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→ Übersichten 27 und 28
Manche Wortformen finden sich in den Wörterbüchern von M. Lexer oder B. Hen-
nig in der gleichen Form wie im Text: schilt, sô, ûz. Die Gründe sind unterschied-
lich: schilt kommt in NL 985,3b im Nominativ Singular vor, der Ansatzform von
Substantiven in Wörterbüchern, kann aber in bestimmten syntaktischen Kontexten
seine Form ändern und etwa als Genitiv schiltes (NL 984,2b) erscheinen. Demge-
genüber sind das Adverb sô (NL 983,4a) und die Präposition ûz (NL 985,2a) nicht
flektierbar und treten stets als sô bzw. ûz auf.
Das Verb 121
Bei Verben ist der Weg von der flektierten Wortform im Text zur Grundform
im Wörterbuch, dem Infinitiv, schwieriger als bei den anderen Wortarten. Dabei ist
das Verb als vorgangs- und zustandsbeschreibende Wortart für das Verständnis des
Satzes von grundlegender Bedeutung. Bei einer Betrachtung der Verbalflexion in
der Gegenwartssprache fällt schnell auf, dass unterschiedliche Verben eine zentrale
grammatische Kategorie wie Tempus unterschiedlich ausdrücken. Das Präteritum
von geben lautet gab, das Präteritum von leben jedoch nicht *lab, sondern lebte.
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Auf der anderen Seite gilt aber nicht für jedes Verb eine eigene Regelung, sondern
bestimmte Vokalverhältnisse wiederholen sich bei ganzen Gruppen von Verben:
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den Infinitiv mit ie, da diese Vokale auch in den Präteritumsformen der Reihen III
und IV auftreten. Es sind also weitere Kriterien zur Unterscheidung der Reihen II,
III und IV notwendig.
Reihe III: a) binden binde bant bunden gebunden ›binden‹
b) werfen wirfe warf wurfen geworfen ›werfen‹
Für die Kennzeichnung der einzelnen Ablautreihen ist außer den Vokalen selbst
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auch die konsonantische Umgebung der ablautenden Vokale von Bedeutung. Ver-
ben, in denen dem ablautenden Vokal m, n, r oder l + Konsonant folgen, gehören
in Reihe III. m und n heißen nach ihrer Artikulationsart Nasale, r und l Liquide.
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Verben mit Nasal + Konsonant (z. B.: nt, nd, nn, mm) gehören in Reihe IIIa, Verben
mit Liquid + Konsonant (z. B.: rf, rd, lf, ll) in Reihe IIIb.
Zur Ablautreihe IIIb gehören auch einige Verben, deren Grundmorphem auf
mehrfache Konsonanz ausgeht und bei denen teilweise r oder l vor dem Vokal des
Grundmorphems stehen: bresten ›bersten‹, vlehten, vehten.
Reihe IV: nemen nime nam nâmen genomen ›nehmen‹
Nach Reihe IV flektieren alle starken Verben, in denen dem ablautenden Vokal m,
n, r oder l allein, also ohne einen weiteren Konsonanten, folgen. Von diesem
Befund aus ist auch eine eindeutige Zuordnung von Partizipien wie gebogen, gewor-
fen oder genomen möglich. gebogen gehört in Reihe II, weil dem ablautenden Vokal
o kein Nasal oder Liquid folgt. geworfen gehört in Reihe IIIb, weil dem Vokal o
Liquid + Konsonant folgen. genomen gehört in Reihe IV, weil dem Vokal o ein
Nasal ohne einen weiteren Konsonanten folgt. Abweichenden Präsensvokal zeigt
komen (ahd. queman).
Reihe V: geben gibe gap gâben gegeben ›geben‹
Die Verben der Reihe V unterscheiden sich aufgrund der Ablautverhältnisse von
den Reihen I und II und im Hinblick auf den nachfolgenden Konsonanten von den
Reihen III und IV. In Reihe V gehören Verben mit dem Vokal e im Infinitiv, in
denen dem ablautenden Vokal kein Nasal oder Liquid, sondern ein anderer Konso-
nant folgt.
Reihe VI: varn var vuor vuoren gevarn ›fahren‹
Die ablautenden Vokale dieser Reihe kommen in den Reihen I bis V nicht in dieser
Verteilung vor. In Reihe VI gehören daher Verben mit a im Präsens und im Parti-
zip Präteritum und uo im Präteritum.
