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1. Sprachverdichtung
in der die Metaphern „nur noch eine untergeordnete Rolle spielen“ und „der
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11) des Gedichts, die der Romanist Hugo Friedrich (1904–78) kurz zuvor
diagnostiziert hatte. In seiner einflussreichen Studie Die Struktur der moder‐
nen Lyrik (1956) befasst er sich zunächst mit dem Merkmal der ‚Dunkelheit‘,
das bei der Lektüre moderner Lyrik sowohl zur Anziehung als auch zur
Distanzierung führe: „Ihr Wortzauber und ihre Geheimnishaftigkeit wirken
zwingend, obwohl das Verstehen desorientiert wird.“ (F RIEDRICH [1956] 1961,
10) Das Gedicht erweist sich dabei als Medium einer sprachlichen Funda‐
mentalerfahrung: Die Leser werden mit dem Unvertrauten konfrontiert,
durch die Verfremdung des Bekannten irritiert und durch die Deformation
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nen der Begriffe in Schwingung versetzen.“ (F RIEDRICH [1956] 1961, 10 f.) Das
Merkmal der ‚Selbstgenügsamkeit‘ wird in der zeitgenössischen Diskussion
über moderne Lyrik freilich auch kritisch gesehen: Weil sich das Gedicht in
„orphischem Geraun“ (P IONTEK 1961, 113) erschöpfe, gelinge es nicht mehr,
eine produktive Dialogbeziehung zwischen Text und Leser zu etablieren.
Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass der polemische Begriff „Geraun“
von einer ablehnenden Haltung zeugt; demgegenüber hatte Weyrauch für
eine mehrmalige und möglichst aufgeschlossene Lektüre votiert. In beiden
Perspektiven geht es um den verborgenen und im Grunde nur bedingt
erschließbaren Bedeutungsgehalt eines Gedichts, der bewusst ‚verdunkelt‘
sei:
Moderne Lyrik nötigt die Sprache zu der paradoxen Aufgabe, einen Sinn gleich‐
zeitig auszusagen wie zu verbergen. Dunkelheit ist zum durchgängigen ästheti‐
schen Prinzip geworden. Sie ist es, die das Gedicht übermäßig absondert von der
üblichen Mitteilungsfunktion der Sprache, um es in einer Schwebe zu halten, in
der es sich eher entziehen als annähern kann. (F RIEDRICH [1956] 1961, 130)
Friedrich greift in diesem Zusammenhang einen Begriff auf, der sich als
kategorisierendes Ordnungskonzept für einen Bereich der deutschen Nach‐
kriegslyrik etabliert hat: „Hermetismus“ (F RIEDRICH [1956] 1961, 131). Die
Hermetik bzw. der Hermetismus bezeichnet zunächst eine Offenbarungs‐
lehre, die ursprünglich aus der Antike stammt und insbesondere in der
Renaissance an Bedeutung gewinnt. Noch vor 1900 wird der Begriff auf
die Literatur übertragen und um 1930 von der italienischen Literaturkritik
34 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Erweist sich die Natur hier als Medium einer gleichsam magischen Ge‐
schichtserfahrung, akzentuiert Eich in seinem Gedicht Ende eines Sommers
aus der Sammlung Botschaften des Regens (1955) ihre „Unausdeutbarkeit“
(S CHÄFER 1971, 151). Doch der „Trost der Bäume“ (E ICH 1991, I, 81), von dem
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in Ende eines Sommers noch die Rede ist, scheint zusehends zu schwinden
(vgl. H ARTUNG 1966, 90 f.). In den Botschaften des Regens wird die Natur
schließlich zum „Zeichen einer […] unheilvollen Welt“ (L AMPING [1989]
2000, 238). Angesichts dieser Tendenz wird die Dichterin Ingeborg Bach‐
mann (1926–73) in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959/60) darauf
hinweisen, dass Eichs Lyrik gerade nicht dem überholten Konzept einer
Erlebnis- oder Bekenntnislyrik entspreche. Seine Gedichte seien daher nicht
„genießbar“, sondern vielmehr „erkenntnislastig, als müßten sie in einer Zeit
äußerster Sprachnot aus äußerster Kontaktlosigkeit etwas leisten, um die
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ersten Sammlung Die gestundete Zeit (1953) liegt der Akzent vorwiegend auf
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Der am 23. November 1920 geborene Celan verbringt seine Jugend, wie
er brieflich darlegt, in Czernowitz, der traditionellen Hauptstadt der Buko‐
wina, die damals zu Nordrumänien und heute zur Westukraine gehört.
Dort wächst er mehrsprachig auf: Während sein Vater für die jüdische
Erziehung sorgt, die auch das Erlernen des Hebräischen umfasst, vermittelt
ihm seine Mutter die deutsche Sprache; später kommt in der Schule die
rumänische Sprache hinzu. Frühzeitig tritt bei ihm eine hohe „Sensibilität
für lyrische Dichtung“ (F ELSTINER 2000, 31) zutage. Diese Disposition zeigt
sich darin, dass er und sein Schulkamerad Immanuel Weissglas (1920–79)
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Als Czernowitz gegen Mitte Juni 1940 von russischen Truppen besetzt
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wird, kann Celan sein Studium zunächst noch fortführen. Das ändert sich
ein Jahr später, als deutsche Truppen Anfang Juli 1941 in Czernowitz
einmarschieren. Die jüdischen Einwohner werden „in ein Ghetto getrieben
und später zu Zehntausenden deportiert“ (F ELSTINER 2000, 36). Ende Juni 1942
werden Celans Eltern in das Zwangsarbeiterlager Michailowka gebracht,
in dem der Vater an Typhus stirbt und die Mutter von einem SS-Mann
erschlagen wird. Nachdem er davon erfahren hat, schreibt Celan betroffen
an seinen Freund Erich Einhorn: „Deine Eltern sind gesund, Erich, ich habe
mit Ihnen gesprochen […]. Das ist sehr viel, Erich, Du kannst Dir nicht
vorstellen, wie viel.“ (C ELAN 2019, 25) Anders als seine Eltern entgeht Celan
der Deportation und kommt in das 400 km südlich von Czernowitz gelegene
Arbeitslager Tăbărești, wo er Zwangsarbeit im Straßenbau leisten muss.
Trotz der strapaziösen Lebensbedingungen bleibt Celan in dieser Periode
dichterisch produktiv und verfasst ca. 75 eigene Gedichte sowie mehrere
Übersetzungen.
Nach der Einnahme von Czernowitz durch die Rote Armee im Frühjahr
1944 kehrt Celan zunächst in seine Heimatstadt zurück, wo er mit Dichtern
wie Weissglas, Rose Ausländer (1901–88) und Alfred Margul-Sperber (1898–
1967) zusammentrifft. In dieser Zeit entsteht eines der bekanntesten, wenn
nicht gar das berühmteste Gedicht Celans, das mit Pablo Picassos (1881–
1973) Gemälde Guernica (1937) verglichen worden ist: die Todesfuge. Das
Gedicht wird zuerst 1947 in rumänischer Übersetzung gedruckt, die deutsche
Originalfassung erscheint in Celans erster publizierter Lyriksammlung Der
Sand aus den Urnen (1948). Die Todesfuge ist zum einen als Antwort auf
38 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
das von Weissglas zuvor verfasste, aber erst später publizierte Gedicht ER
gelesen worden (vgl. B OLLACK 2006, 47; C ONTERNO 2014, 192). Zum anderen
enthält es auch die Metapher der ‚schwarzen Milch‘, die bereits Ausländer
in ihrem Gedicht Ins Leben (1939) verwendet hatte (vgl. A USLÄNDER 1984/90,
I, 66). Diese Form der produktiven Rezeption verschiedener Prätexte wird
Celan allerdings von missgünstigen Kritikern als unkünstlerische Imitation
vorgeworfen. Eine exponierte Position bezieht in diesem Zusammenhang
vor allem die Schriftstellerin Claire Goll (1890–1977), die Celan zu Beginn
der 1950er Jahre öffentlich des Plagiats bezichtigen wird (vgl. W IEDEMANN
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im rein Künstlerischen an. Und die Todesfuge ist tief verankert im lyrischen Be‐
wußtsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität.
(zit. nach G OẞENS [2008] 2012, 48)
Die Todesfuge, die „zum Inbegriff für Dichtung ‚nach Auschwitz‘“ (F ELSTINER
2000, 53) geworden ist, markiert den Beginn von Celans dichterischer
Neuorientierung in den Jahren 1944/45. Wenn er später in seiner Bremer
Literaturpreisrede (1958) sagen wird, dass in der Nachkriegszeit die Sprache
„[e]rreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste“ (C ELAN
1986, III, 185), dann verschweigt der Begriff „Verluste“, was fortan den
„Fluchtpunkt seiner Lyrik“ (L AMPART 2013, 311) bilden wird: die Shoah.
Diese thematische Fokussierung hat zugleich poetologische Konsequenzen:
Es geht Celan nicht um die mimetische Abbildung, sondern um die „Wirk‐
lichkeitssuche bei zugleich radikaler Problematisierung der sprachlichen
Annäherung an die gesuchte Wirklichkeit“ (L AMPART 2013, 309). Als Aus‐
druck dieser „Problematisierung“ gelten in Celans Lyrik vor allem seine
antirealistische Darstellungsweise und seine pointierte Sprachverdichtung.
Die daraus resultierende Unmöglichkeit eines unmittelbaren Verstehens hat
wiederholt dazu geführt, Celans Gedichte als ‚dunkel‘ zu kennzeichnen.
Schon Karl Krolow (1915–99) hat in seiner Vorlesungsreihe Aspekte zeitge‐
nössischer deutscher Lyrik (1961) festgehalten: „Bei ihm [Celan] kommt es
zu einer Beschattung der Worte im Gedicht.“ (K ROLOW [1961] 1963, 149) Am
Beispiel des Gedichts Sprich auch du erläutert Krolow, wie sich allmählich
eine Schattenwelt formiert, in der das Gedicht schließlich „dem Verstummen
zutreibt“ (K ROLOW [1961] 1963, 151). Diese Tendenz zur radikalen Reduktion
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zeigt sich verstärkt in den Lyriksammlungen der 1960er Jahre: „das Gedicht
[wird] der Beinahe-Unmöglichkeit, dem Fast-Verstummen abgewonnen.“
(H ARTUNG [1970] 1973, 253)
Im April 1945 gelangt Celan nach Bukarest und wird dort als Übersetzer
und Verlagslektor tätig. In dieser Periode entsteht nicht nur sein Gedicht
Der Sand aus den Urnen; auch unterstützt Margul-Sperber ihn dabei, einen
Publikationsort für seine Lyrik zu finden. Dem Schriftsteller Max Rychner
(1897–1965), der 1947 einige Gedichte Celans in der Schweizer Tageszeitung
Die Tat abdrucken lassen wird, teilt er allerdings auch seine grundsätzliche
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Befürchtung mit:
[…] ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache
zu schreiben. Wenn meine Gedichte erscheinen, kommen sie wohl auch nach
Deutschland und – lassen Sie mich das Entsetzliche sagen – die Hand, die mein
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Buch aufschlägt, hat vielleicht die Hand dessen gedrückt, der der Mörder meiner
Mutter war … (C ELAN 2019, 27)
dings wird ihm dort unterstellt, seine Gedichte „im Tonfall von Goebbels
vorgetragen“ (L ENZ 1988, 316) zu haben. Bei dieser Tagung lernt Celan
unter anderem Willi August Koch (1903–80) kennen, den Cheflektor der
Deutschen Verlagsanstalt. Dort erscheint sein zweiter Gedichtband Mohn
und Gedächtnis (1952), in den zahlreiche Gedichte aus Der Sand aus den
Urnen – wie etwa die Todesfuge – Eingang finden. Während Celan in den
1950er Jahren als Übersetzer tätig ist, erlangt er mit den Gedichtbänden
Von Schwelle zu Schwelle (1955), den er seiner Gattin Gisèle Lestrange
(1927–91) widmet, und Sprachgitter (1959) auch in Deutschland größere
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der genannten Goll-Affäre trifft ihn die 1965 in der Zeitschrift Merkur
artikulierte Unterstellung, mit seiner Todesfuge das Leid des jüdischen
Volks ästhetisiert und damit ‚beschönigt‘ zu haben. Daraufhin vermerkt
Celan sarkastisch: „jetzt, beim streng nach Adorno denkenden […] Merkur,
weiß man endlich, wo die Barbaren zu suchen sind.“ (zit. nach F ELSTINER
2000, 291) Zu Beginn und nochmals Mitte der 1960er Jahre wird Celan
aufgrund eines Nervenversagens in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung widmet er sich weiterhin
seinem lyrischen Werk: In den 1960er Jahren entstehen die Sammlungen Die
Niemandsrose (1963), Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) und Lichtzwang
(1970); aus dem Nachlass werden Schneepart (1971) und Zeitgehöft (1976)
veröffentlicht. Vermutlich am 20. April 1970 nimmt sich Celan in Paris das
Leben.
Das Gedicht Der Sand aus den Urnen ist wahrscheinlich 1946 während
Celans Aufenthalt in Bukarest entstanden. Bereits frühzeitig gehört es zu
jenen Konvoluten, die zur Veröffentlichung an Max Rychner und Otto Basil
geschickt werden (vgl. G OẞENS [2008] 2012, 46 f.). Basil veröffentlicht das
Gedicht mitsamt 16 anderen unter der Überschrift Der Sand aus den Urnen
in seiner Zeitschrift Plan (1948), rät aber von einer Buchpublikation ab: „An
eine Buchausgabe ist aber vorläufig hier in Österreich nicht zu denken,
man kauft keine Lyrikbücher, nicht einmal von bekannten Dichtern.“ (zit.
nach G OẞENS 2001, 59 f.) Trotz dieser ‚Warnung‘ bereitet Celan seine
erste Gedichtausgabe vor, für die zwischenzeitlich der Titel Der Pfeil der
Artemis erwogen wird (vgl. S ENG 2001, 103). Da der ursprüngliche Plan,
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sie im Verlag von Erwin Müller zu veröffentlichen (vgl. C ELAN 2019, 31),
scheitert, vermittelt Jené die Verbindung zum Wiener Sexl-Verlag. Celan,
der die Herstellung des Bandes nicht überwachen kann, ist von der Druck‐
ausgabe, wie er Rychner schreibt, tief enttäuscht: „das Buch erschien voller
Druckfehler, mit dem geschmacklosesten Einband, den ich je gesehn, und
obendrein […] mit zwei Beweisen äußerster Geschmacklosigkeit“ (C ELAN
2019, 45), womit die Lithografien Jenés gemeint sind. Da „13 der insgesamt
48 Gedichte des Bandes“ (S ENG 2001, 107) fehlerhaft sind, ordnet Celan an,
den Band einstampfen zu lassen. Bei der Neupublikation der Gedichte in
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der Sammlung Mohn und Gedächtnis verändert Celan ein weiteres Mal die
Zusammenstellung und Anordnung der Zyklen. Gehört das Titelgedicht
Der Sand aus den Urnen in der Sammlung Der Sand aus den Urnen noch
zum Zyklus Mohn und Gedächtnis (vgl. C ELAN 1986, III, 46), wird es in der
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Sammlung Mohn und Gedächtnis in den Zyklus Der Sand aus den Urnen
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eingegliedert (vgl. C ELAN 1986, I, 22). Die Fassungen sind fast identisch, nur
an zwei Stellen ändert Celan die Interpunktion (vgl. C ELAN 2003, II/III/1,
163 f.). Wir legen hier die Fassung aus Der Sand aus den Urnen (1948)
zugrunde.
Der Sand aus den Urnen
Das Titelgedicht besteht aus einer einzigen Strophe, die ihrerseits sechs
reimlose, daktylische Verse umfasst. Wie schon Winfried Menninghaus fest‐
gestellt hat, bildet der „daktylisch-anapästische Langzeiler“ die „metrische
Dominante“ (M ENNINGHAUS 1988, 173) in den Sammlungen Der Sand aus den
Urnen und Mohn und Gedächtnis. Obwohl die Hebungszahl der einzelnen
Verse in diesem Gedicht variiert, lässt sich eine regelmäßige Struktur
erkennen: Die rahmenden Verse 1 und 6 weisen jeweils vier Hebungen
auf, die nächstfolgenden Verse 2 und 5 jeweils sechs Hebungen und die
Mittelverse 3 und 4 jeweils fünf Hebungen. Gleichwohl sind auch metrische
42 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
flowing, flowing“; P OE 1846, 73) auf der Grenze von Innen und Außen
korrespondiert mit der „wehenden“ Bewegung der Tore bei Celan. Vor die‐
sen Toren beginnt sich die Gestalt eines „enthauptete[n] Spielmann[s]“ zu
formieren, der omnipräsent zu sein scheint, da er vor „jedem der wehenden
Tore“ (v. 2) sichtbar wird. Auffällig ist dabei, dass der Spielmann einem Du
zugeordnet ist, für das er in den Folgeversen künstlerisch tätig zu werden
beginnt: Er trommelt, er malt und er zeichnet. Zwar bleibt die Position
dieses Du unbestimmt, jedoch wird hier angenommen, dass es in dem
eingangs erwähnten „Haus des Vergessens“ situiert ist und von dort auf das
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Außengeschehen blickt. Besonders auffällig ist, dass mit dem Verb „blaut“
(v. 2) nach „[s]chimmelgrün“ der nächste Farbwert aufgerufen wird. Weil
sich das Verb ‚blauen‘ semantisch nicht aus dem Gedicht erschließen lässt,
ist es für die Deutung hilfreich, den literaturgeschichtlichen Gehalt dieses
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
die seit der deutschen Romantik mit der Bedeutung ungestillter Sehnsucht
verknüpft ist. Exemplarisch sei auf Novalis’ (1772–1801) Romanfragment
Heinrich von Ofterdingen (1802) verwiesen, in dem sich die Titelfigur auf
die Suche nach der blauen Blume begibt. Demgegenüber ist intratextuell
auch an Celans Todesfuge zu denken, mit der er seine Sammlung Der Sand
aus den Urnen beschließt. Der einzige Reim, der in dem Gedicht enthalten
ist, bezieht sich auf die Augenfarbe des Todes und auf die Zielgenauigkeit
einer abgeschossenen Kugel: „sein Aug ist blau / […] er trifft dich genau“
(C ELAN 1986, III, 64). Im Unterschied zu diesen zwei Deutungskontexten
scheint das ‚Blauen‘ des Spielmanns eher einer an Intensität gewinnenden
Frühlingsfarbe zu gleichen, wie sie etwa Eduard Mörike (1804–75) in seinem
Gedicht Er ist’s (1832) geschildert hat: „Frühling läßt sein blaues Band /
Wieder flattern durch die Lüfte“ (M ÖRIKE 1997, I, 684). Zugleich ist es auch ein
„unverhofftes blau“ (G EORGE 2008, 48), wie es in Stefan Georges (1868–1933)
Gedicht Komm in den totgesagten park und schau (1897) vorkommt. Darüber
hinaus kann an das Gestaltungsmittel der ‚Verblauung‘ gedacht werden,
das in der Malerei eingesetzt wird, um eine größere Tiefenwirkung zu
erzielen. Bei Celan entsteht wiederum der Eindruck, als werde dieser Effekt
umgekehrt: Durch das ‚Blauen‘ gewinnt der Spielmann an Sichtbarkeit und
Präsenz.
Die Künstlerfigur, die vor „jedem der wehenden Tore“ auftaucht, ist in
doppelter Weise versehrt: Sie ist enthauptet worden und muss sich „mit
schwärender Zehe“ (v. 4) – d. h. mit einem schmerzenden bzw. geschwolle‐
nen Fußglied – fortbewegen. Aufgrund seiner Enthauptung lässt sich der
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allenfalls dumpfe Töne erzeugt. Die Parallele zu Heine lässt sich allerdings
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die Trommel“). Aufgrund dieser engen Zuordnung verwundert es, dass der
anschließende Versuch, die Braue des Du adäquat wiederzugeben, misslingt.
Offenbar scheint es sich um den Versuch zu handeln, die benannten Körper‐
partien im Modus des Erinnerns zu visualisieren. In diesem Horizont lässt
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sich das Gedicht als Auseinandersetzung mit dem Thema des möglichen
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bezeichnet, „das in der Wüste auf die Verheißung des Gelobten Landes
wartet, um dann in alle Winde verstreut zu werden wie Flugsand“ (K OELLE
2001, 154). Insofern gemahne Der Sand aus den Urnen „auch an die Shoah:
zermahlen ist der Leib Israels, zu Asche verbrannt, zu Staub zerfallen“
(K OELLE 2001, 154). Allerdings ist in dem Gedicht weder von Asche noch von
Staub die Rede, sondern lediglich von dem Sediment „Sand“. Wenn nun das
Du anfängt, die Urnen zu befüllen, setzt das voraus, dass diese vorher leer
gewesen sein müssen. Diese Leere ist zugleich die Leerstelle, die das Gedicht
umkreist: Unausgesprochen geht es um das vernichtete jüdische Volk, dem
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ein Totengedächtnis gestiftet werden soll. Weil von den Ermordeten nicht
einmal mehr Asche geblieben ist, greift das Du stellvertretend auf den Sand
zurück, um die abwesenden Toten zu bestatten und ihnen „einen Ort, eine
letzte Ruhestätte anzuweisen“ (W ERNER 1998, 9). Diese Form der Trauerarbeit
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gibt nicht nur den Toten ihre Würde zurück, sondern spendet auch dem Du
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emotionalen Trost („und speisest dein Herz“). Die Erinnerung, die nur noch
ein unzuverlässiges Bild der verlorenen Menschen liefert, materialisiert sich
schließlich im Gedenkobjekt der Urne. In poetologischer Perspektive lässt
sich die Lyriksammlung von 1948 selbst als eine solche Urne begreifen, deren
Gedichte jener „Sandkunst“ angehören, die an die Shoah gemahnt.
