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Beniamino Fortis

Die „Geretteten“ im Denken Primo Levis


Eine philosophische Perspektive

Die Relevanz von Primo Levi für die Thematik der Rettung von Jüdinnen und
Juden ist heute in verschiedenen Bereichen anerkannt. Doch während Levis
autobiographische Erzählung von Auschwitz in der Holocaustforschung als
unabdingbar gilt und der literarische Wert seiner Schriften nicht unbemerkt
blieb, wurde der philosophischen Bedeutung seines Werkes, wenn überhaupt,
nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in jüngster Zeit lässt sich ein
wachsendes Interesse an der philosophischen, genauer der ethischen Dimen-
sion von Primo Levis Denken beobachten. So spricht beispielweise Arnold Da-
vidson von Levis „Ethik ohne Moralismus“ und Massimo Giuliani von einer
Levi’schen „Ethik des Widerstands“.1 In meinem Aufsatz greife ich diese Im-
pulse auf und analysiere Levis Lebenserinnerungen aus Se questo è un uomo
(Ist das ein Mensch?) sowie seine Reflexionen aus I sommersi e i salvati (Die
Untergegangenen und die Geretteten) aus einer ethischen Perspektive.2
In meiner Analyse werde ich zeigen, wie die Shoah als geschichtliche
Singularität das Denken mit der Unzulänglichkeit herkömmlicher ethischer
Kategorien konfrontiert und die Prägung neuer Begriffe erforderte. Zu den
neuen Kategorien, mittels derer der Holocaust zwar nicht verstanden, aber zu-
mindest „gewusst“3 werden kann, gehört diejenige der „Geretteten“, die, wie
deutlich werden wird, von einer ihr innewohnenden Ambiguität charakteri-
siert ist. Levis Betrachtungen entnimmt man, dass Auschwitz zu überleben
in den meisten Fällen mit einer ambivalenten Mischung aus Schuld und Un-
schuld einherging. Denjenigen, denen es gelang, ihr eigenes Leben zu retten,
so könnte man zusammenfassen, mussten zumindest einen gewissen Anteil an
Schuld auf sich laden. In diesem Zusammenhang bietet ein zentrales Kapitel in
Se questo è un uomo einige Beispiele,4 welche die Mehrdeutigkeit der Rettung

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veranschaulichen. Deshalb werde ich mich intensiver mit zwei der hier auf-
tauchenden Figuren befassen, die mir diesbezüglich besonders vielsagend zu
sein scheinen: Elias und Henri. Schließlich werde ich im letzten Teil des Auf-
satzes das ethische Denken Primo Levis auf seine Aktualität überprüfen.

1. Ethik nach Auschwitz

Levis Auffassung des menschlichen Verstehens bildet den Rahmen, in den


auch seine Überlegungen über die Auswirkung der Shoah auf unser ethisches
Bewusstsein eingebettet werden sollen. In I sommersi e i salvati schreibt Levi:

Wenn wir „verstehen“ sagen, meinen wir damit im Allgemeinen „ver-


einfachen“: Ohne tiefgreifende Vereinfachung wäre die uns umgebende
Welt ein unendliches, undefiniertes Durcheinander, das unsere Orien-
tierungs- und Handlungsfähigkeit auf eine harte Probe stellen würde.
Wir sind daher gezwungen, das Erkennbare auf ein Schema zu redu-
zieren.5

Diesen Abschnitt könnte auch eine oder einer der vielen Philosophinnen und
Philosophen nachvollziehen, die sich mit den Grenzen des menschlichen Ver-
stehens und der Endlichkeit der Vernunft beschäftigen. Die Wirklichkeit zu
verstehen – so Levi – ist dem Menschen nur mithilfe einer radikalen Verein-
fachung möglich. Wichtige Aspekte des jeweils zu Verstehenden gehen je-
doch genau aufgrund jener Vereinfachung verloren. Deshalb sei jedes Bild der
Wirklichkeit, das sich daraus ergibt, notgedrungen approximativ, korrektur-
bedürftig und provisorisch.
Wenn aber unser Zugang zur Wirklichkeit mit solch einer mentalen Ein-
stellung behaftet ist, die „Vorurteil zugunsten des Einfachen“ genannt werden
könnte,6 so gilt dies gleichermaßen für unseren Zugang zur Geschichte, die
als Teilgebiet der Wirklichkeit angesehen werden kann. Das Schema, in das
wir die geschichtlichen Tatsachen einordnen, nimmt häufig die Form einer
Dichotomie an, wodurch auch die komplexesten Situationen auf Gegensatz-
paare reduziert werden: „wir“ versus „sie“, Freunde und Feinde, die Guten
und die Bösen.7 Dennoch ist „der größte Teil der historischen […] Phänomene
nicht einfach oder zumindest nicht so einfach, wie wir es gerne hätten“;8 ihre
Komplexität lässt sich nicht problemlos mittels eines vereinfachten Bildes ver-

