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SCHRIFTEN ZUR

SPRACHE UND
LITERATUR VII

Herausgeber:
ƒŠ‹”Balcı
Ž‹•ƒÖztürk
—‹•‡Aksöz Çizgi e-Kitap
SCHRIFTEN ZUR SPRACHE
UND LITERATUR VII

DİL VE EDEBİYAT
YAZILARI VII

HERAUSGEBER:
Prof. Dr. Tahir Balcı
Prof. Dr. Ali Osman Öztürk
Prof. Dr. Munise Aksöz
Çizgi Kitabevi Yayınları (e-kitap)
Eğitim Bilim

©Çizgi Kitabevi
Temmuz 2023

ISBN: 978-625-396-051-3
Yayıncı Sertifika No:52493

KÜTÜPHANE BİLGİ KARTI


- Cataloging in Publication Data (CIP) -
BALCI, Tahir | ÖZTÜRK, Ali Osman | AKSÖZ, Munise
SCHRIFTEN ZUR SPRACHE UND LITERATUR VII
DİL VE EDEBİYAT YAZILARI VII

Yayına Hazırlık: Çizgi Kitabevi Yayınları


Tel: 0332 353 62 65 - 66

ÇİZGİ KİTABEVİ
Sahibiata Mah. Alemdar Mah.
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www.cizgikitabevi.com
/ cizgikitabevi
GÜNTER KUNERTS METALYRIK: “EINE POETIK”

Prof. Dr. Fatih Tepebaşılı

Necmettin Erbakan Üniversitesi Ahmet Keleşoğlu Eğitim Fakültesi

ftepebasili@erbakan.edu.tr

1. EINLEITUNG

Beispiele für poetische Werke, ob systematisch oder nicht, stammen schon aus
der Antike mit Namen wie Aristoteles, Horatius, Longin. In den folgenden
Jahrhunderten entstanden auch Werke von Ästhetikern,
Literaturwissenschaftlern, Kritikern und sogar von Denkern mit
unterschiedlichen Titeln. Die Möglichkeit, sich mit Fragen der Kunst nicht nur
in ihren literarischen Werken, sondern auch in ihrem täglichen Leben
auseinanderzusetzen, kann Künstlern natürlich auch nicht verwehrt werden:
Essays, Interviews oder Kritiken, mündliche oder schriftliche Erklärungen sind
gängige Textgattungen. Sie können sogar als Gastdozenten an Universitäten
Vorlesungen über Poetik halten (Kunert 1985). Heutzutage ist kreatives
Schreiben ein Bereich, der sich in verschiedene Richtungen entwickelt (vgl.
Yücel 2020 und Yılmaz 2011). Solche Veröffentlichungen, die die
Kunstauffassung und die politische Meinung des Künstlers zu Tage treten
lassen bzw. deren Verständnis erleichtern, stellen sicherlich eine bessere
Quellenlage für Forschung dar. Es gibt auch ältere Beispiele, in denen poetische
Fragestellungen eher in gebundener Rede als in Prosa dargestellt werden. Horaz
(2016) oder Boileau (2003) beispielsweise vermitteln ihre Gedanken über
„Dichtkunst“ durch die Verse.

Poetische bzw. poetologische Texte, die wir als „Poesie“ im eigentlichen Sinne
bezeichnen wollen, unterscheiden sich von anderen Gedichten vor allem durch
ihre Themen, weil sie sich direkt oder indirekt mit verschiedenen literarischen
Fragen beschäftigen. Bezeichnungen wie „poetische“ oder „poetologische“
Gedichte, „Metalyrik“ oder „Gedicht – Gedichte“ (Oscar Pastior) werden
vorgeschlagen, um solche Texte zu kennzeichnen (Göschl 2009, Elit 2012 und
Zettelmann 2000). Solche Konzepte, die damals gar nicht in Frage kommen,
lassen sich in jüngeren Veröffentlichungen öfters bemerken (Lamping 2016 und
Schweikle 1990), unter denen hier einige zu nennen sind: „Weise des Dichters“

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(Fr. Schlegel, 1809), „Ein Wort“ (G. Benn, 1941), „auf einen chinesischen
Theewursellöwen“ (B. Brecht, 1951), „Ball“ (Rilke, 1908). An dieser Stelle
kann ein Auszug aus dem Schluss eines Gedichts von Friedrich Schiller
(Teilung der Erde, 1795) aufgeführt werden, demzufolge die Erde geplündert
und auf Verheißung des Zeus unter Bauern, Kaufleuten, Priestern und Königen
aufgeteilt wird. Der weltlichen Mittel beraubt, wendet sich das lyrische Ich in
den folgenden Versen mit der Bitte um Hilfe an Zeus:

“»Wenn du im Land der Träume dich verweilet«,

Versetzt der Gott, »so hadre nicht mit mir.