In jenem Jahr, in dem Celan von Wien nach Paris übersiedelt, erscheint
nicht nur Der Sand aus den Urnen, sondern auch sein Prosatext Edgar Jené
und der Traum vom Traume, der Celans frühestes poetologisches Zeugnis
darstellt. Darin geht er zwar von den Bildern Jenés aus, um gleichsam eine
‚Erkundungsfahrt‘ in die „Tiefsee“ (C ELAN 1986, III, 158) ihrer Bedeutungen
zu unternehmen, reflektiert aber grundsätzlich die „Möglichkeiten der
Sprache, in die Tiefe der bereits verdrängten Geschichte und ihrer Entstel‐
lungen vorzudringen“ (I VANOVIĆ 2001, 69). Celan geht es folglich weniger
um die Affirmation des von Jené vertretenen Surrealismus als vielmehr
um die Begründung eines eigenen dichtungstheoretischen Konzepts. Seine
tastenden Überlegungen, die auf die Frage nach den Möglichkeiten lyrischen
Sprechens nach Auschwitz ausgerichtet sind, münden zehn Jahre später in
die Forderung nach einer „graueren Sprache“:
Ihre Sprache [gemeint ist die der deutschen Lyrik] ist nüchterner, faktischer
geworden, mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist […] eine
‚grauere Sprache‘, eine Sprache, die […] nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘
gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder
unbekümmert einhertönte. (C ELAN 1986, III, 167)
1. Sprachverdichtung 47
Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper
sein sollte, habe ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen
singen sollten, also habe ich es selbst schreiben müssen. […] Aber ich habe ganz
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plötzlich aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles weggeworfen, weil ich
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gewußt habe, daß es nicht reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Und dann
habe ich nur noch geschrieben. (B ACHMANN [1983] 1991, 124)
Da es für sie in der Kärntner Provinz „nichts zu tun“ und „nichts zu lernen“
(B ACHMANN [1993] 2010, 24) gibt, beginnt Bachmann, im Herbst 1945 an
der Universität Innsbruck Philosophie und Germanistik zu studieren. Ein
Semester später wechselt sie an die Universität Graz und im Herbst 1946 an
die Universität Wien. Wie es in einem autobiografischen Kurztext aus dem
Jahr 1952 heißt, repräsentiert die österreichische Hauptstadt für Bachmann
einen Sehnsuchtsort: „Als der Krieg zu Ende war, ging ich fort und kam
voll Ungeduld und Erwartung nach Wien, das unerreichbar in meiner
Vorstellung gewesen war.“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301) Während in der
Kärntner Illustrierten ihre erste Erzählung mit dem Titel Die Fähre (1946)
gedruckt wird, ist Bachmann bestrebt, in Wien einen Mentor zu finden, der
sie, wie sie brieflich schreibt, bei der „Veröffentlichung literarischer Arbei‐
ten“ (zit. nach M C V EIGH 2016, 22) gezielt unterstützt. Durch die Vermittlung
des Lyrikers Hermann Hakel (1911–87) gelingt es Bachmann gegen Ende
1948, erste Gedichte in dessen Zeitschrift Lynkeus zu publizieren, die das
programmatische Ziel verfolgt, „an Vergessenes zu erinnern, Fernes anzunä‐
hern, Fremdes bekanntzumachen und junge Autoren kritisch zu sichten und
zu veröffentlichen“ (zit. nach H AKEL 1991, 11). Da sich allmählich das Ende
ihres Studiums nähert, beginnt das „Dissertationsproblem“, wie Bachmann
an ihre Eltern schreibt, „brennend“ (zit. nach M C V EIGH 2016, 40) zu werden.
Nach dem Weggang des Metaphysikers Alois Dempf (1891–1982), bei dem
48 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Celan […] zeit ihres Lebens austauschen werden.“ (L ÜTZ 2001, 116) In einem
nicht abgesandten Brief, den Bachmann Ende 1948 verfasst, will sie Celan
nicht nur an den gemeinsamen Frühling, sondern auch an „das Gedicht
[erinnern], das wir miteinander gemacht haben“ (B ACHMANN /C ELAN 2008,
8). Während Celan seinen Lyrikband Mohn und Gedächtnis im März 1953
mit der Widmung versieht: „Für Ingeborg, ein Krüglein Bläue“, antwortet
ihm Bachmann im Dezember 1953 mit ihrem Lyrikband Die gestundete
Zeit, dem die Dedikation vorangestellt ist: „Für Paul – getauscht, um
getröstet zu sein“ (B ACHMANN /C ELAN 2008, 54, 56). Zwischen den Gedichten
dieser Sammlungen lassen sich zahlreiche intertextuelle Korrespondenzen
ausmachen (vgl. B ÖSCHENSTEIN /W EIGEL 2000). Ihre vielschichtige Beziehung
zu Celan wird Bachmann schließlich in ihrem autobiografisch gefärbten
Roman Malina (1971) verarbeiten.
Als wichtiger Förderer Bachmanns, den sie noch vor Celan im Herbst
1947 kennenlernt, erweist sich der Schriftsteller Hans Weigel (1908–91). Mit
ihm verbindet sie, wie Weigel rückblickend angibt, schon bald „eine sehr
intensive Freundschaft“ (W EIGEL 1979, 15). Dank der Vermittlung Weigels
erhält Bachmann die Möglichkeit, mehrere Artikel in den Zeitschriften Der
Turm und Film zu publizieren (vgl. M C V EIGH 2016, 58–84). In ihrer damaligen
Situation ist es aus ökonomischer Sicht nicht zu unterschätzen, dass diese
journalistischen Arbeiten vergütet werden:
1. Sprachverdichtung 49
Wir waren alle Mitte zwanzig, notorisch geldlos, notorisch hoffnungslos, zu‐
kunftslos, kleine Angestellte oder Hilfsarbeiter, einige schon freie Schriftsteller,
das hieß soviel wie abenteuerliche Existenzen, von denen niemand recht wußte,
wovon sie lebten, von Gängen aufs Versatzamt jedenfalls am öftesten. (B ACHMANN
[1993] 2010, IV, 323)
Richter (1908–93) zustande, der als Leiter der Gruppe 47 Bachmann zu einem
Treffen im Mai 1952 einlädt (vgl. L UNDIUS 2017, 208), auf dem auch Celan
seine lyrischen Werke präsentiert. Bei der Folgetagung erhält Bachmann den
Preis der Gruppe 47 für ihre Gedichte, die im Herbst 1953 unter dem Titel
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der alten und neuen Dinge auf unser Herz hin[zu]ordnen“ (B ACHMANN [1993]
2010, IV, 302). Drei Jahre später hebt Bachmann in ihrem Artikel Wozu
Gedichte? (1955) zudem die mnemotechnische Leistung der Lyrik hervor:
Gedichte seien dazu geeignet, „das Gedächtnis zu schärfen“, indem sie „For‐
meln in ein Gedächtnis leg[en]“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 303). Damit wird
die produktive Qualität der Lyrik akzentuiert: Im Unterschied zu der zuvor
benannten Ordnungsfunktion erzeuge ein Gedicht poetische „Formeln“, mit
denen die Wirklichkeit neu bzw. anders erfasst werden könne. Auch wenn
sich diese „Formeln“ vielfach einem unmittelbaren Verstehen entziehen, hat
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Schriftsteller [kann] sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen,
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liche Periode bevorsteht. Der Komparativ „härtere Tage“ (v. 1) lässt darauf
schließen, dass sich die Verhältnisse im Vergleich mit der Gegenwart verschär‐
fen werden. Auch wenn bereits hier Bachmanns „Ästhetik des Unbehagens“
(K ORTE 2004, 58) zutage tritt, bleibt die einleitende Voraussage im Grunde
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Zeit / […] am Horizont“ (v. 2 f.) sichtbar wird, verstärkt die Dringlichkeit
des Eingangsverses. Die Visualisierung des Abstraktums Zeit intensiviert
den Eindruck, als stehe der Ablauf eines Ultimatums unmittelbar bevor.
Fraglich bleibt dabei, welche lyrische Sprechinstanz hier das Wort ergreift.
Christian Schärf zufolge spreche in dem Gedicht „keine in Wien promovierte
Philosophin von 27 Jahren, sondern ein Gott, […] der deus absconditus des
Dichterhimmels, der vertriebene Gott also, […] der unbehauste Gott der Orakel“
(S CHÄRF 2002, 34). Die erste Vermutung versteht sich von selbst: Die bei der
Erstpublikation des Gedichts im Übrigen 26-jährige Ingeborg Bachmann kann
als empirische Verfasserin nicht mit der lyrischen Sprechinstanz identisch sein.
Die zweite Vermutung rekurriert auf die ursprünglich biblische Vorstellung
vom ‚verborgenen Gott‘ (Jes 45,15), die mit der Vokabel ‚unbehaust‘ verknüpft
wird, die wiederum auf den Schriftsteller Hans Egon Holthusen (1913–97) und
seine einflussreiche Essaysammlung Der unbehauste Mensch (1951) verweist.
Tatsächlich liegt es nahe, die Eingangsworte einer göttlichen Sprecherfigur
zuzuweisen, zeugen sie doch von einer Voraussicht, die den menschlichen
Wissenshorizont übersteigt. Demgegenüber kristallisiert sich zwischen der
Sprecherfigur und dem erstmals im vierten Vers genannten „du“ im Verlauf des
Gedichts ein Verhältnis heraus, das eher den Charakter einer partnerschaftli‐
chen Beziehung besitzt.
Dass die verbleibende Zeit zu schwinden scheint, legt auch das Tem‐
poraladverb „Bald“ nahe, mit dem der vierte Vers eingeleitet wird. Dem
angesprochenen Du werden sofort zwei Aufträge mitgeteilt: Zum einen wird
es aufgefordert, „den Schuh [zu] schnüren“ (v. 4), was auf eine bevorstehende
1. Sprachverdichtung 53
bestimmt: „Immer waren es Meere, Sand und Schiffe, von denen ich träumte“
(B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301).
Das Erkalten der „Eingeweide der Fische“ setzt einen Verlust von Vitalität
ins Bild, der auch im Folgevers zu erkennen ist: „Ärmlich brennt das Licht der
Lupinen.“ (v. 8) Diese Pflanzen, die alliterativ mit dem „Licht“ verknüpft und
wohl wegen ihrer Kerzenform zu Lichtspendern stilisiert sind, verfügen nur
noch über eine reduzierte Leuchtkraft. Trotz der deutlichen Fokussierung
auf die Lupinen, die im vorletzten Vers erneut aufgerufen werden, hat Bach‐
mann in einem späteren Interview bekannt, dass sie die Natur „überhaupt
nicht“ interessiere und dass sie keinesfalls zu den „Gräserbewisperern ge‐
höre“ (B ACHMANN [1983] 1991, 45). Da sie Mitte der 1950er Jahre ausdrücklich
Celan und Günter Eich (1907–72) zu jenen Dichtern zählt, die fähig seien,
das „Neue“ (B ACHMANN [1983] 1991, 16) zum Ausdruck zu bringen, ist es
denkbar, dass sie bei der Gestaltung von Die gestundete Zeit an Eichs Gedicht
Lupinen gedacht haben mag, in dem das Bild eines gelben Lupinenfeldes
evoziert und sogar von der „Lupinenflamme“ gesprochen wird (vgl. E ICH
1991, I, 197 f.). Bei Bachmann wird allerdings auf die Nennung einer Farbe
verzichtet: Es ist anzunehmen, dass das „[ä]rmlich[e]“ Leuchten der Lupinen
auf den „Nebel“ zurückzuführen ist, der vom „Blick“ (v. 9) des Du ‚gespurt‘
wird. Der nachfolgende Doppelpunkt erweckt den Eindruck, als gebe der
Nebel die Sicht auf die „gestundete Zeit“ (v. 10) frei.
In der zweiten Strophe verändert sich die Konstellation insofern grund‐
legend, als die „Geliebte“ (v. 12) des Du sowie ein anonymes „er“ (v. 13) in
Erscheinung treten. Auch wenn sich das Personalpronomen „er“ gramma‐
54 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
tisch auf den Sand beziehen lässt, legt der Verlauf der zweiten Strophe nahe,
dass damit ein lebendiger Akteur und kein lebloses Sediment bezeichnet
wird. Während die Geliebte passiv im Sand versinkt, trägt das männliche
Subjekt aktiv zu ihrer Vernichtung bei. In parallel strukturierten Versen
wird sein brutales Verhalten deutlich gemacht: ‚Umsteigt‘ er zunächst ihr
„wehendes Haar“ (v. 13), fällt er ihr danach ins Wort, um sie schließlich zum
Schweigen zu bringen. Erinnert die abschließend genannte „Umarmung“
(v. 18) an die einstige Vertrautheit, verweist das Attribut „sterblich“ (v. 16)
auf das Resultat der anhaltenden Erniedrigung: Mit dem Euphemismus,
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die Geliebte sei „willig dem Abschied“ (v. 17), wird ihr bevorstehender
Tod angekündigt. Selbst wenn das Du des Gedichts und das männliche
Subjekt nicht miteinander identisch sind, trägt das Du Mitschuld an ihrem
Untergang. Denn der Hinweis, dass diese Vernichtung sich „[d]rüben“ (v. 12)
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
scheint es sich von seiner persönlichen Bindung zu lösen, was die radikale
Trennung vorbereitet, die in der dritten Strophe gefordert wird.
Die dritte Strophe besteht aus parallel angeordneten Versen, in denen die
lyrische Sprechinstanz mit fünf Imperativen konkrete Handlungsanweisun‐
gen gibt, die – so die Schriftstellerin Hilde Spiel (1911–90) in einer Rezension
von 1974 – wie „Hammerschläge“ (S PIEL [1994] 2011, 24) wirken. Dabei
werden in vier Fällen Motive der ersten Strophe erneut aufgegriffen. Der
Vers „Sieh dich nicht um“ (v. 19) nimmt nicht nur Bezug auf das Geschehen
der zweiten Strophe, von dem sich das Du dezidiert abwenden soll, sondern
rekurriert auch auf den Orpheus-Mythos (vgl. H ÖLLER 2002, 66). Nach dem
Tod seiner Gattin Eurydike versuchte der Sänger Orpheus, sie aus dem
Hades zu befreien, vermochte aber nicht, das ihm auferlegte Blickverbot
einzuhalten. In diesem Kontext ist ferner an das dreizehnte Sonett aus
dem zweiten Teil von Rainer Maria Rilkes (1875–1926) Sonetten an Orpheus
(1922) zu denken (vgl. H ÖLLER 2002, 66), das mit der Aufforderung beginnt:
„Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir“ (R ILKE 1996, 79). Der
Imperativ, sich nicht umsehen zu sollen, folgt überdies „dem Prinzip der Ver‐
stellung“ (B EICKEN 2009, 96), das bereits Bertolt Brecht (1898–1956) in seiner
Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1930) propagiert
hatte. Der produktive Antikenbezug wird außerdem mit dem Vers „Jag die
Hunde zurück“ (v. 21) fortgesetzt, der mit dem Bild des heimkehrenden
Odysseus korrespondiert, der von seinem Jagdhund Argos erkannt wird
(vgl. H ÖLLER 2002, 66). Im Unterschied zu dieser Wiederbegegnung wird
dem Du bei Bachmann die strikte Abschiednahme abverlangt: Während
1. Sprachverdichtung 55
die Gebote, den Schuh zu schnüren und die Hunde zurückzujagen, den
Appellen aus der ersten Strophe entsprechen, verschärfen die übrigen zwei
Forderungen die vorherigen Aussagen. Ebenso wie das männliche Subjekt
der Geliebten in der zweiten Strophe zu schweigen befiehlt, befiehlt die
lyrische Sprechinstanz dem Du zu handeln: „Wirf die Fische ins Meer. / Lösch
die Lupinen!“ (v. 22 f.) Vor allem die verlangte Tilgung des Lupinenlichts
mutet wie eine Stillstellung allen Lebens an, bevor das Du seinen endgültigen
Abschied nimmt.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Schlussvers „Es kommen härtere Tage“
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aber auch gar nicht zu. Ulrike Marquardt hat vorgeschlagen, das Gedicht
im Kontext der anbrechenden 1950er Jahre zu sehen: Während Bachmann
selbst von den unmittelbaren Nachkriegsjahren als einer „aufgeregten,
hoffnungsträchtigen Zeit“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 185) gesprochen hat,
markiere die Entstehungszeit des Gedichts die anschließende Phase der
„sich verhärtenden gesellschaftlichen Verhältnisse“, in denen die Tendenz
zunimmt, „die Katastrophe des Nationalsozialismus vergessen zu machen“
(M ARQUARDT 1994, 693). Diese Einschätzung korrespondiert mit dem Gedicht
Früher Mittag, das auch in der Sammlung Die gestundete Zeit enthalten
ist. Darin wird der gesellschaftliche Zustand geschildert, der „Sieben Jahre
später“ – d. h. sieben Jahre nach 1945 – zu beobachten sei:
Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
„zeitlebens nichts getan [habe], [um] seine Biografie zu überliefern […]. Sie
ist deshalb, soweit der Autor selbst sie vermittelt, eine Reihe nackter Zahlen,
Ortsnamen, Daten, Fakten.“ (S CHAFROTH 1976, 7) Bis Eichs Familie 1918 nach
Berlin übersiedelt, ist seine Kindheit von zahlreichen Umzügen geprägt.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
besucht und 1925 seine Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt. Danach
beginnt er, Sinologie in Berlin zu studieren und lernt dort den Schriftsteller
Martin Raschke (1905–43) kennen. In der Wahl dieses Studienfachs – später
kommen Volkswirtschaft und Handelsökonomie hinzu – zeigt sich Eichs
frühe Tendenz zur Absonderung, wie ein Brief an seinen Freund Willi R.
Fehse (1906–77) belegt: „(außerdem lerne ich Chinesisch) weltabgewandt,
in buddhistischer Versenkung […]. Die Welt ist eben madiger Käse.“ (zit.
nach V IEREGG 1996, 6) Während seines Studiums beteiligt sich Eich an einer
Ausschreibung, die in der von Willy Haas (1891–1973) herausgegebenen
Zeitschrift Die literarische Welt publik gemacht wird. Aus den mehr als 8.000
Einsendungen werden unter anderem acht Gedichte Eichs ausgewählt (vgl.
C UOMO 1989, 10). Diese Gedichte werden in die von Fehse und Klaus Mann
(1906–49) herausgegebene Anthologie jüngster Lyrik (1927) aufgenommen
und dort unter dem Pseudonym ‚Erich Günter‘ veröffentlicht. Wie Stefan
Zweig (1881–1942) im Vorwort der Anthologie darlegt, ist es Ende der 1920er
Jahre für junge Lyriker äußerst schwierig, ihre Werke zu publizieren:
Die lyrische Generation von heute steht vor verschlossenen Türen. Keine einzige
Zeitschrift mehr, die dem Lyrischen Wert und Wichtigkeit gibt. Kein Verleger, der
nicht vor einem Versbuche erschrickt. Kein Jahrbuch mehr, kein Sammelpunkt,
keine Förderung und vor allem: kein Publikum. (Z WEIG 1927, 3)
Bald darauf geht Eich für ein Jahr nach Paris, wo er seine sinologischen
Studien fortsetzt. Später hat er dargelegt, wie prägend dieser Aufenthalt
für ihn war: „Ein Jahr in Paris nährte ich [einen] Hang zur Welt der
1. Sprachverdichtung 57
Kunst und verdarb den Sinn für bürgerliche Sicherung.“ (E ICH 1991, IV, 464)
Wie sehr sich dort sein „Hang zur Welt der Kunst“ ausprägt, wird etwa
daran deutlich, dass er „sich unter die Bohème vom Montparnasse“ (R OLLIN
1996, 32) mischt und engen Kontakt zu dem Surrealisten Philippe Soupault
(1897–1990) pflegt, dessen Roman Le Nègre (1927) er zu übersetzen plant
(vgl. F EHSE 1973, 36). Nach seiner Rückkehr aus Frankreich beginnt Eich an
Raschkes Zeitschrift Die Kolonne (1929–32) mitzuarbeiten und lernt über die
gleichnamige Künstlervereinigung bald Dichter wie Peter Huchel (1903–81)
oder Horst Lange (1904–71) kennen. Während Eichs erster Lyrikband unter
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Nicht im geringsten. Nur vor mir selber.“ (E ICH 1991, IV, 457) Angesichts
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S TORCK 1988, 26). Im April 1945 gerät Eich bei Remagen in amerikanische
Kriegsgefangenschaft.
In dieser Zeit beginnen jene Gedichte zu entstehen, in denen Eich die
Erfahrungen seiner Gefangenschaft verarbeitet und die aufgrund ihrer
sprachlichen Kargheit und Drastik zur sogenannten ‚Kahlschlaglyrik‘ ge‐
rechnet werden. Er publiziert seine ersten Nachkriegstexte in der Kriegsge‐
fangenen-Zeitung Der Ruf, die von Alfred Andersch (1914–80) und Hans
Werner Richter (1908–93) herausgegeben wird. 1948 veröffentlicht Eich
seine zweite Gedichtsammlung mit dem Titel Abgelegene Gehöfte. Wie er
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nimmt Eich auch an einem Treffen der Gruppe 47 teil. 1950 wird ihm von der
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und ein Bagger den Häuserschutt von den Straßen räumt. […] [S]o trockene Dinge
können bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim
Einatmen des Tannenduftes hat. (E ICH 1991, IV, 469 f.)
Das ästhetische Programm, das Eich nach 1945 entwirft, ist gekennzeichnet
von der „Abkehr vom Inventar der Naturlyrik“ (L AMPART 2013, 140) und von
der Hinwendung zur Gegenwärtigkeit des Urbanen. An anderer Stelle wird
zumindest die Naturerfahrung rehabilitiert, wenn es heißt, dass der Dichter
seine inspirative „Erschütterung nicht nur im Liede der Nachtigall […],
sondern auch vor den Trümmern unserer Städte“ (E ICH 1991, IV, 477) finde.
