan gibóranan das Personal des Abschnittes ein und zeigt
als Präsentationssatz deshalb wohl auch keine Topik-Kommentar-
Gliederung. Unter den beiden Diskursreferenten ist es lediglich druhtin,
der im Kontext des vorangegangenen Abschnittes Erwähnung findet.
Dazu kommt, dass drúhtin als Subjekt der Aussage eine verhältnismäßig
starke grammatische Position einnimmt. Wir würden also erwarten, dass
das anaphorische Personalpronomen auf ihn referiert. Tatsächlich nimmt
es den mán blíntan gibóranan wieder auf, der hier nicht nur neu eingeführt
wird, sondern sich vor allem als direktes Objekt in einer schwächeren
grammatischen Position befindet.
Das heißt nicht, dass Otfrid keine sprachlichen Mittel kennen würde,
um im Zweifelsfall saliente und weniger saliente Diskursreferenten zu
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen 361

unterscheiden. Dazu gehört beispielsweise das auch in anderen Texten


auffällige Auftreten einer Diskurspartikel thô, so oder thar neben Prono-
men, die sich auf weniger saliente Referenten beziehen:
(38) Er ékrodi thaz wésti sar zi théru fristi,/ thia úmmaht thia er thar thóleta,
then er so mínnota. (O III, 23, 17-18)
damit er (Jesus) das dort sogleich erfahren würde, die Krankheit, die der
(Lazarus) erduldete, den er (Jesus) so liebte.
Wir beobachten also mit Sicherheit das Nebeneinander verschiedener
Systeme im Althochdeutschen und damit den gelegentlichen Verzicht auf
die Möglichkeit, schon mit der Wahl des Pronomens Unterschiede in den
Salienzeigenschaften von Diskursreferenten zu verdeutlichen. Grundsätz-
lich ist überall mit einer Funktionsteilung durch verschiedene sprachliche
Instrumente und einer gewissen Breite an stilistischen Schwankungen zu
rechnen.

6. Schlussfolgerung
Wenn wir anfangs die Frage gestellt haben, was die Wahl des einen oder
anderen referierenden Ausdrucks im Diskurs regelt, so können wir jetzt
sagen, dass die Form des Pronomens im Althochdeutschen grundsätzlich
von den Eigenschaften des Antezedens abhängt, und zwar in der Weise,
dass Demonstrativpronomen einen niedrigeren Salienzgrad der in Bezug
genommenen Diskursreferenten kennzeichnen.
Personalpronomen nehmen in Konkurrenzsituationen in einem Teil
der untersuchten Daten ein bereits etabliertes Topik auf. Demonstrativ-
pronomen beziehen sich dagegen in der Regel auf Diskursreferenten, die
nicht Aboutness-Topik der vorangegangenen Aussage sind. Die Entschei-
dung für Personal- oder Demonstrativpronomen wird also in kritischen
Kontexten durch informationsstrukturelle Mechanismen gesteuert. Sie ist
keine bloße Stilfrage, sondern ein Instrument zur korrekten Auflösung
von Anaphern.
Dieses Ergebnis deckt sich mit den wesentlichen Beobachtungen von
Bosch und Umbach (2007) über die Verteilung von Pro-Formen im Neu-
hochdeutschen und belegt den konstanten Einfluss der Informations-
struktur in der Geschichte der deutschen Sprache.
362 Svetlana Petrova / Michael Solf

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Als Deutsch noch nicht OV war
Althochdeutsch im Spannungsfeld zwischen OV und VO *

Oliver Schallert (Marburg)

1. Einleitung
1.1. Der Forschungsstand zur Syntax des Ahd.

Die Forschungslage zur Syntax des Althochdeutschen (8. / 9. bis 11. Jh.)
ist durch eine recht paradoxe Situation gekennzeichnet: Global betrachtet,
d.h. rein bezogen auf die Anzahl der verfügbaren Arbeiten, darf sie inzwi-
schen als recht befriedigend bezeichnet werden. Allerdings ist dies das
Ergebnis einer Tätigkeit, an der bereits mehrere Forschergenerationen
beteiligt waren und die erst in neuerer Zeit den Charakter einer systemati-
scheren Agenda angenommen hat.
Dies mag auch der Grund dafür sein, dass die Beurteilungen über die
syntaktischen Besonderheiten des Althochdeutschen recht unterschiedlich
ausfallen. Auf der einen Seite wird, in Anlehnung an die ältere Forschung
(z.B. Behaghel 1929, Wackernagel 1892) immer wieder hervorgehoben, die
Wortstellung dieser Stufe des Deutschen sei – wie auch die der übrigen
altgermanischen Sprachen – „freier“, als dies im heutigen Deutschen zu
beobachten sei: „Späterstellungen“ seien durchaus die Regel und die abso-
lute Endstellung des finiten Verbs habe sich erst durch lateinischen Ein-
fluss in frühneuhochdeutscher Zeit verfestigt. Andererseits aber wurden,
vor allem in der generativen Forschung, immer wieder die konvergenten
Tendenzen des Althochdeutschen hervorgehoben, so z.B. bei Lenerz
(1984, 1985, 103), der davon ausgeht, dass man im Bezug auf die Verb-
bzw. Wortstellung für das Deutsche generell keinen starken syntaktischen
Wandel anzusetzen habe.
Ein differenzierteres Bild ergibt sich durch das in letzter Zeit wieder ver-
stärkte Forschungsinteresse an der Verb- bzw. Objekt-Stellung dieser
_____________
* Für hilfreiche Hinweise und Anregungen danke ich Jürg Fleischer; fürs Korrekturlesen
Andrea Sabitzer.
366 Oliver Schallert

Sprachstufe, wie es z.B. durch Arbeiten wie Axel (2007), Hinterhölzl /


Petrova (2009), Petrova (2009), Schlachter (2009) und Weiß (2007) doku-
mentiert ist. Als Pionierwerk ist Schrodts (2004) Althochdeutsche Syntax zu
sehen, die den ersten Versuch einer umfassenderen Darstellung der syn-
taktischen Gegebenheiten dieser Sprachstufe darstellt. Daneben existiert
schon seit längerem eine Vielzahl von detaillierten syntaktischen Einzelun-
tersuchungen zu althochdeutschen Prosatexten, so z.B. Robinson (1997)
zu Isidor, Bolli (1975), Borter (1982) und Näf (1979) zu Notker sowie
Dittmer / Dittmer (1998) zum Tatian.

1.2. Womit beschäftigt sich dieser Beitrag?

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Besonderheiten der rechten


Satzperipherie und insbesondere mit dem Problem sog. Ausklammerungen
bzw. Späterstellungen im Althochdeutschen. Aus einer typologisch orientier-
ten Perspektive wird die Frage aufgeworfen, ob solche Nicht-End-
stellungen des (finiten) Verbs nicht – ganz ähnlich wie die „Vorliebe […]
für die zweite Stelle im Satz“ – „[…] in einen grösseren Zusammenhang
hinein[gehören]“ (Wackernagel 1892, 342) und auf ihr Verhältnis zu den
seit Greenberg (1963) etablierten Wortstellungstypen hin überprüft wer-
den sollten. Die Grundidee ist die, dass sich die altgermanischen Spra-
chen, anders als ihre modernen Fortsetzer, keinem der beiden (germani-
schen) Stellungstypen OV und VO zuordnen lassen, sondern eine genuine
dritte Option repräsentieren. Dem wohlbekannten Drift zu VO in Spra-
chen wie Englisch (vgl. z.B. Pintzuk 1999, Pintzuk / Taylor 2006) oder
Isländisch (Hróardsdóttir 2000) ist demnach im Falle des Deutschen oder
Niederländischen ein analoger Drift zu OV entgegenzustellen, wobei die-
ser Mischtyp als Ausgangspunkt in beiden Szenarien anzusetzen ist.1 Wel-
che Eigenschaften dieser dritte Typ aufweist, soll hier exemplarisch an-
hand des Althochdeutschen, also quasi am ‚lebenden Material‘,2 gezeigt
werden.
Dieser Beitrag ist wie folgt gegliedert: In Abschnitt 2 werden zwei sys-
tematische Kontraste diskutiert, die in der rechten Satzperipherie der mo-
dernen germanischen OV- bzw. VO-Sprachen zu beobachten sind. Diese
sollen als Heuristik für eine detailliertere Untersuchung der ahd. Gege-
benheiten in Abschnitt 3 dienen; weiters wird dort der Frage nachgegan-
_____________
1 Vgl. den Beitrag von Haider in diesem Band.
2 Auch wenn das Althochdeutsche mit einigem Recht als ‚tote Sprache‘ bezeichnet werden
kann, hoffe ich dennoch, dass es mir im Folgenden gelingen wird, einige Daten aus dieser
Sprachstufe des Deutschen wieder zum Sprechen zu bringen, d.h. ihnen neues Leben ein-
zuhauchen.
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 367

gen, wie klar sich das Ahd. im Hinblick auf diese Eigenschaften einem der
beiden Stellungstypen zuordnen lässt. Abschnitt 4 schließlich behandelt in
kursorischer Form die Frage, wie sich die syntaktischen Besonderheiten
der rechten Satzperipherie des Ahd. im Format von Konstituentenstruktu-
ren, d.h. möglichst theorieneutral, erfassen lassen.

2. Die rechte Satzperipherie in OV und VO


2.1. Grundlegendes: OV- und VO-Sprachen

Was die Orientierung der VP anlangt, lassen sich die heutigen germani-
schen Sprachen in zwei große Gruppen einteilen, je nachdem ob sie über
eine kopf-initiale VP (= VO) oder eine kopf-finale VP (= OV) verfügen.
Die Beispiele in (1) aus den Sprachen Niederländisch (1a), Afrikaans (1b),
Friesisch (1c) und Deutsch (1d) sowie in (2) aus den Sprachen Englisch
(2a), Dänisch (2b), Färöisch (2c) und Isländisch (2d) illustrieren diesen
Punkt:
(1) Germanische OV-Sprachen:
(1a) Johan heeft een appel gegeten (Nl.)
(1b) Johan het ’n appel geēet (Afr.)
(1c) Johan hat in apel iten (Fri.)
(1d) Johann hat einen Apfel gegessen (Dt.)
(Vikner 2001, 16, Bsp. (37))
(2) Germanische VO-Sprachen:
(2a) John has eaten an apple (Eng.)
(2b) Johan har spist et æble (Dän.)
(2c) Jón hefur etið eitt súrepli (Fär.)
(2d) Jón hefur borðað epli. (Isl.)
(Ebd.)
Jiddisch stellt ein Problem für diese Klassifikation dar, denn wie (3a, c)
demonstrieren, finden sich in dieser Sprache sowohl VO- als auch OV-
Abfolgen; überdies gibt es Abfolgemuster wie (3b), die keinem der beiden
Stellungstypen ohne Weiteres zugeordnet werden können.
368 Oliver Schallert

(3a) Maks hot nit gegebn Rifken dos bukh. (Jid.) [= VO]
Max hat nicht gegeben Rifken das Buch
Max hat Rebekka das Buch nicht gegeben
(3b) Maks hot Rifken nit gegebn dos bukh. [= OV / VO]
(3c) Maks hot Rifken dos bukh nit gegebn. [= OV]
(Diesing 1997, 402, Bsp. (57a., b., c.))
In Schallert (2006) wird dafür plädiert, dass Strukturen wie (3b) einen
dritten Stellungstyp charakterisieren, der als „OV / VO-Mischsystem“
bezeichnet wird und der durch Sprachen bzw. Sprachstufen wie Althoch-
deutsch, Altenglisch oder das ältere Isländische repräsentiert wird. Die
ahd. Beispiele in (4) zeigen, dass es in dieser Sprachstufe nicht nur einen
bloßen Parallelismus von eindeutigen OV-Strukturen (4c) und eindeutigen
VO-Strukturen (4d) gibt, sondern dass auch ‚hybride‘ Strukturen (4a, b) zu
finden sind, die es in dieser Form in keiner der heutigen OV- oder VO-
Sprachen innerhalb der Germania gibt.
(4) Althochdeutsch:
(4a) táz sie nîoman nenôti des chóufes (NB 22,13)
dass sie niemanden NEG-nötigen des Kaufes
(4b) tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (NB 64,13)
dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke
(4c) Úbe dû dero érdo-DAT dînen sâmen beuúlehîst (NB 47,4)
Wenn du der Erde deinen Samen belehnst
(4d) Tisêr ûzero ordo […] mûoze duingen mit sînero
diese äußere Ordnung […] muss zwingen mit ihrer
unuuendigi . diu uuendigen ding (NB 217,20)
Unveränderlichkeit die veränderlichen Dinge

2.2. OV- / VO-Kontraste in der rechten Satzperipherie

Im Folgenden werden zwei systematische Unterschiede zwischen germa-


nischen OV- und VO-Sprachen diskutiert, die die rechte Satzperipherie
betreffen. Als Beobachtungstheorie wird das System von Bech (1983)
verwendet, das aus zwei Komponenten besteht: (a) dem System der Status-
rektion (im Folgenden: S-Rektion), das die Abhängigkeitsbeziehungen zwi-
schen verbalen Elementen beschreibt, und (b) einer topologischen Fein-
gliederung des sog. Schlussfeldes, das in etwa der rechten Satzklammer (rSkl)
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 369

entspricht, in ein Oberfeld (fakultativ) und ein Unterfeld (obligatorisch).


Grundlage für (a) bildet die Beobachtung, dass sich infinite Verben mor-
phologisch in drei Gruppen einteilen lassen, deren Auftreten syntaktisch
gesteuert ist: So regieren beispielsweise Modalverben immer einen reinen
Infinitiv (bei Bech: 1. Status), tempusbildende Auxiliare entweder einen
reinen Infinitiv (1. Status) oder ein Partizip II (3. Status); Anhebungsverben
(z.B. scheinen) oder Kontrollverben (z.B. versuchen, versprechen) hingegen
nehmen einen zu-Infinitiv (2. Status). Wenn alle Verben in der Reihenfolge
ihrer Statusrektion auftreten,3 d.h. das regierende Verb dem regierten Verb
folgt, dann gibt es kein Oberfeld. Ist dies jedoch nicht der Fall, ist ein
Oberfeld eröffnet, das in der linearen Abfolge vor dem Unterfeld steht
und das sich dadurch auszeichnet, dass die in ihm enthaltenen verbalen
Elemente in spiegelbildlicher Rektionsrichtung auftreten, d.h. das regie-
rende Verb geht dem regierten Verb voran. Zur Illustration möge die sehr
komplexe verbale Kette in (5) dienen. Die Beispiele in (6) folgen dem in
(5) skizzierten Schema (vgl. dazu Bech 1983, 63).
(5a) [V5 V4 V3 V2 V1]
(5b) [O V1] [U V4 V3 V2]
(5c) [O V1 V2] [U V5 V4 V3]
(5d) [O V1 V2 V3] [U V5 V4]
(6a) dass man ihn hier
[U liegen bleiben lassen können wird] = (5a)
(6b) dass man ihn hier
[O wird] [U liegen bleiben lassen können] = (5b)
(6c) dass man ihn hier
[O wird können] [U liegen bleiben lassen] = (5c)
(6d) dass man ihn hier
[O wird können lassen] [U liegen bleiben] = (5d)
Laut Bech (1983) bleiben im Unterfeld einer Sprache wie Deutsch eigent-
lich immer die zwei maximal untergeordneten Verben zurück, während
sich im Oberfeld das Finitum und gegebenenfalls noch weitere Verben
befinden können. Ob ein finites Verb vorhanden ist oder nicht, spielt für
den Aufbau der rechten Klammer nur dahingehend eine Rolle, als sich im
letzteren Fall die Kombinationsmöglichkeiten verringern.
_____________
3 Es hat sich eingebürgert, die Einbettungsverhältnisse durch Indizes zu kennzeichnen,
wobei das finite Verb (als selbst nicht statusregiertes Element) immer die Nummer 1 trägt,
sofern es sich in der rechten Satzklammer befindet.
370 Oliver Schallert

Obwohl dieses Modell anhand des Deutschen, also einer germani-


schen OV-Sprache, entwickelt wurde, eignet es sich ebenfalls sehr gut für
eine Darstellung der systematischen Unterschiede zwischen OV- und VO-
Sprachen, die sich bei der Anordnung von Verbsequenzen in der rechten
Peripherie zeigen.

2.3. Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten und Objekten

Blickt man auf die Rektionsverhältnisse von Verbketten in einer VO-Spra-


che wie Englisch, dann stellt man fest, dass sich diese spiegelbildlich zu
jenen im Deutschen verhalten: Während es in einer OV-Sprache wie
Deutsch – je nach Aufbau des Verbalkomplexes – zahlreiche Stellungs-
möglichkeiten (mit Oberfeldbildung) gibt, bildet (7a) die einzige gramma-
tische Serialisierungsoption in VO.
(7a) that John must1 have2 been3 elected4 (Eng.)
(7b) dass Hans gewählt4 worden3 sein2 muss1 (Dt.)
(Wurmbrand 2006, 230; Bsp. (1c., d.))
Eine wichtige Eigenschaft ist die kompakte Struktur von Verbketten in
OV-Sprachen, die bei linksläufiger S-Rektionsrichtung kein intervenieren-
des Material erlauben (vgl. z.B. Haider 2003, 93). Diese Eigenschaft wird
in der einschlägigen Literatur oft unter der Kennzeichnung Verbalkomplex
oder Verb clustering diskutiert. Wie der Kontrast zwischen Deutsch und
Englisch in (8) zeigt, können in der letzteren Sprache Adverbien innerhalb
einer verbalen Kette auftreten, d.h. es besteht keine Kompaktheitseigen-
schaft. Die Asterisken in (8b) signalisieren, dass an keiner der eingeklam-
merten Stellen nicht-verbales Material eingefügt werden kann.
(8a) The new theory …
certainly may possibly have indeed been badly formulated (Eng.)
(Quirk u.a. 1985, 495; §8.20)
(8b) dass die Theorie …
wohl tatsächlich schlecht formuliert (*) worden (*) sein (*) mag (Dt.)
Diese Kompaktheitseigenschaft von OV kann nur bei gewissen Fällen
von Oberfeldbildung durchbrochen werden und hat keinen Einfluss auf das
Verhalten der im Unterfeld verbleibenden Verben. In der theoretischen
Literatur haben sich für die verschiedenen, damit in Zusammenhang ste-
henden Reserialisierungsprozesse zwei Termini etabliert, nämlich Verb
raising (VR) und Verb projection raising (VPR), vgl. den Besten / Edmonson
(1983), Haegeman / van Riemsdijk (1986). Wie die Beispiele in (9) aus
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 371

dem Zürichdeutschen zeigen, unterscheiden sich VR und VPR dadurch,


dass im letzteren Fall nicht-verbales Material im Verbalkomplex4 auftritt.
Was die Verfügbarkeit dieser Serialisierungsoptionen in den einzelnen ger-
manischen OV-Sprachen anlangt, so ist eine starke dialektale Streuung
festzustellen, vgl. Wurmbrand (2004).
(9a) […] das de Hans es huus chaufe wil (Zürichdeutsch)
(9b) […] das de Hans es huus wil chaufe
(9c) […] das de Hans wil es huus chaufe
dass der Hans ein Haus kaufen will
(Haegeman / van Riemsdijk 1986, 419; Bsp. (8))
(9a) stellt die Grundabfolge dar, die Abfolgen in (9b) und (9c) sind das
Ergebnis von Verb raising und Verb projection raising.
Spiegelbildliche Abfolge, Kompaktheit und (lokale) Variation können
also als jene Eigenschaften festgehalten werden, die die (germanischen)
OV-Sprachen von den VO-Sprachen abheben, jedoch reicht keine dieser
Eigenschaften für sich genommen: So zeigt Friesisch (OV) nur bei
te / to / zu-Infinitiven Umgruppierungen, jedoch sind diese dann obligato-
risch (vgl. Wurmbrand 2004, 17); in einer VO-Sprache wie Norwegisch
sind Verbketten kompakt5 und schließlich ist im Niederländischen sowie
in verschiedenen oberdeutschen Dialekten6 auch das spiegelbildliche, ‚auf-
steigende‘ Rektionsmuster zu finden (10c), während die deutsche Abfolge
ungrammatisch ist (10b). Wie (11) allerdings zeigt, stellt das spiegelbildli-
che Muster (10c), wiederholt als (11c), nur eine von mehreren möglichen
Serialisierungsoptionen im Niederländischen dar.
(10a) dass er das Buch weggelegt4 haben3 müssen2 wird1 (Dt.)
(10b)*dat hij het boek weggelegd hebben moeten zal (Nl.)
(10c) dat hij het boek zal1 moeten2 hebben3 weggelegd4
(Haider 2003, 22; Bsp. (38a., c.))
(11a) dat hij het boek zal weggelegd moeten hebben (Nl.)
(11b)dat hij het boek zal moeten weggelegd hebben
(11c) dat hij het boek zal moeten hebben weggelegd
(Ebd.; Bsp. (39))
_____________
4 Die Kennzeichnungen Verbalkomplex und Verb cluster werden im Folgenden synonym
verwendet.
5 Diesen Hinweis verdanke ich Hubert Haider (pers. Mitteilung).
6 Allerdings nicht in Konfigurationen mit finitem Modalverb (siehe unten), sondern nur bei
sog. Ersatzinfinitiv-Konstruktionen.
372 Oliver Schallert

Eine weitere Besonderheit von germanischen OV-Sprachen wie Deutsch,


Niederländisch oder Westflämisch ist der sog. IPP-Effekt (Infinitivus pro
participio), d.h. die Ersetzung eines Perfektpartizips (3. Status) durch einen
reinen Infinitiv (1. Status) in bestimmten Konstruktionen, so z.B., wenn
ein Auxiliar ein Perzeptionsverb regiert, vgl. (12), oder wenn ein Modal-
verb von einem Auxiliar abhängt, vgl. (13).
(12a) ?dass sie ihn laufen gesehen / gehört hat (Dt.)
(12b)*dass sie ihn hat laufen gesehen / gehört
(12c) dass sie ihn laufen sehen / hören hat
(12d) dass sie ihn hat laufen sehen / hören
(Wöllstein-Leisten u.a. 1997, 71; Bsp. (30))
(13a) dat Jan het boek heeft kunnen lezen (Nl.)
dass Jan das Buch hat1 können2-INF(IPP) lesen3
(13b) *dat Jan het boek heeft gekund lezen
dass Jan das Buch hat1 gekonnt2 lesen3
(Wurmbrand 2006, 235; Bsp. (7))
Inwieweit dieser Effekt notwendigerweise mit Reserialisierungsoptionen
von Verbketten einhergeht, ist umstritten (vgl. die Diskussion in Wurm-
brand 2004, Wurmbrand 2006). Als einzig haltbare Generalisierung über
Verbalkomplexe (Cluster) und IPP bleibt die Beobachtung bestehen, dass
der letztgenannte Effekt nur in Sprachen zu beobachten ist, die bei drei-
gliedrigen Verbsequenzen von der Grundabfolge V3 < V2 < V1 abwei-
chen: „Although this correlation appears to be quite striking and is unlike-
ly to be accidental, it is not clear what property of grammar it targets and
what its importance is“ (Wurmbrand 2004, 18).
Zusammenfassend ergeben sich also die folgenden systematischen
Unterschiede zwischen OV- und VO-Sprachen hinsichtlich der Serialisie-
rungseigenschaften von Verbketten:
(14) Verbketten in OV und VO:
(14a) Spiegelbildliche S-Rektion: (1) Vn V3 V2 V1 (OV); (2) V1 V2 V3
Vn (VO).
(14b)(1) lokal kompakte Struktur (Unterfeld) mit möglicher Variation
in OV, (2) nicht-kompakte Struktur ohne Variation in VO.
(14c) IPP nur in OV (mit Variation).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 373

2.4. Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben


und Objekten

Der zweite Testbereich, der in gewisser Hinsicht eine Teilmenge des ers-
ten bildet, steht in Zusammenhang mit der Positionierung von sog. präfi-
gierten Verben („Partikelpräfixverben“ in der Terminologie von Fleischer /
Barz 1995). Wie in Haider (1997a) ausführlich untersucht, zeigen sich
zwischen einer prototypischen VO-Sprache wie Englisch und einer proto-
typischen OV-Sprache wie Deutsch die folgenden Kontraste in (15), die
durch die Beispiele in (16) bis (20) illustriert werden:
(15) Präfigierte Verben7 in OV und VO:
(15a) linksadjazente (trennbare) Partikel nur in OV: nachschauen, *up
look
(15b)rechtsadjazente und rechtsdistante (trennbare) Partikel nur in
VO: (1) Vo po8 (look up the information); (2) Vo Obj. po (look the in-
formation up).
Wie die Beispiele in (16a) und (16b) zeigen, ist nur in einer OV-Sprache
wie dem Deutschen das linksadjazente Abfolgemuster Verb + Partikel
grammatisch; im Englischen (VO) sind solche Abfolgemuster ungramma-
tisch.
(16a) dass er die Information nachschlägt
(16b)*that he uplooks the information
In VO gibt es grundsätzlich zwei Abfolgemuster, nämlich Verb + Partikel
Objekt (17a) und Verb Objekt Partikel (17b):
(17a) He has looked up the information
(17b)He has looked the information up
Wie (18a, c) zeigen, kann es auch in OV-Sprachen wie dem Deutschen
oder Niederländischen − bedingt durch die Verbzweit-Eigenschaft − zu
Konfigurationen mit rechtsdistanter Partikel kommen; wie aber der Kon-
trast mit (18b, d) demonstriert, ist das rechtsadjazente VO-Muster, in dem
die Partikel dem Objekt vorangeht, ungrammatisch.
(18a) Er warf den Teppich nicht weg (Dt.)
(18b)*Er warf weg den Teppich nicht
_____________
7 Im Folgenden werden trennbare Verbpräfixe als Partikeln angesprochen.
8 VO und pO stehen im Folgenden für Verbstamm bzw. trennbares Präfix.
374 Oliver Schallert

(18c) Hij wierp het tapijt niet weg (Nl.)


(18d) *Hij wierp weg het tapijt niet
(Haider 1997a, 9; Bsp. (11), (12))
Vikner (2001, 37) formuliert folgende Korrelation zwischen den Stel-
lungseigenschaften von präfigierten Verben und der Verbzweit-Eigen-
schaft:
In […] the […] Germanic OV languages, particle verbs whose particles are post-
verbal under V2 (separate) nevertheless always have preverbal particles in non-V2
contexts, whereas in the Germanic VO-languages, particle verbs whose particles
have to be stranded under V2 never have preverbal particles in non-V2 contexts.
Was die germanischen VO-Sprachen anlangt, sind gewisse Freiheitsgrade
in der Ausschöpfung der unter (15b) angeführten Muster zu beobachten.
Während Englisch den Kontrast zwischen verb-distanter und verb-
adjazenter Abfolge am klarsten zeigt, zerfallen die nordgermanischen
Sprachen in drei große Gruppen, die sich an den Möglichkeiten variabler
Positionierung festmachen lassen: Im Norwegischen und Englischen sind
(wie übrigens auch im Isländischen)9 beide Abfolgemuster möglich, vgl.
(19a, b), (20a, b), während im Schwedischen nur die V-adjazente Position
grammatisch, vgl. (20d) vs. (19d), diese im Dänischen jedoch ungramma-
tisch ist, vgl. (19c) vs. (20c).
(19) Vo … Obj. … po:
(19a) He threw the carpet out
(19b)at han kastet matten ut (Nor.)
(19c) at han smed tæppet ud (Dän.)
(19d) *att han kastade mattan bort (Sch.)
er schmiss den Teppich hinaus
(Haider 1997a, 9; Bsp. (9))

_____________
9 Die beiden Serialisierungen (V-adjazent oder nach dem Objekt) lassen sich im Isländischen
beispielsweise bei reflexiven Verben beobachten: lyfta sér upp 'sich hochziehen', réta upp sér
'sich aufrichten' (Kress 1992, 223).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 375

(20) Vo + po … Obj.:
(20a) He threw out the carpet
(20b)at han kastet ut matten (Nor.)
(20c) *at han smed ud tæppet (Dän.)
(20d) att han kastade bort mattan (Sch.)
(Ebd.; Bsp. (10))

3. Datendiskussion: OV-, VO- und OV /


VO-Strukturen im Althochdeutschen
3.1. Die Grundidee der Untersuchung

Ausgehend von den in Abschnitt 2 diskutierten Kontrasten zwischen OV-


und VO-Strukturen ist es möglich, zwei Testkonfigurationen zu definie-
ren, die sich durch die relative Position von Verbketten (inkl. präfigierter
Verben) und Objekten ergeben:
(21a) Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten in Relation zu Objek-
ten.
(21b)Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben in Relation
zu Objekten.
Im Folgenden werden eine Reihe von Daten10 diskutiert, die dafür spre-
chen, dass sich das Althochdeutsche hinsichtlich der oben genannten
Kriterien weder wie eine eindeutige OV- noch wie eine eindeutige VO-
Sprache verhält.

3.2. Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten und Objekten

Was die Serialisierungsmöglichkeiten von Verbketten anlangt, so ist die


Datenlage letzten Endes zu dürftig, um eine präzisere Einschätzung vor-
_____________
10 Das ahd. Quellenmaterial wird in der Form [Sigle, Stelle] zitiert, und zwar nach folgenden
Ausgaben: Isidor (Is.) [fortl. Zeilennummer] nach Eggers (1984); Notkers Boëthius-
Übersetzung (De Consolatione Philosophiae) (NB) [Seite, Zeilenanfang] nach Tax (1986, 1988,
1990); Notkers Psalter (NPs.) [Seite, Zeilenanfang] nach Tax (1981, 1983); Tatian (Tat.) [Sei-
te, Zeilenanfang] nach Masser (1994).
376 Oliver Schallert

nehmen zu können (vgl. dazu die Diskussion bei Axel 2007, 83-85). Die
Abfolgen in (22) sind repräsentativ für dreigliedrige Verbalkomplexe:
(22a) Uuánda árg-uuíllo âne dáz
weil Bosheit ohne dies
késkeinet3 uuérden2 némahtî1 (NB 201,2)
gezeigt werden NEG-kann-KON

(22b)dhazs ir bi mittingardes nara


dass er für Erde-GEN
chirista1 chimartirot3 uuerd han2 (Is. 514)
Erlösung musste gefoltert werden
(22c) […] únde an sînero ûzuuertigûn séstungo . diu ínnera
und an seiner äußeren Qual die innere
geskéinet3 sól1 uuérden2 (NB 216,26)
offenbart soll werden
Wie Axel (2007, 86f.) hinweist, bleiben bei den wenigen Belegen, die sich
für dreigliedrige Verbalkomplexe überhaupt finden lassen, die infiniten
Verben immer in „absteigender Reihenfolge“ zueinander (d.h. V3 < V2),
während das finite Verb entweder davor, in der Mitte oder danach auftre-
ten kann. Interessant ist hier die Beobachtung, dass sich Verbalkomplexe
mit finitem Modalverb im heutigen Standarddeutschen und auch in vielen
dialektalen Varietäten sehr rigide linksverzweigend verhalten (V3 < V2 <
V1), während bei Ersatzinfinitiv-Konstruktionen regional gestaffelt min-
destens fünf der logisch möglichen Abfolgen (3! = 6) zu finden sind, vgl.
Schmid / Vogel (2004, 235f.), Wurmbrand (2004). Instruktiv ist hier ein
Blick auf die hochalemannischen Dialekte der Schweiz: Während bei IPP
(25d) die aufsteigende Reihenfolge 1-2-3 in fast allen Varietäten zu finden
ist (vgl. Seiler 2004, 378), gilt ähnliches für die Reihenfolgen 3-2-1 bzw. 1-
3-2 in (23a, b) bei Verbalkomplexen mit finitem Modalverb (vgl. Wurm-
brand 2004, 53); interessanterweise ist bei diesem Typ die aufsteigende
Variante nicht zu finden bzw. ungrammatisch, vgl. (23c).
(23a) ?das är es Buech gläsa3 haa2 mu111 (CH)
(23b)das är es Buech mu1 glääsa3 haa2
(23c) *das är es Buech mu1 haa2 glääsa3
dass er das Buch gelesen haben muss

_____________
11 Für Sprecherurteile zu (23) danke ich Jürg Fleischer, Astrid Kraehenmann und Paul Wid-
mer.
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 377

(23d) das är es Buech hät1 müesse2 läsa3


dass er das Buch lesen müssen hat
Im Unterschied dazu findet sich das „aufsteigende“ VO-Muster 1-2-3 nur
bei Notker, und zwar ausschließlich in gemischten Verbalkomplexen
(wiederum mit finitem Modalverb), die unübersetzte lateinische Wortfor-
men enthalten, vgl. (24). Dies mag weniger verwunderlich erscheinen,
wenn man berücksichtigt, dass Notkers alemannische Nachfahren in der
Schweiz solche Strukturen gerade nicht in aufsteigender Reihenfolge ak-
zeptieren.
(24a) Taz […] dîe oculis múgen1 uuérden2 subpositę3 (NB 104,17)
die Augen sollen werden gesenkt
(24b)[…] dánnân sie sóltôn1 uuérden2 illuminati3 (NB 254,15)
dann sie sollten werden erleuchtet
Wie Jäger (2007, 1) unter Bezug auf die einschlägige Literatur feststellt,
gibt es in althochdeutscher Zeit noch keine Hinweise für IPP-Kon-
struktionen (die ersten Belege sind im 13. Jh. zu finden), was diese Sprach-
stufe in ein interessantes Naheverhältnis zum Jiddischen rückt und somit
– wie oben bereits angesprochen – zu einem einschlägigen OV / VO-
Problemfall macht. Vikner (2001, 77) zufolge ist nämlich das Fehlen des
Ersatzinfinitivs bei gleichzeitigem Vorhandensein von ge-präfigierten Par-
tizipien sowohl OV- als auch VO-untypisch: „If Yiddish were a VO-
language, the lack of IPP would be expected (though then Yiddish would
be the only VO-language to form past participles by means of ge-)“.
Bei zweigliedrigen Verbalkomplexen sind sowohl die Abfolgen 2-1
(= OV-Grundabfolge) als auch 1-2 (Verb raising) zu finden, vgl. (25a, b);
(25c) zeigt ein Nebeneinander von beiden Abfolgen in in demselben Text-
abschnitt.
(25a) gótes óuga neséhe iz
Gottes Auge NEG-sehe es
dáz nîoman nemág1 trîegen2 (NB 240,3)
das niemand NEG-kann trügen
(25b)Sî íst tóh zéichen .
sie ist doch Zeichen
dáz siu nôte chómen2súlen1 (NB 249,28)
dass sie notwendigerw. kommen sollen
378 Oliver Schallert

(25c) thaz uuari1 gifullit2 thaz thar giqu&an2 uuas1 /


(auf) dass wurde erfüllt das da gesprochen war
Fon truhtine (Tat. 83,27f.)
vom Herren
ut adimpler&ur quod dictum est / a domino
Diese Befunde deuten darauf hin, dass sich das Althochdeutsche hinsicht-
lich der Stellungsmöglichkeiten von Verbketten eher wie eine OV-Sprache
verhält, da sowohl in zwei- als auch dreigliedrigen Verbalkomplexen Um-
ordnungen zu beobachten sind. Die als Unterscheidungskriterium wichti-
ge Kompaktheitseigenschaft ist allerdings aufgrund der dürftigen Quellen-
lage nur schwer testbar. Inwieweit die Abwesenheit von IPP-Kon-
struktionen analog zum Jiddischen als Anomalie gedeutet werden kann,
bedürfte – auch in Hinblick auf die Entstehung dieser Konstruktion im
Mittelhochdeutschen – einer gesonderten Untersuchung.
Wird die Stellung von Objekten mitberücksichtigt, zeigt das Althoch-
deutsche allerdings einige interessante Strukturen, die sich in der heutigen
Sprachstufe (auch in den Dialekten) nicht finden. So befinden sich in (26a)
ein Reflexivpronomen, also ein inhärent ‚leichtes‘ Objekt,12 rechts vom
Verb; (26b) zeigt sogar mehrere Objektphrasen in postverbaler Position.13
(26a) therthar giotmotigot sih (Tat. 403,19)
der da erniedrigt sich-AKK
qui se humiliat
(26b)Uuâr-ána mág îoman skéinen sînen geuuált .
wodurch mag jemand offenbaren seine Gewalt
án demo lîchamen (NB 90,20)
an dem Körper
Der entscheidende Datenbereich sind aber Konstruktionen wie (27), bei
denen es offensichtlich – analog zu den Beispielen aus dem Jiddischen in
(3) – zu einer Amalgamierung von OV- und VO-Strukturen kommt.
(27a) Tár hábet si ímo geántuuúrtet sînero frâgo (NB 219,21)
Da hat sie ihm geantwortet seiner Frage-GEN
(27b)tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (NB 64,13)
dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke

_____________
12 In Ermangelung einer brauchbaren Definition von grammatischem Gewicht ist die Kennzeich-
nung hier informell auf die Länge der Konstituente gemünzt.
13 Eine umfassende Datendiskussion findet sich in Schallert (2007).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 379

(27c) Úbe óuh tû uuéllêst mít cláten óugôn


chîesen dia uuârhéit (NB 40,26)
Ob auch du mit klaren Augen die Wahrheit erkennen willst

In (27) finden sich jeweils ditransitive Verben, bei denen ein Komplement
– in (27a) ein Dativobjekt, in (27b) ein Genitivobjekt 14 – in postverbaler
und das andere in präverbaler Stellung realisiert ist; in (27c) befindet sich
ein Modaladverbial („mít cláten óugôn“) nach dem finiten Verb im Ober-
feld, während das infinite Verb im Unterfeld mit dem direkten Objekt
eine VO-Struktur bildet.
Als Paradebeispiel für Verbketten mit Oberfeld sind Fälle von Verb
projection raising (VPR) zu werten, für welches Phänomen es eine solide
Datenbasis im Althochdeutschen gibt, vgl. z.B. Schallert (2007), Schlach-
ter (2009), Weiß (2007). Die Beispiele in (28) zeigen ein Pronomen (28a),
eine volle DP (28b) sowie ein Adverb zwischen Ober- und Unterfeld
(28c).
(28a) dhazs izs in salomone uuari al arfullit (Is. 632)
dass es in Salomon war alles erfüllt
Hec omnia […] in salomone putat fuisse inpleta
dass es alles in Salomon erfüllt wurde

(28b) táz tu danne mugîst taz uuâra lîeht kesehen (NB 40,11)
dass du dann kannst das wahre Licht sehen
(28c) dhazs dher druhtin nerrendeo christ
dass der Herr rettende Christus
iu ist langhe quhoman
schon ist lange-ADV gekommen
dominus iesus christus olim uenisse [cognoscitur] (Is. 454)
dass der Herr Jesus Christus schon lange gekommen ist

Auch in heutigen Dialekten des Deutschen sind VPR-Strukturen anzutref-


fen, wie die Beispiele aus dem Zürichdeutschen in (29a, b) bzw. aus den
bairischen Dialekten Österreichs in (29c) demonstrieren.

_____________
14 Zu den ahd. Verben mit AKK-GEN siehe Donhauser (1998).
380 Oliver Schallert

(29a) Ich han em vatter müese s gschier hälffen abwäsche. (CH)


(29b)Ich han em vatter müese hälffe s gschier abwäsche.
Ich habe dem Vater das Geschirr abwaschen helfen müssen.
(Lötscher 1978, 7, Bsp. (12b., c.))
(29c) wånn i wein håb aus da Not hö(l)fa kinna (Ö)
wenn ich jemandem habe aus der Not helfen können
(Patocka 1997, 299)

3.3. Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben

Postverbale Objekte bei rechtsdistanter Partikel sind im Althochdeutschen


relativ häufig zu finden.15 In den Beispielen (30a, b) ist − bedingt durch
die Positionierung des finiten Verbs in der linken Satzperipherie − die
rechtsdistante Position der Partikel sowohl mit einer OV- als auch mit
einer VO-Analyse kompatibel. In beiden Fällen ist allerdings davon aus-
zugehen, dass die Objekte in postverbaler Position angesiedelt sind; in
(30c, d) befindet sich die Partikel in einer linksadjazenten, für OV typi-
schen Position:
(30a) Fone diu uuiske aba die trâne (NB 69,24)
Deshalb wische die Träne ab.

(30b)Sîe lîezen uz iro blûot (NPs. 560.2)


Sie vergossen ihr Blut.

(30c) Uuîo uuérdent sie ána getân únserên mûoten? (NB 256,28)
Wie werden sie unseren Sinnen eingeprägt?

(30d) únde [daz] hercules temo fárre daz hórn ába slûoge (NB 53,8)
und [dass] Herkules dem Stier das Horn abschlug

(30e) daz sie eolus ûz-lîeze (NB 12,7)


dass sie den Ton ausließ

_____________
15 Vgl. Schrodt (2004, 218): „Häufige Ausklammerungen weist auch die im Vergleich zum
Nhd. seltenere Klammer ,Personalform + Verbzusatz‘ auf.“
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 381

Interessant ist folgender Einzelbeleg (aus Notker), der als Indiz für den
Parallelismus von VO- und OV-Strukturen gewertet werden kann: In
(31a) befindet sich das finite Verb im Oberfeld (die linke Satzklammer
wird von der nebensatzeinleitenden Konjunktion daz 'dass' eingenom-
men), während die linksadjazente Stellung der Partikel in (31b) für eine
Stellung im Unterfeld (also in Basisposition) spricht.
(31a) taz er beiz imo selbemo aba dia zungûn (NB 91,3) [= VO]
dass er biss ihm selber ab die Zunge
(31b)ter imo selbemo dia zungûn aba / beiz (NB 16,12) [= OV]
der ihm selber die Zunge abbiss

3.4. Ein kurzer Blick auf die Situation im Mittelhochdeutschen

In (32) finden sich einige Serialisierungsmuster aus dem Mittelhochdeut-


schen: (32a) zeigt die ‚aufsteigende‘, voll-invertierte Abfolge im Verbal-
komplex, (32c) ist ein Beispiel für Verb projection raising. Bemerkenswert ist
das Abfolgemuster V < Obj. < Aux in (32b), das in den heutigen Spra-
chen der Welt sehr selten ist bzw. sogar ganz fehlt, vgl. Steele (1978), Dry-
er (1992).
(32a) daz fleischlichiv ovgen vnser vordern in nimmer
dass fleischliche Augen unserer Vordern ihn nicht mehr
mohten1 haben2 gesehen3
konnten haben gesehen
(Paul 2007, 454; §215)
(32b)daz aller der zorn [AUX [VP gestillet2 gegen in] wære1]
dass all der Zorn gestillt gegen ihn wäre
(Askedal 1998, 240)
(32c) daz ein […] man […] in dis richis stat sal1 vride habi2
dass ein Mann in dieser Freistadt soll Friede haben
in simi huz
in seinem Haus
(Paul 2007, 455; §213)
(33) zeigt komplexe Extrapositionsphänomene aus dem Mhd.: ein Geni-
tivobjekt nach einem Adverbial in (33a) sowie koordinierte Akkusativob-
jekte und ein Dativobjekt, das durch einen Attributsatz erweitert ist, in
(33b).
382 Oliver Schallert

(33a) […] vnde myn geist hat sich gevrouwit


und mein Geist hat sich gefreut
in gote myner selekeit
in Gott meiner Seligkeit-GEN
(33b)Von siner gnaden sol1 sin2 gechvundet3 fride vnd gnade allen den
mennischen die gvotes willen sint in dirre werlt
Von seiner Gnade soll Friede und Gnade all jenen Menschen gekündet
sein, die guten Willens sind in dieser Welt.
(Ebd., 454, §212)
Analog zur Situation im Althochdeutschen scheint es schwer zu sein, ver-
einheitlichende Faktoren zu identifizieren, die Objektphrasen ins Nachfeld
nötigen. Zumindest in Hinblick auf die Kasuistik äußern sich die Bearbei-
ter von Paul (2007, 460) eher skeptisch: „Die Ausklammerung kann im
Einzelfall ganz unterschiedliche, zum Teil schwer greifbare Gründe ha-
ben.“ Als Faktoren, die Extraposition im Mhd. fördern, werden die fol-
genden genannt (ebd.):
• Je mehr Konstituenten vorhanden sind, desto wahrscheinlicher ist
es, dass eine von ihnen extraponiert ist.
• Bei der Abfolge 1-2 ist Ausklammerung häufiger als bei der Abfol-
ge 2-1.16
• Extraposition ist häufiger in Matrixsätzen als in eingebetteten Sät-
zen.17

4. Einige grammatiktheoretische Bemerkungen


4.1. Was tun mit VO-Abfolgen im Althochdeutschen?

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie das Auftreten von postverbalen
Komplementen im Ahd. zu deuten ist. Eine in der älteren Forschung (z.B.
Borter 1982 zu Notker) häufig verwendete Strategie besteht darin, solche
Strukturen als epiphänomenale, stilistisch bedingte Erscheinungen zu
charakterisieren, die keiner syntaktischen Erklärung im engeren Sinn be-
dürfen. Als termini technici haben sich hierfür die Kennzeichnungen Aus-
klammerung bzw. Extraposition eingebürgert. Unkontroverse Fälle von Ex-
traposition sind im heutigen Deutschen das Auftreten ‚schwerer‘ Kon-
_____________
16 Dieselbe Korrelation stellt Sapp (2006, 27) für das Frühneuhochdeutsche fest.
17 Dasselbe gilt für die Situation im Althochdeutschen, vgl. Schrodt (2004, 218; § 203).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 383

stituenten im Nachfeld (sogenanntes Heavy NP Shift), vgl. (34a). Von Ext-


raposition ist im Ahd. bei Fällen von postverbalen Konstituenten nach
Verben in Basisposition auszugehen, vgl. (34.).

(34a)Auf Gleis 3 fährt ein [NP der Intercity 342 von Bregenz nach
Wien Westbahnof].
(34b)[…] dáz uuîr irfáren mûozîn
Dass wir erfahren müssen
[NP dîa hóuestát tes fórderôsten gûotes]? (NB 148,18)
die Wohnstätte des vordersten Guten
Problematisch für einen Extrapositions-Ansatz sind aber z.B. die folgen-
den Datenbereiche: (a) Spaltungskonstruktionen, vgl. (35); (b) postverbale
‚leichte‘ Elemente, vgl. (36).
(35a) dû hábest fúnden dîne fríunt .
du hast gefunden deine Freunde
tîe der tíuresto scáz sínt (NB 106,13)
die der teuerste Schatz sind
(35b)dáz er demo chúninge dîe brîeue nebrâhti.
dass er dem König die Briefe NEG-brachte
mit tîen er daz hêrôte-N.AKK gehóubet-scúldigoti
mit denen er die Krone majestätsbeleidigte
(35c) fóne démo diu tímberi chúmet . tero mûot-trûobedo
von dem die Dunkelheit kommt dieser Gemütstrübung
In (35a) ist ein Relativsatz gemeinsam mit seinem Bezugselement („dîne
fríunt“) extraponiert. Wie (35b) aber demonstriert, kann das Bezugsele-
ment auch intraponiert sein – ein Umstand, der einer grundlegenderen
Erklärung bedarf.; in (35c) kommt es zu einer sog. Spreizstellung18 (Hyperba-
ton) von Bezugselement (Kopfnomen) und Genitivattribut.
(36a) thuruh then quimit asuuih (Tat. 319,13)
durch den kommt Böses-NOM
per quem scandalum uenit
(36b)Hábest tû ergézen dînero sâldôn (NB 62,26)
Hast du vergessen deiner Schulden-GEN

_____________
18 Für weitere Beispiele dieser Konstruktion bei Notker siehe Näf (1979, 246ff.).
384 Oliver Schallert

(36c) daz danne nah ist sumere (MF 19 19,14)


dass dann nahe ist Sommer-DAT
dass der Sommer nahe ist
(Axel 2007, 295, Bsp. (3a.))

(36d) thie thár hab&un diuual (Tat. 133,1)


die da hatten Teufel-AKK
In (36) sind ‚leichte‘ NPn in allen Kasus in einer postverbalen Position zu
finden: ein Subjekt in (36a), ein Genitivobjekt in (36b), ein Dativ- und ein
Akkusativobjekt in (36c, d).
In konzeptueller Hinsicht erscheint der Extrapositions-Ansatz, der
unlängst von Axel (2007, 94f.) wieder ins Spiel gebracht wurde, deutlich
attraktiver, da er mit weniger Zusatzannahmen auskommt als der hier
vorgestellte ‚typologische Ansatz‘. Allerdings verschiebt sich in diesem
Fall auch die Beweislast in Richtung dieses Ansatzes, da zu klären wäre,
welche Faktoren Extraponierbarkeit im Einzelnen fördern bzw. fordern. 20
Dass hinsichtlich Extraposition selbst scheinbar eindeutige Datenbereiche
ihre Tücken haben können, möchte ich abschließend am Phänomen der
Subjektextraposition 21 demonstrieren, vgl. (37):
(37a) dhazs chiendot2 uuerdhe1 [dhiu aboha ubarhlaupnissi] (Is. 448)
dass die falsche Überschreitung beendet werde
ut consummetur praeuaricatio
(Axel 2007, 91, Bsp. (85a.))
(37b) […]ér thanne / arsterbe [mín sún] (Tat. 195,21)
bevor dann sterbe mein Sohn-NOM
/priusquam / moriatur / filius meus.,/
(Ebd., 90, Bsp. (83b.))
Neben unkontroversen Fällen für Subjektextraposition wie in (37a), wo
die Verben in der rechten Satzklammer in der Reihenfolge ihrer S-Rektion
stehen, bemerkt Axel (2007, 90), dass die große Mehrheit der einschlägi-
gen Belege dem Muster in (37b) entspricht, d.h. passivierte bzw. unakku-
sativische Prädikate enthält, bei denen man davon ausgehen könne, dass
_____________
19 Die Sigle „MF“ bezieht sich auf die Mondsee-Fragmente, einem zur Isidor-Sippe gehörigen
Text.
20 Borter (1982) bemüht sich um eine Taxonomie von ausklammerungsfördernden Faktoren,
die jedoch letztlich so uneinheitlich ist, dass sie kaum tragfähige Generalisierungen ermög-
licht.
21 Extraposition von ‚leichten Subjekten‘ ist übrigens auch im Jiddischen möglich, vgl. Vikner
(2001, 23f.), Santorini (1993, 231, 243, fn. 3).
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 385

das Subjekt in Objektposition basisgeneriert werde. Auch wenn Axel


(ebd., 94) diese Idee u.a. auf Basis von Daten wie (37a) aufgibt, ergeben
sich zusammen mit den oben diskutierten Phänomenen (Spaltungskon-
struktionen, leichte Objekte) dennoch gewisse Verdachtsmomente, die
darauf hindeuten, dass das Vorhandensein von Extraposition letzten En-
des unabhängig ist vom typologischen Status des Althochdeutschen (OV
oder VO).

4.2. Ein Analysevorschlag

Eine Erhellung der Verbstellungsregularitäten im Althochdeutschen kann


nicht allein auf empirischer Ebene angegangen werden: Obwohl die Quel-
lenlage und in Sonderheit die Frage nach der Authentizität bestimmter
Texte in syntaktischer Hinsicht (vgl. Fleischer 2006, 49) noch einiges an
Arbeit abverlangen wird, besteht kein grundsätzlicher Zweifel, dass die in
Abschnitt 2 diskutierten Strukturen im ahd. System verankert sind.
Im Folgenden soll daher in Skizzenform ein Modell vorgestellt wer-
den, mit dem sich einige syntaktische Besonderheiten des Ahd. in Bezug
auf die Stellung von Verben und Objekten einfangen lassen. Ausgangs-
punkt soll hier rein die Frage sein, wie sich die empirischen Befunde, die
sich im Rahmen des Feldermodells bzw. Bechs (1983) Modells ergeben, in
Konstituentenstrukturen abbilden lassen. Verkompliziert wird die Situa-
tion dadurch, dass es im Ahd. Strukturen gibt, die beide Modelle vor ana-
lytische Schwierigkeiten stellen. So verstoßen gewisse Fälle von Oberfeld-
bildung, bei denen zwischen Oberfeld und Unterfeld nicht-verbales Mate-
rial zu finden ist – diese Strukturen wurden unter dem Etikett Verb
projection raising diskutiert –, gegen die Generalisierung, dass die rSkl nur
verbales Material enthalten dürfe. Umgekehrt ist bei gewissen Umgruppie-
rungen im Verbalkomplex, die die Abfolge der S-Rektion durcheinander
würfeln, nicht so ohne Weiteres klar, ob denn nun ein Oberfeld vorliegt
oder nicht. Die problematischen Fälle sind in (38) anhand von Daten aus
dem Alemannischen (Vorarlberg) angeführt, wo die relevanten Strukturen
ebenfalls zu finden sind:
(38a) das er scho längscht
[rSkl [OF hett1 dr Ufsatz [UF abschicka3 sölla2]]] (VBG)
(38b)das er dr Ufsatz scho längscht
[rSkl [OF? abschicka3 [UF? hett1 sölla2]]]
Unter der Annahme, dass die Subjunktion das in (38) jeweils die linke
Satzklammer markiert, ergibt sich in (38a) das Problem, dass sich die Ob-
jektphrase „dr Ufsatz“ (den Aufsatz) offensichtlich innerhalb der rSkl
386 Oliver Schallert

befinden muss; bei (38b) stehen die einzelnen Verben nicht in ihrer
S-Rektion, aber zusätzlich ist das finite Verb nicht – wie bei der IPP-
Konstruktion im Standarddeutschen üblich – an die Spitze der rSkl (also
ins Oberfeld) gerückt worden. Benötigt wird also ein Modell, das einer-
seits liberal genug ist, um zwischen beiden Beschreibungsebenen zu ver-
mitteln, andererseits aber hinreichend restriktiv ist, d.h. nur jene Stellungs-
varianten erfasst, die im ahd. Korpus auch wirklich zu finden sind.
Ich folge hier Haider (1993, 1997b, 2003) in der Auffassung, dass sich
die Satzstruktur und in Sonderheit die Felderstruktur des Deutschen in
folgender Weise auf Konstituentenstrukturen umlegen lässt (einige Details
wurden ausgelassen):
• Vorfeld und linke Satzklammer entsprechen einer funktionalen
Phrase (FP).
• Mittelfeld und rechte Satzklammer entsprechen der Verbalphrase
(VP), die über eine komplexe Kopfstruktur als Projektionsbasis ver-
fügen kann.
Die in (39a) bereits eingeschachtelten Felderabschnitte entsprechen nach
Auffassung Haiders also den folgenden Konstituenten (lSkl = linke Satz-
klammer, rSkl = rechte Satzklammer):
(39a) [Vorfeld] lSkl [Mittelfeld] rSkl …
(39b)[FP … Fo = {lSkl} [VP … [Vo = {rSkl}]]]
Die Besonderheiten des Ahd. sind somit in der Konstituentenstruktur der
Verbalphrase (VP) und den systematischen Kontrasten angesiedelt, die
sich hier zwischen einer OV-Sprache wie Deutsch und einer VO-Sprache
wie Englisch ergeben. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Verhal-
ten von präfigierten Verben. Haider (1997a, 2000, 52) wertet die verb-
distante bzw. verb-adjazente Position der Partikel in Sprachen wie Eng-
lisch oder Norwegisch als direkten Reflex der in diesen Sprachen verfüg-
baren Kopfpositionen, vgl. (40a, b).
(40a) to [VP [phone upi] somebody [VP ei secretly]]
(40b)to [VP phonei somebody [VP [ei up] secretly]]
(40c) [VP jemanden heimlich anzurufen]
(40d) [FP er rufti [VP jemanden heimlich an ei]]
In einer VO-Sprache wie dem Englischen oder Norwegischen sind also
zwei V-Schachteln (und damit zwei Kopfpositionen) nötig, um beispiels-
weise die Argumentstruktur eines transitiven oder ditransitiven Verbs zu
sättigen, während dies in einer OV-Sprache wie dem Deutschen, in der
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 387

sich alle Argumente nach links an den Kopf der VP anlagern, nicht nötig
ist, vgl. (40c). Es gibt nur eine weitere nicht-lokale und obligatorische
Kopfposition, und diese entspricht der linken Satzklammer in V / 1- bzw.
V / 2-Sätzen, vgl. (40d). Ein zweiter wichtiger Unterschied besteht in der
syntaktischen Organisation von zusammengesetzten Verbformen, die in
OV quasi in einen Topf geworfen werden und eine komplexe Kopfstruk-
tur bilden, die kein intervenierendes Material duldet, vgl. (41b); im Engli-
schen hingegen spannt jeder einzelne verbale Kopf eine eigene, nicht-
kompakte VP auf, vgl. (41a).
(41a) that he [VP must [VP have [VP read the book]]]
(41b)dass er [VP das Buch [Vo gelesen (*XP) haben (*XP) muss]]
(41c) dass er [VP das Buch [Aux hättei [Vo lesen sollen ei]]]
Die einzige Ausnahme bilden Ersatzinfinitiv-Konstruktionen, bei welchen
zumindest das finite Auxiliar (gegebenenfalls noch weitere abhängige Ver-
ben) in einer nicht-kanonischen Kopfposition zu finden ist, nämlich dem
Oberfeld, vgl. (41c), (42a); zwischen Ober- und Unterfeld ist u.U. nicht-
verbales Material zu finden, vgl. (42b). Der kategoriale Status dieser nicht-
kanonischen Kopfposition kann nicht einfach vom Typ V sein, da sie im
Wesentlichen nur Auxiliaren bzw. Modalverben offensteht.
(42a) dass [VP er ihn heimlich [AUX hättei … [Vo anrufen sollen ei]]]
(42b)dass [VP er ihn [AUX hättei [VP heimlich [Vo anrufen sollen ei]]]
In dieser Eigenschaft besteht auch der entscheidende Unterschied zu einer
VO-Sprache wie Englisch, die auf Ebene der Argumentstruktur-Projek-
tion keine kategorialen Unterschiede aufweist: Die V-Projektion wird
durch eine weitere Projektion derselben Kategorie erweitert, und diese
Erweiterung ist nicht konstruktionsspezifisch wie im Deutschen bei IPP,
vgl. den Kontrast zwischen (43a) und (43b).
(43a) *dass [VP er riefi ihn [VP an ei]]
(43b)that he [VP phonedi him [VP ei up]]
Ich begnüge mich an dieser Stelle mit einigen Anmerkungen zu den hier
verwendeten Konzepten; für weiterführende Aspekte und insbesondere
für eine Analyse im Rahmen der Projektiven Grammatik (einer repräsenta-
tionellen Variante der Generativen Grammatik) sei auf Haider (1993,
2000, 2009) verwiesen. Auf Basis des bisher Gesagten lassen sich für das
Althochdeutsche jedenfalls vier mögliche Konstituentenstrukturen für die
VP identifizieren, die in (44) anhand von Beispielen illustriert werden:
388 Oliver Schallert

(44a) OV + quasi-geschichtete VP (Oberfeldbildung):


dhazs izs in salomone [AUX uuarii [VP al arfullit ei]] (Is. 632)
(44b)OV ohne Schichtung:
ter [VP imo selbemo dia zungûn [Vo aba / beiz]] (NB 16,12)
(44c) VO + geschichtete VP:
Úbe uuír gréhto nû [VP uuéllên [VP skáffôni dien díngen nâh pla-
tone ei gerístige námen.]]
taz er [VP beizi imo selbemo [VP aba ei dia zungûn]] (NB 91, 3)
(44d) VO ohne Schichtung:
tánne [VP sie búrg-réht [VP scûofen demo líute]] (NB 64,13)
Die beiden prototypischen Strukturen sind (44b) und (44c) – sie entspre-
chen jeweils der VP-Struktur von OV-Sprachen bzw. VO-Sprachen. Er-
klärungsbedürftig sind die Varianten (44a) und (44d), da es sich hierbei um
‚hybride‘ Strukturen handelt, die weder eindeutig dem OV- noch dem
VO-Typ zugeordnet werden können. Allerdings ist hier zu beachten, dass
(44a) – im Unterschied zu (44d) – auf dialektaler Ebene, mit Einschrän-
kungen, sogar im Standarddeutschen, zu finden ist, d.h. als genuin ahd.
Muster bleibt also nur die Variante (44d) übrig.
Unter Schichtung ist die Erweiterung der V-Projektion durch eine wei-
tere nicht-lokale Kopfposition zu verstehen, wie sie in (40a, b) anhand
einer VO-Sprache wie Englisch motiviert wurde. Die grundlegende Ein-
sicht ist die, dass eine VO-Sprache zweier VP-Schachteln (mit jeweils
eigenen Kopfposition) bedarf, um die Argumentstruktur eines transitiven
Verbs projizieren zu können; in einer OV-Sprache mit Verbalkomplex
(Deutsch, Niederländisch) ist hierzu nur eine (komplexe) Kopfposition
und ein Abschlussknoten (VP) vonnöten. Nur im Falle von Oberfeldbil-
dung (vgl. Bech 1983) wird in OV eine zusätzliche V-Projektion aufge-
spannt, und diese zeigt eindeutige kategoriale Beschränkungen hinsichtlich
zulässiger Kopfelemente (Auxiliare, Modalverben); die im Unterfeld
verbleibenden Verben bilden eine durch Statusrektion verbundene kom-
plexe Kopfstruktur. In einer VO-Konfiguration hingegen gibt es kein
Unterfeld; die Statusrektion verläuft von links nach rechts (ohne Varia-
tion), und jedes Verb als Kopfexponent spannt seine eigene V-Projektion
auf.

4.3. Was ist in späteren Sprachstufen des Deutschen passiert?

Wenn nun das Althochdeutsche in der Tat als Repräsentant eines dritten
Stellungstyps neben OV und VO gesehen werden kann, ergibt sich die
OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen 389

Frage, wie es im Deutschen zum Wandel Richtung OV kam und welche


internen bzw. externen Faktoren zu solch einem Wandel beigetragen ha-
ben. Was die grammatik-interne Ebene anlangt, so wird diese im Beitrag
von Haider (dieser Band) einer genaueren Betrachtung unterzogen. Über
externe Faktoren allerdings kann zu diesem Zeitpunkt allenfalls spekuliert
werden: So unplausibel ein Bezug auf den Einfluss des Lateinischen bei
der Fixierung der Nebensatzstellung in frühneuhochdeutscher Zeit (vgl.
Behaghel 1932, 11f.) ist, so eindeutig mangelt es an brauchbaren Alterna-
tiven. 22
Auf empirischer Ebene jedenfalls lässt sich dieser Wandel zu OV, der
spätestens in frühneuhochdeutscher Zeit abgeschlossen ist (vgl. Sapp
2006, Kap. 5), mit dem graduellen Verlust der Option (44d) verbinden, die
als VO ohne Schichtung angesprochen wurde. Option (44a), d.h. Verb projec-
tion raising, ist auf dialektaler Ebene auch im heutigen Deutschen fest etab-
liert; Belege für diese Struktur lassen sich sogar im Standarddeutschen
finden, wie die folgenden Belege aus dem ZEIT-Korpus 23 demonstrieren:
(45a) Zugegeben, daß auch ein jüngerer, ein kühnerer Politiker an die-
ser Erbmasse hätte vielleicht verzweifeln müssen […]
(45b) Das war doch wohl ein Kredit, den er hätte besser nutzen können
(46a) und führt Beispiele an, woran man hätte Anstoß nehmen müssen
(46b) daß sie nun auch hätte Kohlen kaufen können
In (45) finden sich Beispiele für Adverbien, die zwischen Ober- und Un-
terfeld intervenieren; (46) ist repräsentativ für die Belege, die ich im
ZEIT-Korpus habe finden können: Sie umfassen durch die Bank Lexikali-
sierungen (46a) bzw. indefinite NPn (46b). 24

5. Fazit
In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, gewisse syntaktische
Besonderheiten des Althochdeutschen in der rechten Satzperipherie typo-
logisch zu interpretieren. Nimmt man wohlbekannte systematische Kon-
_____________
22 Schon Fleischmann (1973) hat nachgewiesen, dass es signifikante Unterschiede zwischen
der kanonischen Verbendstellung des klassischen Lateins und den Stellungsmöglichkeiten
des Mittel- bzw. Neulateins gibt.
23 Dieses Korpus kann online über das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20.
Jh. (DWDS) benutzt werden: http://www.dwds.de/ (Stand: 28.11.08).
24 Weitere Belege für diese Struktur finden sich bei Bech (1983, 67) und bei Haider (2003,
106f.).
390 Oliver Schallert

traste zwischen den heutigen germanischen OV- und VO-Sprachen als


Heuristik, dann zeigt sich im Ahd. nicht nur ein Parallelismus von (a) OV-
und VO-kompatiblen Strukturen, sondern es gibt auch (b) Stellungsmus-
ter, die keinem der beiden Typen eindeutig zugeordnet werden können.
Andere (scheinbare) Verbstellungs-Besonderheiten des Althochdeutschen
(z.B. Verb projection raising) lassen sich dahingehend relativieren, dass sie auf
dialektaler Ebene und – mit Einschränkungen – auch im heutigen Stan-
darddeutschen zu finden sind.
Aus der Perspektive der Grammatiktheorie lassen sich diese Beson-
derheiten durch alternativ verfügbare Konstituentenstrukturen der VP
erfassen. Althochdeutsch stellt in dieser Hinsicht ein reichhaltigeres Sys-
tem dar als spätere Stufen des Deutschen, indem es typische Eigenschaf-
ten von VO- und OV-Sprachen miteinander verbindet, also in ontologi-
scher Sicht keinem der beiden Typen angehört.

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Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen
bei der Entstehung von Funktionsverbgefügen
im Althochdeutschen

Christian Braun (Graz)

1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit betrachtet das Phänomen der Funktionsverbgefü-
ge aus sprachgeschichtlicher Sicht. Die hierbei im Mittelpunkt stehenden
Fragestellungen lauten:
1. Wie kommt es zum Bedeutungsschwund des Funktionsverbs?
2. Wie entsteht der semantische Mehrwert der Aktionsartmarkierung?
3. Wie hängen die Valenz des Funktionsverbs und die des Nomen
abstractum zusammen?
Bei der Beantwortung dieser Fragestellungen wird von folgender These
ausgegangen: Funktionsverbgefüge nehmen ihren Ausgang von der kon-
kreten Bedeutung der Funktionsverben und auch von deren Satzbau-
plänen. Der Bedeutungsschwund der Funktionsverben resultiert aus einer
Tiefenkasusverschiebung bei einer regulär vom Verb geöffneten Leerstel-
le. Anlass hierfür sind Metaphern, wobei nicht entschieden werden kann,
ob es sich um lexikalisierte Metaphern auf Ebene der langue oder konzep-
tuell-kognitive Metaphern im Sinne von Lakoff / Johnson1 handelt. Bei
einem Bewegungsverb wie queman könnte eine Konzeptmetapher wie folgt
lauten: BEWEGUNG IST GLEICH ZEIT. Der konkrete Ziellokativ
entspricht hierbei dem Semem des Nomen abstractum.
Die vorliegende Studie konzentriert sich auf Belege des althochdeut-
schen Verbs queman aus dem 9. Jahrhundert. Aufgabe ist es, eine Betrach-
tung der Funktionsverbgefüge von der Semantik des Funktionsverbs her,
nach seinem Satzbauplan und den darin enthaltenen Rollen vorzunehmen.
_____________
1 Vgl. Lakoff / Johnson (1980).
396 Christian Braun

2. Zum Terminus Funktionsverbgefüge


und seiner Geschichte
Es gibt im heutigen Neuhochdeutschen eine ganze Reihe verschiedenster
Verb-Substantiv-Fügungen (z.B. Einfluss ausüben, Anerkennung finden, einen
Beweis führen, in Begeisterung geraten). Aus diesen wird über mehrere Grade
der Einschränkung die Gruppe der Funktionsverbgefüge herausgelöst,
wobei verschiedene Forscher in Nuancen jeweils unterschiedliche Schwer-
punkte in der Definition setzen. In einem ersten Schritt setzt von Polenz
eine Gruppe von Gefügen an, bei denen statt eines Verbs eine Verbin-
dung aus einem inhaltsleeren Verb mit einem durch Nominalisierung ei-
nes anderen Verbs entstandenen Substantiv verwendet wird.2 Für diese –
immer noch sehr heterogene Gruppe – schlägt er den Begriff des Nomina-
lisierungsverbgefüges vor. Innerhalb dieser Gruppe kann man nun Gefüge
beobachten, bei denen der Verbteil einen systematisch beschreibbaren
semantischen Eigenbeitrag leistet, nämlich den der Markierung der Ak-
tionsart. Solche Verben nennt von Polenz Funktionsverben, die zugehörigen
Gefüge Funktionsverbgefüge. Funktionsverbgefüge müssen über zwei Merk-
male verfügen:
1. Das Funktionsverb leistet einen Eigenbeitrag im Sinne der Markie-
rung der Aktionsart;
2. bei dem Substantiv handelt es sich um ein Nomen actionis.
Im weiteren Verlauf der Diskussion präzisiert von Polenz den Begriff des
Funktionsverbgefüges insofern, dass zwischen Verb und Substantiv als
Fügemittel eine Präposition stehen muss.3 Gefüge ohne Präposition sind
somit keine Funktionsverbgefüge.
Zudem lässt er nicht mehr nur Nomina actionis zu, sondern generell
alle Nomina abstracta, also sowohl Verbal- als auch Adjektivabstracta (z.B.
Verlegenheit), sofern sie einen Vorgang bzw. einen Zustand beschreiben.4
Diese allgemeinere Fassung des Gefügesubstantivs als Verbal- oder Adjek-
tivabstractum wird nicht von allen Forschern übernommen.5 Zu beachten
gilt, dass das Substantiv des Gefüges satzsemantisch als Prädikatsausdruck
bzw. als prädikativer Kern fungiert. Das bedeutet, dass sich die Valenz im

_____________
2 Vgl. von Polenz (1987, 169f.).
3 Vgl. ebd., 171.
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Heringer (1973, 169ff.), Greule (1982, 177ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 397

Satz primär nach der Valenz des Verbalabstractums richtet, eventuell mo-
difiziert durch die Aktionsart.6
Relleke betrachtet Funktionsverbgefüge erstmals auch für eine histori-
sche Epoche des Deutschen und konzentriert sich hierbei auf das Alt-
hochdeutsche. Sie steht, was die Auffassung des Phänomens betrifft, ei-
nerseits in der Tradition von von Polenz, weist andererseits aber schon
früher als dieser im Anschluss an Engelen auf die Relevanz der Präposi-
tion als Fügemittel hin.7 Relleke unterscheidet nach formalen Kriterien
zwischen Gefügen folgenden Aufbaus:8
1. Substantiv + Verb: Arbeit verrichten;
2. Artikel + Substantiv + Verb: eine Beratung durchführen;
3. Präposition + Substantiv + Verb: in Erwägung ziehen;
4. Präposition + Artikel + Substantiv + Verb: zur Entscheidung bringen.
Nur für die Strukturen 3. und 4. verwendet sie den Begriff des Funktions-
verbgefüges. Aufgrund des Charakters des bestimmten Artikels im Alt-
hochdeutschen ist – im Gegensatz zum Neuhochdeutschen – die 4. Struk-
tur jedoch weit weniger relevant. Relleke stellt fest, dass bereits im
Althochdeutschen
1. in und zu die häufigsten Präpositionen im Gefüge sind;
2. kommen und bringen als Funktionsverben starke Verbreitung finden.9

3. Korpus und Methodik


Bezüglich Korpus und Methodik orientiert sich die hier vorliegende Studie
gänzlich am Syntaktischen Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9.
Jahrhunderts.10 Die herangezogenen Quellen umfassen somit folgende Tex-
te: Altalemannische Psalmenfragmente, Benediktinerregel, Hildebrands-
lied, Monseer Fragmente, Murbacher Hymnen, Otfrid, Tatian sowie die
kleineren Sprachdenkmäler nach von Steinmeyer.11
_____________
6 Vgl. von Polenz (1987, 171f.): So erhöht sich die Wertigkeit bei Faktitiva / Kausativa um
die Stelle des bewirkenden Agens: w bringt x zur Einigung mit y über z.
7 Vgl. Engelen (1968, 289ff.).
8 Vgl. Relleke (1974, 4ff.).
9 Dies erklärt sie mit deren früh einsetzendem Bedeutungsschwund; vgl. ebd., 39f.
10 Greule (1999). Ausführliche Beschreibungen zur Methodik finden sich auf S. 10ff. Vgl.
hierzu auch Greule (1982); Greule (1995, 357ff.).
11 Vgl. von Steinmeyer (1971).
398 Christian Braun

Aufgrund aller vorkommenden Belege für das Verb queman im Alt-


hochdeutschen des 9. Jahrhunderts werden in einem ersten Schritt Satz-
baupläne erstellt, vor denen als Folie die auftretenden Funktionsverbgefü-
ge betrachtet werden.12
Der Untersuchungsgegenstand ist das Simplex queman und seine be-
deutungsgleichen Präfixverben. Ausgangspunkt ist der Lexikoneintrag im
Wörterbuch von Schützeichel.13 Die Bedeutungen des Simplex werden mit
denen der Präfixverben verglichen. Bei Deckungsgleichheit wird das Prä-
fixverb aufgenommen.14 Für die hier behandelten Quellen lassen sich zwei
Hauptbedeutungen ausmachen:
1. 'kommen, gehen';
2. 'zuteil werden'.
Wegen Deckungsgleichheit aufgenommen wurden die Präfixverben az-
queman‚ '(herbei)kommen' und teilweise biqueman in den Bedeutungen
'kommen', 'gelangen', 'zuteil werden'.

4. Zum Problem der Präfixverben


Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Behandlung von Präfixver-
ben mit Problemen verbunden ist. Allein die von den verschiedenen Edi-
toren in ihren Registern doch sehr unterschiedlich angesetzten Infinitiv-
lemmata sprechen hier eine deutliche Sprache. Für Otfrid können die
Glossare von Shimbo (1990), Piper (1887) und Kelle (1963) herangezogen
werden. Piper setzt außer dem Simplex und den im Wörterbuch von
Schützeichel angegebenen Präfixverben noch weitere Komposita an.
Beleganzahl
queman 196
ana-queman 1
bi-queman 7 (+4)
heim-queman 9
hera-queman 21
_____________
12 Der Artikel zu queman im Valenzlexikon beruht auf einer repräsentativen Belegauswahl; vgl.
Greule (1999, 10). Insgesamt können für das Korpus 598 Belege ermittelt werden, deren
Analyse die Gesamtsituation jedoch nur unwesentlich modifiziert. Hinzu treten die Belege
der Funktionsverbgefüge.
13 Vgl. Schützeichel (1995).
14 Der größere Formenreichtum und Bedeutungsumfang bei Schützeichel erklärt sich durch
die umfangreichere Materialgrundlage des Wörterbuchs.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 399

herasun-queman 10
în-queman 3
ingegin-queman 7
thanan-, thanana-queman 4
thara-queman 18
thuruh-queman 1
widorort-queman 2
zisamane-queman 3
Bei Kelle ergibt sich folgende Belegsituation:
Beleganzahl
quimu 154 (davon doppelt gezählt: O 5,13,27)15
ana-quimu 1
bi-quimu 7 (+4)
hera-quimu 16
in-quimu 2
ingegin-quimu 6
thara-quimu 1716
thuruh-quimu 1
zisamane-quimu 3
Kelle liefert keinen eigenen heimqueman-Eintrag, sondern führt heim- als
Untereintrag bei quimu auf.17 Gleichzeitig nennt er besagte Belegstellen
zusätzlich noch im normalen quimu-Eintrag.18 Gleiches gilt für herasun-.
Auch für widorort-quimu setzt er keinen eigenen, sondern einen Unterein-
trag beim Simplex an. Dort finden sich beide Belege. Abweichend von
Piper findet sich bei Kelle auch kein Präfixverb thanan(a)queman. Die Ein-
träge werden verstreut beim Simplex angeführt.
Letztlich kumuliert das Problem in der Frage: Liegt ein echtes Präfix
vor, handelt es sich um eine Präposition oder ein Adverb? Dies muss man
für jeden Einzelfall vor Ort entscheiden. In den allerseltensten Fällen
findet man das Präfix aber im Text dort, wo es zu vermuten wäre – direkt
vor dem Verb. Oft ist einer Einordnung als Adverb (und damit als eigen-
ständiges Satzglied) oder als Präposition (und damit als Teil eines anderen
Satzglieds) der Vorzug zu geben. Dies kann die folgenden Verben betref-
fen: anaqueman, thar(a)queman, thuruhqueman, foraqueman, framqueman, furi-
_____________
15 Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1 und 468, Sp. 1).
16 Obwohl Piper hier 18 und Kelle 17 Belege anführen, hat letzterer nicht einfach einen
übersehen. Vielmehr hat Kelle drei Belegstellen weniger und zwei zusätzlich gefunden,
wobei O 3,9,8 bei Piper evtl. zu Recht unter dem Simplex aufgeführt ist (quam thar).
17 Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1).
18 Vgl. ebd., 469, Sp. 2.
400 Christian Braun

qhueman, heraqueman, inqueman, ingeginiqueman, ûfqueman, ûzqueman, zusamane-


queman, zuaqueman.
Bei Texten, die auf lateinischen Vorlagen beruhen, tritt das Phänomen
der Lehnbildungen erschwerend hinzu. Zwar liegen hier echte Präfixver-
ben, d.h. Verben mit vorangestelltem Präfix, vor, jedoch darf bezweifelt
werden, ob Lexeme, in denen mechanisch Lehnbildungen aus dem Latei-
nischen übernommen werden,19 Aufschluss über die germanischen Ak-
tionsarten im Sinne Streitbergs20 geben können. Die folgenden Belege
dienen der Veranschaulichung:
B 11,14: … min duruhqhueman.
minime pervenientur.
B 22,32: [schlechte Gedanken] herzin sinemu zuaqhuuemente
malas cordi suo advenientes
B 27,39: (uuir) wellemees sniumo duruhqhueman
volumus velociter pervenire
B 32,47: (kidancha ubile) herzin sinemu zuaqhuemante
malas cordi suo advenientes
B 65,100: … uzzan ibu notduruft kesteo ubarqhuimit *** [Text
lückenhaft]
excepto si necessitas hospitum supervenerit aut forte
MH 2,7: azquheme richi dinaz
adveniat regnum tuam
Es tritt im Korpus jedoch kein Fall auf, in dem ein in dieser Weise gebil-
detes Verb Teil eines Funktionsverbgefüges ist, so dass die sich potentiell
hierbei ergebenden Schwierigkeiten auf der Ebene der Semantik für die
vorliegende Studie nicht relevant sind.

_____________
19 Vgl. Wedel (1970, 14).
20 Streitberg (1889, 70ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 401

5. Analyse
5.1. queman allgemein

Der für das ahd. Verb queman postulierte Kasusrahmen lautet paraphra-
siert:
a kommt in (i.e. im Gebiet) b von c über d nach e.
Hierbei handelt es sich bei a um das Agens, bei den anderen Rollen um
Spezifikationen des Lokativs, so wie sie bei einem Bewegungsverb zu
erwarten sind. Die Rolle a ist sehr oft durch Lebewesen besetzt, kann aber
im Grunde auch durch Unbelebtes gefüllt sein, sofern dieses in irgendei-
ner Weise personifizierbar ist. Es ist daher sinnvoll, zwischen einem Pri-
märagens AG (+hum / anim) und einem Sekundäragens AG
(-hum / anim) zu spezifizieren. Bei den Lokativen handelt es sich um den
Situativ, den Ursprungslokativ, den Weg- bzw. Streckenlokativ und den
Ziellokativ.
Für queman in der Bedeutung 'zuteil werden' sind zwei weitere Rollen
relevant: Das affizierte Objekt und der Adressat. Der Kasusrahmen sieht
wie folgt aus:
OBJAFF wird AD von AG / LOKZIEL zuteil.

5.2. Funktionsverbgefüge mit queman

Folgende Belege für Funktionsverbgefüge mit queman können ermittelt


werden.21

5.2.1. Inchoative Funktionsverbgefüge

B 7,8:
zi euuikemo libe dhuruhqhueman zum ewigen Leben gelangen (lat. per-
venire)
M 69,65; M 70,71:
ze deru suonu queman zur Sühne kommen
O 5,6,7:
zi giloubu biqueman zum Glauben kommen / finden
_____________
21 Für das Mittelniederdeutsche listet Lundemo mehrere Beispiele von Funktionsverbgefügen
mit kōmen auf: vgl. Lundemo (1999, 170ff.).
402 Christian Braun

O 2,9,27:
zi suazeren goumon queman zu süßerem Genuss gelangen
O 1,18,6; O 5,12,87; O 5,23,225:
zi ente queman zum Ende kommen
T 13,4:
zi urcunde queman zum Bezeugen kommen

5.2.2. Ingressive Funktionsverbgefüge

O H 116, O 2,4,84; O 2,4,105; O 2,7,58; O 2,8,40; O 2,14,99; O


2,18,22; O 2,21,43; O 3,1,8; O 3,2,14; O 3,3,2; O 3,18,10; O 3,20,131;
O 3,23,46; O 3,24,43; O 4,24,17; O 4,29,54; O 4,30,24; O 5,4,2; O
5,9,8; O 5,19,36; O 5,20,87; O 5,23,209; O 5,24,7 (24 Belege):
in muat (17) / in githahti (2) /
in gidrahti (1) / in gidrahta (1) /
in herza (1) / in wan (1) 'in den Sinn kommen'
zi muate (1) queman / biqueman
Diese ingressiven Gefüge stimmen in ihrer Bedeutung überein. Syntak-
tisch weichen sie jedoch voneinander ab. Das Nomen abstractum ist para-
digmatisch austauschbar; im Rahmen einer strengen Definition muss der
Beleg mit herza ausfallen, da das Substantiv weder als Nomen actionis
noch als Verbalabstractum zu werten ist. In einem Fall ist ein paradigmati-
scher Austausch der Präposition in durch zi zu beobachten. Da hier aus-
schließlich Otfrid-Belege vorliegen, kann vermutet werden, dass die Fülle
der verschiedenen Gefüge-Nomina zu einem gewissen Grad dem Reim-
zwang geschuldet sein könnte.

5.3. Beispiele

Zur besseren Einsicht sollen im Folgenden einige ausgewählte Belegbei-


spiele in ihrem syntaktischen Kontext angeführt werden.22
M 70,71: daz er iz allaz kisaget, denne er ze deru suonu quimit
O 5,6,7: Joh wío siez ouh firnámun, zi gilóubu sid biquámun
O 2,9,27: Ni thúhta mih theih quámi thar sulih wín wari,
odo io in ínheimon zi súazeren goumon
_____________
22 Auf die Wiedergabe aller Belegstellen wird aus platzökonomischen Gründen verzichtet.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 403

O 1,18,6: 23 ni mag ich thóh mit worte thes lóbes queman zi énte
O 5,23,225: Ni móht ich thoh mit wórte thes lóbes queman zénte
álles mines líbes frist, wíolih thar in lánte ist
O 2,8,40: es wiht ni quám imo ouh in wán, theiz24 was von wázare gidan
O 3,1,8: súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36: queman mág uns thaz in múat
O 5,23,209:25 Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín

5.4. Pertinenzdative

Bei allen Gefügen mit der Bedeutung 'in den Sinn kommen' tritt ein Phä-
nomen auf, das sie von den anderen Gefügen unterscheidet: der doppelte
Ziellokativ.
O 3,1,8: súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36: queman mág uns thaz in múat
O 5,23,209: Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín
In Fällen wie diesen erscheint es m.E. angemessen, das Pronomen als
Pertinenzdativ zu werten.

6. Schlussfolgerungen
Welchen Eigenbeitrag kann ein Bewegungsverb wie queman zur Semantik
eines Funktionsverbgefüges leisten? Es fällt auf, dass in den allgemeinen
Beispielen der Ziellokativ die am häufigsten realisierte Rolle ist. Gleiches
gilt auch für die Gefüge, wo 'von etwas kommen' gar nicht auftritt. Bis auf
das nicht berücksichtigte Passiv-Gefüge
O 3,10,3: Ni quam er druhtine fon heidinemo wibe in gange odo in loufti sulih
anaruafti

_____________
23 Hier und im Folgebeleg ist durch die NP5 mit worte jeweils schon der semantische Bezug
zum Nomen abstractum hergestellt.
24 I.e. der Wein.
25 Bemerkenswert ist, dass die Wahl von gidráhta hier nicht aus Gründen des Reimzwangs
erfolgt.
404 Christian Braun

folgen sie dem Aufbau 'zu etwas kommen'.26 Somit liegt der semantische
Eigenbeitrag von queman im 'Erreichen von etwas'. Auf den ersten Blick
wird somit ein perfektivierend-resultatives Element beigesteuert. Genau
das ist aber falsch. Vielmehr kommt man zum Beginn dessen, was seman-
tisch durch das Nomen abstractum ausgedrückt wird, nicht zu dessen
Ende. Ob ein Funktionsverb einen inchoativen, allmählich einsetzenden
oder einen ingressiven, plötzlich einsetzenden Bedeutungsbeitrag leistet,
hängt einzig an der Geschwindigkeit, mit der das Ende dessen erreicht
wird, zu dessen Anfang man mit queman gelangt. So kann 'zum Glauben
kommen' ein ganzes Leben dauern (oder auch schnell gehen), 'in den Sinn
kommen' sehr plötzlich geschehen.
Als Ausnahme von diesen inchoativ-ingressiven Gefügen wird immer
wieder das Beispiel 'zu Ende kommen' mit resultativer Aktionsart ge-
nannt.27 In diesen Fällen ist aber bei der Einordnung eine Fehleinschät-
zung unterlaufen. Der Grund hierfür ist, dass man sich von der dem No-
men (!) innewohnenden Aktionsart in die Irre führen hat lassen. Man darf
nicht vergessen, dass manche Verben schon aufgrund ihrer Semantik ge-
nuin auf eine Aktionsart verweisen. Die Aktionsart des Gefüges wird aber
durch das Funktionsverb übermittelt – nicht durch das Nomen abstrac-
tum. Insofern ist zi enti queman ebenfalls inchoativ zu werten: Man beginnt
jetzt mit dem Ende.28

7. Fazit
Insgesamt können 33 Funktionsverbgefüge mit queman ausgemacht wer-
den. Diesen stehen 508 Belege mit 1queman (+hum / anim), 80 Belege von
1queman (-hum / anim) sowie 10 Belege von 2queman ('zuteil werden') ge-

genüber. Bis auf das Passiv-Gefüge entsprechen alle Nomina abstracta


beim Anlegen des höchstfrequenten Satzbauplans einem Ziellokativ. Sie
werden, wie dort, mit den Präpositionen in oder zi eingeleitet. Die Funkti-
onsverbgefüge sind also eine von mehreren Variationen über den Satz-
bauplan von 1queman (+hum / anim). Diese Variationen sehen wie folgt
aus:

_____________
26 Da keine Präposition als Fügemittel auftritt, wird dieser Beleg nicht als Funktionsverbgefü-
ge gewertet.
27 Z.B. Relleke (1974, 36).
28 Die Plausibilität der Argumentation soll durch folgende Beobachtung gestützt werden: Die
in Vorträgen oft gehörte, manchmal durchaus willkommene Phrase „Ich komme jetzt zum
Ende.“ signalisiert nicht den sofortigen Abschluss eines Vortrags, sondern vielmehr das
Einleiten der Abschlussphase.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd. 405

Wird das Agens über eine Personifikation mit Unbelebtem besetzt, er-
folgt eine Verschiebung von 1queman (+hum / anim) zu 1queman
(-hum / anim). Wird der Ziellokativ personifiziert (und damit zum Adres-
saten) und gleichzeitig das Agens mit Abstraktem besetzt (und auf diese
Weise zum affizierten Objekt gemacht), wird der Wechsel von 1queman zu
2queman eingeleitet. Wird allerdings nur der Ziellokativ abstrahiert, befindet

man sich auf dem Weg zum Funktionsverbgefüge. Jede dieser Varianten
beruht auf einer subtilen Veränderung des Satzbauplans und der zugehö-
rigen semantischen Rollen. Diese stehen jeweils in Relation zum Semem
des Verbs, wodurch eine wechselseitige Beeinflussung denkbar ist. Als
Resultat ergibt sich eine Fülle verschiedener Alternativen und Möglichkei-
ten.

Quellen

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Zum Verhältnis von Stil und Syntax.
Die Verbfrüherstellung in Zitat- und Traktatsyntax
des althochdeutschen Isidor∗

Eva Schlachter (Berlin)

1. Einführung
Spätestens seit dem Werk von Matzel (1970) ist bekannt, dass die althoch-
deutsche Übersetzung des Traktats De fide catholica ex veteri et novo testamento
contra Iudeos des Isidor von Sevilla keinen einheitlichen syntaktischen Stil
aufweist:
Zwei Techniken des Übersetzens werden in der Is[idor]-Übertragung befolgt:
Außerhalb der Bibelzitate eine sehr selbständige, die mitunter überaus frei ist und
fast der umschreibenden Wiedergabe gleichkommt; sie ist vornehmlich auf eine
adäquate Erfassung des Sinnes der sehr schwierigen theologischen Beweisfüh-
rungen bedacht. In den Bibelzitaten eine auf Selbständigkeit der Ausdrucksweise
verzichtende, der getreuen Verdeutschung des biblischen Wortes dienende, die
vielfach die lapidare Diktion der geheiligten Worte nachahmt und mit archaische-
ren Ausdrucksmitteln arbeitet. (Matzel 1970, 357)
Schon vor ihm hatte Eggers darauf hingewiesen, dass sich „dieser ausge-
zeichnete Übersetzer“ bei der Wiedergabe der Bibelzitate „enger an die
Vorlage“ halte (Eggers 1963, 203). Die für die frühalthochdeutsche Zeit
außergewöhnliche Übersetzungsleistung scheint sich also auf den argu-
mentativen Teil des Traktats zu beschränken, in dem die Gottessohn-
schaft Jesu und der Trinitätsgedanke begründet werden. Die Bibelstellen
aus dem Alten Testament dagegen werden in dem oben angeführten Zitat
als unselbständiger, vorlagennäher und archaischer gedeutet. Neben die-
sen allgemein gehaltenen Wertungen wird Matzel lediglich an einer Stelle
konkret, und zwar wenn es um die Auslassung des Subjektpronomens
(SP) geht. Matzel behauptet, „dass gerade in Bibelzitaten das SP fehlt“
(1970, 357). Er übernimmt diese Behauptung von Eggenberger (1961), der
_____________
∗ Für Anregungen und Diskussionen danke ich meinen Kolleginnen Svetlana Petrova und
Sophie Repp sowie Jürg Fleischer.
410 Eva Schlachter

in einer empirisch breiten Untersuchung das Fehlen und die Setzung der
Subjektpronomen im Althochdeutschen untersucht. Eggenberger deutet
an, möglicherweise aufgrund seiner Lehnsyntaxhypothese, „dass in enger
kongruenter Uebernahme das SP in Zitaten fehle“ (1961, 130). Doch ge-
rade diese Behauptung wird in der ansonsten gründlichen und mit Zah-
lenwerten abgesicherten Untersuchung nicht belegt.1
Eine etwas andere Wertung der Zitatsyntax findet sich lediglich bei
Lippert (1974), der sie – genauso wie die Traktatsyntax – als „frei“ be-
zeichnet. Es handle sich um eine „paraphrastisch-freie“ Übersetzungs-
technik, die eher auf die Vermittlung des Inhalts als auf die des Eindrucks
ziele, während der Traktatteil als „wirkungsbezogen-frei“ zu gelten habe
und einer Wiedergabe mit den eigenen muttersprachlichen Mitteln voll-
ständig entspricht (vgl. Lippert 1974, 40). Trotz der paraphrastisch-freien
Übersetzungstechnik unterliegt die Wiedergabe der Zitatstellen nach Lip-
pert gewissen „Grenzen“ und „Beschränkungen“ (ebd., 45), die mit ihrer
Herkunft aus der Bibel zu tun haben. Dennoch ist es nicht die Lateinnähe
per se, die die Zitatsyntax kennzeichnet, was Lippert anhand der Verbdritt-
konstruktionen zeigt: Alle lateinischen Verbdrittsätze werden in der Zitat-
syntax in solche mit Zweitstellung des finiten Verbs umgewandelt (vgl.
ebd., 82). Hinter den Grenzen der Übersetzungstechnik vermutet Lippert
vielmehr ein „stilistisch motiviertes Vorgehen“, das mit „rhythmischen
Gestaltungsprinzipien“ zu tun habe (ebd., 85).
Festzuhalten bleibt also, dass man sich zwar des Unterschieds zwi-
schen den beiden Übersetzungstechniken bewusst ist, dass es aber bislang
kaum gesicherte und konkrete Kenntnisse über die Art des syntaktischen
Unterschieds oder des Stils gibt.2 Für die Syntaxforschung zum Althoch-
deutschen bedeutet dies, dass man die Herkunft der Belegstellen aus dem
Isidor unbedingt zu beachten hat, worauf in jüngster Zeit ausdrücklich
Fleischer hinweist (vgl. 2006, 35). Doch auch wenn man den Unterschied
beachtet, ergibt sich dessen Wertung noch nicht zwangsläufig. Die Hypo-
these, dass die Zitatsyntax als ‚lateinnäher‘ zu gelten habe, liegt beispiels-
weise auch dem Urteil Axels (2007) zugrunde, das sie nach eigenen Anga-
ben von Matzel übernimmt. Bei der Besprechung von Interrogativsätzen,
in denen dem einleitenden Fragepronomen ein Pronomen und dann erst
das finite Verb folgt, stellt sie fest, dass zwei von drei Beispielen der Zitat-
syntax entstammen. Da die Pronomen aber gegen das Latein eingefügt
_____________
1 Die Auslassung der Subjektpronomen im Isidor und im Matthäus-Evangelium wird in
meiner Doktorarbeit diskutiert.
2 Klemm (1912) ist meines Wissens der Einzige, der die Untersuchung der Bibelstellen von
derjenigen der restlichen Übersetzung getrennt vornimmt. Doch kommt er zu dem
Schluss, dass „der einfluß der satzmelodie für die verbalstellung“ (1912, 42f.) in beiden Tei-
len gleichermaßen ausschlaggebend ist (vgl. ebd., 78).
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 411

wurden, können die Belege nach Axel nicht mehr als Beispiele für den
lehnsyntaktischen Einfluss des Lateinischen eingestuft werden, wie er die
Zitatstellen charakterisiere (vgl. 2007, 245f.). Damit gelten die Belege als
authentisch. Ob die ‚Lateinnähe‘ aber tatsächlich das entscheidende Prin-
zip der Zitatsyntax ist, muss erst noch nachgewiesen werden.
Der vorliegende Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur
Klärung dieser Frage zu leisten. Anhand der im Althochdeutschen noch
relativ stark verbreiteten Verbfrüherstellung im Nebensatz3 soll untersucht
werden, ob sich Zitat- und Traktatsyntax diesbezüglich unterscheiden. Ist
das Phänomen gleichermaßen frequent? Welcher Einfluss kommt dem
Lateinischen zu? Sind die postverbalen Konstituenten syntaktisch und
informationsstrukturell vergleichbar? Der Einbezug der Untersuchung
informationsstruktureller Kategorien, die als Bindeglied zwischen Syntax
und Stil betrachtet werden können, hat zum Ziel, die Übersetzungstechni-
ken der beiden Textteile präziser beschreiben zu können.
Dass die Verbstellung sehr wohl als ein Diagnostikum für Stil benutzt
werden kann, zeigt die Diskussion zur Verberststellung (V1) im deklarati-
ven Hauptsatz. Sie wurde zum ersten Mal von Robinson (1994) als ein
Charakteristikum der Zitatsyntax beschrieben. Robinson untersucht, wie
die 41 Verberstsätze der lateinischen Vorlage im althochdeutschen Text
wiedergegeben werden. Er stellt fest, dass in der Zitatsyntax 15 Mal eben-
falls für einen V1-Satz optiert wird. Die Traktatsyntax dagegen bevorzugt
in 26 Fällen die Wiedergabe durch einen V2- / V3-Satz, die V1-Folge
kommt nur drei Mal vor. Robinson wertet die V1-Sätze als eine Art ‚Flag-
ge‘, die die Bibelzitatstellen als solche ausweist. Darin, dass sie als fremdes
Muster gewertet werden sollen, liegt ihre Funktion, und nicht in der Her-
stellung einer Wort-für-Wort-Übersetzung. Robinsons Wertung von V1
als „a distinctively foreign pattern“ (1997, 25) geht aber sicherlich zu weit.
V1 hat einen festen Platz in der althochdeutschen Syntax, wie gerade auch
neuere Forschungen zeigen: Axel arbeitet die Verbindung von V1 mit
bestimmten Prädikatklassen heraus. V1-Sätze kommen häufig mit unakku-
sativischen Verben wie beispielsweise Bewegungsverben oder in passiv-
ähnlichen Konstruktionen vor. In anderen Fällen ‚ersetzen‘ sie Sätze, in
denen heute ein Expletivum stehen würde (vgl. 2007, 120 u. 124). Hin-
terhölzl / Petrova / Solf (2005) betonen, dass V1 im althochdeutschen
Tatian mit zwei textuellen Funktionen einhergeht. Es dient zunächst der
_____________
3 Es handelt sich natürlich nur um eine relative Häufigkeit. Häufig sind diese Phänomene im
Vergleich zu den Konstruktionen mit Absolutem Dativ oder der Auflösung von Partizi-
pialkonstruktionen des Lateinischen, die ebenfalls schon als Diagnostikum für die Überset-
zungstechnik herangezogen wurden (vgl. Lippert 1974). Die absoluten Zahlen sind statis-
tisch gesehen keineswegs aussagekräftig. Sie werden daher lediglich als empirischer Anker
für die weitere Interpretation verstanden.
412 Eva Schlachter

Einführung neuer Diskursreferenten und kommt typischerweise textinitial


vor. Sind die Diskursteilnehmer jedoch schon bekannt, führen V1-Sätze
die Hauptnarrationslinie fort. V1 ist zudem auch in den anderen altgerma-
nischen Sprachen etabliert. Fleischer folgert daraus, dass nicht die Kon-
struktion V1, sondern die Distribution unauthentisch ist:
[D]ie für diesen Text spezifische Funktion der Markierung von Bibelzitaten
[überlagert] die für den Tatian feststellbare informationsstrukturelle Regel, sodass
diese nicht mehr als solche erkannt werden kann. (Fleischer 2006, 46)
Axel dagegen kommt zu dem Schluss, dass die Häufigkeit von V1 in den
Zitatteilen damit zu erklären sei, dass die hier vorkommenden Prädikate
die V1-Muster bevorzugen (vgl. 2007, 129). Damit würde V1, auch was
die Distribution betrifft, ein authentisches Muster darstellen.

2. Verbfrüherstellung im Nebensatz
In der Diskussion der Entwicklung der Verbstellung vom Germanischen
zum Althochdeutschen, die vor etwas mehr als hundert Jahren begann,
konzentriert man sich in erster Linie auf die Stellung des Verbs im Haupt-
satz. Weitgehend einig ist man sich über die relativ starke Verbreitung der
Verbzweitstellung im Hauptsatz schon in althochdeutscher Zeit. Eher
umstritten sind dagegen die Verhältnisse im Nebensatz. Zwar gehen
schon Erdmann (vgl. 1886, 194) und Delbrück (vgl. 1911, 73) für das
Althochdeutsche von der Durchsetzung der Verbendstellung im Neben-
satz aus, doch scheint die Beleglage auch andere Beurteilungen nahezule-
gen. Diels (1906) nimmt offenbar die etablierte Zweitstellung im Neben-
satz an, wenn er schreibt: „Wo ein Nebensatz mehrere nominale
Bestandteile enthält, ist die Einschiebung des Verbs hinter dem ersten in
der älteren Prosa etwas ganz gewöhnliches“ (1906, 164). Und auch Be-
haghel wertet die Verbfrüherstellung bis in die Gegenwartssprache als ein
durchaus gängiges Phänomen:
Ich habe dann gezeigt, dass das unrichtig ist, dass in der heutigen Mundart, in un-
serer Umgangssprache wie in altdeutschen Texten, oft genug das Verbum nicht
am Ende steht. Das entscheidende Kennzeichen des deutschen Nebensatzes ist
nicht die Endstellung des Verbs, sondern die Nicht-Zweitstellung, die Stellung
nach der zweiten Stelle; ob danach noch etwas folgt, ist grundsätzlich gleichgültig.
(Behagel 1929, 277)
Robinson (1997) hat speziell die Nebensätze des Isidor – auch auf die Posi-
tion des Verbs hin – untersucht. Er klassifiziert die Nebensätze zunächst
nach ihrer syntaktischen und semantischen Funktion für den Hauptsatz.
Aus seinen Daten geht hervor, dass sich Adverbial- und Relativsätze an-
ders verhalten als indirekte Fragen und mit dhazs eingeleitete Ergänzungs-
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 413

sätze. Die erste Gruppe zeigt eine größere Präferenz für die Verbendstel-
lung als die zweite. Dagegen scheint die Gruppe der mit dhazs eingeleite-
ten Adverbialsätze eine Ausnahme zu bilden: Mehr als die Hälfte aller
Fälle weist Verbfrüherstellung auf. Robinson selbst deutet dies damit, dass
sie häufig die wichtigste Information des gesamten Satzes bereitstellten
(vgl. 1996, 83), wofür er das folgende Beispiel anführt:
(1) dhuo setzida inan in siin paradisi, dhazs ir chihoric uuari gote
Da setzte (er) ihn in sein Paradies, dass er gehorsam wäre Gott
Posuit eum in paradiso, ut esset deo subiectus,
endi furiro uuari andrem gotes chiscaftim.
und vorgezogen wäre (den) andren Gottes Geschöpfen
ceteris creaturis praelatus.
(Is.V.9, Eg. 491-493, He 29, 20-30, 1)
Robinsons genaue und kenntnisreiche Untersuchung hat jedoch den
Nachteil, dass er die von ihm benutzten informationsstrukturellen Kate-
gorien nicht definiert. In welchem Sinne ist beispielsweise die Tatsache,
dass Gott den Menschen in das von ihm geschaffene Paradies setzt, weni-
ger ‚wichtig‘ als die Forderung nach dem Gottesgehorsam? Außerdem ist
die Vergleichbarkeit der einzelnen Verbfrüherstellungstypen nur schwer
oder gar nicht möglich, weil Robinson seine Auszählungen nicht in einer
zusammenfassenden systematischen Darstellung wiedergibt. Und schließ-
lich stellt er sich nicht die Frage, ob auch anhand der Verbfrüherstellung
im Nebensatz Unterschiede zwischen den Bibel- und den Traktatstellen
beobachtet werden können.
Angesichts dieser Mängel erweist es sich also als notwendig, die Verb-
früherstellungen im Isidor-Traktat noch einmal genauer zu untersuchen.
Die Gruppe der mit dass eingeleiteten Nebensätze wurde deshalb ausge-
wählt, weil die Subjunktion dass in den meisten Fällen als solche erkannt
werden kann (im Unterschiede zu den kausalen Konnektoren, die häufig
als Konjunktion vor dem Satz, als Adverb oder als nebensatzeinleitende
Subjunktion eingestuft werden können). Die Instanzen, in denen dass auch
als Relativpronomen interpretiert werden kann, wurden ausgeschlossen.
(2) gibt ein Beispiel für die Verbfrüherstellung aus der Zitatsyntax, (3)
stammt aus dem argumentativen Teil der Traktatsyntax:4
(2) dhazs dhu firstandes heilac chiruni.
dass du verstehst (das) heilige Geheimnis.
... et archana secretorum …
(Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6)
(3) dhazs ir selbo Christ ist chiuuisso got ioh druhtin
_____________
4 Die Beispiele werden nach den Editionen von Eggers (1964) und Hench (1893) zitiert.
414 Eva Schlachter

dass er selbst Christus ist gewiss Gott und Herr


Quia idem deus et dominus est
(Is.III.1, Eg.135, He 5, 10-11)
Meine Auszählung ergab, dass in mehr als der Hälfte aller 56 dass-Sätze,
nämlich in 30, das Verb in einer medialen Position steht. Man könnte dies
nun als eine Eigenart der Isidorsyntax bewerten, wenn nicht Weiß (im
Druck) in seinem Korpus, das aus den dass-Sätzen der kleineren althoch-
deutschen Texte besteht, ebenfalls einen Anteil von 40 Prozent an Verb-
früherstellungen ermittelt hätte. Das Phänomen beschränkt sich
außerdem nicht auf die mit dass eingeleiteten Nebensätze. Klemm (1912),
der alle Nebensätze des Isidor-Texts untersucht, ermittelt 48 % Verbfrüh-
erstellungen im Traktat- und 29 % im Zitatteil. Die Verbfrüherstellung im
Nebensatz muss also als ein im frühen Althochdeutschen verbreitetes
Phänomen betrachtet werden.
Zudem erweist sie sich bei den mit dass eingeleiteten Sätzen als ein ty-
pisches Phänomen der Zitatsyntax: Acht von zehn Sätzen weisen eine
frühere Position des Verbs auf, was einem Prozentsatz von 80 % ent-
spricht. In der Traktatsyntax nähert sich der Anteil der Verbfrüherstellun-
gen mit 48 % (22 von 46 Sätzen) den von Klemm und Weiß ermittelten
Werten an.

2.1. Ursachen der Verbfrüherstellung

Es liegt nahe, bei der Frage nach den Ursachen der relativ hohen Anzahl
der Verbfrüherstellungen zunächst die traditionelle These zu überprüfen,
die die Zitatsyntax als besonders ‚lateinnah‘ sieht. Doch ein Vergleich der
acht Belege mit dem lateinischen Original zeigt, dass lediglich die Hälfte
der Fälle parallel gebaut ist. Zwar ist in der Traktatsyntax der Anteil der
dem Lateinischen entsprechenden Sätze geringer (acht von 22), doch deu-
ten die Abweichungen – sowohl in der Zitatsyntax als auch in der Traktat-
syntax – darauf hin, dass das Lateinische nicht die einzige Ursache für die
Früherstellungen sein kann, sondern dass ihm bestenfalls eine verstärken-
de Funktion zukommt.
Eine zweite These, die es zu überprüfen gilt, betrifft die syntaktische
Funktion und die Wortart der postverbalen Konstituenten. Handelt es
sich vorrangig um adverbiale Angaben, die zudem noch aus einer komple-
xen präpositionalen Phrase bestehen oder finden sich in dieser Position
auch Objekte, eventuell sogar pronominaler Natur? Je ‚schwerer‘ eine
Konstituente ist, desto eher wird sie hinter das Verb extraponiert. Von
dieser Möglichkeit macht schließlich auch das Neuhochdeutsche Ge-
brauch, ohne dass man von einer strukturellen Verbfrüherstellung spre-
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 415

chen würde. In der folgenden Tabelle sind die verschiedenen postverbalen


Konstituenten aufgelistet:

Zitat (8) Traktat (22)


Akk- / Dat-Objekt 4 4
Präpositionalphrase 1 5
Adverbiale 2
Subjekt 1 6
Prädikativ 1 4
(Verberst-Sätze) 1 1
Tabelle 1: Syntaktische Funktion der postverbalen Konstituenten

Die Aufstellung zeigt, dass ein typisches Merkmal der Zitatsyntax die
Nachstellung von Akkusativ- und Dativobjekten ist. Die Belege, in denen
diese Objekte zusätzlich noch pronominaler Natur sind, entsprechen
mehr oder weniger der lateinischen Vorlage, wie die Belege (4) und (5)
zeigen. (6) entspricht Beleg (2) und ist der Übersichtlichkeit halber noch
einmal aufgeführt:
(4) dhazs ih fora sinem anthlutte hneige imu dheodun.
dass ich vor seinem Antlitz neige ihm (die) Völker.
ut subiciam ante faciem eius gentes
(Is.III.2, Eg.153, He 6, 17-18)
(5) dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zi dhir.
dass (des) Heeres Herr sandte mich zu dir.
quia dominus exercitum misit me ad te
(Is.III.9, Eg. 236, He 13, 6-8)
(6) dhazs dhu firstandes heilac chiruni.
dass du verstehst (das) heilige Geheimnis.
...et archana secretorum…
(Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6)
Beispiel (4) zeigt außerdem, dass der Faktor Einfluss des Lateins durchaus
verschiedenen Interpretationen unterliegen kann. Da es hier um die Frage
der Abfolge der nominalen Glieder am Satzende geht, wurde der Beleg als
‚lateinnah‘ gewertet, obwohl er die lateinische Possessivkonstruktion mit
der authentischen germanischen Entsprechung von Dativ- und Akkusa-
tivobjekt wiedergibt und obwohl die Stellung des Verbs verändert wurde.
Eine weniger ‚strenge‘ Bewertung würde die Beleggruppe Abweichung vom
Lateinischen sogar noch verstärken und das Ergebnis, dass die Nachstellung
von Objekten nicht primär ein lehnsyntaktisches Phänomen darstellt,
416 Eva Schlachter

zusätzlich stützen. Auch der Traktatteil weist vier Belege mit nachgestell-
ten Akkusativ- und Dativobjekten auf, die zum Teil erkennbar gegen das
Lateinische konstruiert sind, doch kommt die Nachstellung von Personal-
pronomen nicht vor.
(7) dhazs ir chihoric uuari gote.
dass er gehorsam wäre Gott.
ut esset deo subiectus.
(Is.V.9, Eg.491-492, He 29, 21-22)
(8) Endi dhazs mittingart firleizssi diubilo drugidha…
Und dass (die) Erde lasse hinter sich der Teufel Trugbilder.
Omissisque mundus d£monum simulacris.
(Is.V.10, Eg.507-508, He 30, 22-23)
(9) dhazs imu arsterbandemu siin fleisc ni chisah enigan unuuillun.
dass, als er starb, sein Fleisch nicht sah auch nur eine einzige
Form der Verderbnis.
quia moriens caro eius non uidit corruptionem...
(Is.IX.12, Eg.719, He 44, 19-20)
(10) dhazs sie ni eigun eouuihd huuazs sie dhar uuidar setzan.
dass sie nicht besitzen irgendetwas, was sie dagegen setzen.
dum non habeant quod proponant.
(Is.V.5, Eg.430-431, He 26, 2-4)
Auffallend bei diesen Beispielen aus der Traktatsyntax ist dagegen, dass
zumindest in den Belegen (9) und (10) mit den postverbalen Konstituen-
ten eine besondere inhaltliche Akzentuierung einhergeht. Sie müssen als
hervorgehoben interpretiert werden, was der Übersetzer dadurch deutlich
werden lässt, dass er in (9) dem nachgestellten Akkusativobjekt ein re-
stringierendes Adjektiv und in (10) ein Indefinitpronomen hinzufügt, das
das Bezugswort für den sich anschließenden Relativsatz liefert. In beiden
Fällen steht die nachgestellte Konstituente im Skopus der Negation.
Festzuhalten bleibt bislang also zweierlei: Die Lateinnähe kann nicht
als ausschlaggebender Faktor bei der Früherstellung des Verbs betrachtet
werden – weder in der Traktat-, noch in der Zitatsyntax. Und außerdem
weist die Zitatsyntax ein syntaktisches Merkmal auf, das sie eindeutig von
der Traktatsyntax unterscheidet: Nur die Zitatsyntax lässt pronominale,
nicht erweiterte Objekte in postverbaler Stellung zu. Man könnte nun die
Vermutung aufstellen, dass die relativ kleine Datenbasis diese Ergebnisse
zu verantworten hat. Doch eine Kontrolluntersuchung der Verbfrüher-
stellung in allen Nebensätzen zeigt, dass weder in der Trakat- noch in der
Zitatsyntax weitere nachgestellte Personal- oder Reflexivpronomen vor-
kommen.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 417

2.2. Eine informationsstrukturelle Erklärung


der Verbfrüherstellung

Dieser Abschnitt widmet sich der Frage, ob eine Analyse mithilfe infor-
mationsstruktureller Kategorien prinzipiell eine Erklärung der Verbfrüher-
stellung und der verschiedenen Arten der Nachstellung liefern kann. Ge-
zielt soll der Frage nach der Distribution der fokussierten Argumente
nachgegangen werden. Dahinter steht die Hypothese, dass die postverba-
len Konstituenten in der Zitatsyntax einen anderen informationsstruktu-
rellen Status als in der Traktatsyntax haben. Schon bei Erdmann (1886)
findet sich die Bewertung der finalen Position als einer „hervorgehobe-
nen“:
Die letzte Stelle des Satzes ist eine bevorzugte und wird besonders betonten Satz-
teilen angewiesen. Dies kann aber aus verschiedenen Gründen geschehen; es
dient einerseits dazu, den Satzteil vor allen anderen aussondernd hervorzuheben,
andererseits gerade dazu, eine besonders enge Verbindung desselben mit dem
Verbum anzudeuten. (Erdmann 1886, 190)
Der Begriff der Hervorhebung entspricht der heutigen Deutung als Fokus,
die auch als Emphase oder relevante Information interpretiert wird (vgl. die
Zusammenstellung bei Petrova / Solf 2009). Die Auffassungen über seine
genaue Definition variieren: In der Entwicklungsgeschichte des Begriffs
wird Fokus häufig mit Neuheit gleichgesetzt (vgl. Halliday 1967), wodurch
er größtenteils mit dem Rhema-Begriff der Prager-Schule zusammenfällt.
Dieser new information focus, der zuweilen auch als presentational focus (vgl.
Diesing 1997) bezeichnet wird, kann sich auf eine Konstituente beziehen
(enger Fokus), er kann aber auch die gesamte Verbalphrase betreffen (wei-
ter Fokus). Kontrastfokus stellt häufig eine spezifische Form des engen
Fokus dar. Die folgenden Beispiele nach Hinterhölzl (vgl. 2004, 154) il-
lustrieren die verschiedenen Fokusarten, die meistens anhand von Frage-
Antwort-Paaren wiedergegeben werden:
(11a) Was macht Hans?
Hans [gibt seiner Schwester ein Buch]. (weiter Informationsfo-
kus)
(11b)Was gibt Hans seiner Schwester?
Hans gibt seiner Schwester [ein Buch]. (enger Informationsfo-
kus)
(11c) Hans gibt seiner Schwester [ein BUCH], und keine CD. (Kon-
trastfokus)
Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass durchaus auch
alte Information fokussiert werden kann, was sich mit dem Begriff (und
418 Eva Schlachter

damit der Definition) als new information focus auf den ersten Blick nicht
vereinbaren lässt. Lambrecht findet einen Ausweg aus diesem nicht nur
terminologischen Dilemma, nämlich den Fokus als einen relationalen
Begriff zu verstehen (vgl. 1994, 209ff.). Der Informationswert von Aus-
drücken ist diesen nämlich nicht inhärent, sondern sie erhalten ihn, weil
sie innerhalb einer bestimmten Proposition eine bestimmte neue Rolle
ausfüllen.
The function of FOCUS MARKING is then not to mark a constituent as new
but to signal a focus relation between an element of a proposition and the propo-
sition as a whole. (ebd., 210)
Das Ergebnis dieser Fokusmarkierung ist die Herstellung eines „new state
of information in the addressee’s mind.“ (ebd.) Krifka (2006) dagegen
schlägt vor, alle bislang konkurrierenden Fokusdefinitionen unter dem
1985 eingeführten semantischen Fokusbegriff von Rooth (1985) zu sub-
sumieren, der den Rekurs auf die Alt- / Neu-Unterscheidung vermeidet.
Dieser so genannte Alternativenfokus wird wie folgt definiert:
Focus indicates the presence of alternatives that are relevant for the
interpretation of linguistic expressions. (zit.n. Krifka 2006, 6)
Die Alternativen können darin bestehen, dass man parallel konstruierte
Satzteile hervorhebt oder schon eingeführte Information korrigiert (vgl.
ebd., 12ff.). Kontrastfokus wird eingeschränkt auf die Fälle, in denen der
Vorgängersatz (und zwar nicht in einem Frage-Antwort-Paar) eine Entität
enthält, mit der die kontrastierte Größe direkt in Verbindung gebracht
werden kann. Korrektur ist eine typische Form dieses Kontrastfokus, der
mit spezifischen syntaktischen Positionen einhergehen kann (vgl. ebd.,
20f.). Enger und weiter Fokus dagegen sind keine der Definition inhären-
ten Eigenschaften, sondern ergeben sich aus der Gegenüberstellung der
relevanten Alternativen (vgl. ebd., 18). Obwohl ich im Folgenden auch die
Begriffe neuer Informationsfokus, enger und weiter Fokus und Kontrastfokus ver-
wenden werde, da sie in der Literatur verbreitet sind, habe ich in meinen
Erhebungen versucht, die Fokuskonstituenten mithilfe des Alternativen-
begriffs zu ermitteln.
Bei der Analyse der (alt)germanischen Sprachen hat man nun mit den
verschiedenen Fokusarten auch verschiedene syntaktische Positionen ver-
bunden. Nach Diesing unterscheidet das Jiddische zwischen präverbalem
Kontrastfokus und postverbalem Präsentationsfokus, eine Aufteilung, die
auch von Hinterhölzl (2004) für das Althochdeutsche angenommen wird.
Petrova (2009) weist diese Fokusverteilung anhand eines Tatian-Korpus
nach, das aus 100 Nebensätzen mit Verbend- und 100 Nebensätzen mit
Verbfrüherstellung besteht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die eng
oder kontrastiv fokussierten Konstituenten adjazent vor dem Verb stehen.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 419

Steht das Verb nicht in seiner Endposition, so eröffnet es die Domäne des
weiten Informationsfokus (vgl. Petrova 2009, 21-25):
CP – […XP…]BGR [XP]FOKUS-KON [VP …XP…] FOKUS-INF5
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Verteilung auch für den Isidor gilt,
und zwar gleichermaßen für die Zitat- und die Traktatsyntax. In der von
Krifka vorgeschlagenen Terminologie bedeutet dies, dass der präverbale
Fokus aus dem unmittelbaren Kontext her eine kontrastive Lesart erlaubt,
die dem postverbalen Fokus nicht zukommt. Dieser müsste vielmehr
zusammen mit dem Verb eine eigene Fokusdomäne bilden.
Betrachtet man zunächst die oben angeführten Beispiele aus der Trak-
tatsyntax, so müssen zwei verschiedene Gruppen unterschieden werden:
Die erste mit den Belegen (7) und (8) entspricht dem Muster [Kontrastfo-
kus – Verb – Informationsfokus], die zweite mit den Belegen (9) und (10)
lässt sich mit ihm nicht vereinbaren. In Beispiel (7) muss das präverbale
Adjektiv chihoric eng fokussiert interpretiert werden, wie sich aus dem
Kontext ergibt. Die postverbale Konstituente ist auf keinen Fall eng fo-
kussiert, genauso wenig wie in (8), wo sie zusammen mit dem Verb die
relevante Alternative bereitstellt bzw. als neuer Informationsfokus gedeutet
werden kann. Beide Beispiele entsprechen also dem oben angeführten
Schema.
In der zweiten Gruppe dagegen sind nicht die Konstituenten vor,
sondern die nach dem Verb ‚hervorgehoben‘. Doch handelt es sich auch
um kontrastiven Fokus? Im unmittelbaren Kontext gibt es keine Entität,
von der es sich abzusetzen gilt. Jedoch zeigt schon die – gegen das Latein
– vorgenommene Wahl der lexikalischen Mittel (einzig, irgendein) den
Wunsch des Übersetzers, diese Information zu betonen. Diese Betonung
kommt jedoch dadurch zustande, dass implizit auf eine geordnete Menge
von Alternativen Bezug genommen wird, die betreffende Konstituente
befindet sich am Extrempunkte dieser graduell angeordneten Alternativen
(Skalen). Syntaktisch bezieht sich die Fokussierung nur auf einen Teil der
Nominalphrase, und zwar in (9) auf das Adjektiv einzig, und in (10) auf
den ersten Teil des Indefinitpronomens eouuihd 'irgendetwas'. Diese se-
mantisch sicher noch genauer zu spezifizierende Fokusart ist aber auf
jeden Fall als eng zu deuten, und nicht als Teil eines weiten Fokus, was
den Ergebnissen Petrovas zunächst widerspricht. Die Belege aus der Zi-
tatsyntax sind dagegen damit vereinbar, denn die postverbalen Konstitu-
enten sind keinesfalls als eng fokussiert zu interpretieren.

_____________
5 Die Abkürzungen sind folgendermaßen aufzulösen: CP meint die Complementizer-Position
und entspricht hier der Subjunktion, BGR steht für Background 'Hintergrund', FOKUS-
KON meint Kontrastfokus und FOKUS-INF den Informationsfokus.
420 Eva Schlachter

Eine Untersuchung der anderen syntaktischen Konstituenten führt zu


dem gleichen Ergebnis: Von den postverbalen Präpositionalphrasen der
Traktatsyntax muss zumindest ein Teil als eng oder gar als kontrastiv fo-
kussiert interpretiert werden, wie (14) und (15) zeigen:
(12) dhazs ir dhoh in dheru […] chihuurfi zi gotes minniu endi zi
rehtnissa uuerchum.
dass er doch durch das sich wende zu Gottes Liebe und zu den
Werken der Gerechtigkeit.
ut uel per ipsam reuerteretur ad amorem dei et operationem
iustitię.
(Is. V.10, Eg,501-503, He 30, 14-16)
(13) dhazs ir sih auur dhurah hreuun mahti chigarauuan zi chinisti.
Dass er sich erneut durch Reue könnte wenden zur Rettung.
Expectans, ut per penitentiam reparari possit ad uneiam.
(Is. V.10, Eg.498-500, He 30, 9-11)
(14) dhazs dhiz ist chiquhedan in unseres DRUHTINES nemin.
dass das ist gesagt in (mit Bezug auf) unseres Herren Namen.
Quod in persona specialiter christi domini nostri accipitur.
(Is.III.3, Eg.174-175, He 8, 9-10)
(15) dhazs ir iesus uuardh chinemnit in baunungum dhes
CHIUUARIN iesus.
dass er Jesus wurde genannt mit Bedeutung des wahren Jesus.
ut iesus nominaretur ad significandum illum uerum iesum.
(Is. VI,2,Eg.545-546, He 33, 9-11)
In dem Beleg aus der Zitatsyntax mit einer nachgestellten Präpositional-
phrase kann diese dagegen nicht als eng fokussiert interpretiert werden, sie
ist Teil der vom Verb eröffneten Fokusdomäne.
(16) dhazs dhu faris zi dhinem fordhrom.
dass du gehst zu deinen Vorfahren.
ut uadas ad patres tuos.
(Is.IX.2,Eg.622, He 38, 10-11)
Zuletzt muss noch auf eine Gruppe eingegangen werden, die – wie Tabel-
le 1 zeigt – typisch für die Traktatsyntax ist: Es ist die Gruppe der Kopu-
lakonstruktionen mit postverbalem Prädikativum, für die beispielhaft (17)
angegeben ist.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 421

(17) dhazs ir selbo Christ ist chiuuisso got ioh druhtin.


dass er selbst, Christus, ist gewiss Gott und Herr.
Quia idem deus et dominus est.
(Is. III.1, Eg.135, He 5, 10-11)
Auch hier ist das Prädikativ eng fokussiert, wie die Stellung des Adverbs
chiuuisso 'gewiss' zwischen Kopula und Prädikativ zeigt.

3. Ergebnisse und Konsequenzen


Festzuhalten bleibt also zunächst, dass die Zitatsyntax in den Nebensätzen
mit Verbfrüherstellung nur von einer Fokusstrategie Gebrauch macht,
während die Traktatsyntax zwei dieser Strategien einsetzt: Letztere kennt
nicht nur den weiten, postverbalen Fokus, sondern auch die Möglichkeit,
eng fokussierte Konstituenten postverbal zu positionieren. Diese Ergeb-
nisse müssen nicht notwendigerweise einen Widerspruch zu den Ergeb-
nissen Petrovas darstellen, sondern können auch als deren Erweiterung
betrachtet werden. Spezifische informationsstrukturelle Gliederungen
widersprechen nicht der ‚Normalstruktur‘, sondern dienen der Schaffung
eines textsortenspezifischen Stils.
Die syntaktische und informationsstrukturelle Gegenüberstellung von
Traktat- und Zitatsyntax des Isidor führt aber auch zu Ergebnissen, die in
der Methodologie der historischen Syntaxforschung künftig beachtet wer-
den müssen. Als Beispiel sei auf die seit gut zehn Jahren existierende Kon-
troverse über die Satzstruktur des Althochdeutschen hingewiesen. Ange-
sichts der hohen Zahl von Nebensätzen ohne Verbend-Stellung und der
Verbdritt-Konstruktionen im deklarativen Hauptsatz wurde eine struktu-
rell verankerte mediale Verbposition vorgeschlagen (vgl. Tomaselli 1995;
Fuß / Trips 2002; Schlachter 2004; Schallert 2006; Weiß im Druck). Da-
gegen argumentiert Axel (2007), dass es sich bei vielen Verbfrüherstellun-
gen im Nebensatz um Verbend-Strukturen mit extraponiertem Material
handelt. Gegen diese Extrapositionsanalyse spricht das Vorkommen post-
verbaler Akkusativ- oder Dativobjekte, v.a. solcher in pronominaler Form,
da diese nicht extraponiert werden können. Die meisten der eben ange-
führten Arbeiten ‚beweisen‘ die Möglichkeit der Nachstellung auch pro-
nominaler Konstituenten ausschließlich mit den Belegen (4) und (5). Nur
bei Schallert findet sich noch der Hinweis auf einen Tatianbeleg mit nach-
gestelltem Reflexpronomen gegen das Latein:6

_____________
6 Der Tatianbeleg wird nach der Ausgabe von Masser (1994) zitiert.
422 Eva Schlachter

(18) / Inti therdar giotmotigot sih /


Und wer erniedrigt sich
/ & qui se humiliat /
(T 403,19)
Die Isidorbelege sind aber nicht nur ‚lateinnah‘, sondern kommen darüber
hinaus nur in der Zitatsyntax vor und sind daher in doppelter Weise ‚auf-
fällig‘. Ihr Gewicht in einer syntaktischen Argumentation kann nur als
sehr gering bewertet werden.
Das Vorkommen postverbaler Pronomen im Nebensatz deute ich so,
dass auch hier – ähnlich wie im Fall der V1-Sätze – ein ‚fremder Stil‘ zitiert
wird, der jedoch nicht einer ‚fremden‘ Syntax, etwa der des Lateinischen,
angehört. Die Verbfrüherstellung war im Althochdeutschen neben der
Verbend-Stellung verankert. Diese Variation wird von Schallert (2006) als
Hinweis auf die Existenz eines VO- / OV-Mischsystems gedeutet, wäh-
rend Hinterhölzl (2004) von einem Nebeneinander verschiedener Stilarten
innerhalb der gleichen Grammatik ausgeht. Die Nachstellung von Prono-
men verstehe ich als die erste dieser Stilarten, die bei der allmählichen
Etablierung der reinen Verbendstellung im Nebensatz wegfällt. Die Zitat-
syntax bedient sich dieses Stils, um ‚fremd‘ im Sinne von ‚archaisch‘ zu
wirken.
Dieser von der Syntax vorgegebene postverbale Slot spielt aber auch
eine Rolle bei der Textsortendifferenzierung. Die argumentative Rhetorik
des theologischen Traktats erlaubt oder erfordert, dass der hervorzuhe-
bende Teil ans Ende gestellt wird und dadurch einen größeren Effekt
erzielt als in der ‚kanonischen‘ präverbalen Fokusposition. Die gezielte
Nutzung solcher Abweichungen stellt eine stilistische Besonderheit dar
und beschränkt sich auf den Traktatteil. Im Zitatteil optiert der Übersetzer
dagegen für einen möglichst ‚neutralen‘ Stil, der der unmarkierten Vertei-
lung von Information nach dem Schema Hintergrund > neuer Informationsfo-
kus entspricht. Die Tatsache, dass Pronomen – die doch typischerweise
alte Information bereitstellen – ebenfalls in der Position des Neuen In-
formationsfokus vorkommen, muss keinen Widerspruch darstellen. Da
die Zitatteile ohnehin aus dem Zusammenhang des Alten Testaments
gerissen sind, ist ihr Bezug keinesfalls ‚gegeben‘ – erst der ihnen folgende
theologische Kommentar weist ihnen die richtige Referenz zu.
Letztendlich entsprechen die hier vorgeschlagenen Deutungen der
postverbalen Konstituenten den Interpretationen Erdmanns in dem zu
Beginn von Abschnitt 2.2. wiedergegebenen Zitat. Die modernen Begriff-
lichkeiten verhelfen zu einem präziseren Verständnis seiner Beobachtun-
gen: Die ‚Hervorhebung‘ kann so mit der engen Fokussierung gleichge-
setzt werden, während die ‚enge Verbindung der nachgestellten
Konstituente mit dem Verb‘ dem weiten Informationsfokus entspricht.
Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 423

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Verbfrüherstellung im ahd. Isidor 425

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„Das Spiel vom Fragen“ –
(k)ein Problem der althochdeutschen Syntax?

Claudia Wich-Reif (Bonn)

1. Fragesätze
„Das Spiel vom Fragen“, so lautet der Titel eines Theaterstücks von Peter
Handke. Die ersten Fragesätze erscheinen in Szene 2: Der Mauerschauer
sagt:
(1) Aber warum fällt mir das Schönfinden heutzutage schwerer und
schwerer? Warum habt ihr Früheren einfach sagen können: Em-
por die Herzen! oder Heilige Salzflut! oder bloß: Erde! Sonne!
oder das Allereinfachste: Zeit genug!? Und warum habt ihr die
nach euch noch segnen können? Und warum werde ich mit jedem
Schritt weiter wegverschlagen von euch und kann so auch nichts
überliefern von eurem Segen an unsere Kinder hinter dem Hori-
zont, die sich dort ahnungslos über dem Abgrund bewegen?1
Der Mauerschauer stellt Ergänzungsfragen mit dem Interrogativadverb
warum in Erst- und dem finiten Verb in Zweitstellung. Die Alte und der
Alte in derselben Szene:
(2) Die Alte: […] „Hast denn du, in deinem Alter, überhaupt noch
Fragen?“ – Der Alte: „Ja, Fragen noch und noch. Und was für
welche! Und du?“ – Die Alte: Ja, ich auch. Je älter ich werde, des-
to mehr Fragen habe ich, desto mehr denke ich alles in Frage-
form.“2
Die Alte formuliert eine Entscheidungsfrage, für deren Klassifizierung das
finite Verb in Erststellung in Kombination mit dem satzschließenden
Fragezeichen maßgeblich ist. Der Alte stellt dann eine Frage, die als ellip-

_____________
1 Handke (1989, 14f.) [Kursivierung im Text durch die Autorin]; Szene 1 ist „sprachlos“.
2 Handke (1989, 23).
428 Claudia Wich-Reif

tisch interpretierbar ist. Das finite Verb und die Akkusativergänzung kön-
nen mit den entsprechenden Satzgliedern gefüllt werden, die die Alte ver-
wendet hat. Syntaktisch eröffnen sich keine Fragen, semantisch eine Men-
ge: Es geht um Fragen, um Infragestellen, um Nicht-Fragen, um Fragen,
die keine Antwort erfordern oder auf die keine Antwort gegeben werden
kann.
Es scheint unstrittig, dass Fragesätze normalerweise in deutlich gerin-
gerer Zahl in schriftsprachlichen Texten vertreten sind als Aussagesätze.3
Die den geistlichen / religiösen Textsorten zugehörige Tatianbilingue ist
als eines der wenigen umfangreichen Textdenkmäler der althochdeutschen
Sprachperiode geeignet, Textgrundlage für die Erforschung von Fragesät-
zen zu sein.4 Dem Text können folgende Merkmale zugeschrieben wer-
den: „erzählender Stil“, „Nähe zur Mündlichkeit“,5 „wörtliche Rede“.6
Die erste Frage in der Tatianbilingue stellt Zacharias (Lk 1,19). Er
richtet sie an einen Engel, der ihm verkündet, dass sein Gebet erhört wor-
den sei und seine Frau einen Sohn gebäre. Zacharias entgegnet: uuanan
uueiz ich thaz . (pag. 27,10 'Woher weiß ich das?'). Zacharias verhindert eine
sofortige Reaktion des Engels, indem er weiterredet und erklärend ich bim
alt Inti mîn quena fram ist gigangan In ira tagun . (pag. 27,11f. 'Ich bin alt und
meine Frau ist betagt.') hinzufügt. Syntaktisch ist die Frage im Althoch-
deutschen entsprechend der deutschen Gegenwartssprache konstruiert
(Interrogativadverb, finites Verb in Zweitstellung) und als Ergänzungsfra-
ge zu klassifizieren. Der Bote Gottes nennt als Antwort seinen Namen
und seinen Auftrag. Er interpretiert die Frage als Ausdruck der Ungläu-
bigkeit und kündigt als Strafe für diese Ungläubigkeit das Verstummen an.
Dieses wiederum zeigt Zacharias, dass der Engel Wahres verkündet hat.
Die zweite Frage taucht in einer vergleichbaren Situation auf: Gabriel wird
von Gott zu Maria gesandt, um ihr die Geburt eines Sohnes anzukündi-
gen. Diese fragt uuvo mag thaz sîn (pag. 28,25 'Wie kann das sein?'). Auch
Maria redet nach der Frage weiter: uuanta ich gommanes uuîs nibin . (pag.
28,25f. 'Ich weiß nämlich von keinem Mann.'). Syntaktisch entspricht die
Struktur der obigen. Maria wird nicht bestraft, der Engel fügt eine weitere
Erklärung an, und Maria sagt schließlich: seno nu gotes thiu uuese mir after
_____________
3 Prell (2001, 25) weist in einem repräsentativen mittelhochdeutschen Korpus nur 2 % aller
Elementarsätze als Fragesätze aus.
4 Für die Tatianbilingue trifft die auf das Mittelhochdeutsche bezogene Aussage Heinz-Peter
Prells zum vergleichsweise hohen Aufkommen von Fragen in „geistlichen“ Textsorten voll
zu; vgl. Prell (2001, 25): „Ihre Domäne sind die geistlichen Texte: in den Predigten dienen
sie als primär rhetorische Mittel der Textgliederung sowie der Lenkung des Le-
sers / Hörers, in erzählenden Texten wie BerEvg [Berliner Evangelistar] stehen sie in dia-
logischen Passagen, wo sie ja auch generell am ehesten zu erwarten sind.“
5 Betten (1987, 398).
6 Ebd., 400f., im Kontext der Wiedergabe lateinischer Partikeln im Althochdeutschen.
„Das Spiel vom Fragen“ 429

thinemo uuorte . (pag. 29,5f.; 'Siehe, nun bin ich Gottes Magd, gemäß dei-
nem Wort.').
Schon in der ältesten Sprachstufe des Deutschen entsprechen die Fra-
gen formal im Großen und Ganzen den heutigen Formen.7 Svetlana
Petrova und Michael Solf weisen für die direkten Fragesätze der „gesam-
te[n] frühe[n] althochdeutsche[n] Textüberlieferung (vor Notker)“8 nach,
dass bereits im Althochdeutschen bei Ergänzungsfragen recht regelmäßig
Zweitstellung des finiten Verbs, bei Entscheidungsfragen Erststellung des
finiten Verbs vorliegt.
Im Folgenden wird die Tatianbilingue dazu herangezogen, zu zeigen,
welche syntaktischen, lexikalischen und graphischen Charakteristika Fra-
gen im Allgemeinen sowie bestimmte Fragesatztypen zeigen, wobei der
Fokus auf dem finiten Verb und den links davon stehenden Elementen
liegt. In einem ersten Schritt werden kurze Überlegungen angestellt, worin
die im Vergleich zu Aussagesätzen feste Stellung des finiten Verbs be-
gründet sein könnte. Im Anschluss daran werden die Fragesätze basierend
auf der formalen Unterscheidung in Ergänzungs- und Entscheidungsfra-
gen funktional-semantisch klassifiziert.

2. Syntaktische, lexikalische
und graphische Markierungen von Fragen
Fragesätze haben (in Abgrenzung zu Aussage- und Aufforderungssätzen)
in Publikationen, die sich (auch) mit der deutschen Syntax beschäftigen,
für alle Sprachstufen des Deutschen einen festen Platz. Es wird betont,
dass Form und Funktion nicht übereinstimmen müssen.9 In der jüngsten
Auflage der Althochdeutschen Grammatik, für die Richard Schrodt einen
Syntax-Band verfasst hat, gibt es zu Fragen nur wenige Informationen. Im
Kontext der Verbstellung geht es insbesondere um Entscheidungsfra-
gen.10 Auch in der neuen, 25. Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik
von Hermann Paul finden sich nur kurze Ausführungen zu den Fragesät-
_____________
7 Grundsätzlich muss hinsichtlich der Satzgliedstellung die besondere Überlieferungssituati-
on der Tatianbilingue berücksichtigt werden. Sie kann eine typische bzw. mögliche für die
althochdeutsche Sprachperiode sein, sie kann aber auch durch den mitüberlieferten lateini-
schen Text, der auf den zweispaltig angelegten Seiten links steht und die Zeilenfüllung vor-
gibt, bedingt sein.
8 Petrova / Solf (2009, 12)
9 Vgl. etwa Altmann (1993, 1006ff.).
10 Vgl. Schrodt (2004, 198, § S 184, 200, § S 187), zu Ergänzungsfragen 201, § S 188; Interro-
gativpronomina und -adverbien werden in Kapitel 5.2.2., Konjunktionen mit w-Anlaut, an-
geführt, 149, § S 137.
430 Claudia Wich-Reif

zen; diese haben aber einen besonders hohen Informationsgehalt und


laden zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Satztyp ein. 11 Konrad
Ehlich, der Verfasser des Artikels „Frage“ im Metzler Lexikon Sprache,
nennt die Besonderheiten des Satztyps – Inversion bzw. Interrogativpro-
nomen, Interrogativ- und Pronominaladverbien, besondere Intonation
bzw. eigenes Satzschlusszeichen – und stellt fest, dass „[d]ie Ermögli-
chung von Wissenstransfer […] offenbar in vielen Spr[achen] als eine so
elementare sprachl[iche] Aufgabe angesehen [wird], daß für die illokutive
Indizierung dieser Sprechhandlung ein vergleichsweise umfängliches ex-
plizites Indikatorenarsenal vorgehalten wird“. 12 Dieses formale „Indikato-
renarsenal“ ist es auch, was in Grammatiken als elementar für die Charak-
terisierung von Fragen angesehen wird.
Nimmt man den Aussagesatz als den unmarkierten Satztyp, der an-
zeigt, dass der Produzent Informationen gibt, so ist der Fragesatz ein
markierter Typ, der anzeigt, dass der Produzent Informationen erhalten
möchte. 13 Interrogativpronomina oder -adverbien wie auch Fragepartikeln
(ahd. eno, eno nu, eno ia, inu) bzw. das finite Verb in Spitzenstellung signali-
sieren, dass die nachfolgenden Informationen von jemandem gegeben
werden sollen, der vorher die Rolle eines Rezipienten innehatte. Auf
pag. 47 der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek 56 14 (Io 1,19-21) findet
sich das Gespräch zwischen Priestern und Leviten und Johannes, dessen
Anfang zur Darstellung unterschiedlicher Frageformen wiedergegeben
wird:
(3) Miſerunt íudęi ab hieruſolimiſ ſantun iudęi fon
hieruſalem
ſacerdoteſ & leuitaſ biscofa Inti diacana
ut Interrogarent eū tu quiſ eſ . thaz ſie Inan frag&in
uuer biſ thū ,
& confeſſuſ eſt & non negauit . Inti bi Iah her thô Inti
nifurſuoh .
& confeſſuſ · ē · quia non ſū ego xſ, biiah thô thaz her chriſt
niuuari .
& interrogauerunt eum . thô frag&un ſie Inan.
quid ergo heliaſ eſ tú . uuaz nu biſt thu heliaſ
& dixit non ſum . Inti her quad ni bin .

_____________
11 Vgl. Paul (2007, 398, § S 154, 411ff., § S 170f.).
12 Ehlich (2000, 215).
13 So schon Behaghel (1928, 429f., § 1093).
14 Faksimile online im Internet: http://www.cesg.unifr.ch/virt_bib/handschriften.htm
(24.07.2009).
„Das Spiel vom Fragen“ 431

proph&a eſ tú . & reſpondit . non . biſt thu uuîzago . Inti her


antlingota nein .
Es sandten die Juden von Jerusalem Bischöfe und Diakone, dass
sie ihn fragten: „Wer bist du?“ Und er bekannte da und leugnete
nicht. Er bekannte da, dass er nicht Christus wäre. Da fragten sie
ihn: „Was dann, bist du Elia?“ Und er sagte: „Der bin ich nicht.“
„Bist du der Prophet?“ Und er antwortete: „Nein.“ (pag. 47,6-14;
Siev. 13,19-20; Io 1,19-21)
Zur Illustration der entsprechende Ausschnitt aus dem Faksimile:

Abbildung 1: Cod. Sang. 56, pag. 47, Z. 6-14, Codices Electronici Sangallenses

Die erste Frage uuer biſ thū , ist eine Ergänzungsfrage mit einem Interroga-
tivpronomen (uuer) in Erst- und dem finiten Verb (biſ) in Zweitstellung.
Die nächste Frage uuaz nu bist thu helias wird wieder mit einem Interroga-
tivpronomen (uuaz) eingeleitet. Die Äußerung bietet zwei Interpretati-
onsmöglichkeiten. Ausgehend von einem Satzbegriff, der ein finites Verb
voraussetzt, muss die Analyse lauten: Das finite Verb und das Subjekt (bist
thu) sind elliptisch. Gleichermaßen könnte uuaz nu als infinite kommunika-
tive Minimaleinheit (KM)15 interpretiert werden. bist thu helias ist eine Ent-
scheidungsfrage mit dem finiten Verb in Erststellung. Die Antwort ni bin .
ist eine Variante zu Ja. / Nein., wobei die Kopula sīn der Frage wieder
aufgenommen wird. Die Frage bist thu uuîzago . entspricht strukturell der
vorausgehenden. Als Antwort folgt nein —.
Die Interpungierung in der rechten, althochdeutschen Textspalte ist
immer im Verbund mit der linken, lateinischen Textspalte zu sehen. Ein
gesamt- oder teilsatzbegrenzendes Zeichen wird entweder in der deut-
schen und in der lateinischen Spalte gesetzt, wobei die Zeichen einander
aber nicht entsprechen müssen, oder nur in der lateinischen Spalte.16 Auch
ein Fragezeichen (C) findet Verwendung. Es erscheint oft nur in der latei-
_____________
15 Vgl. Zifonun / Hoffmann / Strecker (1997, 92 u.ö.).
16 Vgl. hierzu auch Simmler (2005, 91ff.).
432 Claudia Wich-Reif

nischen Textspalte.17 Prinzipiell scheint die Satzgliedstellung (sei sie nun


genuin deutsch oder aber nach lateinischem Muster gestaltet) in Kombina-
tion mit lexikalischen Markierungen in schriftsprachlichen Texten für den
Leser auszureichen, Äußerungen als Fragen interpretieren zu können.
Diese These soll in Abschnitt 3 mittels einer differenzierten Darstellung
untermauert werden.
Der im Vergleich zum Aussagesatz deutlich weniger frequente Typ
des Fragesatzes erfordert eine feste Position des finiten Verbs, wenn es
keine lexikalischen Indikatoren gibt oder solche, die mehrdeutig sind.18 Bei
Entscheidungsfragen besteht ferner die Möglichkeit, das Satzglied, über
das die Entscheidung gefällt werden soll, an die erste Position zu stellen.19
Zu den lexikalischen Signalen gehören die Fragepartikeln eno, enonu und ia:
(4) [...] C nonne hic eſt [...] — eno nist theser
fabri filiuſ C nonne mater eiuſ uuercmeistareſ ſun . ia
iſt ſín muoter
dicitur maria C & fratreſ eiuſ ginemnit maria inti ſine
bruoder
iacob & ioseph & simon . & iudas C iacob inti ioseph inti
ſimon inti iudaſ
& ſororeſ eiuſ nonne omneſ inti ſino ſueſter . eno allo
apud noſ ſunt C ... mit unſ ſint —
Ist er nicht des Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter
Maria und seine Brüder Jakob und Joseph und Simon und Judas?
Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? (pag. 114,5-10;
Siev. 78,3; Mt 13,55)
Innerhalb der Korpusbelege leitet eno häufig den Satz ein.20 In der jünge-
ren Forschung wird dieser und auch anderen Partikeln aufgrund der Ver-
schiebbarkeit Satzgliedstatus zugewiesen, mit der Konsequenz, dass das

_____________
17 Es wird von mehreren Schreibern verwendet, so etwa von Schreiber α auf pag. 39, Z. 14,
von Schreiber β auf pag. 73, Z. 24 und Schreiber ζ auf pag. 294, Z. 30. Zudem hat der so
genannte „Korrektor 2“ im lateinischen Textteil mehrmals Punkte zu Fragezeichen ge-
macht. Die Korrektur wurde allerdings nur in einem umgrenzbaren Textabschnitt durchge-
führt.
18 Die Verbindung spezifischer lexikalischer Formen und syntaktischer Strukturen gibt es
auch bei Aussagesätzen; vgl. hierzu etwa Betten (1987, 404f.) zu Uuard thô; Simmler
(2003, 9ff.).
19 Vgl. Abschnitt 3.2.
20 Wobei dies ein theoretisch-typologisches Problem ist.
„Das Spiel vom Fragen“ 433

finite Verb in Drittstellung steht.21 Semantisch sind eno, enonu und ia inte-
ressant, weil Fragen, in denen sie verwendet werden „außer der strukturel-
len Antwortdetermination noch eine bestimmte Antworterwartung zu-
kommt“,22 wie das Textbeispiel deutlich zeigt.23 In der Fragen-Landschaft
gehören sie zur Peripherie; in der Tatianbilingue machen sie einen ver-
gleichsweise hohen Anteil aus.
Eine weitere wichtige lexikalische Markierung von Fragen ist ein vo-
rausgehendes Verbum dicendi, das als ein eine Akkusativergänzung for-
derndes Vollverb des Trägersatzes fungiert und den semantisch wichtigen
Inhalt der Frage(n) syntaktisch unterordnet. Explizit Fragen einleitende
Verba dicendi in der Tatianbilingue sind die Verben eisc@n (lat. sciscitari)
'(er)fragen, sich erkundigen nach' (Beispiel 31), fr$g)n (lat. interrogare)
'(er)fragen' (Beispiel 33), bouhnen (lat. innuere) 'durch Zeichen erfragen'
(Beispiel 30) und wuntr@n (lat. mirari) 'sich wundern' (Beispiele 32, 34).24
Öfters wird zur Einleitung von Fragen wie noch in der Gegenwartsspra-
che kein spezielles, sondern ein allgemeineres Verb aus dem semantischen
Feld 'sprechen' verwendet wie quedan (Beispiel 7), sprehhan oder sag)n oder
beides tritt zusammen auf, wobei das allgemeine Verb stets auf das spe-
zielle, eine Frage einleitende Verb folgt (Beispiel 1525).

3. Funktional-semantische Klassifikation
Wie auch für die deutsche Gegenwartssprache bekannt, gibt es in der
althochdeutschen Tatianbilingue Fälle, in denen Form und Funktion ein-
ander nicht entsprechen. Das trifft insbesondere für die rhetorischen Fra-
gen zu, die als „indirekte Behauptungen“26 bezeichnet werden können. Im
Folgenden werden die Fragesätze in der Tatianbilingue formal in Ergän-

_____________
21 Vgl. Schrodt (2004, 201, § S 188). Petrova / Solf (2009, 8) beziehen sich einleitend auf die
Problematik, nehmen aber selbst keine Stellung. Der Negationspartikel ni hingegen, im
vorliegenden Beleg Klitikon, wird der Satzgliedstatus zumeist abgesprochen, obwohl auch
sie gelegentlich die Position wechselt, also nicht ausschließlich vor dem finiten Verb auf-
tritt; vgl. hierzu auch Wich-Reif (2007, 131ff.).
22 Lühr (1997, 327) mit Bezug auf Conrad (1978).
23 Dieses Beispiel verwendet Lühr (1997, 337f.), um aufzuzeigen, dass die Übersetzung von
nonne mit eno bzw. ia dazu dient, im Althochdeutschen zwischen Fragen (eno) und Behaup-
tungen (ia) zu differenzieren.
24 Vgl. auch Wich-Reif (2005, 71ff.).
25 Hier liegt der besondere Fall vor, dass auf das spezielle, hier eine Antwort einleitende Verb
antuuurten zweimal hintereinander das allgemeine Verb quedan verwendet wird: hér thó ántlin-
ginti imo ſuſ quedantemo quad . (lat. At ille respondenſ dicenti ſibi ait .).
26 So Meibauer (1986, 163).
434 Claudia Wich-Reif

zungs-, Entscheidungs- und indirekte Fragen mit Subgruppen eingeteilt


und mit ihren syntaktischen und semantischen Eigenschaften dargestellt.

3.1. Ergänzungsfragen

In der Tatianbilingue wird nach folgenden Größen gefragt – die Reihen-


folge entspricht der Vorkommenshäufigkeit, dann aber auch der Zugehö-
rigkeit zu einer Wortfamilie:
Wer 'wer' (lat. quis) ist das meistverwendete Fragewort in der Tatianbi-
lingue. 27 Gebraucht ein Fragender das Interrogativpronomen uuer bzw. die
neutrale Form uuaz (lat. quid), erbittet er vom Gefragten einen Namen,
eine Personen- / Sachbezeichnung oder eine Personen- / Sachbeschrei-
bung. Die Form im Nom. Sg. f. / m. ist 34-mal belegt:
(8) [...] . quiſ me t&igit C [...] . uuer biruorta míh
Wer hat mich berührt? (pag. 95,17; Siev. 60,5; Mc 5,30)
Die Genitivform wes (lat. cuius) ist dreimal nachweisbar, die Dativform
wemo (lat. (ali)cui) sechsmal. Im Akkusativ, 'wen' (lat. quem), sind neun Bele-
ge nachweisbar, zweimal in der später üblichen Form wen, siebenmal in der
älteren, flektierten Form wenan (Akk. Sg. m.). 28 Die wen-Formen kommen
in Konstruktionen mit doppeltem Akkusativ vor:
(9) quem te ipſum facis . uuen tuoſ thu thih ſelbon .
Wen / was machst du aus dir selbst? (pag. 219,22f.; Siev. 131,23;
Io 8,53) 29
Die neutrale Form waz (lat. quid) ist mit der Bedeutung 'was' 37-mal im
Akk. Sg. 30 und 14-mal im Nom. Sg. belegt. Daneben gibt es sieben Belege
für die Bedeutung 'was für ein(e) / welche(r)', je nach substantivischem
Kern für lat. quis, quid, qui. Dazu kommen vier KM:

_____________
27 Vgl. auch Braune (2004, 252, § 291).
28 Dazu kommt ein problematischer Beleg auf pag. 150,18 (Siev. 93,2; Mt 17,24), fon wen. Er
gibt das lat. a quibus wieder und bildet somit offenbar eine lateinische Pluralform nach; vgl.
hierzu Braune (2004, 252, Anm. 2). Für die Verwendung von wenan im indirekten Fragesatz
vgl. Abschnitt 3.3.
29 Die zweite Stelle findet sich auf pag. 142,32-143,1; Siev. 90,2; Mt 16,15.
30 Einmal lat. aliquid (pag. 333,29; Siev. 231,1; Lc 24,41), einmal lat. numquid (pag. 337,9; Siev.
236,2; Io 21,5.
„Das Spiel vom Fragen“ 435

(10) quid ergo heliaſ eſ tú . uuaz nu biſt thu heliaſ


Und sie fragten ihn: „Was denn? Bist du Elia?“ (pag. 47,12; Siev.
13,20; Io 1,21)
und drei vergleichbare Stellen:
(11) quid ad noſ/te uuaz zi unſ/thih thes/thés (.)
Was [geht] uns / dich [das an]? (pag. 304,19; Siev. 193,2; Mt 27,4;
pag. 340,2; Siev. 239,3; Io 21,21; pag. 340,10; Siev. 239,4; Io
21,23)
Die Abfolge EAkk (Interrog.pron.) – ENom – Alok – Vfin ist für den althoch-
deutschen Fragesatz ungewöhnlich. Ein Blick in das Faksimile macht die
Anordnung nachvollziehbar: Der Satz wird durch das Seitenende unter-
teilt. Schreiber γ übernimmt die lateinische Satzgliedfolge, wobei er ein
Subjektpronomen zwischen das Interrogativpronomen und das folgende
Satzglied positioniert, das Verb trägt er, der lateinischen Spalte entspre-
chend, auf die nächste Seite ein.
(12) pag. 150, Z. 30f.
In illa hora cum domi eſſ& in thero ziti mittiu her in
huſ uuaſ
interrogabat eoſ . quid in uia frageta ſie . uuaz ir in uuege
pag. 151, Z. 1
tractabatiſ . at illi tracebant . trahtotut . ſie tho
ſuuigetun
In der Zeit, als er im Haus war, fragte er sie: „Was habt ihr un-
terwegs besprochen?“ Da schwiegen sie. (p. 150,30f.-151,1; Siev.
94,1; Mc 9,33)
Elfmal ist waz mit 'warum' zu übersetzen; der Fragende möchte einen
Grund in Erfahrung bringen:
(13) Quid me interrogaſ Uuaz frageſ mih
Warum fragst du mich? (pag. 300,20; Siev. 187,3; Io 18,21)
In Verbindung mit zunzu hat uuáz die Bedeutung 'wie lange' und steht für
lat. quousque:

(14) circum dederunt ergo eum [iudæi] umbibigabun Inan thie


iudæj .
et dicebant ej . Inti quadun Imo .
quo uſque animam nostram tolliſ . zunzuuúaz nimiſt thu
unſera ſela
436 Claudia Wich-Reif

Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: „Wie lange


nimmst du unsere Seele [= hältst du uns hin]?“ (pag. 226,27ff.;
Siev. 134,2; Io 10,24)
Die zwei uuie-Belege, auf die sich Wilhelm Braune resp. Ingo Reiffenstein
bezieht,31 sind in der Handschrift korrigiert zu uuer:32

Abbildung 2: Cod. Sang. 56, pag. 94, Z. 15-18, Codices Electronici Sangallenses

(15) [...] At ille respondenſ [...] hér thó ántlinginti


dicenti ſibi ait ., imo ſuſ quedantemo quad
Quæ ē mater mea & qui ſunt uuer iſt mín muoter inti uuer ſiN‾
fratres mei C33 mine bruoder
Er antwortete ihm da. Folgendes sprechend sagte er: „Wer ist
meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ (pag. 94,15-18; Siev.
59,3; Mt 12,48)
Die uuie-Belege sind singulär und sie sind von einem Zeitgenossen verbes-
sert, so dass sich die Frage stellt, wie weit sie gängig waren.
Die Instrumentalform im Sg. n. lautet huuiu. In der Tatianbilingue
kommt sie in Kombination mit den Präpositionen bī, in, mit und zi vor: bi
hiu (lat. quare) ist mit der Bedeutung 'warum' insgesamt elfmal belegt, da-
von einmal in einem indirekten Fragesatz (vgl. Abschnitt 3.3.).34 Sie wird
verwendet, um nach einem Grund zu fragen. Für in hiu (lat. in quo) mit der
instrumentalen Bedeutung 'womit' gibt es zwei Belege, hier der eine:35
(16) quodſi ſal euanuerit . oba thaz ſalz árItal&
In quo ſali&ur In hiu ſelzit man iz thanne
Wenn das Salz seine Kraft verliert, womit salzt man es dann?
(pag. 61,13f.; Siev. 24,2; Mt 5,13)
Mit hiu (lat. quo) mit der Bedeutung 'womit' ist einmal belegt (pag. 71,6;
Siev. 38,6; Mt 6,31 mit hiu uuaten uuir unſih). Zi hiu bzw. ziu ist mit den Be-
_____________
31 Vgl. Braune (2004, 252, § 291, Anm. 1, 2).
32 Vgl. auch Sievers (1961, 81, Anm. 4).
33 Das Fragezeichen wurde von „Korrektor 2“ eingetragen.
34 Althochdeutsches Wörterbuch (2007), bi hiu, Bd. I Sp. 990f.
35 Ebd., in hiu, Bd. IV Sp. 1578.
„Das Spiel vom Fragen“ 437

deutungen 'warum' (lat. quid 14-mal, utquid 2-mal, quare 2-mal) und 'was'
(lat. quid 4-mal, utquid 1-mal) vertreten:
(17) [...] Sed quid exiſtiſ [...] zihiu giengut úz
uidere sehan
Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? (pag. 100,27f.;
Siev. 64,5; Lc 7,26)
Uuelih 'welcher' ist 15-mal in Fragesätzen nachweisbar sowie in zwei KM.
Das Interrogativpronomen bezieht sich auf ein bzw. mehrere Elemente
aus einer Gruppe, es hat also immer ein nominales Bezugsglied und hat
dementsprechend unterschiedliche Kasus-, Numerus- und Genusformen.
Die Nennung der Gruppe kann durch das attribuierte Substantiv erfolgen
oder aber schon vorher. Uuelih fungiert alleine als Linksattribut oder aber
zusammen mit einem Possessiv- oder einem Demonstrativpronomen. In
der folgenden KM wird die Gruppe in der vorausgehenden Äußerung
genannt (bibot 'Gebote'):
(18) [...] dixit illi . [...] thó quad her imo .
quae . uuelichiu .
Da sprach er zu ihm: „Welche?“ (pag. 171,1f.; Siev. 106,2; Mt
19,18)
Das mit fünf Belegen vertretene uuedar (lat. quis / quid) bedeutet 'wel-
cher / was (von beiden / zweien)':
(19) non habentibuſ illiſ unde In tho ni habenten uuanan
redder& . donauit utrisque ſie gultin tho forgab her
giuuederemo
quiſ eum pluſ dilig& , uuedaran minnota her mer .
Da sie nicht wussten, woher sie bezahlt hätten, erließ er sie bei-
den. Welcher von beiden liebte ihn mehr? (pag. 238,23-25; Siev.
138,9; Lc 7,42)
Uuvo und die Varianten uueo und uuio ('wie'), mit denen lat. quomodo über-
tragen wird, ist mit 27 Belegen ein oft verwendetes Fragewort, das ge-
braucht wird, um nach der Art und Weise zu fragen.36 Der folgende Beleg
ist ein gutes Beispiel dafür, zu zeigen, wie die deutsche Syntax in der Tati-
anbilingue verwirklicht werden kann, wenn die Zeile die nötigen Freihei-
ten gibt, und wie im umgekehrten Fall der lateinischen Satzgliedfolge der
Vorzug gegeben wird:

_____________
36 Einmal wird uuvo in einer indirekten Frage verwendet; vgl. Abschnitt 3.3.
438 Claudia Wich-Reif

(20) pag. 213


[...] Ait illiſ . quomodo [...] thô quad her In . uuvo
ergo david In libro pſalmorū dauid In buohhe ſelmo
uocat eum d]m dicenſ . nennit Inan truhtin ſuſ quedanti .
[...] [...]
ſi ergo david in ſpū Oba dauid uuârlihho In geiſt
pag. 214
uocat eum d]m quomodonemnit Inan truhtin uuvo
filiuſ eiuſ eſt . & nemo poterat iſt ther ſîn ſun . Inti nioman mohta
reſpondere ei uerbum . antlingen Imo uuort .
Da sagte er zu ihnen: „Wie nennt David ihn im Buch der Psal-
men ‚Herr‘, so sprechend: [...]? Wenn David ihn also im Geiste
‚Herr‘ nennt, wie ist dieser sein Sohn? Und niemand konnte ihm
ein Wort antworten.“ (p. 213,24-214,2; Siev. 130,2; Mt 22,43-45
+ Lc 20,42)
Zu Beginn folgt Schreiber α im deutschen Textteil der lateinischen Satz-
gliedstellung, auf pag. 214 positioniert er das finite Verb in Zweitstellung,
während es in der lateinischen Spalte in Endstellung steht. Zudem liegt im
deutschen Satz Inversion vor; das Possessivpronomen ſîn steht entgegen
dem Lateinischen vor dem substantivischen Bezugswort.
In einem Fall, in Zeile 7 auf pag. 220, hat der deutsche Text uuvo, der
lateinische aber et. Es ist die letzte der fünf Seiten, die Schreiber ε zuge-
ordnet wird:
(21) [...] dixerunt ergo Iudei ad eū . [...] tho quadun thie Judej
zi Imo .
quinquaginta annos nondum habeſ finfzug Iaro noh nihabeſ
& abraham uidisti uuvo giſahi thu abraha-
man
Da sagten die Juden zu ihm: „Du bist noch keine 50 Jahre. Wie
hast du Abraham gesehen?“ (pag. 220,5-7; Siev. 131,25; Io 8,57)
Sowohl lat. nondum habeſ & abraham uidisti als auch ahd. uuvo giſahi thu abra-
haman sind von einem Korrektor nach- / eingetragen. Der lateinische
Satztyp ist ein Aussagesatz, der Sprechakt eine Frage, während im Deut-
schen durch die Verwendung des uuvo Form und Funktion einander ent-
sprechen. Aus dem Kontext geht hervor, dass es sich um eine rhetorische
Frage handelt: Nach menschlichem Ermessen kann Jesus Abraham nicht
getroffen haben. In Kombination mit manag übersetzt uuvo lat. quot 'wie
viele' (6-mal):
„Das Spiel vom Fragen“ 439

(22) et dicit eiſ ; quot paneſ hab&iſ C37 tho quad her ín uuvo
managu brot háb& ír?
Und er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? (pag. 118,4ff.;
Siev. 80,4; Mc 6,38)
In Kombination mit michil oder filu (lat. quantus / -a / -um) ist es zu über-
setzen als 'wieviel' (4- bzw. 2-mal), mit einem folgenden temporalen Aus-
druck wie stunta (lat. temporis) als 'wie lange' (1-mal), in der Bedeutung 'auf
welche Weise' findet es sich als Wiedergabe von lat. quomodo einmal.
So ofto übersetzt an einer Stelle lat. quotiens (pag. 158,10; Siev. 98,4; Mt
18,21), so dass angenommen werden kann, dass es 'wie oft' bedeuten soll.
Es folgt die KM unzan ſibun ſtunt (ebd., Z. 13). Uuar(a) 'wohin' ist in der
Tatianbilingue in Fragesätzen neunmal nachweisbar; es wird nach einem
Ort (lat. ubi 6-mal) oder nach einem Ziel (quo 3-mal) gefragt.38 Zu den drei
Belegen kommt eine KM. Auf Jesu Antwort auf die Frage nach dem
Weltende und dem Zeichen seines Kommens (pag. 256,29ff.) folgt die
Frage:
(23) ubi d]e . uuar trohtin .
Wo, Herr? (pag. 258,8; Siev. 147,5; Lc 17,37).
In Kombination mit inzin bedeutet wara 'wie lange, wozu':
(24) Reſpondenſ autem ihſ dixit Tho antuurtita der heilant inti
quad
o generatio infideliſ uuvolaga ungitriuui cunni
& perverſa — uſque quo ero inti abuh — inzin uuara bin ih
apud uoſ & patiar voſ mit íu inti tholen iuuih
Da antwortete Jesus und sprach: „Oh ungläubiges und falsches
Geschlecht, wie lange muss ich bei euch sein und euch ertra-
gen?“ (p. 148,14-17; Siev. 92,3; Lc 9,41)
Frageeinleitendes wanan 'woher' (lat. unde) ist achtmal belegt. Es dient der
Ermittlung eines Ausgangspunktes. Zu den acht Belegen kommen zwei
KM (pag. 29,19-20; Siev. 4,3; Lc 1,43 und pag. 114,10f.; Siev. 78,3; Mt
13,55). Im lateinischen Textteil gibt es eine weitere KM, im althochdeut-
schen Textteil wurde ohne Inversion die Kopulaform sint eingefügt,39 so
dass sich das finite Verb in Drittstellung befindet:
(25) [...] & dicunt ei [...] tho quadun imo
_____________
37 Das Fragezeichen fügte „Korrektor 2“ ein.
38 Zum Gebrauch von war(a) in einem indirekten Fragesatz (1 Beleg) vgl. Abschnitt 3.3.
39 Die Kopula sīn wird öfters ergänzt, vgl. auch p. 87,24.
440 Claudia Wich-Reif

disſipuli — unde ergo nobiſ thie iungoron — uuanan unſ


in deſerto paneſ tantoſ ſint in uuoſtinnu ſo manigu brot
ut ſaturemuſ turbam tantam . daz uuir ſatumeſ ſo michila me-
nigi
Da sagten die Jünger zu ihm: „Woher sind uns in der Wüste so
viele Brote, dass wir eine so große Menge sättigen?“ (pag.
140,22-25; Siev. 89,1; Mt 15,33)
Ein Blick in das Faksimile liefert die Begründung dafür, dass trotz des
Abweichens von der lateinischen Vorlage eine eher untypische syntakti-
sche Struktur erzeugt wird:

Abbildung 3: Cod. Sang. 56, pag. 140, Z. 22-25, Codices Electronici Sangallenses

ergo nobiſ wird mit uuanan unſ übersetzt, dann kommt das Zeilenende. Wäh-
rend dieses den Schreiber eher diszipliniert, gibt der Zeilenanfang ihm
eine gewisse Freiheit, das Kommende zu füllen, in diesem Fall dem
Schreiber γ (der gerade eben im lateinischen Teil diſcipuli ausradieren muss-
te ...): Weil er weniger Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben lässt,
kann er nicht nur die Attribute in den Nominalgruppen nach links stellen,
sondern auch noch ein Verb einfügen. Dass insbesondere die Passagen,
die γ einträgt, von typisch deutschen Regel(mäßigkeite)n abweichen, stel-
len auch Svetlana Petrova und Michael Solf fest.40
Ein singulärer Beleg ist ein oba-Satz, der in keine übergeordnete Struk-
tur eingebettet ist: Nachdem Jesus in der Synagoge von Kafarnaum ge-
sprochen hat und viele Jünger empört über seine Rede sind, äußert er das
Folgende:

_____________
40 Petrova / Solf (2009, 16f.).
„Das Spiel vom Fragen“ 441

(26) hoc voſ ſcandalizat C thaz iſt hiu aſuuih .


Si ergo uideritiſ filiū hominiſ Voba41 ir giſehet then manneſ
ſun
aſcendentem ubi :— priuſ :—erat; úf ſtigantan thar he ér uuaſ
Ist euch das ein Ärgernis? Wenn ihr nun des Menschen Sohn
dahin hinaufsteigen sehen werdet, wo er zuvor war? (pag.
125,2-4; Siev. 82,11a; Io 6,61f.)
Jesus fährt in seinen Ausführungen fort; er erwartet keine Antwort. Im
Faksimile ist der Frageausdruck deutlich vom vorausgehenden abgegrenzt,
insbesondere, nachdem „Korrektor 2“ wieder einmal aus einem Punkt ein
Fragezeichen gemacht hat:

Abbildung 4: Cod. Sang. 56, pag. 125, Z. 2-4, Codices Electronici Sangallenses

Insgesamt zeigt sich, dass die Ergänzungsfragen im althochdeutschen Teil


der Tatianbilingue in der Mehrzahl der Fälle bezogen auf die Verbstellung
im Vergleich zu Aussagesätzen feste Strukturen zeigen, die noch in der
Gegenwartssprache vorliegen. Durch die Interrogativwörter in Erststel-
lung sowie die vorausgehenden Verba dicendi sind die Fragesätze klar
markiert. Die Interpunktion ist nur von untergeordneter Relevanz, was
sich unter anderem darin zeigt, dass in vielen Fällen nicht die Schreiber für
die charakteristische Interpunktion verantwortlich sind, sondern der so
genannte „Korrektor 2“. Alle KM mit Fragefunktion sind dem Typ Er-
gänzungsfrage zuzuordnen.

3.2. Entscheidungsfragen

Während Ergänzungsfragen insbesondere über die Interrogativwörter


klassifizierbar sind, sind bei Entscheidungsfragen die Position des finiten
Verbs sowie die links davon stehenden Einheiten ausschlaggebend. Es
lassen sich drei Typen von Entscheidungsfragen ermitteln:
1. Das finite Verb steht in der für das Deutsche charakteristischen
Spitzenstellung (46-mal):

_____________
41 Laut dem Althochdeutschen Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1442, scheint das V von einer
anderen Hand vorgesetzt worden zu sein.
442 Claudia Wich-Reif

(27) quid ergo heliaſ eſ tú . uuaz nu biſt thu heliaſ


& dixit non ſum . Inti her quad ni bin .
proph&a eſ tú . & reſpondit . non . biſt thu uuîzago . Inti her
antlingota nein —
„Was dann, bist du Elia?“ Und er sagte: „Der bin ich nicht.“
„Bist du der Prophet?“ Und er antwortete: „Nein.“ (pag.
47,6-14; Siev. 13,19-20; Io 1,19-21)
Enthält die Frage eine Satznegation, steht sie direkt vor dem finiten
Verb wie im folgenden Beispiel:
(28) [...] & ait ad illoſ , [...] Inti her quad zi In .,
quid eſt quod mé quęrebatiſ . uuaz iſt thaz ir mih
suohtut .
neſciebatiſ quia In his quae ni uueſtut ir thaz in then
thiu
patriſ mei ſunt oport& mé eſſe . mineſ fater ſint
gilimphit mir uueſan .
Und er sprach zu ihnen: „Was ist [es], dass ihr mich suchtet?
Wusstet ihr nicht, dass es mir zukommt zu sein in dem, was
meinem Vater gehört?“ (pag. 43,4-6; Siev. 12,7; Lc 2,49).
2. In Spitzenstellung steht eno, eno ni, eno ia, enonu, enonu ni, enonu ia, ia,
noh, noh nu oder noh nu ni, gefolgt vom finiten Verb (49-mal) wie in
Beispiel 4.42 Die Setzung der Partikeln deutet darauf hin, dass es
sich bei den Fragen im weitesten Sinne um rhetorische Fragen han-
delt. Einmal stehen zwischen eno und dem finiten Verb die Nomi-
nativergänzung und eine Negationspartikel (pag. 201,15; Siev.
122,3; Lc 18,7).
3. Vor dem finiten Verb steht das Satzglied (und gegebenenfalls eine
Negationspartikel), über das die Entscheidung gefällt werden soll.
Auch im lateinischen Textteil steht es in Spitzenstellung (26-mal):43
(29) & dixit ei nathanahel thó quad imo nathanahel
a nazar&h poteſt fón nazar&h mág
aliquid boni eſſe ſihuuaz guotes uueſan
Und Nathanael sprach zu ihm: „Von Nazareth kann irgendet-
was Gutes kommen?“ (pag. 52,9-13; Siev. 17,3; Io 1,46)
_____________
42 Eingeordnet wurde hier auch der Fragesatz auf pag. 131,18-20; Siev. 87,3; Io 4,11, in dem
das Personalpronomen im Althochdeutschen zweimal gesetzt wurde: eno thu biſtu mera ...
(lat. numquid tu maior eſ ...).
43 Hierzu gehört auch die Setzung eines Subjektpronomens im lateinischen Textteil.
„Das Spiel vom Fragen“ 443

Einmal stehen analog zum Lateinischen eine Nominativergänzung,


eine Temporalangabe und eine Negationspartikel vor dem finiten
Verb (pag. 164,19-20; Siev. 103,4; Lc 13,15), zweimal eno ni (pag.
213,5; Siev. 129,9; Io 7,47; pag. 213,12f.; Siev. 129,10; Io 7,50),
einmal eno und die Nominativergänzung (pag. 332,16; Siev. 229,1;
Lc 24,32).

3.3. Indirekte Fragen

Indirekte Fragen sind von einem Trägersatz abhängig und werden in der
Tatianbilingue mit den Verben eisc@n, fr$g)n, wuntr@n oder bouhnen ange-
kündigt. Im Nebensatz, der von einem Verb des Fragens abhängig ist,
steht stets der Konjunktiv. Die wenigen indirekten Fragesätze werden in
der Tatianbilingue mit den Fragewörtern uuar, uuenan, bi hiu und uuvo oder
der Konjunktion oba44 eingeleitet:
(30) [...] Innuebant autē patri eiuſ [...] bouhnitun thô ſinemo
fater
quem uellet uocari eum uuenan her uuolti Inan
ginemnitan uueſan
Da fragten sie seinen Vater durch Zeichen, wie er ihn heißen
wollte. (pag. 30,27f.; Siev. 4,12; Lc 1,62)
(31) ſciſcitabatur ab eiſ ubi chriſtuſ eiſgota fon In uuar chriſt
nascer&ur, gibôran uuari;
Er erkundigte sich bei ihnen, wo Christus geboren werden solle.
(pag. 39,22f.; Siev. 8,2; Mt 2,4)
(32) [...] & mirabantur quare cum muliere [...] inti uuntrotun bi hiu
her mit uuibe
loquebatur . sprichi [sic] .
[...] und sie wunderten sich, warum er mit einer Frau sprach.
(pag. 133,2-3; Siev. 87,7; Io 4,27)
(33) Iterum ergo interrogabant eum abur frag&un ínan
pharisęi . quomodo uidiſſ& . thie pharisei uuvo hér
giſahí

_____________
44 Vgl. Althochdeutsches Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1458f. (ibu, V.). Hier wird auch der mit
dem Verb bisweren eingeleitete Satz auf p. 303,3-6; Siev. 190,1; Mt 26,63, den indirekten
Fragen zugeordnet.
444 Claudia Wich-Reif

Wieder fragten ihn die Pharisäer, wie er gesehen hätte. [= sehend


geworden wäre] (pag. 221,19ff.; Siev. 132,8; Io 9,15)
Mit oba gibt es mit vier Belegen vergleichsweise wenige indirekte Fragesät-
ze. Der Nebensatz folgt stets auf den Trägersatz:
(34) pilatuſ autem mirabatur pilatus uuntrota
ſi iam obiſſ& oba her iu entoti
& accerſito centurione Inti gihalotemo
uualtambahte
Interrogauit eum frageta inan
ſi iam mortuuſ eſſ& oba her iu entoti
Pilatus wunderte sich, dass er schon gestorben sei, und er rief
den Hauptmann herbei und fragte ihn, ob er schon gestorben
sei. (pag. 321,17-21; Siev. 212,5 Mc 15,44)

4. Das Spiel vom Fragen (und Antworten)


Wie in Abschnitt 1 demonstriert, ist es nicht schwer, deutsche Fragesätze
im Allgemeinen syntaktisch zu klassifizieren (vgl. Abschnitt 1). Die Frage-
sätze der Tatianbilingue folgen Mustern, die noch in der deutschen Ge-
genwartssprache vorliegen. Syntaktische Abweichungen lassen sich einer-
seits durch die lateinische Vorlage erklären, andererseits durch die
Konzeption der Handschrift St. Gallen Cod. 56. Eine funktional-
semantische Einteilung kann, wie gezeigt, auf der obersten Ebene analog
zur syntaktischen Einteilung vorgenommen werden. Inhaltlich ist zu be-
rücksichtigen, dass die elementare sprachliche Aufgabe von Fragen, Wis-
senstransfer zu ermöglichen (vgl. 4), öfters nicht so einfach funktioniert
wie im Gespräch zwischen Johannes und den Priestern und Leviten (vgl.
Beispiel 3). Die Erwartungshaltung, dass eine Frage dann gestellt wird,
wenn dem Fragesteller eine Information fehlt, die er von einem ausge-
wählten Hörer zu erhalten meint, wird in der Tatianbilingue in vielen Fäl-
len nicht erfüllt, wobei die Kommunikation aufgrund der erzählenden
Passagen, die die Gespräche umgeben und zusammenhalten, nicht gestört
ist. Diese Besonderheit ist der Textsorte geschuldet und ist nicht nur für
die Tatianbilingue charakteristisch, sondern für viele weitere Texte mit
kommunikativer Distanz, in denen konzeptionelle Mündlichkeit imitiert
wird.45 Die Gespräche finden nicht unmittelbar statt, sondern sie werden

_____________
45 Hier lässt sich auch ein Bogen zu dem Handke-Text ziehen. Zu kommunikativer Distanz
und Nähe, Verschriftlichung und Verschriftung vgl. Oesterreicher (1993, 267ff.).
„Das Spiel vom Fragen“ 445

durch einen Erzähler vermittelt, der den Rezipienten schon durch das
Verbum dicendi manipulieren kann.
Ganz dezidiert zeigt sich die Manipulation in den vielen rhetorischen
Fragen, die für den Leser oder Hörer – sofort – kenntlich gemacht wer-
den, indem die Fragen etwa mit eno, enonu46 eingeleitet werden: Der Ge-
fragte fällt keine Entscheidung; er wird indirekt dazu aufgefordert, sich der
Meinung des Fragenden anzuschließen. Signifikant für die Textsorte sind
auch Fragen, denen eine Begründung des Sprechenden folgt, bevor er das
Rederecht abgibt (vgl. 2) und Fragen, die als Antworten fungieren, wie es
Beispiel 15 zeigt und auch ein Gespräch zwischen Pilatus und Jesus (pag.
306,4-13; Siev. 195,1-3; Io 18,33-35): Pilatus fragt Jesus thu biſ cuning iudeono
'Du bist der König der Juden?'. Jesus antwortet mit der Frage fon thir ſelbe-
mo quidiſtu thaz oda andere thir iz quadun fon mir 'Sagst du das von dir selbst
[= von dir aus], oder haben es dir andere von mir gesagt?'. Pilatus erwidert
eno bin ih iudeus Thin thiota inti biſgoffa ſaltun thih mir uuaz tati thu 'Bin ich
denn ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir über-
antwortet. Was hast du getan?'. Schließlich gibt es die Fragen, auf die als
Antwort der nonverbale „Akt“ des Schweigens folgt wie in Beispiel 12.
Und auch hier wird mit der Frageform gespielt. Eine Erklärung für den
Handlungsverlauf in den Evangelien und somit auch für die erzählerische
und sprachliche Gestaltung der Tatianbilingue gibt Jesus bei seiner Gefan-
gennahme, als er sein Nicht-Handeln erklärt (pag. 298,12f.; Siev. 185,5; Mt
26,54): uuio uuerdent gifultiu thiu giſcrip uuantiz ſo gilimpfit zi uueſanne 'Wie wür-
de die Heilige Schrift [Pl.form] erfüllt, dass [= nach der] es so geschehen
muss?'.

Literatur

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Mittelhochdeutsch
Pragmatisch indizierte Syntax
des Mittelhochdeutschen

Mechthild Habermann (Erlangen)

1. Was ist pragmatisch indizierte Syntax?


Die mittelhochdeutsche Syntax unterliegt in der Organisation ihrer Sätze
den besonderen Bedingungen mittelhochdeutscher Schriftlichkeit. Die
Satzorganisation der Vormoderne weist trotz der vorhandenen strukturel-
len Gemeinsamkeiten mit der gegenwartssprachlichen Syntax Unterschie-
de auf, die Spuren pragmatisch indizierter Syntax darstellen.
In diesem Beitrag sollen Besonderheiten mittelhochdeutscher Syntax
vor Augen geführt werden, die höchst unterschiedlich auf eine Veranke-
rung in bestimmten Verwendungskontexten verweisen. Das Ausmaß, in
dem sich pragmatisch indizierte Syntax von der der Gegenwart unter-
scheidet, betrifft nicht die Struktur, sondern vielmehr den Gebrauch der
zur Verfügung stehenden Mittel.
Grundsätzlich stellt sich hierbei die Frage, ob es „die“ Syntax des Mit-
telhochdeutschen überhaupt gibt. Wie einheitlich ist also die mittelhoch-
deutsche Syntax? Wie wirken sich sprachdiatopische und funktionalstilisti-
sche Unterschiede auf die Syntax des Mittelhochdeutschen aus? Noch
immer können derlei Fragen für die Zeit der Vormoderne nicht befriedi-
gend beantwortet werden. Während sprachregionale Aspekte in diesem
Beitrag ausgeklammert bleiben, geht es nachfolgend um bestimmte Funk-
tionalstile insbesondere in der spätmittelalterlichen Gebrauchsliteratur.
Pragmatisch indiziert ist eine Syntax dann, wenn sie zum einen eine
bestimmte Kontextualisierung braucht, um verstanden zu werden. Und
wenn sie zum anderen aus sich selbst heraus Hinweise gibt, in welchen
Situations- und Verwendungskontext sie gehört. Die Kontextgebunden-
heit ist das auffälligste Merkmal ihrer pragmatischen Indizierung. Die zwei
Aspekte beleuchten den Gegenstand aus zwei unterschiedlichen Blickwin-
keln:
452 Mechthild Habermann

Zum einen aus der Sicht des Rezipienten, der eine Kontextualisierung
wegen der Vagheit und Unterbestimmtheit des Satzbaus erst herstellen
muss. Zum anderen aus der Sicht des Textproduzenten, der offenbar mit
anderen Mitteln für eine Verständnissicherung sorgt, so dass der Situa-
tionskontext der Äußerung nicht missverstanden werden kann.
Für den Wandel von der pragmatisch indizierten Syntax der Vormo-
derne zur entpragmatisierten Syntax lässt sich ein bekanntes Erklärungs-
muster anführen: Der Wandel ist Folge der zweiten Medienrevolution, der
Erfindung des Buchdrucks, wie sie bereits von Marshall McLuhan,1 Eliza-
beth L. Eisenstein2 oder Michael Giesecke3 beschrieben wurde.
Mittlerweile gehört es zu den anerkannten Gemeinplätzen, dass Bü-
cher die überregionale Verbreitung und Multiplizierung des Geschriebe-
nen beförderten, was die endgültige Herauslösung aus der mündlichen
Gebrauchssphäre, etwa die des Vorlesens, und hiermit eine veränderte
Rezeption des Geschriebenen zur Folge hatte. Von der „Ohrensyntax“
zur „Augensyntax“ ist ein Schlagwort, mit dem man „Entpragmatisie-
rung“ zu charakterisieren versucht.4
Und dennoch ist der Unterschied ein gradueller. Auch vorher wird die
Augensyntax bedient und nachher über längere Zeit die Ohrensyntax.
Denn etliche der beobachteten Phänomene können auch in den Frühdru-
cken des 16. Jahrhunderts beobachtet werden.
Im Folgenden werden drei Bereiche aufgeführt, die den Gegenstand
der Kontextualisierung von jeweils anderer Seite beleuchten:
• Der Gebrauch des Kasus als textkohäsives Mittel
• Unter- und Überbestimmtheit der Satzorganisation
• Formelhafte Sprache in der Satz- und Textorganisation.

2. Der Gebrauch des Kasus als textkohäsives Mittel


Es fehlt an systematischen Untersuchungen, die die historische Textlingu-
istik unter der Entwicklung textkohäsiver Mittel betrachtet. In einer Zeit
spärlicher Interpunktion und fehlender Absatzbildung in der Textpräsen-
tation mögen andere Ressourcen genutzt worden sein, Textkohäsion her-
zustellen. Untersuchungen zu diesem Gebiet fehlen zweifellos nicht zu-
letzt auch deshalb, weil die normalisierten Textausgaben mittelhoch-
_____________
1 Vgl. McLuhan (1962).
2 Vgl. Eisenstein (2005).
3 Vgl. Giesecke (1991).
4 Vgl. Betten (1987, 161).
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 453

deutscher Literatur gerade diese Unterschiede durch Einfügen moderner


Interpunktion und neuer Gliederung weitgehend unkenntlich machen und
damit keine zuverlässige Grundlage sprachwissenschaftlicher Untersu-
chungen darstellen. Nur die handschriftliche Überlieferung ist die geeigne-
te Basis für textlinguistische Untersuchungen.
Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bildet die These, dass
Textkohäsion in der Vormoderne noch nicht im gleichen Ausmaß über
die kohäsionsstiftenden Mittel wie etwa Pronominalisierung oder Konnek-
torengebrauch verfügt wie dies in der Gegenwartssprache der Fall ist. Ein
einfaches Mittel, Textzusammenhalt herzustellen, ist die Wortwiederho-
lung, die lexematische Rekurrenz, von der Texte der Vormoderne in rei-
chem Ausmaß Gebrauch machen. Die Wiederholung ein und desselben
Wortes oder ein und desselben Wortstamms wird spätestens in der Zeit
des Humanismus obsolet, als das rhetorische Prinzip der variatio, der Ver-
änderlichkeit lexikalischer Ausdrucksmittel, zu einem der wichtigsten Stil-
prinzipien erhoben wird.
Ein weiteres Mittel der Textkohäsion scheint im Alt- und frühen Mit-
telhochdeutschen der Kasus gewesen zu sein, und zwar die Herstellung
von Textzusammenhalt durch die Wahl des Genitivs als Objektkasus. Es
gibt im Alt- und Mittelhochdeutschen viele zweiwertige Verben mit kon-
kurrierenden Konstruktionsmöglichkeiten, die neben dem Subjekt im
Nominativ entweder ein Genitiv- oder Akkusativobjekt haben. Welche
Funktion hat diese scheinbar freie Variation? Über die Funktionen derar-
tiger Alternationen ist noch immer zu wenig bekannt.
Es stellt sich deshalb die legitime Frage, ob sich Sprecher einer Spra-
che über Jahrhunderte hinweg den Luxus freier Variation leisten können.
Für gewöhnlich ist das Auftreten von Varianten ein Indiz für Sprachwan-
del: Die neue Form tritt neben die alte und löst diese im Laufe der Zeit ab.
Welche Funktion hat aber die Schwankung in der Kasusrektion be-
stimmter Verben zwischen Genitiv- und Akkusativobjekt? Erst wenn man
verstärkt die alten indogermanischen Kasusbedeutungen in die Überle-
gungen mit einbezieht, geraten alte Funktionen des Genitivs und Akkusa-
tivs in den Blickpunkt, die zumindest noch die frühmittelalterliche Litera-
tur in ein neues Licht rückt.5
Laut mittelhochdeutscher Grammatik besteht bei den meisten zwei-
und dreiwertigen Verben mit Gen.-Objekt

_____________
5 Für diese Variation wurden immer wieder Erklärungsversuche geboten. Im Folgenden
werden vor allem Anregungen aufgegriffen, die Richard Schrodt zunächst zum Objektsge-
nitiv entwickelt und schließlich auf textlinguistische Aspekte im Syntax-Teil der Althoch-
deutschen Grammatik übertragen hat; hierzu insbesondere Schrodt (1996, 71ff.); ders.
(2004); vgl. auch Habermann (2007, 85ff.).
454 Mechthild Habermann

Konkurrenz von seiten des Akk. oder präpositionaler Verbindungen oder einer
Inf.-Konstruktion, wobei z.T. Nuancen in der Bedeutung des Verbs zu bemerken
sind. Auch kann im Laufe des Mhd. eine Verschiebung zugunsten der präpositio-
nalen Verbindung eintreten.6
Dass ein Unterschied zwischen dem Gebrauch von Genitivobjekt und
Akkusativobjekt besteht, lässt sich am deutlichsten bei den Verben des
Denkens und Wahrnehmens wie etwa gedenken vor Augen führen.7
(1) Beispiel mit Genitivobjekt:
Er gedâhte langer mære, diu wâren ê geschehn
Subjekt V Genitivobjekt
[Nibelungenlied 1757, 1 (1695, 1)]
'Er erinnerte sich an lange Geschichten, die einst geschehen wa-
ren'
Berthold Delbrück stellte in seiner Vergleichenden Syntax der indogermanischen
Sprachen fest, dass die Grundbedeutung des Genitivs die der Teilhabe sei.
Die Grundbedeutung des Akkusativs hingegen die der Betroffenheit.8 Das
im Genitiv Genannte nimmt gewissermaßen von außen Einfluss auf die
im Subjekt genannte Größe. Im Subjekt steht kein richtiges Agens, viel-
mehr ein Experiencer. Denn die im Genitiv vorhandene Größe existiert
unabhängig von der Durchführung der Verbalhandlung. Bezogen auf das
Beispiel (1) heißt dies, dass die schönen Geschichten schon da sind, be-
reits existieren, bevor die Handlung des „Gedenkens“ einsetzt.9
Eine ganz andere Bedeutung liegt bei gedenken mit Akkusativobjekt,
dem „Kasus der Betroffenheit“, vor.
(2) Beispiel mit Akkusativobjekt:
so gedenke ich wol die list
Adverbiale(kaus) V Subj Adverbiale(mod) Akk.obj
[Herbort, 13450]
'Deshalb denke ich mir gutüberlegt die (meine) Vorgehensweise
aus.'
In Beispiel (2) ist die im Akkusativ genannte Größe direkt von der Ver-
balhandlung betroffen, sie ist das Ergebnis des „Nachdenkens“. Hier wird
zusammen mit dem Akkusativ die Bedeutung 'über etwas nachdenken,
etwas ausdenken' aktiviert. Die Verbalhandlung ist auf das Objekt gerich-
tet, das allmählich erst, im Laufe der Handlung, entsteht oder geschaffen
_____________
6 Paul (2007, 340f., § S 71). Zu den betroffenen Verben vgl. Behaghel (1989, 564ff.) und
Ebert (1986, 38f.).
7 Diese Verbgruppe wurde insbesondere von Milligan untersucht; vgl. Milligan (1960).
8 Vgl. Delbrück (1893, 308, § 148; 360f., § 176).
9 Ähnlich sind die Verhältnisse auch bei Verben wie sich erschrecken, vergessen, sich befreien.
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 455

wird und eher abstrakter Natur ist. Das im Akkusativ Genannte ist Inhalt
oder Ergebnis der durchgeführten Verbalhandlung.10 Der Genitiv verweist
also auf ein äußeres, schon vorhandenes Objekt (das durch die Verbal-
handlung ins Bewusstsein geholt wird), der Akkusativ auf ein inneres, erst
im Entstehen begriffenes Objekt, auf ein Resultatsobjekt.
Die Wahl des Komplements, ob bei ein und demselben Verb Genitiv-
oder Akkusativobjekt zu stehen habe, wird neben der Unterscheidung von
äußerem Objekt und Resultatsobjekt auch durch textlinguistische Fakto-
ren bestimmt, was zumindest für die älteren mittelhochdeutschen Text-
zeugnisse noch zutrifft.
Je nachdem, ob das Objekt zuvor schon erwähnt wurde oder nicht,
steht Genitiv- oder Akkusativobjekt. Hier können nun textdeiktische und
textphorische Funktion eng aufeinander bezogen werden: Beim Genitiv-
objekt korreliert das äußere Objekt mit dem Faktor des Vorerwähntseins
bzw. der Bekanntheit und bei der Akkusativergänzung das Resultatsobjekt
mit der Nicht-Bekanntheit. Hiermit ist die Verbvalenz bei etlichen Verben
entscheidend von der given-new-Dichotomie oder Thema-Rhema-Struk-
tur abhängig.
Besonders deutlich ist dieser Unterschied z.B. bei frāgēn im Althoch-
deutschen sichtbar, das nach Schrodt dann den Genitiv aufweist, wenn
der „erfragte Gegenstand oder Sachverhalt [...] meist in irgendeiner Weise
bereits vorerwähnt oder kategorial bekannt“ ist.11 Bei Fragen nach Unbe-
kanntem steht hingegen der Akkusativ. Die anaphorische Funktion des
Genitivs bei mhd. vragen ist reichlich belegt, so z.B. auch im Iwein:
(3) er sprach ‚niene vürhte dir:
sine tuont dir bî mir dehein leit.
nû hân ich dir vil gar geseit
swes dû geruochtest vrâgen: [...]‘
[Iwein, 516-519]
Der Akkusativ findet sich hingegen in folgenden Fällen, wie „den Weg
fragen“ statt „nach dem Weg fragen“.12 Ähnlich auch bei mhd. ahten, mit
Genitiv in der Bedeutung 'auf etwas Acht haben, die Aufmerksamkeit auf
etw. schon Vorhandenes richten':

_____________
10 Ähnlich auch bei Verben wie schreiben oder bauen.
11 Schrodt (2004, 83, § S 78).
12 Vgl. DWB 4, 1, 1, Sp. 52, s.v. fragen.
456 Mechthild Habermann

(4) wie si belîben solten des ahten si mit den jungelingen


[Kudrun, 908,4, Handschrift E]13
Mit Akkusativ in der Bedeutung 'die Aufmerksamkeit auf etwas Neues
lenken, sich etwas überlegen':
(5) ir sult daz ahten schiere, swie sô daz geschehe,
daz ich die küneginne unt iwer swester sehe.
[Nibelungenlied 546, 1f. (511, 1f.)]
Noch für mhd. hAren können Valenzen rekonstruiert werden, die schon
im Althochdeutschen nachweisbar sind.
Mhd. hAren ist ein zwei- oder dreiwertiges Verb; neben dem Subjekt
steht im Dativ die Person, ‚auf die jmd. hört oder der man gehorcht‘; das,
worauf jmd. hört, das ausgesprochene Gebot, dem die im Subjekt stehen-
de Person gehorcht, kann im Akkusativ oder Genitiv stehen: bei Akkusa-
tiv hat das Verb die Bedeutung 'etw. hören, auf etw. (hin) hören', bei Ge-
nitiv 'auf etwas (schon Vorhandenes, schon Gesagtes) hören, es beachten',
z.B. daa ich der schande sumelîcher hAre.14
Genitivobjekte sind später sehr häufig durch Präpositionalobjekte er-
setzt worden: statt des hAren nun auf etwas hören, darauf hören. Der relationale
Aspekt ist im Präpositionaladverb darauf besonders sichtbar. Empirische
Untersuchungen stehen aus, Umfang und Ausmaß dieser Beobachtung zu
bestätigen oder zu korrigieren. Es stellt sich auch die Frage, ab wann
Funktionsunterschiede dieser Art nicht mehr greifbar sind und durch
welche Faktoren die Nivellierung der Unterschiede begünstigt wird.

