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Bertolt.

Brecht: „Furcht und Elend des Dritten Reiches“


Notizen zum Programm

I.
Bertolt Brecht
Eine biographische Skizze

Brecht wird am 10. Februar 1898 als Eugen, Bertolt, Friedrich Brecht in Augs-
burg geboren.
Er besucht die Volksschule und das Realgymnasium.
Bereits 1914 veröffentlicht er erste Gedichte und Kurzgeschichten. Nach dem
Abitur beginnt er 1917 ein Studium der Medizin in München.
Im März 1918 organisiert er im Freundeskreis eine Totenfeier für den Dichter
Frank Wedekind. Er wird zum Kriegsdienst in einem Augsburger Lazarett ein-
gezogen. Hier entsteht das berühmte Gedicht „ Die Legende vom toten Solda-
ten“. Nach Kriegsende setzt er sein Medizinstudium in München fort und wird
Mitglied in der USPD. Das Stück „Baal“ entsteht.
1919 begegnet er Lion Feuchtwanger, schließt Freundschaft mit Johannes R.
Becher in München, wird Mitglied beim Arbeiter- und Soldatenrat in Augburg
und übernimmt die Theaterkritik am Augsburger „Volkswillen“.
1920 stirbt seine Mutter. Er besucht immer wieder die Vorstellungen von Karl
Valentin und schreibt weitere Stücke.
1921/22 reist er nach Berlin, verhandelt mit Verlagen über die Veröffentli-
chung seiner Stücke.
Am 3. November 1922 heiratet er die Sängerin Marianne Josephine Zoff.
In Berlin wird „Trommeln in der Nacht“ uraufgeführt.
Am 12. März 1923 wird die Tochter Hanne Marianne geboren.
Weitere Uraufführungen seiner Stücke. Brecht arbeitet auch als Regisseur.
1924 übersiedelt er nach Berlin. Dort begegnet er Helene Weigel und wird
Mitarbeiter am „Deutschen Theater“.
1925/26 erlebt er zahlreiche Uraufführungen seiner Stücke.
1927 wird seine „Hauspostille“ veröffentlicht, die Zusammenarbeit mit Pisca-
tor beginnt und seine Ehe wird am 22. November geschieden.
1928 beginnt er mit den Arbeiten an der „Dreigroschenoper“; die Uraufführung
geht am 31. August im „Theater am Schiffbauerdamm“ über die Bühne. Er hei-
ratet Helene Weigel.
Brecht arbeitet in den Jahren1929/1930/1931/1932 sehr intensiv, es entstehen
und es werden zahlreiche Stücke uraufgeführt. Am 18. Oktober 1930 wird die
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Tochter Maria Barbara geboren. Er beginnt mit den Arbeiten an dem Drehbuch
zum Film „Kuhle Wampe“.
Am 28. Februar 1933, am Tag nach dem Reichstagsbrand, verlässt Brecht
mit seiner Familie Deutschland.
Über Prag und Wien gehen sie zunächst nach Zürich. Sie halten sich dann für
einige Zeit bei Lisa Tetzner und Kurt Held in Carona im Tessin auf, um dann
auf Einladung der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis nach Dänemark
ins Exil zu gehen.
Sie wohnen das erste halbe Jahr im Haus „Torelore“ auf Thurö und kaufen und
beziehen dann in der Nähe ein Strohdachhaus bei Skovsbostrand bei Svend-
borg auf Fünen.
Am 8. Juni 1935 wird ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt.
Vom 21. bis 23. Juni nimmt er in Paris am Internationalen Schriftstellerkon-
gress zur Verteidigung der Kultur teil und hält eine aufsehen erregende Rede.
Brechts sechs Jahre in Dänemark waren sehr produktiv. Er verfasst hier außer
einer Reihe theoretischer Schriften unter anderem die Stücke „Die Horatier und
die Kuriatier“, „Furcht und Elend des Ditten Reiches“, „Die Gewehre der
Frau Carrrar“ und die erste Fassung des „Leben des Galilei“. Sein Aufenthalt
fand nicht zuletzt seinen Niederschlag in der großartigen Gedichtsammlung
„Svendborger Gedichte“, und zusammen mit Grete Steffin übersetzte er den
ersten Band von Martin Andersen Nexös „Erinnerungen“. Vier von Brechts
Stücken werden in dieser Zeit in Dänemark aufgeführt, während er dort wohn-
te: „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, „Die sieben Todsünden der Kleinbür-