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schleiern. Vielmehr sickert sie nach und nach durch und wird in den unver-
meidlichen Ungenauigkeiten der Vereinfachung spürbar.
Die Mängel unseres Verstehens tauchen jedoch nicht nur allmählich auf, sie
können auch abrupt zum Vorschein kommen. Genau das ist der Fall, wenn wir
uns plötzlich mit etwas konfrontiert sehen, das nicht in unsere Schemata zu
passen scheint, unsere Denkgewohnheiten erschüttert und somit die Mangel-
haftigkeit eines sich auf Vereinfachung verlassenden Denkens ans Licht bringt.
Im Umgang mit dieser Thematik hat die philosophische Tradition mittlerweile
einen spezifischen Begriff für das geprägt, was uns dazu führt bzw. zwingt,
unser Bild der Wirklichkeit aufzugeben und ein neues zu entwickeln, nämlich
den Begriff „Ereignis“. Im allgemeinen Sinn des Wortes bezeichnet „Ereignis“
etwas, das in der Welt passiert. Aus einer philosophischen Perspektive wird
diese Definition um einen subversiven Zug ergänzt. Nicht nur geschieht ein
„Ereignis“ innerhalb der Welt, sondern dies bewirkt simultan eine Adaption
des Rahmens, durch welchen wir die Welt zu verstehen versuchen.9
Von diesem Standpunkt aus kann man den Holocaust – und Auschwitz als
sein berüchtigtes Symbol – mit Recht als „Ereignis“ im genannten Sinne auf-
fassen, denn er ist kein geschichtliches Geschehen unter anderen, sondern
eines, das uns anspricht und unsere Verstehensfähigkeit herausfordert. Außer-
dem bewegt uns der Holocaust auch dazu, die Gültigkeit der kategorialen
Struktur, durch die wir die Wirklichkeit lesen, radikal in Frage zu stellen und
neue geeignetere Kategorien zu entwickeln. Kritisch hinterfragt wird somit
nach Auschwitz vieles, das vor Auschwitz noch als unproblematisch, sogar
selbstverständlich galt. Unser Vertrauen in Gott (Jonas) und die Menschheit
(Améry); unsere Fähigkeit zu verzeihen (Jankélévitch und Derrida) oder auch
die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben (Adorno)10 – das sind nur einige der
Themen, die in der Post-Shoah-Zeit neu in Betracht gezogen wurden und
noch heute immer wieder erörtert werden. Nicht zuletzt brauchte auch unsere
Auffassung von Schuld und Unschuld eine Neugestaltung. Und genau in die-
sen letzteren ethischen Kontext schreibt sich auch Levis Kategorie der „Ge-
retteten“ ein.

2. Die Ambiguität der Rettung

Es steht wohl außer Frage, dass die „Geretteten“, wie sie von Levi in seinen
Texten beschrieben werden, ein präzedenzloses Phänomen, ein typisches Pro-