Wo warst du denn, als man die Welt geteilet?«

»Ich war«, sprach der Poet, »bei dir.«

Mein Auge hing an deinem Angesichte,

An deines Himmels Harmonie mein Ohr –

Verzeih dem Geiste, der, von deinem Lichte

Berauscht, das Irdische verlor!«“ (Sommermeyer 2019: 145 ff.)

Hier ist ersichtlich, dass der Poet einen Realien- und Realitätsverlust erleidet,
während es ihm darum geht, die Erde zu „malen“, künstlerisch zu vermitteln,
wobei zu beobachten ist, dass der Dichter und sein Schaffen selbst zum Thema
des Gedichtes werden.

In diesem Zusammenhang wird im Folgenden von Günter Kunerts Meta-Poetik


die Rede sein, die das Thema des vorliegenden Beitrags bilden soll.

2. KUNERTS „EINE POETIK“

Günter Kunert hat einige „Meta-Gedichte“ verfasst, die nicht den Titel „Poetik“
tragen, sondern poetische Fragen behandeln. Eine weitere Untergruppe bilden
Gedichte, die in ihrer Anzahl begrenzt sind, aber die als „Poetik” bezeichnet
werden. Auch sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Poesie oder poetische
Inhalte mittels eines Gedichts in Bilder umwandeln. Es geht in erster Linie nicht
darum, durch bloße Information zu belehren, über ein Thema aufzuklären,
sondern den Geist des Lesers mit Hilfe von erstellten Bildern anzuregen. Das
Thema kann mit einem berühmten Zweizeiler von Goethe (1815)

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veranschaulicht werden: „Schaffe, Künstler, sprich nicht! / Deine Poesie ist nur
ein Hauch.“ (zitiert nach Segebrecht 2004)

„Eine Poetik“ (1980)

Das wahre Gedicht

löscht sich selber aus

am Schluss

wie eine Kerze so plötzlich aber

was sie beleuchtet hat brennt

das abrupte Dunkel

der Netzhaut ein

Kahlende Welten

Kahlende Wände Tische und Stühle

ein Raum voller fremder Bekannter

unserer Zuneigung und Gleichgültigkeit

gewiss

Ohne Bewegung ohne Bedeutung

ohne Bestand.

Vor der Besprechung des poetischen Wertes des Gedichts soll die
Aufmerksamkeit auf den Titel gelenkt werden. Es gibt verschiedene
Möglichkeiten, ein Gedicht zu betiteln: meistens wird die erste Zeile benutzt,
ein Satz aus dem Text selbst, wie es in Kunerts „Eine Poetik“ der Fall ist.

Hier sind in erster Linie die zum Titel getragenen Worte „Eine“ und „Poetik“
besonders auffallend. Die darin enthaltene Durchsetzungskraft weist auf ein
paar gute Nachrichten über die eigene Kunst des Dichters hin und schafft sogar
eine poetische Erwartung in der Poesie. Was man mit „Eine“ ausdrücken will,
ist nicht nur eine persönliche Herausforderung, eine Anstrengung, sich selbst zu
öffnen und auszudrücken, sondern auch ein Zeichen dafür, dass man in diesem
Rennen nicht allein ist und dass verschiedene Optionen möglich sind. Ein
solcher Anspruch ebnet natürlich den Weg für die Persönlichkeit und Kunst des

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Künstlers. Es schafft die Möglichkeit, sich von seinen Mitbewerbern (!)
abzuheben und sich auf seine eigene Art und Weise zu enthüllen. Als solches ist
Kunerts „Eine Poetik“ im Wesentlichen ein partieller und sogar periodischer
poetischer Rahmen, der hier durch das oben zitierte Gedicht veranschaulicht
sein soll. Auch wenn es von Kunerts genereller Herangehensweise geprägt ist,
weist es in seiner zu einem Gedicht reduzierten Form auf wichtige Gedanken
hin.