ger“, „Die Dreigroschenoper“ und „Die Gewehre der Frau Carrar“.
Brechts Aufenthalt in Dänemark wurde durch viele, oft sehr lange Reisen, un-
ter anderem nach Paris, Moskau, London und New York, unterbrochen. Er
wohnt zahlreichen Uraufführungen seiner Stücke bei.
Am 21. Mai 1938 kommt es in Paris zur Uraufführung von sieben Szenen
aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“.
Obwohl er verhältnismäßig isoliert auf Südfünen lebt, hat er doch etliche Kon-
takte zu dänischen Intellektuellen und Künstlern.
Er bekommt ebenfalls oft Besuch von alten Bekannten und Freunden aus
Deutschland: dem politischen Philosophen Karl Korsch, dem Komponisten
Hanns Eisler und dem Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin.
Bereits im Frühjahr 1939 sieht Brecht voraus, dass die Deutsche Wehrmacht
Dänemark besetzten wird. Er flieht deshalb im April 1939 mit der Familie nach
Schweden. Was er vorausgesehen hat passiert am 9. April 1940. Um 4.15 über-
schreiten deutsche Truppen die Grenze. Die Besetzung Dänemarks hat begon-
nen.
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Von Schweden fliehen sie weiter nach Finnland. Hier entsteht des Stück „Her
Puntila und sein Knecht Matti“.
Als Brecht 1941 sein Einreisevisum für die USA in den Händen hält, reist er
am 13. Mai 1941 von Finnland weiter über die Sowjetunion in die USA. Als er
in Moskau Zwischenstation macht, erkrankt die ohnehin geschwächte Margare-
te Steffin schwer. Maria Osten, die die Familie Brecht betreut hat, eilt ins
Krankenhaus. In ihren Armen stirbt Margarete Steffin. Sie sendet ein Tele-
gramm an Brecht, das ihn im Zug nach Wladiwostok erreicht. Der Tod seines
„Generals“ hat ihn tief erschüttert. Mit seiner Steffinschen Gedichtsammlung
hat ihr ein literarisches Denkmal geschaffen. In den USA angekommen, kauft
er ein Haus in Santa Monica bei Hollywood. Freundschaftliche Treffen, vor-
treffliche bis hitzige Diskussionen mit Lion Feuchtwanger, Fritz Kortner, Fritz
Lang, Peter Lorre, Aldous Huxley, Heinrich Mann und eine enge Freundschaft
mit Charlie Chaplin gehören zu seinem Alltag.
Weitere Stücke entstehen in dieser Zeit und er arbeite mit an Filmplänen,
schreibt mit an den Drehbuch zum Film „Hangman also die“. Erneut wird er
Zeuge zahlreicher Uraufführungen seiner Stücke.
Am 19. September 1947 erhält Brecht die Auflage, sich im Oktober in
Washington einzufinden um Auskunft über seine Beteiligung an der „kommu-
nistischen Infiltration der Filmindustrie Hollywoods“ zu geben. Im Oktober
1947 muss er erniedrigende Verhöre durch das „Committee Un-American Ac-
tivities of the House of Representatives“ in Washington über sich ergehen las-
sen. Ihm wird unter anderen auch die Veröffentlichung der Szene „Die jüdische
Frau“ aus „Furcht und Elend des Dritten Reichs“ in der Zeitschrift „Ost und
West“ im Juli 1946, die mit Lizenz der sowjetischen Militäradministration in
Berlin erschien, vorgehalten.
Im November verlässt er die USA mit einem Flug nach Zürich – ohne am 7.
Dezember die Aufführung seines Stücks „Leben des Galilei“ in New York mit
Charles Laughton im Maxim Elliott’s Theatre abzuwarten und ihr beizuwoh-
nen.
1948 verweigern die alliierten Behörden Brecht die Einreise von Zürich in die
westlichen Besatzungszonen. Brecht reist daraufhin mit einem tschechischen
Pass von Zürich nach Prag und von dort weiter in die sowjetische Besatzungs-
zone, wo er im Oktober 1948 in Berlin ankommt und sich sofort wieder in die
Arbeit stürzt.
Er gründet mit Helene Weigel das „Berliner Ensemble“, er inszeniert, schreibt
Stücke, Lyrik, Prosa und weitere literatur-theoretische Arbeiten, wird Mitglied
in der Akademie der Künste, er und die Weigel bekommen 1950 die österrei-
chische Staatsbürgerschaft, 1951 wird er mit dem Nationalpreis 1. Klasse ge-