Reihe VII: râten râte riet rieten gerâten ›raten‹
Kennzeichen der Reihe VII ist der Diphthong ie in den Präteritumsformen. Diese
Verbklasse enthält Verben, die ihr Präteritum ursprünglich durch Reduplikation
(mit oder ohne Ablaut) bildeten. Reduplikation ist die Verdopplung des Grund-
morphemanlauts; → 2.1.1. Die Verben der Reihe VII werden daher häufig auch als
reduplizierende Verben bezeichnet. Dem Präteritumsvokal ie können sechs ver-
124 Einführung in die mittelhochdeutsche Flexionsmorphologie
: : ›stoßen‹
Mit Ausnahme des Vokals a (= kurzes a) kommen diese Vokale in den entspre-
chenden Formen anderer Ablautreihen nicht vor. Der Vokal a tritt in Reihe VII nur
vor l oder n + Konsonant auf (Beispiele: halten, schalten, spannen). In Reihe VI
steht a bis auf geringe Ausnahmen vor einfachem Konsonanten.
Die Flexionsformen
Die mittelhochdeutsche Verbalflexion realisiert wie die neuhochdeutsche die gram-
matischen Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus:
Personen: 1. Person, 2. Person, 3. Person
Numeri: Singular, Plural
Tempora: Präsens, Präteritum
Modi: Indikativ, Konjunktiv, Imperativ
Die nach diesen Kategorien flektierten Formen sind die finiten Formen. Daneben
existieren die infiniten, das heißt nicht nach Person und Numerus bestimmten For-
men des Infinitivs und der Partizipien.
Auch im Mittelhochdeutschen begegnen schon zusammengesetzte Verbformen
aus finitem Hilfsverb + Infinitiv (wil […] sagen [NL 975,1b]) oder aus finitem Hilfs-
verb + Partizip (hât begangen [BvR I, 6]), die wie im Neuhochdeutschen zur
Umschreibung des Passivs und zur Bildung weiterer Tempora dienen.
Die mittelhochdeutschen Flexionsendungen unterscheiden sich teilweise vom
neuhochdeutschen Inventar. Daher ist es hilfreich, die auffälligen, von der Gegen-
wartssprache besonders abweichenden Formen hervorzuheben. Die Konjunktivfor-
men unterscheiden sich nicht durchgehend von den Indikativformen. Hier genügt
es, sich diese besonderen Formen einzuprägen.
Im Indikativ Präsens lauten die Formen von werfen:
ich wirf-e
dû wirf-est
er, siu, ez wirf-et
wir werf-en
ir werf-et
sie werf-ent
Das Verb 125
Die Schreibweise mit Bindestrich trennt das Grundmorphem (die Wurzel) vom
Flexionsmorphem (der Endung). Besonders auffällig sind im Vergleich mit dem
Nhd. die Form der 1. Person Singular (wegen abweichenden Wurzelvokals) sowie
die Form der 3. Person Plural mit der Endung -nt.
ich warf-Ø
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dû würf-e
er, siu, ez warf-Ø
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wir wurf-en
ir wurf-et
sie wurf-en
Besonders auffällig ist die Form der 2. Person Singular, die den Vokal des Plurals in
umgelauteter Form enthält. Das Zeichen Ø in der 1. und 3. Person Singular signali-
siert das Fehlen einer eigentlichen Endung, die so genannte Nullendung. Der Impe-
rativ weist in der 2. Person Singular wie im Nhd. eine eigene Form auf (wirf mit
Nullendung), während seine Form in der 2. Person Plural dem Indikativ entspricht
(werfet).
Im Konjunktiv Präsens unterscheiden sich in den Endungen nur die Formen der
3. Person: er werfe gegenüber er wirfet, sie werfen gegenüber sie werfent. Bei Verben
mit Veränderungen im Wurzelvokal im Indikativ Singular unterscheiden sich alle
Singularformen:
Konjunktiv: ich werfe, dû werfest, er werfe – Indikativ: ich wirfe, dû wirfest, er wir-
fet.
Wie im Konjunktiv II der Gegenwartssprache zeigen umlautfähige Vokale im
Konjunktiv Präteritum durchgehend Umlaut: ich würfe, dû würfest, er würfe, wir
würfen, ir würfet, sie würfen.