„Eine Poetik“ kann zu den reifen Werken des 1929 geborenen Dichters gezählt
werden. Diese „Meta-Lyrik“ besteht aus drei Strophen in freier Form
(Zeilennummern 7+5+2) und ungefähr 50 Wörtern, jedes Mal weniger als das
vorherige. Bemerkenswert ist, dass die Summe der Zeilen in der zweiten und
dritten Strophe (5+2) gleich der ersten Strophe ist. Die Einleitung, in der die
theoretischen bzw. poetischen Grundlagen dargelegt werden, ist mit dem
dreigliedrigen Inhalt vereinbar, der eine logische Struktur zur Erläuterung der
Ergebnisse der Entwicklung widerspiegelt, die als ein relativ beispielhaftes
Anwendungsgebiet bezeichnet werden kann. Formal werden in der Einleitung
(erste Strophe) reguläre Sätze durch Wörter und Wendungen ersetzt, die in den
folgenden Abschnitten zusammengesetzt und aneinandergereiht werden. In den
folgenden Strophen des Gedichts kommt es zu einer syntaktischen und
semantischen Auflösung und einem allgemeinen Zusammenbruch. Kurz gesagt,
die vorhergesagte Poetik definiert das Gedicht, und ebenso zeigt das Gedicht
selbst eine gelungene Poetik.

Interessant wie der Titel ist auch die Formulierung „das wahre Gedicht“ in der
Einleitung. Es ist nur ein Gedicht von Thomas M. Mayr festzustellen, das direkt
mit dem wahren Gedicht betitelt ist. Dieser Ausdruck hat aber nichts mit „reiner
Poesie“ (absolute, autonome Lyrik oder poesie pure etc.) zu tun. Denn die reine
Poesiebewegung (!), die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, gibt den
Gedichten den Vorrang, die den Form-, Klang- und Aufgabenaspekt der
Sprache stärker betonen als den Inhalt. Ein weiterer Trend ist die „konkrete
Poesie“ (konkrete Poesie, visuelle Poesie), die im 20. Jahrhundert in den
Vordergrund tritt und die Möglichkeit bietet, neue Ausdrücke mit Hilfe von
Buchstaben, Silben zu bilden, indem sinnvolle und regelmäßige Sätze (etc.)
unterlassen werden.

Ein solcher Titel („eine Poetik“) mag auf den ersten Blick für diese Gattung
seltsam erscheinen. Aber unser Zweifel wird durch den Ausdruck „das wahre

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Gedicht“ in der ersten Zeile unvermittelt ausgeräumt, indem auf die eigentliche
Problematik hingewiesen wird. Dass Poesie und Poetik oft einander
zugeschrieben werden, ist keine Überraschung. Was sie für uns bedeuten, ist der
Aufbau einer vielschichtigen Struktur, die den Dichter, den Leser und die
Realität auf ein und demselben Boden vereint. Dieses Potenzial des Textes, das
als Quelle des Reichtums betrachtet werden kann, gibt uns die Möglichkeit,
Gedichte jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel zu erschließen. Mit anderen
Worten, die Bedeutung und Interpretation dieses wahren Gedichts, die sich mit
dem Zustand der Welt befasst, bleibt nicht nur innerhalb der Grenzen dieses
Gedichts, sondern nimmt auch eine Haltung ein, die den Leser in den
Mittelpunkt stellt und den Dichter. Liest man die erste und die letzte Zeile
hintereinander mit einem leicht übertriebenen Ausdruck, so stößt man auf
Ausdrücke wie „das wahre Gedicht“ und „ohne Bestand“. Während also das
traurige Ende der optimistischen Prätentiösität in der Einleitung angedeutet
wird, wird die Frage nach der Funktion aufgeworfen.

Der Ausdruck „das wahre Gedicht“ spielt eine Schlüsselrolle für das
Verständnis dieses vielschichtigen Gefüges, das an Ereignisketten in
Erzählungen erinnert, und ist damit Ausgangspunkt und Prüfstein einer für
dieses Gedicht spezifischen Architektur. Daher sollte dieser Ausdruck jedes Mal
zur Orientierung verwendet werden. Konkret gibt es in dieser Lyrik drei
miteinander verknüpfte Transformationsphasen, die auch unsere eigene These
widerspiegeln.