3. Unter- und Überbestimmtheit der Satzorganisation


Die mittelhochdeutsche Syntax lässt einen größeren Spielraum für die
situationelle Interpretation als die neuhochdeutsche Syntax der geschrie-
benen Sprache. Die Gefügestruktur in komplexen Sätzen ist wesentlich
durch phorische oder deiktische Mittel organisiert. Elliptische Elemente
oder anakoluthartige Strukturen sind aus dem Situationskontext und über
die Bedeutung der Lexeme ersetz- oder ergänzbar.
Gerade Satzbrüche, Anakoluthe, Apokoinu-Strukturen fordern die In-
terpretationsleistungen des Rezipienten heraus (vgl. Beispiel (6) aus der
_____________
13 Nach Kudrun. Die Handschrift (1969, 300, Anmerkung zu 980, 4). Vgl. auch BMZ I, 16, s.v.
AHTE. In der Bedeutung 'sein Augenmerk auf etwas richten' finden sich auch noch späte-
re Belege mit Genitiv, wie z.B. „die gräfin aber achtete des ironischen tones nicht“ (Fonta-
ne 1883, zitiert nach DWB NB 1, Sp. 1389, s.v. achten).
14 Vgl. BMZ I, 711, s.v. HŒRE.
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 457

Gebrauchsprosa des 14. Jahrhunderts, und zwar aus Konrad von Megen-
bergs Buch der Natur):15
(6) Das holta hat die art i_t daa man ea allaeit in waaa’ legt. oder ob es
allcaeit in dem luft _tet/ _o gefault ea _elten ny^er.
[Buch der Natur, Bl. 97r]
Die Ähnlichkeiten mittelhochdeutscher Syntax zur gesprochenen Sprache
sind allenthalben augenfällig. Die sprachlich nicht explizierten Verknüp-
fungen mussten und müssen vom Leser auf der Grundlage des Erfah-
rungswissens dekodiert werden. Die fehlende Eindeutigkeit im logisch-
grammatischen Sinn ist weitgehend aus dem Situationskontext ergänzbar.
Sich ergebende logisch-grammatische Leerstellen konnten und können
durch Erfahrungswissen gefüllt werden.
Auf der anderen Seite ist die Syntax stark geprägt durch verständnissi-
chernde Leseanweisungen, die den mittelhochdeutschen Satzbau aus neu-
hochdeutscher Sicht schwerfällig wirken lassen. Hiervon zeugen die vielen
expliziten Hinweise auf den Zitatcharakter von Äußerungen, die die ge-
samte mittelhochdeutsche Literatur kennzeichnet; hierzu Beispiel (7):
(7) Ari_totiles _pricht. die lerch fGrcht den habich _o _er we] er _i
iagt. daa _i dem mē_chen in _ein _choa fleugt vnd le_t _ich oft mit
der hant vahen.
[Buch der Natur, Bl. 55v]
Vergleicht man damit die neuzeitliche Syntax der geschriebenen Sprache,
so ist der Unterschied der, dass in der Gegenwartssprache eine leserorien-
tierte Syntax vorherrscht: Hierfür sorgen zum einen die grammatisch-
logischen Hinweise, die dem Leser das Verständnis komplexer Satzstruk-
turen erleichtern.
Zum anderen ist die seit dem Frühneuhochdeutschen zunehmend le-
sersteuernde Funktion der Interpunktion, so etwa die Kennzeichnung der
direkten Rede, eine sich entwickelnde zweite Bedeutungsebene; neben den
typographischen Zeichen zählen im weiteren Umfeld auch Abbreviaturen
wie „z.B.“ oder „vgl.“ dazu. Sie dienen der Gliederung und damit Struktu-
rierung sowie der Klassifikation und Einordnung des Dargebotenen als
„Beispiel“, „Vergleich“ oder „direktes Zitat“, die dem Leser implizit, das
heißt auf einer dem primären Text unterlegten zweiten Zeichenebene, den
Äußerungsstatus anzeigen. Der neuzeitliche Leser hat es gelernt, dieses
Instrumentarium in seinem Stellenwert richtig zu interpretieren und zu

_____________
15 Konrad von Megenberg (1377); zur genauen Beschreibung der Handschrift vgl. Hayer
(1998, 192f.).
458 Mechthild Habermann

nutzen. Im Mittelhochdeutschen hingegen werden die notwendigen Ope-


ratoren, die der Verständnissicherung dienen, in Worte umgesetzt.
Besonders auffällig ist die Verbalisierung von Redewiedergaben. Die
Handlungsmittel des Zitierens werden anstatt neuhochdeutscher Inter-
punktionszeichen, d.h. Doppelpunkt und Anführungszeichen, vielmehr
explizit benannt. Die Beispiele mit dem performativen Verb „sprechen“
sind in der gesamten mittelalterlichen Literatur, in prosaischen wie poeti-
schen Texten, Legion, wie etwa in folgendem Beispiel aus dem Buch der
Natur:
(8) ¶ Aristoteles _pricht. daa die vogel di flei_ch eaaent. nicht mer
ayrn. da] ains mala. in dem iar. an die _walben die ayrt awir. er
_pricht auch. daa man der vogel _iechtGm erchenn. von der
flFgel geprechen / Er _pricht auch. daa vnd allem geflFgel ge-
mainleich der er lenger leb dan die _i. Er _pricht auch. we] die
v=gel mit einand’ _treiten. _o legent _i auf die wunden ein akker
wurta . hai_t oliganu’ . aber von den wFrtaen werd wir her nach
_agend. Er _pricht auch daa di vahenden vogel haiaaer natur _ein
. vnd trFkner. die natur hai_t aelatein colerica ¶ Er _pricht auch

all vogel chrum’ chloen werffent ir kint aua den ne_t). [...]
[Buch der Natur, Bl. 54r]
In diesem kurzen Abschnitt ist Aristoteles _pricht auf engstem Raum insge-
samt fünfmal mit er _pricht auch wieder aufgenommen. In nur zwei Fällen
ist eine direkte Rede angeschlossen, die mit Ausnahme des verbalisierten
Anführungszeichen x _pricht keine weiteren textuellen Markierungen des
Zitats aufweist.16 Es überwiegt die mit einem daa-Nebensatz angeschlos-
sene indirekte Rede. Die stereotype Wiederholung der Quelle des Zitats ist
zum einen Autoritätsnachweis, zum anderen aber auch Gliederungssignal,
mit dessen Hilfe anstelle von Spiegelstrichen oder Nummerierungen, wie
1., 2., 3. etc., die einzelnen Informationen additiv aneinandergereiht wer-
den können.
Die Konkordanz zum Nibelungenlied (nach der St. Galler Handschrift)
gibt einen Einblick in die Häufigkeit von (relativ) festen Kollokationen,
die allenfalls (nebensatzbedingt) in der Wortstellung oder durch Hinzufü-
gen von Adverbialien als nicht-notwendigen Satzgliedern variieren. Für Dô
sprach (x) sind im Nibelungenlied allein 335 Textstellen, für Dô sprachen (x)

_____________
16 Das Interpunktionszeichen ‚Punkt‘ in Beispiel 9 ist nicht hinreichend signifikant, die direk-
te Rede zu markieren. Zum einen tritt der Punkt zwar häufig, aber nicht regelmäßig auf,
zum anderen dient er bereits weitgehend zur Abgrenzung logisch-syntaktischer Einheiten.
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 459

weitere 13 Belege nachweisbar.17 Das am häufigsten gebrauchte Verb zur


Redewiedergabe ist sprechen; sagen, antwurten oder heiaen sind vergleichsweise
selten belegt. Der Variantenreichtum an Verben der Redewiedergabe, wie
er für die Gegenwartssprache feststellbar ist, kann für das Mittelhochdeut-
sche nicht bezeugt werden. In späteren Zeiten übernimmt die Interpunk-
tion die eindeutige Markierung direkter Rede, so dass eine reiche Vielfalt
metaphorischer Übertragungen die Stelle von sprechen einnimmt: z.B. flöten,
lachen, lallen, betonen, schwadronieren, zum Besten geben o.ä.
Die Verbalisierung der Redewiedergabe ist ein für die mittelalterliche
Dichtung wie Prosa textsortenübergreifendes Phänomen. Darüber hinaus
gibt es Spezifika, die in besonderer Deutlichkeit in Textsorten hervortre-
ten, die der Alltagswelt besonders nahe stehen, wie etwa in mittelalterli-
chen Gebrauchstexten: Pragmatisch indizierte Syntax findet sich auch
dann, wenn Handlungsszenen konstituiert werden wie etwa die einer kon-
kreten Werkstattunterweisung. In dieser werden die didaktischen Verfah-
ren der Unterweisung, als ob sie in einer real existierenden Unterrichtssi-
tuation stattfände, imitiert. Das deiktische du, das das Gegenüber der
Gesprächssituation bezeichnet, wird als Merkmal konzeptioneller Münd-
lichkeit in die Schriftlichkeit übertragen: Du _olt .... Entweder folgen Impe-
rative, durch die unmissverständlich direktive oder appellative Sprechakte
markiert werden (z.B. Wiaa daa ...), oder Modalverben wie _uln, _üln:
(9) Du _cholt auch wiaaen daa [...]
[Buch der Natur, Bl. 97r]
Der Autor wendet sich mit einer verbalisierten Zeigegeste an den Leser,
bevor er seine Erläuterungen anführt. Formulierungen wie Wiaa oder Du
_cholt auch wiaaen sind verbalisierte Hinweiszeichen, wie etwa das ikonische
Zeichen  oder bereits abstrahiert: →, die in ihrem deutlich erkennbaren
personalen Bezug aufmerksamkeitsheischend gebraucht sind.
Neben den appellativen Sprechakten sind auch deklarative besonders
häufig vertreten: Am Beginn eines Buches steht nicht selten ein Satz mit
der Proposition, die den Anfang des Buches anzeigt:
(10) Assit principio sancta Maria meo. Jncipit liber de naturis rerum
Anno domini 1°3°7°7° In nomine domini.
[Buch der Natur, Bl. 4r]
Nach dem Register folgt der Prolog mit der Überschrift:

_____________
17 Vgl. Reichert (2006 Bd. 1, 218ff., Bd. 2, 837f.). Die Zahlenangaben beruhen auf manueller
Auszählung. In weiteren elf Fällen ist im Nebensatz x dô sprach belegt; hinzu kommen 73
Belege von sprach dô x; wenige Beispiele weisen in der Formel Dô sprach (x) vor dem Subjekt
ein lokales Adverbiale (vor y / zu y) bzw. ein modales Adverbiale auf.
460 Mechthild Habermann

(11) Das i_t daa puech von den NatFrleichen dingen ae deut_ch
pracht. von mai_ter Chunraten von Megenberch. ~
[Buch der Natur, Bl. 7r]
Das Explicit bildet die folgende Schlusszeile in direkter Anrede:
(12) Da mit hab eyn end
[Buch der Natur, Bl. 153v]
Der Unterschied zur heutigen Buchgestaltung besteht insbesondere darin,
dass die Titelblattgestaltung meist in nominalisierter Form auf den Inhalt
des Buches referiert und das Ende eines Buches in der Regel unbezeichnet
ist, mitunter aber durch Ende oder Finis angezeigt wird. Die mittelalterli-
chen Propositionen bieten Zuschreibungen, die wiederum auf Zeigegesten
hinweisen und eine Art Gebrauchsanleitung für das Buch zumindest im
Incipit darstellen.
Entpragmatisierte Formen der Überschriftsgestaltung, die an lateini-
schem Beispiel (De Arboribus) orientiert sind, bleiben im darauf folgenden
Fließtext nicht unkommentiert. Der Inhalt von Kapitelüberschriften wird
hierdurch häufig stereotyp wiederholt, die weitere Vorgehensweise ein-
schließlich der Ausführungen zur alphabetischen Reihung metasprachlich
kommentiert. In Beispiel (13) ist eine solche Wiederholung mit der Recht-
fertigung des Vorgehens des Autors verbunden:
(14) Von mangerlay paumen
BJr _chFllen in di_em vierd) _tuckch des puchs _agen von allerlay
pau^e. vnd dea er_ten von gemain) paumen. dar nach von wol
_mekchenden. vnd gar edeln paumen. vnd _chGllen die orde nHg
haben. Daa wir des er_ten von dem _ag) der nam ae latein. _ich.
an ain) a. anhebt vnd dar nach an dem .b. recht als daa. a.b.c. ge-
ordent i_t. _am vn_er weis vor gewe_en i_t in andn ding).
[Buch der Natur, Bl. 96r f.]
Neben deklarativen Sprachhandlungen gibt es eine Reihe von obligatori-
schen bzw. selbstverpflichtenden Sprechakten, die die Syntax der Vormo-
derne als pragmatisch indiziert bestimmt:
(15) aber von den wFrtzen werd wir her nach _agend.
[Buch der Natur, Bl. 54r]
In einer entpragmatisierten Darstellung kann anstelle der Proposition im
Neuhochdeutschen ein kurzer Seitenverweis als Fußnotentext erscheinen:
zu den Kräutern vgl. S. xy.
Aus den Ausführungen folgt: Die modernen typographischen Reprä-
sentationen werden in der Vormoderne über Verbalisierungen in vollstän-
digen Sätzen zum Ausdruck gebracht. Die unverwechselbare Syntax der
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 461

expliziten Sprechakte verweist indexikalisch auf konkrete Gebrauchssitua-


tionen. Sie stellen das mental verankerte Script bei der Produktion und
Rezeption von Gebrauchstexten dar und bieten bei der formalen Ausge-
staltung der Sätze die slots, die in inhaltlicher Hinsicht gefüllt werden müs-
sen. Die Trias ‚Sender – Empfänger – Welt‘ ist in der relativen Gleichwer-
tigkeit der drei Pole das dominante Bezugssystem. In der Syntax der Vor-
moderne ist neben der symbolischen Setzung mit Referenz auf die
Gegenstände der außersprachlichen Welt der personale Bezug mit Ver-
weisfunktion eines Senders auf einen möglichen Adressaten – auf eine
plakative Art und Weise – stets präsent. Die Zeigegeste (das ist...) bestimmt
den Gebrauch der syntaktischen Mittel.

4. Formelhafte Sprache
in der Satz- und Textorganisation
Die mittelhochdeutsche Syntax ist in weiten Teilen der Gebrauchsliteratur
schablonenhaft. Auch die metrisch gebundene Dichtung zeigt bekanntlich
eine Reihe lexikalischer Füllungen, die im Wortlaut nur minimal variieren.
Dies gilt auch für die mittelhochdeutschen Urkunden, deren starke Reg-
lementierung in den obligatorischen Teilen (salutatio, petitio, corroboratio,
etc.) formelhaft geregelte Sprache mit nur geringer Variation aufweist.18
Auch in der naturkundlich-medizinischen Gebrauchsliteratur sind so-
wohl Satz- als auch Textorganisationen stark schematisiert. Die Schemati-
sierung folgt einfachen, elementaren Mustern mit hohem Wiedererken-
nungswert, die sich auf der Grundlage formalisierter Satzbaupläne be-
schreiben lassen. Es handelt sich hierbei um abstrakte Schablonen, die aus
zahlreichen Gebrauchskontexten bekannt sind. Die entscheidende Einheit
ist nicht der nach heutigen Vorstellungen modellierte Satz, sondern die
Informationsstruktur, deren vorherrschendes Merkmal – weitaus stärker
als heute – die kommunikativ-pragmatische Verortung der einzelnen
Textbausteine ist.
Die Satz- und Textmuster, die auf unterschiedlichen Ebenen und in
unterschiedlichen Graden formalisierte Schablonen darstellen, können in
die Nähe des kognitionspsychologischen Schema-Begriffs gerückt werden.
Sie geben deshalb auch Antwort auf die grundlegenden Leitfragen nach
_____________
18 Quantifizierbare Ergebnisse mittelhochdeutscher Kollokationen, Sentenzen, Formeln,
stereotyper Texteinleitungen sind erst dann erwartbar, wenn eine computergestützte Kor-
pusanalyse signifikanter Datenmengen möglich ist. Gerade für Untersuchungen im Bereich
Formelhafte Sprache sind viele neue Einblicke in den Bausteincharakter mittelhochdeutscher
Syntax zu erwarten.
462 Mechthild Habermann

dem Wer? oder Was?, dem Wie? und Wo? oder Wann?, dem Wozu? und
(seltener) nach dem Warum? etc. Die Leitfragen stellen die rationalen Ver-
fahren der Welterschließung spätestens seit Aristoteles dar. Die schemati-
schen Fragestellungen haben sich als standardisierte Formen erfolgreichen
kommunikativen Handelns bewährt und führen nun ihrerseits zu einer
weitgehenden Schematisierung der entsprechenden Antworten.
Die Satzschablonen stellen Formulierungsroutinen dar, die immer
dann auftreten, wenn standardisierte Kommunikationsaufgaben bewältigt
werden müssen.19 Die Aktivierung solcher Muster hilft dem Autor oder
Textproduzenten bei der schnellen Bewältigung der Vertextungsaufgabe.
Auf Seite des Textrezipienten führt die Einhaltung bekannter Muster zu
einer schnelleren Verarbeitung neuer Informationen durch Einordnung in
tradierte Sprachhandlungsformen mit hohem Wiedererkennungswert.
Stephan Stein unterscheidet in seiner Untersuchung zur Formelhaften
Sprache grundsätzlich zwischen „sprachlichen Routinen“ und „konzeptio-
nellen Routinen“.20 Die beiden Typen erscheinen im Text entweder als
Formulierungsstereotype bzw. formelhafte Sprache (= sprachliche Routi-
nen) sowie als Einhaltung eines bestimmten Satz- oder Textmusters
(= konzeptionelle Routinen). Die Modellbildung besteht also zum einen in
der Übernahme sprachlicher Schablonen mit standardisierter Lexik und
zum anderen in der Einhaltung bestimmter formaler Schemata mit variab-
ler Lexik. Bei der Klassifikation spielen Faktoren wie der Grad der lexika-
lischen Füllung, die kommunikative Funktion, die syntaktische Struktur
sowie die Positionierung des Musters in der Textorganisation die ent-
scheidende Rolle.
Die erste Gruppe, die Formulierungsstereotypen oder sprachlichen
Routinen, sind dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte lexikalische
Füllung in einer ausgewählten Struktur stets gegeben ist. Die lexikalische
Füllung, die Wiederholung des immergleichen Wortes bzw. der immer-
gleichen Wörter ist das sie charakterisierende Merkmal. Die Funktion der
Formulierungsstereotypen ist in der Regel immer auch die der Textstruk-
turierung und Organisation im Sinne von Fortsetzungssignalen, Themen-
wechsel und Herausstellung. Formulierungsstereotypen begegnen:
• in der Kapitelüberschrift, etwa in der Formel: „Von der X“.
(15) Von den vogeln in ainer gemain
Von dem adelarn
Von dem arpen.
[Buch der Natur, Bl. 53v-55r]
_____________
19 Vgl. Heinemann / Viehweger (1991, 166).
20 Stein (1995, 301).
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 463

• am Kapitelanfang mit Formeln wie: „X (lateinischer (latinisierter)


Terminus) heißt Y (deutscher Terminus)“ oder „X (lateinischer (la-
tinisierter) Terminus) ist ein Y (Hyperonym wie z.B. ‚Vogel‘, ‚Baum‘
etc.)“, wie etwa:
(16) A Quila hai_t ein adel ar.
AN_er oder auca hai_t ein gans.
Accipiter hai_t ein habich.
Arpia i_t ein vogel [...]
[Buch der Natur, Bl. 54v f.]
• in Scharnierausdrücken, die lexikalisch bis auf eine Leerstelle festge-
legt sind. Sie dienen meist als Diskursmarker oder Fortsetzungssig-
nale, indem sie die Einführung eines neuen Gesichtspunktes, eines
Themenwechsels, markieren. Ein recht häufig gebrauchter Schar-
nierausdruck ist: „X hat die Art“:
(17) Der fenix hat die art . wenn in deca alter be_wërt. _o _üecht er
im in den landen gegē der _unen aufganch. den aller _ch=n_ten
paum [...]
[Buch der Natur, Bl. 60r]
(18) Die erl pleter habnt die art wo man _i _treUt in ainer chamern .
da t= tten _i die fl=ch .
[Buch der Natur, Bl. 97v]
Bei der zweiten Gruppe, den konzeptionellen Routinen, handelt es sich
um Satzmuster, die lexikalisch frei besetzbar sind und prototypisch ganz
bestimmte Inhalte transportieren. Die Zahl der Satzmuster ist in der
Gebrauchsliteratur in der Regel auf zwei dominante eingeschränkt. Zu-
nächst das erste Muster, das den ersten Teil naturkundlicher Ausführun-
gen bestimmt:
(19) Von dem adelarn
A Quila hai_t ein adel ar. Vnd _pricht augu_tin’. daa er der edel_t
vogel _ey. Vnd _ey ein chFnich aller vogel. Er i_t ein groaa’ rauber
vnd lebt nGr dea flei_chs. Er hat gar _tarkch ge_icht [...]
[Buch der Natur, Bl. 54v]
Textteil (19) besteht aus Aussagen, die Minimalpropositionen darstellen:
D.h. es gibt ein Verb, das seine obligatorischen und / oder fakultativen
Ergänzungen aufweist. Es gibt kaum Adverbialien (Angaben). Die Aussa-
gesätze sind Einfachsätze zur Erläuterung von Sachverhalten. Es kommen
allenfalls daa-Sätze als Inhaltssätze von Aussagen vor, die indirekte Rede-
wiedergaben in Abhängigkeit von einem verbum dicendi darstellen. Eine
andere Struktur weist Textteil (20) auf:
464 Mechthild Habermann

(20) von dem pfaun


[...] Jacobi _pricht wenn man den pfaun _chawt vnd lobt. _o _trekt
er _ein) aagel auf in aines halben thraiaa weis. vnd aaigt _eins za-
gels _ch=n. [...] wenn der pfau _ein) aagel ge_trebt hat gegen der
_onn). vnd _ein vnge_talt fFaa an_iecht. _o _enkt er den aagel wider
auf die erden al_o _pricht daa puch von der aygehait d’ ding [...]
plynius _pricht. wenn der pfau die wolgeuerbten vedn’ rert. _o
trauert er vnd wirt dan perhaft. s We] d’ pfau in der vin_t’ i_t
wachent. vnd _ich _elb’ nicht ge_ehen mag. _o er_chrikt er. vnd
_chreit laut. wa] er w*nt er hab _ein _chön v’lorn
[Buch der Natur, Bl. 68r]
Textteil (20) besteht aus Sätzen mit der Struktur wenn – so ('dann') mit
temporal-konditionaler Bedeutung. Sie werden in diesem Beispiel beson-
ders stereotyp in immer gleicher Konstruktion aneinandergereiht. Die
Konstruktionen mit wenn – so bieten die hinreichende Bedingung und
konsequente Folge, die im ordo rerum scheinbar mechanistisch eintritt. Im
Unterschied zu Textteil (19) sind im Textteil (20) nur Satzgefüge, in denen
die näheren Umstände eines besonderen Verhaltens zum Ausdruck ge-
bracht werden. Trotz der Stereotypie des Musters in (20) variiert wenn – so
mit Relativsätzen der Form wer – der, lokalen wo-Sätzen, uneingeleiteten
Konjunktionalsätzen oder dass-Sätzen. Weitere Nebensätze wie etwa tem-
poral-kausale sind eher selten nachweisbar (z.B. wa] er w*nt er hab _ein _chön
v’lorn). Grundsätzlich besteht der Eindruck, dass die stereotyp verwendete
Konstruktion mit wenn – so ('dann') vorherrschend ist.
Die konzeptionellen Routinen sind volkssprachlich tief verwurzelt,
gehören sie doch seit alters her einerseits zum Vertextungsmodell der
Deskription und andererseits zu den volkssprachlich überaus gebräuchli-
chen Mitteln in mittelalterlichen Rezeptstrukturen, die die Wenn-dann-
Gliederung bevorzugt aufweisen.21

5. Vom Mittelhochdeutschen
zum Neuhochdeutschen
Der Weg von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Syntax ist verbunden
mit dem Prozess der Entpragmatisierung – in folgendem Sinn:
1. Die Emanzipation des geschriebenen Textes aus dem unmittelba-
ren Situationskontext setzt ein Bewusstsein dafür voraus, dass
schriftliche Kommunikation in der Regel Distanzkommunikation
_____________
21 Vgl. hierzu Habermann (2007, 209ff.).
Pragmatisch indizierte Syntax des Mhd. 465

ist, bei der von den personellen sowie räumlich-zeitlichen Gege-


benheiten des Situationskontextes abstrahiert werden muss. Der
Wandel von konzeptioneller Mündlichkeit zu konzeptioneller
Schriftlichkeit ist ein häufig bemühtes Schlagwort, das in seiner Ab-
solutheit wohl in Abhängigkeit der Sprachenwahl, Textsorte etc. zu
differenzieren ist. Dennoch zeigt sich das Verhaftetsein der mittel-
alterlichen Gebrauchsprosa in der stets vorhandenen Präsenz der
Triade ‚Schreiber – Adressat – Mitteilung‘, indem die Sachverhalte
der Welt in expliziten Bezug zu einem Sender und Empfänger ge-
stellt werden. Der Textproduzent gibt Auskunft über seine Äuße-
rungsabsichten und appelliert an den Adressaten, wie er seine Äu-
ßerungen verstanden wissen will.
2. Zum Prozess der Entpragmatisierung gehört auch die Aufgabe des
Gebrauchs des Kasus als textkohäsives Mittel. Dass Schwankungen
in der Kasusrektion bestimmter Verben aus der Notwendigkeit,
Textkohäsion herzustellen, bedingt sein können, muss in seinem
Ausmaß empirisch noch untermauert werden, da es fraglich ist,
welche Verbgruppen überhaupt von diesen Schwankungen betrof-
fen sind und für welchen Zeitraum die textkohäsive Funktion des
Kasus Genitiv besteht. Der Gebrauch des Genitivs als anaphori-
sches Mittel ist ein Beweis dafür, dass der Kasus noch die alte Ka-
susbedeutung der Teilhabe und des Einflusses von außen auf das
Verbalgeschehen aufweist. Hier liegt demnach ein lexikalischer Ka-
sus vor, während zum Neuhochdeutschen hin ein Abbau semanti-
scher Kasusfunktionen und somit der lexikalischen Kasus zuguns-
ten struktureller Kasus wie dem Nominativ und Akkusativ erfolgt.22
3. Der Prozess der Entpragmatisierung wird begleitet von der Ent-
wicklung einer Ohrensyntax zu einer Augensyntax. Erst allmählich
bildete sich eine doppelte Struktur in der Textgestaltung heraus, die
durch eindeutige konjunktionale Markierungen und typographische
Kennzeichnungen verlässlich markiert ist. Damit einher geht eine
stringente Komposition von Sätzen (unter Vermeidung anakoluth-
artiger Strukturen) und eine Interpunktion (z.B. zur Kennzeichnung
direkter Redewiedergaben) als unterlegter Bedeutungsstruktur, die
in der Ohrensyntax entweder fehlt (Unterbestimmtheit der Syntax)
oder im Gegenteil durch aufwändige Verbalisierungen (Überbe-
stimmtheit der Syntax) zum Ausdruck kommt.

_____________
22 Strukturelle Kasus weisen in semantischer Hinsicht ein eher unklares Profil auf und sind in
erster Linie durch syntaktische Funktionen (Passivierung etc.) beschreibbar. Vgl. hierzu
insbesondere Abraham (1995, 351ff.); Dürscheid (1999, 86ff.).
466 Mechthild Habermann

4. Zur Entpragmatisierung zählt zuletzt auch das allmähliche Abrü-


cken von einer allzu stereotypen, formelhaft festgelegten Sprache,
die sich in der naturkundlich-medizinischen Literatur besonders
deutlich zeigt, wohl aber stärker als bisher angenommen die gesam-
te mittelhochdeutsche Literatur durchzieht. Fundierte Ergebnisse
sind zum einen auf der Basis von Konkordanzen zu mittelhoch-
deutschen Handschriften und zum anderen durch computerge-
stützte Auswertungen repräsentativer Textkorpora zu erwarten. In
der Zeit des Humanismus weicht die formelhafte, durch Redun-
danz geprägte Sprache einem durch variatio geprägten aufmerksam-
keitsheischenden Stil.

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Konstruktionsmuster und -strategien
im mittelhochdeutschen Satzgefüge
Ein Werkstattbericht

Heinz-Peter Prell (Oslo) ∗

1. Einleitung
Das Projekt einer mehrbändigen mhd. Grammatik auf der Grundlage
eines digitalisierten Handschriftenkorpus ist jetzt in die Syntaxphase einge-
treten, und Oslo hat hierbei die Untersuchung der komplexen Sätze, ins-
besondere der Satzgefüge, übernommen.1 In der derzeitigen frühen Phase
der Arbeit stehe ich als Bearbeiter vor zwei grundsätzlichen Problemen:
einem Material- und einem Darstellungsproblem. Die Menge des gespei-
cherten Materials ist riesig (s.u.), und eine irgendwie systematische Be-
schreibung besonders der komplexen Gebilde erscheint angesichts des
Variantenreichtums sehr schwierig.2 Im Folgenden wird der Versuch un-
ternommen, unterschiedliche Erscheinungen im mhd. Satzgefüge auf der
Grundlage eines übergeordneten Beschreibungsprinzips zueinander in
Beziehung zu setzen.
Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Analyse von sieben
Textausschnitten, die sich in zwei (bzw. drei) Gruppen einteilen lassen,
wobei der Bereich der Urkunden und Gesetzestexte noch nicht repräsen-
tiert ist3, insgesamt aber bereits eine gewisse zeitliche Streuung gegeben ist:

_____________
∗ Universität Oslo.
1 Nach heutigem Kenntnisstand dürfte das Satzgefüge der Bereich der Syntax sein, in dem es
seit dem Mhd. zu den meisten strukturellen Wandelerscheinungen gekommen ist.
2 Einen ersten, noch ganz vorläufigen Versuch habe ich in der 25. Auflage der Mittelhoch-
deutschen Grammatik von Hermann Paul (im Folgenden abgekürzt Mhd.Gr.) vor allem auf
der Grundlage von Prosatexten unternommen (vgl. ebd., §§ S 222-231). Auf diese Darstel-
lung nehme ich im Folgenden des Öfteren Bezug.
3 Zu den Satzgefügen in mhd. Urkunden vgl. Schulze (1991).
472 Heinz-Peter Prell

Zwei Versepen:
Nib: Nibelungenlied (C), obd., 1. Hälfte 13. Jh.4
Parz: Wolfram von Eschenbach: Parzival (D), obd., um die Mitte
des 13. Jhs.
Fünf geistlich-religiöse Prosatexte:
1. Drei Predigtsammlungen:
Spec: Speculum ecclesiae C, bair.-alem., Ende 12. Jh.
PrMi: Millstätter (früher Kuppittsch’sche) Predigtsammlung, bair.-
österr., 1. H. 13. Jh.
SalH: Salomons Haus, hess.(-rhfrk.), 2. H. 13. Jh.
2. Zwei narrative Texte:
Hleb: Hermann von Fritzlar: Heiligenleben, hess.-thür., Mitte 14. Jh.5
GnaÜ: Christine Ebner: Von der Gnaden Überlast (N2), ofrk., Mitte
14. Jh.
Pro Text wurden unterschiedliche Passagen im Gesamtumfang von ca.
12.000 Wortformen gespeichert und ausgewertet. Die sieben Texte enthal-
ten insgesamt über 12.000 Elementarsätze und – nach meiner derzeitigen
Analyse – 3.195 Satzgefüge.6 1.249 dieser Gefüge enthalten nur einen
Nebensatz, 1.164 weisen zwei Nebensätze auf, und in 782 Gefügen sind
mehr als zwei Nebensätze enthalten.
In den Predigten liegt der Anteil der Nebensätze am Gesamt der Ele-
mentarsätze sehr konstant zwischen 43 und 44 %; in den Versepen sowie
in GnaÜ ist er deutlich niedriger (Nib: 31,4 %; Parz: 30,7 %; GnaÜ:
32,4 %). Der Text Hleb nimmt mit 37,3 % Nebensätzen eine Mittelstel-
lung ein. Bei den Nebensätzen höheren (zweiten bis fünften) Grades er-
reichen Spec (25,8 % aller Nebensätze) und SalH (23,9 %) Spitzenwerte;
die epischen und narrativen Texte kommen hier lediglich auf ca. 18 %. In
Nib, Parz sowie GnaÜ bildet der dritte Abhängigkeitsgrad die Obergrenze;
die übrigen vier Texte enthalten insgesamt 16 Nebensätze vierten und
einen Nebensatz fünften Grades. Alle diese Werte deuten auf die vielleicht
nicht sonderlich überraschende Tatsache hin, dass die geistlichen Prosa-
_____________
4 Die Datierung bezieht sich auf die mutmaßliche Entstehung der jeweiligen Handschrift,
nicht des Textes. Genauere Angaben zu den einzelnen Korpustexten und den jeweils ge-
speicherten Passagen finden sich in Wegera (2000, 1312ff.), sowie online im Internet unter
http://www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/; zu den Prinzipien der Korpuszusammenstel-
lung vgl. Wegera (2000, 1305ff.).
5 Der Text enthält Exkurse im Stil der Predigtsprache und ist daher nicht eindeutig einzu-
ordnen.
6 Wenn man bedenkt, dass das Gesamtkorpus 102 Texte und das sog. Kernkorpus immerhin
noch 66 Texte umfasst, bekommt man einen Eindruck von der Fülle des Materials (eine
Hochrechnung ergibt allein für das Kernkorpus die Menge von 30.000 Satzgefügen!). Wie
viel hiervon tatsächlich wird berücksichtigt werden können, ist noch ganz ungewiss.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 473

texte – insbesondere die Predigten – syntaktisch komplexer sind als die


Versepen.7
Die Unterscheidbarkeit von Haupt- und Nebensätzen als wichtige
Voraussetzung für die Analysierbarkeit von Satzgefügen ist – zumindest in
der Prosa8 – meistens gegeben. Nur selten treten ganz zweideutige Struk-
turen auf wie im folgenden Beleg:
(1) Dise íungfrowe °was so schone.
daz ír eigín vater °begerte
si zu nemene zu eíner elíchen [vrouw)]
v] °líez eín) turn buwen
dar vffe her síe °wolde behalden.
v] °hiez zwei venster dar ín machen. (Hleb 11v)
Die mit unde angeschlossenen Konstruktionen rechts vom Infinitivsatz
lassen sich als Fortsetzungen des daz-Satzes analysieren, angesichts eines
im Mhd. nicht seltenen Baumusters der Parataxe kann es sich aber auch
um Hauptsätze mit sinngemäß zu erschließendem Subjekt (vgl. Mhd.Gr.,
§ S 208.2) handeln. Entsprechend unklar ist der Abhängigkeitsgrad des
Relativsatzes. Wie fast immer in solchen Fällen ist die Verständlichkeit des
Gefüges durch die syntaktische Unschärfe nicht beeinträchtigt: syntakti-
sche Wohlgeformtheit in unserem Sinne ist für die Verständnissicherung
offenbar partiell redundant und nicht unbedingt ein Anliegen mhd.
Schreiber.9

2. Integrative vs. serielle Techniken im Satzgefüge


Als integrativ werden im Folgenden solche Konstruktionsmuster bezeich-
net, bei denen der Untersatz innerhalb der (regulären) Felderstruktur sei-

_____________
7 Umgekehrt kann man vielleicht von der immerhin noch beachtlichen Satzkomplexität in
den Epen überrascht sein. Im Nibelungenlied tritt die Hypotaxe vor allem innerhalb der
höfischen Sphäre, besonders im höfischen Dialog, auf: Mir wart gesaget mære. in mins vater
lant. daz hie bi iv wæren. daz het ich gern erkant. die chunsten rechen. des han ich vil verno^. die ie kunic
gewnne. (Nib 107); vil lieber herre min. ich wolde ivch biten gerne. m=ht ez mit fNge sin. daz ich [lies: ir]
mich sehn liezet. wie ich hete daz versolt. ob ir min) frivnden. wæret innechlichen holt. (Nib 1428).
8 In den Verstexten kann die syntaktische Analyse durch die sehr häufige Späterstellung des
finiten Verbs im Hauptsatz erschwert werden (vgl. Mhd.Gr., § S 207.2).
9 Zu Analyseproblemen im mhd. Satzgefüge vgl. auch ebd., § S 222 sowie Kern (1988).
474 Heinz-Peter Prell

nes Obersatzes erscheint;10 ist dies nicht der Fall – steht der Untersatz also
ganz außerhalb seines Obersatzes –, spreche ich von seriellen Techniken.
69 % aller Satzgefüge in meinem Material beginnen mit einem Haupt-
satz. Das einfachste mögliche Muster dieses Typs (ein Hauptsatz mit nur
einem Nebensatz im Nachfeld) stellt mit einem Viertel aller Korpusbelege
das wohl häufigste Gefügemuster überhaupt dar. Folgen auf den ersten
Nebensatz weitere Nebensätze höheren Grades, können recht überschau-
bare integrative Gefüge mit kontinuierlich fallender Satzlinie entstehen (vgl.
Mhd.Gr., § S 223):11
(2) HS: ir °het enboten Rvdeger.
NS 1.Gr.: daz in daz °dvhte gNt.
NS 2.Gr.: daz si der kuniginne. da mite troste den mNt.
NS 3.Gr.: Daz si ir °rite engegene. mit den sinen
man. vf zN d' ense. (Nib 1327)12
(3) HS: Sechs alter °sint uns irzeiget in dîsem lêbene.
NS 1.Gr.: in den wir durch got arbeiten °sch§lin.
NS 2.Gr.: daz wir die êwigen gnâde °besizzen.
NS 3.Gr.: daz diz sibinte °ist. in enir wêrlt.
NS 4.Gr.: da wir °rNuuin unze an die urstênte.
(Spec 13v)
Schon früh treten nach einem initialen Hauptsatz gelegentlich Nebensatz-
häufungen in einer diskontinuierlichen Satzlinie (d.h. mit wechselndem
Abhängigkeitsgrad) auf, die nicht immer eindeutig analysierbar sind. Im
folgenden Beleg aus dem 12. Jh. enthält das Gefüge acht Nebensätze:

_____________
10 Integrative Muster liegen also vor, wenn ein Nebensatz ersten Grades im Vor-, Mittel- oder
Nachfeld des Hauptsatzes bzw. ein Nebensatz höheren Grades im Mittel- oder Nachfeld
des übergeordneten Nebensatzes steht. Die Existenz eines Vorfeldes wird hier für den Ne-
bensatz nicht angenommen (s.u. Anm. 14). Zur Vorstellung eines Außenfeldes s.u. Beleg
(6) und die Anm. 13.
11 Siglen: HS = Hauptsatz; NS x.Gr. = Nebensatz x. Grades; eNS / eHS = eingeschalteter
NS bzw. parenthetischer HS; R(est) = Obersatzrest nach eNS; HSi = abhängiger HS (indi-
rekte Rede); ° = finites Verb.; T = nicht satzförmiger Teil des Satzgefüges (ohne finites
Verb). Die Einrückungen signalisieren den jeweiligen Abhängigkeitsgrad.
12 Belege aus den Verstexten werden mit der heute üblichen Strophen- bzw. Abschnittszäh-
lung nachgewiesen.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 475

(4) HS: div alti ê. °brahti die selben gnâde den kinden
NS 1.Gr.: die besnîtin °Yrdin.
NS 1.Gr.: daz si ledich °wârn der sunte.
NS 2.Gr.: die si von adâme °hetin.
NS 1.Gr.: also div hêre t?fe nv °ur§mit den.
NS 2.Gr.: die get?fet °wêrdent.
T / HS-R?: wan des einen.
NS 1.Gr.: daz si in daz himelrich niht chomin. °mahtin.
NS 2.Gr.: ê der geborn °wart
NS 3.Gr.: der uns daz hîmelrich °entslôz. mit sin
selbis tôde. (Spec 12r)
In den späten Texten, besonders in SalH, kommt die Konstruktionsweise
häufiger vor. Hier ein Gefüge aus zehn Nebensätzen, die auf einen recht
kurzen initialen Hauptsatz folgen:
(5) HS: nv °merke aber mit mir
E_T: geistlicher menshe.
HS-R: nv die minne vnde die liebe.
NS 1.Gr.: die dir got svnderliche. aber an disen dingen geof-
fenberit °hat.
NS 2.Gr.: da mide daz ime nivt dar ane °begnvgeda.
NS 3.Gr.: daz er dir bewiset °hat. die seilekeit diner
geshefnisse vnde diner losvngen.
NS 2.Gr.?: offe daz dv dar ane °irkentes.
NS 3.Gr.: daz er din ganz frvnt °were.
NS 4.Gr.: der dir so groze selikeit zv gekeret °hat.
NS 2.Gr.: vnde daz dv dar ane °provetis.
NS 3.Gr.: daz dv ime von rehte dinen °soldes.
NS 2.Gr.: vnde daz dvz froliche °tedis.
NS 3.Gr.: wande dv so manic zeihen siner minnen
°hedis. (SalH 55)
Ebenfalls schon früh treten komplexe gestreckte Gefüge mit Einschaltun-
gen und diskontinuierlicher Satzlinie auf. Im folgenden Beleg werden
charakteristische serielle und integrative Techniken miteinander kombi-
niert:
476 Heinz-Peter Prell

(6) NS 1.Gr.: do in vnser herre in daz parad;s °gesazti. vnde


im allez
eNS 2.Gr.: daz §f der erde °ist.
NS-Rest: vndertân °machte.
HS: do °wolte er adames gehôrsam bewârn. v] °zêigte
im ein obez.
eNS 1.Gr.: daz schonir °was den ander obiz.
HS-Rest: unde °gebôt im.
eNS 1.Gr.: daz er allez daz °âzze.
eNS 2.Gr.: daz er °wolte.
NS-Rest: v] daz eine obiz °verbâre. [verbern 'meiden']
HS-Rest: unte °seite im.
NS 2.Gr.!: swenne er daz °gêzze.
NS 1.Gr.: daz er des êuvigin tôdis °mNse ersterbin.
(Spec 4r)
Die im Textbeispiel zutage tretenden seriellen Techniken betreffen gene-
rell Nebensätze, die ihrem jeweiligen Obersatz vorangestellt werden. Bei
der Voranstellung vor einen Hauptsatz (wie in den ersten vier Zeilen des
Beispiels) ist der Nebensatz im Mhd. nicht vorfeldfähig, sondern steht im
‚Außenfeld‘ des Hauptsatzes.13 Im Vorfeld des Hauptsatzes steht in sol-
chen Fällen eine nicht satzförmige Konstituente, meist – wie oben – ein
Korrelat, welches den Nebensatz anaphorisch im Hauptsatz vertritt.
Im Mhd. kann ein Nebensatz auch vor einem übergeordneten Nebensatz
stehen (s. die letzten zwei Zeilen des Beispiels).14 Es handelt sich hierbei
um eine wichtige und häufige Abweichung von der nhd. Gefügestruktur,
die auch bei höhergradigen Nebensätzen bzw. mehrteiligen Nebensatzge-
fügen auftritt:
(7) HS: ich °bat daz chlagehafte wip.
NS 2.Gr.: sit si mit ir ?gen °sach.
NS 3.Gr.: daz ich si manliche °rach.
NS 1.Gr.: Daz si dvrch wibes gMte. °senfte ir gemMte. […]
(Parz 527)

_____________
13 Es handelt sich um eine serielle Technik, weil das Außen-‚Feld‘ im Gegensatz zu Vor-,
Mittel- und Nachfeld nicht zur regulären Struktur des Hauptsatzes gehört; so können Au-
ßenfeldkonstituenten stets weggelassen werden, ohne dass der Hauptsatz ungrammatisch
wird. Zum Außenfeld im Nhd. vgl. Zifonun u.a. (1997, Bd. 2, 1577ff.); die Duden-
Grammatik (2005, 899f.) spricht von einem „Vorvorfeld“. Vgl. auch Mhd.Gr., §§ S 209.4
u. 224.2.
14 Da ich im Gegensatz zu manchen Grammatike(r)n (z.B. Duden-Grammatik (2005, 877))
davon ausgehe, dass Nebensätze kein Vorfeld haben, ist auch dieser Konstruktionstyp als
seriell einzustufen. Vgl. Mhd.Gr., § S 227.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 477

Neben den in derartigen Nebensatzpaaren häufig verwendeten Subjekt-


pronomina (s.o.) werden auch andere phorische Elemente eingesetzt, um
die Kohärenz des Gefüges zu sichern:
(8) HS: Wie °hete ich daz verdienet.
eHS: °sprach Gunther, der degen.
NS 2.Gr.: des min vater lange. mit eren °hat gepflegen.
NS 1.Gr.: daz wir daz °solden vliesen. von iemannes kraft.
(Nib 112)
Die auffälligste integrative Technik in Beispiel (6) ist sicherlich die wieder-
holte Einschaltung von Nebensätzen ersten und zweiten Grades in ihren
jeweiligen Obersatz (hierfür steht im Gefügediagramm die Sigle eNS).15
Die sieben Korpustexte enthalten insgesamt 270 eingeschaltete Nebensät-
ze, meist Attributsätze (48,2 %), seltener Adverbialsätze (30,8 %) und
deutlich seltener Ergänzungssätze (19,7 %). In den Verstexten ist Ein-
schaltung selten (nur je 18 Belege in Nib und Parz); deutlich am häufigsten
kommt sie vor in den frühen Prosatexten Spec und PrMi, die insgesamt fast
die Hälfte aller Belege stellen.16
Sehr fremd wirkt aus heutiger Sicht die Mehrfachbesetzung des
Außenfelds durch ungleichartige Konstituenten; es handelt sich jedoch
wohl um eine serielle Technik, die vom grammatischen System des Mhd.
abgedeckt wird:
(9) NS 1.Gr.: Do daz getân °wârt
T: alle
NS 1.Gr.: díe daz °gesâhen.
HS: die °Yrden alle gesvnt. (PrMi 32v)

_____________
15 Dabei erfolgt nur die erste Einschaltung (zweite Zeile des Beispiels) im Mittelfeld des
Obersatzes; in den übrigen Fällen werden die Nebensätze zwischen zwei Verbalphrasen ih-
res Obersatzes geschaltet, so dass der jeweilige Obersatzrest mit dem Konjunktor unde be-
ginnt. Zwischen diesen beiden den Obersatz unterschiedlich stark dissoziierenden Typen
der Einschaltung besteht wohl ein qualitativer Unterschied; vgl. unten Beispiel (12).
16 Es ist sicher noch zu früh, diesen Befund zu verallgemeinern, aber auch an anderem Mate-
rial gewonnene Befunde deuten darauf hin, dass die Häufigkeit der Einschaltung von Ne-
bensätzen im Mhd. diachron rückläufig ist, vgl. Mhd.Gr., § S 225.
478 Heinz-Peter Prell

Ein extremes Beispiel:


(10) NS 1.Gr.: Do vnser herre dív grozen zeíchen ín dírre wêrlte
°begîe.
NS 2.Gr.: als mân vns n§ ín dírre vâsten gelêsen °hât. ze
frônem âmpte.
NS 3.Gr.: wîe er eínen bêtterísen ges§nt °machte eí-
nes svnn)tâges.
eNS 4.Gr.: der ahzehen íar gelêgen °wâs.
eNS 5.Gr.: als mân ín °h§p v] °leîte.
NS-Rest: v] °híez ín sín bette §f hêven. v] heím
trâgen.
T: Dvrh17 den grôzen nít.
NS 1.Gr.: den díe ívden zím °hêten.
HS!: do °sprachen sîe.
eHSi: er °hête den svnn)tâk zeprôchen.
HS-Rest: v] °fl§chten ím dar §mbe.
NS 1.Gr.: dar vmbe sín gelôbet °solten haben. (PrMi 26v)
Eine serielle Konstruktion entsteht auch, wenn der Schreiber sich nach
einem komplexen Gefügeabschnitt zu einem verständnissichernden Neu-
ansatz entschließt; dabei entsteht ein wahrscheinlich intendierter Anako-
luth, der wiederum durch den Einsatz anaphorischer Konstituenten ge-
mildert wird:
(11) NS 1.Gr.: vnd °wer allez daz laup
eNS 2.Gr.: daz ie °gewuhse
NS-Rest: vnd allez daz gras vnd
NS 2.Gr.: daz ímmer mer °gewehst.
Neuansatz: °wern daz allez meister v@ paris
HS: sie °konden niht vol reden noch vol scriben die
barmhertzicheit
eNS 1.Gr.: die an got °ligt
HS-Rest: vnd sunderlich die barmhertzicheit
NS 1.Gr.: die er °hat an dez menschen tod. (GnaÜ 85)

_____________
17 Eine Majuskel innerhalb eines Ganzsatzes ist in PrMi selten, aber möglich. Vielleicht hat
der Schreiber hier aber auch die Übersicht über die Konstruktion verloren.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 479

Ein interessanter Beleg aus dem späten 12. Jh.:


(12) HS: do °hetin die iuden in (Jerusalem) wider got vil
harte getân. °hetin got [ir] herrin.
eNS 1.Gr.: der si ûz egyptelande °fůrte. unde in daz beste
lant
eNS 2.Gr.!: daz ûf der erde °ist
eNS-Rest: uergebin [‚unentgeltlich’] °gâb.
Neuansatz: den °hêtin si uerlazzin unde °bettin an ir abgot.
(Spec 34r)18
Ein anderer, gelegentlich zu Analyseproblemen führender Typ von seriel-
ler Konstruktion liegt vor, wenn gleichrangige (sowie meist gleichartige)
Nebensätze asyndetisch gereiht auftreten, also nicht – wie nach heutigem
Verständnis notwendig – durch einen Konjunktor verbunden sind. In
Beispiel (13) handelt es sich um zwei Ergänzungssätze, in (14) um zwei
Attributsätze:
(13) HS: Feirefiz bi Cvndien °enbot. sinem brNder §f
Mvnsalvæsce wider.
NS 1.Gr.: wi ez im °was ergangen sider.
NS 1.Gr.: daz Secvndille versceiden °was. (Parz 823)
(14) HS: Hîvte °ist ôvch der tak.
NS 1.Gr.: daz daz heîlíge cruce vf gerihtet °wârt.
NS 2.Gr.: da mít dîe s§ntare behâlten °sínt.
NS 2.Gr.: da mít ôvch der tîvfel vertriben °ist. v] ellîv
sín craft ím benomen °ist. (PrMi 31v)
Eine nhd. kaum noch zulässige Variante integrativer Konstruktion ist die
Satzverschränkung, bei der eine Konstituente des Untersatzes im Ober-
satz (meist im Vorfeld eines Hauptsatzes) erscheint, der auf diese Weise
gespaltene Untersatz also auf zwei Felder des Obersatzes verteilt wird. In

_____________
18 Mit der Einschaltung des ersten NS in das Mittelfeld des HS (s.o. Anm. 15) und der erneu-
ten Einschaltung des NS zweiten Grades liegt hier in einem Text des 12. Jhs. der erstaunli-
che Ansatz zu einem ‚klassischen‘ Schachtelsatz vor, und nach der heutigen Vorstellung
von syntaktischer Wohlgeformtheit müsste der HS-Rest (letzte Zeile) mit dem klammer-
schließenden uerlazzin beginnen. Eine solche konsequente Verschachtelung ist in einem
Text dieser Zeit jedoch wohl kaum erwartbar.
480 Heinz-Peter Prell

meinem Material kommt das insgesamt seltene Phänomen nur in der Pro-
sa (schwerpunktmäßig in den späten Texten) vor:19
(15) HS: Von sogetanime fiwere °schult ir bittin minin trehtin
NS 1.Gr.: daz er ivch °beware u] °beschirme. (Spec 82v)
(16) HS: waz °wiltv
NS 1.Gr.: daz ich dier °sage me. (SalH 151)
(17) HS: Dírre víncenti °sprechen eteliche
HSi: her °were bruder laurencij. (Hleb 102v)

3. Resümee
Obwohl das mhd. Satzgefüge eine Reihe von Strukturmerkmalen mit der
nhd. Hypotaxe gemein hat, folgt es teilweise auch seinen eigenen Regeln,
die – so meine Annahme – auf der Grundlage eines ausreichend großen
Textkorpus herausgearbeitet werden können. Serielle Techniken, bei de-
nen ein Nebensatz nicht innerhalb der regulären Felderstruktur seines
Obersatzes erscheint, werden im Mhd. in weit größerem Umfang genutzt
als heute; dabei entstehende ‚logisch‘-kommunikative Defizite werden
zumindest teilweise ausgeglichen durch den Einsatz phorischer Elemente
wie Korrelate und Pronomina. Gerade mit Blick auf die phorischen Ver-
knüpfungen kann man daher sagen, dass im mhd. Satzgefüge in mancher
Hinsicht noch textgrammatische Strukturprinzipien wirksam sind und das
Satzgefüge als autonome grammatische Einheit weniger profiliert ist als
heute. Neben den reihenden Verfahren stehen aber auch bereits integrati-
ve Techniken wie die Einschaltung von Nebensätzen in ihren Obersatz.
Bemerkenswert ist insbesondere der hohe Grad von Komplexität, den das
Satzgefüge schon in den frühen Prosatexten erreichen kann.

_____________
19 Zur Satzverschränkung vgl. Mhd.Gr., § S 228, dort auch Belege aus der Verssprache. Dass
hier entgegen der diachronen Tendenz eine integrative Technik später aufgegeben wurde,
liegt wohl an den strengen Anforderungen an die ‚Sprachrichtigkeit‘, die in der nhd. Stan-
dardsprache gelten. In anderen modernen germanischen Sprachen wie dem Norwegischen
sind Satzverschränkungen noch gang und gäbe.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge 481

Literatur

Duden. Die Grammatik (2005), 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., (Duden Bd. 4), Mann-
heim, Leipzig, Wien, Zürich.
Kern, Peter (1988), „Das Problem der Satzgrenze in mittelhochdeutschen Tex-
ten“, in: Volker Honemann / Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften
1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen, 342-351.
Mhd. Gr. = Paul, Hermann (2007), Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., neu
bearb. v. Thomas Klein / Hans-Joachim Solms / Klaus-Peter Wegera, mit
einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neu bearb. u. erw. v. Heinz-Peter Prell,
Tübingen.
Schulze, Ursula (1991), „Komplexe Sätze und Gliedsatztypen in der Urkunden-
sprache des 13. Jahrhunderts“, in: Mittelhochdeutsche Grammatik als Aufgabe,
(ZfdPh 110, Sonderheft, besorgt von Klaus-Peter Wegera), Berlin, 140-170.
Wegera, Klaus-Peter (2000), „Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen
Grammatik“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan
Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen
Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl., 2.
Teilbd., Berlin, New York, 1304-1320.
Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno u.a. (1997), Grammatik der
deutschen Sprache, 3 Bde., Berlin, New York.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik −
das Werkstück ‚Präposition‘

Sandra Waldenberger (Bochum)

1. Einleitung
Forschungskontext der Überlegungen und Ergebnisse, die in diesem Bei-
trag vorgestellt werden sollen, ist das DFG-geförderte Langzeitprojekt
Mittelhochdeutsche Grammatik, in dessen Verlauf eine neue, mehrbändige
wissenschaftliche Grammatik des Mittelhochdeutschen (1050-1350) ent-
steht (vgl. insbes. Wegera 2000; erster Teilband der neuen Grammatik:
Klein / Solms / Wegera 2009). Das Werkstück ‚Präposition‘ wurde als
Pilotstudie zur Syntaxphase des Gesamtprojekts Mhd. Grammatik im
Rahmen einer Dissertation (Waldenberger 2009) bearbeitet. Der vorlie-
gende Beitrag soll sowohl die Schwierigkeiten (Stichwort ‚Frust‘) als auch
die Vorteile (Stichwort ‚Lust‘) illustrieren, die korpusbasierte Syntaxarbeit
– insbesondere an historischen Sprachdaten – mit sich bringt. Mit dem
Attribut ‚korpusbasiert‘ wird dabei nicht nur die Wahl einer Material- oder
Belegbasis benannt, sondern gleichzeitig eine Herangehensweise oder
Perspektive bei der grammatikographischen Erarbeitung und Beschrei-
bung eines (historischen) Sprachstandes, wie sie im Forschungsprojekt
Mittelhochdeutsche Grammatik gewählt und praktiziert wird: Da bei der Er-
forschung historischer Sprachstufen nicht auf Sprecherkompetenz,
Grammatikalitätsurteile etc. zurückgegriffen werden kann, ist als einzig
mögliche Basis die (hier notwendigerweise schriftliche) Überlieferung des
zu untersuchenden Zeitraums heranzuziehen.1 In Form des Bochumer
Mittelhochdeutschkorpus, das 101 Texte des hochdeutschen Sprachraums
aus dem Überlieferungszeitraum 1050-1350 enthält, steht ein nach den
Kriterien Raum, Zeit und Text‚art‘ (Vers, Prosa, Urkunde) gegliedertes
_____________
1 Vgl. die grundlegenden Überlegungen zu Grammatiken historischer Sprachabschnitte in
Wegera (2003).
484 Sandra Waldenberger

Korpus zur Verfügung, das die Überlieferung des Mittelhochdeutschen


durch handschriftengetreu transkribierte und anschließend durch Annota-
tion erschlossene Texte erforschbar macht (zur Korpusgrundlegung s.
Wegera 2000). Bei der Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts Mittel-
hochdeutsche Grammatik wird also grundsätzlich auf eine Materialbasis zu-
rückgegriffen, die 1. durch Handschriftentreue den überlieferten Sprach-
stand des Mittelhochdeutschen widerspiegelt, 2. durch ihre Struktur
sprach- und zeiträumliche sowie text‚art‘-spezifische Ausdifferenzierungen
zulässt, wie es bei der Erforschung einer nicht-standardisierten und damit
varietätenreichen Sprach(stuf)e unerlässlich erscheint, und die zudem 3.
einen abgesteckten Untersuchungszeit- und Sprachraum in Gänze ab-
deckt, d.h. auch 4. aufgrund der gesetzten Begrenzung quantitative Aussa-
gen bezüglich bspw. der Ausnutzung der zu beobachtenden sprachlichen
Strukturen innerhalb des Korpus erlaubt. Die Perspektive, die bei der
Erarbeitung der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik gewählt wurde, ist
folgerichtig deskriptiv ‚aus dem Material heraus‘: Der Sprachstand soll
möglichst adäquat so beschrieben werden, wie er im untersuchten Material
entgegen tritt. Dieser Anspruch galt demnach auch für die Bearbeitung
des Themenfeldes ‚Präposition‘. Aus den Ergebnissen zu diesem For-
schungsfeld wurden für diesen Beitrag drei Aspekte ausgewählt, die dazu
dienen können, dies zu illustrieren. Den ausgewählten Aspekten vorange-
stellt noch einige Präliminarien 1. zum Untersuchungsgegenstand und 2.
zu Problemen der Materialgrundlage.
1. Ein Leitmotiv, das im Verlauf der Bearbeitung des Themenfeldes
Präpositionen und Präpositionalphrasen im Mittelhochdeutschen wieder-
holt eine Rolle spielen sollte, ist das Moment der ‚Grenzüberschreitung‘:
Die Wortart ‚Präposition‘ und die syntaktischen Konstellationen, an denen
Präpositionen beteiligt sind, machen es als Untersuchungsgegenstand
nötig, Grenzziehungen der linguistischen Beschreibungsebenen bewusst
zu missachten bzw. zu überschreiten, um dem Anspruch einer adäquaten
Beschreibung des Gegenstandes ‚Präposition‘ gerecht zu werden. Insbe-
sondere fällt eine strenge Grenzziehung zwischen syntaktischen und lexi-
kalischen Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes schwer, da Prä-
positionen als ‚Funktionswörtern‘ oder auch ‚Fügewörtern‘2 die genuine
Eigenschaft zukommt, in aller Regel im Satz nur im Verbund mit anderen
Elementen – im hier untersuchten Phänomenbereich im Verbund mit
Phrasen als Präpositionalphrasen3 – aufzutreten, also i.d.R. immer an der
Bildung von Syntagmen beteiligt zu sein. Eine Untersuchung der semanti-
_____________
2 So die Terminologie etwa bei Helbig / Buscha (2001).
3 Im Rahmen der Erarbeitung der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik wurden Partikelverben
dem Bereich ‚Wortbildung‘ zugeschlagen und dort bearbeitet, vgl. Klein / Solms / Wegera
(2009).
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 485

schen Leistung von Präpositionen ist damit zum einen streng genommen
nur auf Ebene des Satzes (nicht auf der Ebene des einzelnen Lexems)
möglich, zum anderen – aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet
– aufs Engste mit der spezifischen Art der ‚Fügung‘, der spezifischen
Funktion der Präposition im betrachteten Syntagma verknüpft. Mit diesen
Vorbemerkungen sei vorab erklärt, warum nicht alle der im Folgenden
dargestellten Aspekte dem Kernbereich der Syntaxforschung angehören.
2. Eine Frage, die im Rahmen korpusbasierter Forschung auf allen
sprachlichen Ebenen zu stellen ist und für die linguistischen Teilbereiche
z.T. unterschiedlich beantwortet werden muss, betrifft die Dimensionie-
rung der Materialbasis (vgl. Klein 2007). Der Zuschnitt der Materialbasis
für ein Forschungs(teil)unternehmen bewegt sich dabei zwangsläufig in
einem Spannungsfeld zwischen dem Wünschenswerten und dem Machba-
ren. Eine ab dem 13. Jh. für das Deutsche kaum mehr zu realisierende
gesamthafte Abdeckung der Überlieferung als Korpusumfang stellt dabei
den (unerreichbaren) Extrempol des Wünschenswerten dar. Dem gegen-
über steht das Minimalziel eines Korpusumfangs, der eine für die anste-
hende Forschungsaufgabe hinreichende Materialmenge liefert; a priori
kann die Frage nach einem hinreichenden Korpusumfang aber kaum be-
antwortet werden, da erst Erfahrungswerte zu Korpusumfängen / Beleg-
zahlenrelationen die Frage überhaupt zu klären vermögen, welcher Kor-
pusumfang / welche Belegmenge als hinreichend gelten kann. So schluss-
folgert Klein (2007, 17): „Um ein Korpus angemessen zu dimensionieren,
muss man bereits über ein vergleichbares Korpus verfügen [...]“. Auf der
Ebene des zugrunde liegenden Textkorpus konnte bei der Bearbeitung des
Werkstücks ‚Präposition‘ mit dem Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
auf ein Korpus zurückgegriffen werden, dessen Dimensionierung auf
Erfahrungswerten (Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) aufbaut, und das
für grammatikographische Fragestellungen auf den unterschiedlichen
sprachlichen Ebenen verlässlich hinreichende Belegmengen liefert – so
auch für den Phänomenbereich ‚Präposition‘. Für die Forschungsaufgaben
dieses Bereichs – Analysen auf der Wort-, Phrasen- und Satzebene – stell-
te sich aber wiederum die forschungspragmatische Frage nach der Hand-
habbarkeit der Belegmengen, die das Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
für die drei Analyseschritte liefert: So enthält das Gesamtkorpus (101 Tex-
te) ca. 75.000 tokens der Wortart ‚Präposition‘. Eine Analyse der gesamten
Belegung von Präpositionen und Präpositionalphrasen im Bochumer Mit-
telhochdeutschkorpus hätte also die Analyse von 75.000 Präpositionen,
damit 75.000 Präpositionalphrasen und 75.000 Sätzen bedeutet. Um eine
im Rahmen eines Dissertationsvorhabens bearbeitbare Materialmenge für
die einzelnen Analyseschritte zu gewinnen, wurde für das Werkstück ‚Prä-
position‘ das Prinzip des dynamischen Korpus, das dem Bochumer Mit-
486 Sandra Waldenberger

telhochdeutschkorpus eigen ist, für alle Analyseschritte genutzt: Als Text-


korpusgrundlage wurde zunächst für das offenbar hoch frequente Phä-
nomen ‚Präposition‘ das so genannte Kernkorpus gewählt, das die Struk-
turmerkmale des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus ausnahmslos
widerspiegelt, sich vom Gesamtkorpus aber darin unterscheidet, dass jedes
Rasterfeld des Korpus (Zeit / Raum / Text‚art‘) mit jeweils einem statt
wenn möglich mit zwei Texten besetzt ist. Eine diachrone, diatopische
und diatextuelle Streuung der Korpustexte ist damit gegeben. Das Kern-
korpus enthält ca. 48.000 tokens von Präpositionen, die als Ausgangsmen-
ge für die Untersuchungen des Phänomenbereichs dienten. Auf der Wort-
ebene wurde diese Belegmenge im Ganzen ausgewertet, auf der Phrasen-
und der Satzebene waren weitere Materialzuschnitte nötig: Als Basis für
die Phrasenanalyse (PPn-Korpus) wurde ein Ausschnitt von je 50 PPn pro
Text des Kernkorpus (d.h. ca. 3.500 PPn) gewählt; mit diesem Zuschnitt
ist gewährleistet, dass alle Texte4 mit der gleichen Anzahl von PPn im
PPn-Korpus vertreten sind und damit quantitative Verzerrungen durch
unterschiedliche Belegzahlen pro Text weitestgehend ausgeschlossen sind.
Für die semantisch-funktionale Analyse der PPn im Satz wurde wiederum
das Material des Kernkorpus gewählt, wodurch jedoch lediglich fallstu-
dienartig einzelne Präpositionen, nicht etwa das gesamte semantisch-
funktionale Spektrum aller Präpositionen, untersucht werden konnten. Mit
den in Waldenberger (2009) und in diesem Beitrag in Ausschnitten vorge-
stellten Ergebnissen werden demnach gleichzeitig Lösungsmöglichkeiten
für das Problem der Dimensionierung von Teilkorpora für den Phäno-
menbereich ‚Präposition‘ vor- und zur Diskussion gestellt.

2. Lexembestand und Belegfrequenzen


Die Arbeit mit einem begrenzten, strukturierten Korpus eröffnet grund-
sätzlich zunächst die Möglichkeit, frequentielle bzw. distributionelle Aus-
sagen für das Korpusmaterial zu treffen. Damit kann zum einen statt einer
ungewichteten Auflistung des Lexembestands der Wortart ‚Präposition‘
eine nach Frequenz und damit Ausnutzung differenzierte Darstellung
erfolgen, zum anderen sind – unter Berücksichtigung der Unterschiedlich-
keiten der verschiedenen Materialbasen – Vergleiche mit anderen korpus-
basierten Studien möglich. Zur Illustration sei eine Gegenüberstellung der
hoch frequenten Lexeme in der hier vorgestellten Untersuchung und im
Material von Wich-Reif (2008) angeboten (vgl. Tabelle 1), die deutlich
_____________
4 Mit Ausnahme des sehr kurzen Korpustextes Merigarto (Karlsruhe, Landesbibl., Cod.
Donaueschingen A III 57), der lediglich 38 Präpositionen enthält.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 487

macht, dass der Kernbestand der hoch frequenten Präpositionen sowohl


im Mhd. als auch in diachroner Betrachtung einer Texttradition vom 9. bis
zum 21. Jh. eine erstaunliche Konstanz aufweist.

Frequenzverhältnisse im Frequenzverhältnisse in der Be-


untersuchten mhd. Material nediktinerregel-Tradition
Wich-Reif (2008)
Präp. Belege % (ge- Präp. Bele- %
rundet) ge
1. in 7652 16,4 % 1. in 6153 16,75 %
2. ze 7343 15,7 % 2. von 6021 16,39 %
3. von 7011 15 % 3. zu 5003 13,62 %
4. mit 6953 14,9 % 4. mit 4769 12,98 %
5. an 4849 10,4 % 5. an 2696 7,34 %
6. uf 1907 4,1 % 6. nach 1936 5,27 %
7. nach 1491 3,2 % 7. auf 1311 3,57 %
8. durch 1463 3,1 % 8. durch 1283 3,49 %
9. ane 1106 2,4 % 9. aus 982 2,67 %
10. vor 1014 2,2 % 10. vor 943 2,57 %
Tabelle 1: Gegenüberstellung der Frequenzverhältnisse im untersuchten mhd. Material
und im diachronen Material in Wich-Reif (2008)

Mit der Ermittlung von Belegfrequenzen von Präpositionen ist aber – wie
oben angedeutet – mehr ausgesagt als eine Häufigkeitsangabe für eine
Lexemklasse. Gleichzeitig zeigt sich damit, wie häufig ein bestimmter
Konstruktionstyp – PP mit einer bestimmten Präposition als Kopf – ge-
nutzt wird, d.h. die Frequenzangabe geht über eine bloß lexemorientierte
type-token-Relation hinaus. Aus syntaktischer Perspektive rücken im Um-
kehrschluss selten oder gar nur einmal belegte Präpositionen wie mhd.
niderhalp, sider oder vermittels in den Hintergrund.
Struktur und Annotation des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus
erlauben des Weiteren eine Einschätzung des Rektionsverhaltens der Prä-
positionen im Mhd. Eine Auswertung des Rektionsverhaltens der für das
Mhd. als ‚primär‘5 zu wertenden Präpositionen (ab, after, an, ane, bi, binnen,
biz, boven, durch, e, fur, gegen, hinder, in, mit ~ bit, nach ~ na, neben(t), ob, _ament,
_____________
5 Der Begriff ‚primär‘ bezieht sich nicht auf die Etymologie der Präpositionen, sondern
bezeichnet die Gruppe von Präpositionen, die mhd.-synchron nicht (oder nicht mehr) her-
leitbar sind.
488 Sandra Waldenberger

_it, _under, uber ~ over, uf, umbe, under, unz, uz, von ~ van, vor, wider, ze, zwischen
~ tuschen) zeigt ein hohes Maß an Konstanz und weist den Dativ als proto-
typischerweise durch Präpositionen regierten Kasus aus:
mit Dat.rektion: 36.259 PPn (~ 78 %); 13 Präp. zeigen ausschließ-
lich Dat.rektion
mit Akk.rektion: 10.217 PPn. (~ 22 %); 5 Präp. zeigen ausschließlich
Akk.rektion
mit Gen.rektion: 70 PPn (~ 0,2 %); keine Präp. zeigt ausschließ-
lich Gen.rektion

Sprachraum
obd. md.
Zeit- wmd. hess.-thür.
raum bair. bair.- alem. ofrk. mfrk. rhfrk.- omd.
alem. hess.
211 / 112 uber ~ ubir — —
212 ubir ~ ub’
uber ~ ub’ (TrPs) ~
uber ~ vbir ~ — uber ~ ubir [...]
ubir [...] ouer (RBib)
vb’ [...]
113 uber ~ ubir ~
ubir — Guer ~ Nver [...] ubir ~ Gbir [...]
vber vbir [...]
Parz, Iw, Tris, Nib vber ~ vb’ [...]
213 vber ~ vbir
vber ~ vb’ uuer ~ vber ~ vbir ~
vber ~ vb’ ~ Pber —
[...] Guer [...] ober [...] ubir [...]
[...]
114 uber ~ ub’
Nuer ~ vbir ~
vber ~ vb’ vber ~ vb’ Pber ~ ub’ ~ Mber ~ ubir ~ ub’
oGer ~ ou’ vber ~
~ Mber ~ Mber [...] Mb’ ~ vber ~ vb’ [...]
[...] ober [...]
~ vb’

Tabelle 2: Sprach- und zeiträumliche Verteilung der Varianten der Präposition über

Wird der Lexembestand nach den Strukturmerkmalen des Korpus, insbes.


Zeit und Raum, differenziert betrachtet, so ist bei einigen Präpositionen
eine diachrone Entwicklung innerhalb des untersuchten Zeitraums zu
beobachten und / oder es scheint ein nach Sprachräumen zu differenzie-
render Lexembestand auf. Insbesondere das Mittelfränkische zeigt sowohl
eigene Varianten von Präpositionen (na statt nach, van statt von, over statt
über) als auch – insbesondere im Bereich der seltener belegten Präpositio-
nen – einen eigenen Bestand (z.B. boven oder binnen, das später aus dem
Westmitteldeutschen ins übrige hochdeutsche Sprachgebiet übernommen
wird). Als ‚Nebenprodukt‘ der Analyse des Lexembestandes kann ein
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 489

differenziertes Bild der in den Korpustexten belegten Varianz der einzel-


nen Präpositionen gezeichnet werden (vgl. Tabelle 2).

3. Ausnutzung der strukturellen Möglichkeiten


auf Ebene der Phrase
Beschreibungen der Struktur von Präpositionalphrasen sind generell mit
dem Problem behaftet, dass eine eigenständige Strukturbeschreibung für
diesen Phrasentyp nicht möglich ist, da eine PP aus einer Präposition als
Kopf und einer weiteren Phrase (Nominalphrase, Pronominalphrase, Ad-
verbphrase) besteht. Diesem Problem begegnen Darstellungen zur Struk-
tur der PP häufig damit, dass neben den Grundtypen (Präp + NP,
+ ProP, + AdvP) das Augenmerk insbesondere auf die potentielle Kom-
plexität (v.a. Ausbau- und Erweiterungsmöglichkeiten am linken und rech-
ten Phrasenrand) gelegt wird.6 Die Struktur der PP als eigenständiger Ge-
genstand erhält in diesen Darstellungen also dadurch seine Berechtigung,
dass die PP potentiell als komplexer und damit ‚interessanter‘ erscheint als
auf den ersten Blick erkennbar.7 Eine Perspektivenveränderung ergibt sich
dem gegenüber, wenn – wie im Rahmen der hier vorgestellten Arbeit er-
folgt – eine strukturierte, begrenzte Materialmenge von PPn im Ganzen
nach den in ihr zu beobachtenden strukturellen Ausprägungen untersucht
wird. Statt einem Bild der strukturellen Möglichkeiten ergibt sich ein Bild
der tatsächlichen Ausnutzung der Strukturmöglichkeiten. Komplexe
Strukturen sowie Erweiterungen links der Präposition sind im untersuch-
ten Material zwar durchaus zu beobachten, bilden aber angesichts ihrer
sehr geringen Belegung die Peripherie der PP-Strukturmöglichkeiten. ‚Pro-
totypische‘ PPn (nach Auskunft des untersuchten Materials) bestehen aus
wenigen Elementen und weisen eine einfache Struktur auf. Die häufigsten
Phrasentypen im untersuchten Material sind:

_____________
6 Vgl. u.a. Fries (1988, 91ff.), Wunderlich (1984), Zifonun u.a. (1997, 2089ff.).
7 So u.a. die Argumentation von Jackendoff (1973, 345): „prepositional phrases are by no
means as trivial as generally supposed“.
490 Sandra Waldenberger

[präp [det + nom]NP]PP (3 Elemente) 33,4 %


[präp [nom]NP]PP (2 Elemente) 24,4 %
[präp [pron]ProP]PP (3 Elemente) 12,1 %
[präp [det + adj + nom]NP]PP (4 Elemente) 6,9 %
[präp [adj + nom]NP]PP (3 Elemente) 5,6 %8

Durch diese vier Strukturtypen werden 82,4 % der untersuchten PPn ab-
gedeckt.
Auf eine mögliche Spezifik im Hinblick auf die Korpusstrukturmerk-
male Zeit, Raum und Text‚art‘ hin untersucht, zeigt sich, dass diachron
und diatopisch keine nennenswerten Unterschiede zu beobachten sind; in
der Überlieferungsform ‚Vers‘ sind jedoch gegenüber Prosatexten (ein-
schließlich Urkunden) wesentlich seltener komplexe Phrasen anzutreffen
(vgl. Tabelle 3). Die Gründe hierfür sind in den Gegebenheiten der Vers-
form zu suchen: Über das Reimwort am Versende hinaus werden selten
Phrasengrenzen überschritten, so dass der Vers i.d.R. die mögliche Phra-
senlänge restringiert.

Umfang der Vers Prosa Urkunde


Phrase (1605 Belege) (1515 Belege) (348 Belege)
(Wortfor-
men) absolut % absolut % absolut %

2 669 42 % 495 33 % 116 33 %


3 668 42 % 681 45 % 118 34 %
4 202 13 % 182 12 % 53 15 %
5 36 2% 67 5% 20 6%
6 14 <1 % 21 1% 17 5%
7 – 10 11 <1 % 49 3% 20 6%
> 10 5 <0,3 % 18 1% 4 1%

Tabelle 3: Verteilung der Belegung des untersuchten PPn-Materials nach dem Merkmal,
Umfang der Phrase (in Wortformen) auf die Text‚arten‘‘

Eine Fragestellung, die sich der Untersuchung der strukturellen Ausprä-


gungen der PP unmittelbar anschließen müsste, im Rahmen der hier be-
_____________
8 präp: Präposition; det: Determinativ; nom: Nomen; pron: Pronomen; adj: Adjektiv.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 491

schriebenen Studie jedoch nicht beantwortet werden konnte, bestünde im


Vergleich der PP- und NP- (bzw. ProP-)Strukturen: Zeigen sich in der
Auslastung der Strukturmöglichkeiten Gemeinsamkeiten oder Unterschie-
de zwischen ‚einfachen‘ NPn und ProPn und solchen, die Teil einer PP
sind? Wenn Unterschiede zu beobachten sind: Worin könnten diese be-
gründet sein? Auf eine solche Anschlussuntersuchung kann an dieser Stel-
le nur als wünschenswerte Weiterführung verwiesen werden.

4. Präpositionalphrasen als Teil des mhd. Satzes


Bei der Beschreibung der Funktion von PPn im Satz – wie oben erwähnt
erfolgte die Analyse fallstudienartig für einzelne Präpositionen – ist eine
ausgeprägte Heterogenität der Verwendungsweisen zu bewältigen. Die
Beschreibungsform, die für die vorliegende Studie gewählt wurde, ist in
der Auseinandersetzung mit der Beleglage zu den untersuchten Präpositi-
onen einerseits und der Forschungsliteratur andererseits entstanden – mit
dem Ziel, das jeweilige Verwendungsspektrum der untersuchten Präposi-
tionen möglichst adäquat zu beschreiben. Die Analyse verknüpft eine
syntaktisch-funktionale Perspektive mit einer semantischen Perspektive:
Bei der Bestimmung der syntaktischen Funktion einer PPn sind gleichzei-
tig die Elemente im Satz ermittelt, die durch die Präposition als ‚Fügewort‘
zueinander in Relation gestellt werden; die aktuelle Semantik der Präposi-
tion besteht in der spezifischen Art der Relation, die zwischen den ver-
bundenen Größen (hier: Ziel- und Bezugsgröße)9 zum Ausdruck gebracht
wird. Die Bezugsgröße wird immer durch die eingebettete Phrase (NP
oder ProP) denotiert, die Zielgröße (in den folgenden Beispielen unterstri-
chen) ist je nach syntaktischer Konstellation in unterschiedlichen Positio-
nen im Satz zu suchen:
• Steht die PP in prädikativer Funktion, ist die Zielgröße der präposi-
tionalen Relation das Subjekt des Satzes, z.B. „die viande waren hind’
ire rugge“ (PrZü 113ra, 16).
• In attributiver Funktion ist die Zielgröße in der übergeordneten
Phrase zu suchen, z.B. „Ein vuizzer prunno pi rome. _pringit vili _cone“
(Meri 2r, 20f.).
• Ist die PP ein freies Adverbial, wird die Relation auf die im Satz be-
schriebene Handlung / das Geschehen angewendet, z.B. „daz ich

_____________
9 Die Begriffe ‚Ziel‘- und ‚Bezugsgröße‘ sind an Grabowski (1998; ‚Ziel‘- und ‚Bezugsobjekt‘)
angelehnt.
492 Sandra Waldenberger

mine _unden. mGze geweinen. bit inneclichen trenen.“ (ArnM 133r,


1ff.).
• In Verbindung mit einem Lokalisierungsverb (z.B. stān, sitzen, ligen)
oder einem Bewegungsverb (z.B. gān, loufen, rīten) ist die Zielgröße
wiederum mit dem Subjekt des Satzes benannt, z.B. „Do der kúning
ge_áz ûffe _înemo _tûole.“ (Will 5v, 32f.).
• Bei Verben, die die Verursachung einer Bewegung oder Lokalisie-
rung bezeichnen (‚kausative‘ Lokalisierungs- oder Bewegungsver-
ben), ist die Zielgröße der Relation durch das Akk.-Objekt des Sat-
zes denotiert, z.B. „gulter v] lilachen. purper v] bliat. kunchliche betwat.
wart vber daz bete geleit.“ (Tris 94vb, 22ff.)
Von diesen Konstellationstypen sind – in terminologischer Anlehnung an
Hertel (1983) – so genannte ‚fixierte Fügungen‘ zu unterscheiden:
• Als ‚grammatisch fixierte Fügungen‘ werden Verbindungen aus
Verb + Präposition wie rihten, urteilen, klagen, sprechen, wachen, sich
erbarmen über jmdn. gewertet. Verb + Präposition gemeinsam benen-
nen eine spezifische Art der Relation zwischen Ziel- und Bezugs-
größe, wobei die Zielgröße durch das Subjekt (oder das Akk.-
Objekt) des Satzes denotiert wird, z.B. „Mber die _ele des armen
MFzze _ich got erbarmen“ (Renn 74rb, 5f.).10
• Präpositionen kommen auch als Teil von lexikalisch fixierten Fü-
gungen vor. Hier haben sie ihre Funktion als ‚Relator‘ weitgehend
eingebüßt, die fixierte Fügung als Ganzes hat eine eigene lexikali-
sche Bedeutung angenommen; Bsp. zu under: under wegen ('unter-
wegs'), under handen ('in Verfügungsgewalt'), under stunden ('von Zeit
zu Zeit').
Darüber hinaus sind Präpositionen in quantitativ z.T. nicht unerheblichem
Maße an der Bildung von komplexen Prädikaten aus NP / PP + Verb
beteiligt.11 Die komplexen Prädikate schließen dabei i.d.R. an Verwen-
dungsweisen an, die auch mit ‚einfachem‘ Prädikat belegt sind, z.B. urteil
geben über jmdn. statt urteilen über jmdn. in „die vrteil gib ich _prach got vber alle die
rihtær di niht rihtent.“ (BKön 5rb, 28).
Nach der Analyse des gesamten Belegmaterials zur Präposition über
verteilen sich die 701 analysierbaren Belege wie folgt auf die genannten
Typen:
_____________
10 Der Begriff ‚Präpositionalobjekt‘ soll hier für die historische Sprachstufe vermieden wer-
den; zur genaueren Begründung vgl. Waldenberger (2009).
11 Zur Frage, ob es sich bei diesen komplexen Prädikaten immer um Funktionsverbgefüge
handelt, vgl. Waldenberger (2009).
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 493

Verwendung Belege
prädikative Verwendung 89
attributive Verwendung 13
Verwendung als freies Adverbial 87
in Verbindung mit Lokalisierungs- und Bewegungsverben 178
(55 / 123)
in Verbindung mit kausativen Lokalisierungs- und Bewegungsver- 35
ben (13 / 22)
fixierte Fügungen Präp. + Verb 158
lexikalisch fixierte Fügungen 29
in Verbindung mit komplexen Prädikaten 100
Sonderfälle (u.a.): statt Akk.-Objekt 12

Tabelle 4: Verteilung der Belege zu über auf Funktionstypen

5. Schlussbemerkung

Es wird – ohne dass an dieser Stelle noch beispielhaft die semantische


Ausdifferenzierung einer Präposition dargestellt worden wäre – deutlich,
dass die Analyse des gesamten Verwendungsspektrums einer Präposition
in einem (historischen) Korpus ein sehr heterogenes Bild ergibt. Ein
Schwerpunkt der Verwendung liegt dabei im Ausdruck komplexer Rela-
tionen – in Verbindung mit Lokalisierungs- oder Bewegungsverben, in
grammatisch fixierten Fügungen oder im Zusammenhang komplexer Prä-
dikate aus NP / PP und Verb.
Mit der hier in groben Zügen dargestellten Deskription eines ‚realen‘
Korpusbefundes sollte eine Beitrag zu der Diskussion geleistet werden,
wie korpusbasierte (historische) Syntax(be)schreibung – hier von Präposi-
tionen und Präpositionalphrasen – aussehen kann, welche Vorteile sich
durch einen Perspektivwechsel hin zur Korpusbasiertheit ergeben, aber
auch welcher Grad an Heterogenität in einem Korpusbefund bewältigt
werden muss.
494 Sandra Waldenberger

Quellen

ArnM = Arnsteiner Mariengebet. Wiesbaden, HStA, Hs. Abt. 3004, C 8, fol. 129v-135v.
BKön = Buch der Könige. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 739.
Meri = Merigarto. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen A III 57.
PrZü = Züricher Predigten. Zürich, Zentralbibl., Cod. C 58 (olim Nr. 275), fol. 105va,
3-114va, 23; 182rb, 34-183va, 14.
Renn = Hugo von Trimberg, Der Renner. Erlangen, Universitätsbibl., Ms B 4 (olim Cod.
Erl. 1460)
Tris = Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde (M). München, Bayr. Staatsbibl., Cgm 51.
Will = Williram von Ebersberg, Hohelied. Breslau, Universitätsbibl., cod. R 347.

Literatur

Fries, Norbert (1988), Präpositionen und Präpositionalphrasen im Deutschen und Neugriechi-


schen. Aspekte einer kontrastiven Analyse Deutsch – Neugriechisch, Tübingen.
Grabowski, Joachim (1998), „Ein psychologisch-anthropomorphologisches Modell
der einheitlichen semantischen Beschreibung dimensionaler Präpositionen“, in:
Petra Ludewig / Bart Geurts (Hrsg.), Lexikalische Semantik aus kognitiver Sicht. Per-
spektiven im Spannungsfeld linguistischer und psychologischer Modellierung, Tübingen,
11-40.
Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (2001), Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den
Ausländerunterricht, Berlin u.a.
Hertel, Volker (1983), Präpositionen in fixierten Fügungen, in: Beiträge zur Erforschung
der deutschen Sprache 3 / 1983, 58-76.
Jackendoff, Ray S. (2007), „The base rules for prepositional phrases“, in: Stephen R.
Anderson / Paul Kiparsky (Hrsg.), A Festschrift for Morris Halle, New York u.a.
1973, 345-356.
Klein, Thomas (2007), „Zur Dimensionierung historischer Textkorpora“, in: Sprache
und Datenverarbeitung, 31 / 2007, 1-2, 15-22.
Klein, Thomas / Solms, Hans-Joachim / Wegera, Klaus-Peter (2009), Mittelhochdeutsche
Grammatik. Teil III: Wortbildung, bearb. v. Birgit Herbers / Thomas Klein / Aletta
Leipold / Eckhard Meineke / Simone Schultz-Balluff / Heinz Sieburg / Hans-
Joachim Solms / Sandra Waldenberger / Klaus-Peter Wegera, Tübingen.
Waldenberger, Sandra (2009), Präpositionen und Präpositionalphrasen im Mittelhochdeutschen,
Tübingen.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit 495

Wegera, Klaus-Peter (2000), „Grundlagenprobleme einer neuen mittelhochdeutschen


Grammatik“, in: Besch, Werner u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Ge-
schichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl.,
2. Teilbd., Berlin, New York, 1304-1320.
Wegera, Klaus-Peter (2003), „Grammatiken zu Sprachabschnitten. Zu ihren Grundla-
gen und Prinzipien zwischen Konstruktion und Wirklichkeit“, in: Anja Loben-
stein-Reichmann / Oskar Reichmann (Hrsg.), Neue historische Grammatiken. Zum
Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Spra-
chen, Berlin, New York, 231-240.
Wich-Reif, Claudia (2008), Präpositionen und ihre Geschichte. Untersuchung deutschsprachiger
„Benediktinerregel“-Traditionen vom Anfang des 9. Jahrhunderts bis zum 21. Jahrhundert,
Berlin.
Wunderlich, Dieter (1984), „Zur Syntax der Präpositionalphrase im Deutschen“, in:
Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 3 / 1984, 65-99.
Zifonun, Gisela u.a. (1997), Grammatik der deutschen Sprache, 3 Bde., Berlin, New York.
Nebensatztypen in der Urkundensprache
des 13. Jahrhunderts
Zur syntaktischen und semantischen Wertigkeit
mittelhochdeutscher Subjunktionen

Ursula Schulze (Berlin)

1. Einleitung
Das Mittelhochdeutsche gilt in verschiedener Hinsicht „als eine Epoche
des Suchens und Versuchens“. 1 Die Betonung dieses Übergangscharak-
ters ist keine Banalität, die sich lediglich auf die mittlere Position im
sprachgeschichtlichen Ablauf allgemein bezieht, sondern das Urteil grün-
det sich auf bestimmte Befunde. Es gibt z.B. einen Variantenreichtum in
verschiedenen Bereichen der Sprache und daneben Tendenzen zum Ab-
bau der Varianten, zur Ausbildung bestimmter Strukturmuster und zu
semantischer Differenzierung.
Im Folgenden möchte ich das an einem Teilbereich der mittelhoch-
deutschen Syntax, speziell an der Hypotaxe, genauer ausführen. Typologi-
sierungen von Nebensätzen (bzw. Elementarsätzen) können aufgrund der
Satzstruktur (speziell der Verbstellung) erfolgen, aufgrund der Position im
Gefügekomplex und aufgrund der Subjunktionen mit ihren formalen und
inhaltlichen (syntaktischen und semantischen) Funktionen, sodass Struk-
turtypen, Stellungstypen und Bedeutungstypen zu betrachten sind. Von
diesen Möglichkeiten wende ich mich der letzten Gruppe zu und stütze
meine Beobachtungen auf Urkundentexte des 13. Jahrhunderts. 2

_____________
1 Wolf (2000, 1351ff., spez. 1354).
2 Meine Quellengrundlage ist Wilhelm / Newald / de Boor / Haacke / Kirschstein (Hrsg.)
(1986 / 2004). Zitiert als Corp. mit Angabe der Nr. der Urkunde.
498 Ursula Schulze

2. Die Problematik
einer semantischen Differenzierung
In der Syntax-Darstellung der von Hermann Paul begründeten Mittel-
hochdeutschen Grammatik haben die verschiedenen Bearbeiter (Ingeborg
Schröbler, Siegfried Grosse und Heinz-Peter Prell)3 darauf aufmerksam
gemacht, dass das Sinnverhältnis miteinander verbundener Sätze durch
einen sprachlichen Ausdruck kaum eindeutig indiziert wird, da die Sub-
junktionen mehrdeutig sind.4 Für die Schwierigkeit, auf die hingewiesen
wird, ist es symptomatisch, dass Prell als eindeutige Subjunktion neu-
hochdeutsch weil und obgleich, aber keine semantisch genau fixierten mit-
telhochdeutschen Subjunktionen nennt.5
Obwohl die Problematik als solche angesprochen wird, haben die Be-
arbeiter die Darstellung der Konjunktionalsätze6 oder Subjunktionalsätze7
„nach dem Inhalt“, nicht „nach der Form“ dieser Sätze vorgenommen.8
Es werden sieben Inhaltstypen von „Adverbialsätzen“ unterschieden:
temporale (§ 173), konditionale (§ 174), konzessive (§ 175), kausale (§
176), finale (§ 177), modal-konsekutive (§ 178) und modale (§ 179) Sätze,
unter denen verschiedene mögliche Einleitungselemente (Subjunktionen,
Adverbien, adverbiale Ausdrücke) aufgelistet sind. Ich habe die klassifi-
zierten Satztypen und die möglichen Einleitungen in einer Tabelle zu-
sammengestellt (vgl. Tabelle 1).
Auffällig ist – abgesehen von der unterschiedlichen Konstitution der
Satzeinleitungen –, dass einige von ihnen in mehreren Bedeutungsrubriken
auftauchen, d.h. sie werden für verschiedene Inhaltsrelationen in An-
spruch genommen. Zur Verdeutlichung habe ich diese Subjunktionsele-
mente in einer weiteren Tabelle parallelisiert (vgl. Tabelle 2). Es handelt
sich um und, daz, sô, alsô / alse / als, ob, swie, sît daz, die wîle (daz), nû (daz).

_____________
3 Vgl. Paul (2007).
4 Vgl. Schröbler (1969, 420f., § 350); Grosse (1989, 421f., § 458); Prell (2007, 398f., § S 155).
Zu dem Problem der polysemen mittelhochdeutschen Subjunktionen s.a. Prell (2001, 43)
u.ö. Admoni (1990, 123) konstatiert für das Mittelhochdeutsche: „Es fehlt ein semantisch
streng differenziertes System von unterordnenden Konjunktionen. Dies führt zu einer Un-
genauigkeit des unmittelbaren sprachlichen Ausdrucks.“ Trotz dieser Feststellungen postu-
liert er ein differenziertes Verständnis der syntaktischen Relationen.
5 Vgl. Prell (2007, 398, § S 155).
6 Vgl. Grosse (1989, 407, § 444).
7 Vgl. Prell (2007, 399, § S 156).
8 Vgl. ebd., 414-428, § S 173-179.
Einleitung von Adverbialsätzen

Temporale Konditionale Konzessive Kausale Sätze Finale Sätze Modal- Modale Sätze
Sätze Sätze Sätze konsekuti-
ve Sätze
dô ob doch sît (daz) durch daz, ûf daz daz so
swanne, swenne et, ot swie nû daz als(o), als
sô als, also aleine wand(e), want(e), wan(e) und
also, alse, als swenne ob durch daz sam, alsam
unz (daz) sô noch denne daz fur daz swie
biz (daz) also, als umbe daz daz
bidaz, bedaz ane (al) die wîle (daz) danne (daz)
innen des, under des
ê (daz)
sît (daz)
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts

nu(n) daz, nun


die wîle (und/daz)
swie
und
da mite und

Tabelle 1: Einleitung von Adverbialsätzen


499
500

Gleiche Einleitungen verschiedenartiger Adverbialsätze

Modal-
Temporale Konditio- Konzessive Kausale Finale Modale
konsekuti-
Sätze nale Sätze Sätze Sätze Sätze Sätze
ve Sätze

und und

daz daz daz

sô sô sô
alsô alsô, als alsô, als alsô, als

ob ob

swie swie swie

sît (daz) sît (daz)

die wîle (daz) die wîle (daz)

nû (daz) nû
Ursula Schulze

Tabelle 2: Gleiche Einleitungen verschiedenartiger Adverbialsätze


Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 501

Eine andere Möglichkeit, die subjunktionalen Nebensätze darzustellen,


wäre gemäß dem sonst bevorzugten formalen Prinzip eine Auflistung der
verschiedenen Subjunktionen gewesen, jeweils mit Erläuterungen und
Beispielsätzen. Bei dieser Alternative würde m.E. deutlicher, dass sich
mögliche Inhaltstypen der adverbialen Sätze nicht aus der subjunktionalen
Einleitung ergeben, sondern dass die Differenzierung gleichsam ex post
nach heutigem Verständnis vorgenommen wird und dass vermeintliche
Bedeutungsäquivalente aus einem Übersetzungsbedürfnis resultieren. Dass
gleiche Subjunktionen in verschiedenen Inhaltsrelationen auftauchen,
führt zu der Überlegung, ob die uns geläufige semantische Differenzie-
rung der Subjunktionen und Adverbialsätze für das Mittelhochdeutsche
überhaupt angemessen ist.
Norbert Richard Wolf hat das Problem, auf das es mir ankommt, an-
gesprochen. Er schreibt, man müsse fragen, „ob solche Einleitewörter wie
sît oder swie [in der von mir angefertigten Tabelle tauchen sie in der tem-
poralen und kausalen bzw. in der konzessiven und modalen Rubrik auf]
tatsächlich mehrdeutig und dann in ihren jeweiligen Kontexten zu disam-
biguieren sind oder ob wir nicht moderne Differenzierungen an das Mhd.
herantragen“;9 und noch weiter zugespitzt gibt Wolf zu bedenken, „daß
wir heute einen eindeutigen ‚Bedeutungswert‘ formulieren müssen, wo im
Mhd. noch keiner vorhanden war“.10
Im Bereich der Literaturwissenschaft wird eine analoge Problematik
diskutiert: Verschiedene literarische Diskurse sind im volkssprachigen
Bereich des 13. Jahrhunderts noch nicht ausdifferenziert und voneinander
abgrenzbar. Es gibt keine genaue Unterscheidung zwischen fiktionaler
und nichtfiktionaler Literatur: Das Nibelungenlied wie auch die Artusroma-
ne wurden dementsprechend als Werke verstanden, die von Geschichte
(Historie) berichten. Zugleich aber ist einerseits durchaus Kritik an be-
stimmten erzählten Zusammenhängen zu finden und andererseits wird
Überliefertes frei umgestaltet.11 Die mangelnde Ausdifferenzierung der
logisch-semantischen Relationen von Satzgefügen im Mittelhochdeut-
schen ist ein vergleichbares Phänomen.

_____________
9 Wolf (2000, 1354f.).
10 Ebd., 1355. Vgl. Schulze (1991, 140ff., bes. 169).
11 Vgl. Heinzle (2005, 43).
502 Ursula Schulze

2.1. Angliederung durch daz

Als Beleg für die Existenz bedeutungsneutraler Angliederung verweist


Wolf auf daz,12 die Subjunktion mit rein syntaktischer Funktion par excel-
lence. Bei Objekt- und Subjektsätzen wird ein Bedeutungswert von daz
nirgends in Erwägung gezogen, ebenso nicht, wo daz ein einzelnes Satz-
glied oder einen Satz erläutert.13 Doch in anderen Fällen werden Überset-
zungen wie 'damit' (final § 177), 'in der Weise dass', 'so dass' (konsekutiv §
178) und 'derart dass' (modal § 179) angegeben, um die Relation von
Sachverhalten zu bestimmen, auch wenn im übergeordneten Satz keine
finalen, konsekutiven und modalen Korrelate enthalten sind. Dabei han-
delt es sich um analoge Deutungen zu Versionen, in denen der daz-Satz
adverbiale Ausdrücke des übergeordneten Satzes genauer ausführt – ein
Verfahren, das schon im Althochdeutschen vorkommt und in den mittel-
hochdeutschen Urkunden reichlich belegt ist.
(1) dvr daz, daz dP ſelbe gift ſtete bPlibe, ſo geben wir diſen Brief…
(Corp. 1407,34f.).
(2) vmbe dc, dc diſ allez ſtÖte blibe v] vnverwert, ſo lege ich min
inſigel an diſen brief… (Corp. 1036,30f.).
(3) vnd dar vmbe, daz ſi vns gedienen mvͤgen deſte baz, haben wir in
die genad getan… (Corp. 3097,1f.).
Die adverbialen Bestimmungen (durch daz; darumbe daz) weisen auf einen
Zweck oder Grund hin, den der daz-Satz expliziert. Sie zeigen zugleich,
dass derartige Zusätze notwendig sind, um finale oder kausale Bestim-
mungen zu erreichen. Wo solche Zusätze nicht vorhanden sind, kann man
dem reinen daz nicht unbedingt eine entsprechende Bedeutung unterstel-
len, da explizite Signale fehlen.
(4) Vnd daz dev getate ſtete belibe, iſt der brief uerinſigelt mit der
vorgenanten herren der Shenken inſigel… (Corp. 1408,11f.).
(5) ob vnſ vil leicht dehain gewizzenev vnt redleichev not anch=m,
daz wier vnſer erbe nicht ver ſporen mochten von rechter not
dvrft…, so ſulle wier allez ander vnſer erbe des erſten verchau-
fen… (Corp. 3412,38ff.).
(6) Minem dochterlin…ſchaff ich …dreizech phvnt, daz man ez da
mit ze manne gebe… (Corp. 923,45ff.).

_____________
12 Vgl. Wolf (2000, 1355).
13 Vgl. Prell (2007, 429, § S 180,2).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 503

Dass allerdings die Tendenz vorhanden ist, mit daz subjunktionierte Sätze
semantisch zu spezifizieren, zeigen die Kombinationen von daz mit einer
Präposition: unz daz, biz daz; sît daz, durch daz, für daz, umbe daz; ûf daz usw.,
die temporale, kausale und finale Adverbialsätze formieren. Zu diesen
zweigliedrigen Subjunktionen kommen außerdem Syntagmen von Adver-
bien und adverbialen Ausdrücken mit daz: also daz, also lange (biz) daz, da-
rumbe daz, die wîle daz usw. Gerade diese Syntagmen weisen m.E. darauf
hin, dass man daz allein keinen eigenen semantischen Wert zusprechen
sollte. Zur genaueren Bestimmung werden sprachliche Mittel benutzt.
Ähnliche Beobachtungen ergeben sich bei und und sô.

2.2. Angliederung durch unde

Abgesehen von der Hauptsatzkoordination kommt die Angliederungsleis-


tung von unde auch bei Sätzen zur Geltung, deren Nebensatzstatus durch
End- bzw. Spätstellung des finiten Verbs gekennzeichnet ist.
(7) der ſol dem andern beholfen ſin mit aller der maht, vnd er geleiſ-
ten mach… (Corp. 1274B,46ff.).
Die meisten Belege betreffen die Explikation eines Gliedes des überge-
ordneten Satzes. In diesen Fällen wird gewöhnlich ein bedeutungsneutra-
les Relativpronomen als Übersetzungswort verwendet. Wenn unde außer-
dem – wie die Tabelle zeigt – als Einleitung von Temporal- und Modal-
sätzen aufgeführt wird, mit den Bedeutungsangaben temporal 'als' und
modal 'wie', so ergibt sich die entsprechende Interpretation lediglich aus
dem weiteren Kontext.
(8) Daz der (sc. der Meineidige) ewechliche di ſtat ſal rumen, vnde
ez von alter her iſt kvmmen alſo… (Corp. 903,40f.).
Übrigens ist bei unde die gleiche Tendenz zur semantischen Präzisierung
zu beobachten wie bei daz, indem die subjunktionale Funktion genutzt
und mit einem adverbialen Ausdruck zu einer bedeutungshaltigen
Wortgruppensubjunktion verbunden wird: (alle) die wîle und; alsô lange und;
darnâch und.

2.3. Angliederung durch sô

In die Reihe der Nebensatz-Einleitungen ohne ausgeprägte Semantik ge-


hört auch sô. Die modale Interpretation eines mit sô angefügten Nebensat-
504 Ursula Schulze

zes ist durch die Bedeutung des Adverbs im Sinne von 'so', 'derart' be-
wirkt.
(9) die haint eſ gelobt mit ir trãwen, ſi ze antwrten ze Coſtenze ze
rehter giſelſchefte, ſwenne ſi ermant werdent…, ie ze den ziln, ſo
da vorgeſchriben iſt… (Corp. 531,37ff.).
(10) So ſGln ſi auch iren chinden einen Schulmaiſter ſchaffen…, ſo ſi
in aller beſten immer vinden… (Corp. 2345,18ff.).
Im übergeordneten Satz des zweiten Belegs hat sô koordinierende Funk-
tion, im anschließenden Nebensatz gliedert es eine Explikation an, wie in
den folgenden Beispielen, wo es einem bedeutungsneutralen Relativpro-
nomen entspricht:
(11) Wir… henken Pnſer Jngeſigel an diſen brief zeim vrkPnde v]
zeiner ſterkervnge alleſ deſ, ſo hie vor geſchriben iſt. (Corp.
634,3ff.).
(12) Allen dÖn, so diſen Brîef an sÖhent oder h=rent lÖſen, kúnde
ich… (Corp. 2659,29).
Eine temporale oder konditionale Deutung von mit sô eingeleiteten Ne-
bensätzen ergibt sich, wenn keine weiteren Bestimmungen vorhanden
sind, nur aufgrund des weiteren Kontexts:
(13) daz ir kint diſ gidinge ſt#te halden, ſo ſi zi iren tagen chomen…
(Corp. 673,16).
(14) Man ſol ?ch wizzen, daz dîv Jarzît iſt an dem tage, ſo dennoh dri
wochen ſint an den h#ligē abent… (Corp. 656,27f.).

2.4. Angliederung durch dô und dâ

Ein ähnlicher Befund wie bei sô liegt auch bei dô und dâ vor, wenn sie
Adverbialsätze einleiten. Aus heutiger Sicht kann man sie temporal und
lokal verstehen und mit Übersetzungen wie 'als', 'nachdem' und 'wo' wie-
dergeben.
(15) Diz geſchach… ze mittun abrellen Jn dem Jare, do von vnſerſ
herren gebùrte zewelf hundert Jare v] triv v] ahtzich Jare wa-
rent. (Corp. 584,21f.).
(16) Diſer Práf iſt gegeben, da uon Chriſtes gewFrt ſint geweſen
Tauſent Jar… (Corp. 2598,16f.).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 505

(17) Diz biſchach ze Maîenowe, da ze gegen waren diz erb(rin livt…


(Corp. 1601,5f.).
(18) daz… die nehſten, die da bi geſezzen ſin, do der bruch geſhehen
iſt, den lantfriden beſchirmen… (Corp. 879W,29ff.).
Die Bedeutung ergibt sich auch hier aufgrund des Bezugswortes (Jn dem
Jare; ze Maîenowe) oder aufgrund der übergeordneten Aussage (die da bi
geſezzen ſin). Übrigens kommen in der Mittelhochdeutschen Grammatik
Lokalsätze nicht als eigene Adverbialsatzgruppe vor, sondern sie sind den
Relativsätzen zugeordnet,14 weil da als relatives Adverb betrachtet wird.

3. Zur Anwendbarkeit einer logisch-semantisch


ausdifferenzierten Klassifikation
auf die mittelhochdeutschen Subjunktionen
Bei der Frage, ob man für das mittelhochdeutsche Verständnis nicht von
einer bedeutungsdifferenzierenden Beschreibung der Subjunktionen abse-
hen sollte, lenkt Norbert Richard Wolf den Blick exemplarisch auf sît und
swie.15 In der Mittelhochdeutschen Grammatik erscheint sît innerhalb der
temporalen Rubrik mit den Übersetzungen 'seitdem', 'nachdem'16 und
kausal als 'da' und 'weil'.17 Die Abgrenzungsschwierigkeiten werden hier
besonders hervorgehoben. Es geht meist um die Benennung einer zeitli-
chen und sachlichen Voraussetzung, z.B.
(19) Man ſol der Judinne von kirchain wider gen, ſwas ir genomen iſt,
ſit ſiv Burgerin ze Ezzelinπ wart… (Corp. 1728,15f.).
Wenn die Voraussetzung allgemeineren Charakter hat, ist man eher ge-
neigt, sie kausal aufzufassen. Dafür gibt es in den Urkunden zahlreiche
Belege:
(20) Sit ellP dinch zerganchklich ſint vnd deſ menſchen gehugede lan-
ger ſteti nvt enhat, So iſt gewonlich vnde recht, daz man mit
ſhrift beſtete ſwaſ man endelicher dinge in diſen tagen zeſhaffen
hat. (Corp. 506,40ff.).
(21) daz wir di levt…des ſelben dienſtes vnd der ſtiwer lavtterlich be-
geben haben, ſeit ez ze reht niht ſin ſol alſo… (Corp. 1553,13ff.).
_____________
14 Vgl. Prell (2007, 405, § S 162).
15 Vgl. Wolf (2000, 1354f.).
16 Vgl. Prell (2007, 416, § S 173,10).
17 Vgl. ebd., 421, § S 176,1.
506 Ursula Schulze

Zu überlegen ist, da sît auch in Verbindung mit daz gebraucht wird, ob


nicht die temporale Semantik des Adverbs und der Präposition sît das
Verständnis der einfachen Subjunktion steuert. Auch die neuhochdeut-
sche temporale Festlegung von seit würde dadurch erklärt.
Die neuhochdeutsche Entsprechung für swie 'wie auch (immer)' hat
ebenfalls eine klare Semantisierung erfahren, die sich als konzessiv durch
den Zusatz von einfachem modalen 'wie' abhebt. Die Zusammenhänge, in
denen das mittelhochdeutsche swie angliedernde Funktion besitzt, sind
demgegenüber offener (temporal / konditional, konzessiv und modal)
interpretierbar.
(22) v¤ Swie ſîe ſprechent vffe den eît, dîe ſNne ſi gebrochen, So ſvlnt
die burgen drumbe leiſten… (Corp. 225,1f.).
(23) Stirbit der vier v] zweinzigon deheine, oder ſwie er abe kumit, ſo
ſun die andîrn …einin andirne wellin an des ſtat… (Corp.
248B,10ff.).
(24) vnd ſwie doch ich ez an meiner chinde vnd erben hant wol moh-
te getNn, doch dvrch pezzere ſtætichhait vnd gewarhait habent
meine toehter… geben ellev dev reht… (Corp. 3401,42ff.).
Berührung von temporaler und kausaler Relation zeigt sich auch bei mit
die wîle daz / so / und o.ä. eingeleiteten Nebensätzen.18 Wegen der neu-
hochdeutschen Bedeutung von 'weil' ist das von besonderem Interesse. Es
handelt sich um die Verbindung eines adverbialen oder präpositionalen
Ausdrucks, der temporale Bedeutung besitzt, mit einer Subjunktion. Nicht
immer ist klar zu entscheiden, wo die Zäsur liegt, d.h. ob sît der wîle und, alle
wîle die u.ä. als Wortgruppenkonjunktionen aufzufassen sind. Nebensatz-
einleitungen ohne weiteren subjunktionalen Zusatz, die wîle und alle die wîle,
sind in den Urkunden reichlich belegt, und zwar überwiegend in tempora-
ler Relation vom Typ die wîle er lebet. Selten kommen kausal deutbare Fälle
vor.
(25) daz der abbt vnd dev Samnvng ze fvrſtncelle vnſer da bei geden-
chen ſchullen, alle di weil ſi den nvtz in nement … (Corp.
2303,23f.).
Einmal begegnet die Reduktionsform wîl allein als Subjunktion, und zwar
im kausalen Sinne wie neuhochdeutsch 'weil':
(26) vnd ig Eber, graue von wirtenberg, han min Jngeſigel her ane ge-
henket, wil ez mit minem willen beſchehen iſt. (Corp. 729,31f.).
_____________
18 Eine sprachgeschichtliche Untersuchung der kausalen Konjunktionen liegt vor von Eroms
(1980, 73ff.).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 507

Betrachtet man die mittelhochdeutschen variierenden Zusammensetzun-


gen mit wîle einerseits und die Verwendung des im Neuhochdeutschen
fortexistierenden 'weil' andererseits, so sind hier formal die Entwicklung
von einer Wortgruppe zu einer Einwortsubjunktion und die semantische
Vereindeutigung evident.19
Als wichtige kausale Satzeinleitung gilt wande, wanne, wan u.ä. in para-
taktischer und hypotaktischer Funktion. Ihr wird eine eindeutige Semantik
zugeschrieben, und sie taucht nur in der kausalen Rubrik der Grammatik
auf.20 Aber wenn man die vorkommenden Laut- und Formvarianten und
ihre Verwendung ins Auge fasst, dann begegnet wan, wanne, wenne auch in
konditional und temporal zu deutenden Relationen, z.T. mit den gleichen
Korrelaten im Hauptsatz wie in den kausalen Fällen.21 Z.B. kausal zu ver-
stehen ist:
(27) v] wan das ſelbe hus verbrunnen was, do verbuten wir daran drú
v] zwanzig pfunt pfenninge… (Corp. 2769,28f.).
(28) wan wir vnſer gr=zzes jnſigel bá vnſ niht haben, ſo hab wir vnſer
chlaynez inſigel an diſen brief geleit… (Corp. 1603B,20ff.).
Eine konditionale / temporale Relation liegt aus heutiger Sicht vor bei:
(29) daz vnſer bruder Rudolf die ſelbe ſtat, wanne er zu ſinen dagen
kumet, vf gebe, alſe wir han gedan. (Corp. N193,31f.).
Auch eine konzessive Deutung ist möglich:
(30) daſ wernher Romer … fúnf iucherte akers…V] ein hofſtat hal-
be…vor vnſ mit willen v] mit handen Adelheide, ſinre wirtin,
Mechthild’, Heilwige v] Gerdrud’, ſinre t=chtren, durch ein ge-
warſami, wand’ er ez wol ane ſi m=chte han getan, Verk?fte rech-
te v] redeliche… (Corp. 2313,8ff.).
Die homophonen Erscheinungsformen der Subjunktion signalisieren
keine Bedeutungsunterschiede. Obwohl Lexer die verschiedenen Varian-
ten jeweils notiert, setzt er zwei Lemmata mit je eigener Semantik an: wan
exzipierend ('nur', 'sondern' u.ä.) und wande ('denn', 'weil').22 Die temporale
Bedeutung wird bei diesen Stichwörtern nicht erwähnt. Sie ist swanne,
swenne vorbehalten. Und auch in der Paul’schen Grammatik erscheinen in
der temporalen Rubrik nur swanne, swenne, dort allerdings mit zwei Belegen

_____________
19 Vgl. ebd.
20 Vgl. Prell (2007, 422, § S 176,3).
21 Vgl. Wolf (1981, Bd. 1, 210f.).
22 Vgl. Lexer (1979, Bd. 3, Sp. 667f. und Sp. 669).
508 Ursula Schulze

ohne s-: wenn aus den Liedern Oswalds von Wolkenstein.23 Gerade bei den
wande-, wanne-, wan-Varianten wird noch einmal deutlich, dass ausdrucks-
seitig von den Subjunktionen keine genaue Bedeutungsdifferenzierung
markiert wird.

4. Zusammenfassung
Ich breche die Betrachtung der Adverbialsatzeinleitungen hier ab und
fasse die Beobachtungen zusammen: Das sprachliche Material der Urkun-
den bestätigt die bekannte Einsicht, dass die meisten Subjunktionen pri-
mär eine syntaktische Funktion haben, während für den Bedeutungswert
bzw. die logische Relation zum übergeordneten Satz der Kontext die be-
stimmende Rolle spielt. Darüber hinaus ist festzustellen, und zwar nicht
nur für die Urkunden: Bei den eingliedrigen Subjunktionen enthalten nur
diejenigen ein semantisches Signal, die Präpositionen oder Adverbien wie
âne, biz, unze; aleine, sam, ê entsprechen und bei denen wahrscheinlich ein
zunächst syntaktisch stützendes daz, sô oder und entfallen ist. Die generelle
Abbildung der Adverbialsatzeinleitungen erfolgt in den Grammatiken vor
dem Hintergrund eines ausdifferenzierten Koordinatensystems logisch-
semantischer Klassifizierungen, die die Relation von Angaben oder Anga-
besätzen bestimmen.24 Dieses Koordinatensystem kann für das Mittel-
hochdeutsche nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden. Allerdings
zeichnet sich eine Tendenz ab, Bedeutungsrelationen der Adverbialsätze,
die an verschiedenen Stellen im Satzgefüge positioniert sein können, ge-
nauer zu markieren. Unterschiedliche Einleitungstypen stehen nebenein-
ander. Der Befund erscheint als offenes System, in dem die semantische
Wertigkeit der nebensatzeinleitenden Elemente tendenziell präzisiert wird.

Literatur

Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen.


Eisenberg, Peter (2006), Grundriss der deutschen Grammatik, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar.

_____________
23 Vgl. Prell (2007, 414f., § S 173,2).
24 Vgl. Helbig / Buscha (2005), die die Subjunktionen des heutigen Deutsch in zwei verschie-
denen Kapiteln behandeln, einmal mit Erläuterungen zu den einzelnen Wörtern und ihrem
Gebrauch ( 401-415), dann unter den semantischen Klassen der Adverbialsätze ( 599-622).
Eisenberg (2006, Bd. 2: Der Satz, 322) hält es bei der Behandlung der Bedeutung von Kon-
junktionen aus systematischen Gründen für problematisch, die bezeichneten semantischen
Beziehungen zur Grundlage der Beschreibungen zu machen.
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts 509

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Zur Abfolge akkusativischer und dativischer
Personalpronomen im Prosalancelot (Lancelot I)

Jürg Fleischer (Marburg)

1. Einleitung
Für die neuhochdeutsche Standardsprache ist wiederholt festgestellt wor-
den, dass die Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
relativ fest ist: Während bei vollen Nominalphrasen (zumindest bei gewis-
sen Verbtypen) die dativische Nominalphrase der akkusativischen meist
vorangeht, aber auch die umgekehrte Stellung auftreten kann, steht bei
zwei Personalpronomen in der Regel der Akkusativ vor dem Dativ (vgl.
z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDS-Grammatik 1997, 1519f.;
Duden-Grammatik 2005, 885):
(1) *Anna will ihr ihn morgen übergeben (nach Duden-Grammatik
2005, 885)
Dagegen ist die Abfolge Dativ vor Akkusativ bei Personalpronomen in
älteren Sprachstufen durchaus belegt, wie etwa das folgende Beispiel zeigt:
(2) ob mir yn gott nit gesant enhet (Prosalancelot I; ed. Kluge
1948, 494)
wenn mir ihn Gott nicht gesandt hätte (vgl. Steinhoff 1995b, 41)
Allerdings scheinen auch für die moderne Standardsprache Ausnahmen
von der Regel „Akkusativ vor Dativ“ zu bestehen. So wird häufig darauf
hingewiesen, dass etwa bei Klitisierung die Abfolge Dativ vor Akkusativ
auftreten kann (vgl. z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDS-
Grammatik 1997, 1520), was in der schriftlichen Standardsprache aus-
schließlich den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum betrifft, die
neben der Form es auch als ’s auftreten und sich in dieser Form auch nach
512 Jürg Fleischer

dativischen Personalpronomen finden kann, etwa in gib mir’s.1 Sodann gilt


nach Lenerz (1993, 141f.), der mehrere Beispiele für die Abfolge Dativ
vor Akkusativ anführt, die für den Standard häufig postulierte Regel „Ak-
kusativ vor Dativ“ vielleicht nur für Pronomen der 3. Person. Schließlich
weist die Duden-Grammatik (2005, 885) darauf hin, dass die Abfolge
Dativ vor Akkusativ in regionalen Varietäten vorkommt.
Für die moderne Standardsprache kann aber insgesamt nicht daran
gezweifelt werden, dass beim Aufeinandertreffen eines akkusativischen
und eines dativischen Personalpronomens in der Regel die Abfolge Akku-
sativ vor Dativ gilt. Dies kann aufgrund von Recherchen in mehreren vom
Institut für deutsche Sprache Mannheim zur Verfügung gestellten Korpo-
ra bestätigt werden; Beispiele für die umgekehrte Abfolge sind im moder-
nen Standard selten (vgl. Fleischer i. Dr.; untersucht wurden vorwiegend
zeitungssprachliche Korpora). Dagegen findet sich in einer Auswahl von
Goethes Prosawerken, die das Institut für deutsche Sprache Mannheim als
elektronisches Korpus zur Verfügung stellt, die Abfolge Dativ vor Akku-
sativ in immerhin ca. 30 % der Belege (vgl. ebd.); die Sprache Goethes
entspricht in dieser Hinsicht also nicht dem modernen Standard.
Die Abfolge Dativ vor Akkusativ findet sich vom Althochdeutschen
bis ins Neuhochdeutsche. Behaghel (1932, 73ff.) führt zahlreiche Belege
aus älteren und jüngeren Sprachstufen des Deutschen an (sein ältestes
Beispiel stammt von Notker) und geht dabei auf einzelne Pronomen bzw.
Kombinationen von akkusativischen und dativischen Pronomen ein; nach
Behaghel (ebd., 74f.) gilt besonders bei den Pronomen ihn und es, zum Teil
in Abhängigkeit von der Form des dativischen Pronomens, die Reihenfol-
ge Dativ vor Akkusativ. In einigen Fällen konstatiert Behaghel ein
Schwanken zwischen den beiden möglichen Abfolgen. Auch nach Ebert
(1999, 119), der sich auf die Periode von 1300 bis 1750 bezieht, sind
„während unseres ganzen Zeitraums sowohl die Folge Dativ vor Akkusa-
tiv als auch die Folge Akkusativ vor Dativ gebräuchlich.“ Er weist darauf
hin, dass die Abfolge der Pronomen offenbar von den Möglichkeiten der
klitischen Anlehnung an das vorangehende Wort beeinflusst wird, und
geht (teilweise nach Behaghel 1932) auf verschiedene Kombinationen ein
(vgl. Ebert 1999, 119f.).
Obwohl Ebert (1999) einige Angaben zur Abfolge akkusativischer
und dativischer Personalpronomen macht, listet er die Stellung der nomi-
nalen und pronominalen Glieder im Mittelfeld als ein Forschungsdesiderat
auf (vgl. ebd., 27). Wie sich vor allem in Abschnitt 3 zeigen wird, reichen
die Angaben, wie sie Behaghel (1932) und Ebert (1999) bieten, nicht für
_____________
1 Nach Duden-Grammatik (2005, 885) ist dies allerdings auch für die volle Form es der Fall,
wenngleich speziell auf die Kurzform hingewiesen wird.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 513

eine in die Tiefe gehende Behandlung des Phänomens aus. Deshalb versu-
che ich im vorliegenden Beitrag, ein einzelnes Denkmal zu analysieren,
dies jedoch detailliert und in der gebotenen Feinkörnigkeit. Ich schließe
damit an eigene Untersuchungen zum selben Phänomen im Althochdeut-
schen und Altniederdeutschen des 8. / 9. Jahrhunderts (vgl. Fleischer
2005) und im Neuhochdeutschen (Fleischer i. Dr.) an und versuche, mit
der Untersuchung eines mittelhochdeutschen Denkmals einen ersten
Schritt zu tun, um die Lücke zu füllen, die zwischen diesen beiden Arbei-
ten in Bezug auf die abgedeckten Daten besteht.

2. Zu den untersuchten Kombinationen


Bevor ich auf die Befunde, die sich aus der Analyse eines mittelhochdeut-
schen Denkmals ergeben, eingehe, müssen einige Überlegungen zur Me-
thodologie angestellt werden. Dazu ist es sinnvoll, sich zunächst einen
Überblick über die möglichen Kombinationen zu verschaffen. In der fol-
genden Tabelle werden in der horizontalen Achse die akkusativischen und
in der vertikalen Achse die dativischen Personalpronomen dargestellt, wie
sie in der modernen Standardsprache auftreten:

Dat.
Akk. mir dir ihm ihr ihm uns euch ihnen
mich
dich
ihn
sie
es
uns
euch
sie
Tabelle 1: Mögliche Kombinationen von Akkusativ- und Dativpronomen

In dieser Tabelle steht jede leere Zelle für eine mögliche Kombination
eines akkusativischen und eines dativischen Personalpronomens. Zwar
sind gewisse Kombinationen unwahrscheinlich (etwa die von akkusativi-
schen und dativischen Pronomen derselben 1. und 2. Person, die dann ja
koreferent sind und sich somit auf die gleiche Entität beziehen; vgl. z.B.
?er hat mich mir vorgestellt), was mich in Fleischer (2005) dazu bewog, gewis-
se Zellen in den Tabellen grau zu hinterlegen (vgl. ebd., 12, Fußnote 19);
zumindest bei großen standardsprachlichen Korpora zeigt sich allerdings,
514 Jürg Fleischer

dass auch eher unwahrscheinliche Kombinationen auftreten können (vgl.


Fleischer i. Dr.). Insgesamt bestehen 64 verschiedene Kombinationsmög-
lichkeiten, die jeweils sowohl in der Abfolge Akkusativ vor Dativ als auch
in der Abfolge Dativ vor Akkusativ realisiert werden können. Mit dersel-
ben Zahl ist auch für die älteren Sprachstufen zu rechnen.2

3. Überlegungen zur Methodologie


Nach den Angaben Behaghels (1932, 73ff.) haben gewisse Pronomen eine
besondere Affinität, in einer bestimmten Abfolge aufzutreten. In bisheri-
gen Untersuchungen konnte dies bestätigt werden: Im Althochdeutschen
des 8. / 9. Jahrhunderts, zu dem insgesamt nur relativ wenige Belege exis-
tieren, scheint es vor allem der Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum
zu sein, der häufig in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt (vgl. Flei-
scher 2005, 32f.). Bei Otfrid, dem Denkmal, aus dem die meisten Belege
stammen, dominiert die Abfolge Dativ vor Akkusativ beim Akkusativ der
3. Person Singular Neutrum mit über vierzig Belegen klar (die umgekehrte
Abfolge ist insgesamt zehn Mal belegt, darüber hinaus tritt die Abfolge
Dativ vor Akkusativ nur noch zweimal beim Akkusativ der 3. Person
Singular Maskulinum auf; vgl. ebd., 25). In einer Auswahl von Goethes
Prosawerken findet sich die Abfolge Dativ vor Akkusativ in erster Linie
bei den Dativpronomen der 1. und 2. Person Singular in Kombination mit
einem Akkusativpronomen der 3. Person; daneben tritt auch das Dativ-
pronomen der 3. Person Singular Femininum in der Abfolge Dativ vor
Akkusativ auf, allerdings wesentlich weniger häufig als in der umgekehrten
Abfolge (vgl. Fleischer i. Dr.).
Derartige Regularitäten bzw. Unterschiede zwischen verschiedenen
Pronomen oder Kombinationen können nur festgestellt werden, wenn
eine gewisse Masse von Belegen zu einem bestimmten Text bzw. zu einem
in sich möglichst einheitlichen Korpus nebeneinander betrachtet und
miteinander verglichen werden kann; davon ausgehend kann – wenn ge-
nügend Daten vorhanden sind – ein System rekonstruiert werden, das für
eine bestimmte geographisch und zeitlich lokalisierbare Ausprägung des
Deutschen steht. In einem zweiten Schritt können dann durch den Ver-
gleich derartiger Einzelanalysen Unterschiede (etwa regionaler oder zeitli-
cher Art) festgestellt werden. Beispielsweise ergibt sich so für das 8. / 9.

_____________
2 Die Zahl würde noch höher ausfallen, wenn die verschiedenen Genera des Akkusativs der
3. Person Plural, wie sie etwa im älteren Althochdeutschen noch voll erhalten sind, als ei-
gene Formen gezählt würden; umgekehrt würde die Zahl kleiner, wenn die synkretistischen
Formen nur einmal gezählt würden (vgl. Fleischer 2005, 12f.).
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 515

Jahrhundert, dass im Altniederdeutschen praktisch ausschließlich die Ab-


folge Akkusativ vor Dativ auftritt, womit sich ein starker Kontrast zum
Althochdeutschen ergibt (vgl. Fleischer 2005, 32f.).
Vor diesem Hintergrund ist zu Behaghels und Eberts synoptischer
Behandlung des Phänomens anzumerken, dass durch die angeführten
Belege, die aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen stammen, eventuell
vorhandene Unterschiede zwischen verschiedenen Systemen verdeckt
werden: Handelt es sich bei den von Behaghel (1932) und Ebert (1999)
festgestellten Fällen schwankenden Gebrauchs um Schwanken in ein und
demselben System (und somit also um Variation in einer bestimmten Aus-
prägung des Deutschen) oder kann das „Schwanken“ auf Unterschiede
zurückgeführt werden, die beispielsweise regional oder zeitlich bedingt
sind (womit dann vielleicht nur Variation zwischen verschiedenen Systemen
bestünde)? Lässt sich beispielsweise aus der Tatsache, dass Behaghel
(1932, 73) einen Schiller-Beleg für die Abfolge Akkusativ vor Dativ auf-
führt (indem ich sie mir aneigne), dagegen zur gleichen Kombination einen
Beleg aus Lessing mit der umgekehrten Abfolge (Just hat mir sie wiedergege-
ben; Behaghel 1932, 74) angibt, schließen, dass diesbezüglich systematische
Unterschiede zwischen der Sprache Schillers und Lessings bestehen? In-
wiefern sind die beiden isolierten Belege für die Sprache Schillers bzw.
Lessings repräsentativ?
Um Aussagen zu verschiedenen Kombinationen bzw. Pronomen ma-
chen zu können, ist es sinnvoll, pro Quelle möglichst große Datenmengen
zu sammeln. Da Beispiele von Sätzen, in denen ein akkusativisches und
ein dativisches Pronomen im Mittelfeld auftreten, nicht besonders häufig
sind – für Prosalancelot I ergibt sich eine Häufigkeit von einem Beleg je ca.
715 Wörter (was als eine ziemlich hohe Belegdichte erscheint) –, ist es
sinnvoll, ganze Textexemplare exhaustiv auszuwerten. Eine Beschränkung
auf 30 Normalseiten (= 12 000 Wortformen), wie sie etwa im Rahmen der
Korpusarbeiten zur Grammatik des Frühneuhochdeutschen vorgenom-
men wurde und nun bei der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik zur
Anwendung kommt (vgl. Wegera 2000, 1310), kommt beim untersuchten
Phänomen nicht in Frage: Von der oben angeführten Zahl ausgehend
würde dies bedeuten, dass etwa bei Prosalancelot I auf 30 Normalseiten
durchschnittlich 17 Belege erfasst würden; bei einer Berücksichtigung des
ganzen Textes kommt man dagegen auf immerhin 482 Belege. Die An-
sicht, „daß Hss., die länger sind als 30 Normalseiten, nicht komplett analy-
siert werden müssen“ (Wegera 2000, 1310), gilt für das untersuchte Phä-
nomen, da es nicht hochfrequent ist, keinesfalls.
516 Jürg Fleischer

4. Zum ausgewerteten Denkmal: Lancelot I


nach der älteren Heidelberger Handschrift
Cod. pal. germ. 147
Die Tatsache, dass aus einem großen, in sich einheitlichen Datenbestand
in Bezug auf das untersuchte Phänomen genauere Befunde herausgelesen
werden können als aus mehreren kleinen, kann als Richtlinie für die Aus-
wertung genommen werden. Unter der Bedingung, dass überhaupt so
viele und verschiedenartige Texte vorhanden sind, dass man eine Auswahl
treffen kann (was etwa beim Althochdeutschen und älteren Mittelhoch-
deutschen nicht der Fall ist; vgl. Wegera 2000, 1305), ist es für syntakti-
sche Untersuchungen sinnvoll, von Prosatexten auszugehen (dazu bereits
Ebert 1978, 6f.: „Womöglich soll man von Prosatexten ausgehen, in de-
nen der normale Gebrauch nicht von den Bedürfnissen von Reim und
Rhythmus beeinflußt wird.“). Damit besteht ein weiteres Auswahlkriteri-
um. Um einen möglichst großen, aber in sich einheitlichen Prosatext zu
analysieren, fiel deshalb die Wahl auf den Prosalancelot (bzw. dessen ältesten
Teil).
Mit dem Prosalancelot wird in der vorliegenden Untersuchung der ältes-
te deutsche Prosaroman analysiert. Hierbei handelt es sich zweifelsohne
um einen sehr großen Text (Kluges Edition des ersten Teils bietet 642
Seiten Text, dem entsprechen in der Handschrift 139 beidseitig mit jeweils
über 60 Zeilen beschriebene Folio-Blätter; vgl. Kluge 1948, XVII-XVIII;
insgesamt dürfte der Text ca. 345 000 Wörter bieten). Der Prosalancelot-
Text, wie ihn die älteste (bis auf eine auch andere Zeugen konstituierende
Textlücke) vollständige Handschrift, Cod. pal. germ. 147, bietet, besteht
aus drei unterschiedlichen Teilen (denen die drei Bände der Edition Klu-
ges entsprechen). Bei näherem Hinsehen zeigen sich zwischen den Teilen
deutliche Unterschiede: „Die Übersetzungsqualität des ersten ist besser,
seine Sprache um einiges archaischer, dem klassischen Mittelhochdeut-
schen näher als die der beiden anderen Teile“ (Steinhoff 1995b, 764).
Rothstein (2007, 128), von der die jüngste Untersuchung zur Entstehungs-
und Überlieferungsgeschichte des Prosalancelot stammt, geht davon aus,
dass die drei Teile zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. Ihr zufolge
stammt nur Teil I aus dem 13. Jahrhundert, Teil II dagegen aus dem 15.
und Teil III aus dem 14. Jahrhundert (vgl. Rothstein 2007, 130f.). Da die
Teile auf jeden Fall sprachlich nicht einheitlich sind, beschränkt sich die
vorliegende Untersuchung auf den ersten, ältesten Teil, den ich mit Kluge
(1948) als Lancelot I bezeichne.
Der untersuchte Text hat – neben der Tatsache, dass er sehr groß und
nicht durch Reim und Metrum gebunden ist – mehrere Vorteile: Mit der
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 517

Edition Kluges existiert eine vertrauenswürdige Edition,3 die abgesehen


von der Einführung von Großbuchstaben und einer modernen Interpunk-
tion nicht normalisiert wurde und die sich nur auf einen Textträger, näm-
lich Cod. pal. germ. 147, bezieht (wenngleich natürlich im Apparat die
Lesarten anderer Textzeugen Berücksichtigung finden); diese Handschrift
ist als digitales Faksimile online zugänglich,4 sodass Zweifelsfälle bequem
und effizient am Manuskript überprüft werden können. Mit der Überset-
zung Steinhoffs (1995), die auch den Text nach Kluge (1948) enthält, hat
man für die Untersuchung außerdem ein exzellentes Hilfsmittel zur Hand,
das praktischerweise auch in einer digitalen Version verfügbar ist, womit
gewisse Fragen schnell und effizient geklärt werden können.
Nichtsdestoweniger hat der Text jedoch auch Nachteile. Der deutsche
Prosalancelot (bzw. der hier untersuchte älteste Teil Lancelot I; vgl. oben) ist
nach Ausweis des ältesten Münchner Fragments, das Rothstein auf
Grundlage der Datierung von Tilvis (1957, 132), der es in der Mitte des
13. Jahrhunderts ansiedelt, auf 1240-1260 datiert (Rothstein 2007, 38; vgl.
z.B. auch Steinhoff 1995a, 764), spätestens um die Mitte des 13. Jahrhun-
derts entstanden. Rothstein (2007, 130) geht davon aus, dass die Überset-
zung „wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“ fertig gestellt wur-
de. Der älteste, bis auf eine Textlücke vollständige Textträger, die (ältere)
Heidelberger Handschrift Cod. pal. germ. 147, die in der vorliegenden
Arbeit in Bezug auf den ältesten Teil, d.h. Lancelot I, analysiert wird, ist
dagegen wesentlich jünger; Rothstein (2007, 34) datiert diese Handschrift
aufgrund des kunstgeschichtlichen Befunds zwischen 1455 und 1511.
Wegen des Abstands zwischen Textentstehung und Alter des Überliefe-
rungsträgers kommt der Text beispielsweise für die entstehende neue
Mittelhochdeutsche Grammatik nicht in Frage, da dort für die zu untersu-
chenden Texte der Abstand zwischen Textentstehung und Textzeugen
nicht mehr als 50 Jahre betragen darf (vgl. Wegera 2000, 1310). Allerdings
weist Knapp (2003, 223) mit Bezug auf den Prosalancelot darauf hin, dass
„die späte Überlieferung des Textes, gemessen an den ältesten Fragmen-
ten, erstaunlich treu“ sei, wenn er auch auf Änderungen im Bereich der
Negationssyntax hinweist; er vertritt die Ansicht, dass die Einbeziehung
des Prosalancelot und der damit verbundene Verstoß gegen die Richtlinien
der Mittelhochdeutschen Grammatik „weniger schwer wiegen würde als
die Beschreibung der mhd. Syntax unter Verzicht auf den einzigen großen,
vom Latein völlig unabhängigen, nicht dem geistlichen oder rechtlichen

_____________
3 Nach Steinhoff (1995b, 776) hat sich Kluges Edition „bei Stichproben als sehr zuverlässig
erwiesen.“ Auch aufgrund meiner Überprüfungen einzelner Stellen am digitalen Faksimile
kann ich dies bestätigen.
4 Vgl. online im Internet: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
518 Jürg Fleischer

Bereich angehörenden, weltlichen Prosatext aus der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts“ (Knapp 2003, 223).
Neben der späten Überlieferungszeit spricht auch die Tatsache, dass
es sich beim Prosalancelot um eine Übersetzung (wenn auch nicht aus dem
Lateinischen) handelt, gegen diesen Text. Die Situation wird dadurch ver-
kompliziert, dass die Quelle der Übersetzung umstritten ist. Der gegen-
wärtige Forschungsstand zur Quellenfrage kann dahingehend zusammen-
gefasst werden, dass es sich „um die Übersetzung einer altfranzösischen
Vorlage handelt, die z.T. über eine niederländische Zwischenstufe vermit-
telt sein könnte […]“ (Ridder / Huber 2007, 1). Im deutschen Prosalancelot
finden sich Stellen, die auf einen Einfluss des Niederländischen hinweisen
und die Tilvis (1957) als Erster systematisch zusammengetragen hat. Auf-
grund der Niederlandismen kam er zum Schluss, dass der deutsche Prosa-
lancelot „unmöglich eine direkte Übersetzung aus dem Afrz. darstellen
kann, sondern auf eine mnl. Vorlage zurückgehen muss“ (Tilvis 1957, 13).
Diese Ansicht ist nicht unwidersprochen geblieben. Problematisch ist
unter anderem, dass es keine Zeugnisse für die postulierte mittelnieder-
ländische Zwischenstufe gibt; beispielsweise geht Steinhoff (1995b, 764)
davon aus, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Französischen han-
delt. Für die These sprach jedoch unter anderem, dass auch keine franzö-
sische Handschrift bekannt war, die einen Text bietet, der dem deutschen
relativ nahe kommt.
An dieser Stelle setzt die Untersuchung von Hennings (2001) ein. Aus
der reichen Überlieferung des altfranzösischen Textes ist es Hennings
gelungen, eine (bisher ungedruckte) Handschrift aus der 2. Hälfte des 13.
Jahrhunderts zu identifizieren, deren Text dem deutschen Prosalancelot
„beträchtlich näher [steht] als der aller anderen bislang gedruckten frz.
Handschriften“ (Hennings 2001, 424). Was die Abfolge der einzelnen
Handlungsabschnitte betrifft, stimmen nach Hennings (ebd.), die Teile
von Lancelot I mit der französischen Entsprechung vergleicht und einen
Teil dieser Handschrift in einer Synopse mit dem deutschen Text ediert,
„beide Texte […] weitgehend überein.“ Allerdings gibt es ungeachtet des
hohen Übereinstimmungsgrades „an einigen Stellen beträchtliche inhaltli-
che Abweichungen“ (ebd.). Nach Hennings (ebd., 430) „liegt in ca. 50 %
des gesamten untersuchten mhd. Textabschnitts eine traduction littérale
vor.“ Dieser Befund spricht sehr dafür, dass eine Übersetzung aus dem
Französischen vorliegt, und nicht aus dem Niederländischen; für die –
unzweifelhaft vorhandenen – Niederlandismen bietet Hennings folgende
nicht ganz befriedigende Mutmaßung an:
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 519

Wir möchten hingegen die mhd. Übersetzung viel eher einem Niederländer zu-
trauen, der sein Werk etwa in den vierziger Jahren des 13. Jh.s im mittelrheini-
schen Gebiet für den Hof des Pfalzgrafen bei Rhein schuf […]. (Hennings
2001, 438)
Eine bedenkenswerte alternative Erklärung für die Niederlandismen gibt
Rothstein (2007, 144f.): Sie weist zunächst darauf hin, dass die Anzahl der
(eindeutigen) Niederlandismen angesichts der Länge des Textes relativ
gering ist, wenn auch deren Existenz grundsätzlich nicht geleugnet werden
kann. Nach ihrer Beobachtung handelt es sich bei den meisten Niederlan-
dismen „um singuläre Vokabeln“ (ebd., 144), weshalb die Annahme einer
französischen Handschrift mit niederländischen Glossen plausibel er-
scheint. Der Befund zu den Niederlandismen lässt den Schluss zu, „daß
am Rand eines frz. Textes ein entsprechender mndl. Vermerk zu finden
war, auf den der mhd. Übersetzer zurückgegriffen hat.“ (ebd., 145). Wie
auch immer sich das Verhältnis von Französisch und Niederländisch für
die deutsche Fassung letztlich erklären lässt, scheint sich doch abzuzeich-
nen, dass das Französische für die Übersetzung eine wesentlich größere
Rolle spielt, als etwa Tilvis (1957) angenommen hatte.
Als Grundlage syntaktischer Untersuchungen sind Übersetzungstexte
problematisch, weil syntaktische Strukturen der Ausgangssprache in die
Zielsprache übernommen werden können – dieses Problem ist vielleicht
am besten vom althochdeutschen Tatian bekannt (vgl. Fleischer
2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.). Aus diesem Grund ist es geboten,
kurz auf die Frage einzugehen, ob sich beim untersuchten Phänomen in
Lancelot I allenfalls Strukturen der Ausgangssprache finden. Wie oben
diskutiert worden ist, spricht aufgrund der zumindest teilweisen hohen
Ähnlichkeit mit der von Hennings (2001) identifizierten altfranzösischen
Handschrift trotz der Niederlandismen einiges dafür, den deutschen Prosa-
lancelot als eine Übersetzung aus dem Französischen zu betrachten. Aus
diesem Grund stelle ich im Folgenden einen Vergleich mit dem altfranzö-
sischen Text an, den Hennings (2001) ediert.
Wie oben diskutiert worden ist, handelt es sich nach Hennigs
(2001, 436) beim deutschen Prosalancelot zwar um eine „traduction littéra-
le“; doch die Abhängigkeit vom Französischen erstreckt sich nach Knapp
(2003, 223) „doch nur ganz vereinzelt bis in die syntaktische Gestalt.“
Beispielsweise zeigt der folgende deutsche Beleg (3b) zwei Personalpro-
nomen, doch findet sich im französischen Text, wie (3a) zeigt, keine
Struktur, in der dies ebenfalls der Fall wäre; der deutsche Text steht also
ohne direkte Vorlage da:
520 Jürg Fleischer

(3a) sene fust vne seule chose (zit. n. Hennings 2001, 42)
das=nicht sei eine einzige Sache
(3b) beneme es uch ein sach nit (ed. Kluge 1948, 492)
nähme es Euch eine Sache nicht (vgl. Steinhoff 1995b, 35)
Im folgenden Beleg finden sich neben dem deutschen zwar auch im fran-
zösischen Text zwei Personalpronomen, doch weisen diese im Vergleich
zum deutschen Text gerade die umgekehrte Abfolge auf – es liegt hier also
einer jener Differenzbelege vor, wie sie etwa bei der Erforschung des
althochdeutschen Tatian besonders ausgenutzt werden können (vgl. Flei-
scher 2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.):
(4a) et il les men uoiera moult volentiers (zit n. Hennings 2001, 37)
und er sie mir=zuschicken wird sehr gern
(4b) Er solt mirs gern senden (ed. Kluge 1948, 489)
er wird mir sie gerne schicken (vgl. Steinhoff 1995b, 27)
Die beiden diskutierten Beispiele legen nahe, dass der Prosalancelot, obwohl
es sich um eine Übersetzung handelt, in Bezug auf das ausgewertete Phä-
nomen authentisch ist.
Trotz gewisser Nachteile überwiegen die Vorteile von Prosalancelot I
bei weitem. Insbesondere spricht die Tatsache, dass es sich um eine Über-
setzung handelt, in Bezug auf das untersuchte Phänomen nach Ausweis
der diskutierten Belege nicht gegen die Auswertung des Textes.
Die Belege aus Prosalancelot I werden im Folgenden nach der Edition
Kluges (1948) zitiert; sie werden mit einer Übersetzung versehen, die
möglichst wörtlich ist und keinerlei stilistische Ansprüche erhebt. Bei
meinen Übersetzungen verweise ich jeweils auf Steinhoff (1995), dessen
sich teilweise vom mittelhochdeutschen Wortlaut entfernende Überset-
zung ich konsultiert habe, der ich aber – zugunsten einer größtmöglichen
Wörtlichkeit – nur selten genau gefolgt bin. In einigen Fällen, in denen
meine wörtliche Übersetzung kaum mehr den Sinn verständlich machen
kann, zitiere ich Steinhoffs Übersetzung zusätzlich zu meiner eigenen.5
Die Belege für die vorliegende Arbeit wurden, obwohl auch eine
elektronische Edition existiert, traditionell „von Hand“, d.h. durch Lektü-
re und anschließende Exzerption der Belege, gewonnen – dies deshalb,
weil ich befürchtete, bei einer elektronischen Suche aufgrund der ortho-
graphischen Varianz nicht alle einschlägigen Belege zu finden. Im Nach-
hinein stellt sich die orthographische Varianz der untersuchten Pronomi-
_____________
5 Von Steinhoff (1995) übernehme ich in den Übersetzungen auch die Gepflogenheit, die 2.
Person Plural der höflichen Anrede – die im Roman sehr häufig ist – groß zu schreiben.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 521

nalformen als relativ gering heraus (vgl. das Paradigma in Tabelle 2), so
dass wahrscheinlich auch eine Suche in der elektronischen Edition die
meisten oder sogar alle einschlägigen Belege gefunden hätte. Eine voll-
ständige Erfassung aller Belege kann umgekehrt auch bei der hier durch-
geführten Exzerption trotz sorgfältiger Lektüre nicht garantiert werden,
unterliegt sie „von Hand“ doch dem menschlichen Irrtum.

5. Zu den untersuchten Pronominalformen


Bevor auf die Abfolge der akkusativischen und dativischen Personalpro-
nomen in Lancelot I, wie er in Cod. pal. germ. 147 überliefert ist, näher
eingegangen wird, ist es notwendig, sich einen Überblick über die Akkusa-
tiv- und Dativformen des Personalpronomens zu verschaffen, wie sie in
diesem Denkmal auftreten. Einige Probleme bei der Zuordnung einzelner
Belege, wie sie weiter unten besprochen werden, erklären sich unter ande-
rem durch gewisse Synkretismen.
Die folgende Tabelle zeigt die Akkusativ- und Dativformen des Per-
sonalpronomens, wie sie in Lancelot I in Cod. pal. germ. 147 belegt sind;
seltene Formen stehen in eckigen Klammern, durch ‚=‘ werden Formen
bezeichnet, die graphisch an das vorangehende Wort angelehnt sind:6

Akk. Dat.
Sg. 1. Mich mir
2. Dich dir
3. m. yn, =n im [ym]
3. f. sie, =s ir
3. n. es, =s [=ß] im
Pl. 1. Uns uns
2. Uch uch [úch, ǔch]
3. sie, =s yn
Tabelle 2: Akkusativ- und Dativformen des Personalpronomens in Prosalancelot I

_____________
6 Dieses Paradigma wurde zunächst anhand der exzerpierten Belege erstellt und danach
durch gezielte Suche anhand der elektronischen Edition ergänzt; das Paradigma sollte voll-
ständig sein, allerdings könnten darin seltenere Formen, die nicht in den hier untersuchten
Kombinationen von akkusativischen und dativischen Pronomen belegt sind, fehlen.
522 Jürg Fleischer

Im Vergleich zum Neuhochdeutschen verfügt dieses System über mehr


klitische Formen,7 die allerdings auf die Akkusative der 3. Person be-
schränkt sind. Die klitischen Formen werden durch die folgenden Belege
illustriert, wobei für jede Form Beispiele für das Auftreten in Kombina-
tion mit einem dativischen Pronomen angeführt werden, und zwar jeweils
in beiden möglichen Abfolgen:
(5a) Da fraget sie myn herren Ywan umb synen namen, und er sagten
ir (ed. Kluge 1948, 564)
da fragte sie Herrn Iwein nach seinem Namen und er sagte ihn
ihr (vgl. Steinhoff 1995b, 223)
(5b) Nu bringent mirn herre (ed. Kluge 1948, 238)
nun bringt mir ihn her (vgl. Steinhoff 1995a, 647)
(6a) ob alle die welt uwer were und irs im gebent (ed. Kluge
1948, 296)
wenn die ganze Welt Euer wäre und Ihr sie ihm gäbet (vgl.
Steinhoff 1995a, 801)
(6b) Sie ist myn […] der herczog von Kambenig gab mirs (ed. Kluge
1948, 357)
sie ist mein […] der Herzog von Cambenic gab mir sie (vgl.
Steinhoff 1995a, 963)

_____________
7 In einer bestimmten Konstellation ist es unmöglich festzustellen, ob eine bestimmte Form
als klitisch oder als voll gewertet werden soll, nämlich dann, wenn ein Wort, das auf -e aus-
lautet (oder auslauten könnte), auf den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum trifft
und mit diesem zusammengeschrieben wird, wie dies im folgenden Beleg der Fall ist:
(I) got lones im (ed. Kluge 1948, 291)
Gott lohne es ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 787)
Hier könnte sowohl von einem klitischen Pronomen ausgegangen werden (lone + s) als
auch von einer apokopierten Form des Verbs, in diesem Fall wäre die Pronominalform voll
(lon + es). Da die entsprechende Verbform, wie die folgenden Stellen zeigen, ansonsten mit
und ohne Apokope belegt ist, kann dieses Problem für (I) nicht entschieden werden:
(II) Got lone uch (ed, Kluge 1948, 349)
Gott lohne Euch (vgl. Steinhoff 1995a, 941)
(III) Got lon uch (ed. Kluge 1948, 438)
Gott lohne euch (vgl. Steinhoff 1995a, 1175)
Insgesamt traten sieben Zweifelsfälle wie (I) auf; da das Pronomen jeweils mit dem voran-
gehenden Wort zusammengeschrieben wird, wird es als klitisch gewertet.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 523

(7a) Lancelot stund nyder von sym pferd und gabs im (ed. Kluge
1948, 37)
Lancelot saß ab von seinem Pferd und gab es ihm (vgl. Steinhoff
1995a, 113)
(7b) Ich sagen uch warumb ich ims nit gestattet (ed. Kluge 1948, 503)
ich sage Euch, warum ich ihm es nicht gestattet <habe> (vgl.
Steinhoff 1995b, 65)
(8a) Sie entfliehent uns dann uß dem lande, wir gebens uch (ed. Klu-
ge 1948, 98)
Sie entfliehen uns denn aus dem Land, wir geben sie Euch =
„Wenn sie uns nicht aus dem Lande entfliehen, liefern wir sie
Euch aus“ (Steinhoff 1995a, 273)
(8b) die kint enwerdent uch nymer wiedder, ir engewinnent mirs mit
gewalt an (ed. Kluge 1948, 65)
die Kinder werden Euch niemehr wieder, Ihr gewinnt mir sie mit
Gewalt ab = „die Kinder bekommt Ihr nur zurück, wenn Ihr sie
mir mit Gewalt nehmt“ (Steinhoff 1995a, 187)
In Zusammenhang mit den untersuchten Pronomen bzw. Abfolgen treten
einige orthographische Besonderheiten auf. Der Akkusativ Singular Mas-
kulinum tritt, was die volle Form betrifft, praktisch ausschließlich als
<yn> auf, und das gilt auch für den Dativ Plural; <in> ist der Präposition
in vorbehalten.8 Ebenso treten die vollen Formen des Akkusativs der 3.
Person Singular Femininum und der 3. Person Plural scheinbar nur als
<sie>, nicht jedoch als <sy> oder <si> auf; diese Schreibungen sind für
die 1. / 3. Person Singular des Konjunktivs Präsens von sein reserviert.9 In
einigen wenigen Fällen wird ein Personalpronomen mit selb zusammenge-
schrieben, etwa im folgenden Beleg:
_____________
8 Die folgende Stelle zeigt die beiden Schreibungen in der skizzierten Distribution nebenein-
ander, es scheint, dass die graphische Unterscheidung zwischen Pronomen und Präposition
ziemlich konsequent durchgehalten wird:
(IV) und nam yn in beide sin arm (ed. Kluge 1948, 484)
und nahm ihn in seine beiden Arme (vgl. Steinhoff 1995b, 13).
9 Der folgende Beleg zeigt das Pronomen <sie> neben der Verbform <sy>; auch diese
graphische Unterscheidung scheint ziemlich konsequent durchgehalten zu werden:
(V) sie wenet das ir keyne jungfrauwen mögent geminnen, sie sy dann die schönst von al-
ler der werlt und die edelst (ed. Kluge 1948, 410)
sie glaubt, dass Ihr keine Jungfrau lieben möchtet, sie sei denn die Schönste der gan-
zen Welt und die Edelste = „Sie hat ein Bild von Euch, das nicht zutrifft: sie glaubt,
daß Ihr Eure Liebe nur der Schönsten und Edelsten der Welt schenken werdet“
(Steinhoff 1995a, 1103).
524 Jürg Fleischer

(9) so wil ich sie imselb nemen (ed. Kluge 1948, 601)
dann will ich sie ihm selbst nehmen (vgl. Steinhoff 1995 b, 321)
Eine Überprüfung dieses Belegs am digitalen Faksimile zeigt, dass im und
selb hier tatsächlich eine graphische Einheit bilden.10 Da sich das selb hier
und in anderen Fällen jedoch nicht auf das Dativpronomen, sondern auf
das Subjekt bezieht, gehe ich nicht davon aus, dass imselb als eigenständige
Wortbildung anzusehen ist; derartige Fälle werden als normale Belege
gewertet und mitgezählt.
Aus dem in Tabelle 2 angeführten Paradigma geht hervor, dass im
Pronominalsystem des Prosalancelot I einige Synkretismen auftreten: Zu-
nächst ist darauf hinzuweisen, dass die volle Form des Akkusativs der 3.
Person Singular Maskulinum mit dem Dativ der 3. Person Plural homo-
nym ist; da sich diese beiden Formen sowohl im Kasus als auch im Nume-
rus unterscheiden, treten nur selten Stellen auf, deren Interpretation zwei-
deutig ist. Dann besteht – wie auch im Neuhochdeutschen – ein Synkre-
tismus der Akkusativformen der 3. Person Singular Femininum und der 3.
Person Plural, und zwar sowohl, was die volle, als auch, was die enkliti-
sche Form betrifft. Diese enklitische Form, nicht aber die volle, ist außer-
dem homonym mit dem enklitischen Akkusativ der 3. Person Singular
Neutrum. In der Enklise wird also eine sonst bestehende Opposition des
Pronominalsystems aufgehoben. Schließlich tritt (wie im Neuhochdeut-
schen) ein Synkretismus zwischen den Akkusativ- und den Dativformen
der 1. bzw. 2. Person Plural auf.

6. Probleme bei der Interpretation der Belege


Bei der Interpretation der Belege treten mehrere Probleme auf, die hier
kurz diskutiert werden. Sie stehen teilweise in Zusammenhang mit den
eben behandelten Synkretismen.
Da der Zusammenfall des germanischen s mit dem Lautverschie-
bungs-s, die bis ins 13. Jahrhundert verschieden realisiert wurden (vgl.
Paul u.a. 2007, 170), in Prosalancelot I generell durchgeführt ist (es finden
sich etwa auch bei das keine <z>-Schreibungen mehr), kann in Prosalance-
lot I, anders als im klassischen Mittelhochdeutschen, beim Akkusativ der 3.
Person Singular Neutrum nicht mehr zwischen einer Nominativ- / Akku-
sativform (normalmhd. ëʒ) und einer Genitivform (normalmhd. ës) unter-

_____________
10 Der Beleg findet sich in Cod. pal. germ. 147 auf f. 131v, Z. 8; vgl. online im Internet:
http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 525

schieden werden (vgl. ebd., 214). So ist beispielsweise fraglich, für welchen
Kasus es im folgenden Beleg gewertet werden soll:
(10) er dörfft es yn nit dancken das er den lip behalten het (ed. Kluge
1948, 371)
er dürfe es ihnen nicht danken, dass er das Leben behalten habe
(vgl. Steinhoff 1995a, 1001)
In diesem Beleg tritt es bei einem Verb auf, das im Mittelhochdeutschen
nach Lexer (1869-1878, I, 409) mit Dativ der Person und Genitiv der
Sache konstruiert wird; ein Akkusativ wird nicht erwähnt, dies spricht für
die Interpretation als Genitiv. Umgekehrt wird nach Paul u.a. (2007, 214)
es im Neuhochdeutschen in Wendungen wie ich bin es zufrieden, leid, satt,
überdrüssig, etc. „als Akk. empfunden“, was dennoch dafür sprechen wür-
de, das es im angeführten Beispiel als Beleg für den Akkusativ zu werten.
Allerdings können viele dieser Verben im Neuhochdeutschen – vom frag-
lichen es abgesehen – keinen Akkusativ zu sich nehmen (vgl. *ich bin dich
zufrieden, *ich bin meinen Mitarbeiter zufrieden, *er dankt ihn ihnen) was dagegen
spricht, in es einen Akkusativ zu sehen (für die Sprache des Prosalancelot I
kann natürlich keine muttersprachliche Kompetenz befragt werden).
Derartige Fälle sind als Belege gewertet und in die Auswertungen mit
einbezogen worden, und zwar zunächst deshalb, weil es selten so hinrei-
chend klar wie beim angeführten Beispiel ist, dass das Verb einen Genitiv,
nicht aber einen Akkusativ zu sich nehmen kann – im Gegenteil ist es ja
beispielsweise im Althochdeutschen bekanntermaßen so, dass bei man-
chen Verben Alternationen zwischen Akkusativ- und Genitivobjekten
gang und gäbe sind (vgl. z.B. Donhauser 1998, 73ff.), und auch im Mittel-
hochdeutschen stehen bei vielen Verben Akkusativ und Genitiv zueinan-
der in Konkurrenz (vgl. Paul u.a. 2007, 336 u. 340f.). Deshalb ist eine
Grenze zwischen eindeutig akkusativischen und eindeutig ‚genitivischen‘
Fällen kaum zu ziehen.
Ein anderes Problem besteht darin, dass in einigen Fällen nur schwer
zu entscheiden ist, für welche Form ein klitisches =s steht, etwa im fol-
genden Beleg:
(11) Hett er auch dumber minne an mich gegeret, so moch ichs im nit
versagt han (ed. Kluge 1948, 588)
Hätte er auch törichte Liebe an mich begehrt, so mochte ich
sie / es ihm nicht versagt haben = „Hätte er mich um törichte
Liebe gebeten, ich hätte sie ihm nicht versagen können“ (Stein-
hoff 1995b, 287)
Hier hängt klitisches s vom Verb versagen ab; denkbar ist sowohl, dass es
sich hier auf das vorerwähnte Femininum dumbe minne bezieht (ich hätte sie
526 Jürg Fleischer

[= dumbe minne] ihm nicht verweigert), aber auch, dass es für es steht, womit
dann Bezug auf den gesamten Sachverhalt vorliegt (ich hätte es ihm nicht
verweigert). Dieses Problem kann teilweise auch bei genauer Berücksichti-
gung des Kontexts kaum befriedigend gelöst werden. In manchen Fällen
waren hier Entscheidungen zu treffen, bei denen sicherlich Diskussions-
bedarf bestünde.
Wie im Neuhochdeutschen ist der Nominativ der 2. Person Plural in
Prosalancelot I homonym mit dem Dativ der 3. Person Singular Femininum,
was für die Interpretation mancher Belege ein Problem darstellt. Im fol-
genden Beispiel treten diese beiden Pronomen (zusammen mit einem
Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum) auf:
(12) Und wollent irs ir gleuben nit (ed. Kluge 1948, 494)
Und wollt ihr es ihr nicht glauben (vgl. Steinhoff 1995b, 40)
Dass hier ein Beleg für die untersuchten Abfolgen von akkusativischen
und dativischen Personalpronomen vorliegt, kann zwar nicht bezweifelt
werden, allerdings kann zunächst nicht entschieden werden, für welche
Abfolge er steht: Aufgrund des Neuhochdeutschen liegt es nahe, dass man
das erste ir als Nominativ, das zweite dagegen als Dativ interpretiert ('und
wollt ihr2.PL.NOM es ihr3.SG.F.DAT nicht glauben'), doch könnte letztlich auch die
umgekehrte Auffassung möglich sein ('und wollt ihr3.SG.F.DAT es ihr2.PL.NOM
nicht glauben'). Da in den ausgewerteten Stellen allerdings nie ein Beleg
für ein nominativisches Pronomen auftritt, das nach zwei obliquen Pro-
nomen steht (allerdings gibt es Fälle, in denen das Subjektspronomen
nach einem akkusativischen oder dativischen Pronomen auftritt), zähle ich
diesen Beleg (und mit ihm zwei weitere) für die Abfolge Akkusativ vor
Dativ.
Bei der Interpretation mancher Belege, in denen unzweifelhaft ein ak-
kusativisches und ein dativisches Personalpronomen zusammentreffen,
tritt ein syntaktisches Problem auf, indem unklar ist, ob das Akkusativ-
pronomen und das Dativpronomen vom gleichen Verb abhängen. Dies
illustrieren die folgenden Beispiele; entsprechende Fälle wurden grund-
sätzlich als Belege gewertet:
(13) er hieß mich uch alsus sagen (ed. Kluge 1948, 342)
er hieß mich Euch so sagen = „Er läßt Euch ausrichten“ (Stein-
hoff 1995a, 923)
(14) laßent mich im den hals ab slagen (ed. Kluge 1948, 558)
lasst mich ihm den Kopf abschlagen (vgl. Steinhoff 1995b, 209)
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 527

7. Resultate: die Abfolge akkusativischer und


dativischer Personalpronomen in Lancelot I
In Lancelot I, wie dieser Textteil von Cod. pal. germ. 147 geboten wird,
finden sich nach meiner Zählung insgesamt 482 Belege für die untersuch-
ten Kombinationen von akkusativischen und dativischen Personalprono-
men. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Anzahl der be-
legten Kombinationen:

Dat. Sg. Pl.


Akk. 1. 2. 3. m. 3. f. 3. n. 1. 2. 3.
1. – – 2 – – – 2 –
2. – – – – – – – –
Sg. 3. m. 17 – 20 5 – – 12 1
3. f. 6 1 4 2 – – 4 1
3. n. 113 13 108 26 – 4 102 17
1. – – – – – – – –
Pl. 2. 2 – – – – – – –
3. 3 – 7 3 – – 6 1
Tabelle 3: Belegte Kombinationen in Prosalancelot I

Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, sind die Belege über die verschiedenen
Pronomen und Kombinationen ungleich verteilt: Manche Personalpro-
nomen sind gar nie in einer der untersuchten Kombinationen belegt (etwa
der Akkusativ der 1. Person Plural oder der Dativ der 3. Person Singular
Neutrum), andere dagegen sehr häufig (etwa der Akkusativ der 3. Person
Singular Neutrum oder die Dative der 1. Person Singular, der 3. Person
Singular Maskulinum und der 2. Person Plural). Entsprechendes gilt auch
für die Kombinationen: Während über die Hälfte der theoretisch denkba-
ren Kombinationen gar nie belegt sind, sind manche sehr häufig. In drei
Fällen, nämlich bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singu-
lar Neutrum mit dem Dativ der ersten Person Singular (es mir / mir es), des
Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person
Singular Maskulinum (es ihm / ihm es) und des Akkusativs der 3. Person
Singular Neutrum mit dem Dativ der 2. Person Plural (es euch / euch es)
finden sich jeweils über hundert Beispiele, auf diese drei Kombinationen
entfallen ziemlich genau zwei Drittel aller Belege. Dagegen finden sich für
die nächsthäufigere Kombination, diejenige des Akkusativs der 3. Person
Singular Neutrum mit dem Dativ 3. Person Singular Femininum (es ihr /
ihr es), nur noch 26 Belege. Es versteht sich von selbst, dass Aussagen zur
528 Jürg Fleischer

Abfolge der akkusativischen und dativischen Personalpronomen nur über


die überhaupt belegten Kombinationen gemacht werden können.
Von den Belegen entfallen 310 (64 %) auf die Abfolge Akkusativ vor
Dativ, 172 (36 %) auf die Abfolge Dativ vor Akkusativ. Die folgenden
Tabellen geben einen Überblick über die Anzahl der belegten Kombinati-
onen für die beiden Abfolgen:

Dat. Sg. Pl.


Akk. 1. 2. 3. m. 3. f. 3. n. 1. 2. 3.
1. – – 2 – – – 2 –
2. – – – – – – – –
Sg. 3. m. – – 20 4 – – 12 1
3. f. 2 – 4 2 – – 4 1
3. n. 4 – 99 23 – 4 94 17
Pl. 1. – – – – – – – –
2. 2 – – – – – – –
3. – – 6 1 – – 5 1
Tabelle 4: Belegte Kombinationen für die Abfolge Akkusativ vor Dativ

Dat. Sg. Pl.


Akk. 1. 2. 3. m. 3. f. 3. n. 1. 2. 3.
1. – – – – – – – –
2. – – – – – – – –
Sg. 3. m. 17 – – 1 – – – –
3. f. 4 1 – – – – – –
3. n. 109 13 9 3 – – 8 –
Pl. 1. – – – – – – – –
2. – – – – – – – –
3. 3 – 1 2 – – 1 –
Tabelle 5: Belegte Kombinationen für die Abfolge Dativ vor Akkusativ

Aus einem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass gewisse Kom-
binationen eine klare Affinität zur einen oder anderen Abfolge haben: So
ist bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum
mit dem Dativ der 1. Person Singular die Abfolge Akkusativ vor Dativ
wesentlich seltener als die Abfolge Dativ vor Akkusativ (das Verhältnis
beträgt 4 zu 109, d.h. nur 4 % aller Belege für diese Kombination entfallen
auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ, 96 % dagegen auf die Abfolge Dativ
vor Akkusativ). Dagegen ist das Verhältnis bei der Kombination des Ak-
kusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 529

Singular Maskulinum gerade umgekehrt (es beträgt 99 zu 9, d.h. 92 % aller


Belege entfallen auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ), und das gleiche gilt
auch für die Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum
mit dem Dativ der 2. Person Plural (hier beträgt das Verhältnis 94 zu 8,
d.h. 92 % aller Belege entfallen auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ).
Prototypisch wird diese Distribution durch die folgende Stelle illustriert, in
der hintereinander ein Beleg für die Kombination des Akkusativs der 3.
Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 1. Person Singular und ein
Beleg für die Kombination desselben Akkusativs mit dem Dativ der 3.
Person Singular Maskulinum auftreten – im ersten Fall in der Abfolge
Dativ vor Akkusativ, im zweiten Fall dagegen in der Abfolge Akkusativ
vor Dativ:
(15) da stieß ich mynen fuß in mynen stegreif und wolts im nit geben,
er gewúnne mirs dann an mit jostieren (ed. Kluge 1948, 292)
da setzte ich meinen Fuß in meinen Steigbügel und wollte es ihm
nicht geben, er gewönne mir es denn ab mit tjostieren (vgl. Stein-
hoff 1995a, 789)
Die folgenden Tabellen zeigen für die einzelnen Akkusativ- und Dativ-
pronomen, wie häufig jeweils die Abfolge Akkusativ vor Dativ bzw. Dativ
vor Akkusativ ist. Aus der ersten Spalte, die das Total der Belege angibt,
kann ersehen werden, welche Pronomen so häufig in einer Kombination
mit einem Dativpronomen belegt sind, dass es wahrscheinlich ist, dass die
Prozentwerte tatsächlich eine gewisse Tendenz aufzeigen:

Total Belege Akk. > Dat. Dat. > Akk. % Dat. > Akk.
1. Sg. 4 4 – 0%
2. Sg. – – – –
3. Sg. m. 55 37 18 33 %
3. Sg. f. 18 13 5 28 %
3. Sg. n. 383 241 142 37 %
1. Pl. – – – –
2. Pl. 2 2 – 0%
3. Pl. 20 13 7 35 %
Tabelle 6: Auftreten und Häufigkeit der Akkusativpronomen in den beiden Abfolgen
530 Jürg Fleischer

Total Belege Akk. > Dat. Dat. > Akk. % Dat. > Akk.
1. Sg. 141 8 133 94 %
2. Sg. 14 – 14 100 %
3. Sg. m. 139 129 10 7%
3. Sg. f. 36 30 6 17 %
3. Sg. n. – – – –
1. Pl. 4 4 – 0%
2. Pl. 126 117 9 7%
3. Pl. 20 20 0 0%
Tabelle 7: Auftreten und Häufigkeit der Dativpronomen in den beiden Abfolgen

Aus dem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass die Akkusativ-
formen, wo einigermaßen zahlreiche Belege vorhanden sind, alle jeweils
zu etwa 30 % bis 40 % in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten;
zwischen den einzelnen Akkusativpronomen gibt es keine großen Unter-
schiede. Bei den dativischen Pronomen treten dagegen deutlich unter-
schiedliche Werte auf: die Dativpronomen der 1. und 2. Person Singular
finden sich sehr oft, nämlich mit über 90 %, in der Abfolge Dativ vor
Akkusativ; dagegen liegt dieser Wert beim Dativpronomen der 3. Person
Singular Maskulinum bei 7 %, und dasselbe gilt auch für das Dativprono-
men der 2. Person Plural; bei den anderen Pluralformen liegt dieser Wert
gar bei 0 % (wobei bei der 1. Person Plural nur relativ wenige Belege vor-
handen sind). Einzig beim Dativ der 3. Person Singular Femininum liegt
der Wert für die Abfolge Dativ vor Akkusativ etwas höher, wenn diese
Abfolge auch mit 17 % noch immer deutlich in der Minderheit ist.
Das Auftreten der verschiedenen Abfolgen kann also am besten in
Abhängigkeit der involvierten Dativpronomen beschrieben werden, kaum
jedoch in Abhängigkeit der Akkusativpronomen: Bei den Dativen der 1.
und 2. Person Singular tritt die Abfolge Dativ vor Akkusativ sehr häufig
auf, seltener ist diese beim Dativ der 3. Person Singular Femininum; bei
den übrigen Dativen ist sie dagegen sehr selten. Prototypisch sind deshalb
die folgenden Belege, die die dativischen Pronomen jeweils in der für sie
häufigeren Abfolge zeigen:
(16) Nu gent mir sie zuhant (ed. Kluge 1948, 144)
nun gebt mir sie sogleich (vgl. Steinhoff 1995a, 397)
(17) Nu wil ich dirs sagen (ed. Kluge 1948, 395)
nun will ich dir es sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 1065)
(18) und man bracht yn im (ed. Kluge 1948, 413)
und man brachte ihn ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 1109)
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 531

(19) Man bracht yn ir (ed. Kluge 1948, 469)


man brachte ihn ihr (vgl. Steinhoff 1995a, 1257)
(20) sagents uns (ed. Kluge 1948, 231)
sagt es uns! (Steinhoff 1995a, 629)
(21) ich wil yn uch sagen (ed. Kluge 1948, 218)
ich wil ihn Euch sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 593)
(22) Sie enwolts yn nicht sagen (ed. Kluge 1948, 60)
sie wollte es ihnen nicht sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 173)
Aus den angeführten Belegen geht hervor, dass sowohl volle als auch
klitische Akkusativpronomen der 3. Person in beiden Abfolgen auftreten.
Dazu soll nun untersucht werden, inwieweit in Bezug auf das Auftreten
der Pronomen in den untersuchten Kombinationen Unterschiede zwi-
schen klitischen und vollen Formen bestehen. Wie die in Abschnitt 5
angeführten Belege (5) bis (8) zeigen, kommen die klitischen Formen
grundsätzlich in beiden Abfolgen vor; im Folgenden soll jedoch überprüft
werden, ob sich für das Auftreten in der einen oder anderen Abfolge Un-
terschiede zwischen den vollen und den klitischen Formen ergeben. Die
folgende Tabelle zeigt zunächst, wie häufig die klitischen und die vollen
Formen in den ausgewerteten Belegen jeweils sind:

Total Bel. voll klit. % klit.


3. Sg. m. 55 31 24 44 %
3. Sg. f. 18 13 5 28 %
3. Sg. n. 383 100 283 74 %
3. Pl. 20 10 10 50 %
Tabelle 8: Anzahl voller und klitischer Akkusativformen in den untersuchten Kombinationen

Aus dieser Tabelle geht zunächst hervor, dass mit Abstand am meisten
Belege für die 3. Person Singular Neutrum vorhanden sind, gefolgt von
der 3. Person Singular Maskulinum. Entsprechend können sich die Aussa-
gen zu diesen beiden Pronomen auf die meisten Daten stützen. Es zeigt
sich, dass der Anteil klitischer Formen bei der 3. Person Singular Neutrum
am größten ist: Hier sind fast drei Viertel aller Formen klitisch, wogegen
dies bei den anderen Formen nur bei der Hälfte oder noch weniger aller
Belege der Fall ist. In der folgenden Tabelle wird aufgeschlüsselt, wie häu-
fig die vollen und die klitischen Formen in den beiden Abfolgen belegt
sind:
532 Jürg Fleischer

Akk. > Dat. Dat. > Akk. % Dat. > Akk.


in 29 2 6%
3. Sg. m.
=n 8 16 67 %
sie 9 4 31 %
3. Sg. f.
=s 4 1 20 %
es 99 1 1%
3. Sg. n.
=s 142 141 50 %
sie 8 2 20 %
3. Pl.
=s 5 5 50 %
Tabelle 9: Häufigkeit des Auftretens der vollen und klitischen Formen in den Abfolgen

Aus dieser Tabelle kann ziemlich eindeutig herausgelesen werden, dass die
volle Form der 3. Person Singular Maskulinum nur sehr selten in der Ab-
folge Dativ vor Akkusativ auftritt (nämlich nur in 6 % aller Fälle), und
dasselbe gilt (mit noch eindeutigeren Zahlen, die sich zudem auf mehr
Belege stützen) bei der 3. Person Singular Neutrum (hier tritt die volle
Form in der Abfolge Dativ vor Akkusativ nur in einem einzigen Beleg auf,
was 1 % entspricht). Bei den Formen der 3. Person Singular Femininum
und der 3. Person Plural besteht dieselbe Tendenz, allerdings sind die
Zahlen hier weniger eindeutig. Vom Belegpaar (23) zeigt also der erste
Beleg das typische, der zweite das atypische Auftreten der vollen Formen
des Akkusativs der 3. Person Singular Maskulinum; das gilt auch für die in
(24) zitierte Stelle, in der hintereinander beide Abfolgen derselben Kom-
bination auftreten, zuerst in der typischen, danach in der atypischen:
(23a) das ich yn ir benomen hab (ed. Kluge 1948, 338)
dass ich ihn ihr genommen habe (vgl. Steinhoff 1995a, 911)
(23b)Ir mögent mir yn wol nemen (ed. Kluge 1948, 635)
Ihr könnt mir ihn wohl nehmen (vgl. Steinhoff 1995b, 409)
(24) ‚Ich wil es uch geben‘, sprach myn herre Gawan, ‚mag ich uch es
mit eren geben […]‘ (ed. Kluge 1948, 204)
‚Ich will es Euch geben‘, sprach Herr Gawan, ‚kann ich Euch es
mit Ehren geben […]‘ (vgl. Steinhoff 1995a, 555)
Im Gegensatz zu den vollen Formen der 3. Person zeigen die klitischen
Formen keine besondere Tendenz dazu, vor oder nach dem dativischen
Pronomen aufzutreten. Besonders bemerkenswert ist dies bei der Form
der 3. Person Singular Neutrum = s, welche in beiden Abfolgen ziemlich
genau gleich häufig auftritt, und dies ist auch bei der 3. Person Plural der
Fall; einzig die enklitische Form der 3. Person Singular Maskulinum tritt
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 533

etwas häufiger nach als vor dem Dativpronomen auf, wogegen die 3. Per-
son Singular Femininum, zu der allerdings nur wenig Belege vorhanden
sind, häufiger in der umgekehrten Abfolge belegt ist.

8. Zusammenfassung und Ausblick


Aus der Untersuchung der Abfolge akkusativischer und dativischer Perso-
nalpronomen in Lancelot I hat sich ein relativ konsistentes System ergeben:
Die Dative der 1. und 2. Person Singular treten sehr häufig in der Abfolge
Dativ vor Akkusativ auf, die übrigen Dative dagegen in der umgekehrten
Abfolge. Einzig der Dativ der 3. Person Singular Femininum kommt
ebenfalls etwas häufiger in der Abfolge Dativ vor Akkusativ vor, aber
auch diese Form findet sich in dieser Abfolge wesentlich seltener als in der
Abfolge Akkusativ vor Dativ. Die klitischen Akkusative treten in beiden
Abfolgen gleichermaßen auf; hingegen weisen die vollen Formen des Ak-
kusativs, am deutlichsten zu sehen bei der 3. Person Singular Maskulinum
und der 3. Person Singular Neutrum, eine klare Tendenz dazu auf, vor
dem dativischen Pronomen zu stehen. Für die Prosalancelot-Philologie
könnte in Zukunft eine Untersuchung von Lancelot II und Lancelot III inte-
ressant werden: Lassen sich in Bezug auf das untersuchte Phänomen Un-
terschiede zwischen den Textteilen feststellen, können daraus vielleicht
weitere Schlüsse zur Entstehungsgeschichte gezogen werden.
Der Befund, dass die Abfolge Dativ vor Akkusativ vor allem bei den
Dativen der 1. und 2. Person Singular, gefolgt vom Dativ der 3. Person
Singular Femininum (der sich allerdings schon wesentlich seltener in die-
ser Abfolge findet), auftritt, entspricht ziemlich genau jener Distribution,
wie sie auch in einem Korpus aus Prosawerken Goethes beobachtet wer-
den kann (vgl. Fleischer i. Dr.). Dagegen ergibt sich, wenn man die Be-
funde zu Lancelot I mit den Befunden zu Otfrid vergleicht, zumindest ein
klarer Unterschied (leider bietet Otfrid in Bezug auf viele Kombinationen
zu wenig Daten): Bei Otfrid findet sich der Akkusativ der 3. Person Singu-
lar Neutrum sehr häufig auch nach anderen Dativformen als denjenigen
der 1. und 2. Person Singular (vgl. Fleischer 2005, 25, Tabelle 2). Wodurch
diese Unterschiede bedingt sind (beispielsweise stellt sich die Frage, ob sie
diachron oder dialektal eingeordnet werden können), muss vorderhand
offen bleiben, bis durch weitere Einzelanalysen ein klareres Bild der Ab-
folge von akkusativischen und dativischen Personalpronomen im deut-
schen Diasystem gewonnen werden kann.
Die Distribution, wie sie sich in Lancelot I bietet, kann vielleicht durch
das Wirken der Belebtheitshierarchie erklärt werden (vgl. Fleischer i. Dr.):
Pronomen der 1. und 2. Person stehen vor Formen der 3. Person. Die
534 Jürg Fleischer

eher gegen diese Erklärung sprechende Tatsache, dass sich die 1. und 2.
Person Plural anders verhalten als die 1. und 2. Person Singular, könnte
durch eine weitere Regularität, gemäß welcher Singular- vor Pluralformen
stehen, allenfalls erklärt werden; doch passt der Befund, dass neben der 1.
und 2. Person Singular auch der Dativ der 3. Person Singular Femininum
doch häufiger in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt als etwa der
Dativ der 3. Person Singular Maskulinum, nicht gut in diese Erklärung.
Dieser Befund spricht eher dafür, dass phonologische Faktoren zumindest
eine gewisse Rolle spielen: Die drei Pronomen, die insgesamt am häufigs-
ten in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten, weisen alle den gleichen
Vokal und den gleichen Auslaut auf. Diese Fragen der Analyse müssen
allerdings noch wesentlich genauer erforscht werden, als es hier getan
werden konnte.

Quellen

Lancelot I. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. germ. 147, Reinhold Kluge
(Hrsg.) (1948), (Deutsche Texte des Mittelalters 42), Berlin.
Lancelot und Ginover I. Prosalancelot I. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147,
Reinhold Kluge (Hrsg.) (1995a), ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017-
8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert u hrsg. v. Hans-
Hugo Steinhoff, (Bibliothek des Mittelalters 14), Frankfurt a. M.
Online im Internet:
http://klassiker.chadwyck.com/deutsch/home/home.
Lancelot und Ginover II. Prosalancelot II. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147,
Reinhold Kluge (Hrsg.) (1995b), ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017-
8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. Hans-
Hugo Steinhoff, (Bibliothek des Mittelalters 15), Frankfurt a. M.
Online im Internet:
http://klassiker.chadwyck.com/deutsch/home/home.

Literatur

Behaghel, Otto (1932), Deutsche Syntax: eine geschichtliche Darstellung, Bd. 4: Wortstellung.
Periodenbau, Heidelberg.
Donhauser, Karin (1998), „Das Genitivproblem und (k)ein Ende? Anmerkungen zur
aktuellen Diskussion um die Ursachen des Genitivschwundes im Deutschen“, in:
John Ole Askedal (Hrsg.), Historische germanische und deutsche Syntax. Akten des Inter-
nationalen Symposiums anläßlich des 100. Geburtstages von Ingerid Dal. Oslo 1995, (Oslo-
er Beiträge zur Germanistik 21), Frankfurt a. M. u.a., 69-86.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen 535

Duden-Grammatik = Duden: die Grammatik (2005), 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl.,
Mannheim u.a.
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Textsortenabhängige syntaktische Variation
in Christine Ebners Schwesternbuch
des Dominikanerinnenklosters Engelthal
(Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie?

Gisela Brandt (Berlin)

1. Betrachtungsrahmen
Das Schwesternbuch des Dominikanerinnen-Klosters Engelthal bei Nürn-
berg, Christine Ebners „Büchlein von der Genaden Uberlast“, ist vor
1346 entstanden und als einzige der bekannten neun historiographischen
Quellen dieses Typs in einer zeitgenössischen Abschrift erhalten (N, Mitte
bzw. 2. Hälfte des 14. Jh.). Diese Nürnberger Handschrift besteht aus 69
initial markierten Abschnitten, in denen fortlaufend geschrieben ist. Die
meisten dieser Abschnitte lassen sich als selbständige Texte auffassen (vgl.
Brandt i. Dr.). 37 dieser Texte (37 Abschnitte) fungieren als Quellen dieses
Beitrages. Sie werden in der Regel durch eine Textsorte definierende Ge-
genstandsanzeige eröffnet (Belege 2-14).
Der Einstiegstext ordnet sich der Textsorte Vorwort zu. Alle anderen
Texte sind Geschichtserzählungen, Geschichtserzählungen der Subklassen
Ereignis- bzw. Situationsskizze und Schwesternporträt.
• Das Vorwort ist als Erörterung ausgelegt und hat eine dreigliedrige
Makrostruktur, es besteht aus Gegenstandsanzeige, Gegenstandsbe-
trachtung und Selbsteinschätzung der Autorin.
• In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen wirken die Kommunikati-
onsverfahren Anzeigen und Beschreiben zusammen. Personencha-
rakteristiken verleihen einigen von ihnen (T5, T6, T11) porträthafte
Züge. Diese Skizzen fügen sich zu einer Chronik, welche die Vor-
und Gründungsgeschichte des Klosters umreißt und sich damit auf
den Zeitraum 1211-1248 bezieht.
538 Gisela Brandt

• Den Schwesternporträts kann eine drei- bzw. achtgliedrige Makro-


struktur unterlegt werden, die sich am Aufbau einer vollständigen
Vita orientiert (Tab. 1; vgl. Brandt i. Dr.). Diese Schwesternbilder
werden von einer Personencharakteristik (Segment I-III) eröffnet.
Danach wird von Gnadenerleben der Schwestern zu Lebzeiten
(Segment IV) und / oder im Ableben (Segment V) erzählt. In kei-
nem Text aber ist die Matrix vollständig ausgeführt.
Bei der Erschließung und Bewertung syntaktischer Variation ist also von
folgender Konstellation auszugehen:
Funktionalbereich: religiöse Erbauung
Texttyp: Erörterung - Erzählung
Textsorte: Vorwort - Chronik
- Ereignisskizze
- Situationsskizze
- Schwesternbild.
Der Gesamttext ordnet sich der religiösen Erbauungsliteratur zu. Ein
Subtext vertritt den Texttyp Erörterung. 36 Subtexte stellen sich zum Text-
typ Erzählung. Dem thematischen Bezug bzw. der funktionalen Ausrich-
tung nach ist der erörternde Text ein Vorwort. Von den 36 Erzählungen
sind die acht Ereignis- bzw. Situationsskizzen Subtexte einer Chronik; 28
sind Schwesternbilder. Alle drei Komponenten – Funktionalbereich, Text-
typ und Textsorte – beeinflussen die Textgestaltung. In meinem Beitrag
geht es vornehmlich um die Prägekraft der Textsorte. Mit der ihm
zugrunde liegenden Textsorten konfrontierenden syntaktischen Studie bin
ich folgenden Fragen nachgegangen:
• Zum einen: Wie sind Textfugen und Prädikatsvorfelder der Text
eröffnenden Ganzsätze besetzt, und welche Rolle spielen die hier
positionierten syntaktischen Einheiten bei der Textverflechtung?
• Zum andern: Wie werden Ganzsatzfugen und Prädikatsvorfelder
der nachgeordneten Ganzsätze belegt, und welchen Beitrag leisten
diese Belegungen zur textinternen Aussagenverflechtung?
• Zum dritten: Mit welchen Ganzsatztypen operiert Christine Ebner
in den drei Basistextsorten?
• Und schließlich: Inwiefern kann nach den Ergebnissen dieser auf
nur fünf Parameter orientierten Untersuchung mit Bezug auf das
Engelthaler Schwesternbuch von Textsorten abhängiger syntakti-
scher Variation die Rede sein?
Textsortenabhängige syntaktische Variation 539

Text Textstruktur TL TSorte


Nr. I II III IV V – Gnadenerweise im Zeit (vor-
Ableben läufig)
im
Pers Umst Tug vT iSt T nT
Leben
T13° + – – + – – – – 7 OAnz
T44 + – + + – – – – 21 kP
T34 + – – – + – – + 12 kP
T14* + – + – + – + – 18 kP
T32* + – + – + – + + 36 kP
T36° + – + – + – – + 53 kP
T49 + – + – + + – – 98 kP
T50 + – + – + – + – 14 kP
T51 + – + – + – – + 18 kP
T58 + – + – + – + – 20 kP
T65* + – + – + – + – 12 kP
T68 + – + – + – + – 10 kP
T18* + + + – + + – – 12 kP
T28 + + + – + – + – 67 kP
T38 + + + – + – + – 8 kP
T48 + + + – + – – – 25 kP
T66 + + + – + – + – 11 kP
T53 + – – + – – – + 21 kP
T35* + – – + + – + – 47 kP
T37 + – – + + – + – 27 kP
T33 + – + + + – + – 45 kV
T62 + – + + + – + + 26 kP
T69 + – + + – – + – 30 kP
T45 + + + + + – + + 39 kV
T47 + + + + + – + – 44 kP
T52 + – + + + – + – 146 kV
T54 + – + + + + + – 106 kV
T46 + – – + + – + + 111 kV
28T 28x 7x 22x 12x 24x 3x 19x 8x
Tabelle 1: Textstruktur der 28 Schwesternbilder (nach Brandt i. Dr., Übersicht 2)1

_____________
1 Pers: Person, Umst: Begleitumstände, Tug: Tugenden, vT: vor dem Tod, T: Todesanzeige,
iSt: im Sterben, nT: nach dem Tod, im Leben: Gnadenerweise und Verhalten im Leben,
TL: Textlänge, Zei: Zeilen, kP: Kurzproträt, kV: Kurzvita, O: Offenbarung, Anz: Anzeige,
°: Schwester des 1. Schweinacher Konvernts, *: Konventualinnen im 13. Jahrhundert.
540 Gisela Brandt

2. Textsorten differenzierende Besetzung


von Textfuge und Prädikatsvorfeld
des Text eröffnenden Ganzsatzes?
Textanfänge sind in der Handschrift N regelmäßig durch Hervorhebung
der initialen Majuskel an einem Zeilenanfang markiert. Die Textfuge bleibt
in der Regel unbesetzt. Allein zwischen den Stiftungsgeschichten Text 5
und Text 6 ist sie mit einem Text verknüpfenden Erzählerkommentar
gefüllt (1). Da heißt es nach der Stiftungsgeschichte von Kirche und zwei
Altären:
(1) Wıe der drıtte alter her ıſt
kumē daa wıl ıch euch auch kunt tu:n [CE-T5,8.5f.].
Die Belegung des Prädikatsvorfeldes des initialen Ganzsatzes variiert mit
der Textsorte (vgl. Tabelle 2 im Anhang). In den Ereignis- bzw. Situa-
tionsskizzen erscheint hier in der Regel eine adverbiale Zeitangabe, in den
Schwesternporträts durchgängig eine auf die besprochene Person bezoge-
ne nominale Statusangabe, im Vorwort eine pronominale Angabe zur
ausführenden Person. Textsortenabwandlung in der Skizzenreihe wird
durch abweichende Füllung des Vorfeldes signalisiert.
Die Angabe zur sprechenden bzw. ausführenden Person im initialen
Ganzsatz des Vorwortes (2) und später ist durch das Personalpronomen
Jch realisiert:
(2) Jch heb eın bu:chlín hıe an [CE-T1,1.1].
Eine Auflösung dieser Chiffre erfolgt auch später nicht.
Die porträtierten Schwestern als besprochene Personen (3) dagegen
haben zumeist einen Namen, der in der Regel über hıeʒ mit der Satz eröff-
nenden Statusangabe verknüpft ist:
(3) Eín ſweſter hıeʒ alheıd von Gríndlach [CE-T34,55.9]
Eín laıſweſtˤ hıeʒ jewt von vnʒelho uen [CE-T44,69.9f.]
Dıe erſt meıſterın dıe do/e Thilbet/C habet
hıeʒ alheıt Rotteren [CE-T13,17.9f.] [Hs W die da hıeʒ ]
Ein ſweſter dıe het vndˤn hˤren lang
vmb eın dínk gebetē daʒ er ír ... [CE-T53,89.22f.].
Wo die Statusangabe ins Prädikatsnachfeld gerückt ist, tritt ein unbe-
stimmtes Pronomen (4) oder das unpersönliche Pronomen eʒ (5) an die
Spitze des Satzes:
Textsortenabhängige syntaktische Variation 541

(4) Eınev hıeʒ ſweſter leugart von || perg [CE-T14,17.16f.]


(5) E ʒ waʒ eín fraw díe híeʒ alheit || von herſpruk [CE-T28,38.21f.].
Die Variante mit grammatischem Subjekt eʒ eröffnet auch die beiden por-
trätnahen Stiftungsgeschichten in der Skizzenreihe (6):
(6) E ʒ ſaʒ eín reıcher pfaff ʒe Vilſeck dˤ || híeʒ Vlſchalk [CE-T5,7.8f.]
E ʒ ſaʒ eın edel man ʒe Schonberg || auf der burge der ward ... [CE-
T6,8.8f.].
Fünf der sechs temporal eingeführten Ereignis- bzw. Situationsskizzen
eröffnen mit temporalen Kernsubstantiven in attributiv erweiterten No-
minalgruppen, mit
IN der ʒeıt da ... da (7), JN den ʒıten da ... da (10), Jn den ſelben ʒeıten
do (12), JN dem erſten aduent da ... [da] (11), Der anuank ırs lebens (9).
Viermal erfolgt Wiederaufnahme durch anaphorisches da/do. Eine feste
Verankerung im äußeren Zeitrahmen durch Jahresangaben unterbleibt.
Alle Zeitpunkte sind situationsdefiniert.
(7) IN der ʒeıt da der kuníg uon vngerne
ſeín heılıgeu tohter Elíʒabethen gemehe
let dem Lantgrauen Ludwıg uō Heſ
ſen da ſant er ſıe mít gróʒʒē eren hıntʒ
Nurnberch da deu brautlauft ſolte
ſeín Da gab er ır eín Rotterín auf dē
wek dıe hıeʒ Alheıt ob daʒ kínt wur
de waınen daʒ ſıe eʒ danne ſtıllet mıt
dem ſaıtenſpıl [CE-T2,2.21ff.]
(8) Da dıe brautlauft uergınk , v] daʒ
heılıg kínt von dannē wart ge
furet da wolt ím dıe Rotterín nıht
mer nach uolgen . [CE-T3,2.7ff.]
(9) Der anuank ırs lebens waʒ alſo . [CE-T4,3.10]
(10) JN den ʒıten da ſıe daʒ geſank heten
gelernt da bat der ſtıfter der frawē
maıſtˤın daʒ ſıe ırre frawē hıntʒ Reıch
nek breht daʒ ſıe ım meſſe ſungē
ın eıner Capeln an dem pfıngſtag
daʒ geſchach . [CE-T10,14.17ff.]
542 Gisela Brandt

(11) JN dem erſten aduent da ſie nach dē


oɿden ſungen [da ...] vnd ır erſte ſankmeıſt’
ın dıe hıeʒ haılrat [CE-T11,15.6ff.]
(12) Jn den ſelben ʒeıten do fugt eʒ ſıch alſo
daʒ dıe predıger uon Regenspurch ın
dıſe gegend wurden wandeln [CE-T12,16.9ff.]
Textsortenmischung führt in Text 11 (11) zu einem doppelten Anakoluth.
Hier scheitert der Versuch, die auf die Ausstrahlung der Sangmeisterin
ausgerichtete Ereignisskizze als chronikalische Erzählung auszuführen:
Die temporale Einleitung bricht nach dem Attributsatz ab; für die koordi-
nierende Anknüpfung der Personencharakteristik mit vnd in der Fuge zum
nachgeordneten Ganzsatz fehlt die inhaltliche Basis.
Textverknüpfende Funktion haben die initialen Satzglieder der Text
eröffnenden Ganzsätze nur in der Ereignis- bzw. Situationsskizzenreihe.
Alle temporalen Angaben definieren den zeitlichen Abstand zum voraus-
gehenden Ereignis und signalisieren chronologische Ordnung der Ge-
schichtserzählungen. Textverflechtung erfolgt darüber hinaus durch das
Kernsubstantiv des Temporals in Text 3: brautlauft (8) und durch das pro-
nominale Attribut des Adverbials in Text 12: den ſelben (12).
Während Textsorten abhängige syntaktische Variation des initialen
Ganzsatzes in Christine Ebners Schwesternbuch also allgemein gilt, findet
Textverflechtung über Textfuge (einmal) und Textspitze (sechsmal) nur in
der Skizzenreihe statt. Sie signalisiert die Teiltextfunktion der Skizzen in
einem größeren Textganzen. Dass es sich bei diesem Großtext um ein
Exemplar der Textsorte Chronik handelt, ergibt sich aus dem Inhalt der
Teiltext eröffnenden temporalen Angaben.

3. Textsorten differenzierende Belegung


von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld
des nachgeordneten Ganzsatzes?
Setzt man von Textfuge und initialem Ganzsatz zurück auf die nachge-
ordneten Ganzsätze und auf die Ganzsatzfugen, so ergibt sich folgendes
Bild (vgl. Tabelle 3). Die Ganzsatzfuge (Spalte 5) wird von Christine Eb-
ner in Vorwort und Porträtreihe vor jedem zehnten nachgeordneten
Ganzsatz mit einer Konjunktion besetzt, in der Skizzenreihe vor jedem
fünften nachgeordneten Ganzsatz, d.h. doppelt so häufig wie in den kom-
plementären Textsorten des Schwesternbuches.
Textsortenabhängige syntaktische Variation 543

Text- Texte GS nGS GSFu Konjunktionen


sorte Ko sA vnd(e) aber wann(e)
'denn'
Vor- 1 10 9 1 – – – 1
wort
Skizze 8 110 102 22 – 16 1 5
Porträt 28 394 366 37 1 30 3 4

Tabelle 3: Besetzung der Ganzsatzfuge2

Meist wird mit vnd(e) allgemein auf eine kopulative Beziehung zwischen
den auf einander folgenden Ganzsätzen verwiesen, selten mit wann(e) auf
eine kausale und noch seltener mit aber auf eine adversative Beziehung. In
einem Schwesternporträt ist die Ganzsatzfuge außerdem mit einem Satz-
adverb belegt (13), mit Unabänderlichkeit signalisierendem halt:
(13) [aSG] [HS] Eín ſweſtˤ hıeʒ dıemu:t vō Nurnbˤg
vnd waʒ dev [atNS1] dıe beı den erſtē wont
vnd níe entʒuket wart . [eeS] vnd halt ī
allen ırn leben da tet ır got keíne
ſunder gnade nıht [CE-T36, 58.2-6].
Im argumentativen Vorwort (14) korrespondiert die Fugenfüllung wanne
′denn′ (Zeile 12) mit der Besetzung je eines Prädikatsvorfeldes mit einem
kausalen und einem konsekutiven Adverbial: da uon ′deshalb′ (Zeile 13),
Nu ′also, folglich′ (Zeile 16). Daraus folgt jedoch nicht, dass die Argumen-
tationslinie von der Autorin stringent markiert wäre. Nicht ausgezeichnet
sind die Begründung der ersten Sentenz (Zeile 9) und die Schlussfolgerung
(Zeile 15). Reflektiert wird mit den Auszeichnungen der Texttyp Erörte-
rung, den der Einstiegstext repräsentiert, nicht die Textsorte Vorwort.
(14) Anz 1 [eeS] {S-P} Jch heb eın bu:chlín hıe an [sSG] [HS]
{l-A}da kumet mā
an deʒ Cloſters ʒe Engeltal anuank vnd
die meníg der genaden gotes [atNS1] dıe er mít
den frawen getan hat an dem anuang . vnd
Erört 5 nv ſıder uon der menıg ſeíner auʒbrechen
den tugende [atNS1] dıe als wenig geſtıllen mak
Sent 1 als daʒ mer ſíner auʒ flíʒʒenden kraft . ↑ [eeS] {S-P}níe

_____________
2 GS: Ganzsatz, nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA:
Satzadverb.
544 Gisela Brandt

mant ıſt kumē ʒv groʒʒer heılíkeıt uon


ſeın ſelbeʒ fru:míkeıt . [wann] [eeS] {S-P} er hat ſıe alle
dar ge
Sent 2 10 ʒogen uon ſıner frıen wille ku:r . ↑ [aSG] [HS] {S-P}er
ıſt ge
waltıg noch dar ʒu daʒ er ſınen freunden
Sent 3 gutlıch tu . ↑ wanne ['denn'] [eeS] {S-P} er derkent
alleín alle
dínk [eeS] {k-A} da uon ['deshalb'] tut er eínē gutlıch
vnd dē
andern nıht ↑ [eeS] {O4-P}daʒ mugen vnder menſche
15 lıchen ſínne niht begreıfen . [eeS] [also] {–} wollen wír
Selbst an werren ſeín . ↑↑ [aSG] {ks-A} Nu ['also, folglich']
wolt ıch gern ſchreı
ben etſwaʒ uon der genaden uberlaſt . [kzNS1] So ['doch,
obgleich']
han ıch laıder cleínen ſın . vnd kan dar ʒv
der ſchrıft nıht . [kNS1] wanne daʒ ['weil'] ıch ʒv dıſē dín
gen mıt der gehorſam betwungē bín [CE-T1,1.1ff.]
Anz(eige des Gegenstandes), Erört(erung), Sent(enz), Selbst(einschätzung), eeS: einfacher Ein-
fachsatz, sSG: gestrecktes Satzgefüge, aSG: abperlendes Satzgefüge, HS: Hauptsatz, <>: ge-
spreizt, NS1: Nebensatz ersten Abhängigkeitsgrades, S: Subjekt, O4: Akkusativobjekt, l(okale),
k(ausale), k(on)s(ekutive), k(on)z(essive) Angabe, P(ronomen), A(dverb), at(tributiv)

Charakteristisch für den Texttyp Erörterung ist auch, dass temporale Ganz-
satzverknüpfung über diese Position unterbleibt (vgl. Tabelle 4 im An-
hang). Die auf Bewegung in der Zeit orientierten Geschichtserzählungen
dagegen zeichnen sich durch die Belegung des Prädikatsvorfeldes mit
Temporalen aus.
In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen geschieht das in einem Drittel
der nachgeordneten Ganzsätze, in den Porträts in fast zwei Dritteln dieser
syntaktischen Einheiten. Die besonders hohe Frequenz der Temporale in
den Schwesternbildern resultiert aus der chronologischen Einordnung
einer mitunter großen Zahl von Gnadenerleben in die Lebensläufe der
porträtierten Schwestern. Und die Ausrichtung dieser Erzählungen vor-
nehmlich auf Gnadenerleben bringt es mit sich, dass Subjekte nicht einmal
in einem Drittel der nachgeordneten Ganzsätze ins Prädikatsvorfeld ge-
rückt sind, während das in den Skizzen bei fast der Hälfte der Sätze der
Fall ist.
Ausgeführt sind die Anschlussglieder im Prädikatsvorfeld des nachge-
ordneten Ganzsatzes von Christine Ebner Textsorten übergreifend vor-
Textsortenabhängige syntaktische Variation 545

nehmlich als Pronomen oder Adverbien (vgl. Tabelle 5 im Anhang), also


in lexikalischen Einheiten, die zumeist grammatisch-kategoriale Parameter
des vorhergehenden Satzes aufnehmen und in kürzester Form syntakti-
sche Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen explizieren. Im
Vorwort werden sogar nur solche Wörter verwendet.
Die Differenz zwischen Ereignis- bzw. Situationsskizzen und Schwes-
ternbildern im Aufkommen der Subjekte und Temporale reflektiert sich
hier im höheren Anteil von pronominalen und nominalen Anschlussfor-
men in den Skizzen sowie im höheren Anteil von Adverbien und Neben-
sätzen in den Schwesternporträts. Als Prowörter fungieren in den Ebner-
Texten:
er/ſie/eʒ, der/die/daʒ; da/do, da ... ınnē (3x), dar nach (7x),
da uon (2x), dar ʒu (1x), doch (1x), nv (3x), furbaʒ (1x); ſo (2x), alſo
(3x), ſunderlıch (1x).
Sie nehmen mehrheitlich durch d-Initial auf Vorausgehendes Bezug oder
verweisen durch so-Komponente auf Ableitungen daraus. In Skizzen und
Porträts (vgl. Tabelle 6 im Anhang) erfolgt diese Auszeichnung bei mehr
als der Hälfte der pronominalen Formen. Bei den adverbiellen Formen
(vgl. Tabelle 7 im Anhang) ist diese Markierung noch stärker ausgeprägt.
In den Skizzen beträgt sie 100 %, in den Porträts 97,7 % und im Vorwort
66 %.
Textsorten übergreifend nutzt Christine Ebner die Ganzsatzfuge also
relativ selten zur Ganzsatzverknüpfung. Dafür nutzt sie fast ausschließlich
das Prädikatsvorfeld, das sie vorwiegend mit Pronomen und Adverbien
besetzt, von denen die meisten durch d-Initial oder so-Komponente ent-
sprechend markiert sind.
Wo die Autorin die Ganzsatzfuge mit einer Konjunktion belegt, hat
das wie die funktionale Besetzung des Prädikatsvorfeldes Texttyp markie-
rende Wirkung. Besonders deutlich wird das im Vorwort, wo – das
Kommunikationsverfahren Erörtern unterstützend – über die Konjunk-
tion in der Satzfuge nur eine kausale Beziehung und über die Umstands-
angabe im Prädikatsvorfeld lediglich eine kausale und eine konsekutive
Beziehung signalisiert wird. In den Textsorten Ereignis- bzw. Situations-
skizze und Schwesternporträt dagegen wird – das Kommunikationsver-
fahren Erzählen unterstützend – die Ganzsatzfuge vornehmlich mit einer
reihenden Konjunktion besetzt, die Umstandsangaben im Prädikatsvor-
feld machen vorwiegend auf temporale Beziehungen aufmerksam. Zur
Textsortendifferenzierung trägt die gegebene Vorfeldbesetzung nicht bei.
546 Gisela Brandt

4. Textsorten differenzierende
Ganzsatztypenverwendung?
Richtet man das Augenmerk auf die Ganzsatzstruktur (vgl. Tabelle 8 im
Anhang), so ist unter Berücksichtigung der admonischen Ganzsatztypolo-
gie einmal festzustellen, dass die Autorin Textsorten übergreifend den
Einfachsatz mit sehr hoher Frequenz als Aussageform verwendet.
Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass diese Frequenz im Vorwort
extrem hoch ist. Der Einfachsatzanteil beträgt hier 70 % des Ganzsatz-
aufkommens. Auf sieben Einfachsätze entfallen lediglich drei Satzgefüge.
Und die Argumentation zum zweiten Schwerpunkt ihres Buches (14) voll-
zieht Christine Ebner in sechs Einfachsätzen und nur einem Satzgefüge.
In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen beträgt der Einfachsatzanteil nur
48,6 % der Ganzsätze, in den Schwesternbildern lediglich 45,7 %. Diese
Differenz könnte also ebenfalls texttypologisch begründet sein, aus Unter-
schieden zwischen den Kommunikationsverfahren Argumentieren und
Erzählen erwachsen. Es wäre aber auch denkbar, dass daneben die Funk-
tion des Eröffnungstextes, nämlich Vorwort zu sein, die Autorin zu be-
sonders einfachen Satzformen veranlasst hat.
Die Überprüfung hat ergeben, dass das gewählte Kriterium tatsächlich
für die signifikante Differenz im Aufkommen der abperlenden Satzgefüge
relevant ist (vgl. Tabelle 9). In den Skizzen beträgt der Anteil der Rede-
Gefüge am Gesamt der abperlenden Gefüge 53,1 %, in den Porträts
62,1 %. Hier erreicht die Differenz 9 %, liegt damit 1,8 % über der Diffe-
renz des Gesamts der abperlenden Satzgefüge.
Für die signifikante Differenz im Anteil der abperlenden Satzgefüge
habe ich geprüft, ob sie sich auf den hagiographischen Charakter der
Schwesternporträts zurückführen lässt, der sich in der Auflistung von
Gnadenerleben reflektiert, womit sich die serielle Wiedergabe von Offen-
barungsgesprächen und Auditionen verbindet. Die einfachste Wiedergabe-
form dafür ist ein Gefüge aus Rede einleitendem Hauptsatz und Rede
explizierendem Nebensatz, also das abperlende Satzgefüge. Der Anteil
dieser eingeleiteten Rede-Gefüge an den verschiedenen Satztypen ist in
Tabelle 83 mit IndexR markiert (vgl. Tabelle 8 im Anhang).