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ehrt, 1953 nimmt er zu den Ereignissen am 17. Juni Stellung und bezieht eine
Wohnung in der Chausseestraße 125.
1954 bezieht er mit dem Berliner Ensemble das „Theater am Schiffbauer-
damm“ als ständiges Domizil, er wird mit Aufführungen in die Metropolen der
Welt eingeladen, umjubelt, gefeiert und geehrt, der Aufbau-Verlag und der
Suhrkamp-Verlag beginnen mit der Gesamtausgabe seines literarischen und
seines literatur-theoretischen Werks.
Im Januar 1956 erkrankt Brecht an einer Grippe und in der Folge an einer Lun-
genentzündung. Er bleibt weiter aktiv. Noch am 10. August nimmt er, trotz ge-
schwächter Gesundheit, an einer Theaterprobe zur Inszenierung des „Leben des
Galilei“ im „Theater am Schiffbauerdamm“ teil.
Am 14. August 1956, um 23.45, beendet ein Herzinfarkt das so wertvolle Le-
ben des Bertolt Brecht.
Die Welt trauert, als er am 17. August auf den Dorotheenfriedhof neben dem
Haus Chausseestraße 125 beigesetzt wird.
Die Welt trauert um einen der größten Dichter deutscher Zunge als am 18. Au-
gust seines Todes mit einem Staatsakt in seiner Wirkungsstätte, dem „Theater
am Schiffbauerdamm“, gedacht wird.
Die ergreifenden Gedenkreden halten Professor Dr. Georg Lukacs, Johannes R.
Becher und Walter Ulbricht.
Vermutlich 1955 hat er auf eine entsprechende Frage schelmisch, in der ihm
eigenen Art geantwortet:
„Ich benötige keinen Grabstein.
Aber, wenn ihr einen für mich benötigt,
wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht.
Wir haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift
wären wir alle geehrt.“

II.
Informationen zum Stück
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Furcht und Elend des Dritten Reiches

„Um nicht auf Vorrat“, sondern „für den Faschismus tödlich“ zu schreiben, be-
gann Brecht bereits 1934, im dänischen Exil, für die Szenenfolge „Furcht und
Elend des Dritten Reiches“ Material über Alltagsereignisse im faschistischen
Deutschland zu sammeln. Er nutzt Radiosendungen, Zeitungsartikel, Augen-
zeugenberichte und Gespräche mit seinen zahlreichen Besuchern. Dabei wird
er von Margarete Steffin und seiner Frau Helene Weigel unterstützt.
Ende 1937 liegen die ersten fünf Szenen vor. Brecht schreibt in schneller Folge
weitere Szenen. Im Mai 1938 sind es bereits 25 und im Juni 27. Im Laufe der
Zeit kommen weitere Szenen hinzu. Insgesamt ist von 35 Szenen auszugehen
von denen sich aber nur 24 gehalten haben, die folglich in die „Gesammelten
Werke“ aufgenommen worden sind.
Eine 1938 geplante gedruckte Ausgabe in Wieland Herzfeldes Exil-Verlag
„Malik“ in Prag kam über das Planungsstadium nicht hinaus. Nach dem Ein-
marsch der deutschen Truppen wurden die fertigen Druckstöcke vernichtet.
Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich: Wenn der Krieg zwar noch nicht begon-
nen hatte, für Brecht war er längst im Gang.
Brecht fasst folglich die einzelnen Szenen in einem Thema zusammen:
Es ist Warnung vor dem drohenden faschistischen Krieg!