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Mit der Rede von „Trümmern unserer Städte“ bezieht sich Eich ausdrücklich
auf die desolate Nachkriegswirklichkeit, mit der sich zeitgleich etwa Stephan
Hermlin in seinen Zwölf Balladen von den großen Städten (1945) auseinan‐
dersetzt. In den poetologischen Überlegungen der 1950er Jahre wird jedoch
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
des Jahres entstanden waren, an Horst Lange und die Schriftstellerin Oda
Schaefer (1900–88) schickt und diese Sendung folgendermaßen kommen‐
tiert: „Hier schicke ich euch etwas von der Ernte 45 zur Erbauung und
Verdauung. Es sind die noch genießbaren Gewächse. Was ich sonst noch
habe, handelt vorwiegend von Scheiße, – ein Thema von Ewigkeitswert, wie
uns die Zeit inzwischen gelehrt hat.“ (zit. nach S TORCK 1988, 30) Es liegt nahe,
dass mit dem Hinweis auf jene anderen, von menschlichen Exkrementen
handelnden Texte unter anderem das Gedicht Latrine gemeint sein dürfte.
Wie Eich wenig später darlegt, sei es nicht das Ziel dieser Texte, „den
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Leser oder Hörer in eine schönere Welt zu versetzen, sie bemühen sich
[vielmehr] um Objektivität.“ (EICH 1991, IV, 464) Willi Fehse hat ergänzend
vermerkt, dass Eich schon Ende der 1920er Jahre versuchte, „drastische
Umgangsausdrücke oder gar Vulgarismen wie etwa ‚knöken‘ durch seine
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Latrine
Mit dem Titel des Gedichts ist ein Ort benannt, der für die elementaren
Bedürfnisse des Urinierens und Defäkierens vorgesehen ist. Ursprünglich von
‚lavare‘ (lat. für ‚sich waschen‘, ‚baden‘) abgeleitet, bezeichnet eine Latrine
im 20. Jahrhundert nur noch eine behelfsmäßige Anlage zur Verrichtung der
menschlichen Notdurft. Eichs Gedicht setzt mit einer synästhetischen Wahr‐
nehmung dieses Orts ein, der olfaktorisch durch den Geruch, visuell durch
das Klopapier und akustisch durch das Schwirren der Fliegen vergegenwärtigt
wird. Herbert Heckmann hat dazu angemerkt: „Günter Eich verharrt […] in
einer nüchternen Beobachtung, er deutet nicht, er registriert.“ (H ECKMANN 1997,
128) An dieser Aussage ist zweierlei unzutreffend: Erstens ist Günter Eich der
empirische Verfasser des Gedichts, während die Beobachtungen, die innerhalb
des Gedichts angestellt werden, von einer anonymen Sprechinstanz ausge‐
hen. Zweitens erscheint der Modus dieser Beobachtungen zwar weitgehend
‚nüchtern‘, ja bisweilen teilnahmslos, jedoch gehen die Wahrnehmungen der
62 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
In der ersten Strophe kommen der erste und dritte Vers dem genannten
daktylischen Grundmuster am nächsten: Während im ersten und dritten
Versfuß von Vers 1 eine Senkung fehlt (v. 1: X x [x] | X x x | X x [x]),
beginnt Vers 3 mit einem Auftakt und weist ebenfalls einen verkürzten
ersten und dritten Versfuß auf (v. 3: x | X x [x] | X x x | X x [x]). Diese
metrische Struktur lässt erkennen, dass die Attribute „stinkendem“ (v. 1)
und „funkelnden“ (v. 3) jeweils einen daktylischen Versfuß ausmachen.
Auf diese Weise werden beide Attribute formal parallelisiert, inhaltlich
aber kontrastiert, indem sie die Opposition von Hässlichkeit und Schönheit
kenntlich machen. Angesichts dieses kalkulierten Gegensatzes wirkt die
Behauptung, die Sprecherfigur würde ihre Umwelt nur ‚registrieren‘, wenig
überzeugend. Hinzu kommt, dass das Adjektiv „funkelnden“ nicht nur
über die Alliteration mit dem Substantiv „Fliegen“ eigens betont wird,
sondern auch wie eine Ausschmückung erscheint, die über eine nüchterne
Schilderung der Wirklichkeit erkennbar hinausgeht. Ferner lässt sich die
Nennung der schwirrenden Fliegen als intertextueller Verweis auf Charles
Baudelaires (1821–67) Gedicht Une Charogne (Ein Aas) lesen (vgl. K AISER
2003, 280), in dem die Zersetzung eines Kadavers detailliert beschrieben wird
(vgl. B AUDELAIRE 1997, 64–67). Dort ist sowohl von Fliegen („les mouches“)
die Rede, die ein Aas ‚umsummen‘, als auch von einem Moment, in dem sich
das Ungeziefer ‚schillernd‘ („en petillant“) – und damit beinahe funkelnd –
zu erheben scheint. Die Baudelaire-Referenz unterstreicht, dass Eich in
Latrine eine Ästhetik des Hässlichen entfaltet.
1. Sprachverdichtung 63
Der Ort, an dem die Kriegsgefangenen urinieren und defäkieren, ist ein
Ort des Ekels. Das verdeutlichen sowohl die olfaktorische Wahrnehmung
des Gestanks als auch die visuelle Wahrnehmung des „Papier[s] voll Blut
und Urin“ (v. 2). Das „Blut“ zeugt ebenso wie der „versteinte Kot“ (v. 8) davon,
dass im Lager Krankheiten grassieren und permanente Mangelernährung
vorherrscht. Um seine Notdurft zu verrichten, hockt der lyrische Sprecher
„in den Knien“ (v. 4). Damit nimmt er eine Körperhaltung ein, die zugleich
als Ausdruck seines demütigenden Gefangenendaseins gelesen werden
kann. Es wirkt daher wie eine vage Fluchthoffnung, wenn der Sprecher
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in der zweiten Strophe, die über ein Enjambement mit der ersten Strophe
verknüpft ist, den Blick in die Ferne richtet. Während die „bewaldete[n]
Ufer“ und die „Gärten“ (v. 5 f.) einen Naturraum repräsentieren, der für
den Sprecher unerreichbar ist und daher paradiesisch anmutet, werden mit
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
zahlreicher Kriegsbücher, aber auch in der feierlichen Sprache der Poesie. Ich
weiß nicht mehr, wann ich Hölderlins Gedicht Der Tod fürs Vaterland las oder
rezitiert hörte. Es muß in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf dem
Höhepunkt des nationalen Narzißmus. (W ELLERSHOFF 2007, 184)
„Garonne“ zudem mit der auch von Eich zitierten Aufforderung verbunden,
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Zum anderen ist es ebenso denkbar, dass die plötzliche Einsicht in die
eigene Gefangenschaft diesen Schwindel ausgelöst hat: Während die zitierte
„Garonne“ bei Hölderlin an „Traubenbergen“ vorbeifließt und gemeinsam
mit der Dordogne „meerbreit“ (H ÖLDERLIN 1992, I, 362) in den Atlantik
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
beraubt. Noch radikaler als in Eichs Gedicht Inventur ist er auf die eigene
Kreatürlichkeit, auf seine „nackte[n] Überlebensreserven“ (K AISER 2003, 280)
verwiesen. Umso mehr hält er an dem fest, was ihm verblieben ist: am
kulturellen Erbe, das er als immateriellen Besitz im Modus des ‚Andenkens‘
zu bewahren versucht. Doch der Reim „Hölderlin“ / „Urin“ demonstriert
auch, wie wenig sich der hohe Ton (genus sublime) der zitierten Hymne
eignet, um das Dasein im Gefangenenlager zu erfassen (vgl. B REUER 1988,
357). Dieser Lebenswirklichkeit, der Eich in seinem Gedicht Latrine ein
Andenken gestiftet hat, entspricht nur noch der niedere Ton (genus humile).
In seiner Rede auf den Preisträger (1959) anlässlich der Verleihung des
Georg-Büchner-Preises an Günter Eich hat der Laudator Walter Höllerer
(1922–2003) betont, dass sich Eichs Dichtung dadurch auszeichne, dass sie
„keine lyrischen Reservate, keine Worte und Situationen [kenne], die spezi‐
ell für Lyrik geeignet oder verboten wären. Ein Gedicht über die Latrine ist
ebenso wahr […] wie ein Gedicht An eine Lerche.“ (H ÖLLERER 1970, 46) Dieser
Anspruch auf ‚Wahrheit‘ besitzt insofern eine politische Qualität, als Eich
in seinen Nachkriegsgedichten darauf zielt, das Widerständige, Abstoßende
und Beunruhigende mit lyrischen Mitteln zu gestalten. Auch wenn er in den
1950er Jahren eine stärker sprachskeptische Haltung auszubilden beginnt –
wie insbesondere seine Rede Der Schriftsteller vor der Realität (1956) belegt,
die er in verkürzter Form in Hans Benders (1919–2015) Anthologie Mein
Gedicht ist mein Messer (1961) unter dem Titel Trigonometrische Punkte
veröffentlicht –, konstatiert Eich selbst, dass sich in seinen nach 1945
entstandenen Dichtungen ein „Hang zum Realen“ manifestiert habe: „Ich
2. Naturerfahrung 67
2. Naturerfahrung
Gedichte über die Natur sind seit der griechischen Antike überliefert.
Üblicherweise spricht man von Naturgedichten, wenn die Natur zum Ge‐
genstand der lyrischen Darstellung gemacht wird (vgl. K ITTSTEIN [2009]
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
ergrauen. / Ihr Kragen schleppt, den noch kein Scherer schor.“ (L OERKE 2010,
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180) Beklagt wird der Verlust des Gottes, den der Ich-Sprecher nur noch
indirekt in der Natur findet:
Mein Gott, der nicht mehr ist, hier mußt du wohnen,
Hier hast du mich geboren und gewiegt,
Und unser beider Atem rauscht in den Kronen
Der Weiden, die des Abends Zorn umfliegt.
Die Gedichte in Pansmusik entwickeln das Bild eines Gottes, der als
„grüne[r] Gott“ (L OERKE 2010, 178) in der Natur versunken ist. Dieser
Naturgott bietet für den Sprecher Halt in einer haltlos gewordenen Welt. In
Die Ferienstube heißt es in den ersten Versen:
Ich sitze in zweihundertjährigem Bodenloch,
Ein Balkenpanzer schleppt sein krummes Backsteinjoch.
Die Mauern atmen Dunkel aus und hallen kühl,
Angst, Krieg und Aberglaube hockt im Dachgestühl.
Die Gedichte beschwören den versunkenen Gott, indem sie die Natur
indirekt zum Sprechen bringen. Die Ferienstube endet folglich mit:
2. Naturerfahrung 69
handelt sich um die Natur, die allein aufgrund ihres Daseins die Erinnerung
an eine göttliche Ordnung birgt, wie Loerke im Nachwort zu seinem
Gedichtband Der Silberdistelwald (1934) ausführt (vgl. L OERKE 2010, 941). Das
wesentliche Ziel der Gedichte ist es, diese verdeckten Spuren wieder zu
rekonstruieren: „Im Niederfall eines Borkestücks von der hundertjährigen
Platane ergeht sein [Gottes] Spruch, im unsichtbaren Alter aller Blätter
und aller Adern in den Blättern“ (L OERKE 2010, 941 f.). Allerdings ist zu
beachten, dass Loerkes Gedichte überhaupt erst die Idee eines ‚grünen
Gottes‘ konstruieren, den sie dann selbst lyrisch in Szene setzen.
Noch vor Pansmusik erhielt Loerke 1913 den Kleist-Preis, die höchste
literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Seit 1917 war Loerke
als Lektor im einflussreichen S. Fischer-Verlag tätig, wo er intensiven
Austausch mit den Hausautoren (z. B. Gerhart Hauptmann [1862–1946],
Alfred Döblin [1878–1957] und Thomas Mann [1875–1955]) pflegte. Auch
wegen dieser Vermittlerposition bei dem womöglich bedeutendsten Verlag
der Weimarer Republik hatte Loerke – trotz seines frühen Todes 1941 –
einen großen Einfluss auf die deutschsprachige Literatur in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Mit Thomas Mann stand Loerke, auch wegen seiner
Anstellung als Sekretär der Sektion für Dichtung der Preußischen Akade‐
mie der Künste, in einem regen Austausch, der teilweise literaturpolitisch
brisante Aspekte umfasste. Aber schon vorher war Loerke auch für heikle
Fragen eine wichtige Ansprechperson für Thomas Mann. So fragt Mann bei
Loerke nach, ob die ‚Peeperkorn-Episode‘ im Zauberberg (1924) tatsächlich
an Gerhart Hauptmann erinnere (vgl. M ANN 2011, 95).
70 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
‚Schrift‘ der Natur, die nur er zu lesen befähigt ist. Gerade in Anbetracht
der technischen Umbrüche und apparativen Erfindungen des Menschen
ist die Natur der letzte Zufluchtsort einer Transzendenzerfahrung, wie
Loerke dann programmatisch in seiner Schrift Formprobleme der Lyrik (1928)
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
ausführt:
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Nicht verändert hat sich die Welt der Natur unter der dünnen bunten Zivilisa‐
tionskruste, nicht das Leben und die Lebewesen, nicht die Kristalle, Pflanzen,
Tiere mit ihren Gesetzen. So gab es, gibt es und wird es geben das Wesen Licht,
unverändert. Aber die Technik des Lichtes bringt jetzt Osramlampen hervor
statt der früheren Ölfunzeln. Der Lyriker taugt nichts, der schon etwas Rechtes
getan zu haben glaubt, wenn er sich in seinen Versen für eine Beleuchtungsart
entscheidet und darüber die Wirklichkeit Licht vergißt. (L OERKE 2010, 931)
Was nun Loerkes Gedichte und das Wesen dieser Gedichte angeht, so scheint
mir, daß er sich in ihnen auf eine seinerzeit so noch nicht erlebte Weise aus
seinen Versen ‚herausnahm‘, als Person, als Individualität. Er hat […] das Dasein
weitgehend dem Zugriff der dichterischen Individualität entzogen und hat dies
Dasein im Gespräch mit sich selber liegenlassen. (K ROLOW [1961] 1963, 29)
Der Mensch spiele in diesen Gedichten kaum eine Rolle, vielmehr werde
ein „Gesang der Dinge“ (K ROLOW [1961] 1963, 30) vernehmbar. Dennoch
wird das Subjekt in den Gedichten Loerkes keinesfalls getilgt. In beinahe
allen Gedichten wird ein Ich-Sprecher eingesetzt, der als Reflektor der
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der alten Einheit vertrieben. Diese Vertreibung bedeutet den Beginn des
Dichtens, des Schreibens.“ (L EHMANN 1962a, 159) Mit dem Bezug auf den
biblischen Sündenfall wird die menschliche Existenz transzendiert. Wäh‐
rend die Ganzheit des menschlichen Seins verloren ist, bleibt, so Lehmann,
die Erinnerung an den verlorenen Ganzheits- und Einheitszustand: „Wir
verloren das Ganze, wir wurden selbst Teil, um uns als Teil des Ganzen
zu erinnern und uns seiner in der Sehnsucht zu vergewissern.“ (L EHMANN
1962a, 159) Die Sehnsucht nach dem Eins-Sein ist für Lehmann der Motor
des Dichtens. Insofern greift er einen Aspekt auf, den Loerke in seinen
Gedichten immer wieder umkreist, und formuliert ihn lyrisch aus: In der
dichterischen Benennung kann die verlorene Ganzheit des Menschen, die
nur noch als Erinnerung vorhanden ist, reaktiviert werden. Konkret geht es
darum, im Teil das Ganze zu erblicken. Der Dichter hat in diesem Kontext
die Aufgabe, im Akt des Betrachtens und lyrischen Benennens, die Magie
der Natur wieder zu entfalten: „Wir können, wenn wir uns sprachlich in der
Welt zurecht finden, das heißt: Wesen und Dinge benennen wollen, nicht
die Welt als Ganzes in den Mund nehmen, sondern müssen ihrer mit Hilfe
der Partikularität inne werden.“ (L EHMANN 1962a, 159) Der Dichter ist für
Lehmann ein „Mystiker“, der die Augen nicht schließt, sondern weit öffnet:
„Er sieht so genau hin, daß sein Blick die Phänomene zum zweiten Mal
erschafft.“ (L EHMANN 1962b, 192)
Lehmann gehört nach 1945 zu den erfolgreichen Lyrikern, deren Arbeiten
in hohen Auflagen gedruckt werden. Aber schon vor 1933 hatte er sich im
literarischen Feld Deutschlands etabliert: 1923, also zehn Jahre nach Loerke,
72 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
schen“ (S CARSE 2011, 98). Natur stellt dabei das „ideale, aber verlorene
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Paradies“ bereit, „nach dem Menschheit und Dichter streben, um die alte
Einheit wiederzugewinnen“ (S CARSE 2011, 98). Mythologische Figuren und
Gestalten der abendländischen Weltliteratur treten in Lehmanns Gedichten
in eine detailliert beschriebene Naturszenerie, wobei es zur Durchdringung
von Natur und Kultur kommt. In Atemholen, das 1950 in dem Gedichtband
Noch nicht genug publiziert wurde, wird zunächst in der ersten Strophe die
Naturszenerie beschrieben:
Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege,
Es ist August. Kein Wolkenzug.
Kein grober Wind ist auf den Gängen rege,
Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug.
Im Hochsommer wird das Heu zum zweiten Mal geschnitten. Für dieses
Erntegut hat sich in der Landwirtschaft der Fachbegriff ‚Grummet‘ ein‐
gebürgert. Grummet hat einen höheren Eiweißgehalt und ist insgesamt
nährstoffreicher, weshalb man es intensiver trocknen muss als das Heu nach
dem ersten Schnitt im Frühsommer. Dieser zweite Schnitt im Hochsommer
ist nun soeben abgeschlossen, weswegen sein Duft noch auf dem Wege
schwebt. Der olfaktorische Reiz wird mit Ruhe und sanfter Bewegung
kombiniert: Die Wolken bewegen sich nicht und es windet kaum. Nur die
Distelsamen sind leicht genug, um von dieser Sommerbrise getragen zu
werden. Mittels der botanischen Begriffe, die nach 1945 als dichterisch
2. Naturerfahrung 73
Neben dem Sehsinn und dem Geruchssinn wird nun auch der Hörsinn
angesprochen. Das Hören wird wieder aufgenommen, wenn der Sprecher in
dieser idyllisch-weltabgewandten Sphäre feststellt: „Mozart hat komponiert,
und Shakespeare schrieb Gedichte“ (L EHMANN 1950, 15, alle weiteren Zitate
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
ebd.). Es folgt ein Imperativ, der einen Adressaten des Sprechers impliziert:
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„So sei zu hören sie bereit.“ Es werden jetzt jedoch keine Gedichte Shake‐
speares (1564–1616) rezitiert. Vielmehr werden literarische Figuren zum
Leben erweckt. Neben Mozarts (1756–91) Don Giovanni sind es die Figuren
Shakespeares, die in dieser idyllischen Naturszenerie auftauchen: „Bassanio
rudert Portia von Belmont her“, „Timon von Athen und König Lear“ treten
auf. Dieses Aufrufen der Figuren aus dem abendländisch-bürgerlichen
Gedächtnis realisiert sich als gestufter Vorgang: Zunächst hört der Sprecher
nur Don Giovannis Spiel, dann erscheinen tatsächlich Timon von Athen
und König Lear, die sich „zu dir“ setzen. Das Du, das bereits im Imperativ
als Adressat des Gesagten aufscheint, wird nun explizit angeredet. Ein
Effekt dieser Du-Anrede ist, dass sich der Leser angesprochen fühlen dürfte,
womit der Rezipient des Gedichts quasi mit in die Naturszenerie geholt
wird. Diese Naturszenerie hat sich aber über das Aufrufen der literarischen
und mythischen Gestalten bereits zu einer mythologischen Landschaft
gewandelt. Diese mythologische Landschaft, die vom Sprecher erzeugt wird
und in die der Leser nun eintaucht, funktioniert nach eigenen Raum- und
Zeitgesetzen: Hat sich der Beginn des Gedichts schon durch Langsamkeit,
Ruhe und eine gewisse Statik ausgezeichnet, kommt es in der Schlussstrophe
zum Stillstand der Zeit. Sprecher und Leser werden in eine mythische Zeit
gehoben:
74 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Sowohl die Zirkelschnecke als auch das durch die Jahrhunderte hallende
Lachen, die über die Enjambements miteinander verbunden werden, sugge‐
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der Mensch noch in enger Verbindung mit dem Naturkreislauf steht. Natur,
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diese Erinnerungsreste häufig von der Natur wieder eingehegt: „Wo Bomber
stürzte, rostet Eisen, / Vergeßlich hüllt das Gras den Platz“ (L EHMANN 1950,
32). Insofern artikuliert sich in den Gedichten Lehmanns durchaus die
Hoffnung auf ein Vergessen der Gräuel, das im Kontext der naturmagischen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Linie öfters ins Verschweigen tendiert. Bertolt Brecht (1898–1956) hat ein
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lichten. Eich gehört zur zweiten Generation der naturmagischen Schule. Vor
1935 führt Eich die Linie, die Loerke und Lehmann begründet haben, nahezu
ungebrochen weiter, wenn er beispielsweise in seinen Bemerkungen über
Lyrik (1932) konstatiert: „Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der
das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings
um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen.
Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung
kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad an Wirklichkeit.“
(E ICH 1991, IV, 461) Eich wird sich in seiner Lyrik zunehmend von der
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1945 wird die Natur vor allem als ambiger Erfahrungsraum thematisiert. Die
Natur fungiert als Zeichen innerer und emotiver Gestimmtheiten (Huchel).