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dukt der Shoah darstellen, auf welches das ethische Verständnis vollkommen
unvorbereitet war. Die ethischen Kategorien, die vor der Shoah über Jahr-
hunderte hinweg entwickelt wurden, zeigten plötzlich ihre umfassende
Schwäche, indem sie nicht in der Lage waren, die Ambiguität zu bewältigen,
die die Kategorie der „Geretteten“ charakterisiert und ihre Rückführung auf
das schon Bekannte, auf vorgefasste Schemata verhindert. Höchst zwiespältig
ist dabei für Levi insbesondere die Verflechtung von Schuld und Unschuld, die
sich an den „Geretteten“ durch folgende Überlegung erkennen lässt: An einem
Ort wie Auschwitz, wo der Tod die Regel ist, stellen die „Geretteten“ eine Aus-
nahme dar, die als solche ein „Privileg“ und damit in gewisser Weise auch eine
Schuld – neben der naheliegenden Unschuld – impliziert.11
Die Ursache der Schwierigkeiten, die „Geretteten“ zu fokussieren, ist auch
in der Natur des menschlichen Verstehens zu suchen. Die Vereinfachung, zu
der die menschliche Denkweise spontan neigt, manifestiert sich in diesem Fall
in der Ansicht, die Kategorien von „Täter“ und „Opfer“ seien jeweils mit denen
von „Schuld“ und „Unschuld“ zu assoziieren – als ob die zwei Paare vollkom-
men deckungsgleich wären. Zwar suggeriert die alltägliche Erfahrung, alle
Schuld müsse auf die Täterinnen und Täter fallen, während die Opfer ein-
deutig unschuldig seien; doch genau diese Überzeugung wird nach Auschwitz
insofern unhaltbar, als ihr durch die neue, von Levi thematisierte Kategorie
widersprochen wird: Die „Geretteten“, die die Shoah hervorbrachte, sind der
lebendige Beweis, dass, entgegen der allgemeinen Meinung, „der Opferzustand
die Schuld nicht ausschließt“.12
In der Tat ist die Kategorie der „Geretteten“ so ambivalent, dass sie unter-
schiedliche, sogar gegensätzliche Interpretationen zulässt. In dieser Hinsicht
erscheinen die „Geretteten“ zugleich weniger und mehr als Opfer. Weniger,
weil ihre Rettung aus einem Privileg stammt, das andere Häftlinge nicht hat-
ten. Um privilegiert zu sein, mussten sich die „Geretteten“ den Lagerautori-
täten verdingen,13 sie mussten mit den Tätern kollaborieren und teilen daher
auch ihre Schuld – wenn auch in geringem Maße und mit stark mildernden
Umständen.14 Andererseits sind die „Geretteten“ aber auch mehr als Opfer –
zweimal Opfer sozusagen. Einmal aufgrund der erlittenen Gewalt, aber dann
auch ein zweites Mal, weil sie der Würde und des Trostes der Unschuld beraubt
sind.15 Was das Ereignis der Shoah eindeutig und endgültig gezeigt hat, ist
also, dass sich die Bedeutungsfelder der Begriffspaare „Schuld-Unschuld“ und
„Täter-Opfer“ nur teilweise überschneiden, ohne sich gänzlich zu decken. Aus
dieser unvollkommenen Entsprechung entsteht eine Dimension der Ambigui-

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tät, die von Levi „Grauzone“ genannt wird und den Raum – oder, besser noch,
den Zwischenraum – eröffnet, in dem die Kategorie der „Geretteten“ ihre spezi-
fische Verortung findet.16

3. Unmenschlichkeiten

Ein Entweder-oder zwischen Rettung des Lebens und Rettung der Seele taucht
an mehreren Stellen von Levis Studie auf. Wenn, wie oben beschrieben, das
Leben in Auschwitz nur dadurch gerettet werden konnte, dass ein Privileg in
Anspruch genommen wurde, hatten die damit verbundene Ungerechtigkeit
und die ihr entsprechende Schuld meistens den „Tod der Seele“ zur Folge.17
Die menschliche Seele kann aber auf verschiedene Weise sterben: „Viele Wege
haben wir ersonnen und befolgt, um am Leben zu bleiben, so viele, wie es
menschliche gibt“ – sagt Levi.18 Doch so unterschiedlich sie auch sein mögen,
zumindest eines haben alle Wege gemeinsam: „[S]ie stellten oft eine nicht ge-
ringe Summe von Verirrungen und Kompromissen dar. Denn überleben zu
können, ohne etwas von seiner eigenen, moralischen Welt aufzugeben […], ist
nur ganz wenigen Überragenden vorbehalten.“19
Ich werde versuchen, zwei unterschiedliche Formen der Unmenschlichkeit
anhand der Beispiele von zwei „Geretteten“, die sie verkörpern, zu illustrieren.