Bei der deutschsprachigen Uraufführung am Sonnabend, dem 21. Mai 1938 in


Paris, werden acht Szenen aufgeführt: Das Kreidekreuz, Winterhilfe, Die jüdi-
sche Frau, Zwei Bäcker, Der Bauer füttert die Sau, Der Spitzel, Rechtsfindung
und Arbeitsbeschaffung.
In einem Bericht in der Exilzeitschrift „Das Wort“, Heft 8, August 1938, S.
142 f. lesen wir unter anderem:
„Die Aufführung, die unter dem Protektorat des „Schutzverbandes Deutschen Schriftsteller“
stattfand, stand unter der liebevollen Regie Slatan Theodor Dudows.(Er war fast ständiger Mit-
arbeiter oder Mitwirkender an Brechts Werken und gehörte nach dem Krieg zum Empfangsko-
mitee, das Brecht bei seiner Rückkehr nach Berlin erwartete. D.K.). Helene Weigel, Erich
Schoenlank, Steffi Spira, Günther Ruschin, Hans Altmann, Nora Reißmann, Josef Leininger.
Friedel Ferrari, Erich Berg, Ludwig Turek, Fritz Seiffert und der kleine Hans hatten sich zu ei-
nem geschlossenen, künstlerischen Ensemble zusammengefunden, das mit eindringlicher Le-
bendigkeit die Dichtung Brechts verkörperte.
Zum Ausklang dieses Abends (Die im folgenden geschilderte Zusammenkunft fand tatsächlich
einen Tag später statt. D.K.) hatte der SDS die Darsteller und die Schriftsteller zusammengeru-
fen, um in kameradschaftlicher Aussprache über die Lehren der Aufführung zu diskutieren. Un-
ter der Führung Anna Seghers und Egon Erwin Kischs wurden hier die Probleme erörtert, die
heute für eine freie deutsche Bühne bestehen: die Aufgabe der künstlerischen Bewältigung der
Probleme des deutschen Freiheitskampfes, die Notwendigkeit und Möglichkeit des Aufbaus ei-
ner ständigen deutschen Theaterkunst trotz deren außerordentlichen, in den Emigrationsver-
hältnissen begründeten technischen Schwierigkeiten, die Frage der Zusammenfassung und
Erziehung eines breiten Publikums durch die Bühne, das Problem der Neubelebung des deut-
schen Theatergutes der Vergangenheit, die Probleme der Regie, der Darstellung, der Ausstat-
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tung, der Organisation, mit einem Worte: die große, fruchtbare, bedeutende Aufgabe, die einer
freien deutschen Bühnenkunst im antifaschistischen Kampfe zufällt.“
Und in der „Deutschen Volkszeitung“ lesen wir: „So wurde diese Veranstaltung, zu
der sich die Teilnehmer aus allen Kreisen der Emigration eingefunden hatten, zu einer antifa-
schistischen Kundgebung im Sinne der Volksfront…Die Versammelten – man hat seit langem
nicht eine solche Zusammenfassung der Kräfte verschiedener Gruppierungen in Paris erlebt –
waren sich einig in ihrer Stellung gegen den Nationalsozialismus.“
Anzufügen bleibt, dass der Aufführungsort in Erinnerung an die Niederlage
Preußens durch Napoleon, den beziehungsvollen Namen „Salle d’Jéna“ trug.
Hier wurde die Aufführung unter dem Titel „99%“ – Bilder aus dem Dritten
Reich angekündigt und aufgeführt. Dabei handelte es sich um eine ironische
Anspielung auf die Reichstagswahl vom 10. April 1938, in der sich nach offi-
ziellen Angaben 99% der Bevölkerung für Hitler entschieden haben sollen.
Anzufügen ist auch, dass der Komponist Paul Dessau unter dem Pseudonym
Peter Sturm mitwirkte und die Strophen der Ballade „Die deutsche Heerschau“
vertonte. Sie wurde von Fritz Seiffert vorgetragen. Damit begann die Jahrzehn-
te dauernde enge und produktive Zusammenarbeit von Dessau und Brecht.
Nach der Premiere informierte Helene Weigel Brecht vom Erfolg der acht Sze-
nen. Die Zuschauer hätten viel gelacht und nach jeder Szene Applaus gespen-
det.