Die erste Entwicklungsphase ist der Vergleich zwischen dem alten und dem
neuen Gesicht der Welt, das durch „das wahre Gedicht“ definiert wird. Die
zweite Phase ist die Entwicklung des Dichters, der diese Welt wahrzunehmen
und sie in seine Poesie umzuwandeln versucht. Ihre Bedeutung besteht darin,
dass es Spuren der Beziehung zwischen äußerer Welt und Fiktion enthält. Die
dritte Phase ist die Beziehungsstruktur zwischen dem Leser als Adressat und
dem Gedicht, das die Nabelschnur seines Meisters durchtrennt hat. Mit diesem
Lesertypus ist der implizite Leser gemeint, den der Dichter für dieses Gedicht
vorsieht, also nicht Menschen aus dem realen Leben (aktueller Leser). Dieser
Lesertypus, dessen Existenz besonders hervorgehoben wird, offenbart
zwangsläufig einige Aspekte des heutigen Lesers.

Das eingangs hervorgehobene wahre Gedicht wird mit der brennenden und sich
selbst verzehrenden „Kerze“ (Kerze) verglichen, die als Mittel der künstlichen

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Beleuchtung betrachtet werden kann. In der Analogie behalten die Teile im
Allgemeinen ihre Eigenschaften, einer verschmilzt nicht im anderen und eine
Beziehung wird mit Hilfe eines gemeinsamen Punkts hergestellt. Die Kerze ist
ein künstliches Produkt des Menschen, der auch Gefahren und Unbekanntem
ausgeliefert ist und sich nicht den natürlichen Bedingungen wie Nacht und
Dunkelheit unterwerfen will. Es kann zwar präpariert und an den gewünschten
Ort transportiert werden, aber sein Funktionsverlust nach einer gewissen Zeit,
seine zwischenzeitlichen Veränderungen und sein Verschwinden sind weitere
Merkmale, die es hervorruft. Dank ihm vergeht das Leben, das vor unseren
Augen ins Unbekannte fließt.

Und natürlich ist die Kerze nur mit dem Auge verbunden und bedeutungsvoll.
In einem begrenzten Zeitraum sind Erleuchtung und letztlich Auflösung und
Selbstzerstörung die Vergleichselemente, denen in Kunerts Gedicht Gewicht
verliehen wird. In diesem Fall stellt sich die Frage, warum das Gedicht mit einer
Kerze verglichen wird.

In dem Gedicht wird der Moment, in dem die Kerze erlischt, mit der Lichtquelle
(„Blitz“) verglichen, die im letzten Moment unter den unzureichenden
Lichtverhältnissen der Kamera aufleuchtet. Dabei werden die Augen geblendet,
andererseits wird das scheinbar fotografierte Ereignis oder Objekt beleuchtet
und die Aufnahme eröffnet. In gewisser Weise treffen sich Ende und Anfang.
Eine Kerze ist bekanntlich eine Lichtquelle, solange sie brennt. Bei
unzureichendem Licht können wir nicht sehen. Beide (Kerze und Vision) sind
subjektabhängig. Ein „Beobachten“ (im Sinne des Blicks durch die Augen einer
bestimmten Person), an dem die Person nicht beteiligt ist, ist unmöglich. Sehen
ist nicht nur ein einseitiger Prozess, der visuelle Reize importiert. Neben den im
Hintergrund gewonnenen Erfahrungen, Erkenntnissen und Emotionen kommen
persönliche Vorstellungen ins Spiel und geben dem Blick einen Sinn.

Die wichtigste metaphorische Verwendung (Öztürk 1994: 79) in diesem


Gedicht ist unser Sehvermögen, das durch die Netzhaut offenbart wird. Ein
erheblicher Teil unserer Sinneswahrnehmungen (bis auf 5 %) wird von unseren
Augen aufgenommen, die auf das Zusammenspiel von Licht und Farben
angewiesen sind, und an unser Gehirn weitergeleitet werden. Auch hier sollten
die übermittelten Daten ausgewertet werden. Wir können jedoch nicht leugnen,
dass die gelieferten Informationen in einigen Fällen irreführend sein können.

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Die „Retina“ ist die Netzwerkschicht, die aus Sehzellen besteht. Es befindet
sich am Augenhintergrund und wird im Allgemeinen mit einer Tapete
verglichen. Sie hat Aufgabe, dass das von außen einfallende Licht als Bild an
unser Gehirn weitergeleitet wird. Mit ihrer Hilfe stellen wir die Stellung von
Objekten und Bewegungen fest. Sie sorgt weiterhin für Sehschärfe, Farben. Das
Auge ist das Fenster unseres Gehirns zur Außenwelt. Sehen ist ein Prozess, der
schließlich in unserem Gehirn endet oder stattfindet. Daher ist es rein subjektiv
(Flach 2001).