Allerdings sind die Zeichen der Natur für den Dichter nur noch bedingt
lesbar. Kombiniert wird diese Ambivalenz mit kollektiv anschlussfähigen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Bereits 1925 veröffentlicht Peter Huchel erste Gedichte. Anfang der 1930er
Jahre bereitet er einen ersten Gedichtband unter dem Titel Der Knabenteich
zur Drucklegung vor. Geplant ist eine Veröffentlichung im Jess-Verlag
(Dresden). Huchel unterbindet den Druck jedoch und zieht den Band zurück.
Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise wollte
es Huchel vermeiden, dass der Gedichtband mit seinen Kindheits- und
Landschaftsgedichten von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozia‐
listen vereinnahmt wird, wie Axel Vieregg argumentiert (vgl. V IEREGG 2009,
621–624). Man hätte die Publikation als Akt der Affirmation, so Vieregg,
missverstehen können. Allerdings vollzieht Huchel damit keinen Rückzug
aus dem literarischen Leben Deutschlands (vgl. P ARKER 1998, 162 f.). Denn
er publiziert nach 1933 weiter: Einzelne Gedichte und kleinere Prosatexte
werden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften untergebracht (u. a.
in Der weiße Rabe, Die Dame, Das Innere Reich, Die literarische Welt), dazu
schreibt Huchel 19 Hörspiele. 1941 wird er eingezogen. Im April 1945 setzt er
sich von seiner Flak-Einheit in Berlin ab und gerät in sowjetische Kriegsge‐
fangenschaft. Noch während seiner Gefangenschaft wird er beauftragt, eine
Hörspielabteilung im Berliner Haus des Rundfunks einzurichten. Huchel
78 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
skripte wurden von ihm in der Regel vernichtet. Den ersten eigenständigen
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es war für mich die vom Menschen veränderte Natur, in der er leben konnte.
(H UCHEL 1984, II, 393)
Huchel hat sich nur äußerst spärlich zu seiner Poetik geäußert. Als Wer‐
bemaßnahmen zu Der Knabenteich wurden allerdings Selbstanzeigen veröf‐
fentlicht, die einen poetologischen Einblick erlauben. Huchel fordert, dass
man sich den Versen „ohne jede Programmforderung“ nähern solle (H UCHEL
1984, II, 243). Dabei macht er bereits auf die Verschränkung von persönlichen
Kindheitserinnerungen, historischen Ereignissen und Naturlandschaften
aufmerksam: „Denn zeitnah sind die Gedichte nur zum Teil, nämlich sofern
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und „geschmeckt“ (H UCHEL 1984, II, 245). Erst so könne in den Texten die
„Kindheit wieder sichtbar werden“, als ein „Stück Natur“ (H UCHEL 1984,
II, 243 f.). Dass es ihm nicht um eine dokumentarische Darstellung der
persönlichen Kindheitserfahrungen geht, wird von Huchel deutlich heraus‐
gestrichen. Zwar greift er auf persönliche Erinnerungen und Erfahrungen
zurück, die er auf dem Hof seiner Großeltern machen konnte, doch werden
sie naturbildlich überformt und durch ‚mythische‘ Elemente ergänzt. Eine in
seiner Dichtung wiederkehrende Figur ist die Magd, die man nicht einfach
mit der historischen Person seiner Kindheit gleichsetzen kann. Vielmehr
überlagern sich in der lyrischen Bildlichkeit auch Mutterfigurationen, wie
sie Johann Jakob Bachofen (1815–87) in Das Mutterrecht (1861) schilderte
(vgl. V IEREGG 1976, 94–102).
In Huchels Gedichten geht es nicht nur um die Zeit, die man erinnert,
sondern auch um „die Zeit davor, die nicht mehr so hell im Bewußtsein“
vorhanden ist (H UCHEL 1984, II, 246). Die lyrischen Texte entfalten ein
Eigenleben, wenn in ihnen die „vorhandene und doch einmal gelebte Welt“
aufscheint, „die erste Kindheit, die ‚mutternackte Frühe‘, in die die Gedichte,
wenn auch sehr dunkel, hindurch vorzustoßen suchen. […] [D]enn nicht wir
rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an.“ (H UCHEL 1984, II, 246)
Insofern ist Fabian Lampart zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass Huchel
die „ahistorisch-mythologische Kindheitslandschaft“ in die geschichtliche
Erfahrung integriert habe (vgl. L AMPART 2013, 181). Es geht nicht darum,
die Natur akribisch darzustellen, sondern Kunstbilder zu erzeugen, „die auf
den Menschen eindring[en] und ihn in sich hineinzieh[en]“ (H UCHEL 1984,
80 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
II, 249). Huchels Lyrik ist eine Kunstsprache, die über die Verwendung
bestimmter Naturbilder, mythologischer und literarischer Bezüge wohl auf
eine „Privatmythologie“ zurückzuführen ist, die ihrerseits auf der mysti‐
schen Tradition Jakob Böhmes (1575–1624) gründet (vgl. V IEREGG 1976). Die
Natur, als Zeichen der äußeren sichtbaren Welt, wäre als Veräußerung einer
innerlich-geistigen Welt zu deuten (vgl. A LLKEMPER 1994, 471).
Gleichzeitig sind Huchels Gedichte stets mit einer historischen Signatur
versehen, worauf er selbst immer wieder hingewiesen hat. Besonders deut‐
lich wird dies im Band Gedichte an Texten wie Der polnische Schnitter:
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auf dem Heimweg. Ein Leitmotiv ist hierbei die ‚Chaussee‘, die zweimal im
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Gedicht erwähnt wird und verdeutlicht, wie eng gespannt das lyrische Netz
von Huchel ist, denn schließlich sind die „Chausseen“ für seinen zweiten
Gedichtband titelgebend. Die Heimatverbundenheit und die Sehnsucht des
polnischen Schnitters werden über die verwendeten Naturbilder nachdrück‐
lich erzeugt.
Huchel hat dieses Gedicht dafür genutzt, um sich als linker Dichter zu
positionieren (vgl. H UCHEL 1984, II, 376). Mit dieser Positionierung ist eine
deutliche Distanzierung vom Kolonne-Kreis und von der naturmagischen
Schule verbunden. Fritz Erpel (1929–2010), Redakteur der Zeitschrift Sinn
und Form unter Huchel, stellte fest: „Es ließe sich leicht nachweisen, daß er
nicht zu der Reihe Wilhelm Lehmann bis Karl Krolow gehört […]“ (H UCHEL
1984, II, 348). Im Gedicht Oktoberlicht, das zwar in Huchels Gedichtband aus
dem Jahr 1948 aufgenommen wurde, doch bereits 1932 in der Zeitschrift
Die Kolonne veröffentlicht wurde, wird deutlich, dass Huchel gleichwohl
ästhetisch an der naturmagischen Schule partizipierte. Auch wenn das
Gedicht nicht nach 1945 entstanden ist, wirkt es doch auf das literarische
Feld dieser Zeit.
Oktoberlicht
und Aufgehen dar. Friedrich Hölderlin (1770–1843) ist in Hälfte des Lebens
(1804) weitaus pessimistischer, wenn die Birne zum Motiv der Erkenntnis
der Vergänglichkeit im Moment der Schönheit wird: „Mit gelben Birnen
hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ (H ÖLDERLIN 1992,
I, 320). Huchels Gedicht, dies sei an dieser Stelle bereits gesagt, führt eher
die Linie von Hölderlin weiter.
Das zweite Bild zeigt eine Mücke, die die letzten Sonnenstrahlen auskos‐
tet. Die Alliteration und der Vergleich (sie „schmeckt noch wie Blut das letzte
Licht“, v. 4) deuten genau wie der „Altweiberzwirne“ (v. 3), den die Mücke
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trägt, auf die Vergänglichkeit und das bevorstehende Ende ihres Lebens hin.
Möglicherweise rekurriert der Neologismus auch darauf, dass die Mücke in
einem Spinnennetz gefangen ist. Denn „Altweiberzwirne“ verweist auf eine
bestimmte Jahreszeit: Oktober als letzter Monat des ‚Altweibersommers‘.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Hochdruckphase meint, geht auf die durch die Luft segelnden Spinnfäden
der Baldachinspinnen zurück: Die zahlreichen Spinnennetze, die sich in
Bäumen und Büschen verfangen, würden an das graue Haar alter Frauen
erinnern. Vielleicht ist die Mücke durch so einen schwebenden Faden
geflogen und nun von diesem eingehüllt. Oder sie ist in einem Spinnennetz
im Baum gefangen. Schließlich verweist die folgende ‚als-ob‘-Formulierung
darauf, dass der Baum förmlich von Spinnennetzen eingehüllt zu sein
scheint und diese die Lebenskraft des Baumes entziehen: „als ob der Baum
von Spinnen stürbe“ (v. 6). Das dritte Bild verbindet sich insofern mit dem
zweiten, als das „letzte Licht“ (v. 4) eine Verknüpfung zwischen Mücke und
Ahornbaum bildet: Der Ahorn ist noch beblättert, wobei die Sonne bereits
die grüne Farbe der Blätter „langsam“ (v. 5) aussaugt. Auch hier ist der
Prozess des Verfalls schon ablesbar und wird von der Sprechinstanz in eine
unheimlich anmutende Beschreibung überführt: Das charakteristische Laub
des Ahorns wird mit Fledermäusen verglichen. Flora und Fauna stehen ein
letztes Mal in voller Pracht, wobei ihre Vergänglichkeit deutlich erkennbar
ist. Es scheint der letzte Altweibersommertag zu sein. Der Umschlag der
Jahreszeiten steht unmittelbar bevor. Dass dies wiederum ein natürlicher
Prozess ist, deutet der Schlussvers der ersten Strophe an (v. 8).
In der ersten Strophe wird ein unabwendbarer Prozess geschildert, der
die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Lebens nicht explizit thematisiert.
Die Sprechinstanz beschreibt ausschließlich das bevorstehende Ende des
Sommers, das sich im Oktoberlicht wie in einem Spiegel bricht. Sowohl die
Rahmung des Gedichts über die zentralen Motive (Oktober und Birne, die in
2. Naturerfahrung 83
der letzten Strophe wieder aufgenommen werden) als auch die regelmäßige
Struktur des Gedichts lassen allerdings nicht eindeutig auf eine immanente
Zyklizität schließen. Die durchgängigen Kreuzreime und die vierhebigen
Verse werden lediglich durch den Wechsel von Daktylen und Jamben und
einer wechselnden Silbenzahl aufgelockert. Dabei bestehen die einzelnen
Verse aus acht, neun, zehn oder elf Silben, die erst in der letzten Strophe eine
annähernd regelmäßige Anordnung finden: Elf und acht Silben alternieren
in den ersten vier Versen, der fünfte Vers der letzten Strophe beginnt
erneut mit elf Silben, wobei sich die Verslänge dann plötzlich verkürzt.
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Der Schlussvers des Gedichts hat nur noch acht Silben. Nicht der Zyklus
von Leben und Vergehen steht hier im Zentrum, sondern der Moment
des Umschlags. Dies wird auch als Folgerung aus den drei Bildern der
ersten Strophe in der zweiten Strophe expliziert, die eine Art Reflexions‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Birne in der ersten Strophe noch nicht gefallen, schlägt die harte Walnuss
als Zeichen des endgültigen Sommerendes in den Schlaf der Tiere hinein.
Das Motiv des Schlafens, der Ruhe und des Ruhens wird dann in der
dritten Strophe weitergeführt. Hier erfolgt zunächst ein Perspektivenwech‐
sel. Nicht die Natur steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch, der die
Ernte einbringt. Es ist die Magd (v. 18), die „den Bastkorb voll und pfündig“
(v. 17) „in Spind und Kammer trägt“ (v. 18). Die letzte Bewegung im Garten
markiert die vollzogene Ernte. Lediglich die getane Arbeit der Magd bewegt
noch das Gras. Das Bild des ‚müden Laubs‘ partizipiert am Themenkomplex
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des Ruhens, der in der dritten Strophe betont wird. Es liegt nahe, den
Wechsel von Tag zu Nacht hier bebildert zu sehen. Gleichzeitig verweist
die Formulierung möglicherweise darauf, dass das Laub langsam in sich
zusammenfällt. Syntaktisch mehrdeutig scheinen die ersten vier Verse in
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Bezug auf das Subjekt, das „sich ins müde Laub gelegt“ (v. 20) hat. Durch
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die hypotaktische Satzstruktur erwägt man zunächst, dass sich die Magd ins
Gras gelegt habe. Satzlogisch ist es aber „der Garten“ (v. 19), der als totum
pro parte sowohl die Nachtruhe als auch das Vergehen alludiert.
Am Ende des Gedichts werden die Bilder des Anfangs aufgenommen.
Denn das, „was noch zuckt im weißen Spinnenzwirne“ (v. 21), ist möglicher‐
weise die Mücke, die „gern zurück ins Licht“ (v. 22) flöge. Während sich
die Mücke aus dem Spinnennetz zu befreien sucht, fällt die „letzte Birne“
(v. 23) vom Ast. Dabei wird das Licht personifiziert und zum Agens des
‚Birnen-Brechens‘. Nicht die Magd hat die Birne geerntet, sondern der letzte
Sommertag. Deutlich dürfte sein, dass das Gedicht eine Momentaufnahme
in detailliert beschriebenen und symbolisch aufgeladenen Naturbildern prä‐
sentiert. Der Mensch ist Teil dieser kultivierten Natur, die auf der Schwelle
zum Vergehen steht: Zu Beginn des Gedichts wird die kurz vor dem Fall
stehende Birne beschrieben, die in den letzten beiden Versen des Gedichts
dann tatsächlich fällt. Mit dem Bild der fallenden Birne endet das Gedicht.
Aussicht auf einen Neubeginn und eine zyklische Wiederkehr von Aufgehen
und Vergehen oder Leben und Tod, wie es Fontanes Herr von Ribbeck auf
Ribbeck im Havelland lyrisch ausformuliert, wird nicht artikuliert. Vielmehr
wird im gesamten Gedicht eine melancholische Atmosphäre erzeugt, die die
Hoffnung auf die Rückkehr des Sommers nicht explizit ausspricht.
Martin Raschke, der 1932 in Folge der Verleihung des Kolonne-Preises an
Peter Huchel eine recht kritische Analyse der frühen Gedichte vorgelegt
hat, gelangt zu der Einsicht, dass „die Welt Peter Huchels alles andere als
gestrig“ sei, da „die Gedichte wie von einem Traume zu sprechen scheinen“,
2. Naturerfahrung 85
der nicht direkt empfunden, sondern bereits als Illusion ausgestellt werde
(R ASCHKE 1973, 159). Huchels Gedichte liefern keine simple Naturbeschrei‐
bung. Vielmehr konstruieren sie artifizielle Naturbilder, die auf eine innere
Gestimmtheit von durchaus überindividueller Bedeutung verweisen. Hu‐
chels Naturerfahrung ist gebrochen: Wie der „Knabe eine bunte oder blakige
Glasscherbe gegen den Horizont hält“, um das Licht zu brechen, werden
die Naturbilder als Spiegel eingesetzt, um innere Gestimmtheiten lyrisch
zu artikulieren (H UCHEL 1984, II, 245). Raschke sieht hierhin eine Gefahr
der Huchel’schen Lyrik: Denn die Worte „erzeugen, richtig ausgesprochen,
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Die Natur repräsentiert nur noch eine Leerstelle und ist folglich unlesbar. Sie
ist ein Zeichen, das zu deuten ist. Dies wird von Huchel über eine stärkere
Einschreibung des Menschen in die Natur weiter ins Bild gesetzt, weswegen
sich seine Gedichte immer weiter einer gewissen Hermetik annähern und
die verwendeten Naturbilder zur Polysemie tendieren:
Wer schrieb,
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern?
Ich fand sie am Pfahl,
86 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Erstarrt
Im Schweigen des Schnees,
Schlief blind
Das Kreuzotterndickicht.
Für die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Bedeutung Karl Krolows (1915–
99) kaum zu überschätzen. Er stammt aus einer Beamtenfamilie und wächst
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
war ein mit Krolow bekannter Schriftsteller, der nach seiner frühzeitigen
Pensionierung als Zollbeamter 1937 unter dem Pseudonym Peter Flambusch
Gedichte veröffentlicht und sich in eigenständigen Schriften mit Wetter
und Naturlandschaft auseinandersetzt. 1942 publiziert Grünhagen beispiels‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
weise eine Kleine Wetterpraktik. Vom Spähen und Schauen. Vom Wind und
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den Wolken und kurz darauf eine Wetterkunde für den Wanderer (1948). Er
übersetzt Gedichte Walt Whitmans (1819–92) und ist maßgeblich durch
die Wandervogelbewegung geprägt. Aus welchen Gründen Grünhagen mit
knapp 40 Jahren pensioniert wurde, ist ebenso ungeklärt wie sein Verhältnis
zu Krolow.
Auch wenn Grünhagen heute sicherlich kein bekannter Schriftsteller
mehr sein dürfte, ist die Widmung für den Band Gedichte (1948) aussage‐
kräftig. Denn bereits über diese soziale Konstellation wird die Naturlyrik
aufgerufen. Hans Egon Holthusen (1913–97) erkennt in Krolow daher
auch einen ‚Schüler Lehmanns‘ (H OLTHUSEN 1972, 11). Gleichzeitig markiert
Holthusen eine Differenz zur Lyrik Lehmanns:
Aber er [Krolow] hat sich, von den fantastischen Ereignissen der Zeitgeschichte
erschüttert, sehr bald auf Gebiete vorgewagt, die Lehmann sein Leben lang ge‐
mieden hat und wohl niemals betreten wird. Die Erlebnisse Krieg und Nachkrieg
sind in seine Verse eingedrungen, gewisse intellektuelle Schwindelerlebnisse, die
dem Nur-Idylliker fremd sind, haben ihn überwältigt. (H OLTHUSEN 1972, 11)
Die Kammer
für Herbert Grünhagen
Mit der Sammlung Gedichte präsentiert Krolow lyrische Texte, die regelmä‐
ßig gebaut sind und sich an bestehenden lyrischen Traditionen orientieren.
Die Gedichte besitzen geordnete Strophen- und Reimformen. Zumeist be‐
stehen die Strophen aus vier oder fünf Versen, die in der Regel im Kreuzreim
gehalten sind. Zahlreiche Gedichte imitieren romantische Gedichtformen,
die beispielsweise über die Volksliedstrophe Eingängigkeit, Sangbarkeit
und Einfachheit erzeugen. Auch im vorliegenden Gedicht findet sich ein
regelmäßiges und eingängiges Versmaß: Es handelt sich um alternierende
jambische Vier- und Dreiheber. Die Kadenzen sind durchweg stumpf. Ab‐
weichungen sind nicht zu konstatieren, weswegen das Gedicht stark rhyth‐
misiert wirkt. Allerdings thematisieren die zehn Strophen eine ambivalente
Ich-Situation, die im Spannungsverhältnis zu Einfachheit und Dynamik
dieser lyrischen Form steht.
Im Zentrum steht die Evokation einer subjektiv empfundenen Entfremdungs‐
erfahrung (vgl. B OYKEN 2016, 145–163). Typisch für die frühen Gedichte Krolows
ist, dass die Sprechsituation sehr konkret zu rekonstruieren ist. Ein Ich befindet
sich in einer Kammer und versucht vergeblich zu schlafen (vgl. v. 1–4). Zunächst
rücken die visuellen und akustischen Störmomente ins Zentrum. Können die
visuellen Irritationen relativ einfach ausgeschaltet werden, indem sich das Ich
mit dem Gesicht zur Wand dreht, ist es mit den akustischen Belästigungen
ungleich schwerer: Das Ich wird vom Holzwurm und vom Ticken der Uhr
wachgehalten. Insbesondere das Bild der tickenden Uhr, die „die Stunden mäht“
(v. 4), verweist bereits programmatisch auf das barocke Motiv des memento mori.
Sowohl die tickende Uhr als auch der nagende Holzwurm stehen sinnbildlich für
90 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
die verrinnende Lebenszeit des Ich-Sprechers. Mit dem sich ins Holz fressenden
Wurm wird möglicherweise auch schon eine Art Schuldhaftigkeit angezeigt,
wenn man beispielsweise an die stehende Wendung denkt, dass etwas am
Gewissen ‚nagt‘. Ob der Ich-Sprecher jedoch Schuld auf sich geladen hat und
welche Art von Schuld dies sein könnte, wird vom Gedicht nicht expliziert.
Gleichwohl markieren Holzwurm und tickende Uhr eine gewisse Gereiztheit
der wahrnehmenden Person. Beides sind eigentlich keine massiven Störquellen
für den Schlaf. Woraus diese Gereiztheit resultiert, wird im Gedicht nicht
erörtert. Sie ist vielmehr vorausgesetzt und lässt sich nur indirekt über die
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Schlaflosigkeit des Sprechers erschließen. Wichtig ist dabei, dass Holzkäfer und
tickende Uhr in einem engen Bezugsverhältnis stehen: Der holzfressende Käfer
korrespondiert in seiner Bewegung mit der Zeit ‚mähenden‘ Uhr. Der Käfer
frisst sich ins Holz. Von außen bleibt das Bett unbeschadet, von innen wird es
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
langsam ausgehöhlt. Dieses Verhältnis von Innen und Außen ist für das Gedicht
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strukturbildend. Denn das Ich im Inneren der Kammer wird durch von außen
kommende olfaktorische Reize bedrängt. Die Sprechinstanz nimmt „den Ruch
vom Phlox“ (v. 5) wahr, der tagsüber zwar Lust bereitet, nachts aber ablenkt
und stört. Aufgrund des Geruchs der Flammenblumen imaginiert das Ich die
Wiese außerhalb der Kammer. Allerdings ist es lediglich der „Widerschein / Der
Wiese“ (v. 7 f.) im Fenster, der ins Bewusstsein des Ich dringt. Es handelt sich also
um eine indirekte Wahrnehmung: Nicht die Wiese, sondern nur die Spiegelung
der Wiese wird im Fenster sichtbar, was wiederum vom olfaktorischen Reiz
ausgeht.