Über Margarete Steffin bittet Brecht Walter Benjamin um einen Bericht von
der Aufführung der acht Szenen, der dann auch am 30. Juni 1936 in der „Neu-
en Weltbühne“ erscheint.
Wir lesen: „ Das Publikum fand endlich, nach fünfjährigem Exil, von einer Bühne herab ange-
sprochen, was ihm an politischer Erfahrung gemeinsam ist...Furcht und Elend des Dritten Rei-
ches ist ein Zyklus, der von 27 Einaktern gebildet wird, die nach den Vorschriften der traditionel-
len Dramaturgie gebaut sind. Manchmal flammt das Dramatische wie ein Magnesiumlicht am
Ende eines scheinbar idyllischen Vorgangs auf…Jeder dieser kurzen Akte weist eines auf: wie
unabwendbar die Schreckensherrschaft, die sich als Drittes Reich vor den Völker brüstet, alle
Verhältnisse zwischen den Menschen unter die Botmäßigkeit der Lüge zwingt. Lüge ist die eid-
liche Aussage vor Gericht; Lüge ist die Wissenschaft, welche Sätze lehrt, deren Anwendung
nicht gestattet ist; Lüge ist, was der Öffentlichkeit zugeschrieben wird, und Lüge noch, was dem
Sterbenden in die Ohren geflüstert wird. Lüge ist es, die mit hydraulischem Druck in das ge-
presst wird, was sich in der letzten Minute ihres Zusammenlebens Gatten zu sagen haben; Lü-
ge ist die Maske, die selbst das Mitleid anlegt, wenn es noch ein Lebenszeichen zu geben wagt.
Wir sind in dem Land, in dem der Name des Proletariats nicht genannt werden darf.“
Vom 19. Mai bis 15. Juli 1945 unternimmt Brecht von Santa Monica aus seine
4. Reise nach New York um an der Erarbeitung der Aufführung von „Furcht
und Elend des Dritten Reiches“ für die Gewerkschaften teilzunehmen.
Er untergliedert die Szenen in drei Teile und gibt der Szenenfolge den
amerikanischen Titel „The Private Life of the Master Race“. Bertold Vier-
tel hatte die Regie aus den Händen von Piscator übernommen.
In Berkeley bei San Francisco geht unter der Schirmherrschaft des „Instituts
für Theaterwissenschaft“ und des „Little Theatre“ im Saal der UCLA am 7. Ju-
ni 1945 die amerikanische Erstaufführung mit 17 Szenen über die Bühne. Die
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Regie hatte Henry Schnitzler, der Sohn des bekannten Schriftstellers Arthur
Schnitzler, zusammen mit Studenten des Instituts übernommen.
Diese erste Vorstellung auf amerikanischem Boden gehörte zum offiziellen
Programm für die aus 50 Staaten angereisten Delegierten des Gründungs-
kongresses der Vereinten Nationen in San Francisco, der am 26. Juni 1945
mit der feierlichen Unterzeichnung der in Jalta erarbeiteten „Charta der
Vereinten Nationen“ beendet wurde.
Es folgten drei weitere Aufführungen.
Am Montag, dem 11. Juni 1945, folgten dann die Aufführungen am „Theatre
of All Nations“ im City College in New York mit neun Szenen. Beteiligt waren
bedeutende deutsche Schauspieler im Exil wie Else und Albert Bassermann.
Am Freitag, dem 30. Januar 1948, dem Jahrestag der Machtübertragung an Hit-
ler, fand in Berlin, am Deutschen Theater, die deutsche Erstaufführung von
„Furcht und Elend des Dritten Reiches“ unter der Regie von Wolfgang Lang-
hoff statt.
Es wurden sieben Szenen gezeigt: Der Kreidekreis, Rechtsfindung, Die Stunde
des Arbeiters, Der Spitzel, Die jüdische Frau, Die Bergpredigt und Volksbefra-
gung. Dazwischen sang Käte Kühl Brecht-Songs, vertont von Boris Blacher.
Es wurde zur ersten Brecht-Aufführung im Sowjetischen Sektor von Berlin.
Der Chefredakteur der Theaterzeitschrift „Theater der Zeit“, Fritz Erpenbeck,
feierte die Darstellung als Überwindung der „falschen Theorie vom epischen
Theater“.