3.1. Elias, oder vom Tierischen


Alles in Levis Beschreibung von Elias zielt darauf, das Bild eines wilden Tiers
hervorzurufen. Nicht nur wird seine „bestialische Kraft“ betont,20 sondern
auch seine Intelligenzminderung wird mehrmals erwähnt. Die Tatsache ist je-
doch, dass, anders als man denken könnte, beide Eigenschaften in Auschwitz
als Vorteile galten, und genau dank ihrer Kombination konnte Elias seinen
Weg zur Rettung finden.
Kurz und bündig, aber dennoch sehr aufschlussreich erklärt Levi in einem
zentralen Abschnitt, inwiefern Kraft und „Schwachsinn“ Elias retten konnten:

Die Zerstörung von außen hat Elias überlebt, weil er physisch un-
zerstörbar ist; die Zerstörung von innen hat ihn nicht berührt, weil er
schwachsinnig ist. Demnach ist er vor allem ein Überlebender: der ge-
eignetste für diese Lebensweise […]. Bekommt Elias seine Freiheit wie-

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der, wird er an die Grenze der menschlichen Gemeinschaft verwiesen,


in ein Gefängnis oder ein Irrenhaus. Aber hier im Lager […] gedeiht er
und triumphiert.21

Es ist nicht klar, ob Elias ein Produkt des Lagers ist oder „ein Verrückter, un-
fassbar und unmenschlich, der durch Zufall ins Lager kam“,22 bzw. ob er seine
Menschlichkeit verloren oder eher nie gehabt hat. Davon abgesehen ist aller-
dings die wichtigste Schlussfolgerung, die man aus seiner Beschreibung ziehen
kann, dass das Lager eine Umgebung ist, in der sich verschiedene Unmensch-
lichkeitsformen als die zum Überleben geeignetsten erweisen. Eine dieser For-
men ist die Animalität, die Levi in Elias exemplarisch verkörpert sieht.

3.2. Henri, oder vom Teuflischen


Eines der ersten Dinge, die wir von Henri erfahren, ist, dass er „hochintelligent“
ist.23 Das mag ihn zu einem Gegenteil von Elias machen, doch Henri ist des-
wegen nicht weniger unmenschlich. In dem von Levi skizzierten Porträt ba-
siert Henris Unmenschlichkeit vor allem auf seiner „kalten Kompetenz“,24 d. h.
dem zynischen, opportunistischen Rekurs auf seine natürliche Fähigkeit, Mit-
leid in seinem Gegenüber zu erwecken: „Henri hat herausgefunden, dass das
Mitleid ein primäres, unbedachtes Gefühl ist“, sagt Levi, und fügt hinzu: „Es
gibt kein noch so verhärtetes Gemüt, das er nicht erweichen könnte, wenn er
es ernstlich darauf anlegt.“25
Insofern könnte man argumentieren, dass die Manipulation, die Henri sys-
tematisch vornimmt, ein klarer Verstoß gegen Kants kategorischen Imperativ
sei. Bekanntlich lautet eine der von Kant vorgeschlagenen Formulierungen:
„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person
eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brau-
chest.“26 Genau das gegenteilige Verhalten lässt sich bei Henri erkennen: Alle
anderen scheinen für ihn ausschließlich Mittel zu sein, wie Levi selbst sagt:

Nach allen Unterhaltungen mit Henri, auch nach den herzlichsten,


empfand ich stets […] den ungewissen Verdacht, dass auch ich in ir-
gendeiner Weise und unbemerkt nicht ein Mensch vor ihm gewesen
sei, sondern ein Werkzeug in seiner Hand.27

Kalt, berechnend und trügerisch entwickelt Henri seine zum Überleben nötige
Unmenschlichkeit in Richtung des Teuflischen. Das deutet sich in Levis Wor-

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ten zunächst nur an und wird erst gegen Ende der Ausführungen zu Henri
mit einem Hinweis auf die biblische Schlange bestätigt. Levi zufolge hat Henri
„jegliche gefühlsmäßige Bindung zerschnitten“,28 jede Spur von Menschlich-
keit in sich unterdrückt oder ausgelöscht, bis er – wie Elias und doch auf eine
ganz andere Weise – zum tauglichen Individuum für das Leben im Lager ge-
worden ist: „hart und unnahbar, verschlossen in seinem Panzer, ein Feind aller,
unmenschlich schlau und unbegreiflich wie die Schlange in der Genesis“.29
Was sich in der Zusammenschau aus diesen beiden Beispielen schließen
lässt, ist eine Art ungeschriebenes Gesetz, das im Lager in Kraft zu sein scheint:
Man überlebt nicht etwa trotz, sondern gerade wegen seiner Unmenschlich-
keit – sei diese angeboren oder erworben.30