Da im Gedicht vornehmlich ein Zeilenstil vorherrscht, Syntax- und
Versstruktur also in der Regel kongruent sind, erhalten die Zeilen- und
Strophensprünge als Irritations- und Störungsmarkierung ein besonderes
Gewicht. Es handelt sich nicht um die wirkliche Wiese, sondern lediglich um
die vom Geruch indizierte Vorstellung der Wiese außerhalb der Kammer. Der
direkte Zugriff auf die Natur scheint nicht möglich. Das Enjambement macht
auf das gebrochene Verhältnis zu dieser Naturvorstellung aufmerksam.
Holzwurm, Uhr und Phloxgeruch halten das Ich wach. Während sich das Ich
im Inneren der Kammer befindet, drängt von außen die Natur heran: Walnuss‐
laub rankt am Milchglas herauf. Über den Neologismus „gittern“ (v. 5) suggeriert
die Rede, dass die Natur nicht nur die Ruhe und Zurückgezogenheit des Ich in der
Nacht stört, sondern den Sprecher in seiner Kammer einzusperren scheint. Dass
dies über ein Verb ins Bild gesetzt wird, betont die Dynamik dieses Prozesses.
Ferner deutet das „Glas mit Milch“ (v. 10) an, dass die visuelle Wahrnehmung
eigentlich auf das Innere der Kammer beschränkt bleiben muss. Der Sprecher
2. Naturerfahrung 91
wendet sich in der Folge den häuslichen Verrichtungen zu und scheint jegliches
Zeitgefühl zu verlieren, wie die vierte Strophe nahelegt. Bemerkenswert ist, dass
der titelgebende Ort vom Ich-Sprecher zunächst bewohnbar gemacht werden
muss: Auf dem Tisch und der aus Baumwolle angefertigten Tischdecke (Zwilch)
muss zunächst der Staub gewischt werden. Die Kammer wurde offensichtlich
vom Ich bislang nur für den misslingenden Versuch des Schlafens genutzt.
In der Mitte des Gedichts findet sich in der fünften Strophe ein weiterer
scheiternder Versuch: Das Ich liest „die Schrift“ (v. 17). Zwar sind die Wörter
zu entziffern, allerdings bleiben sie „ohne Sinn“ (v. 18). Daraufhin legt
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das Ich die Bücher fort. Um welche Bücher es sich hierbei handelt, muss
spekulativ bleiben. Das Gedicht gibt keine eindeutigen Indizien, dass es sich
bei ‚der‘ Schrift um die Bibel handelt. Die scheiternde Lektüre ist jedoch
möglicherweise metapoetisch zu deuten: So wie die Natur das Ich gefangen
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hält und vom Schlaf abhält, so bleibt der Sinn der Natur-Bücher dem Ich
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nur um einen kurzen Moment der Ruhe handelt. Fühlt sich das Nackenhaar
noch weich wie Gras an, schmeckt die Haut der genannten Frau bitter.
Der Umschlag wird mit einem Satz, der die achte und neunte Strophe
verbindet, herbeigeführt. Hier wandert der Blick des Ich zum Mond, „der
böse an den Scheiben hing“ (v. 31). Der Mond wird in der lyrischen Tradition
eher selten als Bedrohungsfiguration eingesetzt. Zumeist bietet er Trost
oder Orientierung. Sein Anblick erleichtert oder beruhigt den Einsamen,
wie beispielsweise in Goethes (1749–1832) An den Mond (1777), Matthias
Claudius’ (1740–1815) Abendlied (1778) oder Hölderlins Abbitte (1799). Er
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spendet nötiges Licht in der Nacht und ermöglicht somit die Orientierung.
Bei Krolow bieten die Gestirne jedoch weder Trost noch Orientierung.
Vielmehr gemahnt der Mond, der dem Ich „nicht geneigt“ (v. 34) ist, die
Sprechinstanz an ihre isolierte Situation. Diese Funktionalisierung des
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die Leser emotional anzusprechen (vgl. K ORTE 2004, 17). Eine unkonkret
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verbringt seine Ferien oft bei Verwandten in Litauen, was sowohl sein
Werk als auch sein Leben beeinflusst. Die Naturerfahrungen nutzt er
für sein poetisches Schaffen, gleichzeitig lernt er dort auch seine spätere
Ehefrau kennen. Nach seiner Schulzeit absolviert Bobrowski seinen Wehr‐
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Zum einen positioniert sich Bobrowski mit dem Verweis auf Klopstock in
der lyrischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich orientiert er sich in
der Formenwahl seiner Gedichte an Oden- und Elegienstrophen, die für die
Lyrik nach 1945 eigentlich zutiefst unmodern schienen. Zeitgenössischen
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Kriegszeit“ (D EGEN 2004, 387). Ob sich diese Trennung zwischen der Thema‐
tisierung der ‚Kindheitslandschaft‘ im ersten Teil und der Thematisierung
der ‚zerstörten Landschaft‘ im dritten bzw. vierten Teil so präzisieren lässt,
ist fraglich. Vielmehr scheint es, als sei den Naturerfahrungen des ersten
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Teils ihre spätere Zerstörung bereits inhärent. Gerahmt werden diese Texte
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Immer
mit Flügen der Elstern
dein weißes Gesicht
in den Wälderschatten geschrieben.
5 Der mit dem Grundfisch zankt,
laut, der Uferwind fragt:
Wer stellt mir das Netz?
Gedichte notiert. Das Gedicht operiert mit dem Stilmittel der Inversion, was
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für Bobrowskis Dichtung typisch ist. Der Text besteht aus vier Versgruppen
und aus insgesamt 24 Versen, die allerdings nicht gleichmäßig auf die
Versgruppen verteilt sind. Auch wegen der freirhythmischen Struktur und
Reimlosigkeit ist eine deutliche Anlehnung an die Klopstock’sche Odenform
zu erkennen.
Der Beginn des Gedichts mutet hermetisch an: Das Pronomen „dein“ (v. 3)
verweist auf den im Titel genannten Flussfischer. Mit dem alleinstehenden
„Immer“ des ersten Verses wird die Beständigkeit des „weiße[n] Gesicht[s]“
(v. 3) hervorgehoben, das vom Elsternflug „in den Wälderschatten geschrie‐
ben“ (v. 4) wird. Die ersten Verse verbinden also mehrere Oppositionen:
Dunkel und Hell, Oben und Unten, Flüchtigkeit und Beständigkeit. Offen‐
sichtlich ist, dass es sich nicht um das faktische Gesicht des Fischers handelt.
Vielmehr – so legt es das Verb „geschrieben“ nahe – handelt es sich um
eine Form des Erinnerns im Naturraum. Die Schreibfeder fungiert in diesem
Fall als tertium comparationis. Es wird deutlich, dass das Gedicht wohl das
Verhältnis von Mensch und Natur zum Thema macht. Der Flussfischer
scheint nicht mehr anwesend zu sein, worauf die Nachfragen des personi‐
fizierten Uferwindes (v. 7) und des Kahns (v. 15) hinweisen. Die Reihe der
Oppositionen lässt sich also um den Gegensatz von Vergangenheit und
Gegenwart ergänzen. Das Netz wird nicht mehr ins Wasser gestellt, der
Boden des Kahns wird nicht mehr geteert. Insofern handelt das Gedicht
offensichtlich von der Absenz des Fischers. Dies wird als Defizit oder Verlust
artikuliert.
98 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Indem das Gedicht diesen Verlust im Naturraum spiegelt, wird der Text
selbst zum „Gedächtnis für einen Flußfischer“. Dass der Flussfischer mit dem
unbestimmten Artikel bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass es sich hierbei
um eine paradigmatische Konstellation handelt. Der Titel steht damit in
Spannung zu Vers 19: „Ja, wir vergessen dich schon.“ Während das Gedicht ein
relativ konkretes Bild einer verlassenen Fischerstelle poetisch aufruft, bleibt
die Kommunikationssituation eher unbestimmt. Möglicherweise handelt es
sich um eine kollektive Sprechinstanz oder um einen Sprecher, der für
eine bestimmte Gruppe spricht. Das Wir taucht lediglich im Kontext des
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Vergessens auf. Insofern könnte man im Wir die Menschen im Hier und
Jetzt erkennen, die sich an das Vergangene nicht mehr genau erinnern –
das Vergangene ist dem menschlichen Vergessen anheimgegeben und wird
auf absehbare Zeit verschwinden. Zwar sind die Spuren des Fischers noch
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sichtbar, doch verleibt sich die Natur die Artefakte ein: „Der vogelfarbne /
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Stichling schwimmt durch die Maschen, / baut ein Nest für die Brut“ (v. 8–10).
Ob diese ‚Rückeroberung‘ der Natur konträr zum Gedenken an den
Fischer steht oder ob sie die Erinnerung der Natur erst ermöglicht, ist nicht
eindeutig. Im Gegensatz zum Wir erinnert die Natur jedoch den Flussfischer:
„Doch der Wind noch gedenkt.“ (v. 20) Es sind also die Naturphänomene,
wie der Flug der Elstern, in den sich das Gesicht des Fischers förmlich
einschreibt, die Klage des Kahns und des Uferwindes, die die Absenz
des Fischers in rhetorischen Fragen manifestieren, und das Gedenken des
Windes. Das Vergessen des Wir steht der Bewahrung der Natur gegenüber.
Allerdings kann die Natur das Andenken an den Flussfischer selbst nur
zeichenhaft konservieren (vgl. D EGEN 2004, 48). Diese Zeichen sind für die
Sprechinstanz noch zu lesen, während der Fischer ‚schon vergessen‘ wird.
Das Gedicht endet mit einem Bild der Apokalypse. Es ist uneindeutig,
ob der Kater – in einer Art von Anthropomorphisierung – tatsächlich
ausspricht: „Der Himmel stürzt ein!“ (v. 20) oder ob der Schlussvers dem
lyrischen Wir-Sprecher zuzuschreiben ist. Im zweiten Fall würde das Jam‐
mern des Katers parallel geführt mit dem Einsturz des Himmels. Da aber
schon die Rede von Uferwind und Kahn ohne Anführungszeichen gesetzt
wird, könnte man argumentieren, dass der Kater hier direkt spricht und
damit das letzte Wort behält. Allerdings können weder Kater noch Uferwind
sprechen, sondern nur der, der es dem Tier und dem Wind in den Mund legt.
Insofern erscheint das Einstürzen des Himmels als Folge des (menschlichen)
Vergessens. Die Exclamatio ist in sich wiederum uneindeutig: Handelt es
sich um eine Prophezeiung oder um eine Zustandsbeschreibung? Wird
2. Naturerfahrung 99
der Himmel einstürzen oder stürzt der Himmel mit Ende des Gedichts
ein? Dass sich Bobrowski mit dem Bild des einstürzenden Himmels eines
Märchenmotivs bedient, wäre ausführlicher zu erörtern (vgl. K ORTE 2004,
40). Möglicherweise deutet die Schlusswendung in ihrer Märchenhaftigkeit
auf die Gegenweltlichkeit dieser vergangenen ‚Flussfischerlandschaft‘.
Die Zeit des Flussfischers ist unwiederbringlich verloren. Die Gedichte
Bobrowskis unternehmen den Versuch, diese verschütteten Erinnerungs‐
fermente poetisch wieder heraufzuholen. Mit Blick auf die Gedichte aus
Samartische Zeit hat man von einer „Erinnerungslandschaft“ (L EISTNER 2005,
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Gott Perkun auf. Die Pruzzen waren ein baltischer Volksstamm, der vom
Deutschen Orden unterworfen wurde. Aufgrund der folgenden kulturellen
Assimilation gingen die pruzzische Kultur und Sprache verloren. Dieser
Gott steht stellvertretend für den Dichter als mnemopoetische Instanz,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
denn Perkun „fuhr auf den Strömen“ (B OBROWSKI 2017, 73). In seinem
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Gefolge kommt die „Finsternis“ (B OBROWSKI 2017, 73), die sinnbildlich für
das Vergessen steht. In dieser intrikaten Verknüpfung von Natur, Kultur
und letztlich scheiternder und unvollständiger Erinnerung liegt der Kern
von Bobrowskis Naturlyrik. Entsprechend hatte er wenig übrig für eine
‚einfache‘, ‚schlichte‘ und ungebrochene Naturlyrik, wie er sie in der natur‐
magischen Schule repräsentiert sah. Natur ist nicht einfach nur Natur und
schon gar nicht der Gegensatz zur Kultur. Entsprechend bissig fällt ein erst
posthum publiziertes Doppeldistichon Bobrowskis über Wilhelm Lehmann
aus, mit dem er Lehmann nicht nur ‚in Rente schickt‘, sondern vor allem
seine – aus Bobrowskis Sicht – naiven Naturvorstellungen kritisiert:
Naturdichter Lehmann
3. Schuldfragen
die Verantwortung für die zahllosen Kriegsverbrechen und für den Mord
an marginalisierten Bevölkerungsgruppen, ethnischen Minderheiten und
Regimegegnern? Sichtbarstes Zeichen dieses spannungsvollen Diskurses
waren die Nürnberger Prozesse, in deren Verlauf vom 20. November 1945
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bis zum 14. April 1949 einige der bedeutendsten Funktionäre des NS-Re‐
gimes vor Gericht gestellt wurden. Auch wenn man in den Nürnberger
Prozessen dezidiert die individuelle Schuld der ‚Hauptakteure‘ feststellen
wollte, so wurden die Gerichtsverfahren im Laufe der Zeit von der deutschen
Bevölkerung als Stellvertreterprozesse wahrgenommen (vgl. T AVAKOLIAN
2010, 65–87). Dass die Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit
Bild- und Filmkampagnen die Strategie verfolgten, den Deutschen eine
kollektive Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes zuzuschreiben, ist
mittlerweile in geschichtswissenschaftlichen Schriften gut aufgearbeitet
(vgl. H ENTSCHKE 2001, 41–44; F RIEDEMANN/S PÄTER 2002, 53–90; W OLBRING
2009, 325–364). Allerdings rückten die Alliierten schnell von der Idee einer
‚Kollektivschuldthese‘ ab. Dennoch belegt die „Kritik an den Nürnberger
Prozessen und das starke Engagement von Kirchen, Parteien und Öffent‐
lichkeit für die Begnadigung verurteilter Kriegsverbrecher“, unter denen
sich schwer belastete SS-Einsatztruppenleiter befanden, den Wunsch nach
Verdrängung (B ERGMANN 2007, 18).
Grundlage dieser Verdrängung war der rhetorische Umgang mit der
Schuldfrage: Nicht das ‚deutsche Volk‘ sei an den Verbrechen schuldig,
sondern eine unkontrollierbare Macht, die sich in den Handlungen der
NS-Funktionäre manifestierte. So personifiziert Conrad Gröber (1872–1948),
der Erzbischof von Freiburg, in seinem Hirtenbrief vom 21. September 1945
den Zweiten Weltkrieg als einen „erbarmungslose[n] Vernichter“, der das
Land mit seinen „blutig-mörderischen Händen Haus für Haus und Seele für
Seele“ gezeichnet und aus den „Augen ganze Ströme von Tränen“ gepresst
102 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
habe (G RÖBER 1985, 47). Der Erzbischof stilisiert den Krieg zu einem eigen‐
ständigen Akteur und lässt dadurch unerwähnt, dass es doch Menschen
waren, die den Krieg führten. Vielmehr seien auch die Deutschen von einer
„teuflisch organisierte[n] Flüsterpropaganda“ „satanisch“ gequält worden
(G RÖBER 1985, 50 f.). Das NS-Regime und der allein auf die NS-Funktionäre
zurückgehende Weltkrieg habe schließlich „das Elend über die halbe Welt
[…] wie eine verheerende Seuche“ (G RÖBER 1985, 53) gebracht.
Gegen die Argumentation des Erzbischofs ließe sich die Neujahrsbetrach‐
tung 1945/46 der Dichterin und Historikerin Ricarda Huch (1864–1947)
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stellen, in der „die Logik der Tatsachen“ eingefordert wird: Man müsse
zu der „Einsicht“ gelangen, „daß ein Volk sich nicht als ein Haufen von
Privatleuten abseits von der Regierung stellen und sie schalten lassen kann,
ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen.“ (H UCH 1990, 947) Allerdings
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
totalitären Staates heraus. Für Alexander Abusch (1902–82), der in der DDR
als Kulturfunktionär Karriere machen wird, führt hingegen der preußische
Staat unweigerlich zum Nationalsozialismus. Gleichfalls kursieren zeitge‐
schichtliche Erklärungsmodelle, die beispielsweise im Versailler Vertrag
oder in der Übernahme des westeuropäischen Demokratiemodells in der
Weimarer Republik einen ‚grundsätzlichen‘ Baufehler sehen, der wiederum
zum Totalitarismus führen musste. Die Schuld für die Kriegsverbrechen und
den Massenmord wurde so in abstrakte Geschichts- und Politikprozesse
verlagert, von denen behauptet wurde, dass man sie nicht beeinflussen
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könne.
Mit dem Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre wird die Verdrängung
der Schuldfrage sicherlich begünstigt. Dennoch stehen die ersten Jahrzehnte
der Bundesrepublik heute „unter dem Ruch der Verdrängung der Vergan‐
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genheit; es ist bis heute ihr Stigma geblieben.“ (F RIEDRICH 2007, 1) Diese
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Erst die Anrufung Gottes ermöglicht dem Wir die Befreiung aus der Schuld‐
befangenheit: Gott möge die „Flammenzeichen / der schweren Sühne“
verkünden, damit aus der Schuld der kollektiven Sprechinstanz „der Segen /
erneuter Menschheit dringt!“ (K ERCKHOFF 1946, 210) Die Anrufung Gottes
stellt die Schuld nicht nur in einen religiösen Kontext, sondern bietet auch
ein eminentes Sinnpotenzial: Aus der Schuld und den Verfehlungen des Wir
solle die ganze Menschheit lernen. Das Gedicht operiert mit Bildern, die auf
eine abstrakte und nicht näher konturierte Schuld verweisen. Die regelmä‐
ßigen jambischen Dreiheber werden zwar teilweise durch Senkungen im
Rhythmus gebrochen, doch erscheint das Gedicht in seiner äußeren Form
sehr regelmäßig. Das durchgängig gehaltene Kreuzreimschema steht dabei
in seltsamem Kontrast zur Verzweiflung des Wir-Sprechers.
Kerckhoff, die 1947 Mitglied der SED wurde, hat sich bis zu ihrem Suizid
intensiv an den Schulddebatten im Nachkriegsdeutschland beteiligt. Sie galt
als junge, aufstrebende Dichterin (vgl. G EIPEL 1999, 46 f.). Von Relevanz ist in
diesem Kontext Kerckhoffs Dichterverständnis. Sie weist den Dichtern eine
besondere Rolle zu, wie sie in ihrer Rede auf dem Ersten Deutschen Schrift‐
stellerkongress im Oktober 1947 in Berlin ausführt: Aus der historischen
Schuld, die Stimme nicht gegen den Nationalsozialismus erhoben und sich in
der Inneren Emigration eingerichtet zu haben, entstehe die Verantwortung,
„heute auf jeden Fall wachsam sein [zu] müssen“ (K ERCKHOFF 1947, 171 f.).
Auch in ihren Berliner Briefen (1948) wird die Verdrängungstendenz im
Nachkriegsdeutschland thematisiert. Der Briefroman versammelt Briefe der
Berlinerin Helene, die ihrem jüdischen Freund im Pariser Exil schreibt.
3. Schuldfragen 105
die 1946 von Gunter Groll (1914–82) herausgegeben wurde. Das erklärte
Ziel des Herausgebers ist die Dokumentation von Gedichten, die im deut‐
schen NS-Staat entstanden sind und ‚heimlich‘ kursierten. Dabei spielt
er die exilierten Dichterinnen und Dichter nicht gegen die Vertreter der
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sogenannten Inneren Emigration aus, sondern will das „Ausmaß des inneren
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(E IGENBRODT 1947, 105). Artikuliert wird hier auch das Trauma des Überle‐
benden, der sich nun gegenüber den Getöteten rechtfertigen muss.
(2) Um aus dieser passiv-resignativen Haltung des Schuldiggewordenen
auszubrechen, bietet sich die religiöse Aufladung an: Mithilfe religiöser
Erklärungsmuster kann dem Schuldkomplex so zumindest retrospektiv ein
Sinn verliehen werden. In Reinhold Schneiders (1903–58) Gedicht Am Rand
der Schlacht wird diese Technik genutzt. Der Ich-Sprecher ist „wehrlos“ im
Angesicht des aufziehenden Donners, der „Schlag um Schlag im Herzen
widerhallt“ (S CHNEIDER 1946, 361). Zwar verliert auch hier das Ich seine
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Sprachfähigkeit, doch wird die Sühne, für die es doch eigentlich keine Worte
hat, im apokalyptischen Schlussbild des Gedichts wieder artikulierbar:
Hier stirbt das Wort, hier ist mein Herz bezwungen.