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Die erste Szene in Brechts Stück spielt in der Nacht des 30. Januar 1933 nach
der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die letzte Szene spielt am 13. März
1938 nach der Besetzung Österreichs durch die Nazi-Armee und die Polizei.
Das ist der zeitliche Rahmen. Das Stück gilt allgemein als eines der Haupt-
werke der Exilliteratur und ist also noch vor Kriegsbeginn und Holocaust ent-
standen. Der geschilderte Alltag ist der, der uns auch nach über einem halben
Jahrhundert immer noch irgendwie bekannt vorkommt. Hierin liegt die Aktua-
lität dieses Stückes.
Brecht richtete seine schriftstellerische Arbeit ganz darauf ein, die antifaschis-
tischen Kräfte in Deutschland zu unterstützen. Bereits das politische Lieder-
buch „Lieder – Gedichte – Chöre“ von 1933 (zusammen mir Hanns Eisler) war
mit den meisten Exemplaren nach Deutschland eingeschleußt worden, bis er
dann mit den Arbeiten an „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ begann.

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Brecht schreibt die Szenen als „Montage“, deren künstlerisches Verfahren auf
Erfahrungen in der revolutionären Arbeiterbewegung zurückgeht. Mit ihr woll-
te Brecht das „proletarische Theater“ im Exil neu beleben.
Die Szenen, die für die Aufführungen stets neu „montiert“ werden können,
sind durch zwei „rote Fäden“ zusammengehalten: Der eine rote Faden besteht
in der immer weiter gesteigerten Darstellung von Gewalt und Menschenver-
achtung im Terrorstaat Deutschland. Was in den Szenen zu Beginn noch relativ
harmlos aussieht wird immer brutaler. Nach Brechts Überzeugung wurde der
„äußere Krieg“ der am 1. September 1939 auch tatsächlich ausbricht, durch
den „inneren“ Krieg systematisch und geplant vorbereitet.
Der zweite rote Faden besteht im Thema Widerstand, das gegen Ende der Sze-
nenfolge immer mehr in das Zentrum rückt. Ist zunächst gezeigt, wie die Mit-
macher, die Handlanger und Stillhalter alles wegwerfen, worauf sie sich beru-
fen – nämlich Charakter zu haben, Individuen mit eigener Meinung zu sein, die
Familie, die Ehre zu ehren – so wird dann deutlich, dass der Jubel zu diesem
System klingt, wie „zwanzigtausend Besoffene, denen man das Bier gezahlt
hat“. Die von den Nazis beschworene „Volksgemeinschaft“ ist in Wahrheit ein
Zusammenschluss von Menschen, die nicht bei sich sind. Nur Gewalt hält alles
zusammen.
Gegen diese Gewalt, die das Leben selbst im Alltäglichsten wertlos macht, hilft
nur Widerstand, und zwar durch jeden, „auf seinem Platz“, und sei sein Platz
noch so unbedeutend. Brecht montiert die für ihn gewählte Fassung so, dass
der Widerstand immer deutlicher als notwendig hervortritt, denn alle sind po-
tentielle Opfer. Am Ende der letzten Szene steht das „NEIN!“ zu Hitler, ge-
schrieben in der Hoffnung, die in der Szenenfolge angedeutete Konsequenz to-
taler Barbarei noch zu verhindern,