Kunert verwandelt hier das Sehen in einen ironischen Vorgang. Auch das
aufblitzende Licht im letzten Moment steht für Auslöschung. Es verbrennt sogar
die Netzhaut und verurteilt sie zu „verworrener Mehrdeutigkeit“. Das
Verschwinden ist jedoch tatsächlich erforderlich, um die Daten zur
Verarbeitung ins Zentrum zu übertragen und sicherzustellen, dass das Bild
sichtbar ist. In diesem Zustand zeigt das Auge eine Ironie. Diese Ironie wird
später zur Wahrheit des Dichters und des Lesers.

Wir können unschuldig skeptisch sein, dass unser Sehvermögen nur durch
diesen „Brennprozess“ verwirklicht wird und dass es kein Privileg für „das
wahre Gedicht“ gibt. Aber eine normale automatische Blickaktion ist hier nicht
gemeint. Es ist eine Aktion, die wir bereits durch das Bewusstsein kennen, das
bei den Kerzenflammen zutage tritt. Ihre Betonung ist in der Tat ein Akt der
Verfremdung und ein Bemühen, sie bewusst zu machen. Mit anderen Worten,
die eigentliche Poesie ist diejenige, die durch ihre Brennbarkeit auffällt. Hier
kann nach Spuren der Unterscheidung zwischen hoher und trivialer Literatur
gesucht werden. Ihre Wurzel liegt darin, dass der eine die Leser irgendwie
betäubt und von der realen Welt entfernt, während der andere uns direkt damit
konfrontiert und das Bewusstsein dafür schärft.

Wie wir bereits betont haben, bildet die erste Strophe des Gedichts einen
allgemeinen poetischen Rahmen. Sie stellt keine Regeln auf, sie geht nicht ins
Detail. Während es dem Dichter und dem Leser unterschiedliche Lesarten
ermöglicht, lädt es dieses untrennbare Duo der literarischen Kommunikation zur
Zusammenarbeit ein.

Gehen wir vom Dichter aus, ergibt sich folgende Sichtweise: „das wahre
Gedicht“ ist für den Dichter sowohl Quelle als auch Ziel seines künstlerischen
Strebens. Unter Quelle sind die „Welten“ gemeint, die der Dichter sozusagen
fotografieren möchte, gespiegelt in seinen Augen. Die meisten spezifischen

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Verwendungen des Wortes („Welten“) deuten auf gemeinsame Erfahrungen
hin. Die ihm zugeschriebene „Authentizität“ ist voller Optimismus. Er beklagt
die poetische Heimat, die die Gefühle des Dichters wärmt, ihn mit sich selbst
verbindet und voller Sehnsucht und Erinnerungen ist.

Das Ziel dieser wahren Poesie ist es, „das wahre Gedicht“ darzustellen, d.h. den
Zustand der Welt, den der Dichter beobachtet (!). Andererseits ist es ein
Versuch, Poesie indirekt zu definieren. Er wird die Transformationen, die ihm
unangenehm sind, erneut in seine Kunst verwandeln.

Der Dichter, dem es darum geht, „das wahre Gedicht“ zu schreiben, muss die
Kerze, die er trägt, erst so lange halten, bis sie die im Hintergrund stehende
Netzhaut verbrennt (!). Während dieser Zeit wird das Licht um das Auge, das
Ereignis und das Objekt herum reflektiert und weitergeleitet. Es reicht nicht aus,
nur zu beleuchten, diese Szene muss nach einer gewissen Zeit mit einem
„Blitz“-Licht aufgenommen werden. Genauer gesagt, es muss einen Teil
unserer Augen (!) verbrennen und vage Flecken hinterlassen. Dieses Interesse,
das von der Beziehung des Dichters zur Wirklichkeit zeugt, kann nicht als
automatischer Prozess dargestellt werden. Es wird betont, dass es einige
Stationen der Reifung durchläuft. Die eingehenden Daten müssen in unserem
Kopf in Informationen umgewandelt und mit Hilfe des Auges interpretiert
werden.