4. Fazit – Das Paradigma „Auschwitz“

Dass Levis Werk zumindest einen philosophischen Kern aufweist, ist eine An-
sicht, die sich wie eingangs erwähnt in der neueren Levi-Forschung durch-
gesetzt hat. In diesem Sinne spricht etwa Frederic Homer von „Levi’s incipient
philosophy“,31 wobei das Adjektiv „incipient“ mit der lateinischen Wendung
„in statu nascendi“ übersetzbar ist. Im Einklang mit Homer verweilt Pierpaolo
Antonello bei den „surreptitious philosophical and anthropological positions“,32
die in Levis Schriften zwischen den Zeilen zu lesen seien. Und Stefano Levi
Della Torre, um noch ein Beispiel anzuführen, beschreibt Levis Vorgehens-
weise als eine Herleitung von allgemeinen Bedeutungen aus Einzelfällen, eine
Verallgemeinerung also, die, obwohl sie an sich noch keine vollständig ent-
faltete Philosophie darstelle, dafür wenigstens die Weichen stelle.33
Eigentlich scheint Levi selbst dazu aufzufordern, seine Überlegungen über
ihre historische Bedeutung hinaus auszudehnen. Darauf deuten solche Aus-
sagen wie diese hin: „[D]ie Lagersituation [kann] als Laborsituation fungie-
ren“;34 „[das Streben nach der Macht] ist ein Merkmal, das im Mikrokosmos
eines Konzentrationslagers den Makrokosmos einer totalitären Gesellschaft
reproduziert“;35 „[…] innerhalb der Lager [wurde] die hierarchische Struktur
des totalitären Staates […] in kleinerem Maßstab, aber mit vergrößerten Merk-
malen wiedergegeben“36. Insbesondere die von Levi gezogene Parallele zwi-
schen Mikro- und Makrokosmos bietet sich dazu an, in eine philosophische
Richtung weiterentwickelt zu werden. Grundzüge, Verhältnisse und Prozes-
se, die im Mikrokosmos des Lagers erkennbar sind, lassen sich auf die Makro-

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ebene der Gesellschaft übertragen, wo sie allgemeine Gültigkeit über ihren


ursprünglichen Kontext hinaus erlangen und somit imstande sind, einen brei-
teren Themenbereich zu erhellen.
Die Wiederaufnahme und Weiterentwicklung dieser Auffassung ist in
jüngster Zeit vor allem dem Philosophen Giorgio Agamben zu verdanken, der
die Begriffe des „Paradigmas“ und der „paradigmatischen Methode“ auch mit
Bezug auf Primo Levi in mehreren Studien konturiert hat. Agamben selbst
schreibt: „In meinen Forschungen bin ich auf Figuren gestoßen – den homo
sacer,37 den Muselmann,38 den Ausnahmezustand,39 das Konzentrationslager –,
die zwar […] historische Phänomene sind und doch in meiner Analyse als Para-
digmen behandelt wurden, deren Funktion darin bestand, einen umfassenden
Problemkontext zu konstituieren und begreiflich zu machen.“40 Die Beziehung,
die Levi zwischen Mikro- und Makrokosmos feststellt, formuliert Agamben in
Termini einer Verbindung zwischen „Paradigma“ und dazugehörigem „para-
digmatischem Feld“.
Die Idee, das Konzentrationslager als Paradigma zu verstehen, die Levi aus
sporadischen Hinweisen nur erahnen lässt, ist im siebten Kapitel von Agam-
bens Homo sacer ausführlich erörtert. Der paradigmatische Ansatz des Kapi-
tels ist schon im ersten Abschnitt erklärt:

Anstatt die Definition des Lagers aus den dort stattgefundenen Ereig-
nissen zu deduzieren, werden wir [versuchen,] das Lager nicht als eine
historische Tatsache […] anzusehen, […], sondern in gewisser Weise
als verborgene Matrix, als nómos des politischen Raumes, in dem wir
auch heute noch leben.41