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Brecht verfährt in der Szenenfolge methodisch neu. Ernst Bloch bemerkt dazu
in seinem Essay „Der Nazi und das Unsägliche“ (Das Wort, Heft 9, September
1938, S. 114):
„Ein anderes treffendes Mittel und ebenfalls eines ohne besondere Zurüstung ist
die Montage; in ihr reiben sich ausgesucht treffende Momente, ein Blitz entsteht,
der ganze Situationen beleuchtet…Brecht montiert in seinem neuen Stück „Furcht
und Elend des Dritten Reiches“ („99 Prozent“) zugespitzte Situationen, er läßt an
ihnen die dicke Luft, die Gemeinheit und kitzliche Gefahr, die Widersprüche des
Regimes lehrhaft erscheinen; den Reim macht sich der Leser selbst.“
Jede der 24 Szenen beruht auf Nachrichten, Dokumentationen und Lebensbe-
obachtungen aus dem faschistischen Alltag. Sie sind betont operativ in ihrer
genau gezielten Kritik bestimmter Verhaltensweisen in bestimmten Situationen
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und zeigen, wie jeder einzelne dazu beiträgt, dass sich der Faschismus an der
Macht behaupten kann.
Die Kritik wird vor allem an Intellektuellen geübt: Der Lehrer, der Arzt, die
Physiker, der Richter.
Der geringe technische Aufwand, den die einzelnen Szenen benötigen, erleich-
tert ihre Aufführbarkeit unter ungünstigen Bedingungen.
Das Verfahren, eine Fülle von genau beobachteten Details zu einem Gesamt-
bild zu montieren und unter ein Thema zu stellen, erinnert an Karl Kraus’
Drama „Die letzten Tage der Menschheit“. Allerdings legt Brecht die Weltun-
tergangsmetaphysik fern, Kriegssymbol und Kommentar besagen, dass die in
den Szenen zur Schau gestellte Knechtung des eigenen Volkes die Unterwer-
fung anderer Völker, den Aggressionskrieg vorbereitet.
Der Begriff „Elend“ im Titel meint moralisches Elend, das zusammen mit der
Furcht die faschistische Herrschaft ermöglicht. Die meisten Szenen zeigen
nicht die eigentlichen Machthaber, auch nicht die aktiven Kämpfer gegen sie,
sondern die „99%“, auf deren Unterstützung die Herrschenden sich gern berie-
fen.
Brecht hebt energisch die moralische Verantwortlichkeit jedes einzelnen für
sein Tun und Lassen hervor. Aber er tut das als Materialist, der sich nicht mit
moralischen Appellen begnügt, sondern auf die sozialen Ursachen moralischer
Konflikte zurückblendet. In der Szene „Arbeitsbeschaffung“ hat ein lange ar-
beitslos gewesener Arbeiter endlich wieder Verdienst gefunden – in der Rüs-
tungsindustrie. Um seine Lage nicht wieder zu gefährden, verbietet er seiner
Frau, öffentlich Trauer um ihren in Spanien gefallenen Bruder zu zeigen. Sollte
der Arbeiter seiner Frau die Trauerkleidung gestatten? – Entlassung wäre das
mindeste, was ihm drohte. Sollte er eine andere Arbeit annehmen? Die gesamte
Wirtschaft arbeitet auf den Krieg hin. Es gibt keine Lösung des persönlichen
Dilemmas, keinen „Ausweg“, keine Möglichkeit „anständig“ zu sein, solang
man das herrschende System als gegeben hinnimmt und sich innerhalb dieser
Voraussetzungen bewegt. Darauf zielt Brecht in allen Szenen. Und er zeigt,
dass die Menschen um so würdeloser, „elender“ werden, je mehr sie ihre Wür-
de durch die Anpassung an das System zu behaupten suchen; so der Gymnasi-
allehrer, der bereit ist, alles zu lehren, was die Faschisten wollen, so der Rich-
ter, der einen Fall entscheiden soll, in dem auf beiden Seiten Interessen faschis-
tischer Kreise im Spiel sind.
Furcht und Elend verseuchen alle menschlichen Beziehungen, so dass sich die
Eheleute nicht mehr offen in die Augen sehen können. „Die jüdische Frau“ in
der gleichnamigen Szene, die emigrieren will, um ihren „arischen“ Mann nicht
zu gefährden, führt in Gedanken ein offenes und ehrliches Gespräch mit ihm.
Sie will nicht eine sommerliche Erholungsreise vortäuschen und sich dabei den
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Pelzmantel reichen lassen, den sie erst im Winter braucht. Als aber der Mann
kommt, reicht er ihr den Pelzmantel und sagt: „Schließlich sind es nur ein paar
Wochen.“ Gerade in solchen kleinen Momenten des „Privatlebens“ macht
Brecht die Tiefpunkte des „Elends“ kenntlich. Die jüdische Frau gelangt aber –
Wolfs Professor Mamlock ähnlich – zu echter Selbsterkenntnis. Als bürgerli-
che Frau hat sie bisher die Einteilung in wertvolle und minderwertige Men-
schen hingenommen. Jetzt gehört sie nach der „neuen Einteilung“ zu den min-
derwertigen: „Das geschieht mir recht“, sagt sie und: „Reden wir nicht von
Unglück, reden wir von Schande.“ Der Begriff „Unglück“ dient als Entschul-
digung, er schiebt das Elend auf das Schicksal; die „Schande“ aber besteht da-
rin, nicht nach den gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen zu fragen, unter
denen man lebt. An den Szenen von „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ ist
ablesbar, auf welche soziale Wirklichkeit sich die Themen und Problemstel-
lungen beziehen, die Brecht in mehreren seiner späteren Stücke beschäftigen.
Hier finden wir die Tragikomödien kleiner Leute, die ihr Lebensziel nur darin
sehen, unter den gegebenen Bedingungen durchzukommen, hier finden wir die
Fragen nach dem „guten“ Menschen unter „schlechten“ Verhältnissen, nach
den gesellschaftlichen Fernwirkungen wissenschaftlicher Spezialistenarbeit
und der Verantwortung der Intellektuellen,
In „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Schweyk im zweiten Weltkrieg“, „Der
gute Mensch von Sezuan“ und „Leben des Galilei“ kehren sie wieder.