In den einzelnen Teilbereichen der Flexion treten die verschiedenen Vokale der
Ablautreihe in einer charakteristischen Verteilung auf. Aus den Formen der
Ablautreihe lassen sich daher sämtliche Flexionsformen ableiten.
werfen: e gilt im Infinitiv: werfen
im Partizip Präsens: werfende
im Plural Indikativ Präsens: wir werfen usw.
im ganzen Konjunktiv Präsens: ich werfe, dû werfest usw.
im Imperativ Plural: werfet
wirfe: i gilt im Singular Indikativ Präsens: ich wirfe usw.
im Imperativ Singular: wirf
warf: a gilt in der 1. und 3. Person Singular Indikativ Präteritum:
ich warf, si warf
wurfen: u gilt im Plural Indikativ Präteritum: wir wurfen usw.
in der umgelauteten Form ü:
126 Einführung in die mittelhochdeutsche Flexionsmorphologie
Bei einigen Verben ist außer dem Ablaut noch eine konsonantische Veränderung
zu berücksichtigen. Die Form wâren (NL 978,1b) ist als 3. Person Plural Indikativ
Präteritum zu bestimmen. Die 3. Person Singular Indikativ Präteritum ist in NL
979,1a belegt: was. Vokalismus und wurzelschließender Konsonant im Indikativ
Präteritum, der weder Nasal noch Liquid ist, führen in die V. Ablautreihe:
wesen wise was wâren gewesen (mit Ausgleich des grammatischen Wechsels)
Der grammatische Wechsel tritt auch bei einigen hochfrequenten Verben auf, in
der I. Ablautreihe bei snîden snîde sneit sniten gesniten ›schneiden‹, in der II.
Ablautreihe bei ziehen ziuhe zôh zugen gezogen ›ziehen‹ und kiesen kiuse kôs kurn
gekorn ›wählen‹, in der V. Ablautreihe bei wesen wise was wâren (gewesen) und lesen
lise las lâren geleren sowie in der VI. Ablautreihe bei slân slâhe sluoc sluogen gesla-
gen.
In wenigen Fällen (ziehen – zogen, schneiden – schnitten) hat sich der grammati-
sche Wechsel bis in die Gegenwartssprache erhalten; zur Ursache dieses Konsonan-
tenwechsels → 2.1.1.
die wichtigsten Verben dieser Gruppe. Die Ablautreihe lautet also zum Beispiel:
sprechen – spriche – sprach – sprâchen – gesprochen. Die Einordnung dieser Verben
kann man sich mit Hilfe der neuhochdeutschen Partizipien gesprochen, gebrochen
usw. mit -o- klar machen.
In der V. und VI. Ablautreihe gibt es einige Verben, die zu regelmäßigen Formen
des Präteritums Präsensformen mit abweichendem Vokal zeigen. In der V. Ablaut-
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reihe erscheint i statt e, in der VI. Ablautreihe e statt a. So gehören das Partizip Prä-
teritum gesezzen und die 1./3. Person Singular Indikativ Präteritum saz zu dem Infi-
nitiv sizzen. Man vergleiche etwa:
Der Wurzelvokal im Infinitiv und im Präsens Plural ist i statt e. Der Imperativ (2.
Person Singular) dieser Verben endet auf -e.
Ursache für diese Besonderheiten ist die germanische Bildung der Präsensfor-
men mit einem zusätzlichen j vor der Flexionsendung. Deshalb werden diese Ver-
ben j-Präsentien genannt (Singular: das j-Präsens). Wegen der geringen Zahl dieser
Verben und der Häufigkeit ihres Vorkommens prägt man sich am besten die ganze
Gruppe ein:
V. Ablautreihe:
bitten bitte bat bâten gebeten ›bitten‹
ligen lige lac lâgen gelegen ›liegen‹
sizzen sizze saz sâzen gesezzen ›sitzen‹
VI. Ablautreihe:
heven heve huop huoben erhaben ›heben‹
schepfen schepfe schuof schuofen geschaffen ›schaffen‹
swern swer swuor swuoren gesworn ›schwören‹ (mit -o-
statt -a- im Partizip
Präteritum, wohl in
Analogie zu Reihe IV).
Infinitiv und Präsens zeigen bei diesen Verben zum Teil Gemination, das heißt
Dehnung des Konsonanten im Auslaut des Grundmorphems, die bei der Schrei-
bung als Buchstabenverdopplung erscheint: bitten gegenüber bâten. Zu dieser Kon-
sonantengemination und zu ihren Auswirkungen im Flexionssystem → 2.1.2.