Natürlich braucht die Entstehung des wahren Gedichts aus der Hand des
Dichters auch eine persönliche Sichtweise, einen poetischen Blick. Während
Kunert dies malt, überlässt er es uns, den sprachlichen Prozess zu erfassen. Hier
ist die Sprache für den Dichter sowohl die Manifestation seiner Kunst als auch
seines Denkens. Es ist unmöglich, das eine vom anderen zu trennen. Die
aufgezeigten Änderungen in Satzsyntax und Semantik belegen dies. Die in der
ersten Strophe geltenden Sprachregeln verschwinden später. Die Beziehungen,
die die einzelnen Elemente zusammenhalten, lösen sich auf, und es herrscht
eine chaotische Welt. Eine bedeutungslose und ungeordnete Welt wird durch
den Sprachkörper selbst dargestellt.

Nach dem gezeichneten poetischen Rahmen in der ersten Strophe werden dem
Dichter keine außergewöhnlichen, übernatürlichen Tugenden etwa im Sinne
von „poeta vates“ zugeschrieben. Auch wenn er sich auf die Rolle des Dichters
bezieht, hat er kein besonderes Privileg. Er schafft seine Kunst einfach als einer
von uns und mit Hilfe seiner inneren Welt. Er spricht für sich selbst. Die

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Probleme, mit denen er sich beschäftigt, sind Realitäten, die sozusagen seine
Netzhaut verbrennen und dort dunkle Flecken hinterlassen. Er begnügt sich mit
den Tatsachen jedes Auges, das sehen kann. Er versucht nicht, mit Feenflügeln
über mythologische Welten zu fliegen. Er ist bereit, im Sinne des Schiller‘chen
Dichters poetische Opfer zu bringen, trotz der Gefahr hin, mit leeren Händen da
zu stehen. Dass er sich Sorgen um die Probleme der Welt macht und versucht,
sie auszudrücken, ist seine Ohnmacht (!). Sein Erfolg liegt in der Wirkung auf
den Leser. Dies ist die Erwartung.

Die zweite Strophe stellt durch das Kerzenlicht unsere zweite These dar, denn
sie widmet sich dem Thema der poetischen Problematik der Poetik. Indem der
Ausdruck „das wahre Gedicht“ eine neue Bedeutung erhält, wird er mit der
Realität identifiziert, die die Quelle des Dichters ist. In der Tat impliziert diese
Poesie (!) die Welt, insbesondere ihren früheren Zustand. Die Realitäten der
Welt werden nicht direkt in den Text übertragen, sondern durch das Thema
verarbeitet, sozusagen durch die neun Knöchel der Kehle (ein türkisches
Sprichwort!), was das Bemühen des Künstlers beim Erfassen des Werkes
impliziert. Infolgedessen werden Bedenken hinsichtlich seiner allmählichen
Entfremdung von seinem früheren Zustand und sogar seiner Zukunft im Sinne
einer Transformation aufgrund dessen, was er verloren hat, geäußert. Die
Augenbewegungen stehen an erster Stelle der Punkte, die unsere
Aufmerksamkeit von diesem Kunert‘schen Ruf nach Kassandra lenken, der sich
inzwischen gründlich verinnerlicht hat und zum Massenerfolg geworden ist. Im
Moment des Lesens verengt sich unsere Perspektive wie von fern auf nah, von
der Außenwelt, die uns umgibt, auf das Haus, in dem wir leben, auf die
verwendeten Gegenstände, auf unsere sozialen Beziehungen und auf die
Emotionen, die wir tragen. Der Rauch der Katastrophe steigt in all seinen
Dimensionen vor unseren Augen auf. Die Gründe für den Pessimismus werden
erklärt. Der Dichter ist sich sicher („zweifellos“), dass diese Bekenntnisse
richtig sind. Das Oxymoron „fremde Bekanntschaften“ macht die in diesem
Kontinent erwähnten Ausdrücke „kahle Welten“ und „kahle Wände“ zu einem
Oxymoron. Diese dienen natürlich eher der Darstellung der Folgen von
Gefahren als einem Sprachspiel (Güngör 2014). Die Welt ist nicht „nackt“, wie
sie sein sollte, sondern durch das, was sie verloren hat. Sogar Freunde haben
sich verändert, entfremdet durch Entfernungen, die zwischen ihnen liegen.

Die Verengung des Blickwinkels erinnert an einige Widersprüche: Was geht in


der Außenwelt vor, oder welche emotionale Brille, die wir tragen, leitet uns?