Schuld wohnt mit Schuld im nachtumtobten Haus
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Gehasst werden Personen, die sich so sehr versündigt haben, dass selbst
Gott nicht mehr zur Vergebung fähig sei: Es handelt sich hierbei um Mord
(„blutrote Schuld“, H UCH 1946, 176). Der Hass wird dabei auch über die
göttliche Gnade, die hier ohnehin nur im Konjunktiv geschildert wird,
gestellt:
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Neben den hier kursorisch erwähnten Gedichten, die allesamt von Dichte‐
rinnen und Dichtern der Inneren Emigration stammen, wird die Schuldfrage
aber auch von exilierten Dichterinnen und Dichtern forciert. Besondere
Relevanz hat Thomas Manns (1875–1955) Artikel Die Lager, der in mehreren
deutschen Zeitungen im Mai 1945 nach der deutschen Kapitulation erscheint
und vor der Folie der deutschen Konzentrationslager die Schuldfrage stellt:
„Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende
einer sogenannten deutschen Elite, […] die unter dem Einfluß verrückter
Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.“ (M ANN 1997, VI,
11) Er schließt sich also nicht der Kollektivschuldthese an, sondern sucht
die Verantwortung bei einer „deutschen Elite“. Die Schande und Schuld
bezieht Mann aber ausdrücklich auch auf die Exilierten, die ebenso Teil
dieser „Elite“ sind. Manns Argumentationsstruktur ähnelt Huchs Ansatz,
die die grassierende Schuldverdrängung rhetorisch geschickt aus den An‐
geln hebt: „Wenn wir sagen, eine Räuberbande habe uns überfallen, uns
vergewaltigt und gezwungen, ihre Untaten mitzutun, so wird man lachen:
Können viele Millionen sich nicht einer Räuberbande erwehren?“ (H UCH
1990, 947) Mit Thomas Manns und Ricarda Huchs Appellen an die allge‐
meine und individuelle Schuldhaftigkeit ist der Boden bereitet für eine
brisante Kontroverse. Walter von Molo (1880–1958) verfasst in Reaktion auf
Manns Artikel einen offenen Brief, in dem er Mann um die Rückkehr nach
Deutschland bittet, damit der Exilierte das Leid der Zurückgebliebenen mit
108 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
eigenen Augen sehe. Problematisch ist von Molos offener Brief vor allem
deswegen, weil er ausschließlich zwischen NS-Tätern und den Opfern des
Regimes unterscheidet – und dabei auch ‚Mitläufer‘ zu Opfern macht. Mit
diesem Argument wird aus jedem, dem nicht nachgewiesen werden kann,
am NS-Apparat mitgewirkt zu haben, ein ‚Widerstandskämpfer‘. Zudem
wird suggeriert, dass es gefährlicher, beschwerlicher und verzichtreicher
gewesen sei, in Deutschland auszuharren. In diese Richtung argumentiert
auch Frank Thiess (1890–1977). In seinem Artikel Abschied von Thomas
Mann, der am 30. Oktober 1945 im Neuen Hannoverschen Kurier publiziert
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wissen könne, was in Deutschland vor sich ging. Der Streit zwischen den
exilierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern und den Vertretern der
Inneren Emigration wird damit weiter befeuert. Und auch Gottfried Benn
(1886–1956) schließt sich diesem Argument in seiner Autobiografie Doppel‐
leben (1950) an, wenn er seine Antwort an die literarischen Emigranten (1933)
verteidigt und gegen Klaus Manns (1906–49) Brief vom Mai 1933, in dem
Benn für seine pro-nationalsozialistischen Stellungnahmen kritisiert wird,
rhetorisch geschickt polemisiert. Zunächst lobt Benn Klaus Mann in den
höchsten Tönen, dessen persönlichen Brief er sogar in seiner Autobiografie
abdruckt, um dann aber den ‚Gegenschlag‘ durchzuführen:
Aber noch einen Gedanken muß ich aussprechen, er ist mir zu oft gekommen,
wenn ich an 1933 zurückdachte: wenn die, die dann Deutschland verließen und
noch heute so sehr auf uns herabsehen, so klug und weitsichtig waren, wie es
Klaus Mann ja ohne Zweifel war und wie es viele von den anderen vielleicht auch
waren – warum haben sie das Unheil nicht von sich und von uns abgewendet?
Ihnen gehörte die Öffentlichkeit […]. (B ENN 2006, 411)
Klaus Mann konnte darauf nichts erwidern – er hatte ein Jahr vor der
Veröffentlichung von Benns Doppelleben Suizid begangen.
Die Distanz zwischen den Dichterinnen und Dichtern, die ins Exil gingen,
und denen, die in Deutschland geblieben sind, war im Nachkriegsdeutsch‐
land massiv. Selbst bis heute zeigen sich die Nachwirkungen dieser klaren
Scheidung: So findet sich bis in den wissenschaftlichen Diskurs hinein eine
3. Schuldfragen 109
andererseits aber auch ein Bewusstsein von der eigenen Schuld besitzt: Hier
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liegt auch ein besonderer Zug der Texte von Schnurre, der im Gegensatz
zu anderen Dichtern seiner Generation (z. B. Günter Grass [1927–2015]) die
eigene Schuldhaftigkeit immer wieder thematisiert und zum Ausgangspunkt
seines Schreibens macht.
Mascha Kalékos Gedicht Höre, Teutschland ist in seiner Drastik eine
nicht nur für die Nachkriegsgesellschaft kaum zu ertragende Anklage
der nationalsozialistischen Gräueltaten, da es selbst explizite Gewaltbilder
nutzt, wenngleich der hier artikulierte Hass durchaus reflektiert wird.
Besonders bemerkenswert ist an diesem Gedicht, dass es sich um eine
Kommunikation nach außen handelt. Kaléko hatte das Gedicht am 14. März
1943 im New York Times Magazine vorab veröffentlicht. Es erschien dort in
einer englischen Fassung unter dem Titel Hear, Germany! (vgl. K ALÉKO [2012]
2013, I, 185). 1945 wurde das Gedicht in deutscher Sprache im Band Verse für
Zeitgenossen im amerikanischen Schoenhof-Verlag veröffentlicht. Der 1856
gegründete Verlag mit Sitz in Cambridge/Massachusetts war auf deutsch-
und französischsprachige Bücher spezialisiert und hat Kalékos Verse für
Zeitgenossen wohl in einer äußerst kleinen Auflage veröffentlicht (vgl.
K ALÉKO [2012] 2013, IV, 48 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt
Kaléko wieder Verbindung zum Rowohlt-Verlag auf, bei dem sie in der
Weimarer Republik und vor ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten zwei
Gedichtbände veröffentlicht hat, die enorm erfolgreich waren. Mit Rowohlt
vereinbart sie eine Neuauflage von Verse für Zeitgenossen, die 1958 gedruckt
wird. Allerdings findet sich Höre, Teutschland in der Rowohlt-Fassung der
Sammlung Verse für Zeitgenossen nicht. Offensichtlich war dieses Gedicht
110 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
nicht für die deutsche Leserschaft gedacht oder geeignet. Die Umstände
dieser Unterdrückung werden im Folgenden ebenfalls thematisiert.
Kontrastiert wird Kalékos lyrischer Umgang mit der Schuldfrage durch
Werner Bergengruens Gedicht An die Völker der Erde. Hierbei handelt es
sich um das Abschlussgedicht des 1945 veröffentlichten Gedichtbandes Dies
Irae. Obwohl im Titel die ‚Völker der Erde‘ adressiert werden, richtet sich
das Gedicht wohl eher an die deutschen Leserinnen und Leser. Es handelt
sich also um eine Kommunikation nach innen, die vor der Folie christlicher
Vorstellungen nicht nur die Schuldfrage relativiert, sondern sogar die ‚Völ‐
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ker der Erde‘ davor warnt, den Deutschen die alleinige Schuld zuzuweisen.
Während Kaléko im Nachkriegsdeutschland nicht mehr an ihre Erfolge der
ausgehenden Weimarer Republik anknüpfen kann, werden Bergengruens
Texte breit rezipiert. Dies liegt womöglich an ihren Rezeptionsangeboten:
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Bergengruen lädt die Zeit des Nationalsozialismus religiös auf und verleiht
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dem Schrecken und Leiden einen Sinn, der sich im Kontext von Sühne,
Buße und Eschatologie bewegt. Dabei gerät Bergengruen – spätestens aus
heutiger Sicht – in ein ethisch-moralisches Zwielicht. Als Mitglied einer
unter Generalverdacht stehenden Gesellschaft tritt er als Mahner auf und
strapaziert damit, was unter Anlehnung an die antike rhetorische Kategorie
der Licentia als ‚Lizenz des Sagbaren‘ bezeichnet werden könnte.
Kalékos Anklage hingegen bleibt in Deutschland ungehört und lange un‐
gedruckt. 2005 hat Jutta Rosenkranz das Gedicht in die historisch-kritische
Gesamtausgabe aufgenommen. Erst vor dem Hintergrund einer solchen
Konstellation ist Adornos (1903–69) in der Einleitung bereits erwähnte
Schlussfolgerung nachvollziehbar. Nur wenn man Gedichte wie An die
Völker der Erde kennt und um ihre Breitenwirksamkeit weiß, ist Adornos
Position, dass es „barbarisch“ ist, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schrei‐
ben“ (A DORNO [1951] 2003, 30), nachvollziehbar. Wolfdietrich Schnurres
Gedicht Denunziation, das auf enigmatische Art und Weise die Schuldfrage
verhandelt und dabei auf keine eindeutige Antwort kommt, kann daher als
kritischer Kommentar auf Adorno verstanden werden. Während Kalékos
und Bergengruens Gedichte klare Positionen vertreten, hebt Schnurres
Denunziation die Ambivalenz der Schuldfrage hervor. Dabei nutzt Schnurre
poetische Bilder, die eine Verbindung zum lyrischen Traditionalismus eröff‐
nen. Der Mond als das zentrale Motiv des Gedichts wird in seiner Bedeutung
jedoch durch Schnurres hermetische Neologismen verunklärt.
3. Schuldfragen 111
Lesebuch für Große, der vor allem die Verspieltheit von Kalékos Lyrik belegt.
Noch 1935 plant der Rowohlt-Verlag eine Neuauflage beider Bände. Bis 1935
scheint ihre Religionszugehörigkeit offensichtlich unbekannt geblieben zu
sein. Dann interveniert allerdings die nationalsozialistische Kulturbehörde:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
aufnehmen, worauf sich Kaléko schnell einlässt (vgl. S CHNEIDER 2015, 205).
Da die Dichterin aber auch neuere Gedichte platzieren will, muss man sich
für die Veröffentlichung auf Streichungen einigen. Von den 54 Gedichten der
amerikanischen Ausgabe werden lediglich 21 Gedichte in die Ausgabe von
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
1958 übernommen; ergänzt wird die Auswahl durch 33 neue Texte. Gedichte,
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in denen Kaléko Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und die Shoah
verantwortlich macht und in denen ihr Hass auf die Nationalsozialisten zum
Ausdruck kommt, werden größtenteils gestrichen. Das hat möglicherweise
marktstrategische Gründe: In ihrer früheren Heimat wäre ein Gedicht wie
Höre, Teutschland dem Comeback vielleicht abträglich gewesen. Allerdings
gibt es einige briefliche Äußerungen, die nahelegen, dass Kaléko gerade
diese Gedichte für prädestiniert zur Publikation in Deutschland hält. So
schreibt sie am 17. Februar 1957 dem jüdischen Verleger Felix Guggenheim
(1904–76): „Das mein ‚hunch‘ [meine Ahnung] bezüglich der Emigrations‐
verse nicht falsch ist, dafür finde ich auch heute wieder einen Beweis, sahen
Sie den heutigen NY Times Magazine-Artikel über den sensationellen Pu‐
blikumserfolg der deutschen ‚Anne Frank-Aufführungen?‘“ (K ALÉKO [2012]
2013, II, 585 f.)
Aus welchen Gründen Wolfgang Weyrauch diese Gedichte nicht aufneh‐
men wollte und warum sich Kaléko trotz anderer Publikationspläne so
schnell darauf einließ, lässt sich anhand des Briefwechsels nicht rekonstru‐
ieren. Festzuhalten bleibt aber: Im Band von 1958, der in Deutschland
unter demselben Titel wie in den USA veröffentlicht wurde, fehlt Höre,
Teutschland.
Höre, Teutschland
(In memoriam Maidanek und Buchenwald)
Dass Kaléko mit diesem Gedicht möglicherweise gar nicht die deutschen
Leserinnen und Leser adressieren wollte, legt auch die Vorabpublikation
im New York Times Magazine nahe. Das Gedicht richtet sich nicht an die
deutsche Leserschaft, sondern an internationale Adressaten, wie Kalékos
englische Fassung des Gedichts suggeriert. Ob die deutsche oder die engli‐
sche Fassung zuerst entstanden ist, ist nicht geklärt. Auch Jutta Rosenkranz
macht in ihrem Kommentar zur historisch-kritischen Werkausgabe hierzu
114 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
keine Angaben (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, IV, 58 f.). Sicher ist nur, dass
Kalékos Hear, Germany!, das durch das Ausrufungszeichen in der englischen
Fassung noch an Emphase gewinnt, bereits am 14. März 1943 veröffentlicht
wurde, während sich Höre, Teutschland erst in der amerikanischen Ausgabe
der Gedichtsammlung Verse für Zeitgenossen (1945) findet. Auch in der
englischen Version legt Kaléko Wert auf eine ästhetische Faktur, wenn sie
beispielsweise das alternierende Endreimschema beibehält:
The day will come, it is not far ahead,
When you will hang upon your crooked cross,
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„[i]m Schlaf umzingeln“ (v. 15) und „[i]hr Wimmern […] euch in den Ohren
dröhn[t]“ (v. 17), dann scheint es sich auch um Geistererscheinungen zu
handeln, die die Sühne für begangene Gräueltaten einfordern. Die Wieder‐
kehr der Toten als Rächende ist jedoch in naher Zukunft situiert: „Noch
braust der Sturmwind, gegen euch zu zeugen“ (v. 19), womit aber bereits
eine übermenschliche Instanz als Ankläger aufgerufen wird.
In der sechsten Strophe weisen die Schuldigen auch das äußere Zeichen
der Schuld auf: „Grell schreit von eurer Stirn das rote Zeichen.“ (v. 21)
Die Signalfarbe Rot stellt eine Verbindung zum vergossenen Blut her und
korrespondiert mit dem Adjektiv, das den Vers einleitet: Das Mal der Schuld
ist auffällig, es blendet förmlich („Grell“) und sticht in unangenehmer
Weise hervor. Dies wird über das direkt folgende Verb ‚schreien‘ sogar
gesteigert. Der offensichtlichen, ‚schreienden‘ Schuld gewahr werdend,
stößt der Ich-Sprecher einen Fluch aus: „Verflucht auf ewig sei Germaniens
Schwert!“ (v. 22) Dass das Ich durchaus von den Taten der hier Adressierten
betroffen ist, wird schließlich auch deutlich: „Verhasst ward mir der Anblick
eurer Eichen, / Die sich von meiner Brüder Blut genährt“ (v. 23 f.). Einerseits
wird damit deutlich, dass „Teutschland“ zwar im Titel als Adressat genannt
ist, faktisch aber Vertreter des Landes gemeint sein dürften. Andererseits
gründet der Fluch auf einem unbedingten Hass, den das Ich aber reflektiert,
worauf der isoliert stehende Schlussvers des Gedichts verweist: „Wie hass
ich euch, die mich den Hass gelehrt …“ (v. 26). Damit wird eine Gruppenzuge‐
hörigkeit realisiert, die sich auch in der Struktur Opfer vs. Täter manifestiert.
Die deutsche Fassung des Gedichts erweist sich aber als ambivalenter als
116 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
die englische Version. Zwar gehört der Ich-Sprecher der Gruppe der Opfer
an, gleichwohl spricht das Gedicht die Sprache der Täter: Der deutsche
Kriegswille und das deutsche Land, für das die Eichen stellvertretend
stehen, werden zwar gehasst, doch gehört der Ich-Sprecher aufgrund der
gesprochenen Sprache zur ‚Kultur‘ der hier Adressierten. Wenn „Eichen“
(v. 23) auf „Leichen“ (v. 25) gereimt wird, markiert dies aber eine gravierende
Entfremdung von einem Land, das auf Leichen gebaut ist. Dass Kaléko mit
dieser heftigen Anklage 1958 nicht an die deutsche Öffentlichkeit gehen
konnte oder wollte, ist durchaus nachvollziehbar. Umso größere Bedeutung
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hat die englische Fassung, die belegt, dass dieses Gedicht, das Teil der
Schuld-Konstellation der deutschen Nachkriegslyrik ist, als Kommunikation
nach außen zu verstehen ist. Zwar wird Deutschland als Adressat im Titel
angerufen, doch richtet sich der Ich-Sprecher nur vermeintlich an die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
das sich gegen die Gewalt und die Schrecknisse des Dreißigjährigen Kriegs
erheben solle:
ZErbrich das schwere Joch / darunter du gebunden /
O Teutschland / wach doch auff / faß wider einen muht
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Gleichzeitig wird auch hier die Rache an den Feinden beschworen, wenn
die „glut“ mit „dem boͤsen blut“ der Feinde und „falschen bruͤder“ gelöscht
werden solle. Wenn man sich endlich gegen die Peiniger wehrt, so werde
Gerechtigkeit für Deutschland herrschen:
So laß nu alle forcht / vnd nicht die zeit, hinfahren /
vnd got wird aller welt / daß nichts dan schand und schmach
des feinds meynaid vnd stoltz gezeuget / offenbaren.
Das Zeugma verweist an dieser Stelle auf das rasche Handeln, das nötig
wäre, um Schuld und Schande von Deutschland abzuwenden. Insofern
mutet Kalékos Gedicht wie eine Antwort auf Weckherlin an: Hoffnung auf
Rückkehr in einen unschuldigen Zustand besteht nach 1945 nicht mehr; die
Schuld kann nicht mehr abgewendet werden.
In Kalékos Höre, Teutschland wird Zugehörigkeit mit den Mitteln der Li‐
teratur vorgeführt und verhandelt. Das Erkennen der intertextuellen Bezüge
ist kultur- und gruppenspezifisch: Der ‚deutsche‘ Adressat liest das Gedicht
als Anklage, das Ausland als Appell und der exilierte jüdische Adressat als
Absage an seine Zugehörigkeit. Und doch ist ‚Teutschland‘ Kalékos ‚Lehrer‘,
wenn auch ein ‚Lehrer des Hasses‘ – sie wird ihre Zugehörigkeit nicht los.
118 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Werner Bergengruen gehört nach 1945 zu den etablierten Autoren, die sofort
Publikationsmöglichkeiten erhalten. Mit seinen Gedichtbänden, Romanen
und Erzählungen wurde er einer der bekanntesten und erfolgreichsten
Autoren der Nachkriegszeit. Nach 1945 steigt die Auflagenzahl seines Werks
auf mehrere Millionen (vgl. B ÄNZIGER [1960] 1983, 27). Sein Gedichtband Die
heile Welt erreichte von 1950 bis 1962 sechs Auflagen. Dies mag heute, da
Bergengruens Texte in der Regel weder Schul- noch Universitätslektüre und
aus dem literarischen Kanon nahezu vollständig verschwunden sind, irritie‐
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wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien. Der Dichter, dem man
bestimmt keinen billigen Optimismus nachsagen könnte, […] vernahm[]
nichts als Lobgesang.“ (A DORNO [1964] 1971, 23 f.)
Bergengruen, der 1892 in Riga geboren wurde und mit seiner Familie
aufgrund der Russifizierung exilieren musste, ist im Kontext der Inneren
Emigration eine bedeutende Person. Er war weder NSDAP-Mitglied noch
aktiver Unterstützer des Regimes, dennoch blieb er in Deutschland. Zwar
wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, Publikationsver‐
bot erhält er jedoch nicht (vgl. B ERGENGRUEN 1966, 115; B ERGENGRUEN 2005,
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90). Dennoch schreibt er für die Krakauer Zeitung, die im von der Wehrmacht
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besetzten Polen klar auf Linie der NS-Ideologie war (vgl. O RŁOWSKI 1999,
90). In seinen autobiografischen Schriften, wie den zu Lebzeiten publizierten
Schreibtischerinnerungen (1961) oder dem Compendium Bergengruenianum,
wird seine geistige Ablehnung des NS-Regimes deutlich. Diesen autobiogra‐
fischen und tagebuchartigen Texten steht der Vorwurf gegenüber, dass sich
Bergengruen in seiner literarischen Produktion nach 1945 nur unzureichend
mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt und die Zeit zwischen 1933
und 1945 marginalisiert habe (vgl. C ZAPLA 2008, 56).
Während die Beschäftigung mit Zeitgeschichte in vielen Texten ostentativ
verweigert wird, setzt sich Bergengruen in seinem Gedichtband Dies Irae
dezidiert mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinander. Der
Band wird direkt nach Kriegsende publiziert und umfasst insgesamt 17
Gedichte. Laut der abschließenden Notiz entstanden die Texte „im Sommer
1944“ (B ERGENGRUEN 1945, 47). Für das Schlussgedicht, das den Titel An die
Völker der Erde trägt, kann dies jedoch nicht gelten – es muss nach dem
Ausgang des Zweiten Weltkrieg verfasst worden sein, da das Gedicht bereits
das Ende der zwölfjährigen NS-Herrschaft als Ausgangspunkt nimmt.