128 Einführung in die mittelhochdeutsche Flexionsmorphologie
Die Rückführung der im Text belegten flektierten Form auf den Infinitiv erlaubt die
Ermittlung der Bedeutung im Wörterbuch; die Formenbestimmung nach den gram-
matischen Kategorien und die Berücksichtigung des Kontextes ermöglichen die
Überprüfung und Ergänzung der aus dem Kontext erschließbaren Informationen.
Nominativergänzung zur Form schuzzen (NL 2038,1a) ist das Personalprono-
men si, das wie nhd. sie sowohl Singular Femininum als auch (genusneutraler) Plu-
ral sein kann. Zur Flexionsendung -en passt allerdings nur die Plural-Lesart des
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Plural kommt der Wurzelvokal -u- in den Ablautreihen IIa, IIb, IIIa, IIIb vor. Zur
näheren Bestimmung muss der wurzelschließende Konsonantismus herangezogen
werden. Geminierter Dental -z- schließt die Ablautreihen IIIa und IIIb aus, deren
Wurzeln auf Nasal bzw. Liquid und weiteren Konsonanten enden, und verweist auf
Ablautreihe IIb; der Infinitiv muss daher schiezen lauten (-zz- erscheint nach Diph-
thong einfach).
Sieht man von rein graphischen Modifikationen wie der <v>/<f>-Schreibung bei
mhd. varn gegenüber nhd. fahren ab, so treten hier zum einen die bekannten Laut-
veränderungen des Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen auf. Im Bereich
des Konsonantismus findet die Auslautverhärtung graphisch keinen Niederschlag
mehr (→ 2.1.4): bouc > bog, bant > band, gap > gab. Im Bereich des Haupttonvoka-
lismus (→ 2.2.5) treten auf die Diphthongierung (rîten > reiten), die Monophthon-
Das Verb 131
gierung (riet > riet [ri:t]; vuor > fuhr) und die Dehnung in offener Silbe (nemen >
nehmen, geben > geben [ge:b n]). Eine Reihe von Veränderungen kann aber mit
e
den bekannten Regeln der historischen Phonologie nicht erklärt werden.
Im Bereich des Konsonantismus ist dies der Fall bei mhd. zigen, gezigen > nhd.
ziehen, geziehen. Der wurzelschließende Konsonant mhd. -g war durch den gram-
matischen Wechsel bedingt, der im Neuhochdeutschen von Ausnahmen abgesehen
ausgeglichen wird.
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stamm aber am Wurzelvokal der alten Pluralform orientieren (mhd. nam, nâmen
> nhd. nahm, nahmen). Anders als die in Kapitel 2 beschriebenen phonologischen
Veränderungen stellt die Herausbildung von Tempusstämmen einen Fall morpho-
logischen Wandels dar.
→ Übersicht 29
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Die Form spranc gehört zu springen und zeigt Ablaut; sie ist als stark zu bestimmen
(vgl. auch nhd. springen – sprang). Die Form ragete gehört zu ragen, sie zeigt keinen
Ablaut, sondern -t- (Dentalsuffix) als Tempusmerkmal in den Präteritumsformen.
Verben mit diesen Kennzeichen heißen schwache Verben (vgl. auch nhd. ragen –
ragte).
In Strophe 987 des ›Nibelungenliedes‹ stehen sich auch Partizipien starker und
schwacher Verben gegenüber:
erblichen Part. Prät. zum starken Verb der Ablautreihe Ia:
erblîchen, erblîche, erbleich, erblichen, erblichen.
beweinet Part. Prät. zum schwachen Verb beweinen.
Starke Verben haben im Partizip Präteritum die Endung -(e)n und im Imperativ
Singular Nullendung; schwache Verben haben im Partizip Präteritum die Endung
-(e)t und im Imperativ Singular die Endung -e.
Weiterhin deutet sich hier bereits eine Entwicklung im Verhältnis starker und
schwacher Verbflexion vom Mittel- zum Neuhochdeutschen an: beweinen flektiert
auch in der Gegenwartssprache noch schwach, während erbleichen von der starken
zur schwachen Flexion übergegangen ist (sie erbleichte). Dieser Wechsel des Fle-
xionstyps betrifft eine Reihe im Mittelhochdeutschen noch starker Verben (neigen,