_____________
3 Für die Textsorte Schwesternporträt differieren die Ganzsatzfrequenzen in den Tabellen 3, 4,
5, 6, 7 (Zählung 2007) und Tabelle 8 (Zählung 2008). Die höheren Werte sind vor allem
Resultat der konsequenteren Beachtung von Einfachsätzen mit unbesetztem Prädikatsvor-
feld und – in Text 46 – selbständiger Sätze in uneingeleiteter direkter Rede.
Textsortenabhängige syntaktische Variation 547

SG-Typ Skizzen Porträts


aSG R17 v 32 = 53,1 % R100 v 161 = 62,1 %
zSG R2 v 7 = 28,6 % R20 v 37 = 54,1 %
gSG R0 v 5 = 0,0 % R0 v 21 = 0,0 %
sSG R3 v 12 = 25,0 % R5 v 20 = 25,0 %
SG R22 v 56 = 39,3 % R125 v 239 = 52,3 %

Tabelle 9: Anteil von Satzgefügen mit Redewiedergabe

Aber: Bei den zentrierten Satzgefügen, die in den Skizzen 6,4 % und bei
den Porträts 8,4 % der Gefüge stellen, deren Anteil in den Porträts also
lediglich um 2 % höher liegt, ist der Anteil der Rede-Gefüge sogar um
25,5 % größer. Und auf das Gesamt der Satzgefüge bezogen, liegt der
Anteil der Rede-Gefüge in den Porträts um 13 % höher als in den Skiz-
zen.
Es ist also von einer Textsortendifferenz auszugehen, von einem be-
sonderen Drang zum Redegefüge an sich in den Schwesternbildern, der
auf ihrem hagiographischen Charakter mit dem starken Offenbarungsak-
zent beruht. Sie legt sich über das texttypologische Merkmal Dominanz des
Satzgefüges, welches das Porträt mit den Skizzen und anderen Erzählungen
verbindet.

5. Resümee
In der Regel werden die 37 Texte von einer Textsorte definierenden Ge-
genstandsanzeige eröffnet. Diese Definition wird unterstützt durch die
Besetzung des Prädikatsvorfeldes des initialen Ganzsatzes und der Text-
fuge. Die Variation in diesen beiden syntaktischen Positionen reflektiert in
der gegebenen Quelle die Zugehörigkeit der Texte zu den Textsorten
Vorwort, Porträt, Ereignis- bzw. Situationsskizze und Chronik.
Die Besetzung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nachge-
ordneten Ganzsatzes sowie die Satztypenwahl unterstützen vornehmlich
die Ausprägung des Texttyps, in der gegebenen Quelle Erörterung und
Erzählung.
Lediglich die hohe Frequenz des Rede-Gefüges darf als Textsorten
differenzierendes Merkmal, als Merkmal der Textsorte Schwesternporträt,
betrachtet werden. Doch als absolutes Alleinstellungsmerkmal ist sie wohl
nicht einzustufen, sondern als Textsorten übergreifendes Merkmal von
Offenbarungstexten. Die Prägekraft der Textsorte auf die Textsyntax
verbindet sich in den Ebner-Texten vornehmlich mit dem Prädikatsvor-
feld des Text eröffnenden Satzes.
548 Gisela Brandt

Quellen

Christine Ebner, Büchlein von der Genaden Uberlast, Germanisches Nationalmuseum, Hs.
1338, Nürnberg.

Literatur

Brandt, Gisela, „Textsorten und Erzählstrukturen in Christine Ebners ‚Büchlein von


der Genaden Uberlast‘“, in: Mechthild Habermann (Hrsg.), (Berliner Sprachwis-
senschaftliche Studien), Berlin. [im Druck]
Brandt, Gisela (2008), „Gebrauchsformen der initialen Ganzsatzverknüpfung in den
Schwesternbildern des ‚Büchlein von der Genaden Uberlast‘ der Christine Ebner
(vor 1346)“, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Bausteine für eine Geschichte des weiblichen
Sprachgebrauchs VIII. Sprachliches Agieren von Frauen in approbierten Textsorten. Internati-
onale Fachtagung Magdeburg 10.-11.9.2007, (S.A.G. 445), Stuttgart, 17-40.
Tabelle 2: Textstruktur der 28 Schwesternbilder
KV: Kommunikationsverfahren, Erört(ern), Erzähl(en), kP: Kurzportät, Ell: Ellipse, iGS: initialer Ganzsatz, bTFu: besetzte Textfuge, bPVF:
besetztes Prädikatsvorfeld, S(ubjekt), Pers(on), N(omen), P(ronomen), NS: Nebensatz, t(emporal), i(ndefinit), u(npersönlich), p(ersönlich),
g(rammatisch)
Anhang

Textsorte KV TNr iGS bTFu bPVF initiales Satzglied


S 1.Pers S 3.Pers Temporale
Vorwort Erört T1 + – + pP –
Ereignisskizze Erzähl T2 + – + tN+NS+da
Textsortenabhängige syntaktische Variation

Situationsskizze T3 + – + tNS+da
T4 + – + tN
T5 kP + ↓ + uP/gS
T6 kP + – + uP/gS
T10 + – + tN+NS+da
T11 kP Ell – [+] tN+NS+[da]
T12 + – + tN+do
8T 8 – 8 – 5 5
549

Porträt Erzähl T13° + – + N+NS


550

Textsorte KV TNr iGS bTFu bPVF initiales Satzglied


S 1.Pers S 3.Pers Temporale

Porträt Erzähl T44 + – + N


T34 + – + N
T14* + – + iP
T32* + – + N
T36° + – + N
T49 + – + N
T50 + – + N
T51 + – + N
T58 + – + N
T65* + – + N
T68 + – + N
T18* + – + uP
T28 + – + uP/gS
T38 + – + iP
Gisela Brandt
Textsorte KV TNr iGS bTFu bPVF initiales Satzglied

S 1.Pers S 3.Pers Temporale

Porträt Erzähl T48 + – + N


T66 + – + N
T53 + – + N+die
T35* + – + N
T37 + – + N
Textsortenabhängige syntaktische Variation

T33 + – + iP
T62 + – + N
T69 + – + N
T45 + – + N
T47 + – + N
T52 + – + N
T54 + – + N
T46 + – + N
28T 28 28 – 28 –
551
552

Tabelle 4: Belegung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nGS (vgl. Brandt 2008, Tab. 2)
nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA: Satzadverb, Ell: Ellipse, uPVF: unbesetztes Prädikatsvorfeld, bPVF:
besetztes Prädikatsvorfeld, S: Subjekt, O: Objekt, 2: Genitiv, 3: Dativ, 4: Akkusativ, P: präpositional, T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv),
K(on)d(itional), M(odal)

TSorte nGS Ell uPVF bPVF initiales Satzglied

S O2 O3 O4 OP T L K Ks Kd M

Vor-
9 – 1 8 4 – – 1 – – 1 1 1 – –
wort

Skizze 102 – 8 94 45 2 – 8 – 31 2 3 – – 3

Porträt 366 4 8 354 103 1 2 14 5 206 6 1 – 8 8


Gisela Brandt
Tabelle 5: Initiale Anschlussformen des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 3)
nGS: nachgeordneter Ganzsatz, bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld

Textsorte Texte nGS bPVF initiale Anschlussform (iAF)


Textsortenabhängige syntaktische Variation

Pronomen Adverb Nomen Satz

Vorwort 1 9 8 5 62,5 % 3 37,5 % – – – –

Skizze 8 102 94 36 38,3 % 23 24,5 % 23 24,5 % 12 12,8 %

Porträt 28 366 354 103 29,1 % 129 36,4 % 70 19,7 % 52 14,6 %


553
Tabelle 6: Pronominaler Anschluss des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 6)
bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld, pron Adv: Pronominaladverb, S(ubjekt), O(bjekt), Advb: Adverbiale, 2: Genitiv, 3: Dativ, 4: Akkusativ, P: präpositi-
onal
554

Textsorte bPVF Pronomen initiales Satzglied pron Adv

Gesamt Gesamt S O2 O3 O4 OP Advb OP

Vorwort 8 4 1

5 4 1

d- 1 = 20,0 % – 1

Skizze 94 45 2 8

36 29 – 7

d- 21 = 56,8 % 15 – 6

Porträt 354 103 1 2 14 5 1

103 92 – 2 8 – 1 4
Gisela Brandt

d- 55 = 53,4 % 45 – 2 7 – 1T 4
Tabelle 7: Adverbieller Anschluss des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 10)
T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv), K(on)d(itional), M(odal)

Textsorte bPVF Adverb initiales Satzglied pron Adv

Gesamt Gesamt T L K Ks Kd M OP

Vorwort 8 1 1 1

3 1 1 1

d- 2 = 66,0 % 1 1 –
Textsortenabhängige syntaktische Variation

s- – – – –

Skizze 94 31 2 3 3

23 17 1 3 2

d- 21 = 91,3 % 17 1 3 –

s- 2 = 8,7 % – – – 2

Porträt 354 206 6 1 8 8 4

129 112 5 1 – 7 4

d- 122 = 94,6 % 107 1 – – 5 4


555

s- 4 = 3,1 % 2 – – – 2 –
556
Tabelle 8: Textsorten – Ganzsatztypen KV: Kommunikationsverfahren, Z: Zeilen, GS: Ganzsätze, eS: Einfachsätze: e: einfach, z: zusammengesetzt; SG:
Satzgefüge: a: abperlend, z: zentriert, g: geschlossen, s: gestreckt, R: eingeleitete Rede

Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-Typ


Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
Vorwort 1 20 10 7 3
(KV Erörtern) 100 % 70 % 30 %
Ereignisskizze 2 10 3 R1 2 1
Situationsskizze 3 25 9 3 2 R2 2 1 1
(KV Erzählen) 4 91 43 14 6 R5 12 2 4 5
5 kP 24 10 6 2 R1 1 1
6 kP 43 19 7 1 R6 8 R1 2 R1 1
10 12 4 1 1 R1 1 R1 1
11 kP 25 10 5 1 R1 2 1 1
12 24 11 5 1 R1 3 1 R1 1
109 41 12 R17 32 R2 7 5 R3 12
R22v56=39,3 % 100 % 37,6 % 11,0 % 29,4 % 6,4 % 4,6 % 11,0 %
Gisela Brandt
Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-
Typ
Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
Porträt 13° 7 2 R1 1 1
(KV Erzählen) 44 21 9 4 2 2 1
34 12 5 2 R2 2 1
14* 18 4 2 1 R1 1
32* 36 15 5 R6 9 1
Textsortenabhängige syntaktische Variation

36° 53 18 4 R6 10 R2 2 1 1
49 98 32 12 2 R7 13 R1 3 R1 2
50 14 11 3 2 R6 6
51 18 7 2 1 R1 3 1
58 20 9 3 1 R1 4 1
65* 12 4 2 1 R1 1
68 10 5 3 1 1
18* 12 8 6 1 1
557
558
Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-Typ
Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
28 67 26 11 2 R5 9 R2 2 1 1
38 8 5 4 R1 1
48 25 5 2 R1 1 R1 1 1
66 11 4 2 1 R1 1
53 21 5 1 R3 4
35* 47 19 7 1 R3 6 1 2 R1 2
37 27 13 4 2 R2 3 R2 3 1
33 45 13 1 2 R4 4 R2 3 1 2
62 26 13 5 2 R2 5 1
69 30 17 6 2 R1 8 1
45 39 13 5 3 R2 3 R1 2
47 44 24 8 4 R9 10 R1 1 1
52E 146 54 16 4 R18 28 R1 1 3 2
Gisela Brandt
Textsorte TNr Textlänge eS-Typ SG-Typ
Z GS eeS zeS aSG zSG gSG sSG
Textsortenabhängige syntaktische Variation

54 106 56 25 8 R6 12 R1 3 5 R2 3
R125v239

=52,3% 46 111 44 12 2 R13 16 R3 8 4 R1 2


440 155 46 R100 161 R20 37 21 R5 20
100 % 35,2 % 10,5 % 36,6 % 8,4 % 4,8 % 4,5 %
559
Konstantes und Variables im Aufbau
von deutschen mittelalterlichen heilkundlichen
Texten und angrenzenden Textsorten

Catherine Squires (Moskau)

1. Einführende Bemerkungen
Die Überlieferung von medizinischen Texten in Deutschland fängt mit
den ältesten Rezeptsammlungen an – den Baseler Rezepten aus dem 8. Jh. –
und ist im 9.-10. Jh. durch mehrere Kurztexte vertreten.1 Seit dem 11. Jh.
werden wissenschaftliche Traktate und Lehrbücher zusammen mit prakti-
schen Anweisungen produziert, dabei wird massiv auf Deutsch verfasst.
So soll die mittelniederdeutsche Überlieferung des berühmten Bartholo-
mäus Salernitanus ins 12. Jh. zurückgehen und ab 1200 erscheint das Werk
als das erste deutsche Arzneibuch in seiner östlichen hochdeutschen
Überlieferung (der deutsche Bartholomäus aus Kärnten, dann die mittelbairi-
sche Fassung und die ostmitteldeutsche aus Thüringen).2
Schon im 13. Jh. fängt die Zeit der Großformen an: Es werden Groß-
kompendien wie das Breslauer Arzneibuch verfasst, die gleichzeitig die medi-
zinische Schriftlichkeit auf Hochschulniveau aufheben. Textsammlungen
und -kompilierungen verwandeln die bekannten Texte in neue Texteinhei-
ten.
Im Weiteren wird die typologische Vielfalt der medizinischen Schrift-
lichkeit durch zwei Faktoren bereichert: durch den Sprachwechsel (deut-
sche Übersetzungen und Kompilationen neben der immer noch aktuellen
lateinischen Schriftlichkeit) und durch die wechselnde Orientierung auf
unterschiedliche Empfängerkreise.

_____________
1 Zu den älteren Zeugnissen gehören die lateinisch-deutschen Glossen, zum Beispiel die des
Walafrid Strabo (809-849) zu Isidors Etymologien.
2 Vgl. Keil (1978, Bd. 1, Sp. 612).
562 Catherine Squires

Die nordniedersächsische Übersetzung aus dem 14. Jh. des Bartholomäus


Salernitanus wird ihrem Charakter nach ein gelehrtes Werk.3 Der Ältere
deutsche Macer, ein wissenschaftliches Werk über Kräuter und ihre Wirkung,
hat als Vorlage den im Hexameter gedichteten lateinischen Macer Floridus.
In der Gegenrichtung verändert sich der soziopragmatische Status eines
der führenden theoretischen medizinischen Traktate, der Capsula eburnea,
dessen lateinische (toledanische) Fassung 1280 verdeutscht und als prakti-
sches Arzneibuch für medizinische Fachleute – das Arzneibuch des Ortolf von
Baierland – bekannt wird.
Auf diesen Stufen der Entwicklung von medizinischen und naturwis-
senschaftlichen Textsorten macht sich eine in unterschiedlichen Aspekten
verlaufende Diversifizierung bemerkbar: eine für die Textsortentypologie
relevante Aufteilung in lateinische und volkssprachliche Texte und eine
soziopragmatische Differenzierung zwischen wissenschaftlichen Trakta-
ten, akademischen Lehrwerken, praktischen beruflichen Anweisungen und
laienorientierten Textsorten, unter denen weiter zwischen zwei Gruppen
zu unterscheiden ist – den medizinischen Büchern für den öffentlichen
Gebrauch und den Büchern und Anweisungen für den privaten Gebrauch
(Hausbücher).
Auf diesen späteren Überlieferungsstufen haben wir immer öfter mit
Kompilierung zu tun: Textteile von bekannten Werken werden zusam-
mengetragen (Streuüberlieferung), wobei ihre Reihenfolge geändert wird
und sie in neue thematische und soziofunktionale Einheiten arrangiert
werden. Die Geschichte der medizinischen Literatur handelt von Kom-
pendien und Kompilationen, in denen heilkundliche Anweisungen mit
medizintheoretischen Werken, aber auch mit Rezepten und anderen Kurz-
formen vereinigt werden. Dabei geht oft der Unterschied zwischen medi-
zinischen Traktaten, Kräuterbüchern und Rezeptsammlungen verloren
und die Merkmale der Textsorte werden modifiziert.
Rezepte für die Behandlung von Menschen, aber auch von Tieren,4
werden zusammen mit medizinischen und hygienischen Anweisungen,
akademischen Beschreibungen von Pflanzen und ihrer heilkundlichen
Wirkung aufgeschrieben. Häufig sieht man in Sammelhandschriften und
Konvoluten mehrere, vom modernen Standpunkt aus gesehen, thematisch
und textsortenhistorisch heterogene Schriftstücke nebeneinander unter
dem selben Einband. Diese Tatsache hat auf den ersten Blick die ein-
leuchtende und logische Erklärung, dass der Verfasser bzw. Kompilator
einem praktischen Ziel folgte. Er hatte offensichtlich die Absicht, alles
_____________
3 Vgl. Norrbom (1921, 45).
4 Unten wird das Nebeneinandersein von Anweisungen und Rezepten für Menschen und
veterinären Rezepten anhand eines medizinischen Buches des 14. Jh. ausführlicher bespro-
chen.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 563

zusammenführen, was für die Erhaltung des körperlichen Wohlseins aller


Lebenden (oder der Bekämpfung von lebendigen Mitbewohnern des
Haushalts, vgl. Rezepte und Anweisungen gegen Fliegen und Läuse) nütz-
lich und notwendig sein könnte.5
In späteren Phasen der Kompilierung von privaten medizinischen Bü-
chern kommen noch kleine Gedichte, Lieder und Gebete dazu. Einen
großen Teil eines volksmedizinischen Buches aus dem 15. Jh. können –
neben Rezeptsammlungen, Auszügen aus bekannten Arzneibüchern und
Pestregeln – Apostelgedichte und Gebete (Segen) ausmachen.6 Ein Ver-
hältnis zur medizinischen Thematik ist oft für solche nichtmedizinischen
Texte zwar nachweisbar,7 aber eine Abgrenzung dieser Arten gegen die
eigentliche medizinische Schriftlichkeit ist schwierig und die Frage nach
den Kriterien und der Identität der Textsorte scheint nicht überflüssig zu
sein.
Häufig ist zu beobachten, dass spätere Kompilationen volkstümlicher
in ihrer Pragmatik und Ausführung werden als ihre Vorlagen. Am weites-
ten entfernt vom Theoretisch-Wissenschaftlichen sind die Hausbücher für
den privaten Gebrauch, sie sind es auch, die die unterschiedlichsten
Textsorten unter einem Einband vereinigen. Diese Bücher sollten alles
enthalten, was vermutlich dem selben Ziel dienen sollte – für die (körper-
liche) Gesundheit zu sorgen, die man wiederum als eine Widerspiegelung
der seelischen Reinlichkeit sah.8 Die populären Arzneibücher gehören
nicht nur – zusammen mit allen übrigen medizinischen Anweisungen –
„zum verbreitetsten und ältesten Schrifttum“,9 sondern sie haben eine
besondere Stellung in der Erforschung der syntaktischen Entwicklung: Sie
haben durch ihre Verbreitung zwischen den Laiennutzern von unter-
schiedlicher sozialer und beruflicher Stellung und durch ihre große prakti-

_____________
5 Das textsortentypologische Verhältnis zwischen Rezepten und Arzneibüchern ist ein
interessantes Problem, auf das hier nicht eingegangen werden kann. Zu einer kurzen Notiz
dazu vgl. Anm. 24.
6 Segen und Zaubersprüche haben einen festen Platz in medizinischen Sammelbüchern. Die
Beispiele sind zahlreich. Das Büchlein aus der UB Moskau (vgl. Quelle 2 und 5) enthält ei-
nen lateinischen Kleider-Flecken-Segen und die von Priebsch beschriebene medizinische
Sammelhandschrift enthält zwei Wurmsegen; vgl. Морозова (2003, 74); Морозова (2004,
71); Priebsch (1901, 41).
7 Eine Sammlung von kurzen Apostelgedichten aus der Moskauer medizinischen Hs. (Quelle
2) hat Morozova 2003-2004 interpretiert und in jedem Falle eine Schutzfunktion oder ei-
nen anderen symbolischen Hinweis feststellen und medizinisch deuten können; vgl.
Морозова (2004, 71ff., 94ff.).
8 Zum engen Verhältnis der medizinischen und der seelsorgerischen Thematik in Gebettex-
ten in Verbindung mit ihrer textgrammatischen und textsyntaktischen Form vgl. Морозова
(2004, 86); Squires (2008a); Сквайрс (2008b).
9 Rösler (1997, 84).
564 Catherine Squires

sche Bedeutung für das alltägliche Leben eine besondere normprägende


Bedeutung für den allgemeinen Sprachgebrauch errungen.

2. Fragestellung und Quellen


Für die historische Syntax hat darum eine textsortenparadigmatische
Übersicht der Schriftlichkeit eine besonders wichtige Stellung als Rahmen
für die Auswertung der verschiedenen Sprachquellentypen in Bezug auf
ihre Aussagekraft für die Erfassung von diachronen Prozessen und, fer-
ner, in Bezug auf die Rolle und den Einfluss der unterschiedlichen Text-
sorten in der Verbreitung von syntaktischen Neuentwicklungen. Mit An-
lehnung an Wladimir Admoni10 legt beispielsweise Irmtraud Rösler ihrer
Studie zur historischen Syntax des Deutschen im Mittelalter eine Klassifi-
zierung der spätmittelalterlichen Textsorten zugrunde.11
Als Ergänzung und konkrete Weiterentwicklung der Auslegungen die-
ser Autoren wird unten versucht, eine dieser Textsorten (einen Textsor-
tenkomplex) – die medizinische Sachprosa – in ihrer Dynamik, in ihrer
text- und sprachsyntaktischen Entwicklung stichprobenartig zu betrachten
und mit den sprachhistorischen (an erster Stelle den syntaktischen) Neu-
entwicklungen in Verbindung zu stellen.
Dabei werden syntagmatische Verhältnisse zwischen den medizini-
schen Textsorten im Blickfeld stehen und angrenzende Textsorten (Kräu-
terbücher, Rezepte, Segen, Gedichte) herangezogen, sodass die Gesamt-
heit des Textsortenkomplexes, der im Mittelalter häufig als medica in
Sammelhandschriften verbunden wurde, wenigstens eine vorläufige Be-
trachtung bekommt. Mit Hinblick auf die soziopragmatische Differenzie-
rung der Textsorten muss besondere Aufmerksamkeit den populären
Sorten gewidmet werden, die in privatem Gebrauch Verbreitung fanden.
Die Wechselbeziehungen zwischen Textgrammatik und syntaktischer
Entwicklung muss mit den soziopragmatischen Charakteristiken der Quel-
len korreliert werden.
Im Laufe der Kompilierung erfolgen Änderungen in dem Text und
der Sprache der zusammengetragenen Stücke. Die Reihenfolge der Text-
teile wird geändert, die Thema-Rhema-Verhältnisse können häufig umge-
baut werden, fast immer wird eine auf den gesamten Text bzw. die gesam-
te Sammelhandschrift bezogene Vereinheitlichung des Ganzen unternom-
men, bei der ein bestimmter Grad des Sprachausgleiches erfolgt. Die neu-
geschaffene Einheit wird durch Merkmale wie Überschriften, Zeichen der
_____________
10 Vgl. Admoni (1986); ders. (1980).
11 Vgl. Rösler (1997, 75ff., 230ff.).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 565

Paragraphen bzw. eingeführte Markierung des Paragraphschlusses ge-


stärkt. Die heterogenen Stücke bekommen in dieser neuen Sammelhand-
schrift eine einheitliche paläographische Ausführung (gemeinsames
Schreibmaterial, Format und Schriftspiegel, Linierung, Zeilen- und Spal-
tenzahl, Schrift, Verwendung von Initialen, Rubriken und Verzierungen).
Thematisch heterogene Inhalte werden zu größeren Texteinheiten ver-
bunden (manchmal unter einem gemeinsamen Titel) und werden dadurch
einer semantischen Umdeutung unterworfen. Letzteres kann sowohl die
Text- als auch die Wortsemantik betreffen.12 Eine neue Einheitlichkeit tritt
ein, die durch syntaktische, sprachliche und auch paläographische Mittel
gefestigt wird.
Mit Rücksicht auf diese zu erwägenden Aspekte der medizinischen
Schriftlichkeit wird unten ein spezieller Akzent auf die Verwendung von
Quellen gesetzt, die für diesen Versuch in den Originalhandschriften zu-
gänglich waren. In manchen Aspekten konnte durch den Vergleich mit
Texteditionen einiges ergänzt oder überprüft werden. In dem Verzeichnis
der verwendeten Quellen sind als solche nicht die gesamten Handschrif-
tenkomplexe (Kodices) aufgelistet, sondern die einzelnen Texte, die in der
Liste in traditionelle Textsorten untergegliedert sind. Die Angaben zur
Handschrift werden bei dem ersten erwähnten Teil gemacht, für weitere
Teile derselben Handschrift wird auf diese Angabe verwiesen.13
Arzneibücher
1. Medizinisches Büchlein, Ende des 14. Jh.
• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 43, fol.
2ab.
• Abdruck: Schmidt, Gustav (1881), „Halberstädter Bruchstücke
IV. Medicinisches“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, XII / 1881,
Halle, 150-155.
2. Ortolf‘s von Baierland Arzneibuch, Kap. 72 „Von den zeichen des to-
des“
• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 49
(Volksmedizinisches Büchlein, 15. Jh.), fol. 2ab.
• Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный
лечебник“.

_____________
12 Ein interessantes Beispiel dafür, wie kodikologische Umgestaltung einer Handschrift und
paläographische Faktoren zur Umdeutung von konkreten Lexemen und des ganzen Texts
führen können, ist zu finden in: Squires (2008a).
13 Zu den Moskauer Handschriften sind im 2008 erschienenen Katalog weitere Auskünfte zu
finden: Сквайрс / Ганина / Антонец (2008). Im selben Band sind Forschung, Bibliogra-
phie und Abbildungen zu finden.
566 Catherine Squires

• Abbildung in Сквайрс Е.Р. / Ганина Н.А. / Антонец E.B.


(2008), Abb. 52, 53.
Kräuterbücher
3. Lateinisches Kräuterbuch, 13. Jh.
• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 18.
• Abgebildet in: Сквайрс / Ганина / Антонец (2008), Abb. 51.

4. Macer Floridus (Kräuterbuch) (Fragment). Ende 14. Jh., deutsch.


• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 42.
• Abdruck: Schmidt, Gustav (1881), „Halberstädter Bruchstücke
V. Aus einem Alphabetisch geordneten Kräuterbuche. [Macer
Floridus]“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, XII / 1881, Halle,
155-182.
Rezepte
5. Drei Rezepte aus Meister Albrants Roßarzneibuch, 15. Jh.
• Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 1a.
• Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный
лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких
медицинских рукописей.
Pestregimente
6. Auszug aus einer Pest-Regel, 15. Jh.
• Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 2b.
• Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный
лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких
медицинских рукописей.
7. We man sik regeren schal in der pestilencien, 15. Jh.
• Originalhandschrift: HAB, Helmst. 1229, fol. 165v-169.

Segen
8. Lateinisches Gebet gegen Urine-Verschmutzung der Kleidung, 15.Jh.
• Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 1a.
• Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный
лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких
медицинских рукописей.
9. Niederdeutsches Gebet gegen eine Krankheit, 15. Jh.
• Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 48.
• Abdruck: Squires, Catherine (2008), „Wort- und Textsemantik
im Rahmen paläographischer und kodikologischer Determinan-
ten“, mit Abbildung.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 567

10. Ein Segen, in: Collectanea medica, spätestens 1. Hälfte 15. Jh.
• Originalhandschrift: S.-Petersburg, RNB, Fonds 955, Verz. 2,
Nr. 76, in einem hineingelegten Heft, auf fol. 6.
• Transkription: Squires.

Ergänzende Quellen
Macer Floridus (Kräuterbuch), lateinisch.
• Abdruck: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viri-
bus herbarum, Leipzig.
Rezeptbuch aus einer medizinischen Sammelhandschrift, 15.Jh; British
Museum, Arund., 164, fol. 108a-110a.
• Abdruck: Priebsch, Robert (1901), Deutsche Handschriften in Eng-
land, II / 1901, Nr. 61.
Als Gegenstand der Analyse sind unten Erscheinungen der Syntax gwählt,
die in der sprachhistorischen Literatur als allgemein wichtige Tendenzen
der Entwicklung angesehen werden:
• in der gesamten Textstruktur: Textumfang bzw. Satzlänge;
• in der Satzstruktur: die Anordnung der Information in den Elemen-
tarsätzen, die Reihenfolge der Elementarsätze;
• im Elementarsatz: Stellung und Form des finiten Verbs.
Neuerscheinungen in diesen Aspekten der Text- und Satzstruktur haben,
so die Syntaxhistoriker, mit der Informationsbewahrung und -vermittlung
zu tun, sie übernehmen das Signalisieren der logischen und auch gramma-
tischen Abhängigkeit. Die Stirnstellung des Verbs im Satz bedeutet die
Abhängigkeit eines Bedingungssatzes und hat folglich eine besonders
wichtige Signalfunktion.14
Das lässt uns vermuten, dass diese sprachsystematischen Züge und ih-
re historische Entwicklung ein wichtiger Bestandteil der textsortentypolo-
gischen Problematik sind. Sie sollen folglich in einer engen Verbindung
mit der Genese der Textsorten aus dem Bereich ‚medizinisches Allge-
meinwissen‘ stehen und die Entfaltung der Vielfalt der letzten und die
Richtung der Neuentwicklungen markieren.

_____________
14 Vgl. Rösler (1997, 129).
568 Catherine Squires

3. Wissenschaftliche Herbarien
und die praktische Heilkunde
Die Entwicklung eines wissenschaftlichen Herbariums zu einem volks-
sprachlichen praktischen Kräuterbuch kann anhand des berühmten Macer
Floridus beobachtet werden. Die Übersetzung des lateinischen Kräuterbu-
ches ins Deutsche kann erwartungsgemäß als ein Schritt zur Aneignung
dieser naturwissenschaftlichen Quelle von Seiten eines breiteren Leser-
kreises als nur der lateinkundigen Gelehrten angesehen werden. Die Ver-
deutschung ermöglicht seine Veränderung zu einer Textsorte, die nicht
nur den Gelehrtenkreis anspricht, sondern für den breiten öffentlichen
Gebrauch geeignet ist. Mit dieser textsortentypologischen Verwandlung
gehen, wie unten gezeigt wird, inhaltliche und textuelle Änderungen Hand
in Hand.

Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Der deutsche Macer floridus, UB Moskau
Anthemim magnis [C]amonilla, wizzelblumen
commendat laudibus auctor
Asclepius, quam Chamaemelum nos vel
Chamomillam ―
Dicimus; haec multum redolens est et brevis
herba,
Herbae tam similis, quam iusto nomine
vulgus
Dicit Amariscam, quod foetat et sit amara,
Ut collata sibi vix discernatur odore. ist eyn wolrechende crut unde ist drierhande :
Auctores dicunt species tres illius esse,

Quas solo florum distingui posse ir izlich irkennit man bi der blůmen. in allen
colore ist die blume mittene goltvar unde ummesat-
Tradunt: est cunctis medius flos aureus zet mit bleteren maniger var, die eine mit
illis, witzen, die ander mit swarzen, die dritte
Sed variis foliis flos circumcingitur ille, pfellervar:
Albi vel nigri sunt purpureive coloris.
Dicitur Anthemis proprie, cuius foliotum
Purpureus color est, maiorque et fortior haec
est; ―
At Leucanthemum foliis deprehenditur albis,
Melinis Chrysanthemum ; vis omnibus illis
Sicca calensque gradu primo conceditur unde sind alle heiz unde trocken in dem
esse. ersten grade.
swellich iz si,
dicke getrunken mit wine (= 568) hilfet dem,
_____________
15 Ausgabe: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig; zitiert
nach Schmidt (1881) mit beibehaltenen Zeilenangaben.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 569

Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Der deutsche Macer floridus, UB Moskau
Provocat urinam cum vino quaelibet der mit arbei[t] harnet, unde vertribet den
hauste, stein in der blasen.
Vesicae frangit lapides...
...et menstrua purgat de wizselblome gesoten mit wazzare.vurdirt
Si fiveatur aqua matrix qua cocta sit de wip an ir suche, ab sie zu lange sumen. [...
herba, ...]
Aut si cum vino potetur saepius illa ;
Tormina sec sedat, stomachique infla- vnde ob sie sie dicke trinke mit wine, daz
tio potu Pelletur tali. selbe stillet des buches curren. daz selbe
hilfet getrunken den zusw(o)llen magen.
Squamas de vultibus aufert, camomila gestozen mit honige oder alleyne
Si tritam apponass solam mellive und under de ougen gestrichen ist gut der
iugatam. scelenden hut.
etc., etc. camomila gesoten ist gut genutzet, swer
kichet. [...]
Tabelle 1: Veränderungen im Textinhalt und -aufbau
im Laufe der Verdeutschung eines Herbariums

In Tabelle 1 ist zum Vergleich ein Auszug des deutschen Macer aus dem
ausgehenden 14. Jh.16 mit seiner lateinischen Vorlage angeführt. Die ent-
sprechenden Textteile sind nebeneinander in zwei Spalten angeordnet,
sodass die im Laufe der Verdeutschung erfolgten Textverluste und Ab-
weichungen gut zu beurteilen sind.
Der Vergleich zeigt, dass bei der Übersetzung deutliche Veränder-
ungen im Text vorgenommen worden sind. Der verdeutschte Macer ist in
Prosa verfasst, während die Vorlage, wie schon oben erwähnt, eine Dich-
tung war. Die deutsche Fassung ist in den einführenden Teilen wesentlich
kürzer als ihre Vorlage: Ganze lateinische Textteile sind ausgefallen (in der
Tabelle durch Kursivierung hervorgehoben), und wenn man sie betrach-
tet, merkt man, dass der deutsche Verfasser nur bestimmte Inhalte ausge-
lassen hat. Zu diesen weggelassenen Informationen gehören Verweise auf
die wissenschaftlichen Vorgänger und Autoren, wie der im Beispiel er-
wähnte Asclepiades in commendat laudibus auctor Asclepius und im übrigen
Text Erwähnungen von Plinius (743, 1433), manche von Galienus (955)
und einzelne wie jene von Tradit Anaxilaus (2045). In der deutschen Fas-
sung fehlen verweisende Parenthesen wie Auctores dicunt und Tradunt. Da-
mit bleibt die spätklassische wissenschaftliche Argumentation des Origi-
nals zum größten Teil in der deutschen Fassung nicht überliefert. Da diese
Text- und Inhaltselemente zu den wesentlichen Merkmalen der mittelal-

_____________
16 Die Datierung geht auf Gustav Schmidt, den ersten Herausgeber des deutschen Macers
zurück; vgl. Schmidt (1881, 155ff.).
570 Catherine Squires

terlichen wissenschaftlichen Prosa gehören,17 sollte diese Arbeitsweise des


deutschen Übersetzers bedeuten, dass er absichtlich von dem akademi-
schen Stil und Genre abweichen wollte.
Als unnötig für die neuen Aufgaben hält der Bearbeiter die ausführli-
chen Beschreibungen der verschiedenen Arten der Heilpflanzen; diese
werden in dem deutschen Text kürzer oder fallen ganz aus (vgl. Tabelle 1).
Verzichtet wird auf synonymische Bezeichnungen der Pflanzen: anstatt
der Namenreihe Chamaemelum, Anthemis, Amarisca ('Hundskamille'),18 Leu-
canthemum und Chrysanthemum ('Wucherblume')19 wird nur die gängige Ca-
momilla beibehalten, der die volkssprachliche Bezeichnung wizzelblume bei-
gefügt wird. Von Bedeutung dürfte auch die Tatsache sein, dass diese
doppelten lateinisch-volkssprachlichen Bezeichnungen im deutschen Ma-
cer immer am Anfang des Kapitels, als Lemmata stehen und nicht wie in
der Vorlage, in einem poetischen Text zerstreut sind. Der Abbildung 1 (s.
unten), die der Kamille und dem Drachenwurtz ([C]olubrina oder naterwort)
gewidmete Textteile zeigt, ist zu entnehmen, dass diese Prinzipien im
Buch durchlaufend angewendet werden.
Durch die unternommene Kürzung werden nicht nur der Inhalt und
die Struktur des gesamten Paragraphen auf das Praktische und Nützliche
reduziert, sondern die ihn konstituierenden Sätze bekommen eine größere
Überschaubarkeit und ihre syntaktischen Strukturen kommen stärker zur
Geltung.
Die Veränderungen greifen jedoch tiefer in den Sprachstoff hinein,
indem die einzelnen, aneinander gereihten Sätze sich einem einheitlichen
syntaktischen Muster annähern. In der unten angeordneten Zitatliste sind
die syntaktischen Muster der Sätze klar zu sehen, die nach der kurzen
Beschreibung der Kamille kommen und Anweisungen für ihre medizini-
sche Verwendung enthalten:
(1-2) [C]amonilla, wizzelblumen.. swellich iz si,.. dicke getrunken mit
wine hilfet dem, der mit arbei[t] harnet, unde vertribet den stein
in der blasen;
(3) de wizselblome gesoten mit wazzare. vurdirt de wip ...;
(4) ob sie sie dicke trinke mit wine, daz selbe stillet des buches cur-
ren;
(5) daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen;

_____________
17 Vgl. den Abschnitt „References to Authorities“ in: Taavitsainen / Pahta (1998, 167ff.).
18 Vgl. Schmidt (1881, 174).
19 Vgl. Mildenberger (1997, 297f.).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 571

(6) camomila gestozen mit honige oder alleyne und under de ougen
gestrichen ist gut der scelenden hut;
(7) camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet.
Die hier zusammengestellte Liste zeigt, dass in der überwiegenden Mehr-
heit der Sätze, wie auch im ganzen Kapitel, die Erststellung dem Namen
der Pflanze camomila, de wizselblome (1-2, 3, 6, 7) oder einer Ersatzform des
Namens (daz selbe in 5) zugewiesen ist.

Abbildung 1: Der deutsche Macer: Camomilla und Colubrina


572 Catherine Squires

Für die Anweisung zur Zubereitung (mit der darauf folgenden Rezeptur)
oder / und zur Verwendung des Heilkrauts sind nur wenige syntaktische
Konstruktionen benutzt. Fast in allen Fällen ist es die Partizip-Form: (di-
cke) getrunken (mit wine), gesoten (mit wazzare), getrunken, gestozen (mit honige oder
alleyne), (under die ougen) gestrichen, gesoten, dicke getrunken.
Ein Satz weicht von diesem Modell ab und hat eine Konjunktivform
des Verbs: ob sie sie dicke trinke mit wine (4). Die Formulierung der Zuberei-
tungs- bzw. Anwendungsweise als Bedingungssatz, die durch das Opta-
tiv / Konjunktiv des Verbs realisiert ist, bedeutet den Übergang von ei-
nem beschreibenden Texttyp zu einem anweisenden (praktischen). Die
Verwendung des Optativs / Konjunktivs für das Signalisieren der Abhän-
gigkeit liegt in der Bahn der Normenentwicklung im hochdeutschen wie
auch im (mittel)niederdeutschen Sprachraum.20 Wir sehen, dass in der
dargestellten Quelle diese Entwicklung erst angedeutet ist.
Nach der Anweisung ist in mehreren Sätzen die Wirkung des pflanzli-
chen Heilmittels bestätigt – als Prädikat im Hauptsatz – hilfet (1, 5), ist gut,
ist gut genutzet (6, 7). Nur in den Fällen, in welchen eine spezifische Wir-
kung der Behandlung genauer erklärt werden musste, finden wir andere
Verben: vertribet (2), vurdirt (3), stillet (4).
Die Beschwerde, gegen die das Mittel empfohlen wird, ist am Ende
des Satzes erwähnt, wofür oft eine Dativform verwendet wird: den
zusw(o)llen magen (5), der scelenden hut (6). Längere Symptom-Angaben sind
als Nebensatz formuliert, der auch durch eine Dativform eingeleitet wer-
den kann: dem, der mit arbei[t] harnet (1), aber swer kichet (7). In anderen Fäl-
len sind die Beschwerde und die Wirkung in einem einfachen Satz mit
Direktobjekt ausgedrückt: vertribet den stein in der blasen (2), stillet des buches
curren (4) oder, seltener, in einer Satzkette, vurdirt de wip an ir suche, ab sie zu
lange sumen ... (3). Durch die unternommene Bearbeitung erzielt der deut-
sche Verfasser eine praktische Textkürze und eine Überschaubarkeit der
Information, die seinem Werk die Funktionalität eines populären Nach-
schlagewerkes oder einer Anweisung verschaffen, im Gegensatz zum be-
schreibenden Charakter der lateinischen poetischen Vorlage.
Das offensichtliche Bestreben, den Benutzern auf eine anschauliche
und einfache Art berufliche Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, wird
zusätzlich durch Mittel der paläographischen Ausführung des deutschen
Macers unterstützt. Auf Abb. 1 ist zu sehen, dass der Schreiber an jedem
Paragraphkopf Platz freigelassen hat für eine große (zwei Zeilen hohe)
Initiale, die im nachfolgenden Arbeitsgang in Farbe auszuführen war.
Leider ist in der Handschrift die Rubrizierung nicht durchgeführt worden,
_____________
20 So beispielsweise Rösler mit Anlehnung an Härd / Magnusson / Nissen / Schöndorf; vgl.
Rösler (1997, 129).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 573

aber die Absicht war es offensichtlich, den im Lemma stehenden Pflan-


zennamen optisch noch stärker hervorzuheben.
Für die weitere Analyse sind die oben gemachten Beobachtungen in
den folgenden Punkten zu formulieren: Die Abschaffung von typischen
Merkmalen der mittelalterlichen wissenschaftlichen Textsorte, der Ver-
zicht auf theoretische, für den Laien überflüssige Information, die Verein-
fachung der Text- und Satzstrukturen, eine zum Teil sogar erreichte Ein-
heitlichkeit der konstituierenden Teile des Texts demonstrieren den
soziopragmatischen Wandel der ursprünglichen Textsorte. Im Vergleich
zu seiner Vorlage weist der deutsche Macer den Versuch auf, eine Annähe-
rung der im lateinischen Traktat überlieferten Kenntnisse an den Bedarf
und die alltäglichen Wünschen der Leute zu erreichen. Die unternomme-
nen Veränderungen im Inhalt, in der Anordnung der Information, in den
sprachlichen syntaktischen und grammatischen Mustern und in der paläo-
graphischen äußerlichen Gestaltung, selbst die volkssprachliche Form,
ändern wesentlich sein textsortentypologisches Profil. Dennoch bleibt der
Macer aus dem 14. Jh. grundsätzlich dasselbe, ein Kräuterbuch, also ein
beschreibendes Werk. Die Thema-Rhema-Gliederung ist unverändert
geblieben: Der Leitbegriff ist das Heilmittel, dem in rhematischer Stellung
seine Anwendung für bestimmte Erkrankungen und Beschwerden folgt.
In einem medizinischen Notfall bietet das Werk zweifelsohne viel
leichteren Zugriff zu den nötigen Auskünften als seine Vorlage; dennoch
würden die kranken Laien und ihre Betreuer im Text unter den Bezeich-
nungen von Krankheiten bzw. betroffenen Organen nachschlagen und
dann zur Behandlung und zu den Mitteln nachlesen wollen. Dem Schrei-
ber war dieses Problem offensichtlich bewusst, denn er hat ihm in der Hs.
durch lateinische und deutsche Randglossen beikommen wollen: vgl. ad
vrinam, ad lapide(m), Muhe(r)ib(us), curren, stomacho, sw(er) kichet, usw. gegen-
über den entsprechenden Textabschnitten (vgl. Abb. 1).
Diese entgegengerichtete Anordnung des Stoffes – von der Erkran-
kung zu den zur Verfügung stehenden Mitteln – ist ein charakteristisches
Merkmal einer anderen Gattung der medizinischen Textsorte, des Arznei-
buches. Vorläufig kann hier die (im Weiteren zu überprüfende) Vermu-
tung formuliert werden, dass die unterschiedlichen Quellentypen sich in
der Textsortengenese des späten Mittelalters überschneiden.

4. Kräuterbücher und Arzneibücher


Diese textsortengenetische Überschneidung von Kräuter- und Arzneibü-
chern ist vermutlich anhand von älteren Quellen klarer zu beobachten.
Ein medizinisches Büchlein aus dem 14. Jh. ist in der Wissenschaftlichen Bib-
574 Catherine Squires

liothek der Universität Moskau befindlich. Es ist erwartungsgemäß nach


diesem nutzerfreundlichen Ordnungsprinzip – von der Erkrankung zum
Heilmittel – zusammengestellt, wie beispielsweise diese zwei Paragraphen
zeigen, die im Text unmittelbar hintereinander folgen: 21
§ 2. deme die augen driefen, der neme salbeien, unde halb also vil ruden, unde zwirnet
also vil kervelen alse der salbeien ist, unde stoz daz zusamene in eime morsere, daz
is saf gebe, unde so er slafen get, so netze daz crut in eines eyes clare, unde belege
domide dine stirnen unde dine wangelin. daz ist gut.
§ 3. dem der harm so calt ist, daz er den harm nit wole mag behalden, der siede selbe
ein wazzer unde drinke daz dicke also warm. daz ist gut.
Am Kopf des Paragraphen steht in diesem Text die Bezeichnung der Be-
schwerde, was die praktische Anwendung des Buches für die Kranken-
pflege erleichtert und der Bezeichnung Arzneibuch entspricht. Was die in
der Anweisung zur Pflege erwähnten Medikamente anbetrifft, so besteht
das Heilmittel in beiden Fällen aus pflanzlichen Komponenten: Im ersten
Paragraphen sind es Salbei, Raute und Kerbel, im zweiten wird nur Salbei
empfohlen. In den übrigen Teilen der Handschrift ist auch die Rede von
pflanzlichen Heilmitteln, und es ist schon auf den ersten Blick klar, dass
dieses Arzneibuch inhaltlich, also in Hinblick auf die dargebotene Infor-
mation, dem oben vorgeführten Kräuterbuch-Typ sehr ähnlich ist. Der
Unterschied liegt in der Anordnung dieser Information. Der textsortenty-
pologische Unterschied zwischen einem Kräuterbuch und einem Arznei-
buch liegt also, wenn man diese zwei Quellen vergleicht, nicht in der be-
inhalteten Information, sondern in den syntaktischen Mustern, nach
denen diese Information angeordnet ist.
Dieselben, aber auf unterschiedliche Arten zusammengestellten Ele-
mente bilden in den beiden Büchern semantisch-syntaktische Komplexe,
deren Inhalte aber nicht dieselben sind. Denn ihre text- und sprachprag-
matischen Charakteristiken, ihre thema-rhematischen Strukturen sind
unterschiedlich, und diese leisten einen wichtigen Beitrag zum semantisch-
semiotischen Wert der gesamten Texte. Kann es denn möglich sein, dass
die Strukturierung und formelle Arrangierung der überlieferten Informa-
tion entscheidend ist für die textsortentypologische Einschätzung, wäh-
rend die eigentliche extralinguistische Information kein bestimmendes
Kriterium ist? Vermutlich soll uns der praktische, auf Zweck und Wirk-
samkeit orientierte Charakter unserer, zur Sachprosa gehörenden Quellen
einen besonders klaren Einblick ermöglichen in das Verhältnis zwischen
Inhalt und Form in der Textsortengenese des späteren Mittelalters.
Von dem Standpunkt des formulierten Problems aus hat das oben an-
geführte Textbeispiel eine große Ähnlichkeit mit einer weiteren Sorte –
_____________
21 Die Handschrift hat keine Paragraphnummern, ich führe sie für diesen Aufsatz ein.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 575

den Rezepten.22 Die beiden oben zitierten Paragraphen des medizinischen


Büchleins sind eigentlich zwei Salbei-Rezepte. Sie werden für unterschied-
liche Beschwerden empfohlen, sind aber zusammen angereiht. Weitere
Textbelege aus derselben Quelle überzeugen davon, dass dieses Arznei-
(bzw. Rezept(?)-)buch das Anordnungsprinzip eines Kräuterbuches hat.
Die Paragraphen des Buches sind, obwohl sie mit der Erwähnung der
Krankheit bzw. Beschwerde anfangen, nach der Hauptingredienz grup-
piert: dem Namen der zuerst erwähnten Pflanze (bei der Zitierung durch
größere Schrift hervorgehoben). Hintereinander folgen beispielsweise,
obwohl sie für verschiedene Krankheiten verwendbar sind, drei Petersilie-
rezepte:
§ 12. deme in dem herzen oder in dem milze oder in der siten we si, der neme pe-
tersilien, unde side den mit wine unde mit eim wenig ezzeges, unde du gnuc honeges
darzu, unde sihe daz durch ein duch, unde drinc daz dicke.
§ 13. deme der klobelauch we du gezzen, der ezze zu hant petersilien. daz hilfet.
§ 14. deme der stein we dut, der neme petersilien unde daz dritteil steinbrechen, unde
side daz mit wine,...
Zwei Fenchel-Rezepte stehen nebeneinander, obwohl eins für Menschen,
das andere – für Schafe ist:
§ 10. der gerne drunken wirdet, der ezze fenichilsamen. daz hilfet.
§ 11. ob die schaf beginnent sichen, so neme man fenchil, unde ein wenic minre dil-
les, unde lege daz in ein wazzer, daz is darnach smacke, unde gib is den schafen zu
drinkene.
Das gesamte Fragment des Arzneibuchs überliefert 36 aufeinander fol-
gende Paragraphen. In jedem steht die Bezeichnung der Erkrankung (des
betroffenen Körperteils) bzw. der Beschwerde (Fliegen, Läuse) am An-
fang. Die Symptomatik ist jedoch nicht das Gruppierungsprinzip des Bu-
ches: Die Paragraphen sind nicht nach diesen Kopfbegriffen eingeordnet,
sondern nach der ersten erwähnten Zutat, einer Heilpflanze. So ist Pfeffer
die Hauptzutat in § 1, Salbei in den §§ 2, 3, Raute in den §§ 4, 5, Lattich
und Zimt in § 6, Ysop in § 7, Fenchel in den §§ 8-11, Petersilie in den §§
12-14, Kerbel in den §§ 15, 16, Liebstöckel in § 17, usw. Das hat zur Fol-
ge, dass die zu denselben Erkrankungen gehörenden Rezepte nicht zu-
sammen stehen, sondern in manchen Fällen sogar weit voneinander ent-
fernt sind. Zum Beispiel würde man bei der Behandlung eines Leberkran-
ken unter den §§ 5 und 6 nachlesen, für jene eines Herzkranken aber die

_____________
22 Als Rezeptbuch ist der Text klassifiziert, in dem beispielsweise steht: Dem sin mage we tů d(er)
siede haselwurz mit wazzer vn(d) trinch daz (Arund. 164, vgl. oben ‚Ergänzende Quellen‘). Die
Wortformulierung, Grammatik und funktionalsyntaktische Anordnung sind genau diesel-
ben wie im Arzneibuch des 14. Jhs.
576 Catherine Squires

§§ 12 und 34 finden müssen, und wegen Augenproblemen sollte man die


§§ 2, 4, 8 und 21 aufsuchen.
In Übereinstimmung mit diesem Prinzip sind unter den Anweisungen
gegen Menschenerkrankungen veterinäre Rezepte bei den entsprechenden
Kräuter-Gruppen mituntergebracht: ein Fenchel-Rezept für Schafe (vgl.
oben § 11) und ein Sonnenblumenrezept für Rinder und Schafe:
§ 29. so die rindere oder die schafe iht gezz[en han], daz sie gehelingen swellen, so
man[ge rin]gelin mit ein wenig wazzers, unde gebe [ine] daz zu drinkene. daz hil-
fet.
Man dürfte wohl vermuten, dass der Verfasser ein Kräuterbuch als Vorla-
ge hatte und bei der Kompilation die auf die Haupt-Ingredienz orientierte
Reihenfolge – also das Kräuterbuch-Prinzip – beibehalten hat. Nicht aus-
zuschließen ist sogar, dass es sich um mehrere solche Quellen handelt: Die
Paragraphen unterscheiden sich so stark in ihrer Länge, dass dies auf ihre
Herkunft aus verschiedenen Sammlungen hindeuten könnte. Die kürzes-
ten Paragraphen (beispielsweise § 10) sind unter anderthalb Zeilen lang,
während der längste (§ 16) 11 Mal so lang ist und mit seinen 16,5 Zeilen
über zwei Drittel des Blattes einnimmt (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Medizinisches Büchlein aus dem 14. Jh., fol. 2b-3a.


Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 577

Oben wurde formuliert, dass der textsortentypologische Unterschied zwi-


schen einem Kräuterbuch und einem Arzneibuch nur in der ungleicharti-
gen Anordnung derselben Information liegt, also in der Textstruktur und
-syntax. Der inhaltliche Unterschied eines Rezepts zum Arzneibuch liegt
wohl darin, dass im ersten der anweisende Akzent auf die Zubereitung
eines (manchmal komplizierten) Heilmittels gelegt wird. Solche Anwei-
sungen können auch im Kräuterbuch stehen, sie beschränken sich jedoch
auf nur pflanzliche Heilmittel. Die Unterschiede zwischen diesen drei
Quellentypen sind folglich fließend und, was die überlieferte Information
anbetrifft, nicht prinzipiell.
Der Verfasser des deutschen Macers versuchte, wie man oben sehen
konnte, noch ohne die ursprünglichen Thema-Rhema-Verhältnisse zu
ändern, neue Suchmöglichkeiten durch Randglossen einzubauen. Im zwei-
ten zitierten Büchlein ist der Umbau in den Paragraphen erfolgt, das alte
Suchprinzip der botanischen Quelle bleibt jedoch auch beibehalten: Die
Einleitung der Paragraphen, die durch große rote Initialen hervorgehoben
ist, thematisiert den Zweck der Behandlung (die Beschwerde bzw. den
betroffenen Körperteil), während im Text derselben die Namen der In-
gredienzen leicht zu finden sind, weil, erstens, alle Paragraphen mit der-
selben Hauptzutat im Text nebeneinander stehen, und, zweitens, weil
diese erste Pflanzen-Erwähnung in den Paragraphen dank der einheitli-
chen Satzstruktur an ähnlichen Stellen vorkommt. Zum Beispiel sind
mhd. kerbel und mhd. sisemar (wohl lat. sisymbrium wie Schmidt erläutert)23
problemlos am Ende der ersten oder zweiten Zeile der entsprechenden
Paragraphen zu finden (vgl. in Abb. 2: kerbel auf fol. 2b und sisemar auf fol.
3a). Dem Benutzer sind gleichzeitig zwei Suchmöglichkeiten geboten:
nach dem neuen Suchprinzip anhand der Kopfbegriffe (der medizinischen
Beschwerde), aber auch nach dem alten (sekundär gewordenen) Prinzip
der Hauptzutat, die im Text leicht ins Auge fällt.
Wenn jedoch, wie oben vermutet wurde, die Arrangierung dieser In-
formation, das Muster, in der sie kombiniert wird, ein textsortenbildendes
Merkmal ist, dann sollte das bedeuten, dass Kompilierung häufig in der
Verwandlung von einer Textsorte in die andere resultieren sollte. In ande-
ren Worten: Ist die Genese von Textsorten wie Arznei- und Kräuterbü-
chern und Rezepten als ein Wandel im Laufe von praxisbedingter Kompi-
lierung zu sehen?
Um diese Vermutung zu überprüfen, könnte man in der Art eines Ex-
periments versuchen, in den Sätzen aus dem deutschen Macer die Satzteile
umzustellen. Die Erststellung soll der Angabe der Beschwerde zugewiesen
werden (unten in den Macer-Belegen unter (1) zu sehen), dann soll die
_____________
23 Schmidt (1881, 150ff., hier 153, Anm. 4).
578 Catherine Squires

Anweisung zur Pflanzenkur folgen (2) und der Rest des Satzes soll zuletzt
kommen (in den Belegen durch (3) markiert). Gleichzeitig soll das Parti-
zip, dem Charakter einer Anweisung gemäß, durch den Imperativ des
Verbs ersetzt werden. Die auf diese Weise präparierten Sätze würden dann
so aussehen (in den folgenden Beispielen wird in den oberen Zeilen der
Macer zitiert und in den unteren Zeilen das Ergebnis des Stellenwechsels
angeführt):
(5) daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen.
(1) zusw(o)llen magen – (2) trinke – (3) daz hilfet
(6) camomila gestozen mit honige ..und under de ougen gestrichen ist gut der sce-
lenden hut;
(1) der scelenden hut....(2) stoze camomila mit honige...und striche un-
der de ougen – (3) ist gut.
(7) camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet;
(1) swer kichet – (2) siede camomila – (3) [daz] ist gut
Das Resultat ist dem oben vorgeführten Arzneibuch aus dem 14. Jh. sehr
ähnlich: Die syntaktische Umordnung genügte dafür, dass es kein be-
schreibendes Werk mehr ist, das mit irgendeiner wissenschaftlich-theoreti-
schen Absicht verfasst wurde, sondern ein Nachschlagewerk oder eine
Anweisung für praktische Zwecke mit einem bequemen Doppelsuchsys-
tem. Seine praktische Anwendung ist, wie oben schon betont wurde,
durch die Einführung eines einheitlichen syntaktischen Satzmusters er-
leichtert. Die drei Bestandteile werden durch nur wenige syntaktische
Muster realisiert.
Im ersten Teil (Benennung der Beschwerde) kommen Nebensätze in
folgenden syntaktischen Mustern vor:
1. der daz biever hat;
2. der vergifft hat gezzen oder gedrunken; der iht rowes habe gezzen;
3. deme die augen dunkelen driefen; deme die augen dunkelen; dem der harm so
calt ist; dem daz freisliche erhebet; deme in dem herzen oder in dem milze oder
in der siten we si; dem in der leberen oder in der lungen we ist; deme der klobe-
lauch we du gezzen; deme der stein we dut;
4. den wiben, den ir sache in unrehten ziden zu fil wirret
Seltener kommen Bedingungssätze vor. Sie gehören zwei syntaktischen
Typen an:
1. mit Inversion: beginnet der mensch in der leberen fon unfrauden sichen; der
grawe augen hat, beginnent sie siechen ader dunkelen; der swarz oder crumpvar
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 579

augen habe, dunt sie deme we oder beginnent sie ime dunkelen; Ist er aber sich,
er genieset, daz pulver [sal] man...; Ist ieme danne noch nit baz;
2. mit der Konjunktion ob: ob de schaf beginnent sichen...; ob dem manne ein
geschwolst beginnet sich heben...; Obe sie aber [brec]hen, so neme...
Im zweiten Teil des Paragraphen folgt die medizinische Anweisung. Hier
überwiegen Imperativformen des Verbs (ein typisches Rezeptmuster,24
vgl. Anm. 5); nur in einem Fall hat der Schreiber sich für eine Indikativ-
form entschieden: ( den wiben, ...), die legen bathenien,.. unde drinken. In einem
zweiten Fall wäre die Verwendung des Imperativs unmöglich gewesen: (die
fliegen,) die daz ezzent. Die Formulierung einer Fenchel-Kur für Schafe ist
möglicherweise im Konjunktiv zu verstehen und stellt eine andere, noch
seltene Ausnahme dar: ob die schaf beginnent sichen, so neme man fenchil...
Diese kurz formulierten Anweisungen sind durch die Verwendung ei-
ner hohen Anzahl von Verben charakterisiert. In dem verhältnismäßig
kleinen Textumfang sind über 120 syntaktische Verbpositionen enthalten,
was durchschnittlich ein Verb pro Zeile ausmacht (die Zeilenlänge beträgt
nur 80 mm). Diese Verbpositionen sind durch nur 30 Verblexeme besetzt,
von denen einige an stereotypen, textsortentypischen Ausdrücken teilha-
ben und sehr häufig wiederholt werden. Am häufigsten kommen vor: neme
(über 20 Fälle), drinke (13-mal) und ezze (10-mal). Während neme das übli-
che Verb in den einleitenden Teilen der Anweisungen ist und eine Kon-
struktion mit dem Namen der empfohlenen Heilpflanze bildet (vgl. neme
salbeien, neme petersilien), werden drinke und ezze an den Schluss gestellt und
bezeichnen die Weise, auf die die Arznei einzunehmen ist. Etwas seltener
sind siede, stoze, pulvere und lege; in wenigen oder nur einzelnen Fällen kom-
men die Verben bade, begrabe, belege, binde, dribe, du, gebe, gieze, lazze, mache,
mange, mische, netze, salbe, sihe, striche, werme, winde und andere vor. Wie leicht
zu sehen ist, bezeichnet diese letzte Gruppe konkrete medizintechnische
und pharmazeutische Vorgänge, weshalb unterschiedliche Lexeme in die-
sem Falle zu erwarten sind.
Die über 120 Verbformen sind in den etwa 40 Sätzen der 36 Paragra-
phen unregelmäßig verteilt. In drei Fällen genügte ein Verb: ezze accleia; der
ezze fenchilsamen; der ezze zu hant petersilien. In den übrigen Paragraphen
_____________
24 Rezepte sind auch anweisende Texte, die durch Kürze und das überwiegende Imperativ-
Muster charakterisiert sind, zum Beispiel: Nem eyn gluwenden ysen..., Nym hundes myst... (ediert
in: Морозова 2008, 77; – Морозова 2004, 71). Diese grammatischen Besonderheiten blei-
ben auch für die späteren populären Kompilationen typisch, geändert wird nur der Thema-
Rhema-Aufbau des Textabschnittes: Ins Thema wird die Bezeichnung der Beschwerde ge-
stellt. Zu ergänzen wäre noch, dass im zitierten populären medizinischen Buch diese The-
matisierung auf eine interessante Weise durchgeführt worden ist: in der Form eines ge-
meinsamen Titels für die drei Rezepte aus Meister Albrants „Roßarzneibuch“: Wider den
muchen.
580 Catherine Squires

braucht der Verfasser mehrere Verben, um die Zubereitung und Verwen-


dungsweise der Arznei zu erklären. In diesen mehrgliedrigen verbalen
Ketten sind die Zahl, die Abfolge der Verbformen und die Stellung des
Pflanzennamens von Interesse. Die unten (Tabelle 2) aufgelisteten Verb-
belege sind in Gruppen mit zwei, mit drei oder mit mehr als drei Verben
eingeteilt. Die Reihenfolge der Verben in jedem Beleg bleibt dieselbe wie
im Text; die Stellung des Direktobjekts (der Bezeichnung der Heilpflanze
bzw. der ersten erwähnten Pflanze) ist durch den Vermerk „Zt“ gekenn-
zeichnet:

Sätze mit 2 Verben: Sätze mit mehr als 3 Verben:


neme Zt – drinke neme Zt – zwirnet, stoz, netze – bele-
neme Zt – lege ge
man[ge] Zt – gebe (zu drinkene) neme Zt – zwiernent, mische, lege –
pulvere Zt – ezze binde
pulver Zt – striche (– ezzent) neme Ztt – du, siede, begrabe, sihe. –
siede Zt – drinke Drinke,...
siede Zt – ezze neme Zt – stoze, neme, mache – binde
stoze Zt – drinke neme Zt – side, du, sihe – drinc
neme Zt – side, sihe – drinc; siede –
Sätze mit 3 Verben: lesche
neme Zt – mache, du – striche, du
[...Zt. ] – [menge] – ezze, drinke neme Zt – mache, siede – ezze
neme Zt – zwernent – ezze siede Zt – drinke, lege, werme, lege –
neme Zt – stoze – lege drinke
neme Zt – siede – lege stoze Zt – winde, du – drinke
neme [Zt] – stoze – salbe (2 Sät- neme [Zt] – siede, winde, du, lazze,
ze) gieze, laz, sundere, du, dribe, du,
neme Zt – pulvere – ezze laz sten – salbe, bade
neme Zt – [smel]ze – salbe neme Zt – siede, winde; neme Zt –
stoze Zt – drinke, du daz dicke pulvere, mache – drinc
neme [Zt] – pulver, du, [mis]che – ez-
ze oder drinke

Tabelle 2: Stellung der Verben und des Direktobjekts (Pflanzenbezeichnung)


− Arzneibuch aus dem 14. Jh.

Die tabellarische Darstellung zeigt nicht nur die Kombinationen von un-
terschiedlichen und sich wiederholenden Verben, sondern verdeutlicht die
Verwendung des Pflanzennamens in der Rolle des Direktobjekts in der
Stellung nach dem ersten Verb. Durch diese stereotype Anordnung ist das
Funktionieren des sekundären Suchprinzips (des Kräuterbuch-Prinzips)
gesichert, von dem oben die Rede war.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 581

Der dritte Teil kommt zwar nicht in allen, aber doch in mehreren Pa-
ragraphen vor. Er realisiert zwei unterschiedliche Grundmuster:
1. In neun Belegen kommt als Schlusswort daz hilfet vor, in einem
zehnten in der Variante so hilfet ez dich ane zwifel;
2. zwei Paragraphen schließen mit daz ist gut, in einem dritten ist eine
Variante so iz alliz gut zu finden.
Diese Schlussworte stehen am Ende und sind durch Interpunktion vom
vorangehenden Paragraphteil getrennt, zum Beispiel: Deme der klobelauch we
du gezze(n) d(er) ezze zu hant pet(er)silien. daz hilfet.25 Obwohl sie ihrer Seman-
tik nach scheinbar den Nutzer von der guten Wirkung der empfohlenen
Arznei überzeugen sollen, machen sie in den kurzen praktischen Anwei-
sungen den Eindruck eines überflüssigen Nachtrags. Vermutlich ist eine
Erklärung für die Herkunft dieser Schlussworte aus dem Vergleich mit
dem deutschen Macer zu finden.
Oben wurde schon die Vermutung ausgesprochen, dass praktische
populäre Arzneibücher unter anderem als Quellen kompilierten und bear-
beiteten Textstoff aus Kräuterbüchern enthalten mögen. Die Bearbeitung
musste, wie wir schon sahen, den Umbau der Kräuterbuch-Paragraphen
miteinschließen, wobei die Textteile ihre Stellung wechselten. Zum Bei-
spiel in einem Satz wie diesem aus dem deutschen Macer: camomila gesoten ist
gut genutzet, swer kichet – hier muss nach dem Muster und in Übereinstim-
mung mit der Pragmatik eines Arzneibuches die zu behandelnde Erkran-
kung an den Anfang des Absatzes gerückt werden und der Ratschlag, zu
dieser oder jener Pflanze zu greifen, danach folgen. Der Macer-Satz
(2) camomila gesoten (3) ist gut genutzet (1) swer kichet
soll nach dem Prinzip so umgebaut werden und das Partizip gesoten, wie
das Vorbild des oben analysierten Arzneibuches aus dem 14. Jh. vor-
schreibt, durch den Imperativ ersetzt werden (also siede). Der daraus resul-
tierende Satz *swer kichet, siede camomila ist einem typischen Arzneibuch-
Satz sehr ähnlich. Es bleibt nur noch etwas Textstoff übrig (ist gut genutzet),
auf den der Kompilator entweder ganz verzichten musste, oder den er am
Schluss anhängen konnte, vgl.:
Aus dem Macer geändert: * swer kichet, siede camomila. daz ist gut.
Aus dem Arzneibuch: Deme die augen driefen, der neme sal-
beien ... . daz ist gut.

_____________
25 In der Schreibung und Interpunktion der Handschrift zitiert.
582 Catherine Squires

Das Schlusswort, das in dem Arzneibuch des 14. Jh. den Eindruck einer
fakultativen Ergänzung machte, mag folglich auf wichtige Textteile der
vorangehenden Textform zurückgehen.

5. Populäre medizinische Textsorten


Zum Arzneibuch des 14. Jh. seien noch wichtige Bemerkungen gemacht
in Bezug auf seinen praktischen Charakter und seine äußerliche Form und
Ausführung. Mit der Blattgröße 14 × 11 cm ist das Buch in einem beque-
men und praktischen Handformat gestaltet. Es ist jedoch, wie die Abbil-
dung beurteilen lässt, kein billiges Büchlein, wenn man die Ausführung
der Handschrift betrachtet. Die regelmäßige Schrift ist schön und von
einer professionellen Hand; der Text ist auf liniertes Pergament mit zahl-
reichen, leicht verzierten roten Initialen kopiert. Alles weist darauf hin,
dass für den Nutzer dieses Büchleins kein Aufwand gescheut wurde.
Obwohl praktisch und möglicherweise für den privaten Gebrauch
verfertigt, ist es jedoch das Werk einer professionellen Hand, die wahr-
scheinlich für einen wohlhabenden Auftraggeber gearbeitet hat. Der Alltag
des 14.-15. Jh. muss jedoch medizinische Quellen von einer noch einfa-
cheren Art privater Schriftstücke gekannt haben, die unbedingt für die
sprachhistorische Forschung heranzuziehen sind.
Tatsächlich sind zwei kleine Büchlein dieser Art entdeckt worden, in
eine großformatige Sammelhandschrift mit medizinischen Kollektaneen
gelegt (s. Quellenliste, 10). Ein Büchlein in der Form eines Heftes in der
Formatgröße 210 × 150, aus drei ineinander gelegten Doppelblättern be-
stehend, auf Papier, ist ein sehr bescheiden aussehendes Schriftstück ohne
Verzierungen und ist in einer geläufigen, aber unaufwendigen Schrift ge-
schrieben. Dieselben Ausmaße und ähnliche, sehr bescheidene äußere
Charakteristiken hat auch das zweite Heft aus 15 Blättern. Beide sind zwar
zum größten Teil in Latein geschrieben, enthalten aber unterschiedliche
zusammengetragene Texte, unter denen in einem der Büchlein ein deut-
scher Segen und in dem anderen ein Lied mit Noten des Sanctus Christus
duo sind. Die große Sammelhandschrift und die eigenen Züge der Büch-
lein weisen auf das 15. Jh. als Entstehungszeit hin. Obwohl nicht volks-
sprachlich, belegen diese zwei Funde, zusammen mit einem dritten, deut-
schen medizinischen Büchlein (s. Hinweis für Quelle 2)eine Art von
handschriftlichen Heilbüchern, die nicht auf Auftrag, sondern mit eigener
Hand der kalligraphisch nicht sehr geschickten, aber in allen drei Fällen
lateinkundigen Nutzer (Mönche?) wohl für ihren eigenen Bedarf geschrie-
ben waren.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 583

Für das deutsche Buch konnte die erste damit befasste Forscherin und
Herausgeberin Polina Morosova nachweisen, dass es nicht ein erster Ent-
wurf, sondern eine Abschrift eines schon kompilierten Werkes ist.26 Es ist
also kein Einzellfall, sondern vertritt, wie die zwei anderen Büchlein bestä-
tigen, eine Gattung von Büchern, die für den privaten Bedarf und von
privater Ausfertigung sind. Dieses volksmedizinische Büchlein aus dem
15. Jh. enthält unter anderem ein Bruchstück des Arzneibuches Ortolfs
von Baierland: das Kap. 72 „Von den zeichen des todes“, der deutschen
Fassung der Capsula eburnea.
Die Capsula eburnea ist ein theoretisches Traktat, das in mehreren
volkssprachlichen Fassungen überliefert ist. Auch „Signa mortis“ genannt,
ist es ein Todes-Prognostikon, das davon handelt, wie man anhand der
Lokalisierung von Hauptsymptomen (platter, blater) bescheiden kann, wie
lange der Kranke noch zu leben hat. Sein Inhalt hatte keine praktische
Bedeutung für die Aufgaben der Krankenheilung. Trotzdem wurde dieser
medizinische Text nicht nur in wissenschaftliche Kompendien aufge-
nommen, sondern auch in heilkundlichen Büchern für medizinische Laien
bearbeitet, in dem hier analysierten Buch zusammen mit Anweisungen zur
Krankenbehandlung, mit veterinären Rezepten, Segen, Pest-Regeln und
anderem.

Wissenschaftlicher Traktat Privates volksmedizinisches Buch


a. Cod. HB XI 11, WLB b. UB Moskau, 15. Jh.
1. Wenn eynem siechen ein platter an wert eynem sechen eyn blatere an der
der mittelen zehen auf dem lincken füesz myttel czeon vff dem lynken fusze so
wirt, so wisz daz der mensch stirbt an dem sterbt her an dem czwey wnde czwenc-
xxij tag, ob jn der siehtag mit begerung fremdes zigesten tage et cetera
gutes an kommen ist
2. Wenn dem siechen die nagel swarcz wen dem sechen dye nagele swarcz
werden oder pleich oder grün vnd jm ein werden oder bleich ader grone wnde yn
rot platter wirt an der stiren, so stirbt er der suchte mit nysen quam wnde wyrt ym
an dem vierden tag, ob in der siehtag mit vorn an der stern eyn rot blater der
nyeszen an kummen ist. sterbt an dem funften tage et cetera
3. Wenn eynem siechen ein platter an wert eynem sichen eyn blater an synem
seinem antlicz wirt vnd daz jm die ader antlitcze wnde ist yme dye adere geleyn
gelegen ist vnd daz er sein lincke hant hat wnde hat syne lincken hant geleget vff
gelegt vff sein prust, so saltu wissen daz der syn brust wnde griffet her in dye naszelocher
mensch in newnczzehen tagen stirbt, vnd der sterbet in dem nunczenden tage
ob er in sein naszlocher greyfft noch dem alzo yn dye sucht an quam et
cetera
Tabelle 3: Bearbeitung eines wissenschaftlichen Textes in einem volksmedizinischen Büchlein
(nach Morozova 2004)

_____________
26 Vgl. Морозова (2008, 73).
584 Catherine Squires

Beim Übergang von diesem wissenschaftlichen Werk für Gelehrte zur


Stufe der volksmedizinischen Bücher für Laien wurden, wie schon Moro-
sova feststellen konnte,27 die kompilierten Textteile syntaktisch überarbei-
tet. Als Beispiel dieses Übergangs verglich die Forscherin 2004 zwei deut-
sche Darstellungen des Arzneibuchs des Ortolf von Baierland: ein berufli-
ches Werk in der Wolfenbüttler Hs. und die Fassung der Moskauer Hs.
Aus dem reichhaltigen Material dieses Vergleichs in Tabelle 3 drei Beispie-
le angeführt:
Die Moskauer Handschrift unterscheidet sich von der wissenschaftli-
chen Fassung durch mehrere syntaktische Züge. Wie es für praktische
Arzneibücher schon nachgewiesen wurde, steht auch hier in den meisten
Fällen (vgl. die Ausnahme unter 2b) die Erwähnung des Hauptsymptoms
(der Blattern) an der ersten Stelle (1b und 3b). Der schon in dem wissen-
schaftlichen Kodex vorhandene Wechsel im einleitenden Bedingungssatz
zwischen dem Modell mit Wenn und der Verb-Inversion (wert) ist im Mos-
kauer Fragment zugunsten der zweiten Variante verstärkt (vgl. 1a-b und
3a-b), was eine kürzere Ausdrucksweise erlaubt und, so Morozova, für
eine klare und besser überschaubare Textstruktur sorgt. Der gleichen Lo-
gik zufolge werden Aussagen über ergänzende Symptome, die in der Vor-
lage in zusätzlichen Sätzen am Ende des Paragraphen erwähnt waren, an
eine Stelle vor dem Hauptsatz verschoben. Wie die Belege 2b und 3b zei-
gen, ist das der zweite Satz, der unmittelbar nach der Erwähnung des
Hauptsymptoms folgt. Damit ist die ganze medizinische Symptomatik
zusammengetragen und steht links vom Hauptsatz (so sterbt her ... oder der
sterbet ...). Aussagen über nicht-medizinische Merkmale wie mit begerung
fremdes gutes (3a) und rhetorische Figuren wie so saltu wissen daz ... (3a) wer-
den weggelassen, vermutlich als thematisch überflüssig klassifiziert.
Die Beobachtungen, die Morosova zur Beschreibung ihrer konkreten
Quelle gemacht hat, nehmen, wenn sie aus der Perspektive der in den
vorangehenden Abschnitten verfolgten diachronen Prozesse und Verän-
derungen betrachtet werden, einen logischen und wichtigen Platz sowohl
in der Genese der medizinischen Textsorten als auch in der Entwicklung
von sprachlichen – syntaktisch-grammatischen – Mitteln unmittelbar vor
dem Beginn der deutschen frühen Neuzeit ein.

_____________
27 Морозова (2004, 161ff.).
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 585

6. Zusammenfassendes und Ausblick


Arzneibücher werden zu Lehrtexten28 oder anleitenden Texten29 gezählt,
und diese sind durch Minimallängen der Sätze charakterisiert. Eine Inter-
pretierung dieser quantitativen Besonderheit bietet Wladimir Admoni: Er
führte die Minimallänge in bestimmten Textsorten auf funktionale und
intentionale Faktoren, nämlich Wissensvermittlung und Handlungsanwei-
sung, zurück; sie verschaffen, so Admoni, dem Mitzuteilenden besondere
Einprägsamkeit.30 Diese Aussage bezieht sich allgemein auf die ganze
medizinische Literatur, was aber eine Differenzierung binnen dieser Art
anbetrifft, so kann man ergänzend schließen, dass die Bedeutung der er-
wähnten funktionalen und intentionalen Faktoren für das private medizi-
nische Schrifttum sogar höher sein sollte als für die wissenschaftlichen
Texte. Des Weiteren wurde oben erwiesen, dass die Tendenz zur Kürzung
der Text- und Satzteile ein dynamisches Merkmal der medizinischen
Textsorten ist, das in der Evolution von wissenschaftlichen zu populären
Textgattungen immer deutlicher wird.
Im Laufe der Kompilierungstätigkeit des 14.-15. Jhs. entwickelt sich
die Gattung der populären (privaten, volks-) medizinischen Bücher, in
denen Textstoff aus Arznei-, Kräuterbüchern und Rezepten zusammenge-
tragen und zu einem kohärenten Ganzen verarbeitet ist. Die Vereinigung
von medizinischen Kenntnissen aus unterschiedlichen Textsorten in
kompilierten Sammlungen wird in Stufen erreicht und durch unterschied-
liche Eingriffe begleitet, die zur Kürzung der Text- und Satzlänge führen
und besonders für den alltäglichen Gebrauch textsortenprägend sind:
• Verzicht auf für den Laien überflüssige Information, allgemeine
Tendenz zur Kürze der Ausdrucksweise;
• Anschaulichkeit der Inhaltstruktur und durch sprachliche (Stellung
im Satz bzw. im Paragraphen) und optische (paläographische Her-
vorhebung) Merkmale gesteuerte praktische Suchmöglichkeiten.

_____________
28 Vgl. Rösler (1997, 141).
29 Zur Übersicht der Klassifikationsprinzipien und zur textsyntaktischen und textgrammati-
schen Theorie seien die Untersuchengen von J. Meier und A. Ziegler eingesehen: Mei-
er / Ziegler (2006, 116); dies. (2002, 85ff.).
30 Admoni (1967, 159).
586 Catherine Squires

Die Tendenzen zur Popularisierung des medizinischen Wissens finden


konsequenten Ausdruck in der sprachlichen Realisierung. Zu Sprach-
merkmalen dieser textsortengenetischen Prozesse gehören:
• eine dem anweisenden Charakter der populären Sachprosa entspre-
chende Thema-Rhema-Gliederung der Textteile;
• Vereinheitlichung der Text- und Satzstrukturen nach einfachen kla-
ren Mustern;
• Repetitivität von syntaktischen Mustern, was ihre Einprägsamkeit
erhöht.
• Wiederholt wird im Material das Überwiegen von solchen Mustern
belegt, wie Bedingungssätze mit Inversion, der Optativ / Konjunk-
tiv als Signal der logischen Abhängigkeit, Imperativsatz in der an-
weisenden Funktion.
Die Kohärenz des kompilativen Textes wird durch weiteren Ausgleich auf
mehreren Ebenen gefestigt:
• durch sprachlichen bzw. mundartlichen Ausgleich, lexikalische,
grammatische und graphematische Vereinheitlichung;
• Verbindung des Ganzen durch Einführung von Überschriften,
Randglossen, Schlussformeln (daz hilfet oder et cetera);
• einheitliche kodikologische und paläographische Gestaltung der
Handschrift.
Eine neue Texteinheitlichkeit tritt ein, in der die strukturellen Unterschie-
de der einzelnen Gattungen (Rezept, Arznei-, Kräuterbuch, Pest-Regel)
verschmolzen sind. Thematisch heterogene Inhalte und semantisch ab-
weichende Elemente werden häufig einer semantischen Umdeutung un-
terworfen,31 was die Effektivität dieser Vereinigungskraft bezeugt. Die
durch diese Kraft geförderten sprachlichen Züge werden von Sprachhisto-
rikern zu wichtigen Entwicklungstendenzen der Syntax gezählt, die in der
Bahn der Normenentwicklung im gesamten deutschen Sprachraum liegen.
Da die populären (im privaten Gebrauch befindlichen) Quellen gerade
diese Züge deutlicher darstellen, soll das wiederum bedeuten, dass diese
neuen Tendenzen sich durch diese einflussreichen Textsorten effektiv
durchsetzen konnten.
_____________
31 Wie man dem populären Buechlein aus dem 15. Jh. entnehmen kann, können im Laufe der
Kompilierung sogar solche Textquellen mitgebraucht und in die Kompilierung eingearbei-
tet werden wie „Die Zeichen des Todes“, die dem Laien-Nutzer keine Hilfe und Auskunft
bieten können.
Konstantes und Variables im Aufbau von heilkundlichen Texten 587

Diese ergänzenden Überlegungen zur Erklärung der diachronen syn-


taktischen Prozesse können hilfreich sein für die Wahl der sprachlichen
Quellen für zukünftige syntaxhistorische und textgrammatische Untersu-
chungen. Eine Erfassung von Texten des privaten, populären Gebrauchs
erscheint auf jeden Fall als ein sehr aktueller, notwendiger, aber auch für
die Sprachgeschichte viel versprechender Forschungsschritt.

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Die Praxis des Interpungierens in Editionen
mittelalterlicher deutschsprachiger Texte
Veranschaulicht an Werkausgaben zu Hugo von Montfort

Wernfried Hofmeister (Graz)

1. Einführende Überlegungen
Ein germanistischer Mediävist hat bekanntlich viele Möglichkeiten, seine
Befassung mit sprachwissenschaftlichen Themen zu rechtfertigen: Geeig-
net sind z.B. Ergebnisse aus der Analyse von Schrift-, Laut- und Bedeu-
tungsphänomenen, welche oft die Basis interpretatorischer Schlüsse bil-
den, oder – all das und noch mehr vereinend – eine Tätigkeit, die diesen
Beitrag motiviert, nämlich das Edieren: Editionen stellen gewissermaßen
eine ‚klassische‘ Schnittstelle auch hin zur Historiolinguistik dar. Öffent-
lich betont wurde diese spezifische Fachverbindung vor wenigen Jahren
auf der Baseler Tagung „Edition und Sprachgeschichte“: Ziel dieser Ver-
anstaltung des germanistischen Editorenverbandes war es, sprachwissen-
schaftliche Berührungspunkte zu reflektieren, um sie in Zukunft verstärkt
zu Angelpunkten bei der Herausgabe mittelalterlicher Texte machen zu
können. 1 Allgemein begrüßt hat man dafür das Grazer Modell der mediä-
vistischen Editorik, genannt die ‚dynamische Editionsmethode‘. Weil die-
ses Konzept für den Einstieg in die folgenden Ausführungen von Bedeu-
tung ist, sei es kurz erläutert.
Die dynamische Editionstechnik, die von Andrea Hofmeister-Winter 2
und – mit wesentlich bescheidenerem Anteil – vom Verfasser entwickelt
wurde, meint ein mehrschichtiges Edieren. 3 Als Grundlage und zugleich
erste Schicht dient die sog. ‚Basistransliteration‘: Sie zeichnet sich aus
_____________
1 Vgl. Stolz (Hrsg.) (2007).
2 Vgl. Hofmeister-Winter (2003). Grundinformationen zur dynamischen Editionsweise
liefert die Homepage von Hofmeister-Winter:
http://webdb.uni-graz.at/~hofmeisa.
3 Vgl. Hofmeister (2007, 73ff.).
590 Wernfried Hofmeister

durch eine extrem detailreiche, prädiplomatisch genaue Wiedergabe der


überlieferten Textgestalt in elektronisch codierter Form.4 Für die darauf
aufbauende Gewinnung eines z.B. auch gut lesbaren, typographisch stan-
dardisierten Drucktexts können einzelne Informationsschichten wieder
ausgeblendet werden. Dafür treten auf anderer Ebene – sei es als textkriti-
sche Kommentare oder sonstige Verstehenshilfen – neue Informationen
hinzu. Dies sei am Beispiel der Interpunktion verdeutlicht: Die dynami-
sche Edition bietet in der Basitransliteration eine überlieferungstreue Wie-
dergabe auch all jener Auszeichnungen, die einst in einer Handschrift eine
text-, zeilen- oder satzgliedernde Funktion hatten. In der Druckfassung
lassen sich diese historischen Textmarker durch ein modernes Interpunk-
tionssystem ersetzen, um den Leserinnen und Lesern eine raschere syntak-
tische Orientierung zu ermöglichen; die dynamische Editionsweise erlaubt
es aber jederzeit, vom Drucktext wieder auf die Basistransliteration und
damit auf die historische Zeichensetzung zurückzublicken.
Angewandt habe ich diese Editionstechnik im Zuge der Neuausgabe
der poetischen Werke des Alemannen und späteren ‚Wahlsteirers‘ Hugo
von Montfort, indem zeitgleich mit dem Buch auch die Basistranslitera-
tion publiziert wurde: ersteres ‚kostenpflichtig‘ im Verlag de Gruyter,5
letztere kostenlos auf einer Editionshomepage.6 Dort können jetzt von
jedermann aus der Basistransliteration konkrete Zahlen zum historischen
Gebrauch von Satzzeichen gewonnen werden. Nur um die Kapazität die-
ses Angebots zu veranschaulichen, seien dazu ein paar Daten geliefert,
konkret zum Hauptüberlieferungsträger, das ist der Heidelberger Codex
329: Er wurde großteils (von fol.1r bis 48v) knapp vor 1415 geschrieben;7
an der Aufzeichnung waren laut neuesten Analysen insgesamt drei ver-
schiedene Hände beteiligt.8 Überliefert haben sie 40 Reimtexte in insge-
samt rund 5500 zweispaltig geschriebenen Zeilen. Die Auszählung der
darin enthaltenen Punkte (oft sog. Reimpunkte am Zeilenende) hat die
Zahl 120 ergeben. An Virgeln, die separiert nach einem Spatium stehen,
_____________
4 Die graphetische Codierung erfolgt in der Basistransliteration ‚hyperdiplomatisch‘ genau
durch eine getrennte Wiedergaben sowohl aller Einzelgraphe als auch der allfällig diakri-
tisch hinzutretenden Graphelemente, welche sich als Super- oder Subskripte typisieren las-
sen, etwa in Form diverser Striche oder Häkchen.
5 Hugo von Montfort (2005).
6 Online im Internet: http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition.
7 Die ab fol. 48v aufgezeichneten und wahrscheinlich nicht von Hugo stammenden Texte 39
und 40 stellen Nachträge aus etwas späterer Zeit (wahrscheinlich wenige Jahre nach dem
Tod Hugos von Montfort 1423) dar.
8 Das erhärten die graphetischen Untersuchungen von Hofmeister-Winter (2007, 89ff.).
Gestützt wird diese Studie von den weiteren Untersuchungsergebnissen, die 2008 im Rah-
men des geförderten Projekts DAmalS gewonnen werden konnten: Hofmeister / Hof-
meister-Winter (2008, 39ff.).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 591

finden sich aber nur 38: Sie markieren häufig Versgrenzen, wenn diese bei
der Aufzeichnung ins Zeileninnere gerutscht sind, manchmal stehen sie
auch bzw. zugleich an syntaktisch-syntagmatischen Einschnitten. Daneben
finden sich noch 600 Virgeln, die jedoch eher nur Zierstrich-Charakter zu
haben scheinen, denn sie sind ohne Abstand und in nur haarfeiner Gestalt
an einzelne Buchstaben direkt angeschlossen.9 Textgliedernde Bedeutung
signalisieren 869 Initialen sowie – potenziell – einige der vieltausenden
Majuskeln, welche sich anhand ihrer authentischen Wiedergabe in der
Basistransliteration genauso selektiv auswerten lassen wie die mitcodierten
blauen und roten Farbinformationen. In Hinblick auf eine moderne Text-
darbietung verdeutlicht uns dieser historische Befund zur Hugo von
Montfort-Überlieferung, dass aus ihm zwar viele Indizien für die inten-
dierte Makro- und Versstruktur aller Texte zu gewinnen sind, aber kaum
Indizien speziell für syntaktische Markanzen. Entsprechend frei – oder wir
mögen auch sagen ungesichert – bewegt sich daher ein Editor, wenn er
Interpunktionsvorschläge in die Textausgabe einfügt, so auch bei jenen
neun Textzeilen, deren moderne Interpungierung es weiter unten exem-
plarisch zu erörtern gilt.
Vorab will jedoch eine grundsätzliche Frage beantwortet sein: Wel-
chen präsumtiven Nutzen zieht die historische Syntaxforschung über-
haupt aus einer modernen Zeichensetzung in Editionen? Wohl dann kei-
nen, wenn das Bestreben eines Sprachforschenden allein dahin geht, alle
Analysen nur an den Quellen durchzuführen, also exklusiv am hand-
schriftlichen Original bzw. an guten Faksimiles zu arbeiten – dann bleiben
alle Editionen gleichsam links liegen. Allerdings zeigen auch aktuelle Bei-
spiele für Satzbauuntersuchungen,10 dass dies keineswegs die Regel ist,
und zwar weil ein Quellenzugang rein technisch nicht in Frage kommt
oder weil man sich aus anderen Gründen fernhält vom Dickicht der ver-
schiedenen Schreiberhände mit ihren mehr oder weniger gut nachvoll-
ziehbaren und manchmal korrekturbedürftigen Graphien. In diesen Fällen
ist und bleibt eine Edition die erste Wahl, und mit ihr kommen auch ihre
Satzzeichen ins Spiel, getragen von der editorischen Textkompetenz des
Herausgebers. Daher scheint es durchaus einsichtig, dass wir ganz explizit
über die editionstechnischen und editionshistorischen Grundfaktoren für
die Praxis des Interpungierens reflektieren sollten.

_____________
9 In 395 Fällen stehen sie am Zeilenende.
10 Vgl. z.B. folgende Syntaxuntersuchung, die für die Analyse der Satzformen z.B. im „Frau-
enbuch“ Ulrichs von Liechtenstein mit den Satzauszeichnungen in Franz Viktor Spechtlers
„Frauenbuch“-Edition lückenlos konform geht: Robin (2005, 123ff.).
592 Wernfried Hofmeister

2. Editorische Zeichensetzungsstrategien
im Vergleich – exemplarische Eindrücke
Zur Veranschaulichung des Themas konzentriere ich mich auf bloß neun
Zeilen (aufgeteilt auf drei Textausschnitte) aus dem Werk Hugos von
Montfort, möchte aber mehrere Editionsversionen heranziehen. Natürlich
wird sich aus diesem geringen Textmaterial keine repräsentative Vorstel-
lung von all den vielfältigen editorischen Zeichensetzungsstrategien in der
germanistischen Mediävistik ableiten lassen, doch vielleicht ein paar ex-
emplarische Eindrücke, denn die ausgewählten Zeilen haben einiges an
syntaktischer Dynamik zu bieten: Entnommen sind sie dem Anfang des
Textes Nr. 29, eines 12-strophigen Liedes, in welchem es – grob zusam-
mengefasst – um die Verführungskünste der ‚Frau Welt‘, der personifizier-
ten ‚Ikone‘ mittelalterlicher Lebenslust geht. Ihr stemmt sich ein Verfech-
ter des gottesfürchtigen Lebenswandels tapfer (und letztlich erfolgreich)
entgegen; für diskursive Spannung ist also gesorgt.
Der erste Herausgeber dieses Textes war Karl Bartsch im Jahr 1879.11
Zu seiner Interpunktionsmethode ist generell Folgendes anzumerken: Er
hält sich weitgehend an Karl Lachmann und dessen (rund 50 Jahre davor
etablierte) Vorgaben für altgermanistische Interpunktionstechnik.12 In
diesem Auszeichnungssystem, welches zahlreiche Editionen bis heute
prägt, dient die Interpunktion nicht immer nur bzw. primär der Auszeich-
nung aller syntaktischen Einheiten. Vielmehr wird versucht, auch einer
imaginären Vortragssituation gerecht zu werden, also zugleich den gefühl-
ten Sprechrhythmus zu unterstützen.13 Einer solchen Praxis liegt zum
einen die Tradition der lateinischen Rhetorik zugrunde, welche dem Alt-
philologen Lachmann bestens vertraut war, zum andern (und in Anleh-
nung daran) die Betonung metrischer Einheiten, wie sie fallweise auch
durch historische Zeichensetzungen in den mittelalterlichen Handschrif-
ten gestützt wird. Somit begegnet uns in Editionen, die sich (mehr oder
weniger konsequent) an Lachmanns Vorgaben halten, eine Interpunktion
mit einer im Grunde doppelten Ausrichtung zwischen Metrik und Syntax,
wobei aber erfahrungsgemäß meist die syntagmatischen Strukturen erheb-
lich stärker gewichtet werden. Hat man als Nutzer einer Edition deren
Lachmann’schen Interpunktions-Usus einmal erkannt, reduziert sich die
Gefahr, auf der Suche nach Satzgebilden anhand der Interpunktion un-
willkürlich den bloß metrisch relevanten Einheiten zu folgen.
_____________
11 Vgl. Bartsch (1879).
12 Wir dürfen nur von einem ‚stillschweigenden‘ Anschließen an Lachmanns Usus ausgehen,
da sich Bartsch dazu im Vorwort seiner Edition nicht explizit äußert.
13 Vgl. Gärtner (1988, 86ff.).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 593

2.1. Editorische Möglichkeiten der Rede-Markierung

Nun soll entsprechend sensibilisiert der erste Textausschnitt betrachtet


werden, der Liedbeginn bei Bartsch (Abb. 1),14 und gleich mit dem Inter-
punktionseinsatz von Josef Eduard Wackernell (Abb. 2) konfrontiert wer-
den: Dessen Ausgabe15 erschien 1881, also nur drei Jahre nach der
Bartsch-Edition, ebenfalls als kritische Ausgabe, aber sie zeigt sich in
mancher Hinsicht als ‚moderner‘, so auch bezüglich der Zeichensetzung:

Abbildung 1: Edition Bartsch, Z. 1-4

Abbildung 2: Edition Wackernell, Z. 1-4

An bzw. schon vor der allerersten Textstelle fällt uns beim Editionsver-
gleich auf: Erst Wackernell führt eine Markierung der Sprecherrolle in der
1. Zeile ein – und tut dies zu Recht, denn schon am Beginn dieses Texts
sollte man ganz unzweifelhaft signalisiert bekommen, dass hier eine direk-
te Rede vorliegt: In ihr wendet sich ein (männlich gedachtes) Erzähler-Ich
ganz nachdrücklich an die verführerische Frau Welt, die dann erst in der 2.
Strophenhälfte antwortet. Gewiss war diese Wechselrede-Situation schon
dem verdienten Editor Karl Bartsch bewusst, aber er verzichtete auf die
Kennzeichnung durch Anführungsstriche. Wer nun jedoch ohne das Hin-
tergrundwissen von Bartsch nur dessen Textoberfläche zur Grundlage
weiterer Analysen macht, muss sich diese dialogische Textstruktur nolens
volens selbst rekonstruieren und ihr dann auch in jenen Passagen zu folgen
versuchen, wo sich die Redeanteile der Sprechenden weniger deutlich zu
_____________
14 Für die Belegung der einzelnen Textabdrucke sollen uns deshalb faksimilierte Ausschnitte
(und nicht bloß abgetippte Wiedergaben) dienen, da damit für den angestrebten Vergleich
ein Höchstmaß an typographischer Authentizität geboten werden kann, etwa mit Blick auf
die schriftproportionale Signifikanz und Ästhetik der Interpunktionszeichen.
15 Vgl. Wackernell (1881). In Wackernells äußerst umfangreicher Einführung in seine Edition
findet sich nichts zur Erhellung seiner Interpunktionstechnik.
594 Wernfried Hofmeister

erkennen geben – kein leichtes Unterfangen! Somit bietet Wackernells


‚Auszeichnungsservice‘ eine durchaus hilfreiche Textorientierung für die
einzelnen Figurenrede-Abschnitte, denn damit fällt es wesentlich leichter,
die allfällige Ergiebigkeit der einzelnen Figurenreden für eine kommunika-
tionsorientierte Sprachforschung unter die Lupe zu nehmen, etwa in Hin-
blick auf allfällige Spuren authentischer Oralsprachlichkeit, welche wie-
derum gender-spezifisch, hierarchisch, ständisch-sozial, alters- oder
arealtypisch abgetönt sein mögen. Freilich hätte man dabei immer zu be-
denken, dass in der vorliegenden poetisierten Textsorte ein nicht geringes
Maß an Sprachstilisierung und Simulierung von authentischer Rede vor-
liegt.

2.2. Zur Problematik einer sensiblen Wahl


der Interpungierungsmittel

Wenden wir uns jetzt aber den weiteren Textauszeichnungen zu und da-
mit den Interpunktionszeichen im engeren Sinn resp. den Interpungie-
rungsmitteln (laut Simmler 2003).16 Unproblematisch zeigt sich das
Komma nach Fro Welt, dem Subjekt des ersten Satzes: Bei Bartsch und
Wackernell trennt es die direkte Anrede an diese imaginäre Person von
der nachfolgenden Proform ir, was überzeugt. Diskussionswürdig scheint
hingegen das nächste Komma, welches in beiden Editionen die 2. Zeile
beschließt. Der Inhalt dieser Passage besteht – pointiert paraphrasiert –
darin, dass Frau Welt als attraktiv, aber ausbeuterisch bezeichnet wird. Für
diese Aussage werden in den ersten beiden Zeilen Prädikatsnomina einge-
setzt: Das erste zeigt sich getragen vom expliziten Hilfsverb sint (in der
Bedeutung 'seid'), das Prädikatsnomen der zweiten Zeile basiert implizit
auf der Verbform ist, erscheint hier aber nicht an der Oberfläche, sondern
steht nur elliptisch im Raum; oder es liegt schlicht eine ‚constructio ad
sensum‘ vor: Dann wäre auch die 2. Zeile noch von sint regiert, jedoch
gegenüber der sprachlogischen Personalform ist inkongruent in den Kate-
gorien ‚Person‘ (2. versus 3. Person) und ‚Numerus‘ (Plural vs. Singular).
Verbunden werden beide Zeilen durch die Konjunktion und am Beginn
von Zeile 2: Sie ist jedoch eher adversativ zu verstehen in der Bedeutung
von 'aber'. Die Frage, ob dann nicht besser – so wie das später in unserer
Zeichensetzung für adversative Anschlüsse üblich wurde – am Ende von
Zeile 1 ein Komma stehen sollte, zumal in Zeile 2 mit ewer lon auch ein
weiteres Subjekt hinzutritt, kann man mit dem Hinweis darauf verneinen,
dass zum einen diese Adversativität eben nicht explizit auftritt, und zum
_____________
16 Vgl. Simmler (2003, 2472ff.); die oben erwähnte Begriffseinführung erfolgt auf S. 2473.
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 595

andern beide Zeilen unmittelbar auf ihr gemeinsames Anredesubjekt ‚Frau


Welt‘ hin ausgerichtet sind, was aber durch die Setzung eines Kommas
wieder verwischt würde.
Demgegenüber ordnet sich Zeile 3 gar liebe wort und suess gedön nicht
mehr gleichermaßen direkt der ‚Frau Welt‘ (in Zeile 1) unter, sondern
einem Bezugswort aus Zeile 2, nämlich dem nichtigen lon: Dieser ‚Welten
Lohn‘ beschere – wie ich übersetze – „bloß reizende Worte und betören-
de Klänge“.17 Grammatikalisch mag man wieder an ein elliptisches Prädi-
katsnomen denken, dem in diesem Fall die tiefenstrukturelle Subjekt-
Prädikatsfolge ‚das sind‘ fehlen würde, oder man sieht darin eine Apposi-
tion, die den lon präzisierend beschreibt. Bei beiden Annahmen haben wir
es aber im Grunde mit derselben Argumentationsstrategie zu tun, die eben
nicht mehr direkt an ‚Frau Welt‘, sondern an das Subjekt lon anknüpft.
Diese textgrammatische Feinheit kommt durch die Setzung eines Kom-
mas, wie es Bartsch und Wackernell anbieten, nicht optimal zum Aus-
druck. Deshalb hat meine Edition (Abb. 3),18 die ich nun ebenfalls ins
Spiel bringen darf, hier einen Doppelpunkt:

Abbildung 3: Edition Hofmeister, Z. 1-4

Dieser Doppelpunkt nach der zweiten Zeile kann besser als ein Komma
zugleich die syntaktische Zäsurierung und die thematische Vertiefung
durch die katalogartig aufgezählten Begriffe signalisieren. Doch ich gebe
gerne zu: Der daraus erwachsende satzzeichentechnische Unterschied ist
gering.
Nur um alle vier vollständigen Montfort-Editionen einbezogen zu ha-
ben, binde ich hier noch kurz den Textabdruck von Franz Viktor Specht-
ler19 (Abb. 4) mit ein, obwohl dieser Abdruck als sog. diplomatische Aus-
gabe keinerlei Interpunktionsangebote enthält und daher für unsere
weiteren Fragstellungen ohne größere Bedeutung bleibt:

_____________
17 Hofmeister (2007, 17). Ziel dieser speziell für die CD-Ausgabe hergestellten Übersetzung
war es weniger, alle syntaktischen Bewegungen der Vorlage exakt nachzuzeichnen, sondern
durch eine etwas freiere Sprachgebung auch für ein breiteres Laienpublikum vor allem se-
mantisch gut fasslich zu sein.
18 Hofmeister (2005); allg. Hinweise zur Zeichensetzung finden sich auf S. XXXIf.
19 Spechtler (1978), Bd. II.
596 Wernfried Hofmeister

Abbildung 4: Edition Spechtler, Z. 1-4

Im weiteren Kontext des Rahmenthemas beachtenswert scheint, dass


Spechtler beim Frau Welt-Lied synchron zur dafür überlieferten Melodie
erstmals eine strophische Durchzählung einführt: Dies ist nämlich auch
syntaktisch bedeutend, weil ja nicht damit zu rechnen ist, dass sich Satz-
gebilde über die markante, deutlich pausierte Strophengrenze hinweg fort-
setzten.20
Für die Interpunktions-Analyse von Zeile 4 soll der Blick wieder zu-
erst auf die Darstellung bei Bartsch (Abb. 1 oben) gelenkt werden: Ohne
eine erkennbare syntaktische Zäsurierung lautet sie bei ihm: Als irr da ist
kain slichte. Ein Syntaxproblem bereitet hier sicher nicht die Großschrei-
bung von Als, denn solche Großbuchstaben lernt man schnell zu ignorie-
ren, da sie Bartsch ganz stereotyp für jeden Versbeginn bemüht, einerlei,
ob durch die Überlieferung gestützt oder nicht. Nein, sie verunsichert
deshalb, weil nach Als irr ein Satzzeichen fehlt, welches die offenkundig
selbstständige Wortfolge da ist kein slichte abtrennen würde. Erst Wacker-
nell (vgl. Abb. 2 oben) fügt dieses syntaktisch wertvolle Komma ein und
signalisiert damit, dass schon als irr ein – wenn auch elliptisch formuliertes
– Syntagma darstellt mit der Bedeutung 'Das ist alles wirr'. Hinter dieser
Satzwertigkeit kann nun auch die eigenständige Perspektive erkennbar
werden, welche der Wortfolge als irr illokutiv innewohnt: Als irr zielt näm-
lich auf alle drei vorangehenden Zeilen. Deren Inhalt – eine Kette aus
subvokalen Vorwürfen – wird nun summarisch erfasst und daraus eine
Zurückweisung gewonnen. Das Argument für diese Zurückweisung steckt
in dem Wort irr: Mit seiner Bedeutungskomponente 'ungeordnet, sinnlos'
stützt dieses Wort die Ablehnung des irdischen Treibens. Verstärkt wird
sein argumentativer Kern vom gleich nachfolgenden, grammatikalisch

_____________
20 Keine gleichermaßen strikte Grenzlinie verläuft jedoch zwischen den metrisch untergeord-
neten Stolleneinheiten, denn über sie können einzelne Sätze sehr wohl hinweglaufen.
Spechtler schreibt auch sie alle groß. Daher dürfen wir diese Großbuchstaben nicht
zugleich als ein syntaktisches Signal für jeweils auch neue Satzanfänge missverstehen (vgl.
z.B. in Text Nr. 3 die Verse 64f.).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 597

vollständigen Satz in Zeile 4: da ist kain slichte (wörtlich: 'darin gibt es keine
Geradlinigkeit').21
Wackernell dürfte diesen engen argumentativen Zusammenhalt beider
Sätze gespürt haben, denn er relativiert deren rein syntaktisch notwendige
Trennung durch ein Komma dadurch, dass er diese gesamte Zeile 4 von
der Zeile 3 betont stärker absetzt, wozu ihm der signifikante lange Gedan-
kenstrich am Ende der Zeile 3 dient, der das Komma von Bartsch ersetzt.
Was Bartschens Verzicht auf eine syntaktische Untergliederung der Zeile 4
betrifft, mag man vermuten, dass für ihn entweder der argumentative
Konnex beider Sätze in Zeile 4 stärker wog als deren syntaktische Eigen-
dynamik oder dass er einer sprechrhythmischen Intuition im Sinne Lach-
manns folgte; er bietet jedenfalls – prosaischer gesagt – schlicht einen Satz
weniger.
Diskussionsbedürftig bleibt in dieser ersten Liedpassage nur noch der
Unterschied zwischen den in Zeile 4 satzschließenden Zeichen bei Bartsch
und Wackernell, denn da steht ein Punkt einem emphatischen Rufzeichen
gegenüber und bei mir (vgl. Abb. 3 oben) dann wieder nur ein Punkt.
Meine Entscheidung folgt dem Grundsatz, Rufzeichen möglichst nicht zu
beliebig gesetzten ‚Graph-Emoticons‘ für all das werden zu lassen, was ein
Editor betont sehen möchte. Vielmehr sollen sie nur wirklich hervorste-
chende und dabei grammatisch nachvollziehbare Intensivierungen kenn-
zeichnen, wie sie von syntaktischen Konstruktionen oder bestimmten
Wortarten signalisiert werden: Derartiges liegt recht eindeutig vor bei Be-
fehlssätzen mit einer Imperativform, sodann bei ähnlich nachdrücklichen
Konjunktiv I- bzw. Optativ-Konstruktionen in Wunschsätzen und bei
diversen exklamativen Interjektionen. Darüber hinaus markiert das Ruf-
zeichen bei mir nur noch einzelne besonders nachdrückliche Sätze mit
einer latent direktiven Perspektive. Da man den vorliegenden Satz in Zei-
le 4 zu keiner dieser Kategorien zählen kann, scheint mir für ihn eben
bloß ein Punkt angemessen.

2.3. Die Auswirkungen der editorischen Satzzeichenwahl


auf die hierarchische Satzstruktur

Als zweite, weiterführende Passage bieten sich für unseren Interpunkti-


onsvergleich die Zeilen 9-11 an. In ihnen ergreift soeben die Frau Welt
das Wort, um sich gegen die Anschuldigungen ihres Anklägers zur Wehr

_____________
21 Dieser Satz repräsentiert zwar ein eigenes Syntagma und verdient daher seine Abtrennung
durch das Komma, er braucht aber keine stärkere Zäsurierung, weil er das Argument von
als irr nur variierend unterstützt.
598 Wernfried Hofmeister

zu setzen: Bartsch (Abb. 5) und Wackernell (Abb. 6) interpungieren hier


einheitlich und gewinnen dabei drei Hauptsätze: je einen Interrogativ-,
einen Deklarativ- und einen Exklamativsatz:

Abbildung 5: Edition Bartsch, Z. 9-11

Abbildung 6: Edition Wackernell, Z. 9-11

Liegt hier aber wirklich eine solche parataktische Reihung vor? Speziell die
Struktur des dritten Satzes überzeugt nämlich keineswegs, denn bei Hugo
von Montfort würde man die Wortstellung / interjektives dass + Subj. (+
fak. Obj.) + Verbalphrase / kein zweites Mal als Hauptsatz finden. Sehr
wohl aber treten ganz ähnliche Konstruktionen des Öfteren als Gliedsatz
auf, und zwar auch recht häufig in genau derselben Reihung, bei der das
Prädikat nicht an letzter Stelle steht. Sie lauten z.B. folgendermaßen, wo-
bei ich aus Gründen der Nachvollziehbarkeit zuerst immer auch den
Hauptsatz mitzitiere, von dem dann ein mit der Konjunktion das eingelei-
teter Gliedsatz abhängt: das zúg ich an den werden gott, / das ich doch tún nach
sím gebott22 ('Ich schwöre beim ehrwürdigen Gott, dass ich nach seinem
Gebot handle' 1/16f.), du fragist denn den schreiber glich, / das er dir gebi rát ('so
frag einfach den Schreiber, auf dass er dir raten möge' 3/73f.) oder damit
so mag ich also leben, / das ich tún úbel oder gút ('damit [gemeint ist der freie,
von Gott dem Menschen gegebene Wille] kann ich so leben, dass ich böse
oder gut handle' 4/50f.) etc. Somit liegt auch in Lied 39/11 die Annahme
einer hypotaktischen Gliedsatzkonstruktion nahe, wie sie mein Editions-
text (Abb. 7) vorschlägt:

_____________
22 Die folgenden Textzitate stammen aus der Edition von W. Hofmeister: Hugo von Mont-
fort (2005).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 599

Abbildung 7: Edition Hofmeister, Z. 9-11

Nunmehr ist zu sehen, dass erstens der Satz in Zeile 11 vom Fragesatz in
Zeile 9 abhängt, und zwar mit konsekutiver Anbindung, und dass zwei-
tens dazwischen ein Satz eingeschoben ist – halb kommentarhaft, halb
argumentativ. Ganz eng am Text übersetzt ergibt dies: 'Lieber Freund, was
wirfst du mir vor (ich habe dich doch so oft erbaut), dass du mich derartig
verachtest?' Solche gedanklichen Einschübe finden sich bei Hugo von
Montfort häufig, ja er liebt sie geradezu, wie seine über 100-fache Ver-
wendung dieses Stilmittels zeigt.

2.4. Die Möglichkeit der editorischen Kennzeichnung


sprichwortartiger Mikrotexte

Schließlich sei ein drittes und damit letztes Beispiel angeführt, um noch
eine weitere interpunktorische Auszeichnungsoption kennen zu lernen:
Anführungszeichen, Punkt, Doppelpunkt, Beistrich, Gedankenstrich und
runde Klammer wurden bereits vorgefunden.23 Es fehlt also noch der
Strichpunkt. Schon Bartsch und Wackernell haben ihn gerne bemüht, um
damit (wie noch heute üblich) satzwertige Gebilde, deren Thema sich eng
an den vorhergehenden Satz fügt, weniger stark abzusetzen, als dies durch
einen Punkt der Fall wäre. Hier herrscht aber meiner Erfahrung nach ein
erheblicher und oft schwer argumentierbarer Ermessensspielraum zwi-
schen Strichpunkt, Punkt, Gedankenstrich oder auch Komma: Sie alle
sind Satzzeichen, die auch Hauptsätze voneinander trennen können.24 Für
die vorliegenden Überlegungen würden sich jetzt aus solchen Alternativen
keine substanziell neuen Erkenntnisse ergeben, die über die oben geführ-
ten Diskussionen hinausreichten, daher wende ich mich noch einer Spezi-
alauszeichnung im Rahmen meiner Editionstechnik zu, den einfachen
_____________
23 Nur der auszeichnungstechnischen Vollständigkeit halber sei hier noch auf die einfachen
Anführungsstriche verwiesen: Wie in vielen Editionen üblich, dienen sie für die Markie-
rung von Werkzitaten im poetischen Text oder von Reden in Reden.
24 Stichprobenartig sei zum Einsatz von Strichpunkten durch Ba(rtsch), Wa(ckernell) und
Ho(fmeister) für die Anfangspassage unseres Textes (Z. 1-48) überblicksartig vergleichend
festgehalten: Ba und Wa bieten ein Semikolon in Z. 18 (Ho dafür einen Gedankenstrich);
Ba in 30 (Wa dort Beistrich, Ho Doppelpunkt); Ba in 35 (Wa Doppelpunkt, Ho Beistrich);
Wa in 36 (Ba Punkt, Ho Beistrich: Außerhalb dieser Passage kommen Strichpunkte bei Ho
gemäß den oben genannten Grundsätzen durchaus häufig zum Einsatz).
600 Wernfried Hofmeister

Spitzklammern: Sie gelten den präsumtiven Kollektivzitaten bzw. Sprich-


wörtern und Sentenzen. Generell werden solche parömischen Sätze in
Editionen bislang nur ganz selten hervorgehoben.25 Aber speziell linguisti-
sche Fragestellungen würden von dieser auszeichnungstechnischen Unter-
stützung profitieren. Es ist zwar hier nicht der Ort, alle Gründe für das
Setzen dieser Markierungen zu erörtern,26 doch die wichtigsten seien zu-
mindest erwähnt: Sprichwörter bzw. Parömien oder (wie ich sie in meinen
phraseologischen Studien27 vorsichtiger genannt habe) ‚sprichwortartige
Mikrotexte‘ treten textfunktional als gerne herbeizitierte normative Aussa-
gen auf und entfalten dabei eine vielschichtige Kommentierungsleistung,
die den Zieltext meist persuasiv bestätigt, ihn manchmal aber auch iro-
nisch unterläuft. Kaum ein anderes Stilmittel vermag einem zwingender
und zugleich aufschlussreicher vor Augen zu stellen, wie seit jeher kom-
plexeste Diskurse zielsicher versprachlicht wurden: Die Syntaxforschung
etwa lernt daran zu erkennen, welche Kernbereiche den satzartigen Phra-
seologismus ausmachen und welche peripheren Teile davon abzugrenzen
sind (z.B. einleitende, meist elliptische Wörter wie zwar oder wand in der
Bedeutung 'wahrlich' oder 'denn'); und für die Textgrammatik öffnet sich
der Blick auf ein wahres Netzwerk an kataphorischen wie anaphorischen
Sinnbezügen. Es lohnt sich daher auf jeden Fall, Parömien näher zu be-
trachten.
Für den Editor aber bedeutet dies natürlich, die Herausforderung an-
zunehmen, möglichst viele ‚verdächtige‘ Sätze zu erkennen, zu überprüfen
und hernach in sein Interpunktionssystem mit einzubeziehen, was ja inso-
fern prinzipiell stringent wäre, als alle Parömien im Grunde auch eine Art
von Figurenrede darstellen, jedoch im Unterschied zu fiktiven Figurenre-
den eben Beiträge aus dem ‚Off‘ sind, weil sie (zumindest vorgeblich) aus
einem gemeinschaftlichen Wissensschatz stammen. Erkennen lassen sich
diese stets satzwertigen Phraseologismen an einer Vielzahl von Merkma-
len, von denen etwa ihre Nachweisbarkeit in diversen Sprichwortsamm-
lungen ein zwar nicht unbedingt notwendiges, jedoch sehr willkommenes
_____________
25 Gewagt werden Auszeichnungen von Parömien in der Editorik bislang fast nur dort, wo
solche Parömien (bis heute!) als gängige Sprichwörter bekannt geblieben sind und vor al-
lem durch einen metatextuellen Hinweis direkt bei der Parömie ‚ausreichend abgesichert‘
erscheinen. So etwa zu beobachten bei folgender Textstelle Oswalds von Wolkenstein (mit
editorisch allerdings irreführender Integrierung des nicht zur Parömie gehörigen Fragezei-
chens in die Parömie-Markierung durch doppelte Spitzklammern): Güt mütter, hand ir nie ge-
lesen / vor langer zeit: »ie lieber kind, ie grösser besen?«, Oswald von Wolkenstein, Die Lieder. Die
zahlreichen weiteren Parömien Oswalds, welche für uns heute etwas weniger deutlich her-
vortreten, bleiben jedoch ignoriert: vgl. Hofmeister, Sprichwortartige Mikrotexte.
26 Mehr dazu findet sich in Hofmeister [im Druck]
27 So auch in dieser terminologisch besonders ausführlichen Monographie: Hofmeister
(1995).
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 601

Indiz für ‚echte Sprichwörtlichkeit‘ ist. Mithilfe meiner eigenen Merk-


malsmatrix28 ließen sich von mir bei Hugo von Montfort insgesamt 82
Parömien explizit markieren und damit für weitere Sprachanalysen anbie-
ten.29
Bei Bartsch (Abb. 8) und Wackernell (Abb. 9) findet sich keine einzige
Sprichwortmarkierung, daher auch keine in dem nun folgenden Beispiel
aus dem „Frau Welt-Lied“: Hier äußert der Erzähler in Zeile 33 seine
Ratlosigkeit und begründet sie hernach mit einer parömisch eingekleideten
vanitas-Weisheit:

Abbildung 8: Edition Bartsch, Z. 33-34

Abbildung 9: Edition Wackernell, Z. 33-34

Nicht übersehen werden sollte beim raschen Überfliegen der ersten Zeile,
dass Bartsch hier wieder einen Satz ‚liegen lässt‘, diesmal den Gliedsatz was
ich machen wil; Wackernell, der ‚Syntaktiker‘, markiert ihn hingegen durch
ein Komma. Die nachfolgende Sentenz ›die welt ist ain zergangkleich leben‹
(>Vergänglich ist das Erdenleben.<30) könnten beide Editoren bereits
gespürt haben, sofern man ihren Doppelpunkt am Ende der ersten Zeile
so deuten darf: Dieses Satzzeichen eignet sich nämlich am besten dafür,
vor einer Parömie gedanklich kurz innezuhalten, um darauf aufmerksam
zu machen, dass nun ein eigentextueller Kommentar zum soeben Gesag-
ten folgt. Wirklich ausreichend hervorheben lässt sich die zitathafte Pro-
verbialität des damit angekündigten Satzes aber erst durch eine gesonder-
te, den Satz umschließende Auszeichnung, wie sie meine Edition vor-
schlägt:

_____________
28 Als essenzielle Merkmale gelten: Erfahrungsbasis, geschlossene Aussage / potenzielle dis-
kursive Abgeschlossenheit, geschlossene Satzstruktur, Kürze und Prägnanz, lexikalische
Publikumsläufigkeit. Frei hinzutretende Merkmale sind (sprichwort-intern) Alliteration,
Bildhaftigkeit, Binnenreim, Identität, Indefinitausdruck, Indikativ, Komparativ und Super-
lativ, Kontrast, Prädikatslosigkeit, Präsens und (sprichwort-extern) Autoritätsappelle, Dele-
tierbarkeit, Distribution, Gruppierung, Kommentar, Quellenbeleg, Überleitungswort.
29 Siehe die Sprichwortliste im oben genannten Beitrag: Hofmeister (2009).
30 Hofmeister (2007, 18).
602 Wernfried Hofmeister

Abbildung 10: Edition Hofmeister, Z. 33-34

Als merkmalhafte Stütze für die Sprichwortartigkeit unseres Beleges die-


nen außer der Erfüllung aller essenziellen Indikatoren (wie ‚generalisierte
Erfahrungsbasis‘, ‚geschlossene Aussage und Satzstruktur‘, ‚Kürze und
Prägnanz‘ sowie ‚lexikalische Publikumsläufigkeit‘) u.a. vier weitere, völlig
gleich lautende Sätze in Hugos Werk,31 an deren Seite man noch viele
Belege für diese ‚Welt-Parömie‘ durch andere Autoren und Quellen stellen
könnte. Es lohnt sich daher, derartige Sprach- und Denkstereotype her-
vorzuheben, damit sie in weiterer Folge umfassender als bisher gemein-
sam mit der historischen Phraseologieforschung näher untersucht werden,
etwa in Hinblick auf Fragen nach ihrer kommunikativen Relevanz oder
ihren Intertextualitäts-Bezügen.

3. Fazit
Was kann am Ende dieses Beitrages als Summe und Ausblick festgehalten
werden? Vielleicht dies: Durchinterpungierte Editionen älterer Texte dür-
fen nie den Blick auf die Überlieferung verstellen, denn immer wird es
wichtig sein, sich auch von den historischen Textgliederungssymbolen ein
Bild zu machen. Darauf aufbauend mögen Sprachforschende die in Edi-
tionen angebotenen modernen Satzzeichen als eine Art Brücke sehen,
welche Syntax- und Sinnstrukturen miteinander zu verbinden versucht.
Allerdings empfiehlt es sich immer, die jeweilige Edition vorab darauf hin
zu überprüfen, ob bzw. wie weit ihre Textauszeichnungs-Konvention eher
der konservativen, auch metrisch-rhetorisch orientierten, Interpunktions-
weise verpflichtet ist (und daher womöglich so manches syntaktisch rele-
vante Signal unmarkiert lässt) oder ob sich die Textausgabe davon unab-
hängig zeigt, indem sie möglichst konsequent dem historischen Satzbau
nachzuspüren und ihn interpunktionstechnisch auch abzubilden versucht;
manchmal, wenn auch nicht immer, wird da das Lesen der editorischen
Vorwörter für eine gewisse Groborientierung sorgen können.
Doch einerlei, ob eher konservativ oder radikal modern interpungierte
Edition: Beide vermögen letztlich nie alle Syntaxphänomene von histori-

_____________
31 Vgl. 28, 378; 29, 94; 31, 206 u. 38, 137f.
Die Praxis des Interpungierens in Editionen 603

schen Texten direkt wiederzugeben32 und zudem riskieren sie es mit ihrer
‚bis auf Punkt und Beistrich‘ genauen Zeichensetzung, das eine oder ande-
re Mal eine denkbare Variante außer Betracht zu lassen oder auch schlicht
danebenzugreifen. Aber selbst an jenen Stellen, an denen das Syntaxwis-
sen oder die interpretatorische Intuition des Editors einmal versagt haben
sollten, wird für das Zielpublikum summa summarum speziell durch modern
und vor allem differenziert interpungierte Editionen auf jeden Fall mehr
zu gewinnen sein als zu verlieren. Gewendet in ein Schlussplädoyer, ergibt
sich aus dieser Perspektive, dass Editorik und historische Syntaxforschung
einander weiter bzw. noch stärker als Partner sehen sollten, um voneinan-
der kooperativ zu profitieren.

Quellen

Bartsch, Karl (Hrsg.) (1879), Hugo von Montfort, Tübingen.


Hofmeister, Wernfried (Hrsg.) (2005), Hugo von Montfort. Das poetische Werk, mit einem
Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin, New York.
Klein, Karl Kurt (Hrsg.) (1987), Oswald von Wolkenstein. Die Lieder, unter Mitwirkung
von Walter Weiss / Notburga Wolf, Musikanhang von Walter Salmen, 3., neu-
bearb. u. erw. Aufl. v. Hans Moser / Norbert Richard Wolf / Notburga Wolf,
(ATB 55), Tübingen.
Spechtler, Franz V. (Hrsg.) (1978), Hugo von Montfort. Bd. II: Die Texte und Melodien der
Heidelberger Handschrift cpg 329, (Litterae 57), Göppingen.
Wackernell, J. E. (Hrsg.) (1881), Hugo von Montfort. Mit Abhandlungen zur Geschichte der
deutschen Literatur, Sprache und Metrik im XIV. und XV. Jahrhundert, (Aeltere Tiroli-
sche Dichter 3), Innsbruck.

Literatur

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Texte“, in: Editio, 2 / 1988, 86-89.
Hofmeister, Wernfried (2007), „Mehrschichtiges Edieren als neue Chance für die
Sprachwissenschaft“, in: Michael Stolz (Hrsg.) in Verbindung mit Robert Schöller
/ Gabriel Viehhauser, Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März
2005, (Beihefte zu editio 26), Tübingen, 73-88.
_____________
32 Daher wird man einige Fälle entsprechend zu kommentieren haben. Grenzen setzen be-
kanntlich auch die in mittelalterlichen Texten beliebten Anakoluthe. Vgl. dazu die inter-
punktionskritischen Anmerkungen von Gärtner (1988, 89 mit Fußnote 15).
604 Wernfried Hofmeister

Hofmeister, Wernfried (1990), Sprichwortartige Mikrotexte. Analysen am Beispiel Oswalds


von Wolkenstein, (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 537), Göppingen.
Hofmeister, Wernfried (1995), Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt
an der hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters, (Studien zur Phraseologie und
Parömiologie 5), Bochum.
Hofmeister, Wernfried (Übersetzer) (2007), in: Booklet zur CD „fro welt, ir sint gar húpsch
und schón“. Die Lieder des Hugo von Montfort, gesungen von Eberhard Kummer,
(ORF Edition Alte Musik 3011), Wien, 10-33.
Hofmeister, Wernfried (2009), „Der Sprichwortgebrauch bei Hugo von Montfort:
Eine Spurensuche zwischen editorischer Herausforderung und literaturwissen-
schaftlichem Gewinn“, in: Aller weishait anevang ist ze brúefen an dem aussgang. Sympo-
sion zum 650. Geburtstag Hugos von Montfort, Dornbirn 2007. [im Druck]
Hofmeister, Wernfried, Hugo von Montfort, Begleitende Internetplattform zur Neusausgabe,
http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition (Stand: 22.07.2008).
Hofmeister, Wernfried / Hofmeister-Winter, Andrea (2008), „Schriftzüge unter der
High-Tech-Lupe. Theoretische Grundlagen und erste praktische Ergebnisse des
Grazer Pilotprojekts DAmalS (‚Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher
Schreiberhände‘)“, in: editio, 22 / 2008, 39-66.
Hofmeister-Winter, Andrea (2003), Das Konzept einer „Dynamischen Edition“, dargestellt an
der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Theorie
und praktische Umsetzung, (Göppingen Arbeiten zur Germanistik 706), Göppingen.
Hofmeister-Winter, Andrea (2007), „Die Grammatik der Schreiberhände. Versuch
einer Klärung der Schreiberfrage anhand der mehrstufig-dynamischen Neuausga-
be der Werke Hugos von Montfort“, in: Michael Stolz (Hrsg.) in Verbindung mit
Robert Schöller und Gabriel Viehhauser, Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachta-
gung 2.-4. März 2005, (Beihefte zu editio 26), Tübingen, 89-116.
Hofmeister-Winter, Andrea, [Homepage], http://webdb.uni-graz.at/~hofmeisa (Stand:
22.07.2008).
Robin, Therese (2005), „Parataxe und Hypotaxe bei Ulrich von Liechtentein und
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Mittelhochdeutsch. Eine Gegenüberstellung von Metrik und Prosa. Akten zum internationalen
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Claudia Wich-Reif u.a., (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 7), Ber-
lin, 123-156.
Simmler, Franz (2003), „Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen“, in:
Werner Besch (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Spra-
che und ihrer Erforschung, 3. Teilband, 2., vollst. u. völlig neu bearb. Aufl., (Handbü-
cher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.3), Berlin, New
York, 2472-2504.
Stolz, Michael in Verbindung mit Schöller, Robert / Viehhauser, Gabriel (Hrsg.)
(2007), Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März 2005, Tübingen.
Frühneuhochdeutsch
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
im Frühneuhochdeutschen – Textlinguistik
und Grammatik

Andreas Lötscher (Basel)

1. Einleitung
Bekanntlich hat sich die Regelung der Abfolge der Elemente innerhalb des
mehrteiligen Verbalkomplexes im Laufe der deutschen Sprachgeschichte
stark gewandelt. Im Gegenwartsdeutschen und grundsätzlich seit dem
Neuhochdeutschen des 17. Jahrhunderts gilt im zweiteiligen Verbalkom-
plex generell die Stellung V2-V1. Mehr oder weniger bis ins 15. Jahrhun-
dert war demgegenüber die Abfolge von übergeordneten und untergeord-
neten Verbalelementen, also beispielsweise Modalverben oder Hilfsverben
und Vollverben relativ frei, mit Frequenzunterschieden zwischen den
Stellungsvarianten mit Modalverben und solchen mit Hilfsverben. Be-
trachten wir nur zweiteilige Verbalgruppen, kommen somit grundsätzlich
beide denkbaren Abfolgemöglichkeiten zwischen regierendem Verb (V1)
und regiertem Verb (V2) vor; dazu gibt es noch die Möglichkeit, dass bei
vorangestelltem regierendem Modal- oder Hilfsverb zwischen dem regier-
ten und dem regierenden Verb weitere Satzglieder stehen (getrennte Stellung,
Zwischenstellung):1

_____________
1 Vgl. Reichmann / Wegera (Hrsg.) (1993, 438ff.). Alle Beispiele in den Abschnitten 1 und 2
sind aus Pauli (1970), Predigt II entnommen.
608 Andreas Lötscher

V1-V2 (zentrifugale Stellung)


Hilfsverbkonstruktionen Modalverbkonstruktionen
sälig ist der mensch, den du hast daz der sunnenschin hini muge ko-
usserwelt men
daz Judas sinem ruoff nit wurde fol- daz wir alweg etwas guotz söllint
gen tuon
sider er ist usserwelt mit den andren
zwelf botten
alle, die je verzukt sint worden
Tabelle 1: Zentrifugale Stellung

V2-V1 (zentripetale Stellung)


Hilfsverbkonstruktionen Modalverbkonstruktionen
daz er sin kraft verloren habe dahin der lib des menschen nit ko-
als geschriben ist im buoch Canticis men kann
Paulus, der verzukt ward inn dritten waz wir tuon sollint
himel
Tabelle 2: Zentripetale Stellung

mit zwischengestelltem V2-Gliedteil (nur mit V1 ... V2)


Hilfsverbkonstruktionen Modalverbkonstruktionen
die wort mins anfang, so ich hab für do er uns wolt kuntbar machen
mich genomen
Tabelle 3: Zwischenstellung

Das Thema ist schon des Öfteren Gegenstand von Untersuchungen ge-
wesen, zuletzt bei Robert P. Ebert, der ausführlich die Verteilung in
Nürnberger Schriftquellen auf ihre Verteilung in soziolinguistischer und
diachroner Sicht untersucht hat.2 Ich möchte in diesem Beitrag diese Un-
tersuchungen in zwei Hinsichten weiterführen: Erstens möchte ich stich-
probenartig weitere Quellen einbeziehen, zweitens möchte ich die etwas
grundsätzlichere Frage stellen, wie die Variationen im Gebrauch aus der
Perspektive einer Beschreibung eines damals geltenden grammatischen
Systems zu interpretieren sein könnten. Ich konzentriere mich dabei auf
die Periode etwa zwischen 1480 und 1580.
Die bisherigen Beschreibungen konzentrieren sich zumeist auf eine
mehr statistische Beschreibung des Vorkommens der einzelnen Typen an
sich, ohne die Frage zu stellen, wie diese in einem präziseren syntaktischen

_____________
2 Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 609

Rahmen genauer zu fassen wäre. Allfällige Systematisierungsversuche


andererseits müssen zwei nahe liegende Gefahren vermeiden: erstens jene,
die von Vilmos Ágel als Synchronizismus bezeichnet wurde, die unhinter-
fragte Erklärung eines historischen Sachverhalts aus Kategorien, die für
die heutige Grammatik entwickelt worden sind, zweitens den Skriptizismus,
die Erklärung eines historischen Sachverhalts aus den Voraussetzungen
bezüglich Standardsprachlichkeit-Schriftlichkeit, wie sie für die Gegen-
wartssprache gelten.3 Auch wenn es schwer ist, eine theoretisch orientierte
Beschreibung aus einer anderen als der eigenen Betrachtungsweise zu
entwickeln, sollte man sich doch immer bewusst machen, dass man stets
Gefahr läuft, für historische Zustände unhinterfragt Kategorien anzuwen-
den, die für die eigene Sprachpraxis angemessen sein mögen, aber doch
kontingenterer Natur sind, als wir unreflektiert anwenden.
Insbesondere die Interpretation der Beziehung zwischen Variabilität
und grammatischer Fixierung und der möglichen Einflüsse von pragmati-
schen und textfunktionalen Faktoren kann nicht unbesehen von heutigen
Verhältnissen auf historische Zustände übertragen werden. Vielfach wird
aus dieser heutigen Sicht die Entwicklung als ein allmähliches Entstehen
von Regularität und Systematik aus einem Sprachgebrauch der Freiheit,
wenn nicht Beliebigkeit formuliert. Das ist eine Sicht von heute aus. Wie
aber präsentierte sich das System aus der zeitgenössischen Sicht des 15.
und 16. Jahrhunderts? Und wenn es sich damals wirklich um freie Variabi-
lität handelte, wie wäre eine solche Variabilität in einem grammatischen
System zu beschreiben?

2. Pragmatische und grammatische Einflussfaktoren


bei der Wahl zwischen V1-V2 und V2-V1
2.1. Rhythmische Faktoren

Zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich den Umstand


machen, dass die Verteilung zwischen den verschiedenen Stellungsmög-
lichkeiten im älteren Deutsch zwar breit gestreut, aber statistisch un-
gleichmäßig ist. Für diese Ungleichgewichte in der Häufigkeit der Stellun-
gen V1-V2 und V2-V1 sind verschiedene Arten von Einflussfaktoren
namhaft gemacht worden. Ein erster Faktor betrifft die rhythmische
Struktur eines Verbkomplexes unter Einschluss des vorangehenden Wor-
tes; diese hat Ebert (1998) detailliert anhand seines Nürnberger Korpus
untersucht. Stark vereinfacht lässt sich aus Eberts Darstellung die Grund-
_____________
3 Vgl. Ágel (2002, 1ff.).
610 Andreas Lötscher

tendenz formulieren, die auch schon Behagel formuliert hat:4 V2-V1 (die
neuhochdeutsche Folge) wird eher bevorzugt, wenn das vorangehende
Wort schwach betont ist, die umgekehrte Folge entsprechend, wenn das
vorangehende Wort stark betont ist:

stark betontes Wort + V1 die das leben ... Jhesu Christi hond beschriben
+ V2: daz wir allweg etwaz guotz söllint tuon

schwach betontes Wort + daz gebot, so im bevolhen ist


V2 + V1: dahin der lib des menschen nit komen kann

Tabelle 4: Einfluss der Betonung des vorangehenden Wortes auf die Verbstellung

Das Kriterium der Betonung vorangehenden Wortes überschneidet sich


vielfach mit einem anderen Kriterium, der grammatischen Kategorie des
vorangehenden Wortes, die nach Ebert ebenfalls die Wahl zwischen den
einzelnen Abfolgevarianten beeinflusst.5

grammatische Kategorie
begünstigt V1-V2 begünstigt V2-V1
des vorangehenden Wortes
- Pronomen X
- Negationspartikel X
- Adverb X
- Substantiv X
- Adjektiv X
Tabelle 5: Einfluss der grammatischen Kategorie des vorangehenden Wortes
auf die Verbstellung

2.2. Grammatisch-semantische Eigenschaften


der beteiligten Verben

Stark beeinflusst ist die Abfolge ferner durch die Art der involvierten Ver-
ben. Generell sind Modalverben dem regierten infiniten Verb häufiger
vorangestellt als Hilfsverben. Ebert stellt aber auf der Grundlage seiner
äußerst differenzierten statistischen Untersuchungen auch Unterschiede

_____________
4 Vgl. Behaghel (1932, 87ff.).
5 Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 611

zwischen den einzelnen Hilfsverben fest: sein ist häufiger vorangestellt als
haben, am seltensten werden:6

Voranstellungswahrscheinlichkeit:
grösser Modalverben

↑ Hilfsverben:
sein
 haben
sein
↓ Passiv-werden / -sein

kleiner
Tabelle 6: Einfluss der grammatischen Kategorie des regierenden Verbs auf die Verbstellung

In Bezug auf den Unterschied zwischen Modalverben und Hilfsverben


könnte man das grammatisch und semantisch größere Gewicht der Mo-
dalverben für die stärkere Voranstellungstendenz verantwortlich machen.
Weniger klar ist dies bei Hilfsverben. Hier liegt eher der umgekehrte As-
pekt nahe, nämlich die relative semantische Eigenständigkeit des regierten
infiniten Verbalelements. Mit dem Hilfsverb sein nähert sich das Partizip
semantisch sehr oft einem prädikativen Adjektiv als Zustandsbezeichnung.
Zweiteilige Prädikate mit haben und werden sind in semantischer Beziehung
viel weniger transparent, anders gesagt, es sind semantisch gesehen nicht
kompositional auflösbare Konstruktionen, sondern die spezielle temporale
oder modale Bedeutung ergibt sich nur aus dem Zusammenwirken beider
Formen. Noch mehr gilt dies für die Passivkonstruktionen.
Dieser Aspekt der Kompositionalität, der semantischen Transparenz
und damit der relativen strukturellen Eigenständigkeit des regierten Verbs
lässt sich auch auf Modalverbkonstruktionen anwenden. Vollverben sind
in Bezug auf das regierende Modalverb relativ eigenständige semantische
Einheiten, deshalb kann ihre Stellung in Bezug auf das Modalverb auch
relativ eigenständig gehandhabt werden. In diesem Zusammenhang kann
die semantische Eigenständigkeit sich auch in satzpragmatischer Hinsicht,
d.h. in Bezug auf die Thema-Rhema-Gliederung auswirken. Je eigenstän-
diger satzsemantisch gesehen ein Element ist, desto eher kann es auch
eine eigene rhematische Einheit darstellen. Rhematische Elemente werden
aber bekanntlich bevorzugt an das Satzende positioniert. Die Stellung V1-
V2 wäre in dieser Perspektive weniger als Voranstellung eines regierenden
Verbs als als Nachstellung bzw. Ausklammerung eines rhematischen
_____________
6 Vgl. Ebert (1981) und (1998).
612 Andreas Lötscher

Verbs zu interpretieren. So gesehen ist auch der anscheinende Sonderfall


der V1-V2-Stellung mit zwischengestelltem V2-Gliedelement kein Sonder-
fall, sondern lediglich eine pragmatisch natürliche Erweiterung der Mög-
lichkeit, rhematische Elemente mit Verb am Satzende zu positionieren;
denn nicht nur einzelne Verben, sondern auch Verben mit ihren Ergän-
zungen können in sich geschlossene rhematische Strukturen sein, die als
solche nachgestellt werden können.
Auch in dieser Perspektive ist die Variabilität zwischen V1-V2 und
V2-V1 lediglich eine pragmatische Angelegenheit; die Variabilität wäre
danach deshalb möglich, weil ihr keinerlei grammatische Beschränkung
entgegensteht.

2.3. Performanzaspekte

Aus einer anderen Perspektive, jener der Performanzproblematik bei der


Produktion und Rezeption grammatischer Strukturen, ist demgegenüber
allerdings umgekehrt die Nachstellung eines regierenden Elements ein
Problemfaktor. Die Nachstellung eines regierenden Verbs hinter das re-
gierte Verb, also die Folge V2-V1, kann wohl nur in seltenen Fällen allein
mit rhythmischen oder pragmatischen Faktoren begründet werden, dage-
gen würden Performanzgründe in den meisten Fällen grundsätzlich spre-
chen. Dass ein regiertes Element einem regierenden nachfolgt, ist auf
jeden Fall performanzmäßig aufwendiger als die umgekehrte Folge, denn
sie verursacht einen höheren Planungs- und Speicheraufwand in Bezug
auf die zwischenzuspeichernden Lexeme und deren grammatische und
semantische Merkmale. Wenn ein regiertes Element erscheint, bevor das
regierende bekannt ist, ist im Analyseprozess die Identifikation seiner
syntaktischen und funktionalen Einstufung nur teilweise und bedingt
möglich und die endgültige Einordnung in das Analyseresultat muss auf
den Zeitpunkt nach der anschließenden Analyse des regierenden Elements
verschoben werden; dies verursacht einen Zwischenspeicherungsaufwand
mit zusätzlichen Unsicherheitselementen.7
Die Abfolge V2-V1 als unnatürliche Abfolge ist deshalb, vor allem
auch im Hinblick auf die reale Häufigkeit, die jede statistische Wahr-
scheinlichkeit übersteigt, allein aus grammatischen Bedingungen zu be-
gründen, genauer, sie repräsentiert die Stellung, die vom grammatischen
System definiert wird.

_____________
7 Dies ist eine Konkretisierung des von Hawkins entwickelten Prinzips des „Early Immedia-
te Constituent“ (vgl. Hawkins 1994).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 613

2.4. Zwischenfazit

Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgendes Zwischenfazit:


• Die Häufigkeit der V2-V1-Stellung ist angesichts der offenkundigen
performanzmäßigen „Unnatürlichkeit“ bzw. Schwierigkeit zunächst
nur erklärbar, wenn sie rein grammatisch-syntaktisch motiviert ist.
• Dagegen sind die V1-V2-Stellungen auch durch rhythmische, d.h.
sprachästhetische, und pragmatische Einflüsse wie die Thema-
Rhema-Gliederung erklärbar.
• Aufs Ganze gesehen und im Einzelfall spielen bei der Wahl der
Stellungen offensichtlich mehrere Faktoren eine Rolle, oft parallel,
gleichzeitig, oder auch gegeneinander. Einerseits lässt sich die breite
Streuung der Verwendungen durch dieses schwer entwirrbare Zu-
sammenspiel unterschiedlicher Faktoren auf unterschiedlichen
Sprachebenen erklären. Andererseits ist auch im Einzelfall kaum je
klar entscheidbar, welcher Faktor nun für die konkrete Wahl ent-
scheidend war.
Man kann sich oft des Eindrucks nicht erwehren, dass bei allen Tenden-
zen im Ganzen die Wahl im Einzelfall zufällig oder beliebig ist oder weite-
re, nicht erwähnte Faktoren eine Rolle spielen. In einem Satz wie in Bei-
spiel (1) aus der Schönen Magelona dürfte es beispielsweise in jedem Falle
schwierig sein, die Variation der Stellungen in ein und demselben Satz
präzise aus klar bestimmbaren Faktoren zu begründen; allenfalls könnte
noch das Prinzip der ästhetischen Variation (variatio delectat) eine Rolle
spielen:
(1) Als die schön Magelona des Ritters erbietung hette verstan-
den / und sach auch der kostlichen ringe / der jhr der Ritter
vberschickt hette / [...] (Die schön Magelona , 612)
Dies ist aber weder theoretisch noch praktisch überraschend, und auch
aus theoretischer Sicht durchaus nachvollziehbar. Wenn mehrere Faktoren
gleichzeitig einen Einfluss zu haben scheinen, führt das aus deskriptiver
wie aus theoretischer Perspektive zu einer gewissen Intransparenz: Es ist –
bei aller Eindeutigkeit der Tendenzen in statistischer Perspektive – de-
skriptiv im Einzelfall nicht klar, welcher Faktor nun in welcher Weise zur
Entscheidung beigetragen hat.
Dies kann auch für die einzelne Äußerung des individuellen Sprach-
benutzers gelten: Er oder sie fällt im Einzelfall sozusagen intuitive Bauch-
entscheide, wie das bekanntlich generell gemacht wird, wenn man für
einen Einzelentscheid viele miteinander verwickelte Entscheidungsgrößen
614 Andreas Lötscher

zu berücksichtigen hat. Wenn verschiedene gleichzeitig geltende Ent-


scheidungskriterien zu berücksichtigen sind, ist es auch aus theoretischer
Sicht keineswegs klar, wie diese Faktoren ineinander wirken, wenn man
nicht klare Kriterien hat, wie diese einzelnen Faktoren gegeneinander zu
gewichten sind und das Resultat zu bewerten ist. Aus den Einzelfällen ist
es kaum je möglich, derartige klare Gewichtungen abzuleiten.
In dieser Frage der Gewichtung der einzelnen Entscheidfaktoren er-
gibt sich aus theoretischer Sicht jedoch aufgrund der statistischen Vertei-
lung eine weitere, allgemeinere Schlussfolgerung: Die Abfolge V2-V1 ist
einerseits als grammatisches Prinzip motivierbar, andererseits wird dieses
Prinzip gegenüber pragmatischen Einflussfaktoren nur relativ höher ge-
wichtet, nicht absolut; mit anderen Worten, es kann im Einzelfall gegen-
über anderen Einflussfaktoren zurücktreten müssen. Die statistisch un-
gleichmäßige Verteilung bei den verschiedenen Typen von Verbkom-
plexen lässt sich durch das unterschiedliche Gewicht der einzelnen prag-
matischen Faktoren – u. U. auch je nach den pragmatischen Bedingungen
einer Äußerung – gegenüber den grammatischen Stellungsanforderungen
beschreiben.

3. Textsortenspezifische Unterschiede
Für die Bewertung und Beschreibung des Sprachgebrauchs im Frühneu-
hochdeutschen ist nun noch ein weiterer Einflussfaktor wichtig, nämlich
jener der Textsorte. Es ist zu beobachten, dass zwischen den verschiede-
nen Texten jener Zeit teilweise markante Unterschiede in der Wahl zwi-
schen den verschiedenen Abfolgen bestehen. Allerdings ist es nicht immer
ganz einfach, aus den einzelnen Texten klare Schlussfolgerungen darüber
zu ziehen, inwiefern die Tendenzen auf bestimmte konventionelle Text-
sortenregularitäten zurückzuführen sind. Im Rahmen dieses Beitrags kann
ich auch nur einzelne, stichprobenhaft ausgewählte Beispiele beiziehen.8

3.1. Urkunden

Relativ klar ist die Sachlage bei den Urkunden. In diesen wird offensicht-
lich seit jeher die Abfolge V2-V1 sehr stark bevorzugt, wenn nicht absolut
durchgeführt:
_____________
8 Ausgezählt wurden für die nachfolgenden Statistiken jeweils Textausschnitte mit 100
Belegen für zweiteilige Verbalgruppen. Wo die Statistiken anderen Arbeiten entnommen
sind, wird die betreffende Untersuchung direkt bei der Quellenangabe angegeben.
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 615

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Basler Urkun-
den (1487-1488)
3 64 96 % 4 38 90 %
(nach Lötscher
2000)
Kaiserliche
Kanzlei: Maxi-
milian I (1493- 0 131 100 % [2] 105 98 %
1519) (nach
Ebert 1998)
Reichsabschied
Freiburg 1498
0 119 100 % [2] 94 98 %
(nach Ebert
1998)
Aarburger Ur-
kunden (1499-
13 57 81 % 14 28 67 %
1519) (nach
Lötscher 2000)
Tabelle 7: Verbstellung in Urkunden

Gewisse Unterschiede sind allerdings erkennbar; die (lokalen) Urkunden


aus der bernischen Kleinstadt Aarburg zeigen die erwähnte Tendenz we-
sentlich weniger deutlich als kaiserliche Urkunden oder Urkunden einer
wichtigen Stadt wie Basel, die ein höheres Prestige beanspruchen.

3.2. Geistliche und moralische Texte vor der Reformation

Urkunden haben gegenüber den meisten anderen Texten jener Zeit einen
besonderen Status, denn die meisten anderen Texte zeigen wesentlich
häufiger die Abfolge V1-V2. Das zeigt sich vor allem im Vergleich mit
vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften:
616 Andreas Lötscher

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Augsburger
7 35 83 % 38 26 41 %
Sittenlehre (1475)
Pauli, Predigten
28 47 62 % 17 7 29 %
(1493)
Geiler von
Kaisersberg,
10 38 63 % 26 25 49 %
Berg des Schauens
(1500)
L. Sprenger,
Beschreitung
(1514) (nach 48 89 65 % 15 45 75 %
Ebert 2001,
142)
Tabelle 8: Verbstellung in vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften

Diese Schriften zeigen im Allgemeinen im Vergleich zu Urkunden eine


starke Tendenz zur V1-V2-Abfolge. Allerdings gibt es auch hier zusätzli-
che Abstufungen. Am stärksten zur Abfolge V1-V2 zu neigen scheinen
Predigten, was die Hypothese aufkommen lassen könnte, dass hier die
Mündlichkeit eine gewisse Rolle spielen könnte. Jedoch sollte man sich
hier nicht täuschen lassen, denn gedruckte Predigten gehen zwar oft auf
tatsächlich gehaltene Predigten zurück, sind jedoch in den vorliegenden
Fällen nachträgliche Bearbeitungen, zum Teil mehrere Jahre später erstellt,
die zum Lesen bestimmt sind. Beibehalten wurde allerdings bei der Um-
setzung in den Druck der Appellcharakter der Texte.

3.3. Streit- und Flugschriften der Reformationszeit

Die Problematik einer schematischen Textsortenkategorisierung zeigt sich


bei einer Textsorte, die auf den ersten Blick mit jener der Erbauungs-
schriften verwandt zu sein scheint, nämlich jener der reformatorischen
Streit- und Flugschriften. Zweck, Autorentyp und Adressaten sind zwar in
allen diesen Schriften ähnlich oder gleich. Theologen schreiben argumen-
tative Texte mit starkem Appellcharakter zur Verteidigung einer konfes-
sionellen oder religiösen Position. Von den einzelnen Autoren werden
dabei allerdings Anlehnungen an unterschiedliche bestehende Textmuster
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 617

gemacht; man muss hier tendenziell vom Begriff der Textallianz sprechen,
wie er in der Literaturwissenschaft für frühneuzeitliche Texte entwickelt
worden ist.9 Je nachdem wird die V2-V1-Abfolge unterschiedlich stark
bevorzugt.

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Murner, An den
4 64 93 % 7 24 77 %
Adel (1520)
Bucer, Ursache
7 53 88 % 9 25 74 %
(1524)
Luther, Vom
Kaufhandel 6 32 84 % 23 38 62 %
(1524)
Zwingli, Schluss-
11 33 75 % 16 37 70 %
reden (1523)
Sonnenthaller,
10 44 81 % 20 25 56 %
Ursache (1524)
Müntzer, Ausge-
drückte Entblö- 10 58 85 % 18 22 55 %
ßung (1524)
Eberlin, Mich
7 51 87 % 29 14 36 %
wundert (1524)
Dietenberger,
10 75 87 % 13 8 38 %
Der Laie (1524)
Tabelle 9: Verbstellung in Streit- und Flugschriften der Reformationszeit

Was generell auffällt, ist, dass die Häufigkeit der V1-V2-Folge im Allge-
meinen gegenüber Predigten wie jenen von Johannes Pauli und Geiler von
Kaisersberg geringer ist. Das hängt wohl mit dem Umstand zusammen,
dass die meisten dieser Texte weniger dem Muster von Predigten als je-
nem von Traktaten oder Abhandlungen folgen. Innerhalb dieses Musters
gibt es allerdings deutliche Variationen. Manche Autoren, vor allem katho-
lische, können sich stilistisch kaum von einem theologisch-wissen-
schaftlichen Traktatstil trennen und schreiben eher komplizierte, um-
ständliche argumentative Texte. Der angeführte Text von Bucer (Bucer,
Ursache) andererseits ist eine Verteidigungsschrift, die weniger für die Re-
_____________
9 Zum Begriff der Textallianz vgl. Schwarz (2001, 9ff.).
618 Andreas Lötscher

formation werben, als eine Rechtfertigung gegenüber den öffentlichen


Institutionen sein will. Andere Autoren versuchen, mit einer direkteren,
appellativeren und damit auch einfacheren Sprache auf die Leserschaft zu
wirken, etwa Thomas Müntzer. Einen Mittelweg wählen hier vor allem
Luther und Zwingli, die im Übrigen beide in ihrer Verbindung von Appel-
lativität und Argumentativität stilistisch nicht nur musterbildend, sondern
auch musterhaft sind. Am nächsten einer direkten appellativen Zuwen-
dung zum Leser sind natürlich die Streitschriften in Dialogform, von de-
nen hier als Musterbeispiele die Dialoge von Eberlin von Güntzburg Mich
wundert, dass kein Geld im Land ist und von Johannes Dietenberger Der Laie.
Ob der Glaube allein selig macht angeführt werden. All diese textfunktionalen
Eigenarten finden ihre Entsprechung in der Häufigkeit der jeweiligen
Abfolge von regiertem und regierendem Verb. Je traktatmäßiger der
Sprachstil ist, desto stärker wird die neuhochdeutsche Abfolge V2-V1
gewählt; in Dialogen ist demgegenüber die Abfolge V1-V2 im Vergleich
dazu häufiger.

3.4. Literarische Prosawerke

Ähnliche Klassifizierungsprobleme wie bei reformatorischen Flugschriften


stellen sich bei literarischen Werken. Auch literarische Prosatexte jener
Zeit folgen nicht einem einheitlichen Muster, sondern sind das Ergebnis
unterschiedlicher Stilentscheidungen und Formulierungstraditionen. Ent-
sprechend findet sich auch eine sehr unterschiedliche Sprachverwendung
in den einzelnen Werken.
Auf der einen Seite steht als ein Extrem Steinhöwels Übersetzung des
Appolonius-Romans, auf der anderen Seite Johannes Paulis Schwank-
sammlung Schimpf und Ernst, Werke von kaum vergleichbarem Zuschnitt.
Steinhöwels Werk ist ein Produkt der literarischen Bemühungen des deut-
schen Frühhumanismus, letztlich von elitärem Zuschnitt. Johannes Paulis
Schwanksammlung ist eine populär gehaltene Sammlung von unterhalt-
samen Anekdoten und Schwankgeschichten. Steinhöwel wendet mit gro-
ßer Konsequenz die Abfolge V2-V1 an, Johannes Pauli demgegenüber
folgt eher dem Sprachgebrauch, wie er ihn in seinen Predigten anwendet.
Unterschiedlich sind die typischen Prosaromane jener Zeit gehalten. Im
Allgemeinen sind diese Prosaromane in einem sachlich-neutralen Stil
gehalten, der auf Manifestationen einer Erzählperspektive möglichst ver-
zichtet, im Einzelnen allerdings Variationen durchaus zulässt. Die schön
Magelona etwa ist stärker auf ein empathisches Miterleben des Erzählten
durch den Leser hin formuliert als der Fortunatus, der die Handlung in
einem überaus distanzierten Stil präsentiert. Jedenfalls kann man die
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 619

grammatischen Unterschiede zwischen den Prosaromanen, die an sich


eher gradueller als grundsätzlicher Art sind, tendenziell durchaus mit der
generellen Stilhaltung der Werke in Beziehung bringen.

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Steinhöwel, 4 63 94 % 2 34 95 %
Appolonius (1476)
Hug Schapler 5 46 91 % 16 32 67 %
(1500)
Fortunatus (1509) 6 63 91 % 9 22 71 %
Pauli, Schimpf und 20 34 63 % 25 19 43 %
Ernst (1522)
Die schön Magelo- 13 54 81 % 16 16 50 %
na (1524 / 1535)
Wickram, Nach- 2 49 96 % 13 38 75 %
barn (1556)
Tabelle 10: Verbstellung in literarischen Prosawerken zwischen 1470 und 1560

3.5. Schlussfolgerungen

Welche Schlussfolgerungen kann man aus diesen Beobachtungen ziehen?


Wenigstens für die ausgewählte Periode zwischen 1475 und 1540 kann
man die Hypothese aufstellen, dass ein zusätzlicher Faktor für die Wahl
einer bestimmten Verbabfolge, neben den früher genannten, die tetxtlin-
guistisch-textfunktionalen Eigenschaften eines Textes im weitesten Sinne
sind. Angesichts der Heterogenität der Texte, in denen sich diese Unter-
schiede finden, ist es nicht leicht, die für die Wahl entscheidenden funk-
tionalen Merkmale genauer anzugeben. Nahe liegt die Hypothese, dass
ursächlich hier der Gegensatz Mündlichkeit – Schriftlichkeit verantwort-
lich ist. Diese Vermutung halte ich allerdings, wie bereits erwähnt, für
problematisch, da es sich ja in allen Fällen um Texte handelt, die gezielt
für die schriftliche Produktion und Rezeption produziert wurden. Außer-
dem ist hier an die erwähnten Gefahren des Skriptizismus und des Syn-
chronizismus zu erinnern, an die Gefahr, Variationen und Abweichungen
in historischen Zuständen aus Bedingungen heutiger Sprachzustände zu
erklären. Aber selbst für heutige Bedingungen ist ja von Peter Koch und
Wulf Oesterreicher auf die Unzulänglichkeit des Begriffspaars Mündlich-
620 Andreas Lötscher

keit – Schriftlichkeit für die Beschreibung von Sprachvariation hingewie-


sen worden. An dessen Stelle schlagen sie die Kategorien der konzeptuellen
Mündlichkeit und konzeptuellen Schriftlichkeit bzw. die pragmatischen Katego-
rien von Nähe und Distanz vor.10 Wenn wir der Ausarbeitung dieses Kon-
zepts durch Ágel und Hennig für die formale Ebene der Sprache folgen,11
wäre die pragmatisch bestimmte Abfolge V1-V2 der Dimension der Nähe,
die grammatisch bestimmte, performanzmäßig schwierigere Abfolge der
Dimension der Distanz zuzuordnen.
Nun kann man allerdings die Verknüpfung von Sprachvariation und
Nähe – Distanz m.E. nicht ohne Weiteres nach dem heutigen Muster direkt
auf die faktisch vorkommenden Variationen im Frühneuhochdeutschen
anwenden.12 Während heute im schriftlichen Sprachgebrauch vor dem
Hintergrund der normierten und systematisierten Standardsprachlichkeit
bestimmte Arten von Abweichungen von einer als standardsprachlich
markierten Struktur als Nähe-Signale interpretiert werden, sind im Früh-
neuhochdeutschen Variabilität und damit auch eine gewisse grammatische
Unsystematik Teil der Sprachnorm13 und können somit als solche nicht
direkt als Nähe-Signale interpretiert werden. Innerhalb der Sprachnorm
des Frühneuhochdeutschen ist daher eine andere Perspektive anzuwen-
den.
Ansetzen möchte ich bei dem früher erwähnten Umstand, dass die
Abfolge ‚Regiertes vor Regierendem‘ perzeptuell aufwendiger ist als die
umgekehrte Abfolge, aber offenbar im Deutschen aus irgendwelchen
Gründen spätestens seit dem Spätalthochdeutschen im Verbalkomplex
Teil des grammatischen Systems ist. Nur wird von der grammatisch fun-
dierten Abfolge im konkreten Fall häufig zugunsten der Anwendung
pragmatisch und perzeptuell begründeter Formulierungsprinzipien abge-
wichen. Anders gesagt: Die pragmatischen Vorteile einer V1-V2-Abfolge
werden häufig gegenüber der Systemtreue und der vom System geforder-
ten V2-V1-Abfolge stärker gewichtet und demzufolge wird die erstere
Abfolge gewählt. Eine konsequentere Durchführung der rein grammatisch
motivierten Abfolge V2-V1 impliziert demgegenüber eine gegenteilige
Gewichtung: Das grammatische Prinzip wird zuungunsten perzeptueller
und pragmatischer Gesichtspunkte stärker gewichtet.
Eine solche Entscheidung bedeutet in gewissem Maße einerseits eine
Systematisierung des Sprachgebrauchs, andererseits eine Erschwerung der
Sprachverwendung, der Produktion und der Rezeption. Die V2-V1-
_____________
10 Vgl. z.B. Koch / Oesterreicher (1994, 587ff.) und Koch / Oesterreicher (2007, 346ff.).
11 Vgl. Ágel / Hennig (2006, 3ff.).
12 Vgl. Lötscher (2009).
13 Norm als gesellschaftlich etablierter Gebrauch, im Sinne von Coseriu, im Gegensatz zu
(grammatisches) System und Rede (konkreter Sprachgebrauch); vgl. Coseriu (1979, 193ff.).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 621

Stellung stellt höhere Anforderungen an die Performanzleistung; sie impli-


ziert eine kognitiv-gedächtnismäßig integrierte Verarbeitung von größeren
syntaktischen Einheiten als die V1-V2-Stellung. Sie ist insofern mit dem
Kriterium der „Integrativität“14 in der Theorie des Nähe-Distanz-
Sprechens in Verbindung zu bringen. Beides, Systematisierung wie Er-
schwerung der Sprachverwendung, muss innerhalb einer Norm, die Va-
riabilität zugunsten pragmatischer und perzeptueller Faktoren zulässt, als
Distanz-Signal interpretiert werden. Die konsequente Bevorzugung der
Abfolge V2-V1 ist also funktional ein Distanz-Signal, anders gesagt, Texte,
welche diese Abfolge bevorzugen, sind Texte, welche durch Distanz-
sprachlichkeit markiert werden sollen. Dies kann auch unabhängig vom
Kriterium der Verbstellung als gemeinsames Merkmal so heterogener
Textsorten wie Urkunden, humanistischer Übersetzungen und theologi-
scher Traktate identifiziert werden. Es handelt sich um Texte, die von der
Funktion her einen gewissen Prestigeanspruch und zum Teil auch Fach-
sprachlichkeit oder Spezialsprachlichkeit zum Ausdruck bringen sollen.
Zusammengefasst: Die Wahl zwischen den verschiedenen Abfolge-
möglichkeiten im Verbalkomplex ist spätestens im Frühneuhochdeut-
schen auch durch funktional-stilistische Entscheidungen des Autors oder
die entsprechende Einstufung einer Textsorte mit beeinflusst. Primär
wurde hier argumentiert, dass die Bevorzugung der grammatisch begrün-
deten Abfolge V2-V1 ein Signal für Distanzsprachlichkeit ist.
Umgekehrt können wir nun daraus auch gewisse Schlussfolgerungen
für einen besonders extensiven Gebrauch der V1-V2-Abfolge ziehen, also
einen Gebrauch, der über das feststellbare Mittelmaß hinausgeht. Grob
geschätzt kann man aufgrund der beobachtbaren Verteilungen die Hypo-
these aufstellen, dass dieses Mittelmass bei etwa 60 bis 75 Prozent V2-V1-
Stellungen bei den Hilfsverbkonstruktionen und bei etwa 50 bis 60 Pro-
zent V2-V1-Stellungen bei den Modalverbkonstruktionen liegt.15 Wenn
Texte wie etwa die Predigten und Schwankerzählungen von Johannes
Pauli spürbar von diesen Verteilungen zugunsten einer stärkeren Gewich-
tung der V1-V2-Abfolge abweichen, können sie vor dem Hintergrund
unserer Überlegungen als stärker nähesprachlich eingestuft werden.

_____________
14 Ágel / Hennig (2006, 26).
15 Vgl. neben den Zählungen in diesem Beitrag auch Lötscher (2000, 199ff.) und Ebert
(1998).
622 Andreas Lötscher

4. Die Variation der Elementabfolge


im Verbkomplex im weiteren Kontext
Die Verhältnisse bei der Elementabfolge im Verbkomplex im Frühneu-
hochdeutschen sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen in
einem weiteren Kontext gesehen werden. Stichwortartig sei auf weitere
Aspekte hingewiesen, welche für eine Interpretation der Situation bedeut-
sam sind. Allerdings fehlen dazu in den meisten Fällen bislang die nötigen
detaillierten Untersuchungen, sodass es hier bei Andeutungen und impres-
sionistischen Bemerkungen bleiben muss.

4.1. Verfahren der Distanzsprachlichkeit

Die V2-V1-Abfolge ist nicht das einzige Mittel, mit dem Distanzsprach-
lichkeit signalisiert wird. Sie ist Teil umfassenderer Stilstrategien. Eng mit
der Verbstellung verknüpft ist namentlich das Problem der Ausklamme-
rung.
Im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen können be-
kanntlich nominale und adverbiale Satzglieder in weit größerem Maße
ausgeklammert werden als im Neuhochdeutschen. Es handelt sich auch
hier m.E. um ein Phänomen, das als Zusammenspiel zwischen dem
grammatischen Prinzip der Verbendstellung und pragmatischen Prinzipien
der Nachstellung von rhematischen Elementen oder ergänzenden pragma-
tischen Modifikationen zu beschreiben ist. Dieser Verzicht auf Ausklam-
merung ist ebenfalls ein Aspekt der Systematisierung und der Erschwe-
rung des Sprachgebrauchs. Wesentlich ist, dass auch die Ausklammerung
von stilistischen Faktoren beeinflusst ist, die vergleichbar sind mit jenen,
die für die Verbstellung namhaft gemacht werden können.16 Zudem lässt
sich in vielen Fällen beobachten, dass die konsequente Befolgung der V2-
V1-Folge parallel einher geht mit dem Verzicht auf Ausklammerung und
umgekehrt. Eine eingehendere Untersuchung, ob diese Beobachtung ge-
nerelle Gültigkeit hat, steht allerdings aus. 17

_____________
16 Vgl. Ebert (1980).
17 Einen weiteren verwandten Problembereich bildet die Verwendung von eingeklammerten
Nebensätzen; dies ist ja lediglich eine noch extensivere Ausprägung von Einklammerungen
von Satzgliedern vor dem Verb in Endstellung. Auch hier wäre zu untersuchen, ob ein Zu-
sammenhang zwischen der Häufigkeit der Verwendung von V2-V1-Strukturen und der
Häufigkeit von Einklammerungen besteht.
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 623

4.2. Diachrone Aspekte

Die Verwendung von distanzsprachlichen Formen nimmt im 16. Jahr-


hundert allmählich zu und führt zu einem Sprachwandel, wonach markier-
te Mittel der Distanzsprachlichkeit allmählich zu unmarkierten Normen
der Schriftlichkeit werden. Ein Beispiel liefern hier die Schwankerzählun-
gen des Elsässers Jakob Frey. In seiner Sammlung Gartengesellschaft von
1557 finden sich V1-V2-Abfolgen nur noch relativ selten, obwohl sich der
ganze Sprachduktus gegenüber der Sammlung Schimpf und Ernst von Jo-
hannes Pauli von 1522 nicht wesentlich unterscheidet. Auch Ebert stellt in
Nürnberger Texten eine zunehmende Bevorzugung der Abfolge V2-V1
fest.18 In privaten Aufzeichnungen wird dort im späteren 16. Jahrhundert
ebenfalls die Stellung V2-V1 fast ausschließlich verwendet:

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Frey, Gartenge-
2 35 95 % 11 52 83 %
sellschaft (1557)
Köler, Autobio-
graphie (1536-
1541) (nach 4 47 92 % 1 20 95 %
Ebert
1981, 217)
Welser, Tage-
buch (1577) 10 51 84 % 1 19 95 %
(ebd.)
Tabelle 11: Verbstellung in Texten 1530 bis 1580

Der Wandel vom freieren Stellungsgebrauch im älteren Deutsch zur neu-


hochdeutschen generellen Geltung der V2-V1-Abfolge erfolgt offenbar im
Laufe des 16. Jahrhunderts.

4.3. Diatopische Aspekte

Die Ausdifferenzierung der V2-V1-Stellung als Merkmal einer autonomen


Schriftlichkeit ist ein historisch kontingentes Ereignis; entsprechend sind

_____________
18 Vgl. Ebert (1998, 161ff.).
624 Andreas Lötscher

soziale und regionale Unterschiede möglich. Ich habe dazu nur Stichpro-
ben, die mir allerdings aufschlussreich erscheinen. Manche schweizeri-
schen Texte im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts in alemannischer
Schreibsprache zeigen vielfach beträchtliche höhere Anteile von V1-V2-
Strukturen als die in Abschnitt 4 angegebenen Textbeispiele oder die von
Robert Ebert untersuchten Nürnberger Texte: 19

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Ludwig von
Diesbach, Auf-
zeichnungen
11 51 82 % 24 12 33 %
(1488-1518)
(nach Lötscher
2000)
Diebold Schil-
ling, Bilderchronik
10 45 82 % 21 9 30 %
(1513) (nach
Lötscher 2000)
Ziely, Olivier und
Artus (1521)
39 42 52 % 35 8 19 %
(nach Lötscher
2000)
Tabelle 12: Verbstellung in Texten in alemannischer Schreibsprache aus dem frühen 16. Jh.

Es handelt sich bei den angegebenen Beispielen um Texte, die in pragma-


tischer Hinsicht nicht besonders markiert sind und bei denen beispielswei-
se keine besondere Nähesprachlichkeit zu erwarten wäre. Die Autoren
gehören der typischen schreibkundigen gehobenen Bevölkerungsschicht
einer damaligen Stadt an. Ludwig von Diesbach ist ein Berner Aristokrat,
der einen Text von eher kanzleisprachlichem Zuschnitt schreibt. Erst
recht gilt dies für die Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling. Der
Roman Olivier und Artus gehört der Gattung der Volksbücher an, die im
Allgemeinen in Bezug auf die Verbstellung keine Besonderheiten aufweist.
Das Bild setzt sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts fort. Wie oben
erwähnt, wird nach Ebert in Nürnberger Texten die V2-V1-Abfolge im
Verlauf des 16. Jahrhunderts die praktisch allein gültige Stellung. Für Auf-

_____________
19 Vgl. ebd.; vgl. Lötscher (2000, 213).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 625

zeichnungen von Schweizern, die den privaten Aufzeichnungen von


Nürnberger Bürgern einigermaßen entsprechen, finden sich demgegen-
über markant andere Verteilungen:

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Thomas Platter,
Lebensbeschreibung
10 51 84 % 25 8 24 %
(1572) (nach
Lötscher 2000)
Jakob v. Staal,
Reisenotizen (n.
20 62 75 % 21 2 9%
1595) (nach
Lötscher 2000)
Tabelle 13: Verbstellung in persönlichen Aufzeichnungen in alemannischer Schreibsprache
aus dem späten 16. Jh.

Bei den beiden angeführten Autoren Thomas Plattner und Jakob vom
Staal handelt es sich um durchaus gebildete Stadtbürger (aus Basel bzw.
Solothurn), die Texte stammen also nicht von nur halb gebildeten Auto-
ren, die allenfalls aus Ungeübtheit mündlichem Sprachgebrauch folgen.
Die beiden wenden aber gleichwohl Stellungen an, die von den Regeln des
späteren 16. Jahrhunderts stark abweichen. Sie folgen augenscheinlich
Stellungsregeln, wie sie heute noch in den Schweizer Dialekten gelten. In
der Schweiz ist offenbar innerhalb der traditionellen alemannischen
Schreibsprache noch die historisch gewachsene Variabilität erhalten
geblieben.
Zu erwähnen ist allerdings auch, dass etwa Sachtexte und literarische
Texte aus der Schweiz in vielen Fällen durchaus den in nördlichen Ge-
genden üblichen Normen folgen:
626 Andreas Lötscher

Hilfsverb- Modalverb-
konstruktionen konstruktionen u.ä.
V1-V2 V2-V1 %-Anteil V1-V2 V2-V1 %-Anteil
V2-V1 V2-V1
Tschudi, Chroni-
con helveticum (ca.
1 42 98 % 18 43 70 %
1570) (nach
Lötscher 2000)
A. Henricpetri,
Generalhistorien
2 44 96 % 9 33 79 %
(1577) (nach
Lötscher 2000)
Wetzel, Söhne
Giaffers (1583)
1 67 99 % 1 48 98 %
(nach Lötscher
2000)
Tabelle 14: Verbstellung in literarischen und historischen Texten aus der Schweiz
aus dem späten 16. Jh.

Neben der Tradition der alemannischen Schreibsprache richten sich viele


Autoren in der Schweiz seit dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts je
nach Publikum in Drucken auch nach Sprachnormen der ostmitteldeut-
schen und schwäbischen Druckzentren.20 Ob dies in anderen Gegenden
ähnlich der Fall war, müsste noch untersucht werden.

5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen


Die Stellung der verbalen Elemente im Verbalkomplex, wie wir sie im
Frühneuhochdeutschen beobachten, ist von unterschiedlichen Faktoren
beeinflusst: einerseits von grammatischen Grundbedingungen, anderer-
seits von pragmatischen Faktoren, und hier einerseits von rein inner-
sprachlichen wie rhythmischen oder satzfunktionalen Faktoren, anderer-
seits von kommunikativen Faktoren, genauer von der Nähe-Distanz-
sprachlichkeit eines Textes. Die Variabilität der Stellungen ist aus der je-
weiligen situativen Gewichtung der einzelnen Faktoren gegeneinander zu
erklären, konkret aus der unterschiedlichen Gewichtung pragmatischer
Faktoren gegenüber der grammatischen Grundstellung V2-V1.

_____________
20 Vgl. Sonderegger (1993, 11ff.).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex 627

Die potenzielle Distanzsprachlichkeit der relativen Bevorzugung der


grammatisch fundierten zentripetalen Stellung V2-V1 ist dabei am besten
dadurch zu erklären, dass diese Stellung die Performanzanforderungen im
Vergleich zur V1-V2-Stellung erhöht; höhere Ansprüche an die Rezep-
tionsleistungen sind im Allgemeinen Signale der Distanzsprachlichkeit.
Die spätere Entwicklung im 16. Jahrhundert kann als Zurückdrängen
pragmatischer Einflussfaktoren zugunsten einer stärkeren Geltung des
rein grammatischen Prinzips der V2-V1-Stellung interpretiert werden; dies
steht im Einklang mit dem sonstigen Vordringen integrativer Strukturen
wie Einklammerung.
Indirekt bestätigt dies die These, dass die Stellung V2-V1 die eigentli-
che für das System vorauszusetzende grammatische Grundstellung ist, die
im früheren Deutsch jedoch durch pragmatische und performanzbedingte
Zusatzfaktoren in ihrer Geltung eingeschränkt und relativiert wurde. Über
die Interpretation als Distanzsignal gewann sie im Laufe des 16. Jahrhun-
derts Geltung als Normalstellung, der gegenüber die pragmatischen und
performanzbedingten Bedürfnisse stärker zurückzutreten hatten.

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628 Andreas Lötscher

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Standortbestimmung“, in: Mattheier, Klaus J. u.a. (Hrsg.), Vielfalt des Deutschen,
Festschrift für Werner Besch, Frankfurt a. M. u.a., 11-36.
wir muessen etwas teutsch reden…
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit

Hans Ulrich Schmid (Leipzig)

1. Zur Forschungslage
Die Frage nach Merkmalen und Strukturen der historischen Mündlichkeit
ist nicht neu. Der Forschungsstand wird zusammengefasst in dem Beitrag
„Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Früh-
neuhochdeutschen“ von Anne Betten1 im Handbuch HSK Sprachgeschichte.
Dort heißt es:
Idealiter wäre eine möglichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten nach
diesen Parametern zu analysieren, um durch synchrone und diachrone Vergleiche
herauszufinden, welche ‚Mischungsverhältnisse‘ in dieser Phase zustande kom-
men und wie sie sich verändern.2
Mit „diesen Parametern“ sind die Parameter, die Peter Koch und Wulf
Oesterreicher3 für moderne romanische Sprachen entwickelt haben, ge-
meint. Demgegenüber darf jedoch bezweifelt werden, dass eine „mög-
lichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten“ uns einer Antwort
auf die Frage nach etwaigen strukturellen Unterschieden zwischen gespro-
chenem und geschriebenem Frühneuhochdeutsch substantiell näher brin-
gen könnte. Auch die Frage, inwieweit bestimmte Textsortenstile der ge-
sprochenen Sprache näher stehen als andere, wird sich solange nicht
schlüssig beantworten lassen, wie wir nicht wissen, wie die gesprochene
Sprache früherer Epochen strukturiert war. Hier sind wir auf Mutmaßun-
gen oder die Übertragung rezenter Gegebenheiten auf Sprachzeugnisse
der Vergangenheit angewiesen, ob man diese Mutmaßungen nun als Para-
meter oder sonst wie bezeichnet. Was Robert Peter Ebert4 schon 1986
formuliert hat, liest sich wie eine Binsenweisheit, trifft aber bis heute zu:
_____________
1 Vgl. Betten (2000, 1646ff.).
2 Ebd., 1649.
3 Vgl. Koch / Oesterreicher (2007, 356ff.).
4 Vgl. Ebert (1986, 22).
632 Hans Ulrich Schmid

„Der Grad des Einflusses der gesprochenen Sprache auf unsere geschrie-
benen Quellen läßt sich wegen mangelnder Zeugnisse für die gesprochene
Sprache nur schwer ausmachen“.
Im Vorgänger-Artikel5 in der Erstauflage des HSK Sprachgeschichte mo-
niert der Verfasser Ernst Bremer das Fehlen „einer umfassenden Theorie
des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit“.6 Hier werden
wohl die Möglichkeiten einer „Theorie“ überschätzt, denn wie soll eine
solche aussehen, wenn die Datenbasis fehlt? Sicherlich ist davon auszuge-
hen, dass im Frühneuhochdeutschen einerseits die geschriebene Sprache
auf die gesprochene einwirkt, vor allem auf deren Prestigevarietäten, und
dass andererseits in dieser Phase der „Prozeß zunehmender Distanz zu
gesprochener Sprache“7 eingeleitet wurde. Doch das ist eine nicht weiter
verwertbare, höchst allgemeine Einsicht. Man könnte auch sagen, ein
Allgemeinplatz. Datenmaterial ergibt sich – was von Bremer auch gesehen
und mit Recht problematisiert wird – vor allem für den phonetischen und
morphophonetischen Bereich, weniger für die Syntax, wie auch die ent-
sprechenden HSK-Artikel zum Mittelhochdeutschen8 und Althochdeut-
schen9 belegen.
Das Gesagte führt uns somit letztlich zu einem heuristischen Dilem-
ma, und dieses ergibt sich aus der Datenlage. Man kann noch so viele
Tausend Seiten frühneuhochdeutscher Texte digitalisieren, annotieren und
analysieren und versuchen, strukturelle Unterschiede z.B. zwischen theo-
logischem Traktat, Rechtsprosa, Schwankerzählung oder Fachliteratur zu
den artes mechanicae herausfinden, aber man weiß trotzdem immer noch
nicht, was typisch für die mündliche Kommunikation ist. Damit soll nicht
der Sinn von Digitalisierung, Annotation und Analyse angezweifelt wer-
den, sondern nur die Ergiebigkeit solcher Verfahrensweisen für die Er-
mittlung sprechsprachspezifischer Strukturen.
Dass manche Textsorten (handwerksbezogene Fachliteratur, Predigt,
Schwankliteratur usw.) der historischen Mündlichkeit näher stehen können
als andere, soll ebenfalls nicht angezweifelt werden. Es liegt ja auf der
Hand.

_____________
5 Vgl. Bremer (1985, 1379ff.).
6 Ebd., 1379.
7 Ebd., 1384.
8 Vgl. Grosse (2000, 1391ff.).
9 Vgl. Sonderegger (2000, 1231ff.).
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 633

2. Die Aufzeichnungen des Jörg Kazmair


Die folgenden Überlegungen basieren auf der Analyse einer einzigen
Quelle, anhand derer versucht werden soll, signifikante Unterschiede zwi-
schen gesprochener und geschriebener Syntax um 1400 zu ermitteln. Es
handelt sich um die Aufzeichnungen des Jörg Kazmair über turbulente
Vorgänge in München in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts.10 Zu
diesen Vorgängen nur einige Anmerkungen, soweit es für das Verständnis
des Nachfolgenden von Belang ist. Der Autor entstammte einem Münch-
ner Patriziergeschlecht und wird erstmals 1391 als BFrger zu MFnchen ur-
kundlich erwähnt. Ab 1396 gehörte er dem Inneren Rat an, 1397 ist er
Bürgermeister. Im selben Jahr kam es zu einem Aufbegehren der Zünfte
und oppositioneller Patrizier infolge von Steuererhöhungen. Diese stan-
den im Zusammenhang mit der Konkurrenz dreier Wittelsbacher Linien
um die Stadtherrschaft. Die Münchner Bürgerschaft versuchte, in wech-
selnden taktischen Koalitionen das Beste für die Stadt herauszuholen, was
letztlich ein riskantes Unterfangen war. Einige der Wortführer bezahlten
dafür mit dem Leben. Jörg Kazmair musste im Laufe dieser Wirren 1398
die Stadt verlassen, kehrte aber 1403 nach München und in die alten Äm-
ter zurück.11 Seine Aufzeichnungen berichten von den Vorgängen der
Jahre 1397 bis 1403.
Von Vorteil für die sprachhistorische Analyse ist, dass diese Auf-
zeichnungen literarisch unambitioniert sind. Rhetorische Stilisierungen
oder gelehrte Attitüden sind Kazmair sichtlich fremd. Ganz deutlich geht
es ihm um eine „Chronik der laufenden Ereignisse“,12 und zwar aus seiner
subjektiven Sicht. Das findet seinen Ausdruck in einer Fülle wörtlicher
Zitate von Äußerungen beteiligter Personen, die Kazmair aus dem Ge-
dächtnis wiedergibt. Dass wir hier vergleichsweise nahe an O-Tönen von
ca. 1400 sind, geht aus einigen Indizien hervor:
1. Der Partikelgebrauch: In einer Fülle wörtlicher Zitate erscheinen
Partikeln, die im sonstigen Text völlig fehlen, die aber typisch sind
für tatsächlich gesprochene Äußerungen:
(1) gelt du fürchst dich.
(2) tuet es der herr, nun so gevelts mir auch wol.
(3) Nun kennst du in doch wol.
_____________
10 Vgl. die Erstausgabe bei Schmeller (1847). Im Folgenden wird zitiert nach von Muffat
(1878).
11 Vgl. Grubmüller (1983, Sp. 1085ff.).
12 Gleba (2000, 215ff.), analysiert die Aufzeichnungen von einem stadthistorischen Stand-
punkt aus und rechnet sie der mittelalterlichen „Gegenwartschronistik“ zu.
634 Hans Ulrich Schmid

2. Fehlendes Personalpronomen du:


(4) was klafst dann?
(5) dez hast heut jm rat wol gesechen
Man beachte hier auch die Pronominalform dez für 'das', die so in
den Berichtpassagen nicht vorkommt.
3. Verwendung des Dativus ethicus:13
(6) und dankht mir dem volkh vleissig
4. Wortstellung:
(7) la dein red, leih her gelt!
Auffallend ist hier der Parallelismus der beiden parataktisch gereih-
ten Aufforderungssätze, aber auch die Kontaktstellung leih her = die
Ausklammerung des Akkusativobjekts.
5. Anreden mit Familiennamen (die um 1400 erstaunlich früh sind):
(8) Tichtl, du wirst des innen
(9) Kazmair, ich han dich gern bey mir
6. Phraseologismen und ironische Redeweisen:
(10) wir tuen dem ding ze vil und nemen den schrot ze weit.
Vermutlich steht dahinter ein Bild aus der Münzprägung (wie auch
in der Redensart von rechtem Schrot und Korn). Den Schrot zu weit nehmen
bedeutet wohl 'mehr Metall vom Barren schneiden als für die
Münzprägung nötig ist'. Gemeint ist anscheinend 'sich überneh-
men, sich zu viel vornehmen'.
(11) wir muessen etwas teutsch reden.
Mit teutsch reden ist hier nicht die Sprache gemeint, sondern – wie
auch noch heute üblich – deutliches, unmissverständliches Reden
(auf Deutsch gesagt). Der Gegensatz ist welsch oder rotwelsch reden. Bei-
des bedeutet 'sich verklausuliert ausdrücken':
(12) er redt rotwelsch mit uns.
Das sind einige äußere Indizien für (relative) Authentizität der wörtlichen
Reden in Kazmairs Bericht, die dazu berechtigen, diese Äußerungen als
mündliche Äußerungen ernst zu nehmen. Natürlich kann bei der nach-
_____________
13 Zu diesem Dativtyp als Merkmal der „mehr volkstümlichen Rede“ vgl. Ebert (1986, 46).
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 635

träglichen Niederschrift manches abgeändert worden sein. Kazmair hat


gewiss nicht alles mitstenographiert, was ihm zu Ohren kam. Wir haben es
aber immerhin wohl mit konzeptioneller Mündlichkeit zu tun. Wenn sich nun
– so die Überlegung – nachweisen ließe, dass es auch innere, also syntak-
tisch-strukturelle Divergenzen zwischen Redesequenzen (im Folgenden als
R-Sequenzen bezeichnet) und Berichtssequenzen (nachfolgend B-Sequenzen)
gibt, so wären diese Divergenzen am plausibelsten damit zu begründen,
dass gesprochene Syntax anderen Regularitäten folgt als geschriebene.

3. Nebensatzarten
Insgesamt umfasst der Text von Kazmair 969 Gesamtsätze im Bereich der
B-Sequenzen und 329 Gesamtsätze im Bereich der R-Sequenzen. Es kann
sich dabei um ganz kurze Einfachsätze handeln, aber auch um relativ um-
fangreiche Hypotaxen. Für syntaktisch selbständige Kurzsätze wurden mit
den Sätzen (1) bis (12) bereits einige Beispiele zitiert. Das komplexeste
Gefüge im ganzen Text ist folgendes:
(13) Da die herrn aller wildest warn und unß auß paten zu ziechen und do
herzog Ernst, die weil herein schrib, er begeret nun fur ain landtschafft
geen Munchen zu komen und da sölih antburt zu geben, da er der herr-
schaft und der landschafft genueg an thät und da wir zu rat wolten wer-
den, alz wir auch teten, die weil der herr solchen weeg begerte. so wär unß
nit auz zeziechen.
Das Gefüge enthält neun abhängige Sätze mit unterschiedlichem syntakti-
schem Status, die sämtlich dem Matrixsatz (so wär unß nit auz zeziechen)
vorausgehen. Bei den genannten 969 syntaktischen Einheiten der B-Se-
quenzen sind 113 Einleitungssätze wie Da sprach mein herr oder ain schwertfe-
ger sprach und Ähnliches, die das Bindeglied zwischen B- und R-Sequenzen
bilden, nicht mitgerechnet.
Die Gesamtzahl der Sätze der B-Sequenzen steht, wie gesagt, zu de-
nen der R-Sequenzen in einem Verhältnis von 969:329, also etwa 3:1. Das
dürfte ein vergleichsweise hoher Anteil wörtlicher Reden in einem Prosa-
text um 1400 sein. Betrachten wir zunächst die Anteile der Einfachsätze,
der Gefüge mit nur einer abhängigen satzwertigen Struktur, der Gefüge
mit zwei Nebensätzen am Gesamtbestand usw.:
636 Hans Ulrich Schmid

B-Sequenzen R-Sequenzen
Zahl der Teilsät- gesamt proportional (ca.) gesamt proportional (ca.)
ze
1 (= Einfachsatz) 630 65 % 195 59 %
2 221 23 % 92 28 %
3 67 7% 26 8%
4 35 4% 10 2,5 %
5 10 1% 4 1%
6 2 0,2 % 2 0,6 %
7 2 0,2 % - -
8 1 0,1 % - -
9 - - - -
10 1 0,1 % - -
969 329
Tabelle 1: Satzkomplexität der B- und R-Sequenzen im Vergleich

Was ergibt sich daraus? Die proportionalen / prozentualen Anteile der


Einfachsätze und der Satzgefüge mit einer, zwei oder mehr eingebetteten
Strukturen liegen sehr nahe beieinander. In beiden Bereichen machen die
einfachen Sätze ohne weitere prädikathaltige Einbettung deutlich über die
Hälfte aus. Bei den B-Sequenzen ist der Wert sogar noch höher als bei den
R-Sequenzen. Erstaunlicherweise liegen die Werte bei ein- und zweifacher
Unterordnung bei den R-Sequenzen sogar etwas höher als in den
B-Sequenzen. Erst ab den Gefügen mit einem Hauptsatz und drei abhän-
gigen Sätzen (insgesamt also vier Elementarsätzen in einem abgeschlosse-
nen Gefüge) verschieben sich die Relationen zugunsten der B-Sequenzen.
Allerdings sind hier die Belegzahlen so niedrig, dass weiterreichende
Schlussfolgerungen nicht gezogen werden können. Gefüge mit mehr als
sechs Elementarsätzen kommen in den R-Sequenzen überhaupt nicht
mehr vor. Eine etwaige Dominanz der Einfachsätze in den R-Sequenzen
einerseits und der Hypotaxen in den B-Sequenzen andererseits lässt sich
also nicht erkennen. Geringere Komplexität an sich scheint kein distinkti-
ves Merkmal wörtlicher Reden – auch nicht der konzeptionellen Münd-
lichkeit – zu sein.
Signifikante Unterschiede ergeben sich allerdings dann, wenn man die
einzelnen Nebensatztypen näher unter die Lupe nimmt. Vergleichen wir
also zunächst das Vorkommen einzelner Nebensatztypen an sich. Bei
proportional entsprechender Verteilung wäre wohl anzunehmen, dass ein
bestimmter Nebensatztyp – z.B. Kausalsätze, Modalsätze usw. – in
B-Sequenzen dreimal so oft vorkommt wie in R-Sequenzen. Deutliche
Abweichungen nach oben oder unten wären ein Indiz dafür, dass der
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 637

jeweilige Nebensatztyp tendentiell B-Sequenz-typisch oder eben


R-Sequenz-typisch ist. Des Weiteren sollen die einleitenden Subjunktionen
auf ihre B- oder R-Spezifik hin untersucht werden.

3.1. Kausalsätze

Der Text enthält 33 Nebensätze, die als Kausalsätze anzusprechen sind.


Davon entfallen 26 auf die B-Sequenzen und sieben auf die R-Sequenzen.
Das ergibt einen Quotienten von 3,7. Der Typus Kausalsatz ist insgesamt
im B-Bereich also etwas besser vertreten als im R-Bereich. Allerdings ist
das noch keine signifikante Abweichung, wenn man von einem Koeffi-
zienten von ca. 3 ausgeht. Ein signifikanter Unterschied besteht somit
nicht in der Frequenz von Kausalätzen an sich.
Unterschiede ergeben sich jedoch bei den Subjunktionen: Neun Kau-
salsätze in B-Sequenzen sind mit daz eingeleitet. Dafür ein exemplarischer
Beleg:
(14) Da fur mein muetter heraus 8 tag vor Michaely im 99. jar, daz sy nit zu
leben het.
'da zog meine Mutter acht Tage vor Michaeli im Jahr 1399 aus,
weil sie nichts mehr hatte, wovon sie leben konnte'
Von den sieben Kausalsätzen im R-Bereich ist dagegen kein einziger mit
daz eingeleitet. Hier finden sich zwei Belege für Einleitung mit seit. Einer
davon lautet:
(15) werlich, seit jr mich fragt, so mag ich euch sein nit geraten.
'wahrhaftig, da ihr mich fragt, kann ich euch das nicht ver-
schweigen'
Der einzige Kausalsatz mit die weil steht ebenfalls in einer R-Sequenz:
(16) und mueß von meiner notturfft wegen reden, die weil jr mir nichts wider gebt
oder recht von uns nembt.
'und muss von meiner Notlage reden, weil ihr mir nichts zurück-
gebt und uns Unrecht tut'
Vorsichtige Schlussfolgerung: Kausalsätze an sich haben keine Domäne,
was (konzeptuelle) Mündlichkeit oder Schriftlichkeit angeht. Es gibt sie in
etwa gleicher Häufigkeit in beiden Bereichen. Im untersuchten Text sind
kausale daz-Sätze auf die B-Sequenzen beschränkt. Auffallend ist ihre
relative Häufigkeit angesichts der in Handbüchern14 konstatierten Selten-
_____________
14 Vgl. z.B. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 475).
638 Hans Ulrich Schmid

heit von kausalem daz. Nur wörtliche Reden kennen die weil und seit. Hier
scheint sich in der Mündlichkeit eine Entwicklung anzubahnen, die in der
Schriftlichkeit erst später greift. Dafür sprechen auch die Beobachtungen
von Susanne Rieck,15 in deren Corpus (sieben Handschriften mit Ottos
von Passau 24 Alten) die wile / die weile durchwegs nur temporal erscheint.
Die in der frühneuhochdeutschen Grammatik von Robert Peter Ebert
u.a.16 geäußerte Vermutung, kausales die weil oder weil habe seinen sprach-
geographischen Ausgang „wohl zuerst […] im Mitteldeutschen und Ale-
mannischen“, lässt sich aufgrund der Gegebenheiten des Kazmair-Textes
aus München nicht stützen.

3.2. Konditionalsätze

Bei den Konditionalsätzen ist zunächst zu differenzieren zwischen unein-


geleitet und eingeleitet. Hier ergibt sich ein erstaunlich deutliches Bild. Für
uneingeleitete Konditionalsätze finden sich in den R-Sequenzen 27 Belege,
in den – dreimal umfangreicheren! – B-Sequenzen nur 23. Das ist ein sehr
auffälliger Befund, denn die Dominanz im R-Bereich ist nicht nur relativ,
sondern drückt sich sogar in absoluten Zahlen aus. Bei relativ gerechnet
gleichmäßiger Verteilung müssten 27 uneingeleiteten Konditionalsätzen
im R-Bereich ja ca. 80 entsprechende Strukturen im B-Bereich gegenüber-
stehen. Diese Verteilung liegt sicherlich in der Natur des Textes bzw. der
darin zur Sprache kommenden Sachverhalte. Es wird viel verhandelt, es
werden Bedingungen gestellt, Drohungen ausgesprochen usw. Kazmair
kam es ganz offensichtlich darauf an, genau das zu dokumentieren.
Den 27 uneingeleiteten Konditionalsätzen stehen in den R-Sequenzen
nur sechs subjunktional eingeleitete Konditionalsätze gegenüber. Deutli-
cher könnte die Dominanz des erstgenannten Typs kaum ausfallen. An-
ders liegen die Dinge in den B-Sequenzen. Auch hier dominiert zwar der
uneingeleitete Typus, doch stehen den erwähnten 23 Belegen sieben ein-
geleitete Konditionalsätze gegenüber, was doch eine etwas andere Relation
ergibt.
Signifikant sind jedoch vor allem die Unterschiede bei den verwende-
ten Subjunktionen. In den Konditionalsätzen der R-Sequenzen ist wo die
häufigste Subjunktion: wo steht in vier der sieben Fälle. Ein Beispiel:
(17) herr also, wo es sich mit recht erfind.
'Herr, genau so, wenn es mit dem Recht in Einklang steht'

_____________
15 Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.).
16 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 474).
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 639

Man beachte hier auch die elliptische Ausdrucksweise Herr also 'Herr, ge-
nau so'. Zu ergänzen ist 'wollen wir es machen' o.ä. Die restlichen Belege
zeigen die Subjunktion ob. Einleitung mit wo ist in den B-Sequenzen nur
einmal belegt:
(18) und sprachen, sy begerten nichts denn ains gemainen fromen und ains rechten
wo’s mit der guete nit möcht gesein.
'und sagten, sie wollten nichts als allgemeinen Nutzen, auch
wenn es sich im Guten nicht bewerkstelligen lasse'
Bezeichnenderweise handelt es sich hier um eine indirekte Rede. Man
könnte den Beleg guten Gewissens unter die R-Sequenzen einreihen. Die
eingeleiteten Konditionalsätze des B-Bereichs zeigen dreimal ob und je
einmal wenn und wann. Konditionales wo kommt nicht vor.
Vorsichtige Schlussfolgerung: Konditionalsätze sind sowohl im R- als
auch im B-Bereich ein hochfrequenter Adverbialsatztyp. Häufigster Form-
typus sind die uneingeleiteten Konditionalsätze, die aber in R-Sequenzen
proportional häufiger vorkommen als in B-Sequenzen. Bei den Subjunkti-
onen dominiert in den R-Sequenzen wo, in den B-Sequenzen ob. Konditio-
nales wo scheint gerade in konzeptioneller Mündlichkeit also nicht das
Randphänomen zu sein, als das es in den Handbüchern17 dargestellt wird.

3.3. Finalsätze und finale Infinitive

Bei satzwertigen Finalkonstruktionen liegt die Relation sozusagen wieder


im „Normalbereich“. In B-Sequenzen finden sich 27 Belege, in R-Sequen-
zen zehn, was einen Quotienten von 2,7 ergibt. Anders bei den finalen
Infinitiven. In B-Sequenzen finden sich sechs Belege dieses Konstrukti-
onstyps. Hierfür ein Beispiel:
(19) mein herr herzog Steffan sandt uns aber all vier: den Turlin, Albrecht von
Danhaim, Jörg Kazmair und Petter Chriml zu unserm herrn herzog Ernst
mit im zu reden.
Dem steht nur folgender Einzelbeleg im R-Bereich gegenüber:
(20) Lieber Kazmair, freilichen, deß haben wir all und die groß gemain aufgehebt
nun am sontag, wider recht niembant ze thuen noch ze thuen lassen.
Das redekommentierende, außerhalb der Konstruktion stehende Adverb
freilichen lässt den Satz zwar durchaus als konzeptionell mündlich erschei-
nen. Dennoch ist die Doppelung wider recht niembant ze thuen noch ze thuen
_____________
17 Vgl. z.B. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 461f.); Rieck (1977, 204).
640 Hans Ulrich Schmid

lassen in ihrer formelhaften Explizitheit aber wohl eher rechts- und damit
schreibsprachlich. Zumindest finden sich Vergleichsfälle solch expliziter
Doppelformen ansonsten mehrmals in B-Sequenzen, z.B.:
(21) so verfiengen sy sich sein auch mit kainem schreiben noch worten nie.
Abgesehen vom Einzelfall (20) finden sich im R-Bereich ansonsten nur
finale dass-Sätze mit finitem Verb wie z.B.
(22) wir muessen etwas mit dem Kazmair teutsch reden, daz er anders red.
Als finale Subjunktion fungiert ausnahmslos daz (bzw. das). Nur in einer
wörtlichen Rede findet sich vereinzelt auch erweitertes also daz:
(23) wir wöllen den hindergankh tuen, also daz man uns pesser, darnach ainer
verschuldt hat.
'wir wollen uns ergeben, damit man uns verurteile, je nachdem, was der ein-
zelne verschuldet hat'

Vorsichtige Schlussfolgerung: finale Infinitivkonstruktionen sind eher ein


Konstruktionstyp der konzeptionellen Schriftlichkeit. Finale daz-Sätze
stellen dagegen ein syntaktisches Muster dar, das unterschiedslos in ge-
schriebener und gesprochener Sprache auftritt.

3.4. Temporalsätze

Hinsichtlich der Frequenz in den B- und R-Sequenzen besteht bei den


Temporalsätzen kein erkennbarer Unterschied. Die Relation ist 33:12 und
entspricht damit dem erwartbaren Quotienten von ca. 3. Das heißt: Tem-
poralsätze an sich sind also weder eine B- noch R-typische Struktur.
Deutliche Unterschiede bestehen aber auch hier bei den einleitenden
Elementen, denn nur im Bereich der B-Sequenzen erscheint do bzw. da als
temporale Subjunktion zum Ausdruck der Vor- und Gleichzeitigkeit. Vor-
zeitigkeit wird ausgedrückt in:
(24) Da sy wol 14 tag ob allen chamer- und steurpuechern gesassen, und hin und
her raiteten, da fand sich daz einnemen und ausgeben geleich, ains als ander.
'Als sie wohl vierzehn Tage lange über allen Kammer- und Rechnungsbü-
chern gesessen hatten und hin und her rechneten, da erwiesen sich die
Einnahmen und Ausgaben als ausgeglichen, eins wie das andere.'
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 641

Gleichzeitigkeit wird ausgedrückt in:


(25) Da der herzog Ernst kam, da waz er unmuetig umb den Ruedolf.
'Als Herzog Rudolf kam, da war er ungehalten über Rudolf.'
In R-Sequenzen kommt do / da überhaupt nicht vor. Zum Ausdruck der
Gleichzeitigkeit werden verwendet:
• die weil:
(26) und stand still, die weil du alz sanfft sizest
'und halte die ruhig, solange du in Ruhe gelassen wirst'

• wann (mit konditionaler Lesart):

(27) und kann hinaus wol farn, wann mich sein lust
'ich kann fortgehen, sobald ich will'

• als lang als:

(28) wir wöllen euch’s selb behalten zum rechten alz lang alz unser statt recht ist
'wir wollen es euch selbst überlassen, solange es das Recht unserer Stadt ist'

Temporalsätze, in denen die weil und wann bzw. wenn Gleichzeitigkeit aus-
drücken, kommen auch in B-Sequenzen vor.
Vorsichtige Schlussfolgerung: Der bereits im Alt- und Mittelhoch-
deutschen vorherrschende Temporalsatztyp mit do ist im Kazmair-Text
nur in B-Sequenzen vorhanden, dort aber mit relativer Häufigkeit. Es
könnte sich um einen Strukturtyp der konzeptionellen Schriftlichkeit han-
deln, der in mündlicher Rede nicht (mehr) verwendet wurde. Die tempo-
ralen Subjunktionen, die in Hypotaxen in R-Sequenzen verwendet werden,
kommen ihrerseits zwar in B-Sequenzen ebenfalls vor, konkurrieren aber
dort mit dem älteren do-Typus, den sie noch nicht verdrängt haben. Auch
in dem von Rieck18 untersuchten Corpus des 15. Jahrhunderts ist die Do-
mäne von do der Temporalsatz.