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Mit der Szenenfolge entwickelt Brecht eine Form, mit der er schnell und wir-
kungsvoll auf die Ereignisse im faschistischen Deutschland reagieren konnte.
Sie erklärt sich auch aus den Bedingungen, unter denen das deutsche Theater
im Exil überhaupt existieren konnte. Die politische und künstlerische Wirkung
dieser Szenen gehört mit zu den bedeutendsten und nachhaltigsten Ergebnissen
der deutschen antifaschistischen Literatur. In Paris, London und Stockholm
wurden die Szenen von deutschen und österreichischen Emigranten gespielt.
Die Aufführungen waren überall ein politisches Ereignis und halfen, die antifa-
schistischen Kräfte in der Emigration zusammenzuhalten. In der Zeit, in der die
Szenenfolge entstand, vollzog sich im Schaffen Brechts eine Wendung, die
man verallgemeinert als Überwindung der Tendenzen des didaktischen Thea-
ters betrachten kann. Als er sich auf die neuen Bedingungen des Theaters in der
Emigration einstellte, merkte er sehr schnell, dass er, wenn er politisch wirk-
sam sein wollte, Menschen mit den verschiedensten Weltanschauungen und
Interessen ansprechen musste. Eine sektiererische Verengung auf eine Litera-

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tur, die nur von Kennern des Marxismus verstanden wurde, erwies sich unter
den Bedingungen des Exils als ein politisches Hindernis.
Das erforderte formale und inhaltliche Konsequenzen. Dabei gelang es ihm alte
bewährte Elemente und neuen Elemente theatralischen Schaffens miteinander
zu verbinden.
Brechts Szenen sind in ihrer formalen Struktur, in ihrem Bau sehr unterschied-
lich. Es gibt da Formen in der Art einer szenischen Skizze, oder in der Art ei-
ner fast zu einer dramatisierten Anekdote zusammengedrängt und verknappte
Szene, und es gibt meisterhaft gestaltete Einakter.
Die unterschiedlichen Formen erklären sich aus den Bedingungen des Theaters
im Exil. Brecht schrieb sie für international bekannte Schauspieler wie auch für
einfache Laienspieler, die oftmals gemeinsam in einem Ensemble wirkten.
Obwohl die Szenen formal sehr verschiedenartig gestaltet sind, so ist doch für
die meisten charakteristisch, dass die Handlung auf den Schlusspunkt hinge-
drängt wird, in dem die gesellschaftliche Aussage kulminiert. Sie sind alle auf
den Schlusssatz zugeschrieben, der enthüllt, entlarvt und den Zuschauer zu ei-
nem Urteil zwingt.
Brecht entwickelte keine Handlung im eigentlichen Sinne, denn das hätte so-
fort den Rahmen der Kurzszene gesprengt. Er suchte nach Möglichkeiten, die
Handlung zu komprimieren, sozusagen mit einer Zeitraffertechnik einzufan-
gen. Ein Mittel dazu war das Gespräch. Die Handlung wird folglich in ver-
schiedene Gespräche zusammengedrängt. Im Grunde sind es Alltagsgespräche,
wie sie überall in Hitler-Deutschland geführt wurden, aber hingedrängt auf den
Schlusspunkt, machen sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge deutlich. Das
den Schlusspunkt setzende Handlungselement tritt fast niemals aktiv in die
Szene, sondern ist meist ein bereits vollzogenes Faktum, das sich außerhalb der
eigentlichen Handlung ereignet. Was sich sonst gewöhnlich als dramaturgi-
scher Mangel erweist, wird in der Gestaltungsweise Brechts positiv, denn das
passive Handlungselement wird bei ihm zum dramatischen Kulminationspunkt.
Es charakterisiert nicht nur eine einzelne Figur, sondern enthüllt mit deutli-
chem Akzent das faschistische System als Ganzes.
Brecht leitete mit der Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ eine
neue Etappe in seinem dramatischen Schaffen ein. Er wandte sich Gestal-
tungswegen zu, deren Vielfalt und verschiedenartige Lösungsmöglichkeiten
auch ihre kunsttheoretische Verallgemeinerung in der Methode der politisch-
antifaschistischen Dramatik fanden.
„Das Theater der Emigration kann nur ein politisches Drama zu seiner Sache
machen“, schrieb Walter Benjamin mit Blick auf Brechts Szenen „Furcht und
Elend des Dritten Reiches“.
Und er sollte damit Recht behalten.
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Dr. Dirk Krüger

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