Bei Agamben basiert die paradigmatische Bedeutung des Konzentrationslagers


auf der Annahme, dass die Struktur, die es exemplifiziert, d. h. die Dynamiken,
die dort ins Extreme getrieben und daher evidenter sind, auch in unserer Ge-
sellschaft, wenn auch in geringerem Ausmaß, aktiv sind bzw. sein können. So
radikal, ja sogar empörend eine solche Ansicht auch erscheinen mag, ist sie
nicht ohne erklärende Kraft. Lager und Gesellschaft seien nicht grundsätzlich,
sondern nur graduell unterschiedlich, denn im Lager tauche nur mit „größe-
rer Erkennbarkeit“ auf,42 was sich auch in unserer Gesellschaft abspielen kann.
Der strittige Punkt ist hier die Analogie zwischen Lager (als Paradigma
oder Mikrokosmos) und Gesellschaft (als paradigmatischem Feld oder Makro-
kosmos). Für Agamben gibt es kein objektives Kriterium für die Auswahl eines

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Paradigmas; sie bleibt eher dem Gespür des Forschers überlassen. Für Levi ist
dagegen der gesuchte gemeinsame Nenner in nichts anderem zu finden als der
menschlichen Natur. Mit anderen Worten haben die von Levi untersuchten La-
ger-Phänomene – das Streben nach dem Privileg, die Verflechtung von Schuld
und Unschuld, und vor allem die Ambiguität der Rettung, die alle diese Phäno-
mene in sich vereint – sämtlich ihren Ursprung in der Dimension des Mensch-
lichen, d. h. in derselben Dimension, auf der auch die Gesellschaft beruht.
Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die ethische Aktualität des Werkes von
Primo Levi ziehen. Wenn es die menschliche Natur ist, die den im Lager be-
obachtbaren Verhältnissen und Prozessen zugrunde liegt, ist es klar, dass diese
Verhältnisse und Prozesse auch außerhalb des Lagers in jedem Bereich des
Menschlichen zumindest als permanente Möglichkeiten (Gefahren, Risiken)
präsent sind. Vor allem deshalb ist Levis Denken heute hoch relevant, da seine
Kategorien zum besseren Verständnis derjenigen Aspekte beitragen können,
die von Natur aus zum menschlichen Geist gehören und doch erst durch das
Ereignis der Shoah deutlich sichtbar wurden.43 Dass die „Geretteten“ in der
Extremsituation des Lagers aufgetaucht sind, offenbart, dass ihre ethische
Ambiguität schon immer im Möglichkeitsbereich des Menschlichen liegt.44
Das ist für das Studium der Vergangenheit bestimmt von Belang, aber – und
genau darin besteht die Aktualität des Denkens Levis – es ist umso wichtiger
für das Verstehen unserer Gegenwart, und vielleicht auch für die Gestaltung
unserer Zukunft.

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Anmerkungen
1 Davidson, Arnold (Hg.): La vacanza morale del fascismo. Intorno a Primo Levi, Pisa
2009; Giuliani, Massimo: Per un’etica della resistenza. Rileggere Primo Levi, Macerata
2015. Diese sowie alle weiteren Übersetzungen sind von mir.
2 Vgl. Levi, Primo: Se questo è un uomo, Torino 1958 (1947); Levi, Primo: I sommersi e i
salvati, Torino 1986.
3 „Wenn Verstehen unmöglich ist, dann ist Wissen notwendig“, Levi: Se questo è un
uomo, S. 347.
4 Signifikanterweise trägt das Kapitel den gleichen Titel wie Levis Essayband: I sommersi
e i salvati.
5 Levi: I sommersi e i salvati, S. 24.
6 Levi spricht von einem „Wunsch nach Vereinfachung“, ebd., S. 25.
7 Die bekannte Wendung „Sieger schreiben Geschichte“ scheint hier besonders treffend
zu sein. Sieger zu sein, bedeutet, das Recht gewonnen zu haben, die Rollen in einem
geschichtlichen Kontext zuzuweisen. Indem sie Geschichte schreiben, entscheiden Sie-
ger im Nachhinein darüber, wer die Guten und wer die Bösen sind.
8 Levi: I sommersi e i salvati, S. 25.
9 Vgl. Žižek, Slavoj: Event, London 2014, S. 2.
10 Vgl. Jonas, Hans: Der Gottesbegriff nach Auschwitz: Eine jüdische Stimme, Frankfurt
am Main 1987; Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche
eines Überwältigten, München 1966; Jankélévitch, Vladimir: Pardonner?, Paris 1971;
Derrida, Jacques: Pardonner: l’impardonnable et l’imprescriptible, Paris 2004; Adorno,
Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt
am Main 1977.
11 „Hungertod oder durch Hunger verursachte Krankheiten waren das normale Schicksal
des Gefangenen. Das konnte nur durch eine größere Nahrungsmenge verhindert wer-
den, und um dies zu bekommen, brauchte man ein Privileg“, Levi: I sommersi e i salvati,
S. 27.
12 Ebd., S. 30.
13 Vgl. ebd., S. 10.
14 Levi spricht von einem „Teil der Schuld, der um so größer ist, je größer die Freiheit der
Wahl gewesen ist“, ebd., S. 34.
15 „Es wurde der Versuch unternommen, das Gewicht der Schuld auf […] die Opfer abzu-
wälzen, so dass diesen, zur eigenen Erleichterung, nicht einmal mehr das Bewusstsein
ihrer Unschuld bleiben würde“, ebd., S. 38.
16 Vgl. ebd., Kapitel 2, S. 24–50.
17 Ebd., S. 43.
18 Levi: Se questo è un uomo, S. 83.
19 Ebd., S. 83f. Levi spezifiziert nicht, was er mit „Überragenden“ meint. Er sagt nur, dass
sie „das Zeug zum Märtyrer oder Heiligen haben“ (S. 84), wobei der Hinweis auf Mär-
tyrer und Heilige offenbar eine Hyperbel ist. Damit versucht Levi zu vermitteln, wie
schwierig es war, dass man Auschwitz überlebte, ohne moralische Kompromisse einzu-
gehen.
20 Ebd., S. 86.
21 Ebd., S. 88.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 89.
24 Ebd.