_____________
18 Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.).
642 Hans Ulrich Schmid

4. Tempusgebrauch
Die umfangreiche Literatur über den oberdeutschen Präteritums-
schwund19 kann hier nicht referiert werden. Ob sich das analytische Per-
fekt zunächst in gesprochener oder in geschriebener Sprache etablierte,
wird kontrovers diskutiert. Der Kazmair-Text spricht dafür, dass es sich
um ein Phänomen zunächst der gesprochenen Sprache handelt, denn die
R-Sequenzen kennen fast nur das Perfekt, während in den B-Sequenzen
das Präteritum herrscht. An einem kurzen Textpassus soll das belegt wer-
den:
(29) Da gieng mein gesell Peter Chriml und ich in die vest B Präteritum
und funden den hofmaister den Türlin und sprachen:
„lieber herr hofmaister, mein herr herzog Steffan hat R Perfekt
uns gesandt zu unserm herrn herzog, daz wir ob dez
genaden erfragen solten, ob der Waldekher und ander
meins herrn rät sicher sein, alz ez der vizdomb und
die purger zbischen meiner herrn rät herbracht
habnt.“
Der hofmaister sprach: B Präteritum
„sagt ez meinem herrn, der ist in der capel“ B (Präsens)
Wir paten den hofmaister mit uns zu geen zu dem B Präteritum
herrn.
Der tet daz etc. B Präteritum
Da hueb ich an und sprach: B Präteritum
„genediger herr, wir sein von unser purger wegen bey R Perfekt
meinem herrn herzog Steffan gewesen.
Diese Korrelation von Präteritum und B-Sequenz auf der einen Seite so-
wie Perfekt und R-Sequenz auf der anderen ist im ganzen Text mit großer
Konsequenz durchgehalten. Solche Verhältnisse können kein Zufall sein.
Die Schlussfolgerung, dass die Domäne des Perfekts zunächst die gespro-
chene Sprache war, ist zwingend.

5. Zusammenfassung und Konsequenzen


Aus der Untersuchung der einzelnen Nebensatztypen wurden ausdrück-
lich immer nur „vorsichtige Schlussfolgerungen“ gezogen, weil natürlich
ein Einzeltext keine weitreichenden Folgerungen trägt. Das liegt nicht nur
daran, dass 1. das Textquantum sehr schmal ist, sondern auch daran, dass
_____________
19 Vgl. zusammenfassend und mit Literatur: Hartweg / Wegera (2005, 177ff.)
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit 643

2. gewiss Individualstilistisches durchschlägt und 3. in den wörtlichen


Reden des Kazmair-Textes ebenfalls Strukturen anzutreffen sind, die eher
für eine schrift- und rechtssprachliche Ausdrucksweise typisch sind (also
konzeptuelle Schriftlichkeit). Das dürfte aber nicht der Grundidee widerspre-
chen, dass man sich der historischen Oralität am besten in der Weise an-
nähert, dass man in geeigneten Texten solche Textsequenzen aufsucht,
von denen anzunehmen ist, dass sie konzeptuell der Mündlichkeit am
nächsten kommen. Natürlich dürfen wörtliche Reden – in welchen Texten
auch immer – nicht naiv mit gesprochener Sprache gleichgesetzt werden
(auch in der gesprochenen Gegenwartssprache kann man ja bekanntlich –
je nach Registerwahl – Strukturen antreffen, deren Verwendungsdomäne
die Schriftlichkeit ist). Auch ist wörtliche Rede nicht gleich wörtliche Re-
de. Sogar in Texten wie dem von Jörg Kazmair besteht ganz deutlich das
„Nähe-Distanz-Kontinuum“:20 Mit seinesgleichen spricht Kazmair anders
als mit den Herzögen. Die Satzkomplexität scheint zuzunehmen, je höher
die angesprochene (oder sprechende) Person gestellt ist. Doch gerade das
macht die Quelle zusätzlich glaubwürdig.
Natürlich gibt es analog zu den schriftlichen Textsorten auch Redesor-
ten, deren charakteristische Sprachstrukturen von der jeweiligen Redesitua-
tion gesteuert sind. Eine solche Binnendifferenzierung bei den wörtlichen
Reden müsste noch gesondert untersucht werden. Die Haupterkenntnis
ist aber, dass sich bei einzelnen Nebensatztypen doch sehr deutliche struk-
turelle Differenzen im Bereich von B- und R-Sequenzen feststellen ließen.
Entsprechendes lässt sich auch bei den Vergangenheitstempora beobach-
ten. Man könnte das Spektrum der Untersuchungsaspekte auch noch er-
weitern um weitere syntaktische Phänomene wie Satzrahmen oder Mo-
dusgebrauch.
Eine der ersten Aufgaben eines künftigen Forschungsprojekts zur
Satzkomplexität im älteren Deutschen – oder zur historischen Syntax
generell – wird es sein, ein Korpus zu konzipieren, das es erlaubt, satz-
strukturelle Unterschiede in konzeptueller Schriftlichkeit und Mündlich-
keit empirisch nachzuweisen. Texte wie der von Jörg Kazmair wären für
ein Korpus der älteren Phase des Frühneuhochdeutschen jedenfalls erste
Wahl.
Die vorangegangenen Überlegungen können auch als Bekenntnis zum
Primat der Empirie in der germanistischen Sprachgeschichte verstanden
werden.

_____________
20 Vgl. dazu Koch / Oesterreicher (2007, 363ff.).
644 Hans Ulrich Schmid

Literatur

Besch, Werner / Betten, Anne / Reichmann, Oskar / Sonderegger, Stefan (Hrsg.)


(2000), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Er-
forschung, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd 2, Berlin, New York.
Betten, Anne (2000), „Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache
im Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reich-
mann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der
deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl.,
Teilbd. 2, Berlin, New York, 1646-1664.
Bremer, Ernst (1985), „Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache
im Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch / Oskar Reichmann / Stefan
Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Spra-
che und ihrer Erforschung, Berlin, New York, 1379-1388.
Ebert, Robert Peter (1986), Deutsche Syntax II: 1300-1750, Bern, Frankfurt a. M., New
York.
Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Hans-Joachim / Wegera, Klaus-
Peter (Hrsg.) (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen.
Gleba, Gudrun (2000), „Die Aufzeichnungen des Münchner Bürgers Jörg Kazmair zu
den Jahren 1397-1403. Eine Schrift zur mittelalterlichen Meinungsbildung“, in:
Peter Johanek (Hrsg.), Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen
Neuzeit, Köln, Weimar, Wien, 215-231.
Grosse, Siegfried (2000), „Reflexe gesprochener Sprache im Mittelhochdeutschen“, in:
Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.),
Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung,
2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd. 2, Berlin, New York, 1391-1399.
Grubmüller, Klaus (1983), „Kazmair, Jörg“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters.
Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin, New York, Sp. 1085ff.
Hartweg, Fréderic / Wegera, Klaus-Peter (2005), Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in
die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen.
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Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel
der Raumerfassung in Albrecht Dürers
Vnderweyſung der meſſung (1525)

Ingo H. Warnke (Bern)

1. Der Text
Im Jahr 1525 publiziert Albrecht Dürer (1471-1528) bei Hieronymus
Andreae in Nürnberg ein Lehrbuch zur Euklidischen Konstruktionsgeo-
metrie, das als zentraler Text des deutschsprachigen geometrischen
Schrifttums der Frühen Neuzeit gilt; das Incipet lautet:
VNderweyſung der meſſung / mit dem `irckel vn[d] / richtſcheyt / in Linien ebnen vnnd
gant`en corporen / durch Albrecht Du[e]rer zůſamen get`oge[n] / und `ů nut` alle[n] kunſt-
lieb habenden mit `ů geho[e]rigen figuren / in truck gebracht / im jar. M.D.XXv.
Die 174 Seiten umfassende Vnderweyſung (UDM1) gliedert sich in vier
Bücher zu Linien, Ebenen, Körpern und zu den fünf Platonischen und
sieben Archimedischen Körpern sowie zum Delischen Problem. Im letz-
ten Teil findet sich eine Darstellung der Zentralperspektive, die Dürer mit
Bezug auf Filippo Brunelleschi (1377-1446) erläutert (vgl. Schröder 1980,
11). Eine zweite Auflage der Vnderweyſung erscheint posthum 1538
(UDM2) und berücksichtigt Dürers Beschäftigung mit Geometrie nach
1525.
Das Buch von 1525, das als anspruchsvolle frühneuzeitliche Artes-
Literatur des 16. Jahrhunderts gilt (vgl. Schulz-Grobert 1998, 324), weist
ein hohes Maß an Bezügen zum geometrischen Schrifttum vor allem mit
Verweis auf die Elementargeometrie des Euklid von Alexandria (~365 bis
~300 v. Chr.) und unter anderem auf Dombaubücher und Baukonstrukti-
onen der Zeit auf. Es steht damit in der Folge einer Reihe deutschsprachi-
ger Lehrbücher zur Geometrie und Konstruktion des frühen 16. Jahrhun-
derts, die nach der Geometria Culmensis (um 1400) und Geometria deutsch
(Ende 15. Jh.) unter anderem in Nürnberg erscheinen:
648 Ingo H. Warnke

• Matthaeus Roriczer, Puechlen der fialen gerechtikait, Regensburg 1486


• Hanns Schmuttermayer, Fialenbüchlein, Nürnberg 1489
• Jacob Koebel, Ain new geordnet Rechenbiechlin, Augspurg 1514
• Jacob Koebel, Eyn New geordent Vysirbůch, Oppenheym 1515
• Jacob Köbel, VOn vrsprung der Teilung, Maß, vnd Messung deß Ertrichs, der
Ecker, Wyngarten, Oppenheym 1522
Eine lateinische Übersetzung von Euklids Στοιχεíα (Die Elemente) war im
Besitz von Dürer (vgl. Schröder 1980, 10). Besondere Bedeutung gewann
seit Mitte des 15. Jahrhunderts auch das Brunelleschi gewidmete Traktat
De pictura (1435) von Leon Battista Alberti (1404-1472). Dürers Interesse
richtet sich unter mehr oder weniger deutlichem Verweis auf die verschie-
denen vorausgehenden Abhandlungen jedoch nicht auf eine elaborierte
Darstellung zur Geometrie oder gar Reflexion geometrischer Probleme
seit Euklid, sondern auf eine rationale Begründung künstlerischer Praxis;
Dürer schreibt nicht als Mathematiker, sondern als bildender Künstler der
Renaissance, dessen Anwendungsperspektive auf präzise bildnerische und
räumliche Darstellungszwecke gerichtet ist. Darin stimmt er mit Albertis
De pictura und auch De statua (1464) überein, denn auch für Alberti ist die
Geometrie eine notwendige Grundlage guter künstlerischer Praxis. Alber-
tis Körpervermessung geht übrigens auch in Dürers Schrift Vier Bücher von
menschlicher Proportion von 1528 ein, deren Bearbeitung Dürer zugunsten
der Vnderweyſung 1525 zunächst zurückstellt. Mit Bredekamp (2006, 1)
kann man für die Geometrisierung der Renaissancekunst von einer „Ver-
wissenschaftlichung im Sinne visueller Überprüfbarkeit“ sprechen, bei der
die zeichnerische Darstellung nicht Illustration ist, „sondern die Produk-
tion von Ideen“. Die anwendungsbezogene Aufbereitung solcher Ideen
bzw. Wissensbestände wird bei Dürer unter anderem mit instruktiven
Illustrationen geleistet. Der Instruktionscharakter jenseits wissenschaftli-
chen Ehrgeizes wird zudem an Dürers Unterscheidung zwischen exakten
Konstruktionen („demonstrative“) und angenäherten Konstruktionen
(„mechanice“) ablesbar und ist bereits im Titel mit dem Funktionshinweis
`ů nut` alle[n] kunſtlieb habenden deutlich. Auch in der Widmungsvorrede der
Vnderweyſung an Willibald Pirckheimer (1470-1530) nennt Dürer die prakti-
sche Geometrie eine Grundlage der Malerei.
Grammatische Mittel der Raumerfassung 649

2. Sprachwissenschaftliches Interesse
Dürers Texte, darunter auch seine Vnderweyſung, haben in der sprachhisto-
rischen Regionalforschung zum Nürnberger Frühneuhochdeutschen be-
reits eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Zu nennen ist vor allem die
Untersuchung zur verbalen Wortbildung um 1500 von Habermann
(1994). Diese und andere Arbeiten des Erlanger DFG-Projektes Wortbil-
dung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch (1985-2001) nutzen das EDV-Korpus
zu Dürer von Koller (1985). Mein Interesse dupliziert nicht die dort ge-
leisteten und ausführlich dokumentierten Forschungsergebnisse, sondern
richtet sich ergänzend auf Fragestellungen, die in der kognitiven Raumse-
mantik aufgeworfen werden. Gegenstand der Raumsemantik sind mit
Zlatev (2007, 321) „spatial expressions“, also „conventional specifications
of the location or change of location [...] of a given entity“. In Anlehnung
an Zlatevs Definition beschränkt sich mein analytischer Fokus auf Raum-
perspektivierung und Raumreferenz in Dürers Vnderweyſung. Dazu erläute-
re ich unter besonderem Verweis auf das Linearisierungsproblem des
Raums, welche grammatischen Mittel Dürer zur konzeptuellen Erfassung
des Raums in der Sprache nutzt. Textkonstitutiv sind Besonderheiten in
der Verbmorphologie (2.1.), in der Verwendung von Konnektoren (2.2.
und 2.4.) und im Gebrauch unterschiedlicher Klassen raumreferentieller
Ausdrücke (2.3.). Ergänzt werden die Analysen durch eine Bemerkung zur
Versprachlichung von Konzepten der Zentralperspektive, die unter ande-
rem mit einem im übrigen Text nicht zu belegenden Gebrauch von Mo-
dalverben einhergeht (2.4.). Dass es im Rahmen eines Aufsatzes nur um
exemplarische Beobachtungen gehen kann, sollte verständlich sein. Dia-
chrone Dimensionen grammatischer Mittel der Raumerfassung lassen sich
zudem erst bestimmen, wenn Dürers raumlinguistische Verfahren kontra-
stiv eingeordnet werden; dies bleibt als Desiderat bestehen.

2.1. Imagination und Zeichnung: Verbmorphologie

Zu Beginn der Vnderweyſung − in seiner Widmungsvorrede an Willibald


Pirckheimer − verwendet Dürer zur Erläuterung seiner Erklärungsabsich-
ten eine visuelle Metapher: Das Lehrbuch solle Laien wider die Blindheit
der Unwissenheit die Kunst, mit Zirkel und Richtscheit zu arbeiten, vor
Augen führen. Bereits der auf den ersten Blick erkennbare Illustrations-
reichtum des Buches zeigt, dass die Visualisierung keineswegs nur meta-
phorisch gemeint ist, sondern faktisch; der Text ist durchgängig mit zahl-
reichen Abbildungen verschränkt. So verwundert es nicht, dass Überle-
gungen zum Verhältnis von räumlicher Vorstellung, Zeichnung und Text
650 Ingo H. Warnke

den Ausgangspunkt des gesamten Buches bilden. Was visualisiert und


beschrieben wird, ist einerseits die Vorstellung vom Raum und anderer-
seits die konkrete Raumgestalt bzw. Zeichnung, so dass Dürer die Aufga-
be seines Textes darin sieht, den „innerlich verſtand im euſſern werck“
(UDM1, 2r) anzuzeigen. Er erkennt dabei, dass Raumbegriffe, bei aller
vermeintlich ontologischen Fixiertheit, lediglich Konstrukte darstellen. Ob
Raum als Positionsqualität von Körpern oder als Container materialer
Objekte verstanden wird, Raumbegriffe „are free creations of the human
imagination, means devised for easier comprehension of our sense expe-
rience“ (Einstein 1954, XV).
Der Annahme von der imaginativen Existenz des Raums entspricht
Dürers Unterscheidung von drei Ebenen der Raumerfassung: Imagination
(innerlich verſtand), Abbildung (euſſeres werck) und Benennung (bedewten). In
diesem Zusammenhang wird auch das Problem fachsprachlicher Präzision
aufgeworfen: „Aber dieſe krume Lini / weyß ich nit baß aů nen-
nen / dan[n] eyn Schlangen Lini“ (UDM1, 2r). Was Dürer unter den drei
Raumebenen versteht, mag an seiner eigenen Exemplifizierung zu Punkt
und Linie verständlich werden. Hier wird deutlich, dass Dürer geometri-
sche Konzepte beschreibt, keine geometrischen Abbildungen:

Punkt Linie
Imagination punckt erfu[e]llt keyn ſtat getaogener punckt
Abbildung ● ───────
Benennung punckt Lini
Tabelle 1: Dürers Unterscheidung geometrischer Ebenen

Die Vnderweyſung als Lehrbuch der darstellenden Geometrie ist also Dar-
stellung von Konzepten im Medium der Zeichnung und Sprache. Folglich
beziehen sich Abbildung und Text auf räumliche Imaginationen. Das
Problem, wie wir über das sprechen können, was wir sehen, wird heute
vor allem in der Kognitiven Semantik erörtert. Nach Jackendoff (1983)
stellen sich dabei zwei Fragen: Welche Informationen übermittelt Spra-
che? Worauf beziehen sich Informationen? Vorwissenschaftlich könnte
geantwortet werden, dass sprachliche Informationen Ideen übermitteln
und sich auf Gegenstände und Sachverhalte beziehen. Wir halten fest,
dass Dürer ein solches Realitätsmodell ablehnt. Realer Ausgangspunkt der
Geometrie ist für ihn die Vorstellung. An seiner Behandlung der Ebene
kann dies deutlich gemacht werden. Erfasst wird die abstrakte, nur durch
Imagination realisierte Vorstellung von der Ebene (1a), beschrieben wird
die Konstruktion derselben (1b):
Grammatische Mittel der Raumerfassung 651

(1a) Die erſt ebne iſt ganta gleich / alſo das ſie weder hoch noch ny-
der oder krum iſt (UDM1, 2v)
(1b) dem thů ich alſo / ich reyß eyn zwerch lini .a.b damit far ich
eben underſich / als ſerr ſo lang ſie iſt / ſo wirdet darauß eeyn
gefirte ebne (UDM1, 3r)
Der Bezug auf vorgestellte Geometrie trifft sich mit der kognitionslinguis-
tischen Modellierung von Vorstellungen als Projektionswelten für sprach-
liche Referenz:
We have conscious access only to the projected world – the world as uncon-
sciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they
have achieved mental representation through these processes of organization.
Hence the information conveyed by language must be about the projected world. (Jackendoff
1983, 29)
Dabei geht es mir nicht um eine Parallelisierung von vorkopernikanischen
Vorstellungen zur Raumimagination und generativ motivierten Semantik-
theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Von Interesse für die Analyse
des Textes ist vielmehr die Frage nach dem Status der Raumimagination in
der Vnderweyſung oder, mit Jackendoff, nach der Referenz von Raum-
beschreibungen. Es ist offensichtlich, dass die Imagination als Bezugsgrö-
ße der Instruktion eine durchgängig zentrale Bedeutung im Text besitzt.
Zu unterscheiden sind hier die Imaginationen des Autors und die Aktio-
nen des Lesers. Dürer bezieht sich als Autor auf eigene Vorstellungen von
geometrischen Konstruktionen, die er sprachlich zu fassen versucht. Er
referiert aber auch auf Handlungen des Lesers, die er unmittelbar anregt
und lenkt. Dürers Text hat damit zwei unterschiedliche Bezugsfelder: die
Vorstellung vom Raum und die konkrete Raumkonstruktion, das heißt die
Zeichnung. Die Vorstellung vom Raum ist nichts anderes als ein imaging
system, wie es Talmy (2008) in der Kognitiven Grammatik beschreibt. Bei
der Lektüre der Vnderweyſung bemerkt der Leser bald, dass die Raumbe-
schreibungen in manchen Passagen auf mentale Imaginationen des Raums
verweisen (der Leser kann sich vorstellen, was Dürer beschreibt), in ande-
ren Passagen aber den Charakter von Anweisungen zur konkreten Kon-
struktion auf dem Papier haben (der Leser soll nachzeichnen, was be-
schrieben wird).
Aus dieser Doppelperspektive folgt eine auffallende Varianz in der
Verbmorphologie. Die Referenz auf geometrische Imaginationen erfolgt
durch den Gebrauch der 1. Person Singular im Indikativ (1b und 2a), die
Aufforderung zu konkreten Handlungen des Lesers durch den Gebrauch
der 2. Person Singular im Imperativ (2b). Sachbeschreibungen in der 3.
Person (1a) sind die Ausnahme. Während die Variante im Indikativ (1b
und 2a) den Leser zum Zuschauer von imaginären Konstruktionsbe-
652 Ingo H. Warnke

schreibungen macht und nur funktioniert, wenn sich infolge der Lektüre
mentale Bilder einstellen, dient die Imperativvariante (2b) der unmittelba-
ren Nachahmungsmöglichkeit des Beschriebenen. Beide Perspektiven
bedienen die Textfunktion der Unterweisung bzw. Instruktion:
(2a) Diſe ſchneckenlini reiß ich alſo / ich mach ein auffrechte lini die
ſey oben .a unden .b. (UDM1, 3v)
(2b) Nym ein airckel / ſetz in mit dem ein fuß in den Punckten .12.
Und den Andern in den Punckten .i. und reyß vondan[n] rund
uberſich / Darnach ſetz des airckels fus in den Punckten .i. [...].
(UDM1, 5v)
Die alternierenden Verbperspektiven prägen die gesamte Vnderweyſung.
Der Wechsel zwischen Beschreibung einer fiktiven Handlung des Autors,
das heißt Deskription des geometrischen Konstruierens, und Sprechakten
der Aufforderung, das heißt Appellen an den Leser zum Nachzeichnen
des Beschriebenen, ist regelhaft. Beide Formen aktualisieren den Text bei
jeder Lektüre neu, denn der Leser ist nicht Beobachter, sondern Kon-
strukteur mentaler Bilder und realer Zeichnungen. Die Lektüre der Vnder-
weyſung ermöglicht einen Konstruktionsprozess von mental images und
Zeichnungen auf dem Papier. Gerade die Imperativformen modalisieren
die Propositionen dahingehend, „dass der jeweils thematisierte Sachver-
halt nicht schon als gegeben dargestellt wird, sondern als noch zu realisie-
ren“ (Köller 2004, 450). So entwirft die charakteristische Formmischung
der Verbmorphologie ein handlungsorientiertes Unterrichtsszenario durch
Sequenzierung von vorgeführtem Lehren und nachahmendem Lernen.
Dabei ist der interaktive Charakter des Textes auch durch den Gebrauch
von abstrakt tätigkeitsbeschreibenden Handlungsverben wie thun und
machen und dem auf das Linienziehen bezogenen hochfrequenten Hand-
lungsverb reißen markiert. Deutlich tritt die Verbindung der Ich-Du-
Perspektive etwa in der Beschreibung der Spiralkonstruktion hervor:
(3) So du die airckellini geteilt haſt / ich ſetz hie in / 12 / teyl / ſo
du dann dein ſchnecken lini /awyfach / tryfach / oder vierfach
wilt laſſen herum laufen / (UDM1, 7r)
Der Ich-Du-Perspektivenwechsel ist auch ein mesostrukturelles Glie-
derungsmerkmal, also Mittel der Strukturierung von Textabschnitten. Als
Beispiel verweise ich auch hier auf Dürers Ausführungen zur Spiralkon-
struktion. Zunächst wird die Konstruktion in der Du-Perspektive be-
schrieben. Es ist die Situation des Unterrichts, in der ein Schüler tun soll,
was ein Lehrer ihm sagt. Die Aufforderung zur Nachahmung erfolgt im-
perativisch. Dann greift der Lehrer, das heißt im Text der Autor, markiert
durch folgenden Satz ein:
Grammatische Mittel der Raumerfassung 653

(4) Ich will aber hie die felt uberſich in einer ordnung erlengen / wie
voren angetaeigt (UDM1, 7r)
Mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion wird die folgende Demonstra-
tion durch Indikativformen in der 1. Person realisiert. Die textuelle Insze-
nierung einer Unterrichtssituation durch Leseransprache hat die Funktion
der Vereinfachung des komplexen geometrischen Konstruktionsprozes-
ses. Dürers Ziel ist die nachvollziehbare Beschreibung und Vermeidung
von Verwirrung: „ſo kanſtu nit irre werden“ (UDM1, 7r). Er organisiert
seinen Text so, dass sich Vorstellungen beim Leser qua Deklaration und
Anweisung bilden, also durch Imagination und Zeichnung.

2.2. Linearisierung des Raums: Temporale Konnektoren

Unter Berücksichtigung der Unterscheidung von Imagination, Abbildung


und Benennung folgt aus der Didaktisierung ein anderes textgrammati-
sches Merkmal: die Linearisierung von Koexistenz. Ausgehend vom Ko-
existenzbegriff ist Raum sowohl in der Imagination als auch in der Visua-
lisierung keine zeitlich gegliederte Struktur, wohingegen Sprache durch
ihre lineare Struktur temporal organisiert ist. Bei der sprachlichen Erfas-
sung des Raums überschneiden sich daher Koexistenz und Linearität. In
den Worten von Leibniz: Tempus est ordo existendi eorum quae non sunt simul
(Zeit ist die Ordnung der nicht simultanen Existenz) vs. Spatium est ordo
coexistendi (Raum ist die Ordnung des Koexistierenden) (LRM, 18). In allen
raumerfassenden Textsorten wird diesem Problem mit textgrammatischen
Mitteln begegnet. Bei Instruktionstexten ist aufgrund des Nachahmungs-
gebotes die zeitliche Organisation sogar eine Notwendigkeit, denn kom-
plexe Konstruktionen müssen in einem Prozess des Nacheinanders erst
gebildet werden. Die Linearisierung des koexistierenden Raums erfolgt bei
Dürer vor allem in den hochfreqenten Verwendungen von Temporal- und
Präpositionaladverbien. Am häufigsten wird das Präpositionaladverb bzw.
der Adverbkonnektor darnach verwendet:
(5) Darnach teyl ich .d.e mit eyne[m] punckten .f. in awey gleiche felt
/ darnach ſetz ich auff die recht ſeytten der lini ein .g. auff die
linck ein .h. darnach nym ich ein zirckel / (UDM1, 3v)
Das Adverb darnach situiert als temporaler Konnektor das Geschehen der
geometrischen Konstruktion nach Zeitpunkten. Die bereits erreichte
Konstruktion in der Vorstellung oder auf dem Papier ist Ausgangspunkt
weiterer Handlungen. Die Propositionen antworten in ihrer textgrammati-
schen Strukturierung daher auf eine Wann-Frage, die sich eigentlich für die
Koexistenz von Raumstrukturen nicht stellt, aber unumgänglich ist, wenn
654 Ingo H. Warnke

Raum sprachlich erfasst wird. Schneuwly / Rossat (1986) haben für die
Erfassung von Erzählstrukturen dafür die griffige Frage Comment lineariser
l'espace? gestellt. Die fiktive Wann-Frage, auf die Dürer formelhaft mit
darnach antwortet, prägt den Text narrativ. Textgrammatisch markiert
darnach eine veränderte Situation durch ein neues Ereignis, die Wiederho-
lung von Temporaladverbien bildet einen „Erzählfluss“ (Weinrich
2005, 239) durch Signale der „Erzählfolge“ (ebd., 806). Dabei vermeidet
Dürer keineswegs die daraus resultierende Monotonie und Formelhaftig-
keit. Gegen das Gebot stilistischer Varianz steht bei Dürer die an konzep-
tioneller Mündlichkeit orientierte Maxime der Nachahmbarkeit des Be-
schriebenen. In der englischen Übersetzung der Vnderweyſung (DPM) wird
hingegen variiert zugunsten der an konzeptioneller Schriftlichkeit orien-
tierten Maxime stilistischer Varianz. Die sprachliche Einförmigkeit des
Textes ist funktional, wenn offenbar auch nicht für jeden überzeugend.
Mit Verweis auf Dürers Befestigungslehre und Proportionslehre heißt es im Aus-
stellungskatalog Mit Zirkel und Richtscheit (1986): „Von allen diesen Werken
ist die Unterweisung das sprödeste.“ Die monotone Formelhaftigkeit von
temporalen Konnektoren, die der Vnderweyſung tatsächlich eine stilistische
Simplizität verleiht, ist textsortentypisch für Instruktionstexte der Zeit. Sie
findet sich bereits in Hans Schmuttermayers Fialenbüchlein (1485 / 90) (6a)
und auch in Jacob Köbels New geordnet Rechenbiechlin (1514) (6b):
(6a) Darnach heb an zu machen [...] Darnach heb an au teyle[n] [...]
Darnach ſeca den airckel (SFB, 4r und 4v)
(6b) [...] ſo werdem XXXVI. darauß / nach dem thů die o[e]berſt taal
des bruchs das iſt I dar zů [...] nach dem ſo mach [...] (KNR, xix)
In (6a) wird die Formelhaftigkeit noch durch die Infinitivkonstruktion mit
zu unterstrichen. Der Gebrauch von Nachzeitigkeit anzeigenden Adverb-
konnektoren ist bei Dürer aber nicht nur konzeptionell mündlich und
erzählerisch. Dies gilt vor allem für das Temporaladverb nun. Dieser tem-
porale Konnektor wird bei Dürer weniger zur Linearisierung von Raum-
konzepten genutzt als vielmehr zur Markierung von Textabschnitten, also
zur Textstrukturierung. Als Beispiel kann die Konstruktion des Hexagons
(7a), des Dreiecks im Zirkel (7b), des Heptagons (7c), des Quadrats im
Zirkel (7d), des Oktagons (7e), des Pentagons (7f) usw. genannt werden.
Die aufeinander folgenden Absätze werden jeweils initial mit nun markiert
(UDM1, 27r). Dass es sich dabei um ein Textgliederungssignal handelt,
zeigt auch die konsequente Doppelmajuskel:
(7a) NUn will ich anaeyge[n]
(7b) NUn ſchickt es ſich am negſte[n]
Grammatische Mittel der Raumerfassung 655

(7c) NUn will ich durch den vorigen dryangel


(7d) NUn will ich ein vierecket figur
(7e) NUn ſchickt es ſich am negſte[n]
(7f) NUn iſt von no[e]tten
Gerade die Konstruktion NUn will ich zeigt, dass im Gegensatz zur fokalen
Steuerung mit darnach mit nun die mesostrukturelle Gliederung von geo-
metrischen Wissenseinheiten oder Referenzobjekten geleistet wird. Mit
wollen ist schließlich die volitive Funktion aus der Perspektive des Lehren-
den unterstrichen.
Grammatischer Modus und Konnektoren sind Mittel der Verschrif-
tung von Raumkonzepten und Anweisungsintentionen in Dürers Vnder-
weyſung. Der fiktive Sehsinn wird alternierend durch personale Deixis auf
das Ich des Lehrenden bzw. das Du des Lernenden fokal gerichtet, was
sich in der Verbmorphologie deutlich zeigt. Die Koexistenz der Raum-
imagination wird durch formelhaften Gebrauch von temporalen Konnek-
toren linearisiert. Diese grammatische Verzeitlichung des Raums ist auch
ein Mittel der Meso- und Makrostrukturierung des Textes.

2.3. Raumreferenz und binäre Codierung

Während Verbmorphologie und Konnektoren Mittel zum Zweck der


perspektivischen Linearisierung von koexistierenden Raumkonzepten
sind, versteht man unter Raum- bzw. Ortsreferenz den Bezug sprachlicher
Ausdrücke auf räumliche Verhältnisse. Nach Vater (1991, 39f. und 2005,
113f.) sind drei Typen der Raumreferenz zu unterscheiden: (a) Positionie-
rung (statische Position eines Objektes), (b) Direktionalisierung (dynami-
sche Verlagerung eines Objektes) und (c) Dimensionierung (Objekteigen-
schaften). In der Vnderweyſung finden sich selbstverständlich zahlreiche
Wörter zur Dimensionierung von Körpern, teilweise auch von Körperei-
genschaften. Weniger offensichtlich, jedoch raumlinguistisch ebenso wich-
tig, sind die Mittel zur Positionierung und Direktionalisierung. Die Kom-
plexität von Perspektivierung und positionaler / direktionaler / dimensio-
naler Raumreferenz und damit auch die Schwierigkeiten, vor die sich
Dürer bei der Verschriftung von geometrischen Konzepten gestellt sehen
musste, möchte ich an folgendem Abschnitt deutlich machen. Es handelt
sich um die dritte Methodenbeschreibung zur Spiralkonstruktion:
(8) Ich reiß einn auffrechte lini / als lang das richtſcheydt iſt damit
ich die ſchneckenlini mach / die ſey oben .b. unden .a. Darnach
reiß ich ein zwerch lini .c.d. alſo das die auffrecht mit dem
656 Ingo H. Warnke

punckte[n] .a. gerad zů gleichen wincklen darauff ſtehe / Dar-


nach reiß ich ein gerade ortlini .d.b. un[d] nym ein airckel und
ſetz in mit dem ein fuß in den punckten .d. und mit dem andern
fuß in den punckten .a. und reiß von dann rund ubersich byß in
den ort ſtrich .d.b. und wo ſie die an ru[e]rt da ſeta ich punckten
.e / Darnach theyl ich diſe krume lini .a.e. mit .23. punckte[n] in
.24. gleiche felt / und reis auß dem punckten.d. gerad lini durch
all punckten in .a.e. byß in die geſtrackt lini .a.b. Und wo diſe li-
nien die lini .a.b. durch ſchneiden / die ſelben punckt betaeichen
ich mit ayffern / unnd heb oben under dem .b. an aů aelen
/1/2/3/4 /etc. / byß herab aum .a. aus dem erſcheindt wie ſich
die fellt zwiſchen den punckten uberſich erweytern / unnd un-
den herab enger werden. (UDM, 4v)
Die Analyse zeigt, dass Dürer allein in diesem kurzen Abschnitt das ge-
samte Inventar der Basisklassen zur Raumreferenz nutzt, das auch in der
deutschen Gegenwartssprache ausgeprägt ist. Legt man die Typen der
Raumreferenz zugrunde, die Vater (1991, 43) für das Deutsche aufführt,
so zeigt sich für (8) eine Nutzung von Mitteln der Positionierung nach Art
und Ort, der Direktionalisierung nach Art und Ort sowie der Dimensio-
nierung von Körpern und ihren Eigenschaften. Dabei finden sich bei
Positionierung und Direktionalisierung sowohl deiktische als auch nicht-
deiktische Formen:

Raumreferenz
Lokalisierung Dimensionierung
Positionierung Direktionalisierung
Art Ort Art Ort Eigen- Körper
deiktisch nicht- nicht- deiktisch schaft

posi- dimen- deik- deik- posi- dimen-


tional sional tisch tisch tional sional
set- darauf oben durch- in ubersich herab lang lini
zen dann unden schnei- byß auf- punckt
an- da under den aus frecht ſchnecken-
rue- zwi- gerade lini
ren schen rund zwerchlini
krum wincklen
eng ortlini
ort
fel(l)t

Tabelle 2: Raumreferenz in Dürers Beschreibung der Spiralkonstruktion (UDM, 4v)


Grammatische Mittel der Raumerfassung 657

Verbunden ist die komplexe Referenz auch in diesem Abschnitt mit der
Verwendung des temporalen Konnektors darnach. Die Kombination ist
textkonstitutiv: Räumliche Positionen, Richtungen und Dimensionen
werden referentiell etwa durch Lokalpräpositionen (z.B. durch) und Lokal-
adverbien (z.B. da) erfasst. Die fokale Steuerung von Imagination oder
Handlungen des Lesers erfolgt linear vor allem durch das Temporaladverb
darnach und situiert die geometrische Konstruktion nach Zeitpunkten.
Beide Achsen verschränken sich in der Beschreibung der vorgestellten
bzw. vorzustellenden geometrischen Konstruktionen. Dies führt zu einer
binären Codierung des Raums in der Sprache:

temporale Struktur als fokale


Steuerung

Raumreferenz

Abbildung 1: Binäre Raumcodierung in Dürers Vnderweyſung

In der Terminologie der Kognitiven Semantik wird durch diese binäre


Codierung Raum nicht nur statisch erfasst, sondern unter Berücksichti-
gung des Blickpunkts bei der mentalen Perspektivierung. Talmy (2008)
spricht vom sogenannten perspective point. Er weist darauf hin, dass die
geometrische Vorstellung nicht unabhängig vom schematischen System
dieser perspective points ist. Während eine reine Objektbeschreibung eine so
genannte perspectival distance aufweist, organisiert das mental eye (Talmy 2000,
217) bei Dürers fokaler Steuerung ein motive state, also eine begleitende
Perspektive mit bewegtem Blickpunkt entlang eines Pfades. Die Abszis-
senachse in Abbildung 1 kann gelesen werden als ein mitlaufender Blick-
punkt des geistigen Auges, der jeweilige fokale Richtpunkte durch raumre-
ferentielle Ausdrücke auf der Ordinatenachse erfährt.
Dieses Verfahren kennzeichnet den gesamten Text Dürers. Die Er-
gebnisse der grammatischen Analyse korrelieren mit der Textfunktion der
Vnderweyſung. Denn Dürer legt keine Beschreibung von geometrischen For-
men und Körpern vor, sondern einen Instruktionstext, der wesentlich und
auch für den heutigen Leser durch Lenkung des mental eye funktioniert:
(8) WIltu aber auſſen zwiſchen der ſchnecken lini die felt noch mehr
erweytern / und hynein enger machen / ſo leyn die auffrecht lini
.a.b oben mit dem .b. gegen dem punckten .c. Undd reis darnach
658 Ingo H. Warnke

die ortlini .d.b. wider aůſamen / ſo wirdt der airckelris .a.e.


ku[e]rtaer / Darnach theyl allding von newen wider ein [...].
(UDM, 4v)
In (8) ist außerdem erkennbar, dass die Raumsituierung immer wieder in
Kombination von Orts- und Richtungsbezug erfolgt, also durch Verwen-
dung von statischen Lokaladverbien (aussen, oben) und direktionalen Lokal-
adverbien (hynein, gegen). Statik und Dynamik entsprechen den Prinzipien
der punktuellen Raumerfassung und fokalen Steuerung im Beschreibungs-
kontinuum.
Dass der Blickpunkt für Dürer eine zentrale Beschreibungskategorie
ist, zeigt besonders deutlich die terminologische Abgrenzung zwischen eck
und winckell. Dürer macht metakommunikativ deutlich, dass weder Abbil-
dung noch Benennung die Konzeptualisierung – also Vorstellung – erset-
zen kann. Denn der Unterschied zwischen eck und winckell ist in der Ab-
bildung nicht erkennbar und bleibt sprachlich abstrakt. Er kann daher nur
durch Blickpunktverschiebung vor dem mental eye erklärt werden:

winckell

eck

Abbildung 2: Terminologische Unterscheidung von Winkel und Ecke


durch Blickpunktimagination in Dürers Vnderweyſung

Sprachlich fasst Dürer diesen Sachverhalt wie folgt:


(9) Erſtlich ſoll man mercken / das ein winckel und ein eck glech li-
nien haben / Aber die underſchid des winckels und eckes / im
werck iſt diſer / Wenn du auſſen auf die ſcherpf ſichſt / ſo heiſt
es eyn eck / ſichſtu aber innen in die tyfe / ſo heiſt es ein win-
ckel (UDM, 25v)
Während das Wie der Raumerfassung in der Vnderweyſung die Mittel von
Verbmorphologie und Konnektoren regelhaft nutzt, ist das Was der
Raumerfassung durch ein vollständiges Set an raumreferentiellen Ausdrü-
cken versprachlicht. Verbunden sind beide Dimensionen in dem, was ich
hier binäre Raumcodierung nenne.
Grammatische Mittel der Raumerfassung 659

2.4. Zentralperspektive: argumentative Konnektoren


und Modalverben

Dürer schließt die Vnderweyſung mit einer Darstellung der Zentralperspek-


tive, die für die Entwicklung der Malerei in der Renaissance von großer
Bedeutung ist. Seine Abhandlung ist die erste deutschsprachige Erklärung
der Verfahren zur Konstruktion zentralperspektivischer Bilder. In diesem
Abschnitt erscheint der Text nicht mehr so systematisch gegliedert wie bei
der Beschreibung von Linien, Ebenen und Körpern. Dennoch kann da-
von ausgegangen werden, dass Dürer gerade die Beschreibung von Zent-
ralprojektionen besonders wichtig war. Bei Schröder (1980, 29) heißt es:
„Am Ende des vierten Buches, von Dürer wohl als Krönung seines Werks
gedacht, werden auf zehn Seiten theoretische und praktische Erläuterun-
gen zur Herstellung zentralperspektivischer Bilder gegeben.“
Die beschriebenen grammatischen Mittel − von Person und Modus
bis zu Konnektoren und raumreferentiellen Ausdrücken − finden sich
auch hier, wenngleich man immer wieder darauf verwiesen hat, dass Dürer
weder eine klare Fachterminologie zur Zentralperspektive entwickelt,
noch dass ihm eine in allen Punkten stichhaltige Darstellung gelingt. Dü-
rer begibt sich mit diesem Abschnitt auf ein offensichtlich komplexes Feld
der Versprachlichung von Raumerfassung. Dies führt zu einigen Beson-
derheiten der Sprache.
Dürer behandelt im Kern das Problem der Projektion, die abhängig
von visuellen Parametern ist. Paraphrasiert heißt das: Etwas wird unter
bestimmten Bedingungen zu etwas anderem. Den Bedingungen der per-
spektivischen Projektion und ihrer Abhängigkeit vom „punct des augs“
(UDM1, 85vf.) widmet Dürer eine längere Abhandlung. Statt temporaler
Konnektoren findet sich häufig der konsekutive Konnektor darumb. Wein-
rich (2005, 601f.), der darum als Nexus-Adverb bezeichnet, zeigt, dass der
Konnektor textgrammatisch im Zusammenhang von Begründungen und
Folgerungen auftritt und nennt als Funktion die Einbindung von Feststel-
lungen in Argumentationsgänge. In der Tat wird Dürers Text hier argu-
mentativ. Die Bedingungsverhältnisse einer angemessenen Projektion von
Dreidimensionalität in zentralperspektivische Zweidimensionalität werden
durch Konsekutivität (vgl. Konerding 2002) vertextet:
(10) darumb wen awey gleyche undurchſichtige ding hinder einander
ſtend / und das aug gerad dargegen / ſo kann allein das forder
und das hinder nit gesehen werden. Darumb wen vill geſchen
ſoll werde ſo müſen die ſelben ding von einander geteylt werden
/ auf das ſolichs die ſtreym linien des geſichts begreiffen
mo[e]gen. [...] Darumb ſoll man das ding das da geſehen wirt [...].
(UDM1, 85v)
660 Ingo H. Warnke

Die erkennbar argumentative Struktur wird auch durch den Gebrauch des
konditionalen Subjunktors wen in Verbindung mit den temporalen Kon-
nektoren dann / so realisiert. Hinzu kommt die auffallende Häufung von
Modalverben: mögen, müſen und vor allem sollen sind formelhaft häufig. Nun
werden Modalverben immer dann verwendet, wenn „Sachverhaltsentwür-
fe auf der Folie von Redehintergründen“ (Zifonun u.a. 1997, 1253) einge-
ordnet werden. Dürer versucht also, seinen Lesern Gesetzmäßigkeiten der
Optik zu vermitteln und versprachlicht diese als Zusammenhang von
Voraussetzungen (konditional) und Folgen (konsekutiv). Die daraus resul-
tierende Argumentationsdichte des Textes zeigt sich in (11). Hier werden
der konsekutive Konnektor darumb, der konditionale Subjunktor wen, der
temporale Konnektor so und die Modalverben sollen und müſen in einem
Satz enggeführt:
(11) Darumb wen vill geſchen ſoll werde ſo müſen die ſelben ding
von einander geteylt werden [...]. (UDM1, 85v)
Die Formulierung von Bedingungen der richtigen Projektion fällt auch aus
dem Rahmen der Ich-Du-Perspektivierung, die für die übrige Unterwei-
sung in die geometrische Konstruktion charakteristisch ist. Da es Dürer
hier nicht um die Versprachlichung der Lehrer- und Schülerposition geht,
sondern um die Aufzeichnung von notwendigen Voraussetzungen einer
rationalen künstlerischen Praxis, verschwindet die Position des Schülers
und teilweise auch des Lehrers. An die Stelle des persönlichen Ich und Du
tritt die 3. Person Singular als sachlicher Bezugspunkt: „Das aug ſicht“
(UDM1, 85v). Besonders deutlich ist das im Gebrauch des Indefinitums
man. Während der letzte Abschnitt zu den Proportionen noch mit der Ich-
Du-Perspektive endet (12a), findet sich gleich im ersten Satz zur Theorie
der Perspektive das Du entpersonalisiert (12b):
(12a) Wie ich das hernach hab aufgeriſſen / das magſt du piß auf hun-
dert pfunt fu[e]ren. (UDM, 83v)
(12b)SO ich daforen manicherley corpora wie man die mach anzeigt
hab / will ich auch leren ſo man ſoliche gemecht anſicht wie man
die in ein gemel můg pringe[n] (UDM, 84r)
Nach Köller (2004, 482) werden Indefinitpronomen „in der Regel auch
nur in solchen Redesituationen gebraucht, in denen es nicht darauf an-
kommt, konkrete abgrenzbare Inhalte zu objektivieren, sondern darauf,
Funktionselemente in bestimmten Relationen zu benennen“. Außerhalb
der Lektüresituation der Unterweisung im Ich-Du-Wechsel wird die Zen-
tralperspektive durch Abstrahierung vom Adressaten erläutert. Dürer
führt aus, was man tun und lassen soll, um zu einer angemessenen Projek-
tion zu gelangen. Die Besonderheit seines Vorhabens, eine Theorie der
Grammatische Mittel der Raumerfassung 661

Perspektive für Künstler zu schreiben, manifestiert sich also grammatisch


in argumentativen Strukturen bei indefinitem Adressaten. Der Autor
selbst markiert seine Absicht dabei immer wieder modal mit dem Verb
wollen. Das Ich will etwas tun, das Man soll etwas tun.
Dürers mangelnde inhaltliche Durchsichtigkeit und fehlende Begriffs-
klarheit bei der Erläuterung der Zentralperspektive, auf die etwa Schröder
(1980, 31) hinweist, und die im Gegensatz zur übrigen Vnderweyſung steht,
kann seitens der grammatischen Struktur nicht bestätigt werden. Hier zeigt
sich Dürer als reflektierter Autor, der bei der Schilderung von Perspektivi-
tätsgesetzen vollkommen andere sprachliche Mittel wählt als im Zusam-
menhang der Instruktion zur Zeichnung von geometrischen Körpern;
diese Anweisungen unterscheiden sich im Übrigen in keiner Weise von
der Schilderung des Baus von Projektionsapparaten (vgl. Camerota 2004).
Wie ich eingangs ausgeführt habe, richtet sich Dürers Interesse in wei-
ten Teilen der Vnderweyſung nicht auf eine elaborierte Darstellung zur Ge-
ometrie oder gar Reflexion geometrischer Probleme. Es handelt sich um
einen Instruktionstext und nicht um eine Theorie. Doch die Ausführun-
gen zur Perspektive sind in ihren grundlegenden Teilen genau davon eine
Ausnahme.

3. Fazit
Die Analyse grammatischer Merkmale der Raumerfassung in Dürers
Vnderweyſung zeigt, dass die instruktive Aufbereitung von geometrischen
Wissensbeständen auch eine Aufgabe der Sprache ist. Insoweit ist die
Vnderweyſung eine verschriftete Geometrie und das jenseits fachterminolo-
gischer Problemstellungen. Im Spannungsfeld von Imagination und Ab-
bildung werden Raumkonstrukte mit einem regelhaften Set sprachlicher
Ausdrücke linearisiert und referentiell erfasst. Das Ich des Autors beför-
dert mentale Bilder beim Leser, der Leser wird als Du zur Nachahmung
auf dem Papier angeregt. Die höhere Schule der perspektivischen Zeich-
nung entwickelt Dürer als rationale Theorie von Voraussetzungen und
Folgen. Seine Sprache greift in diesem abschließenden Teil auf gänzlich
andere Formbestände zurück, als dies in den übrigen Textteilen über Ge-
ometrie der Fall ist. Damit ist Dürers Vnderweyſung nicht nur ein zentraler
Text der Kunsttheorie in der Renaissance, sondern auch ein bedeutendes
Zeugnis der frühneuhochdeutschen Erfassung des Raums im Medium der
Schrift.
662 Ingo H. Warnke

Quellen

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Gibt es eine Zeitungssyntax?
Überlegungen und Befunde zum Verhältnis von syntaktischer
Gestaltung und Textkonstitution in historischen Pressetexten

Britt-Marie Schuster (Paderborn)

1. Korpusaufbau und Zielstellung des Beitrags


Im folgenden Beitrag werden Zeitungstexte aus den Jahren von 1871 bis
1931 hinsichtlich des Aufbaus und des Gebrauchs von Nominalphrasen
untersucht. Die Untersuchung ist Teil eines größeren Forschungsvorha-
bens zur Zeitungssprache zwischen 1871 und 1933, in dem die entstehen-
de Ressortgliederung, die Textsortenentwicklung und die Herausbildung
pressespezifischer Textmuster, die syntaktische Gestaltung, jedoch auch
das lexikalische Profil ermittelt werden sollen. Die Längsschnittuntersu-
chung zur Realisierung von Nominalphrasen soll Entwicklungstendenzen
aufzeigen. Dieser Bereich ist deshalb gewählt worden, weil die bisherigen
Befunde ein relativ uneinheitliches Bild bieten: Zwar kann mit Blick auf
historische Untersuchungen der Pressesprache angenommen werden, dass
der mit komplexen Nominalphrasen identifizierte komprimierte Satzbau
eine Konstante – insbesondere bei den Berichtstextsorten – darstellt.1
Jedoch lassen sich sowohl Indizien dafür finden, dass kondensierte
Strukturen zunehmend abgebaut, als auch Indizien dafür, dass sie sogar
verstärkt werden.2 Auch im Zeitraum von 1871 bis 1931 zeigen sich so-
wohl komplexe Nominalphrasen mit mehrfach erweiterten Vor- und
Nachfeldbesetzungen als auch Nominalphrasen mit einem verhältnismä-
ßig einfachen Aufbau. Püschel führt dies anhand von Beispielen aus dem
19. Jahrhundert auf unterschiedliche Stiltraditionen zurück, die in Zeitun-
gen nebeneinander existierten und einfache Gleichungen wie „Der komp-

_____________
1 Vgl. Fritz (1993, 34ff.); Demske-Neumann (1996, 70ff.; Lühr (1991, 145ff.); Schuster
(2008a); Michel (2001, 223ff.).
2 So bspw. in den Aufsätzen von Nail (1983, 30ff.); Nail (1988, 122ff.).
666 Britt-Marie Schuster

rimierte Satzbau nimmt zu“ nicht ermöglichten.3 Püschels Annahme ist


allein schon deshalb nicht unplausibel, da Zeitungen ein inhomogenes
Textsortenkonglomerat darstellen, in dem schon bewährte Textmuster
unverbunden neben textlichen Innovationen stehen können. Die Betrach-
tung einzelner syntaktischer Mittel kann, jedenfalls in der Sicht der
Sprachgebrauchsgeschichte und der historischen Textpragmatik, nicht
unabhängig von der Textsorte und vom Grad ihrer Konventionalisierung
betrachtet werden. Es ist somit nicht unerheblich, ob die Textproduzen-
ten schon einem etablierten Textmuster (z.B. bei einfachen Meldungen)
folgen oder ob Texttraditionen adaptiert werden, die anderen Kommuni-
kationsbereichen entstammen und ggf. zu Textsortenallianzen führen.
Zeitungen sind denn auch immer beides: Multiplikatoren von Sprach-
formen, die aus anderen Bereichen stammen, aber auch Generatoren von
Sprachformen, die sich aus den Funktionen der Pressekommunikation
erklären lassen. Im Bereich der Nominalphrasen kann dies bedeuten, dass
sich relativ zur Textsorte schon präferierte sprachliche Selektionen erge-
ben haben oder erst ergeben. Es muss nicht nur die Entwicklung inner-
halb einzelner Textsorten berücksichtigt werden, weshalb die Längs-
schnittuntersuchung getrennt nach informierenden und räsonierenden
Textsorten vorgenommen worden ist, sondern es muss auch die Hetero-
genität der in den Textsorten manifesten Stiltraditionen und Nähe oder
Distanz zu benachbarten Textsorten berücksichtigt werden (s. 3. und 4.).
Die Ausgangsfrage dieses Beitrags ist demnach nicht so zu verstehen,
dass es eine die Textsorten übergreifende Zeitungssyntax gibt oder über-
haupt geben könnte. Vielmehr ist danach zu fragen, ob sich anhand eines
größeren Korpus von Zeitungstexten prototypische Erscheinungsformen
und Präferenzen ausloten lassen, die u.a. auf eine zunehmende Emanzipa-
tion der Pressetextsorten von benachbarten Texttraditionen hinweisen.4
Das Korpus setzt sich aus den Zeitungen Gießener Anzeiger und Frank-
furter Zeitung zusammen. Während es sich beim Gießener Anzeiger (im Fol-
genden: GA) um eine regionale, jedoch traditionsreiche und eher konser-
vative Zeitung handelt, ist die Frankfurter Zeitung (im Folgenden: FZ) eine
überregionale Zeitung, die politisch dem Liberalismus verpflichtet ist.
Beide Zeitungen sind ihrem Selbstverständnis nach keine Boulevardme-
dien. Die Ereignisse, zu denen Zeitungsausgaben untersucht wurden, sind
von nationaler Tragweite. Herangezogen wurden Zeitungen: zur Reichs-
gründung (18.-26. Januar 1871), zur Entlassung Bismarcks (20.-27. März
1890), zu den Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912, aus der die SPD als
stärkste Partei hervorging (12.-19. Januar 1912), zum Inkrafttreten des
_____________
3 Püschel (1998, 361ff.).
4 So verstehe ich auch die Anregungen von Cherubim (1990, 269ff.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 667

Versailler Vertrags (10.-17. Januar 1920), zu den Reichstagswahlen am 20.


Mai 1928 (20.-25. Mai 1928) sowie zum Bankkrach (13.-17. Juli 1931).5
Die Ereignisse wurden aus zwei Gründen ausgewählt: Zum einen sollte
eine Ergänzung des Korpus durch andere Zeitungen leicht möglich sein,
zum anderen bedingen die Ereignisse ein breites Textsortenspektrum von
thematisch zumindest verwandten Texten. Zu jedem Ereignis wurden
immer zwei Leitartikel, zwei längere Berichte und – je nach Länge – ein
oder zwei Meldungsblöcke untersucht.
Im Zeitraum von 1871 bis 1931 verändert sich nicht nur die Presse-
landschaft im deutschen Reich, wozu unterschiedliche Faktoren wie das
Reichspressegesetz (1874), die zunehmende Kommerzialisierung (z.B.
durch die Generalanzeiger), sondern auch die zunehmende politische
Profilierung einzelner Zeitungen und technische Neuerungen beitragen.6
Wie an den beiden Zeitungen ersichtlich ist, fallen in diesen Zeitraum
auch Neuerungen, die dem Rezipienten zunehmend eine leichtere Orien-
tierung in der Zeitung ermöglichen. Dies geschieht vornehmlich durch das
Layout und eine durch Überschriften signalisierte Ressortgliederung,
durch Schlagzeilen und ab Mitte der 20er-Jahre auch durch die Verwen-
dung des Vorspanns. In diese Zeit fällt zudem die langsame Loslösung
vom einkanaligen Textmedium hin zu einem dreikanaligen Medium aus
Text, Bild und Grafik.
Auch das Textsortenspektrum unterliegt einem Wandel: Dies wird
nicht nur aufgrund der Integration neuer Themenfelder ab der Jahrhun-
dertwende deutlich (so bspw. die Sportberichterstattung), sondern auch an
der Umgestaltung zentraler Textsorten. Während vor der Jahrhundert-
wende eine erhebliche Bandbreite von berichtenden Texten mit z.T. klei-
neren und größeren kommentierenden Anteilen (z.B. durch Entrefilets)
vorhanden ist,7 finden sich im Laufe der 20er-Jahre schon nachrichten-
ähnliche Texte. Auch die räsonierenden Texte verändern sich: Im gewähl-
ten Korpus ist im 19. und punktuell auch im 20. Jh. noch, wie Püschel
herausgearbeitet hat,8 das Nachwirken der Schulrhetorik und sogar der
zeremoniellen Festrede nachweisbar. Andere Texte zeugen jedoch auch
von den Traditionen des Essays und der Glosse (z.B. durch viele ironische
Formulierungen). Wiederum andere Texte – diese fallen jedoch in das 20.

_____________
5 Das gesamte Korpus bilden zusätzlich: die Koloniegründungen (27. Februar bis 2. März
1885), die Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (27. Mai bis 2. Juni
1875), das Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 (2.-8. Januar 1900), der Ausbruch des
Ersten Weltkrieges (29. Juli bis 5. August 1914) und diverse Friedensforderungen (6.-13.
Juli 1917).
6 Vgl. auch Jakob (2000, 104f.).
7 Vgl. Püschel (1997, 176ff.).
8 Vgl. Püschel (1994, 163ff.); Püschel (1997, 176ff.).
668 Britt-Marie Schuster

Jahrhundert – weisen große Ähnlichkeiten zum heutigen Standpunkt-


kommentar auf und orientieren sich nicht mehr an antiken Redeschemata.
Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene der Textorganisation durch die
Abfolge – Thema-Setzen, Reflektieren über das Thema, abschließende
Bewertung des Themas –, sondern auch an weiteren sprachlichen Merk-
malen (z.B. an eingestreuten Argumentationssequenzen). Insgesamt ist
also zu berücksichtigen, dass sich neuartige journalistische Routinen ein-
spielen, die – wie im Falle der ausführlichen, bisweilen narrativen Ereig-
nisdarstellung – bis dato eingespielte Routinen ablösen. Die Entwicklung
ist auf der einen Seite als eine Textsortendifferenzierung aufzufassen, bei der
gerade informierende Texte sich schärfer als zuvor vom Räsonnement
abgrenzen, auf der anderen Seite zeigt sich jedoch auch eine Homogenisie-
rungstendenz, da sich die Texte der einzelnen Textgruppen tendenziell bei
noch immer vorhandenen Variationsmöglichkeiten ähnlicher werden.
In diesem Beitrag wird nun gezeigt, dass die Textsorte, die ihr inhä-
renten Stiltraditionen sowie die Profilbildung einer Zeitung einen nicht
unerheblichen Einfluss auf die Gestaltung von Nominalphrasen besitzen.
Trotz dieser Einflussfaktoren schält sich eine dominante Entwicklungs-
tendenz heraus: Sowohl in informierenden als auch räsonierenden Texten
werden Attribuierungen höherer Abhängigkeitsgrade (s. bspw. Belege 1
bis 3) abgebaut. Die anfängliche Variantenvielfalt – unterschiedlichste
Kombination von Erweiterungstypen – wird zudem stark begrenzt, so
dass übergreifend von einer Komplexitätsreduktion gesprochen werden
kann. Daneben ist eine weitere interessante Entwicklung dokumentierbar:
Der Anteil von stark bewertenden Adjektivattributen wird geringer. 1931
stellen Adjektivattribute in beiden Textgruppen fast ausschließlich eine
Hilfe zur Identifikation des jeweils thematisierten Gegenstandes oder
Sachverhaltes dar. Die Dynamik des Entwicklungsprozesses lässt sich
m.E. darauf zurückführen, dass sich ein pressespezifischer Stil mit neuen
kommunikativen Leitbildern herausschält.

2. Vorgehen
Die Untersuchung basiert auf der Transkription der ausgewählten Presse-
texte sowie auf der tabellarischen Erfassung und Klassifikation des gesam-
ten Bestandes der realisierten Nominalphrasen. Die Erfassung der Nomi-
nalphrasen der Attributstrukturen orientiert sich am Vorschlag von
Schmidt,9 für Einzelfragen wurden Engel,10 Heringer11 und Weinrich12
_____________
9 Schmidt (1993).
10 Engel (2004, 269ff.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 669

herangezogen. Es wurden für die informierenden Texte 1671 Nominal-


phrasen und für die räsonierenden Texte 1604 Nominalphrasen ausgewer-
tet. Auf der Basis der erstellten Tabellen wurde jeweils ermittelt:
1. der Anteil von attribuierten und nicht-attribuierten Nominalphra-
sen,
2. der Anteil von Nominalphrasen, die nur Attribute im Vorfeld oder
im Nachfeld gegenüber dem Anteil von Nominalphrasen, die so-
wohl Attribute im Vorfeld als auch im Nachfeld aufweisen,
3. der Anteil bestimmter Attribute im Vor- und Nachfeld und die dar-
aus ablesbaren Präferenzen,
4. der Anteil von einfach aufgebauten Nominalphrasen gegenüber
dem Anteil von Nominalphrasen, die mindestens Attribute der
zweiten Abhängigkeitsstufe aufweisen, auch verbunden mit der
Ermittlung des Anteils koordinierter und subordinierter Attribute,
5. die kotextuelle Einbettung und kohäsive Vernetzung einfacher so-
wie komplexer Strukturen,
6. die Entwicklungstendenzen, die sich zwischen 1871 und 1931 erge-
ben.
Da sich herausgestellt hat, dass Adjektivattribute über den gesamten Zeit-
raum hinweg die höchsten Werte besitzen, wurde zusätzlich ermittelt, ob
sich hier aus semantischer Hinsicht Verschiebungen ergeben. Im Folgen-
den werden nun zunächst auf der Basis der Erhebungen die Entwick-
lungstendenzen im Bereich der informierenden Texte, dann im Bereich
der räsonierenden Texte dargestellt. Es wird, wie oben kurz angedeutet,
jeweils dafür argumentiert, dass Veränderungen sich v.a. durch die Eman-
zipation von bestimmten Stil- und Texttraditionen ergeben.

3. Entwicklungstendenzen
im Bereich der informierenden Texte
Im Zeitraum von 1871 bis 1931 bleibt das Verhältnis von nicht-
attribuierten und attribuierten Nominalphrasen nahezu konstant. Bei 1671
ausgewerteten Nominalphrasen liegt der Anteil von nicht-attribuierten
Nominalphrasen (Nominalphrasen mit Nullartikel oder einem Determi-
_____________
11 Heringer (1988).
12 Weinrich (1993, S.317ff.).
670 Britt-Marie Schuster

nierer) bei durchschnittlich 42,4 %. Allerdings zeigt sich auch, dass dieser
Anteil gerade 1931 auch Spitzenwerte von 81,4 % in den Meldungen der
Frankfurter Zeitung erreichen kann. Im gesamten Zeitraum sind attributi-
ve Nachfeldbesetzungen – vom Genitivattribut bis hin zu mehrfach ge-
stuften Attributtreppen – mit einem durchschnittlichen Anteil von rund
54 % am häufigsten vertreten, gefolgt von Vorfeldbesetzungen, die in
einfacher Form, v.a. durch ein Adjektivattribut, selten durch ein Adverbi-
alattribut und in komplexer Form durch Attributionen bis zum vierten
Abhängigkeitsgrad vorliegen können. Die Kombination von attributiver
Vor- und Nachfeldbesetzung ist mit einem durchschnittlichen Anteil von
14,2 % am niedrigsten vertreten. Im Bereich der Vorfeldbesetzungen wei-
sen die Texte von 1871 und 1890 die komplexesten Muster auf, wobei die
Besetzungen – wie im folgenden Beispiel – bis zur vierten Abhängigkeits-
stufe reichen können: „das zur Beschleunigung der Feldpostsendungen an
die und von den badischen Truppen in Frankreich eingerichtete Feld-
Eisenbahn-Postbureau“ (FZ, 26.01.1871). Während durch ein Attribut
(vorwiegende Präpositionalattribute) erweiterte Partizipialattribute wie
(1) „die durch das Bombardement entstandene Verwüstung“ (GA,
25.01.1871), „einen durch lebhaftes Artilleriefeuer unterstützten
Ausfall“ (FZ, 26.01.1871), „eine der Gewerbefreiheit zuwiderlau-
fende Protektion“ (FZ, 20.03.1890) „die vom Kabinett beschlos-
sene Regierungserklärung“ (FZ, 15.03.1912)
im gesamten Zeitraum nachzuweisen sind, sind durch mehrfach gestufte
und koordinierte Attribute bzw. deren Mischformen erweiterte Partizipial-
attribute ausschließlich (!) im Zeitraum von 1871 bis 1912 nachzuweisen.
Hier ergibt sich, wie anhand der folgenden Beispiele ersichtlich wird, ein
großes Spektrum an Realisierungen:
(2) „die größten bis dahin vor Paris erreichten Schußweiten“ (GA,
25.01.1871), „ein gerechter, dem wie dem Besiegten ge-
nugthuender Frieden“ (GA, 24.01.1871), „nach ihren sechstägi-
gen, in rastlosem Vorwärtsgehen durchgeführten Kämpfen“(GA,
25.01.1871), „sehr dringliche, im wirtschaftlichen Interesse lie-
gende Bedürfnisse“ (FZ, 20.03.1890), „eine den Reisenden be-
queme und zuverlässige Verbindung“ (FZ, 20.03.1890), „die ges-
tern von der Arbeiterschutz-Conferentz gewählten Commi-
ssionen“ (GA, 20.03.1890), „der mit einer hydrografischen Mis-
sion an der Küste von Madagaskar betraute Schiffsfähnrich“
(FZ, 13. 01. 1912)
Während erweiterte Partizipialattribute im Vorfeld noch 1931 mit einem
hohen Anteil von 20 % vorhanden sind, werden komplexere Strukturen
Gibt es eine Zeitungssyntax? 671

gemieden. Der folgende Beleg ist die komplexeste Realisierung 1931:


„über diese Plätze nach Deutschland zurückgerufene Gelder“ (GA, 13.
Juli 1931), in den ausgewählten Texten von 1920 lässt sich sogar kein Be-
leg finden. Auch bei der Rechtserweiterung zeigt sich Ähnliches: Die
höchsten Anteile hat hier das einfache, nicht erweiterte Genitivattribut,
dessen Anteil von 20 % (1890, GA) bis auf den Spitzenwert von 50 %
(1931, FZ) steigt, was allein schon auf eine erhebliche Verengung der
Gestaltungsmöglichkeiten hinweist. Obgleich 1931 in GA und FZ vor-
nehmlich Genitivattribute, Präpositionalattribute und auch Akkusativattri-
bute, ggfs. mit adjektivischer Erweiterung, sowie Relativsätze gewählt
werden, zeigen sich auch noch in den 20er-Jahren relativ komplexe Nach-
feldbesetzungen: „die Schließung der Geschäfte um 4 nachmittags man-
gels jeglicher Beleuchtung“ (GA, 17.01. 1920). Der Hauptunterschied
ergibt sich dadurch, dass Häufungen von Genitiv- und Präpositionalattri-
buten sinken (von 15 = 1871, 7 = 1890, 11 = 1912, jeweils 2 = 1920 /
1928 und kein Beleg 1931) und sehr komplexe Realisierungen wie die
folgenden auch vor den 20er-Jahren liegen, vgl.:
(3) „die Angaben über die Tragweite der preußischen Projectile in
dem Umkreis des Pantheon“ (GA, 25.01.1871), „die Bespre-
chungen über die durch den Rücktritt des Kabinetts geschaffene
politische Lage“ (GA, 13.01.1912), „die Angaben der englischen
Blätter über die mehr hervortretenden Wirkungen des Bombar-
dements auf die Bevölkerung der französischen Hauptstadt“
(GA, 24.01.1871), „die Drohung des Fabrikanten mit Schließung
der Betriebe bei andauerndem Ausstande“ (FZ, 20.03. 1890)
Sehr komplexe Nominalphrasen können sich durch die Kombination von
Vor- und Nachfeldbesetzung ergeben, die sich oft über mehrere Zeilen
erstrecken und ab den 20er-Jahren kaum mehr vorhanden sind. Sofern das
Nachfeld nur durch ein Genitiv- oder durch ein präpositionales Attribut
besetzt ist, zeigt sich die oben schon skizzierte Variantenvielfalt:
(4) „die ursprünglich auf vielleicht 150,000 Mann zu bemessende
Armee Chanzy’s“ (GA, 25.01. 1871), „den verschiedentlich an-
gekündigten und wohl auch gehegten Vermittlungswünschen der
Neutralen“ (GA, 24.01.1871), „seine in den letzten Tagen unter-
brochen gewesenen regelmäßigen Fahrten bis und von Blainvil-
le“ (FZ, 26.01. 1871), „die kurze, nur 4 Monate betragende Dau-
er des Sommerfahrplanes“ (FZ, 20.01. 1890)
Gleichzeitig kann das Nachfeld jedoch ebenso komplex wie das Vorfeld
besetzt sein und zu extremer „Blockbildung“ führen:
672 Britt-Marie Schuster

(5) „die aus Versailles durch den König von Preußen erfolgte Noti-
fizierung der Aufnahme der deutschen Kaiserwürde“ (GA,
24.01.1871), „der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waf-
fengüter landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „der
von den vereinigten Riemendrehereibesitzern gefaßte Beschluß,
bei fortdauerndem Ausstand der Gesellen am 21. D. Mts. die Be-
triebe zu schließen“ (FZ, 20.03.1890), „die kaiserliche Genehmi-
gung des gestrigen Entlassungsgesuches des Fürsten Bismarck
als Reichskanzler und Ministerpräsident“ (GA, 20.03.1890)
Bei der Gestaltung der Nominalphrase zeigt sich sowohl Wandel als auch
Konstanz. Zu den Wandelerscheinungen gehören: der Abbau von Attri-
buten im Vorfeld, der Abbau von Nominalphrasen, bei denen Vor- und
Nachfeld durch komplexe Unterordnungen realisiert werden, und die
Beschränkung auf einige, besonders häufig verwendete Gestaltungen.
Konstanz lässt sich am ehesten für die Nachfeldbesetzungen zeigen,
wenngleich sich auch hier die Komplexität verringert und Attributtreppen
im Nachfeld eher vereinzelt erscheinen. Konstanz und Wandel korres-
pondieren mit textsortengeschichtlichen Entwicklungen. Denn es zeigt
sich, dass auch 1871 komplexe Nominalphrasen nicht in jedem Text mit
gleichermaßen hohen Werten realisiert werden. Während sie sich nur ver-
einzelt in Meldungsblöcken, also in Rudimentärformen des Berichtens
finden, zeigen sich Spitzenwerte in Texten, die einen beschreibenden,
bisweilen narrativen Charakter besitzen. Es handelt sich dabei um Augen-
zeugenberichte vom Kriegsschauplatz, die Elemente von Vor-Ort-Repor-
tagen aufweisen und die für die Zeitungsberichterstattung des 19. Jahr-
hunderts alles andere als ungewöhnlich sind.13 Zum anderen sind beson-
ders komplexe Realisierungen bei der Wiedergabe institutionell gebunde-
ner Vorgänge vorhanden: Das können die Diskussion von Gesetzesvor-
lagen im Parlament, (parlamentarische) Beschlussfassungen oder Wahlen
sowie die Wiedergabe juristischer Auseinandersetzungen sein. In der Regel
lehnen sich Presseberichte hier an den amts- oder rechtssprachlichen
Duktus von Originaldokumenten an, indem diese reformuliert, selten aber
direkt zitiert werden.
Bei der Kriegsberichterstattung von 1871 ist auffällig, dass zu Hand-
lungsträgern, zu temporaler und lokaler Situierung präzise Angaben ge-
macht werden. Diese präzisen Angaben können zumeist zu einer extre-
men Belastung des Vorfeldes oder Nachfeldes führen.
(6) „etwa 2000 Ellen vom Fort entfernte Stellung“ (GA, 25.01.
1871), „die bei der Schlacht am 19. d. Mts. betheiligten deut-
_____________
13 Püschel (1991, Bd. 3, 34f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 673

schen Truppen“ (GA, 25.01.1871), „die bei St. Quentin in den


Kampf geführten Truppen des Feindes“ (GA, 25.01.1871), „der
Chef des Stabes der im Nordwesten unter General v. Gochen
operirenden I. Armee, General-Major v. Sperling“ (FZ, 26.01.
1871), „in Folge der neueren Kriegsereignisse in der Gegend von
Paris“ (FZ, 26.01.1871)
Allerdings können sie auch mit weniger komplexen Realisierungen kon-
kurrieren: „20 Minuten nachher“, „eine Entfernung von 8500 Meter“ oder
„300 hadischen Fuß“ (GA, 24.01.1871). Charakteristisch für den Augen-
zeugenbericht ist, dass satzförmige Attribute oder Parenthesen, die prinzi-
piell eine Alternative darstellen könnten, nur in einem Fall zur Situierung
des Geschehens gebraucht werden: „Glatigny, nördlich und nahe dem
Thor von Versailles“ (25.01.1871). Neben präzisen Angaben werden im
Augenzeugenbericht auch Einschätzungen des Schreibenden sichtbar, die
häufig einen parteiischen Standpunkt verraten. Dies hat u.a. die Verwen-
dung stark konnotierter Adjektive als Attribute zur Folge.
(7) „ein trauriges Beispiel, das Europa gegeben werde“ (GA,
24.01.1871), „diese gewaltige taktische Niederlage“ (GA, 24.01.
1871), „ein trauriges Bild von der Unordnung, welche bei den in
Cambrai angekommenen Franzosen herrschte“ (GA, 25.01.
1871), „eine furchtbare Niederlage, von welcher sie sich schwerlich
erholen wird“ (GA, 25.01.1871), „eine sehr gedrückte Stimmung“
(GA, 25.01.1871), „die ungerechtfertigsten Anschuldigungen gegen
Trochu“ (GA, 25.01.1871), „die ungestüme Tapferkeit, mit welcher
sich die Jäger in erster Linie gegen das wiederzunehmende
Montreout stürzten“ (FZ, 26. 01. 1871)
Wie aus den Belegen hervorgeht, werden die satzförmigen Attribute vor-
nehmlich zum Prädizieren gebraucht. Daneben weisen die Texte phraseo-
logisch zu verstehende Adjektiv-Substantiv-Verbindungen wie „schnei-
dende Kälte“ (GA, 25.01.1871) oder „große Panik“ (GA, 24. 01.1871) auf.
Zu einem hohen Anteil von attribuierten Nominalgruppen trägt auch die
Schreibstrategie bei, zentrale Referenzträger oder Sachverhalte nicht durch
Proformen wieder aufzugreifen, sondern mit totaler / partieller Lexemre-
kurrenz zu arbeiten, z.B. „das Bombardement auf die Forts und Stadtthei-
le“ – „die durch das Bombardement entstandene Verwüstung“ (GA,
25.01. 1871). Dies führt zu erheblicher Redundanz und auch – aus heuti-
ger Perspektive – zu einer gewissen Langatmigkeit der Texte. Charakteris-
tisch sind auch antonymische Verknüpfungen: „von unserer herrlichen
Armee – in erbärmlicher Ausrüstung“ (GA, 24. Januar 1871). Diese Form
674 Britt-Marie Schuster

der Kriegsberichterstattung steht, wenn man auf die Zeitungen des 17.
und frühen 18. Jahrhunderts blickt, in einer langen Tradition.14
Die zweite Traditionslinie, mit deren Gestaltung komplexe Nominal-
phrasen verbunden sind, ist die Kontextualisierung eines amtssprachlichen
Duktus, die sich z.T. an den Stil der offiziellen Direktive anlehnt, der für
den Zeitungsjahrgang 1890 ebenso wie für den Zeitungsjahrgang 1912
charakteristisch ist:
(8) „der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waffengüter
landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „zu der heute
Morgen 11 Uhr im Stadthaussaale stattgefundenen Wahl von
Stadtverordneten zum Kreistage“ (FZ, 20.03.1890), „in der von
der Regierung dem Landtag gemachten Vorlage auf Errichtung
eines Floßhafens in Würzburg“ (FZ, 20.03.1890), „Ausschreiben
vom 28. Februar vom 28. Februar, betreffend die Revision des
Gerichtskostenwesens in den Jahren 1888 und 1890“ (GA,
20.03.1890)
(9) „eine sichere Einnahme von rund einer halben Million Mark aus
dem Betriebe der Staatslotterie“ (GA, 15.01.1912), „einen erneu-
ten Waffenstillstand in der Weiterbehandlung der Frage Fabrik
und Handwerk und der verwandten Fragen“ (GA, 15.01.1912),
„einen Schrittmacher zur Behandlung des Antrags der ständigen
Kommission auf Uebertragung der Arbeiten für den Hausein-
tunnel an die Firma Berger in Berlin“ (GA, 13.01.1912), „die Er-
nennung des slowenisch-klerikalen Abgeordneten Schustersitz
zum Landeshauptmann in Krain“ (FZ, 12.01.1912), „die Reich-
tagsstichwahl im 3. Pfälzischen Wahlkreis Germersheim zwi-
schen dem Kandidaten des Zentrums und dem Nationallibera-
len“ (FZ, 15.01.1912)
Der folgende Text stellt ein Beispiel für die Gestaltung informierender
Texte dar. Er weist neben komplexen Nominalphrasen charakteristische
Merkmale des amtssprachlichen Stils auf, so: Koreferenzketten, die vor-
wiegend durch Lexemrekurrenz und kaum durch Pronominalisierung
erzeugt werden, die Verwendung von Funktionsverbgefügen, die Bevor-
zugung des Relativpronomens welche, die Dislozierung von Attributstruk-
turen („die augenblickliche Regung keine vorübergehende sei“) sowie
insgesamt eher hypotaktische denn parataktische Verknüpfungen. Es darf
vermutet werden, dass sich Teile dieses Textes eng an die Vorlagen anleh-
nen und diese reformulieren. Das führt jedoch nicht notwendig zu einer
stilistisch homogenen Textur, sondern greift auch andere, schibboletharti-
_____________
14 Vgl. Schuster (2008a, 15f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 675

ge Formulierungen der Ausgangstexte auf. Diese erscheinen im Textzu-


sammenhang eher unpassend: z.B. „den Kindern und Kindeskinder der
Arbeiter“.
(10) „Barmen, 19. März. Die Kommission der vereinigten Riemen-
drehereibesitzer sagt in einer öffentlichen Erklärung: Der von
den vereinigten Riemendrehereibesitzern gefaßte Beschluß, bei
fortdauerndem Ausstand der Gesellen am 21. d. Mts. die Betrie-
be zu schließen, werde am nächsten Freitag zur Ausführung
kommen, sofern sich die Arbeiter noch länger der Einsicht ver-
schließen, daß ihre Forderungen ungerechtfertigt und für die Ar-
beitgeber unannehmbar sind. Die Betriebssperre werde zwar
auch eine Reihe Arbeiter treffen, welche dem Ausstande fern
stehen und in ruhiger Arbeit das gute Verhältniß zwischen Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern aufrecht erhalten haben; allein
jene Maßregel sei eben ein Akt der Notwehr, das gegen Verge-
waltigung schützen soll. Die schwere Verantwortlichkeit, 1800
ruhige Arbeiter brodlos gemacht zu haben, falle daher ganz auf
diejenigen, welche das letzte Wort der Arbeitgeber zum Frieden
nicht hören wollte […]. Demgegenüber betonten gestern die
streikenden Gesellen in einer großen Versammlung, daß man an
den gestellten Forderungen festhalten müße, weil die augenblick-
liche Regung keine vorübergehende sei, sondern den Kindern
und Kindeskindern der Arbeiter zugute kommen werde. Durch
die Drohung der Fabrikanten der Fabrikanten mit der Schlie-
ßung der Betriebe bei andauerndem Ausstande dürfe man sich
nicht beirren lassen […]“ (FZ, 26.03.1890)15
Institutionelle Vorgänge identifizierende Nominalphrasen mit Attribut-
treppen im Nachfeld führen nicht nur in dem Zeitraum bis 1912 zu kom-
plexen Nominalphrasen, sondern bilden bis 1931 gewissermaßen eine
Konstante, vgl.:
(11) „die nähere Prüfung der Wiederanerkennung der schweizeri-
schen Neutralität“ (FZ, 10.01.1920), „eine längere Sitzung unter
Vorsitz des Reichsbankpräsidenten Lutter“ (GA, 13.07.1931),
„der Vorschlag der Ausgabe größerer Mengen von Rentenbank-
_____________
15 Der GA macht daraus zwei kleinere Meldungen, die sich von dem zitierten Text unter-
scheiden: „Barmen, 18. März. Die heute angekündigte Versammlung der Riemendreherge-
sellen wurde auf Grund des §9 des Socialistengesetzes verboten. Barmen, 18. März. Die
Commission der Riemendrehereibesitzer veröffentlich in der ‚Westdeutschen Ztg.‘ eine
Erklärung, wonach bei der Fortdauer des Ausstandes am 21. März die allgemeine Betriebs-
sperre verhängt werden würde. Die Streikenden werden aufgefordert, die Arbeit aufzu-
nehmen, da sonst 1800 ruhige Arbeiter brodlos würden.“ (GA, 20.03.1890).
676 Britt-Marie Schuster

scheinen“ (FZ, 15.07.1931), „das Zusammenfallen der psycholo-


gisch unerfreulichen Gerüchte über die Danatbank mit den Vor-
gängen dieser Zeit“ (GA, 14. 07.1931)
Darf man nun von einer weit gehenden Konstanz ausgehen? Die Antwort
muss zwiespältig ausfallen. Einerseits muss konstatiert werden, dass diese
komplexen Gestaltungen prinzipiell möglich bleiben, andererseits zeigt
sich auch, dass sie den Duktus der informierenden Texte nur bedingt
prägen. Dies hat folgende Gründe: Zum einen vereinfacht sich die Gestal-
tung der Koreferenzketten, die Texte werden dadurch weniger redundant.
Zum anderen wird zwar auf die präzise Situierung Wert gelegt, jedoch
wiederholen und synthetisieren die entsprechenden Texte nicht mehr den
Wortlaut der Vorlage. Die Darstellung von Ereignissen emanzipiert sich
von der Chronologie des Berichteten zugunsten einer Reorganisation der
Gegenstände nach ihrer thematischen Relevanz. Ergänzend sollte auch
betont werden, dass satzförmige Attribute zur Detaillierung und Qualifi-
zierung der Information stark an Bedeutung gewinnen: „um Briefsendun-
gen für Argentinien, Paraguay, Bolivien und Chile (handeln), die in
Deutschland zwischen den Postabgängen am 3. und 8. Dezember 1911 –
an beiden Tagen ab Köln 10.45 Abends – aufgekommen sind“ (FZ,
13.01.1912). Gleichzeitig wird ein Bemühen um neutrale Darstellung er-
kennbar, so dass kaum wertende Adjektive, gelegentlich jedoch Modalad-
verbien vorhanden sind: „ein leider nur schrittweiser Abbau der Bankfei-
ertage“ (FZ, 15.07.1931). Insgesamt ist die Aussage Peter von Polenz‘ also
zu bestätigen: „Der Nominalisierungsstil emanzipierte sich von der Über-
nahme institutioneller Formen zur funktional kreativen zeitungsspezifi-
schen Ausnutzung der Komprimierungsmittel in Attribuierung und Wort-
bildungen.“16
Eine weitere Traditionslinie stellen ausführliche Quellenangaben dar.
Auch hier zeigt sich – zurückzuführen auf die weitere Professionalisierung
des Journalismus (u.a. auch durch Nachrichtenagenturen) – eine Tendenz:
Während in den Texten von 1871 und 1890 Quellenangaben noch die
Regel sind (vgl. Belege in 9), werden andere Zeitungen schon 1912 nur
noch im Einzelfall genannt. Informationen zur Nachrichtenlage treten nur
noch dann auf, wenn selbstreflexiv auf die Nachrichtenlage Bezug ge-
nommen wird (vgl. Belege in 13):
(12) „ein im sächsischen Hauptquartier befindlicher Berichterstatter
der ‚Daily News‘“ (FZ, 26.01.1871), „die Angaben englischer
Blätter über die mehr hervortretenden Wirkungen des Bombar-
dements auf die Bevölkerung der französischen Hauptstadt“
_____________
16 Von Polenz (1999, 505).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 677

(GA, 24.01.1871), „die von der deutschen Post bezogene ‚Inde-


pendance belge‘“ (FZ, 26.01.1871), „eine Depesche der französi-
schen Regierung aus Bourdeaux vom 23. 3 Uhr Abends“ (FZ,
26.01.1871).
(13) „mit dem Ersuchen um authentische Information darüber, ob
diese Pressenachrichten auf Tatsachen beruhen (GA, 15.01.
1912), „Angaben (verbreitet), die in wesentlichen Punkten falsch
sind“ (GA, 15. 01.1912), „die Blättermeldung, daß zwei hiesige
Seminaristen auf einer Harztour verschollen seien“ (FZ, 13.01.
1912), „bei dem durch die Blätter ja hinlänglich bekannten Ren-
kountre“ (FZ, 15.01.1912).
In der Entwicklung stellt es eine Konstante dar, dass mit dem Bemühen
um präzise Darstellung auch eine ausgewogene Berichterstattung einher-
geht. Sieht man einmal davon ab, dass Schibboleths von Formulierungs-
vorlagen übernommen werden, zeigen sich wertende Adjektive nur bei
direkten und indirekten Zitaten, z.B.: „stolze Freude“ oder „unauflöschli-
che Ehre“ beim Amtsantritt (FZ, 15.01.1912), „starkes Befremden“ und
„tiefe Enttäuschung“ bei den Handlungsträgern angesichts gescheiterter
Verhandlungen (FZ, 10.01.1920).
Es zeigen sich also folgende Entwicklungen:
1. Komplexe Vorfeldbesetzungen (Beleggruppe 1-3) werden in allen
Texten abgebaut, das mehrfach erweiterte Partizipialattribut verliert
an Bedeutung. Ebenso verringert sich die Anzahl von Nominal-
phrasen mit komplex strukturiertem Vor- und Nachfeld (Beleg-
gruppe 6 / 7).
2. Adjektivattribute im Vorfeld, die z.T. einen stark wertenden Cha-
rakter haben, finden sich v.a. in reportageähnlichen Texten, die in
dieser Hinsicht scharf von anderen Textformen des Berichtens zu
unterscheiden sind. Gleichzeitig kann dies als ein Beleg für eine zu-
nehmende Textsortendifferenzierung und Homogenität des textli-
chen Zugriffs gelesen werden.
3. Komplexe Nachfeldbesetzungen bleiben, sofern sie Gegenstände
aus der institutionellen Bezugswelt kennzeichnen, erhalten. Dabei
ist allerdings zu beachten, dass die Vielfalt von Realisierungsmus-
tern begrenzt wird.
678 Britt-Marie Schuster

4. Entwicklungstendenzen
im Bereich der räsonierenden Texte
Im Bereich der räsonierenden Texte müssen die beiden Zeitungen ge-
trennt voneinander betrachtet werden. Während nämlich der Anteil der
nicht-attribuierten Nominalphrasen im gesamten Zeitraum im GA bei gut
einem Drittel (32,2 %) liegt, stellen die nicht-attribuierten Nominalphra-
sen in der FZ gut die Hälfte dar (49,6 %). Im GA von 1890 liegt der An-
teil von nicht-attribuierten Realisierungen sogar nur bei 25 %, während er
zeitgleich in der FZ einen Anteil von 49 % besitzt. Bevor hier die Realisie-
rung der einzelnen Texte betrachtet wird, sollte auch betont werden, dass
der Anteil von Vorfeld- und Nachfeldbesetzungen stärkeren Schwankun-
gen unterliegt. Während sowohl im GA als auch in der FZ bisweilen auch
die Vorfeld- die Nachfeldbesetzung deutlich dominieren kann (so mit
einem Anteil von 69,8 % der Nachfeldbesetzung in FZ von 1871), pendelt
sich das Verhältnis von Vorfeld- und Nachfeldbesetzung ab 1912 deutlich
ein – ab diesem Zeitpunkt halten sich Vor- und Nachfeldbesetzung kon-
stant mit einem Anteil von je 40 % im GA und in der FZ die Waage, eine
Kombination von beiden Besetzungsarten liegt in beiden Zeitungen bei
einem durchschnittlichen Anteil von 20 %. Hinsichtlich der Gestaltungs-
möglichkeiten der Vorfeldbesetzung zeigt sich zwischen beiden Zeitungen
die Gemeinsamkeit, dass das einfache Adjektivattribut am häufigsten reali-
siert wird und dass sein Anteil bis zum Zeitungsjahrgang wiederum bis zu
sehr hohen Werten (90 % in der FZ 1931) steigt. Auch hier zeigen sich
wiederum Homogenisierungsprozesse, da komplexe Formen im betrach-
teten Zeitraum wie die folgenden aus dem Zeitungsjahrgang 1871 zuneh-
mend ausgesondert werden.
(14) „das naturgemäße, berechtigte Ergebnis einer langjährigen, ohne
Hast und Übereilung, aber stetig und unwiderstehlich vorwärts
strebenden geschichtlichen Entwicklung“ (GA, 25.01.1871), „der
endgiltige, feierliche Abschluß des 1866 zur Entscheidung ge-
brachten Kampfes zwischen dem deutschen Nationalstaat Preu-
ßen und der aus Deutschland hinausgewachsenen österreichi-
schen Nationalitäten-Monarchie“ (GA, 25.01.1871), „die zwi-
schen uns und dem gebildetsten Theile der österreichischen
Staatsangehörigen bestehende Stammesverwandtschaft“ (GA,
25.01.1871), „die kaum mehr zu bezweifelnde Kunde von der
definitiven Amtsniederlegung des größten Staatsmannes und Po-
litikers unseres Jahrhunderts“ (GA, 20.03.1890).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 679

Anders als in den Zeitungsausgaben des 20. Jhs. wird das Nachfeld der
Nominalphrase auch durch (koordinierte) Attributsätze besetzt, die z.T.
selbst wieder komplexe Nominalphrasen aufweisen, vgl.:
(15) „die deutsche Sache, die von Kaiser und Reich teils aus Schwä-
che und Unfähigkeit, teils aus Eifersucht gegen den mächtig em-
porstrebenden Brandenburger im Stich gelassen wurde“ (GA, 25.
01.1871), „kaum ein Tag verging seitdem, der nicht von ein-
schneidenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kaiser
und seinem obersten Rathgeber zu berichten und im Anschlusse
von dem bevorstehenden Rücktritte des Fürsten von Bismarck
gerüchtweise zu melden gewußt hätte […]“ (GA, 20.03.1890).
Die Belege stammen aus dem Anzeiger. Dieser unterscheidet sich also
nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses von attribuierten und nicht-
attribuierten Nominalphrasen, sondern auch hinsichtlich der Komplexität
der Nominalphrasen von der Frankfurter Zeitung. Dieser Unterschied zeigt
sich am deutlichsten in den Kommentaren zur Reichsgründung. Während
im GA das Kaisertum als konsequente historische Entwicklung gepriesen
wird, äußert sich die FZ erstaunlich skeptisch über diese politische Ent-
wicklung. Der Stil der jeweils realisierten Texte könnte nicht unterschied-
licher sein: Der GA wählt einen zeremoniellen Stil (vgl. die Belege
11 / 12), bei dem sich Wiederholungs- und Amplifikationsfiguren zeigen
und sich entsprechend komplexe Nominalphrasen ergeben. Am 20. Januar
1871 äußert sich die FZ hingegen zunächst nur kurz zur Proklamierung
des Kaiserreichs, indem sie auf die verhaltene Reaktion der Bevölkerung
verweist: „den Mangel eines allgemeineren Hervortretens von Freude,
dem Widerstand gegen jegliche Entwicklung im freiheitlichen Sinne“ (FZ,
20.01.1871). Die Zugriffsweise der FZ bleibt in den Folgetagen ironisch,
spöttelnd und bissig und fügt sich in Traditionen der politischen Essayis-
tik und Satire ein, weshalb die Bezugnahme auf Börne am Beginn des
folgenden Textes alles andere als zufällig sein dürfte:
(16) „Börne sagte einmal, Minister fallen wie die Butterbrode fallen,
immer auf die geschmierte Seite. Dieses Wort ist gewiß ebenso
wahr, wie jener andere Erfahrungssatz, daß Völker immer auf die
ungeschmierte Seite fallen […] sie fallen dann gewöhnlich auf ei-
nen schmutzigen Sandboden und sehen dann in Folge dessen so
unappetitlich aus, daß gewisse Leute dann auszurufen pflegen,
‚seh’t nur das schmutzige Volk an, wir müssen es erst ein wenig
cultiviren und menschlich zustutzen.‘ Auf diese Weise entstehen
Volksbarbiere und Volkstribune der verschiedesten Sorten und
Grade […] Nun erst hat das Volk seine eigentliche Bedeutung,
680 Britt-Marie Schuster

seine ethische Weihe erhalten da es das Haupt des Gesalbten


schmückt. […]“ (FZ, 21.01.1871).
Die Tatsache, dass in beiden Zeitungen der Anteil von Adjektivattributen
hoch ist, sagt noch nichts über die Art ihres Gebrauchs und die geradezu
gegensätzlichen Motive, die ihrem Gebrauch zugrunde liegen. Während
viele Adjektivattribute im GA entweder wertend oder ornamentativ zu
verstehen sind, wird mit der Verwendung von Adjektiven in der FZ ein
anderer stilistischer Wert – die Ironie – erzeugt. In den kommentierenden
Texten des GA dienen Adjektivattribute, darunter auch Adjektivkomposi-
ta, der fast rituellen Beschwörung der Tatkraft von Kaiser und deutschem
Volk, vgl.:
(17) „der gewaltige Fürst“, „der große Kurfürst“, „die altehrwürdige Kai-
serkrone“, „im gewaltigen Ringen“, „[ …], deren, so Gott will, na-
her Fall uns einen baldigen ruhmvollen Frieden in Aussicht stellt;
auf dem Boden der Thatsachen, die das Werk einer gewaltigen,
wunderbaren geschichtlichen Entwicklung sind; „an der Spitze seines
jugendkräftigen, eben erst dem Chaos abgerungenen Staates“, „mit
dem festen Bande warmer Theilnahme und Sympathie; eines jener
überraschenden, tumultuarischen Ereignisse, wie sie in Zeiten lebhafter
Bewegung und stürmischer Aufregung zuweilen welterschütternd
den regelmäßigen Verlauf der Dinge unterbrechen“ (Pronomi-
nalphrase) (alle Belege: GA, 25. 01. 1871).
Die Verwendung ornamentativer Adjektive steht mit der Reihung von
nominalen Kernen in einem Zusammenhang. Die darin zum Ausdruck
kommende rhetorische Schulung lässt sich auch darin erkennen, dass die
Bezeichnung einzelner Redegegenstände stark variiert, z.B.:
(18) „einen strengen Erzieher“ – „Lehrmeister, der mit einem Orga-
nisationstalent ohne Gleichen die Staatseinheit auf eherner
Grundlage befestigte“; „das siegreiche, sturmerprobte Preußen“
– „der Kern“ – „der Hort Deutschlands“ – „der deutsche Staat
der Zukunft“; „der Gegensatz zwischen ihm und Oesterreich“ –
„die beiden Nebenbuhler“ (alle Belege vom GA, 25.01.1871).
Die komplexen Nominalphrasen korrespondieren mit einem hypotakti-
schen Satzbau. Interessanterweise wird der salbungsvolle Stil vom Text
der FZ parodiert. Die verwendeten Adjektivattribute sind Ironiesignale,
die starke Distanz zur Regierungsform ausdrücken, vgl.:
(19) „große prachtvolle Zöpfe“, „fürstliche Häupter“, „prächtige Zier-
rathen“, „seine ethische Weihe“, „die schöne Facade“, „solch störend
Beiwerk bei einer Kaiserfacade“, „in blendendem Glanze“, „sein
Gibt es eine Zeitungssyntax? 681

kaiserliches Weihnachtsgeschenk“, „das kleine Geschenkchen“,


„welche edlen Beweggründe, in dem Herzen jenes zartsinnigen Kai-
serimprovisario“, „in strahlendem Golde, wie die des seligen gro-
ßen Karl“, „unter den kundigen Händen des vielgewandten Meis-
ters“ (alle Belege aus FZ, 21.01.1871).
Dass dieser, dem Genus subtile zuzurechnende Text raffiniert gestaltet ist,
zeigt sich auch daran, dass bspw. bei „solch störend Beiwerk“ eine Kurz-
form des Attributs gewählt wird, die eher für den Stil öffentlicher Sprache
im 18. Jh. charakteristisch ist und eine archaisierende Komponente besitzt.
Wie schon aus dem oben zitierten Textstück hervorgehen sollte, ist der
gesamte Satzbau wesentlich einfacher als der repräsentativ-zeremonielle
Stil des Anzeigers.
Unterschiede zeigen sich auch in den Texten zu Bismarcks Entlas-
sungsgesuch von 1890: Auch hier steht eine unkritische Lobpreisung der
Leistungen Bismarcks in dem GA („ein Mann von der weltgeschichtlichen
Größe und Bedeutung eines Otto von Bismarck“ – GA, 20.03.1890) einer
eher kritischen Stellungnahme zu Bismarck in der FZ gegenüber. Auch
hier lassen sich wieder komplexe Realisierungen der Nominalphrasen
vornehmlich im GA nachweisen.
Ein besonderes Datum stellt das Inkrafttreten des Versailler Vertrags
dar: Hier nähern sich die Werte für den GA und die FZ an und die No-
minalphrasen zeigen eine für die FZ ungewöhnliche Variantenvielfalt und
Komplexität, so bspw.: „unsere durch die natürlichen Folgen der Kriegs-
ermattung sowie durch die Rachsucht unserer Gegner geschaffene Ge-
samtlage“ (FZ, 10.01.1920). Die FZ wählt hier einen für sie – gemessen an
den vorherigen Ereignissen – eher ungewöhnlichen, nationalistischen Ton
mit bestimmten gängigen Lexemen wie Stamm, Volkskörper oder Kampf, so
„dem uns herzlich befreundeten österreichischen Stamm“, „unter furcht-
baren Kämpfen und unter Zuckungen des Volkskörpers, die […]“ (FZ,
10.01.1920). Der Versailler Vertrag wird als Gewaltakt gegen das deutsche
Volk interpretiert (alle folgenden Belege aus FZ, 10.01.1920), vgl.:
(20) „Das Stückwerk fast uneingeschränkter Gewalt, das […]“, „die
militärische Diktatur des Waffenstillstandes“, „die völkerrechtli-
che Ordnung des Gewaltfriedens“, „die Peitschenhiebe des sieg-
reichen Militarismus“, „die Racheparagraphen, die […]“, „die bil-
lige Theorie der Erniedrigung und Knebelung“, „durch die
Gewalt der Sieger“.
Dies führt im Gegensatz zu den zuvor thematisierten Ereignissen dazu,
dass im Vor- und Nachfeld sakral anmutende Adjektivattribute erschei-
nen: „Die heiligsten Kraftströme des Lebens: die der Moral und der unver-
fälschten Menschlichkeit“; „ein Unrecht gegen ewige Gesetze“. Gleichzeitig
682 Britt-Marie Schuster

wird keine Möglichkeit ausgelassen, auf die negativen Folgewirkungen des


Versailler Vertrags hinzuweisen, vgl.:
(21) „Dem schlimmsten der möglichen Übel“, „das psychisch und
moralisch Verheerendste“, „ungeheuren Schaden“, „unermeßli-
chen Schaden“, „eine Revision der schlimmsten Bedingungen“,
„diesem ungeheuerlichen, unmöglichen Vertrag“.
Im GA wird der Vertrag ähnlich interpretiert, nämlich als „die Knebelung
des Volkes“, was jedoch mit „das blitzende Schwert unserer Zuversicht“
und „unser heiliges Recht“ (GA, 17.01.1920) kontrastiert wird. Mit der
harschen Verurteilung des Versailler Vertrags dürften die Zeitungen be-
kanntlich nicht alleine gestanden haben. Im gesamten Korpus weisen die
konsensdeklarativen Texte die komplexesten Nominalphrasen auf, wäh-
rend der politischen Essayistik verpflichtete Texte höchstens Attribute der
zweiten Abhängigkeitsstufe zeigen. Anders als vielleicht zu erwarten, führt
der Bankkrach nach dem Zusammenbruch der Österreichischen Credit-
Anstalt mit Auswirkungen auf eine der vier deutschen Großbanken, die
Darmstädter und Nationalbank, nicht zu einer vergleichbaren Bearbei-
tung. Beide Zeitungen nutzen ihre Leitartikel vornehmlich zur Orientie-
rung der Rezipienten, womit der Journalist in die Rolle des Lehrmeisters
tritt. Gerade die FZ versucht, die finanzpolitischen Implikationen der
Bankkrise auszuloten – so tritt die FZ für einen rationalen Umgang mit
der Krise ein. Der Anteil an nicht-attribuierten Nominalphrasen liegt sehr
hoch (61 Prozent, FZ). Von den 61 attribuierten Nominalphrasen im
Leitartikel der FZ werden 31 nur durch ein Adjektiv erweitert. Weitere
acht Nominalphrasen entfallen auf das Muster „Adjektivattribut im Vor-
feld und Genitiv- oder präpositionales Attribut im Nachfeld“. Es fehlen
Attributtreppen im Nachfeld, sei es auch nur die einfache Abfolge von
Genitiv- und präpositionalem Attribut, ebenso wie komplexe Stufungen
im Vorfeld. Die komplexesten Realisierungen sind stilistisch markiert:
(22) „Flucht aus den kompliziertesten, undurchdringlich erscheinen-
den Sachproblemen“, „Das Gegenteil der aufs Etikett geklebten
Konzentration“, „So kindliche Phantasmen wie ein Gespann
Hitler-Severing“, „für sachliche Verknüpfung politischer Prob-
leme, außenpolitischer oder innenpolitischer“, „weit ausrollende,
vielleicht recht gefährliche politische Wellen“ (alle Belege aus
FZ, 14.07.1931).
Die Anzahl bewertender Adjektive ist mit einer Anzahl von 15 eher ge-
ring. Zudem fallen einige, idiomatisch zu verstehende Adjektiv-
Substantiv-Verbindungen darunter, so: „das stärkste Eisen im Feuer“,
„erste Bürgerpflicht“, „in ernster Stunde“ (FZ, 14.07.1931). Der Text
Gibt es eine Zeitungssyntax? 683

besitzt ferner ein interessantes stilistisches Profil: Er ist stellenweise iro-


nisch („die Herren Telephoninterpellanten“), macht von Wortspielen
Gebrauch („Das Kombinieren und Intrigieren“, „von diesem Gerede und
Gefrage“) oder weist ad-hoc-Komposita auf („Vernebelungsparolen“)
(FZ, 14.07.1931) – der Text spielt auf der Klaviatur unterschiedlicher
Interaktionsmodalitäten. Gerade die zuletzt genannten Stilzüge weisen die
räsonierenden Texte aus dem GA nicht auf. Es dominieren stark konno-
tierte Lexeme, die eine kollektive Identität beschwören, wie „die Schre-
cken der Inflation“, „unserem nationalen Selbstmord“, „Kräfteverbrauch
an der falschen Stelle“, „die rücksichtslose Finanzpolitik“, „durch das
Fegefeuer finanzieller Schwierigkeiten“, „den gefahrdrohenden Fremd-
körpern“, „den ersten Jahren des Elendsfriedens“ (GA, 14.07.1931). Zwar
zeigt sich gegenüber den konsensdeklarativen Texten der Jahre 1871 und
1890 eine Beschränkung der Variantenvielfalt im Aufbau der Nominal-
phrase, doch ist der Anteil von nur durch ein Adjektivattribut besetzten
Vorfeldern wesentlich geringer (37,5 % gegenüber 50,8 %). Obgleich sich
in drei Fällen Attributtreppen im Nachfeld (z.B. „das immer lauter wer-
dende Geraune um Zahlungsschwierigkeiten in der Bankwelt“) und in
zwei Fällen gestufte Vorfeldbesetzungen zeigen („die aus Sorge vor etwa
mangelnder Vertrauenswürdigkeit einkassierten Beiträge“), dominieren
einfache Realisierungen.
Die räsonierenden Texte zu den Wahlen von 1912 und 1928 zeigen in
beiden Zeitungen größere Gemeinsamkeiten. Diese liegen m.E. darin
begründet, dass das Kommentieren von Wahlen schon 1912 zu den wie-
derkehrenden und routinisierten Aufgaben der Journalisten gehört. Zu
ihrer Bewältigung ist es möglich, auf Lexeme und feste Wortverbindungen
der politischen Kommunikation zurückzugreifen. Auffällig ist 1912 und
1928 die hohe Anzahl von Determinativkomposita wie Mandatsverlust,
Oppositionspartei, Regierungskoalition, (große) Wähler- / Arbeitermassen, Stimmen-
zuwachs, Wahlkompromiß, Stichwahlhilfe, Parteiprogramm, Zentrumssitze oder
Linksparteien, die z.T. in Konkurrenz zu freien Formulierungen stehen. Die
Anzahl steigt von 1912 bis 1928 von einem Anteil von 9,6 % auf 13,5 %.17
Daneben finden sich charakteristische, z.T. von Phraseologismen abgelei-
tete Lexeme wie Schiffbruch, Splitterpartei oder Bergrutsch. Zudem ist der hohe
Anteil von Kollokationen / Phraseologismen auffällig: „eine schwere Nie-
derlage der bisherigen Regierung der Rechten“, “politische Konsequen-
_____________
17 Andere, für die heutige politische Kommunikation charakteristische Lexeme hingegen
erscheinen noch nicht: „bei der starken Bindung zwischen den Parteien und ihren Wäh-
lern“ statt Parteienbindung, „die von den Deutschnationalen abströmenden Wählermassen“
statt Wählerströme, „die Verteilung der Gewichte“ statt Gewichtsverteilung oder „die beiden ra-
dikalen Extreme rechts und links“ statt Links-/Rechtsextreme (alle Belege aus: FZ, 21.05.
1928).
684 Britt-Marie Schuster

zen“, „die politische Konsequenz aus den gestrigen Wahlen“, “das prak-
tisch Mögliche“, ,,unter dem Motto ‚Poincare‘“, „einen Sieg des dogmati-
schen Sozialismus“, „in geschlossener Phalanx“, „ausschlaggebender Fak-
tor“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1928). Bei der Kommentierung der Wahl
von 1928 in der FZ und im GZ ist jeweils gerade mal ein Beleg vorhan-
den, der relativ komplex ist: „Insbesondere die nicht interessenpolitisch,
sondern geistig-politisch eingestellten Massen der jungen Wähler und
Wählerinnen“ (FZ, 21.05.1928) und „Die Zeit der überlaufenen Volksver-
sammlungen, die leider allzu oft auf das persönliche zugespitzten Dialoge
von Parteigrößen jeglichen Formats“ (GA, 22.05. 1928). Wenn man von
vereinzelten Beispielen 1912 absieht, so zeigt sich insgesamt eine große
Konstanz. Die Hauptunterschiede zwischen der Wahlberichterstattung
von 1912 und 1928 sind die, dass im Nachfeld mehrere Attributsätze mit-
einander koordiniert werden, was 1928 nur einmal der Fall ist, und dass
mittels eines satzförmigen Attributes an ein Genitivattribut angeschlossen
wird, vgl.
(23) „auf das Konto der zahlreichen ‚Mitläufer‘, die ihr als der radi-
kalsten Partei wegen der allgemeinen Verärgerung, ja, Empörung
des deutschen Volkes aus allen Parteien zuströmten“, „ange-
sichts der großen sozialdemokratischen Wahlerfolge, die ihn zur
Magd der Sozialdemokratie erniedrigen und die Lösung der na-
tionalen Aufgaben im kommenden Reichstag erschweren“, „die,
statt den Damm, den der Liberalismus gegen die ‚rote Flut‘ bilde-
te, zu schirmen, verkündeten, Nationalliberale und Fortschrittler
seien bei den Wahlen der Sozialdemokratie gänzlich gleich zu
achten und daher ebenfalls auf schärfste zu bekämpfen“ (alle Be-
lege aus GA, 22.05.1912).
Ansonsten zeigt sich auch das, was sich schon bei den informierenden
Texten als allgemeine Tendenz ausmachen ließ: das durch mehr als ein
Attribut erweiterte Partizipialattribut, das gelegentlich auch im Nachfeld
auftritt, vgl.:
(24) „den vielfach fast mehr gegen links als gegen rechts gerichteten
Kampf“, „ohne restlose Unterstützung der ihnen politisch am
nächsten stehenden Partei“, „einen einigermaßen klaren Über-
blick über die durch den ersten Gang der Reichstagswahlen ge-
schaffene Situation“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1912), „ein Teil
der Schuld an dem für ihn ungünstigen Ausgang der Hauptwah-
len“, „sein in nationalen Dingen ebenso unzuverlässiger An-
hang“ (alle Belege aus GA. 22.05.1912).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 685

Außerdem wird deutlich, dass in beiden Jahrgängen kaum wertende Ad-


jektivattribute eingesetzt werden. Wertungen erfolgen zumeist durch No-
minalkomposita wie Desperadopolitik oder Wahlkartell.
Es zeigen sich folgende Entwicklungstendenzen:
1. Die Gestaltung räsonierender Texte variiert stark. Konsensdeklara-
tive, dem integrativen Sprachspiel angehörende Texte zeigen kom-
plexe Nominalphrasen. Essayistische oder der Glosse nahestehende
Texte weisen einen wesentlich geringeren Grad an Komplexität auf.
2. Deutet man den Bankkrach als einschneidendes Ereignis, das im
Prinzip auch zur Beschwörung nationaler Identität dienen könnte,
könnte man die Tatsache, dass entsprechende Texte nicht erschei-
nen, vorsichtig als eine Nivellierung von Stiltraditionen deuten.
Hier müssten weitere Untersuchungen erfolgen. Deutlich ist hier al-
lerdings, dass die Struktur der Nominalphrasen eher einfach ist.
3. Die Kommentierung der Wahlen unterscheidet sich in beiden Zei-
tungen wenig. Die Komplexität der Nominalphrasen unterscheidet
sich 1912 und 1928 kaum, wenngleich die komplexesten Muster
1912 realisiert werden. Auffällig ist hier wie auch in den Texten von
1931 die Abwendung von wertenden Adjektivattributen.

5. Fazit und Perspektiven


Grundsätzlich zeigt sich die Entwicklung, dass sowohl in informierenden
als auch räsonierenden Texten Komplexität abgebaut wird. Dabei werden
sich die Nominalphrasen auch strukturell ähnlicher. Diese Komplexitäts-
reduktion betrifft v.a. das Vorfeld, wobei sich allerdings auch im Nachfeld
Präferenzen ausbilden. Zu den Mustern, die spätestens in den 20er- Jahren
nicht mehr realisiert werden, gehören bspw. komplexe, mehrfach gestufte
Vorfeldbesetzungen oder längere subordinierte Attributtreppen im Nach-
feld. Im Vorfeld entfällt v.a. die asyndetische, syndetische oder sogar poly-
syndetische Reihung von Adjektivattributen. Zurückgedrängt werden
erweiterte Partizipialattribute, besonders im Vorfeld, jedoch auch im
Nachfeld. Die Kombination von Vor- und Nachfeldbesetzung, sofern
überhaupt noch vorhanden, reduziert sich auf das Muster ‚vorangestelltes,
stellenweise erweitertes Adjektivattribut und nachgestelltes Genitiv- oder
Präpositionalattribut‘. Attributsätze tauchen fast ausschließlich im An-
schluss an ein Kernsubstantiv auf. Dass der Anteil komplexer Nominal-
phrasen rückläufig ist, ist sowohl in informierenden als auch in räsonie-
686 Britt-Marie Schuster

renden Texten der Tatsache, dass Redundanz abgebaut wird, zu verdan-


ken.
Wenngleich aus jeweils anderen Gründen ist eine weitere Entwick-
lungstendenz der Abbau wertender oder ornamentativer Adjektivattribute
zugunsten von Adjektivattributen, die eine Identifikationshilfe bilden. Es
liegt m.E. nahe, die Entwicklungstendenzen auch als eine Entwicklung hin
zum modernen Journalismus zu sehen. Viele der Entwicklungstendenzen
zeigen sich besonders ausgeprägt in den Jahren 1928 und 1931, woraus zu
folgern ist, dass die Zeitspanne von 1918 bis 1933 noch einmal gesondert
zu untersuchen wäre – was schon vielfach gefordert, jedoch von sprach-
mediengeschichtlicher Seite noch eingelöst werden müsste. Für den mo-
dernen Journalismus ist bedeutend: die allmähliche Etablierung des Text-
musters Nachricht zuungunsten der Textsortenhybride, für die hier
prototypisch der Augenzeugenbericht vom Kriegsschauplatz angeführt
werden kann; die Verabschiedung von Textmustern, die der Schulrhetorik
verpflichtet sind und die Wahl eines Stils mittlerer Formalität. Der Stil
mittlerer Formalität zeigt sich schon früh in der Adaption der politischen
Essayistik, wofür prototypisch die Kommentierung der FZ zur Reichs-
gründung steht, er zeigt sich aber auch wohl, wo sich besondere Berichts-
routinen einspielen (z.B. bei der Wahlberichterstattung). Wenngleich im-
mer wieder komplexe Nominalphrasen zu finden sind, zeigt sich hier eine
Abwendung von komplexen Nominalphrasen zugunsten von Determina-
tivkomposita, ad-hoc-Komposita, jedoch auch Formen sprachlicher Krea-
tivität – sei es in der Imitation eines saloppen Tonfalls oder in ironischen
Formulierungen.
Ein sicherlich lohnenswertes Unterfangen wäre es, den Einfluss kultu-
reller Strömungen, z.B. der Neuen Sachlichkeit auf den Journalismus auch
aus sprachlicher Perspektive zu untersuchen. Für den Journalismus –
grosso modo – scheint mir, beziehe ich auch heutige Entwicklungsten-
denzen ein,18 eher die sich schon in den 20er-Jahren ergebende Verschie-
bung von einem komprimierten zu einem stark segmentierten Stil auffällig
zu sein. Zugleich dürfte die Untersuchung auch gezeigt haben, dass –
neben übergreifenden Tendenzen – auch die (gesellschafts)politische
Orientierung eines Blattes nicht unerheblich ist.

_____________
18 Schuster (2008b, 161f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax? 687

Quellen

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20., 21. März 1890, vom 13., 15. Januar 1912, vom 10., 11. Januar 1920, vom 21.,
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Gießener Anzeiger. General-Anzeiger für Oberhessen. Ausgaben vom 24., 25., 26. Januar
1871, 20., 21. März 1890, 13., 15. Januar 1912, vom 16., 17. Januar 1920, vom 21.,
22. Mai 1928 und 13., 14. Juli 1931.

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688 Britt-Marie Schuster

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Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
in den Hermannstädter Ratsprotokollen
der Zeit 1556-1562

Dana Janetta Dogaru (Sibiu) ∗

1. Forschungsgegenstand
Dass die Sätze in den kanzleisprachlichen Texten aus der frühen Neuzeit
einen beträchtlichen Umfang und eine tiefgestaffelte Struktur haben, ist
ein allgemein bekannter Topos in der syntaktischen Beschreibung früh-
neuhochdeutscher Texte aus dem binnendeutschen Sprachraum. Erinnert
sei hier nur an das „Ungetüm“ mit 44 hypo- und parataktisch verknüpften
Sätzen und einer Abhängigkeit der Gliedsätze bis zum 15. Grad aus dem
Schreiben des Erzbischofs Werner von Trier und des Kurfürsten Ludwig
III. von der Pfalz an den Bürgermeister und Rat von Frankfurt aus dem
Jahre 1411.1
Die Frage, die sich einem Sprachwissenschaftler aus Siebenbürgen
stellt, ist, ob sich dieses prägende syntaktische Kennzeichen frühneuhoch-
deutscher Urkunden auch in zeitgleichen Amtstexten aus der geografisch
zwar entfernten, politisch und wirtschaftlich aber in engem Kontakt zum
geschlossenen deutschen Sprachgebiet stehenden Sprachinsel findet. Ziel
des vorliegenden Aufsatzes ist es darzulegen, welchen Aufbau gramma-
tisch und inhaltlich fertige Sätze in den siebenbürgischen Urkunden des
16. Jahrhunderts haben. Im Einzelnen sind mithin 1. der Umfang der
Elementarsätze, d.h. die Anzahl der Satzglieder und die Anzahl sie konsti-
tuierender Wörter, 2. die Anzahl der Elementarsätze in einem gramma-
tisch und inhaltlich geschlossenen Ganzsatz und 3. die Verknüpfungsstra-
tegien der Elementarsätze zu einem Ganzsatz, d.h. die hierarchischen
Verhältnisse in den Ganzsätzen zu beleuchten.
_____________
∗ Die Recherchen zu meinen Archivstudien wurden dankenswerterweise von der Marga und
Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert.
1 Vgl. Admoni (1980, 44ff.); Admoni (1972, 245) gibt 45 Sätze an.
690 Dana Janetta Dogaru

Terminologisch wird als Elementarsatz in Anlehnung an W. Admoni


die Satzeinheit bezeichnet, die strukturell die Merkmale eines selbständi-
gen Satzes aufweist, ohne dass aber ihre strukturelle Abgeschlossenheit
oder ihre Rolle im Textfluss berücksichtigt wird. Dem Elementarsatz steht
der Ganzsatz gegenüber, der „gerade durch die strukturelle Abgeschlos-
senheit gekennzeichnet wird“.2 Ein Elementarsatz ist also der inhaltlich
und grammatisch selbständige Aussagesatz (der zugleich in diesem Fall
auch Ganzsatz ist), der Hauptsatz, dem ein oder mehrere Elementarsätze
untergeordnet sind, aber keiner übergeordnet ist, und der Gliedsatz, der
die Kennzeichen grammatischer Abhängigkeit aufweist. Als Ganzsatz
fungieren außer dem Aussagesatz die Satzverbindung (= die Reihung von
Aussagesätzen), das Satzgefüge (= Hypotaxe von Hauptsatz und einem
oder mehreren Gliedsätzen) und die Gefügereihe (= Kombination von
Satzgefügen).3

2. Vorgehensweise
Für die Analyse wurde das Corpus fortlaufend elektronisch erfasst, auf der
Satzebene analysiert und mit grammatisch kodifizierten Kürzeln verse-
hen.4 Mithilfe eines Computerprogramms wurden im nächsten Schritt
Sortierungen nach den Parametern der Fragestellung vorgenommen: die
Auslese der Elementarsätze, der Ganzsätze, letztere als Aussagesätze,
Satzverbindungen, Satzgefüge und Gefügereihen unterschieden, und der
Parataxen auf der Hauptsatz- und Gliedsatzebene. Die Gliedsätze wurden
hinsichtlich ihrer Funktion, des Abhängigkeitsgrades und ihrer Stellung
gegenüber dem übergeordneten Elementarsatz ausgewertet.
Die rasche Bündelung der Ergebnisse ist nicht nur arbeitsökonomisch
von Vorteil – denn nach der syntaktischen Kodierung sind beliebig unter-
schiedliche Sortierungen möglich –, sondern auch die quantitative Erfas-
sung des Materials ist rechnerisch als zuverlässig zu bewerten, wenn auch
Fehler beim Zählen nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.5

_____________
2 Admoni (1982, 255).
3 Vgl. Dogaru (2006, 97f.).
4 Die Vorgehensweise geht auf Rössing-Hager (1972, 276ff.) zurück.
5 Zum rechnerunterstützten Analyseverfahren vgl. Dogaru (2006, 29ff.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 691

3. Das Corpus
Das Corpus der vorliegenden Untersuchung bilden 31 vom königlichen
Notar in der Zeit von 1556 bis 1562 verfasste Sitzungsprotokolle des
Hermannstädter Magistrats in einem Umfang von 44 eng beschriebenen
Seiten, die im Manuskript die Seiten 359 bis 414 umfassen.6 Der in ge-
presstes braunes, mit Verzierungen gestanztes Leder gebundene Band
Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dom-
mini 1522 feliciter ceptum et congestum (im Folgenden als MagProt bezeichnet)
umfasst 446 beschriebene (und 61 unbeschriebene) Seiten. Die Wahl der
genannten Zeitspanne ergibt sich aus zwei Gründen: Zum einen erfolgen
erst ab dem Jahr 1556 Eintragungen vermehrt in deutscher Sprache,7 zum
anderen stammen alle Protokolle dieser Zeit von einem und demselben
Notar, Joannes Rhyssus, was somit eine einheitliche Sprachverwendung
gewährleistet. Aufgrund der vorzufindenden Korrekturen durch Hinzufü-
gen oder Durchstreichen von Wörtern8 ist davon auszugehen, dass Rhys-
sus die Protokolle im Nachhinein anhand von während der Sitzungen
angefertigten Vorlagen im Protokollbuch niedergeschrieben hat; es han-
delt sich mithin um reflektierte Schriftlichkeit.9 Dokumentiert werden
Übertragungen von Immobilien und Kaufgeschäfte über solche, die nur
mit Wissen und Einwilligung des Hermannstädter Magistrats erfolgen
durften – vermutlich aus der Gefahr einer Übergabe an Fremde, d.h. an
solche, die nicht Siebenbürger Sachsen waren, heraus und als Gewähr
dafür, dass die Minderjährigen nicht um ihr Erbe betrogen werden oder
die Eltern nicht in eine sie benachteiligende Lage geraten.10 Akten des
Hermannstädter Stadt- und Stuhl-Magistrats sind erst aus dem Jahr 1701
erhalten, können also nicht Untersuchungsgegenstand für die frühneu-
hochdeutsche Sprachepoche sein.11

_____________
6 Es handelt sich um erste Untersuchungen zur syntaktischen Gestaltung siebenbürgischer
Amtstexte. Außer den Produktionen der Hermannstädter Magistratskanzlei müssten (zu-
mindest) die Dokumente aus der zweiten großen siebenbürgischen Kanzlei Kronstadt
(rum. Braşov) gesichtet werden. Zum Corpus der Hermannstädter Ratsprotokolle liegen
zwei Syntax-Studien vor: eine Untersuchung zum Verbalkomplex (vgl. Dogaru 2006-2007)
und eine zum Repertoire der Gliedsätze (vgl. Dogaru 2009).
7 Ab 1521, dem Jahr, aus dem die ersten Protokolle stammen, bis 1556 werden die Sitzungs-
protokolle auf Latein niedergeschrieben.
8 An einer Stelle (MagProt, 413) wird sogar ein ganzer Teilsatz am Seitenrand ergänzt.
9 Hierzu Dogaru (2009, 72).
10 Zum Inhalt der einzelnen Protokolle vgl. Duzinchevici / Buta / Gündisch (1958).
11 Vgl. hierzu ebd., 5; Zimmermann (1901, 73ff.).
692 Dana Janetta Dogaru

4. Umfang der Elementarsätze


Die Länge eines Elementarsatzes geht in den untersuchten Hermannstäd-
ter Ratsprotokollen mit seinem textfunktionalen Status und inhaltlichen
Gehalt einher. Zudem scheinen die stereotypen Formulierungen gewisse
zeitgebundene Merkmale aufzuweisen. So benennt der formelhafte Einlei-
tesatz in den Protokollen der ersten beiden Jahre und gegen Ende der
Untersuchungszeit in durchschnittlich elf Wörtern die Amtspersonen und
die Sprechhandlung und enthält den Verweis auf das vorliegende Schrift-
stück. Das Subjekt ist eine pronominale Wortgruppe mit dem Personal-
pronomen der 1. Person Plural als Kern, dem appositiv eine Substantiv-
koordination, die Aufzählung der richtenden Personen mit Angabe ihres
Amtssitzes enthaltend, zugeordnet ist. Als Prädikat fungiert das dreiteilige
Funktionsverbgefüge mit performativer Funktion thun zu kundt, der Ver-
weis erfolgt mit dem amtssprachlichen deiktischen Adverb hie mit / hirmit:
(1) Mir BurgerMeyster, Richter vnd Ratth in der Stadt hermanstatt thun zu
kundt hiemitt (MagProt, 376).
In den restlichen Protokollen erscheint der erste Elementarsatz kürzer,
indem das Subjekt auf das Personalpronomen allein beschränkt wird. Das
prädikative Funktionsverbgefüge bleibt erhalten, nur gelegentlich wird der
nominale Teil um ein synonymes Substantiv erweitert:12
(2) Mir thuen hiemit zu wissen vnd zu kundt (MagProt, 394).
Die Angabe der Streitparteien erfolgt je nach Ausführlichkeit der Perso-
nalangaben – neben dem Eigennamen stehen Familienstand und Ver-
wandtschaftsbeziehungen – in bis zu 60 Wörtern, die Angabe der Anklage
meist nur durch das entsprechende Sprechaktverb, auch dieses wie die
performativen Funktionsverbgefüge oft als Paarformel realisiert:
(3) vnd haben vns fürgebracht vnd angeczeigt (MagProt, 378).
Der vorgetragene Sachverhalt wird in Elementarsätzen mit einer Durch-
schnittslänge von zwölf Wörtern, in der Regel verteilt auf drei Satzglieder,
wiedergegeben:
(4) wie das sein gemelter Styepf vatter Jacab Kerner, das zweteill […]13 gancz
vnd garr volkömlich außgegeben vnd ausgerichtet hett (MagProt, 373).

_____________
12 Er wird in einem solchen Fall also zu einer Paarformel ausgebaut. S. dazu auch weiter
unten.
13 Häufig werden die Elementarsätze durch Attributsätze erweitert, s. hierzu Absatz 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 693

Der formelhafte Abschlusssatz mit der amtlichen Beglaubigung des


Schriftstücks enthält im Durchschnitt 15 Wörter:
(5) des zu vrkundt, hierin in das Stattbuch haben wollen lassen einschreiben.
Jm Jar vnd tag, wie oben (MagProt, 370).
Der Umfang eines Elementarsatzes wird sehr häufig durch Parataxe ver-
größert: Auf der Wortebene werden Simplizia aller Wortarten nach kanz-
leisprachlichem Usus zu Paarformeln und Mehrgliedrigkeiten erweitert.14
Die Glieder stehen in gedanklich-logischer Beziehung zueinander, so dass
die formale Erweiterung mit inhaltlicher einhergeht: habenn vns […] für-
getragen vnd angezeigt (414), haben vns gebetten vnd angelanget (MagProt, 373),
oder aber sie sollen durch die „künstliche“ Erweiterung den Inhalt nach-
haltiger zum Ausdruck bringen:15 bestendig vnd bey krepften bleiben (MagProt,
360), [der teill Pryepf … durch die Brunst] verbrent vnd vmbkomen ist (MagProt,
360), zu einem ewigen vnd stetten kauff (MagProt, 370), in beywesen vnd kegenwert
(MagProt, 390). Die rhetorische Kraft der Zweigliedrigkeit wird zuweilen
durch Alliteration verstärkt: mitt willen vnd wissen (MagProt, 359), verhörtt vnd
vernomen [hatten] (MagProt, 369), [auff seine fleissige] bitte vnd begehr (MagProt,
376).
Auf der Satzebene erfolgt die Umfangserweiterung eines Elementar-
satzes durch die sprachökonomisch begründete Anfügung neuer Satzglie-
der an einen bestehenden Satzteil (Teilsatzbildung).16 Bei den 162 Aussa-
ge- und Hauptsätzen hat die Teilsatzbildung einen Anteil von gut einem
Viertel (27,7 %), bei den Gliedsätzen ist diese Art der Satzerweiterung
weniger ausgebaut – vermutlich um die parataktische Inbezugsetzung bei
gleichzeitiger Hypotaxe nicht zu gefährden. Von den insgesamt 534
Gliedsätzen weisen 94 (17,6 %) Teilsatzbildung auf. Die Tiefenstaffelung
hat einen „negativen“ Einfluss auf die Teilsatzbildung, denn schon in
Gliedsätzen dritten Abhängigkeitsgrades werden nur noch in Einzelfällen
Satzgliedgruppen über in der Oberflächenstruktur einmal gesetzte gemein-
same Elemente verbunden. Tabelle 1 veranschaulicht die quantitativen
Verhältnisse der Gliedsatzausbildung mit Teilsätzen und ohne solche nach
Abhängigkeitsgrad:

_____________
14 Zur Struktur und Funktion der Paarformeln vgl. z.B. Schmidt-Wiegand (1984, Sp. 1387-
1393) u. Schmidt-Wiegand (1991, 283-299).
15 Haage (1974, 29) stellt für die offizielle, gehobene Sprachebene von der Mitte des 14. bis
Mitte des 17. Jahrhunderts fest: „Nicht die inhaltliche Seite der synonymen Wiederholung,
sondern ihre formal-rhetorische steht im Vordergrund: das ‚Schmücken‘ der Rede mit dem
mehrgliedrigen Ausdruck“.
16 Zum Wesen der Teilsätze vgl. z.B. Dogaru (2006, 377f.).
694 Dana Janetta Dogaru

Gliedsätze mit
Abhängigkeitsgrad „einfache“ Gliedsätze
Teilsatzbildung
g117 195 66
g2 136 21
g3 78 5
g4 28 1
g5 2 1
g6 1 -
Gesamt: 534 440 94
Tabelle 1: Anzahl der „einfachen“ Gliedsätze und jener mit Teilsätzen nach Abhängigkeitsgrad

Die Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze beläuft sich sowohl in


den Aussage- / Hauptsätzen als auch in den Gliedsätzen in der Regel auf
zwei. Es findet sich allerdings auch ein nennenswerter Anteil dreigliedriger
Mehrfachsetzungen, vier und mehr Teilsätze sind dann Ausnahmen, wie
der Tabelle 2 für die Aussage- / Hauptsätze und der Tabelle 3 für die
Gliedsätze zu entnehmen ist:

t1+t2 33
t1+t2+t3 10
t1+t2+t3+t4 1
t1+t2+t3+t4+t5+t6 1
Tabelle 2: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Aussage- / Hauptsätzen

t1+t2 48
t1+t2+t3 12
g1
t1+t2+t3+t4 4
t1+t2+t3+t4+t5+t6 2
t1+t2 13
g2 t1+t2+t3 6
t1+t2+t3+t4 2
t1+t2 4
g3
t1+t2+t3 1
g4 t1+t2+t3 1
g5 t1+t2 1
Tabelle 3: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Gliedsätzen

_____________
17 Zur Auflösung der Kodierungen s. Abkürzungsverzeichnis.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 695

5. Umfang der Ganzsätze


5.1. Ausbildung der Ganzsätze

Die Ausbildung der Ganzsätze erfolgt in den Sitzungsprotokollen in 135


Fällen in Form von Satzgefügen bzw. Satzgefüge-Reihen und nur in 27
Fällen als einfache Aussagesätze, womit die Hypotaxe deutlich als prägen-
des Mittel der Satzverknüpfung bewertet werden kann.18 Hierbei ist an-
zumerken, dass zu den Aussagesätzen auch die formelhaften Abschluss-
sätze mit der Infinitivgruppe des zu vrkundt gezählt werden, die, genau
genommen, ebenfalls in einem hypotaktischen Verhältnis mit dem Rest-
satz stehen:
(6) Dieses zu vrkundet Krapft vnd Macht, haben Mirs hierein Jns Stadbuch
lassen Einschreiben. Am 17. tag Julij Jns Jar Nach Christi geburtt 1556.
(MagProt, 360).

Anzahl der Gliedsätze pro Satzge-


Anzahl der Satzgefüge
füge
h+ 1g 34
h+ 2g 20
h+ 3g 21
h+ 4g 14
h+ 5g 13
h+ 6g 9
h+ 7g 6
h+ 8g 4
h+ 9g 5
h + 10 g 1
h + 11 g 2
h + 12 g 2
h + 14 g 2
h + 16 g 1
3g 1
Tabelle 4: Häufigkeitsvorkommen der Satzgefüge nach der Anzahl der Gliedsätze

Die 135 Satzgefüge und Gefügereihen haben insgesamt 534 Gliedsätze,


die sich unmittelbar bzw. mittelbar auf die Hauptsätze wie in Tabelle 4
dargestellt verteilen.

_____________
18 Zum überdurchschnittlichen Anteil der Hypotaxe in Kanzleitexten vgl. neben den erwähn-
ten Untersuchungen von Admoni (1980) auch Brooks (2006, 22ff.).
696 Dana Janetta Dogaru

Nicht nur die Anzahl der Satzgefüge gegenüber der Zahl einfacher
Aussagesätze ist also hoch, auch die Anzahl von Satzgefügen mit mehre-
ren Gliedsätzen pro Hauptsatz ist signifikant, wenn auch die Hauptsätze
mit nur einem einzigen Gliedsatz quantitativ führend sind. Die Hypotaxe
als Bauprinzip der Ganzsätze in den Hermannstädter Sitzungsprotokollen
spiegelt sich zudem auch qualitativ in der hierarchischen Verknüpfung der
Elementarsätze, wie nachfolgend zu sehen sein wird.

5.2. Tiefenstaffelung der Satzgefüge

Die relativ große Anzahl der Gliedsätze pro Satzgefüge geht einerseits mit
einer tief reichenden Staffelung und andererseits mit der zwei- und mehr-
gliedrigen parataktischen Anordnung der Gliedsätze und der Unterord-
nung zweier funktional unterschiedlicher Gliedsätze unter einen einzigen
Regenzsatz einher. Obgleich einer der Gliedsätze im letzten Fall in der
Regel ein Attributsatz ist, zeigt sich eben in dieser Fähigkeit eines Satzes,
zwei Unterordnungen zugleich zu tragen, die Festigkeit der Hypotaxe als
Strukturmittel des Satzbaus.19
Die Gliedsätze ersten Grades überwiegen zwar (s. Tabelle 5), diejeni-
gen zweiten, dritten Grades und gar vierten Grades haben aber ebenfalls
einen bemerkenswerten Anteil an der hypotaktischen Satzbildung:

Abhängigkeitsgrad g1 g2 g3 g4 g5 g6
Anzahl der Gliedsätze 261 157 83 29 3 1
Tabelle 5: Tiefenstaffelung der Satzgefüge

Die große Anzahl der tiefer gestaffelten Gliedsätze, gemeint sind solche
dritten und höheren Grades, geht vor allem auf die Verwendung von At-
tributsätzen, häufig sprachökonomisch als Partizipialkonstruktion reali-
siert,20 zurück (s. Tabelle 6).

_____________
19 Es bleibt zu prüfen, ob die Hypotaxe auch beim Wortgruppenbau mit gleicher Wirksam-
keit zum Tragen kommt.
20 Die Partizipialkonstruktionen kommen in einem Prozentsatz von 20,1 der Attributsätze
vor (vgl. die absoluten Zahlen bei Dogaru 2009, Tabelle 1).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 697

Abhängigkeitsgrad Gliedsatzfunktion Anzahl


Attributsätze 49
g3
Restliche Gliedsätze 34
Attributsätze 9
g4
Restliche Gliedsätze 20
Attributsatz 2
g5
Kausalsatz 1
g6 Attributsatz 1
Tabelle 6: Frequenz der tiefer gestaffelten Gliedsätze nach Funktion

Die Attributsätze werden meist an das Bezugswort unmittelbar ange-


schlossen; dies deutet auf eine Konstruktionsweise hin, bei der semantisch
Zusammengehörendem der Vorzug gegenüber syntaktischer Kohäsion
gegeben wird.21 Noch sichtbarer wird die Relevanz der Tiefenstaffelung
als Bauprinzip der Ganzsätze in den Sitzungsprotokollen des Hermann-
städter Magistrats, wenn man sie mit der der Satzgefüge in zeitgleichen
Predigten22 vergleicht:

Abhängigkeitsgrad g1 g2 g3 g4 g5 g6
Anzahl der Gliedsätze 1130 405 95 14 10 2
Tabelle 7: Tiefenstaffelung der Satzgefüge in zeitgleichen siebenbürgischen Predigten

Die Gliedsatzreihen sind in der Regel zweigliedrig, so dass die Anreihung


der Informationen das zeitgleiche Unterordnen auf mehreren Stufen nicht
außerordentlich zusätzlich belastet. Die koordinierten Gliedsätze werden
aber nicht selten durch Teilsatzbildung weiter ausgebaut, was dann doch
zu sehr umfangreichen Satzgebilden führen kann (s. die nachfolgenden
Belege).

5.3. Struktur der Satzgefüge

Zunächst einige Begriffsbestimmungen zu den Strukturausprägungen der


Satzgefüge: Steht der Hauptsatz am Anfang und folgen ihm alle Gliedsät-
ze, nach dem Abhängigkeitsgrad geordnet, wird das Satzgefüge als fallend
bezeichnet. Gehen alle Gliedsätze dem Hauptsatz voran, wird es steigend
_____________
21 Hierzu Absatz 5.3.4.
22 Es handelt sich um die Predigten in deutscher Sprache des siebenbürgisch-sächsischen
Pfarrers Damasus Dürr; vgl. Dogaru (2006, 301).
698 Dana Janetta Dogaru

genannt. Die Kombination der beiden Typen ergibt das steigend-fallende


Satzgefüge. Neben dieser kontinuierlichen abhängigkeitskonformen Anord-
nung kann ein Gliedsatz in den übergeordneten Elementarsatz eingebettet
bzw. ihm vorausgestellt werden. Es entsteht eine sog. Neststruktur bzw.
eine abhängigkeitswidrige Diskontinuität.23
Die Komposition der Satzgefüge schließt sich in den Sitzungsproto-
kollen weitgehend dem Inhalt an (wie auch der Umfang der Elementarsät-
ze), so dass sich die kompositionellen Typen in allen Protokollen in –
mehr oder weniger – gleicher Abfolge finden. Sie erscheinen selbstver-
ständlich nur selten in dem dargestellten reinen Zustand, vielmehr zeich-
nen sich die Satzgefüge durch eine inhaltsbedingte Vermengung der
Kompositionstypen aus, wobei eine allgemeine Erscheinung die Bildung
von Neststrukturen ist.

5.3.1. Fallende Satzgefüge

Fallende Satzgefüge machen in den Ratsprotokollen den größten Teil der


Kompositionstypen aus. Eine rein kontinuierliche Anordnung der Ele-
mentarsätze gemäß ihrem Abhängigkeitsgrad, so dass eine gedankliche
Einheit sich sukzessive entfaltet, findet sich allerdings nur selten, die
Gliedsätze werden sehr häufig von präzisierenden Unterordnungen
durchbrochen.24 Die fallenden Satzgefüge stehen oft zu Beginn der Sit-
zungsprotokolle. An den Hauptsatz mit dem performativen Funktions-
verbgefüge knüpft ein Objektsatz mit einem weiteren verbum dicendi, einem
der Mitteilung bzw. des Anklagens, an, an das sich wieder ein Objektsatz
anschließt, dem verschiedenartige Gliedsätze folgen können und der in
der Regel als Neststruktur für einen Attributsatz fungiert:
(7) h> Myr BurgerMeyster, Richter vnd Radtgeshuorne Burger
in der Hermanstadt thuen hie mit zu kundt,
g1.k.o4.t1.a+> wie das die Erbare Menner vnd pfrommen, als nem-
lich, herr Caspar Gusth, Sigmvndt Valdörpfer, Tho-
mas Waldöpfer […], Item Anna des peter gusth seine
tochter,
g2.mr.xt welchs sein Tutor ist thomas Waldörpfer,
g1.k.o4.1.e Alle vnsere mitburger, des Erbarn frantz Waldörpfer
seliger, seine brüder gefreundt, Schuäger, vnd

_____________
23 Zur Terminologie vgl. Dogaru (2006, 302f. und 322f.).
24 Zu den Neststrukturen vgl. Kap. 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 699

Schuestern, für vns in vnserm Sitzenden Radt persön-


lich ershienen sind,
g1.k.o4.t2> Haben vns fürgetragen vnd angezeigt,
g2.k.o4.a> wie Jr verstorben Bruder gemelter frantz Wal-
dörpfer, von aller seiner hab vnd gutt,
g3.cr.xt.el ßo im Gott aupf diesem Erdbodem verlyhen,
g2.k.o4.e> Ein testament hett gethan,
g3.cmr.xt.t1+ Darbey ir keiner nit geuesen,
g3.cmr.xt.t2 Noch darzu gerupfen wer worden,
g3.cmr.xt.t3> wer auch eins theils wider gemeine ordnung
der Testament gestipft,
g4.dr.w/as welchs halben sie eine zeitlang wider
einander geuesen vnd getheydiget hetten
(MagProt, 401).

5.3.2. Steigende Satzgefüge

Die Stellung aller Gliedsätze vor den Hauptsatz spielt in den Sitzungspro-
tokollen keine große Rolle in der Verknüpfung der Elementarsätze; stei-
gende Satzgefüge machen den kleinsten Anteil der Satzgefüge aus. Das
Vorfeld des Hauptsatzes wird mit maximal drei verschiedenen Gliedsätzen
besetzt, die aber durch Reihung – sowohl mit gemeinsamen Elementen als
auch ohne solche – gut ausgebaut sein können. Der Satzgefüge eröffnende
Gliedsatz, der als Protasis einen Spannungsbogen zum Hauptsatz, der
Apodosis, baut, ist in fast allen Fällen ein Temporalsatz, d.h. ein Gliedsatz
mit allgemeiner Tendenz zur Voranstellung:25
(8) g1,1.k.at Nach dem Myr obgemelten Erasmi Schneiders sein an-
bringen vnd erynnerung, verhörtt vnd vernomen hatten,
g1,2.k0.at.a vnd vns dasselbig,
g2.k.o4.el> das es also,
g3.cr.am.el wie es hie erczellt vnd gesagt,
g1,2.k0.at.e Noch im gutten Synn vnd gedechtnüs hetten,
g1,3.k0.at vnd auch vormals durch ein recht in der massen beschey-
den sindt worden,

_____________
25 Zur Voranstellung der Temporalsätze vgl. z.B. Behaghel (1932, 260-264). Zu Protasis und
Apodosis vgl. Lausberg (1984, 146f.); in Bezug auf Luther bei Rössing-Hager (1972, 253f.)
und Rössing-Hager (1984, 82f.).
700 Dana Janetta Dogaru

h<<< So haben mirs durch genanten Erasmi Bitt vnd begehr, in sei-
ner Schuester son gemelter lang Jörgen kegenwertt, zu stetten ge-
dechtnüs in das Stattbuch lassen einschreiben, Jm Jar vnd tag,
wie oben (MagProt, 369).

5.3.3. Steigend-fallende Satzgefüge

Die Weiterführung des steigenden Satzgefüges durch den Anschluss von


Gliedsätzen an den Hauptsatz im Nachfeld geht in den Protokollen meist
auf die Valenz des Hauptsatzverbs zurück, seltener auf dessen strukturell-
semantische Freiheit, eine beliebig große Anzahl fakultativer Gliedsätze
anzuschließen. Der Protasis-Satz ist meist ein Kausalsatz. Der Spannungs-
bogen wird dann durch den – aufgrund der Valenz des Hauptsatzverbs –
syntaktisch obligatorischen Gliedsatz im Nachfeld des Hauptsatzes ge-
schlossen, der damit die Funktion der Apodosis übernimmt, während der
Hauptsatz aufgrund seiner syntaktischen und inhaltlichen Unvollkom-
menheit „nur“ als Stützpfeiler zwischen den beiden Spannung schaffen-
den Elementen fungiert:
(9) g1.k.ac.t1.a> Nach dem mir solchs
g2.cr.am.el wie gemelt,
g1.k.ac.t1.e+ vernommen hetten,
g1.k.ac.t2> vnd, auch die obgenanten fursichtige weyße herrn h:
Christopf Lyst vnd h: Thomam Bomelium bekent-
nüs verstanden,
g2.k.o4>>> Das es sich nemlich in der massen ßo zugetragen
hett,
g3,1.cr.am.el wie gemelt,
g3,2.k.am>> das der Albert Schneyder dreymall befraget
wer worden,
g4,1.k.o4 ob er irchein Einredt darumb het,
g4,2.k.o4 vnd ob er dem vrbano goldshmidt gemel-
tes hauß zur besitzung aupf sein theill
lassen wolt,
g3,3.k0.am vnd er allueg Ja gesprochen
g1.k.ac.t3 vnd vber dis bekentnus vnd Ja sprechen, Die vor-
bestympte herren, darnach den Baw besichtiget vnd
verrechnet,
h.t1+< Darumb ßo haben Mir auch zu recht erkant,
h.t2< vnd vrteils weyß darzu geredt,
h.t3< >> vndt darüber ein vrteill gefellet,
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 701

g1,1.k.xt> Das es der Albert Schneider auch hinfort darbey


soll lassen,
g2.cr.am.t1 wie er dasselbs geredt
g2.cr.am.t2+ vnd darbey gelassen hat,
g1,2.k.xt> vnd das der vrbanus goldschmid das obgemeltes
hauß für sein eigen Erbtheill vnbekömert besiczen
vnd gebrauchen soll,
g2.cmr.w.t1+ darbey es der Albertt Schmid auch hat gelassen,
g2.cmr.w.t2.el>> vnd Mir hiemit den obgenanten vrbanus quitt
vnd frey gesprochen,
g3,1.cmr.w.el daruber er die schöndt erlegt,
g3,2.cmr0.w vnd mir aupf sein bittlich anlangen solchs
ins Stadbuch haben einlassen shreiben.
(MagProt, 394f.).
Der Gebrauch von Zuordnungsmarkern wie im obigen Beleg ist selten:
Gleich im zweiten Teilsatz des Kausalsatzes g1.k.ac.t2 verweist nach der
koordinierenden Konjunktion und das Adverb auch wiederholt auf seine
Zugehörigkeit zum vorausgehenden Elementarsatz zurück. Im nachfol-
genden Objektsatz, selbst metasprachlich durch bekentnüs angekündigt,
deutet das kataphorische Korrelat in der massen ßo auf zu erwartende (hier
gereihte) Modalsätze, also auf das deiktische wie gemelt und auf die (eigent-
liche) Vorgehensweise, hin. Das verbum dicendi dort ermöglicht den An-
schluss der folgenden Objektsatzreihe nahtlos – die Reihung der (obgleich
unmittelbar nebeneinander stehenden) Objektsätze g4,1.ko4 und g4,2.k.o4
ist wiederum nicht allein mittels der koordinierenden Konjunktion vnd,
sondern auch mittels Wiederaufnahme des Initialwortes signalisiert. Der
dritte gereihte Modalsatz g3,3.k0.am ist zwar durch das koordinierende vnd
als Koordination markiert, aber erst das maskuline Personalpronomen er
und die logische Abfolge von Frage und Antwort machen seine Zuord-
nung klar, zumal das ausgesparte Finitum zum Anakoluth führt. Die Zu-
ordnung als g3,3.k0.am stützt auch die koordinierte Wiederaufnahme
durch Repetition dis bekentnus vnd Ja im dritten Teilsatz des Kausalsatzes.
Nach der Viererstufung und der mehrfachen Reihung bzw. der Teilsatz-
bildung der vorangestellten Gliedsätze stellt das doppelte Korrelat darumb
ßo im Hauptsatz h nun den Bezug zum weit zurückliegenden ersten Teil-
satz des Kausalsatzes g1.k.ac.t1 her. Die Vorgehensweise der syndetischen
Koordination und Wiederholung des Initialwortes findet sich dann wieder
bei der Reihung der (durch den Modalsatz g2.cr.am getrennt stehenden)
702 Dana Janetta Dogaru

Attributsätze.26 Die abhängigkeitskonforme Abfolge der Gliedsätze und


das Beisammenstehen der Teilsätze machen bei den nun folgenden
Gliedsätzen keine weiteren Signalisierungen nötig.
Im zweiten Fall hingegen – also beim Beschließen des Satzgefüges mit
grammatisch fakultativen Gliedsätzen – behält der Hauptsatz die struktu-
relle Stützfunktion des hypotaktischen Gebildes (wie in steigenden Satzge-
fügen), das Satzgefüge büßt aber dabei seine strukturelle und semantische
Geschlossenheit ein:
(10) g1.k.ac.t1.a+> Nach dem sie aber nu etliche Jarr her Jres gelts,
g2.cr.xt.el so aupf dem Haus gestanden,
g1.k.ac.t1.e entperen,
g1.k0.ac.t2 vnd das Haus dem Jungsten Kindt, der Anna nem-
lich, als die zur besitzung des nehst, nachgehalten het-
ten.
h< >> Nu aber zu letzten, hetten sie das Haus, aus befehl eines
Ersamen weysen Radt, widervmb aupf ein neues schetzen
lassen
g1.k.ac (Nach dem eins theils Jnnen das Haus zu wolfeill,
eins theils, aber zu theur zu sein gedeucht hat)
g1.mr.xt welchs vmb R 250 geschetzt wer wordenn (MagProt,
411).

5.3.4. Neststrukturen

Wie bereits erwähnt, ist in den Sitzungsprotokollen des Hermannstädter


Magistrats die Durchbrechung eines Elementarsatzes infolge der Einbet-
tung eines ihm untergeordneten Satzes ein wichtiges Satzbauprinzip, mit
anderen Worten die Bildung von Neststrukturen. Sowohl Hauptsätze als
auch Gliedsätze können als Neststrukturen fungieren; Attributsätze stellen
erwartungsgemäß den größten Anteil, aber auch Objekt- und Adverbial-
sätze finden sich in die Satzstruktur des übergeordneten Elementarsatzes
eingefügt. Die Einbettung erfolgt zum einen nach dem ersten Satzglied
des Hauptsatzes, also dort, wo das Satzfeld zwischen dem satzeröffnenden
Satzglied und dem durch den Spannungsbogen des verbal-prädikativen
Rahmens zusammengehaltenen Restsatz gespalten wird, so dass eine nur
geringe zusätzliche Spannung im Satz verursacht wird:

_____________
26 Es handelt sich selbstverständlich lediglich formal um Attributsätze, semantisch sind es
Inhaltssätze zum metakommunikativen Funktionsverbgefüge ein vrteill gefellet; vgl. auch Do-
garu (2009, 83f.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 703

(11) h.a> Aber die schulden seines Sons,


g1.mr.xt die er selbs einbekent Nach laut vnd inhalt des shuld pryepf,
h.e soll er zalen (MagProt, 385).

Zum anderen kann die Einbettung im Satzrahmen erfolgen, womit ein


großer Spannungsbogen entsteht: Nachstehendes Beispiel zeigt außerge-
wöhnliche Ausmaße einer Neststruktur, belegt aber dadurch die mögliche
strukturelle Fähigkeit der Sätze. Zwischen den beiden Teilen des Objekt-
satzes zweiten Grades, g2.k.o4.a und g2.k.o4.e, stehen zwei funktional
unterschiedliche untergeordnete Sätze, ein Attribut- (xt) und ein Tempo-
ralsatz (at), wobei der Temporalsatz seinerseits zweimal (!) durchbrochen
ist. Die Herstellung von Zuordnungsbeziehungen auf zwei hierarchischen
Ebenen in der doppelten Neststruktur wird zudem durch die parataktische
Beziehung der unterschiedlich ausgebildeten Glieder der Attributsatzreihe
g4,1.vp.xt und g4,2.cr.xt belastet. Die Fortführung der Neststruktur
g2.k.o4.e erfolgt „grammatisch unkorrekt“ mit Hauptsatzstruktur und
stellt an den Leser nicht geringe Anforderungen zur Kopplung der beiden
Gliedsatzteile, zumal das Korrelat so täuscht und ein tatsächlich nicht be-
stehendes Folgerungsverhältnis markiert.
(12) h> Mir thuen hiemit zu wissen vnd zu kundt,
g1.k.o4.t1+ das fur vns komen ist, der Erbar Man Albertus Schnei-
der,
g1.k.o4.t2 vnd fur vns mit sich gebracht die Erbarn Menner, vrba-
num vnd Baltyzarum goldschmid, beyde seine schuöger, al-
le vnsere mitburger,
g1.k.o4.t3> vnd hat angezeigt,
g2.k.o4.a>> wie das in der theylung
g3.cr.xt ßo sie nach irer mutter hans goldschmidin selige,
absterben zwischen sich gehalten hetten,
g3.k.at.a>> vnd als des Lörincz gulden Münczer sein hauß,
g4,1.vp.xt aupf dem Kleinen ring gelegen,
g4,2.cr.xt ßo gemelter Vrbanus vermeinet zu halten vnd
zu besitzen
g3.k.at.f> geschetzt wer worden, in der gestalt,
g4.cr.xt wie es nu erbauet stehet,
g3.k.at.e Nemlich vmb pf 650,50.
g2.k.o4.e> So begehrt der vrbanus Goldschmidt über diese
bestympte summa, auch das gelt, Nemlich pf 71 d’57
g3.mr.xt welchs er an dem hauß aus willen der mutter, czu
nott verbauet hett (MagProt, 394).
704 Dana Janetta Dogaru

5.3.5. Abhängigkeitswidrige Diskontinuitäten

Abhängigkeitswidrige Diskontinuitäten stellen einen grammatischen


Bruch dar – denn der Gliedsatz höheren Abhängigkeitsgrades geht dem
übergeordneten Gliedsatz voraus (h – g2 – g1) –, sie bilden aber durch die
Angabe der Voraussetzung eines Sachverhalts zuerst die logische Entfal-
tung eines Gedankengangs zeitlich geradlinig ab.27 Allerdings ist die tat-
sächliche Zugehörigkeit der Elementarsätze in den Sitzungsprotokollen
infolge zweideutiger Formalien nicht immer einfach:
(13) g1.k.ak> wie woll der Endres Maler als ein bruder der frauen der
hannes Lypartin auch begehrt
g2.zi.o4 das kindt vnnd gelt zu sich zu nemen.
h,1.t1+t2< > So hat man vom Radt dar geschickt vnnd das haus besichti-
genn lassenn,
g1.k.af.t1 ob es auch dem kyndt nachzuhaltenn
g1.k.af.t2+ oder Bawfellig wehr,
h,2>> So ists erkanth wordenn wordenn28 vnd befohlenn,
g2.k.ac.t1 Sintemal das haus nit Bawfellig
g2.k.ac.t2+ Sonder Jm nachzuhaltenn were,
g1.k.o4< > aupf das es Jm nachhaltenn soll,
g2.k.at bis es sein bedurpfens wirdt,
g3.k.at.a> als denn soll ers Jm widervmb
g4.mr.o4 vnd was Jm sonst zustehend,
g3.k.at.e in die hende geben,
g1.mr.w> Welchs aupf anlangenn vnnd begehr des veltenn
Junglyngs Jns Stadtbuch ein geschrieben ist,
g2.k.af Aupf das Jm hernachmals dadurch kein nachtheill
nicht ensteht. (MagProt, 414).
Dem zweiten Hauptsatz der Gefügereihe h,2 folgt entgegen dem – wegen
des verbi dicendi – zu erwartenden Objektsatz ohne jegliche Signalisierung
zunächst ein Kausalsatz (als Erklärung der Forderung), dann erst jener,
der allerdings durch eine für Finalsätze typische Konjunktion auff das29
eingeleitet wird. Der linear folgende zweite Gliedsatz ersten Abhängig-
keitsgrades, der weiterführende Nebensatz g1.mr.w, steht weit entfernt
_____________
27 Eine systematische Abhandlung möglicher Konstruktionsvarianten im Frühneuhochdeut-
schen findet sich bei Rössing-Hager (1984).
28 Die Repetition ist sicherlich eine Verschreibung.
29 Die Konjunktion auff das ist lediglich dieses eine Mal zur Einleitung eines Objektsatzes
nachgewiesen worden (vgl. Dogaru 2009, Tabelle 2); auch in Finalsätzen ist sie in den Sit-
zungsprotokollen selten (ebd., Absatz 4.2.3.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 705

sowohl vom zuerst stehenden Gliedsatz ersten Grades, als auch vom
übergeordneten Hauptsatz. Es handelt sich aber um die formelhafte Be-
schließung der Sitzungsprotokolle, so dass seine gedankliche Zuordnung
dennoch herzustellen ist.
Dabei ist anzumerken, dass die abhängigkeitswidrige Diskontinuität
nicht die alleinige „Schuld“ an den Zuordnungsschwierigkeiten hat: Im
ersten Satzgefüge der Gefügereihe folgt dem Hauptsatz h,1 ein inhaltlich
geforderter Finalsatz g1.k.af.t1+t2 (bestehend aus zwei Teilsätzen), der
aber formal mit der Konjunktion für Objektsätze ob (die zur indirekten
Formulierung von Fragen gebraucht wird) eingeleitet ist – der gramma-
tisch notwendige „Brücken“satz mit einem verbum dicendi zwischen dem
Hauptsatz und dem ob-Satz ist vermutlich aus sprachökonomischen Über-
legungen ausgespart worden.
Etwas einfacher auf den ersten Blick scheint die Herstellung gramma-
tischer Bezüge im folgenden Fall zu sein, bei dem die sich an den Haupt-
satz mit verbum dicendi anschließende subordinierende Konjunktion das
erwartungsgemäß einen Objektsatz indiziert. Dieser wird nicht fortge-
führt, sondern es folgt die ausführlich formulierte Voraussetzung für den
angekündigten Sachverhalt:
(14) h> Alda hatt der vorbestympt Thomas Waldörpfer in person
vnd Namen seines Bruders frantz Waldörffers, vns für-
gebracht vnd angeczeigt,
g1.k.o4.t1.a>> Das
g2,1.k.ac/at> Nach dem der vorsichtige herr Thomas gold-
schmidt ein Styepfvatter h: Emanuelis. das Recht
verloren hett,
g3.cr.xt> So er mit vnd wider den frantz Waldörffer
hett geübett vnd gehabt, von wegen der Erb-
schapft seiner Stiepftochter, fides, die francz
Waldörffern,
g4.cr.xt So on Leibs Erben abgangen vnd gestor-
ben ist,
g2,2.k.ac/at Als er aber nichts hatt kennen mit rechten an im
erlangen,
g1.k.o4.t1.f+> So hett nu der h: Emanuel,
g2.mr.xt welcher ein rechter pruder der verstorbenen francz
Waldörfferin geuesen,
g1.k.o4.t1.e Den vorbestympten francz Waldörffer seynen Schuoger
fur das Recht genomen,
706 Dana Janetta Dogaru

g1.k.o4.t2.a> vnd das teyll


g2.mr.xt was seiner Schuester fides, von irem herren francz
Waldörffer von rechtswegen zu stehendt,
g1.k.o4.t2.e mit rechten herausser zugeben gepfodertt. (MagProt,
377).
Die Zuordnung des angekündigten Objektsatzes ist infolge der Weiterfüh-
rung mit Hauptsatzstruktur (mit dem Finitum an zweiter Satzstelle) er-
schwert. Stützend ist das Korrelat so, denn es verweist auf die gedanklich-
logische Beziehung zum mit nach dem eingeleiteten Kausal- / Temporal-
satz.

6. Fazit
Die Durchschnittslänge der Elementarsätze variiert in den Sitzungsproto-
kollen des Hermannstädter Magistrats in der Anfangszeit des Verfassens
auf Deutsch (Anfang der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) mit ihrer
Funktion im Text zwischen 60 Wörtern, wenn Angaben zu den beteiligten
Personen gemacht werden, und zehn Wörtern bei der Schilderung von
Geschehenseinzelheiten.
Die Ganzsätze werden hauptsächlich als Satzgefüge realisiert, wobei
gelegentlich zwei Satzgefüge gereiht stehen können. Ein Satzgefüge kann
in einem Einzelfall aus bis zu 17 Elementarsätzen bestehen, 111 Satzgefü-
ge von 135 haben bis zu sieben Elementarsätze. Die Tiefenstaffelung geht
zwar nur bis zum sechsten Abhängigkeitsgrad, die Vorkommenshäufigkeit
der Gliedsätze vierten Grades kann aber (verglichen z.B. mit ihrer Fre-
quenz in zeitgleichen Predigten) als überdurchschnittlich hoch bewertet
werden.
Neben der hypotaktischen Verknüpfung stellt eine wichtige Verknüp-
fungstechnik die Anknüpfung von grammatisch und funktional gleichen
Gliedsätzen, mit und ohne Aussparung gemeinsamer Elemente, dar.
Mit Bezug auf die Kompositionstypen der Satzgefüge lassen sich ne-
ben der geradlinigen abhängigkeitskonformen Abfolge der Gliedsätze –
die fallenden und steigend-fallenden Satzgefüge überwiegen – besonders
häufig die Neststrukturen nachweisen, die bei syntaktischem Bruch inhalt-
lich Zusammengehörendes auch zeitlich nebeneinander darbringen. Bei
Neststrukturen zuweilen, häufiger aber bei den abhängigkeitswidrigen
Diskontinuitäten verursachen mangelnde Merkmale der Unterordnung
oder der Zu(sammen)gehörigkeit Unklarheiten. Die Gestaltung der Satz-
gefüge in den Hermannstädter Ratsprotokollen entspricht mithin hinsicht-
lich der Strukturkomplexität, nicht aber der Realisierung von nachvoll-
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 707

ziehbaren und eindeutigen Zuordnungsbeziehungen der Gestaltung der


Satzgefüge in kanzleisprachlichen Texten aus dem binnendeutschen
Sprachraum.
Die quantitative und qualitative Ausweitung der Untersuchungen auf
Ratsprotokolle aus anderen Verwaltungszentren Siebenbürgens unter
Berücksichtigung der an dieser Stelle behandelten, aber auch anderer Pa-
rameter könnte das angerissene Bild der Ausgestaltung deutscher Amts-
sprache in Siebenbürgen ergänzen und vor allem verfeinern.

Quelle

Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dommini 1522
feliciter ceptum et congestum.30

Literatur

Admoni, Wladimir G. (1972), „Die Entwicklung des Ganzsatzes und seines Wortbe-
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_____________
30 Das Manuskript befindet sich bei der Kreisdirektion der Nationalen Archive Hermann-
stadt / Sibiu; Signatur: Magistratul Oraşului şi Scaunului Sibiu. Protocoale de ŞedinŃă nr. 1.
708 Dana Janetta Dogaru

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_____________
31 Bestandsaufnahme der Sitzungsprotokolle des Hermannstädter Magistrats 1521-1700, Allgemeine
Direktion der Staatsarchive, Bukarest 1958.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze 709

Zimmermann, Friedrich (1901), Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen
Nation. Ein Führer durch dasselbe, 2. Aufl., Hermannstadt.

Abkürzungsverzeichnis
1. Sätze:
h Aussage- / Hauptsatz
g Gliedsatz
g1(-n) Abhängigkeitsgrad des g von h
g1,1(-n) Koordination mehrerer g mit gleicher Abhängigkeit
von h
g1.k durch eine Konjunktion eingeleiteter g
g1.mr durch ein substantivisches Relativpronomen eingeleite-
ter g
g1.dr durch ein attributivisches Relativpronomen eingeleiteter g
g1.cr durch ein Relativadverb eingeleiteter g
g1.cmr durch ein Pronominaladverb eingeleiteter g
g1.k0 das Initialelement wird nicht wiederholt
g1.zi satzwertige Infinitivkonstruktion mit „zu“
g1.vp satzwertige Partizipialkonstruktion (Perfektpartizip)
g1.k.o4 Satzgliedfunktion des g (hier: Akkusativobjekt)
g1.k.w weiterführender Nebensatz ohne Satzgliedfunktion
t1(-tn) Teilsatz
t1+ der Teilsatz enthält ein bzw. mehrere gemeinsame Ele-
mente

2. Satzfunktionen:
o4 Akkusativobjekt
ac Grund
af Zweck
ak Einräumung
am Art und Weise
as Folge
at Zeit
xt Attribut

3. Sonstiges:
.el elliptisches Element
.a Anfang einer unterbrochenen Struktur
710 Dana Janetta Dogaru

.f Fortführung einer mehrfach unterbrochenen Struktur


.e Ende einer unterbrochenen Struktur

4. Sonderzeichen:
/ trennt alternative Notationen.
Pfeile signalisieren neben der Kodierung eines Elementarsat-
zes, dass ein von ihm abhängiger Gliedsatz diesem folgt
oder vorausgeht:
> der untergeordnete Elementarsatz folgt dem überge-
ordneten;
< der untergeordnete Elementarsatz geht dem übergeord-
neten voraus;
<> dem übergeordneten Elementarsatz geht ein Gliedsatz
voraus, einer folgt ihm;
<<< >>> Anzahl untergeordneter, koordinierter oder aber nicht
koordinierter Gliedsätze gleicher oder unterschiedlicher
syntaktischer Funktion, die dem übergeordneten Ele-
mentarsatz vorausgehen bzw. folgen.
Konkurrierende Strukturen für die Relation
Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen
Schriften Martin Luthers
Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven und
kommunikativen Funktion

Monika Rössing-Hager (Marburg)

1. Fragestellung, Textkorpus
und methodische Vorbemerkungen
Die Relation Voraussetzung – Folge wird im Folgenden im Hinblick auf
satzförmige Konditionalfügungen behandelt. Die zugehörigen Teilsätze
sind in der Grammatik-Tradition geläufig unter den Bezeichnungen Prota-
sis für die meist vorangestellte Bedingung und Apodosis für die Konse-
quenz, bzw. unter deren lateinischen und deutschen Entsprechungen An-
tezedens – Konsequens/z und Vordersatz – Nachsatz. In der Grammatikogra-
phie wurde und wird gelegentlich darauf verwiesen, dass die Termini
gleichzeitig stellungs- und funktionsspezifische Geltung haben, so z.B. in
der älteren Grammatik explizit von Carl Friedrich Aichinger für protasis
und apodosis, 1 in der Gegenwart von Peter Eisenberg für Antezendens und
Konsequenz, mit Hinweis auf die Überlappung von syntaktischem und se-
mantischem Aspekt. 2 Ich benutze im Folgenden die ebenfalls geläufigen
Termini Konditional- bzw. Bedingungssatz für den die Voraussetzung betref-
fenden Teilsatz, Konsequenz- bzw. Folgesatz für den die Bedingtheit / die
Folge betreffenden. Syntaktisch-funktionale und logisch-semantische As-
pekte überlagern sich auch bei ihnen.
Die Darstellung ist konzipiert als eine durch thematische Vorgaben
erweiterte Fallstudie, die auf jede Art von numerischen bzw. statistischen
Angaben verzichtet. Vielmehr besteht die Absicht, zwei syntaxspezifische
_____________
1 Vgl. Aichinger (1972, 518).
2 Vgl. Eisenberg (1994, 362).
712 Monika Rössing-Hager

Textbausteine, auf die der Autor mehrfach zurückgreift und die er beim
Verwenden zweckgebunden formt und bei Bedarf erweitert, im Hinblick
auf ihre textkonstitutive und kommunikative Funktion näher zu betrach-
ten.
Das Textkorpus umfasst vier Schriften Martin Luthers aus den ersten
Jahren der Reformation. Unter dem Gesichtspunkt der Verbreitung gehö-
ren sie alle zu den ‚Flugschriften‘. Thematisch und im Hinblick auf Text-
sorte und -funktion haben sie trotz großer Unterschiede Gemeinsamkei-
ten, durch die bestimmte Spezifika besonders deutlich hervortreten. 3 Es
handelt sich um folgende Textexemplare:
 Martin Luther, Von den guten Werken (1520). WA VI, 202-276.
- Thematik und Textsorte: Religiöse Lehrschrift,
- Textfunktion: Allgemeinverständliche Lehre, verbunden mit Ap-
pellfunktion.
 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). WA VII,
20-38.
- Thematik und Textsorte: Religiöser Traktat,
- Textfunktion: Erörternde Unterweisung, eloquent, verbunden mit
Appellfunktion.
 Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christli-
chen Standes Besserung (1520). WA VI, 404-467.
- Thematik und Textsorte: Religiöse Programm- und Kampfschrift,
- Textfunktion: Aufdecken religiöser und sozialer Missstände im
kirchlichen und weltlichen Bereich; Aufforderung an Angehörige
aller Stände, das ihnen Mögliche zur Beseitigung beizutragen.
Dominante Appellfunktion, im Einzelnen stark ausdifferenziert.
 Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sak-
rament (1525). WA XVIII, 62-125 (1. Buch); WA XVIII, 134-214 (2.
Buch).
- Thematik und Textsorte: Religiöse Streitschrift,
- Textfunktion: Offensive Erörterung mit den Zielen, strittige
Glaubensfragen zu klären, den Gegner (Karlstadt und seine An-
hänger) bloßzustellen und unschädlich zu machen, den Rezipien-
ten für den eigenen Standpunkt zu gewinnen; verbunden mit
Appellfunktion.
Auf Grund ihrer logischen Grundkonzeption sind die Texte von Bedin-
gungsgefügen durchsetzt. Aus der Vielzahl der Vorkommen werden im
_____________
3 Im Einzelnen ist dies dargestellt in Rössing-Hager (2009).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 713

Folgenden zwei Verwendungszusammenhänge herausgegriffen: Textteile


mit Appell-Charakter und solche mit argumentativem Duktus, der durch
Folgerungen aus dem Gegenteil bestimmt ist.
Im Zusammenhang mit der Fragestellung sind die primär relevanten
Kontextfaktoren Textsorte, Textfunktion, Thema sowie die Intention, aus
der heraus eine Äußerung geschieht. Doch ist keiner dieser Faktoren im
jeweiligen Textkontinuum im Hinblick auf seine Eigenschaften gleichblei-
bend, vielmehr kann er in einzelnen Textteilen starken Modifikationen
unterliegen, bedingt z.B. durch Wechsel des subthematischen Zusammen-
hangs. Als weitere Kontext-Merkmale begegnen, in Differenzierung der
jeweiligen Textfunktion, Typen unterschiedlicher Mitteilungs-Funktion
und – mit dieser verbunden – kommunikativer Haltung:
 Belehren – auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen: Sachverhalte
verständnisstützend erklären; Sachverhalte dozierend äußern, u.U.
mit situativem Dominanzanspruch des Dozierenden gegenüber Re-
zipienten oder Dritten.
 Erörtern – sachlich; mit Affekt; mit Pathos.
 Meinung bilden – Sachverhalte emotionalisierend darstellen; die eige-
ne Meinung verdeutlichen und auf den Rezipienten zu übertragen
versuchen; die eigene Meinung zurückhalten und den Rezipienten
zur Kritikfähigkeit heranbilden.
 Streiten – als hartes Sich-Auseinandersetzen bei der Suche nach der
Wahrheit; mit nachdrücklicher Erhärtung des eigenen Standpunkts;
mit Nachweis des gegnerischen Unrechts und des eigenen Rechts;
Parteilichkeit schaffend.
 Appellieren – als Handlungs- oder Verhaltensanweisung in unter-
schiedlichen Intensitäts- und Direktheitsgraden: Raten / Empfeh-
len; Aufrufen; Anfeuern; Fordern; Ermutigen u.ä.
Die Faktoren können sich, je nach der vorherrschenden Intention, überla-
gern. An verschiedenen Stellen der Textbelege treten einzelne dominant
hervor. Sie werden im Folgenden besonders beachtet. Ein gesonderter
Faktor ist die Position einer Äußerung innerhalb des jeweiligen subthema-
tischen Text-Kontinuums oder ihr Vorkommen in einem spezifischen
Textexemplar überhaupt. Das schließt nicht aus, dass einzelne Makro-
strukturen nahezu unauffällig das Textexemplar wechseln könnten.
Als expliziter Anhaltspunkt für die primär relevante Funktion einer
Konditionalfügung im Text bietet sich häufig ein vorgeschalteter Satz mit
Hinweis auf den Sicherheitsgrad der nachfolgenden Äußerung (Verba
sentiendi, dicendi u.ä.), auf ihren Appellcharakter (meist rat) oder darauf,
714 Monika Rössing-Hager

dass es sich um die Folgerung aus einer vorausgehenden Ausführung han-


delt.
Als Signal für die mit einer Äußerung intendierte logische Beweisfüh-
rung dienen u.a. Adverbien, die entsprechende Aussagenkomplexe eröff-
nen (also, darumb u.ä.), Verben (beweisen u.ä.) oder ganze Sätze (Darauß dann
weiter folget; Auß dissem allen ists nu offenbar; Wilchs alles kumpt auß; Auß dem
allen lernen wir, das; Und das ichs noch klerer sag; ursach sagen u.ä.), aber auch
Hinweise auf die Verwendung eines argumentativen locus ( z.B: a minore:
Wie viel mehr ist, o.ä.). Aufschluss über die Intention, aus der heraus der
Autor den Textteil abfasst, gibt es des Öfteren im vorausgehenden oder
nachfolgenden Text, z.T. sogar in einem anderen Textexemplar, sei es
durch explizite Hinweise oder zumindest durch implizite Anhaltspunk-
te. Ein solcher Anhaltspunkt soll im Folgenden exemplarisch eingekreist
werden.
Vergleichsgrundlage bieten zwei Teilbereiche der Textfunktion, die in
allen untersuchten Textexemplaren signifikant vertreten sind: die Hin-
wendung des Autors zum Rezipienten in einem Appell (3.1.) und die ar-
gumentative Erhärtung eines dargelegten Sachverhalts in der Form der
Folgerung aus dem Gegenteil (3.2.). In einem ersten Schritt werden Konditio-
nalstrukturen aus verschiedenen Textteilen mit Appellfunktion im Hin-
blick auf ihre formale und inhaltliche Ähnlichkeit betrachtet. In einem
zweiten Schritt werden die in den Appelltextteilen verwendeten Konditio-
nalstrukturen in Beziehung zu einem Textteil aus dem Funktionsbereich
Folgern aus dem Gegenteil gesetzt, dessen thematische Entfaltung vorsichtige
Schlüsse auf die Intention nahelegt, die zur spezifischen Ausgestaltung der
betrachteten Appelle im Hinblick auf deren gedankliche und formale
Struktur führt.
Zugleich dient dieser Textteil als Basis für den in einem dritten Schritt
vorgenommenen Vergleich bestimmter Strukturmuster der Folgerung aus
dem Gegenteil im Hinblick darauf, inwieweit erkennbare Verwendungszu-
sammenhänge eine mit diesen korrelierende unterschiedliche Ausgestal-
tung der entsprechenden Strukturmuster aufweisen.

2. Strukturvarianten
der im Korpus verwendeten Konditionalfügungen
Die in den untersuchten Textteilen vorkommenden Konditionalfügungen
repräsentieren nahezu das gesamte Spektrum der bei Luther und im
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 715

16. Jh. realisierten Strukturvarianten. 4 Im Folgenden ist jeder Realisations-


typ mit einem Beleg erfasst, unabhängig von der Häufigkeit seines Vor-
kommens.
1. Form, Einleitung und Satzmodus der Teilsätze syntaktisch selbst-
ständiger Konditionalfügungen:
a) Bedingung (B):
 Gliedsatz
- eingeleitet durch eine Subjunktion (wenn, so, wo u.a.):
wo du nicht Gottes wort hrest, (...) da yrre und kere dich
nicht an, 1,05f. 5
Wenn man dyr n furhelt, (...) so sprich frisch drauff: (...)
1,10f.
so sie dyr nicht seyn wort drauff anzeygen, so sprich: (...)
1,14f.
- eingeleitet durch ein Relativpronomen oder -adverb (der, wo
o.ä.):
der mit got nit einß ist odder tzweiffelt dran, der hebt an,
sucht und sorget, 6,32f.
wo aber ein tzweifel da ist, da sucht sichs (...) 6,19f.
- mit Erststellung des finiten Verbs:
Sagen sie: Omnis Christi actio est nostra instructio, so las sie
sagen, 1,17f.
 Hauptsatz als Aufforderungssatz:
gleub nur fest, das du seyst absolvirt, so hat es nit nodt. 2,08
b) Konsequenz (K):
 Hauptsatz, (meist) eröffnet mit Korrelat (so, da; zum Relati-
vum: der)
- als Aussagesatz:
Wenn nu der mensch (...) empfunden hatt, (...), So ist er recht
gedemtiget 5,27-30
wo aber ein tzweifel da ist, da sucht sichs (...) 6,19f.
- als Aufforderungssatz:
Wenn man dyr n furhelt, (...) so sprich frisch drauff: (...)
1,10f.
- als Fragesatz:
_____________
4 Hierzu Franke (1922, § 198,4.c); Erben (1954, bes. 149ff.); Ebert / Reichmann / Solms /
Wegera (1993, §§ S 290ff.).
5 Die Stellenangaben kennzeichnen mit der Ziffer vor dem Komma die Nummer eines der
in Kapitel 3.1. oder 3.2. zitierten Textbelege, hinter dem Komma die an dessen Rand mar-
kierte Zeilennummerierung, z.B.: 1,05 entspricht dem Textbeleg T 1, Z. 5.
716 Monika Rössing-Hager

wie der mensch an den gebotten (...) gnug hat, (...) warumb
sucht er dan andere (...)? WA VI, 276.05-10. 6
2. Abfolge der Teilsätze:
a) B – K (vgl. Bsp. unter (1a) und (1b))
b) K – B (seltener):
so ist hlffe und rad da (...), wo des glaubens lere fest und reyn
bleybt. 9,04f.
c) K.anf. – B – K.end.:
einn Christen mensch, der in dieser zuvorsicht gegen got lebt,
weiß alle dingk, 6,26-28.
3. Markierung der Abhängigkeit einer Konditionalfügung von einem
vorgeschalteten Satz mit Verbum dicendi, sentiendi o.ä.:
a) kein formales Abhängigkeitssignal, d.h. einem Doppelpunkt ähn-
licher Übergang. Die Konditionalfügung bleibt in struktureller
‚Selbstständigkeit‘:
Szo radt ich den selbenn kindeln, (...),
wollen die ubirsten nit laub geben zu beichten die heymlichen
sund, (...), ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder (...),
2,01-04.
b) Abhängigkeitsmerkmal: Der Matrixsatz der Konditionalfügung
wird zum Gliedsatz, der mit der Subjunktion dass eingeleitet ist
und durch den Bedingungssatz unterbrochen wird:
Auß dissem allen ists nu offenbar,
das alle ander werck, die nit gebotten sein, ferlich sein und leicht
zu erkennen, WA VI, 276.01 f. 7
c) Als Abhängigkeitssignal steht die Konjunktion dass, der Matrix-
satz behält jedoch die Form eines Hauptsatzes bei (Anakoluth),
d.h. die Konditionalfügung bleibt in ihrer Struktur unverändert;
sie erscheint ‚selbstständig‘ wie unter (3a): 8
Den ich hab (...) yn den glauben gestellet alle ding,
das,
wer yhn hat, sol alle ding haben 5,43-46.
_____________
6 Hierbei handelt es sich um eine nicht als Textbeleg verwendete Stelle aus der Schrift Von
den guten Werken.
7 Wie Anm. 6.
8 Hierzu Franke (1922, § 202,3); im Einzelnen zu den von Luther verwendeten Konstruk-
tionsvarianten: Rössing-Hager 1984, 81ff.).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 717

4. Mehrfachsetzung einzelner Glieder, z.B.:


a) B, B – K:
Alßo nym fur dich deyne feynnd, (…), thu yhn wol – so wirstu
finden, 4,01-03
b) B – K, K (...):
wollen die ubirsten nit laub geben zubeichten die heymlichen sund
(...) – ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder (...), laß dich
absolvirnn (...), 2,02-07
c) K – B – K:
hut dich – wo du nicht Gottes wort hrest (...) – da yrre und kere
dich nicht an, 1,04-06.
5. Mehrfachsetzung von Konditional-Fügungen als textkonstitutives
Strukturmuster:
a) Appell (vgl. Textbelege T 1 bis T 4 unter 3.1.),
b) Folgern aus dem Gegenteil (vgl. Textbelege T 5 bis T 10 unter
3.2.).

3. Spezifische Verwendungszusammenhänge
für einzelne Strukturtypen der Konditionalfügungen
und für deren Kombination
zu textkonstitutiven Strukturmustern
3.1. Appelle

In allen untersuchten Textexemplaren haben die Ausführungen, unabhän-


gig von ihrer primären Textfunktion, über weite Strecken Appellcharakter,
wenn auch in unterschiedlichen Graden der Direktheit und dementspre-
chend in sprachlich sehr differenzierter Ausprägung. 9 Im Folgenden sind
spezifische Fälle aus dem Teilbereich explizit persönlicher Bezug zum Rezipien-
ten herausgegriffen. Es handelt sich jeweils um sehr konkrete Verhaltens-
empfehlungen.

T1
Am markantesten ist eine Textstelle in der Streitschrift von 1525 Wider die
himmlischen Propheten, in der sich Luther scharf mit seinem Gegner Karl-
_____________
9 Vgl. Rössing-Hager (2009, I.2.4, II.2.3, III.2.2, IV.2.3.).
718 Monika Rössing-Hager

stadt über zentrale Fragen des christlichen Glaubens auseinandersetzt. Die


Erörterungen in dieser Schrift erfolgen offensiv, teils in erklärendem, teils
aggressivem bis diffamierendem Ton dem Gegner gegenüber, oft zugleich
die zustimmende Nähe des Rezipienten suchend.
An der ausgewählten Stelle wird die Intention des Autors deutlich, dem
Rezipienten eine grundlegende Verhaltensorientierung zu vermitteln. Er
will sein Selbstvertrauen wecken und stärken und ihn auf der Grundlage
einer prinzipiellen Einsicht zu einem jeweils situationsspezifisch angemes-
senen Handeln bzw. Verhalten veranlassen. Er gibt ihm die Zuversicht,
hierzu tatsächlich fähig zu sein, und zeigt ihm den Weg auf, unbegründete
Schuldgefühle und mit ihnen verbundene Unruhen zu überwinden, indem
er sein Selbstwertgefühl stärkt und den potentiellen Gegner auf das ihm
zukommende Maß an Geltung zurückstuft.
Den subthematischen Zusammenhang bildet eine Warnung vor der trügeri-
schen Verführungsabsicht des Gegners, verbunden mit einer genauen
Anleitung, dieser nicht zu verfallen. Der Appell wird eröffnet durch einen
Hinweis auf den diabolisch abschreckenden Gegner – gemeint ist Karl-
stadt –, 01-03:
01 Sihestu hie den teuffel?
der uns vorhyn durch heyligen verfuret hat,
der will uns hie durch Christum selbs verfuren,
Es folgen detaillierte Verhaltensempfehlungen zur Reaktion auf die von
gegnerischer Seite zu erwartenden Verführungsversuche:
1. Generell: durch eine Äußerung des Sprechakts Warnung in einem
Aufforderungssatz, 04, mit anschließender Angabe des grundsätzlich zu
meidenden Falls in einer Konditionalfügung, 05f., mit Irrelevanz-
Nachtrag, 07, der die ausnahmslose Gültigkeit der Anweisung betont, und
mit kommentierender Bekräftigung durch zwei auffordernde Fragen als
rahmendem Hinweis auf ein Bibelzitat und dessen nachdrückliche erklä-
rende Wiederholung, 08f. Die Bekräftigung enthält den thematischen
Kerngedanken, der die Relevanz des Appells unterstreicht: Ausschlagge-
bend ist einzig das wort Gottes.
Die erste Aufforderung, 04, kann aufgefasst werden als allein stehend,
d.h. als Eröffnungs-Appell für die gesamte Textstelle, sie kann aber auch
in engerer Bindung zur Konditionalfügung gesehen werden. Dann hätte
diese die Abfolge K-B-K. Die Beziehung ist ambivalent, auch mit Blick
auf die intendierte Sprachhandlung:
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 719

hut dich,
05 wo du nicht Gottes wort hrest, das dich heyst odder verpeut,
da yrre und kere dich nicht an,
wenns gleich Christus selbst thet,
Ists nicht gnug gesagt? Es heyst ‚Deyn wort ist meyn leuchte‘
Psal.118.
Das wort, Das wort solls thun, Hrestu nicht?
2. Spezifizierend: In einer Sequenz von vier Konditionalfügungen, 10-18,
werden denkbare Detailausprägungen der Verführung genannt und für
jeden Fall eine schlagkräftige Zurückweisung empfohlen, durch Hand-
lungsanweisungen, die die entsprechenden verbalen oder – im letzten Fall
– nonverbalen Handlungen vorgeben. Dem Rezipienten werden Erwide-
rungen in den Mund gelegt, die ihn unerschrocken, scharf und sachkundig
erscheinen lassen und die simulieren, dass ihm eine solche Haltung zuzu-
trauen ist, 10 11, 13, 15f.
Die Konditionalfügungen haben alle die Abfolge B – K. Der vierfache
Wechsel der Eröffnung des Konditionalsatzes – drei verschiedene Kon-
junktionen, 10, 12, 14, und einmal Erststellung des finiten Verbs, 17, –
unterstützt die Vorstellung von einem wechselnden Ansatz der Versu-
chung; die viermal mit so beginnenden und zusätzlich partiell wortgleichen
Konsequenzsätze reflektieren das für alle Fälle empfohlene, im Prinzip
gleich bleibende Reaktionsverhalten:
10 Wenn man dyr n furhelt, wie Christus gethan habe,
so sprich frisch drauff: Wolan er hats gethan, Hat ers auch geleret
und heyssen thun?
Item, wo man dyr furhellt, das hat Christus nicht gethan,
so sprich frisch drauff: Hat ers auch verpoten?
Und so sie dyr nicht seyn wort drauff anzeygen,
15 so sprich: Thu hyn, lasse her, das gehet mich nicht an,
es sind auch nicht exempel, es sind wercke fur seyne eygene per-
son gethan,
Sagen sie: Omnis Christi actio est nostra instructio,
so las sie sagen,
_____________
10 Das Warnen durch Hinweis auf Indizien für gefährliche und daher zu meidende Personen
und deren Auftreten ist eine Sprachhandlung, die zeitübergreifend in Texten mit edukati-
ver, aber auch manipulativer Komponente geläufig ist. In ähnlicher Ausprägung wie in T 1
findet sie sich z.B. in Eberlin von Günzburgs Flugschriftensammlung Bundesgenossen (1521),
am deutlichsten an einer Stelle im Sechsten Bdg., der weitgehend Stellen aus Erasmus’ Laus
Stultitae in freier Übersetzung dem eigenen Text einpasst. Vor dem Hintergrund solcher
vergleichbarer Stellen wird besonders deutlich, wie unmittelbar eindringlich und persönlich
die Verhaltensanleitung Luthers ist.
720 Monika Rössing-Hager

Der Appell endet mit einer expliziten Entschärfung der für den Rezipien-
ten bedrohlichen Situation. Der Rezipient wird aufgefordert, die Aussage
des potentiellen Gegners auf das tatsächlich Gemeinte zu überprüfen, mit
dem Hinweis, der Gegner gelte nicht mehr als er selbst. Der Abschluss
erfolgt in dezidiert einfacher Diktion durch die Reihung von einem Auf-
forderungssatz und zwei Aussagesätzen ohne formale Bindeelemente oder
einen sonstigen Hinweis auf logische Beziehungen, 19-21. Es ist der Ton,
der auf Glaubwürdigkeit deutet und das Vertrauensverhältnis zwischen
Autor und Rezipient unterstreicht:
Aber sihe drauff, was er meynet mit der instructio,
20 Eyn mensch hats gesagt,
der gillt so viel als du selbst. WA XVIII, 116.27-117.12.
In ähnlicher Form wie hier begegnet ein erläuternder Nachtrag des Öfte-
ren in vergleichbarer Situation. Er vermittelt dem Angesprochenen die
Überzeugung, dass die vorausgehende Verhaltensanweisung tatsächlich
realisierbar ist und auch in seinen Kräften liegt, beruhigt ihn, nimmt ihm
ein eventuelles Angstgefühl und ermuntert ihn zu mutigem Vorgehen in
eigener Sache. 11

T2
Ähnlich wie der erste Textbeleg umfasst auch der zweite eine in sich abge-
schlossene Episode. Er gehört in Luthers Programm- und Kampfschrift
von 1520 An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes
Besserung in den Teil, der sich kritisch, zum Teil schonungslos, mit religiö-
sen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensformen in den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen und Ständen befasst, ein Bewusstsein für die
Ursachen herrschender Missstände schafft und zu deren Beseitigung auf-
ruft.
Subthematischer Zusammenhang des Textbelegs ist die Bestärkung von
Ordensleuten in ihrer persönlichen Position gegenüber den Oberen. Lu-
ther richtet hier an Kloster-Insassen, die sich in einer unerträglichen Kon-
fliktsituation befinden, eine Verhaltensempfehlung, wie sie sich, bei beste-
hendem Beichtzwang, von heymlichen sunden selbst befreien könnten.
Die psychologisch relevanten Handlungsschritte hierzu sind im Detail
empfehlend ausgeführt. Einem vorgeschalteten Satz mit dem Verbum
dicendi radt folgt, ohne Abhängigkeitsmerkmal, eine Konditionalfügung:
der Bedingungssatz mit Erststellung des finiten Verbs, 02, die Konse-
quenz als Reihe von Aufforderungssätzen für die empfohlenen Handlun-

_____________
11 Vgl. Beleg T 2.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 721

gen, 04-07. In den zugehörigen Attributsätzen, 03, 05, 07, erfolgt beglei-
tend und nahezu einhämmernd eine explizite Willensstärkung der Ange-
sprochenen. Der letzte Aufforderungssatz der Reihe, 08, der nur schein-
bar zu den vorausgehenden mit Konsequenzfunktion gehört, hat
Bedingungsfunktion und bildet zusammen mit dem folgenden Aussage-
satz eine zweite Konditionalfügung, 08f. In ihr wird die Zusicherung ge-
geben, dass das angeratene Vorgehen gelingen werde:
01 Szo radt ich den selbenn kindeln, brudern unnd schwestern,
wollen die ubirsten nit laub (‚Erlaubnis‘) geben zubeichten die
heymlichen sund,
wilchem du wilt,
ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder odder schwester,
05 dem odder do du wilt,
laß dich absolvirnn und trosten, ganck unnd thu drauff
was du wilt unnd solt,
gleub nur 12 fest, das du seyst absolvirt,
so hat es nit nodt.
Es folgt eine abschließende Ermutigung und Beruhigung, die die themati-
sierte Situation entschärft durch Klärung des interaktiv relevanten Sach-
verhalts, dass der Rezipient nicht gefährdet ist, weil die angedrohten Stra-
fen gar nicht auf seinen speziellen Fall zutreffen. Auch hier besteht, wie
im ersten Textbeleg, der bestärkende Nachtrag aus einer lockeren Reihung
von Aufforderungs- und Aussagesätzen in dezidiert einfacher Diktion,
ohne dass Konnektoren die vorhandenen logischen Beziehungen zwi-
schen den Aussagen signalisieren, 13 10-14:
10 Und den ban, irregularitet odder was sie mehr drewen,
laß dich nit betruben noch yrre machennn,
sie gelten nit weytter, den auff die offentlichen oder bekanten sunden,
ßo die ymant nit wolt bekennenn,
es trifft dich nichts. WA VI, 444.08-15.

_____________
12 Dieses beruhigend ermutigende nur, 08, begegnet in vergleichbaren Appellen häufiger und
kennzeichnet die vertrauenerweckende persönliche Hinwendung des Appellierenden zu
seinem Gesprächspartner, so z.B. im Trostbrief an seine schwerkranke Mutter: Seid nur ge-
trost (...), wodurch das vorher mehrfach zitierte Bibelwort zu einem persönlichen Trostwort
in der konkreten kommunikativen Situation wird, WA Br. VI 1820, Z. 90.
13 Der mit ßo eingeleitete Teilsatz, 13, ist ein attributiver Relativsatz, bezogen auf die offentli-
chen (...) sunden, der abschließende Aussagesatz, 14, bezieht sich auf die vorausgehende Ge-
samtaussage, 10-13.
722 Monika Rössing-Hager

Der gesamte Aussagenkomplex 02-09 bildet einen gleitenden Übergang


von Bedingung-Folge-Handlungen, die selbst wieder in eine Bedingung
übergehen, die ihrerseits eine Folge hat. Die Form der Aufforderungssät-
ze, die sowohl als Konsequenz wie als Bedingung fungieren können, er-
möglicht diesen nahezu unmerklichen Prozess des Übergangs. Es handelt
sich hier um ein Phänomen, das bevorzugt in Einsicht vermittelnden Ap-
pellprozeduren auftritt. Es gehört einem kolloquial vereindringlichenden
Gestus an und begegnet entsprechend auch in der Alltagskommunikation.
Am Ende, 10-14, wird hier auf einen Fall hingewiesen, der im Gegensatz
zu dem im ersten Abschnitt behandelten steht (offentliche vs. heymliche sun-
den). Die beiden folgenden Belege dienen zum Vergleich.

T3
Der nachfolgende Textbeleg gehört in Luthers Traktat von 1520 Von der
Freiheit eines Christenmenschen.
Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, ein gutes Werk in
der richtigen Gesinnung, nur aus Nächstenliebe, zu tun. Die Konstruktion
ist der vorausgehenden bemerkenswert ähnlich. Auch hier bleibt der er-
öffnende Satz mit dem Verbum dicendi raten vorgeschaltet, ohne formale
Abhängigkeit zu erzeugen. Und auch hier greifen zwei Konditionalfügun-
gen ineinander, aber nach einem etwas anderen Prinzip: Die erste Voraus-
setzung-Folge-Relation besteht aus einem Konditionalsatz mit Spitzenstel-
lung des Finitums, 02, der mit einem Aufforderungssatz, 03, korrespon-
diert, dem zwei weitere folgen, die formal mit dem ersten Aufforderungs-
satz koordiniert sind, 04f. Inhaltlich stehen sie jedoch zu diesem in
correctio-Beziehung. Sie haben nicht nur die Funktion einer Konsequenz
aus dem vorausgehenden Konditionalsatz, sondern bilden zugleich selbst
in einer zweiten Konditionalfügung die Voraussetzung zu der Konse-
quenz im nachfolgenden mit so eingeleiteten Aussagesatz, 06.
Auch inhaltlich greifen die beiden Konditionalfügungen eng ineinan-
der: Der Folgesatz der zweiten, 06, enthält einen Bestätigungshinweis für
das gute Ergebnis, das mit der empfohlenen Handlungsweise verbunden
ist. Diese abschließende Konsequenz kennzeichnet die Gesamtaussage des
Appells als Orientierungshilfe für eine richtig verstandene christliche Le-
bensführung:
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 723

01 Ich rate dir aber,


wiltu etwas stifften, betten, fasten,
so thu es nit der meynung, das du wollist dir etwas guts thun,
sondern gibs dahyn frey, das andere leuth desselben genießen
mgen,
05 und thu es yhn zu gut,
so bistu ein rechter Christen (...) WA VII, 37.27-30

T4
Auch in Luthers Lehrschrift von 1520 Von den guten Werken begegnet un-
ter einer Vielzahl verschieden geformter Appelle ein Textbeleg, der be-
sonders stark die persönliche Nähe des Autors zum Rezipienten verdeut-
licht.
Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, sich bezüglich guter
Werke auf die zu beschränken, die sich aus den Zehn Geboten ergeben.
Der Appell besteht aus einer Konditionalfügung, die die Abfolge B, B – K
zeigt. Sie wird ohne vorausgehendes Appell-Signal unmittelbar eröffnet
durch zwei asyndetisch gereihte Aufforderungssätze als Voraussetzung,
01f.; die Konsequenz besteht aus einem mit so eingeleiteten Aussagesatz,
der durch zwei koordinierte Objektsätze erweitert ist, 03-05. Die Kondi-
tionalfügung hat also dieselbe Grundstruktur wie der jeweils zweite Teil
der beiden vorausgehenden Belege 2,08f. und 3,05f.
Die Konsequenz verweist auf eine Einsicht, die aus der empfohlenen
Handlungsweise zu erwarten ist und als Orientierungshilfe für die zu än-
dernde Grundeinstellung des Rezipienten – Überwindung der Werk-
frömmigkeit – dienen soll:
01 Alßo nym fur dich deyne feynnd, die undanckbarn,
thu yhn wol,
so wirstu finden,
wie nah odder ferne du vonn dissem gebot seyest,
05 unnd wie du dein lebenlang wirst ymmer zuschaffen haben mit
ubunge disses werckis, WA VI, 272.38-273.03
Der Appell steht in einem Kontext, der besonders stark vom Aufzeigen
logisch bedingter Sachverhaltszusammenhänge bestimmt ist, WA VI,
270.27-273.13. Der unmittelbare Einsatz mit der Aufforderung im Impe-
rativ, ohne vorausgehendes Signal des Ratens o.ä., statt dessen eröffnet
mit einem konkludierenden Alßo, wirkt, im Anschluss an die unmittelbar
vorausgehenden Ausführungen, als entlastender Einschnitt und zugleich
als Auftakt zum Abschluss des subthematischen Textteils.
724 Monika Rössing-Hager

Der Appell bezweckt, beim Rezipienten den vom Autor intendierten


Erkenntnisgewinn zu erreichen, indem der Rezipient auf dem Weg über
die eigene Erfahrung die Ausführungsschwierigkeit bestimmter Handlun-
gen kennen lernen soll – hier bezogen auf die Erfüllung des Gebots der
Nächstenliebe.
Es handelt sich bei der Konditionalfügung, die durch einen Aufforde-
rungssatz eröffnet wird und als Konsequenz einen Aussagesatz hat, um
eine von Luther gern benutzte Form, wenn der Inhalt des Konditionalsat-
zes in einem vereindringlichenden, persönlich geprägten und unkompli-
ziert und direkt wirken sollenden Ton das eigentliche Ziel des Sprechers
ist, während die in Aussicht gestellte Konsequenz für den Rezipienten als
bedeutsame und sicher zu erwartende Zugabe erscheint, etwa in dem Sinn
'Tu erst mal das, dann geschieht außerdem und für dich erstrebenswert
(auch noch) das'.
Die Handlungsanweisungen der betrachteten Appelle sind flankiert
von expliziten, z.T. aber auch impliziten, Signalen des Bestärkens, Mutma-
chens, Zuversicht- und Selbstvertrauenweckens. Zweifellos beruhen sie im
Hinblick auf ihren Inhalt zum großen Teil auf einer reflektierten Verarbei-
tung Luthers von seinen eigenen Erfahrungen aus den Zeiten seines Rin-
gens um ein richtiges Verständnis des christlichen Glaubens. Im folgen-
den Kapitel erscheinen die ersten Textbelege, insbesondere T 5, wie eine
Hintergrundinformation zu dieser Annahme bezüglich der Intention, die
der Ausgestaltung der betont persönlich gehaltenen Appelle zu Grunde
liegt.