Während die ersten 16 Gedichte das Leiden, das Deutsche während des
Nationalsozialismus über andere gebracht haben, mitunter deutlich benen‐
nen (z. B. Die letzte Epiphanie), werden im Schlussgedicht Leid, Schrecken
und Gewalt verallgemeinert. Hans Bänziger, der 1960 eine erste Monografie
zu Leben und Werk Bergengruens vorlegt, erkennt die Problematik dieses
Gedichts, wenn er noch recht freundlich feststellt: An die Völker der Erde
konnte „im Nachkriegsdeutschland tatsächlich für Gegner Deutschlands
120 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
und Neutrale peinlich wirken“ (B ÄNZIGER [1960] 1983, 44). Max Frisch (1911–
91) bringt in seiner Rezension im Januar 1946 in der Schweizer Rundschau zu
diesem Gedicht nur die Frage heraus: „Geht das an?“ (F RISCH 1976, 308) Das
Problem dieses Gedichts liege „im Verhältnis zwischen Wort und Standort“
(F RISCH 1976, 309). Bergengruen hat als deutscher Dichter der Inneren Emi‐
gration – schon im Blick der Zeitgenossen – eine begrenzte Lizenz des Sag‐
baren. Während Nelly Sachs (1891–1970) in ihrem Band In den Wohnungen
des Todes (1947) das Leid des jüdischen Volks verallgemeinern und religiös
aufladen kann, ohne dass sich Rezensenten daran stoßen – möglicherweise
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Die ersten sieben Verse, die über die anaphorische Struktur miteinander
verbunden werden, pointieren die Kontinuität des Weltganzen. In zwölf
Jahren vollzog sich regelmäßig und unaufgeregt der Jahreszeitenwechsel,
Schwalben flogen nach Norden, der Winter wurde vom Sommer abgelöst
und „Kinder wuchsen heran“, während „Alte“ starben (v. 8). Gleichzeitig
stellt die Sprechinstanz direkt zu Beginn des Gedichts die mythische Be‐
deutung der Zahl Zwölf heraus: „Zwölf, du äußerste Zahl und Maß der
Vollkommenheiten, / Zahl der Reife, der heilig gesetzten! Vollendung der
Zeiten!“ (v. 1 f.) Die heilsgeschichtliche Perspektive, in die Bergengruen
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das Folgende eingliedert, wird somit in den ersten beiden Versen bereits
eingeführt. Es folgt die Aufgliederung der zwölf Jahre in Tage (v. 9) und
Stunden (v. 10). Dass die zwölf Jahre dabei eine Leidenszeit darstellen,
wird über die Hoffnung auf ein „Zeichen“ (v. 10) nahegelegt. Über die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Exclamatio erhält die Suche nach einem göttlichen Zeichen der Erlösung
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Völkern die göttliche Ordnung „entglitt“ (v. 21), stellt die Sprechinstanz die
Legitimation der Völker als Richter in Frage. Damit wären zwei Argumente
im Gedicht genannt, weswegen ‚die Völker der Erde‘ nicht über das Wir
gerecht richten könnten: (1) Man hat nicht das gesamte Ausmaß der Schre‐
cken gesehen, da sich das Meiste für die Weltbevölkerung im Versteckten
abspielte und (2) schließlich ist man selbst schuldig geworden, da man nicht
eingriff. Diese beiden Argumente werden nun weiter vor dem religiösen
Deutungsmuster ausgefaltet.
Die Sprechinstanz, die sich als Teil des kollektiven Wir positioniert, hebt
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deutsche Volk zum leidenden Volk stilisiert wird. Dabei wird auch die
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Entweihte“ klagt „Alle“ an (v. 46) – also auch die anderen „Völker der
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(B ERGENGRUEN 1945, 7)
Die religiöse Aufladung, mit der die Rede in An die Völker der Erde als mah‐
nende Predigt präsentiert wird, findet im Schlussvers über den Verweis auf
das Matthäusevangelium ihren Höhepunkt: „Völker, vernehmt mit uns allen
das göttliche: Metanoeite!“ (v. 48) Im Gedichtband stellt Bergengruen sicher,
dass die griechische Wendung auch von einer nicht sonderlich bibelfesten
Leserschaft verstanden wird. Denn am Ende findet sich eine Anmerkung:
„Zur Seite 43: Das griechische Wort Metanoeite ist der Predigt Johannes
des Täufers entnommen. Es bedeutet im kirchlichen Sprachgebrauch: Tut
Buße. Wörtlich übersetzt: Ändert euren Sinn.“ (B ERGENGRUEN 1945, 47) Im
Matthäusevangelium wird über Johannes den Täufer berichtet, wie er in
3. Schuldfragen 125
der Wüste seine Botschaft verkündet: „Kehrt um! Denn das Himmelreich
ist nahe.“ (Mt 3,2) Gemeint ist damit eine Aufforderung zum Sinneswandel.
Das Umkehren meint hier ein Umdenken. Metanoeite kommt im Matthäus‐
evangelium allerdings auch in einer Reich-Gottes-Verkündigung von Jesus
Christus vor. Direkt im Anschluss an eine abgewehrte Versuchung durch
den Teufel plädiert auch Christus, wie Johannes, für eine Umkehr. Hier meint
metanoeite ein Umdenken, das auf Verhaltensänderung im Angesicht der
drohenden teuflischen Verführung zielt (vgl. Mt 4,17). Auch Bergengruen
nutzt metanoeite in diesem doppelten Sinn.
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rung, dass die anderen Völker ihren Sinn umkehren und ebenso wie das
deutsche Volk Buße tun müssten, nicht ernsthaft an die Völker der Erde
adressiert sein. Vielmehr bietet Bergengruen hier eine camouflierte Adres‐
sierung: Das Gedicht ist zwar über den Titel an die Weltgemeinschaft
gerichtet. Da es aber ausschließlich in Deutschland und ausschließlich
auf Deutsch publiziert wird, scheint es vor allem eine Kommunikation
nach innen zu sein. Nicht die europäischen Nachbarn, die USA und die
Sowjetunion sind hier angesprochen, sondern die deutsche Leserschaft. Die
titelgebende Apostrophe verdeckt also die eigentlichen Adressaten.
Erst vor der Folie dieser Kommunikation nach innen ist zu erklären,
welche Funktionen mit der Verklärung des Nationalsozialismus als numi‐
nose, dämonische Macht verbunden sind. Bergengruens An die Völker der
Erde schreibt der unmittelbaren Vergangenheit einen Sinn zu, der von den
zeitgenössischen Leserinnen und Lesern dankend aufgenommen wurde. Das
unzweifelhaft erfahrene Leid der Deutschen wird im Kontext der Heilsge‐
schichte als Stellvertreterleid für alle anderen Nationen stilisiert, während
andere Bevölkerungsschichten und deren Verfolgung und Ermordung nicht
explizit erwähnt werden. Bergengruen stellt mit seinen deutlichen Bezügen
zur Heilsgeschichte den Deutschen gewissermaßen eine Belohnung in
Aussicht und suggeriert, dass sie sogar durch ihre Verfehlungen den anderen
Völkern überlegen seien. Das metanoeite gilt nicht den Deutschen, sondern
den Völkern der Erde. Diese Argumentation wurde in der poetologischen
Hinführung mit dem Hirtenbrief des Erzbischofs von Freiburg (1872–1948)
herausgearbeitet. Auch die Apologeten der Inneren Emigration – Thiess
126 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
äußerst attraktives Angebot, das aber im Zuge der politischen und gesell‐
schaftlichen Umwälzungen ethisch-moralisch zunehmend problematischer
wurde.
weil die Totengräber noch mit ihrer Arbeit beschäftigt sind, findet der
Ich-Erzähler noch einmal die Todesanzeige. Dabei hört er, wie die Maschinen
in der Stickstoff-Fabrik rattern und beobachtet, wie der Pfarrer hinkend
den Friedhof verlässt. In dieser Kurzgeschichte, die oftmals als Teil der
Kahlschlags- und Trümmerliteratur zitiert wird, wird ein existenzieller
Glaubensverlust ins Bild gesetzt, der auch den Verlust an Menschlichkeit
bedeutet. Formal umgesetzt wird dies über Parataxen, Alltagssprache und
zahlreiche Ellipsen (vgl. B AUER 1996, 61).
Die Aushandlung von Schuldfragen besitzt für Schnurres gesamtes Werk
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eine große Bedeutung (vgl. A DELHOEFER 1990, 4, 74). Dies ließe sich auch
auf persönliche Erlebnisse zurückführen. So wird er 1939 zur Wehrmacht
eingezogen, wobei er sich nach eigener Auskunft aktiv und kriegsbegeistert
zeigte (vgl. S CHNURRE 1991, 43). Erst in den späten Kriegsjahren beginnt
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Anspruch kann nur realisiert werden, wenn man die eigene Position des
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Sagbaren reflektiert: „Der deutsche Autor kann nach dem Krieg nur über
die Schattenseiten des Krieges und der Nachkriegsjahre berichten. […]
Historische Einsicht – um nicht Mitschuld sagen zu müssen – engt den
Blickwinkel ein, erlegt thematische Beschränkungen auf.“ (S CHNURRE 1993,
199)
In seinem ersten Gedichtband Kassiber (1956) bildet der Umgang mit
der Schuld das Zentrum der Gedichte. Allein in vier Gedichten werden die
Harpyien, geflügelte Chimären der griechischen Mythologie, aufgerufen.
Die Harpyien sind mit den Sturmwinden assoziiert und tragen die Toten in
den Tartaros. Sie stehen häufig für grausame Qualen, die man zu erleiden
hat; so auch in Androhung, wo der Ich-Sprecher „die unbegangenen Pfade /
ins Dickicht der Furcht“ gehen will, weil „die Harpyien“ sie gehen (S CHNURRE
1956, 51). Die Harpyien erscheinen im Band Kassiber als gerechte oder gar
göttliche Strafe für meist nicht näher konturierte Verfehlungen:
Gott hat
die Harpyie
zum Freund;
die schärft sich
die Krallen.
Schuld und Schuldige werden bei Schnurre aber nicht so explizit genannt,
wie in Kalékos Höre, Teutschland. Vielmehr nutzt Schnurre Konzepte der
3. Schuldfragen 129
Aber seine Bäume müssen andere sein als die, die in den Gedichten rauschten,
die vor Auschwitz entstanden. (S CHNURRE 1978, 456)
Denunziation
Mond,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Lästerer;
Mond:
5 Wir klagen dich an.
Du hast Spionage getrieben,
das Weiß deiner Hände, es lügt.
So weiß ist Chlor, so weiß ist Schnee;
Chlor, das auf Erschossene rieselt,
10 Schnee, der die Erfrorenen wärmt.
So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen;
Nebel, der ins Pesttal sich senkt,
Linnen, das die Ermordeten kühlt.
Mond,
15 Heuschreckenmünze der Männer,
Verhöhner;
Mond:
Du hast Spionage getrieben.
Dein Auftraggeber ist uns bekannt;
20 er wohnt jenseits der Liebe.
dem ersten und zweiten Vers hergestellt. Der Neologismus scheint ein
Oxymoron zu sein, das zwei gegensätzliche Begriffe verbindet. Während
die Milch gemeinhin mit Leben assoziiert wird, ist die Spinne häufig mit
Ängsten besetzt. Möglicherweise wird mit der Spinne auf Ovids Metamor‐
phosen und den Mythos um Arachne angespielt, was die Geschlechterzu‐
schreibung wiederum erklären könnte. Die begnadete Weberin Arachne
forderte Athene zum Wettkampf heraus, in dem sie die Göttin so sehr
brüskierte, dass sie sie schließlich in eine Spinne verwandelte. Arachne
wird für ihre Hybris bestraft, die Göttin herauszufordern (vgl. O VID 2003,
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Genauso könnte man die acht Augen der Spinne als gutes Bild für den Spion
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deuten; gleichzeitig sind Spinnen aber äußerst schlechte Seher, da sich ihre
Augen im Laufe der Evolution zurückentwickelt haben. ‚Milchspinne‘ kann
gleichfalls eine Katachrese sein, die ein gewisses Unheimlichkeitspotenzial
entfaltet: Wer will von einer Spinne gestillt werden? Ferner kann die ‚Milch‐
spinne‘ auch ein poetisches Bild für das Mondlicht über einer nächtlichen
Landschaft sein. Diese Assoziationsgruppen scheint Schnurre im Blick zu
haben, wenn er den Neologismus an zentraler Stelle seines Gedichts einsetzt.
Schnurre selbst hat auf diese poetologische Technik hingewiesen: „Absetzen.
Flüssig schreiben gilt für die Milchmädchenrechnung. Den Sprunggelenken
der Assoziationen vertrauen: Verbindungen finden, nicht suchen. […] Immer
wenn ich nachts schreibe, und ich schreibe immer nachts, das Gefühl, mich
mit zunehmender Unentschuldbarkeit an etwas Wesentlichem versündigt
zu haben.“ (S CHNURRE 1978, 53)
Besser aufzuschlüsseln ist die Farbe Weiß, die leitmotivisch das Gedicht
durchzieht. Dabei markiert die „Milchspinne“ (v. 2) bereits eine Aus- und
Umdeutung der Farbe Weiß, die im Mittelteil des Gedichts an mehreren
Beispielen exemplifiziert wird (vgl. v. 6–13). Im Gegensatz zur gängigen
Symbolik steht die Farbe nicht mehr für Unschuld, wie die Beschreibung
der weißen Mondhände nahelegt: „das Weiß deiner Hände, es lügt.“ (v. 7)
Dass dem Mond Hände gegeben werden, deutet die Handlungsfähigkeit des
Gestirns an: Der personifizierte Mond scheint nicht nur am Nachthimmel,
sondern er handelt. Über die weiße Farbe wird ferner eine Verbindung zu den
folgenden Versen hergestellt, die das Weiß als eine ‚Deckfarbe‘ konstruieren.
Die weißen Hände des Mondes werden mit Elementen verglichen, die auf
132 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
vergleichbare Weise Schrecken und Leid verdecken: „So weiß ist Chlor,
so weiß ist Schnee, / Chlor, das auf Erschossene rieselt, / Schnee, der die
Erfrorenen wärmt.“ (v. 8–10) Es wird eine Motivumkehr evoziert: Das Weiße
steht für Schuld – nur vordergründig halte es noch die unschuldige Fassade
aufrecht, eigentlich „lügt“ es (v. 7). Dies wird durch die Parallelkonstruktion
der Verse 11 bis 13 verstärkt: „So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen; /
Nebel, der ins Pesttal sich senkt, / Linnen, das die Ermordeten kühlt.“
Die weißen Gegenstände (Leinengewebe, Chlor) und die mit Weiß assozi‐
ierten Naturereignisse (Nebel, Schnee) verschleiern vielmehr das Grauen:
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Das Säuremittel Chlor soll die Erschossenen verdecken, genauso wie der
Schnee die Erfrorenen bedeckt. Auch der Nebel kaschiert die Schrecken, die
sich im „Pesttal“ (v. 12) abspielen und das Linnen – das Leinengewebe –
wärmt nicht die Toten, vielmehr kühlt sie das Leichentuch. Die Kälte, die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
hier über die verwendeten Wortfelder hergestellt wird, wird durch den
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zweiten Neologismus, der mit den ersten drei Versen einen Rahmen bildet,
abgeschlossen. Den Männern sei der Mond eine „Heuschreckenmünze“
(v. 15). Auch dieses Kompositum stellt einen Neologismus dar, der nicht
letztgültig aufgelöst werden kann. Zum einen verweist die Heuschrecke auf
die sieben biblischen Plagen und gilt dort als Symbol für Gefräßigkeit und
Zerstörung. Zum anderen wird auch in der Offenbarung des Johannes von
Heuschrecken gesprochen, die beim Aufruf der fünften Posaune aus einem
riesigen Abgrund auftauchen und die Menschen, die das Siegel Gottes nicht
auf der Stirn tragen, über Monate quälen. Verbunden wird die Heuschrecke
mit der Münze, die als Zeichen des Geldes und möglicherweise auch der
Käuflichkeit fungiert.
Der Mond wird in den Rahmungen jeweils negativ attribuiert und mit
Insekten (Heuschrecken) bzw. Spinnen assoziiert. Insofern erscheint der
Mond nicht mehr als Trost spendendes Objekt, wie es im Volkslied oder
in der romantischen Lyrik ein gängiges Motiv war. Obwohl der Mond
passiv bleibt, fungiert er doch als Projektionsfläche des Sprechers: Der Mond
behaupte nur noch Unschuld, in Wirklichkeit sei er aber schuldig geworden.
Diese Schuld ist nun jede Nacht am Firmament sichtbar.
In den beiden Schlussversen spricht der Wir-Sprecher den Mond auf die
‚Hintermänner‘ seiner Spionage an: „Dein Auftraggeber ist uns bekannt; /
er wohnt jenseits der Liebe.“ (v. 19 f.) Mit dieser überraschenden Wendung
erhält der Titel des Gedichts eine weitere Bedeutungsebene: Ist vielleicht
nicht der Mond der Denunziant, sondern der Wir-Sprecher? Wer ist eigent‐
lich der Auftraggeber des Mondes? Auch wenn das Gedicht selbst keine
3. Schuldfragen 133
Antwort auf diese Fragen bietet, so ließe sich mit Hans-Georg Kemper doch
argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich um eine Selbstanklage han‐
delt – nicht der Mond ist der Denunziant, sondern der zeitgenössische Leser,
der seine eigenen Verfehlungen vorgeführt bekommt: Die „‚Auftraggeber‘
der ‚Spionage‘ und Verursacher der ganzen Katastrophen sind ‚uns bekannt‘,
sind also ‚wir‘ selbst, die zeitgenössischen Adressaten des Gedichts, wenn
sie sich zu der schmerzlichen Einsicht bringen lassen, dass sie ‚jenseits der
Liebe‘ ‚wohnen‘. ‚Wir‘ projizieren unsere eigene Traumatisierung, unsere
unbewältigten Schreckenserfahrungen und Schuldgefühle auf die Natur“
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durchaus anfechtbar ist, ist es sich doch eine legitime und plausible Deutung.
Denn mit der pathetischen Schlusswendung, die nicht so recht zu dem
eher lakonischen Stil des Gedichts passt, wird ein Anderes und Verdrängtes
bezeichnet, das aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Man
kann argumentieren, dass Schnurre in Denunziation nicht den Mond als
Spion und Denunziant anklagt, sondern auf die schuldhaften Verstrickungen
der Deutschen im NS-Staat hinweist. Der Mond in diesem Gedicht wäre
dann ein radikal anderer Mond als in den Gedichten vor Auschwitz.
Die Auseinandersetzung mit der Schuldhaftigkeit seiner und der älteren
Generation hat Schnurre immer wieder umgetrieben. Dass dies nicht immer
einfach war, legt Schnurre in seinem autobiografischen Buch Der Schatten‐
fotograf (1978) nahe: „Schließlich, sechseinhalb Jahre lang (als Hitler-Soldat)
auf der falschen Seite gestanden zu haben, ist, wenn man den Verzweif‐
lungsmut hat, es sich einzugestehen, eine Erkenntnis, mit der zu leben,
gar: zu schreiben nicht ganz einfach ist.“ (S CHNURRE 1978, 368) Das Gedicht
Denunziation zielt auf das Nicht-Vergessen, wobei für Schnurre aber auch
diejenigen, die sich im Nachkriegsdeutschland als vermeintlich schuldlos
darstellten, schuldig geworden waren: „Es gibt keine ‚Innere Emigration‘,
auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird
schuldig.“ (S CHNURRE 1964, 49)
134 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
4. Trauma
1999, 175; F REUD 2000, III, 223) erleiden. Durch dieses „Hereinreichen der
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„Dein vom Wachen stößiger Traum.“ (C ELAN 1986, II, 24) Dieser Traum
erweist sich in der Folge als Handlungsträger, der in Gestalt eines Widders
bzw. eines ähnlichen Wesens mit seinem Horn einen „letzte[n] Stoß“ (C E‐
LAN 1986, II, 24) ausführt. Dieser Stoß, der sich als Reaktualisierung der
traumatischen Erfahrung lesen lässt, wird anschließend in das Bild einer sich
senkrecht bewegenden Fähre transponiert: Indem sie in der „senk- / rechten,
schmalen / Tagschlucht nach oben“ stakt, setzt sie „Wundgelesenes über“
(C ELAN 1986, II, 24). Dabei wirkt das ‚Wundgelesene‘ wie eine „Konzentration
früherer Versehrungen, die von der Fähre ans Licht geholt werden und
dort die Gestalt eines Gedichts annehmen“ (B OYKEN /I MMER 2016, 8). In
dieser Deutung gewinnt die Vertikalbewegung vom Innen zum Außen eine
poetologische Qualität: Das Gedicht konturiert den – durchaus mühsamen –
Übergang von der Vorsprachlichkeit der traumatischen Erfahrung zu ihrer
sprachlichen Ausformung im Gedicht.
Eines der zentralen Traumata, das in der deutschsprachigen Nachkriegs‐
lyrik behandelt wird, bildet die Shoah. Dabei lässt sich einerseits beobachten,
wie sich zunehmend „Vermeidungsstrategien […] im sprachlichen Umgang
mit der Shoah“ (A UEROCHS 2013, 1039) auszuprägen beginnen. Gegenüber
dieser Tendenz zur Tabuisierung verteidigt andererseits Celan die Position,
dass die Shoah aufgrund ihrer Inkommensurabilität als menschheitsge‐
schichtliche Zäsur begriffen werden müsse und daher alle nachfolgende
Dichtung von dieser Zäsur betroffen sei. In seiner am 26. Januar 1958
gehaltenen Bremer Literaturpreisrede hat Celan die poetologischen Konse‐
quenzen dieser Überlegung formuliert:
4. Trauma 137
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurch‐
gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares
Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.
Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie
ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten,
„angereichert“ von all dem. (C ELAN 1986, III, 185 f.)
Celan führt aus, dass sich die Sprache nach der Konfrontation mit ihren
„Antwortlosigkeiten“, mit ihrem „Verstummen“ und mit „tausend Finster‐
nisse[n]“ entscheidend verändert habe. Sie könne im Grunde nicht mehr
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Was Holthusen und Kemp anführen, ist im Grunde eine Aufzählung der
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Dass sich vor den Augen der Betroffenen geradezu apokalyptische Bild‐
welten entfalten können, hat Peter Huchel (1903–81) mit seinem Gedicht
Chausseen (1950) demonstriert, das sich als „Versuch“ lesen lässt, „das
[Kriegs-]Trauma sprachlich zu erfassen“ (L AMPING 2008, 35). In der zweiten
Strophe wird die Kriegswirklichkeit nahezu expressionistisch konturiert:
Nächte mit Lungen voll Rauch,
Mit hartem Atem der Fliehenden,
Wenn Schüsse
Auf die Dämmerung schlugen.