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25 Ebd.
26 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke in zwölf Bänden,
Bd. 7, Frankfurt am Main 1977, S. 61.
27 Levi: Se questo è un uomo, S. 90.
28 Ebd., S. 89.
29 Ebd., S. 90. Herv. d. Verf.
30 Die hier kurz dargestellte Unmenschlichkeit wird umso deutlicher, wenn man sie bei-
spielsweise mit der Menschlichkeit eines Retters wie des Maurers Lorenzo Perrone
vergleicht, der vor allem in einer Erzählung porträtiert wird. Vgl. dazu Levi, Primo: Il
ritorno di Lorenzo, in: ders.: Tutti i racconti, Torino 2015, S. 530–536, sowie den Beitrag
von Andree Michaelis-König im vorliegenden Band.
31 Homer, Frederic D.: Primo Levi and the Politics of Survival, Columbia (MO) 2001, S. 5.
Herv. d. Verf.
32 Antonello, Pierpaolo: Primo Levi and ‚man as maker‘, in: Gordon, S. C. Robert (Hg.): The
Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge 2007, S. 89–103, hier S. 90. Herv. d.
Verf.
33 Levi Della Torre, Stefano: Introduzione a Se questo è un uomo, in: Ossola, Carlo Maria
(Hg.): La letteratura italiana. Storia e testi, Bd. 1, Milano; Napoli 2011.
34 Levi: I sommersi e i salvati, S. 28.
35 Ebd., S. 33.
36 Ebd., S. 32.
37 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995.
38 Vgl. Agamben, Giorgio: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino
1998.
39 Vgl. Agamben, Giorgio: Stato di eccezione, Torino 2003.
40 Agamben, Giorgio: Signatura Rerum. Sul metodo, Torino 2008, S. 11.
41 Agamben: Homo sacer, S. 185. Es ist nicht zu übersehen, dass Levi von der totalitären
Gesellschaft und dem totalitären Staat, Agamben jedoch vom politischen Raum spricht,
in dem wir heute leben, d. h. einer Demokratie. Der Unterschied mag groß erscheinen,
doch verringert er sich erheblich, wenn man bedenkt, dass Agamben in seinem ge-
samten Werk für „eine tiefe Verwandtschaft zwischen Demokratie und Totalitarismus“
(ebd., S. 14) argumentiert.
42 Agamben: Signatura rerum: S. 21.
43 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Levi sein eigenes Werk als „ein ge-
lassenes Studium einiger Aspekte des menschlichen Geistes“ definiert, Levi: Se questo
è un uomo, S. 9.
44 Um Missverständnisse zu vermeiden: Selbst die Unmenschlichkeit ist immer noch eine
menschliche Möglichkeit. Der Menschlichkeit ist die Fähigkeit eigen, sich selbst abzu-
schaffen.

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