3.2. Folgern aus dem Gegenteil: Doppelte Konditionalfügungen

Entsprechend ihrem persuasiven Duktus sind die Texte durchzogen von


einem Signalsystem des fortgesetzten Folgerns und von häufigen Hinwei-
sen auf die Schlüssigkeit des Ausgeführten. Unter den zahlreichen Kondi-
tionalfügungen begegnen an herausragenden Stellen der Erörterungen
verschiedene Formen ihres sequentiellen Gebrauchs, speziell der Doppel-
setzung in der Funktion der Folgerung aus dem Gegenteil. 14 Sie lassen
sich bestimmten Verwendungszusammenhängen zuordnen.
_____________
14 Zu ihrer Behandlung in der zeitgenössischen Logik vgl. Fuchsperger (1533, 56): Noch ist
ain form argumentierens genant doppelrede / wenn zwey ding mit sonderm außtrag / anhang
oder zweyffel fürgelegt / vnnd der yedes durch annemung des andern mag angenuen
oder verworffen werden / Als weñ das oder daß geschehen sey / so soll das / oder anders
auch volgen / dem sey aber nicht also / darumb mß es auch der volge emberen. Oder al-
so zreden / Es ist aintweder diß oder jhens / diß aber ists nit / darumb mß jhens sein
(es folgen weitere Beispiel-Varianten) und Melanchthon (1846, 417ff.), speziell zur forma per
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 725

T5
Im Freiheitstraktat führt Luther unter der subthematischen Leitfrage Wie
gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen, 02, schrittweise die Suche
des Menschen nach einem Lösungsweg für die Bewältigung einer Aufgabe
vor, der er sich nicht gewachsen sieht, und zeigt als ausweglos erscheinen-
des Endstadium der wachsenden Unruhe und Hilflosigkeit die Verzweif-
lung, die zugleich die Voraussetzung für eine Kehrtwende ist: Suche nach
Hilfe von außen, und in dieser Situation Hinweis auf das Angebot Gottes:
den Glauben, als einzigen Rettungsanker. Es folgt, ebenso schrittweise,
der Aufbau von Zuversicht, Hoffnung, Vertrauen.
Die Ausführungen zu diesem Thema bieten eine Anzahl von Bemer-
kungen Luthers über psychische Befindlichkeiten des Menschen bei sei-
nem Bestreben, die göttlichen Gebote zu halten. Es handelt sich um eine
rational untermauerte psychologisierende Argumentation, die weitgehend
auf dem Nachweis von greifbaren Ursachen und deren konkreten Wir-
kungen beruht. Luther bietet hier metadiskursiv Äußerungen, die als auf-
schlussreiche Hintergrundinformationen im Hinblick auf die Intentionen,
aus denen heraus er einen Teil seiner Appelle formuliert, gelesen werden
können. Insbesondere die Verbindungen zu T 1 und T 2 erscheinen nicht
zufällig.
Subthematischer Zusammenhang: erörternd wertende Gegenüberstellung von Ge-
bot und Verheißung, Werk und Glauben. Der streng gegliederte Textteil be-
ginnt mit der Leitfrage nach der Ursache, warum allein der Glaube ohne alle
Werke fromm mache, trotz der vorgeschriebenen Gebote, 02-04:
01 [Czum achten]
Wie gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen,
und on alle werck ßo berschwencklich reychtumb geben,
ßo doch sovill gesetz, gebot, werck (...) uns furgeschrieben seyn
ynnn der schrifft?
Die Ausgangsthese, 05f., betrifft die Bedeutung des Glaubens, die anschlie-
ßende Divisio, 07-09, eine Gegenüberstellung von Gottes Geboten (I) und
Gottes Verheißung (II):

_____________
contrapositionem bzw. consequentia ex contrapositione: Erotemata dialectices. CR XIII, 701f. Un-
abhängig von diesem bei Luther zweifellos vorhandenen engen Bezug der Figur zur ars dia-
lectica ist sie natürlich auch über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart fester Bestandteil
der kommunikativen Verhaltensmuster bestimmter Situationen im Alltagsgespräch und war
auch als solche Luther vertraut.
726 Monika Rössing-Hager

05 Hie ist fleyßig zu mercken (...),


das allein der glaub on alle werck frum, frey und selig machet (...)
Und ist zu wissen,
das die gantze heylige schrifft wirt yn zweyerley wort geteyllet,
wilche seyn Gebot oder gesetz gottis (I) und vorheyschung oder zusagun-
ge (II).
Ad I: Die Gebote: In einer Sequenz von Aussagesätzen mit zahlreichen
Signalen des Begründens und Folgerns und gelegentlich erweitert durch
einen Objekt-, Konsekutiv- oder Attributsatz, erfolgt eine Funktionsbe-
stimmung der Gebote durch eine allgemeine und eine spezifizierende
Kontrastierung ihres Forderns mit dem Fehlen von Erfüllungshilfen,
10-15, und durch eine Darstellung der Auswirkungen: Die Gebote zeigen
dem Menschen seine Unfähigkeit, aus eigener Kraft das Gute zu tun und
führen ihn zum Verlust seines Selbstvertrauens und zur Verzweiflung über
sich selbst, 16-19.
Es folgt: eine Exemplifizierung am 9. und 10. Gebot: 15 Das Erlebnis des
eigenen Unvermögens bewirkt die vollkommene Mutlosigkeit des Men-
schen und sein Verlangen nach Hilfe von außen, 20-24. Der Befund wird
generalisierend auf alle Gebote übertragen, 25:
10 Die gebott leren und schreyben uns fur mancherley gutte werck,
aber damit seyn sie noch nit geschehen.
Sie weyßen wol,
sie helffen aber nit,
leren was man thun soll,
15 geben aber keyn sterck dartzu.
Darumb seyn sie nur datzu geordnet,
das der mensch drynnen sehe sein unvormgen zu dem gutten
und lerne an yhm selbs vortzweyffeln.
Und darumb heyssen sie auch das alte testament und gehren al-
le ynß alte testament,

_____________
15 Luther fasst in seiner Schrift Von den guten Werken mit Verweis auf Paulus, Ro. vij, beide
Gebote als Einheit, WA VI 276.10-20.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 727

20 Als, das gebott ‚Du solt nit bß begird haben‘ beweysset, das wir al-
lesampt sunder seyn,
und kein mensch vermag, zu sein on bße begirde, er thue was
er will,
Darauß er lernet an yhm selbs vortzagen und anderßwo suchen hulff,
das er on bße begird sey,
und alßo das gebott erfulle durch eynen andern, das er auß yhm selb nit
vormag:
25 alßo sein auch alle andere gebott uns unmuglich.
Überleitung von I zu II: Die weiterführende Folgerung aus dem Vorausge-
henden geschieht in einer Konditionalfügung, 27-31, mit komplexem
Vorfeld, 27-29, in dem schrittweise eine starke Spannung aufgebaut wird:
Im eröffnenden Konditionalsatz mit nachfolgendem Konsekutivsatz er-
folgt eine nachdrücklich differenzierende Wiederholung des bisherigen
Argumentationsergebnisses: Der Mensch hat sein Unvermögen kognitiv
und emotional wahrgenommen (gelernet und empfunden), 27, und hat daher
Angst davor, wie er die Gebote erfüllen könne. Eine Parenthese verschärft
begründend (Syntemal) die Angst durch eine komprimiert geäußerte Zu-
satzbedingung, 29, die indirekt die innere Überzeugung des Menschen
wiedergibt, dass er die Gebote halten muss, weil er verdammt würde,
wenn er sie nicht erfüllt. Der wachsende psychische Druck hat an dieser
Stelle seinen Höhepunkt erreicht.
Die Konsequenz zeigt – als Lösung der Spannung – ein psychologisch
deprimierendes Ergebnis: Der Rezipient registriert seine Niederlage (gede-
mütigt und zu nicht worden in seynen augen), 30. Argumentativ ist die Basis für
das Wirken der göttlichen Verheißung (II) gelegt, 30f.:
[Czum neunden,]
Wen nu der mensch auß den gebotten sein unvormgen gelernet und
empfunden hatt,
das yhm nu angst wirt, wie er dem gebott gnug thue,
Syntemal das gebot muß erfullet seyn, oder er muß vordampt seyn,
30 So ist er recht gedemtigt und zu nicht worden ynn seynen augen,
findet nichts yn yhm, damit er mag frum werden.
Ad II: Die göttliche Verheißung beginnt mit der Zuversicht weckenden An-
kündigung, dass Voraussetzung für die Erfüllung der Gebote der Glaube
an Christus sei. Die Aussage erfolgt, eingeführt durch ein Verbum dicendi,
in einer formal ‚selbstständigen‘ Konditionalfügung in der Abfolge B – K,
mit Verb-Erststellung im Koditionalsatz und einem Aufforderungssatz als
Konsequenz, beide durch einen weiterführenden Relativsatz ergänzt,
33-36.
728 Monika Rössing-Hager

Als Höhepunkt seiner Beweisführung gibt Luther anschließend zweimal in


kurzem Abstand hintereinander je in einer doppelten Konditionalfügung als
Umkehrschluss den Kerngedanken des Neuen Testaments wieder, dass
allein der Glaube selig mache: das erste Mal in knapper kompromissloser Alter-
nativ-Formulierung, deren Zugespitztheit er, selbst in vergleichbar schar-
fen Äußerungen, an keiner Stelle seiner Werke überbietet, 37-40. 16 Die
eröffnenden Konditionalsätze haben Spitzenstellung des finiten Verbs, die
antithetischen kurzen Gliederpaare anaphorisch-parallelen Gleichlauf. Der
abrupte Ton – selbst die Verbvalenzen von glauben und haben sind nicht
gefüllt – erscheint zunächst als Fremdkörper in dem rhetorisch durch-
formten, wortreichen Text, ist jedoch in seiner Wirkung zweifellos beab-
sichtigt, da er dem Wort Gottes besondere Schlagkraft verleiht und seine
kompromisslose, unabdingbare Gültigkeit verdeutlicht. Im Anschluss an
zwei Aussagesätze, die den Inhalt der Verheißung begründen, der erste im
Hinblick auf seine entlastende Bedeutung für den Menschen, der zweite
im Hinblick auf den göttlichen Beschluss, auf dem die Verheißung basiert,
41-43, folgt in konsekutiver Abhängigkeit von diesem die zweite doppelte
Konditionalfügung, 43-48. Inhaltlich eine Bekräftigung der ersten, ist auch sie
sehr direkt formuliert, jedoch weniger forciert. Indem sich die Konstruk-
tion durch Anakoluth aus der Abhängigkeit von dem konsekutiven dass-
Satzbeginn befreit, kommen die formalen Indikatoren gesetzhafter Ver-
kündung – mit generalisierendem Relativpronomen als Eröffnung der
Konditionalsätze – in anaphorisch-antithetischem Parallelismus voll zur
Wirkung, wobei sich hier der Ton wieder stärker dem oratorischen Duk-
tus des Freiheitstraktats einpasst: durch die erweiterte Prädikatgruppe im
ersten Teil und die verbalen Klammerformen aus Finitum und Infinitiv,
die als Futurperiphrase den Verheißungscharakter der Aussage verstärken
(sol – seyn, 46, sol – haben, 48):

_____________
16 Vgl. z.B. die Belege T 7 bis T 10, besonders den Umkehrschluss T 10, mit dem Luther auf
seiner Flucht von der Wartburg nach Wittenberg in einem unerschrockenen Brief seinem
Landesherrn, Friedrich dem Weisen, seine Verzagtheit vorhält und ihn vereindringlichend
zu einer dezidierten Haltung gegenüber dem Kaiser auffordert, 10,01-05.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 729

Dan ßo kumpt das ander wort, Die gottlich vorheyschung und zusa-
gung und spricht
‚wiltu alle gepott erfullen, deyner bßen begirde und sund loß
werden
wie die gebott zwyngen und foddern,
35 Sihe da, glaub in Christum,
in wilchem ich dir zusag alle gnad, gerechtigkeit, frid und frey-
heyt,
glaubstu,
so hastu,
glaubstu nit,
40 so hastu nit.
Den das dir unmuglich ist mit allen wercken der gebott (...),
das wirt dir leycht und kurtz durch den glauben.
Den ich hab kurtzlich yn den glauben gestellet alle ding,
das,
45 wer yhn hat,
sol alle ding haben und selig seyn,
wer yhn nit hatt
soll nichts haben‘.
Conclusio: Es erfolgt eine Synthese der Ausführungen von I und II, in
einem Aussagesatz mit zwei Prädikatgruppen, die durch anaphorisch-
parallele Objektsätze erweitert sind, mit einem anschließenden Finalsatz
im Verheißungston, 49-51:
Alßo geben die zusagung gottis, was die gepott erfoddern,
50 und volnbringen, was die gepott heyssen,
auff das es alles gottis eygen sey, Gepott und erfullung (...).
WA VII, 23.24-24.25

T6
Im nachfolgenden Textbeleg, der in Luthers Lehrschrift Von den guten
Werken gehört, wird der argumentative Duktus verstärkt durch die Ver-
wendung von drei doppelten Konditionalfügungen, eine zur Eröffnung der Aus-
führungen, 05-10, die beiden anderen, unmittelbar aufeinander folgend,
als deren Abschluss, 13-25; 27-39. Bedingt durch ihre rahmende Position und
die damit verbundenen unterschiedlichen Funktionen differieren sie er-
heblich in der gedanklichen und formalen Struktur sowie in ihrem Um-
fang und der sprachlichen Ausgestaltung.
730 Monika Rössing-Hager

Subthematischer Zusammenhang ist die Anleitung zu kritischer Selbstein-


schätzung als Voraussetzung für richtiges Verhalten. Die Eröffnung ist the-
senartig. Der Rezipient wird in einem indirekten Appell durch einen er-
weiterten Aussagesatz darauf hingewiesen, wie er sich selbst ein Urteil
darüber zu bilden vermöge, inwieweit seine Handlungen gute Werke sind,
02f. Die erste, begründend angeschlossene, doppelte Konditionalfügung formu-
liert im Umkehrschluss die Unterscheidungskriterien knapp und dezidiert.
Die einleitenden Konditionalsätze haben Erststellung des finiten Verbs
und benennen im positiven wie negativen Fall den Leitbegriff zuvorsicht,
05; 08. Die Konsequenz hat anaphorisch-parallele Glieder mit vollkom-
men gleichem Wortlaut, einschließlich dem einleitenden ßo und unter-
schieden nur durch die Negation im zweiten Fall. Beide Konditionalfü-
gungen schließen je mit einem Irrelevanzbedingungssatz, der durch eine
extrem irreale Fallsetzung die Gültigkeit der Gesamtaussage verstärkt, 07;
10:
01 [Czum vierden,]
Hie kann nu ein iglicher selb mercken und fulen,
wen er guttes und nit guttes thut:
dan
05 findet er sein hertz in der zuvorsicht, das es gote gefalle,
ßo ist das werck gut,
wan es auch ßo gering were als ein strohalmen auffheben,
ist die zuvorsicht nit da odder tzweifelt dran,
ßo ist das werck nit gut,
10 ob es schon alle todten auffweckt unnd sich der mensch ver-
brennen ließ. (...) WA IV, 206.08-11
Der umfangreiche eingerahmte Textteil, WA IV, 206.13-207.15, stellt
eingehend die Bedeutung des Glaubens dar, als Grundlage für eine Gesin-
nung, aus der heraus jedes Werk, auch das geringste, ein gutes Werk sein
kann. Die Ausführungen haben als Argumentationsstützen mehrere Ver-
weise auf die Bibel und münden in einer anwendungsorientierten Exempli-
fizierung: Das Kriterium zur Unterscheidung, ob ein Werk gut ist oder
nicht, wird anhand einer allgemein vertrauten Gegebenheit der Partnerbe-
ziehung in einer zweiten doppelten Konditionalfügung verdeutlicht, 11-25. Diese
hat einen eher kolloquialen Duktus und ist erheblich expandiert. Merkma-
le einer formalen Korrespondenz zwischen antithetischen Gliederpaaren
fehlen weitgehend. Auf die Exempelfunktion verweist ein vorausgeschick-
ter Aussagesatz, 11f., aber ohne nachfolgendes Abhängigkeitssignal. Die
Konditionalsätze sind verschieden eingeleitet (wenn, wo), 13; 20. Der erste
benennt sehr genau den Fall positiver Voraussetzungen in der Interaktion
der Partner bei gegenseitiger Neigung. Die Konsequenz erstreckt sich auf
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 731

mehrere Einzelaussagen: In einer Kombination von Frage- und Antwort-


satz 17 wird generell die zuvorsicht zur sicheren Richtschnur für das Verhal-
ten erklärt, 15f. In den anschließenden Aussagesätzen, 17-19, wird das
gemeinte Verhalten durch geraffte Aufzählungen konkretisiert und impli-
zit als erstrebenswert dargestellt. In der zweiten Konditionalfügung wird
als Folgerung aus dem Gegenteil eine abschreckende Vorstellung für den
Fall des tzweifels der Partner aneinander, 20, entworfen. Die anschauliche,
extensive Unterbreitung der psychischen Pein, als Folge der Verunsiche-
rung durch den Vertrauensverlust mit dem Ende in der Ausweglosigkeit,
21-25, ähnelt der Darstellung der Verzweiflungs-Situation des Menschen,
dem der Glaube fehlt, in Textbeleg 5,17f.; 22; 30f.:
[Czum sechsten,]
Das mugen wir bey einem groben fleischlichenn exempel sehen.
Wen ein man odder weib sich zum andern vorsicht lieb und wol-
gefallens,
und das selb fest glewbt,
15 wer lernet den selben, wie er sich stellen sol, was er thun, lassen, sa-
gen (...) sol?
die eynige zuvorsicht leret yhn das alles und mehr dan not ist.
Da ist yhm kein unterscheidt in wercken. Thut das groß, lang vile
ßo gerne als das klein, kurtz, wenige, und widerumb, dartzu, mit
frolichem, fridlichem, sicherem hertzen, und ist gantz ein frey
geselle.
20 Wo aber ein tzweifel da ist,
da sucht sichs, welchs am bestenn sey,
da hebet sich unterscheidt der werck austzumalen, wamit er mag
huld erwerben,
und gaht dennoch zu mit schwerem hertzen und grosem unlust,
unnd ist gleich gefangen,
25 mehr dan halb vortzweiffelt, und wirt offt zum narren drob.
Analoge Übertragung des Exempels auf das Verhältnis des Menschen zu Gott
erfolgt unmittelbar anschließend in einer dritten doppelten Konditionalfügung,
26-39, bei der die Bedingungen durch allgemeine Relativsätze ausgedrückt
sind, wobei im ersten Fall das Subjekt des Konsequenzsatzes, 27f., die
Konstruktion eröffnet, so dass der eingeschobene Relativsatz zum Attri-
butsatz wird.
Die beiden strukturell etwas gelockerten Fügungen kontrastieren in-
haltlich den Christen, der in zuvorsicht gegen got lebt, 27f., mit dem, der mit
_____________
17 Das ist in Minimalausprägung das Kommunikationsmuster des Lehrgesprächs.
732 Monika Rössing-Hager

got nit einß ist odder tzweiffelt dran, 33. Die konträren, psychisch tiefgreifenden
Folgen sind jeweils auf einer stark expandierten Hauptsatzebene zunächst
generalisierend benannt – 29; 34 – und anschließend in einer Häufung von
Prädikatgruppen, 29-31, bzw. weiteren Aussagesätzen, 34-39, konkreti-
siert. Im zweiten Fall münden sie in dem Fazit, dass alle Handlungen der
Werkfrömmigkeit als Ergebnis die Verzweiflung haben, 37:
26 Alßo
einn Christen mensch,
der in dieser zuvorsicht gegen got lebt,
weiß alle dingk, vormag alle dingk, vormisset sich aller ding, was
zu thun ist,
30 und thuts alles frolich und frey, nit umb vil guter vordinst und
werck zusamlen,
ßondern das yhm (...) daran benuget, das es got gefellet.
Widderumb
der mit got nit einß ist odder tzweiffelt dran,
der hebt an, sucht und sorget,
35 wie er doch wolle gnugthun und mit vil wercken got bewegen.
Er leufft zu sanct Jacob, Rom, Hierusalem (...) und findet doch
nit ruge, und thut das alles mit grosser beschwerung, vortzweyfflung
und unlust seines hertzen (...).
Dartzu seinß nit gute werck und alle verloren. Er sein vil drober
doll worden und vor angst in alle jamer kummen. (...) WA VI
206.08-208.05.
Ein formales Indiz für das eindeutige Ende des zweiten Teils der doppel-
ten Konditionalfügung fehlt. Der Inhalt der zweiten Konsequenz findet
seine Fortsetzung in den Folgesätzen, 36ff. Das gleitende Auslaufen
nimmt der Figur ihre Konturen und entsprechend der Aussage eine gewis-
se Schlagkraft. Stattdessen dominiert das Besonnen-Abwägende mit Blick
auf das im realen Alltagsleben relevante konkrete Detail. Es ist daher im
Hinblick auf den dargelegten Sachverhalt durchaus die angemessene Dar-
stellungsform.
Als Vergleichsgrundlage für die extreme Ausgestaltung der ersten
doppelten Konditionalfügung in T 5, 37-40, sind im Folgenden ergänzend
einige besonders scharf formulierte Belege angeführt: aus Luthers Schrift
Wider die himmlischen Propheten T 7 bis T 9, sowie einer der zahlreichen 18 aus
seinen Briefen, T 10.

_____________
18 Eine kleine Zusammenstellung findet sich in Rössing-Hager (1972, 243, Anm. 1).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 733

T7
Subthematischer Zusammenhang: Zu Beginn des 2. Buches Wider die himmlischen
Propheten verkündet Luther die siegessichere Zuversicht, das begonnene
Werk der Reformation trotz gegnerischer Behinderungsversuche zu voll-
enden. Als Grundlage bekennt er sein rückhaltloses Gottvertrauen.
Intention: Einschüchterung der Gegner, primär Karlstadts und seiner
Anhänger, durch eine unerschrockene Drohgebärde.
Nach vorgeschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung für die folgende
Äußerung, 01, folgt eine doppelte Konditionalfügung, 02-05, als Alterna-
tiv-Indikator. Die zweite Konsequenz, 05, bietet eine Ergebenheitserklä-
rung für den Fall des Irrtums – der jedoch implizit als ausgeschlossen
suggeriert wird. Die knapp geäußerte Alternative signalisiert vielmehr, dass
der Verkünder alles auf eine Karte setzt. Die beiden Folgesätze enthalten
eine erläuternde Bekräftigung, 06f.:
01 Ich habs offt und lengst gesagt:
Ists aus Gott, was ich hab angefangen,
so solls niemant dempffen,
Ists nicht aus Gott,
05 so hallts eyn ander, ich wills freylich nicht erhalten.
Ich kann nichts dran verlieren, denn ich habe nichts drauff ge-
wand.
Das weys ich aber wol, das myrs soll niemand nemen on Gott al-
leyne. WA XVIII 134.01-12

T8
Intention: Entlarvung des Gegners, um ihn unschädlich zu machen. Nach vor-
geschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung der folgenden Äußerung, 01,
folgt eine an mehreren Stellen durch parenthetische Argumente erweiterte
doppelte Konditionalfügung. Der Umkehrschluss dient als Kriterium zur
Beurteilung des Gegners. Der logische Duktus in bündiger Formulierung
schließt suggestiv jeden Widerspruch aus. Die zweite Konsequenz ist po-
lemisches Signal für das unanfechtbar Zutreffende der Aussage. Es zeigt
sich eine Muster-Ähnlichkeit mit T 7:
734 Monika Rössing-Hager

01 So stehet nu diese sache also:


Ist D. Carlstad der man, der macht hat, artickel des glaubens zu
stellen (...),
so Ist seyn schreyben recht (...),
Ist er aber nicht der man,
05 so sihest, wie yhn der teuffel reyt (...)WA XVIII 146.30-147.05

T9
Subthematischer Zusammenhang: sachlich erörternde Ausführung über richtiges
und falsches Lehren.
Eröffnende Behauptung: Vorrang hat die Lehre des Glaubens gegenüber
der Lehre von den guten Werken, 01. Der Umkehrschluss bietet die Be-
weisgrundlage für die vorausgehende (begründende) Behauptung. Die dop-
pelte Konditionalfügung, 02-08, ist chiastisch angeordnet: Zwei Irrelevanz-
bedingungssätze bilden den Rahmen der Konstruktion, 03; 08. Sie
unterstreichen die absolute Nutzlosigkeit der Werke. Die negative erste
Konsequenz steht vor der zugehörigen Bedingung: 04, 05, und die positive
zweite Konsequenz hinter ihrer Bedingung: 07, 06. Hierdurch entsteht eine
verstärkte Spannung zwischen den Alternativ-Aussagen. Es besteht Mus-
ter-Ähnlichkeit mit dem eröffnenden Umkehrschluss in T 6, 05-10. In
beiden Fällen hat die logische Figur Beweisfunktion in einem erörternden
Textteil.
01 Denn es ligt mehr an der lere des glaubens (...) denn an der lere
gutter werck.
Syntemal
ob gleych die werck feylen,
so ist hlffe und rad da, das man sie kann anrichten,
05 wo des glaubens lere fest und reyn bleybt.
Aber wo des glaubens lere enhyndern gesetzt und die werck erfur
zogen werden,
da kann nichts guts, widder rad noch hulffe seyn,
On das die werck eyttel ehre mit sich bringen (...). WA XVIII,
63.21-30

T 10
Thematik und Textsorte: freimütiger Rechtfertigungsbrief Luthers wegen
seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg trotz kurfüstlichen
Verbots.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 735

Intention: Versuch, den Kurfürsten zu furchtlosem Auftreten gegen-


über dem Kaiser im Vertrauen auf Gott anzufeuern. Die Aussage kommt in
ihrer knappen, unabdingbaren Formulierung nahe an den Ton von T 5,
37-40 heran:
01 Gläubt E.K.F.G. dies,
so wird sie sicher sein und Friede haben,
gläubt sie nicht,
so gläube doch ich
05 und muß E.K.F.G. Unglauben lassen seine Qual in Sorgen ha-
ben,
wie sich’s gebührt allen Ungläubigen zu leiden. WA Br. II,
Nr. 455, Z. 91-94

4. Schlussbemerkung
Es zeigt sich, dass das Strukturmuster der doppelten Konditionalfügung
für die Folgerung aus dem Gegenteil eine außerordentliche Flexibilität hat,
je nach der im Einzelfall intendierten kommunikativen und textkonstituti-
ven Funktion. Entsprechend dem Vorhandensein von Merkmalen der
formalen Ausgestaltung tritt es im Textkontinuum deutlich als eigenstän-
dige Einheit hervor oder bleibt unauffällig. Zwischen beiden Extremen
sind vielfache Übergangsmöglichkeiten, von denen hier nur einige berück-
sichtigt werden konnten.
Je schärfer zugespitzt die Aussage ist, desto eher hebt sich die doppel-
te Konditionalfügung auch formal aus dem Textkontinuum ab. Häufig
bewirkt der Einsatz mit dem finiten Verb in den Konditionalsätzen einen
weitgehenden Gleichlauf der paarweise korrespondierenden, oft sehr kur-
zen Glieder, die sich im Extremfall nur durch die vorhandene bzw. feh-
lende Negation unterscheiden. Je gemäßigter der Ton, desto eher erfolgt
der Einsatz mit einer Konjunktion, wobei die Kontrastierung der beiden
Teilaussagen durch Verwendung derselben Konjunktion und weitere
anaphorische Elemente gestützt werden kann oder durch das Fehlen die-
ser Markierungen die Äußerung den Anschein des eher beiläufig Mitgeteil-
ten hat und hierdurch in der Vermittlung eines besonders relevanten in-
haltlichen Details umso wirksamer sein kann. Die Beobachtungen
verweisen auf Tendenzen. Für jede der genannten Erscheinungen bieten
sich auch Gegenbeispiele. Im Einzelfall spielen Kontextfaktoren zusam-
men, die die Bevorzugung bestimmter Formen begünstigen. Die im Hin-
blick auf die jeweils speziell intendierte kommunikative Wirkung getroffe-
ne (intuitive) Entscheidung bei der Wahl bestimmter Formelemente und
736 Monika Rössing-Hager

ihrer Kombination kann bei vergleichender Betrachtung nur versuchswei-


se erschlossen werden.
Genauso differenziert wie die formale Ausgestaltung der Struktur ist
der in ihr transportierte Gedanke und die beabsichtigte kommunikative
Wirkung von diesem: Überzeugung vermittelnde Schlagkraft mit dem
Anspruch der unabdingbaren Gültigkeit und des Ausschließens von jedem
denkbaren Widerspruch und daher gleichermaßen geeignet für Verhei-
ßen / Versprechen aber auch Drohen (z.B. T 5, 37-40; T 5, 45-48), das
Verkünden eines zugespitzten (T 8) oder unerwarteten (T 10) Trumpfes,
die schlüssige Darlegung eines Sachverhalts mit Beweiskraft in einer Erör-
terung (T 6, 02-10; T 9); die gegenstandsnahe Veranschaulichung eines
abstrakten Sachverhalts durch eine vertraute Alltagssituation (T 6, 13-25;
bedingt auch T 6, 26-39). Die nicht seltene Erweiterung der kontrastie-
renden Konditionalfügungen durch entsprechend antithetische Irrelevanz-
sätze mit extrem irrealen Fallsetzungen unterstreicht in der Übertreibung
die ausnahmslose Gültigkeit der Aussagen (z.B. T 6, 02-10 und T 9).
Fast in allen Bedingungssätzen der Belege steht ein Verb des Han-
delns, Sich-Verhaltens oder So-Seins. Und in vielen dieser Fälle steht das
Verhalten bzw. Handeln von Personen(gruppen) zur Diskussion, das sich
in einem spezifischen Kontext als sinnvoll oder notwendig ergibt oder
aber als schädlich erweist. Immer ist die Konsequenz im Blick, oft als Ziel,
auf das die Bedingung gerichtet ist; gelegentlich ist aber auch die Bedin-
gung – in Form einer Aufforderung – das Primäre und die Konsequenz
eher ein (erwünschtes oder erwartetes) Begleitergebnis.
In jedem Fall bringt die Durchdringung der Texte mit Konditionalfü-
gungen sehr viel Dynamik und Spannung in die Ausführungen. Sie führt
zu einer mentalen Aktivierung des Rezipienten, insofern er bei der Be-
handlung fast jedes Subthemas Kriterien für die richtige Einschätzung von
Sachverhalten vermittelt bekommt und kontinuierlich explizit, und sehr
viel öfter implizit, aufgerufen ist, durch sorgfältig erwogene Entscheidun-
gen – und deren Umsetzung in Handlungen – in eigener Verantwortung
sein Schicksal maßgeblich selbst zu bestimmen, nicht im Sinn einer abso-
luten Autonomie, sondern durch ein Handeln aus aktivem Gottvertrauen.
Es scheint nicht zufällig, dass gerade die explizit persönlichen Appelle
(T 1 bis T 4), deren Kernaussagen in Konditionalfügungen erfolgen, deren
eines Element ein Aufforderungssatz ist, zwar hohe (im weitesten Sinn)
ethische Anforderungen an den Rezipienten stellen, einschließlich der
Empfehlung zur Emanzipation von der (kirchlichen) Obrigkeit, dass aber
zugleich diese Appelle flankiert werden durch ermutigende Anleitungen
zur Überwindung von Angst und inneren Unruhen, die ein hohes Maß an
Einfühlungsvermögen und Verständnis des Autors signalisieren.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge 737

Die mehrfachen Äußerungen in einigen der Textbelege unter 3.2. über


Ursachen und Entwicklungen von Zuständen seelischer Unruhe und
Angst bis hin zur Verzweiflung des Menschen, der seine eigenen Fähigkei-
ten überfordert und gleichzeitig auf keine helfende Kraft vertrauen kann,
besonders T 5, erscheinen wie ein Aufschluss gebender Hinweis auf eige-
ne Erfahrungen des Autors, die dessen Ermutigungen gegenüber dem
Rezipienten zu Grunde liegen. Die vorsichtige Annahme dieses Zusam-
menhangs drängt sich bei eingehender Lektüre der vier für diese Untersu-
chung benutzten Texte auf. Er ist sehr wahrscheinlich eine der Ursachen,
warum Luther bereits mit seinen Schriften aus den frühen Jahren der Re-
formation die Leser / Hörer trotz der hohen Erwartungen an sie so un-
mittelbar und erfolgreich angesprochen hat.

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738 Monika Rössing-Hager

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Textgrammatik und historische Textsorten
am Beispiel sakralsprachlicher Texte

Albrecht Greule (Regensburg)

1. Kirchenlieder als sakralsprachliche Texte


Jüdischer und christlicher Gottesdienst sind ohne Gesang nur schwer
vorstellbar. Für die Gemeinden stehen Musik und Gesang im Zusammen-
hang mit dem grundsätzlichen Problem der angemessenen Gottesvereh-
rung. Christlicher Gottesdienst soll und kann nur gesungener Lobpreis
Gottes in Form von Psalmen- und Hymnengesang sein (nach Becker u.a.
2001, 13).
Solange der Gesang im Gottesdienst einem Vorsänger und einem
Chor vorbehalten war und solange die Texte nur in einer der heiligen
Sprachen verfasst waren, sind sie für den Germanisten nur am Rand von
Interesse. Anders wird dies, sobald die Gemeinde am gottesdienstlichen
Gesang beteiligt wird und die Gesänge in der Sprache des Volkes verfasst
und bis auf den heutigen Tag überliefert sind. In der „Sprache des Vol-
kes“ heißt für die folgenden Überlegungen: in einer historischen und geo-
graphischen Varietät dessen, was wir summarisch „historische Einzelspra-
che Deutsch“ nennen.
Die anfänglich dürftige Überlieferung, sowohl was die Textmenge als
auch was den Umfang der Texte anbelangt, spiegelt die Tatsache wider,
dass es nur wenige volkssprachliche Lieder gab, die während gottesdienst-
licher Feiern gesungen werden durften1 und der schriftlichen Überliefe-
rung für wert gehalten wurden. Erst mit der Reformation, dem Vordrin-
gen der Volkssprache in den evangelischen Gottesdienst und mit Martin
Luther als Textdichter beginnt die Flut von Kirchenliedern. Das vorre-
formatorische Gebenbacher Pfarrbuch, das der dortige Pfarrer in den
Jahren 1419 bis 1437 verfasste, teilt uns die Liedanfänge der fünf Lieder
_____________
1 Payer (2000, 18): „[…] volkssprachliche Lieder [kamen] als Einschübe im Verlaufe liturgi-
scher Handlungen oder am Ende solcher zum Einsatz und dienten dann als erläuternde
Ausschmückung zum liturgischen lateinischen Gesang.“
742 Albrecht Greule

mit, die diese Oberpfälzer Gemeinde singen durfte: von Lichtmess bis
Palmsonntag „Nun bitten wir den heiligen Geist“ und „Sancta Maria,
Mutter reine“, von Ostern bis Pfingsten „Christ ist erstanden“ und „Also
hehr ist dieser Tag“, in der Weihnachtszeit: „Uns ist geboren ein Kind“
(vgl. Greule 1998, 386).

2. Beispiele
2.1. Petruslied

(1) Unsar trohtin hat farsalt sancte Petre giuualt,


Daz er mac ginerian ze imo dingenten man
Kyrie eleyson, Christe eleyson
(2) Er hapet ouh mit uuortun himilriches portun.
Dar in mach er skerian den er uuili nerian
Kyrie eleyson, Christe eleyson
(3) Pittemes den gotes trut alla samant uparlut
Daz er uns firtanen giuuerdo ginaden
Kyrie eleyson, Christe eleyson. 2
Da der Text neumiert ist, war er zum Gesang, vielleicht im Verlauf einer
Prozession oder einer Wallfahrt, bestimmt. Inhaltlich steht das Lied dem
lateinischen Prozessionshymnus „Aurea luce“ nahe, der für das Fest Peter
und Paul (29. Juni) vorgeschrieben ist (vgl. Groseclose / Murdoch 1976,
77ff.).

2.2. Nun bitten wir den Heiligen Geist

Nû bitten wir den heiligen geist


umb den rehten glouben aller meist
daz er uns behüete an unserm ende
sô wir heim suln varn ûz diesem ellende
kyrieleis.
In dieser Gestalt findet sich der Text zitiert in der dritten der Berthold
von Regensburg zugeschriebenen Predigten. Als Entstehungszeit wird die
_____________
2 Textwiedergabe nach H. D. Schlosser, Althochdeutsche Literatur, 2. Auflage 2004,150.
Überliefert in einer aus der Freisinger Dombibliothek stammenden Handschrift (clm
6260), geschrieben um 900 oder im frühen 10. Jh.
Textgrammatik und historische Textsorten 743

1. Hälfte des 13. Jh. vermutet. In Anbetracht der schwierigen Überliefe-


rung der Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigten gebe ich
den Liedtext zusätzlich nach einem Faksimile aus einer Trierer Hand-
schrift (neumiert) aus der Zeit um 1350 wieder:
Nu bidde we de(n) heylighen gheyst
vm den rechte(n) louen alter meyst
dat he vns be hode vor der helle
wan we hene varen vthe dessem elente
kryoleyson3

2.3. Christ ist erstanden

Christ der ist erstanden


Von der marter alle
Des svll wir alle fro sein
Christ sol vnser trost sein
Kyriel(eis)4

2.4. Es kommt ein Schiff geladen

(1) es kůmpt ein schiff geladen


bis an sin hǒgste bort
Es draget den sǒn des vaters
das eweliche wort.
(2) Das schiff das geit so stille
Es draget so duren last
der segel ist die myn(n)e
der heilge geist der mast
(3) Der ancker ist vß geworffen
dz schiff dz geit an lant
Got ist mensche worden
der sůn ist vns gesant.5[Fußnote folgende Seite]

_____________
3 Faksimile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 43).
4 Text nach Faksimile aus einer Klosterneuburger Handschrift (neumiert) des 14. Jh. Faksi-
mile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 29). Die Handschrift bezeugt ausdrücklich den Ge-
sang des Liedes durch das Volk: „…populus succinat Christ…“.
744 Albrecht Greule

2.5. Martin Luther, Mitten wir im Leben

1. Mytten wir ym leben synd mit dem todt umbfangen.


2. Wen suchen wir der hulffe thu, das wir gnad erlangen?
3. das byst du herr alleyne.
4. Uns reuet unser missethat, die dich herr erzurnet hat.
5. Heyliger herre Got
6. Heyliger starcker gott
7. Heyliger barmhertziger heyland
8. du ewyger gott las unns nicht versyncken yn des pittern todes
nott
9. Kyrieleyson
1. Mitten yn dem tod anfycht uns der hellen rachen.
2. Wer will uns aus solcher not frey und ledig machen?
3. das thustu herr alleyne
4. Es yamert deyn barmhetzigkeyt unser klag und grosses leyd.
5. Heyliger herre Got
6. Heyliger starcker gott
7. Heyliger barmhertziger heyland
8. du ewyger gott, laß uns nicht vertzagen fur der tieffen hellen
glutt.
9. Kyrieleyson
1. Mitten in der hellen angst unser sund uns treiben.
2. Wo soln wir den flihen hyn, da wir mugen bleiben?
3. Zu dir, herr Christ, alleyne.
4. Vergossen ist dein teures blut, das gnug fur die sunden thut.
5. Heyliger herre Got
6. Heyliger starcker gott
7. Heyliger barmhertziger heyland
8. du ewyger gott, laß uns nicht entfallen von des rechten glaubens
trost
9. Kyrieleyson6

_____________
5 Wiedergabe der vermuteten drei Kernstrophen nach Cod. germ. berol. oct. 53, Mitte 15.
Jh., Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Nicolaus in undis, Straßburg. Als Dichter
wird der Mystiker Tauler vermutet (Greule 1992, 65-77).
6 Luthers Bearbeitung erscheint zuerst in den „Erfurter Enchiridien“, Erfurt 1524, hier ohne
Melodie, und im „Geistlichen Gesangbüchlein von Johann Walter“, Wittenberg 1524.
Wiedergabe des Textes in einer Fassung, die dem Abdruck in Becker u.a. (2001, 87) folgt,
die Zeilen aber nach Minimalen Texteinheiten anordnet.
Textgrammatik und historische Textsorten 745

2.6. Paul Gerhardt, O Haupt voll Blut und Wunden7

_____________
7 Textwiedergabe nach Bachmann (1886,15).
746 Albrecht Greule

3. Überlieferung
Betrachtet man die Überlieferung von deutschen Kirchenliedern im Über-
blick, dann sind folgende Fakten erkennbar.
1. Die aus althochdeutscher Zeit überlieferten Texte (neben dem Pet-
ruslied ist noch das Georgslied zu erwähnen) bleiben ohne lebendi-
ge Tradition im liturgischen Leben. Diese setzt offenbar erst im 15.
Jahrhundert mit dem Lied „Christ ist erstanden“ (siehe 2.3.) ein. 8
2. Die Textmenge bleibt aber auch in dieser Traditionslinie dürftig.
Dies ändert sich erst in reformatorischer Zeit und zwar zuerst
durch Einflüsse aus Böhmen, wo die Hussiten seit 1465 den volks-
sprachlichen Kirchengesang pflegten (vgl. Greule 2004, 229f.).
3. Die ältesten Texte, auch des althochdeutschen Petrusliedes, sind so
genannte Leisen, weil sie mit der Akklamation „Kyrie-leis“ enden,
was vage Rückschlüsse auf den Anlass für den Volksgesang in einer
ansonsten von Klerikern und Mönchen getragenen lateinischen Li-
turgie zulässt.
4. Die mediale Überlieferung der Texte erfolgte auf unterschiedliche
Arten: Die frühesten sind handschriftlich überliefert; später liegen
die Texte gedruckt vor. Handschriftliche und gedruckte Liedtexte
werden auch einzeln überliefert. So sind die frühesten von Luther
verfassten Lieder als Flugschriften gedruckt und einzeln überliefert.
Meist sind sie aber entweder mit anderen Liedtexten (Liederheften,
Liederbüchern, Gesangbüchern) oder mit Texten anderer Gattun-
gen zusammen überliefert.
5. Im Verlauf der Gebrauchsgeschichte werden die einstrophigen Lie-
der um weitere Strophen erweitert. Teilweise werden mehrstrophige
Lieder um Strophen gekürzt. Die Eingriffe in die Liedtexte und ihre
Strophenstruktur verfolgen meist theologisch bedingte Ziele, teil-
weise geht es dabei aber auch einfach um stilistische Eingriffe. 9

_____________
8 Kaum für den gottesdienstlichen Gebrauch waren die geistlichen Lieder Walthers von der
Vogelweide und die des Mönchs von Salzburg (2. Hälfte 14. Jh.) bestimmt.
9 Vgl. Greule (1992), wo die Entwicklung der Liedzeile „(Christe) qui noctis tenebrae dete-
gis“ des lateinischen Hymnus „Christe qui lux es“ in 17 Übersetzungen durch die Zeit ver-
folgt wird.
Textgrammatik und historische Textsorten 747

4. Kirchenlieder
in der sprachwissenschaftlichen Forschung
Bevor wir zu den Analysen übergehen, möchte ich einige Punkte zu den
Zielen der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Kirchenliedern
festhalten:
1. Die Sprachwissenschaft kann heute dazu beitragen, den Text eines
„alten“ Liedes verständlich zu machen, so dass es in einer volks-
sprachlichen Liturgie, deren Texte von der gesamten Gemeinde
verstanden werden sollen, verwendet werden kann.
2. Die Sprachwissenschaft kann durch ihren historischen Zugriff
sprachgeschichtliche Entwicklungen im Verlauf der Tradition eines
Liedes nachzeichnen und so einen Beitrag insbesondere zur histori-
schen Morphologie, zur Lexik und zur historischen Semantik leis-
ten.
3. Die Sprachwissenschaft kann dazu beitragen, auf den verschiede-
nen Ebenen der Sprachstruktur Liedtexte als sprachliche Kunst-
werke zu erweisen, als welche sie wegen ihrer Verwendung im Got-
tesdienst erwartet werden dürfen (pragmatisches Argument). Ich
werde das an einem Luther-Lied und einer Dichtung Paul Ger-
hardts im Folgenden zeigen.
4. Die Sprachwissenschaft kann einen Liedtext der Sprachkritik unter-
ziehen. Dies wird weniger bei Texten, wie ich sie im Folgenden in
den Vordergrund stellen will, notwendig sein, als vielmehr, wie die
Erfahrung lehrt, beim so genannten Neuen geistlichen Lied der Fall
sein und wird auch von den Liturgiepraktikern von der Sprachwis-
senschaft eingefordert.
Wir stehen seit einiger Zeit vor dem Problem, in der Tradition von Otto
Behaghel eine neue diachrone Syntax der deutschen Sprache zu verfassen,
die aber der verbesserten Quellenerschließung, dem durch lange Diskussi-
onen geschärften Theorie- und Methodenbewusstsein und nicht zuletzt
der Digitalisierung Rechnung tragen soll. Diese Aufgabe ist nicht mehr
durch eine/n Forscher/in allein zu bewältigen. Deshalb hat sich im Juni
2005 eine Forschergruppe zusammengetan, die sich den durchaus nicht
falsch zu verstehenden Namen DiSynDe (Diachrone Syntax Deutsch) gegeben
hat und die sich dieser Aufgabe stellen will (vgl. Schmid 2007, 51ff.).
Die Vorgehensweise der Gruppe zeichnet sich durch folgende Kern-
punkte aus: Das Korpus umfasst nur Texte der Gebrauchsprosa. Ein pro-
748 Albrecht Greule

visorisches Textkorpus, das brauchbare Texte des 11. bis 17. Jahrhunderts
enthält, liegt digitalisiert vor; die Probleme der Annotierung stehen im
Rahmen einer Pilotphase vor der Lösung. Das Gesamtprojekt ist – den
Ebenen der Sprachstruktur entsprechend – nach vier Projektbereichen
gegliedert. Die Textgrammatik, um die es mir in den folgenden Überle-
gungen geht, nimmt in den Planungen der Forschergruppe ebenfalls einen
festen Platz ein.
Vor dem Hintergrund, dass in der Diachronen Syntax Deutsch vorerst
nur Texte der Gebrauchsprosa als Datenbasis dienen und poetische Texte
(was auch immer das genau heißt) ausgeschlossen bleiben, möchte ich
meine Ausführungen als eine Art Korreferat verstanden wissen. Es soll
ausgelotet werden, wie künftig auf der Folie der Analyse von Gebrauchs-
prosa mit dem Texttyp Kirchenlied in einer historischen Grammatik des
Deutschen umgegangen werden kann. Bietet es sich an, sie in eine ergän-
zende diachrone Syntax poetischer Texte aufzunehmen oder soll man
besser eine textsortenspezifische Syntax anpeilen, zumal Kirchenlieder
eher dem Performanzbereich des Gebrauchs als dem der Poetik zugeord-
net werden könnten? Exemplarische Analysen sollen zeigen, wo die Prob-
leme liegen.
Zuvor bleibt noch zu klären: Was sind sakrale bzw. sakralsprachliche
Texte? Es sind Texte, die für den Gebrauch im Gottesdienst als Rede und
Gesang vorgesehen sind und im konkreten Gottesdienst auch gesprochen
oder gesungen werden oder wurden. Der sakrale, liturgische Bereich ist im
Hinblick auf die Klassifikation von Texten ein Zwischenbereich: Er unter-
scheidet sich deutlich vom profanen Bereich, aus dem er durch den Ort
des Gottesdienstes, die Kleidung, die Musik und die Sprache hervorgeho-
ben ist. Dennoch handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um
Gebrauchssprache. Kirchenliedtexte sind demnach sakrale Texte, die im
Gottesdienst durch die Jahrhunderte gesungen wurden und deren
Gebrauch höchstens durch Änderungen der Liturgie selbst intensiviert
oder minimiert wurde.

5. Strukturen der Textgrammatik


Das Ziel der Textgrammatik und von ihr ausgehender Analysen ist die
Feststellung der Kohärenz eines Textes. Es stellt sich die Frage, dank
welcher sprachlichen Mittel ein Text kohärent ist. Diese Frage stellt sich
aber nicht nur analytisch-rezeptionell, sondern auch synthetisch-produk-
tional und die Antworten auf die Fragen sind nicht ohne Bezug auf die
Textsorte eines gegebenen oder zu formulierenden Textes zu geben. Es ist
sowohl für den Rezipienten, d.h. den Sänger des Liedes im Gottesdienst,
Textgrammatik und historische Textsorten 749

wichtig, ob ihm durch spezifische Mittel das Textverständnis erleichtert


wird (oder nicht), als es sicherlich auch für den Textproduzenten wichtig
ist, die Mittel zu kennen, die den Text einer bestimmten Textsorte kohä-
rent und gut rezipierbar machen.
Die Methode, nach der man zur Erkenntnis der Textkohärenz
kommt, operiert traditionell oberhalb der Satzebene. Der Satz könnte
somit als kleinste Einheit der Textgrammatik gelten. Verstehen wir aber
unter „Satz“ im engen Sinn eine Konstruktion um ein Prädikat, dann ma-
chen es die jüngsten Erkenntnisse der Textgrammatik nötig, den Satz nur
als eine besondere Form der „Minimalen Texteinheit“ (MTE) zu sehen
und auch andere syntaktische Strukturen wie zum Beispiel die Setzung als
MTE zu berücksichtigen. Wie wir noch sehen werden, gilt dies nicht nur
für Texte der Gegenwart, sondern auch für das hier angesprochene geistli-
che Lied. Die textgrammatische Analyse muss auch im Auge haben, dass
der Text nicht nur durch eine lineare Verkettung von Minimalen Textein-
heiten entsteht, sondern dass es zwischen dem Gesamttext eine Zwi-
schenebene, den Teiltext, der seinerseits aus einer oder mehreren MTE
besteht, geben kann. Die Teiltexte können subordiniert (Subtexte) oder
koordiniert in den Gesamttext integriert sein. Die Parameter der text-
grammatischen Analyse habe ich an anderen Stellen expliziert und möchte
auf sie auch aus Zeitgründen nicht eingehen.
Ferner geht die textgrammatische Analyse zunächst zwar von forma-
len Kohärenzmitteln aus, sie beschränkt sich aber keineswegs auf sie, son-
dern zielt letztlich auf die durch die formalen Mittel geordneten Inhalte
des Textes. Um die Kohärenz eines Textes herzustellen, stehen verschie-
dene textgrammatische Mittel bzw. Strategien zur Verfügung. Die wich-
tigste scheint mir die transphrastische Rekurrenz, das heißt: Wiederholung
einer und derselben sprachlichen Einheit jenseits der Grenze einer MTE.
Es gibt noch weitere, eher sekundäre textgrammatische Strategien, zum
Beispiel die Konnexion. Ich werde mich bei der folgenden Analyse aber
auf das Rekurrenzprinzip konzentrieren, weil seine Anwendung auf die
Analyse eines Liedtextes viel versprechend ist.

6. Textgrammatik und sakralsprachliche Texte


Sieht man sich in der Forschungslandschaft nach textgrammatischen Ana-
lysen von historischen deutschen Texten um, so ist noch nicht viel zu
sehen. Britt-Marie Schuster widmet in der vor kurzem erschienenen „Ein-
führung in die historische Textanalyse“ (Riecke u.a. 2004, 140ff.) dem dort
nach allen Regeln der Kunst analysierten Text des Quirinius Kuhlmann
von 1680 eine ausführliche textgrammatische Analyse.
750 Albrecht Greule

Auf sakrale Texte, in dem eben definierten Sinn, fanden die Erkennt-
nisse der Textgrammatik bislang kaum Anwendung; das gilt für sakral-
sprachliche Texte der Gegenwart (vgl. Greule 1995, 2000, im Zusammen-
hang mit der Revision des deutschen Messbuchs) genauso wie für
historische Texte. Auf einen Bibeltext habe ich die Methode in der Fest-
schrift für Rolf Bergmann diachron angewandt (vgl. Greule 1997). Des-
halb stelle ich hier die textgrammatische Analyse zweier geistlicher Lieder
als Fallbeispiele vor, ohne sie gleich in das Korsett einer Textgrammatik
zu pressen, sondern vielmehr um die Tauglichkeit für das Textverständnis
insgesamt zu überprüfen.

6.1. Martin Luther, Mitten wir im Leben10


6.1.1. Kohärenz innerhalb der Strophen
Wenden wir uns zuerst der Analyse der ersten von Luther neu formulier-
ten, traditionell einzigen Strophe von „Mitten wir im Leben sind“ zu. Die
Minimalen Texteinheiten sind einfache Sätze (MTE 3, 8), Satzreihen
(MTE 1, 2, 4) und Setzungen (MTE 5, 6, 7). Das schließende Kyrieleyson ist
hinsichtlich seiner syntaktischen Beurteilung ein Grenzfall: Übersetzt han-
delt es sich um einen einfachen Satz (Herr erbarme dich!); es soll hier aber
auch im Hinblick auf seine Funktion als Marker des Liedschlusses wie bei
den Leisen (vgl. Praßl 2000, 58ff.) als Setzung gelten. Die MTE 5-7 dürfen
nicht nur wegen ihres Zitatcharakters (Übersetzung des aus der Karfrei-
tagsliturgie stammenden Trishagions) als Subtext gelten, sondern sie fallen
auch wegen der fehlenden DU-Deiktika aus dem kommunikativen Rah-
men der Strophe. Nachdem die Minimalen Texteinheiten fest liegen, wird
eruiert, durch welche textgrammatischen Mittel die einzelnen MTE auf-
einander bezogen bzw. beziehbar sind.
1. Die MTE 1 und 2 sind durch Endreim verbunden (umbfangen – er-
langen), ebenso die MTE 5, 6 und 8 (Got – gott – nott).
2. Die Repetition der Deiktika wir (MTE 1 und 2) und du (MTE 3 und
8) ist von größerer Wichtigkeit auf der Ebene der simulierten
Kommunikation.
3. Synsemantische Pro-Formen werden auffällig wenige eingesetzt,
was man als Indiz für eine unepische Textverdichtung werten kann.
Und wenn sie in der Strophe verwendet werden, handelt es sich um
eine außergewöhnliche Verwendung. Als „Pro-Satz“ fungiert das
_____________
10 Vgl. Text 2.5.
Textgrammatik und historische Textsorten 751

(MTE 3), das die Satzstrecke der hulffe thu, das wir gnad erlangen (MTE
2) wiederaufnimmt. Kataphorisch (nicht nach links im Text zurück,
sondern nach rechts voraus) verweist das Fragepronomen Wen
(MTE 2), das den Ausdruck du herr alleyne (MTE 3) vorwegnimmt.
Eine Koferenzkette (besser: ein Koreferenzstrang) entsteht aber
nicht auf diese Weise, sondern durch die mehrfache transphrasti-
sche Referenz auf die Sendergruppe WIR mit den Deiktika wir, Uns,
unser, unns (MTE 1, 2, 4, 8) einerseits und den Adressaten GOTT
mit den attribuierten Deiktika du herr alleyne, dich herr, du ewiger gott
(MTE 3, 4, 8) andererseits. Existentiell begründete Kontiguität sehe
ich in der Kette todt – hulffe / gnad – pittern todes nott (MTE 1, 2, 8).
4. Eine Isotopie-Ebene, die durch die Gottesprädikation konstituiert
und durch attributive Adjektive, Prädikate und Substantive ausge-
drückt wird, bilden: hulffe thu, gnad, herr, erzurnet, Heylig, strack, barm-
hertzig, ewig (MTE 2-8). Die von Gerhard Hahn festgestellte „bild-
haft emotionale Eindringlichkeit“ (Hahn 2004, 69) kann auch an
der durch die meisten Prädikate gebildeten Isotopie-Ebene text-
grammatisch nachgewiesen werden: synd…umbfangen (MTE 1) und
versynncken (MTE 8) bilden eine Klammer; reuet (MTE 4), erzurnet hat
(MTE 4) stehen paarig in der selben MTE.
Die Analyse erlaubt es, die Dramaturgie der Strophe zu verdeutlichen.
Rein quantitativ stehen die durch den Koreferenzstrang WIR – DU
GOTT ausgedrückte simulierte Kommunikationssituation und die Isoto-
pie ‚Eigenschaften Gottes‘ im Vordergrund; sie sind die wichtigsten Trä-
ger der Kohärenz. Dass ein Sprecher oder eine Sprechergruppe zu Gott
spricht, ist die Grundkonstellation der Textsorte Gebet. Der Gebets- und
Liedtext setzt damit ein, dass eine Sprechergruppe WIR (die Gottes-
diensteilnehmer, die das Lied singen) die „Erfahrung der bedrohlichen
Situation“ (Hahn 2004, 72) zum Ausdruck bringt (MTE 1 und 8) und
damit im zweiten Schritt GOTT fragend und bittend um Hilfe angeht
(MTE 2, 3 und 8), nachdem sie sich die eigene Schuld eingestanden hat
(MTE 4). Dieser Ablauf wird durch die eingeschobenen prädizierenden
Gottesanrufungen des Subtextes aus der Karfreitagsliturgie (MTE 5-8)
geradezu dramatisch intensiviert. Durch das gewohnte Kyrieleyson
kommt das Gebet ausklingend zur Ruhe.
752 Albrecht Greule

6.1.2. Strophe-Strophe-Kohärenz

Es wäre interessant, auch die von Luther selbst verfassten Strophen 2 und
3 ebenso detailliert zu analysieren wie die Eingangsstrophe. Wesentlich
neue Erkenntnisse zur Textgrammatik wären nicht zu gewinnen. Das
hängt mit der „perfekten Parallelität, in der die beiden ‚neuen‘ Strophen zu
der alten ‚ersten‘ gesetzt sind“ (Franz 2001, 87) zusammen.
Die Kohärenz der Strophen untereinander wird wesentlich durch
Strukturrekurrenz geschaffen. Abgesehen von der durch Rhythmus und
Reimschema vorgegebenen Identität der Strophen wird die Rekurrenz
syntaktischer Strukturen noch gestützt und geschärft durch Repetitionen.
Die MTE 1 in jeder Strophe wird jeweils durch die Präposition Mitten yn
eingeleitet. Die MTE 2 ist jeweils ein Fragesatz, der mit einem
w-Fragewort beginnt. Die MTE 3 ist jeweils die Antwort auf die Frage der
MTE 2, mit nahezu identischer lexikalischer Repetition das / das, du / -tu /
dir herr alleyne; die Inhalte der Prädikate der MTE 3 werden aber über das
Pro-Verb thun (Str. 2, MTE 3) bis zum Schwund des Prädikats immer
schwächer; Str. 3, MTE 3 ist eine Ellipse. Die MTE 5-7 (das Dreimal-
Heilig) sind in allen Strophen identisch. Ausgerechnet der Subtext erweist
sich damit durch seine refrainartige Wiederholung als hoher Kohärenzträ-
ger. Die MTE 8 ist ein nach dem Muster las / laß unns / uns nicht + Infini-
tiv + vom Infinitiv abhängige Präpositionalgruppe gebildeter Satz.
Auf eine außergewöhnliche, die Strophen verbindende, mehrfache
und theologisch begründete Kontiguität hat Gerhard Hahn (2004, 72)
durchaus im Sinne der Textgrammatik schon aufmerksam gemacht. Er
spricht von der „sinntragenden Kette“ leben (Str. 1, MTE1) – tod (Str. 1,
MTE 1; Str. 1 MTE 8; Str. 2, MTE 1) – helle (Str. 2, MTE 1; Str. 2, MTE 8;
Str. 3, MTE 1) – sunde (Str. 3, MTE 1, 4) – glaube (Str. 3, 8). Nur in Strophe
2 wird auch die Isotopie ‚Emotion‘, die wir aus der Analyse von Strophe 1
kennen, mit den Verben yamert (Str. 2, MTE 4) und vertzagen (Str. 2, MTE
8) fortgesetzt und eine Teilkohärenz bewirkt.

6.1.3. Exkurs: Luthers Sprachgewalt

Die viel gerühmte Sprachgewalt Luthers lässt sich auch mit den Mitteln
der Textgrammatik zeigen. Abgesehen von einer sprachlichen Glättung
des überkommenen Textes (s.o.) nimmt Luther die Struktur des Liedes
auf und ergänzt sie behutsam nur um das Kyrieleyson. Die Grundstruktur
eines Gebetes, in das die dreimalige Preisung Gottes eingeschoben wird,
bleibt erhalten, oder textgrammatisch ausgedrückt, die simulierte Kom-
munikationssituation wird das sprachliche und inhaltliche Gerüst, nach
Textgrammatik und historische Textsorten 753

dem die beiden anderen Strophen streng geformt werden. Es gelingt Lu-
ther einerseits durch die Parallelismen in den drei Strophen sowie mittels
der Wiederholung des Dreimalheilig und des Kyrieleyson, die gleichsam
Ruhezonen in der emotionalen Dramaturgie des Liedes bilden, die Rezep-
tion des ganzen Liedtextes durch die Singenden zu erleichtern. Anderer-
seits intensiviert er durch ein Geflecht von rasch wechselnden und weit
über den Text der Strophe gespannten Kontiguitäten sowie durch Isoto-
pien die bedrohliche Ausgangssituation von Strophe zu Strophe, ent-
schärft aber durch die in allen Strophen gleich bleibende Isotopie der
Gottesprädikation die bedrohliche Situation wieder. Fassen wir den domi-
nanten Koreferenzstrang WIR – DU GOTT und die dominante Isotopie-
ebene der Gottesprädikation zusammen, dann können wir die kommuni-
kative Funktion des Liedes als Gebet und das Thema als Preis Gottes
bestimmen. Und genau dies fasst Luther in dem Wort Lobsanck, das er als
Überschrift über das Lied setzen lässt, zusammen.

6.2. Paul Gerhardt, O Haupt voll Blut und Wunden11

Der gesamte Text ist, rein äußerlich betrachtet, ein aus zehn gleich ge-
bauten, parataktisch aufeinander bezogenen Teiltexten (= Strophen) be-
stehendes Gebilde. Der textgrammatischen Analyse stellt sich nun die
Aufgabe, die grammatische und vor allem die semantische und pragmati-
sche Kohärenz jeder einzelnen Strophe zu ergründen, um danach festzu-
stellen, ob und wie die Strophen im Rahmen des Gesamttextes zusam-
menstimmen. Letztendlich suchen wir nach dem „psychodramatischen“
Programm, das Gerhardt diesem Lied gegeben hat. Wir werden, wenn uns
die Suche gelingt, dann nicht nur das sprachkulturelle Niveau herausstel-
len können, sondern auch erklären können, warum dieses Lied schon
allein auf Grund des Textes den Beter und Sänger im Innersten ergreift
und bewegt.
Der Gesamttext wird durch die lyrische, monologische Kommunika-
tionssituation, die der Dichter durch die Sprache evoziert, zusammen-
gehalten: Ein ICH spricht zu einem DU. Diese beiden kommunikativen
Grundgrößen werden im Verlauf des Textes durch Prädikationen präzi-
siert: (z.B.) „hie steh ich Armer“ oder „Du edles Angesichte“. Die anderen
Grundgrößen der Kommunikation, Ort und Zeit, werden nicht themati-
siert. Der Text ist lokal und temporal offen, was ihn auch offen hält für
verschiedenste Kommunikationssituationen an anderen Orten und zu
anderen Zeiten. Die Prädikationen über das DU sind zahlreich und syn-
_____________
11 Vgl. Text 2.6.
754 Albrecht Greule

taktisch integriert und sie gipfeln in Strophe 8, in der dem DU ein Name
gegeben wird: „O Jesu, liebster Freund“.
Durch die Reduktion einzelner Strophen auf eine dominante Sprach-
handlung des ICH ergeben sich nach meiner Auffassung drei Strophen-
gruppen, und zwar werden die Strophen 1, 2 und 3 durch den Ausdruck
des Entsetzens zusammengehalten. In den Strophen 4 bis 7 besinnt sich
das ICH auf sich selbst und auf seine Schuld; in den Strophen 8, 9 und 10
dominiert der Ausdruck der Hoffnung, in der eigenen Todesnot gerettet
zu werden.
Die einfache, schlichte ICH-DU-Konstellation, die jedem lyrischen
Ausdruck zugrunde liegt und durch die auch die Strophen textgramma-
tisch zusammengehalten werden, wird durch mehrere Isotopiestränge
gleichsam umrankt. Während die Textgrammatik die Kohärenz eines Tex-
tes auf seiner „Oberfläche“ mit Hilfe von Koreferenzketten erfasst (in
unserem Fall ist es die Kette der Deiktika als Ausdruck der ICH-DU-
Konstellation), operiert sie im semantischen Bereich mit so genannten
Isotopien, d.h. Wörtern, die ein und dasselbe semantische Merkmal ent-
halten und sich wie ein Teppich durch einen Text ziehen. Als Beispiel
kann die Prädikation des lyrischen DU, die sich auf die Strophen 2, 4, 5, 7
und 8 beschränkt, dienen.
Auf solche Isotopie-Ebenen oder Isotopiestränge konzentriert sich
die literarische Interpretation von „O Haupt voll Blut und Wunden“ (vgl.
Lehnertz 1983, 761ff.). So durchzieht die ersten drei Strophen die Isotopie
„menschliches körperliches und seelisches Leiden“; sie wird konstituiert
durch die Ausdrücke Blut, Wunden, Schmerz, Hohn, Spott, gebunden, Dornen
Kron, schimpfiret (Str. 1), bespeit, erbleichet, schändlich zugericht (Str. 2), des blassen
Todes Macht, hingerafft (Str. 3). Sie durchzieht – weniger dicht – auch die
folgenden Strophen, wobei die Referenz allmählich vom leidenden DU
zum leidenden ICH übergeht, z.B. erduldet, Last tragen (Str. 4), verachten,
Herze bricht, erblassen, Todesstoß (Str. 6), deinem Leiden, deinem Kreuz (Str. 7),
Todes Schmerzen, erkalte, mein Ende (Str. 8), Tod leiden, am allerbängsten, Ängste,
Angst und Pein (Str. 9), Tod, Kreuzesnoth (Str. 10). Auf diesen wichtigsten
Isotopie-Strang ist antonymisch ein anderer bezogen: gezieret, Ehr und Zier,
edel, Augenlicht, der Roten Lippen Pracht, Leibes Kraft. In beide hinein verwo-
ben ist eine Farben-Isotopie (erbleichet, Licht, Farbe, rot, blass). Ein weiterer
Isotopie-Strang findet sich – sehr dicht – nur in Strophe 5: mein Hüter, mein
Hirte, Quell aller Güter, viel Guts, gelabet, süße Kost, Himmelslust. Die Wortkette
erinnert an einen Locus amoenus; Marlies Lehnertz (1983, 765) sieht darin
Anklänge an die biblische Schilderung des verheißenen Landes.
Ich breche hier in dem Bewusstsein, längst nicht alle Isotopien gefun-
den und expliziert zu haben, aus Platzmangel ab. Das Lied fordert gerade
in diesem Bereich die Forschung noch weiter heraus. Es sollte aber deut-
Textgrammatik und historische Textsorten 755

lich geworden sein, mit welcher Sprachkraft Paul Gerhardt die Isoto-
piestränge gestaltet (vgl. Greule 2008).

7. Schlussfolgerungen
1. Volkssprachliche Kirchenliedtexte sind pragmatisch in den Gottes-
dienstablauf eingebunden und durch ihren Gebrauch determiniert.
2. Volkssprachliche Kirchenliedtexte wurden im Verlauf der Ge-
brauchsgeschichte hinsichtlich Textqualität und Textquantität im-
mer wieder verändert.
3. Die Menge der Texte steigt seit der Reformation überproportional
an und
4. (was nicht vergessen werden darf) die Texte sind melodieabhängig.
5. Hinsichtlich ihrer Produktion befinden sich die Kirchenlieder in
einer für die Sakralsprache typischen Grauzone zwischen hoher
Dichtung und gottesdienstlichen Gebrauchstexten.
Unsere Ausgangsfrage möchte ich daher beim gegenwärtigen Stand der
Forschung kurz und bündig so beantworten: Die Erfassung des Texttyps
Kirchenlied als eine Quellenart für eine diachrone Grammatik des Deut-
schen ist nicht angezeigt. Es bedarf weiterer Forschungen zu einzelnen
Liedern, mit dem Ziel einer spezifischen diachronen Beschreibung des
Texttyps von der graphematischen Ebene bis hinauf zur Textgrammatik.
Die textgrammatische Analyse geistlicher Lieder allein ist freilich ein uner-
setzliches Hilfsmittel, um die sakralsprachliche, ja poetische Qualität die-
ser Texte beurteilen zu können.

Quellen

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kritische Ausgabe, Berlin.
Becker, Hansjakob u.a. (Hrsg.) (2001), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder,
München.
Cod. germ. berol. oct. 53, Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Nicolaus in undis,
Straßburg.
756 Albrecht Greule

Schlosser, Hort Dieter (Hrsg.) (2004), Althochdeutsche Literatur. Mit altniederdeutschen


Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar, 2., überarb. u. erw. Aufl.,
Berlin.

Literatur

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forschung. Drei mögliche Zugriffe“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie,
111 / 1992, 65-77.
Greule, Albrecht (1995), „Zur Sprachgestalt der Orationen: Linguistische Gesichts-
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artium. Festschrift für Rolf Bergmann, Heidelberg, 287-300.
Greule, Albrecht (1998), „Frühneuhochdeutsch in der Oberpfalz. Die Sprache des
Gebenbacher Pfarrbuchs 1418-1437“, in: Karin Donhauser / Ludwig Eichinger
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Es sey das Fewer in der Stadt
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen
zu vormodernen Feuerordnungen

Alexander Lasch (Kiel)

1. Feuerordnungen als Gegenstand


der Sprachgeschichtsschreibung
„[N]euartige städtische Kommunikationssituationen und ‚Textsorten‘“,1
die nicht aus der monastischen Schreibkultur und Textsortentradition
hervorgegangen sind, weisen die Ausweitung der volkssprachlichen
Schreibpraxis im 15. Jahrhundert längst vor Erfindung des Buchdrucks
aus. Mit der Erfindung und Einführung des Buchdrucks treten am Über-
gang vom 15. zum 16. Jahrhundert neben städtische Urkunden, Stadt-
chroniken und ersten rechtlichen Regelungen in Stadtbüchern eine Viel-
zahl neuer Ordnungen basierend auf älterem Gewohnheitsrecht auf, die
z.B. Kleidungsvorschriften, polizeiliche Anordnungen, Zunftregeln, Bau-
vorschriften und im Zusammenhang damit auch Feuerordnungen enthal-
ten.2 Diese neuen Textsorten sind zum einen Indiz für neue kommunika-
tive Bedürfnisse, zum anderen zugleich auch für die Veränderungen, die
sich in der städtischen Verwaltung Bahn brechen: Der städtischen Admi-
nistration war es mittels der Schrift, durch die genannten Ordnungen oder
Erlässe möglich, Regeln des städtischen Zusammenlebens über Raum und

_____________
1 Von Polenz (2000, Bd. 1, 122). Der Begriff Textsorte wird hier verwendet nach Brinker und
Adamzik (2001, 267, 273 u.ö.) für eine Klasse von Texten, die nach einer Reihe von
Merkmalen spezifiziert werden können und denen eine spezielle kommunikative Routine
zugrunde liegt. Sie sind also „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche
Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situati-
ven), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen)
Merkmalen beschreiben“ (Brinker 2001, 135).
2 Vgl. von Polenz (2000, Bd. 1, 123).
760 Alexander Lasch

Zeit hinaus festzuschreiben („Rechtssicherheit durch Dokumentation“) 3


und zugleich (Verwaltungs-)Vorgänge zu organisieren und zu planen.
Feuerpolizeiliche Hinweise werden vor allem zunächst in die landes-
herrlichen und städtischen Bauordnungen integriert und sind damit Teil
einer größeren Sammlung anderer Vorschriften. 4 In Dresden werden diese
Regeln und Anordnungen in eine eigenständige Textsorte überführt, die
neben der Prävention auch die Feuerwehr zum Gegenstand hat. Für die
Beschreibung der Entwicklung dieser eigenständigen Textsorte für die
Stadt Dresden sind neben überregionalen historischen Voraussetzungen
lokale Bedingungen und Besonderheiten zu berücksichtigen. 5 Am Beispiel
der diachronen Analyse von Feuerordnungen lässt sich für diese Stadt
illustrieren, wie sich die Textsorte vom 16. zum 17. Jahrhundert von einer
handlungsanleitenden, appellativen Textsorte städtischer kommunikativer
Praxis im Zusammenhang mit anderen Ordnungen hin zu einer normie-
renden und sanktionierenden, direktiven Textsorte der Domäne des
Rechts entwickelte.
Im Rahmen des Fragezusammenhangs der Historischen Kanzlei- und
Stadtsprachenforschung werden in diesem Beitrag also Vertreter der städ-
tischen Textsorte Feuerordnung 6 mit dem Schwerpunkt auf ihre Textgram-

_____________
3 Ebd.
4 Zur überregionalen Entwicklung und zum Zusammenhang zwischen Bau- und Feuerord-
nung vgl. Binding (1980, Sp. 1670) und ders. (1993); Junk (1989, Sp. 422f.) und ders. (1983,
Sp. 564). Zur historischen Forschung in Bezug auf Katastrophen in urbanen Lebensräu-
men vgl. vor allem Körner (1999/2000); weiter Jankrift (2003).
5 „Die jeweils unterschiedlichen ökonomischen, soziokulturellen, politischen und schließlich
auch sprachlichen Voraussetzungen führen zu unterschiedlichen kommunikativen Anfor-
derungen und somit zu spezifischen Formen der Kommunikation, die für jede Stadt eine
gesonderte Betrachtung und Untersuchung fordern und selten eine allgemeine Gültigkeit
beanspruchen können“ (Ziegler 2001, 121).
6 Vgl. Greule (2001, 16). Zum Terminus Kanzleisprache: „Der am Texterzeuger orientierte
und erst seit dem 18. Jh. gebräuchliche Terminus Kanzleisprache meint die geschriebene
Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spmhd. und Frnhd. An
den Textsorten orientiert sind die Termini Urkunden- und Geschäftssprache, wobei letzterer
der allgemeinere ist, da in den Kanzleien bzw. im Auftrage der Kanzleien auch Briefe […]
entstanden“ (Bentzinger 2000, Sp. 1665).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 761

matik / Textstruktur7 analysiert unter besonderer Berücksichtigung ihrer


„kommunikativen Funktion“8 im Anschluss an die Frage der Historischen
Soziolinguistik „Wer sprach warum wie zu einer bestimmten Zeit?“9 Ich
werde dabei drei Arbeitshypothesen folgen: (1) Feuerordnungen sind Tex-
te, die Kommunikation und Handeln organisieren und steuern und zwar
für den potenziell möglichen Fall einer Brandkatastrophe. Feuerwehr-
maßnahmen (prozedurales, nicht verschriftlichtes Wissen) müssen sich
deswegen (2) erst bewähren, bevor sie in den Feuerordnungen als deklara-
tives Wissen dokumentiert werden können – dies lässt sich in der Ent-
wicklung der Textsorte u.a. textgrammatisch nachzeichnen. (3) Die
Versprachlichung und dann Verschriftlichung der Regeln in der Feuer-
ordnung selbst, die Überführung prozeduralen in deklaratives Wissen ist
eine Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Mit der Etablierung von
Normen und Sanktionen in einem weiteren Schritt kann die Entwicklung
der Textsorte Feuerordnungen paradigmatisch für die zunehmende Institu-
tionalisierung vormoderner urbaner Gemeinschaften gelesen werden.

2. Stadtentwicklung und Stadtbrand:


Dresden im 16. und 17. Jahrhundert
Nach der Leipziger Teilung im Jahre 1485 gewann die kleine Residenz
Dresden als ständiger Sitz der albertinischen Wettiner beginnend mit Her-
zog Albecht (1443-1500) plötzlich an politischer und schnell an wirt-
schaftlicher Bedeutung. Die Landesherren, an die 1547 unter der Herr-
schaft von Herzog Moritz (1541-1553) die Kurwürde von den Ernestinern
überging, ließen dabei keinen Zweifel an ihrem Interesse, die mittelalterli-
che Stadt Dresden in eine repräsentable Residenz mit Renaissance-
Großbauten umzugestalten. Dabei mussten sie in besonderem Maße stets
_____________
7 Wird im Folgenden von Textgrammatik gesprochen, dann sind zuerst Phänomene gemeint,
die sich nicht mehr auf der Ebene einer Satzsyntax beschreiben lassen, sondern der Einbe-
ziehung transphrastischer Einheiten bedürfen. Dies betrifft vor allem zunächst alle sprach-
lichen Proformen, die auf andere sprachliche Formen über die Satzgrenze hinaus verweisen
(vgl. dazu Brinker 2001). Wenn man den textgrammatischen Ansatz funktional im Sinne
der Pragmatik nutzen will, sind darüber hinaus auch Deiktika einzubeziehen, die auf Au-
ßersprachliches / Außertextliches verweisen – damit rücken auch Bedingungen der Pro-
duktion und Rezeption in den Blick. Um schließlich einen Text in verschiedene Teiltexte,
die ineinander übergehen, zu gliedern, (textsortenspezifische) Strukturen zu erarbeiten, ist
ein inhaltlich-thematischer Zugang notwendig, der nicht mehr mit dem Begriff der Text-
grammatik, sondern dem der Textstruktur zu fassen ist; vgl. generell zu diesem Problem
Moskalskaja (1984).
8 Vgl. exemplarisch Ernst (2001, 17).
9 Im Anschluss an Michael Nerlich und Brigitte Schlieben-Lange so Linke (1999, 179 u.ö.).
762 Alexander Lasch

die Gefahren im Blick haben, die städtische Siedlungen seit jeher bedroh-
ten. Einer der häufigsten Katastrophen,10 dem Stadtbrand, konnte man –
im Gegensatz zu Überschwemmungen – versuchen vorzubeugen, sie
möglicherweise sogar abwenden.11 Nicht nur den Landesherren, denen die
Bauaufsicht oblag, waren die Faktoren bekannt, die das Feuer begünsti-
gen:12 Holzbau, Schindeldeckung, Viehhaltung in der Stadt und übermäßi-
ge Brennstoffvorräte der Einwohner. So sind es zunächst die landesherrli-
chen Bauordnungen im Anschluss an ältere Rechtssammlungen, in denen
sich präventive Maßnahmen zur Feuervermeidung finden lassen. Als An-
reiz, um bspw. bei der Neueindeckung eines Hauses auf Schilf oder Stroh
zu verzichten, suchten die Landesherren durch ‚Bauerleichterungen‘ be-
reits 1474 und nach der Erhebung zur Residenz 1486 die Dresdner Stadt-
bevölkerung zu massiveren Bauweisen anzuhalten – mit mäßigem Er-
folg.13 Am 15. Juni 1491 brannte, ausgehend von einem Brandherd hinter
der Kreuzkirche, die halbe Stadt nieder: 240 von 470 Häusern, die Kreuz-
kirche, das Pfarrhaus und die Schule waren in wenigen Stunden zerstört.
Herzog Albrecht, von seinem Sohn Georg (1500-1539) vom Ausmaß der
Zerstörung unterrichtet, gab strenge Auflagen für den Wiederaufbau, den
er durch eigene Mittel unterstützte, vor: Gefordert wurden massive Erd-
geschosse, massive Eckhäuser und Ziegeldeckung. Wer nicht in der Lage
war, zu diesen Bedingungen zu bauen, musste sein Baugrundstück verkau-
fen.14 Diese Ordnung von 1492 ist leider ebenso verloren wie eine Ord-
nung von 1521. In diesen Ordnungen, wie auch in einer Ordnung von
1549, dürften allerdings nur die „allernothdürftigsten [feuerpolizeilichen]
Vorkehrungen“ getroffen worden sein.15
Bis 1500 sind die durch den Stadtbrand entstandenen Schäden wieder
beseitigt. 1519 wird das Viertel um die Frauenkirche durch Herzog Georg
(1500-1539) unter Ratsaufsicht gestellt, Kurfürst Moritz (1541-1553) be-
zieht das Viertel in seine Fortifikationspläne mit ein, die am Ende des 16.
Jahrhunderts abgeschlossen sind. Der Bastionärbefestigung muss sich
auch der Rat des rechtselbischen Altendresdens beugen, das 1549 auf
kurfürstlichen Befehl mit Dresden vereinigt wird.16

_____________
10 Vgl. Schott (2003, 6).
11 Vgl. Oberste (2005/2006, 331).
12 Vgl. bereits Richter (1885, 344 u.ö.) sowie Bauer (1911, 13f.).
13 Vgl. ebd.
14 Vgl. Richter (1900, 87f.) sowie in Anlehnung an Richter vgl. auch Oberste (2005/2006,
331f.).
15 Richter (1891, 311). Vgl. dazu etwa die Ordnung aus dem ernestinischen Sachsen: Von
Gotts gnaden Johans Friderich. Zum Zusammenhang von Bau- und Feuerordnung vgl. die Ka-
pitel LXIIII („Bawen“) und LXXXIX („Fewer ordnunge“).
16 Vgl. Blaschke (2005/2006b, 295).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 763

Mit dem Zuwachs an politischer Bedeutung geht ein wirtschaftlicher


Aufschwung einher, der wiederum in Verbindung zu sehen ist mit einem
stetigen Anwachsen der Bevölkerung, ohne dass sich dabei das Stadtgebiet
selbst wesentlich vergrößert: Die Bevölkerung der Stadt hat sich zwischen
1500 und 1600 von 5.000 auf 15.000 Einwohner verdreifacht.17 Das ra-
sche (und zum Teil wilde) Wachstum Dresdens veranlasst die Landesher-
ren und den Dresdner Rat dazu, in verhältnismäßig kurzen Abständen in
die Entwicklung der in die Höhe wachsenden Stadt reglementierend ein-
zugreifen. Dies gilt auch für die Feuerordnungen, die beginnend in der
Mitte des 16. Jahrhunderts rasch aufeinander folgend in revidierten Fas-
sungen veröffentlicht werden, um den sich verändernden Gegebenheiten
gerecht zu werden. Dabei richten sowohl die Landesherren als auch der
Rat der Stadt Dresden ihre Aufmerksamkeit vor allem auf den linkselbi-
schen Teil der Stadt – im rechtselbischen Altendresden wiederholt sich die
Katastrophe von 1491 unter den selben Vorzeichen im Jahre 1685.18

3. Zum Korpus: Dresdner Feuerordnungen


Die erste schriftliche städtische feuerpolizeiliche Notiz Dresdens ist eine
kurze Handlungsanweisung auf dem hinteren Deckel eines Stadtbuches
aus dem Jahr 1450: Im Brandfalle solle man mit Hilfsmitteln zum Feuer
eilen und helfen, Verweigerung wird bestraft; die Strafe für den, der sich
weigert, Dächer abzureißen, wird beziffert.19 Nach der Brandkatastrophe
von 1491 zum einen und wegen der baulichen Neugestaltung der Resi-
denzstadt zum anderen wäre zumindest zu erwarten, dass der Stadtrat in
Ergänzung zu den landesherrlichen Ordnungen eine Bau- und Feuerord-
nung umsetzt. Bereits Otto Richter, der am Ende des 19. Jahrhunderts die
Verwaltungsgeschichte der Stadt aufgearbeitet hat, zeigt seine Verwunde-
rung darüber, dass ein solches Dokument oder überhaupt jede „Spur von
feuerpolizeilicher Ordnung“ fehlt.20 Erst in der Mitte des 16. Jahrhun-
derts, am 28. November 1558, gibt der Rat der Stadt Dresden auf Druck
des Kurfürsten August (1553-1586) die erste Feuerordnung aus:21

_____________
17 Vgl. Blaschke (2005/2006a, 361).
18 Dieser große Stadtbrand am Ende des 17. Jahrhunderts soll hier nicht im Vordergrund
stehen. Vgl. dazu Blaschke (1999/2000, 157-171).
19 Vgl. Richter (1891, Bd. 1, 303).
20 Ebd.
21 Die hier beschriebenen Feuerordnungen gehören zum Bestand der Sächsischen Landesbib-
liothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB).
764 Alexander Lasch

Nachdeme durch Gottes des Almechtigen gnade vnnd vorleihung / diese Stadt
Dreßden / an Manschafft vnd anderm Volck / auch sonst / in ein zimlich zu-
nehmen gerathen / das die erweitert / Vnd derhalben auch souiel mehr von
n=ten / das allerley gutte Ordenungen darinnen auffgericht / fFrgenohmen /
vorbessert / vnd erhalten werden / das wir demenach von wegen des Fewers
n=ten vnd anderer aufflauff / welche seine Almacht aller gnedigist abwenden
wollte / aus undertheinigisten gehorsam / domit wier dem Durchlauchtigisten
Hochgebornen FFrsten vnnd Herrn Herrn Augusten Hertzogen zu Sachssen [...]
unserm gnedigisten Herren zugethan / vnd trewer wolmeinung / so wir kegen
euch alle vnsere Burgerschafft / gesinnet / folgende Fewer Ordenung stellen
[...].22

Die Erweiterung der Stadt in der Mitte des Jahrhunderts wird durch die
Stadtherren als Begründung dafür angegeben, dass die bisher eher dürfti-
gen feuerpolizeilichen Regelungen in einen eigenständigen Text überführt
werden, der textstrukturell analog zu anderen Ordnungen aufgebaut ist.
Der Text mit einem Umfang von elf Blättern ist in der Dresdner Kanzlei
entstanden, der 1558 Michael Weisse als Stadtschreiber vorsteht.23 Eine
erste überarbeitete Fassung erscheint wohl 1572,24 die 1589 (Stadtschrei-
ber Burkhardt Reich)25 und 1608 noch einmal in revidierter Fassung
(durch Stadtschreiber Caspar Schober) mit je einem Umfang von 15 Blät-
tern gedruckt wird.26 1642 wird eine Feuerordnung mit einem Umfang
von 60 Seiten veröffentlicht (Stadtschreiber Georg Börner),27 die alle vor-
liegenden Fassungen berücksichtigt, allerdings vollständig überarbeitet
und neu ordnet. Diese vollständige Neufassung wird weitestgehend bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts gültig sein. Sie wird erneut 1662 (Stadt-
schreiber Georg Börner) und wohl 1678 gedruckt, 1716 (Stadtschreiber
Hieronymus Gottfried Behrisch) gekürzt herausgegeben28 und in der Mitte
des 18. Jahrhunderts noch einmal erweitert.29

_____________
22 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2.
23 Vgl. Richter (1885, 130f. und für die Liste der Stadtschreiber 380ff.).
24 Die Ordnung von 1589 unterscheidet sich nach Richter nur hinsichtlich der Neueinteilung
der Stadt von der Ordnung von 1572, die die Bestimmungen für einzelne Handwerksberu-
fe und Hausgenossen bereits verfügt hatte, mir jedoch leider nicht vorliegt; vgl. Richter
(1891, Bd. 1, 314).
25 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589.
26 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608. Die mir vorliegende Fassung von 1608 beschreibt
Richter nicht, er nennt dafür eine Fassung von 1604. Es liegt die Vermutung nahe, dass
diese Fassungen identisch sind; vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311).
27 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642.
28 Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung 1716. Die Fas-
sung von 1678 liegt mir nicht vor, Richter wiederum erwähnt die Fassung von 1716 nicht;
vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311).
29 Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden 1751.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 765

Die Entwicklung der Textsorte Feuerordnung für die Stadt Dresden lässt
sich in zwei Phasen beschreiben, die mit der Stadtgeschichte eng verwo-
ben sind, wie besonders an der Feuerordnung von 1589 deutlich wird. Seit
1556 war die Stadt in fünf Viertel eingeteilt, wie es in der Ordnung von
1558 dokumentiert ist.30 Diese Einteilung erwies sich u.a. wegen der star-
ken Neubebauung am Neumarkt und in der Kreuzgasse hinsichtlich der
Häuserzahl in den einzelnen Vierteln als äußerst ungleichmäßig und be-
durfte einer Neugliederung. Per Ratsbeschluss werden am 28. März 1589
die Viertel neu eingeteilt, der Kurfürst erteilt seine Genehmigung am 7.
August31 – die neue Feuerordnung wird bereits am 10. August 1589 ge-
druckt:32
ZVm fFnfften / Demnach die Stadt sind erweitert worden / der Nawstadt hal-
ben / in fFnff Theil geteilet gewesen / vnd dahero grosse unrichtigkeit in Muste-
rungen / Auffwarten / Wachen vnd andern / der vngleichheit halben entstan-
den / das ein Theil vmb viel gr=sse in anzahl der Heuser vnd Wirthe / denn das
andere gewesen / Als ist vor rahtsam geachtet / die Stadt in vier / so viel
mFglich / gleiche Theil zu bringen / Haben derowegen / so sich ein jedes Viertel
anfahen / vnd sich enden / vnd wes sich ein jedes vorhalten sol / hiermit vor-
melden wollen /.33

Die schnelle Entwicklung im 16. Jahrhundert zieht also eine Reihe von
überarbeiteten Textfassungen nach sich, die mit der Ausgabe von 1608
schließlich bald nach dem Abschluss der Fortifikationsarbeiten zunächst
ihren Schlusspunkt erreicht haben. Mit der Ausgabe von 1642 setzt eine
neue Phase ein, die mit dem ersten Text den Status vormoderner instituti-
oneller Texte eindrucksvoll markiert.
Im Folgenden möchte ich die Feuerordnungen des 16. und 17. Jahr-
hunderts geleitet durch die eingangs formulierten Arbeitshypothesen ana-
lysieren.

3.1. Feuerordnungen steuern Kommunikation und Handlung

Feuerordnungen, auch wenn sie einige wenige Regelungen zur Vermei-


dung von Bränden zum Inhalt haben und damit an der Schnittstelle zu
den Bauordnungen stehen, haben die Bekämpfung von Feuer zum Ge-
genstand. Es sind zuerst appellative Handlungsanweisungen, deren Funk-
_____________
30 Vgl. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 4v-7v.
31 Richter (1885, 53).
32 „Geben Dreßden / Montags den 10. Augusti / Nach Christi Jhesu vnsers Erl=sers Geburt
/ Thausent FFnff hundert / Neun vnd achtzig“ (Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol.
15v).
33 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 5v. Viertelseinteilung fol. 5v-8v.
766 Alexander Lasch

tion es ist, in Unordnung gekommenes Gemeinwesen in Zusammenarbeit


wieder in Ordnung zu setzen. Feuerordnungen regeln die Kommunikation
eines Gemeinwesens in einer speziellen Gefahrensituation, in der vor
allem Schnelligkeit und Effektivität noch größeren Schaden vom Ge-
meinwesen abwenden helfen. Vom Erkennen eines Brandes über die
Warnung bis hin zur Wehr des Feuers ist vor allem entscheidend, klare
und kurze Kommunikationswege einzurichten. Als Grund dafür, weshalb
sie erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Druck gegeben werden, könn-
te aus dieser Perspektive angeführt werden, dass sich die städtischen Ent-
scheidungsträger darüber erst bewusst werden mussten, dass sie mit ihren
Erlässen auch Kommunikation gestalten können und mit ihren sprachli-
chen Handlungen kommunikatives Handeln im Ernstfall vorprägen. Mit-
tels der (gedruckten) Schrift kann in die eine Richtung prozedurales in
deklaratives Wissen überführt werden, in die andere Richtung deklaratives
Wissen Handlungsoptionen erst aufzeigen.34 Die Feuerordnungen sind
deshalb vielleicht eines der ersten sprachhistorischen Zeugnisse, in denen
sich die Organisation von Kommunikation beobachten lässt.
Der Rat der Stadt Dresden hat 1558 das Ziel, einem jeden eine Ord-
nung in die Hand zu geben, wie er sich bei „fürfallenden Fewers Nöten“
„getrewlich und fleissig zu vorhalten habe“.35 Dies betrifft die „Bürger,
Einwohner und jene, die sich in der Stadt und vor der Stadt enthalten“ –
und, zunächst, jeden für sich. Dass die Feuerwehr gemeinschaftlich orga-
nisiert und bewerkstelligt werden muss, wird in der ersten Ordnung nur in
der Viertelseinteilung deutlich, die die Bürgerschaft für die Hilfsmaßnah-
men einteilt:
Das Erste Teil sahet sich an / an der Ecken an Doctor Heußlers / seligen Hause
/ bey der CreutzKirchen / vnd endet sich an der Scheffelgassen / bey Doctor
Kommerstadts Hause.
Vnd seind zu diesem Teil / vom Rathe dieser zeit vorordenet / Anthoni TFrler /
vnd Bastian Wick.
Von der Gemeine / Hieronymus Fogel / vnd Bartel Hoseman.
Vnd do in vnsers gnedigisten Herrn Schlosse odder Gebewden / das Gott gne-
diglich abwende / Fewer auffgienge / sol dies teil bey jren Eides pflichten /
sampt jren Gesellen vnd Gesinde zulauffen / vnd trewlich wehren. Do aber jnn
_____________
34 Richter (1891, Bd. 1, 303f.) hatte noch angenommen, dass sich der mittelalterliche Mensch
wohl dem göttlichen Willen gefügt habe und deshalb keine „breiteren Feuerordnungen“
aufgerichtet hat (vgl. oben Anm. 20). Diese Lesart hat historisch sicher ihre Berechtigung
und interpretatorisch ihren Reiz, greift aber zu kurz. Ein weiteres aus der Stadtgeschichte
hergeleitetes Argument wäre beispielsweise, dass das Aufkommen neuer Ordnungen auf
engste Weise mit der Einführung des Buchdrucks verknüpft ist: In Dresden wird erst ab
1524 bei Matthes St=ckel gedruckt; vgl. Aurich (2005/2006, 557-561).
35 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol 2v.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 767

diesem teil Fewers not fFr fFr fiele / So sol das nachfolgende Andere teil / dem-
selben mit seinem Hausgesinde vnnd Gesellen / vnseumlich zu Hilffe kommen.36
Neben der Vierteilseinteilung und der Benennung von Mitgliedern des
Rates und der Gemeinde, die für jedes der Viertel verantwortlich sind,
werden einzelne Anweisungen gegeben, was bei einem Brand im jeweili-
gen Viertel der Stadt zu tun sei – z.B. eilen dem ersten Viertel im Brandfall
Bürger, Hausgesinde und Gesellen aus dem zweiten Viertel zu Hilfe. Ähn-
liche Regelungen werden für alle Viertel getroffen, das vierte Viertel bildet
jedoch zugleich die Reserve:
Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im Marstalh
hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die Viertels Meis-
ter / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern sollen bis zum
abeleschen / alda wartten.37

Der Feueralarm, mit dem die Hilfsmaßnahmen anlaufen, wird von der
Wache auf dem Turm der Kreuzkirche ausgelöst:
WAnn nun / das Gott gnediglich vorhFtte / an einem ort der Stad ein fewer auf-
fgieng Sol der Hausman auffm Creutz Thorm / so zu teglichen vnd nechtlichen
wache / dohin vor ordenet / auffs erste vnd fFrderlichste einen Glockenschlag
thun / auch alsbalde / so es am tage / eine Rote fewer Fahne / do es aber bey
der nacht / eine Lattern mit einem brennenden Liecht / gegen dem teil / in wel-
chem das fewer ist / heraus stecken oder hengen / hiernach man sich zurichten
habe.38
Die Hilfsmannschaften nutzen die in den Hausgemeinschaften, den Zünf-
ten und an öffentlichen Plätzen, Brunnen oder Röhrkästen vorgehaltenen
Mittel zur Feuerwehr wie lederne Eimer, Schleifen, Bütten und Schutz-
bretter (zur Anstauung des durch die Stadt verlegten Kaitzbaches).39 Dass
diese Regelungen im Katastrophenfall mehr für Verwirrung gesorgt haben
dürften, als dem Feuer gemeinschaftlich Herr zu werden, deutet sich in
den nachfolgenden Revisionen deutlich an. In der Ordnung von 1608 sah
sich der Rat genötigt, die Zünfte z.B. explizit aufzufordern, die ledernen

_____________
36 Ebd., fol. 4v-5r.
37 Ebd., fol. 7r.
38 Ebd., fol. 7v-8r.
39 Anfang des 15. Jahrhunderts wird ein künstlicher Arm des Kaitzbachs durch die Stadt
geleitet, um die Wasserqualität zu verbessern. Außerdem wurden Röhrwasserleitungen an-
gelegt und 1483 ein Röhrmeister angestellt. Das System aus Röhrwasserleitungen wurde im
16. Jahrhundert erweitert und diente ebenfalls der Feuerwehr; vgl. Blaschke (2005/2006c,
184); Schleifen (auf kleinen Rädern lagernde Schlitten) werden – im Gegensatz zu Fuhrwer-
ken – von menschlicher Muskelkraft bewegt und dienen dazu, Wasser zum Brandherd zu
bringen.
768 Alexander Lasch

Eimer, die jede Zunft vorhalten sollte, zum Feuer zu bringen, damit sie
auch gemeinschaftlich genutzt würden:40
1558: HierFber vnd jnn sonderheit / sol auch eine jtzliche Zunfft der Handtwer-
ger / eine anzal Lid derne Eimer / als vngefehrlich Funfftzig oder Secht-
zig / halten vnd haben.
1589: HierFber vnd insonderheit / sol auch eine jetzliche Zunfft der Handwerger
/ eine anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dressig / nach
gr=sse des Handwergs halten vnd haben.
1608: HierFber vnnd in sonderheit / soll auch eine jetzliche Zunfft der Hand-
wercker / ein anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dreissig /
nach gr=sse des Handwercks halten vnd haben. Vnd do Fewer auffgieng / also bald
den halben theil dahin verschaffen.41

Ein weiteres Beispiel betrifft die Anordnung für einen Teil der Lösch-
mannschaft, die in Bereitschaft warten soll – erst 1589 wird expliziert,
worauf:
1558: Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im
Marstalh hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die
Viertels Meister / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern
sollen bis zum abeleschen / alda wartten.
1589: Do aber im selben dritten Theil kein Fewer / so sol dis vierdte Theil auffm Na-
wenmarck zusammen kommen / Doselbst sollen die Viertels Meister zehen Personen
ins Creutz Thor / vnd zehen Personen an das Ziegel Thor vorordenen / die andern sollen
bis zum ableschen vorwarten / wozu sie vorordenet werden m=chten.42

Auch in anderen Bereichen geht der Rat dazu über, den arbeitsteiligen
Prozess der Feuerwehr zu organisieren und zu explizieren, Wissen zu
deklarieren und mögliche Handlungsalternativen anzuzeigen. Dies setzt
natürlich erst einmal voraus, dass man alle Bewohner der Stadt in die Feu-
erwehr einbezieht. Deshalb wird z.B. die Viertelseinteilung präzisiert. Die
ungenaue Angabe von 1558 und 1589 wurde 1608 ergänzt durch die An-
gabe aller Gassen, die sich im jeweiligen Viertel befinden:
DAs Erste Viertel fehet sich an hinter der Creutzkirchen / an Hans Tuchmans
Haus am Eck / vnd endet sich in der Willischen Gaß vnten am Thor / an Peter
Richters Eckhaus.
In dieses Viertel geh=ren: Die halbe Gaß von Hans Tuchmans Haus / an der Prediger heuser,
herfFr nach dem Marck zu: Die Schreibergaß. Die Breitegaß. Die Seegaß. Die Zahnsgaß. Die
_____________
40 Veränderungen gegenüber der vorhergehenden Fassung sind kursiviert.
41 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 3v-4r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 4
und Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v.
42 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 7r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 8v.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 769

Webergaß. Die Scheffelgaß. Die halbe Willischegaß bis an Peter Richters / des Trabanten
Haus.
Vom Rath seind zu diesem Viertel derzeit verordnet: Ernst Harr. vnd Jacob
Kupffer.
Von der Gemeine. Hans Simen. Gottschalk Spracht. Heinrich Deckert.
VNd do in vnsers Gnedigisten Herrn Schloß / oder Gebewden / das Gott gne-
diglich abwende / Fewer auffgieng / sol dis Theil bey jhren Eydspflich-
ten / sampt jhren Gesellen vnd Gesinde zulauffen / vnd trewlich wehren.
Do aber in diesem Virtel Fewersnoth fFrfiel / so sol das nachfolgende Ander
Theil / demselben mit seinem Hausgesinde vnd Gesellen / vnseumlich zu hFlffe
kommen.43

Damit werden die, die zur Hilfe verpflichtet sind, als Einwohner explizit
angesprochen und zur Hilfe verpflichtet – dies war vorher nicht der Fall.
Beginnend mit der Ordnung von 1589 werden einzelne Einwohnergrup-
pen mit unterschiedlichen Aufgaben betraut:
Hierauff sollen alsbalde alle Zimmerleute / Mewrer / Ziegel vnd Schiefferdecker
/ Bader / Schmiede / Schlosser / BFchssenmacher / Schwertfeger / Messer vnd
Kupperschmiede / sie seyen gesessen in welchem Viertel die wollen / sich zu
dem Fewer vorfFgen / vnd bey jhren Eydespflichten / den sie vnserm gne-
digsten Herrn dem ChurfFrsten / vnd vns dem Rath dieser Stadt geschwo-
ren / jhren besten vnd mFglichsten fleis mit leschen fFrwenden /.44

Es wird nicht mehr nur Alarm mit der Hoffnung ausgelöst, dass das Feuer
dann auch gelöscht werden möge, sondern das Zeichen des Alarms wird
als Beginn eines gemeinsamen und zu steuernden Prozesses verstanden, in
dem jeder Einwohner der Stadt seine Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Ar-
beitsteilung, die die Mehrgliedrigkeit des Feuerlöschprozesses und das
Ineinandergreifen der Hilfsmaßnahmen deutlich macht, wird in den nach-
folgenden Jahren noch verfeinert. Dafür möchte ich abschließend ein
Beispiel aus der Feuerordnung von 1642 geben, die spezielle Regelungen
für „Witweyber, die eigene Häuser haben“, vorlegt:45
ZVm Sechßzehenden: Die Witweiber / so eygene Haeuser haben / weß Standes
die auch seyn / sollen aus jhren Haeusern jhre Maegde vnd Diensbothen mit
Wasserkannen vnd andern Gefaessen an den Orten / da die Katzbach auf-
geschwellet / auch bey den Brunnen vnd Roehrkasten / abordnen / vnd jhnen
befehlen / die Wasserbuetten zu fuellen / das Wasser in die Eymer einzu-
schoepffen / vnd zuzutragen / Eines theiles vin denenselben sollen geordnet
_____________
43 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r.
44 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 9v-10r.
45 Da die Ordnung von 1642 vollständig umgestaltet ist, wird auf die Kursivierung zur Her-
vorhebung von Änderungen gegenüber älteren Fassungen verzichtet.
770 Alexander Lasch

werden die gefuellten Eymer vnd Geschirre von einer Hand in die andere zu rei-
chen / damit durch destoweniger Muehe vnd hin vnnd wieder lauffen das Wasser
an die Brandtstat gebracht / vnnd außgegossen werden moege.46

3.2. Zur Textgrammatik und -struktur der Feuerordnungen

Im Fokus des vorangehenden Kapitels stand die Frage, wie gemeinsames


Handeln und die dafür notwendige Kommunikation in einem potenziellen
Katastrophenfall organisiert, geplant und verbessert werden können (Wis-
sensdeklaration und Planung von Handlungsalternativen). Als Beispiel
wurde die Regelung angeführt, dass 1608 jede Zunft verpflichtet wurde,
einen Teil der vorgehaltenen Löscheimer zum Feuer zu bringen, damit sie
auch gemeinschaftlich genutzt würden: „Vnd do Fewer auffgieng / also bald
den halben theil dahin verschaffen.“47 Textgrammatisch lässt sich ein Teil dieser
Erweiterungen und Ergänzungen im Blick auf die gesamte Entwicklung
von 1558 bis 1642 aus der Retrospektive als die Explikation von ellipti-
schen Strukturen, die implizites Handlungswissen bergen, beschreiben.
Damit steigert sich zum einen die Satzkomplexität – dies wäre Thema der
historischen Syntax – in den Texten, die wiederum eine Komplexitätsstei-
gerung der Verknüpfung periphrastischer zu transphrastischen Einheiten
nach sich zieht:
Nachdem auch zum offtern mahl befunden / das der vorrath am Was-
serbFtten / Schleiffen vnd anderm zum theil vorletzt / auch sonst hinweg gefFret
/ So verbieten wir hiermit ernstlich / das kein BFrger noch Einwohner / oder
jemands anders / wer der auch sey / ohne vnser wissen vnd bewilligung / einige
Wasserschleiffen / BFtten / Fewerhocken oder Leittern / so bey den B=rnern /
vnd sonst also auff eine fFrsorge dahin geordnet / ausserhalben Fewersn=ten /
hinweg nemen / fFren / abborgen / oder sonst vorsehren solle / bey straff
Dreissig gFlden. Wie dann die Nechsten zwene Nachbarn auch andere gewisse Personen ver-
ordnet werden sollen / denen die SchlFßel zu den Leitern vnd Hacken befolen / vnd welche al-
sobald / wenn Fewer auskeme / auffschliessen / vnd das die Wagen an die =rter / da man sie
bedarff / gefFhret / bef=rderung thun / auch do an einem oder dem andern mangel / solchs bey
zeit anzeigen sollen.48

Das Augenmerk soll nicht auf dem Einschub „wer der auch sey“ liegen, son-
dern auf der Ergänzung einer vollständigen Regelung, die gegenüber der
Ordnung von 1589 vorgenommen wurde. Diese neue Einheit wird zwar
durch eine explizite Wiederaufnahme der Feuerlöschgeräte textgramma-
tisch angeschlossen, dennoch ist die Verknüpfung ohne Hintergrundwis-
_____________
46 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 37, Kap. 2 §16.
47 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v.
48 Ebd., fol. 5v-6r.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 771

sen nicht herzustellen: Um den Missbrauch der Feuerlöschgeräte zu ver-


hindern, hat der Rat der Stadt diese offensichtlich bei den Brunnen und
anderen Orten verschließen lassen. Zu diesen abgeschlossenen Räumen
haben die zwei nächstgelegenen Nachbarn (und andere Personen) die
Schlüssel, um die Räume im Brandfall aufzusperren. Implizit bleibt das
Hintergrundwissen, welches expliziert – auch textgrammatisch – die Brü-
cke zwischen diesen beiden periphrastischen Einheiten bildete: ′Weil Lei-
tern etc. entwendet werden, hat der Rat der Stadt diese in gesicherten
Räumen unterbringen lassen. Die Schlüssel zu diesen Räumen usw.′ Ohne
diese Explikation sind für den beschriebenen Auszug zwei ambige Lesar-
ten denkbar: Zum einen ist denkbar, dass die öffentlich bereit gestellten
Hilfsmittel zweckentfremdet und deswegen verschlossen worden sind.
Andererseits ist vorstellbar, dass die Hilfsmittel schon immer verschlossen
wurden und im Brandfall nicht genutzt werden konnten, weil die Ver-
schläge geschlossen waren. Durch die vorangegangene Strafandrohung für
die Zweckentfremdung der Feuerlöschgeräte, „so bey den B=rnern / vnd
sonst also auff eine fFrsorge dahin geordnet“, ist die erste Lesart nahe
liegend. Textgrammatisch lässt sich über die Beschreibung von Wieder-
aufnahmen jedoch noch eine weitere Brücke schlagen, und zwar zu einem
Beleg, der in der Feuerordnung von 1608 neu aufgenommen worden ist
und sich ebenfalls auf die Zweckentfremdung der Feuerlöschgeräte be-
zieht:
Nach geleschetem Fewer sol ein jeder die Wasser Eymer / vnd anders so zum le-
schen gebrauchet / vnd von Rathhause / oder andern Leuten hergeliehen wor-
den / wieder von sich stellen / vnd an geh=rige orte vberantworten. Do aber bey
einem oder dem andern ein Eymer oder anders hinterhalten befunden oder er-
fahren wFrde / der sol neben der wiederstattung den Rath ein Gut Schock zur
straffe vorfallen sein.49
Dieses Gebot und die Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung bilden
textgrammatisch die (weite) Klammer zum vorgenannten Beleg. Dass
diese zweite Regelung, die den selben Gegenstand betrifft, in einem Text,
der weitestgehend ungegliedert ist, textstrukturell im Vergleich zur nach-
folgenden Ordnung von 1642 der Sache nach nicht an relevanter Stelle
erscheint und auch nicht mit einem expliziten Verweis (z.B. ‚siehe dazu
usw.‘) in Bezug gesetzt wird, lässt sich zusammen mit der Beobachtung,
dass implizites Wissen (zunächst noch) nicht expliziert wird, zu einer Ein-
schätzung bezüglich der Textstruktur zusammenführen. Textstrukturell
sind auf der einen Seite ein Fehlen textgrammatischer Verknüpfung
(transphrastische Einheiten mit Ellipse, die implizites Wissen birgt) und
auf der anderen Seite ein Auftreten weiter Klammern zwischen textgram-
_____________
49 Ebd., fol. 14v.
772 Alexander Lasch

matisch mit einander verbundenen periphrastischen Einheiten (zerdehnte


transphrastische Einheiten) als wesentliche Merkmale für die Entwicklung
von Textsorten in Institutionalisierungsprozessen zu bestimmen.50
Ein weiterer Aspekt, der auf textgrammatischer und textstruktureller
Ebene mit dieser Entwicklung verbunden ist, ist die Zunahme von text-
deiktischen Elementen, die zur Gliederung des Textes eingesetzt werden.
Die Feuerordnung von 1642 ist zunächst in Kapiteln geordnet, worauf die
Einleitung hinweist:
Vnd weil nechst dem lieben GOtt vnnd fleissigem andächtigem Gebethe durch
gute Vorsorge dergleichen Fewerßbrunst zuberhueten / So haben Wir zufoer-
derst Erstlich die jenigen Mittel / so zu vorkommunge solcher Gefahr bey einem
iedwedern StadtRegiment noethig / voran stellen / Hernach fuers Andere / was bey
entstandener Fewerßbrunst zuverrichten: Denn fuers Dritte / wie es zu Altdreßden /
Auch fuers Vierdte in den Vorstaedten hinfuehro zuhalten / zugleich mit einruecken
/ Vnd was fuers Fuenffte nach geloeschter Fewerßbrnst in acht zu nehmen / anzeigen
/ Vnd es also in Fuenff vnterschiedene Capitul abtheilen wollen.51

Der Text wird in Sachgebiete gegliedert, die im Wesentlichen die Entwick-


lung widerspiegeln, wie sie in Kap. 3.1. skizziert wurde: Die Feuerordnung
war danach als ein Text aufzufassen, der konkrete Handlungsanweisungen
beinhaltet, wie im Falle einer Brandkatastrophe Feuerwehr zu organisieren
ist. Diese Handlungsanweisungen werden, wie bereits gesehen, weiter
verfeinert und durch Explikation impliziten Wissens präzisiert. Die aus-
formulierte Inhaltsangabe am Beginn des Textes erleichtert die Lektüre
der Feuerordnung und ist als Findehilfe konzipiert – wie in anderen ge-
druckten Texten hat sich auch hier eine funktionale Ordnungs- und Er-
schließungsmöglichkeit durchgesetzt.52 Die Feuerordnung von 1642 ist
allerdings nicht nur in Kapitel eingeteilt, der Text wird weiter durch die
Einführung von Paragraphen in kleinere Abschnitte untergliedert, auf die
nun wiederum explizit verwiesen werden kann:
ERstlich / Die in den Vorstaedten haben sich mit verwahrung der Fewerstae-
te / besichtigung v] anderer fleissiger vorsorge fuernemlich nach dem 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7. vnnd 14. Punct des Ersten Capituls zu richten vnd in fleissige acht zu
nehmen. Jnsonderheit sol iedere Gemeine in der Vorstadt Zehen Lederne Ey-
mer / Zwo Leitern / Zweene Fewerhaken / deßgleichen vor iedem Brunnen ein
Wasserbuetten in vorrath haben.53
_____________
50 Hier ließe sich die Unterscheidung zwischen nähesprachlichen und distanzsprachlichen
Textsorten fruchtbar machen. Allerdings wären dann für eine solch generelle Einschätzung
andere Textsorten aus der Dresdner Kanzlei vergleichend hinzuziehen; vgl. dazu
Koch / Oesterreicher (1985, 15-43).
51 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 5.
52 Vgl. u.a. Zedelmaier (2004, 192f.).
53 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 47, Cap. 4 §1.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 773

Mit der Gliederung und Unterteilung der Kapitel in Paragraphen steht ein
effektives Mittel für die Verweisung innerhalb des Textes zur Verfügung,
das die Orientierung innerhalb der Ordnung erleichtert und damit die
Ordnung auch als einen institutionellen Text ausweist. Rechtsbezüglich-
keit54 auf der einen und funktionale Gliederung und Ordnung auf der
anderen Seite, die wohl nicht zuletzt auch durch den Buchdruck befördert
wird, kennzeichnen die städtische Kanzleisprache.
Die Veränderungen auf textgrammatischer und textstruktureller Ebe-
ne sind also nicht zuletzt mit der Entwicklung der Textsorte vor dem
Hintergrund eines Institutionalisierungsprozesses der städtischen Verwal-
tung zu sehen: Feuerordnungen werden von informierenden und hand-
lungsanleitenden, appellativen Texten zu direktiven Texten.

3.3. Versprachlichung und Verschriftlichung


als institutioneller Lernprozess – von der appellativen
zur direktiven Textsorte

Die Feuerordnungen entstehen als volkssprachliche Texte und Exemplare


einer institutionellen Textsorte in den Zentren, die als Motor für die früh-
neuhochdeutsche Textsortenentwicklung und -ausdifferenzierung im Zu-
ge der zunehmenden Institutionalisierung und Bürokratisierung benannt
werden.55 Es sind die aufstrebenden Städte, in denen sich das Handwerk
organisiert, das Handelskapital einen Aufschwung nimmt und die städti-
sche und territoriale Verwaltung neue Formen an informierenden und
handlungsanleitenden Texten notwendig macht.56 Als ein wesentliches
Kennzeichen von Texten wie den Feuerordnungen, die im Zusammen-
hang der Institutionalisierungsprozesse in den Städten und der landesherr-
lichen Verwaltung seit dem 14. Jahrhundert entstehen, wird die dominante
Funktion der Regelung einzelner Ausschnitte des sozialen Lebens nach
tradierten, oft genau definierten Begriffen und explizit geregelten Verfah-
rensnormen in den Bereichen Politik, Verwaltung, Recht und teilweise
auch Wirtschaft gesehen.57 Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die
Erfindung des Buchdrucks, auf dessen Bedeutung stets hingewiesen wird
_____________
54 Womit allerdings auch das Kriterium der Rechtsbezüglichkeit „als einziges Differenzie-
rungskriterium unterschiedlicher Kommunikationsbereiche [...] somit weitgehend aus-
[scheidet]“ (Ziegler 2001, 121).
55 Vgl. Kästner / Schütz / Schwitalla (1985, Sp. 1357). Der Artikel erschien in überarbeiteter
Form wieder in: Besch u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., Sp. 1605ff.; vgl. weiter
von Polenz (2000, Bd. 1, 114-129, besonders 121ff.).
56 Vgl. Kästner / Schütz / Schwitalla (1985, Sp. 1362).
57 Vgl. ebd., Sp. 1606.
774 Alexander Lasch

in Bezug auf die zunehmende Verbindlichkeit und Geltung städtischer


Textsorten, die ihrerseits die Geltung der verschrifteten sozialen Normen
steigerten.58 Die Feuerordnungen werden zunehmend um direktive Ele-
mente erweitert, sie suchen dadurch soziales Verhalten nicht mehr nur in
der unmittelbaren Situation des Brandes zu regeln, sondern sollen auch
präventiv Feuer vermeiden helfen:
1558: Gebietten vnnd Befehlen hirauff allen vnsern BFrgern / Beywohnern /
Handwergs Leuten vnd dienern / auch anderen die sich bey vns enthalten / das
sich ein jglicher in fFrfallenden Fewers n=ten / die Gott gnediglich vorhFtten wo-
le / nach dieser Ordenung / wie die vnderschiedlich einen jedern betreffen thut /
getrewlich vnnd fleissig vorhalte.
1642: Gebieten vnnd befehlen darauff jhnen sambt vnd sonders bey vnnachlaes-
siger ernsten Strafe / die andern aber / so vnserer Iurisdiction nicht vnterworffen
/ Krafft Jhrer Churfuerstlichen Durchlauchtigkeit zu End angeheckten gnae-
digster Confirmation vnd darbei bedroheten Poeen erinnernde / es wolle ein
ieglicher / bey seinen Trewen / Pflichten / vnd respective Buerglerlichen Gehor-
sam / damit hoechst=ermeldter Jhrer Churfuerstl. Durchl. Vns vnd Gemeiner
Stadt zugethan vnd verwandt ist / solchem allen / in allen Puncten vnd Articuln
/ trewlich vnd gehorsamst nachkommen.59

Im Vorwort der Feuerordnung von 1642 wird erstmals nicht nur „Gebot
und Befehl“ expliziert, sondern gleichzeitig die Sanktion angedroht, zu der
der Rat bevollmächtigt ist: Die Bürger der Stadt sind seiner Iurisdiction
unterworfen – hier wird die Legitimität und Befugnis des Rates ausgestellt.
Nicht nur mit der Verwendung lateinischer Terminologie (hier der Do-
mäne des Rechts) wird der Text als Text einer Institution ausgewiesen,
sondern auch mit der Heraushebung des Rates als einer städtischen Insti-
tution erstmals im Titel des Textes.60 Die „vnnachlaessige ernste Strafe“
zielt deswegen z.B. nicht allein auf den Modus ab, sondern auch auf die
zeitliche Dauer der Strafe: Der Text und die darin aufgeführten Regelun-
gen, Anordnungen und Sanktionen werden aus dem Hier-und-Jetzt heraus-
gehoben. Diese Merkmale institutioneller Texte lassen sich nicht plötzlich
und abrupt an einem Textexemplar beobachten, sondern die Übergänge
zwischen den einzelnen Stadien in der Entwicklung der Textsorte sind
fließend. Erst die Feuerordnung von 1642 stellt einen prototypischen
Vertreter der (institutionellen) Textsorte dar, für die erste Phase der Ent-
wicklung (bis 1608) lässt sich daher immer nur von eher mehr oder eher
weniger prototypischen Textbausteinen bzw. ersten Textstrukturen spre-
chen. In diesem Zusammenhang wurde bereits ein Indiz für die Heraus-
_____________
58 Vgl. ebd., Sp. 1609.
59 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2v und FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 4.
60 Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Moser (1985, Sp. 1399).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 775

hebung aus einer konkreten historischen und sozialen Situation und damit
aus der lokalen und temporalen Situationsdeixis auf Außersprachliches des
Hier-und-Jetzt thematisiert: die Explikation der Viertelseinteilung ab 1608.61
Durch die Angabe der Gassen, die in einem Viertel liegen, besteht keine
Veranlassung mehr, den Text immer dann erneut vollständig setzen und
drucken zu lassen, wenn etwa ‚das Eckhaus bei der Kreuzkirche‘ seinen
Besitzer wechselt:
1558: Das Erste Teil sahet sich an / an der Ecken an Doctor Heußlers / seligen
Hause / bey der CreutzKirchen / vnd endet sich an der Scheffelgassen / bey
Doctor Kommerstadts Hause.
1589: DAs Erste Viertel fehet sich an hinder der Creutzkirchen / an Hans J=stels
Hauß am Eck / vnd endet sich in der Willischengaß vnden am Thor / an
Christoff Jeniegens Eckhauß.62

Daneben werden 1608 und besonders ab 1642 mehrseitige Verzeichnisse


eingefügt, wie z.B. ein Verzeichnis aller Brunnen und Brunnenmeister der
Stadt oder ein Verzeichnis der Standorte der Schutzbretter, die für die
Aufschwellung des künstlichen Baches durch die Stadt Verwendung fin-
den. Letztere Explikation in Listenform – neben der Gliederung in Kapi-
tel und Paragraphen ebenfalls ein textstrukturell neuer Baustein – themati-
siert das implizite Wissen, welches hinter der lokalen Deixis auf
Außersprachliches der tradierten Formulierung aufscheint, die von 1558
an fortlaufend unverändert weiter gegeben wird: „Gleichfals sollen auch
die Schutzbrete / an den ortten / do sie vor Alters gewest / bey solcher
straff erhalten werden.“63
Alle diese Merkmale, die sich an der Textoberfläche beschreiben las-
sen, bilden den Prozess ab, den ich als Lernprozess der Versprachlichung und
Verschriftlichung kennzeichnen möchte: Die städtische Verwaltung gestaltet
das städtische Leben mit Ordnungen aus. Dazu gehört auch, dass sich erst
sprachliche Muster ausbilden und etablieren müssen, um prozedurales
Wissen in deklaratives Wissen umzuformen. Damit wachsen die Ordnun-
gen aus der knappen Handlungsanweisung in einer konkreten Situation
heraus und regeln (auch planerisch) umfassend einen Bereich des sozialen
Lebens. Exemplarisch ist auch hierfür die Ordnung von 1642 heranzuzie-
hen, die nicht mehr nur das Verhalten bei Feuer organisiert, sondern in ei-
nem eigenständigen Kapitel die Maßnahmen aufführt, die nach gelösch-
tem Feuer vorzunehmen sind:

_____________
61 Vgl. Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r.
62 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, Blatt 4v und Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589,
fol. 5v.
63 Ebd., fol. 4v.
776 Alexander Lasch

Das Fuenffte Capitul. Wenn mit Goettlicher Huelffe die entstandene Fe-
werßbrunst gedempfft vnd geleschet / wie es ferner gehalten werden sol.
1. ERstlich: Bey deme / so das Fewer außkommen / sol wegen der verwarlosung
vnd verursachunge / fleissige erkundigung eingezogen / welcher darauff nach
befindung von Vns dem Rathe wuercklich bestraft werden sol [...].64

Nicht, dass Unterscheidungen und Differenzierungen zwischen Norm


und Sanktion nicht bereits früher bisweilen Eingang in die Feuerordnung
gefunden hätten,65 die systematische und funktionale Zusammenstellung
hebt die Ordnung von 1642 von allen vorangehenden Texten ab. Die
Ordnung von 1642 hat sich als juristischer Text mit der Unterscheidung
zwischen Norm und Sanktion von den Handlungsanleitungen aus der
Mitte des 16. und vom Anfang des 17. Jahrhunderts emanzipiert und wird
damit zur Grundlage für die Feuerordnungen bis ins 18. und 19. Jahrhun-
dert.

4. Fazit
An den Dresdner Feuerordnungen, die vor dem Hintergrund der stadtge-
schichtlichen Entwicklung im 16. Jahrhundert glücklicherweise in regel-
mäßigen Abständen in Druck gegeben worden sind, lässt sich die Institu-
tionalisierung einer Textsorte beschreiben, die sich ausgehend von der
bloßen Handlungsanweisung hin zu einem direktiven Text mit der Expli-
kation von Norm und Sanktion entwickelte. Dabei bin ich auf drei Aspek-
te eingegangen, die sich graduell und systematisch nicht streng voneinan-
der scheiden lassen, da sie auf kommunikativer, auf textgrammatischer
und textstruktureller sowie auf der Ebene der Entwicklung einer institu-
tionellen Textsorte aus unterschiedlichen Perspektiven ein Phänomen
beleuchten.
In den Feuerordnungen wird gemeinsames Handeln der Stadtbevölke-
rung in einem Katastrophenfall organisiert, Kommunikation gelenkt und
es werden Aufgaben und Verantwortlichkeiten festgeschrieben. Zur Ent-
wicklung der Textsorte gehört, dass sich diese geplanten Handlungen und
die vorgeschlagenen Aufgabenverteilungen erst bewähren müssen, bevor
sie als deklaratives Wissen in die Texte eingehen und als obligatorischer
Bestandteil der Textsorte aufgefasst werden können. Auf textgrammati-
_____________
64 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 50, Kap. 5 §1.
65 Vgl. etwa: „Man sol auch nach geleschtem Fewer erkundigung einnemen / welche von obgedachten
Handwergern darbei gewesen / v] rettung thun helffen. Vnd do einer oder mehr befunden / welche vorset-
ziglich vnd ohne sonderbare erhebliche entschFldigung dauon blieben / die sollen darumb nach gelegenheit in
straff genommen werden. […]“ (Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 10).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen 777

scher und textstruktureller Ebene war diese Entwicklung beschrieben


worden an Beispielen, in denen bisher implizites Wissen expliziert wird.
Dabei war die Unterscheidung wichtig, dass zum einen Handlungswissen
verschriftlicht wird, zum anderen aber, dass mit der Schrift die Planung
und Vorgabe von Handlungsmöglichkeiten, die sich nicht aus der Erfah-
rung speisen, möglich wird. Dabei wird der Text an verschiedenen Stellen
erweitert, ohne dass dabei zugleich etwaige textgrammatische Brüche oder
textstrukturelle Dopplungen vermieden würden. Der Text hat damit zu-
nächst noch den Charakter einer Ansammlung von Regelungen, die erst
mit der Wandlung von einer mehr appellativen zu einer eher direktiven
Textsorte in eine funktionale Ordnung überführt wird. In dieser Entwick-
lung der Textsorte Feuerordnung spiegelt sich deswegen ein Institutionalisie-
rungsprozess innerhalb städtischer Verwaltungen wider, der nicht nur die
Feuerordnungen, sondern alle Ordnungen betrifft: Indikatorisch ist hier-
für die juristische Relevanz, die die städtischen Texte zunehmend ausstel-
len und die charakteristisch für alle kanzleisprachlichen Texte ist.66 Diese
an juristischer Relevanz gewinnenden Texte, die aus der Situationsdeixis
des Hier-und-Jetzt herausgehoben werden, indizieren einen institutionellen
Lernprozesses der Versprachlichung und Verschriftlichung, der zum einen
Gegenstand der (historischen) Syntaxforschung und zugleich auch Kenn-
zeichen der generellen (und noch nicht abgeschlossenen) Entwicklung
innerhalb (nicht nur) städtischer Verwaltungen ist:
Man gibt oft Regeln über Dinge, wo sie unstreitig mehr Schaden als Nutzen brin-
gen. Was ich hier meine will ich mit einem Artikel aus einer Feuer-Ordnung er-
läutern. Anwendung wird sich jeder in seinen Wissenschaften zu machen wissen:
Wenn ein Haus brennt, so muß man vor allen Dingen die rechte Wand des zur
Linken stehenden Hauses und hingegen die linke Wand des zur Rechten stehen-
den Hauses zu decken suchen [...].67

Quellen

Von Gotts gnaden Johans Friderich / Hertzog zu Sachsen / des heiligen R=mischen Reichs Ertz-
marschahl vnd ChurfFrst […] [Anordnung]. 1541, gegeben zu Torgau. Abgedruckt in: Der
durchleuchtigen / hochgebornen FFrsten vnd Herrn / Herrn Johans Friderichen / des Mittlern
/ Herrn Johans Wilhelm / vnd Herrn Johans Friderichen / des JFngern / gebrFdere / Hert-
zogen zu Sachssen […] Pollicey vnd Landtsordenung / zu wolfart vnd bestem / der selben
Landen vnd Vnterthanen / bedacht vnd ausgangen, Gedruckt durch Christian R=dinger, Jena
1556.

_____________
66 Vgl. wieder Ziegler (2001, 121).
67 Lichtenberg (1983, 129).
778 Alexander Lasch

Fewer Ordenung der Stadt Dreßden. Gedruckt zu Dreßden durch Matthes St=ckel, Dresden
1558.
Fewer Ordenung der Stadt Dreßden / vornewert vnd wieder auffgerichtet / Jm Jahr nach Christi
Geburt / M.D.LXXXIX. Gedruckt zu Dreßden / durch Matthes St=ckel, Dresden
1589.
Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden / vernewert vnd wieder auffgerichtet im Jahr nach Christi
Geburt / M.DC.VIII. Gedruckt zu Dreßden / durch Hieronymum SchFtz, Dresden
1608.
FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden. Gedruckt bey Eimel Bergens Sel. Erben, Dresden 1642.
Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung / und denen
hernach von der hohen Landes-Obrigkeit ergangenen Befehlen, so viel allen und jeden BFrgern,
auch Einwohnern sowohl in Neu- als Alt-Dreßden und in den Vor-St(dten zu wissen n=thig.
Gedruckt bey Jacob Harpetern, Dresden 1716.
Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden. Gedruckt bey Johann Wil-
helm Harpetern, Dresden 1751.
Lichtenberg, Georg Christoph (1983), Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher, Frag-
mente, Fabeln, Verse, Franz H. Mautner (Hrsg.), Frankfurt a. M.

Literatur

Adamzik, Kirsten (2001), Sprache. Wege zum Verstehen, Stuttgart.


Aurich, Frank (2005/2006), „Die Renaissancestadt 1547-1648: Kultur, Kunst und
Bildung. Die Anfänge des Buchdrucks in Dresden“, in: Blaschke (Hrsg.), Geschich-
te der Stadt Dresden, Bd. 1, 557-561.
Bauer, Richard (1911), Bauvorschriften in Alt-Leipzig und Dresden. Dresden.
Bentzinger, Rudolf (2000), „Die Kanzleisprachen“, in: Besch u.a. (Hrsg.), Sprachge-
schichte, Bd. 2, 2. Aufl., Sp. 1665-1673.
Besch, Werner u.a. (Hrsg.) (1985), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deut-
schen Sprache und ihrer Erforschung, 2 Bde., (Handbücher zur Sprach- und Kommu-
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Besch, Werner u.a. (Hrsg.) (2000), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deut-
schen Sprache und ihrer Erforschung, 2 Bde., 2., vollst. neubearb. Aufl., (Handbücher
zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2), Berlin, New York.
Binding, Günther (1980), „Bauordnung (Baurecht)“, in: Lexikon des Mittealters, Bd. 1 ,
Sp. 1670f.
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Syntaktische Präferenzen
als Kommunikationsmaximen
in der Grammatikographie 1500-1700

Odile Schneider-Mizony (Strasbourg)

1. Erkenntnisziel und Korpus


Es wird ein qualitativer Ansatz sprachhistorischer Analysen vorgestellt,
der von der Markierungspraxis sprachlicher Variation in den Grammati-
ken des 16. und 17. Jahrhunderts ausgeht. Mit Grammatiken sind sowohl
Lehrbücher der deutschen Sprache an Ausländer – Albertus oder Gezelius
– wie auch Kanzleifibeln, Stilistiken oder Briefsteller – Meichszner, Opitz,
Stieler – wie auch schließlich analytisch-normative Beschreibungen der
Muttersprache gemeint: Kromayer, Ratke und Schottel. Allen diesen Wer-
ken, die hier unter die grobe Kategorie Grammatikographie eingereiht wer-
den, ist eine Schreibpraxis zu eigen, in der variable sprachliche Erschei-
nungen mit Markierungen versehen werden, in denen sich das Einver-
ständnis und die Bevorzugung, oder die Stigmatisierung und Ablehnung
bestimmter Formen durch den Beschreiber ausdrückt.
Von Polenz hat für das 19. Jahrhundert die große Rolle hervorgeho-
ben, die die Sprachbewertung, die mit der Sprachreflexion einhergeht, für
die Ideologisierung bzw. die Diskriminierung von bestimmten sprachli-
chen Erscheinungen spielt. So sehr wird in seinen Augen die Sprachent-
wicklung von solchen metasprachlichen Bemühungen beeinflusst, dass er
das systemlinguistische Kapitel der betreffenden Epoche dem sprachbe-
wusstseinsgeschichtlichen Kapitel nachfolgen lässt.1 Der Vergleich zwi-
schen beiden Ebenen sollte nicht den neueren Sprachepochen vorbehal-
ten werden, die Quellenlage macht es möglich, auch für ältere Epochen
Einschätzungen und Geschmacksurteile über eigenes und fremdes
Sprachverhalten zu gewinnen, die einen Einblick in die zeitgenössischen
Vorstellungen von guter oder schlechter Sprache, von passendem oder
_____________
1 Vgl. von Polenz (1999, 4).
782 Odile Schneider-Mizony

unpassendem Sprachgebrauch erlauben. Grammatiken dokumentieren


nicht nur – wenn es überhaupt der Fall ist – den Sprachgebrauch ihrer
Zeit, sondern kommentieren ihn auch. In einer Arbeit zu den Satzkonnek-
toren konnte ich 2003 zeigen, wie der Prestigeverlust der Pronominalad-
verbien in den meta-sprachlichen Kommentaren von 1450 bis 1650 paral-
lel zu einem Rückgang in der Prosa führt, oder sich daraus erklärt(!).2
Im Sinne des Titels der vorliegenden Publikation werden die qualitati-
ven Kommentare da untersucht, wo sie sich auf die syntaktische Ebene
der Sprache beziehen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, wurden die
syntaktischen Domänen Verbstellung, Satzklammer, afinite Nebensätze, Gleich-
ordnung versus Nebenordnung auf zwei Untersuchungen beschränkt: Aussa-
gen a. zur Verbstellung und b. zur Auslassung des Hilfsverbs in den Ne-
bensätzen. Es wird versucht zu zeigen, wie die stilistischen Bewertungen
über sprachliche Ausdrucksformen bis hin zu den normativen Aussagen
darüber, wie es (nicht) gemacht werden sollte, einem Wahrnehmungs- und
Wertewandel im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entsprechen.
Einführend werden Forschungsrahmen und Vielfalt der Markierungen
in den Sprachlehrwerken kurz erklärt. Dann wird mit Hilfe der erhobenen
Daten versucht, an Hand der Markierungen Aussagen über die syntaktisch
präferierten Modelle herauszuarbeiten. Schließlich wird argumentiert, dass
die damit dokumentierten Voreinstellungen der Schreiber zur Syntax den
Sprachwandel interpretieren helfen und sich dieser Ansatz somit als kom-
plementär zu systemlinguistischen Arbeiten verhält.

2. Sprachlehrwerke, Variation und Markierungen


2.1. Markierungspraxis

Die Markierung durch den Grammatiker wird aus einem epilinguistischen


Bewusstsein heraus vorgenommen: Die Autoren der didaktisch oder wis-
senschaftlich orientierten Sprachlehrwerke ergänzen die Beschreibung der
deutschen Sprache um Kommentare zu deren Qualität und Verwen-
dungsmodi. Solche Kommentare befinden sich an der Schnittstelle zwi-
schen Varietätenlinguistik3 und Attitüdenforschung: Eine Form wird neut-
ral angeführt und gilt als normal, während eine zweite, als Abweichung
von der ersten verstandene Form mit einer Markierung versehen wird, die
sowohl Kritik als auch Güteprädikat sein kann. Markiertheit ist eine Be-
gleiterscheinung sprachlicher Variation.

_____________
2 Vgl. Schneider-Mizony (2003, 229).
3 Wenn die sprachliche Form tatsächlich existiert!
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 783

Die große Vielfalt dieser Markierungen erfordert ein Klassifizierungs-


raster,4 denn man kann etwa acht verschiedene Arten der Markierung
sprachlicher Alternativen unterscheiden:
1. Die diachronische Markierung, bei der es um alt oder neu geht,
zeigt sich empfänglich für den Wandel im Sprachgebrauch. Im fol-
genden Beispiel erinnert der Grammatiker daran, wie die Schrei-
bung des Deutschen (im Zitat „diese Sprache“) andere Graphem-
kombinationen als Griechisch und Latein entwickeln musste:
(1) Die art zu schreiben ist bey den alten mehr mit griechischen als
Lateinischen Buchstaben gewesen. […] Jetziger zeit aber hat sich
diese sprache sehr verendert / hat nun mehr ihre eigene buchsta-
ben.5 (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 3f.)6
2. Die diatopische Markierung, bei der es um Räumlichkeit geht,
stempelt (oder lobt) Formen als regional / dialektal. Zur besseren
Einschätzung des folgenden Beispiels wird daran erinnert, dass
Meichszner aus Südwestdeutschland stammt:
(2) Aber am Ryn / vnd in landen da die spraachen etwas subtiler /
vnd mit geringerer arbeit ußzusprechen sind / sagt man / die
weysen herrn vom rat haben den weisen etc. (Johann Meichsz-
ner, Handbüchlin (1538), 160)
3. Die nationale Markierung bezeichnet den Grad der Integriertheit in
oder die Herkunft aus einer Nationalsprache, und charakterisiert
eine Form als „fremd“ oder „deutsch“ (= national). Im folgenden
Beleg geht es um die Verbstellung am Schluss des Satzes, mit an-
schließendem Sprachbeispiel des Grammatikers:
(3) Es lautet wol und schleust sich ordentlich in Teutscher Sprache /
wenn man die Meynungen also einfügen / und die Spruchrede
(periodum) mit dem Hauptzeitwort (illo verbo, quo totus sen-
sus recipit, seu quod primarium significandi locum obtinet)
schliessen oder endigen kan / als [...].
Dieweil aber der Erbfeind Siebenbürgen mit grosser Gewalt
überfallen / dahers unsere Königreiche und Erblande / welche
nunmehr der Gefahr viel näher worden / unsere Zunahung
und Gegenwart / und zu nötigem eilenden Widerstande / ver-
_____________
4 Angelehnt an Thelen (1999, 15).
5 Die Markierungen werden in den Zitaten kursiv gesetzt.
6 Im Quellenverzeichnis werden die Titel mit den Jahreszahlen der modernen Drucklegung
angeführt. Zum besseren Verständnis erfolgt hier jedoch die Nennung des Erscheinungs-
jahrs unter Angabe des Kurztitels.
784 Odile Schneider-Mizony

mittelst der Landtage / zeittge Fürsehung / so viel immer mög-


lich zuthun / zum höchsten erforderen. R. Absch. (Schottel,
Ausführliche Arbeit (1663), 755)
4. Die diastratische Markierung sagt etwas über die sozio-kulturelle
Zugehörigkeit aus und ordnet die Form einer sozialen Schicht
(Ober- oder Unterschicht) oder einem konnotierten Stilregister zu,
wie z.B. „edel“ oder „bäurisch“. Im folgenden Beispiel rechtfertigt
der Autor die Abwesenheit bestimmter Demonstrativa in seiner
Grammatik, duda, derda, dudoch, derdoch: Diese (Formen) würden
nicht mit Sorgfalt untersucht werden, denn sie würden eher von
Barbaren als von den Gebildeteren verwendet:
(4) Sed haec non curiose disquirantur, cum potius barbaris quam culti-
oribus vsitata sunt. (Albertus, De Grammatica (1573), 90)
5. Die textuell-mediale Markierung gibt an, inwieweit die sprachliche
Erscheinung als geschrieben, gesprochen, text- oder stilgebunden
empfunden wird. Im folgenden Beispiel empfiehlt der Autor einen
vorsichtigen Gebrauch der Trennbarkeit von verbalen Präfixen,
denn Trennbarkeit (Zerschneidung) sei unterschiedlich je nach Text-
sorte oder -stil:
(5) Die zerschneidung eines zusammengesetzten worts soll zierlich
angestellet, vnd nicht ohne vnterscheid bey einem Jeden zu-
sammengesetzten gebraucht werden: Derowegen alhier der ge-
mein gebrauch fleißig in acht zunehmen, vnd was bey den guten Te-
ütschen zubefinden, am Sichersten zu mercken ist. (Ratke,
Wortschikungslehr (1630), 257).
6. Die Frequenzmarkierung benützt die Kriterien selten bis häufig. Die
zwei nächsten Belege betreffen den Gebrauch des Relativprono-
mens welcher, -e, -es: im Beispiel (6) geht es um seine epochentypi-
sche adsubstantivische Verwendung, im Beispiel (7) um seine Funk-
tion als Anaphorikum eines ganzen propositionalen Gehaltes, als
Einleiter eines weiterführenden Nebensatzes, der einem konjunkti-
onalen Nebensatz näher steht als einem Relativsatz.
(6) Das selbstendige vorgehende wird bißweilen neben dem wieder-
holenden Vornennwort widerholet; alß, Ein jeglicher hat seine
bestimmte Zeit zu leben, welche Zeit er nicht vberleben khan.
(Ratke, Wortschickungslehr (1630), 233)
(7) Welches / das / es werden offtmals auf eine gantze Rede / oder
einen gantzen Handel des Vorsatzes gerichtet in dem Nachsat-
ze / als:
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 785

Welches / das / es respondent praecedentibus interdum & re-


ferunt totam sententiam, vel non attento numero aut casu, ut :
Solche Dinge sind vergangen / welches ich dahin stelle. Solche
Händel hat er getrieben und solche Sache verübt / das mir alles
bewußt. […] (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 731)
7. Die evaluative Markierung offenbart die sprachlichen Ideale oder
Schreckbilder des Grammatikers und benützt dafür Kriterien wie
schön oder grässlich. Hier rät Opitz zur differenzierten Verwendung
von der, die, das und welcher, welche, welches als Relativpronomen bei
Wiederholung:
(8) Wie nun bißweilen eine solche zuesammenstoßung der buch-
staben recht vnd guet ist ; soll man sie doch sonsten mitt ein-
ander so wißen zue vermengen / das nicht die rede dadurch gar
zue raw oder zue linde werde. Eben dieses ist es auch / wann eine
syllabe oder wort zue offte wiederholet wird; als: Die die dir
diese Dinge sagen. (Opitz, Buch von der deutschen Poeterey (1624),
38)
8. Die normative Markierung setzt den Standard voraus, mit den Ka-
tegorien korrekt oder falsch: Sie findet sich erst ab der Normsetzung
im 17. Jahrhundert. Sie wird auch anhand von Geboten (muss) oder
Verboten (darf nicht) vermittelt. Im folgenden Beispiel zeugt das
Muß davon, dass die Kongruenz des Relativpronomens mit seinem
Antezedens in diesem Jahrhundert erkannt und formalisiert worden
ist.
(9) Das Vornennwort / welcher / welche / welches / so sich auf
ein vorgehendes Nennwort in der Rede zeugt muß zwar in dem-
selben vorgehenden Nennworte übereinstimmen / so viel das
Geschlecht und die Zahl betrift: aber die Zahlendung hat jhr
Absehen auf das folgende Zeitwort / darnach sie regulirt wird /
als: Der Mann /welcher in der Kirche ist / der Mann / wel-
chem man die Kirche verboten / der Mann / welchen sie aus
der Kirche gestossen / der Mann / welches Sache nicht gut ist.
(Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 730-731)
Markierungen lassen sich theoretisch auf allen Ebenen des Sprachsystems
sammeln: Phonie, Graphie, Morphologie, Syntax, Lexik. Zur frühneu-
hochdeutschen Epoche sind die sprachlichen Ebenen ungleich vertreten,
unter anderem, weil Lesefähigkeit und dialektal bedingte morphologische
Variation als die Hauptprobleme der Zeit angesehen werden. Die syntakti-
sche Ebene ist spärlich belegt, sie gewinnt aber an Bedeutung während der
zwei nächsten Jahrhunderte. Unsere Zuordnung der Beispiele zu jeweils
786 Odile Schneider-Mizony

einer als dominant angesehenen Markierungsart dient der Übersichtlich-


keit, wobei beachtet werden soll, dass sich manche Belege nicht eindeutig
einer Markierungsart zusprechen lassen. Manche Markierung gibt z.B. An-
lass zu einer weiteren: Die Feststellung eines Archaismus begründet die
Auffassung des Autoren, dass die Form nicht mehr verwendet werden
soll; oder die Einschätzung als niederen Stil zieht beispielsweise die Cha-
rakterisierung ‚unschön‘ nach sich.
Markierungen sind Konnotierungen eines sprachlichen Ausdrucks,
wobei mit sprachlichem Ausdruck nicht behauptet wird, dass die vom
Grammatiker besprochenen Formen tatsächlich immer existiert haben. Es
ist im Gegenteil davon auszugehen, dass ein Teil der angegebenen Wörter,
morphologischen Paradigmen und Ausdrücke eher der grammatikographi-
schen Vorstellung als der praktischen Beobachtung entspringt. Eine Parti-
zipfuturform nach lateinischem Muster zum Beispiel – ein ehren werdender
für honoraturus, ein laufen werdender für cursurus7 – hat es im Deutschen aller
Wahrscheinlichkeit nach nie gegeben. Markierungen erlauben aber nicht
nur eine Einsicht in die Mentefakte der Periode, sondern sind mögliche
Operatoren für Sprachwandel: Die Schreiber lassen sich von der Höher-
bewertung oder Stigmatisierung von Syntaxmodellen in ihrem Sprach-
gebrauch leiten.

2.2. Wie sich grammatikographische Präferenzen


aus der Markierungspraxis herleiten

In die Kodifikation gehen die Varianten ein, die als gut bzw. schön be-
trachtet werden und deren Gebrauch gutgeheißen wird. Die Kodifikation
ist ein Prozess, der die Spuren zahlreicher Eingriffe seitens der Lexikogra-
phen und Grammatiker zeigt. Er läuft darauf hinaus, Variation zu beseiti-
gen und eine einzige Form als die bessere zu privilegieren, denn darin
sieht der Grammatiker seine eigentliche Aufgabe, wie es Schottel am An-
fang seines zweiten Buches in variierender Formulierung nicht müde wird
zu betonen:
(10) [Es wird] […] für nötig und rühmlich geachtet / nemlich die
HauptSprache der Teutschen / so voll rauher wilder Freyheit
gewesen / Kunst- und regelmessig zufassen / und nicht länger
so gar Sprachkunstlos zu lassen.
[Zweck seines Werkes sei] Eine so reumige / reiche / weit aus-
gebreitete und enderlicher Freyheit eingewickelte Sprache zum
KunstStande zubringen / und so viel tausend ordnungslosen
_____________
7 Vgl. Albertus (1895, 120f.).
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 787

Vocabulis Harumq. terminationibus ihre Ankunft / Ort / Blei-


bung und Ordnung zuzeigen / […]. (Schottel, Ausführliche Arbeit
(1663), 178)
Natürlich geschieht die Variantenbeseitigung in der Sprach- und Schreib-
varietät nicht aufgrund der direkten Beeinflussung durch die Bevorzugung
oder die geschmackliche Ablehnung bestimmter sprachlicher Formen.
Auch in früheren Jahrhunderten rennen die Grammatiken dem Usus fort-
während nach, das heißt, dass die Kodifikation der Sprache es ständig
zugleich mit alten und mit neuen Formen zu tun hat. Hier spielen die
Markierungen die folgenschwere Rolle, dass sie den Akzeptanzgrad man-
cher Variante zu Ungunsten anderer Formulierungen erhöhen oder auch
nicht. Erst auf diesem Umweg wird Norm konstruiert, was erklärt, warum
dieser lexikographische und grammatikographische Kommentar nie auf-
hört, weil er das Konstruierte stabilisieren muss. Zu einem bestimmten
Zeitpunkt muss die besondere Ausformung der Standardsprache ihren
Status in der Sprachgemeinschaft aufrechterhalten, um nicht von anderen
Varianten wieder abgeschoben zu werden. Zur Untersuchungszeit, wie aus
Schottels grundsätzlichen Aussagen ersichtlich, gestaltet sich Variation, die
rauhe wilde Freyheit, zunehmend zum Problem, die frühere Gleichgültigkeit
oder Toleranz gegenüber Alternativausdrücken verliert sich. Variation
wird unter Rückgriff auf Argumente der Reinlichkeit verdrängt oder tex-
tuell und diastratisch funktionalisiert. Es soll jetzt dieser Prozess an zwei
Beispielen untersucht werden.

3. Markierungen zu syntaktischen Präferenzen


3.1. Erste untersuchte Domäne: Verbstellung

Die Kodifizierung der Verbstellung erfolgt ziemlich spät in den Sprach-


normbüchern, explizit kaum vor dem Ende des 18. oder sogar am Anfang
des 19. Jahrhunderts. Dazu gibt es zwei Erklärungen, die aus der gramma-
tikographischen Tradition herrühren:
• zum einen die Tatsache, dass in den zusammengesetzten Zeiten die
unpersönlichen Formen als das eigentliche Verb betrachtet wurden,
da sie den Verbsinn trugen, was den Blick für die Eigenständigkei-
ten der Verbstellung im Rahmen einer Klammersprache trübte;
• zum anderen das Fehlen eines Nebensatzbegriffes, der erst im 18.
Jahrhundert aufkam: Die syntaktischen Gesichtspunkte mussten
sich erst gegen die Vorstellung durchsetzen, dass die Wortstellungs-
788 Odile Schneider-Mizony

änderungen durch die Gesetze des ordo naturalis (eher Verbzweit-)


und ordo elegans (eher Verbletztstellung) zu erklären seien.8
Ende des 16. Jahrhunderts ist Albertus so weit, dass er den Unterschied
zwischen Haupt- und Nebensatzstellung erkennt, aber nur in Bezug auf
das Hilfsverb haben. Für ihn ist die Verbendstellung eine Stilfigur – die die
Griechen apaggelian nannten –, welche semantisch unvollständige Satz-
gliedteile – diese Teile, die die Griechen und Lateiner cola, also Nebensätze
nannten – in komplexen Sätzen mit verschiedenen Modalitäten (execratio-
nibus) und Umstandsangaben (causalibus) begleitet:
(11) In execrationibus, in causalibus et racionatiuis orationum membris, in inter-
rogationibus, aposiopesibus, comminationibus, parenthesibus, et in ijs
membris, quae Graecis et Latinis cola dicuntur, duobus punctis a
Latinis signata, et que suspendi ac tractum enunciari volunt, quia
sententia adhuc imperfecta est, necesserio enim aliquid subsequi
debet, quam figuram Greci apaggelian vocant, tum verbum hab, in fi-
nem collocatur, als Execrative, wann ichs gesagt hab si dixi: Ra-
tiocinative: dieweil er sich dann dessen angemasset hat siquidem
haec ausus fuit […]. (Albertus, De Grammatica (1573), 105f.)
Obwohl der Kommentar hier die Endstellung des Verbs als notwendig
erachtet (necessario), wird zwei Seiten später für Konditionalsätze die Mög-
lichkeit gesehen, dass in einem mit so eingeführten Konditionalsatz die
unpersönliche Verbform – hier als substantivum verbum bezeichnet – dem
konjugierten Verb sowohl vorangehen als auch nachfolgen kann (vel / vel),
was dem Zufallsprinzip zu gehorchen scheint, bzw. eine freie Variation
wäre:
(12) Substantivum uerbum in conditionalibus et interrogatiuis oratio-
nibus, vel praecedit vel sequitur verbum, als: so ich lesen werde /
oder ich werde lesen, si legero. (Albertus, De Grammatica (1573),
107)
Auch spätere Autoren wie Gezelius schreiben die Konjugationspara-
digmen des Konjunktivs mit allen möglichen Stellungen für das Hilfsverb
in zusammengesetzten Zeiten. Zur Beschreibung des Konjunktivs wurde
nämlich mit Konditionaleinleitung so oder Optativ-„Partikel“ dass durch-
konjugiert, und es lassen sich Anfangs-, Mittel- und Endstellung für das
Hilfsverb haben finden. Im ersten der zwei folgenden Beispiele (13) formu-
liert der Grammatiker, dass der Konjunktiv die Partikeln (= heutige Kon-
junktionen) dem Verb vorsetzt, so dass in seinen Beispielsätzen das kon-
jugierte Hilfsverb in die Mittelstellung rückt:
_____________
8 Vgl. Jellinek (1968, 442ff.).
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 789

(13) Conjunctivus praeponit Verbo particulas: So / wenn / als / da /


das / auffdas […].
Plusquamperfectum: S. So ich hätte gelehret / so du hättest ge-
lehret / so er hätte gelehret.
PL. So wir hätten gelehret […] (Gezelius, Grammaticae Germanicae
synopsis (1667), 133)
Im zweiten Beispiel (14) konjugiert er wenig später den Konjunktiv mit
Verbendstellung:
(14) Conjuctivus Praes: S. So ich gelehrtet werde / so du gelehret
wirst / so er gelehret wird […]
Imperfectum: S. So ich gelehret würde / so du gelehret würdest
/ so er gelehret würde […]. (Gezelius, Grammaticae Germanicae syn-
opsis (1667), 136-137)
Bei diesen wechselnden Stellungsformulierungen zeigt die Stellung des
Verbums keine Logik. Auch Anfang des 17. Jahrhunderts ist es dem Auto-
ren Kromeyer eins, ob ein Objektsatz mit oder ohne dass angeführt werde:
Die Verbstellung bleibt die gleiche, eine Verbzweitstellung:
(15) Es wird auch im Syntax offt die Conjunction /das / oder / auff
daz / aussen gelassen.
Als: Ich höre / der Vater ist kommen: an statt dessen: Ich höre /
das der Vater ist kommen. (Kromeyer, Deutsche Grammatica
(1618), 86)
Interessanterweise findet dasselbe Beispiel samt Erklärung zwanzig Jahre
später keinen Zuspruch mehr bei einem anderen Grammatiker, Gueintz,
der schreibt:
(16) Es wird ofte in der Rede das fügewort daß ausengelassen / als Ich
höre der Vater ist kommen an stat: Ich höre / daß der Vater ist
kommen. Wiewol / meines bedünckens; Die erste rede erzehlet / und
sey zu unterscheiden / Ich höre / der Vater ist kommen: Die
andere ist Deutscher / wenn man saget: Ich höre daß der Vater
kommen sey. (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 118)
Bei diesem Zitat muss man abstrahieren, dass Gueintz hier nicht die
Verbstellung fokussiert, sondern die Äquivalenz, welche die damalige
Grammatikschreibung zwischen Verbstellung und Modus zog. Indikativ-
modus wurde durch Verbzweit- und Konjunktivmodus durch Verbletzt-
stellung angegeben, was den Moduswechsel für die dritte Realisation im
Beispiel (16) erklärt. Wenn man sich aber auf die Wortstellung und die
Markierungen zu den Beispielen konzentriert, beobachtet man Folgendes:
Nach der wörtlichen Wiederaufnahme des Beispiels seines Kollegen und
790 Odile Schneider-Mizony

Lehrers kategorisiert der subjektivierende Ausdruck meines bedünckens zu-


erst vorsichtig den Beleg als eine stil- und textsortentypische Form. Nach
der Markierung holt Gueintz sein Sprachgefühl deutsch heraus, um eine
bessere Flüssigkeit der Verbstellung mit Konjunktiv I festzustellen. Diese
zwei Metakommentare zeigen einen Fortschritt in der Fixierung der Verb-
stellung, die hier durch die nationale Markierung positiv eingeschätzt wird.
Parallel dazu reift die Erkenntnis, dass die Verben mit trennbaren Prä-
fixen im Indikativpräsens und Präteritum das trennbare Präfix hinter das
Verb stellen, aber nicht im Konjunktiv, wie in (17), wo es vom Verb ganz
nüchtern heißt: so bleibet es gantz.
(17) Wan aber das wörtlein Das / oder So darzu kommet / so bleibet es
gantz als: Wolte Gott daß ichs abschriebe. (Gueintz, Teutscher
Sprachlehre Entwurf (1641), 60)
Gueintz, der keinen Konjunktiv beschreibt, bringt die Stellung mit dem
Vorhandensein von dass oder so zusammen.
Allmählich wächst in der Kodifizierungsgeschichte die Frage der
Verbstellung zu einer Frage der Verständlichkeit (deutligkeit) und der Äs-
thetik (garstig). Die Verbendstellung im autonomen Satz, die man noch in
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei Autoren wie Valentin Schu-
mann antraf, wird von Opitz in seiner Poetik regelrecht abgelehnt.
(18a) Wie nun wegen reinligkeit der reden fremde wörter vnnd derglei-
chen mußen vermieden werden; so muß man auch der deutligkeit
halben sich für alle dem hüten / was vnsere worte tunckel vnd
vnverstendlich macht; als wann ich sagen wollte Das weib das thier
ergriff. Hier were zu zweiffeln / ob das weib vom thiere / oder
das thier vom weibe ergrieffen worden. (Opitz, Buch von der deut-
schen Poeterey (1624), 36)

(18b)Die anastrophe oder verkehrung der worte stehet bey uns sehr
garstig als: Den sieg die Venus kriegt; für: Die Venus kriegt den
Sieg. Item: Sich selig dieser schätzen mag; für: Dieser mag sich
selig schätzen. Vnnd so ofte dergleichen gefunden wird / ist es
eine gewisse anzeigung / das die worte in den verß gezwungen
und gedrungen sein. (Ebd., 37)
Im Beispiel 18a wirkt die Künstlichkeit der semantischen Argumentation
entlarvend, denn aus dem Kontext heraus dürfte die Rollenverteilung
überhaupt klar sein, je nachdem, ob das Tier ein Lamm oder ein Löwe ist.
Aber gerade die argumentative Gezwungenheit zeigt die beginnende Stig-
matisierung der Verbendstellung im Hauptsatz. Zu diesem Zeitpunkt ist
die Verbstellung schon funktionalisiert.
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 791

Ende des 17. Jahrhunderts gibt es immer noch keine überzeugende


Beschreibung für die Verbalstellung. Aber im Gegensatz zum Anfang des
Jahrhunderts bei Kromayer oder Ratke registriert nun auch ein wortkarger
Grammatiker wie Gezelius nur noch Beispielsätze, die mit der typologi-
schen Ordnung des Deutschen übereinstimmen:
(19) Composita in Indicativo Praesenti & Imperfecto dissecta inverti
& Praepositionem verbo postponi, aliis quibusdam interjectis, ut:
Verbum abschreiben in praesenti ita divellitur: Ich schreibe ictz
diesen Brief ab. Et ita etiam in Imperfecto Ich schrieb ab non ich
abschrieb. (Gezelius, Grammaticae Germanicae synopsis (1667), 130)
Und Schottels Anmerkungen umfassen diese drei Bereiche komplett mit
semantischer Argumentation. Hauptzeitworte mit ihrer vollen Bedeutung
müssen eben unzertheilet bleiben: Beispiel 20 für Verben mit trennbaren
Präfixen, Beispiel 21 für andere Verben (sowohl im Haupt- als im Neben-
satz), wo sie sich am Ende einer Periode befinden sollen. Die Häufig-
keitsmarkierung im Lateinischen – toties … quoties (jedes Mal, wenn) – lässt
jetzt einen Stellungszwang erkennen:
(20) Wenn in der Rede vorgehet so / wenn / daß / als / der / als-
denn bleiben die gedoppelten unzerteihlet:
Item notandum, quoties in sermone praecedit so / wenn / daß /
als / der toties praepositiones componentes locum suum servare
solent, hoc est, a verbis suis non separantur, ut: Wan das Volk
den Damm durchbricht. So wir Menschen erst von Gott abfal-
len. Als das Geschütz mit Knallen losging. Daß ich austrete /
dessen ist Uhrsach. Der ich durchdringe mit Gewalt. (Schottel,
Ausführliche Arbeit (1663), 748)
(21) Es lautet wol und schleust sich ordentlich in Teutscher Sprache / wenn
man die Meynungen also einfügen / und die Spruchrede (perio-
dum) mit dem Hauptzeitwort (illo verbo, quo totus sensus reci-
pit, seu quod primarium significandi locum obtinet) schliessen
oder endigen kan / als [...].
Dieweil aber der Erbfeind Sieberbürgen mit grosser Gewalt
überfallen / dahers unsere Königreiche und Erblande / welche
nunmehr der Gefahr viel näher worden / unsere Zunahung und
Gegenwart / und zu nötigem eilenden Widerstande / vermittelst
der Landtage / zeittge Fürsehung / so viel immer möglich
zuthun / zum höchsten erforderen. R. Absch. (Ebd., 755)
792 Odile Schneider-Mizony

Der Wunsch, es den Lateinern gleich zu tun,9 erklärt, warum Sprachwert-


markierungen zur Beurteilung von Syntax herbemüht werden. Rhetorik als
Modell bevorzugt eine Verbstellung, in der es nur angeblich um Kommu-
nikationszwecke geht: Die Periode ist das Musterbeispiel des ordo elegans.
Das Auftreten von nationalen Markierungen (Teutsch in Beispiel 20, Un-
teutsch in 22) und von Evaluativen (wol, ordentlich) offenbart die Prestigesu-
che.
Der Beispielsatz in (22) klingt sonderbar. Aber es geht dem Gramma-
tiker lediglich darum, bei einer Verbendstellung die unverrückbare Ord-
nung zwischen Präfix und konjugiertem Verb zu verkünden: die Markie-
rung etwas Unteutsch kennzeichnet also ein offensichtliches Gegenbeispiel.
(22) Anderermaßen die Vorwörter abtrennen/ sol nicht leichtlich son-
derlich in ungebundener Rede geschehen / denn solches ist etwas
Unteutsch / als:
Bey einem Berge sie um den Verräther brachte. [umbrachte].
(Ebd., 748)
Die Verbstellungsgesetze werden jetzt als Norm erkannt, auch wenn ihre
Beschreibung noch ungenügend ausfällt. Die Entwicklung der Markierun-
gen zeigt den Diskurswandel zu diesem Thema.

3.2. Zweite Untersuchungsdomäne: Afinite Nebensätze

Die Auslassung des Hilfsverbs bei zusammengesetzten Zeiten ist eine


schriftsprachliche Erscheinung, die sich im 15. Jahrhundert auszubreiten
beginnt und ihre Blütezeit im 17. Jahrhundert kennt, bevor das ciceroni-
sche Stilmodell durch das des Seneca bzw. durch den französischen style
coupé abgelöst wird. Die Auslassung des konjugierten Teils stellt an sich
weder Interpretations- noch Gedächtnisprobleme dar, da alle für die De-
kodierung nötigen Elemente im Schriftstück visuell zu finden sind. Die
späteren Urteile in Bezug auf eine Erschwerung der Verständlichkeit ver-
kennen die verschiedenen Anforderungen von Schrift- und Sprechstilen,
bzw. missdeuten die hohe Informationsverdichtung, die daraus resultiert,
als Verwirrung. Die Verbreitung der afiniten Nebensätze erklärt sich aus
einer Prestigesteigerung im Laufe der Periode 1500-1700, die man an den
Markierungen ihrer Beschreibung verfolgen kann.
Als erstes Indiz fungiert eine beiläufige Bemerkung von Meichszner in
einem Kontext, wo es allgemein um Wortzusammensetzung und -ablei-
tung geht: Er kreditiert ganz allgemein die lexikalische Komplexität eines
_____________
9 Dieser ist beim Rückgriff auf die Kategorie periodum unterschwellig.
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 793

Bedeutungszugewinnes und gibt Beispiele von Präfixverben, wie erheyraten


im Beispiel 23, die bedeutungsschwangerer seien, als wenn sie umschrie-
ben würden. Interessanterweise bezieht sich seine Abneigung gegenüber
Periphrastischem und Redundantem (lang und verdrießlich) auf die Realisie-
rung des Verbkomplexes, die er in seinem Beleg dann auch ausspart:
(23) denen jr eigentliche bedütung zugelegt werden / die all zu schry-
ben / zu lang vnd verdrißlich wern / Acquisitive. Ich hab ein reich
wyb genommen / die mir gestorben /dadurch ich vil erheyratet.
(Meichszner, Handbüchlin (1538), 165)
Ein Jahrhundert später findet sich die Beobachtung, wonach Teile eines
Verbalkomplexes nicht realisiert werden müssen, als Häufigkeitsfeststel-
lung. Im Beispiel 24 gilt es für das so genannte wesentliche Sprechwort, d.h.
für das Verb sein des zweiten Beispiels, eines allein stehenden Nebensat-
zes.
(24) Was ist hierbey in acht zu nehmen?
Daß vntterweilen das wörtlin „worden“ gantz außgelaßen wird,
bißweilen auch das wesentliche sprechwort alß Ich bin geliebet für
ich bin geliebet worden. Nachdem Ich geliebet worden für
Nachdem ich bin geliebet worden. (Ratke, Wortschickungslehr
(1630), 107)
Bei einem leicht späteren Grammatiker wird zusätzlich zur Häufigkeits-
markierung – bißweilen ist einem ofte gewichen – im Beleg 25 eine textuelle
Erklärung angeboten (in Schlusreden), woraus entnommen werden darf,
dass es sich laut Gueintz in einem Schlusssatz besser anhört und einen
Pointencharakter heraufbeschwört.
(25) In Schlusreden werden ofte die vornenwörter vnd hülfwörter der
vergangenen zeit ausgeschlossen / als: Wollest derhalben. Es ist
also / wie geschrieben. (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf
(1641), 117)
Ein Jahrhundert später wird von Schottel die Vollständigkeit der Verb-
form grundsätzlich abgelehnt: In zwei kurz aufeinander folgenden Stellen
(Belege 26 und 27) wird die Werbetrommel zuerst (26) kräftig für die ellip-
tische Ausdrucksweise gerührt mit Argumenten, die zusätzlich zur Häu-
figkeit (Markierung gemeiniglich) auch ästhetische, d.h. evaluative Markie-
rungen bemühen: Wohllaut, füglich, wol. Sein Sprachbeispiel in (26) würden
allerdings moderne Leser kaum mit den genannten Attributen versehen,
da die größtmögliche Extension der Verbalklammer (haben … geliebet) und
die Heterogenität der ausgelassenen Formen als störend empfunden wür-
den: Die meisten Formen laufen auf ein ausgelassenes habt zurück, verhal-
794 Odile Schneider-Mizony

ten hab(e)t, gedienet hab(e)t, aber das Verb sein wird auch in so uns dienlich gewe-
sen ausgelassen.
(26) Von den Hülfwörtern ist sattsamlich im andern Buche an seinem
Orte gesaget worden. Allhie ist zuwissen: Daß sie gemeiniglich in
der Rede von ihrem Zeitworte getheihlet / die Beyrede zwischen
gesetzt das Hauptzeitwort aber biß zuletzt gesparet werde: Sol-
ches gibt einen sonderlichen Wollaut / und schleust sich füglich und wol
/ als:
Wir haben euch allezeit / weil ihr euch wol verhalten / treulich
uns gedienet / und keine Mühe / so uns dienlich gewesen /
gesparet /sonderen mit grosser Lebensgefahr / unsere Wolfahrt
embsigst gesuchet / und solches alles in dem Werk selbst ofters
erwiesen / geliebet / weil etc. (Schottel, Teutsche Hauptsprache
(1663), 743)
Er fährt mit einem Kommentar fort, in dem der lateinische Text, der kei-
ne genaue Übersetzung der deutschen Formulierung darstellt, eine beson-
ders interessante Markierung anbietet. Die kondensierte Variante ent-
spricht dem Charakter der deutschen Sprache, wenn man es der Litotes
glauben darf: Sie widerspricht keinesfalls dem Sprachgenius – nec linguae
genius repugnat. Die evaluative Markierung mit Rückgriff auf eine sprachna-
tionale Komponente zeigt den hohen Sprachwert, der jetzt dieser kom-
primierten Ausdrucksweise zukommt:
(27) Die Hülfwörter / so zu einiger vergangenen Zeit gehören / wer-
den in Teutscher Sprache zum oftern ausgelassen / und unter dem
Zeitworte gar wol verstanden. […] Verba auxiliaria, etsi temporis
rationem indicant, saepe tamen omittuntur, nec linguae genius re-
pugnat [...].
Demnach endlich der Unmuth jhre Sinne verdunkelt / und die
dunkele Nacht jhre Aeugelein beschlossen / (verdunkelt hatte /
beschlossen hatte.) (Ebd., 744)
Als letzter Beleg für die hohe Einschätzung dieser sprachlichen Erschei-
nung diene noch die schlichte Formulierung des angesehensten Briefstel-
lers der Zeit, Stielers Sekretariat-Kunst: Ohne begleitenden metasprachli-
chen Diskurs stellt er fest, dass solche Ausdrucksweise sich für den ‚hohen
Stil‘ eigne, das heißt für den förmlichen Stil, den Untergebene Standesper-
sonen gegenüber schreiben sollen, und er präsentiert ein vierzigzeiliges
Briefmodell, in welchem alle Nebensätze afinit realisiert werden:
(28) Das Sechste Kapitel. Von den Dankschreiben.
Ein Exempel in hoher Schreibart kan folgendes seyn:
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 795

Daß E. F. Durchl. die Geringschätzigkeit meiner untertähnigen


Person von so langen Jahren her mit so gnädigen Augen angese-
hen /in dem sie mich vor vielen andern dero eingebohrnen Lan-
deskindern / zu dero unwürdigen Raht und Diener erwehlet /
und nach der Zeit Ihre Fürstl. hohe Gnade / weit über alles
Verdienst und Hoffen / mir auf ungezehlte Weise reichlich wi-
derfahren laßen / dervor habe E. F. Durchl. ich bishero […].
(Stieler, Sekretariat-Kunst (1673), 395)
Man kann überrascht sein, die kürzere Form als die schickere präsentiert
zu bekommen in einer Schreibfibel, in der vor unhöflichen Abkürzungen
gewarnt wird, weil sich darin ein mangelnder Respekt zeigen könne. Auch
liegt eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Ersparnis von konjugierten
Verbformen in einem ansonsten weitschweifigen und redundanten Brief.
Aber den hohen Personen den scharfen Verstand nicht zuzutrauen, der
für das Knacken solcher elliptischer Formulierungen notwendig ist, wäre
noch unhöflicher, womit sich diese syntaktische Bevorzugung gut mit den
höfischen Kommunikationsmaximen vertragen könnte. Überhaupt sind
inkonsequente Metakommentare und Sprachgebote das beste Indiz dafür,
dass nicht aus den Gesetzmäßigkeiten der Sprache, sondern aus dem Ge-
fühl heraus argumentiert wird. Die Auswahl der in den Augen des Gram-
matikers besseren Form erfolgt nicht nach sprachfunktionalem Gesichts-
punkt, sondern aus dem Wertesystem der Epoche heraus.

4. Zum Schluss
Die Erfassung von Markierungen eröffnet einen Blick auf den sprachtheo-
retischen Kenntnisstand und das Sprachverständnis der Zeit: Die vielfälti-
gen Markierungen zeigen, wie ganz andere als objektive Faktoren für den
Sprachbeschreiber eine Rolle spielen: Häufigkeit, nationaler Charakter,
Stilistisches oder Ästhetisches. Die subjektive Herangehensweise an die
Sprache macht vor Sprachfantasien nicht Halt. Gerade deswegen sind
diese Markierungen als ‚weiche Daten‘ in einer sprachgeschichtstheoreti-
schen Perspektive interessant. Ihre Einzelauswertung für die zwei bespro-
chenen Phänomene aus der Verbsyntax hat gezeigt, wie Sprachwandel und
epilinguistisches Bewusstsein miteinander verwoben sind. Zwei Erkennt-
nisse sollen aus der Untersuchung gezogen werden, einmal zum Zusam-
menhang zwischen Markierungspraxis und Norm und dann zum mögli-
chen Zusammenhang zwischen Markierungspraxis und Systemgeschichte:
1. Zur Beziehung zwischen Markierungen und Normgeschichte: In
der Frühphase der Grammatikographie ist eine gewisse Zurückhal-
796 Odile Schneider-Mizony

tung in der normativen Ausrichtung der Kommentare festzustellen.


Die Markierungen sind Häufigkeitsangaben und werden sparsam
eingesetzt, der Grammatiker verhält sich abwartend. Im nächsten
Jahrhundert (XVII°) wird die Markierungspraxis komplexer: Es
geht um Schönheit und nationalen Charakter, um Stil und kommu-
nikative Wirksamkeit. Die Markierungen dienen der subjektiven
Fundierung einer präferierten Syntax. Ein Begriff vom guten und
richtigen Sprachgebrauch kommt in Umlauf. Die Norm kann sich
etablieren, die Standardvarietät wird verbindlich.
2. Zur Beziehung zwischen Markierungspraxis und Systemgeschichte:
Bergmann wies Anfang der achtziger Jahre auf die Argumentati-
onsnot der Befürworter einer grammatikographischen Wirkung auf
die Sprache hin.10 Es wird hier die Sichtweise angeboten, solche
Elemente einer Sprachbewusstseinsgeschichte als das missing link für
die Beeinflussung von Sprachzuständen durch die Grammatik-
schreibung anzusehen: Die Untersuchung zu den afiniten Sätzen
könnte erklären, wie ein sprachgeschichtlicher Tick aus dem Kanz-
leistil den ganzen Schriftusus einer Epoche zu bestimmen vermag,
wenn er immer positiver evaluiert wird. Markierungen füllen den
Sprachgebrauch mit sozialem und symbolischem Sinn, woraus dann
die Sprachteilnehmer ihre Sprach- und Schreibmaximen herleiten.
Die Untersuchung zur Verbendstellung zeigt ihrerseits, wie lange Schrift-
wirklichkeit braucht, um sich gegen andersgeartete Erklärungselemente
durchzusetzen: die Markierungen zeigen ein Sich-Beugen vor unabwend-
baren Tatsachen, das erst spät zur positiven Evaluation führt.
In beiden untersuchten Domänen aber haben die Sprachgebrauchs-
maximen, die die Autoren verbreiten, weniger eine sprachsystemische als
eine ideelle Grundlage. In einer grammatisierten Epoche tritt die organi-
sche Entwicklung der Sprache hinter die sozial konventionalisierte zurück.

Quellen

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pingen, 113-145.
_____________
10 Vgl. Bergmann (1982, 278).
Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen 797

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Syntaktische Strukturen in den Summarien
in Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts

Manja Vorbeck-Heyn (Berlin)

1. Die Summarien in den Evangelien


als Grundlage für syntaktische Untersuchungen
Die Evangelien sind unter sprachwissenschaftlichen Aspekten von beson-
derer Bedeutung für die Erforschung der deutschen Sprachgeschichte,
insbesondere für die Zeit des Frühneuhochdeutschen.1 Erstens zeichnen
sie sich durch eine kontinuierliche Textüberlieferung in Handschriften seit
13432 und in Drucken seit 14663 aus, zweitens bilden sie die Textsorte
(Geoffenbarter) Bericht, eine spezifische Textsorte im Objektbereich der
christlichen Religion,4 drittens ist ihre Überlieferung so umfangreich, dass
sprachliche Untersuchungen auf allen linguistischen Ebenen vom Phonem
bis zur Textsorte erfolgen können, viertens repräsentieren sie die ver-
schiedenen Schreibdialekte des Deutschen und fünftens können in einer
Materialgrundlage vorlutheranische Bibeln in Handschriften und Drucken,
lutheranische und katholische Bibeln in Drucken sowie Drucke der Zür-
cher Bibeltradition kontrastiv gegenübergestellt werden.

_____________
1 Zur Sprachstufe des Frühneuhochdeutschen vgl. Hartweg / Wegera (2005); Schmidt
(2004).
2 Vgl. das Evangelienbuch des Matthias von Beheim (1343). Eine ausführliche Handschrif-
tenbeschreibung findet sich in Vorbeck-Heyn (2008, 43ff.).
3 Vgl. die Bibel von Johann Mentelin (Straßburg, 1466), vgl.
http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de (Stand: 06.05.2008).
4 Evangelien in so genannten Evangeliaren bilden Textallianzen von Textexemplaren einer
einzigen Textsorte und werden aufgrund ihrer externen Variablenkonstellation und der in-
ternen Merkmale der Makrostrukturen und der syntaktischen und lexikalischen Merkmale
als (Geoffenbarter) Bericht klassifiziert. Im Vergleich dazu ist eine Vollbibel eine Textallianz
aus Textexemplaren unterschiedlicher Textsorten. Zur Typologie religiöser Textsorten,
insbesondere der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht, vgl. Simmler (2000, 676ff.); Simmler
(2004a, 343ff.); Simmler (2004b, 379ff.).
800 Manja Vorbeck-Heyn

Die Summarien in den Evangelien stellen ein spezifisches Textgliede-


rungsprinzip dar, das in der deutschsprachigen Bibeltradition5 mit funk-
tionell verschiedenen Textgliederungsprinzipien kombiniert werden kann.
Die Makrostruktur6 Summarium kann Textexemplare der Textsorte (Geof-
fenbarter) Bericht mitkonstituieren, ihre verschiedenen Realisationsformen
und ihre spezifischen syntaktischen Aufbauprinzipien eignen sich in be-
sonderem Maße für syntaktische Untersuchungen.

2. Forschungsstand und Erkenntnisziel


In der neueren Forschung bezeichnet Christine Wulf mit dem Terminus
Summarien „texterschließende Beigaben [...] in mittelalterlichen deutschen
Bibeln“7 und versteht darunter „ganz allgemein Texte [...], die den Bibel-
inhalt in knapper Form zusammenfassen“.8 Wulf greift den Terminus der
Tituli, die eine Subgruppe der Summarien bilden, aus der älteren For-
schung9 wieder auf, versteht darunter Kapitelüberschriften, „die in knap-
per Form den Inhalt des nachstehenden Text[e]s wiedergeben“10 und gibt
an, dass diese erstmals in Anton Kobergers Bibeldruck aus dem Jahre
1483 auftreten. Summarien treten bereits in zwei Handschriften des 14. und
15. Jahrhunderts auf,11 so dass die Aussage von Wulf somit nur für die
deutschsprachige Drucktradition Gültigkeit besitzt. Die die deutschspra-
chige Bibeltradition des 14. und 15. Jahrhunderts begleitenden und ergän-
zenden Summarien werden folgendermaßen definiert:
Die Makrostruktur Summarium ist eine textinterne, aus Ausdrucks- und Inhaltssei-
te bestehende satzübergreifende Einheit der langue. Durch den Willen des Verfas-
sers konstituiert das Summarium einen nicht notwendigen, aber möglichen Text-
teil innerhalb der Textexemplare der Textsorte ‚(Geoffenbarter) Bericht‘.
Ausdrucksseitig besitzt das Summarium hervorhebende Merkmale (wie Initia-
torengebrauch, Rubrumverwendung) und eine besondere Platzierung. Inhaltssei-

_____________
5 Überblicksliteratur zur deutschsprachigen Bibeltradition vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 34).
6 Zum Terminus Makrostruktur vgl. Simmler (1985, 213ff.). Die Definition der Makrostruk-
turen wird aus ebd., 213f. übernommen.
7 Wulf (1991, 385).
8 Ebd.
9 Vgl. Schmid (1892); Berger (1976); Fischer (1985).
10 Wulf (1991, 385). Zum Forschungsstand und zur Abgrenzung der Termini Summarium,
Tituli, Breves und Capitula vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 521ff. ).
11 Es handelt sich um das Evangeliar Zürich, Zentralbibliothek (um 1360), Ms. C 55 und das
Neue Testament Weimar (um 1475), Herzogin Anna Amalia Bibliothek, fol. 10. Ausführliche
Handschriftenbeschreibungen vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 47f. und 79f.).
Syntaktische Strukturen in Summarien 801

tig besteht seine Funktion darin, auf die inhaltlichen Hauptpunkte der Evange-
lienkapitel bzw. auf die ersten Verse eines Evangelienkapitels hinzuweisen.12
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, neben den Anordnungsprinzi-
pien die unterschiedlichen syntaktischen Strukturen sowie die inhaltlichen
Bezüge zwischen den Summarien und den Kapiteln in den Evangelientex-
ten in der Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts zu erfassen und
den derzeitigen Forschungsstand mit differenzierteren Angaben über die
genaue Funktionsbestimmung der die Bibeltradition begleitenden und
ergänzenden Summarien um die Drucktradition des 15. und 16. Jahrhun-
derts zu erweitern.

3. Quellengrundlage
In der Quellengrundlage sind Evangelien mit dem Textgliederungsprinzip
der Summarien aus dem 15. und 16. Jahrhundert in vorlutheranischen
Bibeldrucken (3.1.), in katholischen (3.2.) und Zürcher Bibeldrucken (3.3.)
und in Luther-Drucken (3.4.) zusammengestellt.

3.1. Vorlutheranische Bibeldrucke

Erstmals kommen Summarien innerhalb der vier Evangelien in der vor-


lutheranischen Vollbibel des Nürnberger Druckers Anton Koberger 1483
vor.13 Das Textgliederungsprinzip der Summarien tritt in drei weiteren
Inkunabeln auf: in der Bibel des Straßburger Druckers Johann Grüninger
aus dem Jahre 1485 und in den Bibeln des Augsburger Druckers Johann
Schönsperger aus den Jahren 1487 und 1490.14 Der Vergleich der Makro-
struktur Summarium in den Evangelientexten dieser drei Inkunabeln mit
denen in der Kobergerbibel ergibt eine Übereinstimmung hinsichtlich aller
Untersuchungskriterien.

_____________
12 Ebd., 590.
13 Bibel von Anton Koberger (Nürnberg, 1483).
14 Erstens die Bibel von Johann Grüninger (Straßburg, 1485), zweitens die Bibel von Johann
Schönsperger (Augsburg, 1487), drittens die Bibel von Johann Schönsperger (Augsburg,
1490).
802 Manja Vorbeck-Heyn

3.2. Katholische Bibeldrucke

In der katholischen Bibeltradition des 16. Jahrhunderts sind Summarien


erstmals in der Oktavausgabe des Neuen Testaments in der Übersetzung
des Hieronymus Emser des Kölner Druckers Peter Quentel 1528 nach-
weisbar,15 sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers Septembertes-
tament. Im Vorwort des Neuen Testaments, das nach Emsers Tod (1527)
erschienen ist, heißt es, dass nach der Vorrede des Heiligen Hieronymus
„volget so baldt […] der Text. wie // yhn Emser saeliget vordeutzscht.
vnd vor ye= // dem Capittel Eyn Summarium. welchs man noch biczher,
Jn keynem dewtschen Exemplar ge // habt.“ (Bl. 3r, Z. 7-11). Als nächstes
kommen Summarien in der ersten katholischen Übersetzung der ganzen
Bibel aus der Reformationszeit durch den Dominikaner Johann Dieten-
berger, gedruckt 1534 durch den Mainzer Drucker Peter Jordan für Peter
Quentel, vor.16 Diese Übersetzung erschien somit noch vor Luthers erster
Gesamtausgabe seiner Bibelverdeutschung. In der zweiten katholischen
Bibel der Lutherzeit in der Übersetzung des Johann Eck sind ebenfalls
Summarien nachweisbar. Sie ist 1537 erschienen, gedruckt vom Augsbur-
ger Drucker Alexander Weißenhorn.17 Im Vorwort der Bibel heißt es:
Aber im newen testament / so ditz vor mit h=hsten fleiß verricht hat / der
ehrlich vnd // fürtreffenlich man Licenciat Emser s(liger / hab ich jhn des lobs
/ lohn vnd preiß sei= // ner arbait nit w=llen berauben: wie die trucker sein new
testament einflechten / on mel= // dung seins namens: das ich fúr vnrecht halt:
darum hab ichs bei seiner translation las // sen bleiben:

3.3. Zürcher Bibeldrucke

In der Zürcher Bibeltradition treten Summarien erstmals in der Vollbibel


des Zürcher Druckers Christoffel Froschauer aus dem Jahre 1531 auf,18
auf die im Vorwort folgendermaßen hingewiesen wird:
Einem yetlichen capitel habend wir die summ / so darinn begriffen / in kurtzen
worten arguments weyß fürgestelt / vnnd n(bend dem text concordantzen
angehefftet / welches alles in anderen / die vormals getruckt sind / Biblien / nit
so eigentlich obseruiert ist.

_____________
15 Neues Testament von Peter Quentel (Köln, 1528), vgl. http://www.vdlb.de/ (Stand:
29.09.2008), vgl. Reinitzer (1983, 198). In der ersten Ausgabe des Neuen Testaments in der
Übersetzung des Hieronymus Emser, gedruckt 1527 durch den Dresdner Wolfgang Stö-
ckel, sind keine Summarien enthalten.
16 Bibel von Peter Jordan für Peter Quentel (Mainz, 1534), vgl. Reinitzer (1983, 203ff.)
17 Bibel von Alexander Weißenhorn (Augsburg, 1537).
18 Bibel von Christoffel Froschauer (Zürich, 1531).
Syntaktische Strukturen in Summarien 803

3.4. Luther-Drucke

In der ersten Gesamtausgabe der Wittenberger Bibel in der Übersetzung


Luthers aus dem Jahre 1541, gedruckt durch Hans Lufft, kommen in den
vier Evangelien keine Summarien vor,19 es treten neben dem Text nur
Randglossen auf, die Worterklärungen bzw. Übersetzungen enthalten. Für
die erste gedruckte Wittenberger Bibel von Hans Krafft d. Ä. aus dem
Jahre 157220 gibt Reinitzer an, dass diese „am Anfang jedes Kapitels
‚Summarien‘, kommentierende Inhaltsangaben von Veit Dietrich (1506-
1549)“,21 enthält. Die Überprüfung dieser Angabe ergab jedoch, dass es
sich bei den Textteilen, die Reinitzer als Summarien bezeichnet, um Text-
teile handelt, die sich sowohl auf den Inhalt beziehen als auch kommentie-
rende Funktion übernehmen. Die korrigierte Ausgabe der Bibel in Luthers
Übersetzung erschien 1583, wurde von Johann Feyerabend zu Frankfurt
am Main gedruckt und enthält zum ersten Mal Verszählung und Summ-
arien des Petrus Patiens. Dieser „stammte aus Gernrode, war Pfarrer in
Landau, schließlich kurpfälzischer Generalsuperintendent und Kirchenva-
ter in Heidelberg. Seine Summarien fassen den Text inhaltlich kurz zu-
sammen, interpretieren ihn nicht und ‚streichen ihm nicht zu wider‘.“22

4. Auswertung
Die Auswertung der Summarien in diesen vier Traditionen erfolgt nach
drei Kriterien. Zunächst werden die Anordnungsprinzipien der Repräsen-
tationstypen untersucht, zweitens werden die syntaktischen Strukturen der
Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele beschrieben
und drittens werden die syntaktischen Strukturen mit den Evangelientex-
ten verglichen, um zu klären, in welcher Beziehung die Summarien zu den
Textteilen der Kapitel in den Evangelien stehen. Dabei wird überprüft, ob
die Textteile aus den Evangelientexten zitiert, paraphrasiert oder frei for-
muliert im Summarium wiedergegeben werden. Die Auswertung dieser
Traditionen hat zu folgenden Ergebnissen geführt:

_____________
19 Bibel von Hans Lufft (Wittenberg, 1541).
20 Bibel von Hans Krafft (Wittenberg, 1572).
21 Reinitzer (1983, 259).
22 Ebd., 261. Bibel von Johann Feyerabend (Frankfurt / Main, 1583). Zwei weitere Luther-
Bibel-Drucke am Ausgang des 16. Jahrhunderts sind hinsichtlich der Textgliederungsstruk-
tur der Summarien noch zu überprüfen: Zum einen handelt es sich um die von Zacharias
Lehmann in Wittenberg gedruckte Bibel (1594), VD 16: B 2822, zum anderen um die von
Christoff Raben in Herborn gedruckte Bibel (1598), VD 16: B 2833.
804 Manja Vorbeck-Heyn

4.1. Anton Koberger (1483)

4.1.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen

(1) t [SZ in R] Das [D = RS] erst Capitel . [C = RS] wy der [SchG


(2)] // engel zacharie erschiene . Zacharias [Z = RS] dem engel
nit // gelaubet . vnd darumm erstummet . Wy [W = RS] maria
von dem // engel gegrFst ward . vnd auƒ vermanung des en= //
gels elizabeth heimsucht . vnd grFsset . vnd wy eliza // beth
gepare . vnd zacharie sein mund er=ffent ward [Holzschnitt] //
ES [E = In (7z) in Blau; S = RS] was in den // tagen hero [SchG
(2)] // dis des kFnigs iudee // ein priester mit namen zacharias .
Von [V = RS] dem // geschleht abia . (Bl. 494v, Z. 14b-22a [sic!]).
(2) t [SZ in R] Das [D = RS] . IIII . Capitel . [C = RS] Von [V =
RS] der [„t […] der“ = SchG (2)] // vasten vnd versFchung
Christi . [C = RS] Vnd [V = RS] von seiner // lere vnd predig .
Vnd [V = RS] wie Jhesus [J = RS] einen besessen // menschen
erlediget . Auch [A = RS] die swiger petri . vnd // vil ander siech
gesund machet . [Spa] // IHesus [I = In (3z) in Blau; H = RS]
aber vol des [SchG (2)] // heyligen geystes kert wider von dem
// iordan . (Bl. 496v, Z. 34b-41b).
(3) t [SZ in R] Das [D = RS] . XXII . Capitel . [C = RS] Hie [H =
RS] be [„t […] be“ = SchG (2)] // schreybt der ewangelist den
passion . vnd daz ley // den cristi . biƒ auff das stuck als Jhesus
[J = RS] pylato // vberantwurt ward . [Spa] // UNd [U = In
(3z) in Blau; N = RS] es zunahet der [„Und […] der“ = SchG
(2)] // hohzeytlich tag der vngehefelten brot // der da wirt
genennet der ostertag . (Bl. 507v, Z. 37a-43a).
Die Beispiele 1-3 zeigen, dass sich die Kapitelüberschriften und die Text-
teile, die sich zwischen den Kapitelüberschriften und dem Textkorpus
befinden, aufgrund ausdrucks- und inhaltsseitiger Merkmale voneinander
unterscheiden lassen. Die Kapitelüberschriften in den drei Beispielen be-
stehen aus einem eingliedrigen Nominalsatz und bieten keinen Hinweis
auf den folgenden Kapitelinhalt: im Beispiel 1: Das erst Capitel ., im Beispiel
2: Das . IIII . Capitel . und im Beispiel 3: Das . XXII . Capitel . Die Kapitel-
überschriften sind demnach weniger komplex als von Christine Wulf bis-
her angenommen.23 Der Nukleus Capitel des Nominalsatzes weist explizit
auf die Makrostruktur Kapitel hin und mit der Attribuierung mit einem
Zahladjektiv wird auf eine explizite Nummerierung der Gesamtzahl der
_____________
23 Vgl. Wulf (1991, 385).
Syntaktische Strukturen in Summarien 805

Kapitel im Evangelium hingewiesen. Es erfolgt demnach durch die Kapi-


telüberschrift in keiner Form ein Verweis auf den Inhalt des nachstehen-
den Evangelientextes. Zwischen den Kapitelüberschriften und dem fol-
genden Textkorpus befinden sich weitere eigene Textteile. Sie verstärken
die Initiatorenfunktion des Kapitelbeginns und dienen dazu, dem jeweili-
gen Kapitel des Evangelientextes eine Inhaltsangabe bzw. einen Inhalts-
verweis voranzustellen. Sie sind deutlich von dem in Kapitel gegliederten
Evangelientext abgrenzbar. Diese eigenen Textteile und ihre Anordnung
signalisieren, dass es sich bei ihnen um eine eigene Makrostruktur handelt,
die sie von der hierarchisch niederen Makrostruktur der Absätze unter-
scheidet. Die Befunde der Beispiele 1-3 zeigen, dass Wulfs Definition der
Kapiteltituli zu ungenau ist, da von ihr zwei voneinander zu unterscheiden-
de Makrostrukturen unter einem Terminus zusammengefasst werden.24
Für die Summarien können zwei Repräsentationstypen festgestellt werden,
zum einen SZ + Ü + SU + Bild + In (7z)-Maj + SchG (2, 2z) (Bsp. 1),
zum anderen SZ + Ü + SU + In (3z)-Maj + SchG (2) (Bsp. 2 und 3). Der
erste Repräsentationstyp tritt nur einmal und zwar beim ersten Summari-
um auf, das heißt, nur beim ersten Kapitel ist ausdrucksseitig eine Verbin-
dung des Summariums mit einer siebenzeiligen Initiale nachweisbar. Bei
den anderen Kapiteln folgt dem Summarium eine dreizeilige Initiale, die
den Kapitelbeginn markiert. Ausdrucksseitig ist nur das erste Kapitel von
den anderen abgrenzbar.

4.1.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur


Summarium anhand repräsentativer Beispiele

Das Beispiel 1 besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die


durch die Repräsentationstypen P(u) + Min oder P(u) + Maj markiert
werden. Über die Repräsentationstypen werden ein isoliert gebrauchter
einfacher Satz und die Teilsätze der Gesamtsätze voneinander abgegrenzt,
die als Verbalsätze bestimmt werden. Der erste isoliert gebrauchte einfa-
che Satz ist ein Verbalsatz – selbständig gebrauchter Nebensatz – Adver-
bialsatz = Modalsatz: wy der // engel zacharie erschiene. Der erste Gesamtsatz
besteht aus zwei Hauptsätzen, die über die Konjunktion vnd parataktisch
gereiht sind: Zacharias dem engel nit // gelaubet. vnd darumm erstummet. Der
zweite Gesamtsatz besteht aus fünf Teilsätzen – Verbalsätze – selbständig
gebrauchte Nebensätze – Adverbialsätze = Modalsätze, die mit dem Ad-
verb wie eingeleitet werden, das aufgrund von Vorerwähntheit elliptisch
ausgelassen sein kann, und die über die Konjunktion vnd parataktisch ge-
_____________
24 Vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 576ff.).
806 Manja Vorbeck-Heyn

reiht sind: Wy maria von dem // engel gegrFst ward . vnd auƒ vermanung des en=
// gels elizabeth heimsucht . vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie
sein mund er=ffent ward.
Das Beispiel 2 besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die
durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander
abgegrenzt sind. Es können nominale sowie verbale Satzstrukturen nach-
gewiesen werden. Zunächst treten zwei isoliert gebrauchte einfache Sätze
mit nominaler Struktur auf: Von der // vasten vnd versFchung Christi . Vnd von
seiner // lere vnd predig. Daran schließt sich ein selbständig gebrauchter
Adverbialsatz (Modalsatz) an: Vnd wie Jhesus einen besessen // menschen
erlediget ., gefolgt von einem selbständig gebrauchten Adverbialsatz mit
einer Ellipse von wie Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und gereihten
Nuklei: Auch die swiger petri . vnd // vil ander siech gesund machet.
Das Beispiel 3 besteht aus syntaktischen Einheiten, die durch die Rep-
räsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander abgegrenzt
sind. Es liegt ein Gesamtsatz vor, der aus zwei Teilsätzen – Verbalsätzen –
Hauptsätzen besteht: Hie be // schreybt der ewangelist den passion . vnd daz ley
// den cristi . biƒ auff das stuck und einem Verbalsatz – Nebensatz – Attri-
butsatz, von stuck abhängig: als Jhesus pylato // vberantwurt ward.
Ausdrucksseitig ist nur das erste Kapitel von den anderen innerhalb
eines Evangeliums abgrenzbar. Aus syntaktischer Sicht werden die Sätze
in den Summarien verschieden eingeleitet: 1. mit dem Adverb wy / wie, 2.
mit der Präposition von oder 3. durch den Verbalsatz beschreybt der evangelist.
16 Summarien im Lk25 werden mit dem Adverb wy / wie eingeleitet, fünf26
mit der Präposition von und zwei mit dem Verbalsatz beschreybt der
evangelist.27 Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten
Nebensatzes, eines Modalsatzes, und es leitet die Kapitel ein, in denen
etwas über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung
berichtet wird. Die Teilsätze im Summarium verweisen auf den Inhalt des
Kapiteltextes, folgen diesem chronologisch und dienen dem Bibelbenutzer
als Lektürehilfe. Die Präposition von leitet jeweils einen Nominalsatz ein,
der der Überschrift, die ebenfalls in Form eines Nominalsatzes realisiert
wird, folgt.28 Diese Summarien weisen ebenfalls inhaltliche Spezifika auf.
Das achte, 17. und 18. Kapitel beinhalten Gleichnisse, die Jesus an seine
Jünger richtet. Im Vergleich dazu werden die Summarien des 13. und 15.
_____________
25 Kapitel 1, 2, 3, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 20, 21, 24.
26 Kapitel 4, 8, 17, 18, 19.
27 Kapitel 22, 23.
28 Die Annahme einer generellen Ellipse der dritten Person Singular des Vollverbs sein mit
der Inhaltsseite handelt von wird aufgrund der geringen Frequenz des Typus als abwegig ein-
gestuft, obwohl es dafür zwei Belege im Mt und Mk für das jeweils erste Kapitel gibt (Mt
1,1: Bl. 470v, Z. 1a-5a; Mk 1,1: Bl. 485v, Z. 1a-8a).
Syntaktische Strukturen in Summarien 807

Kapitels mit dem Adverb wie eingeleitet, obwohl es sich auch hier um
Gleichnisse handelt, die Jesus spricht. Der Unterschied besteht jedoch
darin, dass hier nicht die Jünger Jesu die Adressaten sind, sondern im 13.
Kapitel Menschen aus dem Volk, die Jesus von den Galiläern berichten,
und im 15. Kapitel sind es die Zöllner, Sünder, Pharisäer und Schriftge-
lehrten. In den Summarien zum vierten und 19. Kapitel handelt es sich
nicht um Gleichnisse. In ihnen tritt Jesus als Subjekt auf. Es wird hier
nicht nur etwas über Jesus berichtet, sondern er ist innerhalb der Hand-
lung Agens. Im vierten Kapitel versucht ihn der Teufel. Die Versuchungs-
geschichte steht am Anfang vom Wirken Jesu. Im 19. Kapitel richtet sich
Jesus an Zachäus. Sein Wort bringt die Entscheidung, er spricht Zachäus
Heil.
Der Verbalsatz beschreybt der evangelist tritt in den Summarien zum 22.
und 23. Kapitel im Lk auf. Beide Kapitel sind der Passionsgeschichte zu-
zuordnen. Der Vergleich mit den anderen drei Evangelien ergibt, dass
auch hier die Summarien, die über den Verbalsatz beschreybt der evangelist
eingeleitet werden, inhaltlich jeweils den Leidensweg Jesu bis zu seiner
Grablegung wiedergeben. Der Verbalsatz markiert die Sonderstellung
dieser Kapitel, die als Einheiten in der Osterliturgie verwendet werden.29
Insgesamt sechsmal ist es in den vier Evangelientexten der Koberger-
Bibel nicht möglich, den Beginn der Summarien einer bereits bekannten
Eingangsformel zuzuordnen. Dabei handelt es sich um die Summarien zu
Mt 7, Mt 28, Lk 16, Joh 1, Joh 10 und Joh 13. Das Summarium vor Lk
16,1 wird nicht mit der Präposition von eingeleitet, obwohl es sich um die
Beschreibung eines Gleichnisses handelt, das Jesus an seine Jünger richtet,
sondern hier wird der Textteil explizit als Gleichnis bezeichnet (Bsp. 4):
(4) t [SZ in R] Das [D = RS] . XVI . Capitel . [C = RS] Ein [E =
RS] [„t […] Ein“ = SchG (2)] // gleychnuƒ von einem
boƒhafftigen mayr . Vnd [V = RS] // wie nyemant zweyen
herren dienen mFg . Vnd [V = RS] // dz mFglicher sey . das
hymel vnd erd zergee . dann // ein buchstab vomm gesetz . Auch
[A = RS] vomm eebruch . // Vnd [V = RS] von dem reychen
mann . vnd dem armen lazaro . (SU vor Lk 16,1: Bl. 504v, Z. 29a-
34a).