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Wie können wir die Art der Beziehung zwischen ihnen beschreiben, sei es
einseitig oder interaktiv? Es scheint, dass der Dichter hier eher die Wirkungen
als die Ursachen aufzählt und zeichnet ein Bild des Wandels zeichnet. Auch
wenn er sich widersetzt und rebelliert, versucht er, seine leise Stimme zu
erheben, indem er an die Feder klammert.

Ein weiteres wichtiges Merkmal des Standpunkts ist hier, dass er nicht an die
Grenzen von Zeit und Raum gebunden ist. Das Auge des Dichters richtet sich
nicht auf eine bestimmte Szene, auf eine momentane Situation. Es durchdringt
alles, von der Vergangenheit bis zur Zukunft und von der Außenwelt bis zur
Innenwelt, indem es das Außergewöhnliche zeigt. Er ist nicht auf der Suche
nach dem Zufälligen. Er hat Wissen und Beobachtung. So sehr, dass er sich
nicht nur seiner unmittelbaren Umgebung, sondern der ganzen Welt bewusst ist.
Er bestätigt sein erworbenes nacktes Welturteil, indem er die Bilder an den
Wänden des Raumes von oben mit einer Öse betrachtet. Letztlich verbindet er
sie mit den Beziehungen der Menschen.

Dass andere Sinnesorgane vom poetischen Blick verschont sind, bleibt nicht
unbemerkt. Der Zustand der Welt, genauer gesagt die Realität, wird auf ein Bild
komprimiert, das die rein visuelle Wahrnehmung widerspiegelt. Wir hören
direkt Schreie, Worte der Freude und Traurigkeit, sogar Gerüche können wir
direkt aus dem Bild selbst riechen.

Es ist auch möglich, diesen Gedichttext, der mit seinem Dichter die
Nabelschnur durchtrennt hat, aus der Sicht des Lesers zu lesen. Dem Leser wird
auch in der gezeichneten Poetik eine Aufgabe zugewiesen.

Die Wahrheit dieses Gedichts, das auf seinen Leser wartet, muss der Leser
selbst offenbaren. Die Aufgabe des Dichters ist mit der Geburt des Gedichts
erfüllt. Aber damit die Poesie an Wert gewinnt, muss sie ihren Leser erreichen.
Die Macht, ihre Wahrheit zu enthüllen, geht durch den Leser. Dementsprechend
liegt der Erfolg des „wahren Gedichtes“ darin, dass es Eigenschaften besitzt, die
dunkle Flecken auf der Netzhaut des Lesers hinterlassen. Der Leser soll auch
brennen (!). Wie der Dichter wird auch der Leser aufgefordert, Verantwortung
zu übernehmen, Wissen, Bedeutung und Emotionen usw. zu produzieren.

Die letzte Strophe bekennt entgegen dem Titel „Eine Poetik“ und der folgenden
Aussage „das wahre Gedicht“ die Vergeblichkeit aller Bemühungen: In dem
entstehenden Bild kommt nur die Realität der Unbeweglichkeit,

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Bedeutungslosigkeit und sogar des Verschwindens zum Ausdruck. Demnach:
Der Dichter, der seinen Stoff in Poesie verwandelt, läuft Gefahr, mit seinem
Werk nicht nur seine Daseinsberechtigung, sondern auch seine Existenz zu
verlieren, da er seine goldene Zeit nicht wiederherstellen kann. Ebenso werden
seine Leser, auf die er große Hoffnungen setzt, von der Strömung mitgerissen
und einer unbekannten Zukunft ausgeliefert, anstatt sich den Anforderungen der
Wahrheit zu stellen.

3. FAZIT

Als Ergebnis können wir das Thema wie folgt zusammenfassen: Poetik sind die
Zeichen, welche die Dichter in die Zukunft geben, um ihr künstlerisches
Schaffen fortzusetzen, auch wenn sie nur vorübergehende Garantien sind. Sie
werden durch Wissen und Erfahrung aktualisiert. Da die Poetik im Sinne der
Kreativität (!) nur ein sinnvoller und menschlicher Akt im Leben ist, strahlt sie
unter allen Umständen ein Licht der Hoffnung aus. Klagen und Sorgen über
eine verlorene Welt sind daher letztlich ein Aufruf zum Leben. „Wahre
Gedichte“ werden immer eine Utopie sein, die es zu verfolgen gilt.

BIBLIOGRAPHIE

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https://literaturkritik.de/id/7574 [letzter Zugriff: 09.09.2022]

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