_____________
29 Mt: Bl. 482v, Z. 6b-10b; Bl. 483v, Z. 41a-43a; Mk: Bl. 492r, Z. 12b-15b; Bl. 493r, Z. 34a-36a;
Joh: Bl. 519v, Z. 1a-5a.
808 Manja Vorbeck-Heyn

4.1.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien mit den


Evangelientexten

Das Summarium zum ersten Kapitel im Lk (Bsp. 1) verweist auf verschie-


dene Textteile aus dem ersten Kapitel. Die Sätze beziehen sich auf die
Verheißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) wy der // engel zacharie
erschiene . Zacharias dem engel nit // gelaubet . vnd darumm erstummet ., auf die
Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38) Wy maria von dem engel gegrFst
ward ., auf den Besuch Marias bei Elisabet (Lk 1,39-56) vnd auƒ vermanung
des en= // gels elizabeth heimsucht . und auf die Geburt des Täufers (Lk 1,57-
80) vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie sein mund er=ffent ward.
Die Sätze des Summariums folgen chronologisch dem Kapitelinhalt und
werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 5-11):
(5) Vnd [V = RS] der engel des herren erschyn // im . steend zu der
gerechten des altars des wey= // rauchs . (Lk 1,11: Bl. 494v,
Z. 28b-Bl. 495r, Z. 1a).
(6) vnd sih . du // wirst schweygen . vnd magst nit gereden vntz an
den // tag das dise ding werden geschehen . Darumm [D = RS]
das // du nit hast gelaubt meinen worten . die do wer= // den
erfFllt in seiner zeyt . (Lk 1,20: Bl. 495r, Z. 21a-25a).
(7) Der [D = RS] engel gieng ein zu ir . vnd sprach . // GegrFsset
[G = RS] seistu vol der gnaden . (Lk 1,28: Bl. 495r, Z. 41af.).
(8) vnd // Maria [M = RS] stund auff in den tagen vnd gieng ab mit
// eylen . vber das gebirg in die stat iuda (Lk 1,39: Bl. 495r,
Z. 15b-17b).
(9) vnd gieng // in das hauƒ zacharie . vnd grFsset elizabeth
(Lk 1,40: Bl. 495r, Z. 17bf.).
(10) vnd die zeyt des geperns elizabeth ward // erfFllt . vnd sie gepar
einen sun . (Lk 1,57: Bl. 495r, Z. 48bf.).
(11) vnd zehand sein mund vnnd sein // zung ward auffgethan .
(Lk 1,64: Bl. 495v, Z. 11af.).
Das Beispiel 5 zeigt, dass der engel im Evangelientext durch ein postnuklea-
res Genitivattribut erweitert ist und so explizit zum Boten Gottes wird.
Die Verbformen werden teilweise übernommen (Bsp. 5f. und 9f.) und im
Beispiel 11 die Lexeme sein mund, ansonsten handelt es sich um freie For-
mulierungen des Übersetzers.
Das Summarium zum vierten Kapitel des Lk bezieht sich auf folgende
Textteile im vierten Kapitel: die Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) Von der vasten
Syntaktische Strukturen in Summarien 809

vnd versFchung Christi ., das erste Auftreten Jesu in Galiläa und die Ableh-
nung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,14-30) Vnd von seiner lere // vnd predig .,
Jesus in der Synagoge von Kafarnaum (Lk 4,31-37) Vnd wie Jhesus einen
besessen // menschen erlediget ., die Heilung der Schwiegermutter des Petrus
(Lk 4,38-39) Auch die swiger petri . und die Heilung von Besessenen und
Kranken (Lk 4,40-41) vnd // vil ander siech gesund machet. In diesem Summa-
rium (Bsp. 2) wird der Kapitelinhalt chronologisch wiedergegeben. Es
fehlt aber der Hinweis auf den Textteil, in dem der Aufbruch nach Kafar-
naum (Lk 4,42-44) geschildert wird. Die Sätze des Summariums (Bsp. 2)
werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 12-16):
(12) vnd warde versFchet von dem // tewfel . vnd aƒ nichts in disen
tagen . (Lk 4,2f.: Bl. 496v, Z. 42bf.).
(13) vnd er lert in iren synagogen // vnd ward groƒgemachet von
allen . (Lk 4,15: Bl. 497r, Z. 24af.).
(14) Vnd [V = RS] Jhe // sus [J = RS] strafft in sagend . Erstumm .
[E = RS] vnd geeauƒ von im . vnd do er het auƒgeworffen den
teufel . in die mit // te gieng er auƒ von im . (Lk 4,35: Bl. 497r, Z.
23b-26b).
(15) Er [E = RS] gieng in dz // hauƒ symonis . vnd die schwiger
symonis wz be // griffen mit grossem fieber . vnd sy batten in
vmm // sie . Er [E = RS] stund ob ir . vnd gebot dem fieber .
vnd er // lieƒ sie . zehand stund sie auff vnd dienet in .
(Lk 4,38f.: Bl. 497r, Z. 33b-37b).
(16) alle die do hetten // die siechen mit maniger kranckheyt . die
fFrten sy // zu im . er legt auff die hende allen . vnd machet //
sie gesund . (Lk 4,40f.: Bl. 497r, Z. 38b-41b).
Im Beispiel 15 wird die Schwiegermutter als die des Simon bezeichnet, im
Summarium (Bsp. 2) als die des Petrus. Die unterschiedlichen Attribuie-
rungen ergeben sich aus der Namensgebung (Joh 1,42): „Du bist Simon,
der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels
(Petrus)“,30 sagt Christus zu Petrus, nachdem Andreas, der Bruder, ihn zu
Jesus geführt hat. Im Beispiel 15 wird das Prädikat und das Modaladverbi-
al machet gesund aus dem Evangelientext übernommen, ansonsten handelt
es sich bei den Sätzen des Summariums (Bsp. 2) um freie Formulierungen
des Übersetzers.
Das Summarium zum 22. Kapitel des Lk (Bsp. 3) ordnet das Kapitel
explizit der Passionsgeschichte zu und zwar biß auff das stuck als Jhesus pylato
_____________
30 Die Bibel. Einheitsübersetzung (2003, 1183).
810 Manja Vorbeck-Heyn

vberantwurt ward. Die Auslieferung Jesu an Pilatus ist dem 23. Kapitel zuge-
ordnet.

4.1.4. Zusammenfassung (Anton Koberger 1483)

Die Summarien sind Textteile, die sich jeweils zwischen den Kapitelüber-
schriften und dem in Kapitel gegliederten Evangelientext befinden (Bsp.
1-3). Die Kapitelüberschriften und die sich anschließenden Textteile kön-
nen aufgrund von ausdrucks- und inhaltsseitigen Merkmalen voneinander
unterschieden werden. Die Kapitelüberschriften sind eingliedrige Nomi-
nalsätze, deren Nukleus Capitel explizit auf die Makrostruktur Kapitel hin-
weist und keinen Hinweis auf den folgenden Kapitelinhalt bietet. Mit der
Attribuierung mit einem Zahladjektiv wird auf eine explizite Num-
merierung der Gesamtzahl der Evangelienkapitel hingewiesen. Die von
Wulf eingangs angeführte Definition der Kapiteltituli, bei denen es sich
um Kapitelüberschriften handeln soll, „die in knapper Form den Inhalt
des nachstehenden Text[e]s wiedergeben“,31 erweist sich demnach als zu
ungenau. Zwischen den Kapitelüberschriften und dem folgenden Text-
korpus befinden sich eigene Textteile, die die Initiatorenfunktion des Ka-
pitelbeginns verstärken und dazu dienen, dem jeweiligen Kapitel des
Evangelientextes eine Inhaltsangabe voranzustellen. Zwei Repräsenta-
tionstypen zur Markierung der Makrostruktur Summarium sind in dieser
Texttradition nachweisbar: Der Repräsentationstyp SZ + Ü + SU + Bild
+ In (7z)-Maj + SchG (2, 2z) tritt nur einmal beim ersten Summarium in
den Evangelien auf (Bsp. 1), über den Repräsentationstyp SZ + Ü + SU +
In (3z)-Maj + SchG (2) erfolgt die Markierung der anderen Summarien
(Bsp. 2 und 3).
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten,
es können isoliert gebrauchte einfache Sätze, aber auch Gesamtsätze aus
mindestens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung
der Sätze in den Summarien erfolgt über die Repräsentationstypen P(u) +
Min und P(u) + Maj.
Eine Differenzierung der Summarien ist aufgrund der verschiedenen
Eingangsformeln wie, von und der evangelist beschreybt möglich, quantitativ am
häufigsten tritt die Eingangsformel wie auf (Bsp. 1). Die Eingangsformeln
übernehmen eine syntaktische Funktion und verweisen auf inhaltliche
Spezifika. Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten
Nebensatzes, eines Modalsatzes, und leitet die Kapitel ein, in denen etwas
über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung berichtet
_____________
31 Wulf (1991, 385).
Syntaktische Strukturen in Summarien 811

wird, oder es handelt sich um Gleichnisse, wobei die Adressaten Men-


schen aus dem Volk sind (Lk Kap. 13) oder die Zöllner, Sünder, Pharisäer
und Schriftgelehrten (Lk Kap. 15). Die Präposition von (Bsp. 2) leitet je-
weils einen Nominalsatz ein. Diese Summarien beinhalten Gleichnisse, die
Jesus an seine Jünger richtet, oder es wird nicht nur etwas über Jesus be-
richtet, sondern er ist innerhalb der Handlung Agens (Lk Kap. 4 und 19).
Der Verbalsatz beschreybt der evangelist (Bsp. 3) leitet Kapitel ein, die der
Passionsgeschichte zuzuordnen sind und inhaltlich den Leidensweg Jesu
bis zu seiner Grablegung wiedergeben.
Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich überwiegend um freie
Formulierungen des Übersetzers. Des Weiteren bestehen umfangreiche
inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt. Der
Kapitelinhalt wird in den Summarien chronologisch wiedergegeben.

4.2. Hieronymus Emser (1528)

4.2.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen

(17) [Spa] Das Erst Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ [Spa] // [Spa] Uon
Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // vnd wie
der Engel Marie den gruß gepracht / Auch was lob- // gesangk
der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie //
Christum empfangen / Das Magnificat gemacht hat. [Spa] //
ZV [Z = In (3z)] der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war //
eyn priester an stad Abia / mit namen Zachari // as / (Lk 1,5:
Bl. 74v, Z. 7-14).
(18) [Spa] Das IIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Uon der
fasten / vnnd versuchung Christi / wie sich Jhesus // vor den
Judenn verborgenn / wie ein beseßner entledigt / vnnd // wie
er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht
hat. [Spa] // IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes /
kam widder // von dem Jordan / (Lk 4,1: Bl. 83r, Z. 12-18).
Für die Summarien in der katholischen Übersetzung von Hieronymus
Emser kann der Repräsentationstyp Ü + Spa + NoS [♣ Summa. ♣]-ZU-
Spa-SU [kl. SchG] + ZU + In (3z)-Maj nachgewiesen werden. Im Mt, Mk
und Joh ist die Überschrift zusätzlich mit einem ihr unmittelbar vorausge-
henden Evangelistenbild kombiniert, das im Lk mit dem Vorwort 1,1-4
verbunden ist, das heißt, ausdrucksseitig sind im Mt, Mk und Joh nur
jeweils das erste Kapitel von den anderen durch den Holzschnitt abgrenz-
812 Manja Vorbeck-Heyn

bar,32 im Lk kommt nur der oben genannte Repräsentationstyp vor. Der


Nukleus Capittel des Nominalsatzes, der mit einem Zahladjektiv zur
Nummerierung der Evangelienkapitel attribuiert ist, weist explizit auf die
Makrostruktur Kapitel hin. Der sich anschließende Textteil zwischen der
Kapitelüberschrift und dem Textkorpus wird durch den Nominalsatz
Summa. eingeleitet, der explizit auf die Makrostruktur Summarium hinweist.
Der Nominalsatz wird drucktechnisch durch zwei Kleeblätter hervorge-
hoben, für den sich anschließenden Textteil ist eine kleinere Schriftgröße
gewählt.

4.2.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur


Summarium anhand repräsentativer Beispiele

Der Beginn des Summariums (Bsp. 18) wird durch den Nominalsatz Sum-
ma. signalisiert, der zusätzlich von zwei Kleeblättern eingerahmt wird. Das
Ende des Summariums wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR markiert.
Das Summarium besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die
durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und Virgel + Min voneinan-
der abgegrenzt werden. Es kommen neben verbalen auch nominale Satz-
strukturen vor.
Der Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus
vier Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz mit zwei gereihten Nuk-
lei: Uon der fasten / vnnd versuchung Christi /, einem Nebensatz – Adverbial-
satz = Modalsatz: wie sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, einem Neben-
satz – Adverbialsatz = Modalsatz: wie ein beseßner entledigt / mit einer Ellipse
des Subjekts Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und einer Ellipse von hat
aufgrund von Nacherwähntheit und einem Nebensatz – Adverbialsatz =
Modalsatz: vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema //
cht hat.
(19) [Spa] Das. XXIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Christus
wirt tzu Pilaten / vnd von dannen fur Herodem // gefurt /
Strafft die weyber / die yhn beweyneten / wirt gecreu= // tzigt
vnd begraben. [Spa] // VNd [V = In (3z)] der gantz hauffe
stund auff / vnd furten ihn // fFr Pilatum (Bl. 114r, Z. 12-17).
Der Beginn des Summariums (Bsp. 19) wird über den eingliedrigen No-
minalsatz Summa. markiert, das Ende über einen P(u) + Spa bis ZR. Es
können verschiedene syntaktische Einheiten durch die Repräsentationsty-

_____________
32 Holzschnitt im Mt: Bl. 1r, Holzschnitt im Mk: Bl. 47r, Holzschnitt im Joh: Bl. 118r.
Syntaktische Strukturen in Summarien 813

pen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel + Maj abgegrenzt werden. Eine
Abgrenzung der Teilsätze erfolgt jedoch nicht in allen Fällen.
Der erste Gesamtsatz (Parataxe) besteht aus zwei Teilsätzen: einem
Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von gefurt aufgrund von Nacherwähnt-
heit: Christus wirt tzu Pilaten / und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellip-
se von Christus wirt aufgrund von Vorerwähntheit: vnd von dannen fur Hero-
dem // gefurt /. Der zweite Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer
Struktur besteht aus vier Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz mit
Ellipse von Christus aufgrund von Vorerwähntheit: Strafft die weyber /, ei-
nem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: die yhn beweyneten /, einem
Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus aufgrund von Vorer-
wähntheit: wirt gecreu= // tzigt und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit El-
lipse von Christus wird aufgrund von Vorerwähntheit: vnd begraben.
Ausdrucksseitig sind die Summarien innerhalb des Lk nicht voneinan-
der abgrenzbar, in den anderen drei Evangelien nur das erste von den
anderen. Aus syntaktischer Sicht werden die Summarien in den Evange-
lien verschieden eingeleitet: Erstens erfolgt die Einleitung zweimal33 mit
dem Adverb wie (Bsp. 20), zweitens 15-mal34 mit der Präposition von (Bsp.
18) oder drittens fehlt siebenmal35 in dieser Bibeltradition eine Eingangs-
formel (Bsp. 19). Mit dem Adverb wie wird ein Modalsatz eingeleitet und
die Präposition von leitet ein präpositionales Satzglied ein, das einen ein-
gliedrigen Nominalsatz konstituiert. In dieser Bibeltradition übernehmen
die Eingangsformeln keine Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika, son-
dern verweisen ausschließlich auf den Inhalt des Kapiteltextes.
(20) [Spa] Das XXIIII. Cap. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Wie die
frawen / den begraben Jesum vergebenlich such= // ten / wie
Petrus tzum grab lieff vnd die tzween bylgram gen // Emaus
giengen / wie Jesus mitten ynder den iungern stund / // vnd wie
er tzu hymmel fuhr. [Spa] // ABer [A = In (3z)] der Sabather
einen kamen sie tzum gra= // be seer frue / (Bl. 115v, Z. 32-Bl.
116r, Z. 2).

4.2.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien


mit den Evangelientexten

Das Summarium zum ersten Kapitel im Lk (Bsp. 17) verweist auf ver-
schiedene Textteile aus dem ersten Kapitel. Die beiden Teilsätze Uon
_____________
33 Kapitel 9, 24.
34 Kapitel 1, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 21, 22.
35 Kapitel 2, 3, 11, 12, 13, 20, 23.
814 Manja Vorbeck-Heyn

Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // beziehen sich auf die Ver-
heißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) und die Geburt des Täufers
(Lk 1,57-80), der Teilsatz vnd wie der Engel Marie den gruß gepracht / auf die
Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38). Auf das Benedictus (Lk 1,68-
79), in dem Zacharias zum einen das Handeln Gottes an seinem Volk
besingt und zum anderen Johannes den Täufer als endzeitlichen Heils-
mittler weissagt, und auf das Magnificat, in dem Maria von den Taten
Gottes berichtet und die Großtaten Gottes an Israel preist, wird im Sum-
marium explizit mit den folgenden Sätzen hingewiesen: Auch was lob- //
gesangk der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie // Christum empfangen
/ Das Magnificat gemacht hat. Die Sätze des Summariums folgen dem Kapi-
telinhalt nicht chronologisch und werden im Evangelientext folgenderma-
ßen wiedergegeben (Bsp. 21-25):
(21) ZV der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war eyn priester an
stad Abia / mit namen Zachari // as / vnnd seyn weyb von den
t=chtern Aaron // deren nam war Elizabeth (Lk 1,5: Bl. 74v,
Z. 12-15).
(22) Elizabeth kam jhr tzeit / das sie geperen solt / vnd // sie gebar
einen son / (Lk 1,57: Bl. 76r, Z. 33f.).
(23) Vnd der // Engel kam tzu yhr hineyn / vnd sprach. Gegrusset
seye= // stu [voll genaden/] der Herr ist mit dir du bist gebene
// deyet vnder den weybern. (Lk 1,28: Bl. 75r, Z. 32-34).
(24) Do sprach Maria. Meyn seel macht groß den Her // ren / vnd
meyn Geyst hat sich gefrewet jn Godt mey= // nem heyland.
(Lk 1,46: Bl. 76r, Z. 15-17).
(25) Vnd seyn vatter Zacharias ward erfFllet von dem // heyligen
geyste / weissaget vnd sprach / Gebenedeyet // sey Gott der
Herr von Jsrael / denn er hat besucht vnd // erl=set sein volck/
(Lk 1,67: Bl. 76v, Z. 16-19).
Die Beispiele 21-25 zeigen, dass es sich bei den Sätzen des Summariums
um freie Formulierungen des Übersetzers handelt.
Das Summarium zum vierten Kapitel (Bsp. 18) bezieht sich auf fol-
gende Textteile: die Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) Uon der fasten / vnnd
versuchung Christi /, die Ablehnung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,16-30) wie
sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, Jesus in der Synagoge von Kafar-
naum (Lk 4,31-37) wie ein beseßner entledigt / und die Heilung der Schwie-
germutter des Petrus (Lk 4,38-39) und von Besessenen und Kranken (Lk
4,40-41) vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht
hat. In diesem Summarium wird der Kapitelinhalt chronologisch wieder-
Syntaktische Strukturen in Summarien 815

gegeben. Es fehlt aber der Hinweis auf die Tetxtteile, in denen das erste
Auftreten in Galiläa (Lk 4,14-15) und der Aufbruch aus Kafarnaum (Lk
4,42-44) geschildert werden. Wie die Beispiele 26-30 zeigen, handelt es
sich bei den Sätzen des Summariums um freie Formulierungen des Über-
setzers:
(26) IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes / kam widder
// von dem Jordan / vnd ward getrieben vom Geyst // jn die
wGste viertzig tag langk / vnd ward versuch // et von dem
tewffell / vnd er aß nichts jn den selbigenn // tagen / vnd da die
selbigen ein ende hatten / hungerthe // jhn. (Lk 4,1f.: Bl. 83r,
Z.16-21).
(27) Vnd // da der teuffel alle versFchung vollendet hatte / weych //
er von yhm / byß auff eyn tzeyth. (Lk 4,13: Bl. 81r, Z. 10-12).
(28) Aber er gieng mitten durch sie hin. (Lk 4,30: Bl. 81v, Z. 33).
(29) Vnnd es war ein mensch in der schule / besessen mit // einem
vnreynen tewffel / […] Er gepeuth mit macht vnd gewalt den
vnreynen // geysten / vnd sie faren auß Vnd es erschall sein
geschrei // in alle orte des vmbligenden landes. (Lk 4,33-37:
Bl. 81v, Z. 37-Bl. 82r, Z. 12).
(30) Aber Jhesus stund auff vnd gieng auß der schulen in // das haws
Simonis / vnd die Schwiger Simonis war mit einem harrten
fieber behafftet / vnd sie bathen jhn // fFr sie / vnd er trat tzu
yhr / vnd gebot dem fieber / vnnd // es verlies sie / vnd bald
stund sie auff / vnd dienete yhn. // [Spa] Vnnd do die Sonne
vndergangen ware / alle die do // krancken hatten von
manicherley seuchten / die brach // ten sie zu yhm / vnd er legt
auff eynen ytzliche die hende / // vnd machet sie gesund (Lk
4,38-40: Bl. 82r, Z. 13-19).
Das Summarium zum 23. Kapitel (Bsp. 19) bezieht sich auf folgende
Textteile: die Auslieferung an Pilatus (Lk 23,1-5) Christus wirt tzu Pilaten /,
die Verspottung durch Herodes (Lk 23,6-12) vnd von dannen fur Herodem //
gefurt /, die Verhandlung vor Pilatus (Lk 23,13-25) Strafft die weyber / die yhn
beweyneten /, die Kreuzigung (Lk 23,26-43) wirt gecreu= // tzigt und das
Begräbnis Jesu (Lk 23,50-56) vnd begraben. Es fehlt der Hinweis auf den
Textteil mit der Schilderung des Todes Jesu (Lk 23,44-49), der Kapitelin-
halt wird chronologisch wiedergegeben. Es handelt sich bei den Sätzen im
Summarium um freie Formulierungen des Übersetzers, wie die Beispiele
aus dem Evangelientext zeigen (Bsp. 31-35):
816 Manja Vorbeck-Heyn

(31) VNd der gantz hauffe stund auff / vnd furten jhn // fFr Pilatum
(Lk 23,1: Bl. 114r, Z. 16).
(32) vnd als er [Pilatus] vernam das // er [Jesus] vnder Herodes
=birkeit geh=ret / vbersand er yhn zu // Herodes / (Lk 23,7:
Bl. 114r, Z. 28-30).
(33) Es volget yhm aber noch eyn grosser hauffe vol= // cks vnnd
weyber / die klagten vnnd beweyneten yhn/ // Jhesus aber
wandt sich vmb zu yhn / Vnd sprach yhr // t=chter von
Hierusalem / weynet nicht vber mich / son= // der weynet vber
euch selbs / vnnd vber ewre kinder. (Lk 23,27f.: Bl. 114v, Z. 35-
Bl. 115r, Z. 3).
(34) vnd als sie kamen an die stedt die do heist Scheddel= // stedt /
Creuzigeten sie yhn do selbs / (Lk 23,23: Bl. 115r, Z. 13f.).
(35) der [Josef] gieng zu Pilato vnd // bat vmb den leib Jhesu / vnd
nam yhn ab / wickelt yhn // in leynwat / vnd legt yhn in ein
gehawen grab / (Lk 23,53: Bl. 115v, Z. 22-24).

4.2.4. Zusammenfassung (Hieronymus Emser 1528)

Die Summarien sind Textteile zwischen den Kapitelüberschriften und


dem Textkorpus. Für die Summarien kann nur der Repräsentationstyp
Ü + Spa + NoS [♣ Summa. ♣]-ZU-Spa-SU [kl. SchG] + ZU + In (3z)-
Maj nachgewiesen werden (Bsp. 17f.), das heißt, in dieser Tradition wer-
den die Summarien durch den eingliedrigen Nominalsatz Summa. eingelei-
tet, der explizit auf die Makrostruktur Summarium hinweist. Der Nominal-
satz wird drucktechnisch durch zwei Kleeblätter hervorgehoben, für den
sich anschließenden Textteil ist eine kleinere Schriftgröße gewählt.
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten.
Es können nur Gesamtsätze innerhalb der Summarien nachgewiesen wer-
den, die aus mehr als zwei Teilsätzen bestehen. Die Kennzeichnung der
Sätze in den Summarien erfolgt über die Repräsentationstypen P(u) + Maj,
Virgel + Min und Virgel + Maj. Eine Abgrenzung der Teilsätze innerhalb
von Gesamtsätzen durch Repräsentationstypen erfolgt jedoch nicht in
allen Fällen. Der Beginn der Summarien wird in allen Fällen über den
eingliedrigen Nominalsatz Summa. signalisiert und ihr Ende über den Re-
präsentationstyp P(u) + Spa bis ZR.
In dieser Bibeltradition erfolgt die Einleitung in die Summarien varia-
bel. Entweder fehlt eine Eingangsformel (Bsp. 19) oder zu Beginn der
Summarien steht quantitativ am häufigsten die Präposition von (Bsp. 18),
Syntaktische Strukturen in Summarien 817

die ein präpositionales Satzglied einleitet, das einen eingliedrigen Nominal-


satz konstituiert, oder das Adverb wie (Bsp. 20), um einen Modalsatz ein-
zuleiten. Die Eingangsformeln übernehmen keine Hinweisfunktion auf
inhaltliche Spezifika wie in der Koberger-Bibel, sondern verweisen aus-
schließlich auf den Inhalt des Kapiteltextes. Bei den Sätzen der Summ-
arien handelt es sich ausschließlich um freie Formulierungen des Überset-
zers. Es bestehen umfangreiche inhaltliche Bezüge zwischen den
Summarien und dem Kapitelinhalt, die nicht in allen Fällen der chronolo-
gischen Abfolge des Kapitelinhalts folgen.

4.3. Zusammenfassung (Johann Dietenberger 1534)

In der ersten katholischen Übersetzung der ganzen Bibel aus der Refor-
mationszeit durch den Dominikaner Johann Dietenberger sind die Summ-
arien durch eine kleinere Schriftgröße ausdrucksseitig abgrenzbar, ein
Segmentierungszeichen als hervorhebendes Mittel steht zu Beginn der
Summarien, die Einleitung erfolgt also nicht wie bei Emser durch den
Nominalsatz Summa. In diesem Bibeldruck ist der Repräsentationstyp Ü +
Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + Holzschnitt + BildIn (9z)-Maj für
das jeweils erste Summarium in den Evangelien36 und der Repräsentati-
onstyp Ü + Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + BildIn (5z)-Maj für
die anderen Summarien nachweisbar.37 Ausdrucksseitig ist nur jeweils das
erste Summarium von den anderen abgrenzbar, da bei diesem eine Kom-
bination mit einem Holzschnitt und einer neunzeiligen Bildinitiale vor-
kommt, in den anderen Fällen entfällt der Holzschnitt und das Summari-
um ist mit einer fünfzeiligen Bildinitiale kombiniert.
Hinsichtlich der syntaktischen Strukturen und deren Kennzeichnung,
hinsichtlich der Eingangsformeln, der eigenständigen Formulierungen des
Übersetzers und der inhaltlichen Bezüge der Summarien und der Kapitel-
inhalte sind keine Unterschiede zur Übersetzung des Hieronymus Emser
aus dem Jahre 1528 feststellbar.
_____________
36 Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // s Uon Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johan-
nem gebo= // renn / vnd wie der Engel Marie den grFß gebracht / Auch // was lobge-
sang der Zacharias / des gleichen wie Ma // ria nach dem sie // Christum empfangen /
das Magnificat gemacht hat. // Holzschnitt [Evangelistenbild] // ZV [Z = BildIn (9z)] der
zeit Hero [SchG (2)] // dis / des k=nigs Judee // war einn priester an // statt Abia / mit
namen // Zacharias / (Bl. 473v, Z. 1b-10b).
37 Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // s Von der fastenn vnnd versFchung Christi
/ wie sich Jesus // vor den Juden verborgen / wie ein beseßner entledigt / vnd // wie er
die schwiger Petri sampt andern vilen // gesundt gemacht hat. [Spa] // IEsus [I = BildIn
(5z)] aber vol des heiligen geists / // kam widder vonn dem Jordan / // (Bl. 476r, Z. 37a-
43a).
818 Manja Vorbeck-Heyn

4.4. Zusammenfassung (Johann Eck 1537)

In der katholischen Bibel in der Übersetzung des Johann Eck können für
die Summarien zwei Repräsentationstypen festgestellt werden, zum einen
der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + Holz-
schnitt + ZU + In (14z)-Maj,38 zum anderen der Repräsentationstyp Ü +
Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + In (5z)-Maj.39 Ausdrucksseitig kann in
dieser Texttradition demnach nur das erste Kapitel von den anderen Kapi-
teln aufgrund der Kombination des Summariums mit einem Holzschnitt
und einer 14-zeiligen Schmuckinitiale abgegrenzt werden. Die Summarien
der anderen Kapitel sind mit fünfzeiligen Initialen kombiniert. Ausdrucks-
seitig ist allen Summarien gemeinsam, dass für ihren Druck eine kleinere
Schriftgröße gegenüber den anderen Textteilen gewählt wurde.
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten,
es können isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze aus mindes-
tens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung der Sätze
in den Summarien erfolgt wie in der Übersetzung des Hieronymus Emser
über die Repräsentationstypen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel +
Maj. In dieser Texttradition werden die Summarien quantitativ am häu-
figsten mit der Präposition von eingeleitet,40 ohne dass hierfür inhaltliche
Spezifika festgestellt werden können. In den anderen Summarien fehlt
eine spezifische Einleitungsformel.41 Die Summarien verweisen auf den
Inhalt des Kapiteltextes.
Wie in der Übersetzung Emsers handelt es sich bei den Textteilen der
Summarien um freie Formulierungen des Übersetzers, die aber gegenüber
Emsers Übersetzung eigenständig sind. Es bestehen auch in dieser Tradi-
_____________
38 Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // Von Johannes geburt / vnd wie der Engel //
Mari$ grüeßt / das lobgesang Zacharie / vnd // Marie Magnificat. [Spa] // Holzschnitt
[Evangelistenbild] // ZV [Z = SchmuckIn (14z)] der zeit // Hero= // dis / des // künigs
// Judee // war ein // priester // in der // ordnung // Abia / // mit na= // men Za //
charias // (Bl. 27v, Z. 35b-Bl. 28r, Z. 13a).
39 Zum Beispiel: [Spa] Das VI. Capitel [Spa] // Von außhülsung der (hern / von der dürre
hand / er= // w=lung der Apostel die / feind zG lieben / vnd frid zG // haben / vnd nie-
mants vrtailen soll. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es geschach auf ain after // sabbath / dz er
durchs getraid // gieng / (Bl. 31v, Z. 14a-20a).
40 Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // Von der fasten vnd versGchung Christi /
wie sich Jhe= // sus verbarg / einbesesnen entledigt / vnd die schwi= // ger Petri samt
andern gesund macht. [Spa] // JHESVS [J = In (10z)] aber vol des // hailigen gaists / kam
// wider von dem Jor= // dan: (Bl. 30r, Z. 14b-21b).
41 Zum Beispiel: [Spa] Das II. Capitel. [Spa] // Die welt würdt beschriben / Die junckfraw
gebürt / // die hirten wachen über ihr herdt / Jhesus würdt be= // schnitten / Simeon
vnd Anna weißsagen / vnd das // kindlin Jhesus sitzt in der Sinagog / mitten vnder //
den doctorn. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber zG der zeit / // das ain gebot auß-
gieng von // dem Kaiser Augusto / dz alle // welt beschriben wurde. (Bl. 29r, Z. 8a-17a).
Syntaktische Strukturen in Summarien 819

tion inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt,


die nicht in allen Fällen der chronologischen Abfolge des Kapitelinhaltes
folgen.

4.5. Zusammenfassung (Christoffel Froschauer 1531)

In der Zürcher Bibel von Christoffel Froschauer sind zwei Repräsenta-


tionstypen zur Markierung der Makrostruktur Summarium nachweisbar.
Die ersten Summarien in den Evangelientexten werden über den Reprä-
sentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + BildIn (8z)-
Maj signalisiert,42 die anderen Summarien über den Repräsentationstyp
Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + In (5z)-Maj.43 Nur beim
ersten Kapitel in den Evangelien wird das Summarium mit einer achtzeili-
gen Bildinitiale kombiniert, die anderen Kapitel sind mit einer fünfzeiligen
Initiale als hervorhebendes Mittel verbunden. Für die Textteile der Summ-
arien ist in allen Fällen eine kleinere Schriftgröße gewählt, so dass sie aus-
drucksseitig vom Evangelientext und den Kapitelüberschriften abgrenzbar
sind.
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzstrukturen.
Es treten innerhalb der Summarien isoliert gebrauchte einfache Sätze und
Gesamtsätze auf. Der Beginn der isoliert gebrauchten einfachen Sätze
sowie der Gesamtsätze wird in dieser Texttradition über die Repräsenta-
tionstypen P(u) + Majuskel oder Virgel + Majuskel signalisiert, die Teil-
sätze in den Gesamtsätzen werden über die Repräsentationstypen Virgel +
Minuskel44 oder Kolon + Minuskel45 voneinander abgegrenzt.

_____________
42 Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß
vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie
/ Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis
des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= //
charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b).
43 Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger
b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel
auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des
teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalck-
heyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl.
226v, Z. 22b-29b).
44 Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste /
wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / pre-
diget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen be-
kennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse
zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem
Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b).
820 Manja Vorbeck-Heyn

Eine Differenzierung der Summarien ist in dieser Texttradition auf-


grund der verschiedenen Eingangsformeln möglich. Zum einen steht zu
Beginn der Summarien die Präposition von,46 die ein präpositionales Satz-
glied einleitet, das einen eingliedrigen Nominalsatz konstituiert, zum ande-
ren finden sich zu Beginn dieser Textteile die nomina propria Jesus47 oder
Christus,48 ohne dass ihre Verwendung inhaltlich begründbar ist. Des Wei-
teren sind die Einleitungen variabel, sie übernehmen dann aber i.d.R. eine
Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika des Evangelientextes.49
Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich um freie Formulierun-
gen des Übersetzers. Es bestehen umfangreiche inhaltliche Bezüge zwi-
schen den Summarien und dem Kapitelinhalt, der chronologischen Rei-
henfolge des Kapitelinhaltes wird in den Summarien entsprochen.

_____________
45 Zum Beispiel: [Spa] Das xviij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Er leert wie man empfig
vnnd verharrlich b(tten sol: ver= // wirfft die Phariseische frommkeyt: die kindlin lasst er
zG jm kommen: berichtet den der jn fraget was er thGn sol das er ins l(= // ben komme /
verheyßt belonung denen die vmb seinent willen // das jr verlierend vnd jm anhangend.
[Spa] // ER [E = In (5z)] sagt jnen aber ein gleychnuß // daruon / (Bl. 231r, Z. 20b-27b).
46 Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß
vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie
/ Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis
des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= //
charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b).
47 Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste /
wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / pre-
diget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen be-
kennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse
zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem
Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b).
48 Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger
b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel
auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des
teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalck-
heyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl.
226v, Z. 22b-29b).
49 Zum Beispiel: [Spa] Das v. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jn disem Capitel werdennd
etliche zeychen beschriben die // Jesus gethon hatt / die berFffung Mathei / der zanck der
// Phariseern wider Christum vnd seine jünger. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber
/ do jnn das // volck überfiel zeh=ren das wort // Gottes / (Bl. 222r, Z. 8a-14a). Beispiel:
[Spa] Das xxij. Capitel. [Spa] // Hie facht der Euangelist das leyden Christi zG beschreyben
/ w(ret biß ins xxiiij. Capitel. [Spa] // ES [E = In (5z)] was aber naach das f(st der SFssen
broten / (Bl. 233v, Z. 15b-19b).
Syntaktische Strukturen in Summarien 821

4.6. Johann Feyerabend (1583)

4.6.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen

(36) [Spa] I. Cap. [Spa] // [SU = kl. SchG] 1 Vorrede dieser


Historien / 2 dem alten Zacharia / der eine vnfruchtbar Ehe
hatte / 4 verheisset ein Engel // einen Son / Johannem / 5 das
glaubt er nicht / vnd erstummet / 6 doch wird Elisabeth
schwanger / 7 Der En= // gel Gabriel verkFndigt der
Jungfrauwen Maria / 8 daß sie einen Son / Jesum Christ /
geberen sol / 9 durch die // crafft deß H=hesten / dem kein
ding vnmFglich / 10 darauff gehet sie zu Elisabeth / von
welcher sie eben dasselbe h== // ret / 11 vnd preiset mit jrem
Lobgesang den HERRN / 12 Elisabeth gebieret einen Son / vnd
leßt jn Johannes // heissen / 13 welches Zacharias schrifftlich
bestetigt / fahet damit wider an zu reden / 15 vnd preyset den
HERRN // mit seinem Lobgesang. [Spa] Holzschnitt [Evange-
listenbild] SJntemal [S = In (5z)] sichs viel vnterwunden haben /
zu stellen die [SchG (2)] // Rede von den Geschichten / so
vnter vns ergangen sind / wie vns das // gegeben haben / die es
von anfang selbs gesehen / vnd diener deß Worts // gewesen
sind / Habe ichs auch fFr gut angesehen / nach dem ichs alles
// von anbegin erkundet habe / daß ichs zu dir / mein guter
Theophile / mit // fleiß ordenlichen schriebe / Auff daß du
gewissen grundt erfahrest der Lehre / welcher du // vnterrichtet
bist. [Spa] // ZU [Z = In (8z)] der zeit Herodis / deß K= [SchG
(2)] // nigs Judee / war ein Priester von der ordnung // Abia /
mit Namen Zacharias / (Lk 1,1: Bl. 34r, Z. 1-18).
(37) [Spa] IIII. Cap. [Spa] // [SU = kl. SchG] 1 Jesus wirdt vom
Teuffel versucht / vnd vberwindet jn mit Gottes Wort / 4
Lehret in den Schulen / 5 Zu // Nazareth predigt er auß Jesaia /
6 daß sie sich vber seinen holdseligen Worten verwundern / 8
doch w=llen sie // jn vber den Berg hinab stFrtzen / 9 Er treibt
einen Teuffel auß / der jn den heyligen Gottes nennet / 10
Macht // die Schwieger Petri gesund / 11 Heylet auch sonst viel
Krancken / vnd l(ßt die Teuffel nicht reden / 12 Saget / // er
muß auch andern das Euangelion predigen / dazu er denn
gesand sey. [Spa] // JHesus [J = In (5z)] aber voll heyliges
Geistes / kam wider von dem [SchG (2)] // Jordan / vnd ward
vom Geist in die WFsten gefFhret / vnd wardt vier= // tzig tage
lang von dem Teuffel versucht / (Lk 4,1: Bl. 37v, Z. 7-15).
822 Manja Vorbeck-Heyn

In der korrigierten Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung von Johann


Feyerabend kann der Repräsentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl.
SchG] + Evangelistenbild + In (5z/8z)-Maj (Bsp. 36) zur Markierung des
ersten Summariums in den Evangelien und der Repräsentationstyp Spa +
Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + In (5z)-Maj (Bsp. 37) zur Markierung
der anderen Summarien nachgewiesen werden. Ausdrucksseitig ist nur das
erste Summarium von den anderen abgrenzbar. Die Summarien sind mit
einer Verszählung verbunden.

4.6.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur


Summarium anhand repräsentativer Beispiele

Der Beginn der Summarien wird in dieser Texttradition nicht durch ein
hervorhebendes Mittel (Initialengebrauch, Segmentierungszeichen) bzw.
durch eine syntaktische Einheit in Form eines Nominalsatzes signalisiert,
für den Textteil der Summarien ist aber eine kleinere Schriftgröße gewählt,
das Ende der Summarien wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR signali-
siert.
Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) besteht aus verschiede-
nen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen Virgel +
Maj und Virgel + Min voneinander abgegrenzt werden. Teilsätze und
Satzgliedteile werden durch Virgel + Min signalisiert, Virgel + Maj mar-
kiert den Beginn eines neuen Gesamtsatzes, insgesamt bilden drei Ge-
samtsätze dieses Summarium. Es kommen verbale als auch nominale Satz-
strukturen vor. Der erste Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer
Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz:
Vorrede dieser Historien /, einem Verbalsatz – Hauptsatz: dem alten Zacharia /
[…] verheisset ein Engel // einen Son / Johannem /, einem Verbalsatz – Ne-
bensatz – Attributsatz: der eine vnfruchtbar Ehe hatte /, einem Verbalsatz –
Hauptsatz: das glaubt er nicht /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse
von er aufgrund von Vorerwähntheit vnd erstummet / und einem Verbalsatz
– Hauptsatz: doch wird Elisabeth schwanger /. Der zweite Gesamtsatz mit
parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem
Verbalsatz – Hauptsatz: Der En= // gel Gabriel verkFndigt der Jungfrauwen
Maria /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Objektsatz: daß sie einen Son /
Jesum Christ / geberen sol / durch die // crafft deß H=hesten /, einem Verbalsatz
– Nebensatz – Attributsatz: dem kein ding vnmFglich /, einem Verbalsatz –
Hauptsatz: darauff gehet sie zu Elisabeth /, einem Verbalsatz – Nebensatz –
Attributsatz: von welcher sie eben dasselbe h== // ret / und einem Verbalsatz –
Hauptsatz mit Ellipse von sie aufgrund von Vorerwähntheit: vnd preiset mit
jrem Lobgesang den HERRN /. Der dritte Gesamtsatz mit parataktisch-
Syntaktische Strukturen in Summarien 823

hypotaktischer Struktur besteht aus fünf Teilsätzen: einem Verbalsatz –


Hauptsatz: Elisabeth gebieret einen Son /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit
Ellipse von Elisabeth aufgrund von Vorerwähntheit: vnd leßt jn Johannes //
heissen /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: welches Zacharias
schrifftlich bestetigt /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit der Ellipse von
Zacharias aufgrund von Vorerwähntheit: fahet damit wider an zu reden / und
einem Verbalsatz – Hauptsatz mit der Ellipse von Zacharias aufgrund von
Vorerwähntheit: vnd preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang.

4.6.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien mit den


Evangelientexten

Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) verweist auf verschiedene
Textteile aus dem ersten Kapitel. Der erste Nominalsatz 1 Vorrede dieser
Historien / bezieht sich auf das Vorwort (Lk 1,1-4), der Textteil zur Ver-
heißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) wird im Summarium durch
die Teilsätze 2 dem alten Zacharia / der eine vnfruchtbar Ehe hatte / 4 verheisset
ein Engel // einen Son / Johannem / 5 das glaubt er nicht / vnd erstummet / 6 doch
wird Elisabeth schwanger / wiedergegeben. Auf die Verheißung der Geburt
Jesu (Lk 1,26-38) wird mit dem Gesamtsatz 7 Der En= // gel Gabriel
verkFndigt der Jungfrauwen Maria / 8 daß sie einen Son / Jesum Christ / geberen sol
/ 9 durch die // crafft deß H=hesten / dem kein ding vnmFglich / verwiesen, auf
den Besuch Marias bei Elisabet (Lk 1,39-56) mit den Teilsätzen 10 darauff
gehet sie zu Elisabeth / von welcher sie eben dasselbe h== // ret / 11 vnd preiset mit
jrem Lobgesang den HERRN / und auf die Geburt des Täufers mit dem
Gesamtsatz 12 Elisabeth gebieret einen Son / vnd leßt jn Johannes // heissen / 13
welches Zacharias schrifftlich bestetigt / fahet damit wider an zu reden / 15 vnd
preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang.

4.6.4. Zusammenfassung (Johann Feyerabend 1583)

In der im Jahre 1583 erschienenen Ausgabe der Bibel in Luthers Überset-


zung sind ausdrucksseitig nur die jeweils ersten Summarien in den Evan-
gelien (Bsp. 36) von den anderen abgrenzbar (Bsp. 37). Auch in dieser
Bibeltradition sind die Summarien zwischen Kapitelüberschrift und Evan-
gelientext angeordnet, sie sind in einer kleineren Schriftgröße realisiert und
zum ersten Mal mit einer Verszählung kombiniert.
Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten.
Es treten isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze auf. Die
Kennzeichnung der Satzanfänge erfolgt über den Repräsentationstyp Vir-
824 Manja Vorbeck-Heyn

gel + Majuskel, Teilsätze innerhalb der Gesamtsätze und Satzgliedteile


werden über den Repräsentationstyp Virgel + Minuskel voneinander ab-
gegrenzt. In dieser Bibeltradition sind keine spezifischen Eingangsformeln
nachweisbar. Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich um freie
Formulierungen des Übersetzers Petrus Patiens.
Für die gesamte Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts werden
in den Summarien des Petrus Patiens die umfangreichsten inhaltlichen
Bezüge hergestellt, ohne dass der Übersetzer den Evangelientext kom-
mentiert (Bsp. 36f.). In allen Fällen folgen die Summarien der chronologi-
schen Abfolge des Kapitelinhalts. Die einzelnen inhaltlichen Hauptpunkte
sind mit der dem Evangelientext entsprechenden Verszählung verbunden.

5. Zusammenfassung
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Summarien nicht notwendige,
aber mögliche Textteile innerhalb der Textexemplare der Textsorte (Geof-
fenbarter) Bericht sind. Diese Textgliederungsstruktur tritt bereits in der
vorlutheranischen Bibeltradition auf, in der Reformationszeit zunächst in
katholischen und Zürcher Drucken und erst 1583 in einer korrigierten
Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung.
Die ausdrucksseitig nachweisbaren hervorhebenden Merkmale der
Summarien in der Handschriftentradition sind um die gewonnenen Er-
kenntnisse aus der Drucktradition zu erweitern: Neben einer Rubrumver-
wendung in den Handschriften für die Textteile der Summarien sind in
der Drucktradition kleinere Schriftgrößenwahl, die Platzierung zwischen
den Kapitelüberschriften und den Evangelienkapiteln und die mögliche,
aber nicht notwendige Verwendung eines eingliedrigen Nominalsatzes mit
dem Nukleus Summa. zu nennen.
Inhaltsseitig besteht die Funktion der Summarien in der Drucktradi-
tion des 15. und 16. Jahrhunderts darin, auf die Hauptpunkte der Evange-
lienkapitel hinzuweisen. Neben ihrer Funktion, den Evangelientext inhalt-
lich zu erschließen, kommt ihnen eine Orientierungsfunktion zu, sie die-
nen dem Bibelbenutzer als Lektürehilfe. Bei den Textteilen der
Summarien in den verschiedenen Drucktraditionen des 15. und 16. Jahr-
hunderts handelt es sich ausschließlich um eigene Formulierungen der
Übersetzer.
Syntaktische Strukturen in Summarien 825

Quellen

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Syntaktische Strukturen in Summarien 827

Abkürzungsverzeichnis
In = Initiale
Joh = Johannesevangelium
Lk = Lukasevangelium
Maj = Majuskel
Mk = Markusevangelium
Mt = Matthäusevangelium
Min = Minuskel
NoS = Nominalsatz
P(u) = Punkt unten
R = Rubrum
RS = Rubrumstrich
SchG = Schriftgröße
Spa = Spatium
SU = Summarium
SZ = Segmentierungszeichen
Ü = Überschrift
z = zeilig
ZU = Zeilenumbruch
/ = Virgel
// = Zeilenende
Zum Ausdruck der kausalen Relation in den
spätmittelalterlichen medizinischen Texten

Lenka Vaňková (Ostrava)

1. Einleitung
Ende der 90er-Jahre wies Anne Betten (1998) in ihrem Beitrag „Zur Text-
sortenspezifik der Syntax des Frühneuhochdeutschen“ darauf hin, dass die
Syntax der deutschen Fachprosa von der Forschung vernachlässigt wird
und dass – wahrscheinlich auch demzufolge – in den Lehrwerken und
Überblickswerken zum Frühneuhochdeutschen fast ausschließlich Belege
aus kanzleisprachigen Texten oder aus verschiedenen Gattungen der Er-
zählprosa präsentiert werden.
Im letzten Jahrzehnt ist diese Lücke in der Erforschung der frühneu-
hochdeutschen Syntax durch mehrere Analysen gefüllt worden, die zum
großen Teil medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen mittelalterlichen
sowie frühneuzeitlichen Texten gewidmet wurden. In diesem Zusammen-
hang ist z.B. an die Arbeiten von Irmtraud Rösler (1997), Mechthild Ha-
bermann (2001) oder Jörg Riecke (2004) zu erinnern.
Die Untersuchung der Satzstruktur bildet auch einen der Schwerpunk-
te in der Arbeit „Medizinische Fachprosa aus Mähren. Sprache – Struktur
– Edition“ (Vaňková 2004). Als Materialquelle dienten hier fachsprachli-
che Texte, die im 15. Jahrhundert aufgeschrieben worden sind und deren
Handschriften sich in Olmützer Archiven und Bibliotheken befinden. Aus
den Olmützer Texten wurde ein vielfältiges Korpus zusammengestellt, das
insgesamt 233 Folioseiten umfasst und in dem unterschiedliche Textsor-
ten wie Traktat, Rezeptar, Herbar vertreten sind.
830 Lenka Vaňková

2. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten


im Satzbau der mittelalterlichen medizinischen Texte
anhand des ‚Olmützer Quellenkorpus‘
Das ‚Olmützer Quellenkorpus‘ wurde schon unter verschiedenen Ge-
sichtspunkten analysiert.1 Bei der Untersuchung konzentrierte sich die
Aufmerksamkeit vor allem auf die Struktur der komplexen Sätze, wobei
der Umfang der Ganzsätze, die Kompositionstypen der Satzgefüge sowie
der Anteil an hypotaktischen Strukturen analysiert wurden. Der Schwer-
punkt lag auf der Betrachtung der Gestaltung von hypotaktischen Satzbe-
ziehungen: Dabei wurde vor allem die Variation beim Gebrauch von Mit-
teln, die zur Markierung der einzelnen syntaktisch-semantischen Rela-
tionen dienten, verfolgt.
Es hat sich gezeigt, dass die einzelnen medizinischen Texte im Rah-
men derselben Textsorte zahlreiche Gemeinsamkeiten im Satzbau aufwei-
sen. Dies war dadurch gegeben, dass sich in den einzelnen Textsorten
schon bestimmte Aufbaumuster durchgesetzt haben, die nicht nur auf der
Makrostruktur-, sondern auch auf der Mikrostrukturebene zu erkennen
sind.2 So war in Rezepten als formalisierten Anweisungen für die Herstel-
lung eines bestimmten Medikaments die syntaktische Struktur zum großen
Teil vorgegeben.3 Zu den charakteristischen Merkmalen der Rezepte ge-
hört eine niedrige Varianz der Nebensätze: Neben Konditionalsätzen, die
fast die Hälfte aller Nebensätze darstellen, treten in Rezepten in bedeu-
tenderem Maße noch Temporal- und Attributsätze auf. Der prozessuale
Charakter des Herstellungsverfahrens wird durch die häufige Verwendung
von parataktisch aneinandergereihten Sätzen verdeutlicht.
In Traktaten und Teiltexten der Kompendien (die auch als Kurztrak-
tate zu betrachten sind) dagegen stellte die Notwendigkeit der Darstellung
von Ursachen, Symptomen, Bedingungen der Heilwirkung und Konse-
quenzen der verabreichten Behandlung höhere Anforderungen an die
Autoren, die all diese komplizierten Beziehungen zum Ausdruck bringen
mussten. Dies geschah in Form von komplexeren Sätzen mit einem hohen
Anteil der Hypotaxe und mit verschiedenartigen semantischen Beziehun-
gen zwischen dem über- und untergeordneten Satz. Man kann in Trakta-
_____________
1 Zu den einzelnen Gesichtspunkten vgl. Vaňková (2001a, 2001b, 2001c; 2003; 2004a,
2004b, 2004c).
2 Zur Problematik der Makrostruktur der einzelnen medizinischen Textsorten vgl. Vaňková
(2001a; 2004c, 131-161), wo auch Verweise auf weiterführende Literatur zu finden sind.
3 In der Makrostruktur der Rezepte werden meistens drei Bauelemente unterschieden:
Indikation, Rezeptur (Herstellung) und Applikation, vgl. Keil (1961). Zu dieser Problema-
tik vgl. auch Vaňková (2004c, 144), Vaňková / Keil (2005, 34ff.).
Zum Ausdruck der kausalen Relation 831

ten komplizierte Satzgefüge finden, die nicht selten aus sieben oder acht
Sätzen bestehen (1):
(1) Vnd ist, das das eisen kain schafft nicht hat, so scholt du fragen den, der ge-
schossen ist, wie er gestanden sey, da man in schos, vnd wa er den smerczen
des eysen enpfinden vnd wa er sei oben oder vnden oder derneben, ab du des
selber nicht envust. (OW 178v)
Die Unterschiede im syntaktischen Bau zwischen den einzelnen Textsor-
ten sind auf die unterschiedlichen Funktionen der jeweiligen Textsorte
zurückzuführen. Es wurden aber auch im Rahmen derselben Textsorte
(Traktat) größere Unterschiede festgestellt, die durch die Wirkung mehre-
rer Faktoren verursacht wurden. Unter diesen spielten die Persönlichkeit
des Autors, seine Kenntnisse, seine Motivation, seine stilistische Begabung
und das Bestreben, den Text stilistisch abzusondern, eine wichtige Rolle.
Nicht zu vergessen ist der angestrebte Rezipientenkreis: Das Bemühen,
das Wissen auf für die Adressaten verständliche Art und Weise zu vermit-
teln, war einer der Faktoren, die sich auf die syntaktische Textstruktur
ausgewirkt haben. Auch die territoriale Zugehörigkeit des Textes, bzw.
seiner Vorlage, gehörte zu den Faktoren, die u.a. die Wahl und Distributi-
on von Einleitungsmitteln der einzelnen Nebensätze beeinflusst haben
dürften.

3. Die Variation in der Wiedergabe der Kausalität


Trotz aller Unterschiede weisen aber medizinische Texte im Bereich der
Satzstruktur viele Gemeinsamkeiten auf. Im Rahmen der nachfolgenden
Ausführungen soll ein Aspekt herausgegriffen werden, der gerade für
mittelalterliche medizinische Texte, die größtenteils für den ‚gemeinen
Mann‘, d.h. für in der Praxis wirkende Laien, geschrieben wurden, typisch
ist. In all diesen volkssprachlichen Texten spielt die Beziehung Symptome
– Therapie eine zentrale Rolle. Diese sachliche Relation bringt mehrere
zusammenhängende kognitive Relationen mit sich: Ursache – Wirkung
sowie zeitliches Vorher – Nachher. Dabei geht die Relation Ursache –
Wirkung meistens nicht von tatsächlichen, realen Ursachen aus, sondern
von möglichen (bzw. von der Iterativität möglicher Ursachen, d.h. „immer
wenn …“). Da die Kausalität4 beim Formulieren des medizinischen Wis-
sens eine bedeutende Stellung einnimmt, wird im Folgenden der Frage
nachgegangen, wie wirkliche, reale Ursachen sowie mögliche oder gedach-

_____________
4 Zu dieser Problematik vgl. Duden (2005, 1096ff.).
832 Lenka Vaňková

te Gründe im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ zum Ausdruck gebracht


werden.

3.1. Causa

Die Causa, d.h. die Bezeichnung der Ursachen der jeweiligen Krankheit,
stellt in Traktaten eines der obligatorischen Elemente der Makrostruktur
dar. Sie wird meistens mithilfe einer Präpositionalphrase formuliert, in der
die Präposition von in Verbindung mit den Verben sein, werden, kommen,
geschehen, die fast synonym gebraucht werden, auftaucht. Die Ursache der
Krankheit wurde in Übereinstimmung mit der damals vorherrschenden
Viersäftelehre5 oft in einem gestörten Verhältnis der vier Körpersäfte des
Menschen gesehen. Es werden also als Verursacher der Krankheit Blut,
Cholera, Flegma usw. genannt (2, 3). Daneben findet man – besonders bei
der Darstellung von Ursachen einer Verletzung – nach der Präposition von
oft substantivierte Infinitive (4, 5). Wesentlich seltener erscheinen nach von
Verbalabstrakta (6). Manchmal tritt die Präposition von zusammen mit
wegen auf (7):
(2) Item etwan werden platern am haubt von uil haizzer feicht des leibs oder
von dem grunenten flegma. (OK11v)
(3) Item chumpt dz hauptwee von der colera, dj da rott ist…(OK 54r)
(4) Damma haist ain vnsynnikait, chumpt von põsem essen vnd vbrigem
trinckhen starcks weins oder von haisser kost… (OK 64 r)
(5) Furcula ist das pain, das oben an di achssel stost, vnd prycht offt von schwer
tragen vnd offt von vallen vnd offt von einen starken slag ... (OW 184v)
(6) Ist der wetag in der mitt des haubcz, so ist es von der aufriechung des ma-
gen von den tãmpffen. (OK 54v)
(7) Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz
wegen… (OK 62r)
Nur selten wird die Ursache in Form eines Nebensatzes ausformuliert: Es
geht in diesen Fällen um eine mögliche Ursache, die entweder in Form
eines Bedingungssatzes (8) oder (auch wenn es sich in der Tiefenstruktur
um eine konditionale Beziehung handelt) als ein mit das eingeleiteter In-
_____________
5 Die Viersäftelehre geht davon aus, dass den Körpersäften des Menschen (Blut,
Schleim / Rotz, Gelbe und Schwarze Galle) die alles konstituierenden vier Elemente (Feu-
er, Wasser, Luft und Erde) mit ihren Primärqualitäten (heiß, feucht, kalt und trocken) ent-
sprechen. Für die Gesundheit des Menschen ist die Ausgewogenheit der Säfte notwendig.
Zum Ausdruck der kausalen Relation 833

haltssatz (9, 10) vorliegt. Im übergeordneten Satz steht in letzterem Fall


manchmal als Korrelat davon (11):
(8) Es geschicht auch oft, so dj rot vnd swarcz colera aufriechen in dz haubt.
(OK 69r)
(9) Item des magen siechtag ist manigerlaj, doch ist es gwonlich von põsen ma-
terj vnd vndãigen, vnd dz er manigerlai vnflat muß nemen, ... (OK 111v)
(10) Fastidium ist ain sucht, dz der mensch nit lust hat zu essen. Chumpt et-
wan von übriger feuchtikait des magen vnd aller glider als nach ainer
sucht; oder das der mensch dj dürr hat; oder etwan von übrigem essen vnd
trinckhen Etwan von übriger chelten, vnd von übriger hicz chumpt es.
(OK 109v)
(11) Item das tãglich fieber chumpt do uon, dz das haubt do von siech wirt, so
sich der mensch über isst vnd nit deüen mag. (OK146r)
Die Beispiele (6 / 8, 4 / 11) zeigen, dass derselbe Inhalt (dieselbe Ursache)
ein Mal in Form einer Nominalphrase, ein anderes Mal in Form eines
Nebensatzes ausgedrückt wurde. Dabei ist klar, dass bei der Bezeichnung
der Ursache durch eine Präpositionalphrase bestimmte Angaben fehlen.
So wird z.B. die Person nicht genannt (so sich der mesch überisst x von übrigem
essen), es wird auch der Modus nicht bezeichnet (vnd nicht deuen mag). Die
nominalen Phrasen stellen somit eine Art der Verallgemeinerung dar, die
bei der Kommunikation unter Fachleuten, für die eine explizite Nennung
aller Umstände nicht notwendig war, jedoch kein Hindernis bedeutete.6

3.2. Symptome / Indikation

Eine ähnliche Situation findet man bei der Bezeichnung der Symptome
einer Krankheit. Diese werden oft ganz allgemein formuliert, und zwar
mithilfe einer Präpositionalkonstruktion, in der die Präpositionen zu (czu)
(12), für (fur, vor) (13, 14), wider (wedir, veder) (15), auf (of) sowie das
lateinische contra oder ad vorkommen. Solche Formulierungen sind auch in
den Überschriften anzutreffen (z.B. Contra dolorem dencium, Ad memoriam,
Czu brochen), wo sie eine erste Auskunft über den Indikationsbereich
geben. Dabei wird nur selten vorausgesetzt, dass dem Rezipienten die
einzelnen Bedingungen, unter denen das Medikament oder das Heilver-
_____________
6 Von den Linguisten werden die satzwertigen Präpositionalfügungen meist als Ausdruck der
Neigung zur abstrakten Ausdrucksweise gewertet. Nach Möslein (1974, 181) steht der
Nebensatz der konkreten Widerspiegelung von Geschehen und Zuständen näher als die
nominale Gruppe.
834 Lenka Vaňková

fahren anzuwenden ist, bekannt sind: Deshalb werden die Symptome im


anschließenden Text näher spezifiziert (16, 17):
(12) Das selbige ol ist gut czu den druzen ... (OlB131r)
(13) Vnd is galganum vnd yngber vnd polay, gamandir vnd is ravten somen vnd
saluay somen, petersilge vurcze fur dy gift … ( OCh 200r)
(14) Sye ist gut genoczet vor dy gift: der geroch von ebereisen vortribet dy slan-
gen.(OKr 209r)
(15) Vermute ist gut veder das nicken … (OKr 210r)
(16) Of geschos Item wiltu geschos aus czyn, das do stiket yn dem fleizze ader
anders wo, zo … (OlB 132r)
(17) Ad nebulam oculorum: Wiltu machen eyne salbe weder das mol zu den au-
gen weder das nicken vnd weder das mol zu den augen vnd weder das winste-
rins der augen, nym das saf… (OlB 133r)
Noch häufiger werden für die Bezeichnung der Bedingungen, unter wel-
chen ein Medikament zu indizieren ist oder unter denen das empfohlene
Verfahren zu realisieren ist, Konditionalsätze verwendet. Der häufigste
Strukturtyp des Konditionalsatzes im untersuchten Korpus in dieser
Funktion ist ein uneingeleiteter Nebensatz mit der Spitzenstellung des
finiten Verbs. Dieser für das Rezept charakteristische Typ kommt in allen
Texten vor. Der Konditionalsatz steht in der Regel vor dem Hauptsatz,
der vorwiegend durch das Korrelat so eingeleitet wird (18). Etwa in einem
Viertel der Belege dieses Strukturtyps steht jedoch der Hauptsatz ohne
Korrelat (19).
(18) Ist dy vonde an der hole des leybes, zo nym eyn weycz leynen tuch ...
(OCh 192r)
(19) Viltu eyn beyn aus zien, nym dyptame,… (OCh 195r)
Den zweithäufigsten Typ des Nebensatzes zum Ausdruck der möglichen
Bedingungen stellen im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ mit Relativpro-
nomen (wer bzw. was oder welcher + Personenbezeichnung) eingeleitete
Nebensätze dar, die als semantisch äquivalent zu Konditionalsätzen anzu-
sehen sind (20).7 Dieser Typ von Nebensätzen mit dem verallgemeinern-

_____________
7 Zum Relativsatz in der Funktion und Bedeutung eines Konditionalsatzes vgl.
Paul / Schröbler / Wiehl / Grosse (1998, 418); Haage (1982, 368). Zu den einzelnen Ty-
pen dieser Sätze vgl. Vaňková (2004c, 210ff.).
Zum Ausdruck der kausalen Relation 835

den Relativum swer bzw. swaz ist häufig im Mhd. vorhanden und ent-
spricht den im Lat. mit si bzw. nisi eingeleiteten Sätzen.8
Als Bestätigung der funktionalen Nähe dieser Relativsätze zu den
Konditionalsätzen ist die Verwendung des Korrelats so im Hauptsatz zu
betrachten (21). Als anderer Beweis kann das Anfügen eines konjunk-
tionalen (bzw. uneingeleiteten) konditionalen Nebensatzes an den Relativ-
satz dienen, wobei sich beide NS auf denselben HS beziehen (22).
(20) Welich man an freude ist an seinem dinge, vor das seynt gut fencheln worcze-
len mit veyne (OKr 216v)
(21) Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz
wegen, so recipe grana iuniperi, tere bene in mortario, postea fiat ad sac-
culum. (OK 62r)
(22) Ver vorerret ist an dem sloffe, ruchet her sye dikke, her wirt sloffende.
(OKr 210r)
Das Spektrum der Signale der Konditionalsätze, durch die Krankheits-
symptome bezeichnet werden, ist in den untersuchten medizinischen Tex-
ten sehr breit und variiert von Text zu Text. Am häufigsten sind ob, so,
wen / wan und die sog. ist-Syntagmen zu verzeichnen (23, 24). Bei der
Wahl der einzelnen Verknüpfungsmittel wirkten sich mehrere Faktoren
aus, unter denen die territoriale Zugehörigkeit des Textes sowie sein stilis-
tisches Niveau nicht zu unterschätzen sind.
(23) Ob ain mensch siech oder amãchtig wãr an dem herczen: Recipe ain han…
(OK 99r)
(24) So du nit lust hast zu essen, so schab dein zung, vnd was du ab schabst, dz
streich auf ain prot. (OK 109v)

3.3. Therapie: Bedingungen der Heilwirkung

Konditionalsätze werden weiter für die Darstellung von Bedingungen,


deren Erfüllung für die erfolgreiche Heilwirkung notwendig war, verwen-
det. Die konditionale Beziehung wird dabei auf verschiedene Art und
Weise signalisiert (25-29).9 Bei der Aufzählung von verschiedenen mögli-

_____________
8 Putzer (1979, 207) belegt die Konditionalsätze in Form eines Relativsatzes in dem von ihm
untersuchten Text ‚Erkenntnis der Sünde‘. Sie sind auch in spätmittelalterlichen Rezepten
nachgewiesen (vgl. Ehlert 1990, 264; Mildenberger 1997, 2272f.).
9 Im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ wurden insgesamt 13 Möglichkeiten der Realisierung
der konditionalen Relation verzeichnet, vgl. Vaňková (2004c, 208).
836 Lenka Vaňková

chen Bedingungen treten oft uneingeleitete Konditionalsätze auf, wobei


auch die Nachstellung des konjunktionslosen Bedingungssatzes zu bele-
gen ist (30, 31).10 Viel häufiger als in den anderen Textteilen sind die sog.
ist-Syntagmen zu verzeichnen (32-35), die als typisches Mittel von „höhe-
ren“ Textsorten betrachtet werden. Diese Konstruktionen kommen vor
allem aus dem juristischen Bereich, wo sie zur Präzisierung der Aussage
dienen (vgl. Masařík 1985, 211). Die Belege aus dem medizinischen Be-
reich beweisen, dass sie auch außerhalb des Kanzleibereiches verwendet
wurden und dass sie als Indikatoren für das stilistische Niveau der Texte
angesehen werden können:
(25) Aber wenne man di wunden gar wol vnd uast czusamen pindet, das hilft
wol. (OW 147v)
(26) Liligen worczel gesoten mit smer ader mit bavm ol macht das har vachsende
an der vorbranten stat, ab man is do mete bestreychet. (OKr 217v)
(27) …vnd wo es nit her auß zogen oder ledig worden ist, so strich dj salben
wider auf das tuech an dem selben end, do…(OK 19v)
(28) Dy totlich wunden sein, als das hertcz verwunt wirt vnd der magen vnd di
plater vnd di leber vnd ander vngereusch in dem menschen, vnd wer in das
haupt wund wirt, das im das hirn aus get. (OW 144v)
(29) Alles vnrains vnd fauls plut in der wunden let di wunden nicht hailen, den-
ne es kvm vor aus der wunden. (OW 147r)
(30) Dy vegebreyt vorstellet das blut yn den vonden, virt sy gestussen vnd do auf
gelet. (OKr 112r)
(31) An dem andern tag, hat er kraft, so mach im ain wasser pad, tag vnd
nacht, do costen inn gesoten ist. (OK 129v)
(32) Dar vmb so sol man den auß lauff in 3 oder 4 tagen nit verstellen, er sy
dann vnmãssig groß. (OK 140r)
(33) Ist er aber starck vnd plũtrich sunderlich, wolt dz plũt nit verstan, es wãr
dann ain frau, der ir zeit verstanden wãr, dj sol an den fũessen inwendig
lassen. (OK 87r)

_____________
10 Rösler (1998, 157) weist darauf hin, dass die veränderte Reihenfolge von Bedingung und
Folge bewirkt, dass die Angabe der Bedingung an kommunikativem Gewicht verliert und
eher den Charakter einer Nebenbemerkung hat. Denselben Eindruck – fast einer parenthe-
tischen Ergänzung – erweckt die Einschaltung des uneingeleiteten Konditionalsatzes in
den übergeordneten Satz, die im ‚Olmützer Kompendium‘ und im ‚Kräuterbuch’ zu ver-
zeichnen ist (vgl. Bsp. 31).
Zum Ausdruck der kausalen Relation 837

(34) Ist dan sach dz das pluet her aus get oder aitter, den selben magstu wol hai-
len. Ist dz nichcz her aus get vnd stet also drochen, still vnd faul, so wiß, dz
gar chumerlich zu haillen is, es sy dann mit grosser arbait. (OK 17v)
(35) Wãr aber sach das dz plutspeiben her oben abchãm von dem haubt, so leg
dz pflaster auf dj schlaff ader, ... (OK 87r)
Reale, tatsächliche Gründe werden in den medizinischen Texten viel sel-
tener als potentielle Ursachen genannt. Sie erscheinen oft, wenn auf die
Faktoren hingewiesen wird, die die erfolgreiche Therapie gefährden könn-
ten. Reale Ursachen werden in Form eines mit wann / wenn eingeleiteten
Satzes formuliert. In den untersuchten Texten zeigt sich eine deutliche
regionale / dialektale Distribution der Formen wenne / wen / ven und wan-
ne / wan. Die Form mit -e ist in den Texten belegt, welche eine omd. Prä-
gung aufweisen; wann dominiert dagegen in Texten, die den Einfluss des
obd. Sprachraums nicht verleugnen können.
In den untersuchten Texten überwiegt in den mit wann / wenn eingelei-
teten Sätzen noch die Drittstellung des finiten Verbs, was als Hinweis
darauf aufgefasst werden könnte, dass es um Sätze von kausaler Bedeu-
tung geht, die zu dem Satz, dessen Inhalt sie begründen, in einem paratak-
tischen Verhältnis stehen (36).11 (Wann / wenn würde also dem nhd. denn
entsprechen).12 Parallel zu den Sätzen mit der Drittstellung des finiten
Verbs finden sich aber im untersuchten Korpus auch Kausalsätze mit
wann / wenn, die die Endstellung des finiten Verbs aufweisen (37, 38). Es
sind auch solche Satzstrukturen zu belegen, in denen wann / wenn parallel
sub- und koordinierend auftritt (39). Diese Fälle zeugen davon, dass sich
auch im Bereich des kausalen Verhältnisses die hypotaktische Struktur –
wahrscheinlich auch unter dem Einfluss der allgemein zunehmenden Hy-
potaxe – stärker durchzusetzen begann.
(36) …dy schal eppe vormiden, wan an das kindes libe werden vnreyne bloteren,
vele vnd sweren. (OKr 214r)
(37) Is schadet auch den frawen,[…] wen sy do won dy kinder czu wnczeyt gewy-
nen. (OKr 215v)
(38) Doch tribs nit zu lang, wann sõlichs pãen geren swach macht. (OK 140r)

_____________
11 Das kausale wann / wenn (mhd. wan(e) / wand / want) hatte im Deutschen ursprünglich
beiordnende Funktion. Im Mhd. kann es sowohl sub- als auch koordinierend gebraucht
werden, vgl. Arndt (1959).
12 Nach Arndt (1959, 415) beginnt der Prozess des ‚Absterbens‘ des begründenden ‚wann‘ in
der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In der Zeitspanne zwischen 1400 und 1550 geht
kausales wann / wenn unter und wird im Laufe des 15. Jahrhunderts im Kausalbereich durch
dann / denn und weil verdrängt.
838 Lenka Vaňková

(39) Sy ist czweyerley: dy grosse, wen zy gruze worczeln hot; dy mynner, wen sy
subirt den frawen, dy do kinder haben. (OKr 226r)
Kausale Nebensätze mit einer anderen Einleitung als wann / wenn sind nur
selten belegt. Als ihre Einleitung erscheint die Konjunktion darum das (40).
(40) …seyn begiren czv frawen ist klain, vnd mag auch nicht vil, darvm das er
truken vnd feucht ist. (OW 143v)
Das Fehlen anderer Mittel zum Ausdruck der kausalen Relation wie
dann / denn und dieweil / weil, die jedoch vor dem 15. Jahrhundert kaum
kausal vorkommen, zeugt davon, dass die Entstehungszeit der vorliegen-
den Texte am Anfang des Frnhd. zu suchen ist.

4. Fazit
Die Kausalität spielt in mittelalterlichen medizinischen Texten eine be-
sondere Rolle: Es mussten die Ursachen für eine Krankheit genannt wer-
den, es mussten alle Umstände beschrieben werden, unter welchen das
jeweilige Medikament zu verabreichen war, es mussten Warnungen vor
negativen Einflüssen formuliert werden, die die Genesung beeinträchtigen
könnten. Dabei ging es nicht nur um die Bezeichnung der unmittelbaren
Gründe, sondern um die Darstellung aller möglichen, potenziellen Ursa-
chen. Der vorliegende Beitrag zielte darauf ab, anhand des ‚Olmützer
medizinischen Korpus‘ die syntaktischen Möglichkeiten des Frühneu-
hochdeutschen zur Bezeichnung der kausalen Relation darzustellen, wobei
keine statistische Auswertung der tatsächlichen Nutzung angestrebt wur-
de. Es hat sich gezeigt, dass neben Nebensätzen auch bestimmte Präpo-
sitionalphrasen zum Ausdruck der Ursache-Wirkung-Relation dienten.
Ihre Verwendung beschränkte sich jedoch nur auf bestimmte Bereiche,
wie Formulierung der Ursachen der Krankheit und Beschreibung der
Symptome, bzw. Bedingungen für die Indikation eines Medikaments.
In diesen Fällen setzte man voraus, dass den Fachleuten (bzw. den
fachkundigen Laien) die gegebenen Zusammenhänge bekannt waren und
dass nicht alle Bezüge explizit genannt werden mussten. Die Präpositio-
nalphrasen stellen somit eine Art Verallgemeinerung dar, die auf früherem
Wissen basierte.
Bei der Formulierung der Heilbedingungen verwendeten die Autoren
der medizinischen Texte ausschließlich Nebensätze. Der Gebrauch von
Nebensätzen ermöglichte es nämlich, den prozessualen Charakter der
Behandlung zu vermitteln und erlaubte es auch zusätzliche, für die Hei-
lung wichtige Informationen beizufügen.
Zum Ausdruck der kausalen Relation 839

Quellen

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archivs, Olmütz, 192r-197r.
OK = „Olmützer medizinisches Kompendium“, in: Olmützer Arzneibuch, MI 204,
Wissenschaftliche Staatsbibliothek, Olmütz.
OKr = „Olmützer Kräuterbuch“, in: Kodex CO 352, Zweigstelle des Troppauer
Landesarchivs, Olmütz, 208r-226v.
OlB = „Olmützer Öl-, Salben-, Pulver- und Pflasterbuch“, in: Kodex CO 352, Zweig-
stelle des Troppauer Landesarchivs, Olmütz, 131r-133v.
OW = „Olmützer Wundarznei“, in: Kodex CO 352, Zweigstelle des Troppauer Lan-
desarchivs, Olmütz, 143r-191v.

Literatur

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Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch (2005), 7., völlig neu bearb. u.
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Ehlert, Trude (1990), „‚Nemet ein junges Hun, ertränktes mit Essig‘. Zur Syntax
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terdisziplinären Symposions vom 10.-13. Juni 1987 an der Justus-Liebig-Universität Gießen,
Sigmaringen, 261-276.
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buch des Erhart Hesel“, in: Gundolf Keil (Hrsg.), Fachprosa-Studien. Beiträge zur
mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, Berlin, 363-370.
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840 Lenka Vaňková

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Vaňková, Lenka / Keil, Gundolf (2005), Mesuë und sein ‚Grabadin‘. Ein Standardwerk der
mittelalterlichen Pharmazie. Edition – Übersetzung – Kommentar, Ostrava.
Instruktion Kaiser Maximilians I.
vom 7. August 1515 an die Krainer Landstände
und ainer ersamen landschaft undertanige
antwort
Eine vergleichende syntaktische Untersuchung

Marija Javor Briški (Ljubljana)

1. Einleitung
Das Textcorpus der vorliegenden Untersuchung bilden zwei Landtagsak-
ten, die im Staatsarchiv von Slowenien1 aufbewahrt werden. Es handelt
sich zum einen um die vom 7. August 1515 in Wien datierte Instruktion
Kaiser Maximilians des I. an den Freisinger Bischof Philipp und andere
kaiserliche Kommissare der Krainer Landstände und zum anderen um
deren Antwortschreiben, das am 24. August 1515 auf dem in Ljubljana
gehaltenen Landtag dem Kaiser übermittelt wurde.
Die Landstände für Krain rekrutierten sich zunächst aus dem Land-
adel, Mitte des 15. Jahrhunderts fanden noch die Prälaten Aufnahme und
Ende des 15. / Anfang des 16. Jahrhunderts schließlich noch die landes-
fürstlichen Städte. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts wurden die Landstän-
de vom Landesfürsten auf den sog. Landtagen einberufen, wo sie ihr Mit-
spracherecht bei der Festlegung von Landessteuern geltend machen
konnten. Die Vertreter des Landesfürsten überbrachten den Landständen
seine Steuerforderungen. Sie mussten sie zwar mehr oder weniger bewilli-
gen, konnten aber für ihre Zustimmung auch eigene Forderungen heraus-
handeln.2 Das ist auch den besagten Quellen zu entnehmen.
In der vorliegenden Instruktion Kaiser Maximilians geht es vor allem
um die Niederschlagung des sog. slowenischen Bauernaufstandes (Windi-

_____________
1 Signatur: AS, Stan. I, 315 (fasc. 211), rote Registratur 67, 68 und 69.
2 Zum historischen Abriss der Stände vgl. Kološa (1999, 314f.).
842 Marija Javor Briški

scher Bauernbund)3 von 1515, der insbesondere durch die schlechte wirt-
schaftliche Lage, die steigenden Robotleistungen und Abgaben der Bauern
an ihre Grundherren ausgelöst wurde, und die Bestrafung aller, die an der
Rebellion beteiligt waren. Es wurden Geldstrafen verhängt, die Rädelsfüh-
rer des Aufstandes sollten aber unverzüglich hingerichtet werden. Ein
nicht geringeres Anliegen des Kaisers war die Bewilligung außerordentli-
cher Steuern. Das veranschlagte straff und hilfgelt wollte er, wie in der In-
struktion formuliert wird, zu unserm und unser land und leut gemainen nutz
gebrauchen. Darunter verstand er die Unterdrückung ‚bäuerlichen Unge-
horsams‘, die Sicherung der Grenzen gegen die Venetianer, die Eroberung
Friauls und die Verteidigung gegen die Türken. Im Bewusstsein der Ge-
fahr, welche Konsequenzen seine Abwesenheit im Land nach sich ziehen
könnte, wenn den Anliegen der Bauern und den Beschwerden des Adels
gegen ihre Untertanen kein Gehör geschenkt wird – zumal er sich für sein
spätes Eingreifen im Bauernaufstand entschuldigt hatte –, ermächtigte er
den Kardinal von Gurk an seiner Statt unverzüglich Abhilfe zu schaffen.
Im Antwortschreiben bewilligen die Landstände nach anfänglichen
Höflichkeitsbekundungen zwar im Großen und Ganzen die kaiserlichen
Forderungen und Direktiven, sie danken ihm für seine Hilfeleistungen,
erwarten aber auch gewisse Zugeständnisse des Kaisers. Sie befürworten
einspruchslos die Hinrichtung der Anführer des Aufstandes, bei den
Geldforderungen wollen sie jedoch die Höhe der Beträge und ihre Bedin-
gungen aushandeln. So sollen beispielsweise die Truppen, falls es bei der
Eintreibung der Gelder zu Widerständen kommen sollte, von einem Teil
der Einnahmen besoldet werden. Schließlich bringen auch die Landstände
ihre Bitten vor: Sie fordern eine harte Bestrafung der aufrührerischen
Bauern, die durch Plünderung und Verwüstung von Schlössern, Ermor-
dung von Adligen und andere schwere Delikte große Schuld auf sich gela-
den haben, die Entschädigung eines gewissen Juryschitsch, dem ihm von
einem Adligen anvertraute Schätze geraubt wurden, die Beschlagnahmung
aller Waffen in den Händen von Bauern und die Instandsetzung der
Fluchtburgen, wo die bäuerliche Bevölkerung bei den Türkeneinfällen
Schutz und Zuflucht suchte. Soviel zur inhaltlichen Information über die
Texte.
Zur Sprache der kaiserlichen Kanzlei gibt es schon einige Studien,4 die
sich vor allem mit der Graphematik befassen. Die folgende Untersuchung
soll dagegen einige syntaktische Aspekte beleuchten. Sie fokussiert auf die
Typen der Nebensätze, die nach semantischem, formalem und satzfunk-
tionalem Aspekt betrachtet werden, die satzäquivalenten Infinitivkon-
_____________
3 Vgl. Štih / Simoniti / Vodopivec (2008, 133).
4 Wie z.B. Moser (1977) und Tennant (1985).
Instruktion Kaiser Maximilians I. 843

struktionen, die Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen, die Arten der


Ellipsen und die Inkongruenz des Numerus zwischen Subjekt und Prädi-
katsverb. Bei der Analyse werden die beiden Quellen gesondert ins Visier
genommen und die Ergebnisse abschließend verglichen, um festzustellen,
welche Parallelen oder Unterschiede auf syntaktischer Ebene in den
Schreibsprachen der beiden Landtagsakten bestehen.
Für die vorliegende Analyse wurden nicht die originalen Quellen he-
rangezogen, sondern die von Marija Verbič 5 veröffentlichten Texte. Die
Publikation spiegelt nicht die graphematischen Eigentümlichkeiten der
Texte wider, weil die Schreibung ‚normalisiert‘ wurde. Dies ist aber bei der
Untersuchung der Syntax irrelevant. Die syntaktische Gliederung wurde
im Großen und Ganzen durch Setzung von Kommata, Semikola und
Punkten schon in der Druckversion der Quellen vorgenommen. Die He-
rausgeberin hielt sich dabei im Wesentlichen an die Vorlage. 6 Nicht immer
entspricht die Interpunktion unserem heutigen Verständnis. So kann bei-
spielsweise der Punkt als rhetorisches Interpunktionszeichen fungieren
und muss nicht unbedingt als satzabschließendes Zeichen gedeutet wer-
den, 7 wie folgendes Beispiel zeigt:
(1) Dieweil uns dann zu der hilf und beystand [NS1a], so wir von babstlicher
heiligkait, auch dem kunig zu Arrogon und andern unsern pundtsverwond-
ten wider den kunig von Franngkreich und die Venediger vorhanden haben
[eNS2a], nott und gepuren wirdet [NS1a/R], mit ainer merklichen anzal
kriegsfolk zu veld zuziehen [NS2b/Inf.] , damit der kunig von Frannkh-
reich [NS3a/Inf.] der nu gericht und berait ist [eNS4a], den Venedigern
zu hilf und beystand wider uns und unser erblandt Maylanndt einzunemen
[eNS5a/Inf.], zudringen [NS3a/Inf./R], von den Venedigern abzusteen
[NS4b/Inf.]. [!] Dardurch wir doch ainst zu ainem endt mit Frannczosen
und Venedigern komen mechten [HSI], das uns aber on unser land und
leut hilf und zutun kains wegs muglich ist [NS1b], deshalben wir auch un-
ser landt durch ire ausschuss nechst durch bemelten unsern freundt den car-
dinal umb hilf auf maynung [HSII] wie sy wissen [eNS1c], ernstlich er-
suecht [HSII/R], aber dessmals nicht erlangen mugen [HSIII]. 8 (S. 152)

_____________
5 Verbič (1980, 151ff. u. 156ff).
6 Vgl. ebd., XIX.
7 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 29).
8 NS bedeutet Nebensatz, die nachfolgenden arabischen Ziffern kennzeichnen den Grad der
Abhängigkeit, die Kleinbuchstaben die Nummerierung der Nebensätze gleichen Grades
und das e markiert einen eingebetteten Nebensatz. Das R weist auf die Weiterführung eines
unterbrochenen Satzes hin. Inf. ist die Abkürzung für Infinitivkonstruktion und HS für
Hauptsatz. Die römischen Ziffern kennzeichnen die verschiedenen Hauptsätze in einer
Satzperiode.
844 Marija Javor Briški

Der zitierte Text bildet eine Satzperiode, wobei die vor dem Punkt ste-
henden ‚Elementarsätze‘9 Nebensätze bzw. satzwertige Infinitivkonstruk-
tionen verschiedenen Grades darstellen, in die zum Teil abhängige Ne-
bensätze eingebettet sind, der erste Hauptsatz steht dagegen erst nach
dem Punkt. Die Satzzeichen wurden also in der Analyse, wenn notwendig,
revidiert.

2. Typen der Nebensätze


2.1. Instruktion Kaiser Maximilians
2.1.1. Einteilung nach semantischem Aspekt

Unter semantischem Gesichtspunkt betrachtet, findet man in der kaiserli-


chen Instruktion 35 Relativsätze, zehn Komparativsätze, sieben Kausal-
sätze, sechs Konditionalsätze, fünf Temporalsätze, drei Konzessivsätze,
drei Finalsätze, zwei Lokalsätze und einen indirekten Fragesatz. Die
satzwertigen Infinitivkonstruktionen wurden bei dieser Auflistung nicht
berücksichtigt. Eine Sonderstellung nehmen die sog. mit das eingeleiteten
Inhaltssätze ein, die sehr häufig vorkommen (16 NS + 12 HS = 28), bei
nahezu der Hälfte handelt es sich um selbstständige Sätze, die einen Be-
fehl zum Ausdruck bringen,10 wie folgendes Beispiel demonstriert:
(2) Das uns ain jeder landtman ... von seinen angesessen holden, ... von ainer
jeden hueben drey gulden reinisch und von ainem zuepaw 1 gulden reinisch
zu straff der pawrn raichen und volgen lassen, ... , das solh bezallung be-
scheh in zwayen jaren, nämlich jedlichs jars ain halben tail und darinnen
ausgeslossen die verprendten hueben. (S. 152)

2.1.2. Einteilung nach formalem Aspekt

Nicht eingeleitete Sätze treten nur selten auf, als Beispiel sei genannt:
(3) ... solcher fürsorg ..., √11 die sachen weren p[o]sser und ungestiemmer, auch
villeicht unsern landtleuten zuswer worden. (S. 152)

_____________
9 Zum Begriff vgl. Admoni (1990, 4f.).
10 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 419f.).
11 Das Zeichen √ markiert eine Auslassung.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 845

Einleitungselemente von Relativsätzen sind die Relativpartikel so (19), als


(1), damit (1), daselbs (1), die Pronomina der (1), die (3), deren (1), welhe (1)
und das Relativum was (1):
(4) Die beswerlich empörung, so sich verschiner zeit von den undertanen und
pawrsleuten in unsern furstentumben Steyr, Kärnndten und Crain erwegkt
und begeben hat, ... (S. 151)
(5) wie wir, als uns anlangt, von etlichen verdacht und beschuldigt worden, ...
(S. 151)
(6) ... und wir dann nach guetem gligklichen besluss, so wir mit unsern lieben
bruedern den kunigen von Hungern und Polhaim hie getan, damit auch uns
unsern kynden, landen und leuten vil frucht, eer und guets geschaft haben, ...
(S. 152)
(7) ... zueroberung Friaull, daselbs wir als dann von allen nutzen und einko-
men des lands Fryaull ain ordinanz wider die Turkhen auch Venediger und
die pawrschaften aufrichten wellen, ... (S. 153)
(8) Item, das all burger in stetten oder merkten, die sich willigklich in pundt er-
geben haben, ... (S. 153)
(9) Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst
wern, die hetten ... (S. 151)
Komparativsätze werden eingeleitet durch wie (7), als (2) und souil als (1):
(10) ... und wir mit der tat bis auf die zeit, wie unser landtleut wissen, nit darge-
gen fuergenomen haben, ... (S. 152)
(11) ... wie wir ... von etlichen verdacht und beschuldigt worden, als sollten wir
solher empörung, ungehorsam und beswärlichen furnemen der pawrn willen
getragen, und gern zuegesehen haben. (S. 151)
(12) Item das uns die stet und burger ... zu guetwilliger stewr und hilf raichen
souil als inen zu ainem vierden tail vom 10.000 gulden reinisch ... gepürt ...
(S. 153)
Einleitende Elemente von Kausalsätzen sind dieweil (3) und dann (1):
(13) Dieweil nu der pawrschaft empörung und gewaltige fuernemen von gnaden
gots gestillt, ... (S. 152)
(14) Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst
wern, die hetten solhs mit der unwarhait aus ungegrundten won und besten
ungetrewm willen getan, dann wir von gnaden gots der vernunft, tugend und
adlichem herkomens und gemuets und dauon meer genaigt und begierig sein
den adel zuerhorhen, ... (S. 151f.)
846 Marija Javor Briški

Einleitungselemente von Konditionalsätzen sind: wo (4) und ob (2).


(15) Wiewol nu die empörung diser zeit gestillt sein und werden mochten, so ist
doch zubesorgen, wo in beruerten beswerungen nit mass und ordnung gesetzt
und gehalten, das solh ungehorsam und empörung kunftigklich meer bewegt
und ersteen werde. (S. 153)
(16) ... ob aber noch etwas unuerrichts verhanden wer, dasselb doch ungezweiflt
durch uns, auch unser landtleut kriegsfolk von tag zu tag hingelegt werden
mag, ... (S. 152)
Die Temporalsätze werden eingeleitet durch die weil (1), so pald (1), bis (1),
auf was zeit (1):
(17) ... das wir im anfang die weil wir noch oben im reich und mit merklichen
hendlen beladen gewesst sein, stäts gemaynt und gehoft haben, ... (S. 152)
(18) ... sy mitler zeit, bis wir berait werden und ankomen möchten von irem fuer-
nemen guetlich zu wenden, ... (S. 152)
(19) ... sopald und auf was zeit auch an was ort der genannt cardinal den aus-
schuss beschreiben und erfordern wirdet, das er darauf anziech und erschein,
... (S. 154)
Das Einleitungswort von Konzessivsätzen ist wiewol (3):
(20) Wiewol nu die empörung diser zeit gestillt sein und werden mochten, so ist
doch zubesorgen, ... (S. 153)
Die Finalsätze haben folgende Einleitungselemente: das (1) und damit (3).
Als Beispiel sei genannt:
(21) das ain jeder getrewer abnemen mugen het, uns solh unser land beswerung
laid und wider sein. (S. 152)
(22) ... die bey iren aiden ... bey yegclichem landtman ... darob und daran sein,
damit ain jeclicher die obgeschriben straff und hilfgelt von seinen pawren rai-
chen ... (S. 153)
Die beiden in der Instruktion vorkommenden Lokalsätze werden eingelei-
tet durch wo und an was ort:
(23) Item, das all anfänger auch haubtleut, radlfuerer und ursacher diser empo-
rung und pundtnusn, ... wo man die in landen begreifft, on al[le]s berechten
gehengkt, und nymer mer begnadt werden. (S. 153)
(24) ... an was ort der genannt cardinal den ausschuss beschreiben und erfordern
wirdet, das er darauf anziech und erschein, ... (S. 154)
Instruktion Kaiser Maximilians I. 847

Das Einleitungselement des einzig vorkommenden Fragesatzes lautet wie:


(25) ... erzelen ... wie die pawrsleut bisher mit ungestimben, gewaltigen und gro-
ben furnemen wider uns auch die stend unser land beharrt haben zu nachtail
und a[b]pruch unser obri[g]kait, herlichaiten auch endtlicher des adels und
darzue vil ir selbs der pawrn leyb hab und gueter. (S. 151)

2.1.3. Einteilung nach satzfunktionalem Aspekt

Die folgende Aufstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit,


es werden nur die Attribut-, Subjekt- und Objektsätze berücksichtigt. Die
Attributsätze kommen 36 Mal vor und bilden die zahlenmäßig stärkste
Gruppe. Zumeist werden Attributsätze, was nicht verwunderlich ist, als
Relativsätze realisiert (30), nur vereinzelt kommen dafür Infinitivsätze
vor –
(26) ... zu ainer gedachtnus sich dergleichen ungehorsam hinfur zumassen, auch
die pösen mit etwas entgeltnus gegen den gueten zubedeitten. (S. 152)
– oder durch das eingeleitete Konjunktionalsätze:
(27) ... das der pawrn empörung, ungehorsam und beswerlich furnemen am
maysten bewegt und her geflossen sein mechten aus nachfolgenden ursachen,
nämblich das sy etwa durch die herschaften in den ordinari renten und diens-
ten gestaigert. (S. 153)
Auch der einzige Subjektsatz wird in formaler Hinsicht als Relativsatz
realisiert:
(28) Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst
wern, die hetten solhs mit der unwarhait aus ungegrundten won und besten
ungetrewm willen getan, ... (S. 151)
Recht zahlreich sind Objektsätze (17). Am häufigsten handelt es sich um
Konjunktionalsätze, die mit das eingeleitet werden, z.B.:
(29) ... die nit genuegsam beybringen mugen, das sy zu iren handlungen genött
worden sein, ... (S. 153)
Objektsätze sind auch durch Infinitivsätze (7) vertreten:
(30) ... wie wir die beruerten straff und hilfgelt unser landtleut undertanen auftzu-
legen und a[n]zuslagen mainen ... (S. 153)
848 Marija Javor Briški

Einmal kommt auch ein Relativsatz in der Funktion eines Objektsatzes


vor:
(31) ... welhe des rechtens uberhaben sein wolten, mit denen mag unser freundt der
cardinal selbs oder durch die verordenten einnemer componieren nach seinem
guetbedunken. (S. 153)

2.2. Antwort der Landstände


2.2.1. Einteilung nach semantischem Aspekt

Im zweiten Text finden sich, unter semantischem Aspekt betrachtet, 38


Relativsätze, 11 Konditionalsätze, zehn Kausalsätze, neun Komparativsät-
ze, drei Finalsätze, zwei Temporalsätze, ein Konzessivsatz und ein Lokal-
satz. Auch hier sind Inhaltsätze zahlreich vertreten (20 NS + 4 HS). Wie
im ersten Text wurden auch in dieser Auflistung die vielen Infinitivkon-
struktionen nicht mit einbezogen.

2.2.2. Einteilung nach formalem Aspekt

Wie in der kaiserlichen Instruktion, so kommen auch in der Antwort nur


wenige nicht eingeleitete Nebensätze vor, nämlich fünf. Als Beispiel sei
genannt:
(32) ... demnach ist ainer landschaft undertanigs bittn, √ kay. mt. welln beuelh
ausgeen lassen, ... (S. 158)
Relativsätze werden eingeleitet durch die Relativpartikeln so (24), daruber
(1), darzu (1), alda (1) und die Pronomina die (6), welh(s) (2):
(33) ... demnach habn sich die von stettn von ainem yedn besetztn haus, so in irm
gerichtszwang gelegn und daruber sy zugepietn habn, ain halbn guldn rei-
nisch zuraychn bewilligt, ... (S. 158)
(34) ... das die pawrn all ir weer irn hern und zu den gslossern, darzu sy ir zu-
flucht habn, antwortn, ... (S. 158)
(35) Nachdem auch die pawrn in der turknflucht zu den tabern mit weyb, kin-
dern und guetern lauffn, alda sy von inen an alle widerwartigkait ... die ar-
men leut weeg furn, ... (S. 159)
(36) ... das all anfenger, haubtleut, radlfurer und ursacher der empörung und
puntnuss der pawrschaft im land, die nit genugsam beybringen mugn, ... an
alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)
Instruktion Kaiser Maximilians I. 849

(37) ... und welh des rechtn uberhabn mit den mug unser genadigister herr der
cardinal von Gurk oder seiner furstlich gnaden verordent componiern nach
gutbedunkn, ... (S. 157)
Als Einleitungselemente von Konditionalsätzen findet man ob (4), wo (3)
und wan (2):
(38) ... das ir kay. mt. in dem gsloss Laybach ain zeughaus aufzerichtn verorden,
und das mit veldgeschutz, harnasch, helbmpartn und ander weer fursehn tue,
ob sich ainigerlay aufrur im land erhebn, sich damit in gegenwer zuschigkhn.
(S. 158)
(39) Wo aber der angezaygtn ausgab in der bestimbtn zeyt aine erstund, so bittn
ain landschaft ... (S. 157)
(40) ... doch wan ain aufpot im land ersteet, oder das von den Turkhn oder an-
dern widerwärtigen ain einzug bescheh, das den pawrn alsdan solh wer inen
wider zuantwortn beuolhn. (S. 158f.)
Bei den Kausalsätzen sind die Einleitungselemente dieweyl (7), nachdem (4)
und das (2):
(41) Und nachdem ain landschaft, landleut, und irer mt. commissari vor langst
verordent das fridgelt einzenemen und dieweyl sy nu den maystn tayl von den
urbarsleutn und den andern einpracht, solhs ain landschaft kay. mt. unan-
gezaygt nit lassen welln. (S. 158)
(42) Ein ersame landschaft sagt auch irer kay. mt. als irm allergnedigisten herrn
undertanign hochn und grossen dank, das ir mt. disem land gegen den
puntherrn und radlfurern mit tapfer hilf zu ross und fuess zugeschigkt hat,
und das ir mt. solh strafgelt allain irer mt. land und leutn gemainen nutz,
bewarung der granitzn gegen den Venedigern und zu erobrung Fryaul
brauchn und anlegn welle, ... (S. 158)
Einleitungselemente von Komparativsätzen sind wie (5), als (2) und als-
uil (1):
(43) ... ir kay. mt. welle an dem ain guldn ungrisch wie oben angezaygt ist, gena-
digklich ersettigt sein, ... (S. 157)
(44) ... die sich aus irer leychtfertigkait und unuerstant in irn samlungn offenlich
haren lassen, als solten ir kay. mt. ob irm rebell und unpillichn furnemen ...
gefalln tragn ... (S. 156f.)
(45) Das auch die stett und burger ... zu gutwilliger steur und hilf irer mt.
raychn, alsuil inen zu ainem vierdtn tayl von zehen taussent guldn reinisch,
... gepurt, ... (S. 158)
850 Marija Javor Briški

Finalsätze werden eingeleitet durch damit (3):


(46) ... das ir kay. mt. mit den pawrsleutn ... ernstlich verschaffn, damit irer mt.
gehorsamer und trewr adl solher grosser und verderblicher schaden durch ver-
hör von angezaygtn pawrn und puntleutn benügn und abtrag beschehe ... (S.
158)
Das Einleitungswort des einzigen Temporalsatzes ist als (1):
(47) Dieweyl ... auch ditz land in dem venedigischn krieg mit darstrekung leybs
und guets gross mitleydung mit irer mt. gehabt, und als die gehorsam hinfur
nach allem irm vermugn tuen welln ... (S. 157)
Mit wiewol wird der Konzessivsatz eingeleitet:
(48) Wiewol ain landschaft ermessen, das die pawrn gar vil mer als drey reinisch
guldn ... verschuld hetten ... (S. 157)
Das Einleitungselement des Lokalsatzes ist wo (1):
(49) ... das all anfenger, haubtleut, radlfurer und ursacher der empörung und
puntnuss der pawrschaft im land ... wo man die ergreyfft, an alles berechtn
gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)

2.2.3. Einteilung nach satzfunktionalem Aspekt

Sehr häufig vertreten sind Attributsätze (ca. 38 Mal), vor allem in Form
von Relativsätzen, z.B.:
(50) ... das die pawrn gar vil mer als drey reinisch guldn so ir kay. mt. begert ver-
schuld hetten, ... (S. 157)
Auch das-Sätze bilden Attributsätze, z.B.:
(51) Dieweyl auch die instruction inhelt das ain yetzlicher urbarsman von seiner
huebn zu ewiger gedachtnus seinem herrn jarlichn zwen oder drey kreuzer
gebn soll ... (S. 157)
Subjektsätze sind nicht vorhanden, dagegen findet man relativ häufig Ob-
jektsätze (ca. 20 Mal) in der Form von Konjunktionalsätzen –
(52) Und als ir kay. mt. in der instruction anzaygt, das all anfenger, haubtleut,
radlfurer und ursacher der empörung und puntnuss der pawrschaft im land,
... an alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)
Instruktion Kaiser Maximilians I. 851

– oder als Infinitivsätze:


(53) ... bittn ain landschaft kay. mt. undertanigklich zubeuelhen, diselbn taber
zubereytn ... (S. 159)

3. Nebensatzäquivalente Infinitivkonstruktionen
Ohne das Verhältnis von Nebensätzen und satzwertigen Infinitivkon-
struktionen im Einzelnen analysieren und die Infinitivsätze in ihrer Voll-
ständigkeit auflisten zu wollen, kann man feststellen, dass in der Instruk-
tion Kaiser Maximilians ca. 30 Infinitivkonstruktionen vorhanden sind,
und zwar in der Funktion von Finalsätzen (8), Objektsätzen (6), Ergän-
zungen eines prädikativen Adjektivs (5) und Ergänzungen eines prädikati-
ven Substantivs (6). Der Anteil an Infinitivkonstruktionen im Vergleich zu
den Nebensätzen mit finitem Verb beträgt ungefähr 27 %. In der Antwort
der Landstände sind etwa 20 zu finden, davon hat eine die Funktion eines
Finalsatzes, 12 sind Objektsätze, zwei Ergänzungen eines prädikativen
Adjektivs und drei Ergänzungen eines prädikativen Substantivs. Hier sind
die Infinitivkonstruktionen mit einem Anteil von ca. 14 % im Vergleich
zur Quote in der kaiserlichen Instruktion schwächer vertreten.

4. Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen


4.1. Instruktion Kaiser Maximilians

In den aussagenden Hauptsätzen dominiert die Erst- bzw. Zweitstellung


des finiten Verbs, der zweite Prädikatsteil bildet gewöhnlich die Satz-
klammer. Allerdings kommen auch Ausklammerungen vor, und zwar
meist in den Fällen, in denen weitere Satzgefüge folgen, die sich auf den
ausgeklammerten Teil beziehen, z.B.:
(54) Aber doch so pald wir der pawrn fuernemen vernomen, haben wir unser co-
missari stäts zu inen verordent, der gueten maynung und hofnung, sy mitler
zeit ... von irem fuernemen guetlich zu wenden, und in irn taten aufzuhalten
... (S. 152)
852 Marija Javor Briški

Von der Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs gibt es auch einige
Abweichungen, und zwar:
• bei Fortsetzungen von Hauptsätzen, die mit und eingeleitet wer-
den:12
(55) Und sonderlich unsernthalben nit die maynung gewesst ist, wie wir als uns
anlangt, von etlichen verdacht und beschuldigt worden, ... (S. 151)
• bei Sätzen „mit anaphorischem Anschluß an einen vorangehenden
Satz“:13
(56) Dardurch wir doch ainst zu ainem endt mit Frannczosen und Venedi-
gern komen mechten, ... (S. 152)
Auch in Nebensätzen treten Ausklammerungen gewöhnlich dann auf,
wenn sich hypotaktische Satzkonstruktionen daran anschließen, z.B.:
(57) ... das der pawrn empörung, ungehorsam und beswerlich furnemen am
maysten bewegt und her geflossen sein mechten aus nachfolgenden ursachen,
nämblich das sy etwa durch die herschaften in den ordinari renten und diens-
ten gestaigert. (S. 153)

4.2. Antwort der Landstände

Im Antwortschreiben der Landstände entspricht die Verbstellung in den


aussagenden Hauptsätzen in fast allen Fällen der Regel, nur einmal findet
man eine Ausklammerung:
(58) ... mit den mug unser genadigister herr der cardinal von Gurk oder seiner
furstlich gnaden verordent componiern nach gutbedunkn, ... (S. 157)
Es handelt sich hier um die Ausklammerung einer adverbialen Bestim-
mung, allerdings findet der Satz keine Fortsetzung durch untergeordnete
Glied(teil)sätze. Vereinzelt (ca. vier Mal) findet man Spitzenstellung des
Verbs bei Weglassung des expletiven es:
(59) Ist an ir kay. mt. ainer ersamen landschaft undertanigs bittn, ir kay. mt.
welle ... (S. 157)

_____________
12 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 431).
13 Ebd., 431.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 853

5. Arten der Ellipsen


5.1. Instruktion Kaiser Maximilians

Im Text kommen bisweilen sowohl afinite Ellipsen (6 NS + 2 HS) als


auch Auslassungen von Subjektpronomen vor. Auxiliar-Ellipsen findet
man neben Vermeidungen von Repetitionen des finiten Verbs bei Passiv-
konstruktionen und Prädikaten, die mit sein gebildet werden, oder beim
Perfekt:14
(60) ... wo die tat und straf darüber fuergenomen und gepraucht und sonderlich
wir nit gegenwirtig gewest ... (S. 152)
(61) Aber doch so pald wir der pawrn fuernemen vernomen, haben wir unser co-
missari stäts zu inen verordent, ... (S. 152)
Beim letzten Beispiel wurde die Einsparung des Hilfsverbs haben im Ne-
bensatz wohl aus stilistischen Gründen favorisiert, um eine direkt an-
schließende Wiederholung des gleichen Hilfsverbs zu vermeiden. Das
Subjektpronomen wir wird einige Male (ca. vier Mal) ausgelassen, es be-
zieht sich auf die kay. mt.:
(62) ... darinnen √ auch mit unsern landen und leuten gnedig mitleiden getragen
haben. (S. 151)

5.2. Antwort der Landstände

Als stilistisches Merkmal auffallend sind die im Vergleich zur Instruktion


sehr häufig vorkommenden afiniten Ellipsen (über 30) bei Passiv- und
Perfektbildungen, die gewissermaßen eher die Regel als die Ausnahme
sind:
(63) Das auch die stett und burger, so nit im punt gewesen √ , zu gutwilliger
steur und hilf irer mt. raychn, alsuil inen zu ainem vierdtn tayl von zehen
taussent guldn reinisch, wo ain solhe suma durch ain landschaft angeslagn √
gepurt, darinen (√ ) berürter unser gnadigister herr der cardinal auch nach
vermugn mit bisher in anslegn beieinander gestanden und nach irm vermugn
gleyche gepurt getragn (√ ), ... (S. 158)
Die Auslassung des expletiven Pronomens es (4) führt, wie schon erwähnt,
in den aussagenden Hauptsätzen zur Spitzenstellung des finiten Verbs.

_____________
14 Vgl. ebd., 440f.
854 Marija Javor Briški

6. Inkongruenz des Numerus


zwischen Subjekt und Prädikatsverb
6.1. Instruktion Kaiser Maximilians

Bezüglich des Numerus treten in Maximilans Anordnung bei jeder / jeclicher


landtman (2), ainigerlay aufrur (1) und empörung (1) Inkongruenzen auf. Hier
steht die plurale Verbform, weil das Subjekt, das formal ein Singular ist,
durch Gebrauch der Pronomen als Gattung aufgefasst werden kann oder
weil es kollektive Bedeutung hat.15

6.2. Antwort der Landstände

Relativ häufig (17 Mal) ist dagegen die Inkongruenz des Numerus zwi-
schen Subjekt und Prädikatsverb im Antwortschreiben der Krainer Land-
stände zu finden, und zwar bei folgenden Wörtern: jeder landman (1), yetzli-
cher urbarsman (1), landschaft (10), kay. mt. (5). Die Wörter landman und
urbarsman vertreten durch die vorangestellten Pronomen eine Gattung,
weswegen die Pluralform beim Verb verwendet wird,16 landschaft hat dage-
gen kollektive Bedeutung. Die Pluralform bei kay. mt. steht bekanntlich als
Ausdruck der Höflichkeit und Ehrerbietung, doch konkurriert die Plural-
form hier mit der Singularform, die sogar überwiegt (7).

7. Zusammenfassung
In Bezug auf die Typen der Nebensätze, hat die Analyse ergeben, dass in
beiden Texten die Relativsätze bei weitem die zahlreichsten sind, gefolgt
werden sie von den Komparativsätzen in der Instruktion und den Kondi-
tionalsätzen im Antwortschreiben. Die Kausalsätze stehen, was die Häu-
figkeit anbelangt, in beiden Quellen an dritter Stelle, gefolgt werden sie
von den Konditionalsätzen im kaiserlichen Schreiben und von den Kom-
parativsätzen in der Mitteilung der Krainer Landstände. Nichteingeleitete
Nebensätze sind in beiden Schriftstücken ein Ausnahmefall.
Als Einleitungselement dominiert bei den Relativsätzen sowohl im
ersten als auch im zweiten Text mit großem Vorsprung die Relativpartikel

_____________
15 Vgl. ebd., 422f.
16 Vgl. ebd.
Instruktion Kaiser Maximilians I. 855

so, die vor allem für die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache typisch ist.17
Alle anderen Einleitungselemente kommen mehr oder weniger vereinzelt
vor. Komparativsätze werden in beiden Landtagsakten vornehmlich durch
wie eingeleitet, mit als dagegen nur zweimal. Bei den Kausalsätzen ist in
beiden Fällen die für die Zeit zwischen 1400 und 1550 typische18 Kon-
junktion dieweil / dieweyl vorherrschend. Die häufigste Einleitung in Maxi-
milians Anweisung bildet bei Konditionalsätzen wo, vor allem dann, wenn
der Nebensatz vorangestellt ist,19 an zweiter Stelle folgt ob, eine Konjunk-
tion, die im Frühneuhochdeutschen vor allem in dieser Funktion verwen-
det wird.20 Beim Antwortschreiben liegt dagegen die umgekehrte Reihen-
folge vor, allerdings halten sich beide Einleitungswörter die Waage, so
dass ein großer Unterschied in der Verteilung nicht festgestellt werden
kann. Unter satzfunktionalem Aspekt überwiegen in beiden Quellen bei
weitem die Attributsätze, die formal vor allem als Relativsätze realisiert
werden, stark vertreten sind auch die Objektsätze insbesondere als sog.
das-Sätze.
Der Anteil an satzwertigen Infinitivkonstruktionen ist in Maximilians
Schreiben höher als im Antwortschreiben der Landstände. In der Instruk-
tion haben sie vor allem die Funktion von Finalsätzen. In dieser Funktion
ist die Infinitivkonstruktion im Antwortschreiben nur einmal vertreten,
was auf dessen Inhalt und den Texttyp zurückzuführen ist. Objektsätze in
Form von Infinitivsätzen kommen dagegen in beiden Quellen relativ häu-
fig vor.
Was die Verbstellung anbelangt, so ist in der kaiserlichen Instruktion
bei aussagenden Hauptsätzen die Erst- bzw. Zweitstellung des finiten
Verbs vorherrschend und die Bildung des Satzrahmens durch Endstellung
des zweiten Prädikatsteils. Nur selten findet man Ausklammerungen,
hauptsächlich bei hypotaktischer Weiterführung der Sätze, was auch bei
Nebensätzen der Fall ist. Eine Ausklammerung ist im Antwortschreiben
nur einmal zu finden. Wenn auch vereinzelt vorkommend, bildet die nur
im Antwortschreiben auftretende Spitzenstellung des finiten Verbs durch
Auslassung des expletiven es ein interessantes stilistisches Merkmal.
Stilprägend sind im Antwortschreiben der krainischen Landstände die
zeittypischen,21 sehr häufig vorkommenden afiniten Ellipsen bei Passiv-
und Perfektbildungen, während sie in der kaiserlichen Instruktion nicht so
zahlreich vertreten sind.

_____________
17 Vgl. ebd., 447 u. Erben (1985, 1342).
18 Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 473).
19 Vgl. die Verteilungstabelle in Rieck (1977, 204).
20 Vgl. Rieck (1977, 150).
21 Vgl. Erben (1985, 1342f.).
856 Marija Javor Briški

Inkongruenzen des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb


treten in beiden Texten auf. Bei einigen der Form nach singulären
Nomina wird die Pluralform beim Verb gebraucht, weil sie als Gattung
aufgefasst werden oder kollektive Bedeutung haben. Interessant ist die im
Antwortschreiben vorherrschende Kongruenz zwischen dem Titel kay. mt.
und der finiten singularen Verbform, was dem Usus der kaiserlichen
Kanzlei wohl eher widerspricht.
Eine detaillierte Auswertung der komplexen Satzkonstruktionen steht
noch aus, doch kann man auf einen Blick erkennen, dass Satzgefüge mit
Nebensätzen verschiedenen Grades vorherrschend sind, vor allem in den
Argumentationsteilen. Die Beschlüsse der kaiserlichen Instruktion stehen
dagegen in Form von Hauptsätzen. Die prä-, post- oder interpositiv ste-
henden Nebensätze zum Teil verschiedenen Grades und die sog. ‚gestei-
gerten gestreckten Satzgefüge‘22 führen zu unübersichtlichen Verschachte-
lungen.
In der Untersuchung nicht erwähnt wurden einige, wenn auch wenige
sprachliche Unstimmigkeiten im Antwortschreiben, wie grammatische
Fehler, unübliche Wiederholung desselben Subjekts und nicht logische
Satzkonstruktionen, was auf einen weniger geübten Schreiber und den
Konzeptcharakter der Quelle hindeutet.
Die obige Analyse hat gezeigt, dass die untersuchten Quellen sowohl
Parallelen als auch Unterschiede in der Schreibsprache aufweisen. Die
Gemeinsamkeiten sind wohl eher auf die mehr oder weniger wörtliche
Übernahme von Textstellen der kaiserlichen Instruktion im Antwort-
schreiben zurückzuführen als auf einen Einfluss der Kanzleisprache
Kaiser Maximilians I.23 Um überhaupt von Einflüssen sprechen zu
können, müssten noch weitere, nicht nur die Syntax umfassende Unter-
suchungen vorgenommen werden.

_____________
22 Zum Begriff vgl. Admoni, zit. n. Betten (1987, 159).
23 Tennant steht aufgrund ihrer Untersuchungen einer schreibsprachlichen Führungsrolle der
Kanzleisprache Maximilians eher kritisch gegenüber; vgl. Tennant (1985, 130ff.).
Instruktion Kaiser Maximilians I. 857

Quellen

Verbič, Marija (Hrsg.) (1980), Deželnozborski spisi kranjskih stanov, Bd. 1, Ljubljana.

Literatur

Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen.


Betten, Anne (1987), Grundzüge der Prosasyntax. Stilprägende Entwicklungen vom Althoch-
deutschen zum Neuhochdeutschen, Tübingen.
Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Hans-Joachim / Wegera, Klaus-
Peter (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen.
Erben, Johannes (1985), „Syntax des Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch /
Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur
Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 2.2, Berlin, New York, 1341-
1348.
Kološa, Vladimir (Hrsg.) (1999), Vodnik po fondih in zbirkah Arhiva Republike Slovenije,
Bd. I, Ljubljana.
Moser, Hans (1977), Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus,
Innsbruck.
Rieck, Susanne (1977), Untersuchungen zu Bestand und Varianz der Konjunktionen im Früh-
neuhochdeutschen, Heidelberg.
Štih, Peter / Simoniti, Vasko / Vodopivec, Peter (2008), Slowenische Geschichte.
Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz.
Tennant, Elaine C. (1985), The Habsburg Chancery Language in Perspective, Berkeley, Los
Angeles, London.
Sprachliche Besonderheiten
der Fehdekommunikation –
Ehre und Öffentlichkeit in der Fehde
des späten Mittelalters

Eckhard Weber (Valencia)

1. Fehdekommunikation im Spätmittelalter
„Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als
Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die an-
deren zu Freien“.1 Mit Blick auf das Mittelalter wurde vorgeschlagen die-
ses berühmte Zitat von Heraklit umzuschreiben und Krieg mit Fehde zu
ersetzen. Denn die historische wie rechtshistorische Forschung hat ge-
zeigt, welche zentrale Rolle die Fehde in der mittelalterlichen Realität ein-
nahm. Kontrovers diskutiert wurde und wird aber, welche rechtliche, poli-
tische, wirtschaftliche oder auch soziale Qualität die Fehde im Mittelalter
hatte.
Lange wurde die Fehde als Faustrecht, als Recht des Stärkeren gedeu-
tet und der Fehde führende mittelalterliche Ritter wurde als Raubritter
eingestuft, auch wenn diese Bezeichnung in den Quellen nicht belegt ist.2
Im Blick auf unseren Untersuchungszeitraum, das 15. Jahrhundert, hat die
Raubritterthese durch die Diskussion über das Spätmittelalter als eine
Epoche der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die
der ungehemmten Gewaltanwendung besonders von Seiten des Nieder-
adels Vorschub geleistet habe, eine gewisse Renaissance erfahren.3 Die
Rede vom Spätmittelalter als einer Zeit der Krise am Übergang zur Neu-
zeit ist bis in die Gegenwart ein gängiges Deutungsmuster. Als Beispiel
mag Erich von Meuthens Handbuch über Das 15. Jahrhundert genügen, wo
es heißt:
_____________
1 Diels (1951, 162, Fragment 53).
2 Vgl. Rösener (1982, 469ff.).
3 Vgl. Rothert (1940, 145ff.); Rösener (1982, 469-488).
860 Eckhard Weber

Das Spätmittelalter ist insgesamt eine in höchstem Maße gewalttätige Epoche gewe-
sen. [...] Die Kriegslust des Feudaladels kann dabei durchaus als Hoffnung zu
verstehen sein, seine sozialökonomischen Schwierigkeiten in dem ihm standesei-
genen Kriegerberuf zu meistern. Beliebte Opfer waren Kaufleute und Städte, die
Träger der handelswirtschaftlichen Bedrohung landadeliger Existenz.4
Die pauschale Annahme einer allgemeinen Verarmung des Niederadels
und seiner Verdrängung in die politische Bedeutungslosigkeit hat sich
jedoch nicht als haltbar erwiesen. Die Übergangsphase vom mittelalterli-
chen Personenverbandstaat zum frühneuzeitlichen Territorialstaat bot
auch dem Niederadel Möglichkeiten, sich den veränderten Bedingungen
anzupassen, was zu einem Differenzierungsprozess innerhalb des Adels
geführt hat.5 Zudem konnte gezeigt werden, dass sich der Aufbau der
fürstlichen Territorialstaaten gerade mit den Mitteln der Fehdeführung
vollzog. So kann die spätmittelalterliche Fehdepraxis auch als politisches
und soziales Phänomen gedeutet werden, das entscheidend zur Strukturie-
rung und Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung des Spätmittelalters
beitrug.6
Ganz im Gegensatz zur Deutung der Fehdeführung als Raubrittertum
wird heute meist die rechtliche Bedeutung der Fehde hervorgehoben.
Demnach gilt die mittelalterliche Fehde als die in der Rechtsgewohnheit
verankerte, zur Klage vor Gericht bzw. Schiedsgericht oder Zweikampf
zumindest subsidiär alternative und legitime Selbsthilfe zur Durchsetzung
von Rechtsansprüchen. Die Anwendung von Gewalt bei der Durchset-
zung von Rechtsansprüchen, mittels der dem Fehdegegner Schaden zuge-
fügt werden konnte, war im Rahmen einer Fehde also legitim. Betont wird
dabei die Alterität des Mittelalters, das noch kein staatliches Gewaltmono-
pol kannte und dessen Rechtssystem stark von Rechtsgewohnheiten ge-
prägt war.7
Eine Gesellschaft, welche ihren Angehörigen nicht [...] zu ihrem Recht verhelfen
kann, weil sie weder über die nötigen Machtmittel noch über einen entsprechen-
den Verwaltungsapparat verfügt, die also den für eine konsequente Verbrechens-
verfolgung nötigen ‚Gesamtwillen‘ nicht bilden kann, muss dem Verletzten weit-
gehend das Recht zur Selbsthilfe lassen, soll die verletzte Ordnung
wiederhergestellt werden.8
Als rechtliches Institut wird die Fehde auch in den Gottes- und Landfrie-
den des 11. bis 15. Jahrhunderts behandelt. Hier tritt die Fehde aber in
_____________
4 Von Meuthen (1996, 11f.).
5 Vgl. Görner (1987); Zmora (1997).
6 Vgl. Algazi (1995, 39ff.); ders. (1996). Algazis Arbeiten wurden besonders wegen ihrer zu
schmal angelegten Quellengrundlage kritisiert. Vgl. Graf (1998); Morsel (1996, 140ff.).
7 Vgl. besonders Brunner (1973); Obenaus (1961); Patschovsky (1997, 145ff.); Fischer (2000,
123-ff.).
8 Kaufmann (1971, Sp. 1084).
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 861

erster Linie als etwas auf, das es zu beschränken gilt, indem ihre Legitimi-
tät an die Einhaltung bestimmter Formen gebunden wird. Als Elemente
eines solchen technischen Fehderechts sind das Vorliegen eines Rechts-
grundes, die Rechtsverweigerung durch alternative Rechtsinstitute, die
öffentliche schriftliche Ankündigung der Fehde sowie die Einhaltung
einer Frist von drei Tagen vor Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.
Das neue Friedenskonzept der Landfrieden formulierte jedoch einen Soll-
Zustand, der für seine Realisierung des Strukturwandels vom mittelalterli-
chen Personenverband zum Staat neuzeitlicher Prägung bedurfte. Inso-
fern blieben die Regelungen der Landfrieden bis zum Ausgang des Spät-
mittelalters hauptsächlich Programm.9 Wie sehr die Rechtsgewohnheit der
Fehdeführung trotz der Regelungen der Landfrieden ein Strukturelement
der mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit war, zeigt sich insbesondere
daran, dass der Aufbau eines neuzeitlichen Gewaltmonopols selbst mit
den Mitteln des Fehdewesens, dem – wenn nicht Vater aller Dinge, dann
doch zumindest – „Motor der modernen Welt“ erreicht wurde.10
Für den mittelalterlichen Kommunikationsstil ganz allgemein wurde
hervorgehoben, dass er einen ritualisierten Charakter aufweist und immer
im Bezug zur Öffentlichkeit steht. Durch die öffentliche „Inszenierung“
und „Demonstration“ mittels nicht-sprachlicher und sprachlicher Hand-
lungen erhielten die in den Vorverhandlungen getroffenen Absprachen ein
höchstes Maß an Verbindlichkeit.11 Der wechselseitige Bezug von Ehre,
Recht und Öffentlichkeit wird bei der Fehde besonders deutlich. Denn
jeder mittelalterliche Rechtsstreit wird öffentlich ausgetragen und ist dem
Urteil der Öffentlichkeit ausgesetzt.12 Diese Tendenz zur Öffentlichkeit
bedingt eine starke Bindung der Parteien. In der von Rechtsgewohnheiten,
die auf Konsensbildung innerhalb der Rechtsgemeinschaft abzielen,13
gekennzeichneten mittelalterlichen Gesellschaft musste sich folglich alles
politische und rechtliche Handeln vor der Instanz der Öffentlichkeit
rechtfertigen.14 Öffentlichkeit konstituiert sich im Mittelalter nach den
Prinzipien der Situativität und Präsenz und kann somit okkasionell ge-
nannt werden.15
Für die spätmittelalterliche Fehde gilt also: Die Anerkennung eines
subjektiven Rechtsanspruches, der mittels einer Fehde durchgesetzt wer-
_____________
9 Vgl. Gernhuber (1952, 73ff.); Buschmann (2002, 95ff.); Götz (2002, 31ff.).
10 Patschovsky (1997, 169).
11 Vgl. den Sammelband von Althoff (1997); ders. (1998, 154ff.); ders. (1999, 1ff.); Kamp
(1996, 675ff.).
12 Vgl. Obenaus (1961, 67).
13 Vgl. zum Thema Rechtsgewohnheit Schulze (1992, 9ff.); Dilcher (1992, 21ff.).
14 Vgl. Thum (1990, 65ff.).
15 Vgl. ebd., 65ff., besonders 65-72; vgl. Patschovsky (1997, 152).
862 Eckhard Weber

den sollte, und die Legitimität der Fehdeführung entschieden sich im We-
sentlichen erst durch die Konsensbildung vor dieser Instanz. Dies setzte
aber auch ein hohes Maß an Kommunikation voraus. Der Diskurs der
Ehre nimmt dabei eine zentrale Rolle ein: Zum einen wird gegen die
Handlungen der gegnerischen Partei polemisiert und zum anderen die
Ehrenhaftigkeit und somit Legitimität der eigenen Position zum Ausdruck
gebracht sowie um ihre Anerkennung vor der Entscheidungsinstanz Öf-
fentlichkeit geworben.16 Der „Kampf um die Gunst der öffentlichen Mei-
nung“17 muss daher als ein wesentliches Element der spätmittelalterlichen
Fehdeführung betrachtet werden.18 Der Bezug zur Öffentlichkeit ist aber
auch schon in der mittelalterlichen Konzeption von adeliger Ehre selbst
gegeben, die in erster Linie immer Standesehre und somit an den Konsens
der öffentlichen Meinung der Adelsgesellschaft geknüpft war.19
In einem Zwischenresümee kann somit festgehalten werden:
1. Im allgemeinsten Sinn fällt unter Fehde
jede Art der gewaltsamen Selbsthilfe [...], mithin jede Form von eigenmäch-
tiger Gewalt, die im Fall einer Rechtsverletzung von der verletzten Seite ange-
wandt wird, um eine Wiederherstellung des Rechts durch Vergeltung, Genug-
tuung oder Sühne zu erreichen.20
2. Mittels Fehdeführung konnten zwar auch wirtschaftliche, soziale
oder politische Ziele verfolgt werden, in erster Linie ist die Fehde
aber der Sphäre des Rechts zuzuordnen.
3. Die in den Landfrieden versuchte Beschränkung des Fehderechts
speist sich aus der römisch-kanonischen Rechtskonzeption, sie
blieb aber hauptsächlich Programm, solange dem Staat die Exeku-
tionsorgane nicht zur Verfügung standen.
4. Mit den in den Landfrieden formulierten Friedenskonzepten kon-
kurriert im Rechtsverständnis des deutschen Mittelalters die
Rechtsgewohnheit, die das Recht auf Fehdeführung prinzipiell an-
erkannte.
5. Die Rechtsgewohnheit hebt dabei auf Konsensbildung vor einer re-
levanten Öffentlichkeit ab. Die legitime Fehde konstituiert sich also
nicht nur aus der Einhaltung des in den Landfrieden formulierten
_____________
16 Vgl. Althoff (1993, 49f.); Morsel (1996,160f.); Zmora (1995, 92ff.).
17 Graf (1997, 177).
18 Vgl. Obenaus (1961, 68).
19 Vgl. Zmora (1995, 100); Moeglin (1995, 77): „Ehre (honor) kann als ideelles Kapital an
öffentlicher Achtung begriffen werden, das ein Mensch aufgrund seiner sozialen Stellung
und seiner politischen Rolle zu beanspruchen vermag.“
20 Wadle (1999, 74).
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 863

Fehderechts, sondern auch und vor allem durch den Konsens der
Öffentlichkeit.
6. Zur Herstellung dieser Öffentlichkeit wird in der Fehdepraxis des
Spätmittelalters ein enormer Aufwand an Kommunikation getrie-
ben: durch die Produktion zahlreicher Schriften bzw. Briefe, in de-
nen für die eigene Rechtsauffassung geworben wird und die oft
nicht nur an die gegnerische Partei, sondern auch an weitere für die
Konsensbildung in der Öffentlichkeit relevante Parteien verschickt
werden. Auch im formalen Regelwerk der Landfrieden wird das
Prinzip der Herstellung von Öffentlichkeit in der Pflicht zur „Ver-
klarung“, also der öffentlichen Ansage der Fehde greifbar.
7. Öffentlichkeit und Recht stehen im engen Bezug zum mittelalterli-
chen Ehrbegriff. Der Diskurs der Ehre nimmt in den Fehdebriefen
daher eine zentrale Rolle ein.
Angesichts der großen Bedeutung von Kommunikation in der Fehdepra-
xis und der Herstellung von Öffentlichkeit liegt es auf der Hand, dass sich
hier auch ein Forschungsfeld für die historische Pragmatik anbietet. Ihre
Aufgabe ist die
Rekonstruktion der kommunikativen Handlungsebenen in einzelnen Texten, hin-
ter denen freilich allgemeinere Möglichkeiten des sprachlichen Handelns in be-
stimmten historischen Konstellationen (einschließlich ihrer flexiblen Ausgestal-
tung und Veränderbarkeit) sichtbar gemacht werden müßten.21
Es wurde vorgeschlagen, die Fehde als komplexes Handlungsmuster22
aufzufassen, das aus sprachlichen wie auch aus nicht-sprachlichen Hand-
lungen besteht. Dabei werden ganze soziale Netze aktiviert oder sind zu-
mindest betroffen. Neben den fehdeführenden Kontrahenten sind das
zum einen Fehdehelfer, die die jeweilige Position einer Konfliktpartei
rhetorisch oder tatkräftig, etwa als Boten oder Mitkämpfer, unterstützen.
Zum anderen können Vermittler eingeschaltet werden, die möglicherweise
von beiden Parteien als neutrale Schiedsrichter anerkannt werden. Zuletzt
sind die von den Schadenshandlungen direkt Betroffenen zu nennen, wie
Bauern, Hintersassen und Stadtbürger. Zudem konnte die für die mittelal-
terliche Gesellschaft so charakteristische Organisation im auf dem Le-
henssystem beruhenden Personenverband dazu führen, dass aus einem
begrenzten ein Konflikt in weit größerem politischen Maßstab wurde. Ein
Handlungsmodell der Fehde muss also alle Kommunikationsteilnehmer
einbeziehen, nur so kann es der Komplexität des Fehdegeschehens ge-
recht werden.
_____________
21 Cherubim (1998, 541f.).
22 Im Folgenden vgl. Janich / Weber (2004, 163ff.).
864 Eckhard Weber

Der prototypische Verlauf einer Fehde stellt sich wie folgt dar:
1. Jede Fehde hat eine Vorgeschichte, die einen zumindest subjektiven
Rechtsgrund (für Klagen, Verhandlungen oder schließlich die Feh-
deeröffnung) liefert.
2. Auf diese Vorgeschichte folgen meist Verhandlungen der Konflikt-
parteien und / oder Klagebriefe, in denen gegenüber dem Gegner
aber auch vor allem gegenüber Dritten der eigene Rechtsanspruch
dargestellt wird.
3. Für die legitime Fehde von zentraler Bedeutung ist die darauf fol-
gende Fehdeankündigung in Form der schriftlichen Absage / Wi-
dersage, die den Schädigungshandlungen vorausgehen muss. Auch
diese kann zugleich Dritten zugesendet werden, um die nötige Öf-
fentlichkeit zu schaffen.
4. Auf die Fehdeabsage erfolgt normalerweise eine Reaktion des Be-
schuldigten und darauf wieder entsprechende Gegenreaktionen.
Diese Phase kann verschiedene Handlungen umfassen:
• gegenseitige materielle Schädigungen durch nicht-sprachliche
Handlungen,
• direkte mündliche und / oder indirekte schriftliche Verhand-
lungen,
• Austrag des Rechtstreits durch Schiedsgericht oder gerichtli-
chen Zweikampf,
• Unterbrechung der Fehde durch verabredete Friedenszeiten in
der Form des Handfriedens.
Diese Phase kann Handlungswiederholungen sowie parallele Hand-
lungsstränge aufweisen. Im konkreten Fall hängt das davon ab, ob
einzelne Handlungen scheitern oder erfolgreich sind.
5. Die Beendigung der Fehde erfolgt entweder durch die Urfehde, in
der mittels Schwur auf zukünftige Feindschaft verzichtet wird,
und / oder durch die Sühne, einem Vertrag der die Schadensersatz-
verpflichtungen regelt.
Sprachliche Handlungen innerhalb dieses Handlungsmusters sind zum
Beispiel die schriftliche Fehdeankündigung, Verhandlungen mit dem Feh-
degegner oder das Schwören einer Urfehde zur Beilegung der Fehde.
Nicht-sprachliche Handlungen vollziehen sich hauptsächlich im so ge-
nannten Schädigen, wie Belagern, Plündern, Kämpfen oder Brandschat-
zen. Für die Bewertung der Fehdeführung als legitim und damit für die
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 865

Abgrenzung von kriminellen Gewalttaten sind aber die sprachlichen


Handlungen, die auf Rechtsdurchsetzung durch Konsensbildung abzielen,
entscheidend.
Solche für die Fehdeführung konstitutiven Sprachhandlungen möchte
ich nun in fünf Thesen23 nennen und anhand möglichst typischer Textbei-
spiele eine kurze Analyse der sprachlichen Haupt- und Teilhandlungen
vornehmen.

2. Thesen zur Konstitution von Sprachhandlungen


in der Fehdeführung
These 1: Durch die schriftliche Fehdeankündigung kann der Fehdeführende seinen
Anspruch auf Rechtmäßigkeit bekräftigen.
Textbeispiel 1: Brief Heinrichs von Seckendorf an den Markgrafen Fried-
rich von Brandenburg, 30. Juni 1420.
Hochgeporner fürst und vnnd Her Markgraf Fridrich von Brandenburg vnd
Burggraf zu Nurenberg. Ich laz euch wissn, daz ich der von Leumdorf feint pin
vmb solchen vnrechtz vnnd mutwillen wegen, den sy an meiner mume Arnolcz
weip von Tristhof gethan haben [...] so wist, daz ich Heinrich von Seckendorf,
den man nent den Egerstdorfer, eur vnnd aller der euren feint sein will, aussge-
nommen de ur diner, on dy amptleut, deren feint will ich auch sein von euren
wegen, und alle meine knecht, dy itzund hab oder noch gewinen mag vnnd alle
dy ich uf euren schaden bringen mag, vnnd wil auch dez also meine ere gen euch
vnd gen den euren amptleuten bewart haben. (Codex diplomaticus brandenburgensis,
162)
Die Haupthandlung – Ankündigung der Fehde –, die öffentlich erfolgen
muss (vgl. Verklarungspflicht) ist gegliedert in mehrere Teilhandlungen:
• Nennung der Fehdeparteien bzw. von Absender und seiner Fehde-
helfer sowie von Adressat und weiteren Betroffenen sowie Erklä-
rung der Feindschaft:
Hochgeporner fürst und vnnd Her Markgraf Fridrich von Brandenburg vnd
Burggraf zu Nurenberg. Ich laz euch wissn, daz ich der von Leumdorf feint
pin / so wist, daz ich Heinrich von Seckendorf, den man nent den Egerstdor-
fer, eur vnnd aller der euren feint sein will, aussgenommen de ur diner, on dy
amptleut, deren feint will ich auch sein von euren wegen, und alle meine
geprot knecht, dy itzund hab oder noch gewinen mag
• Benennung des Rechtgrundes bzw. des erlittenen Unrechts:

_____________
23 Vgl. ebd., 167f.
866 Eckhard Weber

vmb solchen vnrechtz vnnd mutwillen wegen, den sy an meiner mume Ar-
nolcz weip von Tristhof gethan haben
• Schaden androhen:
vnnd alle dy ich uf euren schaden bringen mag
• Bewahrung der Ehre:
vnnd wil auch dez also meine ere gen euch vnd gen den euren amptleuten be-
wart haben.

These 2: Durch vorhergehende oder den Fehdeverlauf begleitende Klagebriefe an weitere


Parteien kann die für die Konsensfindung nötige Öffentlichkeit geschaffen werden.
Textbeispiel 2: Schreiben Herzogs Ludwig von Bayern-Ingolstadt an alle
Reichsstände, 12. Mai 1420.
Allen fursten, herren, Grauen, freyen rittern, knechten, Steten, Märckten, ge-
meinden vnd allen anderen, den diser vnser briefe von vnsern wegen furpracht
wirdt, Embieten wir Ludwig, von gotes genaden pfalczgraf bej Rein, herczog in
Bayern vnd Graf zu Mortain [...] vnser fruntlich dinst, gunstlichen grus vnd alles
gut zuuor. Als wir ew vor geschriben und zu erchennen gegeben haben den New-
lich hochgemachten, vnendlichen, lugenhaftigen man, treulosen Burggraue von
Nürmberg, ein glosirer der warhait zu lügen vnd der lüg zu warhait, der sich nen-
net Markgrauen von Brandenburg, der hat vns auf vnser ware schrift, als wir In
beschuldigen [...] yeczo aber aus seiner alten gewurcelten poszheit geschriben,
dieselben sein schrift er ew villeicht gesannt hat und horn lat, die doch all erticht
und schalklich lüg sind, als vil der unser ere, wird und gelimpfen berührend. [...]
Aus den vorgenannten vnsern waren geschriften vnd rechtlichen geboten, die wir
zu volligem und entlichen austrag dem offt benanten, vnendlichen, lugenhaften,
treulosen mann geboten haben und bieten, den er bis her von seiner poszhait
wegen nye nach kommen getarste, hoffen wir, das Ir alle vnd ewr iglicher aigenli-
cher mercken sülle, das vnser schrift die gancz warhait ist. [...] So wellen wir darc-
zu antwurten, das wir hoffen, das vnser ere, sein schand vnd darczu gleich sey.
(Codex diplomaticus brandenburgensis, 161f.)
Die Haupthandlung dieser Klageschrift ist das Werben für den eigenen
Rechtsstandpunkt. Relevante Teilhandlungen sind:
• Schaffung einer möglichst breiten Öffentlichkeit durch Adressie-
rung an Dritte:
Allen fursten, herren, Grauen, freyen rittern, knechten, Steten, Märckten, ge-
meinden vnd allen anderen, den diser vnser briefe von vnsern wegen
furpracht wirdt
• Ehrverletzende Schmähung des Fehdegegners:
den Newlich hochgemachten, vnendlichen, lugenhaftigen man, treulosen
Burggraue von Nürmberg, ein glosirer der warhait zu lügen vnd der lüg zu
warhait/ yeczo aber aus seiner alten gewurcelten poszheit geschriben, diesel-
ben sein schrift er ew villeicht gesannt hat und horn lat, die doch all erticht
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 867

und schalklich lüg sind/ dem offt benanten, vnendlichen, Newfundigen, lu-
genhaften, treulosen
• Feststellung / Behauptung der eigenen ehrenhaften Position:
als vil der unser ere, wird und gelimpfen berührend/ So wellen wir darczu
antwurten, das wir hoffen, das vnser ere, sein schand vnd darczu gleich sey.
• Angebot zum Rechtsaustrag:
Aus den vorgenannten vnsern waren geschriften vnd rechtlichen geboten, die
wir zu volligem und entlichen austrag [...] geboten haben und bieten

These 3: .Auch der Fehdegegner kann seinen Rechtsanspruch und seine Ehre nur
dadurch bewahren, dass er sich auch gegenüber dritten rechtfertigt und Gegendarstellun-
gen liefert oder gegebenenfalls Gegenforderungen stellt.
Textbeispiel 3: Brief des Erzbischofs Johann von Mainz an die Stadt
Frankfurt a. M., 6. August 1404.
Iohann erzbischoff zu Mencze.
Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford. [...] Wir clagen uch
mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Missen mit namen
marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime brudere, marggrave
Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iungeren des egenanten
marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche unrecht, daz si widder
got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und ere mit rechtem muͤtwillen
und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und lude gelacht hant und noch te-
gelichin legen. Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes
getruwe manne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave
Wilhelm der eltere in der stad zu Furcheim und der egenante marggrave Fryde-
rich der eltere in der stad zu Nurnberg sliche manlehen von uns liplichin in
geynwertigkeid fursten, herren und viel erber lude enphangen und unserme stifte
getruwe und hold zu sin huldunge getan han, als solicher manlehen recht und
gewonheid ist. [...] Und duncket uns, daz den vorgenanten marggraven ernster sii
unsere und unsers stifte sloße, land und lude an sich zu bringen, das doch der
allmechtige god und der gude sant Mertin wol verwaren sollen, dann yn lieb sii ire
eygene truwe, ere, buntnisse und ingesigele zu versorgen. [...] so wollen wir des zu
eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gnedigen herren deme Romi-
schen konige und dem riche, und so me kurfursten, fursten, graven, herren, ritte-
re, knechte und erberliute dabii weren und gesin mochte, so uns lieber were,
wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer wahrheid wol biibrengen mogen
und verwar gleuben und ez davor han, daz nye keyme fursten in großerme glau-
ben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den egenanten
marggraven. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, 390ff.)
868 Eckhard Weber

Die Haupthandlung ist wieder das Werben für die Rechtmäßigkeit der
eigenen Position. Relevante Teilhandlungen sind:
• Schaffung von Öffentlichkeit durch Adressierung des Briefes an
Dritte:
Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford
• Klage über unehrenhafte und illegitime Schadenshandlungen der
Fehdegegner:
Wir clagen uch mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Mis-
sen mit namen marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime
brudere, marggrave Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iun-
geren des egenanten marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche
unrecht, daz si widder got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und
ere mit rechtem mFtwillen und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und
lude gelacht hant und noch tegelichin / daz nye keyme fursten in großerme
glauben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den
egenanten marggraven.
• Begründung: Verstoß gegen Lehnsverpflichtungen:
Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes getruwe man-
ne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave Wilhelm
der eltere [...] manlehen von uns liplichin in geynwertigkeid fursten, herren
und viel erber lude enphangen und unserme stifte getruwe und hold zu sin
huldunge getan han, als solicher manlehen recht und gewonheid ist.
• Angebot zu Rechtsaustrag vor König und Reich in möglichst gro-
ßer Öffentlichkeit:
so wollen wir des zu eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gne-
digen herren deme Romischen konige und dem riche, und so me kurfursten,
fursten, graven, herren, rittere, knechte und erberliute dabii weren und gesin
mochte, so uns lieber were, wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer
wahrheid wol biibrengen mogen

These 4: Fehdehelfer und Parteigänger können einerseits nur durch sprachliche Darstel-
lungs- und Aufforderungshandlungen überzeugt und zur Unterstützung verpflichtet
werden; andererseits müssen die Fehdehelfer selbst unter Umständen zur Wahrung
ihrer eigenen Ehre ihre Handlungen rechtfertigen, indem sie ihre Parteinahme begrün-
den.
Textbeispiel 4: Absagebrief Ulrich Strobels u.a. an Friedrich Markgraf von
Brandenburg und Burggraf von Nürnberg, 7. Juli 1420.
Hochgeporen ffwrst vnd H. H. ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd
purckgraf zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein von
wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von solcher
spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben, vnd will mich dez
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 869

mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren steten vnd merckten be-
wart haben vnd will ewch awch hin nihsze mer zu plitig vnd zu don sein vnd will
in irn ffriden vnd unfriden (sis) sein, ich vnd der her nach geschriben stett [...].
Vlreich Strobell, Jorgen Stengell, Hans krewsslein
(Codex diplomaticus brandenburgensis, 163)
Haupthandlung ist die Ankündigung der Fehde durch Fehdehelfer. Rele-
vante sprachliche Teilhandlungen sind:
• Erklärung der Feindschaft als Fehdehelfer:
Hochgeporen ffwrst [...] ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd purckgraf
zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein
• (pauschale) Begründung mit Rechtsanspruch:
von wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von
solcher spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben
• Bewahrung der Ehre:
vnd will mich dez mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren ste-
ten vnd merckten bewart haben

These 5: Die Konfliktlösung ist selbst bei intensiven kämpferischen Auseinanderset-


zungen nicht möglich ohne einen abschließenden Friedensvertrag, dem in aller Regel
Verhandlungen vorausgehen.
Textbeispiel 5: Urkundliche Verzichtserklärung des Erzbischofs Johann
II. und des Domkapitels von Mainz, 20. März 1405.
Darumbe verciihen wir Iohann ertzbischoff, Iohann dumprobst, Eberhard de-
chand und daz capitel gmeynlich des důmes zu Mentze fur uns unde alle unseren
nachkommen uff die vorgenanten halben teile der sloße Eschenweg und Sůntra
mit yren zugehorungen und ußern uns der sloße unde alles rechten, daz wir daran
han, zu ewigen ziiten [...] und han auch darumbe die egenanten marggraven unde
ire erben aller burghůde und darczů alle manne, burgmanne, amptlude, rete, bu-
gere und arme lute zu den vorgenannten sloßen gehorende alle ire eide und glob-
de, die sie uns getan han, mit unsern offen brieven ledig und lois gesaget und sa-
gen sie auch der in crafft diesis brieves ledig unde verziihen gentzlich daruff unde
sollen noch wollen die vorgenannten sloße semptlich oder besunder nummerme
vertedigen, ingenemen noch die in kunfftigen ziiten ansprechen in einche wise.
Alle und igliche vorgeschriben stucke, půnte und artikele redden wir [...] in guten
truwen stete, vaste und unverbrochenlich zu halten und darwidder nicht zu thůn
noch schaffen getan werden geistlich noch werntlich, heimlich noch offenbar, in
dheine wiis, an alle geverde und ane argelist. Des zu urkunde han wir [...] unser
[...] ingesigele an diesin brieff thůn hencken. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae,
444f.)
870 Eckhard Weber

Die Haupthandlung ist hier die Beilegung des Konfliktes. Relevante Teil-
handlungen sind:
• Verzichtserklärung auf Rechte an den Schlössern Eschwege und
Sontra:
Darumbe verciihen wir Iohann ertzbischoff, Iohann dumprobst, Eberhard de-
chand und daz capitel gmeynlich des důmes zu Mentze fur uns unde alle unse-
ren nachkommen uff die vorgenanten halben teile der sloße Eschenweg und
Sůntra mit yren zugehorungen und ußern uns der sloße unde alles rechten, daz
wir daran han, zu ewigen ziiten
• Lösung vorheriger Rechtsverpflichtungen in aller Öffentlichkeit:
und han auch darumbe die egenanten marggraven unde ire erben aller burg-
hůde und darczů alle manne, burgmanne, amptlude, rete, bugere und arme lute
zu den vorgenannten sloßen gehorende alle ire eide und globde, die sie uns ge-
tan han, mit unsern offen brieven ledig und lois gesaget und sagen sie auch der
in crafft diesis brieves ledig
• Verzichtserklärung auf zukünftige Gewaltanwendung:
unde verziihen gentzlich daruff unde sollen noch wollen die vorgenannten
sloße semptlich oder besunder nummerme vertedigen, ingenemen noch die in
kunfftigen ziiten ansprechen in einche wise
• Versprechen (Schwur), den Verzicht in ehrenhafter Weise einzuhal-
ten (mit guten truwen: Ehrenwort):
Alle und igliche vorgeschriben stucke, půnte und artikele redden wir [...] in gu-
ten truwen stete, vaste und unverbrochenlich zu halten und darwidder nicht
zu thůn noch schaffen getan werden geistlich noch werntlich, heimlich noch
offenbar, in dheine wiis, an alle geverde und ane argelist.

3. Schlussbemerkung
Diese Ansätze zu einer Analyse der sprachlichen Haupt- und Teilhandlun-
gen von Fehdetexten erfassen die kommunikativen Strategien der Fehde-
kommunikation selbstverständlich noch nicht vollständig. Detailliertere
Analysen müssen folgen, um für das prototypische Modell der Fehde als
komplexes Handlungsmuster gültige Aussagen treffen zu können. Es ist
m.A.n. aber deutlich geworden, dass der Diskurs der Ehre und der Bezug
zur Öffentlichkeit eine zentrale Rolle in den sprachlichen Handlungen der
Fehdekommunikation einnehmen. Wie gezeigt, können an allen Stationen
des oben angedeuteten prototypischen Verlaufs einer Fehde sprachliche
Handlungen nachgewiesen werden, die Öffentlichkeit herstellen sollen
und auf das Moment der Ehre rekurrieren bzw. mittels des Ehrbegriffs
argumentieren.
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation 871

In der historiographischen Forschung wurden Zweifel an der Aufrich-


tigkeit bei dieser adeligen Argumentation mit der Ehre im Fehdekontext
geäußert. Demnach sei der Diskurs der Ehre innerhalb der Fehdeführung
vor allem ein strategisch eingesetztes Mittel, um einen Konflikt um mate-
rielle Ressourcen in eine „moralische“ Auseinandersetzung zu verwandeln.
Der ständige Bezug zur Standesehre sei daher vornehmlich als politisches
Idiom zu sehen, „durch das Machtverhältnisse manipuliert werden konn-
ten“.24 Es wurde jedoch auch dafür plädiert, die Rechtfertigungsschriften
in Fehden und ihre Berufungen auf Recht und Ehre ernst zu nehmen.25
Eine umfassendere und detailliertere Analyse der Fehdekommunikation
scheint m.E. geeignet, zu diesem Streitpunkt neue Lösungswege und Er-
kenntnisse zu liefern.

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_____________
24 Zmora (1995, 109).
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Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ –
Graphetische Syntax-Marker
am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe

Andrea Hofmeister-Winter (Graz)

1. Einleitung

Die Interpunktion hat insbesondere die Funktion, die grammatische Struktur ei-
nes Textes für den Leser transparent zu machen. Sie dient der Ausgrenzung von
Ganzsätzen, der Anzeige einer Koordination von Wörtern, Wortgruppen oder
Teilsätzen sowie der Anzeige der Subordination von satzwertigen Konstituenten
und von Herausstellungen. Weiterhin hat sie in Teilbereichen pragmatische Funk-
tionen. In erster Linie setzt die Beherrschung der Interpunktion aber grammati-
sche Kenntnis voraus.1
Was hier in kompakter Form über unsere moderne Zeichensetzung ausge-
sagt wird, trifft bekanntlich für historische Sprachstufen nur teilweise zu,
wenngleich manche der aufgezählten Funktionen bereits für fnhd. Texte
tendenziell gelten. Insbesondere der Anspruch, aus der Interpunktion die
‚grammatische Struktur‘ eines Textes ablesen zu wollen – übrigens ebenso
wenig treffend wie der Versuch, in Anlehnung an antike Schriften aus-
schließlich nach rhetorischen Funktionen zu fahnden, führte lange Zeit zu
einer Verkennung von Intention und Wirkung der Verschriftlichungsstra-
tegien mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften. In diesem
Bereich hat die historische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten
stark aufgeholt und manches Missverständnis ausräumen können. Den-
noch ist noch viel zu tun, denn gerade für die Zeit des Spätmittelalters
und der Frühen Neuzeit mit ihrem immensen Anstieg der Textproduktion
in allen Lebensbereichen konnten viele Textsorten noch gar nicht syste-
matisch in Hinblick auf ihr Inventar an Textgliederungsmitteln und deren
Funktionen untersucht werden.2

_____________
1 Weingarten (2003, 807f.).
2 Vgl. Simmler (2003, 2474).
876 Andrea Hofmeister-Winter

Meine kleine Studie zu einem fnhd. Gebrauchstext darf sich nicht an-
maßen, bereits einen vollwertigen Beitrag zur Erforschung der Syntax
historischer Texte liefern zu können, möchte aber mit der Bereitstellung
von geeignetem Basismaterial und mit der Mitteilung einiger viel verspre-
chender Beobachtungen den ersten Schritt dazu setzen. Ein umfassendes
Bild von diesem Segment der historischen Schreibsprache kann sicher erst
aus der Summe möglichst vieler Einzeluntersuchungen, möglichst breit
über das gesamte Spektrum der Textsorten gestreut, erlangt werden. Die
Umsetzung dieser banalen Forderung wird aber erschwert durch die Tat-
sache, dass seit jeher ein Mangel an solchen Editionen von handschriftli-
chen Überlieferungsträgern herrscht, welche die dafür nötigen Informati-
onen liefern.3 Ich bin in der glücklichen Lage, über ein umfangreiches
elektronisches Textkorpus zu verfügen, in dem durch eine spezielle Form
der Datenaufnahme dafür gesorgt ist, dass u.a. auch Fragen zu den Text-
gliederungsmitteln sehr detailliert untersucht werden können.
Vor allem seit dem Spätmittelalter bieten handgeschriebene Texte eine
Fülle von verschiedenen graphischen Auszeichnungs- und Gliederungs-
mitteln, deren Gebrauch in einzelnen Überlieferungsträgern so stark vari-
iert, dass der Eindruck entsteht, Auswahl und Kombination der vielfälti-
gen Möglichkeiten seien allein der Willkür der Schreiber überlassen. Es ist
jedoch davon auszugehen, dass diese graphischen Mittel im Kommunika-
tionsakt zwischen Schreiber und Leser ganz bestimmte Funktionen zu
erfüllen hatten, darunter vielleicht auch solche, die unser modernes, nor-
miertes Textgliederungs- und Interpunktionssystem vermissen lässt.4 Wel-
che Funktionen das sind, hängt von der Textsorte ab und ist zudem im
Einzelfall wohl auch speziell auf die individuellen Bedürfnisse eines Textes
und seines intendierten Publikums abgestimmt.
Nach einer kurzen Vorstellung meines konkreten Untersuchungsge-
genstandes möchte ich an diesen folgende drei Fragen richten:
• Wie wird markiert, d.h., welche graphischen Mittel werden vom
Schreiber eingesetzt?
• Was wird markiert: Sprechpausen, Intonationsverläufe, syntaktische
oder Sinneinheiten etc.?
• Wozu wird markiert: Welchen potenziellen Nutzen hat der Leser
davon oder welchen Sinn kann das aufwendige Markierungsverfah-
ren sonst noch haben?

_____________
3 Eine löbliche Ausnahme: Fiebig (2000).
4 Vgl. Stolt (1990, bes. 385).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 877

2. Untersuchungsgegenstand:
Das Brixner Dommesnerbuch5
Als Untersuchungsgegenstand steht mir ein umfangreiches Autograph des
Brixner Dommesners Veit Feichter (um 1510-1560) zur Verfügung, das
eine selten vertretene und daher in der Forschung bislang kaum bekannte
Textsorte repräsentiert. Da es sich um die sehr detailreich ausformulierte
Niederschrift der Dienstverpflichtungen des Mesners im Lauf des Kir-
chenjahres handelt, scheint mir für diese paraliturgische Gebrauchsschrift
in Anlehnung an die Benennung ähnlicher Texte die schlichte Bezeich-
nung ‚Dommesnerbuch‘ gerechtfertigt. Entstanden ist der Codex mit dem
nachträglich von anderer Hand hinzugefügten Titel Directorium seu Rubrica
pro vtilitate chori ac Editui Eccl(es)ie Brixinen(sis)6 um 1558 und stellt den ein-
drucksvollen Versuch dar, althergebrachte Traditionen über eine Um-
bruchszeit hinweg zu retten7 – immerhin fand gerade zu jener Zeit das
Konzil von Trient (1545-1563) statt, das die Gegenreformation einleitete
und auch im liturgischen Bereich eine Reihe von einschneidenden Maß-
nahmen setzte.
Im Zuge der Erstedition des Brixner Dommesnerbuches (DMB) habe ich
vor einigen Jahren ein mehrstufiges Editionskonzept entwickelt, das ich
als ‚Dynamische Edition‘ bezeichne. Diese Editionsmethode versucht,
bewährte Editionsformen und -methoden zu verbinden, indem über meh-
rere Editionsstufen verschiedene Ebenen des Textes präsentiert werden:
Faksimile, diplomatischer Abdruck und in beliebigem Grad normalisierte
Lesefassungen unterscheiden sich voneinander im Wesentlichen durch
zunehmende Abstraktion von der handschriftlichen Vorlage und rücken
jeweils eine ausgewählte Ebene des Gesamtbefundes ins Zentrum der
Aufmerksamkeit, z.B. die paläographische, die (ortho)graphische, die in-
haltliche Ebene. Der schichtweise vorgenommene Informationsabbau in
diesem nach oben offenen Editionsprozess erfolgt mit Hilfe linguistischer
Methoden der Graphetik und Graphemik in kontrollierter Form und ga-
rantiert von jeder Stufe aus in hohem Maße die Rückführbarkeit auf das
Original. Um den stark divergierenden Benutzeranforderungen entgegen-
zukommen und vor allem auch sprachwissenschaftlichen Interessen zu
dienen, wird für die Präsentation der einzelnen Editionsstufen das jeweils
optimale Publikationsmedium gewählt.
_____________
5 Zu Autor und Werk vgl. Hofmeister-Winter (2001, 15ff.).
6 Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices. Kodikologische Beschreibung vgl.
Hofmeister-Winter (2001, 34ff.).
7 Es seý aúch mier / dúrch meinem herren Cústor verpotten das Ich der Cústorei kain Neẃerung sol
aúffpringen (DMB 45r/16f., zit. nach der gedruckten Edition von Hofmeister-Winter (2001).
878 Andrea Hofmeister-Winter

Den Kern der ‚Dynamischen Edition‘ bildet eine elektronische Ba-


sistransliteration (BT), die den Text so handschriftennah wie möglich, also
weit über dem Informationsniveau eines herkömmlichen diplomatischen
Abdrucks, wiederzugeben versucht. Auf dieser Transliterationsstufe sind
all jene graphischen Phänomene festgehalten und für weiterführende Ana-
lysen aufbereitet, die im Zuge einer vorangegangenen graphetischen Ana-
lyse als im weitesten Sinn schriftsystemrelevant erkannt wurden, aber noch
keiner endgültigen Klärung zugeführt werden konnten, z.B. Interpunk-
tionssymbole, Superskripte, vergrößerte Buchstabenrepräsentanten und
alle sonstigen Textauszeichnungen.
Diese elektronische Basistransliteration, aus welcher der Text meiner
gedruckten Edition8 konsequent durch stufenweise Informationsreduktion
abgeleitet wurde, steht der historischen Sprachwissenschaft auf meiner
Forschungshomepage frei zur Verfügung9, die detaillierte Beschreibung
des mehrstufigen Editionskonzeptes sowie meine bisherigen Untersu-
chungen zum Schriftsystem Veit Feichters sind separat publiziert.10
Für die folgende Detailstudie habe ich das sprachliche Material einge-
schränkt auf je zehn Seiten vom Anfang und aus der Mitte des Codex
(DMB fol. 1v-6r, 92r-96v), um allfällige Streuungen besser erfassen zu
können. Sollte eine erste ‚Sondierung‘ signifikante Ergebnisse hervor-
bringen, kann die Analyse später problemlos auf den Gesamttext ausge-
dehnt werden.
Was das Brixner Dommesnerbuch als Textcorpus für die Sprachwis-
senschaft besonders interessant macht, sind soziale Herkunft und Bil-
dungshintergrund des Autors, über die wir gesicherte Informationen be-
sitzen, zum einen von Veit Feichter selbst, der einer seiner Schriften eine
kurze Vita vorangestellt hat,11 und zum anderen aus zahlreichen Aktenno-
tizen in den Domkapitelprotokollen: Als Sohn eines aus der Umgebung
von Brixen zugewanderten Bauernsohnes, der selbst erst um 1495 in die
Stadt gekommen war, um im Dombezirk zunächst eine Lehrstelle als
Mesnerknecht anzunehmen, und der sich schließlich bis zum Dommesner
empordienen und das Bürgerrecht erlangen konnte, zählte Feichter zu
jenen privilegierten Knaben, die in der Domschule gemeinsam mit dem
künftigen geistlichen Nachwuchs eine fundierte Ausbildung im Lesen und
_____________
8 Vgl. Anm. 5.
9 Siehe http://www.uni-graz.at/~hofmeisa/dyn_ed/download/DMB_Textstufe3.rtf; der
elektronischen Transliteration sind in gesonderten Dateien Erläuterungen und detaillierte
Transliterationsschlüssel beigegeben.
10 Vgl. Hofmeister-Winter (2003).
11 Dommesner-Urbar (DMU), fol. *4r-v. Diese schlichte Papierhandschrift wird ebenfalls im
Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices aufbewahrt; Kurzbeschreibung bei Hof-
meister-Winter (2001, 15f.).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 879

Schreiben erwerben durften. Fast wie selbstverständlich trat er bereits im


zarten Jugendalter in die Fußstapfen seines Vaters, bei dem er eine gründ-
liche Lehre absolvierte, und als jener 1547 nach insgesamt 52 Dienstjahren
verstarb, war die Nachbesetzung des Postens durch den inzwischen selbst
schon über 30-jährigen Junior offenbar nur mehr ein Formalakt. 13 Jahre
währte Veit Feichters Amtszeit als hauptverantwortlicher Mesner, in der
er nicht nur engagiert für Disziplin und Ordnung im Bereich der Domsa-
kristei sorgte – so verfasste er im Auftrag des Kustos ein Inventar12 aller
Paramente, liturgischen Bücher und Geräte, für die er laut Dienstvertrag13
die persönliche Haftung übernommen hatte –, sondern seine Zuständig-
keit erstreckte sich auch auf die finanzielle Verwaltung der Domsakristei,
die von seinem illiteraten Vater selbst mit Unterstützung durch die
schriftkundige Geistlichkeit anscheinend nur mehr mit Mühe aufrecht zu
erhalten gewesen war. Auch hier griff er energisch durch, prüfte sorgfältig
alle Einnahmen und Ausgaben und schuf mit seinem Urbar des Dom-
mesneramtes eine gründliche Revision der geltenden Rechtsgrundlagen.
Inhaltlich beschreibt das Dommesnerbuch das überaus vielfältige
Aufgabenfeld des Dommesners, soweit es im entferntesten Sinn die Litur-
gie betrifft. Dieses umfasste die Vorbereitung der Gottesdienste, die As-
sistenz während der liturgischen Feiern sowie die Beschaffung, Verwah-
rung und Instandhaltung sämtlicher im liturgischen Rahmen benötigten
Utensilien.
Zur Umsetzung seines ehrgeizigen Vorhabens, für das in dieser Form
noch keine schriftliche Vorlage existierte, bedurfte Veit Feichter eines
straffen Verschriftlichungskonzeptes. Die Handschrift umfasst 380 Seiten
im Folio-Format – ein derartiges Konvolut konnte Feichter unmöglich in
einem Guss niederschreiben, wenn man bedenkt, wie sehr er mit seinen
vielfältigen Dienstaufgaben ausgelastet war. Daher wählte er ein sehr
pragmatisches Konzept, das sich seit Jahrhunderten in den lateinischen
Ordines der Geistlichkeit bewährt hatte und neben seiner Berufstätigkeit
einigermaßen ökonomisch handzuhaben war, nämlich die Anordnung der
Informationen nach dem Kirchenjahr, beginnend mit dem ersten Advent-
sonntag. So war es ihm möglich, die aus mündlichen und schriftlichen
Quellen zusammengetragenen Informationen14 jeweils ‚tagesaktuell‘ zu
Papier zu bringen – ähnlich einem Protokoll – und obendrein sehr nah an
der gelebten Praxis.
_____________
12 Aufbewahrt im Brixner Domkapitelarchiv; Kurzbeschreibung bei Hofmeister-Winter
(2001, 15).
13 Über den Inhalt des Dienstvertrags wissen wir ziemlich genau Bescheid, weil Feichter
Abschriften der Dienstverträge seiner Vorgänger in sein Inventar (DMI) aufgenommen hat
(siehe DMI fol. 23r-28r).
14 Zu den Quellen siehe Hofmeister-Winter (1997, 63ff.).
880 Andrea Hofmeister-Winter

Durch die strikte Einhaltung der Chronologie des liturgischen Kalen-


ders entfiel die Notwendigkeit, dem Werk ein Inhaltsverzeichnis15 voran-
zustellen, um den punktgenauen Zugriff zu erleichtern. Bis weit in die
Frühe Neuzeit navigierten Geistliche wie Laien im Kalender anhand der
Namensfeste der Heiligen und anhand spezieller Gedenk- und Kirchen-
feste. Die genaue Abfolge der unbeweglichen Festtage auswendig zu be-
herrschen, gehörte zur Allgemeinbildung und wurde z.B. mittels mnemo-
technischer Hilfsmittel wie Cisiojani eingeprägt. Daher bereitete es kaum
Schwierigkeiten, ein bestimmtes Kirchenfest innerhalb des Bandes rasch
aufzusuchen, und da dieses Nachschlagewerk ohnehin daraufhin angelegt
war, parallel zum Jahreslauf rezipiert zu werden, genügte als Markierung
ein eingelegtes Lesezeichen.

3. Graphische Mittel der Textgliederung


Ich möchte mich nun den graphischen Mitteln der Textgliederung zuwen-
den, die in diesem wissensspeichernden Text zum Einsatz kommen, ihrer
Phänomenologie einerseits und ihren Funktionen im Kommunikations-
prozess zwischen Autor und Leser andererseits. Folgende Maßnahmen
nützt Feichter zur makro- und mikrostrukturellen Gliederung seines Tex-
tes und sorgt damit für Übersichtlichkeit:
1. Schreibräumliche Positionen:
Eine wesentliche makrostrukturelle Gliederungsfunktion kommt
dem Seitenlayout mit der Zeileneinteilung und der Absatzgliede-
rung (durch Leerzeile und Zeileneinzug) zu – diese layouttechni-
schen Mittel sind bis in die Gegenwart in Gebrauch. Hinzu tritt im
Fall frühneuzeitlicher Handschriften noch das Mittel des vergrößer-
ten Wortabstandes innerhalb der Zeile.
2. Farbkontrast:
Um den Leserblick zu lenken, setzt Feichter optische Farb-Anker
ein, er verwendet rote Tinte als kontrastierendes Auszeichnungs-
mittel gegenüber der schwarzen Textschrift: Die Unterteilung in
einzelne Tage / Feste erfolgt durch rote Überschriften, ebenso die
weitere Untergliederung, die sich an den monastischen Gebetszei-
ten orientiert. In Rot sind auch sog. ‚Marginal headers‘ ausgeführt,
die am linken Seitenrand stichwortartig auf den Inhalt hinweisen.
_____________
15 Hingegen war ein solches Register im Dommesner-Urbar offensichtlich sehr wohl vonnö-
ten; es ist dort dem eigentlichen Urbar vorangestellt (*1r-*3v) und gibt die Blattzahlen der
jeweiligen Rubriken an.
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 881

Rote Tinte wird auch auf der nächstniedrigeren Strukturebene,


innerhalb der einzelnen Abschnitte, als Hervorhebungsmittel be-
nützt: Unterstreichungen und Rubrizierungen in Form von Zier-
strichen oder Vollrubrizierungen von Anfangsbuchstaben, ja sogar
von Interpungierungssymbolen, auf die später noch näher einzuge-
hen sein wird.
Im Gegensatz zu arbeitsteiligen Schreibprozessen, in denen
derlei Farbakzente nachträglich vom Rubrikator hinzugefügt wur-
den, zu welchem Zweck der Grundtextschreiber die nötigen Flä-
chen für Überschriften und Initialen freizulassen hatte, besteht kein
Zweifel, dass Veit Feichter sämtliche Arbeitsgänge der Nieder-
schrift persönlich verantwortet. Seine roten Überschriften fügen
sich ohne Platznot und nahtlos in den Text ein, sind also offen-
sichtlich linear geschrieben worden, indem er zwei Tintenfässchen
und zwei Federn abwechselnd benützte. Alle anderen Rubrizierun-
gen sind aufgrund der Strichfolge als 2. Schreibschicht zu identifi-
zieren.
Zur Feingliederung des schwarz geschriebenen Grundtextes werden fer-
ner folgende Mittel eingesetzt:
3. ‚Orthographische‘ Mittel:
Hierher gehört die Hervorhebung von Graphwörtern mittels Mar-
kierung ihres ersten Buchstabens durch Majuskeln und Initialen,
wobei allerdings in kursiven Schriften der frühen Neuzeit häufig
das Problem auftritt, dass bei manchen Buchstaben nicht eindeutig
zwischen Minuskel- und Majuskelformen unterschieden werden
kann, weil sie aus denselben Grundmustern hergeleitet sind und
sich nicht oder kaum formal, sondern hauptsächlich durch Grö-
ßenabstufungen unterscheiden; das gilt analog auch für die Grenz-
ziehung zwischen Majuskeln und Initialen (Paläographen sprechen
von litterae notabiliores, ich nenne sie ‚relative Majuskeln / Initialen‘).
Ungeachtet dieser Schwierigkeit bei der formalen Klassifizierung
von Groß- und Kleinbuchstaben erhebt sich die Frage, ob und in
welchem Ausmaß die verschiedenen Größengrade funktionalisiert
sind, also eine graduelle Skala der semantischen Gewichtung von
solcherart ausgezeichneten Graphwörtern abbilden.
4. Eine weitere Kategorie von Gliederungsmitteln sind verbale und
nonverbale Grenzmarken ohne lexikalisch-semantischen Wert: Diese
treten zwar ganz unauffällig in Gestalt von wortwertigen Elemen-
ten auf, haben sich aber im Lauf der Zeit so weit verselbstständigt,
dass diese nicht mehr ‚wörtlich‘ gemeint sind. Es handelt sich einer-
882 Andrea Hofmeister-Winter

seits um das lateinische Wort Item, das als Anfangssignal von grö-
ßeren oder kleineren Abschnitten funktional einem ‚Aufzählungs-
punkt‘ entspricht, zumal, wenn es seriell eingesetzt wird; anderer-
seits haben wir es mit einem traditionellen Kürzungssymbol zu tun,
das für die lateinische Phrase et cetera steht, einem Morpho-
gramm16 sozusagen, welches das Ende von Sinnabschnitten kenn-
zeichnet und zumindest im späten Mittelalter und in der frühen
Neuzeit immer seltener als ‚Auslassungszeichen‘ zu interpretieren
ist. In der Paläographie werden solche deverbalisierten Schriftsym-
bole, die oft auch zur optischen Füllung der restlichen Zeile dien-
ten, als Terminatoren (‚Schlusssignale‘) bezeichnet.17
5. Doch nun zu den Interpungierungsmitteln: An ‚echten‘ IP-Mitteln, also
graphischen Elementen, die ausschließlich oder zumindest teilweise
textgliedernde Funktionen übernehmen, sind bei Veit Feichter
(nach abnehmender Häufigkeit gereiht) Virgel, Punkt, Kolon und
runde Klammern vertreten. Semikola verwendet Feichter nicht,
Rufzeichen und Fragezeichen, obwohl in mittelalterlichen Hand-
schriften bereits verwendet, kommen bei ihm textsortenbedingt
nicht vor.18
Der Punkt (in kursiven Schriften selten kreisrund, sondern oft
mit erkennbarem ‚Abstrich‘ in Schreibrichtung) und die Virgel (von
rechts oben nach links unten geführter Strich im Mittelbandbereich,
ungefähr parallel zur Schriftneigung) stehen einander besonders in
kursiven Schriften mitunter formal so nahe, dass die Gefahr der
graphischen Konvergenz droht.19 Die formale Abgrenzung zwi-
schen diesen beiden Graphtypen ist daher in Einzelfällen schwierig
und mitunter nur willkürlich zu treffen. Beide IP-Symbole werden
von Feichter außer zur Textgliederung auch zur Markierung von
Zahlenangaben eingesetzt, indem sie arabische und römische Zah-
len zu beiden Seiten rahmen. In dieser Funktion sind Punkt und

_____________
16 Insofern das Morphogramm ‚etc.‘ nicht auf eine spezielle Lautform, sondern unabhängig
von der (in diesem Fall lateinischen) Einzelsprache auf lexikalische Bedeutungen referiert,
handelt es sich eigentlich um ein Logo- oder Ideogramm; vgl. analog dazu die arabischen
Ziffernsymbole oder konventionale Abkürzungen für Maßeinheiten. Vgl. Hofmeister-
Winter (2003, 181f.).
17 Vgl. Mazal (1986, 145).
18 Nicht zu den IP-Mitteln zu zählen sind also Trennzeichen und Einfügungszeichen sowie
Kürzungspunkte, Apostroph, Bindestriche etc., eine Zwischenstellung haben Ausgren-
zungsmittel wie Klammern und Anführungszeichen.
19 Vgl. Hofmeister-Winter (2003, 210f.).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 883

Virgel als Ausgrenzungsmittel zu verstehen, weil sie Zahlensymbole


von alphabetischen Schriftelementen sondern.20
Doppelpunkt (Kolon) kommt bei Feichter zwar gelegentlich als
Textgliederungsmittel vor, häufiger aber als Suspensionskürzungs-
zeichen, und zwar speziell bei Initien lateinischer Texte oder Ge-
sänge der Liturgie; außerdem wird das Kolon in seltenen Ausnah-
mefällen als platzsparende Variante des paarigen Trennungszei-
chens verwendet. Für meine nachfolgende Untersuchung wäre das
Kolon nur in der ersten Funktion relevant, doch liegt im ausge-
wählten Textmaterial ein einziger Beleg für diese Kategorie vor, so-
dass dieses Symbol vorläufig nicht berücksichtigt werden kann.
Klammern – bei Feichter kommen praktisch ausschließlich
runde Klammern vor – werden paarweise zur Kennzeichnung von
Parenthesen verwendet, sind also genau genommen ebenfalls Aus-
grenzungssignale;21 als solche wären sie in unserer konkreten Un-
tersuchung sehr wohl von Belang, müssen aber hier ebenfalls bei-
seite gelassen werden, weil sie bei Feichter insgesamt äußerst selten
und in den repräsentativen Textausschnitten überhaupt nicht auf-
treten.
Alle genannten Gliederungsmittel sind in der Basistransliteration element-
getreu festgehalten und ihre Auszeichnungen mit speziellen Codes anno-
tiert (vgl. Abb. 2 und 4, die als repräsentative Auszüge fol. 1v und 92r
wiedergeben; Abb. 1 und 3 bieten ein Schwarzweiß-Faksimile der entspre-
chenden Handschriftenseiten zur Kontrolle): Fettdruck bezeichnet rote
Textteile, Unterstreichungen sind im Text generell rot. Vergrößerte Buch-
staben sind nach Größenkategorien bezeichnet: Gradzeichen (‚°‘) steht für
vergrößerte Minuskel, Paragraphenzeichen bezeichnen Initialen in zwei
Vergrößerungsstufen (‚§1‘ und ‚§2‘); Interpunktionszeichen sind phäno-
mengetreu nach ihrer Tintenfarbe differenziert mit Hilfe folgender (jeweils
nachgestellter) Indizierungen:
0 = schwarze Tinte
1 = rote Tinte
2 = schwarzes IP-Symbol, mit identischem Symbol rot überschrie-
ben (ganz oder teilweise überdeckend)
3 = schwarzes IP-Symbol, durch identisches Symbol rot verdoppelt
(nebeneinander).
Nur bei Virgeln kommen vor:

_____________
20 Palmer (1991, 241) spricht in diesem Zusammenhang von ‚Isolierungspunkten‘.
21 Vgl. Gallmann (1985, 29).
884 Andrea Hofmeister-Winter

4 = schwarzer Punkt mit roter Virgel überschrieben (ganz oder teil-


weise deckend)
5 = rote Virgel neben schwarzem Punkt.
Dadurch wird in der Transliteration der Textaufzeichnungsprozess abge-
bildet, der in der Regel in mindestens zwei Phasen ablief, aber unter-
schiedlich dicht ausgeprägt ist:
1. Die Grundschicht ist prinzipiell schwarz geschrieben inkl. IPZ, le-
diglich rote Überschriften sind durch kurzfristigen Tintenwechsel
linear eingefügt worden. 22
2. In einer oder mehreren Überarbeitungsphasen wurden nachträglich
(das ist durch die Untersuchung der Strichfolge am Original gesi-
chert) mit Rot Auszeichnungen in Form von roten Zierstrichen
und Unterstreichungen vorgenommen sowie die erwähnten Rubri-
ken an den linken Seitenrand gesetzt, um besonders wichtige Wör-
ter / Textstellen hervorzuheben, explizit auf inhaltliche Schwer-
punkte hinzuweisen oder die durch die roten Überschriften und
Absatzgrenzen in der Grundschicht bereits angelegten Abschnitte
weiter zu untergliedern. Im Zuge dieser Revisionsphase(n) erfolgten
auch Nachträge (Ergänzungen) und Korrekturen, 23 die Einzelgra-
phe, Wörter oder IP-Symbole betreffen.
Ausschnitt I enthält außer dem schwarzen Grundtext und den linear auf-
gezeichneten roten Überschriften der Grundschicht nur die üblichen Aus-
zeichnungen durch Unterstreichungen, Rubrizierungen und Marginalien.
Ausschnitt II hingegen weist darüber hinaus besonders viele Rubrizierun-
gen von IP-Mitteln auf, die einer näheren Untersuchung wert sind.
Hier wurden zum einen fast alle IPZ der Grundschicht rot übermalt
(bis auf wenige Ausnahmen, die vermutlich übersehen wurden). In einigen
Fällen wurde zum anderen das schwarze IPZ der Grundschicht revidiert,
_____________
22 Zumindest gibt es kaum graphische Indizien für die nachträgliche Einfügung von Über-
schriften. Eine seltene Ausnahme ist die erste Überschrift auf fol. 1v, Zeile 1, die mit einem
Verweis am Ende des Codex korrespondiert, wo sich der Jahreskreis schließt: Am Ersten
Súntag Im adúent / Súech Im anfang / disses púech. (zit. nach der gedruckten Edition von Hof-
meister-Winter 2001, 425). Graphische Indizien dafür sind ein anderer Federschnitt und
eine kleinere Schrift, die wohl durch drohenden Platzmangel bedingt ist, denn der Nach-
trag erfolgte knapp am oberen Seitenrand.
23 Nachträge dienen der Beseitigung von Unvollständigkeiten und Unvollkommenheiten der
Ausführungshandlung auf der Textoberfläche; Korrekturen werden dort notwendig, wo
schreibsprachliche Normen verletzt wurden. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass sich
der Schreiber seiner Fehlleistung unmittelbar während des Schreibakts oder bei einer nach-
träglichen ‚Korrekturlesung‘ bewusst wird. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn es
sich um Performanzfehler handelt und nicht um Kompetenzfehler, die der Schreiber weder
erkennen noch von sich aus korrigieren kann. Vgl. Hofmeister-Winter (2003, 191).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 885

also durch ein anderes ersetzt. Eine dritte Gruppe von roten IPZ ist je-
doch überhaupt erst in der Revisionsphase in den Text gelangt: Hierbei
handelt es sich ebenfalls um eine Art Korrektur, nämlich um die Ergän-
zung von (aus Sicht des Autors) Fehlendem.24
Auf diese Weise wurde die Zahl der IP-Mittel in Ausschnitt II gegen-
über Ausschnitt I erheblich vermehrt, und zwar in weit höherem Maße, als
durch den um ca. 16 % größeren Textumfang dieses Ausschnitts erklärbar
wäre!25 Das lässt sich statistisch nachweisen: Stellt man die Zahl der IP-
Zeichen im jeweiligen Textausschnitt zur Gesamtanzahl der Graphwörter
in Beziehung, so kommen in Textausschnitt I auf 100 Graphwörter 13
IPZ, in Ausschnitt II 18, also fast um die Hälfte mehr!
Die genauere statistische Auswertung der Basistransliteration nach den
Repräsentationstypen der IPZ fördert folgenden Befund zutage:

<Virgel> Ausschnitt Ausschnitt <Punkt> Ausschnitt Ausschnitt


I II I II
/0 307 7 .0 83 7
/1 4 228 .1 1 37
/2 0 317 .2 0 10
/3 0 16 84 54
/4 2 2
/5 0 5
313 575
Tabelle 1: Statistik über Repräsentationsformen der Virgeln und Punkte
in den untersuchten Textausschnitten des DMB

58 % (333) aller Virgeln der Grundschicht wurden in Ausschnitt II mit


Rot nachgezogen, also quasi bestätigt, wobei die ursprüngliche Virgel der
Grundschicht entweder ganz oder teilweise überdeckt wurde (Kodierung
‚/2‘) oder – seltener – die rote Virgel neben der schwarzen zu liegen kam
(Kodierung ‚/3‘); nur sieben Virgeln der Grundschicht sind schwarz
geblieben. Für die historische Syntaxforschung besonders interessant sind
aber jene 228 Virgeln (= 40 %), die in Ausschnitt II überhaupt erst nach-
träglich in Rot ergänzt, also vom Schreiber als Desiderat empfunden wur-
den (Kodierung ‚/1‘)! Solche ‚Autokorrekturen‘ finden sich im Vergleich
dazu in Ausschnitt I sehr selten: Von den vier monochrom roten Virgeln
_____________
24 Um das deutlicher sichtbar zu machen, habe ich in den beiden Ausschnitten (Abb. 2 und 4)
die verschiedenen Repräsentationstypen aller IPZ wie folgt hervorgehoben: IPZ in schwar-
zer oder roter Grundschrift und solche ‚Revisionen‘, die den Stand der Grundschicht nur
bestätigen, sind grau eingerahmt. Echte Korrekturen jedoch wurden zur Verdeutlichung
grau unterlegt.
25 Ausschnitt I enthält 3010 Graphwörter, Ausschnitt II 3478, was hier auf eine etwas höhere
Zeilenzahl pro Seite zurückzuführen ist.
886 Andrea Hofmeister-Winter

stehen dort drei innerhalb von roten Überschriften, gehören also zur
Grundschicht und sind nicht als Revisionsmaßnahme zu werten; nur in
einem einzigen Fall handelt es sich hier um eine nachträgliche Ergänzung.
Ebenfalls interessant für die Syntaxforschung sind die revidierten IP-
Symbole (Kodierung ‚/4‘ und ‚/5‘), aber solche Fälle sind in beiden Aus-
schnitten eher selten.
Diese Beobachtungen eröffnen uns die nicht alltägliche Gelegenheit,
direkt in die Schreibwerkstatt eines Autors zu blicken, indem wir etwa die
Unterschiede zwischen den beiden Passagen feststellen und fragen, was
den Autor dazu bewogen haben mag, im Lauf eines relativ kontinuierli-
chen Schreibprozesses seine IP-Gewohnheiten so gravierend zu verän-
dern. Dazu müsste man die Textausschnitte detailliert nach speziell festzu-
legenden Gesichtspunkten analysieren und annotieren. Die Schwierigkeit
ist zu entscheiden, nach welchen Kriterien wir dabei vorgehen sollen, die
der Intention des Autors am besten gerecht werden. Ich muss gestehen,
dass ich hierin über einen ersten oberflächlichen Versuch noch nicht hin-
ausgekommen bin:
Um die Strukturen des Textes in der Basistransliteration deutlicher
sichtbar zu machen, habe ich die Grenzen zwischen Perioden durch visu-
elle Markierungen hervorgehoben (vgl. Abb. 2 und 4): Alle Periodenan-
fänge wurden mit vorangestelltem ‚►‘ markiert, und zwar dort, wo der
Autor selbst durch eindeutige graphische Mittel eine Markierung gesetzt
hat (vergrößerte Majuskel, Unterstreichung, Rubrizierung – oft in Kombi-
nation). Periodenenden (egal, ob durch graphische Mittel symbolisiert
oder als Leerstelle vorhanden) habe ich durch nachgestelltes ‚◄‘ gekenn-
zeichnet. Innerhalb dieser größeren Abschnitte habe ich weiter segmen-
tiert in satzwertige (auch hypotaktische) Abschnitte, die jeweils eine ge-
schlossene Aussage umfassen (z.B. eine Anweisung, die isoliert einen
vollständigen Sinn ergäbe). Die Grenze zwischen solchen Abschnitten
habe ich durch ‚■‘ bezeichnet. In derselben Weise könnte man nun auch
noch Gliedsätze markieren, um zu sehen, ob und durch welche IPZ diese
vom Autor gekennzeichnet sind. Diese visuelle Segmentierung zeigt fol-
genden Befund:
• Die beiden Passagen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer
makrostukturellen Gliederung (in Überschriften und Absätze), son-
dern hauptsächlich im mikrostrukturellen Bereich unterhalb des
Niveaus von Ganz- und Teilsätzen.
• Eine Hierarchie der beiden IP-Symbole Virgel und Punkt ist vor-
läufig nicht festzulegen. Zwar scheint der Punkt tendenziell häufi-
ger am Zeilenende aufzutreten, falls an dieser Stelle überhaupt ein
IPZ gesetzt wird, doch müsste dieser Eindruck erst quantitativ
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 887

überprüft werden. Grundsätzlich ist kein funktioneller Unterschied


zwischen Virgel und Punkt ersichtlich.26
• In Ausschnitt I fehlt oftmals am Ende eines Ganzsatzes ein satz-
schließendes Zeichen, wenn das Periodenende mit dem Ende einer
Zeile oder eines Absatzes zusammenfällt. In dieser Position sind
satzschließende IPZ offenbar fakultativ, zumal Zeilenwechsel und
Majuskel am Beginn der nächsten Zeile den Anfang eines neuen
Abschnitts ausreichend kennzeichnen. In Abschnitt II ist dies signi-
fikant seltener der Fall, denn hier sind zahlreiche satzschließende
IPZ nachträglich ergänzt worden.
Damit ist unsere Frage nach der rätselhaften Vermehrung von IPZ aber
noch nicht ausreichend geklärt, denn es bleibt immer noch ein beachtli-
cher Überhang an IPZ in Ausschnitt II. Diese verteilen sich auf den Text
zwischen den mehr oder weniger deutlich bezeichneten Satzgrenzen in
einer Weise, die sich mit syntaktischen Begriffen oft nur unzureichend
beschreiben lässt. Segmentiert wird hier großteils nach Satzgliedern (oft
sind es Objekte oder Adverbialbestimmungen), aber nicht durchwegs im
streng grammatischen Sinn. Das Anliegen des Autors scheint eher die
Kennzeichnung essentieller inhaltlicher Informationen zu sein, die mit
jedem weiteren Redeglied hinzukommen und erst in vollständiger Anein-
anderreihung die gewünschte Wirkung seiner Anweisungen entfalten.27
Auch das lässt sich im Vergleich der beiden Textausschnitte deutlich er-
kennen: In Ausschnitt II fallen tatsächlich zahlreiche nachträglich hinzu-
gefügte IPZ in diese Kategorie.

4. Schlussfolgerungen und Zusammenfassung


Über die Gründe für ein Abweichen von der ursprünglich gewählten
Textgliederungsstrategie im Lauf des Textproduktionsprozesses kann hier
nur spekuliert werden: Sie reichen von der Tagesverfassung über einen
sich ändernden ästhetischen Geschmack (immerhin hat sich der Schreib-
akt zumindest über ein Jahr erstreckt) bis hin zum permanenten Ringen
um eine Optimierung der Verschriftlichungsstrategie. Es wäre ein lohnen-
des Unterfangen, beide Aufzeichnungstypen, wie wir sie in Ausschnitt I
und II vor uns haben, nicht nur von ihrem Endergebnis her miteinander
zu vergleichen, sondern in mehrschichtigen Textpassagen die Phasen der
_____________
26 In diesen Grobbefund ist der in dieser Untersuchung mangels ausreichender Belege nicht
berücksichtigte Doppelpunkt in der Funktion als IPZ einzuschließen.
27 Vgl. Fiebig (2000, 100f.).
888 Andrea Hofmeister-Winter

Niederschrift jeweils gesondert zu analysieren und deren IP-Grundsätze


getrennt zu beurteilen.
Es gälte aber auch, über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen
Textgliederungsstrategien nachzudenken. Das wichtigste Ziel des Autors
war es ohne Frage, eine störungsfreie Kommunikation zu sichern. Durch
Hervorhebungen aller Art hat er ihm wichtig erscheinende Wörter /
Wortgruppen dem Leser zur besonderen Beachtung anempfohlen. Seine
farbige Auszeichnung und Ergänzung von IPZ unterteilt die Anweisungen
in klare Einzelinformationen: Wer, was, wo, wie, wann, wozu – jeder Re-
deteil scheint unverzichtbar, um dem Rezipienten klare Anweisungen zu
erteilen. Doch es besteht die Gefahr, dass durch die überbordende Aus-
zeichnungsflut im mikrostrukturellen Bereich die Abgrenzung von größe-
ren Sinneinheiten in Gestalt geschlossener Handlungsanweisungen (wie
sie durch Satzeinheiten repräsentiert werden) unterlaufen, wenn nicht gar
vollends aufgelöst wird, erst recht, wenn syntaktisch motivierte IP-
Symbole mit Markierungen von Sinneinheiten zusammenfallen. Es
scheint, dass wir anstelle der gesuchten Syntax-Marker in Feichters Text
hauptsächlich Sinn-Marker finden.
Ist eine solche Textgliederungsstrategie für den Kommunikationspro-
zess nicht eher hinderlich? Ich habe den Verdacht, dass die im Zuge des
Überarbeitungsprozesses angebrachten Farbmarkierungen an IP-Symbo-
len nicht so sehr als Lesehilfe für den Rezipienten dienen, sondern zu-
nächst einmal dem Autor selbst: Stellen wir uns bildhaft vor, wie der Au-
tor seinen soeben fertig gestellten Tagesabschnitt zur abschließenden
Kontrolle mit höchster Konzentration durchliest. Er mag dies laut oder
halblaut tun, eventuell sogar „gekoppelt […] mit begleitenden rhythmi-
schen Hand- oder Kopfbewegungen“28. Die (Sub-)Vokalisierung des Tex-
tes bei der Korrekturlesung unterstützt ihn in diesem Fall, wo es nicht um
rhetorische Qualitäten des Textes geht, nicht so sehr dabei, die Formulie-
rungen hinsichtlich ihrer Klangstruktur aufeinander abzustimmen,29 son-
dern die einzelnen Informationseinheiten zu validieren. Die Hervorhe-
bung mit graphischen Mitteln, die den Text optisch in kleinere Einheiten
zergliedert, könnte somit einer Art ‚Bestätigung der Richtigkeit‘ der ein-
zelnen Informationen gleichkommen, wobei der Autor gewissermaßen
jeden einzelnen Gedankenbaustein seines Textkonzepts auf einer imaginä-
_____________
28 Wrobel (1992, 377). In diesem Zusammenhang sei auf das in der Sprachpsychologie be-
kannte Phänomen der motorischen Unterstützung verschiedener sprachlicher Aktivitäten
beim überwiegend motorischen Typ hingewiesen, der sich z.B. Wissen durch eigenhändi-
ges Abschreiben aneignet oder Unterstreichungen und Randbemerkungen in Büchern
setzt, die nicht nur dazu dienen, das Wichtigste hervorzuheben; vgl. Kainz (1967, 94ff. u.
195f.).
29 Vgl. Keseling (1988, 233).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 889

ren Liste als erledigt ‚abhakt‘. Diese Informationsverarbeitungsstrategie


Feichters erinnert entfernt an die Techniken von neuerdings hoch im
Kurs stehenden Methoden zur Beschleunigung des Lesevorgangs bei
gleichzeitig verbesserter Aufnahme der gelesenen Informationen ins
Kurzzeitgedächtnis (beworben z.B. unter den Bezeichnungen Speed Rea-
ding® oder Power Reading®),30 die in Anlehnung an neuere Erkenntnisse
der Gehirnforschung und der Sprachpsychologie entwickelt wurden und
die sich trainieren lassen, indem man mit dem Stift in der Hand liest und
zentrale Informationen unmittelbar durch Unterstreichung markiert. Der
Stift hat dabei die Aufgabe, das Auge beim Durcheilen der Textzeilen zu
führen und die Konzentration zu unterstützen. Analog dazu könnte man
Feichters Markierungstechnik, semantischen Einheiten Nachdruck zu ver-
leihen, als ‚Power Writing‘ bezeichnen, nur dass hier die Rollen vertauscht
sind: Der Autor bevormundet den intendierten Rezipienten gewisserma-
ßen, indem er ihm die Beurteilung der Einzelinformationen nach ihrem
Grad der Wichtigkeit abnimmt. Damit wird dem Leser allerdings die
Chance vorenthalten, sich den Text selbst anzueignen (wer von uns emp-
findet Unterstreichungen und Marginalien, die schon ein anderer Rezi-
pient in einem Text vorgenommen hat, nicht als störend)! Wenn dieser
Eindruck stimmt, liegt die Funktion der Rubrizierungen in Feichters Co-
dex wenigstens zu einem Teil in der Selbstkontrolle des Autors / Schrei-
bers und nicht so sehr in einer optischen Lesehilfe für sein Publikum.
Spätestens an diesem Punkt drängt sich noch einmal die Frage nach
dem intendierten Publikum31 und dem Zweck des Textes auf: Wer inner-
halb des Domstifts brauchte derart detaillierte Informationen und Anwei-
sungen überhaupt? Feichter selbst und sein Lehrling sicher nicht – ihnen
hätten stichwortartige Notizen als Gedächtnisstütze genügt. Offenbar
dachte Feichter in seinem akribischen Bemühen um Traditionsbewahrung
tatsächlich in größeren Dimensionen: Damit ain Nachkomender Thúemesner
sich aúch wise zú halten, schreibt er im Vorwort seines Urbars32 und meint
mit dieser indefiniten Formulierung wohl nicht nur seinen unmittelbaren
Amtsnachfolger,33 sondern ‚alle künftigen Dommesner‘, die sich aber –
Ironie des Schicksals! – nicht allzu intensiv auf die Lektüre des Wälzers
eingelassen haben dürften. Die Abnützungsspuren sind eher schwach und
die Schriftspuren, die spätere Rezipienten in Form von Randnotizen hin-
terlassen haben, stammen großteils aus dem 17. Jh., als die Umsetzung der
_____________
30 Vgl. einschlägige Literatur, z.B. Buzan (2005).
31 Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 25f.).
32 DMU *4v/17-19.
33 Aufgrund der internen Gesetzmäßigkeit, nach der im Brixner Domkapitel nach dem Tod
des Lehrherrn stets der mesner knecht in dessen Position aufrückte, dürfen wir uns Gallus
Pacher als primären Adressaten vorstellen.
890 Andrea Hofmeister-Winter

Tridentinischen Liturgiereform längst vollzogen war und wohl nur mehr


ein historisches Interesse an dem Text bestanden haben dürfte.34 Ange-
sichts dieser Umstände wäre über die Kategorie ‚Gebrauchsschrifttum‘
neu nachzudenken, denn von einem gelungenen Kommunikationsakt
kann erst die Rede sein, wenn auch die Perlokution in dem vom Sender
beabsichtigten Ausmaß geglückt ist.35 Feichter selbst scheint an deren
Gelingen zum Zeitpunkt der Entstehung seines Textes nicht gezweifelt zu
haben. Immerhin konnte er sich des Rückhalts durch das Domkapitel
sicher sein, das sein Bemühen um Traditionssicherung noch kurz vor
seinem Tod mit einer Gratifikation in Höhe von 20 Gulden würdigte.36
Aus Feichters Sicht ist das Vorhaben bereits im Prozess der Textproduk-
tion als geglückt zu betrachten, insofern es ihm gelungen ist, alle Informa-
tionen über die überkommenen liturgischen Riten zu einem umfassenden
Handbuch zu verarbeiten. Es mag ihn trösten, dass sein Werk heute zahl-
reichen wissenschaftlichen Disziplinen als in vieler Hinsicht reiche Quelle
immer noch zur Verfügung steht.

Literatur

Buzan, Tony (2005), Speed Reading. Schneller lesen – mehr verstehen – besser behalten, 10.
Aufl., Frankfurt a. M.
Fiebig, Annegret (2000), Urkundentext. Computergestützte Auswertung deutschsprachiger
Urkunden der Kuenringer auf Basis der eXtensible Markup Language (XML), (Schriften
zur südwestdeutschen Landeskunde 33), Leinfelden-Echterdingen.
Gallmann, Peter (1985), Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für eine
Reform der Orthographie, (RGL 60), Tübingen.
Hofmeister-Winter, Andrea (1997), „Quelle und Macht. Bewußte Quellenberufungen
als Mittel rechtlicher Sicherung beim Brixner Dommesner Veit Feichter (Mitte
16. Jh.)“, in: Anton Schwob / Erwin Streitfeld / Karin Kranich-Hofbauer
(Hrsg.), Quelle – Text – Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Ar-
beitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996,
Tübingen, 63-72.
Hofmeister-Winter, Andrea (Hrsg.) (2001), Die Schriften des Brixner Dommesners Veit
Feichter (ca. 1510-1560), Bd. 1: Das Brixner Dommesnerbuch. Mit elektronischer
Rohtextversion und digitalem Vollfaksimile auf CD-ROM, (Innsbrucker Beiträge
zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 63), Innsbruck.

_____________
34 Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 26ff.).
35 Vgl. Rachoinig (2009).
36 Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 19).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 891

Hofmeister-Winter, Andrea (2003), Das Konzept einer „Dynamischen Edition“ dargestellt an


der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.), Theorie
und praktische Umsetzung, (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 706), Göppingen.
Kainz, Friedrich (1967), Psychologie der Sprache, Bd. IV, Stuttgart.
Keseling, Gisbert (1988), „Textmuster und Klangstrukturen als Grundlage von Be-
wertungen beim Schreiben“, in: Wolfgang Brandt, Sprache in Vergangenheit und Ge-
genwart, (Marburger Studien zur Germanistik 9), Marburg, 219-236.
Mazal, Otto (1986), Lehrbuch der Handschriftenkunde, (Elemente des Buch- und Biblio-
thekswesens 10), Wiesbaden.
Palmer, Nigel F. (1991), „Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft“, in: PBB,
113 / 1991, 212-250.
Rachoinig, Sigrid Maria (2009), „Wir tun kund und lassen dich wissen.“ Briefe, Urkunden und
Akten als spätmittelalterliche Grundformen schriftlicher Kommunikation, dargestellt anhand
der Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein, (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre
und Öffentlichkeit 2), Frankfurt a. M. u.a.
Simmler, Franz (2003), „Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen“, in:
Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.),
Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung,
2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., 3. Teilbd., (HSK 2.3), Berlin, New York, 2472-
2504.
Stolt, Birgit (1990), „Redeglieder, Informationseinheiten: Cola und Commata in Luthers
Syntax“, in: Anne Betten (Hrsg.), Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deut-
schen. Referate der internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989, unter Mitarb. v. Claudia
M. Riehl, (Reihe Germanistische Linguistik 103), Tübingen, 379-392.
Weingarten, Rüdiger (2003): „Schriftspracherwerb“, in: Gert Rickheit (Hrsg.), Psycho-
linguistik / Psycholinguistics. Ein internationales Handbuch, (HSK 24), Berlin, 801-811.
Wrobel, Arne (1992), „Revisionen und Formulierungsprozeß“, in: Manfred Kohrt /
Arne Wrobel (Hrsg.), Schreibprozesse – Schreibprodukte. Festschrift für Gisbert Keseling,
Hildesheim u.a..

Abkürzungsverzeichnis
BT Basistransliteration
DMB Brixner Dommesnerbuch
DMI Inventar der Brixner Domsakristei
DMU Brixner Dommesner-Urbar
IP Interpungierung
IPZ Interpungierungszeichen
892 Andrea Hofmeister-Winter

Anhang

Abbildung 1: Faksimile DMB, fol. 1v


Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 893

DMB001v,01 ►§1Am Er$ten Su3ntag Im adu3ent


DMB001v,02 ►§2Am Samb$tag °zu3 der ve$per Im anfang des adu3ents
DMB001v,03 §1Singt man die ve$per von der zey2t /0 ■ Ley2t ve$per mit
DMB001v,04 vier gloggen zu3nander /0 ■ thu3e die tafl au3ff dem kor
DMB001v,05 altar zu3e /0 $ou3er vorhin offen wa3r gewe$t /0 ■ vndder
DMB001v,06 °dem ve$per Ley2tten leg die zwen gro$$e antiffona=
DMB001v,07 ri /0 die wintter tay2l /0 au3ff bay2den ko4r au3ff /0 wo die
DMB001v,08 monather $iczen /0 ■ die Ligen Im Ca$ten In des Schu3el=
DMB001v,09 mai$ters pu3lpreth /0 ■ vnd die zway2 Su3mertay2l leg
DMB001v,10 darneben au3ff den andern $tu3el hinu6ber /0 ■ dan die
DMB001v,11 manater mu3e$$en zu3 der metten die Su3ffragia dar=
DMB001v,12 au3ß $ingen /0 de Sancta Catherina @1(etc.)◄
DMB001v,13 ►§2darnach °zu3 der metten /0 Leg au3ch das Leczen
DMB001v,14 pu3ech au3ff /0 ■ das winter tay2l /0 ligt zu3 vnderi$t
DMB001v,15 In des $chu3elmai$ters gro$$en pu3lpret /0 wo die gro$$en
DMB001v,16 antiffonari vnd gradu3al ligen x◄
DMB001v,17 ►§2Item au3ff des herren °dechants kor vor den drey2
DMB001v,18 korherrn °zu3 vn$er fraw3en /0 au3ff das $elb pu3lpreth
DMB001v,19 leg au3ch /0 den gro$$en antiffonari /0 das winter tay2l
DMB001v,20 au3ff /0 ■ das finde$tu3 Im alten Ca$ten bey2 der Le$er=0
panckh .0 ■ °das !1Su3mer tay2l las noch ain wey1l ligen /0 < au3ff
DMB001v,21
der panckh /0 >
DMB001v,22 biß vn$er Lieben frawen tag fu3r I$t Conceptionis @3(etc.)
darnach thu3eß In den $elbig#1(en) alt#1(en) Ca$t#1(en) /0 an $tat
DMB001v,23
des
DMB001v,24 winter tay2ls .0 ◄
DMB001v,25 ►§2Item °zu3 der ve$per /0 °deckh das Leder au3ff den kor altar
DMB001v,26 ab /0 biß au3ff halbs /0 ■ zint ‘2’ kerczen au3ff /0 ■ vnd
DMB001v,27 zint die Cronen an /0 ■ Mach ain glu3et au3ff .0 ■
DMB001v,28 gib den $chwarcz Samathen mantl /0 oder den $chwarcz
DMB001v,29 atla$en mantl zu3 dem Rau3chen .0 ◄
DMB001v,30 ►§2Item °zu3 dem !1Salu3e Ley2t wan die Complet gar i$t
DMB001v,31 au3ß ge,$u3ngen /0 das der Schu3elmai$ter mit den $chu4e=

Abbildung 2: Ausschnitt I: Basistransliteration DMB, fol. 1v


894 Andrea Hofmeister-Winter

Abbildung 3: Faksimile DMB, fol. 92r


Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ 895

DMB092r,01 ►§2Am Samb$tag /1 den °hey2li0gen o$ter abent


►§1des °morgens In aller fru3e /2 las holcz !2@4(i.e.) gehackte $chei-
DMB092r,02
ter
DMB092r,03 In das !1Schu3eler ga4rtl hinab tragen /1 In Creu3cz gang /2 ange=
DMB092r,04 u3erlich bey2 fu3nff armen vol /2 nit gar zu3 gro$$e $cheit#6(er) .1 ■
DMB092r,05 nit mer als zway2 $cheiter /2 die mie$$en groß $ein /2 die man
er$tlich zu3 vnderi$t anlegt /2 ■ darnach Ca$t#1(en) die $cheiter au3ff
DMB092r,06
.1 ■
DMB092r,07 °vnnd dar,neben am $eitt#1(en) /1 lain au3ch etlich $cheiter vmher /1 ■
DMB092r,08 °darnach Nim von dem kirchen ti$chler /2 ain $cho$$en vo=
DMB092r,09 ler hobl $chait#1(en) /2 die leg zu3 vnderi$t vnder die $cheiter .2
DMB092r,10 damit es palt fahen mo4g /2 ►§1darnach Schaw3 das du3 ain
DMB092r,11 feu3r zeu3g bey2 dier Im !1Sagrer ha$t /2 vnnd vnder der
!1Tercz /2 oder !1Sext /3 $o $chlach baczeit#1(en) ain feu3r /2 ■ dan
DMB092r,12
man mu3eß
DMB092r,13 das feu3r /2 oder den Scheiter hau3ffen /1 mit ainem New3 ge$chla=
DMB092r,14 gen liecht an zinten /4◄
DMB092r,15 ►§2darnach vber zeu3ch den kor altar /1 mit altar tu4echer /1 ■
DMB092r,16 °vnnd leg das Rott !1Samat altar tu3ech au3ff /1 mit den
DMB092r,17 gu3lden $ternen /2 ■ $ecz die zwen hohern fe$t leichter au3ff den
DMB092r,18 altar /1 ■ !1Trag die Creu3cz hinau3ß /2 vnnd thu3e den !1Sarch
DMB092r,19 au3ff /2 ■ fu3r den altar zeu3ch den !1Gro$$en tebich /2 vnnd den
DMB092r,20 klainern tebich /1 vnder die gro$$en leichter /4 au3ff /2 ■ die
DMB092r,21 zwen gro$$en fe$t leichter /1 die $ten vorhin da /2 ■ dar,nach
DMB092r,22 au3ff die vier fe$t leichter /1 $teckh gar New3e fe$t kerczn .1
DMB092r,23 au3ff /2 ■ In den kor zeu3ch au3ch allend halben die Tebich
DMB092r,24 au3ff /2 ■ Trag die ta4ff kerczen /0 hinau3ß In kor /2 vnnd pints
DMB092r,25 mit ainer gu3rtl /2 wie manß In me$,gewant prau3cht /1
DMB092r,26 an das !1Groß pu3lpret /3 wo der Iu3nckhmai$ter $tet /3 ■ da
DMB092r,27 $elbs hat das pu3lpret $cho4n $eine lo4cher /3 dar,du3rch
DMB092r,28 man die Gu4rtl zeu3cht /2 ■ °pren den °zachen an der ta4ff
DMB092r,29 kerczen nit ab /2 aber an den vier fe$t kerczen mag$tu3
DMB092r,30 die zachen wol ab,prennen /2 ►§1darnach Nim das lang
DMB092r,31 $ta4ngl /2 damit man die fe$t kerczen alle,mal an zint ■
DMB092r,32 °vnnd pint zu3 voderi$t drey2 !2Claine kerczen an /2 die
DMB092r,33 alle droy2 au3$ nander $ten /2 ■ zint die nit an /2 !1Su3nder
DMB092r,34 lain das [**] $ta4ngl mit den drey2 kerczen /1 an die ta4ff
DMB092r,35 kerczen .2 ◄

Abbildung 4: Ausschnitt II: Basistransliteration DMB, fol. 92r


Neuhochdeutsch
Explizite Junktion
Theorie und Operationalisierung

Vilmos Ágel (Kassel)

1. Gegenstand und Ziele1


1.1. Gegenstand: explizite Junktion in der Grammatik des Nhd.

Unter Junktion wird in Anlehnung an Wolfgang Raible (1992) die universa-


le Dimension der sprachlichen Darstellung von Inhaltsrelationen zwischen
zwei Sachverhalten verstanden:
(1) Peter liegt mit Grippe im Bett. Er geht nicht zur Schule.
(2) Peter liegt mit Grippe im Bett und geht nicht zur Schule.
(3) Weil Peter mit Grippe im Bett liegt, geht er nicht zur Schule.
In (1) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellungen
durch bloße Juxtaposition indiziert. Die Erschließung der Art der Relation
wird dem Leser überlassen. Die Junktionstechnik ist aggregativ.
In (2) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellun-
gen zusätzlich zur Juxtaposition durch eine Vorwärtsellipse markiert. Die
Relation ist grammatisch fester, aber die Erschließung der Art der Relation
wird weiterhin dem Leser überlassen. Die Junktionstechnik ist integrativer
als in (1).
In (3) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellun-
gen durch Einbettung eines vorangestellten Kausalsatzes in den Hauptsatz
indiziert. Die Relation wird durch Subordination indiziert. Die Art der
_____________
1 Der Theorieteil des vorliegenden Beitrags stellt eine gekürzte Fassung von Ágel / Diegel-
mann (im Druck) dar. Entsprechend werden zahlreiche Details, weiterführende Begrün-
dungen im Fließtext und Bemerkungen in Fußnoten bzw. mögliche kritische Punkte der
Theorie hier nicht mehr angesprochen. Eine abgespeckte Vorstellung der Theorie ist not-
wendig, weil sonst die Operationalisierung und die Anwendung der Methode auf einen his-
torischen Text (Abschnitt 4) nicht verständlich wären. Für die Junktionsanalyse des histori-
schen Textes danke ich Carmen Diegelmann.
900 Vilmos Ágel

Relation wird durch den Subjunktor weil eindeutig ausgedrückt. Die Junk-
tionstechnik ist stark integrativ.
Die satzsemantisch − durch Inhaltsrelationen − begründete Junk-
tionstheorie von Raible sieht insgesamt acht Techniken vor, die der Junk-
tionsdimension zuzuordnen sind. Diese Junktionstechniken werden zwi-
schen maximaler Aggregation und maximaler Integration verortet und
drücken diverse Inhaltsrelationen aus. Raibles Theorie ist zwar der Aus-
gangspunkt der vorzustellenden Theorie, aber keine Endstation. Aus drei
Gründen nicht:
 Erstens, weil Raibles Modell ausgehend von den strukturellen Ei-
genschaften romanischer Sprachen entwickelt wurde. Die sich aus
der deutschen Felderstruktur ergebenden zusätzlichen Junk-
tionstechniken und weitere Merkmale der Junktion im Deutschen
konnten also nicht berücksichtigt werden. Da diese im Handbuch der
deutschen Konnektoren (= HdK) ausführlich beschrieben werden,
konnten die Theorien von Raible und des HdK mit eigenen Über-
legungen verbunden werden. Den Phänomenbereich, der mit dieser
Theorie abgedeckt werden soll, nennen wir im Projekt „Explizite
und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pi-
lotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeut-
schen“, explizite Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der
sog. „expliziten Sprache“ (von Polenz 1985, 24f.) zuzurechnen ist. 2
 Der zweite Grund ist, dass wir im Projekt meinen, dass eine Junk-
tionstheorie nicht nur diejenigen Verknüpfungen von Sachverhalts-
darstellungen zu modellieren hat, die explizit sind, d.h. durch eine
reguläre Realisierung von Sprachzeichen erfolgen, sondern auch dieje-
nigen, die elliptisch sind, d. h. durch eine reguläre Nichtrealisierung von
Sprachzeichen erfolgen (vgl. Beispiel (2) oben). Dies ist der Phä-
nomenbereich, den man in den Ellipsentheorien Koordinationsel-
lipsen (Klein 1993) oder Ana- bzw. Katalepsen (Hoffmann in der
IDS-Grammatik 1997, 409ff.) nennt. Diesen Phänomenbereich, um
den wir die Theorie der expliziten Junktion ergänzen wollen, nen-
nen wir elliptische Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der
sog. elliptischen Weise des Ausdrucks (von Polenz 1985, 25f.) zu-
zurechnen ist. Überlegungen zu einer Theorie der elliptischen Junk-
tion und zur Integration der expliziten und elliptischen Junktion
wurden von Mathilde Hennig angestellt (Hennig 2008 und Hennig
2009).
_____________
2 Zum Projekt vgl. Ágel / Hennig 2007 und die Projekthomepage online im Internet:
http://www.uni-kassel.de/%7Ehennig/junktion.html.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 901

• Drittens stehen unsere Theorien der expliziten und elliptischen


Junktion nicht in einem sprachtypologischen Zusammenhang, son-
dern in einem spezifischen variationslinguistischen Kontext. Die
theoretischen Überlegungen sind Teil des Langfristprojekts
„Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“. Konzeptionelles
Leitprinzip der geplanten Grammatik ist die besondere Fokussie-
rung auf die grammatischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit. Der variationslinguisti-
schen Begründung dieses konzeptionellen Leitprinzips dient das
Nähe-Distanz-Modell, das eine Theorie des Nähe- und Distanz-
sprechens und deren an historischen Texten erprobte Operationali-
sierung umfasst (Ágel / Hennig 2006a und 2006b bzw.
Ágel / Hennig 2006). Mit Hilfe des Modells kann der Grad der
Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit (auf Mikro- wie Makroebene) be-
stimmt werden, sodass jedem Text ein prozentualer Nähe- bzw.
Distanzwert zugeordnet werden kann. Da die Junktionsdimension
eine zentrale Rolle im Modell des Nähe- und Distanzsprechens
spielt, indem gemäß der Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
Nähe und Aggregation bzw. Distanz und Integration korrelieren
sollen, müssen in unseren Junktionstheorien erwartungsgemäß auch
solche aggregativen Strukturen berücksichtigt werden, die in den an
modernen Schriftsprachen orientierten Grammatiktheorien bzw.
grammatischen Beschreibungen nicht berücksichtigt werden.
Unsere Grundüberlegungen zur Junktionstheorie sollen am folgenden
Beispiel erläutert werden:3
(4) Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waß
mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt
mitt Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I, 40v)
Der uns interessierende Teil ist die Koordination der ist-vererdt-worden-
Sachverhaltsdarstellung und der verdienet-habe-Sachverhaltsdarstellung. Indi-
ziert man (durch eckige Klammern) die vorwärtselliptischen Teile in der
zweiten Sachverhaltsdarstellung und die junktionsrelevanten grammati-

_____________
3 Um das konzeptionelle Leitprinzip des Langfristprojekts umzusetzen, sind wir dabei, ein
Nähekorpus des Nhd. aufzubauen und grammatisch zu erschließen. Dazu wurde der Zeit-
raum 1650-2000 in sieben Abschnitte à 50 Jahre (I = 1650-1700; II = 1700-1750 ... VII =
1950-2000) eingeteilt. Der jeweilige Entstehungsabschnitt ist den Zitierformen der Korpus-
texte zu entnehmen. „Güntzer I“ ist beispielsweise ein Nähetext aus der Zeit zwischen
1650 und 1700.
902 Vilmos Ágel

schen Kategorien und Relationen in beiden Sachverhaltsdarstellungen,


bekommt man folgendes Bild:4
(4a) Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waßnom
mihrdat zu Zeitten von meinen Frindten (ist vererdt worden)V1V3V2
undt [waßakk] [ichnom] mitt Zinstechen (verdienet habe) V2V1
Es ist ersichtlich, dass bei einer exhaustiven und angemessenen Beschrei-
bung der Koordination insgesamt vier Faktoren berücksichtigt werden
müssen:
1. der Konjunktor und (explizite Junktion);
2. die nichtparallele Serialisierung der Verbalkomplexe (explizite Junk-
tion);
3. die Nichtrealisierung des Akkusativobjekts waß in der zweiten Sach-
verhaltsdarstellung, obwohl waß in der ersten Sachverhaltsdarstel-
lung Subjekt ist (elliptische Junktion);
4. die Nichtrealisierung des Subjekts ich in der zweiten Sachverhalts-
darstellung, obwohl mihr in der ersten Sachverhaltsdarstellung Da-
tivobjekt ist (elliptische Junktion).
In einer Theorie der expliziten Junktion muss dem Umstand Rechnung
getragen werden, dass die und-Koordination durch eine aggregative Seriali-
sierung geschwächt wird, während in einer Theorie der elliptischen Junktion
die kategoriale Aggregativität der beiden Koordinationsellipsen (zweifa-
cher Kasuswechsel) berücksichtigt werden muss (aggregative Koordina-
tionsellipsen).

1.2. Ziele

Vorliegender Beitrag setzt sich


1. zum Ziel, eine Theorie der expliziten Junktion vorzustellen (Kapitel 3).
Diese soll nicht nur in der Lage sein, gegenwartsdeutsche und dis-
tanzsprachliche, sondern auch historische und nähesprachliche
Strukturen zu erfassen. Eine Theorie der expliziten Junktion um-

_____________
4 V1 = Verbum finitum, V2 = direktes Dependens von V1, V3 = direktes Dependens von
V2. Die Serialisierung im dreigliedrigen Verbalkomplex ist vererdt worden folgt – im Gegen-
satz zu heute − nur im infiniten Bereich (V3V2) dem Dependenzprinzip ‚rechts determi-
niert links’, während die Abfolge des zweigliedrigen Komplexes verdienet habe ganz dem
Prinzip entspricht. Ausführlich s. Ágel 2001.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 903

fasst drei Komponenten: (a) Junktionsklassen, (b) Junktionstechni-


ken und (c) Inhaltsrelationen.
2. wird das Ziel verfolgt, die Theorie für die praktische Arbeit mit Texten
zu erschließen. Analog zur Operationalisierung des Nähe-Distanz-
Modells soll also auch das Junktionsmodell operationalisiert werden
(Kapitel 4). So, wie die Operationalisierung des Nähe-Distanz-
Modells eine Quantifizierung des Grades an Nähe- bzw. Distanz-
sprachlichkeit von Texten ermöglicht, so soll die Operationalisie-
rung des Junktionsmodells eine Quantifizierung des Grades an Ag-
gregativität bzw. Integrativität von Texten möglich machen. Jedem
Text soll ein Junktionswert zugeordnet werden können.5
3. Im Zuge der theoretischen und praktischen Arbeit hat sich heraus-
gestellt, dass es sinnvoll ist, nicht nur den Junktionswert eines Tex-
tes, sondern auch dessen Junktionsintensität zu analysieren (4.3.3.).

2. Die drei Extensionen von Aggregation


und Integration
Die der Theorie der expliziten (und auch der der elliptischen) Junktion
zugrunde liegende Extension der Begriffe Aggregation und Integration
(= Extension A) stellt nur eine von drei möglichen Extensionen der Junk-
tionsdimension dar. Deshalb ist es notwendig, hier auf alle drei Extensio-
nen, deren jede ihren analytischen Sinn und ihre theoretische Berechti-
gung hat, kurz einzugehen:
• Extension A: Die Gesamtheit der Junktionstechniken, die der Ver-
knüpfung von Aussagen durch Inhaltsrelationen dienen. Im Sinne der
Satzsemantik von Peter von Polenz (1985) können drei Erschei-
nungsformen von Aussagen unterschieden werden: Verknüpfung,
Einbettung und Zusatz. Einbettung, die sich syntaktisch durch Sub-
jekt- und Objektsätze bzw. durch Subjekts- und Objektsinfinitive
manifestiert, und Zusatz, der appositiv oder attributiv syntaktifiziert
wird, gehören nicht zur Extension A.
• Extension B: Die Gesamtheit der Junktionstechniken, die der Ver-
knüpfung von Aussagen durch Inhaltsrelationen, der Einbettung
einer Aussage in eine andere Aussage und dem Hinzufügen einer
Aussage zu einer anderen Aussage dienen. Im Sinne von Extension
_____________
5 Komplementär wurde die Integration expliziter und elliptischer Junktion von Mathilde
Hennig operationalisiert (Hennig 2008).
904 Vilmos Ágel

B ist die (satzsemantische) Einbettung (5a) aggregativer als die Ein-


bettung (5b) und der (satzsemantische) Zusatz (6a) aggregativer als
der Zusatz (6b):
(5a) Peter wird nicht kommen. Das ist mir jetzt schon klar.
(5b) Dass Peter nicht kommen wird, ist mir jetzt schon klar.
(6a) Ich suche ein Buch. Ich habe es erst gestern ins Regal zurückge-
stellt.
(6b) Ich suche ein Buch, das ich erst gestern ins Regal zurückgestellt
habe.
Da die Typen (5a) bis (6b) keine Realisierungen von Aussagenverknüp-
fungen darstellen, gehören sie nicht zum Gegenstand unserer Theorie der
expliziten Junktion. Extension A ist eine Teilmenge von Extension B.
• Extension C: Die kognitiv-kulturgeschichtlich motivierbaren Para-
meter Aggregation und Integration, die zwei grundverschiedene gram-
matische Organisationstypen darstellen, deren Relation je nach Va-
rietät unterschiedlich und historisch einem steten Wandel
unterworfen ist. Da Extension C an anderer Stelle ausführlich vor-
gestellt und begründet wurde (Ágel 2003 und 2007) und da Exten-
sion B eine Teilmenge von Extension C darstellt, sollen hier ledig-
lich vier Beispieltypen genannt werden, die Junktionstechniken
exemplifizieren, die über Extension B hinausgehen. Die jeweiligen
a-Beispiele sind dem Aggregationsparameter, die b-Beispiele dem
Integrationsparameter zuzuordnen:
(7a) Dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tra-
gen… (Güntzer I, 41r)
(7b) Denn es ist verboten, in diesem Wald geladene Waffen zu tragen.
(8a) meine Mutter mit ihren Kindern stehen an der Hausthü-
re...(Haniel IV, 19)
(8b) Meine Mutter mit ihren Kindern steht an der Haustür.
(9a) Da mach doch Gott geben da die Zeit nun endlich mahl komme
des Wiedersehns (Briefwechsel V, 117)
(9b) … die Zeit des Wiedersehens
(10a) Das Hanaw war belägert von kaiserischem Volk und war beset-
zet mit Schweden. (Bauernleben I, 35)
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 905

(10b)Hanau war von kaiserlichen Truppen belagert und von Schwe-


den besetzt.
Beim Typus (7) handelt es sich um syntaktische Subordination. Dieser
entspricht im Falle von (7b) eine semantische Subordination, da die Pro-
position der Infinitivkonstruktion präsupponiert ist. Im Gegensatz dazu
ist die Proposition der Infinitivkonstruktion von (7a) assertiert, da die
Setzung des Negationsartikels unabhängig von der Realisierung der Direk-
tivhandlung durch das negative Matrixverb verbieten erfolgt ist. Die Typen
(8) und (9) − Sinn- vs. Formkongruenz bzw. diskontinuierlicher vs. konti-
nuierlicher Anschluss des Genitivattributs − müssen nicht näher erläutert
werden.
Typus (10) ist deshalb besonders aufschlussreich, weil er unauffällig
ist. Aggregativer ist (10a) als (10b) deshalb, weil die Nichtrealisierung der
Kopula, die zur Straffung der Koordination beitragen könnte, ausbleibt.
Diese und-Koordination wird also im Gegensatz zum Typus (4) (vgl. 1.1.)
nicht durch fehlende kategoriale und relationale Straffung, sondern durch −
wohlgemerkt, aus heutiger Sicht − pleonastische Kategorienrealisierung ge-
schwächt. Beides geht auf Kosten der syntaktischen Kohäsion.

3. Junktionsklassen und -techniken


3.1. Junktionsklassen

Junktoren verbinden Sachverhaltsdarstellungen. Beteiligt an einer Junktion


sind also zwei Konnekte und der Junktor, der eine Inhaltsrelation zwi-
schen den Konnekten herstellt.6 In diesem Sinne ist die Juxtaposition (vgl.
Beispiel (1) in 1.1.), die bei Raible die aggregativste Junktionstechnik dar-
stellt, keine explizite Junktionstechnik, da kein Junktor vorhanden ist (vgl.
auch Wegener 2001, 89). Aus einem anderen Grunde stellt die sog. Para-
junktion (Verbindungen mit Diskursmarkern oder Parajunktoren) eben-
falls keine explizite Junktonstechnik dar. Sie dient nämlich nicht der syn-
taktischen Verbindung von zwei Konnekten, sondern der Diskursorga-
nisation (Auer / Günthner 2005). Parajunktoren sind im Sinne der Theo-
rie des Nähe- und Distanzsprechens dem Zeit- oder dem Situationspara-
meter zuzuordnen und fungieren als Zeit- bzw. Situations-Diskurszeichen,
d.h. als Zeit- / Situations-Nähezeichen oder -Distanzzeichen (Ágel 2005).

_____________
6 In Anlehnung an das HdK spreche ich im technischen Sinne von Konnekten, d.h. von zu
jungierenden oder jungierten syntaktischen Strukturen, die jeweils Sachverhaltsdarstellun-
gen repräsentieren.
906 Vilmos Ágel

Zu unterscheiden sind vier Junktionsklassen, die hinsichtlich der Ag-


gregations- / Integrations-Skala von links nach rechts angeordnet sind:

Abbildung 1: Explizite Junktion

Folgende Strukturen sollen die einzelnen Klassen − von links nach rechts,
also nach zunehmender Integrativität − einführend exemplifizieren:
(11a) Peter geht nicht zur Schule. Er ist nämlich krank.
(11b)Weil Peter krank ist, geht er nicht zur Schule.
(11c) Wegen seiner Erkrankung kann Peter nicht zur Schule gehen.
(11d) Seine Erkrankung ist der Grund dafür, dass Peter nicht zur
Schule gehen kann.
Da die einzelnen Klassen und die diesen zugeordneten Junktionstechniken
weiter unten begründet werden, soll an dieser Stelle nur auf die Unter-
scheidungskriterien für die einzelnen Klassen eingegangen werden:
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 907

Abbildung 2: Junktionsklassen7

Primäres Unterscheidungskriterium ist die Anzahl (0 bis 2) der vom Junk-


tor regierten Konnekte. Je mehr Konnekte der Junktor regiert, desto stär-
ker sind die Konnekte (über den Junktor) integriert. Während koordinie-
rende Junktoren kein Konnekt regieren, regieren unifizierende Junktoren,
die selber Prädikatsausdrücke sind (vgl. oben den Junktor ist der Grund
dafür), beide Konnekte.
Um die Klassen Subordination und Inkorporation, deren Junktoren je-
weils ein Konnekt regieren, unterscheiden zu können, wird als sekundäres
Kriterium die Art − verbal oder nominal (= nominalisiert) − des regierten
Konnekts eingeführt. Denn hinsichtlich des Junktionsgrades (Aggrega-
tions- bzw. Integrationsgrades) besteht der Unterschied zwischen Subordi-
nation und Inkorporation darin, dass das regierte Konnekt der Subordination
verbal und damit noch relativ selbstständig ist, während das regierte Kon-
nekt der Inkorporation eine nominalisierte Sachverhaltsdarstellung reprä-

_____________
7 R = Relator (Junktor), K = Konnekt. Die Großbuchstaben K, S und I stehen für die
Klassen Koordination, Subordination und Inkorporation. Mit dem Terminus Inkorporation − im
Unterschied zu Inkorporierung − soll sowohl die Familienähnlichkeit zwischen der Junkti-
onsklasse und dem Wortbildungsverfahren als auch der Domänenunterschied (Syntax vs.
Wortbildung) erfasst werden.
908 Vilmos Ágel

sentiert und daher syntaktisch voll in das andere Konnekt eingegliedert ist.
Inkorporierende Junktoren sind Adpositionen, die regierten Konnekte
Nominalgruppen, die eine Sachverhaltsdarstellung komprimiert ausdrü-
cken.
Bei der Unifikation, deren regierte Konnekte verbal wie nominal sein
können, spielt das sekundäre Unterscheidungskriterium keine Rolle, weil
das Besondere an der Unifikation darin besteht, dass die beiden Konnekte
über einen Prädikatsausdruck vereint werden. Unifizierende Junktoren un-
terscheiden sich also entscheidend von den Junktoren der drei anderen
Klassen, die alle unflektierbaren Wortarten angehören. Dass unifizierende
Junktoren Prädikatsausdrücke sind, ist der Grund dafür, dass sie, obwohl
sie in der Regel weniger grammatikalisiert sind als koordinierende, subor-
dinierende und inkorporierende Junktoren, die beiden Konnekte am
stärksten integrieren.
Im Folgenden sollen die den einzelnen Junktionsklassen zugeordneten
Junktionstechniken vorgestellt werden. Junktionstechniken sind einzelsprach-
liche syntaktische Jungierungsoptionen, die ausschließlich nach der Aggre-
gations- / Integrations-Skala begründet werden. In diesem Sinne stellen
(12a) und (12b) zwei verschiedene Koordinationstechniken dar, obwohl
sie mit demselben Junktor operieren:
(12a) Die Suppe war gut. Dagegen war das Schnitzel nicht saftig genug.
(12b)Die Suppe war gut. Das Schnitzel dagegen war nicht saftig genug.
Doch ist die Gemeinsamkeit zwischen den Junktionstechniken in (12a)
und (12b) nicht zu übersehen. Dieser Gemeinsamkeit trägt das HdK
Rechnung, wenn es dagegen in beiden Fällen als Adverbkonnektor identifi-
ziert.8 Deshalb ist es angebracht, einen Unterschied zwischen Junktionstech-
nik und (Junktions-)Grundtechnik zu machen. Die Grundtechnik − Koordi-
nation durch einen AP-Junktor − ist (12a) und (12b) gemeinsam,
unterschiedlich sind die Junktionstechniken. Ein Junktionssystem, das auf
der Unterscheidung zwischen Techniken und Grundtechniken basiert, soll
ein zweidimensionales Junktionssystem genannt werden.

_____________
8 Im Rahmen des Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhoch-
deutschen“ sprechen wir von AP-Junktoren (= Adverb- und Partikeljunktoren), da nicht alle
Adverbkonnektoren Adverbien sind.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 909

3.2. Junktionstechniken
3.2.1. Koordinationstechniken

Zu unterscheiden sind zwei Grundtechniken:


1. Konjunktion: Koordination durch Konjunktoren;
2. AP-Junktion: Koordination durch AP-Junktoren.
Diese Grundtechniken werden in Abhängigkeit von zwei Kriterien zu
sechs Junktionstechniken ausdifferenziert. Die Kriterien:
• Stellungsfeld (nur AP-Junktoren);
• + / − Paarigkeit (beide Grundtechniken).
Die sechs Koordinationstechniken:9

Abbildung 3: Koordination

_____________
9 In Anlehnung an die Felderstruktur des HdK. NF / NS = Nachfeld- oder Nachsatzstelle,
VF / MF = Vorfeld oder Mittelfeld, VE / NE = Vorerst- oder Nacherststelle.
910 Vilmos Ágel

Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen einfachen und paarigen Kon-


junktoren und AP-Junktoren folge ich Diegelmann (2008, 22ff.), die auch
den Terminus paariger AP-Junktor eingeführt hat:10
(13a) [Zwar werden … die Zielsetzungen der Betriebe unterschiedlich
sein…]K1
[doch wird jede dieser Zielsetzungen … realisiert werden]K2
(Beleg nach Diegelmann 2008, 25)
(13b)[die Zielsetzungen der Betriebe werden unterschiedlich sein]K1
[doch wird jede dieser Zielsetzungen realisiert werden]K2
(13c) [die Zielsetzungen der Betriebe werden zwar unterschiedlich
sein]K1
doch [jede dieser Zielsetzungen wird realisiert werden]K2
(13d) [die Zielsetzungen der Betriebe werden unterschiedlich sein]K1
doch [jede dieser Zielsetzungen wird realisiert werden]K2
Ein Konjunktor steht zwischen den beiden Konnekten. Je nachdem, ob
sich im ersten Konnekt zusätzlich eine Partikel befindet, mit der zusam-
men der Konjunktor eine Inhaltsrelation ausdrückt, werden paarige von
einfachen Konjunktoren unterschieden ((13c) vs. (13d)). Ist dagegen der
koordinierende Junktor in die Felderstruktur des zweiten Konnekts integ-
riert, liegt ein AP-Junktor vor. Je nachdem, ob sich im ersten Konnekt
zusätzlich eine Partikel befindet, mit der zusammen der AP-Junktor eine
Inhaltsrelation ausdrückt, können auch hier paarige und einfache AP-
Junktoren unterschieden werden ((13a) vs. (13b)).
Generell lässt sich sagen, dass paarige Junktion immer integrativer ist
als einfache. Auch dürfte es unumstritten sein, dass AP-Junktion im All-
gemeinen integrativer ist als Konjunktion. Die einzige AP-Junktions-
technik, die aggregativer ist als die einfache Konjunktion, ist die seltene
und grammatisch oft zweifelhafte Option, wenn der AP-Junktor das
Nachfeld oder die Nachsatzstelle (des zweiten Konnekts) besetzt:
(1a) ?Peter liegt mit Grippe im Bett. Er will zur Schule gehen aller-
dings.
In solchen Fällen wird die Inhaltsrelation quasi nachgeschoben, ohne dass
die Verbindung der beiden Konnekte syntaktisch kohäsiv wirken würde.

_____________
10 K1 = erstes Konnekt, K2 = zweites Konnekt.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 911

3.2.2. Subordinationstechniken

Die allermeisten Grundtechniken gibt es bei der Subordination, die als


eine „radiale“, prototypische Kategorie zu verstehen ist (Fabricius-Hansen
1992 und 2007; Wegener 2001):

Abbildung 4: Subordination I11

Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen finiten und infiniten


Techniken:12
(14) Auff der Tonaue halffe ich rudtern, darmit ich kein Schifflohn
dirffte außgeben. (Güntzer I, 46r)
(15) Als ich nacher Ambsterdam kam, ließe ich eine Dockaten
w=xlen, darmit die Statt besichtigen. (Güntzer I, 84r)
(16) Auff einen Dag pflegte ich in dem gesalzen Sewaßer baden, dar-
mit Eitter und Pludt auß den Wunden und Plattern zu waschen,
den Leib etwaß zu seiffern und reinigen. (Güntzer I, 102v)

_____________
11 PK = Partizipialkonstruktion, IK = Infinitivkonstruktion.
12 Während die Aggregations- / Integrations-Skala von Raible (1992) infinite Techniken
enthält (Technik V bei Raible), werden sie bei Fabricius-Hansen (1992, 458), die sich auf
„Subordination im engeren Sinne“ beschränkt, explizit ausgeklammert.
912 Vilmos Ágel

Der Vergleich der Belege (14) bis (16) zeigt, dass eine Unterscheidung
zwischen finiter und infiniter Grundtechnik nicht ausreicht, da im Nhd.
die infinite Junktionstechnik ohne zu noch präsent ist (s. (15) und die Infi-
nitivkonstruktion mit reinigen in (16)). Wir betrachten − trotz Infinitheit −
diese Grundtechnik als besonders aggregativ, weil der Infinitiv ohne zu
normalerweise statusregiert ist und daher − als Teil eines Verbalkomple-
xes − keine neue Sachverhaltsdarstellung indiziert. Ähnlich aggregativ sind
Partizipialkonstruktionen, aber aus einem anderen Grund: Die auszudrü-
ckende Inhaltsrelation lässt sich nur pragmatisch inferieren, was Partizi-
pialkonstruktionen inhaltlich in die Nähe von Juxtapositionen rückt. Syn-
taktisch sind sie jedoch qua Infinitheit integriert.
Bei den finiten Junktionstechniken unterscheiden wir in Anlehnung an
das HdK je nach Rektum des internen − durch den Junktor eingeleiteten
− Konnekts Verbzweitsatzeinbetter und Subjunktoren (die man auch
Verbletztsatzeinbetter nennen könnte). Im Gegensatz zum HdK betrach-
ten wir die Subordination durch Postponierer nicht als eine eigene Grund-
technik, da Postponierer (wie z.B. sodass, wobei) ebenfalls Verbletztsatzeinbet-
ter sind. Dass sie weniger integrieren als die Subjunktoren, die auch
anteponiert werden können, wird bei der Operationalisierung zu berück-
sichtigen sein.
Hinsichtlich des Junktionsgrades nehmen wir noch eine Grundtechnik
an, die Subordination durch Subjunktorersatz:
(17) Kaum hatte ich die Arbeit beendet, klingelte das Telefon.
(17a) Kaum dass ich die Arbeit beendet hatte, klingelte das Telefon.
(18) Mir kam es vor, als hätte ich ewig gewartet.
(18a) Mir kam es vor, als ob ich ewig gewartet hätte.
(19) Ist es hier ungemütlich, können wir auch wo anders hingehen.
(19a) Wenn es hier ungemütlich ist, können wir auch woanders hinge-
hen.
Unter Subjunktorersatz verstehen wir die Techniken (17) bis (19), die als
Alternativen der subjungierenden Techniken (17a) bis (19a) dienen. Die-
sen Techniken gemeinsam ist die Subjunktor-Reduktion und deren Indi-
zierung durch Nicht-Verbletzt. Durch die Subjunktor-Reduktion bleibt
entweder nur die besondere Wortstellung – vgl. (19) – oder zusätzlich ein
Restsubjunktor wie in (17) und (19) übrig.13

_____________
13 Typ (19) sind auch uneingeleitete Konzessivsätze mit mag / möge + Inf. zuzuordnen (Ba-
schewa 1983, 98ff.).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 913

Mit der Kategorie Subjunktorersatz, die eine paradigmatische Relation


zur Kategorie Subjunktor präsupponiert, ist historisch vorsichtig umzuge-
hen. In neuhochdeutschen Nähetexten gibt es eine Reihe von Strukturen,
die ähnlich wie (17) aussehen, aber in keiner paradigmatischen Relation zu
subjungierten Nebensätzen stehen (Hennig 2007, 264ff.). Diese Struktu-
ren, deren internes Konnekt durch den AP-Junktor so eingeleitet wird und
die nicht nur temporale, sondern auch adversative, kausale und konditio-
nale Inhaltsrelationen ausdrücken können (Hennig 2007, 267), stellen
möglicherweise die Grammatikalisierungsvorgänger des integrativeren
Typus (17) dar.
Bei der Operationalisierung werden die Techniken Subordination durch
Verbzweitsatzeinbetter und Subordination durch Subjunktorersatz zu einer Grup-
pe zusammengefasst, da hier keine Kriterien für eine Differenzierung
entlang der Aggregations- / Integrations-Skala angegeben werden können.
Zusammenfassend seien die Grundtechniken der Subordination nach
zunehmendem Integrationsgrad genannt:14
1. infinite Subordination ohne zu: Infinitivkonstruktion ohne zu;
2. infinite Subordination ohne zu: Partizipialkonstruktion;
3. Subordination durch Verbzweitsatzeinbetter;
4. Subordination durch Subjunktorersatz;
5. Subordination durch Subjunktor;
6. infinite Subordination mit zu.15
Diese Grundtechniken können in Abhängigkeit von zwei Kriterien zu
einer Reihe von Junktionstechniken ausdifferenziert werden:
• Stellungsfeld: Position des internen Konnekts;
• Korrelate: Vorhandensein und Position.

_____________
14 Der „zunehmende Integrationsgrad“ gilt wie erwähnt für 1 und 2 bzw. für 3 und 4 nicht,
die als gleich aggregativ / integrativ zu betrachten sind. Entsprechend wird bei der Opera-
tionalisierung (4.2.) von vier Grundtechniken der Subordination auszugehen sein.
15 Die Unterscheidung zwischen infiniter Subordination mit zu ohne und mit Infinitivjunktor
(z.B. ohne…zu) wird bei der Operationalisierung zu berücksichtigen sein.
914 Vilmos Ágel

Abbildung 5: Subordination II16

Befindet sich das interne Konnekt außerhalb der Felderstruktur (in der
sog. Nullstelle), ist die Verbindung besonders aggregativ:17
(20) Um meine Familie zu sehen, ich fahre nach Hause.
Etwas integrativer sind diejenigen Techniken, bei denen sich das interne
Konnekt im Nachfeld befindet. Hier unterscheiden wir drei Techniken:
(21a) Ich fahre nach Hause dazu, um meine Familie zu sehen.
(21b)Ich fahre nach Hause, um meine Familie zu sehen.
(21c) Ich fahre dazu nach Hause, um meine Familie zu sehen.
Entscheidend ist hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala, dass
man zwei Typen von Korrelaten unterscheiden muss: resumptive (= re-
sumptiv) und nichtresumptive (= +KORR).18 Resumptive Korrelate be-

_____________
16 Zugunsten der Übersichtlichkeit wurde hier ein gewisser Grad an terminologischer Unprä-
zision in Kauf genommen, da sich (a) die Nullstelle nicht außerhalb der Felderstruktur,
sondern nur außerhalb der Kernfelderstruktur befindet und (b) die internen Konnekte der
resumptiven Techniken vor dem Vorfeld und nach dem Nachfeld zu positionieren sind.
17 Die Vorstellung der verschiedenen Techniken basiert auf demselben Grundbeispiel, was
zur Folge hat, dass im Gegenwartsdeutschen nicht jedes Beispiel einwandfrei ist.
18 Zur Resumption im Allgemeinen vgl. König / van der Auwera (1988).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 915

setzen die letzte Stelle im vorangestellten Hauptsatz (vgl. (21a)) und die
erste Stelle im nachgestellten Hauptsatz (vgl. (23a)). Sie sind versetzend:
rechtsresumptive Korrelate rechtsversetzend, linksresumptive linksverset-
zend. Nichtresumptive Korrelate befinden sich unabhängig von der Stel-
lung des Hauptsatzes in dessen Mittelfeld (vgl. (21c) und (23c)). (21a) ist
demnach rechtsresumptiv. Verglichen mit der korrelatlosen (= −KORR)
Technik (21b) ist es aggregativ, weil das resumptive Korrelat einen direk-
ten Anschluss an das erste (externe) Konnekt verhindert.
Am integrativsten ist die Technik (21c) mit (nichtresumptivem) Kor-
relat, weil das nichtresumptive Korrelat den Anschluss des internen Kon-
nekts nicht nur ermöglicht (wie −KORR), sondern auch antizipieren lässt.
Im Mittelfeld besteht nur die Option − / +KORR:
(22a) Ich fahre, um meine Familie zu sehen, nach Hause.
(22b)Ich fahre dazu, um meine Familie zu sehen, nach Hause.
Am besten untersucht sind die Techniken, bei denen das interne Konnekt
im Vorfeld steht.19 Diese sind zu den Nachfeld-Techniken quasi spiegel-
bildlich (linksresumptiv, –KORR, +KORR):
(23a) Um meine Familie zu sehen, dazu fahre ich nach Hause.
(23b)Um meine Familie zu sehen, fahre ich nach Hause.
(23c) Um meine Familie zu sehen, fahre ich dazu nach Hause.

3.2.3. Inkorporationstechniken

Hier ist nur eine Grundtechnik anzunehmen: Die Sachverhaltsdarstellung


des internen Konnekts wird als deverbale oder deadjektivische Adpositio-
nalgruppe komprimiert und in das externe Konnekt eingegliedert:20
(24) Die Bauern verwundern sich, daß wihr mit dem Leben sindt dar-
vonkomen w=gen der großen Unsicherheidt der Merdter
(Güntzer I, 43v)
Diese Grundtechnik kann in Abhängigkeit von der Stellung der Adposi-
tionalgruppe in der Felderstruktur des externen Konnekts zu einer Reihe
von Junktionstechniken ausdifferenziert werden:
_____________
19 Zur Integration linksperipherer Adverbialsätze in der Geschichte des Deutschen vgl. Axel
(2002), Lötscher (2005) und Kappel (2008).
20 Inkorporation ist bei Raible (1992) teils der Technik VI, teils der Technik VII (komplexe
vs. einfache Präpositionen) zuzuordnen. Auch Breindl / Waßner (2006, 47) rechnen mit
Präpositionen als konnexionsstiftenden formalen Mitteln.
916 Vilmos Ágel

Abbildung 6: Inkorporation

Wie man sieht, gilt hier hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala


dasselbe Schema wie bei der Subordination (vgl. Abbildung 5), sodass auf
die Exemplifizierung der einzelnen Junktionstechniken verzichtet werden
kann.

3.2.4. Unifikationstechniken

So wie bei der Inkorporation ist auch hier nur eine Grundtechnik anzu-
nehmen:21 beidseitige Integration der Konnekte durch einen Prädikatsaus-
druck, der den unifizierenden Junktor darstellt. Es ist diese Beidseitigkeit der
Integration (= zwei regierte Konnekte), die die Annahme begründet, dass
diese Grundtechnik am integrativsten ist. Beidseitigkeit hat die theoretische
Konsequenz, dass die Unterscheidung zwischen externem und internem
Konnekt entfallen muss. Wir unterscheiden drei Unifikationstechniken:

_____________
21 Diese Technik fehlt bei Raible. Breindl / Waßner (2006, 47) rechnen dagegen mit „spezifi-
sche[n] Nomina und Verben“ (= LEX) als konnexionsstiftenden formalen Mitteln. LEX
entsprechen den unifizierenden Junktoren.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 917

Abbildung 7: Unifikation

Das Unterscheidungskriterium für die drei unifizierenden Junktionstech-


niken ist der Nominalisierungsgrad der Konnekte: Am aggregativsten ist
diejenige Technik, bei der beide Konnekte verbal sind, am integrativsten
diejenige, bei der beide Konnekte nominalisiert sind. Dazwischen liegt die
verbonominale Mischtechnik.
Da, wie in 3.1. erwähnt, unifizierende Junktoren in der Regel weniger
grammatikalisiert sind als koordinierende, subordinierende und inkorpo-
rierende Junktoren, ist ihre Abgrenzung im Einzelfall nicht unproblema-
tisch. Während etwa der Prädikatsausdruck ist der Grund dafür die Grund-
Folge-Relation in Reinkultur transportiert, ist die Kausalität von verdanken
durch zusätzliche lexikalische Inhalte verdeckt. Der Unterschied soll bei
der Operationalisierung berücksichtigt werden (vgl. 4.2.).

4. Operationalisierung
4.1. Methode

Unter Operationalisierung ist die Ausarbeitung und theoretische Begründung


eines Punktesystems für die Einordnung von Texten entlang der Aggrega-
918 Vilmos Ágel

tions- / Integrations-Skala zu verstehen. Die Operationalisierung soll also


eine Quantifizierung des Grades an Aggregativität bzw. Integrativität von
Texten ermöglichen: Jedem Text soll ein Junktionswert zugeordnet werden
können, der grob über die syntaktische Kohäsion der Texte qua Inhaltsre-
lationen orientiert. Die Berechnung des Junktionswertes beinhaltet drei
Schritte:
1. Analyse des einzuordnenden Textes (Textausschnittes): Identifizie-
rung der Junktionstechniken und Inhaltsrelationen. Dies setzt auch
die Identifizierung der Konnekte (Sachverhaltsdarstellungen) vor-
aus.
2. Punktgebung.
3. Berechnung des Junktionswertes: Inbeziehungsetzen der Punktzahl
des einzuordnenden Textes zu den Punktzahlen der als Tertia
Comparationis definierten proto-aggregativen und proto-integra-
tiven Texte.
Der erste Schritt muss nicht näher kommentiert werden. Im Folgenden
soll zuerst auf die Punktgebung (4.2.), anschließend auf die Berechnung
des Junktionswertes eingegangen werden (4.3.). Hierzu müssen zuerst die
Proto-Texte analysiert werden (4.3.1.). Dann wird die Berechnung des
Junktionswertes an einem historischen Nähetext (Bauerleben I) zu exemp-
lifizieren sein (4.3.2.). Schließlich wird, wie in 1.2. angekündigt, die Junk-
tionsintensität berechnet werden (4.3.3.).

4.2. Punktgebung

Die Aufgabe scheint einfach: Man ordnet jeder Junktionstechnik eine


bestimmte Anzahl von Punkten zu, sodass die aggregativste Technik die
wenigsten und die integrativste die meisten Punkte erhält. Dann zählt man
die Punkte zusammen. Diese „Methode“ wäre aus verschiedenen Grün-
den naiv:
1. Man kann zwar sagen, welche Junktionstechnik am aggregativsten
(Koordination durch AP-JunktionNF / NS) und welche am integra-
tivsten ist (nominale Unifikation), aber die in Texten vorfindliche
empirische Variationsvielfalt im Zwischenbereich ist so groß, dass man
die junktionsrelevanten Kombinationsmöglichkeiten nicht voraus-
sagen kann. Jeder neu analysierte Text fördert Belege zutage, deren
theoretische Verortung Kopfzerbrechen bereitet.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 919

2. Während die Anzahl der Junktionstechniken bei Koordination


(sechs Techniken), Inkorporation (vier) und Unifikation (drei) rela-
tiv leicht zu bestimmen ist, trauen wir uns eine Quantifizierung bei
der Subordination erst gar nicht zu, da die genaue Anzahl der mög-
lichen Kombinationen von finiten / infiniten (Tabelle 4) und stel-
lungsfelderbezogenen Merkmalen (Tabelle 5) kaum anzugeben sein
dürfte. Es handelt sich aber auf jeden Fall um mindestens 30 Tech-
niken.
3. Gesetzt den Fall, dass wir genau wissen, wie viele Techniken der
Subordination zuzuordnen sind − nehmen wir der Einfachheit hal-
ber an, es sind 30 Techniken −, müssten wir bei den vier Klassen
mit insgesamt 43 Techniken rechnen. Würde nun die aggregativste
Technik einen Punkt bekommen, müsste demnach die integrativste
43 Punkte bekommen. So ein Punktgebungsverfahren, dessen theo-
retische Implikation ja wäre, dass die nominale Unifikation 43-mal
integrativer sei als Koordination durch AP-JunktionNF / NS, würde
natürlich jedweder theoretischen Grundlage und jeglicher empiri-
schen Realität entbehren.
Die Aufgabe ist also nicht einfach. Eine Operationalisierungsmethode
bedarf begründbarer theoretischer Entscheidungen, denen die Naivität der
obigen „Methode“ nicht anhaftet.
Ich gehe davon aus, dass Junktion ein syntaktisches Konzept im
Dienste der Semantik ist (zur Begründung vgl. Ágel / Diegelmann im
Druck). Aggregation und Integration beziehen sich also nicht nur auf Art und
Grad der syntaktischen Kohäsion zwischen den jungierten Sachverhalts-
darstellungen, sondern auch auf deren Beitrag zur semantischen Interpre-
tation. Diese Grundposition soll formuliert werden als
LP1:22 Relationale Bilaterialität: Junktion ist eine Relation zwischen ei-
ner syntaktischen Relation zwischen Konnekten und einer semanti-
schen Relation zwischen Sachverhaltsdarstellungen.
Beim LP1 geht es einerseits darum, dass diagrammatische Ikonizität Aus-
wirkungen auf die Junktionstechnik haben kann und dass dieser Umstand
bei der Punktgebung berücksichtigt werden muss (vgl. P1). Andererseits
geht es um die Wohlbestimmtheit oder Vagheit der Inhaltsrelationen, die
durch die Junktoren ausgedrückt werden, was ebenfalls Konsequenzen für
die Punktgebung haben muss (vgl. P2 und P3).
P1: Nichtpropositionale Verknüpfung erhöht den Junktionsgrad der-
selben Technik.
_____________
22 LP = Leitprinzip, P = Prinzip.
920 Vilmos Ágel

P1 bezieht sich auf diejenigen kausalen, konditionalen und konzessiven


Verbindungen, deren ikonische Aggregation in der Fachliteratur ausführlich
behandelt wurde. Ich verweise hier nur auf die „non-integration“-Fälle bei
König / van der Auwera (1988, 111ff.) und illustriere das Problem an der
Gegenüberstellung eines kanonischen Konditionals mit einem „non-
integration“-Typ:
(25) Wenn du fleißig bist, wirst du dein Ziel erreichen.
(26) Wenn du Durst hast, Bier ist im Kühlschrank.
Im ersten Falle ist die Protasis, die das Vorfeld besetzt, in die Apodosis
eingebettet. Der syntaktischen Einbettung entspricht eine semantische. Es
handelt sich um eine „real-word“-Voraussetzung-Konsequenz-Relation
(„content conditional“ nach Sweetser 1990). Die Kodierung ist ikonisch.
Die Kodierung ist auch bei (26) ikonisch, aber auf eine andere Weise. Hier
stehen Protasis und Apodosis syntaktisch unintegriert nebeneinander, das
Vorhandensein des Nebensatzes hat keine Auswirkungen auf die Wort-
stellung im Hauptsatz. Der syntaktischen Nichtintegration entspricht eine
semantische. Ob Bier im Kühlschrank ist oder nicht, ist unabhängig da-
von, ob man Durst hat, aber die Information, dass Bier im Kühlschrank
ist, wird relevant, sobald man Durst hat („speech-act conditional” nach
Sweetser 1990).
Bei einer rein formalen Betrachtung der Aggregations- / Integrations-
problematik würde man sagen, dass (25) integrativer ist als (26). Im Sinne
von LP1 sind jedoch (25) und (26) gleich integrativ, weil sie beide ikonisch
sind, weil in beiden Fällen die zur semantischen Relation passende Junk-
tionstechnik gewählt wurde. Eine anti-ikonische Kodierung würde in bei-
den Fällen versagen:
(25a) ??Wenn du fleißig bist, du wirst dein Ziel erreichen.
(26a) ??Wenn du Durst hast, ist Bier im Kühlschrank.
(25) und (26) sind also im Sinne von LP1 normale, prototypische Fälle
und sollen auch als solche operationalisiert werden. Durch P1 soll bei der
Punktgebung die aggregativere Junktionstechnik von (26) ausgeglichen
werden. Ein analoger Fall ist das viel beachtete epistemische weil mit
Verbzweit im gesprochenen Deutsch (Keller 1993):
(27) Der See ist zugefroren, weil die Kinder spielen auf dem Eis.
(27a) ??Der See ist zugefroren, weil die Kinder auf dem Eis spielen.
Wir betrachten weil in (27) als einen Konjunktor. Die Junktionstechnik ist
also identisch mit der in (28):
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 921

(28) Der See ist zugefroren und die Kinder spielen auf dem Eis.
Im Gegensatz zu der „real-word“-„content“-Verbindung in (28) ist jedoch
(27) epistemisch. Die Subordination in (27a) versagt aus analogen Grün-
den wie die anti-ikonischen Kodierungen in (25a) und (26a). P1 besagt
also, dass dieselbe Technik bei epistemischen und Sprechakt-Verknüpfungen,
die wir der Einfachheit halber nichtpropositional nennen, höher zu bewerten
ist als bei propositionalen Verknüpfungen. Die andere Konsequenz, die
sich aus LP1 ergibt, ist
P2: Vagheit der semantischen Relation reduziert den Junktionsgrad
derselben Technik.
P2 soll an drei Typen von Fällen exemplifiziert werden:
(29) Schieß also meinen Busser loß, daß die Kugel in eine Eichen
ging. (Güntzer I, 43r)
(30) […] Zog mit mihr biß an das Landts zu Meren zu dem Ende,
mich als ein junger Gesell um daz Gelt zu pringen. (Güntzer I,
45r)
(31) Seinen Abgang verdankt er seinem Verhalten.
In all diesen Fällen sind die durch die Junktoren ausgedrückten semanti-
schen Relationen vage, die semantische Integration der Sachverhaltsdar-
stellungen bedarf zusätzlicher interpretativer Anstrengungen. Bei den
wohlbestimmten Kontrastfällen greift P2 dagegen nicht:
(29a) […] sodass die Kugel in eine Eiche einschlug.
(30a) […], um mich um das Geld zu bringen.
(31a) Sein Abgang folgt aus seinem Verhalten.
Eine Art Bonus-Pendant von P2 ist
P3: Emphatische Verstärkung der semantischen Relation erhöht den
Junktionsgrad derselben Technik.
Die Wirkung von P3 soll an einem Typus exemplifiziert werden, für den
auch P2 einschlägig ist:
(32) Dieser Hauptman Widmarckter, ob er nuhn gleich höchstgedach-
ter Ihrer Majestät in vielen Occasionen sein tapferes, treues Ge-
müt […] bezeuget […] (Söldnerleben Widmarckters I, 70)
Es handelt sich um einen diskontinuierlichen Subjunktor mit vagem Erst-
lexem, weshalb für das Erstlexem P2 gilt. Da jedoch die Vagheit durch das
Zweitlexem, das in diesem noch nicht grammatikalisierten Stadium von
922 Vilmos Ágel

obwohl als emphatische Verstärkung des Erstlexems aufzufassen ist, aufge-


hoben wird, gilt auch P3. Die Wirkung von P3 gleicht hier die Wirkung
von P2 aus. Natürlich bezieht sich P3 nicht nur auf diskontinuierliche
Junktoren, sodass P3 auch unabhängig von P2 funktioniert.
Zwei weitere Prinzipien ergeben sich nicht aus LP1:
P4: Konterkarierende Wortstellung reduziert den Junktionsgrad der-
selben Technik.
Konterkarierend sind Wortstellungsvarianten, die die jeweilige Grundtechnik
unterminieren, indem sie gegen kanonische Merkmale der Grundtechnik
arbeiten. Zur Illustration sollen drei Beispieltypen herangezogen werden:
(4) Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waß
mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt mitt
Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I, 40v)
(33) […] zu diesen mal weil Ich bin aus gewesen Ist Meine frauw wieder
mit // einer Iunge tochter erfreuwet […] (Söldnerleben I, 43)
(34) In Anno 1648 da zogen die Völker nach dem Bayerland, das wir
hier in diesem Land ein wenig Ruhe hatten, und baueten die zerris-
sene Bäuw wieder ein wenig […] (Bauernleben I, 71)
Wie in 1.1. erwähnt, liegt in (4) − trotz Koordination − nichtparallele
Serialisierung der Verbalkomplexe vor. Ein analoger Fall ist (33) mit dem
Unterschied, dass hier die Wortstellung eine Subordinationstechnik kon-
terkariert.
(34) ist der Typus, den Otto Behaghel „Herstellung der syntaktischen
Ruhelage“ nannte (Behaghel 1903). Hier werden nicht gleichrangige Struk-
turen − ein Nebensatz und ein Hauptsatz − durch den kopulativen Kon-
junktor und verknüpft.
Während P4 nicht unumstritten sein dürfte (vgl. Ágel / Diegelmann
im Druck), ist P5 relativ unproblematisch:
P5: Eine Verknüpfung durch zwei Junktoren (und zwei Inhaltsrelatio-
nen) gilt als Verdichtung und bekommt die addierte Punktzahl der
zwei Techniken (Prinzip der Additivität).
Als Exempel soll die Modifikation des Belegs (34) dienen:
(34a) […] das wir hier in diesem Land ein wenig Ruhe hatten, und
baueten deshalb die zerrissene Bäuw wieder ein wenig […]
Hier sind zwei Grundtechniken − Koordination durch Konjunktor und
Koordination durch AP-Junktor − und zwei Inhaltsrelationen (kopulativ
und kausal) beteiligt. Soweit die Vorstellung der Prinzipien P1 bis P5.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 923

Während LP1 meine theoretische Grundposition formuliert, exemplifi-


zieren alle Prinzipien P1 bis P5 das methodische Leitprinzip, das generell
dem Punktgebungsverfahren zugrunde liegt:
LP2: Basis-Malus-Bonus-Prinzip.
Die theoretische Grundlage für die Operationalisierung auf der Basis von
LP2 ist das zweidimensionale Junktionssystem, das auf der Unterschei-
dung zwischen Techniken und Grundtechniken basiert (vgl. 3.1.). Die
insgesamt acht Grundtechniken bilden die Grundlage der Punktgebung.
Die aggregativste erhält einen Punkt, die integrativste acht Punkte. Die
zahlreichen Variationen auf diese Grundtechniken, die Junktionstechni-
ken, werden ausgehend von der jeweiligen Grundtechnik mit Hilfe des
skizzierten Malus-Bonus-Verfahrens berechnet.
Die Vorteile des zweidimensionalen Basis-Malus-Bonus-Systems sind
gewissermaßen spiegelverkehrt zu den Nachteilen der eingangs erwähnten
„naiven Methode“:
1. Die in Texten vorfindliche empirische Variationsvielfalt im Zwi-
schenbereich zwischen maximaler Aggregation und maximaler In-
tegration muss nicht verbindlich festgelegt werden, sondern das
Modell ist flexibel genug, um neue Kombinationsmöglichkeiten ab-
zubilden.
2. Gearbeitet wird nicht mit 43 Techniken, sondern nur mit acht
Grundtechniken, sodass der zu modellierende Zwischenbereich
zwischen maximaler Aggregation und maximaler Integration sechs
Grundtechniken umfasst. Diese Anzahl ist übersichtlich, in der A-
nalysearbeit handhabbar und theoretisch vertretbar.
3. Das Malus-Bonus-System hält das Basissystem in beiden Richtun-
gen offen. Beispielsweise ist eine Subordinationstechnik nicht ein
für alle Mal integrativer als eine Koordinationstechnik, da der Junk-
tionsgrad von Koordinationstechniken durch Paarigkeit erhöht
werden kann, während der Junktionsgrad von Subordinationstech-
niken durch eine Reihe von Merkmalen (internes Konnekt außer-
halb der Felderstruktur oder im Nachfeld, Resumptivität, konterka-
rierende Wortstellung und vage semantische Relation) reduziert
werden kann. Auch der Junktionsgrad der inkorporierenden und
unifizierenden Grundtechniken ist soweit reduzierbar, dass inkor-
porierende und unifizierende Junktionstechniken dem Junk-
tionsgrad von subordinierenden Techniken entsprechen können.
924 Vilmos Ágel

emphatische Verstärkung

vage semantische Relati-


Internes Konnekt im MF
Internes Konnekt außer-

Internes Konnekt im VF
Felderstruktur oder NF

konterkarierende Wort-
halb der Felderstruktur

Nichtpropositionalität
Junktor außerhalb der

Paarigkeit

resumptiv
Basiswert

KORR +
KORR –
oder NF

stellung
Grundtechni-
ken

on
Koordination
Konjunktor 1 X 1 1 X X X X X X -1 X -1
AP-Junktor 2 -1 1 1 X X X X X X -1 X -1
Subordinati-
on
3 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
PK/IK-zu
V2-Einbetter 4 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
/ Subj.ersatz
Subjunktor 5 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1

6 X 1 1 -1 0 1 -1 0 1 -1 1 -1
IK+zu
Inkorporati-
7 X X X -1 0 1 X X X X X -1
on
Unifikation 8 X X X X X X -1 0 1 X X -1

Tabelle 1: Punktgebungsverfahren

Im abschließenden Kapitel wenden wir uns nun der Berechnung des Junk-
tionswertes auf der Grundlage des in Tabelle 1 zusammengefassten
Punktgebungsverfahrens und der Junktionsintensität zu.

4.3. Junktionswert (und Junktionsintensität)


4.3.1. Analyse der Proto-Texte

Die Proto-Texte im Bereich der expliziten Junktion sind mit denen des
Nähe-Distanz-Modells identisch (zur Begründung vgl. Ágel / Diegelmann
im Druck, zu den Proto-Texten vgl. Ágel / Hennig 2006b). Es handelt
sich um den Proto-Nähetext Daniel Domian VII und den Proto-
Distanztext Kant III. Die detaillierte Junktionsanalyse der Proto-Texte
befindet sich in Ágel / Diegelmann (im Druck). Die für die Feststellung
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 925

des Junktionswertes relevanten Daten werden in der folgenden Tabelle


zusammengefasst.

Kant III Daniel Domian VII


Wortformen 1.782 1.784
Konnekte 116 212
Basispunkte 223 191
Gesamtpunkte 206 184
Tabelle 2: Proto-Texte: Daten

Wir sehen, dass − bezogen auf dieselbe Textlänge (1.782 bzw. 1.784
Wortformen) − der proto-aggregative Text nahezu doppelt so viele Kon-
nekte hat wie der proto-integrative Text (212 bzw. 116). Dies bedeutet,
dass eine durchschnittliche Sachverhaltsdarstellung bei Kant in etwa dop-
pelt so lang ist wie bei Daniel Domian. Da per definitionem nur Sachver-
haltsdarstellungen jungiert werden können, ist die Anzahl der Konnekte
der entscheidende Bezugspunkt für die anderen Werte.
In diesem Sinne sind die Basispunkte (= Punktzahl der eingesetzten
Grundtechniken) und die Gesamtpunkte (= Basispunkte + Bonuspunkte
− Maluspunkte) zu beurteilen. Diese liegen bei Kant deshalb nur unwe-
sentlich höher, weil sie sich auf halb so viele Konnekte beziehen. Relativ
zu der Anzahl der Konnekte hat Kant mehr als doppelt so viele Basis-
punkte (1,9 vs. 0,9 pro Konnekt) und doppelt so viele Gesamtpunkte (1,8
vs. 0,9) wie Daniel Domian. Die auf ein Konnekt bezogenen Werte wer-
den in Tabelle 3 zusammengefasst:

Kant III Daniel Domian VII


Q Basispunkte 1,9 0,9
Q Gesamtpunkte 1,8 0,9
Tabelle 3: Proto-Texte: Quotienten pro Konnekt (= Q)

Diese Werte für Daniel Domian VII und Kant III definieren die End-
punkte von zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basis-
punkte, und Q Gesamtpunkte. Der Abstand beträgt bei Q Basispunkte: 1,00

Daniel Domian VII Kant III

0,9 1,9

Der Abstand beträgt bei Q Gesamtpunkte: 0,9


926 Vilmos Ágel

Daniel Domian VII Kant III

0,9 1,8

Nach der Vorstellung der operationalisierungsrelevanten Daten der Proto-


Texte wenden wir uns der Berechnung des Junktionswertes eines Beispiel-
textes zu.

4.3.2. Berechnung des Junktionswertes

Unser einzuordnender Text ist ein Nähetext aus dem 17. Jh. (Bauernle-
ben I). Die detaillierte Junktionsanalyse von Bauernleben I befindet sich im
Anhang. Der besseren Vergleichbarkeit halber werden die Daten von
Bauernleben I in Tabelle 2 eingefügt.

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Wortformen 2.098 1.782 1.784
Konnekte 242 116 212
Basispunkte 359 223 191
Gesamtpunkte 300 206 188
Tabelle 4: Einzuordnender Text: absolute Daten

Da die analysierte Textlänge von Bauernleben I nicht mit der der Proto-
Texte identisch ist, müssen die Zahlen von Bauernleben I an die Textlänge
der Proto-Texte (= 1783) angeglichen werden. Die analysierte Textlänge
der Proto-Texte macht 85 Prozent der analysierten Textlänge des einzu-
ordnenden Textes aus, sodass die Werte von Bauernleben I um 15 Pro-
zent reduziert werden müssen.

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Konnekte 206 116 212
Basispunkte 305 223 191
Gesamtpunkte 255 206 188
Tabelle 5: Einzuordnender Text: relative Daten
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 927

Um den Junktionswert von Bauernleben I berechnen zu können, brau-


chen wir auch hier die zwei Quotienten.

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Q Basispunkte 1,5 1,9 0,9
Q Gesamtpunkte 1,2 1,8 0,9
Tabelle 6: einzuordnender Text: Quotienten pro Konnekt

Die Werte für Daniel Domian VII und Kant III wurden als Endpunkte
der Skalen definiert. Der Abstand zwischen diesen beiden Endpunkten
bildet den Ausgangspunkt für die Verortung des Textes.
Q Basispunkte:
Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Basispunkte: 1,00.
Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,6.
Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet
werden:
1,00 0,6
---- = ---- x = 60 %
100 x
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregati-
onspol 60 Prozent und vom Integrationspol 40 Prozent beträgt. Der Text
Bauerleben I erhält in Bezug auf Q Basispunkte einen Aggregationswert
von 40 Prozent und einen Integrationswert von 60 Prozent.
Q Gesamtpunkte:
Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Gesamtpunkte: 0,9.
Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,3.
Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet
werden:
0,9 0,3
---- = ---- x = 33,3 %
100 x
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregati-
onspol 33,3 % und vom Integrationspol 66,7 % beträgt. Der Text Bauer-
leben I erhält in Bezug auf Q Gesamtpunkte einen Aggregationswert von
66,7 % und einen Integrationswert von 33,3 %.
Die unterschiedlichen Werte von Bauernleben I bezogen auf die Ska-
len Q Basispunkte, und Q Gesamtpunkte sind nicht überraschend, schließlich
bildet die Skala Q Basispunkte nicht das zweidimensionale Junktionssystem
928 Vilmos Ágel

mit Grundtechniken und Techniken, sondern nur das Basissystem ab. Die
besonderen junktionstechnischen Variationen des Textes manifestieren
sich in der Skala Q Gesamtpunkte. Dass Bauernleben I tatsächlich weit von
der Integrativität von Kant III entfernt ist, davon zeugen folgende Daten:
1. Paarige Junktion kommt in Bauernleben I kein einziges Mal vor, in
Kant III sieben Mal.
2. Das interne Konnekt ist in Bauernleben I 33-mal außerhalb der Fel-
derstruktur oder im Nachfeld, in Kant III 13-mal.
3. 15 vagen semantischen Relationen in Bauernleben I stehen fünf in
Kant III gegenüber.23
Von den zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basispunk-
te, und Q Gesamtpunkte definiert also die Skala Q Gesamtpunkte den Junk-
tionswert des Textes. Da Aggregationswert und Integrationswert kom-
plementär sind − bei Bauerleben I 66,7 % bzw. 33,3 % −, ist es − so wie
auch bei den Nähe- oder Distanzwerten − egal, welchen Wert man angibt.
Der Junktionswert wird wie folgt festgelegt:
Der Junktionswert ist der Abstand vom Aggregationspol.
Bauernleben I hat demnach einen relativ niedrigen Junktionswert: 33,3 %.

4.3.3. Junktionsintensität

Vergleicht man in den drei untersuchten Texten den Anteil der Junktionen
(= der Aussagenverknüpfungen) an der Gesamtzahl der Konnekte, be-
kommt man ein Bild darüber, wie intensiv in einem Text jungiert wird. Die
entsprechenden Prozentwerte beziffern also die Junktionsintensität eines
Textes in Bezug auf Extension A (zu den Junktionsextensionen vgl. Kapi-
tel 2.).

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Konnekte 100 % (= 242) 100 % (= 116) 100 %(= 212)
Junktionen 61 % (= 147) 72 % (= 84) 42 % (= 88)
Tabelle 7: Proportion Junktionen / Konnekte

_____________
23 Alle drei Daten von Bauernleben I beziehen sich auf die ursprüngliche Textmenge (2.098
Wortformen), sodass der relative Unterschied bei 1 etwas größer, bei 2 und 3 etwas kleiner
ist (Kant III = 1.782 Wortformen).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 929

Konnekte können jedoch nicht nur (im Sinne von Extension A) jungiert
werden, sondern auch durch grammatische Relationen wie Subjekt, Ob-
jekt und Attribut verbunden werden. Es gibt also nicht nur syntaktische
Techniken der Aussagenverknüpfung, sondern auch Techniken, die der
Einbettung einer Aussage in eine andere Aussage und dem Hinzufügen
einer Aussage zu einer anderen Aussage dienen (Extension B). Man muss
also berücksichtigen, dass ein Konnekt, das nicht jungiert ist, durchaus
verbunden sein kann. Und wenn es anderweitig, also nicht durch Junktion,
verbunden ist, steht es für eine Junktionsrelation oft nicht mehr zur Ver-
fügung:
(35) Ich kenne ein gutes Lokal, das *deshalb / *trotzdem weit von
der Uni ist.
(36) Du gehst selten aus. Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert
mich trotzdem nicht.
(37) Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert mich deshalb nicht,
weil du oft ausgehst.
Beim Attributsatz wären gewiss nicht alle Inhaltsrelationen blockiert, aber
kausal und konzessiv scheinen sie ausgeschlossen zu sein. Die Hauptsätze
von (36) und (37) können zwar konzessiv und kausal jungiert werden, der
jeweilige Hauptsatz ist jedoch nicht mit dem jeweiligen Subjektsatz, son-
dern mit vorangehenden und nachfolgenden Konnekten verbunden. Die
Subjektsätze sind zwar verbunden mit ihren Hauptsätzen, sind aber eben-
falls schlecht jungierbar.
Im Sinne von Extension B muss man also unverbundene und verbun-
dene Konnekte unterscheiden. Unverbundene Konnekte gehen keinerlei
syntaktische Beziehungen zu benachbarten Konnekten ein. Verbundene
Konnekte sind alle Konnekte − inklusive natürlich der (im Sinne von
Extension A) jungierten Konnekte −, die nicht unverbunden sind. Die
Proportion von verbundenen und unverbundenen Konnekten in den drei
Texten sieht wie folgt aus:
930 Vilmos Ágel

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Konnekte 100 % (= 242) 100 % (= 116) 100 % (= 212)
Verbundene
85 % (= 206) 93 % (= 108) 66 % (= 140)
Konnekte
Unverbundene
15 % (= 36) 7 % (= 8) 34 % (= 72)
Konnekte
Tabelle 8: Proportion verbundener / unverbundener Konnekte

Die Prozentwerte, die den Anteil verbundener Konnekte an der Gesamt-


zahl der Konnekte angeben, beziffern die Junktionsintensität in Bezug auf
Extension B. Abschließend sollen die Werte aus Tabelle 7 und 8 gegen-
übergestellt werden.

Bauernleben I Kant III Daniel Domian VII


Junktionsintensität B
(= bezogen auf 85% 93% 66%
Extension B)
Junktionsintensität A
(= bezogen auf 61% 72% 42%
Extension A)
Tabelle 9: Junktionsintensitäten B vs. A

Wir sehen, dass die Junktionsintensität B in allen drei Fällen ca. um 20 %


höher liegt als die Junktionsintensität A. Kant hat fast alle Möglichkeiten
ausgeschöpft, bei Daniel Domian ist noch reichlich Luft nach oben. Bauern-
leben I ist trotz eines relativ niedrigen Junktionswertes, also relativer Ag-
gregativität, ein relativ junktionsintensiver Text. Man könnte sagen, dass
Bauernleben I flach jungiert: Die relativ hohe Anzahl von Junktionen und
verbundenen Konnekten, also dichte Junktion, macht den Text syntaktisch
und semantisch nicht tief. Junktionswert und Junktionsintensität müssen
also nicht Hand in Hand gehen.

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Abkürzungsverzeichnis
APJ Adverb- und Partikeljunktor
IK-zu Infinitivkonstruktion ohne zu
IK+zu Infinitivkonstruktion mit zu
KORR (nichtresumptives) Korrelat
MF Mittelfeld
NE Nacherstposition
NF Nachfeld
PK Partizipialkonstruktion
S Subjunktor
Subj.ersatz Subjunktorersatz
V2-Einbetter Verbzweitsatzeinbetter
VE Vorerstposition
VF Vorfeld
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung 935

Anhang

132

300
82

36

31
Summe

0
6

0
6
0
vage semantische

-14

-15
-1
Relation
Nichtpropositio-

X
X
0
nalität
konterkarierende

-2

-2
X
X
Wortstellung
X

0
KORR +
X

0
KORR −

-12
-2

-6
-4
X

X
resumptiv

internes Konnekt
X

X
0
im VF
internes Konnekt
X

X
0
im MF
internes Konnekt
außerhalb der
-31

-33
-1

-1
X

X
Felderstruktur
oder NF
emphatische
X
X
1

3
Verstärkung
X
X
0

Paarigkeit
Junktor außerhalb
X

X
X

X
X
X
0

der Felderstruktur
oder NF
185

359
82

36

35
6

0
8

7
0

Basiswert
Punktgebungstabelle: Bauernleben I

Anzahl an Bele-
147
82

37
18

0
2

0
1

gen
Einbetter / Subj.ersatz
und kombinierte
Grundtechniken

Subordination

Inkorporation
Koordination

Unifikation
Techniken

PK / IK-zu
KJ + APJ

S + APJ
IK+zu
APJ

V2-
KJ

S
Aggregative Koordinationsellipsen
im Neuhochdeutschen∗

Mathilde Hennig (Kassel)

1. Einleitung
Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Koordinationsellipsen im
Neuhochdeutschen wie in den folgenden Beispielen:1
(1) und blieb also die gantze gemeinde in der kirchen und […] höreten
mit fleiß zu (Nehrlich II)2
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Aus heutiger Sicht wirken die Beispiele ungrammatisch, weil die nicht
realisierte Konstituente im elliptischen Konjunkt und die als Bezugsele-
ment fungierende Konstituente im benachbarten Konjunkt nicht identisch
sind: In Beispiel (1) steht das Subjekt im ersten Konjunkt im Singular,
während das Prädikat höreten im zweiten Konjunkt ein pluralisches Subjekt
nahe legt. In Beispiel (2) steht die angesprochene Person im ersten Kon-
junkt im Dativ und fungiert im zweiten Konjunkt als Subjekt, wäre also
nominativisch zu realisieren.

_____________
∗ Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Explizite und elliptische
Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zur Sprachstufengrammatik
des Neuhochdeutschen“.
1 Der Beitrag beschränkt sich auf Koordinationsellipsen auf Satzebene. Koordinationsellip-
sen auf Phrasenebene (das alte und das neue Rathaus) werden nicht berücksichtigt.
2 Bei der Wiedergabe der Beispiele werden die Auslassungen durch eckige Klammern und
die Bezugselemente durch Kursivsetzung markiert. Wenn es keine Kursivsetzung gibt,
heißt das, dass keine Konstituente des benachbarten Konjunkts als Bezugselement fun-
giert. Die römischen Ziffern hinter den Namen der Quellentexte bezeichnen Zeitabschnit-
te: I = 1650-1700, II = 1701-1750, III = 1751-1800 usw.
938 Mathilde Hennig

Koordinationsellipsen dieser Art möchte ich im Folgenden aggregativ


nennen und damit von integrativen Koordinationsellipsen abgrenzen.3 Bei-
spiele für integrative Koordinationsellipsen sind etwa die folgenden:
(3) Peter stand vor […] und Maria lag unter dem Sofa. (Klein
1993, 772)
(4) Fritz kaufte ein Auto und Hans […] ein Haus. (Klein 1993, 777)
Im Gegensatz zu den aggregativen Beispielen (1) und (2) stimmen hier
realisierte und nicht realisierte Konstituente genau überein.
Ich vertrete mit vorliegendem Beitrag die folgenden Thesen:
• These 1: Aggregative Formen von Koordinationsellipsen werden
von der gegenwartsgrammatisch orientierten Ellipsentheorie fast
ausnahmslos nicht erfasst. In der Sprachgeschichtsforschung finden
sich zwar vereinzelte Hinweise auf aggregative Formen, diese wer-
den aber nicht systematisch aufgearbeitet.
• These 2: Das Auftreten aggregativer Formen von Koordinationsel-
lipsen steht im Zusammenhang mit dem nähesprachlichen Charak-
ter der Quellentexte, in denen sie vorkommen.4
In Kapitel 2 werde ich der ersten These nachgehen. Dabei geht es nicht
um eine exhaustive Aufarbeitung der Ellipsentheorie und der Beschäfti-
gung mit Ellipsen in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung,
sondern darum, aggregative Koordinationsellipsen als Desiderat auszuwei-
sen. Kapitel 3 dient der Gegenstandsbestimmung aggregativer Koordina-
tionsellipsen. Aus einer empirischen Analyse von ausgewählten Quellen-
texten aus dem Zeitraum 1650-1900 werden Überlegungen zur
Subtypisierung aggregativer Koordinationsellipsen abgeleitet werden. Ab-
schließend (Kapitel 4) möchte ich auf mögliche Konsequenzen der hier
vorgestellten Überlegungen für die Ellipsentheorie, die Sprachgeschichts-
forschung und die Nähe-Distanz-Theorie eingehen.
_____________
3 Das Begriffspaar ‚Aggregation vs. Integration‘ bildet im Rahmen der Nähe-Distanz-
Theorie (Ágel / Hennig 2006a) einen Erklärungshintergrund für zahlreiche nähesprachli-
che Merkmale. Vgl. Ágel / Hennig 2006a, 26ff. sowie Ágel 2007.
4 Mit Ágel / Hennig 2006b liegt eine Operationalisierung der Nähe-Distanz-Theorie
(Ágel / Hennig 2006a) vor, die es erlaubt, über die Bestimmung von Nähemerkmalen
Quellentexte auf dem Kontinuum zwischen Nähe und Distanz zu verorten. Den Texten
werden dabei auf der Grundlage der Anzahl der Nähemerkmale im Verhältnis zur Länge
des Textes Prozentwerte zugewiesen, die Auskunft über ihre Nähesprachlichkeit geben.
‚Nähesprachliche Texte‘ (im Folgenden: Nähetexte) sind im Sinne dieses Verfahrens solche
Texte, die einen deutlich höheren Grad an Nähesprachlichkeit aufweisen als andere Texte
ihrer Zeit. Umgekehrt werden Texte mit geringem Grad an Nähesprachlichkeit als ‚Dis-
tanztexte‘ bezeichnet.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 939

2. Koordinationsellipsen in Ellipsentheorie
und Sprachgeschichtsforschung
2.1. Ellipsentheorie

Koordinationsellipsen werden in der gegenwartsgrammatischen Ellipsen-


theorie als kontextkontrollierte Ellipsen eingeordnet. Damit ist Folgendes
gemeint:
Kontextkontrollierte [Ellipsen, M.H.] verlangen einen expliziten sprachlichen
Kontext, d.h. eine vorausgehende oder folgende Struktur, von der jene der ellipti-
schen Äußerung abhängt. (Klein 1993, 768)
Neben den Koordinationsellipsen, also solchen Ellipsen, bei denen „der
elliptische Ausdruck mit dem kontrollierenden innerhalb eines Satzes
durch Koordination (im weitesten Sinne) verbunden“ ist (Klein ebd.),
gelten Adjazenzellipsen als weiterer Subtyp kontextkontrollierter Ellipsen.
Bei diesen „bilden kontrollierender Ausdruck und elliptischer zwei selb-
ständige aber eng zusammengehörende Äußerungen“ (Klein ebd.), wie
etwa in Frage-Antwort-Folgen: „Wer schlug wen wo? – Alexander die
Perser bei Issos.“ (Klein ebd). Alle anderen Ellipsentypen, wie etwa Text-
sortenellipsen, Aufschriften und feste Ausdrücke ordnet Klein als nicht-
kontextkontrollierte Ellipsen ein.
Eine solche dichotomische Sichtweise, die zwei Grundtypen von El-
lipsen gegenüberstellt und keine Zwischenformen einräumt, zieht sich wie
ein roter Faden durch die gesamte germanistische Ellipsenforschung. Die
folgenden (keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden) Beispiele
sollen dies verdeutlichen:
1. In der Gesprochene-Sprache-Forschung hat sich die Unterschei-
dung von Konstruktionsübernahmen und Eigenkonstruktionen durch
Rainer Rath (1979) etabliert. Rath spricht von einer Klassifizierung der
Ellipsen „nach Art ihres Kontextbezugs“ (1979, 142) und bestimmt auf
diese Weise den Kontextbezug bei ‚Konstruktionsübernahmen‘ als darin
bestehend, „daß sich die Ellipse syntaktisch (und auch semantisch) an die
vorangehende Äußerungseinheit anschließt. Die Ellipse ‚paßt‘ syntaktisch
in die vorhergehende Konstruktion […]“ (1979, 143). Bei ‚Eigenkonstruk-
tionen‘ dagegen wird „die so entstehende Äußerungseinheit […] nicht
unbedingt von der vorhergehenden Äußerungseinheit erschlossen, son-
dern vom engeren semantischen Zusammenhang“ (1979, 146). Der
Rath’schen Unterscheidung schließt sich bspw. Margret Selting an (1997,
121). Zwar können die beiden Unterscheidungen ‚kontextkontrolliert vs.
nicht-kontextkontrolliert‘ und ‚Eigenkonstruktionen vs. Konstruktions-
übernahmen‘ nicht als synonym betrachtet werden, da beim Rath’schen
Verständnis von Eigenkonstruktionen ja eine mögliche semantische Kon-
940 Mathilde Hennig

textkontrolliertheit eingeräumt wird, gemeinsam ist beiden Ansätzen je-


doch der dichotomische Zugriff auf die Bestimmung von Grundtypen
von Ellipsen.
2. Als eine unmittelbare Folge der vermehrten Beschäftigung mit El-
lipsen in den letzten 30 Jahren kann die zunehmende Berücksichtigung
von Ellipsen in der Grammatikschreibung betrachtet werden. Höhepunkt
dieser Entwicklung ist zweifelsohne die IDS-Grammatik, die den Ellipsen
insgesamt ca. 50 Seiten widmet. Dabei gilt dort keineswegs alles als Ellip-
se, was i.d.R. als Ellipse verstanden wird: Lothar Hoffmann, der Autor des
Kapitels „Zur Grammatik von Text und Diskurs“, gliedert – in Anleh-
nung an Friedrich Blatz (1896, 138ff., 714ff.) – die ‚Analepse‘ aus dem
Teilbereich der Ellipse aus. Die Analepse beruht laut Hoffmann „auf vor-
gängiger Verbalisierung, die unter bestimmten Bedingungen in Geltung
bleibt, so daß das, was folgt, unmittelbar angeschlossen oder koordinativ
integriert werden kann“ (1997, 569). Ellipsen dagegen setzen das voraus,
„was aufgrund gemeinsamer Orientierung in der Sprechsituation, im aktu-
ellen Handlungszusammenhang oder auf der Basis sprachlichen Wissens
in den Hintergrund eingehen und mitverstanden werden kann“ (1997,
413). Die Annahme von zwei Grundtypen ist hier somit schon in der
Begriffsbestimmung – Ellipse vs. Analepse – verankert.
Ich gehe davon aus, dass die hier angedeutete Dichotomisierung der
Ellipsentypisierung einer der wesentlichen Gründe dafür ist, dass aggrega-
tive Formen von Koordinationsellipsen kaum Berücksichtigung in der
Ellipsenforschung finden. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Albrecht
Plewnia (2003). Diese Arbeit stützt sich auf ein Korpus der Ermländer
Mundart5 und ist somit m.W. die einzige dialektbezogene Untersuchung
zu Ellipsen. Plewnia unterscheidet zunächst zwischen Sätzen mit syntakti-
schem Kontextbezug, mit semantischem Kontextbezug, mit situativem
Kontextbezug sowie mit offenem Kontextbezug. Einschlägig für die Er-
fassung aggregativer Koordinationsellipsen sind seine Beobachtungen und
Überlegungen zu Sätzen mit syntaktischem Kontextbezug. Sätze, die sich
auf ein Element eines benachbarten Satzes beziehen, nennt Plewnia ‚Fort-
setzungssätze‘. Bei der Beschreibung der Fortsetzungssätze macht Plewnia
die folgende Beobachtung:
Nun gibt es allerdings auch Belege im Korpus, bei denen offenbar eine Fortset-
zungskonstruktion vorliegt, die auch auf der Übernahme einzelner Elemente aus
einem Vorgängersatz beruht, bei denen auch durchaus die lexikalische Integrität
der für die Fortsetzungskonstruktion aktivierten Einheit gewahrt bleibt, bei de-
_____________
5 Das Ermland ist ein ehemaliges ostpreußisches Mundartgebiet. Plewnia stützt sich auf
Tonbandaufnahmen von in Ahrbrück in der Eifel neu angesiedelten ermländischen Bauern
aus den Jahren 1963 / 64. Dabei hat er ausschließlich Sprecher mitteldeutscher Dialekte
berücksichtigt.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 941

nen aber die grammatischen Verhältnisse in der betreffenden Fortsetzungskon-


struktion anders organisiert sind als im Vorgängersatz, dessen Teil doch die syn-
taktische Bezugsgröße darstellt. (Plewnia 2003, 50)
Plewnia illustriert diese Einschätzung mit folgendem Beispiel:
(5a) On wea Kinger, wea graute ons joa doa vor dem schwarze Zaig
doa.
(5b) Hoa wea nu ooch nich jenomme. (ebd.)
Die Präpositionalergänzung vor dem schwarze Zaig „wird im Rahmen einer
Fortsetzungskonstruktion auf den folgenden Satz […] übertragen. […]
Das Verb nehmen […] verlangt aber […] keine Präpositional-, sondern eine
Akkusativergänzung“ (ebd.). Mit den folgenden Konsequenzen:
Allein die syntaktische Fortsetzungserwartung des zweiten Satzes erzwingt eine
rückwirkende Uminterpretation einer im ersten Satz verbalisierten Einheit, die al-
lerdings – und das ist zentral – damit in der alten Form für diesen ersten Satz
weiterhin volle Geltung behält, der also eine Doppelfunktion aufgebürdet wird,
weil sie in beide Sequenzen grammatisch voll eingebunden wird. Der erste Satz
hat dabei lediglich den Vorteil der linearen Priorität. Fortsetzungskonstruktionen
dieses Typs, also mit grammatischer Umfunktionalisierung unter weitgehender
Bewahrung lexikalischer Identität, heißen hier Konversionen. (ebd., 50f.)
Des Weiteren beschreibt Plewnia den Fall, dass der Vorgängersatz als
ganze Einheit syntaktisch eingebunden wird: „Der syntaktische Bezug, der
von der Fortsetzungskonstruktion rückgreift, ist dann auf den gesamten
Vorgängersatz fokussiert als eigene syntaktische Größe […]“ (ebd., 53).
Plewnia nennt diesen Fall ‚Anschluss-Sätze‘. Folgendes Beispiel dient der
Illustration:
(6a) Oaberso wurd doa jebro:te wurd doa wohl kaum.
(6b) Kann eh mech nich besinne.
Wesentlich ist nun, dass Plewnia mit der Erfassung dieser Typen von
Fortsetzungssätzen die dichotomische Sichtweise aufbricht:
Die Tatsache allerdings, dass die syntaktische Anknüpfung sowohl bei Konversi-
onen als auch bei Anschluss-Sätzen nicht völlig bruchlos erfolgt, weist darauf hin,
dass es sich hier um einen Übergangsbereich handelt. Das eine Ende der Skala würden
die Fortsetzungssätze darstellen, die sich diszipliniert in einen Rahmen einfügen,
und das andere Ende die Sätze mit sehr offener semantischer oder gar keiner kon-
textuellen Einbettung mehr. (ebd., 56, meine Hervorhebung, M.H.)
Nicht nur bezüglich der Auffassung von einem Übergangsbereich zwi-
schen strukturgestützten und völlig kontextfreien Formen von Ellipsen
stellt die Arbeit von Plewnia eine Innovation gegenüber anderen Ellipsen-
bestimmungen dar, sondern auch darin, dass überhaupt solche Fälle, bei
942 Mathilde Hennig

denen die syntaktische Anknüpfung „nicht völlig bruchlos“ erfolgt, in die


Klassifikation von Ellipsen aufgenommen werden.
Andere Ellipsenbestimmungen zeichnen sich dagegen durch ein für
die Grammatikforschung erstaunliches Maß an Präskriptivität aus, wie
etwa die in Anlehnung an Chomsky formulierte Tilgungsregel Kleins: ihm
zufolge „[…] müssen zwei bis auf eine Konstituente gleichen Typs identische
Sätze koordiniert sein; die identischen Teile werden bei einem der beiden
Vorkommen weggelassen“ (Klein 1993, 770, meine Hervorhebung, M.H.).
Auch Hoffmann spricht von „Bedingungen“ für das Auslassen von Ele-
menten und benennt als solche „die Identität des Redegegenstandes“, „die
Parallelität der Position“ sowie „die Kasusidentität als Markierung einer
kongruenten Argumentstelle“ (Hoffmann 1997, 574). Die Folge ist, dass
aggregative Koordinationsellipsen nur als mit Sternchen versehene und
somit als zu vermeiden markierte Fälle Eingang in die Ellipsenforschung
sowie die einschlägigen Darstellungen in Grammatiken finden, wie etwa
das folgende Beispiel Hoffmanns:
(7) Mich dürstete, und ich goß mir einen Schnaps ein.
*Mich dürstete und [ ] goß mir einen Schnaps ein. (Hoffmann
1997, 574)
Der von Hoffmann offenbar konstruierte Fall lässt sich durchaus in älte-
ren Nähetexten belegen, wie etwa in folgendem Beispiel:
(8) der minch wahr gudt man mit mihr […] hatte bey ime gudt Rei-
ßen (Güntzer I)
Hierbei handelt es sich genau um den von Hoffmann konstruierten Fall
des Wechsels von einem obliquen Kasus zu Nominativ, also um eine
„grammatische Umfunktionalisierung“ im Sinne Plewnias. Dass Beispiele
dieser Art in der Ellipsenforschung mit Ausnahme von Plewnia als mögli-
che Koordinationsellipsen ausgeschlossen werden, zeugt m.E. vom skrip-
tizistischen und synchronizistischen Charakter der Ellipsenforschung. Die
Ellipsenforschung kann somit als Beispiel für Vilmos Ágels Diagnose des
synchronizistischen und skriptizistischen Erbes der Grammatikforschung
gelten:
1. Synchronizistisches Erbe: „synchron angelegte Theorien, jedoch
synchrone wie diachrone grammatische Beschreibungen und Gram-
matikschreibung“ (Ágel 2003, 4).
2. Skriptizistisches Erbe: Dieses besteht darin, „dass die Grammatik-
forschung per declarationem logozentrisch, in praxi hingegen dop-
pelt schriftbezogen ist.“ Somit ist nicht nur „das ‚mot écrit‘ der
eigentliche Hauptdarsteller grammatischer Beschreibungen“, son-
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 943

dern „auch die Grammatiktheorie [stellt] eher eine Theorie des


‚mot écrit‘ dar“ (ebd., 10).
Mit vorliegendem Aufsatz soll – die Innovationen Plewnias aufgreifend –
ein Beitrag zum Abbau dieser doppelten Altlast geleistet werden, indem
nicht-gegenwartssprachliche Nähetexte zum Gegenstand der Untersu-
chungen gemacht werden. Bevor mit Kapitel 3 dieser Aufgabe nachgegan-
gen wird, soll aber zunächst auch aus der Perspektive der Sprachge-
schichtsforschung die Hinwendung zu aggregativen Koordinationsellipsen
als Desiderat begründet werden.

2.2. Sprachgeschichtsforschung

Von einer systematischen sprachhistorisch ausgerichteten Ellipsenfor-


schung kann keine Rede sein. Zwar findet das Phänomen ‚Ellipse‘ Ein-
gang in historische Grammatiken, dabei werden Ausführungen zu einzel-
nen elliptischen Formen in der Regel aber anderen Fragestellungen
untergeordnet, wie die folgenden beiden Beispiele illustrieren sollen:
1. Otto Behaghel (1928): Deutsche Syntax. Bd III: Die Satzgebilde. In das
Kapitel ‚zweigliedriger Satz‘ (= aus Subjekt und Prädikat bestehender Satz)
ist ein Abschnitt zum „Fehlen des Verbum finitum im zweigliedrigen
Satz“ eingeordnet (1928, 480ff.). Dieses Kapitel enthält Ausführungen zu
den verschiedensten historischen elliptischen Phänomenen wie Nichtreali-
sierung der Kopula, afiniten Konstruktionen sowie eher stilistisch moti-
vierten Auslassungen des Verbum finitum. Im Kapitel ‚Asyndese‘ als Un-
terkapitel von ‚Satzverknüpfung‘ finden sich Ausführungen zu „Asyndese
bei grammatischen Unvollständigkeiten des neuen Satzes, d.h. bei Erspa-
rung des zweiten Subjekts“ (497ff.). Dabei unterscheidet Behaghel zwi-
schen solchen Sätzen, die inhaltlich auf gleicher Stufe stehen und solchen,
die inhaltlich auf verschiedener Stufe stehen. Das Fehlen des Subjekts bei
syndetischer Verknüpfung hingegen ist in das Kapitel „Verknüpfung
durch Unvollständigkeit eines Satzes“ (509ff.) eingegliedert, in dem auch
das Fehlen des Objekts thematisiert wird. Dieser kurze Überblick sollte
illustrieren, dass Behaghel zwar punktuell auf einzelne Ellipsentypen ein-
geht, die Zusammenhänge dieser Typen aber nicht durch den Zusammen-
schluss in einem eigenständigen Ellipsenkapitel erkennbar macht.
2. Robert Peter Ebert (1993): „Syntax“, in: Reichmann / Wegera
(Hrsg.): Frühneuhochdeutsche Grammatik. Das gleiche Prinzip der Verteilung
elliptischer Formen auf übergeordnete Themenbereiche lässt sich auch bei
Ebert beobachten. So ist etwa dem attributiven Genitiv ein kurzer Ab-
schnitt zur Ersparung des Kernsubstantivs untergeordnet (1993, 339) und
im Kapitel „Nominativ als Subjekt“ finden sich Ausführungen zur „Er-
944 Mathilde Hennig

sparung eines Subjektpronomens“ (1993, 345f.). Afinite Konstruktionen


und Auxiliarellipsen werden im Kapitel „Wortstellung im Einfachsatz“
behandelt (1993, 440ff.). Insgesamt erfolgt hier die Behandlung der Ellip-
senproblematik auf knapp vier Seiten.
Dementsprechend spärlich sind auch die Angaben zu aggregativen
Formen von Koordinationsellipsen. Behaghel spricht bei „inhaltlich auf
verschiedener Stufe“ stehenden Sätzen davon, dass „die bei Ersparung des
Subjekts asyndetisch gebundenen Sätze von ungleichem Werte sein [kön-
nen]; der zweite Satz ist sachlich eine Erläuterung zu einem einzelnen
Glied des ersten Satzes“ (1928, 503f.). Gemeint sind Fälle wie
(9) das sach auf einem wasen vier starcker ochsen grasen, […] hetten
gar schöne horen (Hans Sachs, in Behaghel 1928, 504)
(10) machte mir meine Mutter ein schönes Hofkleid, […] war rosenfarb
(Reuter, in Behaghel 1928, 504)
Fälle dieser Art finden sich auch in der von Peter Wiehl und Siegfried
Grosse bearbeiteten Mittelhochdeutschen Grammatik Hermann Pauls
(1989): „Auch bei Wechsel des Subjekts – in parataktisch aneinanderge-
reihten Sätzen, im Satzgefüge, in der Periode – kann ein pronominales
Subjekt unbezeichnet bleiben“ (1989, 366):
(11) daz duhte die gelieben guot und […] wurden in ir herzen vor
(Gottfried von Straßburg in Paul / Wiehl / Grosse 1989, 366)
Auch Ebert verweist in Anlehnung an Behaghel darauf, dass „in asyndeti-
schen Sätzen das zweite Subjekt fehlen [kann], auch wenn kein besonders
enger Zusammenhang zwischen den Sätzen besteht“ (1993, 346). Wäh-
rend hier ein Zusammenhang mit der asyndetischen Form der Satzver-
knüpfung hergestellt wird, nimmt Ebert in Bezug auf Subjektwechsel so-
wohl die Möglichkeit der syndetischen als auch die der asyndetischen
Satzverknüpfung an. Gemeint sind Fälle wie:
(12) so werden ewre augen auff gethan /vnd […] werdet sein wie Gott
(1. Mos. 3,5, in Ebert 1993, 346)
Da aber auch hier solche Fälle zitiert werden, bei denen ein Wechsel von
einer Objekt- zur Subjektfunktion vorliegt (wie Behaghels Beispiele 9 und
10), bleibt Eberts Unterscheidung vage. Dennoch wird die Frage, ob ein
Zusammenhang zwischen der Art der Satzverknüpfung und der aggregati-
ven Realisierung von Koordinationsellipsen besteht, bei der in Kapitel 3
vorzustellenden empirischen Untersuchung berücksichtigt werden. Bei
Ebert finden sich auch im Kapitel zu afiniten Konstruktionen und Auxi-
liar-Ellipsen Hinweise auf aggregative Formen:
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 945

1. „Das ersparte Hilfsverb ist von dem nicht ersparten Hilfsverb im


Numerus oder in der Person unterschieden“ (1993, 440).
(13) dz die laster vßgetribē werden vnd das fleisch gezempt […]
(Geiler von Kaysersberg in Ebert 1993, 440)
2. „Die Ellipse begegnet bei zwei koordinierten Perfektperiphrasen
von denen die eine haben, die andere sein verlangt“ (1993, 440).
(14) wan christus hat üwer fleisch die menscheit an sich genomen
[…] darin gelitten […] gestorben vnd […] begrabē […] für
üch vnd erstanden vnd […] uvffgefaren zu den hymelen (Gei-
ler von Kaysersberg in Ebert 1993, 440)
3. „Das ersparte Hilfsverb ist mit einem koordinierten Vollverb iden-
tisch“ (1993, 441).
(15) nachdem daz von althers herkomen recht und gewonheit ge-
wesen […] und noch ist (Deutsche Reichstagsakten und Kaiser
Friedrich III. in Ebert 1993, 441)
Mit den Hinweisen auf diese Typen der Auxiliar-Ellipse bezieht Ebert sich
auf die Arbeit von Werner Schröder zu Auxiliar-Ellipsen bei Geiler von
Kasyersberg und bei Luther (1985). Schröders Arbeit enthält ein Kapitel
„‚Ungrammatische‘ Auxiliar-Ellipsen in der ‚Christenlich bilgerschafft‘“ (19ff.).
Schröder spricht hier davon, dass diese „sprachlich zu beanstanden“ seien
(ebd., 19). Er verweist auf die Duden-Grammatik von 1959, in der bereits
als falsch gilt, wenn „von zwei Hilfsverben eines ausgelassen [wird], ob-
wohl die beiden Hilfsverben im Numerus unterschieden sind“ (Grebe
1959, 563) und bezeichnet den Fall „daß das ausgelassene Auxiliar von
dem nicht ausgelassenen verschieden ist“ als „weit anstößiger“ (Schröder
1985, 19). Schröder sucht nach einer Erklärung für die „mangelnde
Grammatikalität“ und meint, sie in der Tatsache zu finden, dass „der pre-
digende und schreibende Übersetzer […] die einprägsamen lateinischen
Participia im Ohr“ hatte und schlussfolgert: „Er [Geiler, M.H.] weiß, was
seine Muttersprache gebietet, möchte aber der Prägnanz des lateinischen
Musters keinen Eintrag tun und nahm lieber den grammatischen Verstoß
in Kauf“ (ebd., 20).
Durch eine solche Perspektive, die – in synchronizistischer und skrip-
tizistischer Manier – davon ausgeht, dass es sich um ungrammatische
Formen handelt, wird die Frage nach einer sprachsystematischen Erklä-
rung des Phänomens von Vornherein ausgeblendet. Die Suche nach
pragmatischen Beweggründen des Autors kann diese Erklärungslücke
nicht schließen. Aus dem kurzen Überblick über die spärliche Berücksich-
946 Mathilde Hennig

tigung von Ellipsen in der Sprachgeschichtsforschung lassen sich die fol-


genden beiden Desiderata ableiten:
1. Es fehlt eine auf die Verhältnisse in älteren Sprachstufen bezogene
Ellipsentheorie, die die Bedingungen von Auslassungen systemati-
siert und daraus Erklärungsansätze für diesbezügliche Grammatika-
lisierungsvorgänge ableitet.
2. Es fehlt eine systematische Aufarbeitung von Formen aggregativer
Koordination.
Der vorliegende Beitrag wird nicht beide Desiderata beheben können. Der
Schwerpunkt wird vielmehr auf dem zweiten Desiderat liegen. Da, wie in
Bezug auf die Ellipsentheorie und die Sprachgeschichtsforschung gezeigt
wurde, insgesamt nur sehr wenige Beobachtungen zu aggregativen Koor-
dinationsellipsen vorliegen, können auch nur in sehr eingeschränktem
Maße Hypothesen aus diesen Beobachtungen abgeleitet werden:
• Hypothese 1: Als Typen aggregativer Koordinationen kommen et-
wa bestimmte Auxiliarellipsen sowie Subjektellipsen in Frage. Dabei
wird die Möglichkeit aggregativer Koordination offenbar durch be-
stimmte grammatische Eigenschaften der jeweiligen Sprachstufen
wie die Möglichkeit der Bildung afiniter Konstruktionen oder der
Mikrorealisierung des Subjekts begünstigt.
• Hypothese 2: Als Bedingung für das Auftreten aggregativer Formen
kommt die Art der Verknüpfung (syndetisch vs. asyndetisch) in
Frage.

3. Aggregative Koordinationsellipsen in Nähetexten


des Neuhochdeutschen
3.1. Untersuchungsgrundlage

Die in diesem Kapitel vorzustellende empirische Analyse zu aggregativen


Koordinationsellipsen in Nähetexten des Neuhochdeutschen hat – wie in
Kapitel 2.1. bereits angedeutet wurde – zum Ziel, einen Beitrag zum Ab-
bau des synchronizistischen und skriptizistischen Blicks auf Ellipsen zu
leisten. Deshalb liegt der Schwerpunkt der Analyse auf Nähetexten aus
dem Zeitraum 1650-1900. Um Aussagen über die Historizität des Phäno-
mens einerseits und seine Nähesprachlichkeit andererseits treffen zu kön-
nen, werden dem Kernkorpus ein Distanztext aus dem 18. Jahrhundert
sowie ein Nähetext aus dem 20. Jahrhundert gegenübergestellt. Diese
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 947

beiden Texte haben eine Kontrollfunktion, d.h., mit ihnen soll überprüft
werden, ob aggregative Koordinationen auch in Distanztexten und in
gegenwartssprachlichen Nähetexten nachweisbar sind. Das Korpus setzt
sich aus den folgenden Texten zusammen:6

Zeit Text Funktion


17. Jh. Güntzer I Nähetext – Kernkorpus
18. Jh. SchuhmacherChronik II Nähetext – Kernkorpus
18. Jh. Kant II Distanztext – Kontrollkorpus
19. Jh. Briefwechsel V Nähetext – Kernkorpus
20. Jh. Sprachbiographien VII Nähetext – Kontrollkorpus
Übersicht 1: Korpusgrundlage der empirischen Analyse zu aggregativer Koordination

Der Text Güntzer I ist eine Autobiographie eines Kannengießers aus dem
Elsässischen. Augustin Güntzer ist viel gereist und berichtet vor allem von
seinen diesbezüglichen Erlebnissen. SchuhmacherChronik II ist die Chronik
eines Schuhmachers aus Reutlingen. Im Gegensatz zu Güntzer bemüht
sich der Autor hier um eine möglichst neutrale Schilderung der Ereignisse
in seinem Dorf. Bei Kant III handelt es sich um die Prolegomena zu einer jeden
künftigen Metaphysik. Briefwechsel V ist der Briefwechsel eines Braunschwei-
ger Ehepaares aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 1871. Bei
Sprachbiographien VII schließlich handelt es sich um Interviews, die mit
ehemaligen DDR-Bürgern in den 90er-Jahren durchgeführt worden sind.
Wie man an der Verteilung der Texte auf verschiedene Sprachräume
und verschiedene Textsorten erkennen kann, wurde keine Homogenität
bezüglich dieser beiden Textparameter angestrebt. Auswahlkriterium war
allein der Grad der Nähesprachlichkeit der Texte.7

_____________
6 Alle Texte haben einen Umfang von ca. 12.000 Wortformen.
7 Das Korpus des Projekts „Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“ befindet sich
derzeit noch im Aufbau. Deshalb war es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, Krite-
rien der genannten Art in die Korpusbildung einzubeziehen.
948 Mathilde Hennig

Mit einem Umfang von fünf Texten, wobei je ein Nähetext aus dem
17.-20. Jahrhundert vorliegt, ist das Korpus zu klein für valide Schlussfol-
gerungen. Das Korpus kann hier deshalb nur als Fundament für grundle-
gende Überlegungen zur Beschreibung und Typisierung aggregativer Ko-
ordinationsellipsen dienen. Aus den statistischen Angaben zur Belegvertei-
lung lassen sich dagegen lediglich Tendenzen ableiten.
Ausgangspunkt der Untersuchungen zur aggregativen Koordination
ist die folgende, im Rahmen der Nähe-Distanz-Theorie entstandene Defi-
nition:
Bei einer aggregativen Koordination ist die im zweiten Konjunkt implizit geblie-
bene Kategorie nicht identisch mit der expliziten Kategorie im ersten Konjunkt.
(Ágel / Hennig 2006c, 388)
Im Rahmen der im Zusammenhang mit der empirischen Analyse er-
folgenden Überlegungen zur Typisierung aggregativer Koordinationen
wird zu überprüfen sein, ob diese Definition tatsächlich alle Typen aggre-
gativer Koordination abdeckt. Deshalb kann sie hier zunächst nur als
Ausgangsdefinition betrachtet werden.

3.2. Verteilung der Belege

Im Korpus konnten insgesamt 167 Belege aggregativer Koordination


identifiziert werden. Diese verteilen sich wie folgt auf die untersuchten
Texte:

_____________
Zugrunde gelegt wurde die Berechnung der Mikronähesprachlichkeit (Ágel / Hennig
2006b, 35ff.). Da sich der vorliegende Beitrag nicht mit der Nähesprachlichkeit von Texten
im allgemeinen Sinne beschäftigt, sondern ausschließlich mit aggregativen Merkmalen,
wurde der alle Parameter des Nähesprechens berücksichtigende Mikrowert mit dem Mik-
rowert für den (für aggregative Strukturen verantwortlichen) Zeitparameter verrechnet.
Auf der Basis dieser Analyse ergeben sich die folgenden Werte für die Nähetexte des Kor-
pus:
Güntzer I: Nähe Mikro allgemein = 28,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter (= Durch-
schnittswert des allgemeinen Mikrowertes und des den Zeitparameter betreffenden Mik-
rowertes): 38,4 %.
SchuhmacherChronik II: Nähe Mikro allgemein = 17,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter =
53,6 %.
Briefwechsel V: Nähe Mikro allgemein = 37,7 %; Nähe Mikro + Zeitparameter = 43,2 %.
Sprachbiographien VII: Nähe Mikro allgemein = 29,6 %; Nähe Mikro + Zeitparameter =
34 %.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 949

Text Beleganzahl
Güntzer I 57 34,1 %
SchuhmacherChronik II 90 53,9 %
Kant III 0 -
Briefwechsel V 20 12,0 %
Sprachbiographien VII 0 -
Gesamt 167 100 %
Übersicht 2: Verteilung der Belege auf die Texte

Weder im Distanzkontrolltext noch im gegenwartssprachlichen Nähekon-


trolltext konnten aggregative Koordinationen nachgewiesen werden. Die
Verteilung der Belege auf die übrigen Nähetexte lässt die Tendenz erken-
nen, dass aggregative Koordinationen in der ersten Hälfte des Neuhoch-
deutschen deutlich häufiger auftreten als in jüngerer Zeit. Dass der Text
aus dem 18. Jahrhundert fast doppelt so viele Belege aufweist wie der Text
aus dem 17. Jahrhundert, dürfte an der insgesamt starken aggregativen
Ausprägung des Textes liegen (vgl. Fußnote 8).
Eine gängige Typisierung von Koordinationsellipsen ist die Einteilung
nach der Richtung der Ellipse in Vorwärts- und Rückwärtsellipse (vgl.
Klein 1993, 772). Bei einer Vorwärtsellipse bezieht sich die Ellipse auf ein
realisiertes Element im ersten Konjunkt (Beispiele 1, 2, 4 u.a.), bei einer
Rückwärtsellipse auf ein realisiertes Element im zweiten Konjunkt (Bei-
spiel 3). Vorwärts- und Rückwärtsellipse sind bei den aggregativen Koor-
dinationen wie folgt verteilt:

Text Vorwärtsellipse Rückwärtsellipse


Güntzer I 55 32,9 % 2 1,2 %
SchuhmacherChronik II 90 53,9 % 0 -
Briefwechsel V 18 10,8 % 2 1,2 %
Gesamt 163 97,6 % 4 2,4 %
Übersicht 3: Richtung der Ellipse

Insgesamt sind nur vier der Belege für aggregative Koordination rück-
wärtselliptisch, verteilt auf die Texte Güntzer I und Briefwechsel V. Dass
offenbar eine Korrelation zwischen aggregativer Koordination und Vor-
wärtsellipse besteht, verwundert nicht, da Rückwärtsellipsen einen höhe-
ren Planungsaufwand erfordern: Wenn sich eine Ellipse auf ein Folgeele-
ment bezieht, muss das folgende Konjunkt bereits mit geplant sein, um
die Ellipse auf dieses abstimmen zu können. Aggregative Strukturen sind
dagegen gerade ein Indiz für spontane Diskursgestaltung, bei der Planung
und Produktion zeitgleich verlaufen. Diese Einschätzung führt zu der
950 Mathilde Hennig

Schlussfolgerung, dass die in der gegenwartsgrammatisch orientierten


Ellipsentheorie gängige Unterscheidung zwischen Vorwärts- und Rück-
wärtsellipse kein einschlägiges Typisierungskriterium für die Klassifizie-
rung aggregativer Koordinationen sein kann. Gegenstand des folgenden
Teilkapitels werden deshalb Überlegungen zu Typisierungsmöglichkeiten
aggregativer Koordinationen sein.

3.3. Grundtypen aggregativer Koordinationen

Bei den folgenden Überlegungen zur Typisierung beziehe ich mich auf die
in 2.1. zitierten Tilgungsregeln integrativer Koordinationsellipsen (Klein
1993, 770; Hoffmann 1997, 574). Aggregative Koordinationen können ex
negativo als solche Koordinationsellipsen bestimmt werden, die von die-
sen Tilgungsregeln abweichen. Auf diese Weise können die Tilgungsregeln
den Ausgangspunkt für die Typisierung aggregativer Koordinationen bil-
den. Die Tilgungsregeln für integrative Koordinationsellipsen betreffen
die folgenden Bereiche:
• Konstituenten gleichen Typs, Identität der Kategorien
• Identische Sätze, Parallelität der Position
• Identität des Redegegenstandes.
Aus diesen Bedingungen lassen sich nun Grundtypen aggregativer Koor-
dination ableiten, indem sie als Abweichungen von je einer dieser Bedin-
gungen bestimmt werden. Ich bezeichne die Abweichung von der Bedin-
gung ‚Identität der Kategorien‘ als ‚kategoriale Aggregation‘, die
Abweichung von der Bedingung ‚identische Sätze‘ als ‚strukturelle Aggre-
gation‘ und die Abweichung von der ‚Identität des Redegegenstandes‘ als
‚referentielle Aggregation‘. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
In Beispiel (2) liegt ein Wechsel im Bereich der Kasuskategorisierung vor,
und zwar von Dativ zu Nominativ. Es handelt sich also um kategoriale
Aggregation.
(16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener daß
Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger Burckholtz
begraben (SchumacherChronik II)
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 951

Im Sinne der Behaghel’schen ‚Herstellung der syntaktischen Ruhelage‘


(1903) zeigt hier „die Satzform […] das Bestreben, nach einer selteneren
Wendung, zu der sie sich aufgeschwungen hatte, wieder in vertrautere
Bahnen einzulenken“ (1903, 438): Der Nebensatz fällt „in den Hauptsatz
zurück“ (ebd., 442). Für die Koordinationsellipse ist diese Tatsache inso-
fern relevant, als das Zurückfallen in den Hauptsatz dazu führt, dass es
sich bei dem Konjunkt ohne realisiertes Subjekt um einen Hauptsatz han-
delt, während das Konjunkt mit dem realisierten Bezugskonjunkt ein Ne-
bensatz ist. Die in der Tilgungsregel Kleins formulierte Forderung nach
identischen Sätzen ist somit nicht erfüllt. Von der Abweichung ist hier
also die Struktur betroffen, sodass wir diese Form der aggregativen Koor-
dination als strukturelle Aggregation einordnen können.
(17) die grosse Som[m]erhitz cont. fort, u. […] alle Tag gedonnert
(SchuhmacherChronik II)
Nicht die Sommerhitze donnerte alle Tage, sondern grammatisches Sub-
jekt im zweiten Konjunkt müsste es sein. Das Subjekt kann also nicht ein-
fach aus dem ersten Teilsatz übernommen werden, obwohl die Struktur-
parallelität dies nahe legt. Die beiden Subjekte sind nicht referenziden-
tisch, deshalb spreche ich hier von ‚referentieller Aggregation‘.
Die auf diese Weise bestimmten Grundtypen aggregativer Koordina-
tion sind im Korpus wie folgt verteilt:

Text kategorial strukturell referen-


tiell
Güntzer I 47 28,1 % 5 3,0 % 5 3,0 %
SchuhmacherChronik II 47 28,1 % 39 23,4 % 4 2,4 %
Briefwechsel V 18 10,8 % 1 0,6 % 1 0,6 %
Gesamt 112 67,1 % 45 26,9 % 10 6,0 %
Übersicht 4: Grundtypen aggregativer Koordination8

Eine deutliche Präferenz für den Typ der kategorialen Aggregation ist klar
erkennbar. Allerdings gibt es Unterschiede in den einzelnen Texten: For-
men struktureller Aggregation kommen vor allem in der Schuhmacher-
Chronik II vor. Bei Güntzer I ist die Bevorzugung der kategorialen Ag-
gregation noch deutlicher als in der Gesamtwertung. Der text
Briefwechsel V weist fast nur kategoriale Aggregationen auf.
Bezugnehmend auf Hypothese 2 soll nun der Einfluss der Art der
Satzverbindung auf die aggregative Koordination untersucht werden:
_____________
8 Die Prozentzahlen kennzeichnen den Anteil an den aggregativen Koordinationen insge-
samt (167).
952 Mathilde Hennig

Verknüpfung kategorial strukturell referentiell Gesamt


syndetisch 66 39,5 % 42 25,1 % 5 3,0 % 113 67,7 %
asyndetisch 46 27,5 % 3 1,8 % 5 3,0 % 54 32,3 %
Gesamt 112 67,1 % 45 26,9 % 10 6,0 % 167 100 %
Übersicht 5: Verknüpfung der Konjunkte

Als ‚syndetische‘ Verknüpfungen wurden hier Verknüpfungen mit Kon-


und Subjunktoren angesehen. Verknüpfungen durch andere Konnektoren
(Adverb- und Partikelkonnektoren) wurden nicht berücksichtigt. Auf-
schlussreich sind die Korrelationen zwischen den Typen aggregativer Ko-
ordination und der Verknüpfung der Konjunkte. Die syndetische Ver-
knüpfung scheint bei struktureller Aggregation fast obligatorisch zu sein,
während bei kategorialer und referentieller Aggregation offenbar sowohl
die Möglichkeit besteht, die Konjunkte durch einen Junktor zu verbinden
als auch darauf zu verzichten. Insgesamt überwiegt die Syndese aber deut-
lich gegenüber der Asyndese, sodass der von Behaghel hergestellte Zu-
sammenhang zwischen asyndetischer Satzverknüpfung und aggregativer
Koordination nicht bestätigt werden kann.
Wenn man nun die drei Grundtypen aggregativer Koordination zu der
in 3.1. zitierten Definition aggregativer Koordination (Ágel / Hennig
2006c, 388) in Beziehung setzt, stellt man fest, dass sich diese Definition
nur auf einen Grundtyp bezieht, und zwar die kategoriale Aggregation.
Die anderen beiden Grundtypen werden durch diese Definition nicht
erfasst. Aus diesem Grunde möchte ich nun folgende erweiterte Definiti-
on vorschlagen:
‚Aggregative Koordination‘ bezeichnet solche elliptischen Satzver-
knüpfungen, bei denen im Konjunkt mit implizit gebliebenen Elemen-
ten Abweichungen vom Bezugskonjunkt zu verzeichnen sind. Diese
Abweichungen können kategorialer, struktureller oder referentieller
Natur sein.
In den folgenden beiden Teilkapiteln werde ich Vorschläge zur weiteren
Subtypisierung der Typen ‚kategoriale Aggregation‘ und ‚strukturelle Ag-
gregation‘ erarbeiten. Eine Subtypisierung der referentiellen Aggregation
kann hier aufgrund der dünnen Beleglage nicht vorgenommen werden.

3.4. Subtypen kategorialer Aggregation

Für eine Subtypisierung kategorialer Aggregation scheinen mir in erster


Linie die folgenden Informationen wichtig zu sein:
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 953

1. Art der kategorialen Aggregation: Was für ein Kategorientyp ist be-
troffen? Hier berufe ich mich auf die Unterscheidung zwischen
Wort- und Einheitenkategorien durch Peter Eisenberg (2006, 16ff.).
2. Ort der kategorialen Aggregation: Was für Bestandteile des Satzes
sind betroffen? Hier unterscheide ich zunächst zwischen Nominal-
gruppen und Verbalgruppen betreffenden kategorialen Aggregatio-
nen. In einem weiteren Schritt kann spezifiziert werden, um was für
Formen von Nominal- und Verbalgruppen es sich handelt. Auf
eine solche weitere Spezifizierung verzichte ich aus Platzgründen.
Die folgenden Beispiele sollen die Unterscheidung illustrieren:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Hier ist – wie bereits in Kapitel 3.3. besprochen – die nominale Kategorie
Kasus von der aggregativen Koordination betroffen. Art der Kategorisie-
rung ist die Einheitenkategorie Kasus, Ort ist die Nominalgruppe.
(18) unßer fornemen, wahr weidt zu Reißen vnd […] kondten Nicht
alen tag bey vnßern eltern, gelt vnd gleider abhollen, (Güntzer I)
Wie in Beispiel (2) bleibt auch in (18) der Wechsel innerhalb der Nomi-
nalgruppe. Während hier Kasus, Person und Numerus konstant bleiben,
wird der Bezug zur 1. Person Singular Nominativ im Bezugskonjunkt
durch einen Possessivartikel hergestellt, während er im elliptischen Kon-
junkt als Personalpronomen zu realisieren wäre. Somit ist die Wortkatego-
rie Wortart betroffen.
(19) ich und Meine geferdten hatten Noch wol gelt ieweder […] bey
20 Gulden (Güntzer I)
In diesem Beispiel finden mehrere Wechsel im Bereich verbaler Einhei-
tenkategorien statt: Das realisierte finite Verb hatten im ersten Konjunkt ist
in Bezug auf die Kategorisierungen Person und Numerus als 1. Person
und Plural kategorisiert. Im zweiten Konjunkt wäre das finite Verb als 3.
Person und Singular zu kategorisieren.
(20) Den anderen Tag wie man die Huldigungs Gnad hat angenomen
ist man vor umb 8 Uhr morgens in die Kirch gegangen […] dem
Keyser umb glickliche Regierung gebetten (SchuhmacherChro-
nik II)
Von kategorialer Aggregation ist hier das Perfektauxiliar betroffen: Das
Verb gehen des Bezugskonjunkts verlangt eine Perfektbildung mit sein,
954 Mathilde Hennig

während Perfektauxiliar des Verbs bitten des elliptischen Konjunkts haben


ist. Es handelt sich dabei um den von Schröder stigmatisierten Fall. Die
Subtypisierung kategorialer Aggregation bezüglich dieser beiden Perspek-
tiven führt zu folgendem Bild:9

Einheitenkategorie Wortkategorie Gesamt


Nominalgruppe 49 43,7 % 3 2,7 % 52 46,4 %
Verbalgruppe 27 24,1 % 33 29,5 % 60 53,6 %
Gesamt 76 67,9 % 36 32,1 % 112 100 %
Übersicht 6: Subtypisierung kategorialer Aggregation

Ingesamt sind Einheitenkategorien häufiger betroffen als Wortkategorien,


wobei es diesbezüglich einen deutlichen Unterschied zwischen Nominal-
und Verbalgruppen gibt: Während bei Nominalgruppen fasst ausschließ-
lich Einheitenkategorien betroffen sind, halten sich Einheiten- und Wort-
kategorien bei den Verbalgruppen die Waage. Dieses Ergebnis wird durch
das recht häufige Auftreten aggregativer Koordinationen bei Auxiliarel-
lipsen geprägt, das für die größere Häufigkeit von Wortkategorien betref-
fenden kategorialen Aggregationen im verbalen gegenüber dem nominalen
Bereich verantwortlich ist. Die hohe Anzahl an kategorialen Aggregatio-
nen des Perfektauxiliars – 27 der 33 der Korrelation Wortkategorie / Ver-
balgruppe zugeordneten Fälle, von denen die meisten dem stark aggrega-
tiven Text SchuhmacherChronik II entstammen – führt nun Schröders
Rückführung des Phänomens auf die Situation des Übersetzens aus dem
Lateinischen ad absurdum.

3.5. Subtypen struktureller Aggregation

Bei der Subtypisierung struktureller Aggregation geht es um die Frage, was


für Strukturen von der Aggregation betroffen sind. Als Bedingungen für
Auslassungen führt Hoffmann – wie in 2.1. bereits zitiert – u.a. die Paral-
lelität der Position an (1997, 574). Da Hoffmann diese Bedingung ein-
schränkt, indem er darauf verweist, dass „Strukturabweichungen […] am
ehesten beim Subjekt geduldet“ werden (ebd., 576), die Bedingung der
Strukturparalleliät also nicht für das Subjekt gilt (ebd., 577), nehme ich
Fälle wie den folgenden nicht in die Analyse aggregativer Koordinationen
auf:

_____________
9 Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 98 kategorialen Aggrega-
tionen.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 955

(21) vnder solche Beße Buben vndt Merdter bin ich auch gevallen
vndt […] Nahe ermordtet worden so Mich Mein gott Nicht er-
halten hette (Güntzer I)
Der folgende Überblick über mögliche Formen struktureller Aggregation
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern spiegelt lediglich die
Situation im Korpus wider.
1. Nebensatz – Hauptsatz
(16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener
daß Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger
Burckholtz begraben (SchumacherChronik II)
Dieses Beispiel wurde bereits in 3.3. zur Illustration des Grundtyps
‚strukturelle Aggregation‘ zitiert und kommentiert. Im Korpus ist
nur der hier illustrierte Fall des Wechsels von Nebensatz zu Haupt-
satz belegt. Der umgekehrte Fall des Wechsels von Haupt- zu Ne-
bensatz kommt nicht vor.
2. Verbalsatz – verbloser Satz
(22) den 6ten ein Schne gefallen und […] kalt darauff (Schuhma-
cherChronik II)
Wie im Fall der referentiellen Aggregation (Beispiel 17) behält das
Subjekt des ersten Konjunkts nicht seine Geltung für das zweite
Konjunkt. Der Unterschied besteht darin, dass hier keine Struktur-
parallelität vorliegt, sondern ein Wechsel von einer verbalen in eine
verblose Struktur. Die Bindung des zweiten Konjunkts an das erste
wird dadurch loser als in den anderen bisher besprochenen Fällen.
3. Konjunkt – Satzglied
(23) den 20igsten war es wider Schön u. recht warm u. […] cont. zum End
deß Monats (SchuhmacherChronik II)
In diesem Beispiel bezieht sich das elliptische Subjekt im zweiten
Konjunkt auf das gesamte erste Konjunkt, das erste Konjunkt ist
also referenzidentisch mit dem elliptischen Subjekt des zweiten
Konjunkts.
956

Nebensatz – Verbalsatz – Konjunkt – (IK mit zu –


Gesamt
Hauptsatz Verbloser Satz Satzglied IK ohne zu)

Güntzer I 5 11,1 % 0 - 0 - 0 - 5 11,1 %

Schuhmacher-
10 22,7 % 9 20,0 % 20 44,4 % 0 - 39 86,7 %
Chronik II

Briefwechsel V 0 - 0 - 0 - 1 2,2 % 1 2,2 %

Gesamt 15 33,3 % 9 20,0 % 20 44,4 % 1 2,2 % 45 100 %

Übersicht 7: Subtypen struktureller Aggregation


Mathilde Hennig
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 957

4. Infinitivkonstruktion mit zu – Infinitivkonstruktion ohne zu


(24) Ich denke alle Tage an Dich Dier doch erst Wiederzusehn und
Dich in meine Arme […] nehmen (Briefwechsel V)
Hier ist die Infinitivmarkierung mit zu im zweiten Konjunkt ellip-
tisch. Für diesen Fall gibt es im Korpus nur einen Beleg, sodass auf
dieser Grundlage noch nicht von einem eigenständigen Typ struk-
tureller Aggregation die Rede sein kann. Ich führe den Beleg hier
dennoch auf, um ein statistisch vollständiges Bild erhalten zu kön-
nen.
Die statistische Verteilung der Typen struktureller Aggregation gestaltet
sich wie auf der gegenüberliegenden Seite in Übersicht 7 dargestellt:10

4. Konsequenzen
Abschließend sollen Konsequenzen des hier vorgestellten Ansatzes
• für die Ellipsentheorie,
• für die Sprachgeschichtsforschung
• und für die Nähe-Distanz-Theorie
erörtert werden.

4.1. Konsequenzen für die Ellipsentheorie

Mit vorliegendem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, dass eine aus-
schließlich an integrativen Formen von Koordinationsellipsen ausgerichte-
te Ellipsentheorie kein vollständiges Bild von Koordinationsellipsen zu
zeichnen vermag. Eine gegenwartsgrammatisch perspektivierte und
schriftzentrierte Ellipsentheorie wird nicht nur nicht dem Prinzip der
sprachhistorischen Adäquatheit (= Viabilitätsprinzip, vgl. Ágel 2001) ge-
recht, sondern ist auch zwangsläufig präskriptiv orientiert, weil sie die
nicht ihren Tilgungsregeln entsprechenden Ellipsen als mögliche Formen
von Koordinationsellipsen ausschließt.
Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Typen aggregativer Ko-
ordination schlage ich vor, die bisher vorrangig dichotomisch orientierte
_____________
10 Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 44 strukturellen Aggrega-
tionen.
958 Mathilde Hennig

Ellipsentypologisierung durch ein skalares Verständnis (im Sinne von


Plewnia, vgl. Kapitel 2.1.) zu ersetzen. Dabei bilden die kontextkontrollier-
ten Ellipsen den einen Pol und nicht-kontextkontrollierte Ellipsen den
anderen Pol. Aggregative Koordinationsellipsen sind weder im strengen
Sinne kontextkontrolliert (also im Sinne der Befolgung aller Tilgungsre-
geln) noch sind sie völlig unabhängig vom sprachlichen Kontext. Sie ste-
hen vielmehr als weniger kontextkontrollierte Ellipsen zwischen den Po-
len:

kontext- nicht-kontext-
kontrollierte kontrollierte
Ellipsen Ellipsen
weniger kontextkontrollierte Ellipsen:
aggregative Koordinationen

Aber nicht nur die Ellipsentypen sind skalar zu modellieren, sondern auch
aggregative und integrative Koordinationen:

aggregative integrative
Koordination Koordination

Dabei gilt: Bei integrativer Koordination weisen die Konjunkte einen ge-
ringeren Grad an Selbständigkeit in der Organisation auf. Die Konjunkte
sind in höherem Maße voneinander abhängig. Bei aggregativer Koordina-
tion ist der Grad an Selbständigkeit in der Organisation höher, der Zu-
sammenschluss der beiden Konjunkte wird dadurch schwächer.
Relativ einfach sind Abstufungen der Aggregativität im Bereich der
kategorialen Aggregation festzulegen, indem die Anzahl der Aggregatio-
nen berücksichtigt wird. So ist bspw. von dem bereits mehrfach zitierten
Beispiel (2) nur eine Kategorisierung betroffen:
(2) und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter
paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwech-
sel V)
Die Aggregation betrifft hier nur die Kategorisierung Kasus, alle anderen
Kategorisierungen bleiben gleich. Folgendes Beispiel weist dagegen zwei
Kategorisierungswechsel auf:
(25) fanden aber keine als die bloße Erde und dicken Dreck wo man
immer drin fest saß und […] nicht aus der stelle kommen konn-
ten (Briefwechsel V)
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 959

Betroffen sind hier die Kategorisierungen Person und Numerus, es findet


ein Wechsel von der dritten zur ersten Person sowie vom Singular zum
Plural statt. Von der Anzahl der betroffenen Kategorisierungen ausgehend
ist Beispiel (25) als aggregativer zu betrachten als Beispiel (2).
Schwieriger gestaltet sich die Frage nach Abstufungen der Aggregativi-
tät im Bereich der strukturellen Aggregation. Hier lässt sich diese Frage
nicht einfach über die Anzahl der Aggregationen lösen, da es sich um sehr
unterschiedliche betroffene Strukturen handelt. Dabei gilt auch hier, dass
als aggregativere Formen solche Koordinationen gelten, deren Grad an
Selbständigkeit höher ist. In 3.5. wurde bereits darauf aufmerksam ge-
macht, dass die Bindung elliptischer Konjunkte beim Wechsel von Ver-
balsätzen in verblose Sätze loser ist als bei anderen Fällen aggregativer
Koordination, da hier keinerlei Strukturparallelität mehr vorliegt. Diese
Fälle wären einerseits auf der Aggregation-Integration-Skala als besonders
aggregativ einzuordnen, andererseits auf der kontextkontrolliert-nicht-
kontextkontrolliert-Skala als dem nicht-kontextkontrolliert-Pol nahe ste-
hend zu verorten.
Es ergibt sich außerdem die Frage, ob auch die drei Grundtypen ag-
gregativer Koordination unterschiedliche Aggregationsgrade aufweisen.
Ein mögliches Indiz für unterschiedliches Aggregationsverhalten könnte
die in 3.3. vorgestellte Beobachtung, dass strukturelle und referentielle
Aggregationen offenbar eine syndetische Verknüpfung verlangen, sein.
Die Tatsache, dass bei kategorialen Aggregationen auch Asyndese möglich
ist, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass von kategorialer Aggregation
betroffene elliptische Konjunkte durch die Struktur- und Referenzparalle-
lität noch sehr eng an ihre Bezugskonjunkte gebunden sind, sodass es
nicht unbedingt erforderlich ist, die Verbindung zwischen den Konjunk-
ten durch einen Junktor zu markieren. Bei struktureller und referentieller
Aggregation dagegen ist der Grad an Selbständigkeit höher, sodass die
Verbindung zwischen den Konjunkten zusätzlich markiert werden muss.
Diese Einschätzungen zu Graden an Aggregativität verstehen sich nur
als erste Überlegungen, die erst auf der Basis umfangreicherer Daten ge-
nauer ausbuchstabiert werden können. Hilfreich wäre hierfür auch eine
vergleichende Untersuchung aggregativer und integrativer Koordinations-
ellipsen.

4.2. Konsequenzen für die Sprachgeschichtsforschung

Auch wenn die gegenwartsgrammatisch orientierte Ellipsentheorie nicht


dem Prinzip der Viabilität gerecht wird und deshalb nicht ohne Weiteres
auf sprachhistorische Verhältnisse übertragen werden kann, so kann zu-
960 Mathilde Hennig

mindest der damit verbundene Systematisierungsgedanke für die sprach-


historische Forschung fruchtbar gemacht werden. Denn erst, wenn ver-
schiedene grammatische Kategorien und Strukturen betreffende Ellipsen
in einem übergreifenden Ansatz betrachtet werden, können Zusammen-
hänge zwischen diesen Ellipsen offen gelegt werden. Als ein solcher Zu-
sammenhang wurde hier die Neigung zu aggregativeren Formen herausge-
arbeitet. Verschiedene Typen von aggregativen Koordinationsellipsen –
wie etwa nominale Kategorien betreffende Ellipsen, Auxiliarellipsen oder
durch die Herstellung der syntaktischen Ruhelage bedingte strukturelle
Aggregationen – können somit dem allgemeineren Zusammenhang eines
möglichen Übergangs von aggregativeren zu integrativeren Formen zuge-
ordnet werden. Ein weiterer Vorteil einer solchen Systematisierung be-
steht darin, dass dadurch ein sprachsystematisch begründeter Erklärungs-
zusammenhang gewonnen wird, der am gegenwartssprachlichen
Grammatikalitätsurteil ausgerichtete Einordnungsversuche ersetzen kann.
Aufschlussreich für sowohl Sprachgeschichtsforschung als auch Ellip-
sentheorie ist die Beobachtung, dass offenbar bestimmte sprachhistori-
sche Phänomene aggregative Koordinationen begünstigen. Dazu gehören
die Mikrorealisierung des Subjektpronomens, afinite Konstruktionen und
auch die Herstellung der syntaktischen Ruhelage. Im Sinne der Auer’schen
Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Verbspitzenstel-
lung (1993)11 könnte man auch zwischen eigentlicher und uneigentlicher
aggregativer Koordination unterscheiden: Aggregative Koordination, die
sozusagen ein Nebeneffekt anderer sprachhistorischer grammatischer
Erscheinungen ist, ist keine eigentliche aggregative Koordination. Als
‚eigentlich‘ wäre eine aggregative Koordination nur dann zu bezeichnen,
wenn sie das eigentliche Phänomen der betroffenen Struktur ist. Betrach-
tet man die in vorliegendem Beitrag aufgeführten Belege, so zeigt sich
aber, dass es relativ schwierig sein dürfte, Fälle für eigentliche aggregative
Koordination zu finden. Die Frage, ob es eigentliche aggregative Koordi-
nation überhaupt gibt, muss also der Untersuchung umfangreicheren Da-
tenmaterials vorbehalten bleiben.
Die Tatsache, dass aggregative Koordinationen offenbar vorrangig im
Zusammenhang mit anderen sprachhistorischen grammatischen Phäno-
menen auftreten, hilft zu verstehen, warum aggregative Koordinationen
für das Gegenwartsdeutsche – mit Ausnahme der dialektbezogenen Studie
von Plewnia – nicht beschrieben sind.
_____________
11 Als ‚eigentlich‘ betrachtet Auer die Verbspitzenstellung dann, wenn keine klaren Gründe
für die Verbspitzenstellung erkennbar sind, d.h., wenn der Satz sämtliche obligatorische
Ergänzungen enthält. Kommt die Verbspitzenstellung dagegen durch das Fehlen einer ob-
ligatorischen Ergänzung zustande, handelt es sich um eine Ellipse, die Auer als ‚uneigentli-
che Verbspitzenstellung‘ bezeichnet (1993, 195).
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen 961

4.3. Konsequenzen für die Nähe-Distanz-Theorie

In der Nähe-Distanz-Theorie (Ágel / Hennig 2006a) geht es darum, Nähe


und Distanz als Pole eines Kontinuums zu bestimmen und diesen Ansatz
durch eine Operationalisierung auch für die Analyse historischer Texte
nutzbar zu machen (Ágel / Hennig 2006b). Bei der Ermittlung der Nähe-
sprachlichkeit eines historischen Textes spielt der Parameter ‚Aggregation
vs. Integration‘ eine zentrale Rolle. Mit Hilfe von Erkenntnissen über
mögliche Ausprägungen dieses Parameters kann deshalb auch die Nähe-
Distanz-Theorie verfeinert werden. In diesem Sinne wäre es denkbar, die
bisherigen Verfahren zur Ermittlung der Nähesprachlichkeit (Ágel / Hen-
nig 2006b) durch einen Wert zum Aggregationsgrad in Bezug auf das
Ellipsenverhalten von Texten zu ergänzen. Texte mit einer stark ausge-
prägten Neigung zu aggregativen Koordinationsellipsen bzw. zu beson-
ders aggregativen Formen von Koordinationsellipsen könnten auf diese
Weise als besonders nähesprachlich ausgewiesen werden. Auch hier gilt,
dass es weiterführender Korpusuntersuchungen – insbesondere verglei-
chender Untersuchungen zu aggregativer und integrativer Koordination –
bedarf, um einen solchen Ansatz ausarbeiten zu können.
Wenn der vorliegende Beitrag mit einigen Desideratsbestimmungen
schließen muss, so ist das der Tatsache geschuldet, dass ich mit dem Ver-
such, aggregative Koordinationen sowohl sprachhistorisch als auch ellip-
sentheoretisch zu verorten, völliges Neuland betreten habe. Es konnten
deshalb hier nur erste Überlegungen zum Verständnis aggregativer Koor-
dinationen präsentiert werden, die durch weitere Studien zu präzisieren
sind.

Quellen

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Französischen Krieg 1870/71, Isa Schikorsky (Hrsg.), (Selbstzeugnisse der Neuzeit
7), Köln u.a. 1999.
Güntzer I = Güntzer, Augustin, Kleines Biechlein von meinem gantzen Leben. Die Autobio-
graphie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert, Fabian Brändle / Dominik
Sieber (Hrsg.), (Selbstzeugnisse der Neuzeit 8), Köln u.a. 1657 / 2002.
Kant III = Kant, Immanuel, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen-
schaft wird auftreten können, Rudolf Malter (Hrsg.), (Universal-Bibliothek 2468[3]),
Stuttgart 1783 / 1989.
SchuhmacherChronik II = Launer, Georg, Chronik. Transkription Stadtarchiv Reutlingen.
[unveröffentlicht]
962 Mathilde Hennig

Sprachbiographien VII = Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der
Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Ana-
lysen narrativ-diskursiver Interviews, Ulla Fix / Dagmar Barth (Hrsg.), unter Mitarbeit
v. Franziska Beyer, (Leipziger Arbeiten zur Sprache- und Kommunikationsge-
schichte 7), Frankfurt a. M. u.a. 2000.

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Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und
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nen? Ein neuer Versuch über die Reichweite und Grenzen des Ellipsenbegriffs
für die Analyse gesprochener Sprache in der konversationellen Interaktion“, in:
Peter Schlobinski (Hrsg.), Syntax des gesprochenen Deutsch, Opladen, 117-155.
Im Spannungsfeld
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Populare Techniken der Redewiedergabe
in der Frühen Neuzeit

Anja Voeste (Gießen)

1. Fragestellung
Die Sprachgeschichtsschreibung verweist immer wieder auf ein zentrales
Ereignis, das die sprachliche Entwicklung in der Frühen Neuzeit entschei-
dend beeinflusst hat: die Dissoziierung von gesprochener und geschriebe-
ner Sprache.1 Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist von einer „Schrift-
sprache der Gebildeten“ auszugehen, die sich strukturell im Laufe der Zeit
immer stärker von der gesprochenen Sprache unterschied. Gleichzeitig
übte diese Schriftsprache aber auch einen so starken Einfluss als Leitvarie-
tät aus, dass sich nach und nach eine sekundäre, schriftsprachlich geprägte
Oralität auszubilden begann. Mündlichkeit und Schriftlichkeit standen
somit in einem Abstoßungs-, aber auch in einem Anziehungsverhältnis
zueinander, unterlagen also zwei divergierenden Trends. Beide Entwick-
lungen wurden bekanntlich von der Elite der ständischen Gesellschaft
getragen, besonders vom städtischen Patriziat und den Akademikern.
Verhältnismäßig wenig bekannt ist dagegen, wie sich populare Schrei-
ber, also jene, die nicht zur Elite der ständischen Gesellschaft zählten,2 in
diesem Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhielten.
War ihnen die Dissoziierung, die Differenz zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit, bekannt und bewusst? In diesem Fall müsste sich nachwei-
sen lassen, dass auch populare Autoren gezielt prototypisch schriftsprach-
liche Strukturen wählten – sei es, um sich den Prestigezugewinn zu si-
chern, oder einfach, um die andersartigen medialen Anforderungen zu
bedienen. Oder war ihnen die Differenz zwischen Mündlichkeit und
_____________
1 Vgl. etwa Reichmann (2003).
2 Vgl. zur Definition Brändle (2001, 441).
966 Anja Voeste

Schriftlichkeit nicht bekannt bzw. nicht bewusst? Haben sie sie – auch das
ist theoretisch möglich – gar absichtlich nicht berücksichtigt, um „Nähe“
zum potenziellen Leser herzustellen? Dann dürften sich Strukturen, die
prototypisch schriftsprachlich sind, gerade nicht finden lassen, sondern
stattdessen solche, die der gesprochenen Sprache näher stehen. Oder
muss man als dritte Möglichkeit sogar mit einer Mischung von beidem
innerhalb eines Textes rechnen? Daten zur Verwendung von Vergleichs-
partikeln aus dem 19. Jahrhundert zeigen z.B., dass es die Schreiber mit
Elementarschulbildung waren, die in Privatbriefen sowohl die „schrift-
sprachlichste“ und somit wohl prestigereichste Variante ([größer] denn) als
auch die stigmatisierteste Variante ([größer] als wie) nutzten, während sich
die Schreiber mit Sekundarschulbildung auf die Varianten [größer] als und
[größer] wie beschränkten.3 Muss man sich auch für die Frühe Neuzeit auf
ein solches Nebeneinander geschrieben- und gesprochensprachlicher
Muster innerhalb eines Textes einstellen? Wie wären solche theoretisch
möglichen Fälle überhaupt zu interpretieren? Wären, um bei diesem Bei-
spiel zu bleiben, etwa alle [größer] als wie per se als unbewusst gewählte
„Alltagsvarianten“ zu klassifizieren, wenn daneben ein sicherlich strate-
gisch platziertes [größer] denn im Sonntagsanzug auftaucht? Oder kann es
so etwas wie eine „Zwitterorientierung“ an geschriebensprachlichen Dis-
tanz- und gesprochensprachlichen Nähemustern gleichermaßen geben –
nach dem Motto: „Ich bin zwar gebildet, aber trotzdem einer von euch“?
Um einen kleinen Schritt in Richtung auf die Beantwortung dieser
Fragen zu gehen, möchte ich im Folgenden drei autobiographische Texte
von Handwerkern der Frühen Neuzeit in den Blick nehmen. Die Abfas-
sung der Texte ist dem Umstand zu verdanken, dass die Autoren aufgrund
ihres religiösen Familienhintergrunds schon früh mit Lesen und Schreiben
vertraut waren und dass Schriftlichkeit, insbesondere die religiöse Lektüre,
zeitlebens eine besondere Bedeutung für sie hatte, denn alle drei Autobio-
graphen wurden aus religiösen oder ökonomischen Gründen aus ihren
angestammten Sozialverbänden ausgeschlossen. Lesen und Schreiben
waren für sie Rückzugstechniken, mit denen sie sich von ihrem feindlich
gesinnten Umfeld abkapseln konnten. Erst ihre soziale Außenseiterrolle
hat den Impuls für die Abfassung der Texte geliefert – und uns somit
seltene, vormodern-individuelle Zeugnisse beschert. Das bedeutet aber im
Umkehrschluss auch, dass weder die Verfasser noch ihre Texte als typisch
für populares Schreiben gelten können und letztlich nur faute de mieux
herangezogen werden. Typisch für populares Schreiben wären allenfalls
berufsspezifische Notizen, Bestell- und Inventarlisten, Rechnungen und

_____________
3 Vgl. Elspaß (2005, 35).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 967

Rechnungsbücher oder rudimentäre Aufzeichnungen von familiären Eck-


daten.
Der älteste der ausgewählten Texte stammt aus den 70er Jahren des
16. Jahrhunderts und wurde vom Buchbinder und Täufer Georg Frell aus
Chur verfasst.4 Frell schildert seine Lehrjahre, die er fern der Familie in
äußerster ökonomischer Not verbrachte, und berichtet von seiner Aus-
grenzung und anschließenden Verbannung aus religiösen Gründen. Der
zweite Text wurde ca. 1650 vom Zinngießer und Calvinisten Augustin
Güntzer aus dem Elsaß geschrieben.5 Es handelt sich um die retrospektive
Geschichte eines steten Abstiegs aus guten Verhältnissen in eine so prekä-
re finanzielle Lage, dass sich der Autor, wie die Herausgeber betonen, am
Ende seines Lebens „kaum mehr eine anständige Mahlzeit leisten“6 konn-
te. Güntzer musste Zuflucht im Hause seines Schwiegersohns suchen, wo
er verhöhnt und nur mehr als Arbeitshilfe geduldet wurde. Der jüngste
Text stammt vom Böttcher und Pietisten Hans Ludwig Nehrlich aus Thü-
ringen und wurde 1722 / 23 auf Anregung August Hermann Franckes
niedergeschrieben.7 Nehrlich, als Pietist in seinem Heimatdorf angefein-
det, wurde mehrfach vor das orthodoxe lutherische Konsistorium zitiert.
Man beschlagnahmte seine Bücher, bezichtigte ihn der Häresie und nahm
ihn in Beugehaft, um ihn zum Widerruf zu bewegen. Nehrlich berichtet
wie Frell und Güntzer von seiner ökonomischen Not, von seiner religiö-
sen Standhaftigkeit und von sozialer Deprivation, da sogar seine Familie
gegen ihn agierte. Alle drei Quellen sind in Editionen zugänglich.8 Die
Texte wurden, wenn auch in geringem Maße, normalisiert, können also
nur zur Analyse ausgewählter Phänomene herangezogen werden.9

_____________
4 Vgl. „Die Autobiographie des Täufers Georg Frell von Chur“, in Rageth (1942).
5 Vgl. Güntzer (2002). Herangezogen wurde das erste Buch „Mein Kindtheitt undt Lehrjah-
ren betr=ffent“, 80-113.
6 Ebd., 68.
7 Vgl. Nehrlich (1997). Ausgewählt wurde der zweite Teil des Lebenslaufs, 72ff.
8 Die Originaltexte von Güntzer und Nehrlich sind über die Universitätsbibliothek Basel
bzw. das Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle) zugänglich, der Text von Frell befin-
det sich in Privatbesitz.
9 Es ist davon auszugehen, dass die Editoren im Bereich der hier interessierenden syntakti-
schen Konstruktionen nicht eingegriffen haben. Das betrifft jedoch nicht die – im Folgen-
den außer Acht gelassene – Interpunktion, die besonders bei Frell dem späteren Gebrauch
angepasst wurde. Zu Fragen der Markierung der direkten Rede vgl. Simmler (1998).
968 Anja Voeste

2. Untersuchungsgegenstand
Als Untersuchungsgegenstand wurde die syntaktische Bearbeitung wörtli-
cher Rede, genauer: die Verbindung von Redeeinleitung10 und Redewie-
dergabe, gewählt. Die Fokussierung auf syntaktische Konstruktionen der
Redewiedergabe war von folgenden Annahmen geleitet:
1. Bei der Dissoziierung von gesprochener und geschriebener Sprache
mögen den popularen Schreibern zunächst die „großen“, die syn-
taktischen Unterschiede ins Auge gefallen sein, die durch die neuen
Strukturmuster der Schriftsprache entstanden: Die Klammerstruk-
turen wurden hier (weiter) ausgebaut, die Satztypen differenzierten
sich durch Verbzweit- und Verbletztstellung, die Hypotaxe nahm
zu.11 Eine Fokussierung der Analyse auf syntaktische Phänomene
erschien auch deshalb angeraten, weil sie nicht nur beim aktiven
Lesen, sondern auch beim Vorlesen mittransportiert wurden: Die
popularen Schreiber mögen sich die neuen syntaktischen Muster so
– durch Lesen und durch Zuhören – auch vergleichsweise leichter
angeeignet haben – im Gegensatz etwa zu (ortho)graphischen.
2. Es musste gewährleistet sein, dass den Autoren eine „freie“ Wahl-
option zwischen alten und neuen, d.h. gesprochen- und geschrie-
bensprachlichen Mustern zur Verfügung stand. Für die Frühe Neu-
zeit muss ja berücksichtigt werden, dass viele der neuen gramma-
tischen Strukturen durch die beginnende Standardisierung der
Schriftsprache festzementiert wurden. Wenn ältere Muster – etwa
durch Grammatikalisierung – verdrängt oder in den Grammatiken
negativ etikettiert wurden,12 verwendete man sie gemeinhin auch
nicht mehr alternativ zu den neuen Mustern – es sei denn, man
nahm einen Prestigeverlust in Kauf. Deshalb musste ein Gegen-
stand gewählt werden, bei dem die alten schriftsprachlichen Muster
nicht durch neue verdrängt wurden. Die Einbettung der Redewie-
dergabe in den syntaktischen Kontext erfüllt diese Voraussetzung:
Bis heute existiert ein Spektrum an Möglichkeiten, Gesprochen-
sprachliches wiederzugeben, z.B. durch direkte Rede, indirekte Re-
de oder durch einen dass-Satz.
3. Es sollte ein Thema gewählt werden, bei dem ein besonderes Span-
nungspotenzial zwischen gesprochen- und geschriebensprachlichen
Mustern zu erwarten war. Auch das ist bei der Redewiedergabe der
_____________
10 Zur Terminologie vgl. Wilke (2006, 281, FN 71).
11 Vgl. dazu im Einzelnen und im systematischen Zusammenhang: Ágel (2000).
12 Vgl. dazu generell Knoop (1987) und speziell Davies / Langer (2006).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 969

Fall: Bei der Schilderung ihrer intensiven persönlichen Erlebnisse


mögen die Autoren in hohem Maße versucht gewesen sein, Äuße-
rungen als wörtliche Rede wiederzugeben, während sie andererseits
an der Verwendung der neuen, schriftsprachlichen Muster als Bil-
dungsausweis interessiert gewesen sein dürften.

3. Redewiedergabe –
mündlich und schriftlich geprägte Techniken
Eine mündlich geprägte Technik der Redewiedergabe verlangt vom Spre-
cher oder Schreiber verhältnismäßig wenig. Er muss sich an den Wortlaut
der Rede erinnern und diesen dann ohne eine aufwendige Weiterbearbei-
tung wiedergeben. Die „Bürde“, wie Frans Plank es nennt, „daraus den
richtigen Sinn zu entnehmen“,13 trägt der Zuhörer oder der Leser. In einer
face-to-face-Situation ist dies unproblematisch: Mit performativen Mitteln
wie Intonation, Mimik und Gestik können Sachverhalte und deren Bezüge
leicht vereindeutigt werden. Anders in der Schriftsprache: Der Zusam-
menhang zweier Sachverhalte muss (syntaktisch gesprochen) deutlicher
markiert werden als in der Mündlichkeit, weil die performativen Mittel
fehlen. Eine literate Technik verlangt daher vom Schreiber sehr viel mehr:
Er muss die deiktischen Angaben transponieren und durch Moduswech-
sel, die Verwendung von Junktoren oder die Veränderung der Verbstel-
lung Abhängigkeiten syntaktisch anzeigen. So wird aus einer mündlich
geprägten, aggregierenden Reihung von Redeeinleitung und -wiedergabe
wie Christoph hat gesagt: „Ich habe die Katze nicht gesehen“ eine syntaktisch in-
tegrierende, hierarchische Unterordnung wie Christoph sagt, dass er die Katze
nicht gesehen habe. Bei einer schriftlich geprägten Technik greift der Schrei-
ber interpretierend ein und gibt dem Leser so Hilfestellung bei der Deko-
dierung, erleichtert ihm also seine „Bürde“. Doch das muss nicht sein: Je
weiter der Pfad der Dissoziierung beschritten wird, desto stärker werden
integrierende syntaktische (im Gegensatz zu aggregierenden pragmati-
schen) Techniken eingesetzt. Aber je integrierter und komprimierter eine
syntaktische Konstruktion ist, desto mehr Informationsträger – deiktische
Mittel, verbale Kategorien oder Ergänzungen – können verloren gehen,
vgl. Christoph beklagt das Nichtsehen der Katze. Wenn sich die literaten Tech-
niken auf diese Weise „verselbständigen“, dienen sie nicht mehr der Ver-

_____________
13 Plank (1986, 298).
970 Anja Voeste

ständnissicherung. Die Dekodierung wird keineswegs erleichtert, sondern


vielmehr erschwert.14
Bei der Redewiedergabe existiert, wie die wenigen Beispiele bereits ge-
zeigt haben, ein ganzes Spektrum an solchen mehr oder weniger mündlich
bzw. schriftlich geprägten Konstruktionsmöglichkeiten, so dass man von
einem Kontinuum von aggregativ-pragmatischen und integrativ-syntakti-
schen Kodierungsverfahren sprechen kann. Im Folgenden unterscheide
ich in Anlehnung an Plank fünf Typen der Verschränkung von Redeeinlei-
tung und Redewiedergabe,15 die das Kontinuum von Aggregation zu In-
tegration verdeutlichen sollen.
Typ 1a:
(1) Ich gedacht hin und här: „Du bist nu yetz zimlich alt und hast noch nüt
rechts gelernet, damit du dich erneeren mögist.“ [Frell, 462]
(2) Dem bössen Geist ich ich [sic] balt Antwordt gab mit dißen Wordten: Ich
gehe nicht hinab, mache dich fordt von mihr … [Güntzer, 94]
(3) … so will ich ihm die ursache sagen: Es kombt mir oft vor in meinem Ge-
Müth, das… [Nehrlich, 76]
Typ 1a ist der aggregativste Typ der Redewiedergabe: Die wiedergegebene
Rede ist der Redeeinleitung neben-, nicht untergeordnet. Einleitungs- wie
Redeteil sind als zwei syntaktisch autonome Sätze realisiert; zwischen bei-
den liegt eine Satzgrenze. Die Autonomie und die unhierarchische Rei-
hung der beiden beteiligten Sachverhaltsdarstellungen kann dabei einen
Nachteil für die Dekodierung mit sich bringen: Wenn die Redeeinleitung
nicht klar genug als Bezugsrahmen hervortritt, kann das Verständnis er-
schwert werden, weil der Zusammenhang der Sachverhalte syntaktisch
nicht markiert ist. In Texten der Frühen Neuzeit kommt erschwerend
hinzu, dass die Textkohäsion gering sein kann, z.B. durch fehlende Kore-
ferenz, wenn das Subjektpronomen nicht realisiert wird (vgl. Gab Antwort:
Gehe nicht hinab vs. Ich / Er gab Antwort: Ich / ØIMP gehe nicht hinab).
Typ 1b:
(4) Unnd bättet mit mier unnd sprach: „Ä, min liebs kindt, ich pitten dich
thrülich, biß [sei] allwägen from unnd gottsförchtig die wil [dieweil] du
lebst …“ [Frell, 458]

_____________
14 Vgl. Raible (1992, 221): „Generell gilt freilich, daß ein Diskurs in dem Maße integrierter
wird, in dem er vom Produzenten vorkonzipiert und reflektiert wurde, also Bühlers
Sprachwerk entspricht; daß mit dem zunehmenden Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit
der Grad an Integrativität zunimmt, daß ein zu hohes Maß an Integrativität jedoch die Ver-
ständlichkeit nicht unbedingt fördert.“
15 Plank unterscheidet acht Typen der Redewiedergabe, vgl. Plank (1986, 304).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 971

(5) Mein Vatter sprach: Es ist ein Man da … [Güntzer, 94]


(6) … sie wird sagen, je, das Gott erbarm, was seit ihr vor ein Man …
[Nehrlich, 80]
Dieser Typ ist insofern weniger aggregativ, als das Verb sprechen als Rede-
einleitung hier eine Ergänzung verlangt und der Einleitungssatz daher
weniger autonom ist als bei Typ 1a. Das unhierarchische Verhältnis zwi-
schen den beiden Teilen bleibt nicht gewahrt, der Redeteil ist dem Einlei-
tungsteil – wenn auch nur in geringem Maße – durch die Eingliederung in
den Valenzrahmen von sprechen untergeordnet. Obwohl die Unterordnung
„nur“ über die Valenz und nicht über syntaktische Marker wie Junktoren
oder die Verbendstellung erfolgt, können Redeeinleitung und Redeteil
dennoch vom Leser leichter als zusammengehörend interpretiert werden
als bei Typ 1a.
Typ 2:
(7) Unnd verhieß mir der fromme herr Apiariuss, sin bGchbinder mFße mich
das hantwerckh leeren [lehren]. [Frell, 461]
(8) Der Man sprach, er sey da. [Güntzer, 94]
(9) der redet mir Nun zu, ich sollte Ja nicht zagen … [Nehrlich, 83]
Bei Typ 2 liegt ein höherer Integrationsgrad vor, bei dem eine aufwendige-
re Planung durch den Schreibenden erforderlich ist. Der Wechsel von
direkter zu indirekter Rede ist hier durch einen Wechsel der Personendei-
xis (mein > sin bGchbinder, dich > mich) und auch des Modus (von Indikativ
zu Konjunktiv) bedingt. Die nötigen Transpositionen betreffen zunächst
die Personenreferenz – im nominalen wie im verbalen Bereich (Sie sagt:
„Du lügst.“ > Sie sagt, ich lüge.) – und parallel dazu die adverbiale Raum-
und Zeitdeixis (hier > da, jetzt > zu diesem Zeitpunkt o.ä.). Neben der perso-
nalen morphosyntaktischen Transposition kann der Schreibende zudem
einen Moduswechsel durchführen und die Consecutio temporum16 einhal-
ten. Das ist in den untersuchten Texten keineswegs immer gegeben. Die
Trennung von direkter und indirekter Rede wird bei Güntzer und Nehr-
lich mitunter nur von den deiktischen Transpositionen getragen, die dann
durch den Kontext erst vereindeutigt werden müssen (vgl. die kontextge-
stützten Lesarten a und b im Vergleich zu c):

_____________
16 Diese wird jedoch diachron und diatopisch unterschiedlich realisiert und hier nicht berück-
sichtigt. Vgl. dazu zuletzt ausführlich Wilke (2006, 71ff.).
972 Anja Voeste

(10) Er sprach: Es muß sein, mit ime muß ich ein Kampff außstehen. [Günt-
zer, 94]
Lesart a: Er1 sprach, es müsse sein, mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf
ausstehen.
Lesart b: Er1 sprach: „Es muss sein.“ Mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf
ausstehen.
Lesart c: Er1 sprach: „Es muss sein. Mit ihm2 muss ich1 einen Kampf
ausstehen.“
Erst wenn der Schreibende den größeren Aufwand auf sich nimmt und
auch den Moduswechsel durchführt, kann der Dekodierungsprozess er-
leichtert werden. Die stärkere Integration der Redewiedergabe vereindeu-
tigt das Verhältnis der Redeteile zueinander. Doch selbst wenn alle deikti-
schen und morphosyntaktischen Transpositionen durchgeführt sind, kann
diese Wiedergabetechnik trotz ihres höheren Integrationsgrades noch
aggregative Züge tragen – in semantischer Hinsicht. Das sieht man an
inkohärenten Belegen wie: … so giengend sy ab der arbeyt zum win [Wein] unnd
verthädend das gelt und verpaten mir by erstechen, ich sölte dem meyster nüt sagen
[Frell, 462]. Hier ist das redeeinleitende Verb verbieten per se schon negativ,
wird aber mit einem indirekt wiedergegebenen Verbot, der negativen sol-
len-Konstruktion (sölte nüt), gekoppelt, sodass der Leser die integrativ dar-
gebotenen, semantisch aber aggregativ organisierten Sachverhalte erst in
ihrer Beziehung zueinander interpretieren muss. (Man vergleiche dagegen
die Realisierung mit direkter Rede: und verpaten mir by erstechen, du darfst dem
meyster nüt sagen.) Es bleibt zu diskutieren, wie solche Beispiele zu interpre-
tieren sind: Einerseits vermittelt die Konstruktion den Eindruck einer
spontanen Realisierung, bei der der Planungsgrad gering ist.17 Das würde
für eine mündliche Technik sprechen. Andererseits legt die mechanische
Einhaltung der Consecutio temporum (auf einleitendes Präteritum folgt
Konjunktiv Präteritum) einen höheren Planungsgrad und somit eher eine
literate Technik nahe. Es könnte daher zu kurz greifen, einen solchen
Beleg mechanisch als mündlich induziert zu werten: Ebenso gut mag die
syntaktische Konstruktion ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich
gezogen und so den semantischen Kohäsionsbruch – also die Aggregation
– erst bewirkt haben.
Typ 3:
(11) Der hats innen ouch in gen [eingegeben] und befolhen, das sy söliche große
barmhertzickheyt an mir bewysind … [Frell, 462]

_____________
17 Solche Inkongruenzen oder Kohäsionsbrüche werden von der Gesprochenen-Sprache-
Forschung als on-line-Phänomene beschrieben, vgl. Auer (2000).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 973

(12) Diße 2 Pfaffen setzten … an mich, daß ich die evanielische Religion, meinen
Glauben, verleignen soll … [Güntzer, 97]
(13) … bitte aber, das mir es nicht übel möchte geteutet werden … [Nehrlich,
88]
In Beispielen dieses Typs bleibt zwar nach wie vor die Satzgrenze erhal-
ten, aber der Redeteil hat seine syntaktische Autonomie an die Redeeinlei-
tung verloren. Die Verbletztstellung (bewysind, soll) und der einleitende
Junktor (im Allgemeinen dass)18 sind Kennzeichen einer stärkeren syntakti-
schen Integration als die Verbzweitstellung19 und der „Nulljunktor“20 in
Typ 2. Obwohl der Konjunktiv zur Markierung der Redewiedergabe hier
nicht erforderlich ist, bevorzugen ihn Frell und Nehrlich. Sie nehmen
somit eine Übercharakterisierung der indirekten Rede vor.
Belege mit Verbzweitstellung sind bei allen drei Texten in der Minder-
zahl. Die Autoren realisieren Typ 3 mehrheitlich mit Verbalklammer, sei
es mit Verbspäter- oder mit Verbletztstellung. Innerhalb der zwei- und
mehrgliedrigen Verbalkomplexe wird die Serialisierung nicht einheitlich
gehandhabt. Das kanzleisprachliche Prestigemuster21 infinit-finit konkur-
riert hier mit der weniger papierenen, vermutlich durch die Mündlichkeit
gestützten Reihenfolge finit-infinit, vgl. gon welte vs. welte schaffen:
(14) … und seyt [sagt] mier nüt, das er gon welte. [Frell, 464]
(15) Aber jederman gab mir ein bösen trost, was ich hie welte schaffen … [Ebd.,
466].
Während sich das Verhältnis von Verbspäter- zu Verbletztstellung bei
Güntzer bereits stark zugunsten der Verbletztstellung verschoben hat (vgl.
Übersicht 1),22 tritt bei Nehrlich eine neue Konkurrenzvariante auf den
Plan, nämlich die afinite Konstruktion: … so erzehlt er mir das sein Herr
schwiger vatter gar nicht mit ihm zufriden [Nehrlich, 40].

_____________
18 Bei Fragen fungieren Interrogativpronomen oder -adverbien als Junktor, bei Entschei-
dungsfragen ob.
19 Oder die Verberststellung bei Nichtrealisierung des Subjektpronomens.
20 So Weinrich (2003, 903).
21 Vgl. Ebert (1986, 105); Härd (1981, 123f.); Voeste (2000).
22 Die absoluten Zahlen sind hier jedoch gering (Zweitstellung / Späterstellung / Letzt-
stellung / afinit): Frell 0 / 4 / 5 / 0, Güntzer 3 / 2 / 12 / 0, Nehrlich 3 / 8 / 24 / 13.
974 Anja Voeste

Übersicht 1: Verbstellung in der abhängigen Redewiedergabe (Typ 3) in Prozent

Die afinite Konstruktion ist wie die Verbletztstellung als schriftinduziert


zu bewerten und erhält ihr Prestige durch die häufige Verwendung in der
Kanzleisprache des 17. Jahrhunderts. Die Afinitheit verdeutlicht alternativ
zur Verbletztstellung die strukturelle Abhängigkeit der Redewiedergabe
von der Redeeinleitung.23
Aus den Belegen für Typ 3 ergibt sich somit ein Spektrum an Fällen
mit geringerer und stärkerer Integration. Am wenigsten integriert sind
Redewiedergaben, bei denen lediglich der Junktor und die deiktischen
Transpositionen die Abhängigkeit markieren (…das es sol ein unglück mit
Feuer beteuten [Nehrlich, 85]), am stärksten sind es solche, bei denen die
Klammerstruktur und der Moduswechsel hinzutreten (vgl. Tabelle 1).
Eine mehrfach durchgeführte Abhängigkeitsmarkierung der Redewieder-
gabe bedeutet einen hohen Planungsaufwand. Das Ergebnis gewährleistet
aber auch, dass dem Leser die „Bürde“ der Dekodierung entscheidend
erleichtert wird.

Beispielsatz Integrationsindikatoren
Er sagt, dass er ist Junktor + deikt.
von mir enttäuscht. Transposition
Er sagt, dass er sei Junktor + deikt. + Moduswech-
von mir enttäuscht. Transposition sel

_____________
23 Vgl. dagegen Wilke (2006, 312ff.), die die afinite Konstruktion nicht als syntaktischen
Marker der Einbettung (alternativ zur Verbletztstellung), sondern als Möglichkeit der Re-
dundanzvermeidung (alternativ zum Indikativ) interpretiert.
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 975

Er sagt, dass er von Junktor + deikt. + Späterstel-


mir ist enttäuscht. Transposition lung
Er sagt, dass er von Junktor + deikt. + Letztstel-
mir enttäuscht ist. Transposition lung
Er sagt, dass er von Junktor + deikt. + Afinitheit
mir enttäuscht. Transposition
Er sagt, dass er von Junktor + deikt. + Moduswech- + Späterstel-
mir sei enttäuscht. Transposition sel lung
Er sagt, dass er von Junktor + deikt. + Moduswech- + Letztstel-
mir enttäuscht sei. Transposition sel lung

Tabelle 1: Spektrum von geringerer und stärkerer Integration (Typ 3)

Typ 4:
(16) Unnd verhieß mir, mich in sinen costen zG leeren [lehren] … [Frell, 460]
(17) Gieng in ein kFche … und hieß mir zessen drum [um einen halben
Batzen] geben. [Frell, 463]
(18) Mein Vatter befilcht dem Schreiner, mihr einen Dodtenbaum [Sarg] zu
machen. [Güntzer, 105]
(19) … so wurde ich rahtes, dem Herrn PfarHer in Apfelstet es zu verstehen zu
geben. [Nehrlich, 85]
Bei Typ 4 ist die Redewiedergabe mit einem Infinitiv realisiert. Dadurch
gehen wesentliche Eigenschaften verloren, die für Sätze typisch sind. Es
„fehlt“ nun einerseits das Subjekt im Nominativ, andererseits die verbalen
Kategorien Person, Numerus und Modus,24 die mit Finitheit einhergehen
(vgl. im Kontrast dazu Und verhieß mir, er wolle mich auf seine Kosten lehren).
Dadurch ist ein höherer Grad an Integration erreicht als bei Typ 3. Aber
im Gegensatz zu Typ 3 stützt die Integration nun nicht mehr die Deko-
dierung. Im Gegenteil: Durch das Fehlen der Finitheitsmarker büßt Typ 4
wesentliche Informationsträger ein, die die Dekodierung stützen.
Typ 5:
(20) … unnd begert ein fründtlichen abscheydt von im [ihm] … [Frell, 462f.]
(21) Er … treyet [droht] mihr meinen Undergang undt schandlichn Dodt …
[Güntzer, 101]
_____________
24 Tempus und Genus verbi sind auch beim Infinitiv gegeben, vgl. Inf. Präs. Aktiv / Passiv
und Inf. Perf. Aktiv / Passiv.
976 Anja Voeste

(22) … wird meine liebe dochter … dem lieben Herrn professor schon meinen
letzten abschied laßen wissen … [Nehrlich, 92]
Der integrativste Typ der Redewiedergabe liegt bei Nominalisierungen
vor. Der Satzstatus des Redeteils geht verloren, und die Verben der Re-
dewiedergabe werden als Objekte oder Attribute paraphrasiert. Im Ver-
gleich zu einer weniger integrativen Technik wie Typ 2 (Ich sagte, ich wolle
mich freundlich ['in Güte'] von ihm verabschieden) oder Typ 3 (Ich bat ihn, dass er
mich freundlich verabschiede) wird der Unterschied offenbar: Die Nominalisie-
rung bedeutet einen weiteren Verlust an Explizitheit, die durch das Verb
(insbesondere das finite Verb) transportiert wird. Auch im Vergleich zur
Realisierung mit Infinitiv in Typ 4 (Ich begerte, mich freundlich von ihm zu verab-
schieden oder Ich begerte von ihm, mich freundlich zu verabschieden) gehen somit
noch einmal wesentliche Informationen verloren, die im ungünstigsten
Fall – wie hier bei Frell – zu Ambiguität führen können.
Aus dieser kurzen Zusammenschau möglicher Techniken der Rede-
wiedergabe (vgl. auch Tabelle 2) wird deutlich, dass integrative Verfahren
nicht unbedingt effektiver zur Verständnissicherung beitragen als aggrega-
tive Verfahren. Vergleicht man die Typen 1 bis 5 hinsichtlich ihrer seman-
tischen Dekodierbarkeit, sind es die Typen 2 und 3, die das Verhältnis der
Sachverhaltsdarstellungen (Redeeinleitung und Redewiedergabe) zueinan-
der am deutlichsten abbilden können, da sie alle vereindeutigenden In-
formationsträger (deiktische Transposition, Moduswechsel, Junktor, Ver-
balklammer / Afinitheit) enthalten. Bei ihnen ist der Planungsaufwand am
höchsten; dafür tragen sie aber auch am besten zur Verständnissicherung
bei.

Typ Beispielsatz Integrationsindikatoren


1a Er verheimlicht keine
seine Missbilli-
gung nicht: „Ich
bin enttäuscht.“
1b Er sagt: „Ich bin Redeteil ist abhängiger Verbzweitsatz
enttäuscht.“
2 Er sagt, er ist deikt.
enttäuscht. Transposition
Er sagt, er sei deikt. + Modus-
enttäuscht. Transposition wechsel
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 977

3 Er sagt, dass er deikt. + Junktor


ist von mir Transposition
enttäuscht.
Er sagt, dass er deikt. + Modus- + Junktor
sei von mir Transposition wechsel
enttäuscht.
Er sagt, dass er deikt. + Junktor + Späterstel-
von mir ist Transposition lung
enttäuscht.
Er sagt, dass er deikt. + Junktor + Letztstel-
von mir ent- Transposition lung
täuscht ist.
Er sagt, dass er deikt. + Junktor + Afinitheit
von mir ent- Transposition
täuscht.
Er sagt, dass er deikt. + Modus- + Junktor + Späterstel-
von mir sei Transposition wechsel lung
enttäuscht.
Er sagt, dass er deikt. + Modus- + Junktor + Letztstel-
von mir ent- Transposition wechsel lung
täuscht sei.
4 Er gibt an, von (deikt. + Infinitiv
mir enttäuscht zu Transposition) (Verlust des
sein. Subjekts und
verbaler
Kategorien)
5 Er äußert seine (deikt. + Nominali-
Enttäuschtheit. Transposition) sierung
(Verlust aller
verbalen
Kategorien)

Tabelle 2: Redewiedergabe im Spektrum von Aggregation und Integration


978 Anja Voeste

4. Ergebnisse und Schlussfolgerungen


Bei der Gesamtverteilung der einzelnen Typen in den Autobiographien
(vgl. Übersicht 2),25 fallen zunächst zwei Dinge ins Auge: Am häufigsten
wird die direkte Redewiedergabe (Typ 1a / b) gewählt, aber die Autoren
kennen und nutzen daneben auch alle anderen, integrativeren Typen.
Überraschend ist, dass selbst der älteste Text von 1571 (?) Belege mit Infi-
nitiv (Typ 4) und Belege mit Nominalisierung (Typ 5) aufweist.

Übersicht 2: Die Typen der Redewiedergabe im Vergleich (Angaben in Prozent)

Daraus lässt sich schließen, dass die Autoren mit den literaten Techniken
durchaus vertraut waren. Sie kannten die andersartigen Anforderungen,
die ein schriftlicher Text stellte, – die Dissoziierung von gesprochener und
geschriebener Sprache war ihnen also bewusst. Dass sie in hohem Maße
die direkte Rede wählten, mag durch ihre Bildungssituation oder auch
durch die Emotionalität des Themas bedingt sein: Alle drei Autoren schil-
dern intensive, z.T. traumatische persönliche Erlebnisse.
Vergleicht man die Typenverteilung bei den einzelnen Autoren mit-
einander, fällt die Ähnlichkeit bei Frell und Nehrlich auf: Ihre Belegvertei-
lung unterscheidet sich nur bei Typ 2 und Typ 3. Beide Autoren präferie-
ren die direkte Redewiedergabe und nutzen Typ 4 und 5 nur wenig. Ihr
Schwerpunkt liegt auf den aufwendigen, verständnissichernden Verfahren
(Typ 2 und 3), die gemeinsam jeweils einen Anteil von mehr als 50 %
_____________
25 Die absoluten Zahlen sind (1a / 1b / 2 / 3 / 4 / 5): Frell 4 / 13 / 15 / 9 / 3 / 2, Güntzer
3 / 21 / 19 / 21 / 17 / 11, Nehrlich 22 / 41 / 21 / 48 / 7 / 9.
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit 979

ausmachen. Dazu passt auch ein anderer Befund: Wie wir oben gesehen
haben (vgl. Übersicht 1), vermeidet Frell bei Typ 2 die Verbzweitstellung
ganz und nutzt stattdessen klammernde Verfahren; Nehrlich präferiert
Verbletztstellung und wählt in fast einem Drittel der Fälle afinite Kon-
struktionen. Beide entscheiden sich damit für verständnissichernde, aber
gleichzeitig auch typisch schriftsprachliche und prestigeträchtige Kon-
struktionen.
Sehr viel ausgeglichener ist dagegen die Verteilung der Typen bei
Güntzer. Bei ihm nimmt der Anteil der wörtlichen Rede nur etwa 25 %
ein und die Typen 4 und 5, also jene, die für besonders literate Techniken
stehen, werden weitaus häufiger angewandt als bei Frell und Nehrlich.
Dieser Unterschied ist vermutlich kein diachronischer, denn Frell und
Nehrlich verhalten sich in dieser Hinsicht gleich. Er könnte hingegen mit
sozialen Unterschieden zusammenhängen: Güntzer stammte aus einer
angesehenen zünftischen Handwerkermeisterfamilie, erhielt mehrere Jahre
Schulunterricht und wurde, wie viele andere Kinder bessergestellter Elsäs-
ser Familien, für ein Jahr zum Französischunterricht ins frankophone
Lothringen geschickt. Güntzer mag somit bessere Bildungsvoraussetzun-
gen besessen haben als Frell und Nehrlich, in sprachlichen Dingen sensib-
ler und in literaten Techniken bewanderter gewesen sein.
Dennoch bleibt eine wesentliche Frage zu beantworten: Warum haben
sich die Autoren die literaten Techniken zu eigen gemacht und prestige-
trächtige Formen gewählt, wenn es sich um eine private, und zudem so
persönliche, erzählende Textsorte handelte? Wie wäre eine zielgerichtete,
prestigeheischende Schreiberstrategie hier überhaupt zu erklären? Die
Wahl der sprachlichen Mittel, könnte man argumentieren, wurde ent-
scheidend von der Schreibintention beeinflusst. Die Autoren nutzten das
autobiographische Erzählen, um ihre Deprivation aus persönlichen
(Güntzer hatte einen entstellenden Hautausschlag), religiösen (alle drei
wurden in ihrer Gemeinde zu religiösen und sozialen Außenseitern) oder
politischen Krisen (Dreißigjähriger Krieg) abzuleiten und so zu rechtferti-
gen. Prestigeträchtige sprachliche Mittel halfen, diese Selbststilisierung zu
unterstützen, und konnten zur intendierten Sozialpositionierung beitra-
gen. 26 Das gilt vielleicht in besonderem Maße für Güntzer: Er besaß das
städtische Bürgerrecht in Colmar, verfügte über ein stattliches Vermögen
und gehörte nach seiner Heirat mit einer angesehenen Witwe zur protes-
tantischen Elite der Stadt. Die Rekatholisierung Colmars, die Emigration,
der Kauf des Straßburger Bürgerrechts, Steuern, Inflation, die zweite
Emigration und der Verlust des Bürger- und Berufsrechts haben zu einem
Sturz von „weit oben“ nach „ganz unten“ geführt. Doch in der statusbe-
_____________
26 Vgl. dazu ausführlicher Müller / Voeste [im Druck].
980 Anja Voeste

wussten frühneuzeitlichen Gesellschaft stieß der soziale Ruin, auch inner-


halb der eigenen Familie, auf Unverständnis. Um sich gegen die Schande
des Abstiegs und den Ausschluss aus allen Sozialverbänden zu verteidigen,
suchte Güntzer, ebenso wie Frell und Nehrlich, sich durch prestigeträchti-
ges literates Schreiben sozial zu positionieren und so die erlebte Depriva-
tion zu kompensieren.

Literatur

Ágel, Vilmos (2000), „Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhun-
derts“, in: Werner Besch u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte
der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., Tbd. 2, Berlin, New York, 1855-
1903.
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Themenentfaltung und Textstruktur
in einem Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert

Józef Wiktorowicz (Warschau)

1. Einleitung
In meinem Beitrag will ich zeigen, wie die Themenentfaltung in einem
Textausschnitt aus einem Ratgeber für junge Leserinnen erfolgt. Der be-
handelte Ratgeber ist Ende des 18. Jahrhunderts entstanden und wurde
von einem bekannten Autor geschrieben, der vor allem als Lexikograph
bekannt ist, und zwar von Joachim Heinrich Campe (1789).
Dabei möchte ich auch auf die mentalitätsgeschichtlichen Aspekte
eingehen, die die Themenentfaltung in besonderer Weise beeinflussen.
Bekanntlich war Fritz Herrmanns (1995) einer der ersten Linguisten, die
auf den Zusammenhang der Sprachgeschichte mit der Mentalitätsge-
schichte hingewiesen haben. Durch die Analyse des Sprachgebrauchs
einer Sprachgemeinschaft können interessante Erkenntnisse über das
kollektive Denken und Fühlen einer Sprachgemeinschaft gewonnen wer-
den. Die Analyse von Texten aus früheren Epochen kann uns wertvolle
Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen Gruppen liefern. Unter
Mentalität versteht man die Gesamtheit von Gewohnheiten bzw. Disposi-
tionen des Denkens und Fühlens in sozialen Gruppen.
Fritz Herrmanns betrachtet die Mentalitätsgeschichte als einen Teil
der Sprachgeschichte, wobei er mentalitätsgeschichtlich relevante Aspekte
der Sprachgeschichte in der historischen Semantik sieht, die unter dem
mentalitätsgeschichtlichen Aspekt relevante Wörter untersucht. Die se-
mantische Analyse mentalitätsgeschichtlich wichtiger Wörter kann in der
Tat einen interessanten Einblick in den Wandel der Mentalität sozialer
Gruppen liefern, aber auch eine textlinguistische Analyse von Texten, die
bestimmte Aspekte der sozialen Relationen in den früheren Epochen
behandeln, kann wichtige Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen
Gruppen zutage fördern.
984 Józef Wiktorowicz

Die Mentalität und die Denkstrukturen der sozialen Gruppen beein-


flussen unmittelbar die argumentative Struktur von Texten und damit die
Themenentfaltung. Meines Erachtens ist es wichtig, die mentalitätsge-
schichtlichen Betrachtungen über den Rahmen der historischen Semantik
auch auf die historische textlinguistische Analyse auszudehnen. Im Fol-
genden will ich zeigen, wie die Mentalität der sozialen Gruppen im
18. Jahrhundert die Argumentationsweise und damit die Themenentfal-
tung beeinflusste.

2. Analyse von Themenentfaltung und Textstruktur


unter mentalitätsgeschichtlicher Perspektive
Das Textthema wird in der Überschrift angekündigt: Über die ungünstigen
Verhältnisse des Weibes zur menschlichen Gesellschaft, d.h. der Verfasser kündigt
mit dem Textthema an, dass er die ungünstige Lage der Frauen im nach-
folgenden Text explizieren will. Die heutige junge Leserin würde hier
erwarten, dass der Autor vermutlich über die Diskriminierung der Frauen
schreiben wird, dass der Autor die negativen Aspekte der sozialen Lage
der Frauen einer Kritik unterzieht. Solch eine Erwartung entspricht der
Denkweise in der heutigen Gesellschaft.
Im ersten Satz, der auf das Textthema Bezug nimmt, teilt der Autor
aber mit, dass die Frauen in einem abhängigen Zustand leben und not-
wendig leben müssen. Diese Feststellung war auch für die damalige junge
Leserin keine erfreuliche Information, deshalb entschuldigt sich der Autor
für diese Antwort; der folgende Satz beginnt mit dem anaphorischen das:
Das ist freilich keine angenehme, aber eine nötige Nachricht. (Campe, 4453)
Dieser enttäuschenden Feststellung folgt aber eine Aufforderung, den
Kopf nicht sinken zu lassen. Die Aufforderung wird mit einer adversati-
ven Konjunktion aber eingeleitet:
Aber laß dich dadurch nur nicht niederschlagen, mein Kind! (Campe, 4453)
Es ist interessant, dass die erwachsene Leserin mit dem Wort Kind ange-
sprochen wird. Der genannten Aufforderung folgt gleich ein Versprechen,
dass die Leserin ihre Position in der Gesellschaft etwas verbessern kann.
Denn wisse, daß es nichts desto weniger, bei einiger Seelenstärke und Selbstver-
läugnung, ganz bei dir stehen wird, in manchem Betracht eine glückliche Aus-
nahme von dem Schicksale deiner Schwestern zu machen, und dir einen so wür-
digen, ehrenvollen und glücklichen Wirkungskreis zu eröffnen (Campe, 4453)
Im weiteren Textabschnitt kommt es zum Wechsel des Themas, der Au-
tor erklärt nicht, wie die Leserin ihre Position in der Gesellschaft verbes-
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber 985

sern kann, sondern kommt zum anfangs genannten Textthema zurück,


das durch die Aufforderung eingeleitet wird:
Vernimm nur erst, worin jene abhängige, für eure gesammte Ausbildung so un-
günstige Lage besteht. (Campe, 4453)
Zugleich wird angekündigt, dass nach der Beantwortung der Frage, worin
die ungünstige Lager der Frauen besteht, Mittel genannt werden, wie die
negativen Folgen der ungünstigen Lage etwas abgemildert werden können.
Die Erklärung der ungünstigen Lage der Frauen entspricht mentalge-
schichtlich der damaligen Denkweise, dass es eben eine göttliche Ordnung
ist, die der Mensch nicht ändern kann. Daher ist es auch selbstverständ-
lich, dass die Frauen in einem abhängigen Zustand leben müssen, weil der
Mensch nicht wagen darf, die göttliche Ordnung zu verändern. Die ange-
kündigte Erklärung der ungünstigen Lage der Frauen erfolgt in Form der
Beschreibung der kleinsten sozialen Struktur, und zwar der Familie.
Der Autor erläutert die behandelte soziale Struktur mit Hilfe einer
Metapher. Die Familie sei ein Körper, der aus einem Haupt und Gliedern
besteht. Kraft der göttlichen Ordnung ist der Mann das Haupt, nicht das
Weib. Die Themenentfaltung erfolgt durch eine Explizierung der genann-
ten Proposition:
Das Weib [sei] schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig – der
Mann hingegen stark, fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr und kraftvoll an Leib
und Seele. (Campe, 4454)
Der antithetischen Aufzählung der Eigenschaften des Weibes und des
Mannes folgt ein deskriptiver Satz, in dem ebenfalls antithetisch die sozia-
len Rollen des Weibes und die des Mannes, ihre Erziehung und Beschäfti-
gungen und sogar die Kleidung genannt werden; diese Deskription dient
ebenfalls der Begründung der im vorangehenden Text genannten meta-
phorischen Rollenverteilung: der Mann ist das Haupt, das Weib – das
Glied. Daraus leitet der Autor nun die folgende Behauptung, die durch
den begründenden Konnektor also verstärkt wird, ab:
Es ist also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesell-
schaft, daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen
die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende treue, dankbare
und folgsame Gefährtinn und Gehülfinn seines Lebens sein sollte […] (Campe,
4455)
Diese polare soziale Struktur – der Mann als Beschützer und Oberhaupt
auf der einen Seite und das Weib als Gefährtin und Gehilfin auf der ande-
ren Seite – wird veranschaulicht durch die organische Metapher: er die
Eiche, sie der Efeu.
Der Autor scheint sich wohl dessen bewusst zu sein, dass diese polare
Darstellung des Textthemas keine Zustimmung seitens der Leserin finden
986 Józef Wiktorowicz

kann, daher versucht er, den potenziellen Einwand der Leserin zu entkräf-
ten. Die folgende Proposition beginnt mit dem anaphorischen hierin:
Hierin nun ist an sich gar nichts Böses; nichts, was deinem Geschlechte auch nur
im geringsten zur Unehre oder zum Nachtheile gereichen kann (Campe, 4455)
Diese Behauptung wird wiederum mit dem generellen Argument begrün-
det:
Abhängig zu sein, ist ja im Grunde das Loos aller Menschen, so viel ihrer auf Er-
den leben, des Mannes so gut als des Weibes, des Fürsten so gut wie des niedrigs-
ten seiner Unterthanen. (Campe, 4455)
Diese generelle Aussage wird mit dem nachfolgenden Satz begründet, der
mit dem konnektierenden auch eingeleitet wird:
Auch kann ein auf Vernunft und Gesetze gegründeter Grad von Abhängigkeit,
mit menschlicher Zufriedenheit und Glückseligkeit nicht nur gar wohl bestehn,
sondern die Natur des Menschen und einer jeden menschlichen Gesellschaft ma-
chen es auch durchaus nothwendig, daß immer Einer dem Andern, und Alle dem
Gesetze untergeordnet sein müssen. (Campe, 4456)
Um die Analyse übersichtlich zu gestalten, werden die Propositionen des
Textes in knapper Form gefasst:
1. Behauptung: Die Verhältnisse des Weibes in der Gesellschaft sind
ungünstig.
2. Explikation: Die Weiber (Frauen) leben und müssen notwendig in
einem abhängigen Zustand leben.
3. Behauptung: Das ist keine angenehme, aber eine nötige Nachricht.
4. Begründung der 2. Behauptung: Der Autor will die Leserin nicht
täuschen, er will die bittere Wahrheit nicht verbergen.
5. Aufforderung: Trotz der negativen Lage soll die Leserin nicht den
Kopf sinken lassen.
6. Versprechen: Eine Verbesserung der Lage ist möglich.
7. Aufforderung: Die Leserin soll erfahren, warum ihre Lage ungüns-
tig ist.
8. Versprechen: Die Leserin wird die Mittel kennen lernen, ihre Posi-
tion zu verbessern.
9. Explikation: Mit Hilfe der Körpermetapher wird die Relation
Mann-Weib erläutert.
10. Explikation: Eigenschaften des Weibes: schwach, klein, zart, emp-
findlich, furchtsam, kleingeistig; Eigenschaften des Mannes: stark,
fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr, kraftvoll.
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber 987

11. Begründung: antithetisch: der Mann – Beschützer und Ober-


haupt, das Weib – Gefährtin und Gehilfin; metaphorische Begrün-
dung: er die Eiche, sie der Efeu.
12. Generelle Behauptung: Abhängigkeit gehört zur Natur der Men-
schen.
Wenn wir nun die Entstehung dieses Textes betrachten, so muss man
zunächst feststellen, dass das Textthema (die ungünstigen Verhältnisse des
Weibes) für die damalige Zeit ein völlig neues Thema war. Unter dem
Gesichtspunkt der Denkmuster und überhaupt unter dem Gesichtspunkt
der Mentalität der sozialen Gruppen im Mittelalter oder in der frühen
Neuzeit hätte solch ein Text gar nicht entstehen können. Die Themenent-
faltung entspricht den allgemeinen Regeln der Rhemafortführung. Zu-
nächst wird das Textthema expliziert, dann wird begründet, worauf die
ungünstigen Verhältnisse des Weibes zurückzuführen sind und schließlich
wird vom Autor angekündigt, dass er Mittel angeben wird, wie die un-
günstige Lage des Weibes verbessert werden kann.
Die allgemeine Textstruktur entspricht den Regularitäten, die für die
Themenentfaltung von deskriptiv-argumentativen Texten charakteristisch
sind. Man geht zunächst von der Faktendarstellung aus, dann werden
kausale Argumente genannt, die die Fakten begründen sollen. Da der be-
handelte Text ein Ratgeber ist, folgen der Faktendarstellung und Fakten-
begründung Ratschläge, wie die geschilderte Lage verändert werden kann.
Aber die Themenentfaltung folgt den Denkmustern des 18. Jahrhun-
derts. Aus der heutigen Sicht würden wir zustimmen, dass das Textthema
wahrheitsgetreu wiedergegeben wurde: Die Lage des Weibes war ungüns-
tig. Die Begründung des Textthemas entspricht aber der Denkweise der
Menschen aus dem 18. Jahrhundert, denn der Autor führt zur Begrün-
dung an, dass die untergeordnete Position des Weibes auf die göttliche
Ordnung zurückgeht (Gott selbst hat gewollt, […] dass nicht das Weib, sondern
der Mann das Haupt sein sollte (Campe, 4454)).
Die antithetische Darstellung der geistigen Fähigkeiten des Mannes
und des Weibes entspricht ebenfalls den Denkmustern der gebildeten
sozialen Gruppen aus dem 18. Jahrhundert. Stellvertretend kann man hier
auf die Texte von Knigge (1788), Schiller (Gedicht „Würde der Frauen“)
und Wieland (in Maurer 1983, 78) verweisen. Vom Standpunkt der heuti-
gen Denkmuster aus sind wir geneigt zu behaupten, dass die Wirklichkeit
falsch wiedergegeben worden sei, dass der Autor die Fakten subjektiv
interpretiert hätte. Aber hier stellt sich die Frage, ob man die Wirklichkeit
objektiv darstellen kann. Die Wirklichkeitsdarstellung erfolgt durch den
Filter unserer Denkmuster, deshalb kann man Campe nicht den Vorwurf
machen, dass er die Wirklichkeit subjektiv interpretiert hätte.
988 Józef Wiktorowicz

3. Resümee
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Themenentfaltung nicht nur von den
individuellen Besonderheiten des Stils des Autors, sondern in hohem
Grad von den Denkstrukturen und Denkmustern der jeweiligen sozialen
Gruppen abhängig ist. Diese Abhängigkeit von den Denkmustern zeigt
sich besonders deutlich in den explikativ-argumentativen Texten, in denen
sozial relevante Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen erläutert
werden und daher die Argumentationsstränge durch die in den sozialen
Gruppen geltenden Denkmuster beeinflusst werden.
Unsere Ablehnung der Argumentationsweise von Campe resultiert aus
der Tatsache, dass wir das Textthema (die ungünstige Lage der Frauen)
akzeptieren, aber unsere Argumentationsweise – entsprechend den im 21.
Jahrhundert geltenden Denkmustern – anders verlaufen würde.
Ich hoffe auch gezeigt zu haben, dass es sich lohnt, die Themenentfal-
tung und Textstruktur unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Denkmus-
ter und der Mentalität der sozialen Gruppen zu betrachten.

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Benehmen, CD-ROM (Digitale Bibliothek 108), Berlin.
Möglichkeiten und Grenzen
einer diskursbasierten Syntaxforschung
– dargestellt an einer Studie zur Syntax
des 18. Jahrhunderts

Rainer Hünecke (Dresden)

1. Einführung
Eine zentrale Fragestellung historisch soziolinguistischer Forschung ist die
nach den Möglichkeiten, sprachliches Agieren von Individuen allgemein,
in historischen Zusammenhängen und mit Rekurs auf die soziale Schich-
tung herauszuarbeiten.
Eine Möglichkeit bieten institutionell geprägte Situationen. Jede Ge-
sellschaft verfügt auf jeder ihrer Entwicklungsstufen über ein dieser Ent-
wicklungsstufe entsprechendes Spektrum von Institutionen und entspre-
chenden sozialen Objektivationen – Organisationen. Diese bestehen aus
Personen und Personengruppen, die formal miteinander verbunden und
denen gewöhnlich spezifische Funktionen zugeordnet sind (vgl. Acham
1992, 36).
Die in Organisationen interagierenden Personen und Personengruppen
sind durch soziale, funktionale und geschlechtliche Merkmale geprägt. Ihr
sprachliches Handeln in diesen Organisationen ist durch wiederkehrende
Diskurse geprägt. Der Diskurs wird hier verstanden als Textensemble
oder Textgeflecht (vgl. Hermanns 1995, 88). Die Einheit eines Diskurses
wird durch thematische und intertextuelle Zusammenhänge gewährleistet.
Direkt oder zumindest indirekt beziehen sich die Texte eines Diskurses
aufeinander und auf das übergeordnete Thema. Diskurse besitzen nicht
nur – wie man aus den Forschungen der historischen Semantik vermuten
könnte – einen singulären Charakter, sondern werden als Typen von
Handlungen latent wiederholt und weisen eine entsprechende soziale Zu-
sammensetzung auf. Die in diesen Diskursen interagierenden Personen
und / oder Personengruppen handeln beruflich, berufsbegleitend oder
gelegentlich. Sie gehen graduell unterschiedliche Diskursbeziehungen ein.
990 Rainer Hünecke

Der Umfang dieser Beziehungen ergibt sich aus dem Charakter, den Ab-
sichten und Anforderungen des Diskurses. In der Realisierung dieser Be-
ziehung bilden sich nach und nach feste Handlungsmuster heraus, die den
Charakter von Ritualen annehmen können. In den Diskursen ist „weitge-
hend festgelegt, wer mit wem worüber und auf welche Art“ (Hartung
1983, 358) sprachlich handelt. Das sprachliche Handeln der interagieren-
den Personen und Personengruppen wird hier sowohl durch die Leis-
tungsanforderungen der Institution als auch durch die agierenden so-
zi(ofunktion)alen Gruppen als Leistungsträger geprägt. Die sprachlich
Handelnden können im Rahmen der konkreten Sprachhandlung aus dem
gesellschaftlich approbierten und konventionalisierten Repertoire von
Textmustern auswählen und variieren. Bei der Wahl einer Formulierung
spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Mit diesen Formulierungs-
mustern kann innovativ oder durch Traditionen gesteuert umgegangen
werden.
Die Aufarbeitung historischer Diskurse macht es möglich, von einem
historischen Einzeltext zu einem historischen Diskurs vorzudringen. Lü-
cken in der Überlieferung können virtuell gefüllt werden. Im Rekonstrukt
des historischen Diskurses werden neben den Texten auch die funktiona-
len Beziehungen zwischen den Texten und die sozialen Beziehungen zwi-
schen den Textproduzenten erkennbar. Selbst bei dürftiger Textüberliefe-
rung kann über dieses Rekonstrukt ein repräsentatives Korpus für die
Sprachdatenerhebung formiert werden.
Im Rahmen einer umfangreicheren Studie (Hünecke 2008) wurden
von mir mit dieser Methode am Beispiel der kursächsischen Bergverwal-
tung des 18. Jahrhunderts Bedingungen, Formen, Möglichkeiten und
Grenzen individuellen sprachlichen Handelns aufgedeckt. Es kann gezeigt
werden, welche soziale Breite und Tiefe sprachliches Handeln in diesem
institutionellen Ausschnitt hatte, dass nicht nur Berufsschreiber schriftlich
handelten, sondern auch Personenkreise, von denen das bisher nicht be-
legt war.
Zu den primären Aufgaben der Bergverwaltung gehörte die Leitung
der Bergwerksbetriebe und der Aufbereitungsanlagen des Reviers (Be-
triebsführung, Finanzwesen), dazu kamen das Personal- und Sozialwesen
(Bestallung, Fürsorge) und die Gerichtsorganisation (freiwillige, zivile und
Strafgerichtsbarkeit). Den Referenzrahmen für diese Studie bildet der
„Betriebsführungsdiskurs“ in der Verwaltung des kursächsischen Berg-
baus im 18. Jahrhundert. Die von den interagierenden soziofunktionalen
Gruppen produzierten Textexemplare bilden die Grundlage für die Analy-
se der Oberflächensyntax. Auf diese Weise wird es möglich sein, gruppen-
spezifisches Sprachhandeln, bezogen auf die jeweilige Textsorte, in einem
abgrenzbaren Diskurs zu erschließen. In der Auswertung des Untersu-
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 991

chungsbefundes wird sichtbar, welche Position der sprachlich Handelnde


als Gruppenmitglied innerhalb des Diskurses einnahm und welche Fakto-
ren das sprachliche Handeln in Stabilität und Variation beeinflussten.

wertschöpfend
wertverwaltend Institution

Organisationen

sozial
funktional
Interagierende geschlechtlich
Personen(gruppen)

beruflich
berufsbegleitend Sprachliches Handeln
gelegentlich „Diskurse“

steuern
informieren
Textsorten
drücken aus

Vertextungs- und
tradiert
innovativ
Formulierungsmuster

Abbildung 1: Modell sprachlichen Handelns in Institutionen / Organisationen

2. Sprachliches Handeln soziofunktionaler Gruppen


im Betriebsführungsdiskurs des
kursächsischen Bergbaus im 18. Jahrhundert
Der Diskurs Betriebsführung im kursächsischen Bergbau des 18. Jahr-
hunderts setzte sich aus den inhaltlichen Elementen Planung, Leitung und
Kontrolle zusammen, deren Ausführung in jedem Fall rechenschafts-
pflichtig waren. Die sprachlichen Grundhandlungen dieses Diskurses
bildeten die Befehlshandlung, die der Durchsetzung von Planung und Lei-
tung diente, und die Bestätigungshandlung des Befehlsvollzugs, mit der eine
Kontrolle des Befehlsvollzugs erfolgte. An jede Befehlshandlung war eine
Kontrollhandlung geknüpft, mit der der Befehlsvollzug überprüft wurde.
Die Bestätigungshandlung erfolgte als Rechenschaft des Befehlsausfüh-
992 Rainer Hünecke

renden, der den Vollzug des Befehls meldete. Die Initiative für diesen
Diskurs lag auf Seiten des Befehlsgebers, der den Diskurs initiierte.
Auf der Verwaltungsebene des Bergamtes wurde für die Kontrolle der
Befehlsausführung die soziofunktionale Gruppe der Geschwornen rekru-
tiert, die mit niederer Befehlsgewalt ausgestattet war und somit unmittel-
bar vor Ort im Zusammenwirken mit der Leitung der Gruben und Aufbe-
reitungsanlagen Planungs- und Leitungsaufgaben erfüllte, gleichzeitig
damit die Arbeit vor Ort kontrollierte und der übergeordneten Leitungs-
ebene, dem Bergamt, rechenschaftspflichtig war. Auf der Verwaltungs-
ebene der Gruben und Aufbereitungsanlagen wurde diese Kontrolltätig-
keit von der Gruppe der Schichtmeister, die für die ökonomischen
Belange zuständig waren, und von der Gruppe der Steiger, die für die
technischen Belange zuständig waren, ausgeführt. Alle drei Gruppen wa-
ren dem kollegialen Bergamt mit dem Bergmeister an der Spitze rechen-
schaftspflichtig. Das kollegiale Bergamt war der nächstübergeordneten
Verwaltungsebene, dem Oberbergamt, rechenschaftspflichtig. Die Kon-
trollhandlungen vollzogen sich in Form von Inspektionen vor Ort und
von Befragungen, die im Anschluss daran in entsprechenden Schriftsätzen
schriftlich niedergelegt werden mussten.
In der vorliegenden Studie werde ich mich auf die Bestätigungs- oder
Rechenschaftshandlung der vier soziofunktionalen Gruppen kollegiales
Bergamt (Bergmeister / Bergschreiber), Geschworne, Schichtmeister und
Steiger beschränken. Die sprachliche Umsetzung dieser Handlung erfolgte
in Form von unterschiedlich umfangreichen Berichtshandlungen.
Die Rechenschaftspflicht des Bergamtes gegenüber dem Oberbergamt
erfolgte in Form der quartalsmäßigen Haushaltsextracte. Diese Texte bilde-
ten eine Art Zwischenbilanz in der Haushaltsführung des Bergamtes. Hier
wurden alle Aktivitäten des Bergamtes im verflossenen Quartal festgehal-
ten. Durch das Kollegium des Bergamtes wurden jährlich einmal sog.
Generalbefahrungen durchgeführt. An diesen Grubenbefahrungen nah-
men alle Mitglieder des Bergamtes teil. Die Generalbefahrungen hatten
das Ziel, den Bergmeister und sein sitzendes Bergamt vom Bergamtstisch
vor Ort zu bringen, um so die Bergarbeit vor Ort persönlich in Augen-
schein zu nehmen. Über jede Generalbefahrung wurde ein Bericht verfer-
tigt, der sog. Generalbefahrungsbericht.
Die Geschwornen inspizierten ihr Revier täglich. Der Vollzug dieser
Inspektion musste zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen
Berichtsformen gemeldet werden. Wöchentlich wurde den Geschwornen
ein sog. Fahrbogen, quartalsmäßig das sog. Fahrbuch als Kontrollbericht
abverlangt. In beiden Fällen war der Bericht nach Wochentagen geglie-
dert. Zu jedem Wochentag wurden mehr oder weniger lange Eintragun-
gen vorgenommen. Neben den Fahrbüchern wurde den Geschwornen
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 993

quartalsmäßig ein Bericht über die Beschaffenheit des Berggebäudes ab-


verlangt, der sog. Aufstand. Im Gegensatz zum Fahrbogen wurde beim
Aufstand mehr Wert auf den bergbaulichen Ertrag gelegt. Am Ende eines
jeden Jahres hatten die Geschwornen sog. Jahresberichte anzufertigen. Es
handelt sich dabei um Berichte, die die bergbaulichen Aktivitäten und
Erträge im verflossenen Jahr in den einzelnen Berggebäuden zusammen-
fassten. Die Überlieferungslage dieser Textsorte (Ende des 18. Jahrhun-
derts) lässt darauf schließen, dass diese Textsorte erst am Ende des Jahr-
hunderts im Rahmen der Verwaltungsreform aufkam und zur Anwendung
gebracht wurde.
Die Schichtmeister als ökonomische Leiter einer Bergwerksanlage hat-
ten dem Bergamt gegenüber quartalsmäßig über die Wirtschaftlichkeit der
Bergwerksanlage Auskunft zu geben. Dazu hatte sie sog. Zechenregister
zu führen. Sie dienten der Dokumentation der Geschäftstätigkeit des
Grubenbetriebes. Da der Schichtmeister aber dem Bergamt gegenüber
rechenschaftspflichtig war, dienten diese Schriftstücke gleichzeitig als
Berichte, indem sie quartalsweise dem Bergamt eingereicht (eingelegt)
wurden. Neben diesen periodischen Berichten wurden den Schichtmeis-
tern zu bestimmten Anlässen weitere Berichte abverlangt. Diese bezogen
sich zumeist auf eine singuläre Handlung der Schichtmeister.
Den Steigern oblag die technische Leitung einer Bergwerksanlage –
vor allem unter Tage –, aber auch der Nebenanlagen (Pochwerke, Rö-
schen usw.). Sie waren „vor Ort“ tätig. Kenntnisse des Rechnens und
Schreibens waren aber auch für diese soziofunktionale Gruppe im 18.
Jahrhundert bereits erforderlich. Denn auch sie waren dem Bergamt ge-
genüber rechenschaftspflichtig. Dieser Pflicht kamen sie in der Ausferti-
gung von nicht-periodischen Berichten unterschiedlichster Art nach.

soziofunktionale Gruppe Textsorte(n)


Bergmeister / Bergschreiber Generalbefahrungsbericht, Haushaltsextract
Geschworne Aufstand, Fahrbogen, Fahrbuch, Jahresbericht
Schichtmeister Bericht, Zechenregister
Steiger Bericht
Tabelle 1: Akteure und Textsorten im Diskurs Betriebsführung
994 Rainer Hünecke

3. Variation im Gebrauch
syntaktischer Formulierungsmuster
3.1. Zur Stabilität im Gebrauch
syntaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert

In der einschlägigen Fachliteratur wird mehr oder weniger übereinstim-


mend hervorgehoben, dass im 17. Jahrhundert eine Zunahme in der Ver-
wendung des Satzgefüges zu beobachten sei und im Verlauf des 18. Jahr-
hunderts diese beobachtete Tendenz rückläufig sei (vgl. Admoni 1967,
1980, 1990; Scaglione 1981). Aussagen darüber, wie umfangreich die Zu-
oder Abnahme in der Verwendung der Satzgefüge in diesem Zeitraum
anzunehmen ist, werden nicht gegeben. In der Untersuchung von Admoni
(1980) werden syntaktische Konstruktionen in Rechts- und publizistischen
Texten aus der Zeit um 1500 und um 1700 beschrieben. Eine Quantifizie-
rung dieser Aussagen erfolgte nicht bzw. wurde nur in der o.g. Art vage
umschrieben. Das gilt auch für Admoni (1990), Betten (1987) und von
Polenz (1994). Konopka (1996) und Ebert (1999) verweisen nur auf die
Aussagen von Admoni (1980).
Die Bandbreite der möglichen Erklärungen für den Anstieg der Satz-
gefüge reichen von einem angenommenen Einfluss des Lateins (vgl.
Scaglione 1981, Bd. 2, 12f.) über die angenommene Leistung der Kanzlei
(vgl. Bach 1961, 278), die dann gleich den lateinischen Einfluss vermittelt
haben soll (vgl. Admoni 1972, 255), bis hin zu kulturgeschichtlichen Er-
klärungen als Leistung des Barocks (Langen 1957, Bach 1961). Der Rück-
gang der Satzgefüge im 18. Jahrhundert wird auf den Einfluss der aufklä-
rerischen Ideale von Natürlichkeit und Verständlichkeit (Scaglione 1981,
Bd. 2, 10) zurückgeführt. Betten (1987, 75) verweist darauf, dass diese
Ideale in der Syntax nicht von allen Aufklärern gleichermaßen umgesetzt
wurden. Bereits Blackall (1966, 10f.) und Schildt (1976, 165f.) haben in
diesem Zusammenhang auf das Vorhandensein unterschiedlicher, aber
gleichberechtigter Schreibtraditionen im 18. Jahrhundert verwiesen, die
einerseits einen in höherem Maße hypotaktischen, andererseits einen stär-
ker parataktischen Satzbau favorisieren. Diese Aussagen beider Autoren
stützen sich ausschließlich auf die Analyse literarischer Quellen, was eine
idiolektale Interpretation dieses syntaktischen Phänomens nahe legt, die
von beiden jedoch nicht ausgeführt wurde. Die Aussagen von Konopka
(1996), die sich allerdings nicht auf das Verhältnis der Satzgefüge zu den
Einfachsätzen beziehen, verweisen auf textsortenspezifische Unterschiede
in der Wahl der syntaktischen Formulierungen.
Die 203 von mir untersuchten Texte enthalten im Kerntext insgesamt
5.665 satzwertige Einheiten. Diese setzen sich zusammen aus 3.856 Ein-
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 995

fachsätzen (68,1 %) und 1.809 Satzgefügen (31,9 %). Einfachsätze und


Satzgefüge stehen sich in diesen Texten in einem Größenverhältnis von
2:1 gegenüber. Die exemplarische Analyse eines Textes der Erbauungslite-
ratur aus dem 17. Jahrhundert von Hünecke (2004) kann die in der For-
schungsliteratur getätigte Beobachtung durch eine quantitative Angabe
stützen. In dem untersuchten Text aus dem 17. Jahrhundert standen
einem Einfachsatz sieben Satzgefüge gegenüber. Ob nun aber dieser be-
obachtbare Rückgang im Gebrauch der Satzgefüge auf aufklärerische
Ideale zurückführbar ist, muss an dieser Stelle bereits angezweifelt werden.
Die Schreiber der Texte aus dem 18. Jahrhundert werden diese Ideale
wohl weder gekannt, geschweige denn nach ihnen gehandelt haben.
Zunächst soll hier gezeigt werden, ob und wie in den von mir unter-
suchten Texten aus dem 18. Jahrhundert der ermittelte Wert stabil ist.
Dazu wurde das gewählte Jahrhundert in drei Abschnitte unterteilt: An-
fang 18. Jahrhundert (1685-1725 / 30), Mitte 18. Jahrhundert
(1730-1770 / 75), Ende 18. Jahrhundert (1775-1815 / 20). Diese zeitliche
Gliederung reflektiert die Quellenlage.
Wie zu erwarten war, schwankte der Gebrauch der syntaktischen Ge-
staltungsmittel im 18. Jahrhundert. Nicht zu erwarten war der Befund, wie
er in Tabelle 2 dargestellt ist. Der Gebrauch hypotaktischer Gestaltungs-
mittel war nicht fallend, wie man vielleicht aus den Ergebnissen der For-
schungsliteratur entnehmen könnte, sondern der Gebrauch der Satzgefüge
stieg im 18. Jahrhundert an. Bis zur Jahrhundertmitte war mehr als eine
Verdopplung im Gebrauch der Satzgefüge zu beobachten. Am Ende des
18. Jahrhunderts sank dann der Gebrauch etwas ab, verblieb aber im Ver-
gleich zum Beginn des Jahrhunderts auf einem Wert in annähernd doppel-
ter Höhe. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist aber auch der Aus-
gangswert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts betrug das Verhältnis der
Satzgefüge zu den Einfachsätzen 1:4. Einem Satzgefüge standen vier Ein-
fachsätze gegenüber.
996 Rainer Hünecke

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725 / 30 1730-1770 / 75 1775-
1815 / 20
ES 80,2 % 56,6 % 63,5 %
SG 19,8 % 43,4 % 36,5 %
davon SGab 11,8 % 28,7 % 19,0 %
SGzentr 2,2 % 4,1 % 3,3 %
SGgestr 3,4 % 3,8 % 8,7 %
SGgeschl 1,7 % 5,0 % 2,4 %
SGkomb 0,6 % 1,8 % 3,2 %
Tabelle 2: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – 18. Jahrhundert

Nach Aussage der Fachliteratur und der exemplarischen Analyse von Hü-
necke (2004) war das so nicht zu erwarten. Einem Einfachsatz standen
sieben Satzgefüge gegenüber (vgl. Hünecke 2004, 133). Bezieht man nun
die Aussagen von Blackall (1966) und Schildt (1976) in die Interpretation
mit ein, liegt die Schlussfolgerung nahe, im vorliegenden Fall eine Schreib-
tradition anzunehmen, die nicht in der Tradition der Rechtsliteratur oder
der publizistischen Literatur und auch nicht der Wortkunstwerke stand.
Gleichwohl muss aber darauf hingewiesen werden, dass die untersuchten
Texte aus dem Funktionsbereich des kursächsischen Bergbaus wohl dem
kanzelarischen Schrifttum zuzuordnen sind.

3.2. Zur soziofunktionalen Differenziertheit im Gebrauch


der Satzgestaltungsmittel

Aus der bisherigen Darstellung ist die Frage abzuleiten, ob denn nicht
soziale Faktoren in die weitere Betrachtung einzubeziehen sind. Dabei ist
zu fragen, ob und inwieweit im vorliegenden Fall eine gruppenspezifische
Schreibtradition vorliegt. Als ein erstes Kriterium der Gruppenbildung hat
sich hier der Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen bewährt
(vgl. Hünecke 2006). Mit diesem soziofunktionalen Kriterium lassen sich
in einem ersten Zugriff Gruppen bilden, die berufsmäßig mit schriftlichen
Kommunikationsformen Umgang hatten (Berufsschreiber), die begleitend
zu ihrer beruflichen Tätigkeit mit schriftlichen Kommunikationsformen
Umgang hatten (berufsbegleitende Schreiber) und die gelegentlich (zu
bestimmten Anlässen) mit schriftlichen Kommunikationsformen Umgang
hatten (Gelegenheitsschreiber).
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 997

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Berufsschreiber
ES 21,1 % 30,5 % 59,0 %
SG 78,9 % 69,5 % 41,0 %
davon SGab 48,9 % 30,5 % 22,0 %
SGzentr 13,3 % 8,3 % 3,9 %
SGgestr 6,1 % 11,1 % 7,9 %
SGgeschl 5,5 % 2,8 % 1,3 %
SGkomb 5,0 % 16,6 % 5,8 %
berufsbegleitende
Schreiber
ES 85,2 % 57,6 % 65,0 %
SG 14,8 % 42,4 % 35,0 %
davon SGab 10,2 % 28,6 % 17,9 %
SGzentr 1,5 % 3,9 % 3,0 %
SGgestr 3,7 % 3,5 % 9,0 %
SGgeschl 1,6 % 5,0 % 2,8 %
SGkomb 0,3 % 1,2 % 2,3 %
alle Schreiber
ES 80,2 % 56,6 % 63,5 %
SG 19,8 % 43,4 % 36,5 %
Tabelle 3: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Schreibergruppen

Das vorliegende Untersuchungskorpus wurde nur durch die Schriftlichkeit


der Gruppe der Berufsschreiber und die der Gruppe der berufsbegleiten-
den Schreiber gebildet. Die Gruppe der Gelegenheitschreiber ist nicht
präsent.
Die beiden Schreibergruppen verhielten sich völlig gegensätzlich (Ta-
belle 3). Während bei den Berufsschreibern der Anteil der Satzgefüge vom
Anfang bis zum Ende des 18. Jahrhunderts um fast die Hälfte von 78,9 %
auf 41,0 % kontinuierlich zurück ging, stieg der Anteil der Satzgefüge bei
den berufsbegleitenden Schreibern im 18. Jahrhundert um mehr als das
Doppelte von 14,8 % auf 35,0 % an. In der Mitte des 18. Jahrhunderts
erreichte der Gebrauch der Satzgefüge bei den berufsbegleitenden Schrei-
bern mit 42,4 % fast den dreifachen Anteil in Bezug zum Beginn des 18.
Jahrhunderts.
In der Gruppe der Berufsschreiber sank insbesondere der Gebrauch
des abperlenden Satzgefüges von 48,9 % auf 22,0 %, des zentrierten Satz-
gefüges von 13,3 % auf 3,9 % und des geschlossenen Satzgefüges von
5,5 % auf 1,3 %. Bei der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber stieg
der Anteil aller Satzgefügetypen (vgl. Tabelle 3).
998 Rainer Hünecke

Vergleicht man nun den Gebrauch der Einfachsätze und der Satzge-
füge in beiden Gruppen, so ist zu beobachten, dass beide Gruppen zu
Beginn des 18. Jahrhunderts deutliche Unterschiede aufwiesen. In der
Gruppe der Berufsschreiber war der Gebrauch der Satzgefüge zu Beginn
des 18. Jahrhunderts mit 78,9 % relativ hoch, wohingegen der Gebrauch
der Satzgefüge in der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber zu Beginn
des 18. Jahrhunderts mit 14,8 % relativ gering war. Am Ende des 18.
Jahrhunderts hatten sich beide Schreibergruppen im Gebrauch der Satzge-
füge stark angenähert. In der Gruppe der Berufsschreiber war der Anteil
der Satzgefüge auf 41,0 % gesunken, in der Gruppe der berufsbegleiten-
den Schreiber auf 35,0 % angestiegen. Der Gebrauch dieser hypotakti-
schen Konstruktionen näherte sich in beiden Gruppen an.
Die in der Forschungsliteratur beobachtete Tendenz der Abnahme
des Gebrauchs der hypotaktischen Satzkonstruktionen war also nur für
die Gruppe der Berufsschreiber zutreffend. Denn in der Gruppe der be-
rufsbegleitenden Schreiber stieg hingegen der Gebrauch hypotaktischer
Konstruktionen an. In der einschlägigen Forschungsliteratur wurden bis-
her auch nur die Berufsschreiber betrachtet. Das Phänomen berufsbeglei-
tenden Schreibens wurde in der germanistischen Sprachgeschichtsschrei-
bung bisher so nicht thematisiert. Aus den Ergebnissen meiner bisherigen
Untersuchungen kann ich schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schrei-
ben überhaupt erst am Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Die
vorliegende Studie zeigt in diesem Sinne den Beginn berufsbegleitenden
Schreibens an einem kleinen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Bezogen auf die oben dargestellten Untersuchungsergebnisse kann man
mit aller Vorsicht schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schreiben nicht
an den Traditionen und Konventionen beruflicher Schreibpraxis anknüpf-
te. Die Untersuchungsergebnisse zeigen zwei verschiedene Schreibtradi-
tionen. Der Gebrauch der Satzgefüge ist also deutlich soziofunktional
markiert. Die Aussagen der Forschungsliteratur sind in diesem Sinne zu
ergänzen. Eine Zäsur scheint allerdings die Mitte des 18. Jahrhunderts
darzustellen. In dieser Zeit ist eine deutliche Annäherung beider Tradi-
tionsstränge zu beobachten, wobei die Präferenz eines Traditionsstranges
nicht sichtbar ist.

3.3. Funktionale Differenzierung im Gebrauch


der Satzgestaltungsmittel in den Berufsgruppen

Nach dem soziofunktionalen Kriterium des Aufgabenbereichs kann man


die Großgruppen der Berufsschreiber und der berufsbegleitenden Schrei-
ber weiter untergliedern. Im vorliegenden Fall ist das jedoch nur für die
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 999

Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber möglich. Die Gruppe der Be-


rufsschreiber besteht ausschließlich aus Berufsschreibern der unteren
Verwaltung des Bergbaus, dem Bergamt. Es handelt sich dabei um die
Gruppe Bergmeister / Bergschreiber. Beide sind in ihrem schriftsprachli-
chen Handlungsprofil kaum zu trennen. Die untersuchten Texte wurden
vom Bergmeister initiiert und vom Bergschreiber produziert.
An die Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber waren unterschiedli-
che Anforderungen im Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen
gestellt. Danach können folgende Kleingruppen unterschieden werden:
• Berufsbegleitende Schreiber, die regelmäßig Umgang mit schriftli-
chen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die Gruppe der
Geschwornen.
• Berufsbegleitende Schreiber, die nicht regelmäßig Umgang mit
schriftlichen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die
Gruppe der Schichtmeister.
• Berufsbegleitende Schreiber, die einen geringen Umgang mit
schriftlichen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die
Gruppe der Steiger.
Die Gruppen der Geschwornen und der Schichtmeister verhielten sich
tendenziell ähnlich. In beiden Gruppen sank der Gebrauch der Einfach-
sätze zugunsten der Satzgefüge. Dieser Prozess war bei den Schichtmeis-
tern als ein kontinuierliches Ansteigen der hypotaktischen Konstruktionen
von 22,2 % zu Beginn der 18. Jahrhunderts auf über 43,6 % in der Mitte
des 18. Jahrhunderts und dann langsamer auf 45,8 % zu beobachten. Die
größte Zuwachsrate lag in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der
zweiten Jahrhunderthälfte stieg der Gebrauch der Satzgefüge nur noch
langsam in dieser Gruppe (vgl. Tabelle 4).
In der soziofunktionalen Gruppe der Geschwornen ist ebenfalls ein
deutlicher Anstieg im Gebrauch der Satzgefüge bis zur Mitte des 18. Jahr-
hunderts zu beobachten von 14,7 % zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf
49,9 % in der Jahrhundertmitte. Die Zuwachsrate war in dieser Gruppe
höher als in der Gruppe der Schichtmeister. Bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts sank in der Gruppe der Geschwornen der Anteil der Satzgefüge
dann auf 34,8 %. Dieser Anstieg und der dann folgende Abfall sind be-
sonders auf den Gebrauch des abperlenden Satzgefüges zurückzuführen.
Der Gebrauch des abperlenden Satzgefüges stieg in dieser soziofunktiona-
len Gruppe von 8,7 % zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf 34,6 % in der
Jahrhundertmitte und fiel dann wieder auf 17,8 % am Ende des 18. Jahr-
hunderts (vgl. Tabelle 4).
1000 Rainer Hünecke

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Bergmeister /
Bergschreiber
ES 21,1 % 30,5 % 59,0 %
SG 78,9 % 69,5 % 41,0 %
davon SGab 48,9 % 30,5 % 22,0 %
SGzentr 13,3 % 8,3 % 3,9 %
SGgestr 6,1 % 11,1 % 7,9 %
SGgeschl 5,5 % 2,8 % 1,3 %
SGkomb 5,0 % 16,6 % 5,8 %
Geschworne
ES 85,3 % 50,1 % 65,2 %
SG 14,7 % 49,9 % 34,8 %
davon SGab 8,7 % 34,6 % 17,8 %
SGzentr 1,3 % 5,2 % 3,1 %
SGgestr 3,1 % 3,9 % 8,8 %
SGgeschl 1,4 % 4,9 % 2,6 %
SGkomb 0,3 % 1,2 % 2,4 %
Schichtmeister
ES 77,8 % 56,4 % 54,2 %
SG 22,2 % 43,6 % 45,8 %
davon SGab - 23,8 % 20,8 %
SGzentr - 3,2 % -
SGgestr 22,2 % 6,0 % 16,7 %
SGgeschl - 7,8 % 8,3 %
SGkomb - 2,7 % -
Steiger
ES - 80,0 % -
SG - 20,0 % -
davon SGab - 13,7 % -
SGzentr - 0,5 % -
SGgestr - 1,2 % -
SGgeschl - 4,0 % -
SGkomb - 0,5 % -
alle berufsbeglei-
tenden Schreiber
ES 85,2 % 57,6 % 65,0 %
SG 14,8 % 42,4 % 35,0 %
alle Schreiber
ES 80,2 % 56,6 % 63,5 %
SG 19,8 % 43,4 % 36,5 %

Tabelle 4: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster


– soziofunktionale Gruppen
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 1001

Bei den Schichtmeistern war der Anstieg im Gebrauch der Satzgefüge


zwar kontinuierlicher, betraf jedoch nicht alle Satzgefügetypen (vgl. Tabel-
le 4). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde von den Vertretern dieser
Gruppe nur das gestreckte Satzgefüge bei der Textproduktion verwendet.
In der Jahrhundertmitte waren dann alle Satzgefügetypen vertreten und
am Ende des Jahrhunderts war das Repertoire wieder eingeschränkter.
Die soziofunktionale Gruppe der Steiger ist im vorliegenden Untersu-
chungsmaterial nur mit Texten aus der Mitte des 18. Jahrhundert präsent.
Auffallend an diesen Daten ist, dass sie fast genau den Daten der
Schichtmeister und Geschwornen vom Anfang des Jahrhunderts entspre-
chen. Mit 20 % an Satzgefügen ordnet sich diese Gruppe genau zwischen
der Gruppe der Schichtmeister und der Gruppe der Geschwornen am
Beginn des 18. Jahrhunderts ein, als diese Gruppen mit der Produktion
schriftlicher Texte begannen.
Eine vorsichtige Schlussfolgerung könnte an dieser Stelle lauten:
Wenn soziofunktionale Gruppen die Produktion schriftlicher Kommuni-
kationsformen aufnahmen, wurden für die syntaktische Realisierung
überwiegend Einfachsätze verwendet. Mit zunehmender Integration der
jeweiligen Gruppe in schriftsprachliche Diskurse wurden Einfachsätze
durch Satzgefüge ergänzt. Der Gebrauch von Einfachsätzen könnte dem
entsprechend auf eine eher mündliche Diskurstradition und der Gebrauch
von Satzgefügen auf eine eher schriftliche Diskurstradition verweisen.
Für die weitere Interpretation der Daten ist nun die Einbeziehung der
Textsorten notwendig.
Nur die Textsorte Generalbefahrung ist in der soziofunktionalen Gruppe
Bergmeister / Bergschreiber über den gesamten Zeitraum des 18. Jahr-
hunderts präsent. Deutlich wird aber an dieser Textsorte sichtbar, wie der
Anteil der Satzgefüge im Verlauf des 18. Jahrhunderts kontinuierlich von
78,9 % auf 46,4 % zurückging (vgl. Tabelle 5). Dieser Rückgang betraf alle
Typen der Satzgefüge. Die Überlieferung bzw. der Gebrauch der Textsor-
te Haushaltsextract setzte erst am Ende des 18. Jahrhunderts ein. Die syn-
taktische Realisierung dieser Textsorte erfolgte analog zur Textsorte Gene-
ralbefahrung am Ende des 18. Jahrhunderts. Daraus lässt sich vorsichtig die
Schlussfolgerung ziehen, dass in dieser soziofunktionalen Gruppe am
Ende des 18. Jahrhunderts die Konvention bestand, Texte syntaktisch in
einer gemäßigten hypotaktischen Bauweise zu realisieren.
1002 Rainer Hünecke

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Bergmeister /
Bergschreiber
Generalbefah-
rung
ES 21,1 % 30,5 % 53,6 %
SG 78,9 % 69,5 % 46,4 %
davon SGab 48,9 % 30,5 % 32,1 %
SGzentr 13,3 % 8,3 % 3,6 %
SGgestr 6,1 % 11,1 % 7,1 %
SGgeschl 5,5 % 2,8 % 3,6 %
SGkomb 5,0 % 16,6 % -
Haushalts-
extract
ES 59,5 %
SG 40,5 %
davon SGab 21,2 %
SGzentr 4,0 %
SGgestr 7,9 %
SGgeschl 1,1 %
SGkomb 6,2 %
Tabelle 5: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster
– Textsorten – Bergmeister

Die Geschwornen repräsentierten in den einzelnen Textsorten ein anderes


Sprachhandeln. In der Textsorte Aufstand war ein deutlicher Trend im
Anstieg hypotaktischer Konstruktionen zu beobachten. In der Textsorte
Jahresbericht lag ein gemäßigter Gebrauch dieser Konstruktionen vor. Da
aber beide Textsorten nicht im gesamten Untersuchungszeitraum überlie-
fert sind, können hier nur Vermutungen angestellt werden. In der Text-
sorte Aufstand kann ein deutlicher Anstieg von 39,1 % zum Beginn des
18. Jahrhunderts auf 58,4 % in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Ge-
brauch von Satzgefügen beobachtet werden. Der Gebrauch dieser Kon-
struktionen in dieser Textsorte korrespondierte mit dem beobachteten
Gebrauch in den Textsorten der Bergmeister / Bergschreiber in der Mitte
des 18. Jahrhunderts. In der Textsorte Jahresbericht am Ende des 18. Jahr-
hunderts war ein Gebrauch von Satzgefügen zu beobachten, der ver-
gleichbar mit dem der Bergmeister / Bergschreiber am Ende des 18. Jahr-
hunderts ist (vgl. Tabelle 6).
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 1003

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Geschworne
Aufstand
ES 60,9 % 41,6 %
SG 39,1 % 58,4 %
davon SGab 23,0 % 42,5 %
SGzentr 5,6 % 8,4 %
SGgestr 3,7 % 3,5 %
SGgeschl 5,0 % 3,1 %
SGkomb 1.9 % 0,9 %
Fahrbogen
ES 98,1 % 32,1 % 65,5 %
SG 1,9 % 67,9 % 34,4 %
davon SGab 1,1 % 41,5 % 19,4 %
SGzentr 0,5 % 2,8 % 3,3 %
SGgestr 0,2 % 10,4 % 7,5 %
SGgeschl - 5,7 % 2,8 %
SGkomb 0,2 % 7,5 % 1,4 %
Fahrbuch
ES 82,1 % 54,7 % 94,3 %
SG 17,9 % 45,2 % 5,7 %
davon SGab 10,6 % 31,6 % 2,2 %
SGzentr 1,1 % 4,7 % -
SGgestr 4,3 % 3,1 % 3,5 %
SGgeschl 1,6 % 5,3 % -
SGkomb 0,1 % 0,5 % -
Jahresbericht
ES 52,0 %
SG 48,0 %
davon SGab 49,4 %
SGzentr 4,3 %
SGgestr 12,0 %
SGgeschl 3,7 %
SGkomb 4,1 %
Tabelle 6: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster
– Textsorten – Geschworne

Die Tradierung dieser Textsorte Jahresbericht begann im letzten Drittel des


18. Jahrhunderts. Möglicherweise orientierten sich die Schreiber dieser
Textsorte sowohl in der textualen Ausgestaltung als auch in der syntakti-
schen Formulierung dieser Textsorte an der zeitgenössischen Realisierung
der Textsorte Generalbefahrung. Anders sind die Ähnlichkeiten nicht zu
1004 Rainer Hünecke

erklären. Man übernahm das Textmuster und die syntaktische Formulie-


rung.
Ganz anders verhielten sich die Geschwornen im Umgang mit der
Textsorte Fahrbuch (vgl. Tabelle 6). In dieser Textsorte wurden das tradier-
te Textmuster und die tradierte syntaktische Formulierung beibehalten.
Die Textsorte Fahrbuch ist seit dem 17. Jahrhundert überliefert. In der
Mitte des 18. Jahrhunderts wichen die Schreiber etwas von diesem
Sprachhandeln ab, kehrten dann aber zum tradierten Muster zurück. Die
Textsorte war sowohl in ihrer textualen Gestaltung wie auch in ihrer For-
mulierung stabil.
In der Textsorte Fahrbogen zeigte sich ein anderes Bild (vgl. Tabelle 6).
Der Gebrauch der Satzgefüge stieg in der Mitte des 18. Jahrhunderts von
1,9 % auf 67,9 % stark an, pegelte sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf
einen Wert von 34,4 % ein. Das ist ein durchschnittlicher Gebrauch von
Satzgefügen, der nicht weit entfernt ist vom Gebrauch in der Gruppe der
Bergmeister / Bergschreiber am Ende des 18. Jahrhunderts. Der
Gebrauch dieser Textsorte ist seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu beo-
bachten. Möglicherweise stand diese Veränderung in der Formulierung
dieser Textsorte in Verbindung mit dem Aufkommen der Textsorte Jah-
resbericht in Anlehnung an die von den Berufsschreibern gebrauchte Text-
sorte Generalbefahrung.
Die deutliche Zweiteilung in den Textsorten der Geschwornen ist ur-
sächlich in der Funktion der Textsorte zu suchen. Während die Textsorten
Aufstand und Jahresbericht neben der Sachverhaltsdarstellung eine Erläute-
rung dieses Zustandes bzw. auch einen Vorschlag zu dessen Veränderung
darzubringen hatten, waren die Textsorten Fahrbuch und Fahrbogen reine
Tätigkeitsberichte, die den sukzessiven Ablauf der Aufsichtstätigkeit dar-
stellten. Allerdings ist in diesen beiden Textsorten eine Veränderung zu
beobachten, die in einer Zunahme des erläuternden Anteils bestand. Das
trifft besonders für die Textsorte Fahrbogen zu, weniger oder gar nicht für
die Textsorte Fahrbuch.
Für die Gruppe der Schichtmeister trifft das zu, was für die Ge-
schwornen bereits dargestellt wurde. In den Textsorten Bericht und Zechen-
register lag der Gebrauch der Satzgefüge annähernd auf dem Niveau der
Geschwornen in den Textsorten Jahresbericht und eventuell Aufstand. Das
ist ursächlich einerseits natürlich aus dem Charakter dieser Textsorten zu
erklären, es ist aber auch ein Spiegel des Sprachhandelns dieser soziofunk-
tionalen Gruppe.
An beide Gruppen (Geschworne und Schichtmeister) wurden im 18.
Jahrhundert ähnliche kommunikative Anforderungen gestellt. Sie gehörten
als soziofunktionale Gruppen dem mittleren Aufsichtspersonal an. Die
Geschwornen hatten dabei einen größeren Aufgabenbereich als die
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 1005

Schichtmeister. Beide Gruppen unterschieden sich jedoch deutlich in


ihrem Bildungsgang und auch in ihrer sozialen Herkunft. Die Geschwor-
nen sind durch Qualifikation aus anderen Bergbauberufen (insbesondere
aus vor Ort tätigen Berufen) hervorgegangen, während die Schichtmeister
in der Regel nicht aus dem Bergbau kamen und eher eine ökonomische
Ausbildung hatten.

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Schichtmeister
Bericht
ES 77,8 % 57,5 % 54,2 %
SG 22,2 % 42,5 % 45,8 %
davon SGab - 28,8 % 20,8 %
SGzentr - 4,1 % -
SGgestr 22,2 % 2,7 % 16,6 %
SGgeschl - 2,7 % 8,3 %
SGkomb - 4,1 % -
Zechenregister
ES 55,9 %
SG 44,1 %
davon SGab 21,4 %
SGzentr 2,7 %
SGgestr 7,6 %
SGgeschl 10,3 %
SGkomb 2,1 %
Tabelle 7: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster
– Textsorten – Schichtmeister

Für beide Gruppen wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Anforde-
rungen zum Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen deutlich
höher. Noch am Ende des 17. Jahrhunderts finden sich in den Akten des
Bergarchivs Freiberg nur sporadisch Texte. Zu Beginn des 18. Jahrhun-
derts hingegen ist die Überlieferungzahl deutlich höher. Daraus kann man
schlussfolgern, dass an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert neue
kommunikative Anforderungen an diese Gruppen gestellt wurden, die von
diesen nur noch in schriftlicher Form realisiert werden konnten.
Mit dem Einstieg in die Schriftlichkeit wurden von beiden Gruppen
zunächst parataktische Formulierungsmuster (Einfachsätze) verwendet.
Das bedeutet nicht, dass diese Gruppen nur über diese Muster verfügten.
Es bedeutet aber, dass das Verschriftlichen von den Schreibern als ein
Prozess verstanden wurde, in dem zunächst sukzessive eine vollzogene
Handlung nachvollzogen wurde. Die Abfolge von Handlungen stand
1006 Rainer Hünecke

dabei im Mittelpunkt. Diese wurden symbolisch abgebildet. Mit zuneh-


mendem Umfang an Schriftlichkeit konnte man sich einerseits an vorhan-
denen Texten (auch von Berufsschreibern) orientieren und deren Formu-
lierungsmuster adaptieren, andererseits konnten aber auch Konventionen
herausgebildet werden, die eine optimale Erfüllung kommunikativer An-
forderungen sicherten. Das führte dazu, dass in Abhängigkeit von der
Funktion (Textfunktion) entsprechende Formulierungsmuster konventio-
nalisiert wurden. Es bildeten sich dabei textsortenspezifische und auch
gruppenspezifische Konventionen heraus.

Muster Anfang Mitte Ende


1685-1725/30 1730-1770/75 1775-1815/20
Steiger
Bericht
ES 80,0 %
SG 20,0 %
davon SGab 13,7 %
SGzentr 0,5 %
SGgestr 1,2 %
SGgeschl 4,0 %
SGkomb 0,5 %
Tabelle 8: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster
– Textsorten – Steiger

Die soziofunktionale Gruppe der Steiger war als Produzent schriftlicher


Kommunikationsformen nur in der Mitte des 18. Jahrhunderts präsent. In
dieser Situation handelten die Steiger wie die Geschwornen und Schicht-
meister zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In ihrem Sprachhandeln domi-
nierte der parataktische Satzbau (Reihung von Einfachsätzen) mit 80 %.
Satzgefüge spielten eine untergeordnete Rolle (20 %).
Im Vergleich zu den Geschwornen und den Schichtmeistern wurden
dieser soziofunktionalen Gruppe zeitlich betrachtet später Anforderungen
im Umgang mit Schriftsprache abverlangt und dies nicht periodisch, son-
dern nur zu bestimmten Anlässen. In dieser Gruppe waren zeitverzögert
ähnliche Verhaltensmuster zu beobachten, wie es für die Geschwornen
und für die Schichtmeister oben beschrieben wurde. Der Übergang zur
Schriftlichkeit begann in dieser Gruppe in Form sukzessiven Formulierens
von vergangenen Handlungssequenzen.
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 1007

4. Fazit
In institutionellen Situationen treffen für diese konstitutive Individuen
aufeinander, die dafür charakteristische Rollen zu erfüllen haben, die aus
spezifischen (gesellschaftlichen) Anforderungen erwachsen. Das sprachli-
che Handeln der Individuen wird geprägt von diesen Anforderungen und
den Erwartungen der Organisation, durch die sprachlichen Kenntnisse,
Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen und von den Möglichkeiten
des sprachlichen Systems. Es findet seinen Niederschlag in einer für die
Situation typischen Textproduktion nach entsprechenden Text- und For-
mulierungsmustern bzw. in der Abwandlung und Anpassung dieser an
eine sich wandelnde und / oder gewandelte Situation. An den produzier-
ten Texten ist ablesbar, wer unter Anpassungsdruck steht / stand und in
welche Richtung diese Anpassung verläuft / verlief. Darin wird ein Zu-
sammenhang zwischen der historischen Situation, der sozialen Situation
und der sprachlichen Situation deutlich. Im Ergebnis der Rekonstruktion
entsteht ein Ensemble von Diskursen mit den für diese Diskurse typi-
schen Produkten sprachlichen Handelns, den Textsorten sowie den
sprachhandelnden Individuen und deren kommunikativen / diskursiven
Beziehungen.
Bezogen auf das untersuchte Korpus konnte an der Verwendungswei-
se von Einfachsätzen und Satzgefügen gezeigt werden, dass der Gebrauch
hypotaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert variierte. Die in
der Fachliteratur verankerte Auffassung, dass im 18. Jahrhundert der
Gebrauch hypotaktischer Formulierungsmuster rückläufig sei, ist zu modi-
fizieren. Die Aussage ist für die Berufsschreiber zutreffend, nicht jedoch
für die im 18. Jahrhundert greifbaren berufsbegleitenden Schreiber. Die
berufsbegleitenden Schreiber verfügten über ein deutlich anderes Sprach-
handeln als die Berufsschreiber. Der Einstieg dieser Schreibergruppe war
geprägt durch ein relativ niedriges Niveau im Gebrauch der Satzgefüge.
Deutlich wird dieser Unterschied zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In der
Mitte des 18. Jahrhunderts veränderte sich das Sprachhandeln und näherte
sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an die Konvention der Berufs-
schreiber an, wobei diese Annäherung ein gegenseitiger Prozess war.
Innerhalb der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber ist eine deutli-
che Stufung erkennbar. Je geringer die kommunikativen Anforderungen
an die jeweilige Gruppe sind, desto niedriger ist das Niveau im Gebrauch
der Satzgefüge. Vorsichtig interpretiert verbirgt sich dahinter auch das
Niveau der sprachlichen Bildung. Am Beispiel des Sprachhandelns der
Steiger kann eine solche Vermutung angestellt werden.
Neben einer gruppenspezifischen Variation im Sprachhandeln war
aber auch eine funktionale Variation beobachtbar. Es gibt Textsorten, in
1008 Rainer Hünecke

denen der Gebrauch der Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert relativ


stabil blieb (vgl. Fahrbuch). In anderen Textsorten waren Veränderungen
zu beobachten, so weit das die Überlieferungslage sichtbar werden ließ.
Die relative Stabilität in der Textsorte Fahrbuch kann auf das Alter dieser
Textsorte (seit dem 17. Jahrhundert belegt) und damit auf feste Konven-
tionen zurückgeführt werden, sich aber auch aus der Funktion dieser
Textsorte erklären lassen. Es geht schlicht und einfach nur darum, vollzo-
gene Handlungen sukzessive nachvollziehbar zu machen. In allen anderen
Textsorten – mit Ausnahme des Steigerberichtes – setzten sich im Verlauf
des 18. Jahrhunderts zunehmend hypotaktische Formulierungsmuster –
also primär schriftsprachliche Muster – durch. Dieser Sprachgebrauch
gipfelte in einer allgemeinen Konvention im gemäßigten Umgang mit
diesen Mitteln am Ende des 18. Jahrhunderts. Diesem Trend folgten auch
die Berufsschreiber, so dass man am Ende des 18. Jahrhunderts von ei-
nem gruppenübergreifenden allgemeinen Trend im gemäßigten Gebrauch
der Satzgefüge sprechen kann. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in
dem die Berufsschreiber im Sinne kommunikativer Kooperativität (vgl.
Grice 1968, 1975) die Qualität ihrer schriftsprachlichen Handlungen in der
Art modifizierten, dass ohne kommunikative Einbußen eine optimale
Informationsübermittlung gesichert wurde. Die berufsbegleitenden
Schreiber modifizierten ihr sprachliches Handeln ebenfalls im Sinne
kommunikativer Kooperativität, indem sie die Qualität ihres Handelns
dieser optimalen Informationsübermittlung anglichen. Es handelte sich
also um einen Prozess, an dem beide Schreibergruppen beteiligt waren.
Wie aus diesen Äußerungen zu vernehmen ist, eröffnet diese diskurs-
basierte Herangehensweise neue Möglichkeiten zu einer differenzierteren
Betrachtung nicht nur syntaktischer Veränderungen. Gleichzeitig aber ist
auch darauf zu verweisen, dass eine solche Herangehensweise nicht ganz
unproblematisch ist. Denn nicht nur die Sichtung der überlieferten Quel-
len, sondern auch die Rekonstruktion sind mit einem relativ hohen Ar-
beitsaufwand verbunden. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist die
Bewertung des virtuellen und des konkreten Untersuchungskorpus. Der
Sprachhistoriker steht hier vor dem „Wagnis […] des Behauptens oder
Wahrscheinlichmachens kausaler Zusammenhänge zwischen Sprache und
außersprachlichen Faktoren“ (von Polenz 2000, 10), dem er sich jedoch
stellen sollte.
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung 1009

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Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Ein Plädoyer für die Verknüpfung von historischer und
Gegenwartsgrammatik

Stephan Elspaß (Augsburg)

1. Einleitung
In jüngster Zeit ist der Gegenstandsbereich der sprachhistorischen For-
schung erheblich erweitert worden. Untersuchenswert erscheinen nicht
mehr nur Entwicklungen, die geradewegs auf der Hauptstraße zu unserer
heutigen geschriebenen Standardsprache zuliefen, sondern auch sprach-
historische Umwege, Nebenpfade und auch Sackgassen. Entscheidend für
die Erweiterung des Blickfelds war wohl das aufgekommene Interesse
zum einen an historischer Regionalität und zum anderen an historischer
Mündlichkeit, deren quantitative Ausprägungen übrigens durchaus in
einem Zusammenhang zu stehen scheinen (vgl. Denkler / Elspaß 2007).
Die neuen Interessenlagen brachten es mit sich, dass sich Forscherinnen
und Forscher heute Texte anschauen, die man früher keines Blickes ge-
würdigt hätte, oder dass man überhaupt nach Texten sucht, von denen
man lange glaubte, dass sie gar nicht existieren. Ich meine etwa Texte wie
Tagebücher, private Chroniken und Privatbriefe, gerade auch vom nicht-
gelehrten Teil der Bevölkerung. Den Bereich der historischen Mündlich-
keit hätte man früher meist mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit seiner
Erforschung (da eben das gesprochene Wort nicht überliefert ist) oder
den Verweis auf die Dialekte – und damit den Untersuchungsgegenstand
der historischen Dialektologie – abgetan. Es bedurfte der Einsicht, dass
Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen Wort und somit auch histori-
sche Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen historischen Wort gleich-
zusetzen ist. Dahingehend am überzeugendsten wirkten in der jüngeren
Sprach(geschichts)forschung die Modelle der Romanisten Ludwig Söll,
Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die zwischen der Dichotomie des
gesprochenen und geschriebenen Mediums einerseits und der kontinual zu
1012 Stephan Elspaß

denkenden Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und


konzeptioneller Schriftlichkeit differenzieren (vgl. dazu zuletzt den Auf-
satz von Koch / Oesterreicher 2007). Diese Konzeptualisierung von
Sprache – das kann man nicht oft genug hervorheben – eröffnet für die
Sprachhistoriographie neue Perspektiven in Bezug auf die Erforschung
historischer Mündlichkeit.

2. Das Problem
Mit solchen Texten historischer Mündlichkeit des 19. und beginnenden
20. Jahrhunderts habe ich mich in den letzten Jahren im Zuge einer Un-
tersuchung von Hunderten von Briefen deutschsprachiger Schreiberinnen
und Schreibern aus dem Kontext der Massenauswanderung nach Amerika
intensiv befasst. Dass solche Texte in einer solchen Masse und einer sol-
chen regionalen und sozialen Distribution erhalten sind, ist ein Glücksfall.
Nun lässt sich der Grad der Mündlichkeit derartiger Texte tatsächlich
messen. Nach dem Verfahren, das Vilmos Ágel und Mathilde Hennig
entwickelt haben, weisen diese Briefe aus der Hand unroutinierter Schrei-
ber einen Nähegrad zwischen 34 % (vgl. Elspaß 2008, 159) und 41 % (vgl.
Ágel / Hennig 2006, 278) auf – und das gehört schon zu den Spitzenwer-
ten für Texte aus dem 19. Jahrhundert; der bisher ermittelte höchste Wert
für einen einzelnen historischen Text (ein Hexenverhörprotokoll) liegt bei
gut 50 % – nicht mehr (vgl. ebd., 140).
Wenn man sich diese Texte vornimmt und etwa auf grammatische
Strukturen historischer Mündlichkeit hin durchsuchen will, steht man
zunächst vor einem Problem: Die historischen Grammatiken haben sich
meist nicht um die Mündlichkeit gekümmert und präsentieren eine
Grammatik der Schriftsprache. Die Grammatiken und die Forschungs-
arbeiten, die die Grammatik des Mündlichen beschreiben, konzentrieren
sich auf die Gegenwartssprache, und da im Wesentlichen auf die gespro-
chene Sprache (ich betone ,im Wesentlichen‘, da man mit dem Aufkom-
men der neuen Medien nun auch massenhaft Texte im graphischen Be-
reich zur Verfügung hat, die starke Merkmale von Mündlichkeit haben,
vgl. Koch / Oesterreicher 2007, 358f.). Ein gewisses Dilemma bei der
grammatischen Beschreibung von Texten wie etwa Privatbriefen des 19.
Jahrhunderts lag lange Zeit darin, dass die in ihnen sichtbar werdenden
Merkmale historischer Nähesprachlichkeit zunächst einmal nur mit Kate-
gorien beschrieben werden konnten, die für gesprochene Texte der Ge-
genwart entwickelt wurden. Anders ausgedrückt: Als ich mir diese Texte
vor etwa 10 Jahren zum ersten Mal vornahm, hätte ich sie weder im Ge-
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1013

genstandsbereich der Sprachgeschichtsforschung noch in dem der Ge-


sprochenen-Sprache-Forschung verorten können.
Das hat sich inzwischen gründlich geändert, vor allem seit den bahn-
brechenden Arbeiten von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig und ihrem
Konzept der Nähegrammatik, das u.a. ihrer Sprachstufengrammatik des
Neuhochdeutschen zugrunde liegen soll (vgl. v.a. Ágel / Hennig 2006).
Am Beispiel von drei syntaktischen Phänomenen sei im Folgenden il-
lustriert, wie nicht zuletzt die Forschung zur Gegenwartsgrammatik von
der Untersuchung solcher Texte profitieren kann. Alle drei Phänomene
haben mit den Klammerstrukturen des Deutschen zu tun – stellen aber
eigentlich Ausnahmen von der Klammerbildung dar.

3. Durchbrechungen des Klammerprinzips


in nähesprachlichen Texten
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
3.1. Ausklammerung

Die Klammerstrukturen im Deutschen mit der Verbalklammer (mit auxi-


liarem linken Klammerteil), der Lexikalklammer (mit nichtauxiliarem lin-
ken Klammerteil) und der Nebensatzklammer (mit einleitender Subjunk-
tion oder Relativwort) sind bekanntlich nicht etwas, das für das Deutsche
spezifisch ist, noch etwas, das für alle Sprachstufen des Deutschen be-
schreibbar wäre, denn sie waren erst zu Beginn der mittelneuhochdeut-
schen Zeit, also im 17. / 18. Jh., voll grammatikalisiert (vgl. von Polenz
1994, 268). Auf ihre Entstehung gehe ich hier nicht näher ein; ich verwei-
se auf den HSK-Artikel von Vilmos Ágel (2000, 1873ff.).
Das erste anzusprechende Phänomen ist die Ausklammerung im
Deutschen. Die bisher umfassendste Untersuchung zur Ausklammerung
im geschriebenen und gesprochenen Deutsch stammt von Günther Zahn
(1991); für das 19. Jahrhundert sind die Arbeiten von Wladimir Admoni
(1987 u. 1990) einschlägig. ,Einschlägig‘ heißt aber nicht, dass sie auch
direkt vergleichbar wären. Denn die Hauptprobleme von Untersuchungen
zu Ausklammerungen im Deutschen bestehen darin, dass 1. geschriebene
Texte verschiedenen Mündlichkeits- bzw. Schriftlichkeitsgrads zur Unter-
1014 Stephan Elspaß

suchung herangezogen werden1 und dass 2. den Untersuchungen ganz


unterschiedliche Auffassungen von ,Ausklammerung‘ zugrundeliegen.2
Ausklammerung von Satzelementen im Hauptsatz liegt bekanntlich
nur dann vor, wenn dieselben Elemente in unmarkierter Stellung zwischen
dem auxiliaren oder nichtauxiliaren linken und dem rechten 3
Verbal-
klammerteil ‚eingeklammert‘ stehen können, wie in Bsp. (1):
(1) Er hat uns ein Brief geschrieben den 1 Januar [Trienke Margare-
tha Rahmann, 05.04.1855]4
Während Ausklammerungen noch Elemente des Satzes darstellen (von
dem eben ausgeklammert wurde), wird bei Nachträgen „von einer Art
Neuansatz ausgegangen“ (Schoenthal in MLS 2005, 430). Typischerweise
werden Nachträge durch und zwar eingeleitet bzw. kann ein und zwar einge-
fügt werden, wie in Bsp. (2):
(2) Ich habe kürzlich einen Brief von zu Hause erhalten worin die
Mutter mir mittheilt, daß Eure Familie wieder um ein Mitglied
vermehrt wurde, und zwar in Person eines munteren Jungen,
welches mich sehr freut. [Anton Baur, 09.12.1877]
Zu unterscheiden ist die Ausklammerung ebenso von den grammatikali-
sierten Nachfeldbesetzungen. Dazu zählen z.B. Aufzählungen, freistehen-
de Appositionen oder Vergleiche, die eben nicht mehr (oder nicht mehr
unmarkiert) „einklammerbar“ sind (Schoenthal in MLS 2005, 72, nach
Zahn 1991), wie die Vergleichskonstruktion mit als wie [...] in Beleg (3):
(3) Aber man muß auch strenger Arbeiten als wie in Deutschland.
[Christoph Barthel, 15.08.1847]
Ich orientiere mich im Folgenden an den Ergebnissen von Zahn (1991),
der Ausklammerungen im „gesprochenen Deutsch“ untersuchte und sie
_____________
1 So untersuchte etwa Admoni Artikel aus Konversations-Lexika, Zeitungen und Roman-
auszüge (vgl. Admoni 1987, 100ff.). Die Texte aus den Konversationslexika weisen gar kei-
ne Ausklammerungen auf, die Romanauszüge zeigen – wenig überraschend – verschieden
hohe Anteile an Ausklammerungen. Es kommt das merkwürdige Ergebnis heraus, dass
Ausklammerungen zu Beginn und zum Ende des 19. Jahrhunderts besonders häufig waren,
in der Mitte des 19. Jahrhunderts weniger häufig (vgl. ebd., 111 u. 114).
2 So zuletzt noch in dem Aufsatz von Ewa śebrowska (2007), die zwar ausdrücklich auf den
Unterschied zwischen Nachtrag und Ausklammerung hinweist, am Ende aber doch wieder
in ihrem schmalen Korpus von 44 Belegen beides zusammenwirft.
3 Zahn (1991, 96ff.), Hoberg in der IDS-Grammatik (1997, 1649).
4 Bei diesem und den folgenden Beispielen sind in eckigen Klammern die Namen der Brief-
schreiberinnen und -schreiber sowie das Datum des Briefes angegeben. Angaben zu den
Schreiberinnen und Schreibern sowie Quellennachweise finden sich in Elspaß (2005,
539ff.).
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1015

mit einer Arbeit von Emilija Grubačič aus dem Jahre 1965 zu Ausklam-
merungen in der Prosadichtung des 20. Jahrhunderts verglich. Es geht mir
im Folgenden nicht so sehr um die Frage, welche dieser Textgruppen
mehr oder weniger zur Ausklammerung neigt. Zahn jedenfalls kann die
These von der Ausklammerungsfreundlichkeit der „gesprochenen Spra-
che“ nicht bestätigen. Vielmehr interessiert mich der Befund Zahns
(ebd., 122f.), dass es in qualitativer Hinsicht „beachtliche“ Unterschiede
zwischen geschriebener und gesprochener Sprache geben soll, dass näm-
lich „in gesprochener Sprache [...] mehr Stellungselemente ausgeklammert
[würden], von denen man dies bislang nicht erwartet hätte“. Genannt
werden insbesondere Nominativ-, Akkusativ- und Prädikativergänzun-
gen.5 Wie sieht nun diesbezüglich das Ausklammerungsprofil geschriebe-
ner alltagssprachlichter Texte des 19. Jahrhunderts aus (vgl. Tabelle 1)?

ausgeklammerte Prosadichtung Gesprochene geschriebene


Stellungselemente (Grubačič 19656) Sprache Alltagssprache
(Zahn 1991) 19. Jh.
Subjekt 51 3,5 % 124 9,0 % 3 1,6 %
Akkusativobjekt 47 3,2 % 143 10,3 % 12 6,5 %
Dativobjekt 11 0,8 % 12 0,9 % 1 0,5 %
Genitivobjekt 2 0,1 % 0 0,0 % 0 0,0 %
Prädikativ 10 0,7 % 52 3,8 % 5 2,7 %
Infinitiv 10 0,7 % 6 0,4 % 0 0,0 %
Präpositionalobjekt 404 27,8 % 317 22,9 % 56 30,1 %
lokales Adverbial 279 19,2 % 135 9,8 % 35 18,8 %
modales Adverbial 278 19,2 % 188 13,6 % 32 17,2 %
temporales Adverbial 129 8,9 % 163 11,8 % 27 14,5 %
kausales Adverbial 110 7,6 % 88 6,4 % 9 4,8 %
Genitivattribut 3 0,2 % 5 0,4 % 0 0,0 %
Präpositionalattribut 117 8,1 % 108 7,8 % 4 2,2 %
Sonstige 0 0,0 % 43 3,1 % 2 1,1 %
Insgesamt 1451 100 % 1384 100 % 186 100 %

Tabelle 1: Ausklammerungen in Prosadichtung, gesprochener Sprache


und geschriebener Alltagssprache

_____________
5 Ähnliches liest man in Auer (1991, 147).
6 Die Angaben sind der Arbeit von Zahn (1991) entnommen.
1016 Stephan Elspaß

Obwohl meine Stichprobe,7 die 186 Belege umfasst, nicht so repräsentati-


ve Ergebnisse liefern kann wie die Untersuchungen von Grubačič und
Zahn, die jeweils ca. 1.400 Ausklammerungen analysierten, ist der Blick
auf die Auswertung in Tabelle 1 dennoch aufschlussreich: Man könnte
nicht sagen, ob das Ausklammerungsprofil der geschriebenen Alltagsspra-
che eher dem der gesprochenen Sprache oder eher dem der Prosadichtung
ähnelt. Vielmehr zeichnet sich insgesamt die Tendenz ab, dass die Werte
für die Brieftexte etwa dazwischen liegen.
Darüber hinaus zeigt sich, dass es in den Briefen Satzglieder gibt, die
in Texten konzeptioneller Schriftlichkeit selten ausgeklammert werden,
z.B. Akkusativobjekte und Prädikative, wie in den Textauszügen (4) bis
(7):
• Akkusativobjekte:

(4) nun Stets beim guten Fleis kan einer vertienen 25 grochen bis
einen Thaler am Tag eures gelts, nun ist die Kost und hausr-
miten auch deuer, in einer Statt und gelegenem Zimmer wiert
bezalt vür ein Monath fünf bis 6 Thalar rente [...] ferte Sint hier
keine weil Sie heisen die ferte Keil8 [Wiemar Stommel,
24.06.1850]
(5) Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wun-
dern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon;
da graben sie 6 oder 8 Pfähle in die Erde, legen oben quer auf
lange Bäume, bringe oben Stroh hinauf und der Seiten mit
Bretter beschlagen, (viele auch nicht) und der Stall ist fertig [Phi-
lippe Lépine, 04.01.1885]
• Prädikative:
(6) Lieber Vater keine besondre Neuigkeiten weiß ich nicht als der
fortwährende Krieg Blutvergießen und Landesschulden welche
sind nach der letzten spezial Rechnung titto: 1.740.690.489 Dol-
lars und 40 Cents also siebzehn hundert, vierzich Millionen
sechs hundert neunzich tausend vier hundert achtzich und neun
Dollars und 40 Cent und daß der Vater Abraham Linkoln der

_____________
7 Für die Stichprobe wurden Ausklammerungen in drei Zeitabschnitten untersucht. Ich habe
dafür zwischen 35 und 40 Briefe von Schreibenden der Geburtsjahrzehnte 1810-20,
1830-40 und 1850-60 ausgewählt; die Gesamttextmenge liegt für jede Gruppe bei ca.
20.000 Wortformen. Die ausgeklammerten Formen wurden nach verschiedenen Typen
von Ergänzungen, adverbialen Angaben und Attributen getrennt ausgezählt.
8 Heisen zu hessen 'die Hessen durchschneiden', Hessen: 'Kniebug an den Hinterfüßen, nament-
lich der Pferde' (Schiller / Lübben 1876, 259f.); Keil zu Keilbein, hier: 'Fußwurzelknochen'.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1017

Presetent wieder zu 4 Jahre erwählt worden ist am 8 November 64.


[Anna Katharina (Barthel-) Odensass, 12.12.1864]9
(7) Meine erste Arbeit ist gewesen Waschen, aber es geth viel leich-
ter wie in Deutsland [Margarethe Winkelmeier, 11.04.1867]
Auer (1991, 147) ist zuzustimmen, wenn er gegen die These von der
„Schwere“ der ausgeklammerten Konstituenten einwendet, dass viele
ausgeklammerte Konstituenten in der gesprochenen Sprache relativ kurz
sind. Allerdings gilt deswegen nicht umgekehrt, dass kurze Konstituenten
ein Spezifikum der heutigen gesprochenen Sprache sind; dagegen stehen
etwa die Auszüge (8) bis (10):10
(8) Heinrich habe ich nachricht von gekriegen im Julei da war Er
noch Gesund [Trienke Margaretha Rahmann, 20.01.1856]
(9) Sie kränkelt noch i^er, ich kan aber nicht recht klug werden, was
es ist mit ihr Sie sieht sonßt sehr gut aus [...] seine Eltern brau-
chen sich nicht zu grämen, daß es ihm schlecht geht hier, Wier
alle haben uns, müßen nach Amerikanischen Sitten gewöhnen.
[Carl Reinhardt, 02.12.1872]
(10) der Weizen weizen wird drauf gestält und mit der Dreschma-
schin gedroschen in weiten Feld und hernach wird das Heu ab-
gemäd mit 2 Pferden die werden an die Maschin gespant und
Einer sitzt auf die Maschin und math a 4 Acker ab den Thag
[Matthias Gamsjäger, 10.03.1896]

3.2. ,Linksversetzungen‘

Das zweite hier zu erwähnende Phänomen sind die so genannten ,Links-


versetzungen‘. Diese Bezeichnung hat nur in symbolgrammatischer Sicht
ihre Berechtigung, denn in Wirklichkeit wird ja nichts nach links – aus der
Klammer heraus – versetzt. In kontextueller Hinsicht handelt es sich
vielmehr, wie Andreas Lötscher (1994, 36f.) schrieb, um eine zeitlich und
inhaltlich geordnete Abfolge eines „thematisierenden Fokussierungsakts“
und eines „problemlösenden Prädikationsakts“, also der Aufmerksam-
keitssteuerung auf ein Thema, über das im folgenden Satz etwas ausgesagt
wird. Insofern ist auch die Bezeichnung ,Herausstellung‘ irreführend, da
_____________
9 Für dieses Beispiel greift durchaus die sprachökonomische Erklärung, wonach durch
Ausklammerung die Satzklammer nicht prinzipiell aufgegeben, sondern lediglich auf eine
„handhabbare“ Länge zurückgeführt wird (vgl. Ronneberger-Sibold 1993, 215).
10 Vgl. dazu auch Nittas (1996, 373) Beispiele aus frühneuhochdeutschen Texten.
1018 Stephan Elspaß

sie suggeriert, „daß das herausgestellte Element ‚ursprünglich‘ am Platz


der Anapher (oder unter Umständen an einer entsprechenden Leerstelle)
gestanden habe“ (ebd., 37). Die Anapher besteht meist – das sind die bei-
den üblichen Typen der Linksversetzung –
• aus einem Demonstrativpronomen als Personalpronomen
(z.B. Der Kerl, der hat mich betrogen),
• oder aus dem Pro-Adverb da
(z.B. Voriges Jahr, da haben wir viel Schnee gehabt).
Die ersten beiden Fälle mit Demonstrativpronomen und da sind in der
Alltagssprache sehr gebräuchlich (vgl. Behaghel 1932, 256; Baumgärtner
1959, 92ff.), aber in der geschriebenen Standardsprache normativ nicht
zugelassen. Akzeptiert ist dagegen – nach belletristischem Vorbild – die
Variante mit Wiederaufnahme durch Pronomen im „Moderatorenstil“
(von Polenz 1999, 361).11 ,Linksversetzungen‘ werden im Allgemeinen im
Zusammenhang mit der topologischen Struktur des Deutschen behandelt
– sie stehen nach dem Feldermodell im Vorvorfeld oder ,Außenfeld‘ –,
obwohl sie im Grunde wenig mit der Klammerstruktur des Deutschen zu
tun haben und natürlich sprachhistorisch auch schon verwendet wurden,
als die Klammer im Deutschen noch gar nicht recht ausgebildet war:
Linksversetzungen sind bereits für mittelhochdeutsche und frühneuhoch-
deutsche Texte gut beschrieben.12 Sie werden im Laufe des 15. Jahrhun-
derts immer weniger verwendet, im 16. Jahrhundert sind sie praktisch
kaum noch zu finden (vgl. Lötscher 1994, 53). Lötschers Erklärung (vgl.
ebd., 55) dafür lautet: Schon im Mittelhochdeutschen sei die Linksverset-
zung stilistisch markiert gewesen in Richtung auf sprechsprachenahe,
volkstümliche, zuhörerorientierte Textsorten. Heute wird sie – wie gesagt,
mit einer Ausnahme – zu den ‚pleonastischen Formen‘ gezählt, die in der
neuhochdeutschen Schriftsprache normativ diskriminiert sind (vgl. Sandig
1973, 38ff.). Aufmerksam geworden auf diese Strukturen ist aber wieder
die Gesprochene-Sprache-Forschung, deren Beschreibungsbereich freilich
die Grenzen zwischen Standard und ‚Substandard’ nach Belieben über-
springt. Zuweilen wird das Beispiel der Linksversetzungen aber auch he-
rangezogen, wenn die Eigenständigkeit einer ‚Grammatik der gesproche-
nen Sprache’ betont werden soll. So hält Hannes Scheutz (1997, 44) es für

_____________
11 Das zeigt übrigens einmal mehr die Arbitrarität und Inkonsequenz normativer Setzungen
in der Standardgrammatik.
12 Vgl. Behaghel (1932, 256), Paul (1989, 334), Reichmann / Wegera (1993, 349, 433). Sieg-
fried Grosse (in Paul 1989, 334) betont, dass Herausstellungen des Nominativs „besonders
häufig in den Prosatexten der mhd. Predigtliteratur“ erscheinen. Dies bestätigen auch die
Untersuchungen von Lötscher (1994, 47f.).
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1019

„unbestreitbar“, dass die Linksversetzung „in erster Linie ein Phänomen


der gesprochenen Sprache“ ist. Davon leitet Scheutz weitere Charakteris-
tika der Linksversetzung (LV) ab. So müsse das wiederaufnehmende Ele-
ment „ein Demonstrativum sein“ und dürfe „kein Personalpronomen
sein“ (ebd.). Diese scharfe Eingrenzung auf die gesprochene Sprache ist
allerdings angesichts Dutzender Belege aus meinem Briefkorpus in keiner
Weise gerechtfertigt – als ein besonders deutliches Beispiel sei das Brief-
beispiel Nr. (11) aufgeführt, das ich bewusst auf die Auszüge mit Links-
versetzungen reduziert habe:
(11) ich hätte nie und nimmer gedacht daß wir Amerika ge zu sehen
krichten, als wir aber New-jork zu sehen krichten die Freude
die war zu groß. [...] Wilhelm Hesse der ist bei seinen Meister
geblieben [...] sein Meister der legt ihn immer Lohn zu wenn er
blos bleiben will [...] Wilhelm Hesse der trägt alle Monaht 20
Dollar nach die Bank [...] Lieber Bruder Wilhelm Hesse der
läßt dir fiel mal grüßen [...] Wilhelm Hesse der ist man 2 Meilen
von Rochester ab [...] hier giebt es einen Tag Kuchen und alle
Tage Butterkuchen, schwarz Brodt giebt es hier gar nicht, und
die Kartoffel die wachsen, hier eben so als wie bei Euch, und
die Schweine die laufen hier auf die Straße herum, und haben
ein Messer auf dem Rücken stecken, wenn wir hunger haben den
schneiden wir uns ein fetes Stück ab [Heinrich Greve, 1856 (2)]
Ein anschauliches komplexes Beispiel für eine Linksversetzung ist schließ-
lich Auszug (12):
(12) dem Kreusrichter Peitz seiner Schwester sein StifSohn der
von Holtausen der hat sich hir auch eine Farme gekauft [Cas-
par Geucke, 21.03.1882]
Auch Scheutz’ Festlegung auf die „deiktische Funktion“ ist unhaltbar.
Dass es nach Scheutz „ausgerechnet ein Demonstrativum sein muß und
kein Personalpronomen sein darf“, mit dem das linksversetzte Element
wieder aufgenommen wird, ist nicht einsichtig und lässt sich auch leicht
mit Beispielen widerlegen:
(13) du und meine Frau ir kontet das Schneiter hantwerck brauchen
wegen Sie auch zimlich darin erfaren ist. und halten dabei ein
kleines gasthaus welches auch ein guten gewin macht, ich habe
mich zimlig davür Ein gerigt. [Wiemar Stommel, 24.06.1850]
(14) Onkel Fritz Tochter Onkel Ludgerus Tochter und die Frau
Lorenz mit ihre Tochter und Onkel Berning sohn und ich
1020 Stephan Elspaß

wir sind des Abends 2 Uhr in der Kutsche alle in die Stadt gefah-
ren [...] Meine schwester Anna auch sie hatt mir nicht mal wis-
sen lassen das sie einen jungen sohn empfangen haben [Ludger
II (Große) Osterholt, 25.12.1877]
(15) Käthe und ich auch wier denken Täglich ach hätten wier doch
Groß Mutter hier. [Pauline (Rogosch-) Wendt, 15.05.1890]
(16) Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wun-
dern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon
[Philippe Lépine, 04.01.1885]
Die Rückbeziehung kann, wie schon Lötscher (1994, 34) für ältere Texte
feststellte, auch durch Personalpronomina erfolgen – und sogar durch
Pronominaladverbien, wie in Beispiel (16). In drei der vorgenannten Fälle
(1. bzw. 2. Person) ist etwa die Wiederaufnahme durch ein Demonstrativ-
pronomen gar nicht möglich. Im folgenden Beleg für eine doppelte Links-
versetzung treten beide Formen der Rekurrenz nebeneinander auf:
(17) Denn die Amerikaner Weiber Arbeiten daß können Sie nicht
nur ein Schöner Garten halten und den Tag enweder Spazieren
gehe oder auf dem Clavier hier Pieano genant spielen.13 [Baltha-
sar Schmitz, 30.01.1866]
Die häufige Realisierung der Linksversetzung in der geschriebenen All-
tagssprache erklärt sich durch die Funktion der Thematisierung (vgl. Alt-
mann 1981, 48) bzw. einer „Steigerungsmöglichkeit der thematischen
Heraushebung“ (Eroms 2000, 353): Gerade in den nicht immer linear
organisierten, d.h. auch thematisch wenig strukturierten Briefen der unge-
übten Schreibenden, dem typischen „vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-
Kommen“ mit häufigem und oft abruptem Wechsel des Gegenstands
oder der Personen, von denen aktuell die Rede ist, erscheint die entspre-
chend klare Kennzeichnung eines neuen Themas geradezu als Verste-
hensnotwendigkeit. Das zeigt in besonderer Deutlichkeit Beispiel (11).

3.3. weil + Verbzweitstellung

Mein drittes und letztes Beispiel betrifft die Nebensatzklammer bzw. die
Auflösung der Nebensatzklammer in einem speziellen Fall, der in der Ge-
genwartsgrammatik heftig diskutiert wird. Gemeint sind Verbzweitstellun-
_____________
13 Linksversetzung 1: Denn die Amerikaner-Weiber, sie können nicht arbeiten.
Linksversetzung 2: Arbeiten, das können sie nicht.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1021

gen nach klassischen Nebensatzkonjunktionen wie weil, obwohl und während


(von Polenz 1999, 357); ich greife den Fall weil + Verbzweit heraus. Zur
Entstehung dieser Konstruktion zeichnet sich in der Forschung ein Über-
gewicht derjenigen Meinungen ab, die annehmen, dass sich hierbei nicht
die Verbstellung in Nebensätzen ändert, sondern einfach nur eine funk-
tionale Ausweitung des weil von einer subordinierenden zu einer auch
koordinierenden Konjunktion stattfindet, indem weil als koordinierende
Konjunktion das schriftsprachlichere denn ersetzt und von ihm die
Hauptsatzstellung ererbt. Zunächst hat man die weil + Verbzweitstellun-
gen als Entwicklungstendenz der Gegenwart aufgefasst. Aber wie bei so
vielen gegenwärtigen Entwicklungstendenzen fragt man sich, woher sie
kommen, ob sich ein plötzliches Auftauchen aus sprachwandeltheoreti-
scher Sicht stichhaltig begründen lässt – oder ob es historische Vorläufer
gibt. Insbesondere Margret Selting hat dafür argumentiert, dass im Fall der
weil-Konstruktionen von einer historischen Kontinuität auszugehen sei,
die sie bis auf ahd. (h)wanta-Konstruktionen zurückverfolgt. Ihr Haupt-
problem ist eine „Beschreibungslücke“, die sich in Texten des 16.-20.
Jahrhunderts auftue (Selting 1999, 196). Nun ist klar, dass auch diese
Konstruktion eher in Texten historischer Mündlichkeit zu vermuten wä-
ren. Um es kurz zu machen: Es finden sich tatsächlich nicht viele, aber
doch einige weil + Verbzweit-Belege in den Auswandererbriefen, allerdings
verdienen die entsprechenden Textstellen eine genaue Betrachtung. Die
ersten drei dieser Auszüge – (18) bis (20) – enthalten ganz eindeutige Be-
lege für Verbzweitstellungen nach weil:
(18) Auser Preusen Kunser der sate erst wir solten nichts mer geben
als wir vorackediert warren wir solten uns nur fest halten den das
schief müßte bald vord das dauerte biß den 30ten April und als
den 30t. April da wurden wir gewar das der Kunsor und unser
agend Wumberse Karusewick sich bestächen hatten und erst da
glaubtten wir unser Kunler [...] sagte wir solte machen um etwas
mer zu geben und als wir das getan hatten da war unser akord
gebrochen Weil wir wusten nicht daß sei zusammen hielten
unser akord ward gebrochen da sagtte die das akord gemacht
Pfisknoick und Hiesel sie wolten geben was er haben wolten 25
Gulden per Mann [Heinrich Küpper (aus Loikum am Nieder-
rhein), 1847ff.]
(19) Ich habe schon gleich ums Heumachen um 12 Dollar Heu ge-
kauft da habe Ich 2 Fuhren bekommen weil wir auf unsern Land
auch nur zwei Fuhren bekamen Getroschen haben wir auch
nicht viel weil man mußte schon den Hafer bald grün ver-
1022 Stephan Elspaß

füttern blos 62 Buschel Hafer 29 [Bräu] Gerste 15 Buschel


Weitzen [Mathes Josef Windirsch (aus Müllestau bei Marienbad),
02.04.1896]
(20) ich bin immer zu hause oder beim Rauhbauer und dehr ist nicht
weit weg fon mihr ich fahre mit dehr Strasen Bahn hin zu ihm
ich habe eine halbe Stunde zu fahren und das ist nicht fill. weil
das ist nuhr meine freude der gaht Riedler komt auch ihmer zu
mir aber das ist nicht so als wen der Rauhbauer komt mehr neu-
es kan ich dir nicht schreiben weill hir wir machen nicht So fill
[...] alls wi drausen [Johann Händler (aus dem Burgenland),
Anf. 1924]
Beim zuletzt aufgeführten Schreiber ist die Verbzweitstellung nach weil
übrigens die Normalform! Auszug (19) ist insofern bemerkenswert, als
genau für das böhmisch-nordbairische Dialektgebiet, aus dem der Schrei-
ber stammt, die Hauptsatzstellung nach weil für die Mundart belegt ist (vgl.
Schiepek 1899, 42). Vom selben Schreiber liegen allerdings auch zwei
Textpassagen vor, die sich nicht eindeutig als Verbzweitstellungen einord-
nen lassen – s. Auszüge (21) und (22):
(21) u nun dieser So^er, war bei uns sehr trocken, wir haben schon
in Juli die Frucht abgemacht, u den 12 August habe Ich schon
dreschen lassen, weil getroschen wird bei uns in Amerika,
mit einer großen Maschin, wo ein Inschein [engine!] oder ein Lo-
komotif, wie ihr es auf der Eisenbahn seht, ein solches Lokomotif,
fahrt sa^t Treschmaschin, von einen Farmer zum andern [Ma-
thes Josef Windirsch, 04.01.1892]
(22) im Herbst kauften wir uns noch für 8 Dolar Haferstroh wir ha-
ben uns jetzt noch 70 Buschel Hafer gekauft es kostet der Bu-
schel Hafer 18 Cent weil wir hatten in Herbste zwei Küh u
eine Kalbin dan haben wir die ältere Kuh geschlacht weil die
Kalbin tragbar ist [Mathes Josef Windirsch, 02.04.1896]
Denn hier könnten natürlich auch Ausklammerungen vorliegen (entspre-
chend ist dies in (21) und (22) auch graphisch markiert)! Auch das sind
keine Einzel- bzw. für diesen Schreiber spezifischen Belege, vgl. Auszug
(23):
(23) das vieh ist Schoner hier wie in Deuchlanth, auch mit verschiete-
ne farben Weis und Schwartz Roth von dreierlei varben ist das
merste. die Schweine werten auch bis 5 Huntert Pfund Schwer,
ferte Sint hier keine weil Sie heisen die ferte Keil, die sind mit
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1023

under schiet wie bei euch. ich haben Hensten gesehen die nicht
under vier huntert Thaler zu kaufen waren. [Wiemar Stommel
(aus Kurtsiefen, Siegkreis), 24.06.1850]14
Dann gibt es auch Fälle, in denen die Verbzweitstellung nach weil wieder
anders erklärt werden könnte, nämlich durch Besonderheiten der Seriali-
sierung im Verbalkomplex. In den Auszügen (24) bis (26) könnte es sein,
dass die unterstrichenen finiten Formen der Hilfsverben in den zwei- bzw.
dreigliedrigen Verbkomplexen vorgezogen wurden – das ist eine in den
Briefen des 19. Jahrhunderts durchaus häufig zu findende Verbstellung:
(24) diese 3 Mädle [wo ich von] Stuttgart auch nach Amerika sind
hatte ich in Maintz getroffen, die hatten aber schon Geselschaft
getroffen auf d[em] Wege, die hatten sich so Gemein aufgeführt
auf dem Weg schon und auf der See es waren 2 Schneidergesel-
len mit diesen Madle habe ich Ver[druß] beko^en, weil ich hab
die Lied[er]lichkeit nicht ansehen kö]en die eine ist nach Vi-
ladelfe15 u. die eine in New Jork. [Anna Maria Klinger (aus Korb-
Steinreinach bei Waiblingen), 18.03.1849]
(25) Liebe Bruder du Schreibist mir das du wolltest im Herbst wieder
kommen das muß du selber wissen wie es hir so ist das weiß du
wohl von früher aber von verdinst ist es viel schlechter den das
Weben ist ganz aus und das kömt von den amerikänischen Krig
weil keine Baumwolle kan erhalten werden denn das Pfund
Baumwollen Garn kostet 20 Sgr so das gar nicht mer hir gewebt
wird [Heinrich Brandes (aus Ochtrup, Westfalen), 20.07.1863]
(26) Lieber Freund 4½ Thaler bekom ich im Tag, für euch wäre es
noch beser weil auch deine Frau könt verdinen, eine Frau so-
vil machen als der man wen sie wil. [Josef Schabl (aus dem Bur-
genland), 13.08.1922]
Es ließen sich noch weitere mögliche Einflussfaktoren auf die Entwick-
lung der Verbzweitstellung nach weil nennen, z.B. die afiniten Nebensatz-
konstruktionen, die ja offen lassen, in welcher Stellung das finite Verb zu
stehen käme, wie in Auszug (27):

_____________
14 Die Ausklammerung selbst nominaler Ergänzungen in weil-Sätzen war zumindest in der
Lyrik des 19. Jahrhunderts aus Gründen der Metrik und des Reims eine akzeptierte Satz-
gliedstellung:
Denn vor Gott ist alles herrlich, / Eben weil er ist der Beste; / Und so schläft nun aller
Vogel / In dem groß und kleinen Neste. (Goethe: West-östlicher Divan)
15 Philadelphia.
1024 Stephan Elspaß

(27) So bitte ich Euch liben Eltern nochmahls dringend, Laßt Euch
ein Bild von das Orignal Bild abnehmen und schikt uns dan das
Bild welches wir an Euch geschikt haben es wird Euch gewiß,
nichts aus machen solte es nicht ganz genau so sein weil Ihr das
Kind doch nicht gekant aber es i[ch] zu genau getroffen auf
das Haubt Bild deshalb möchten wir es [um] jeden Preis wider
haben. [Hermann Reibenstein, 05.06.1870]
Hier breche ich ab. Ich hoffe, ich konnte Folgendes deutlich machen: Um
diese Wortstellung, die uns heute als markiert erscheint, zu erklären, ist es
nicht nur notwendig, die Geschichte der kausalen Konjunktionen zurück-
zuverfolgen, sondern man muss sich auch einen Überblick verschaffen
über die historische Varianz und die Entwicklungen der Klammerstruktu-
ren. Im vorliegenden Fall ist es m.E. mit dem Hinweis auf eine „lokale
Umschichtung im Lexikon der deutschen Funktionswörter“ (Uhmann,
nach Selting 1999, 180), also die Ersetzung des schriftsprachlichen denn
durch das alltagssprachlichere weil nicht getan. Denn diese Übernahme traf
auf bestimmte syntaktische Bedingungen: Ermöglicht wurde sie durch
Stellungsvarianten bei mehrgliedrigen Verbalkomplexen, durch die zu-
nehmend genutzte Möglichkeit der Ausklammerung und der auch noch
verwendeten afiniten Nebensatzkonstruktionen. Diese verschiedenen
Varianten können als Katalysatoren gewirkt und zusammen genommen
die Funktionsübernahme des denn durch weil befördert haben.

4. Schluss
Mein Schlussplädoyer ist kurz. Die Fallbeispiele aus dem weiteren Bereich
der Klammerstrukturen des Deutschen sollten deutlich machen, dass die
geschriebene historische Nähesprache – gerade diejenige, die unserer Ge-
genwartssprache unmittelbar vorausgeht, – nicht nur der Forschung zur
historischen Grammatik wie auch der zur Gegenwartsgrammatik neue
Erkenntnisse liefern kann, sondern dass sie auch (um im Bild zu bleiben)
eine wichtige Klammer zwischen historischer und Gegenwartsgrammatik
bildet: Die Ergebnisse haben gezeigt, dass Entwicklungen, die erst in der
jüngeren Forschung zur gesprochenen Sprache (oder auch zur Sprache in
informellen Texten der neuen Medien) als ‚auffällig‘ beschrieben und dis-
kutiert werden, in gleicher Weise oder zumindest im Prinzip schon in der
geschriebenen Alltagssprache des 19. Jahrhunderts zu beobachten waren.
Um Tendenzen in der Gegenwartssprache adäquat erklären zu können, ist
es notwendig, ihre unmittelbaren historischen Vorläufer bzw. Formen zu
berücksichtigen, die offenbar während der ganzen Zeit unter der bereinig-
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1025

ten Oberfläche der Schriftsprache existierten und sich weiter entwickelt


haben.

Literatur

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Grammatische Variation in der Chronik
des Gettos Lodz / Litzmannstadt

Jörg Riecke (Heidelberg)

1. Einleitung
Während viele Aspekte der ‚Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus‘
inzwischen gut erforscht sind, gibt es bisher kaum Untersuchungen dazu,
ob und wie die Opfer des Nationalsozialismus ihre Entrechtung, Verfol-
gung und – in vielen Fällen – ihre Deportation in Gefängnisse, Gettos
und Lager sprachlich bewältigt haben. Die Gründe für diese Zurückhal-
tung mögen vielfältig sein; es hat bis in die jüngere Vergangenheit jedoch
vor allem an einer geeigneten Textgrundlage gefehlt, um diese Frage zu-
mindest in Ansätzen beantworten zu können. Mit dem Erscheinen der
Edition der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt liegt nun aber eine
umfangreiche Quelle vor, die einen tiefen Einblick in das ‚Schreiben im
Holocaust‘ erlaubt.1 Es lassen sich nun Überlegungen zur Funktion der
‚Sprache unter erschwerten Lebensbedingungen‘ anstellen sowie textlingu-
istische und lexikologische Aussagen treffen. Bei der Vorbereitung der
Edition sind die Herausgeber daneben vergleichsweise häufig auch auf
grammatische Merkmale gestoßen, die nicht mit der Norm der deutschen
Standardsprache übereinstimmen. Das war bei einem Text, der in den
Jahren 1941 bis 1944 entstanden ist, nicht von vornherein in diesem Aus-
maß zu erwarten. Vielfach war zunächst unklar, ob es sich bei diesen Auf-
fälligkeiten um Fehler handelt, die in der Ausgabe korrigiert werden soll-
ten oder ob doch in manchen Fällen bestimmte sprachliche Gesetzmäßig-
keiten vorliegen, die es erlauben, die Abweichungen in der Edition stehen
zu lassen. Es stellte sich dann darüber hinaus die Frage, warum der Text
überhaupt so viele Abweichungen enthält. Eine Erklärungsmöglichkeit
bietet sich dann, wenn man die grammatische Variation in der Chronik
und auch in allen anderen, im Getto Lodz entstandenen Texten vor dem
_____________
1 Vgl. Leibfried / Feuchert / Riecke (2007).
1028 Jörg Riecke

Hintergrund ihrer Schreibsituation unter die Lupe nimmt. In dieser Studie


möchte ich daher im Folgenden eine Auswahl der grammatischen Merk-
male vorstellen, die mir im Verlauf der Editionstätigkeit aufgefallen sind.
Ihre Untersuchung soll zeigen, dass man – auch – grammatisches Wissen
haben muss, um solche Texte in ihrer Vielschichtigkeit richtig zu erfassen.
Der Text versteht sich daher nicht in erster Linie als Beitrag zur Erfor-
schung von Syntax und Grammatik des Neuhochdeutschen selbst, son-
dern als Plädoyer für die Wichtigkeit von Syntax und Grammatik im Pro-
zess der philologischen Erschließung von Texten überhaupt.2
Da Texte der Opfer des Nationalsozialismus, zumal sie von der ger-
manistischen Forschung bisher erst ansatzweise untersucht worden sind,
nicht völlig voraussetzungslos behandelt werden können, gebe ich zu-
nächst – allerdings in sehr gedrängter Form – einen Überblick über die
spezifische Schreibsituation im Getto und stelle die wichtigsten Textzeu-
gen kurz vor.3 Dabei wird zum Vorschein kommen, dass es neben den
üblichen, textsortenspezifischen Merkmalen fast immer grammatische
Merkmale sind, die einen im Getto verfassten Vertreter einer Textsorte
Tagebuch, Enzyklopädie oder Chronik von ihren Geschwistern unterscheiden,
die unter sozusagen normalen Umständen entstehen oder entstanden sind.
Mein besonderes Augenmerk möchte ich dann im zweiten Teil auf die
grammatische Variation im Haupt-Textzeugen des Gettos, der Chronik des
Gettos Lodz / Litzmannstadt, legen. Unter grammatischer Variation möchte
ich hier Merkmale subsumieren, die zum Zeitpunkt ihrer Verwendung
bereits als unüblich und veraltet gelten oder selbst niemals Bestandteil der
Norm der deutschen Standardsprache gewesen sind. Welche Funktionen
diesen Merkmalen zukommen, erschließt sich am besten, wenn man sie im
Kontrast zu der in der Chronik gleichfalls vorhandenen lexikalischen Va-
riation betrachtet. Dahinter steckt die Überzeugung, dass sprachliche, also
auch grammatische, Merkmale nicht isoliert, sondern stets im wechselsei-
tigen Zusammenspiel ihre Bedeutung finden. Im Folgenden geht es mir
daher nicht vorrangig um eine detaillierte Darstellung einzelner – selte-
ner – grammatischer Merkmale, sondern um die Funktion, die sie in ei-
nem größeren Textzusammenhang bekommen.

_____________
2 Vgl. Riecke (2009), bes. 107-114.
3 Dazu ausführlicher Löw (2007, 145ff.); Feuchert (2007, 167ff.). Vgl. auch ders. (2004).
Grammatische Variation in einer Chronik 1029

2. Die Schreibsituation
im Getto Lodz / Litzmannstadt
Die Errichtung des Gettos Lodzer bzw. Litzmannstadt, so lautete der
Name der Stadt nach der Umbenennung nach einem deutschen General,
gehörte zu den ersten Maßnahmen der deutschen Besatzer in Polen. Auf
engstem Raum vegetierten zeitweilig bis zu 160.000 Menschen. Das Getto
bestand in den Jahren 1940 bis 1944. Dieses Leben war für die meisten
Bewohner geprägt durch die völlige Abgeschlossenheit von der Außen-
welt, die schlechte Versorgungslage und den Wechsel von erzwungener
Untätigkeit und erzwungener Schwerstarbeit bei Arbeitseinsätzen. Die
Menschen waren entkräftet und hungerten. Dazu kam die völlige Unge-
wissheit über das weitere Schicksal.
Es fällt heute schwer zu glauben, dass Menschen unter diesen extre-
men Bedingungen überhaupt willens und in der Lage waren, Texte zu
verfassen. Aber für viele war das Schreiben offensichtlich die einzige
Möglichkeit, das täglich erlebte Grauen wenigstens ansatzweise zu verar-
beiten. Neben der vor diesem Hintergrund entstandenen ‚privaten Schrift-
lichkeit‘, die sich vor allem in Tagebüchern und Essays niederschlägt, gibt
es unter den Bedingungen des Gettos auch eine gewissermaßen ‚halböf-
fentliche‘ Schriftlichkeit, deren Textzeugen das Schreiben unter dem Na-
tionalsozialismus durch sonst bisher nicht bekannte Varianten bereichern.
Um das Überleben, oder zumindest doch das Weiterleben einer größeren
Gruppe der Gettoinsassen zu sichern, hat die jüdische Getto-Selbstver-
waltung das Getto in Übereinstimmung mit den deutschen Behörden in
eine Produktionsstätte für die Erzeugung ziviler und kriegswichtiger Er-
zeugnisse aller Art umgewandelt. Dies bedeutete aber nun zugleich, dass
diejenigen, die ohne feste Arbeit waren, in höchstem Maße von der De-
portation in das Vernichtungslager Kulmhof bedroht waren. Für die große
Zahl der Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Künstler, die
nicht ohne Weiteres in den Produktionsprozess eingegliedert werden
konnten, wurden daher geeignete Arbeitsplätze in der Getto-Verwaltung
geschaffen. So erklärt sich auch die Errichtung einer „Statistischen Abtei-
lung“ und eines „Archivs“, deren ‚Beamte‘ maßgeblich mit der Abfassung
von Texten über den Alltag im Getto befasst waren. Die spezifischen
Lebensumstände des Gettos haben, anders als etwa in einem Konzentrati-
onslager, trotz aller Beschränkung der persönlichen Freiheit den Men-
schen doch noch den Raum zur Verfertigung von Texten gelassen. Zwei
Beispiele sollen das verdeutlichen:
1030 Jörg Riecke

2.1. Das 1. Beispiel: Wozu noch Welt.


Das Tagebuch des Oskar Rosenfeld

Das Tagebuch des Wiener Germanisten, Schriftstellers und Journalisten


Oskar Rosenfeld markiert einen extremen Punkt dessen, was mit Sprache
zum Ausdruck gebracht werden kann. Seinen Versuch beschreibt er selbst
so:4
Umschreibend sagen, ganz sachlich, kurze Sätze, alles Sentimentale beseitigen,
fern von aller Welt sich selbst lesen, ohne an Umgebung denken, allein im Raum,
nicht für die Menschen bestimmt, als Erinnerung für spätere Tage.
Hier wird thematisiert, was ich im Anschluss an Andreas Gardt als die
sprecherorientierte Funktion der Sprache bezeichnen möchte.5 Die Texte
sind nicht für andere Leser bestimmt, sondern sie dienen dazu, ‚sich
selbst‘ zu lesen. Ein solcher Text nimmt zwar auf Sachverhalte und Ge-
genstände der Wirklichkeit Bezug, die Appellfunktion der Sprache rückt
dagegen in den Hintergrund. Der monologische Sprachgebrauch verliert
bei Rosenfeld jedweden rhetorischen Schmuck. Die tägliche Aussichtslo-
sigkeit des Gettolebens wird in längeren Aufzählungen eingefangen:
Manche Lager sind mit Stricken umspannt, an denen feuchte Wäsche hängt. Nur,
daß die Freizügigkeit fehlt. Man rückt zusammen, soweit es eben geht. Kinder lal-
len, weinen, greinen, und viele Kranke geben die Laute ihrer Krankheit von sich.
Husten, Zischen, Fauchen, Kratzen, Stöhnen, Ächzen, Schluchzen, Hin- und
Herwälzen, Stöhnen, Knarren der Holzbretter und animalische Geräusche füllen
die Leere der Nacht.6
Während zu Beginn der Aufzeichnungen trotz aller von Rosenfeld beab-
sichtigten Knappheit aber zumeist doch noch vollständige syntaktische
Strukturen vorherrschen, werden mit fortschreitender Zeit die Eintragun-
gen immer ungrammatischer:
8. Juni [1942]. Diebe, Diebe … Die grossen Ereignisse dringen über den Draht.
Gesicht des Gettos. An den Straßenecken Kinder barfuß Sacharine original …
Männer braun wie Hamals auf dem Balkan mit Stricken als Lastträger, Jude nicht
zu erkennen … Zerbrochene Fensterscheiben … Hinten in der dunklen Stube
trotz hellem Tageslicht liegt in einem alten zerbrochenen Bett (mit Kissen und
Decke voller Fliegendreck und Wanzenblut) ein Sterbender. Picture. oj weh is
mir.
5. August [1942] Angst im Getto. Graben überall seit der Zeit, wo Luftschutz
vorbereitet worden war. Wache beim Graben. Wozu? Niemand weiß. Wer weiß
wozu Gräber noch immer gehütet! Vielleicht uns ermorden und in Graben wer-
fen oder gar lebendig hinein am Tag des Endes? Ähnliche Graben tote Soldaten
_____________
4 Rosenfeld (1994, 36).
5 Vgl. Gardt (1995, 153ff.).
6 Rosenfeld (1994; 49).
Grammatische Variation in einer Chronik 1031

geworfen in Massen übereinander … Einer blickt den anderen stumm und


furchtbar traurig an.
18.IV. [1943] Aschkenes am Draht. Langweilt sich, schießt auf Vorübergehende.
Knall. knall. Manchen Tag bis 10 Personen … Aschkenes schießt mit Gewehr
aus nächster Nähe, zweimal, tot … Niemand wagt auf die Gasse, Schwerkranke
möchten Arzt. Arzt wagt nicht zu kommen …7
Die Tagebuchaufzeichnungen werden damit zu einem einzigartigen Ver-
such, das erlebte Grauen in sprachlicher Form möglichst unmittelbar wie-
derzugeben. Die so entstandenen Sprachtrümmer sind keine interpersona-
len kommunikativen Handlungen, sondern introvertierte, nicht partnerbe-
zogene Monologe. Den letzten Schritt, die völlige Zerstörung der Sprache
vergleichbar einer globalen Aphasie bis hin zum Verstummen vollzieht
Oskar Rosenfeld jedoch nicht. Dieser Schritt bleibt aus, solange selbst im
Getto noch Hoffnung auf Überleben besteht. Solange sie besteht, dienen
die Aufzeichnungen in erster Linie der seelischen Entlastung des Schrei-
bers. Rosenfeld will mit seinem Tagebuch zeigen, dass es im Getto nur
Angst, Demütigung und Entwürdigung gibt, aber keinerlei Vernunft, Lo-
gik und Kausalität. Beim Stichwort „Kausalität“, das Rosenfeld selbst
mehrfach gibt, kann eine grammatisch geschulte Leserin oder ein gramma-
tisch geschulter Leser nun beispielsweise überprüfen, ob und in welchem
Maße das Tagebuch kausale Subjunktionen enthält, die dann im Wider-
spruch zu Rosenfelds Intention stehen müssten. Die Lektüre zeigt aber,
dass über Dutzende von Seiten hinweg so gut wie überhaupt keine kausa-
len oder auch finalen Subjunktionen auftreten. Solche Subjunktionen be-
gegnen überhaupt nur dann, wenn nationalsozialistische Befehle und
Phrasen kommentiert werden. So etwa bei der Schilderung der Abnahme
aller Wertgegenstände auf dem Prager Bahnhof:
… Abgabe des ganzen Geldes und Goldes ohne Bestätigung. (Abliefern, weil
Raub am deutschen Volk).8
Beim Versuch, die Lebensumstände im Getto so unmittelbar wie möglich
wiederzugeben wird offensichtlich, dass bei der Beschreibung des Getto-
Alltags für kausale oder finale Verknüpfungen kein Platz ist. Das Getto ist
ein Raum außerhalb jeder Kausalität, jeder zielgerichteten Normalität. Die
alltägliche Aussichtslosigkeit wird vor allem mit Hilfe paralleler Konstruk-
tionen und Aufzählungen versprachlicht.9

_____________
7 Ebd., 206.
8 Ebd., 44.
9 Dazu ausführlicher Riecke (2006, 82ff.).
1032 Jörg Riecke

2.2. Das 2. Beispiel: Die Lodzer Getto-Enzyklopädie

Die Lodzer Getto-Enzyklopädie gehört – im Gegensatz zum privaten


Tagebuch Rosenfelds – zu den großen Projekten der „Statistischen Abtei-
lung“. Sie entsteht folglich in einem zumindest halb-öffentlichen Raum.
‚Halb-öffentlich‘ möchte ich ihn deshalb nennen, weil für die Verfasser
unklar war, ob ihre Texte jemals würden gelesen werden. Das Ziel der
Enzyklopädie, die auf Karteikarten angelegt wird, ist der Versuch einer
Kulturgeschichte des Gettos. In Lexikonform enthält sie Einträge zu Per-
sonen, Institutionen und Bezeichnungen der Getto-Sondersprache.
Sprachlich besonders markant ist in der Enzyklopädie der Tempus-
Gebrauch. Hier wird durch die Wahl des Präteritums das Leben im Getto
als eine vergangene Episode der Geschichte dargestellt. Es handelt sich,
um mit Harald Weinrich zu sprechen, um eine „erzählte Welt“. Ein Bei-
spiel:10
Rojtes Hajzel. Das Gebäude, welches die deutsche Kriminalpolizei / Kripo im
Getto beherbergte. Es lag gegenüber der Marienkirche, der Hauptkirche des
Stadtteiles, der zum Wohngebiet der Juden gemacht wurde. Ein einstöckiger Bau
in schlichtem gotischen Stil aus roten Backsteinziegeln, ursprünglich das zur Ma-
rienkirche gehörende katholische Pfarramt. O.R.
Nach Harald Weinrich besagen Sätze der „erzählten Welt“,
daß nicht die Umwelt gemeint ist, in der sich Sprecher und Hörer befinden und
unmittelbar betroffen sind. Sie besagen, daß die Redesituation, abgebildet im
Kommunikationsmodell, nicht auch zugleich Schauplatz des Geschehens ist und
daß Sprecher und Hörer für die Dauer der Erzählung mehr Zuschauer als agie-
rende Personen im theatrum mundi sind.11
Die Autoren der Getto-Enzyklopädie befinden sich aber in eben genau
der Redesituation, an genau dem Schauplatz des Geschehens, über den sie
im Präteritum schreiben. Während Oskar Rosenfeld diesen Artikel
schreibt, werden zur selben Zeit im „Rojten Hajzel“, also in unmittelbarer
räumlicher Nähe, Menschen verhört, gefoltert und ermordet. Tatsächlich
beherbergt das „Rojte Hajzel“ nach wie vor die deutsche Kripo. Das Prä-
teritum beherbergte trifft auf die reale Schreibsituation nicht zu. Diese
Schreibhaltung ist nur möglich, weil auch diese Texte nicht für Leser ge-
schrieben sind. Sondern in erster Linie zur Bewältigung der eigenen, mo-
mentanen bedrohlichen Lebenssituation. Wird sie als bereits abgeschlos-
sen beschrieben, kann sie leichter ertragen werden.12

_____________
10 „Getto-Enzyklopädie“, zitiert nach Riecke (2006, 92). Eine Edition der Enzyklopädie ist in
Vorbereitung.
11 Weinrich (1994, 47).
12 Dazu ausführlicher Riecke (2006, 91f.).
Grammatische Variation in einer Chronik 1033

3. Die Chronik des Gettos: Grammatische Variation


und editorische Zweifelsfälle
Das Hauptwerk der „Statistischen Abteilung“ ist die Getto-Chronik, die –
einschließlich aller bisher gefundenen Varianten – mehr als 4.500 Maschi-
nen-Seiten umfasst. Es handelt sich dabei um einen journalistischen, zu-
nächst durch Überschriften wie Wetter, Sterbefälle, Festnahmen, Bevölkerungs-
stand und Approvisation gegliederten Text. Die Autoren Rosenfeld und
Singer verfolgten das Ziel, die täglichen Nachrichten über das Leben im
Getto durch eine feste journalistische Form berechenbar und ertragbar zu
machen. Damit wird auch mit diesem Text eine neue, andere Wirklichkeit
erzeugt. Auf die statistischen Angaben und Tagesnachrichten folgen ab
1943 dann aber auch Rubriken wie Man hört, man spricht, Kleiner Getto-Spiegel
und Getto-Humor. Die Chronik wird damit wie eine Tageszeitung zu einem
Textsortenensemble, das Raum für verschiedene, informierende wie auch
– im weitesten Sinne – unterhaltende Textsorten lässt. Durch solche Rub-
riken wird die Getto-Chronik zugleich zu einer Textsortenvariante der
Textsorte Chronik, in der nicht nur Ereignisse berichtet, sondern auch
feuilletonistisch kommentiert und umgedeutet werden.13
Der einzigartige Charakter des Textes soll durch die Edition nicht ge-
glättet, sondern hervorgehoben werden. Diese editorische Vorentschei-
dung wirft jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten auf, von denen einige
wiederum mit der besonderen Schreibsituation verbunden sind. Da ein
nicht eben geringer Teil der Einträge von den Chronisten diktiert und von
„Sekretärinnen“ in die Maschine getippt wurde, sind die Texte anfällig für
Hör- und Schreibfehler. Viele Einträge wurden später von Hand korri-
giert, aber keineswegs alle. Eine unbekannte Zahl korrigierter Durchschlä-
ge dürfte zudem verloren gegangen sein. Offensichtliche Tippfehler wur-
den daher in der Edition stillschweigend korrigiert.14
Schwer fällt die Entscheidung dort, wo eine zeitweilig im Archiv be-
schäftigte „Sekretärin“ stark landschaftlich geprägte Schreibformen ver-
wendet. So finden wir etwa Abschnitte mit vielen ostmitteldeutschen Be-
sonderheiten wie etwa Entrundungen des Typs endgiltig. Solche Eigen-
heiten werden in der Edition bewahrt, um die Heterogenität des Textes
nicht zu überdecken. An solchen Stellen zeigt sich, dass Überlieferungsge-
schichte von Texten aus dem Holocaust immer zugleich auch Opferge-
schichte ist.

_____________
13 Man vergleiche dazu ausführlicher die in Anm. 3 genannte Literatur.
14 Zur Schreibsituation der Chronisten und weiteren editorischen Problemen vgl. Leib-
fried / Turvold (2007, Bd. 5, 205ff.).
1034 Jörg Riecke

Aber nicht nur die Schreiberinnen, auch die Chronisten selbst bringen
in nicht geringem Maße regionalen Sprachgebrauch in die Chronik ein.
Das zeigt sich an vielen Lexemen, meist Fremdwörtern, die aus der öster-
reichischen Amts- und Verwaltungssprache stammen. Sie gehören, da
über Wörterbücher meist auch in ihren graphischen Variationen eindeutig
identifizierbar, nicht zur Gruppe der editorischen Zweifelsfälle. Dazu
zählen eher morphologische Abweichungen von der deutschen Standard-
sprache, etwa Pluralbildungen wie Läger statt Lager und Wägen statt Wagen
oder das Wortbildungsmorphem -hältig statt -haltig, die für die oberdeut-
sche Herkunft der Chronisten kennzeichnend sind. Noch heute sind für
das österreichische Deutsch unter anderem folgende Erscheinungen cha-
rakteristisch:
 das grammatische Geschlecht der Substantive 15
 die Aussprache bzw. Schreibung von Fremdwörtern 16
 Fugenelemente in der Komposition. 17
Für all diese Merkmale lassen sich in der Chronik – in unterschiedlicher
Dichte und Häufigkeit – Beispiele finden, etwa Fabrikszigarette statt Fabrik-
zigarette, der Kartoffel statt die Kartoffel oder Fremdwortschreibungen wie
Brochen 'Broschen', Emmission, Plaidoyer, Restringtion und Strapazzen. Beson-
ders auffällig sind die immer wiederkehrenden Schwankungen im Kasus-
gebrauch, insbesondere bei der Verwendung von Dativ und Akkusativ:
Es verlautet, dass erst nach den 1. März derartige Bitten behandelt werden kön-
nen (Chronik, 23.2.1943); 18 … bis in den späten Abendstunden hatte er nichts zu
sich genommen (15.12.1943); Der Offizier stellte den Präses einige Fragen
(3.1.1944); … und unbedingt vermeiden, dass jemand anders in dem Genuss die-
ser Wohltat gelangt (25.6.1943); Von diesem Gesichtspunkt aus interessiert ihm
nicht die Familie der Arbeitenden (16.10.1943); im Einklang zu bringen
(5.1.1944); im Umlauf gesetzt (22.2.1944); … wobei die unbeteiligten Zuschauer
der Magen knurrte (19.4.1943).
Nur ganz selten sind diese Abweichungen in einem anderen Textzeugen
korrigiert worden, so etwa „Küchenpersonal in frischer, sauberer Klei-
dung wartete bei vollen Kesseln, Pfannen sozusagen auf den [in einer
anderen Fassung korrigiert: aus dem] Gongschlag“ (25.6.1943).
Es gehören hierher auch die Adverbvarianten hieher, hiefür oder hiemit
als Kurzformen statt der seit Adelung üblichen hierher, hierfür, hiermit. In
_____________
15 Vgl. Ammon (2004, LXIII-LXXI).
16 Vgl. ebd., LIX-LXII.
17 Vgl. ebd., LXXIIf.
18 Hervorhebungen durch J.R. – Alle Belege aus der Chronik des Gettos Lodz / Litzmann-
stadt (wie Anm. 1). Man vergleiche auch Riecke (2007, 191ff.).
Grammatische Variation in einer Chronik 1035

der Chronik sind sie annähernd der Regelfall. Solche Kürzungen finden
sich durchaus schon im Althochdeutschen, sind bei Luther die Regel, bei
Goethe noch – gegen Adelung – in der Überzahl. Typisch südost-deutsch
ist auch die Verwendung von wieviel, soviel statt wieviele, soviele auch dann,
wenn kein Adjektiv mit klarer Kasuskennzeichnung folgt. In den in Wien
verfassten Tagebüchern Elias Canettis, der als gebürtiger Bulgare Deutsch
nur aus einer Grammatik gelernt hat und daher ein exzellentes Standard-
Deutsch schreibt, ist dieser Gebrauch von wieviel nebenbei bemerkt das
einzige regionalsprachliche Merkmal.
Alle diese Merkmale prägen den Text nachdrücklich und sind deshalb
nicht an die Normen des Gegenwartsdeutschen in Deutschland angepasst
worden. Eine solche Entscheidung wäre auch deshalb nicht zu verantwor-
ten gewesen, weil zum Zeitpunkt der sprachlichen Sozialisation der Chro-
nisten, also etwa im Zeitraum um das Jahr 1900, selbst die Grammatiken
und Sprachratgeber in der Orthographie und Formenbildung zahlreicher
Wörter schwanken. Und dies verstärkt sich umso mehr, je weiter man sich
von den duden-geprägten orthographischen Zentren des ostmitteldeut-
schen Raumes entfernt. Die Durchsicht der Chronik gibt viele Hinweise
darauf, dass die Art eines großen Teils der Abweichungen tendenziell dem
entspricht, was sich beispielsweise auch für den Sprachgebrauch Franz
Kafkas sagen lässt.19 Hier kommt hinzu, dass einzelne Formen – wie etwa
in dem Satz „ich sende auch heute die Zeitung, Äpfel und paar Nüsse“ im
so genannten Prager Deutsch unter dem Einfluss des Tschechischen ent-
standen sein dürften.20 Man vergleiche: „Das Gemüse / Kopfsalat / klein
geschnitten mit paar Kartoffeln und wenig Wasser weichkochen“
(21.6.1943). Heutigen Kennern der deutschen Gegenwartssprache er-
scheinen solche Sätze ungrammatisch, sie sind jedoch nur Bestandteil
eines anderen Schreibusus.
In die Edition Eingang gefunden haben auch eine ganze Reihe weite-
rer Abweichungen, die jedoch beim derzeitigen Forschungsstand nicht
ausschließlich als regionale Abweichungen gedeutet werden dürfen. Hier
handelt es sich um einige syntaktische Besonderheiten, die heute in
Deutschland und Österreich als ungewöhnlich empfunden werden. Dazu
gehören die so genannte ‚Inversion nach und‘ sowie einige Auffälligkeiten
bei der Kongruenz von Subjekt und Prädikat.
Zunächst einige Beispiele für die Inversion nach und:21

_____________
19 Vgl. dazu Bauer (2007, 42ff.); Blahak (2007, 79ff.).
20 Julie Kafka an Franz, zitiert nach Bauer (2007, 59).
21 Maßgeblich zur Inversion nach und ist noch immer Behaghel (1932, 30ff.), der die Kon-
struktion bereits 1932 als „veraltet“ einstuft. Vereinzelte Beispiele finden sich allerdings,
abgesehen von den Buddenbrooks auch in Thomas Manns Josephs-Roman und im Dr. Faustus.
1036 Jörg Riecke

Der Mann wurde den Behörden ausgeliefert und sind im Zusammenhang mit
dieser Affäre schon 180 Personen im Getto verhaftet worden (15.2.1943); Der
Transport hätte in den heutigen Morgenstunden abgehen sollen und stand die
Gruppe bereits reisefertig im Hofe des Zentral-Gefängnissen (9.3.1944); Die
Transporte fahren jeweils um 7 Uhr früh ab und muss mit dem Einladen um 6
Uhr früh begonnen werden (18.6.1944); Dortselbst werden die Möbel, Hausgerä-
te, Waren, Wäsche, Kleider u.s.w. geschätzt, und wird der Gegenwert bar ausge-
zahlt (20.6.1944).
Damit verwandt sind Sätze, in denen das Pronomen fehlt:
Der Preis für den Talon beträgt Mk. 2,- und werden den Betrieben schon in den
nächsten Tagen zugestellt (8.11.1943)
Vereinzelt erscheint die Inversion auch nach sondern:
Ab nächster Woche werden diese Trauungen nicht mehr am Kirchplatz 4 statt-
finden, da der hiezu gewählte Saal sich als zu klein erwies, sondern wird der Prä-
ses im Kulturhause die heiratslustigen Paare zusammenführen (27.12.1942).
Die Chronisten verwenden darüber hinaus immer wieder auch Konstruk-
tionen, in denen keine Kongruenz von Subjekt und Prädikat besteht. Das
findet sich fast immer in Verbindung mit Substantiven wie Teil oder An-
zahl, auf die ein Prädikat im Plural folgt. Etwa in:
… und referierte, so dass noch ein Teil dieser Personen eine Zuteilung erhielten“
(18.4.1943); Es verbreitete sich sofort das Gerücht, dass wieder eine grosse An-
zahl von Maennern zur Arbeit ausserhalb des Gettos angefordert wurden
(31.8.1943).
In anderen Fällen richtet sich das Prädikat nach dem Objekt, so in:
Der bekannte Spezialarzt Dr. Mazur, den der Praeses seinerzeit aus Warschau ins
Getto gebracht hat, ging gerade in der Richtung Siegfriedstrasse, als ein Auto mit
zwei Herren der Getto-Verwaltung und A. Jakubowicz vorbei fuhren (7.10.1943).
oder
Das Gebäude Hanseatenstrasse 63, wo sich die Privatwohnung des Praeses und
der Familie Fuchs befinden (15.2.1944).
Man fühlt sich erinnert an eine veraltete Konstruktion des Englischen
vom Typ „I and my colleges are discussing it“ bzw. „My colleges and I am
discussing it“, wo Singular oder Plural nach dem Prinzip nearest to the predi-
cate verteilt wird. Für das Beispiel „Das Feuer wurde erstickt und die Ka-
mine gefegt“ (7.4.1944) gilt, dass sich das Prädikat nach dem ersten Sub-
stantiv richtet. Beim zweiten Beispiel „Aber hundert Fälle, die kompli-
zierter liegen, weil Familie mit Familie zusammenleben, sind noch
ungelöst“ (5.6.1944), ist ebenfalls das erste Substantiv maßgebend, aber
hier könnte für weil Familie mit Familie zusammenleben auch an das Phäno-
men des Mengenplurals gedacht werden, das im Englischen etwa in Sätzen
wie: „The police are coming“ auftritt.
Grammatische Variation in einer Chronik 1037

Auffällig ist schließlich auch die Flexion des Wortes Kartoffel, das nicht
durchgängig, aber doch in gewisser Häufigkeit dann nicht flektiert wird,
wenn eine unbestimmte Menge zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein
Beispiel für viele: „Das Getto atmet auf und mit jedem Wagen Kartoffel,
das über den Baluter Ring ins Getto rollt […]“ (17.7.1943). An dieser
Stelle wurde ein sogar zunächst getipptes n (Kartoffeln) nachträglich gestri-
chen. Abweichend ist die Pluralbildung im Akkusativ häufig auch bei den
Lebensmittel statt Lebensmitteln oder Instruktore statt Instruktoren.
Die große Zahl an systematisch wiederkehrenden Abweichungen von
der Norm der deutschen Gegenwartssprache lässt – insbesondere im
Hinblick auf das historische (Prager) Deutsch Franz Kafkas – auf die
Existenz eines vermutlich süddeutsch-österreichisch-habsburgisch gepräg-
ten Schreibusus schließen, der allerdings erst in Ansätzen untersucht ist.
Wenn es neben dem preußisch-norddeutsch geprägten Duden-Deutsch
eine Varietät der deutschen Standardsprache gab, dann ist auch in editori-
schen Zweifelsfällen ein größtmögliches Maß an Zurückhaltung geboten.
Deshalb ist auch bei der Großschreibung von adjektivischen Komposita
mit einem Substantiv als Bestimmungswort (Betrachtkommend, Knochenent-
kalkt), der Wiedergabe von Tageszeiten („Mittag 5 Grad Wärme“, Inzwi-
schen ist es spät abends geworden“), dem Gebrauch des Genitivs („wegen
Diebstahl“, „wegen Wiederstand“) oder im Fall von bestimmten Formen
der Kürzung wie etwa „3 Lungenentzündung“ oder „3 Tuberkul. Gehirn-
hautentzündung“ statt „3 Fälle von Lungenentzündung“ oder „3 Tuber-
kul. Gehirnhautentzündungen“ der Sprachgebrauch des Originals bewahrt
worden, auch dann, wenn er wegen der komplizierten Schreibsituation
selten einheitlich ist. In all diesen Fällen ist die Menge der gleichartigen
Abweichungen dennoch so groß, dass nicht von Fehlern oder Irrtümern im
herkömmlichen Sinne gesprochen werden kann.

4. Resümee
Die Texte aus dem Getto Lodz / Litzmannstadt besitzen eine Reihe lexi-
kalischer, besonders aber auch grammatischer Merkmale wie den spezifi-
schen Gebrauch des Dativs statt des Akkusativs oder die anders gesteuerte
Kongruenz von Substantiv und Prädikat, die zur Zeit der Abfassung der
Chronik nicht Bestandteil der Standardsprache waren. Die Autoren haben
selbst, soweit sich dies heute rekonstruieren lässt, vor ihrer Deportation
diese Merkmale nicht verwendet, sondern sich exakt an die geltende Stan-
dardnorm gehalten. Ganz offensichtlich haben die Chronisten versucht,
sich auch sprachlich von dem Deutsch ihrer nationalsozialistischen Zeit-
genossen zu unterscheiden. Die sprachliche Variation insbesondere in der
1038 Jörg Riecke

Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt kann daher als eine Art sprach-
lichen Widerstandes gedeutet werden. Die Getto-Chronik wäre dann der
letzte Zeuge einer südlichen Varietät der deutschen Standardsprache, die
von ihren Autoren, assimilierten modernen Juden des 20. Jahrhunderts,
eigentlich schon aufgegeben war, aber noch einmal eingesetzt wurde, um
sich vom nationalsozialistisch kontaminierten Deutsch der 40er-Jahre
abzugrenzen. Es gehört zu den vordringlichen Aufgaben der Sprachger-
manistik, diese verlorene Varietät genauer zu untersuchen.

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Das simulierende es
Zur valenztheoretischen Beschreibung des nicht-phorischen
es am Beispiel eines neuhochdeutschen Textes

Dániel Czicza (Kassel)

1. Einleitung
Im Untertitel ihres 1995 in der Deutschen Sprache erschienenen Aufsatzes
bezeichnete Gisela Zifonun das nicht-phorische es als „Prüfstein gramma-
tischer Theoriebildung“. Dies spiegelte die Tatsache wider, dass der eine
„Zweig“ der einschlägigen Forschung sich intensiv mit dem syntaktischen
Status von es und dessen theoretischer Beschreibung und Erklärung ausei-
nandergesetzt hatte, was Konsequenzen für die jeweilige Grammatiktheo-
rie nach sich gezogen hat.1 Ein anschauliches Beispiel hierfür war und ist
die Behandlung von es in generativen Arbeiten, die dort einerseits zu der
Annahme eines Wandels der strikten Subkategorisierung bzw. verschiede-
ner Basisgenerierungsmöglichkeiten bei Verben führte (vgl. bspw. Pütz
1975, Lenerz 1985 und Cardinaletti 1990), andererseits die Etablierung
leerer Kategorien („dummy“ oder „empty category“, vgl. Hoeing 1994)
nach dem so genannten Leerstellenprinzip bewirkte, was wiederum be-
kanntlicherweise einen wesentlichen Beitrag zu der Diskussion über Posi-
tion und Generierung des Subjekts in der X-bar-Theorie leistete (vgl. dazu
Haider 1993, 132ff.).
Mit Zifonun (1995, 59) wird an dieser Stelle die Ansicht vertreten,
dass die vorfindlichen generativen Beschreibungen des nicht-phorischen es
nicht im Stande sind, dessen oberflächensyntaktisch ermittelbares gram-
matisches Verhalten adäquat zu erfassen. Den eingangs erwähnten Ge-
danken Zifonuns aufgreifend ruft daher der vorliegende Beitrag eine ande-
re Grammatiktheorie, nämlich die Valenztheorie, zu Hilfe und setzt sich
zum Ziel,

_____________
1 Der andere „Zweig“ ist gekennzeichnet durch Versuche, die verschiedenen es-Gebrauchs-
weisen zu klassifizieren, vgl. u.a. Pütz (1975), Admoni (1976) und Askedal (1990).
1042 Dániel Czicza

1. den Begriff der „Valenzsimulation“ (Ágel 2000a, 229) auf die Be-
schreibung des nicht-phorischen es anzuwenden und daran anknüp-
fend
2. den Status des Korrelat-es zwischen phorischen und nicht-
phorischen es-Vorkommen zu bestimmen.
Die folgenden Überlegungen bilden einen Teil einer größeren Arbeit, in
der eine umfassende funktional-grammatische Beschreibung des es-
Gesamtsystems2 im Neuhochdeutschen auf empirischer Basis unter Be-
rücksichtigung neuester grammatiktheoretischer Ergebnisse angestrebt
wird. Als Materialbasis für die kommende Darstellung dient ein neuhoch-
deutscher Text aus dem 18. Jh. (Nehrlich 1723 / 1997), der die Aufzeich-
nungen eines Handwerkers im Zusammenhang mit einem religiös moti-
vierten Streit im späten 17. Jh. beinhaltet. Der Beitrag gliedert sich in vier
Teile: Zunächst sollen die beiden Grundtypen, das phorische und das
nicht-phorische es, kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran wird der
Begriff der Valenzsimulation erklärt, wobei zwei Typen der Simulation
angenommen und beschrieben werden. Darauf folgt ein Kapitel zum Kor-
relat-es, in dem ein möglicher Weg der Integration dieser es-
Gebrauchsweise ins es-Gesamtsystem und eine Erweiterung bzw. Präzisie-
rung der Valenzsimulationstypologie vorgeschlagen werden. Schließlich
werden die Ergebnisse zusammengefasst und Desiderata formuliert.

2. Phorisches und nicht-phorisches es


In der Forschungsliteratur zu es wird von zwei Grundtypen ausgegangen,
von einem phorischen und einem nicht-phorischen (vgl. u.a. Admoni 1976 und
Askedal 1990):
(1) so zeigte ichs auch meiner Frau, die sagte je das schöne buch, wo
habt ihr den das geld genommen darzu […] (145)
(2) aber ich muste wartten biß es Tag war. (69)3
(1), der „systematische Normaltyp“ (Askedal 1990, 214), repräsentiert den
phorischen Typus. Dieses es-Vorkommen verfügt über eine Referenzfunk-
tion, während dies in (2), einem Beispiel mit impersonalem es, nicht der
Fall ist. Diese Grobdifferenzierung wird funktional gerechtfertigt: Der
phorische Typus ist textbezogen beschreibbar, erfüllt also wichtige Funk-

_____________
2 Zu diesem Begriff und dem ihm zu Grunde liegenden Gedanken vgl. Admoni (1976, 225).
3 In Klammern steht die jeweilige Zeilenzahl der Dateiversion des Textes.
Das simulierende es 1043

tionen im Text (Verweis auf vorerwähnte Einheiten unterschiedlichen


Umfangs und verschiedener Art). Das nicht-phorische es ist grundsätzlich
ein formales Element mit (in bestimmten Fällen auch semantisch moti-
vierter)4 syntaktischer Funktion. Weitere phorische Gebrauchsweisen von
es sind (3) und (4), als nicht-phorisch gelten neben (2) auch (6), (7) und (8),
zu (5) s. weiter unten:
(3) Es war der Herr […] (412)
(4) ach meine liebe Mutter hat grose liebe und sorge vor mich, ach
ich kan es dem lieben Gott und ihr nicht gnug dancken. (189)
(5) es trug sich aber einmal zu, das ich beÿ meiner tochter, welche
noch durch Gottes gnade lebet, des Abends gantz alleine war [...]
(1814)
(6) es beschweret sich Ja nimand in der gantzen gemeinde über ihn
[…] (838)
(7) So bitter herbe und grausam ist mirs hernach vom teuffel [...]
(478)
(8) und wie es mir noch beÿ meinen Kindern ergehen wird, sol mir
Nun meine dochter in meinen seligen abschied die augen noch
zu drücken […] (2143)
In Anlehnung an Admoni (1976) und Czicza (2003) können die oben
stehenden es-Vorkommen als (auch grammatisch markierte) Stufen der
Referenz angesehen werden, wobei zwischen (1) und (3) sowie (4)und (5)
eine „Abnahme der konkreten Dinglichkeit“ (Admoni 1976, 222) erfolgt,5
die dann bei (2) bzw. (6) bis (8) in der semantischen Leere von es endet.
An dieser Stelle soll die phorische Dimension nur insofern differenziert
werden, als gegenüber dem in Grammatiken (vgl. etwa Eisenberg 2006,
173) und der Praxis üblichen Begriff des Pronomens in Anlehnung an
Schmidt (1987, 107) von einem pro-phrasalen (1), (3) und einem pro-
propositionalen es (4) gesprochen wird. Dadurch wird auch der Tatsache
Rechnung getragen, dass das phorische es nicht Wortkategorien, sondern
syntaktische Strukturen (vor allem Nominalphrasen) oder syntaktisch-
kategoriell schwieriger erfassbare Propositionen wiederaufnimmt. Für die
nicht-phorische Dimension werden im Weiteren die Termini Vorfeld-es
(vgl. Eisenberg 2006, 175; Beispiel (6)), Experiencer-Impersonalia (von
_____________
4 Vgl. Eisenberg (2006, 174).
5 Mit den beiden Stufen „Identifizierungs-/Charakterisierungskonstruktion“ (Askedal 1990,
214), repräsentiert durch (3), bzw. „verallgemeinernd-summierend“ (Admoni 1976, 219),
repräsentiert durch (4).
1044 Dániel Czicza

Seefranz-Montag 1995, 1279; Beispiel (7)) sowie fixes es6 (vgl. Zifonun
1995; Beispiele (2) und (8)) verwendet.
Während in der heutigen Forschungsliteratur größtenteils Konsens
darüber herrscht, das es in Beispielen wie (1), (3) und (4) bzw. (2) und (6)
bis (8) als phorisch bzw. nicht-phorisch einzustufen,7 scheiden sich die
Köpfe beim Korrelat-es (5). Zifonun (1995 bzw. 2001, 76) betrachtet das
Korrelat-es z.B. als einen Typus ohne Phorik und bezeichnet es als „rein
strukturelle[n] Verweis innerhalb des Satzes“, für Askedal (1990, 217) ist
es dagegen ein Typ mit (Kata-)Phorik. Wie in Kapitel 4 zu zeigen sein
wird, ist es möglich, das Korrelat-es als Zwischenstufe zwischen phori-
schem und nicht-phorischem es zu sehen, um dadurch das dichotomische
Verortungsproblem in grammatiktheoretischer Hinsicht auch historisch
vertretbar zu überwinden. Dass eine dichotomische Herangehensweise
hier zu kurz kommt, zeigen die Überlegungen in Czicza (2003, 39).

3. Das nicht-phorische es als Valenzsimulation


Unter grammatiktheoretischem Gesichtspunkt ist die Berücksichtigung
valenztheoretischer Überlegungen in der es-Forschung nicht neu. So fin-
den sich vereinzelt valenzielle Informationen u.a. bei Erben (1979), Aske-
dal (1990) und Helbig / Buscha (2001, Kapitel 6) bzw. dependenziell-
valenzielle in Eroms (2000, 188ff.). Für die Darstellung hier sind in erster
Linie die Überlegungen Ágels (2000a, 228 ff.) relevant, da diese eine detail-
liertere Analyse nicht-phorischer es-Vorkommen bieten. Daher sollen sie
im Folgenden dargestellt und weiterentwickelt werden.
Ágel bettet seine Ausführungen zum nicht-phorischen es in den
Kontext der strukturellen Valenzrealisierung ein (2000a, 228). Unter struktu-
reller Valenzrealisierung versteht er „Formen und Typen der grammati-
schen Realisierung der Valenz in verschiedenen Einzelsprachen bzw.
verschiedenen Varietäten derselben Einzelsprache [...]“ (2000, 105).8
Bezogen auf nicht-phorische es-Vorkommen geht es darum, dass die in
der herkömmlichen Terminologie formal (vgl. etwa Duden 2005, 830)
oder expletiv (vgl. etwa Eisenberg 2006, 174) genannten es-Subjekte (bzw.

_____________
6 Gelegentlich wird auch formales Subjekt- bzw. Objekt-es benutzt.
7 Abgesehen etwa von der Annahme einer übernatürlichen Größe als Referenzpunkt im
Hintergrund bei Behaghel (1923, 318), die im fixen es bei Witterungsimpersonalia (Typ: es
regnet) zum Ausdruck kommt.
8 Es ist wichtig zu betonen, dass es hier nicht um die kontextuell-situative Realisierung der Va-
lenz, also um das Verhältnis von Valenz und Text geht, sondern um Fragen der Sprach-
struktur und deren Verhältnis zur Valenz (ebd.).
Das simulierende es 1045

gelegentlich -Objekte)9 oberflächlich betrachtet so aussehen wie normale


Erst- oder Zweitaktanten, es in der Tat aber nicht sind, da sie die normale
Erst- bzw. Zweitaktantenrealisierung nur „simulieren“ (Ágel 2000a, 229),
ohne dass dabei die betroffenen Verben über die entsprechende Valenz-
potenz10 verfügen würden: Valenzsimulationen sind „als Nachahmungen
von Valenzrealisierungsstrukturen ohne realisierte Valenz(potenz) zu
definieren“ (Ágel 2000a, 229, Fußnote 27).
Dass der Erst- bzw. Zweitaktant nur nachgeahmt wird, erkennt man
daran, dass die formalen es-Subjekte und -Objekte „nicht Träger einer
semantischen Rolle und in diesem Sinn semantisch leer“ sind (Eisenberg
2006, 174). In valenztheoretischer Begrifflichkeit heißt dies, dass auch die
inhaltliche Spezifizität (INSP) der betroffenen Verben nachgeahmt wird,
dass das es also in diesen Fällen „(auch) semantische Rollen simuliert, d.h.
pseudo-agentiv oder pseudo-patientiv ist. Unter simulierter Valenz ist hier
also (auch) +Pseudo-INSP zu verstehen“ (Ágel 2000a, 230).11 Das Para-
debeispiel von Valenzsimulation stellen Witterungsverben (Typus: es regnet)
dar. Im Sinne der obigen Ausführungen sind diese Valenzträger mit Simu-
lations-es nullwertig, haben also kein Subjekt: „Des Subjekts Habitus wird
gemimt, auch dort, wo es keines gibt“ (Faucher 1996, 46).
Ágel (2000a, 230) thematisiert zwar vor allem Witterungsimpersonalia
wie es regnet / schneit / blitzt, geht aber in Anlehnung an Szatmári (1998)
auch auf andere es-Typen wie das Vorfeld-es oder das es in passivisch in-
terpretierbaren sich-lassen-Gefügen ein. Unter Rückgriff auf diese ersten
Ansätze zur Ausdehnung des Valenzsimulationsbegriffes auf weitere es-
Vorkommen sollen neben (6) bis (8) auch folgende Belege angeführt und
als Beispiele für Valenzsimulation interpretiert werden:
(9) [...] als es nun rund in der stuben glimmete, so fingen hernach am
ende rechte flammen /an zu brennen/, das es recht helle brande
[...] (285f.)
(10) es gibt schon leute in unserer gemeinde [...] (535)
(11) So waren Nun Meine eigene geschwistern (mit denen ichs doch
ieder Zeit ohn falsch mit ihnen meinete) die ersten über mir,
durch Gottes Verhencknis an gesporet [...] (2046)
In all diesen Fällen liegt ein semantisch leeres, Agentien bzw. – in (11) –
Patientien nachahmendes es vor, wobei diese Belege in semantischer Hin-
_____________
9 Vgl. hierzu u.a. die Beispiele im Duden (2005, 831).
10 Unter Valenzpotenz ist die Fähigkeit von relationalen Sprachzeichen, die der Kategorie Verb
angehören, zu verstehen, „die semantische und syntaktische Organisation des Satzes zu
prädeterminieren“ (Ágel 2000a, 105).
11 Vgl. auch den Begriff „Pseudoaktant“ im Duden (2005, 830).
1046 Dániel Czicza

sicht recht heterogen sind, man findet hier es-Vorkommen, die Naturer-
scheinungen, Zeitverhältnisse, Existenz usw. zum Ausdruck bringen (vgl.
auch Helbig / Buscha 2001, 398ff.). Und obwohl sie in Anlehnung an
Ágel (2000a, 229) alle Valenzsimulationen darstellen, sind sie nicht nur
semantisch heterogen, sondern auch syntaktisch. Auch Ágel (ebd.) räumt
ein, dass man hier „den teils differierenden Eigenschaften der nicht phori-
schen es-Typen Rechnung tragen [...]“ sollte. So stellt Szatmári (1998,
235ff.) bezogen auf die von ihr untersuchten sich-lassen-Fügungen und
andere es-Vorkommen (s. o.) fest, dass verschiedene Stufen der Sub-
jekthaftigkeit von es anzunehmen sind in Abhängigkeit von dessen obliga-
torischer oder fakultativer Setzung bzw. Nicht-Realisierung im Vor- und
Mittelfeld. Tatsächlich gilt, dass das Vorfeld-es bei Besetzung des Vorfel-
des durch ein anderes Element obligatorisch wegfällt, während das fixe es
in jeder Position vorhanden sein muss12 und das es in sich-lassen-Gefügen
unterschiedliche Verhaltensmuster zeigt (ebd.). An dieser Stelle muss dar-
auf hingewiesen werden, dass unter „Subjekt-“ in „Subjekthaftigkeit“ im
Sinne der obigen Überlegungen simulierte Subjekte zu verstehen sind. Um
dem heterogenen Wesen nicht-phorischer es-Typen Rechnung zu tragen,
zieht Ágel (2000a, 230) die Grammatikalisierungstheorie heran und postu-
liert eine Skala mit zwei „Extremen“:
Das eine Extrem stellen dabei primär nullwertige VT [Valenzträger, D.C.] dar,
deren Valenzsimulation voll grammatikalisiert ist (Typ: es blitzt). [...] Das andere
Extrem mit es nur im Vorfeld bilden Sätze, bei denen die Valenzsimulation keine
INSP-Simulation beinhaltet.13
In der Übergangszone zwischen diesen beiden Polen befinden sich nach
Ágel (ebd.) Mittelkonstruktionen, darunter auch die von Szatmári (1998)
untersuchten sich-lassen-Konstruktionen mit optionalem es (Typus: Hier
lässt es sich gut leben.) und Experiencer-Impersonalia mit (ebenfalls) optiona-
lem es (Typus: mich friert (es) und (7)). Eine solche skalare Abbildung der
Verhältnisse ist zwar einleuchtend, lässt sich aber historisch schwer un-
termauern, und zwar aus zwei Gründen:
1. Das funktionale Spektrum von es ist bereits zu althochdeutscher
Zeit recht breit (s. Große 1991).
2. Es ist schwierig festzustellen, welcher Pol der von Ágel postulierten
Skala den Anfang und welcher das Ende des das nicht-phorische es
betreffenden Grammatikalisierungsprozesses darstellen soll.

_____________
12 Kritisch kann hier angemerkt werden, dass es Verbspitzenstellungsphänomene gibt, bei
welchen dies nicht gilt, vgl. Auer (1993, 196f.).
13 Für diesen letzteren Fall vgl. (6).
Das simulierende es 1047

Denn den Überlegungen Ágels entsprechend sollte das Vorfeld-es den


Anfang und der voll grammatikalisierte Typ der Witterungsimpersonalia
das Ende der Skala bilden, wobei u.a. die Experiencer-Impersonalia mit es
eine Zwischenstellung einnehmen würden. Dies ließe sich jedoch mit dem
in der Fachliteratur dokumentierten Aufkommen der betroffenen es-
Typen nicht in Einklang bringen. Denn einerseits steht dort, dass das fixe
es bei Witterungsverben seit althochdeutscher Zeit belegt ist (vgl. etwa
Behaghel 1923, 316f.), während die Experiencer-Impersonalia mit es erst
seit mittelhochdeutscher Zeit präsent sind (vgl. Ebert 1978, 55) und dann
in neuhochdeutscher Zeit im Rahmen der Generalisierung der Subjekts-
kodierung umstrukturiert werden, sodass ein semantisch leeres es einge-
führt wird (vgl. Ágel 2000b, 1872 und von Seefranz-Montag 1995, 1279).
Andererseits wird in der einschlägigen Fachliteratur angenommen, dass
das Vorfeld-es aus dem Korrelat-es abzuleiten ist (vgl. Brugmann 1917,
15ff., Große 1991, 31 und etwas differenzierter14 auch Vogel 2006, 190).
Dabei ist das Vorfeld-es seit mittelhochdeutscher Zeit belegt (vgl. Ebert
1978, 57). Um die entsprechenden Grammatikalisierungswege und -stufen
eindeutig bestimmen zu können, müsste das oben erörterte sprachhistori-
sche Problem gelöst werden. Bevor dies geschieht, soll eine mögliche
Präzisierung des Valenzsimulationsbegriffs bezüglich des nicht-phorischen
es vorgenommen werden, um im Anschluss daran den chronologischen
Einwand erneut aufzugreifen und eine Antwort auf die offenen Fragen zu
bieten.
Ausgehend von den oben kurz dargelegten differierenden syntakti-
schen Merkmalen nicht-phorischer es-Vorkommen werden in einem ers-
ten Schritt zwei Valenzsimulationstypen angenommen:
• Valenzsimulationstyp 1: positional: (6), (12)
• Valenzsimulationstyp 2: konstruktionell: (2) und (7) bis (11)
Gestützt wird diese Unterscheidung dadurch, dass gegenüber den Belegen
(2) und (7) bis (11) im Falle des Vorfeld-es „nur“ die Position des Subjek-
tes simuliert wird (keine INSP-Simulierung), nicht aber seine semantische
Rolle. Zifonun (2001, 81) spricht hier von „rhematisierenden Präsenta-
tionskonstruktionen“, die nicht der Wiederauf- oder Vorwegnahme von
Bezugsobjekten dienen, sondern die Subjektposition am Satzanfang simu-
lieren, um dadurch das Subjekt zu rhematisieren:

_____________
14 Vogel nimmt an, dass heutigen Spaltsätzen (Es ist Peter, der heute nicht kommt.) ähnliche
Fügungen mit textreferentiellem es, Kopula und Prädikatsnomen den Ausgangspunkt bilde-
ten, wobei im Falle von Vollverben statt Kopula eine syntaktische Reanalyse stattfand, so-
dass das ehemals echte Subjekt-es zu einem reinen Vorfeldmarker wurde.
1048 Dániel Czicza

(12) es filen mir wunderlige zerstreungen in meinen gedancken ein die


lieffen dag und nacht um wie wie Mühlen [...] (1686)
Vogel (2006, 238) geht weiter und bringt das Vorfeld-es mit (sekundärer) 15
Thetizität in Zusammenhang. Thetizität ist ein monolithisches Konzept,
das durch eine reine Satzaussage charakterisiert ist (vgl. Vogel 2006, 114).
Typische Beispiele hierfür sind Witterungsimpersonalia und in einem
zweiten Schritt auch Passiva. Das Pendant hierzu stellt Kategorizität dar, das
ein dichotomisches Konzept darstellt, „das sich funktional gesehen auf
Satzgegenstand und -aussage gleichermaßen stützt [...]“ (ebd.). Typische
Beispiele hierfür sind Aktivsätze mit transitivem Verb (und Agens und
Patiens). Während Thetizität konzeptuell grundsätzlich mit „Event-
Zentriertheit“ (reine Prädikation mithilfe eines Geschehensverbs) verbun-
den ist, sind kategorische Sätze grundsätzlich mit „Entity-Zentriertheit“
(Satzgegenstand) verknüpft (ebd.). 16 Vogel (2006, 237) führt zudem aus,
dass die Markierung von sekundärer Thetizität durch ein es im Vorfeld
auch kategorische Sätze wie (12) erfasst. In diesem Sinne wäre also die
Funktion des Vorfeld-es eine doppelte, nämlich Rhematisierung und Mar-
kierung von (sekundärer) Thetizität.
An (12) ist außerdem zu sehen, dass die Simulierung des Erstaktanten
nur positional erfolgt, denn einerseits gibt es im Satz ein nicht-simuliertes,
„echtes“ Subjekt im Mittelfeld („wunderlige zerstreungen“), andererseits
korrespondiert dieses echte Subjekt mit dem finiten Verb („filen“) in Nu-
merus, nicht das es am Satzanfang.
Subjektlose Passivsätze mit Vorfeld-es stellen einen sozusagen noch
perfekteren Fall der positionalen Valenzsimulation dar, da sie kein „ech-
tes“ Subjekt enthalten. Sie haben trotzdem insofern einen anderen Status
als (6) oder (12), als es mit dem Finitum bezüglich Numerus in der Tat
korrespondiert:
(13) Es wird gesungen.
(14) Es wird gelächelt. 17
Dies ist allerdings nur eine „Scheinkorrespondenz“, denn bei anderer
Vorfeldbesetzung muss das es verschwinden, was für „normale“ Subjekte
nicht gilt. Daher wird hier in Anlehnung an Zifonun (1995, 44) von einem
_____________
15 In diesem Fall ist „sekundär“ sowohl strukturell als auch historisch zu verstehen; vgl. Vogel
(2006).
16 Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von Geschehens- und Handlungsperspektive in Welke
(2002).
17 Die Belege wurden der Monografie von Vogel (2006, 234) entnommen. In dem der vorlie-
genden Arbeit zu Grunde liegenden Korpustext gibt es keine subjektlosen Passivsätze mit
Vorfeld-es.
Das simulierende es 1049

Standardwert ausgegangen, der die 3.Ps.Sg. ist und der durch ein zusätzli-
ches, (notgedrungen) korrespondierendes Vorfeld-es ergänzt werden kann,
wenn das Vorfeld nicht anderswie besetzt wird. Subjektlose Passivsätze
unterscheiden sich von subjekthaltigen, nicht impersonalen aktivischen
(oder auch passivischen) Sätzen des Weiteren auch darin, dass sie „event-
zentraler“ sind (vgl. dazu oben bzw. Vogel 2006, 226, 234).
Dieses recht komplizierte, in Vogel (2006) aber auf ausgezeichnete
Weise systematisierte Bild soll hier nicht weiter präzisiert werden,18 son-
dern es wird lediglich festgehalten, dass sich aktivische und passivische
Sätze mit Vorfeld-es zwar in wesentlichen Merkmalen unterscheiden, aber
unter dem Aspekt der Valenzsimulation doch auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen sind.
Im Falle von Sätzen wie (2) und (7)-(11) wird mit Ágel (2000a, 230) und
entsprechend den Ausführungen oben davon ausgegangen, dass diese eine
INSP-Simulation aufweisen. Auch diese Gruppe ist heterogen und muss
weiter ausdifferenziert werden. Zunächst werden die einzelnen es-
Vorkommen dargestellt, dann wird die Frage nach der Konstruktionalität
und somit auch der Begriff konstruktionelle Valenzsimulation geklärt. Expe-
riencer-Impersonalia (7) können mit oder ohne es stehen, vgl.:
(15) [...] den ich wuste selber nicht, wie mir war, wen ich auff der gaßen
gieng [...] (391)19
Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie primäre Thetizität darstellen (vgl.
Vogel 2006, 225) und kein persönliches grammatisches Subjekt enthalten.
Zunächst erscheint im Mittelhochdeutschen das Vorfeld-es in solchen
Konstruktionen20 (vgl. ebd., 194), später, in der neuhochdeutschen Perio-
de, in der dann der Prozess der Subjektivierung den ganzen Bereich der
Thetizität erfasst, wird ein formales Subjekt-es eingefügt, das auch im Mit-
telfeld erscheinen kann, ja in bestimmten Fällen tendenziell zunehmend
sogar muss (vgl. Wegener 1999, 192). Ágel (2000b, 1872) bezeichnet die-
sen Prozess als Umkodierung. Dabei können im Deutschen zwei Typen
von Umkodierungen unterschieden werden (ebd.): 1. Der Zweitaktant
wird nominativiert, vgl. mir fehlt + Gen → mir fehlt + Nom; 2. Der akkusati-
vische / dativische Erstaktant wird nominativiert, vgl. mich friert → ich
friere. Ein wichtiger Vorgang ist hierbei die Einführung von Formalsubjek-
ten (vgl. von Seefranz-Montag 1995, 1279), was „die formale Anpassung
des Satzmusters an den 1. Umkodierungstyp“ (Ágel 2000b, 1872) bedeu-
_____________
18 Bspw. könnte man es ausgehend von der Valenz der beteiligten Verben in (13) und (14)
hinsichtlich eines implizierten oder fehlenden Patienssubjekts weiter ausführen.
19 Zu weiteren Beispielen mit anderen Verben (mich friert usw.) s. von Seefranz-Montag (1995)
und Vogel (2006).
20 Dies würde dort eine positionale Simulation bedeuten.
1050 Dániel Czicza

tet. So erscheint es in diesen Experiencer-Konstruktionen. Zu seiner Rein-


terpretation als Nominativ trägt die Veränderung (Vereinfachung) in sei-
ner Morphologie bei: der Genitivschwund in seiner Flexion. Es handelt
sich dabei um „den Zusammenfall der mittelhochdeutschen Laute z und s
und die damit erfolgte Neutralisierung von Gen. es und Nom. / Akk. ez“
(Ebert 1978, 55f., vgl. auch von Polenz 2000, 154).
Im Gegensatz zum teils fakultativen es bei Experiencer-Impersonalia
ist das es in (2) und (8) bis (11) obligatorisch. Die Obligatorik des es-
Vorkommens in (2) und (8)-(9) entspricht der in der Fachliteratur bekann-
ten sprachhistorischen Tendenz zur Zweigliedrigkeit bzw. (wenn auch
scheinbaren) Subjekthaltigkeit deutscher Sätze. Die Zunahme im Ge-
brauch des fixen es zuerst in impersonalen Konstruktionen wie es regnet
und (2) ist seit althochdeutscher Zeit festzustellen (vgl. Ebert 1978, 55).
Den Grund dafür sieht man gewöhnlich in der Tendenz zur systemati-
schen Zweiteilung des Satzes in Subjekt und Prädikat (vgl. ebd., 53). In
Anlehnung an Faucher (1996, 38f.) wird in der vorliegenden Arbeit jedoch
die Ansicht vertreten, dass nicht das Schema Verb-Subjekt ausschlaggebend
ist. „Zwingend geworden ist vielmehr die Implikatur: wenn konjugiertes
Verb, dann auch ein numerus-kompatibler Nominativ, (der u.U. eine Sub-
jektfunktion markieren kann, aber nicht muss)“. Dafür spricht auch, dass
bei Infinitiven es fehlen konnte (vgl. Behaghel 1928, 450). Den Gebrauch
eines fix werdenden, simulierenden es auch bei anderen Valenzträgern,
nämlich so genannten okkasionellen Ereignisverben (Näßl 1996), findet man
in Ansätzen schon im Althochdeutschen (vgl. ebd., 233). Okkasionelle
Ereignisverben sind Konstruktionen mit subjektgeneralisierendem es, die
„im allgemeinen ein bestimmtes Subjekt bei sich haben, also habituell
‚persönlich‘ konstruiert werden, aber mit dem Scheinsubjekt es in unper-
sönlicher aktivischer Konstruktion erscheinen können“ (ebd. 36). Eine
Ausdehnung dieser „Strategie“ auf Verben, die unterschiedlichen Wortfel-
dern zuzuordnen sind (ebd. 91; Beispiele (8) und (9)), erfolgt allerdings
erst ab mittelhochdeutscher und setzt sich fort in neuhochdeutscher Zeit.
Ein weiteres Beispiel hierfür ist (16):
(16) [...] endlich hörede etwas gantz dunckel bochen, ich lag aber stil-
le, es bocht noch 2 oder 3 mal, so dachte ich, es were ein ge-
spenst, endlich als es nicht wolte auff hören, und recht starck an-
schlug, so kroch ich heraus [...] (753)
Dabei ergeben sich Veränderungen hinsichtlich der von der Valenzsimula-
tion betroffenen Verben, bspw. wird die im mittelhochdeutschen verbrei-
tete Gruppe von Bewegungen, Lichterscheinungen und akustische Phä-
nomene ausdrückenden Verben (ebd. 249) um weitere (u.a. Geruchs-
verben, Emotionsverben) ergänzt, ja sogar so weitergeführt, dass auch
Das simulierende es 1051

Valenzträger mit menschlichem Subjekt erfasst werden können (ebd. 253).


Begünstigt wird dieser Prozess auch dadurch, dass selbst beim phorischen
es grammatische Restriktionen im Genus- (17) und Numerusbereich (18),
die die Korrespondenz zwischen es und dem jeweiligen Bezugsglied
betreffen, abgebaut werden können (vgl. hierzu ausführlich Czicza 2003
und 2004):
(17) [...] doch hörete ich diesen schönen tohn noch lange, aber es ver-
lohr sich immer weitter [...] (991)
(18) [...] giengen sie in der hitten eine, assen und druncken, und na-
men silber, gold, und kleider, und gingen hin und verborgen es
[...] (1274)
In (17) haben wir es unter funktionalem Gesichtspunkt mit dem phori-
schen „Normaltyp“ zu tun, aber in grammatischer Hinsicht wird die Ge-
nuskorrespondenz (tohn – Maskulinum) aufgehoben. Der Grund dafür
dürfte sein, dass der Autor dadurch auch mit dem schönen thon verbundene
Gefühle und Eindrücke zum Ausdruck bringen, mitmeinen kann. Diese
Art von Generalisierung des Subjekts wird in der Fortführung der Text-
stelle durch die beiden dieses beibehalten:
(17') [...] ich kans aber itzo nicht recht beschreiben wie dieses so wun-
derschön, mit meinen leibligen augen und ohren hörete ich dieses
nicht, sondern nach dem inner geiste [...] (992f.)
In (18) finden wir zwar kein Subjekt-, sondern ein Objekt-es, aber aus dem
Beispiel ist ersichtlich, dass durch es (statt etwa sie) eine Generalisierung
stattfinden kann.
Bezüglich der Impersonalia und der okkasionellen Ereignisverben
lässt sich zusammenfassend sagen, dass durch die es-Valenzsimulation die
primäre Thetizität der Impersonalia ausgedehnt wird auf einen sekundär
thetischen Bereich, wo (u.a.)21 okkasionelle Ereignisverben entstehen.
Bevor wir auf den gemeinsamen Nenner (konstruktionelle Simulation) der
Belege (2) und (7)-(11) eingehen, sollen (10) und (11) aus dieser Gruppe
noch kurz kommentiert werden. (10) ist ein Beispiel für das „Präsentativ-
Syntagma“ es gibt (Weinrich 1993, 398). Dieser Fall muss deswegen ge-
trennt behandelt werden, weil er historisch später entsteht22 und weder zu
den primären Impersonalia noch zu den okkasionellen Ereignisverben
gehört. Es ist eine feste unpersönliche Wendung (vgl. Näßl 1996, 32),
_____________
21 Vgl. hierzu Vogel (2006, 224).
22 Das früheste häufigere Auftreten von es gibt wird ins 16. Jh. datiert (Newmann 1998, 307),
aber „erst in neuhochdeutscher Zeit ist die Bedeutung zur generischen Existenzaussage hin
ausgeweitet“ (Lenz 2007, 63f.).
1052 Dániel Czicza

deren Entstehen mit der Grammatikalisierung des Verbs geben in Zusam-


menhang gebracht wird (vgl. Lenz 2007). Trotzdem ist auch hier die oben
bereits beschriebene Generalisierung von es sichtbar (vgl. das Beispiel bei
Ebert 1993, 347):
(19) wann man Pulver auf die Pfanne schüttet, und die Luft aufsetzt,
so gibt es einen grossen Knall […]
Im obigen Beispiel ist der phorische Charakter noch erkennbar: „geben
wurde in seiner ursprünglichen Bedeutung erzeugen, hervorbringen verwendet,
es bezog sich zuerst als reine Anapher auf den sprachlichen Kontext“
(Scheibl 2000, 376; vgl. auch das Beispiel ebd.).
Der simulierte Zweitaktant in (11) ist insofern hier zu behandeln, als
hier auch Generalisierung vorliegt, wie bei Subjekte simulierenden es-
Vorkommen, die keine konkreten oder persönlichen Subjekte darstellen
(vgl. Impersonalia und okkasionelle Ereignisverben oben). Das Verb mei-
nen mit fixem Objekt-es ist laut Digitalem Grimm (Lemma meinen, Bedeu-
tung 5a) „seit alters bis auf heute sehr gewöhnlich“, es wird dort ein alt-
hochdeutsches Beispiel von Notker angeführt. In der Fachliteratur findet
sich allerdings kein Hinweis darauf, dass man es auch beim fixen Objekt-es
etwa mit einem produktiven Muster wie bei okkasionellen Ereignisverben
zu tun hätte.
An dieser Stelle wird der Begriff der konstruktionellen Simulation evident.
Wir haben gesehen, dass die Belege (2) bzw. (7) bis (11) sich hinsichtlich
zahlreicher Merkmale (Syntax, Semantik, Geschichte) unterscheiden. Ab-
gesehen von (11) haben sie aber einen gemeinsamen Nenner: die Verbform
3.Ps.Sg. Diese Kategorie wird teils fakultativ (Experiencer-Impersonalia,
(7)), teils obligatorisch (vgl. (2) und (8) bis (10)) um ein (valenz-)simu-
lierendes es erweitert. In Anlehnung an Ágel (2003, 21f.) kann man davon
ausgehen, dass hier „sekundär paradigmatisierte Valenzträger“ entstehen.
Das bedeutet, dass die betroffenen Verben zwar Flexionsformen der ur-
sprünglichen Verben sind, aber zugleich eine Flexionsform haben, die
obligatorisch die 3.Ps.Sg. ist, sich nicht ändern kann und daher hier ein
sekundäres Paradigma zum jeweiligen Verb angenommen werden kann.
Solche sekundären Paradigmen sind eindeutig an eine bestimmte Semantik
gebunden, nämlich an eine Geschehenssemantik oder Thetizität. Die Fü-
gung [3.Ps.Sg. + (es)]23 mit Thetizitätsmarkierung ist somit eine besondere
Verbindung von Form und Bedeutung, wobei die morphosyntaktischen
und semantischen Besonderheiten nicht aus den Eigenschaften der ein-
zelnen Bestandteile der Fügung abzuleiten sind, die klassische Definition
von constructions in der construction grammar, vgl. Fillmore (1989, 20) und
_____________
23 Die runden Klammern weisen auf die Fakultativität bei Experiencer-Impersonalia hin.
Das simulierende es 1053

Fillmore / Kay / O’Connor (1988, 504). In Czicza (2007) habe ich diese
es-Vorkommen ausführlich besprochen. Unter Rückgriff auf die vorange-
henden Überlegungen gehe ich davon aus, dass die Valenzsimulation die-
ser es-Typen konstruktionell bedingt ist, und spreche im Falle von (2) und
(8) bis (10) von konstruktioneller Valenzsimulation. Da zum formalen Objekt-
es (11) keine so detaillierten Forschungen wie zum formalen Subjekt-es
bekannt sind, muss hier auf seine Analyse verzichtet werden.
Zum historischen Einwand bezüglich der Grammatikalisierung der
Valenzsimulation (s. oben bzw. Ágel 2000a, 230) lässt sich nun auf Grund
der Fachliteratur (s. oben) Folgendes sagen:
• Primäre Impersonalia (es regnet) sind seit althochdeutscher Zeit be-
legt und sind am ältesten.
• Okkasionelle Ereignisverben erscheinen zuerst im Althochdeut-
schen, kommen häufiger aber erst ab mittelhochdeutscher Zeit vor.
• Das Vorfeld-es erscheint im Mittelhochdeutschen.
• Experiencer-Impersonalia erscheinen zunächst mit Vorfeld-es im
Mittelhochdeutschen, „bekommen“ ihr konstruktionelles es aber
erst später und werden in der neuhochdeutschen Periode umstruk-
turiert.
Möglich ist eine Entwicklung, während der die primären Impersonalia als
Muster dienen, zu denen analog okkasionelle Ereignisverben gebildet
werden. Die Grammatikalisierung würde in diesem Sinne innerhalb der
Gruppe der okkasionellen Ereignisverben stattfinden, indem immer mehr
verbale Wortfelder an diesem Prozess beteiligt sind, also die Generalisie-
rung durch es auf andere Kontexte ausgeweitet wird, ein typischer Zug
von Grammatikalisierungsprozessen. Zu berücksichtigen wären hier dann
so genannte „context types“ (Diewald 2006), insbesondere für den Anfang
und die Verbreitung wichtige „untypical“ und „critical contexts“ (ebd. 4).
Als parallele Entwicklung dazu lässt sich das Aufkommen des Vorfeld-es
als sekundärer Thetizitätsmarker betrachten (vgl. dazu Vogel 2006). Die
Experiencer-Impersonalia ließen sich auf diese Weise ins System integrie-
ren, da sie als primär thetische Fügungen zuerst ein zusätzliches Vorfeld-es
bekommen, das entsprechend der zunehmenden (formalen) Subjektivie-
rung deutscher Sätze umgedeutet werden kann.
1054 Dániel Czicza

4. Das Korrelat-es
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Korrelat-es als ein Fall von
Valenzsimulation interpretiert und somit in das in Kapitel 3 dargestellte
System integriert werden kann und als Übergang vom phorischen zum
simulierenden es anzusehen ist. In einem ersten Schritt soll die grammati-
sche Argumentation erfolgen, im Anschluss daran wird auf die sprachhis-
torischen Aspekte eingegangen. Zunächst sollen hier die einschlägigen
Beispiele wiederholt werden:
(4) ach meine liebe Mutter hat grose liebe und sorge vor mich, ach ich
kan es dem lieben Gott und ihr nicht gnug dancken. (189)
(5) es trug sich aber einmal zu, das ich beÿ meiner tochter, welche
noch durch Gottes gnade lebet, des Abends gantz alleine war [...]
(1814)
Der Unterschied zwischen (4) und (5) ist in erster Linie formaler Natur.
Beide stellen zwar einen pro-propositionalen Bezug her (vgl. Kapitel 2),
leisten dies jedoch in unterschiedlicher Weise. Das es in (4) ist anapho-
risch, das in (5) kataphorisch, wobei die Bezugnahme in (5) – gegenüber
(4) – in einer festen Hauptsatz-Nebensatz-Struktur erfolgt. Genau das ist
der Grund dafür, dass Zifonun (1995 und 2001) hier nicht mehr von Pho-
rik spricht. Hinzu kommt allerdings noch folgendes Problem: Ob wir von
einem Korrelat und damit von einem strukturellen Verweis ausgehen oder
ein phorisches, verallgemeinernd-summierendes es (vgl. Admoni 1976)
annehmen, dürfte vielfach von der Integriertheit des Nebensatzes abhän-
gen. Bekannt sind nämlich so genannte abhängige Hauptsätze und unein-
geleitete Nebensätze, die in einem Kontinuum zwischen eindeutiger Hy-
potaxe und eindeutiger Parataxe stehen, da sie nicht alle, sondern nur
einige Hauptsatz- oder Nebensatzmerkmale (oder sogar nur ein einziges
Merkmal) aufweisen (vgl. Auer 1998, 298f.). Die folgenden Belege sollen
dies verdeutlichen:
(20) [...] hir beÿ habe ich auch zu beseufzen, das mir auch oft (wie
ichs den mercklich gespirt) von Satan recht greulige und unflatti-
ge treume sind eingeraunet worden [...] (1104)
(21) [...] da sold ihr zu mir kommen, auch aus der gantzen gemeinde
wer da wil, wir wollens eben so machen, wollen aus Johann
Arnds Christenthum lesen [...] (512)
Korrelate werden funktional definiert, indem man sie als Bezugselemente
bezeichnet, aber formale Gesichtspunkte spielen ebenfalls eine Rolle,
indem man sie als Elemente beschreibt, die in einem Hauptsatz vorkom-
Das simulierende es 1055

men und den nachfolgenden Nebensatz vertreten. Will man sich am For-
malen festhalten, so widerspricht das bei (20)-(21) dem funktionalen Kri-
terium. Es ist anzunehmen, dass das es hier in gleicher Weise funktioniert,
unabhängig davon, ob die Bedingung Hauptsatz + Nebensatz besteht oder
nicht. Unter formalem Gesichtspunkt haben wir es in (20) mit einem Ein-
schub zu tun (wie ichs den mercklich gespirt), zu dem das Segment das mir auch
oft […] die satzförmige Zweitaktantenrealisierung (Objekt) darstellt. Die-
ser Zweitaktant tritt im Einschub in Form eines klitisierten Korrelats auf.
Zugleich ist aber dieses Segment auch Objektsatz zum Hauptsatz hir beÿ
habe ich auch zu beseufzen. Wohlgemerkt, der Einschub, in dem das Korrelat
steht, hat nicht die Form eines Hauptsatzes. In (21) liegt ebenfalls kein
Nebensatz zum Korrelat-es vor, sondern Verberst. Man müsste also den
Korrelat-Begriff weiter fassen und zwischen verallgemeinernd-summieren-
dem, phorischem es und Korrelat-es ein Kontinuum ansetzen, das auf der
Unterscheidung zwischen Hypo- und Parataxe basiert und mehrere Stufen
postuliert24 (vgl. hierzu ausführlicher auch Czicza 2004). Damit im Zu-
sammenhang könnte auch der Frage nach der Obligatorik und Fakultativi-
tät des Korrelats – einem sowohl grammatiktheoretisch als auch didak-
tisch relevanten Problemfeld25 – nachgegangen werden. Da dies jedoch
den vorliegenden Rahmen sprengen würde, wird auf die Diskussion an
dieser Stelle verzichtet.
Die obigen Überlegungen haben gezeigt, dass das Korrelat-es als
Übergang vom phorischen zum nicht-phorischen es angesehen werden
kann, indem die Annahme eines Korrelat-es von der grammatischen Ver-
festigung der beteiligten Propositionen abhängt, also davon, ob die gram-
matikalisierte Hauptsatz-Nebensatz-Struktur vorliegt oder nicht. Als
Übergangsfall lässt sich das Korrelat-es somit auch als ein Fall von Valenz-
simulation betrachten. Nach Eisenberg (2006, 176) ist dieses es „nicht eine
selbständige Ergänzung, sondern bildet gemeinsam mit dem extraponier-
ten Ausdruck das Subjekt“. In Anlehnung an diese Auffassung soll hier
folgende Ansicht vertreten werden: Das es ist kein selbständiger Aktant,
sondern bildet zusammen mit dem Nebensatz ein Diskontinuum. Es simu-
liert die Erst- oder Zweitaktantenrealisierung sowohl syntaktisch – indem
es die nebensatzförmige Ergänzung im Hauptsatz vertritt und auf sie
strukturell verweist – als auch semantisch (Simulierung der semantischen
Rolle); die semantische Rolle bekommt der korrespondierende Nebensatz
zugeschrieben. Das Korrelat-es als rein struktureller Verweis und als Va-

_____________
24 Hinzu kommt hier auch noch die Frage nach der Ersetzbarkeit des es durch das, denn die
Substituierbarkeit durch das scheint umso wahrscheinlicher zu sein, je mehr Hauptsatz-
merkmale die jeweilige Konstruktion besitzt, vgl. die Überlegungen bei Pütz (1975, 60ff.).
25 Vgl. hierzu u.a. Zitterbart (2002) und Kemme (1979).
1056 Dániel Czicza

lenzsimulation stellt somit eindeutig den Übergang vom phorischen zum


nicht-phorischen es-Typ dar.
Der Übergangscharakter des Korrelat-es und sein Status als Valenzsi-
mulation kann auch durch Beispiele mit es gilt und es heißt bestätigt werden:
(22) Nun gilt es, Zeit zu gewinnen.26
(23) [...] da war recht in mir wirklich und empfindlich, wen es heist In
Weinstock Jesu stehen wir, gepfropft, und gantz mit Gott verei-
net [...] (398)
(24) [...] aber es hieß er ist itzo nicht zu hauß [...] (2012)
Diese Konstruktionen erinnern an Korrelat-Fälle. Interessant ist dabei
jedoch, dass das Korrelat-es fix (obligatorisch) geworden ist. Dies lässt sich
nachweisen, wenn man den Nebensatz an den Anfang bewegt (die be-
kannte Umstellprobe bei Korrelaten) und dabei es nicht verschwinden
darf. Das Auftreten dieses obligatorischen „Korrelats“ bzw. seine Verbin-
dung mit gelten und heißen verursacht eine Bedeutungsänderung (sowie
Lexikalisierung) und somit eine Umstrukturierung im syntaktischen Um-
feld der Verben (vgl. Zitterbart 2002, 166): Die geforderten Ergänzungen
sind Verbativergänzungen und keine Subjektsätze und wir haben es auch
hier, wie z.B. bei okkasionellen Ereignisverben, mit einer sekundären Pa-
radigmatisierung der beteiligten Verben (Valenzträger) zu tun. Ein wichti-
ges morphologisches Merkmal, das für eine Interpretation dieser Kon-
struktion als Valenzsimulation spricht, ist weiterhin, dass der verbale Teil
bezüglich Numerus und Person unveränderlich, d.h. immer 3. Person
Singular, bleibt, was ein Charakteristikum von impersonalen Konstruktio-
nen (also von Valenzsimulationen) ist. Dies gilt für alle Subjekte simulie-
renden Korrelate, nicht nur für Sätze mit es gilt / heißt.
Der Übergangsstatus wird auch historisch untermauert, indem man –
wie oben bereits erwähnt – in der einschlägigen Fachliteratur davon aus-
geht, dass das impersonale es, darunter auch das Vorfeld-es, auf das Korre-
lat-es zurückgeht:
Die oberste Bedingung für das Aufkommen des Impersonalien-‚es‘ waren Sätze
mit es, il, in denen dieses Pronomen als Subjektswort rededeiktisch einen Vorstel-
lungsinhalt vertritt, der zunächst dem Bewußtsein nur vorschwebend, hinterdrein
in der Form eines abhängigen Satzes (meistens eines konjunktionalen Nebensat-
zes) oder einer infinitivischen Wendung zur Aussprache kommt […]. (Brugmann
1917, 15)
Unter Rückgriff auf die eingangs eingeführte Unterscheidung zwischen
pro-phrasalem und pro-propositionalem es kann das binäre Valenzsimula-
_____________
26 Beispiel in Faucher (1996, 38).
Das simulierende es 1057

tionsbild so ausdifferenziert werden, dass unter Beibehaltung der positio-


nalen Valenzsimulation entsprechend den Überlegungen zum Korrelat-es
innerhalb des konstruktionellen Zweigs zwei Subtypen zu postulieren
sind:

Valenzsimulation

positional konstruktionell
(6) und (12)

pro-phrasal pro-propositional
(7)-(11) (5)

Abbildung 1: Typen der Valenzsimulation

Die Valenzsimulation in (7) bis (11) wird pro-phrasal genannt, weil diese es-
Vorkommen als simulierende Erst- bzw. Zweitaktanten Bezugnahmen auf
Phrasen (in erster Linie Nominalphrasen) simulieren. Das Korrelat-es stellt
eine pro-propositionale Valenzsimulation dar, indem hier die grammatikali-
sierte Version des pro-propositionalen Bezugs in (4) angenommen wird.

5. Zusammenfassung und Desiderata


Im vorliegenden Beitrag wurde dafür argumentiert, dass es möglich ist, die
Valenztheorie als theoretischen Hintergrund zur Beschreibung des nicht-
phorischen es heranzuziehen. Ausgehend von dem Begriff der Valenzsimu-
lation bei Ágel (2000a) wurden zwei Grundtypen, ein positionaler und ein
konstruktioneller, angenommen. Der konstruktionelle wurde dabei in zwei
Subtypen untergliedert: einen pro-phrasalen und einen pro-
propositionalen.
Es konnte gezeigt werden, dass historisch miteinander zusammenhän-
gende es-Vorkommen auch grammatiktheoretisch auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen sind. Lückenhaft geblieben ist dabei allerdings der
Grammatikalisierungsaspekt, bei dem an dieser Stelle im Hinblick auf
künftige Forschungen Folgendes festgehalten werden soll:
1058 Dániel Czicza

• Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob die in vielen Berei-


chen sprachhistorisch dokumentierten Entwicklungen bei es als ein
Fall oder als Fälle von Grammatikalisierung zu beschreiben sind.
• Dabei wäre zu klären, ob und wie die verschiedenen phorischen
und nicht-phorischen es-Vorkommen angesichts ihrer komplexen
Entwicklung systematisch dargestellt und erklärt werden können
und welche Rolle dabei die Grammatikalisierungstheorie spielen
kann oder soll. In erster Linie wäre hier auf kritische und typische
Kontexte (vgl. Diewald 2006) beim nicht-phorischen es einzugehen,
um eventuelle Grammatikalisierungswege aufzeigen zu können.
• Damit im Zusammenhang könnte es möglich sein, neuere Entwick-
lungen in der Grammatikalisierungstheorie, welche die Grammatika-
lisierung von constructions thematisieren und dadurch einen engen
Konnex zwischen construction grammar und Grammatikalisierungs-
theorie befürworten (s. u.a. Traugott 2003 und Diewald 2006), mit
in die Untersuchungen einzubeziehen.

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Diskontinuierliche Pronominaladverbien
in der Alltagssprache
des jüngeren Neuhochdeutschen –
Standard oder Substandard?

Michaela Negele (Augsburg)

1. Fragestellungen
In meinem Beitrag werde ich eine Untersuchung zu diskontinuierlichen
Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeut-
schen vorstellen und der Frage nachgehen, ob sie eher als standardlich
oder als substandardlich einzuordnen sind. Einleitend soll ein kurzer
Überblick über Pronominaladverbien in der Standardsprache gegeben
werden. Hier wird neben ihrer Bezeichnung vor allem ihr syntaktischer
Status zur Sprache kommen. Den Schwerpunkt bildet ein Überblick über
die Verwendung von diskontinuierlichen Pronominaladverbien in der
Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen, wobei nach einer kurzen
Verortung der Alltagssprache im Varietätenkontinuum des Deutschen die
Ergebnisse einer Korpusuntersuchung zu Pronominaladverbien vorge-
stellt werden sollen. Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, ob
diskontinuierliche Pronominaladverbien dem gesprochenen Standard
angehören bzw. ob sich im Vergleich zum einfachen Pronominaladverb
ein funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen nachweisen
lässt.

2. Pronominaladverbien in der Standardsprache


des Neuhochdeutschen
Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Verwendung von Pronomi-
naladverbien in der Standardsprache des Neuhochdeutschen gegeben
werden.
1064 Michaela Negele

2.1. Bezeichnung: Präpositionaladverb vs. Pronominaladverb

In der terminologischen Bezeichnung von Lexemen wie damit, hieran oder


wozu existieren zwei konkurrierende Varianten: Präpositionaladverb und Pro-
nominaladverb. Die Duden-Grammatik (2005, § 858), die Grammatiken von
Engel (2004, 419f.) und Weinrich (2005, 568) sowie die IDS-Grammatik
(1997, 54ff.) verwenden den Terminus Präpositionaladverb, der auch bereits
von Behaghel (1932, 249) präferiert wird. Diese Bezeichnung trägt dem
formalen Faktum Rechnung, dass sich die betreffenden Wortformen aus
einem Adverb als erstem Bestandteil (da, hier, wo) und einer Präposition
(an, bei, durch, von, etc.) als zweitem Bestandteil zusammensetzen.
Der Terminus Pronominaladverb hingegen zielt weniger auf die Form als
mehr auf die Funktion, nämlich für eine Präpositionalphrase oder einen
ganzen Satz zu stehen, wobei sich hier Überschneidungen mit anderen
Adverbien ergeben, denen ebenfalls ein Pro-Charakter eigen ist. Dies sind
vor allem Interrogativadverbien, Relativadverbien und Konjunktionalad-
verbien.1
Je nachdem, ob also bei der ‚Namensgebung‘ eher die Form oder die
Funktion im Vordergrund steht, können beide Verwendungen legitimiert
werden. Da sich aber bei der überwiegenden Mehrheit der Grammatiken
der Terminus Pronominaladverb durchgesetzt hat, werde ich mich im Fol-
genden auch dieser Bezeichnung anschließen.

2.2. Syntaktischer Status der Pronominaladverbien

Als Nächstes soll der Frage nach dem syntaktischen Status von Pronomi-
naladverbien nachgegangen werden. Da die Wortartzuordnung in den
Grammatiken sehr heterogen ist, soll hier ein Vorschlag gemacht werden,
der sowohl formale wie auch funktionale Aspekte berücksichtigt. Im We-
sentlichen orientiert sich das folgende Klassifikationsschema an der Du-
den-Grammatik (2005).

_____________
1 Zur genaueren Abgrenzung vgl. Kapitel 2.2.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1065

Abbildung 1: Schema zur Klassifikation von Pronominaladverbien


in pronominaler Verwendung

In diesem Schema wird eine mögliche Klassifikation für pronominale


Verwendungen von Pronominaladverbien geboten, sodass also nichtpro-
nominale Verwendungen (als Verbpartikel oder Konjunktion) von vorn-
herein ausgeschlossen sind.2 Die primäre Zuordnung zur Klasse der Pro-
nominaladverbien spiegelt sich in der grau unterlegten Fläche wider. Diese
vereint aufgrund formaler Kriterien alle Wortformen, die aus da / hier / wo
+ Präposition bestehen, weshalb man in diesem Schema konsequenter-
weise von Präpositionaladverbien sprechen müsste. Auf einer zweiten Klassi-
fikationsebene können diese Wortformen in syntaktischer Hinsicht die
Funktion eines Interrogativ- oder Relativadverbs (wo(r)- + Präp.), eines
_____________
2 Dies könnte natürlich als Kritikpunkt an diesem Schema vorgebracht werden, aber aus
Gründen der Übersichtlichkeit wurde hier die nichtpronominale Verwendung ausgespart,
zumal bei der Verwendung als Konjunktion (damit) oder als Verbpartikel (draufkommen etc.)
die formal als Präpositionaladverb zu klassifizierenden Formen keine Pro-Funktionen aus-
üben, was zumindest in funktionaler Hinsicht konstitutives Kriterium für die Bestimmung
als Pronominaladverb ist.
1066 Michaela Negele

phorischen bzw. deiktischen Proadverbs oder eines Konjunktionaladverbs


ausüben (da(r)- + Präp.). Diesen vier Wortklassen ist gemeinsam, dass in
ihrem Formenbestand zum Teil Zusammensetzungen aus da / hier / wo +
Präp. enthalten sind, sie aber nicht ausschließlich aus diesen Formen be-
stehen. Weitere Beispiele sind jeweils in den Kästen aufgeführt.

3. Diskontinuierliche Pronominaladverbien
in der Alltagssprache des Neuhochdeutschen
Bevor es an die konkrete Korpusuntersuchung geht, soll das doch ziem-
lich heterogene Korpus bezüglich seiner Zusammensetzung, seiner Mög-
lichkeiten, aber auch seiner Grenzen vorgestellt werden. Eine notwendige
Voraussetzung hierfür ist die Klärung des Begriffs der Alltagssprache, der
diesen Analysen zugrunde liegt.

3.1. Verortung der Alltagssprache im Varietätenkontinuum

Um diesen Begriff adäquater definieren zu können, ist es hilfreich, sich


zunächst einen Überblick über das Varietätenspektrum des Deutschen zu
verschaffen. Hierbei soll das von Koch / Oesterreicher (1990) vorgestellte
Nähe-Distanz-Modell als Referenz dienen, das im Folgenden um 90 Grad
gekippt wurde, ansonsten aber in seinen Aufbauprinzipien erhalten blieb,
nämlich in der Unterscheidung zwischen Medium und Konzeption.

Abbildung 2: Modell nach Koch / Oesterreicher


– angewendet auf das deutsche Varietätenkontinuum
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1067

Die Vorstellung eines Kontinuums zwischen konzeptioneller Nähe- bzw.


Distanzsprache wurde hier auf das Varietätenkontinuum des Deutschen
projiziert, das sich zwischen der nhd. Standardsprache und den kleinräu-
mig gebundenen Dialekten erstreckt. Da gerade der Bereich zwischen
diesen Extremen im 19. Jahrhundert große Veränderungen erfahren hat,
sei an dieser Stelle ein kurzer sprachhistorischer Exkurs erlaubt:
Das 19. Jahrhundert ist einerseits geprägt von einem kontinuierlichen
Rückgang der traditionellen Dialekte, andererseits von der Entstehung
eines Spektrums verschiedener regionaler Umgangssprachen (vgl. Kett-
mann 1981, 1ff.).3 Dieser Prozess kann als „die wohl größte Umwälzung
des Varietätengefüges im Deutschen seit der Frühen Neuzeit“ (Elspaß /
Denkler 2003, 131) betrachtet werden. Der Übergang zwischen den ein-
zelnen Varietäten ist dabei fließend und regional unterschiedlich ausge-
prägt. Dieses Phänomen wird auch als Entdiglossierung bezeichnet, also als
Prozess des Abbaus der Diglossie zwischen Standardsprache und Orts-
mundart zugunsten eines Kontinuums mit teils dialektaleren, teils stan-
dardnäheren regionalen Umgangssprachen. Scharfe Trennlinien innerhalb
der in einem ständigen gegenseitigen Austausch stehenden Varietäten
zwischen Dialekt und Standardsprache zu ziehen, ist aufgrund der flie-
ßenden Übergänge gar nicht möglich – und auch nicht nötig, solange man
„Variabilität und Heterogenität als natürliche Aggregatszustände von
Sprachen“ (Mihm 2000, 2108) und nicht als Zeichen von Disfunktionalität
versteht.
Der Begriff der nhd. Alltagssprache soll nach Stephan Elspaß (2005a,
28) demzufolge verstanden werden als „der soziale und funktionale
Kommunikationsbereich, in dem ‚Sprache der Nähe‘ stattfindet und […] –
je nach sprachlicher Sozialisation der Sprachteilhaber – im gesamten Kon-
tinuum der nationalsprachlichen Varietäten“, also sowohl in der gespro-
chenen Standardsprache als auch in regionalen Umgangssprachen oder im
Dialekt realisiert werden kann. Die Texte, die den Untersuchungsgegens-
tand dieser Arbeit darstellen, sind größtenteils einer eher standardnahen
Variante der Alltagssprache zuzuordnen, wobei die Übergänge zwischen
regionalen Umgangssprachen und regional differenzierter Standardsprache
auch in diesem Korpus oft so fließend sind, dass ein Hinübergleiten vom
einen zum anderen (und zurück) von den Sprecherinnen und Sprechern
_____________
3 Zur Diskussion verschiedener Erklärungsansätze regionaler Umgangssprachen vgl. Mihm
(2000, 2111ff.); Bellmann (1983, 106ff.), Keller (1986, 495ff.) und Barbour / Stevenson
(1998, 55f.) sehen das Entstehen regionaler Umgangssprachen im Wesentlichen als Resul-
tat von Modernisierungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts (z.B. durch die Ausbrei-
tung des Schulwesens). Protze (1969) und Schönfeld (1983) setzen die Entstehung regiona-
ler Umgangssprachen bereits im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge eines Bemühens um eine
überregional verbindliche Hochsprache bei den mittleren und höheren Bürgerschichten an.
1068 Michaela Negele

gar nicht bewusst wahrgenommen wird und dass es auch problematisch


ist, linguistische Grenzen festzulegen. Auch heute noch ist die Alltagsspra-
che der allermeisten Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen auf
Grund irgendwelcher Merkmale der Aussprache, der Intonation, des
Wortschatzes oder sogar der Grammatik einer Region zuzuordnen (vgl.
Elspaß / Möller 2006, 144).

3.2. Korpusbeschreibung

Nachfolgend sollen die drei verwendeten Teilkorpora kurz vorgestellt


werden.

3.2.1. Korpus Auswandererbriefe (Elspaß)

Im Vergleich zur Erforschung historischer Dialekte, zu denen für das 19.


Jahrhundert umfangreiche Daten aus dem Deutschen Sprachatlas (DSA) von
Georg Wenker zur Verfügung stehen, „fehlt vergleichbares historisches
Material für die Sprachlagen zwischen den Dialekten und der sich heraus-
bildenden Standardsprache im 19. Jahrhundert“ (Elspaß 2003, 132). Die-
ser „Mangel an Primärdaten“ (ebd.) führt dazu, dass neue Wege gefunden
werden müssen, historische Umgangssprachen zu rekonstruieren. Als
mögliches Quellenmaterial bieten sich Texte an, die zwar in schriftlicher
Form überliefert sind, jedoch von Schreiberinnen und Schreibern verfasst
wurden, die im Umgang mit schriftlichen Texten nicht vertraut waren und
somit am ehesten konzeptionell mündliche Texte zu Papier brachten.
Diesem Beitrag liegt ein solches Korpus für das 19. Jahrhundert zugrunde,
das im Rahmen der Untersuchung „Sprachgeschichte von unten – Unter-
suchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert“
(Elspaß 2005a) entstanden ist.4 Dieses Korpus bietet Texte, die gerade
nicht von Angehörigen der gebildeten Sprachschicht (Literatursprache,
Kanzleisprache, …), sondern von eher ungeübten und ungebildeteren
Schreibern verfasst wurden, die im 19. Jahrhundert nach Amerika ausge-
wandert sind und mit den Zurückgebliebenen in Deutschland in teilweise
regem Briefwechsel standen. Dieser Ansatz macht sich demnach die Tat-
sache zunutze, dass den Schreibern im Prinzip nichts anderes übrig blieb,
als ihrer sprechsprachlichen Formulierung in Lautung, Syntax und Mor-
phologie möglichst treu zu bleiben, da ihnen kaum schriftliche Texte zur
_____________
4 Dieses Korpus wurde für das 18. Jahrhundert – zumindest für den oberdeutschen Be-
reich – noch um Briefe von Schillers Mutter sowie um Mozarts Bäsle-Briefe erweitert.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1069

Verfügung standen. Die regionale Verteilung der Briefe über das deutsche
Sprachgebiet ist aus Abbildung 3 ersichtlich:

Abbildung 3: Schematische Karte zur regionalen Verteilung des Korpus (absolute Zahlen)

3.2.2. Korpus Umgangssprachen (Pfeffer)

Das 20. Jahrhundert bot schon aufgrund des technischen Fortschritts


ganz andere Möglichkeiten zur Erforschung regionaler Alltagssprache, da
man im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, zu dem entsprechendes Material
fehlt, Sprachaufnahmen erstellen und diese anschließend durch eine
Transkription ins schriftliche Medium überführen konnte, sodass heute
prinzipiell wirklich gesprochene Alltagssprache des 20. Jahrhunderts er-
forscht werden kann. So dient dieser Untersuchung gerade ein solches
Korpus als Datengrundlage für das 20. Jahrhundert. Das Institut für Deut-
sche Sprache (IDS) in Mannheim stellt eine Reihe solcher Korpora des ge-
sprochenen Deutsch auf seinen Internetseiten kostenlos zur Verfügung,
darunter auch das Pfeffer-Korpus,5 das innerhalb der Datenbank gesprochenes
Deutsch (DGD) als Korpus zu den regionalen Umgangssprachen ausgewie-
sen ist. Ein großes Verdienst dieses Korpus ist es, dass es das momentan
einzige öffentlich zugängliche Korpus zu den regionalen deutschen Um-
gangssprachen ist, allerdings sind unter den Interviews teilweise auch sog.
_____________
5 Auch als Textbände zugänglich: Pfeffer / Lohnes (Hrsg.), Grunddeutsch. Texte zur gesprochenen
deutschen Gegenwartssprache.
1070 Michaela Negele

initiierte Erzählmonologe, die manchmal eher wie Fachvorträge zu einem


bestimmten Thema anmuten, als dass sie an ein spontanes Gespräch erin-
nern würden. Ein weiteres Problem besteht sicherlich darin, dass für die
betreffenden Regionen auch teilweise Personen interviewt wurden, die aus
beruflichen (oder ähnlichen) Gründen erst im Erwachsenenalter an diesen
Ort gezogen sind, was sich daraus erkennen lässt, dass in einigen Fällen
Geburtsort, Schulort und Wohnort nicht miteinander übereinstimmen.
Dies wurde dahingehend berücksichtigt, dass immer überprüft wurde, wie
lange dieser vermeintliche Informant schon an diesem Ort wohnt, wenn
unter den Suchergebnissen für eine bestimmte Region völlig untypische
Konstruktionen auftraten.

Nd. Md. Od. Σ


(100 %)
141 35,4 % 125 31,4 % 132 33,2 % 398

Wnd. Wmd. Wod.


38 9,5 %
110 27,6 % 88 22,1 % Nod.
32 8,0 %
Ond. Omd. Ood.
31 7,8 % 37 9,3 % 62 15,6 %
Tabelle 1: Korpus Umgangssprachen (Pfeffer)

Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden bei der Korpusauswertung


der beiden Textkorpora jeweils extrapolierte Werte zur Auswertung ver-
wendet, da für die verschiedenen Regionen des deutschen Sprachgebietes
unterschiedlich viele Texte zur Verfügung stehen.

3.2.3. Atlas zur deutschen Alltagssprache (Elspaß / Möller)

Neben den beiden eben vorgestellten Textkorpora wurde auch das von
Stephan Elspaß und Robert Möller 2003 ins Leben gerufene Projekt Atlas
zur deutschen Alltagssprache (AdA) bei den Auswertungen berücksichtigt, vor
allem, da es Auskunft über die aktuellsten Entwicklungen in der Alltags-
sprache zu geben vermag. Seit 2003 finden jährlich Interneterhebungen
zum regionalen Sprachgebrauch in allen deutschsprachigen Ländern und
den deutschsprachigen Gebieten der Nachbarländer statt, in denen primär
Varianten des Wortschatzes abgefragt werden, aber auch phonologische
und syntaktische Varianten ermittelt werden können. Ein Beispiel syntak-
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1071

tischer Variation liegt insbesondere in den Untersuchungen zu den unter-


schiedlichen Konstruktionen der Pronominaladverbien vor – im Folgen-
den ein Beispiel für das Pronominaladverb davon.

Abbildung 4: Karte: davon (AdA, 2. Runde)

3.3. Diskontinuierliche Pronominaladverbien

Ich habe das Korpus vor allem auf Konstruktionstypen diskontinuierli-


cher Pronominaladverbien hin befragt. Jürg Fleischer (2002) spricht in
Anlehnung an Wilhelm Oppenrieder (1990) von einer „Spaltungskon-
struktion“, wenn das ursprünglich zusammenstehende Pronominaladverb
in seine zwei Bestandteile „aufgespalten“ wird (da halte ich nichts von) und
von „Verdoppelungskonstruktion“, wenn die Präposition nicht alleine
zurückbleibt, sondern wieder zu einem vollständigen Pronominaladverb
ergänzt wird. Dabei gibt es einerseits die Möglichkeit der „Distanzver-
doppelung“ (da halte ich nichts davon) und andererseits die so genannte
„kurze Verdoppelung“ (da davon halte ich nichts), bei der die beiden Ele-
mente in Kontaktstellung stehen.
1072 Michaela Negele

3.3.1. Behandlung in den Grammatiken

Konstruktionen diskontinuierlicher Pronominaladverbien werden in den


Grammatiken – sofern sie überhaupt Erwähnung finden6 – generell spär-
lich behandelt.
Um einen adäquaten Vergleich zwischen den Beschreibungen in den
Grammatiken und der tatsächlichen Verwendungsweise anstellen zu kön-
nen, habe ich die Grammatiken gerade auf die Punkte hin befragt, die
auch in den folgenden Korpusanalysen eine Rolle spielen werden, nämlich
1. die topologischen Stellungsmöglichkeiten,
2. ihre regionale und stilistische Zuordnung sowie
3. die phonologische Struktur der Präposition.
Zu 1. Topologische Stellungsmöglichkeiten:
Bezüglich der Stellung des adverbialen Teils (da, hier, wo) wird meist ange-
geben, dass dieser ins Vorfeld versetzt werden kann (vgl. IDS-Grammatik
1997; Eisenberg 2004): Da habe ich nichts von gehalten. Allein die Duden-
Grammatik (2005) gibt noch einen weiteren Platz für dieses Element an,
nämlich nach den schwach betonten Pronomina am linken Rand des Mit-
telfeldes, also als letztes mögliches Glied der Wackernagel-Position (vgl.
ebd., § 1360).7
(1a) weil [er] [sie] [auf keinen Fall] [mit dieser Sache] konfrontieren will
(1b) weil [er] [sie] [da] [auf keinen Fall] [mit] konfrontieren will
Gemeinhin wird also bei der Spaltungskonstruktion davon ausgegangen,
dass der adverbiale Bestandteil derjenige ist, der verschoben wird. Die
Präposition bleibt demnach in ihrer üblichen Stellung im rechten Teil des
Mittelfeldes zurück. Die Grammatiken8 sprechen hier von so genannten
gestrandeten Präpositionen (englisch: preposition stranding). Bei der Distanzver-
doppelung werden prinzipiell dieselben topologischen Stellungsmöglich-
keiten angegeben, jedoch komme nach Eisenberg (2004) eine Verdoppe-
lungskonstruktion gerade dadurch zustande, dass zu dem verkürzten
Pronominaladverb zusätzlich ein ‚neues‘ da hinzukommt, das seinen Platz
_____________
6 Keine Angaben über diskontinuierliche Konstruktionen: Engel (1996), Helbig / Buscha
(2001), Hentschel / Weydt (2003), Weinrich (2005).
7 Die Position zu Beginn des Mittelfeldes, also unmittelbar nach der linken Satzklammer,
nennt man Wackernagel-Position. In dieser Position stehen vor allem schwach betonte Perso-
nal- und Reflexivpronomina. Benannt ist diese Position nach „dem Sprachhistoriker, der
die Erscheinung als erster exakt beschrieben hat“ (vgl. Duden-Grammatik 2005, § 1356).
8 Vgl. Duden-Grammatik (2005, § 1360); IDS-Grammatik (1997, 2085); Eisenberg (2004,
198).
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1073

im Vorfeld habe. Dies ist insofern erwähnenswert, als dass man ja auch
davon ausgehen könnte, dass der Verdoppelung eine Spaltungskonstruk-
tion zugrunde liegt, bei der anschließend die ‚gestrandete‘ Präposition
wieder zu einem Pronominaladverb vervollständigt wird. Das würde be-
deuten, dass nicht das da im Vorfeld, sondern das bei der Präposition
stehende da verdoppelt, also ‚neu‘ hinzugefügt wird.
Zu 2. Regionale und stilistische Zuordnung:
Sehen wir uns nun die Angaben der Grammatiken über die regionale und
stilistische Zuordnung diskontinuierlicher Pronominaladverbien genauer
an. Was die Spaltungskonstruktion angeht, so erfährt man aus der Duden-
Grammatik (2005, § 1360), dass „in vielen regionalen Varietäten des Deut-
schen“ Pronominaladverbien aufgespalten werden können, Admoni
(1982, 206) ordnet diese Konstruktion ohne weitere Differenzierung der
Umgangssprache zu. Nach Aussagen der IDS-Grammatik (1997, 2085) wird
sie „überwiegend nur regionalsprachlich im Norden“ verwendet. In der
Wahrig-Grammatik (Götze 2002, 301) werden Spaltungskonstruktionen
generell als ungrammatisch eingestuft:
Ein weiterer Fehler, wieder vor allem in der gesprochenen Sprache, ist die Auf-
splitterung des Pronominaladverbs im Satz:
*Da kann ich nichts für. (richtig: Dafür kann ich nichts.)
*Hier sag’ ich nichts zu. (richtig: Hierzu sag ich nichts.)
Die Tatsache, dass die Verfasser einer Grammatik von 2002 im Falle von
gesprochener Sprache ausschließlich mit den Kategorien falsch bzw. rich-
tig operieren, macht deutlich, wie wenig regionale Variation in Standard-
grammatiken bisher akzeptiert wird. Sofern es überhaupt Aussagen über
die regionale Verteilung der Verdoppelungskonstruktion gibt, bleiben
diese ziemlich vage, man finde sie laut Duden (2005, § 1360) „in vielen
regionalen Varietäten des Deutschen“, laut Eisenberg (2004, 198) „in
vielen Dialekten“. Verlässt man sich hier also auf die Informationen der
Grammatiken, so steht man der Frage nach der diatopischen und diapha-
sischen Variation ziemlich ratlos gegenüber. Man kann sich des Eindrucks
kaum erwehren, dass die Aussagen darüber ziemlich willkürlich getroffen
werden und somit kein realistisches Abbild der Sprachwirklichkeit zu ge-
ben vermögen.
Zu 3. Phonologische Struktur der Präposition:
Ob ein Pronominaladverb nun prinzipiell eher zur Spaltung oder zur Ver-
doppelung neigt, wird laut Aussagen der Grammatiken gemeinhin von der
phonologischen Struktur der Präposition abhängig gemacht. Eisenberg
(2004, 198) nimmt dabei eine komplementäre Verteilung an: Zur Spaltung
käme es demnach bei Pronominaladverbien mit konsonantisch anlauten-
der Präposition (da haben sie nichts von gelernt), bei vokalisch anlautender
1074 Michaela Negele

Präposition hingegen zu einer Verdoppelungskonstruktion (da freuen wir


uns drauf ).

3.3.2. Korpusuntersuchung

Diese aus den Grammatiken theoretisch gewonnenen Erkenntnisse gilt es


nun auf ihr konkretes Vorkommen im Korpus hin zu überprüfen. An
dieser Stelle können aus der detaillierten Korpusuntersuchung nur einige
Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden.
1. Spaltungskonstruktion:
Bei der Spaltung von da(r)-Pronominaladverbien ergeben sich aus
dem Korpus klare Stellungspräferenzen: Das pronominale Element
da befindet sich bevorzugt im Vorfeld (⅔ der Fälle), kann aber auch
im Mittelfeld in Wackernagel-Position (⅓ der Fälle) stehen. Die
Präposition drängt im Mittelfeld in die Nähe des Verbs, bei einteili-
gen Verbformen steht sie klammerbildend am Ende des Satzes.
Spaltungskonstruktionen kommen vorwiegend im Niederdeutschen
sowie im (West-)Mitteldeutschen vor. Insgesamt tendieren eher
Pronominaladverbien mit konsonantisch anlautender Präposition
zur Spaltung, was aber nicht heißt, dass sie bei vokalisch anlauten-
der Präposition ausgeschlossen ist. Spaltungskonstruktionen bei
wo(r)-Pronominaladverbien kommen im Korpus fast ausschließlich
in relativer Verwendung vor, wobei wo stets die linke Satzklammer
bildet und die Präposition vorwiegend an den rechten Rand des
Mittelfeldes in Verbnähe bewegt wird. Die Suchergebnisse für hier-
Pronominaladverbien waren vernachlässigbar gering.
2. Distanzverdoppelung:
Die Distanzverdoppelung unterscheidet sich hinsichtlich der Stel-
lungsmöglichkeiten des da prinzipiell nicht von der Spaltungskon-
struktion. Das pronominale Element steht hier sogar in 75 % der
Fälle im Vorfeld, ansonsten – wie zu erwarten – zu Beginn des Mit-
telfeldes in Wackernagel-Position. Der zweite Bestandteil steht ge-
wöhnlich im Mittelfeld, bei zweiteiligem Prädikat unmittelbar vor
der rechten Satzklammer, bei einteiligem Prädikat am Ende des
Satzes. Fungiert das Pronominaladverb als Verbpartikel, bildet es
die rechte Satzklammer. In der Verdoppelung wird im Allgemeinen
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1075

die unsilbische Variante9 bevorzugt. Die Distanzverdoppelung hat


einen großen Verbreitungsradius, sie wird im gesamten hochdeut-
schen Sprachgebiet verwendet, wobei die unsilbische Variante ver-
doppelter Pronominaladverbien ebenso im niederdeutschen
Sprachgebiet üblich ist. Tendenziell neigen eher Pronominaladver-
bien mit vokalisch anlautender Präposition zur Verdoppelung, da
aber im Süden die Spaltung generell unüblich ist, wird dort unab-
hängig von der phonologischen Struktur der Präposition verdop-
pelt. Mit wo(r)- gebildete Pronominaladverbien werden sehr selten
verwendet, die Stellung der beiden Bestandteile unterscheidet sich
nicht von der Spaltungskonstruktion. Zu den hier-Pronominalad-
verbien konnten erneut kaum Suchergebnisse gefunden werden.
3. Kurze Verdoppelung:
Die Korpusuntersuchung zeigte deutlich, dass die Verwendung der
kurzen Verdoppelung stark mit der phonologischen Struktur der
Präposition zusammenhängt, sie wird nämlich fast ausschließlich
bei vokalisch anlautender Präposition verwendet, bei der das pro-
nominale Element zur unsilbischen Variante verkürzt werden kann,
sodass eine deutliche Tendenz zur Vermeidung von zusammenste-
henden dreisilbigen Konstruktionen erkennbar ist (wie z.B. da dar-
an). Innerhalb der Korpora fanden sich insgesamt wenige, aber über
das gesamte deutsche Sprachgebiet verteilte Belege für die kurze
Verdoppelung, was allerdings etwas erstaunt, wenn man die AdA-
Karten zum Vergleich heranzieht, auf denen die kurze Verdoppe-
lung auf das Gebiet südlich der Mainlinie beschränkt ist.

4. Diskontinuierliche Pronominaladverbien:
Standard oder Substandard?
4.1. Funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen

Bei der Betrachtung der Aussagen der Grammatiken zu den Pronominal-


adverbien wurde deutlich, dass diese die Verwendung diskontinuierlicher
Varianten, sofern sie überhaupt erwähnt werden, häufig kritisieren bzw.
als dialektale Erscheinungsform abtun. Dennoch halten die Sprachbenut-
zer in der Alltagssprache offensichtlich an ihrer Benutzung fest. Somit

_____________
9 Unter unsilbischer Variante sollen in Anlehnung an Jürg Fleischer Formen wie da …
dran / drüber / drauf verstanden werden, die ihren Vokal verloren haben, sodass ein redu-
ziertes Pronominaladverb mit unsilbischem dr- zurückbleibt (vgl. Fleischer 2002, 17).
1076 Michaela Negele

kann man sich fragen, worin denn eigentlich im Vergleich zum einfachen
Pronominaladverb der funktionale ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Struktu-
ren besteht, der ihre Verwendung gerade in der gesprochenen Sprache so
‚attraktiv‘ macht.
1. Erfüllung zweier Wortstellungstendenzen:
Was die topologischen Stellungsmöglichkeiten betrifft, konnte die
Korpusuntersuchung die theoretischen Aussagen der Grammatiken
empirisch bestätigen. Das anaphorische pronominale Element be-
fand sich meist in satzinitialer Position, wo es unmittelbar vorher
Erwähntes wieder aufnehmen kann, die Präposition in nahezu allen
Fällen in unmittelbarer Verbnähe. Aus diesen unterschiedlichen to-
pologischen Präferenzen ergibt sich natürlich bei dem einfachen
Pronominaladverb eine gewisse Spannung. Diese unterschiedlichen
Wortstellungstendenzen können nun gerade durch eine diskontinu-
ierliche Stellung des Pronominaladverbs beide erfüllt werden.
2. Klammerung als Prinzip der deutschen Satzstruktur
Außerdem nützen diskontinuierliche Varianten eine weitere Eigen-
schaft des Deutschen, das eine Tendenz zur Klammerstruktur auf-
weist. Elke Ronneberger-Sibold (1994, 115) und Hans-Werner
Eroms (2000) sprechen von einem „klammernden Verfahren“ als
wesentliches Merkmal der Topologie der nhd. Standardsprache.
Dieses besteht genau darin, dass bestimmte Bestandteile eines Sat-
zes von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, um den Hörer
bei der syntaktischen Dekodierung zu unterstützen.
Im Falle getrennt stehender Pronominaladverbien, die eine so
genannte Adverbialklammer bilden, kann der Hörer also im Normal-
fall davon ausgehen, dass ein am Anfang des Satzes geäußertes da
im weiteren Verlauf noch durch eine passende Präposition ‚vervoll-
ständigt‘ werden wird.

4.2. Diskontinuierliche Pronominaladverbien


gehören dem gesprochenen Standard an

Aufgrund der bisherigen Ausführungen möchte ich abschließend nun die


These aufstellen, dass man es bei diskontinuierlichen Pronominaladver-
bien schon mit gesprochener Standardsprache bzw. äußerst standardnaher
Alltagssprache zu tun hat – wenn auch nicht mit einer kodifizierten, ge-
schriebenen Standardsprache. Folgende Argumente können diese These
stützen:
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1077

Erstens die Verwendung diskontinuierlicher Konstruktionen im ge-


samten deutschen Sprachgebiet: Aus der Korpusuntersuchung wurde er-
sichtlich, dass gerade die Distanzverdoppelung bei der unsilbischen Vari-
ante über das gesamte deutsche Sprachgebiet verteilt ist. Auch die Spal-
tungskonstruktion breitet sich in der Alltagssprache immer weiter in den
Süden aus, was die neuesten Erhebungen aus dem Atlas zur deutschen All-
tagssprache (AdA) deutlich zeigen – sie dringen also auch in Gebiete vor, in
denen sie keine dialektale Basis haben – was deutlich wird, wenn man
beispielsweise die unter 3.2. abgedruckte Karte (davon) mit den von Jürg
Fleischer (2002) erstellten Karten zu diskontinuierlichen Pronominalad-
verbien in den Dialekten des Deutschen vergleicht – hier am Beispiel der
Spaltungskonstruktion:

Abbildung 5: Spaltungskonstruktion bei da (Fleischer 2002, 430)


1078 Michaela Negele

Zweitens ihr bereits ausgeführter funktionaler Mehrwert: Gerade ihr Ver-


dienst, die Satzplanung durch eine diskontinuierliche Stellung der beiden
Elemente zu erleichtern, macht sie für die gesprochene Sprache an sich so
attraktiv. Dieses Argument kann auch durch die Tatsache gestützt werden,
dass innerhalb der Korpusuntersuchung jeweils kaum Belege für die kurze
Verdoppelung gefunden werden konnten, bei der eine diskontinuierliche
Stellung gerade nicht möglich ist.10 Außerdem scheinen diskontinuierliche
Pronominaladverbien zunehmend auch in distanzsprachlichen Kontexten
verwendet und sogar – und damit wäre ich bei meinem dritten Argu-
ment – in den Medien unmarkiert abgedruckt zu werden. Die folgenden
Zitate aus der Wochenzeitung Die Zeit11 belegen dies exemplarisch:
(2) Und hinter all dem der Verlust des Glaubens, ‚ihre‘ Musik könne
noch etwas zur Verbesserung der Welt beitragen. Da ließ man
dann entweder die Finger davon oder ging den Weg ins (meist
elektronische) Sektierertum; (Pesch, Martin, in: Die Zeit 33 /
2000)
(3) Es ist faszinierend zu hören, wie viel Vertrauen der Anwalt der
Menschenrechte in sein eigenes Urteilsvermögen hat. Mit wie
viel Leiden die medizinische Diagnose „Bauchspeicheldrüsen-
krebs“ verbunden sei, das könne er ja wohl wissen: „Da brauche
ich doch keinen Arzt dafür. Das kann ich selber entscheiden“;
(Willmann, U., in: Die Zeit 36 / 2001)
(4) Egal, ob Pferde, Elefanten oder Tiger, sagt Susanne Matzenau,
Sprecherin des Zirkus Krone, Sie können Seelöwen mit keinem
anderen Zirkustier vergleichen. Da liegen Welten dazwischen.
Die geistige Elite des Tierreichs; (Miersch, Michael, in: Die Zeit
online 2003)
(5) Auf die Einführung des Dosenpfandes freut sich Richter, der in
einer Behindertenwerkstatt arbeitet, schon heute. 1000 Dosen –
da bekomme ich 250 Euro für, sagt er. 25 Cent soll es künftig
für die Rückgabe von Getränkeblech geben, [...]. (Lehnen, Eva,
in: Die Zeit online 2002)
Natürlich könnte man einwenden, dass es sich hier um ins schriftliche
Medium übernommene mündliche Aussagen handelt. Dennoch ist es in
Zeitungen und anderen Printmedien allgemein üblich, Zitate nicht völlig
unverändert – ähnlich einer Transkription – abzudrucken, sondern sowohl
in die Lautung als auch in die Morphologie redigierend einzugreifen und
eben auch syntaktische Unebenheiten zu glätten. Wenn nun diskontinuier-
liche Pronominaladverbien immer weniger diesen Veränderungen zum
_____________
10 Ich danke Jürg Fleischer für diesen Hinweis.
11 Korpus Die Zeit online im Internet unter http://www.dwds.de/.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache 1079

Opfer fallen, könnte ihnen das mittelfristig den Weg in den schriftlichen
Standard ebnen und sie aus ihrem Dasein als dialektal stigmatisierte Er-
scheinungsform befreien.

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