Aus zerbrochenem Tor
Trat lautlos Asche und Wind,
Ein Feuer,
Das mürrisch das Dunkel kaute.
Nelly (Leonie) Sachs wird am 10. Dezember 1891 in Berlin als einziges Kind
einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. Bereits in ihrer Jugend beginnt
sie, erste Gedichte und Erzählungen zu schreiben, bleibt jedoch zunächst
konventionalisierten literarischen Formen verpflichtet (vgl. T ÖLLER 1998,
134). Nach ihrer begeisterten Lektüre von Selma Lagerlöfs (1858–1940)
Debütroman Gösta Berling (1891) beginnt sie einen Briefwechsel mit der
4. Trauma 141
nach D INESEN 1994, 9). Diese „Tragik“ verweist zurück auf die einschneidende
Erfahrung einer unglücklichen Liebe zu einem nichtjüdischen Mann, die
Sachs im 17. Lebensjahr machen muss. Das Erlebnis mündet in eine „lange
Krise“ (H OLMQVIST 1977, 27) und avanciert gleichsam zu ihrem „Urtrauma“
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
mit der Moderne“ (B AHR 1980, 193), sondern gestattet es ihr auch, eigene
Erfahrungen wie die des „Außer-Raum-geschleudert-[S]ein[s]“ (zit. nach
F IORETOS 2010, 134) in den übersetzten Texten wiederzuerkennen.
Die Auseinandersetzung mit der modernen Lyrik beeinflusst ihre eigene
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
kennengelernt hatte. Bald darauf schreibt ihr Paul Celan (1920–70) über den
neuen Gedichtband: „er steht, mit den beiden anderen, neben den wahrsten
Büchern in meiner Bibliothek“ (C ELAN /S ACHS 1996, 10). Zunehmend erhält
Sachs Gelegenheit, ihre Dichtungen in Zeitschriften wie Sinn und Form,
Akzente und Merkur zu publizieren. Im gleichen Jahr, in dem ihre nächste
Sammlung Flucht und Verwandlung (1959) erscheint, veröffentlicht Hans
Magnus Enzensberger (*1929) seinen Artikel Die Steine der Freiheit. Mit
Bezug auf die Dichtungen von Nelly Sachs wendet er sich darin gegen
Adornos sogenanntes ‚Lyrik-Verbot‘ (vgl. L AMPING 1991, 237–255):
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Ihrer [d. h. Nelly Sachs’] Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht,
gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache.
Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. […] Die Gedichte sprechen von
dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. […] Die Erlösung der Sprache
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
aus ihrer Verzauberung steht bei denen, die In den Wohnungen des Todes waren.
(zit. nach K IEDAISCH 1995, 73)
Nach der Publikation von Flucht und Verwandlung wird die Dichterin
„schlagartig in Deutschland bekannt“ (B RAUN 1998, 39). 1960 wird ihr der
Meersburger Droste-Preis, 1965 der Friedenspreis des Deutschen Buchhan‐
dels und am 10. Dezember 1966 der Literaturnobelpreis (zusammen mit
Samuel Joseph Agnon [1888–1970]) verliehen. Im Zuge ihrer Reise nach
Meersburg trifft sie in Zürich auf Celan, der ihre denkwürdige Begegnung in
seinem Gedicht Zürich, Zum Storchen festhält (vgl. A UEROCHS 2006, 66–72).
Aufgrund eines zunehmenden psychischen Leidens muss Sachs zu Beginn
der 1960er Jahre längere Zeit in einer Nervenheilanstalt in Stockholm
verbringen. Danach veröffentlicht sie die Gedichtbände Glühende Rätsel
(1964) und Landschaft aus Schreien (1966). Nach ihrem Tod am 12. Mai 1970
erscheint die postume Sammlung Teile dich Nacht (1971), die ihr lyrisches
Spätwerk enthält.
Auch wenn Nelly Sachs gegenüber der Schriftstellerin Elisabeth Borchers
(1926–2013) im Herbst 1959 behauptet hat, „kein literarischer Mensch“,
ja „[n]iemals eine Dichterin“ (S ACHS 1984, 231) gewesen zu sein, belegen
insbesondere ihre Briefe, wie intensiv sie die poetologischen Grundlagen
ihrer Lyrik reflektiert. So hatte sie bereits zehn Jahre zuvor an Gudrun
Dähnert (1907–76) geschrieben: „Wir können einfach nicht mehr die al‐
ten verbrauchten Stilmittel anwenden. In keiner Kunst ist das möglich.“
(S ACHS 1984, 110) Zu dieser Einsicht war Sachs auch im Zusammenhang
mit der Übersetzung schwedischer Lyrik gelangt: „Sie wußte, daß sie aus
144 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
„Hätte ich nicht schreiben können, hätte ich nicht überlebt.“ (H OLMQVIST
1977, 28) Somit erweist sich die Dichtung einerseits als Medium zur Bewäl‐
tigung persönlicher Leiderfahrungen, andererseits besitzt sie ebenso die
Funktion, „den unwiderruflich Verstummten“ (ebd., 14) eine Stimme zu
geben. In der Verschränkung von individueller und kollektiver Perspektive
wird das Trauma als eigentliche Konstante im lyrischen Werk von Sachs
kenntlich (vgl. F IORETOS 2014, 18).
In diesem Zusammenhang hat Sachs ein dichterisches Verfahren skizziert,
das sich als ‚Poetik der Durchschmerzung‘ charakterisieren lässt. Anfang
des Jahres 1959 greift sie brieflich den Gedanken auf, dass der „Rilkezeit“
mit ihren überladenen Versen inzwischen eine junge Dichtergeneration
mit ihrer „kühnen, nackten Linie“ (S ACHS 1984, 199) entgegengetreten sei.
Sachs betont zwar, dass sie sich mit diesen jungen Dichtern „in ihrer
Bemühung, der Ehrlichkeit und dem Ernst der Aussage verwandt fühle“,
setzt jedoch relativierend hinzu, dass ihre dichterische Bewegung der
„schmerzgekrümmte[n] Laokoon-Linie“ (S ACHS 1984, 199) folge. Wie der
römische Dichter Vergil in seiner Aeneis überliefert, war Laokoon ein
trojanischer Priester, der zusammen mit seinen Söhnen von zwei Schlangen
getötet wurde. Seit der Wiederentdeckung der griechischen Laokoon-Plas‐
tik gilt er als Repräsentant einer eminenten menschlichen Leiderfahrung.
Indem Nelly Sachs ihre quälenden Erlebnisse mit dem Schicksal Laokoons
in Beziehung setzt, prägt sie den Neologismus der „Durchschmerzung“:
„Ich glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes
als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten.“ (S ACHS 1984, 181) In einer
4. Trauma 145
stimmen. Die offene Metapher des „Staubes“, die Sachs zunächst gebraucht,
legt es außerdem nahe, den Referenzhorizont noch zu erweitern: Während
in der „Durchschmerzung“ die Erinnerung an die traumatische Erfahrung
der Judenvernichtung zum Ausdruck kommt, erscheint die „Durchseelung“
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
fassbar zu machen. Diese Doppelung klingt noch an, wenn Sachs gegenüber
Celan bekundet, dass beide über den „Meridian des Schmerzes und des
Trostes“ (C ELAN /S ACHS 1996, 25) miteinander verbunden seien.
Mit dem Gedicht O die Schornsteine … eröffnet Sachs ihre erste Lyrik‐
sammlung, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert. Das
Gedicht leitet zugleich in den Zyklus Dein Leib im Rauch durch die Luft ein,
der in den Jahren 1945/46 entsteht und aus dem einige Texte am 12. Mai 1946
auf einer Veranstaltung des Freien Deutschen Kulturbunds in Stockholm
vorgetragen werden (vgl. S ACHS 2010/11, I, 232). Nach längerer Suche erklärt
sich der Ostberliner Aufbau-Verlag dank einer Empfehlung Johannes R.
Bechers (1891–1958) bereit, den Gedichtband zu drucken, der im Frühjahr
1947 in einer Auflage von 20.000 Exemplaren und mit elf Zeichnungen von
Rudi Stern erscheint. Die Sammlung enthält 50 Gedichte, die Sachs in vier
Zyklen gegliedert hat: Dein Leib im Rauch durch die Luft (13), Gebete für den
toten Bräutigam (10), Grabschriften in die Luft geschrieben (13) und Chöre
nach Mitternacht (14). Im ersten Zyklus liegt der thematische Fokus auf dem
Massenmord an den Juden: „die Ermordung in den Konzentrationslagern
(A1), Hitler (A10), die Gesellschaft (A12), die Täter (A3, A4, A5, A8), die
Opfer (A5, A6, A9), die Trauer und das Leid (A2, A13) und – trotz allem –
die Hoffnung (A7 und A11)“ (O RTH 2016, 69).
Auch wenn die öffentlichen Reaktionen auf den ersten Gedichtband
überschaubar bleiben, avanciert O die Schornsteine … spätestens in den
1960er Jahren zum „meistanthologisierte[n] Gedicht von Sachs“ (S ACHS
2010/11, I, 210). Dem Gedicht ist ein Motto aus dem alttestamentarischen
146 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Susmans (1872–1966) Schrift Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen
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Volkes (1946) zu berücksichtigen, über das sich Sachs 1960 mit Celan in
Zürich austauschen wird (vgl. F IORETOS 2010, 222). In der Einleitung zu
ihrer Schrift hatte Susman mit Blick auf die „Weltkatastrophe“ der Juden‐
vernichtung geschrieben: „Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes
Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus
den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz.“ (S USMAN 1996, 23) Zum
anderen ist es denkbar, dass sich Sachs an Martin Bubers (1878–1965) Schrift
Die Legende des Baalschem (1908) und der darin entfalteten Mystik des Opfers
orientiert hat (vgl. K IEFER 1998, 313 f.).
„Und wenn diese, meine Haut zerschlagen sein wird, so
werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen“ (Hiob)
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
5 Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?
O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
10 Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?
4. Trauma 147
O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
20 Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!
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Sachs hat das Gedicht O die Schornsteine … als einen Klagegesang gestaltet,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
der in vier Strophen gegliedert ist, die jeweils mit der elegischen Apostrophe
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nationalsozialistischen Terrors.
Obwohl die Schornsteine nicht von den „Wohnungen des Todes“ zu
trennen sind, werden sie in der zweiten Strophe zu „Freiheitswege[n]“ (v. 9)
stilisiert. Aber von welcher Freiheit kann hier die Rede sein, wenn nur
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
„Flüchtlinge aus Rauch“ (v. 11) diesen Weg passieren? Möglicherweise ist
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Worte, so dass die dritte Strophe mit einem Anakoluth endet. Durch den
Verzicht auf Verben in der letzten Strophe wird die Rede elliptisch zu einer
Klage über die Ermordung von „Israels Leib“ (v. 20) verdichtet, die durch die
wiederholte „O“-Apostrophe an Beschwörungskraft gewinnt.
Aufgrund der pathetischen Färbung dieser Klagerede hat Aris Fioretos
die Frage gestellt, ob es sich bei diesem Gedicht nicht um „Holocaustkitsch“
(F IORETOS 2010, 147) handele:
Deutet die Parallele zu den Propheten nicht an, daß die Vernichtung eine Prüfung
war, für die es nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Rechtfertigung
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gab? Und was macht man mit dem Schornstein? Ist das Hauptsymbol des
Gedichts nicht bedrückend überdeutlich? […] Vor allem: Was macht man mit dem
Gedanken, daß industriell ermordete Gefangene „Flüchtlinge aus Rauch“ sind –
als wäre der Tod kein grauenhaftes Unrecht, sondern eine sich selbst erfüllende
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
die Bedeutung der Wohnungen des Todes betonen: „Fahrt ins Staublose muß
mit den Wohnungen beginnen und ihre Bahn durchschmerzen“ (S ACHS 1984,
272).
Stephan Hermlins (1915–97) Gedicht Die Asche von Birkenau entsteht nicht
nur im gleichen Jahr (1949), in dem Theodor W. Adorno seinen Essay
Kulturkritik und Gesellschaft verfasst, sondern wird auch im gleichen Jahr
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1941 errichtet und am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.
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Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie der Künste
und Mitglied des Pen-Clubs“ (L ERMEN /L OEWEN 1987, 159). Zugleich häufen sich
die Preise, mit denen Hermlin für sein dichterisches Werk ausgezeichnet wird;
so erhält er beispielsweise 1947 den Berliner Fontanepreis für seine erweiterte
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
gleichen Jahr hält Hermlin die Rede Wo bleibt die junge Dichtung? auf dem
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Entsinnedich …
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Das Gedicht gliedert sich in fünf Strophen, die jeweils aus zwölf kreuz‐
gereimten Versen bestehen. Eine einzige Ausnahme findet sich in der
vierten Strophe, in der das Reimschema an einer Stelle durchbrochen ist
(„angreift“ / „Sonnen“, v. 41, 43). Die drei- und vierhebigen Verse weisen
keine einheitliche metrische Form auf. Die in unregelmäßigem Wechsel
trochäisch, jambisch und bisweilen daktylisch gestalteten Verse enthalten
zahlreiche freie Füllungen.
Die erste Strophe des Gedichts besteht aus einer einzigen hypotaktischen
Satzkonstruktion, die mit einer Reihung mehrerer Vergleiche einsetzt.
Diesen Vergleichen kommt die Funktion zu, eine spezifische Gewichtslo‐
sigkeit bildhaft zu veranschaulichen. Referieren diese Analogiebildungen
zunächst auf den Gegenstandsbereich der Natur („Wind“, „Schwalbenbahn“,
„Gewölk“, „Pollen“, v. 1–4), ist bereits im fünften Vers von anonymen
„Toten“ die Rede. Die Fokussierung auf die menschliche Vergänglichkeit
findet ihre Fortsetzung, wenn im Anschluss jene Speise thematisiert wird,
die „die Kranken essen, / Wenn sie am Sterben sind“ (v. 9 f.). Diese Pa‐
rallelisierung von Vergleichsbildern aus unterschiedlichen semantischen
Bereichen erzeugt den Eindruck einer assoziativen Reihung, die aufgrund
ihrer quantitativen Ausdehnung die Spannungssteigerung befördert. Erst
am Ende der ersten Strophe wird kenntlich, dass es darum geht, primär
die Leichtigkeit und sekundär die Nicht-Verhinderbarkeit des Vergessens
zu konturieren. Indem mit der „Kühle“ und dem „Wind“ (v. 12) auf den
4. Trauma 155
dem Erinnerungszeichen der ‚Totenasche‘ (v. 15), die noch immer in der
Atmosphäre präsent ist und von der Gegenwart der ermordeten Opfer zeugt.
Über die auffällige Homophonie „Gerechten, Ungerächten“ (v. 15) wird
explizit das Rachemotiv und implizit die Schuld der Täter angesprochen, die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
wird das Motiv der Totenasche aus der zweiten Strophe erneut aufgegriffen.
Darüber hinaus erstreckt sich das Gedenken auch auf jene Opfer, die „man
ins Gas sandte“ (v. 31). Das Ausmaß dieser Vernichtung wird anhand der
abrupten Tilgung menschlicher Lebenspotenziale kenntlich gemacht: Die
Ermordeten „Waren des Lebens voll / Liebten die Dämmerung, die Liebe, /
Den Drosselschlag, waren jung“ (v. 32–34). Dieser einschneidende Verlust
verdeutlicht, warum das Erinnern als derart schwer eingestuft wird: Das
Gedenken löst nicht nur Schmerz und Trauer aus, sondern bringt auch die –
freilich im Gedicht nicht ausdrücklich artikulierte – Erfahrung mit sich, dass
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derjenigen, „die sich entsinnen“ (v. 37), stetig vergrößere. Der intersubjek‐
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tive Blick auf die jüngste Vergangenheit geht mit einer Reflexion über die
Schuldverhältnisse einher. Den Tätern wird in Aussicht gestellt, dass sie für
ihre Verbrechen haften müssen: „Kein Mörder wird entrinnen, / Kein Nebel
fällt um ihn her.“ (v. 39 f.) Der optimistische Absolutheitsanspruch, aller
Täter habhaft zu werden, wird in eine allgemeine anthropologische Maxime
von gerechter Koexistenz überführt: „Wo er den Menschen angreift, / Da
wird er gestellt.“ (v. 41 f.) Zwar ließe sich das Personalpronomen „er“
grammatisch auch auf den zuvor genannten „Nebel“ beziehen. Da jedoch
ausdrücklich vom ‚Angreifen‘ die Rede ist, erscheint es plausibler, eine
Relation zu den „Mörder[n]“ herzustellen, deren Vergehen nicht ungesühnt
bleiben. Die thematische Zäsur, die im Anschluss erfolgt, wird durch die
fehlende Reimbindung „angreift“ / „Sonnen“ (v. 41, 43) noch verstärkt.
Während die Asche der Ermordeten einerseits auf die genannten „Mörder“
zurückverweist, avanciert sie andererseits zu einer „Saat“ (v. 44), die sich
über die gesamte Welt zu verteilen beginnt. Indem sie „Allen, Alten und
Jungen, / […] zum Wurf gereicht“ (v. 45 f.) wird, gewinnt die Asche die
Qualität eines universalen Erinnerungssymbols. Zugleich alludiert das Dar‐
bieten der Asche „zum Wurf“ den Gestus des Erdewerfens bei Beerdigungen.
In der nachgestellten Erläuterung, in der das eigentümliche Gewicht der
Asche zur Sprache kommt, werden erste und dritte Strophe synthetisiert:
„Schwer wie Erinnerungen / Und wie Vergessen leicht.“ (v. 47 f.)
Mit dem typographisch hervorgehobenen Signalwort „Frieden“ (v. 49),
das die abschließende fünfte Strophe einleitet, wird ein optimistischer
Ausblick auf die Zukunft geboten. Der Friedenswunsch wird von einer
4. Trauma 157
Gemeinschaft artikuliert, die sich aktiv für die Realisierung dieses Ziels
einsetzt: indem sie ihn „millionenfach“ (v. 50) und folglich mit höchster
Dringlichkeit einfordert; indem sie die alten „Herren verjag[t]“ (v. 51) und
Raum für eine menschliche Nachkriegsordnung schafft; und indem sie sich
nachdrücklich dem Leben zuwendet und „dem Tode Schach“ (v. 52) bietet.
Angesichts dieser Aussicht kann den Bildern der Vergänglichkeit aus der
zweiten Strophe nun ein Bild der Vitalität entgegengesetzt werden: „Die
an die Hoffnung glauben, / Sehen die Birken grün“ (v. 53 f.). Über das
im gleichen Satz genannte Motiv der fliegenden Tauben wird eine semanti‐
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ein: Das „Lied des Todes“, das das Gedicht ‚hörbar‘ gemacht hat, ist zwar
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inzwischen „verklungen“, gleiche aber nun „jäh dem Leben“ (v. 57 f.). Diese
Überlagerung von Mortalität und Vitalität, die im bildlichen Nebeneinander
von mahnender Asche und grünenden Birken zur Geltung kommt, erzeugt
die Vorstellung einer Kopräsenz von Vergangenheit und Zukunft. Über
die „Figur der wiederholenden Wiederkehr“ (L ERMEN /L OEWEN 1987, 188)
werden die Schlussverse der vierten Strophe erneut aufgerufen, in denen
eine Warnung anklingt: Während es ausgesprochen schwer bleibe, die
Erinnerung an die Getöteten zu bewahren, sei es verführerisch leicht, sich
künftig dem Vergessen hinzugeben. Die Hoffnung auf den Frieden, den die
Taube symbolisch anzeigt, muss daher mit der Verpflichtung einhergehen,
das Andenken an die Opfer von Auschwitz lebendig zu erhalten. Ein Jahr
nach dem Erstdruck hat Hermlin das Gedicht Terzinen gemeinsam mit Die
Asche von Birkenau unter dem Titel Erinnerungen zu Beginn seiner dritten
Gedichtsammlung abgedruckt (H ERMLIN 1952, 5–11). Diese Sammlung, auf
deren Umschlag eine Taube abgebildet ist, trägt bezeichnenderweise den
Titel Der Flug der Taube.
getauft wird, erhält sie den Roma-Namen Ceija (‚Mädchen‘; R AHE 2019,
233). Sie gehört zum Stamm der Lovara, der traditionell vom Pferdehandel
lebt. Nach dem ‚Anschluss‘ von Österreich im März 1938 beginnen sich die
Lebensumstände für die Familie zusehends zu verschlechtern. Nachdem den
Roma-Kindern ab Mai 1938 der Schulbesuch verboten worden ist, untersagt
man den Roma durch den sogenannten Festsetzungserlass gut ein Jahr
später, ihren Aufenthaltsort zu verlassen (vgl. R AHE 2019, 234). 1941 wird
Stojkas Vater von der Gestapo verhaftet und nach Dachau gebracht; erst
2003 erfährt sie, dass er „1942 von Dachau in die Euthanasieanstalt Hartheim
deportiert wurde und dort der Tötungsaktion T4 zum Opfer fiel“ (S TOJKA
2008, 128). Am 31. März 1943 werden Stojka, ihre Mutter und ihre Geschwis‐
ter verhaftet und bald darauf ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
gebracht. Über ihre dortige Ankunft schreibt Stojka aus der Erinnerung: „So
sind wir angekommen in Auschwitz-Birkenau. Ein verfluchtes Stück Erde,
ein gottvergessenes Stück Erde. An einem Tag haben sie dort sechstausend
Menschen ermordet.“ (S TOJKA 2008, 22) Am Tag nach der Ankunft werden
ihr „der Name genommen“ und die Gefangenennummer ‚Z 6399‘ (‚Z‘ für
‚Zigeuner‘) zugewiesen: „Auschwitz war die Hölle. Wir sahen jeden Tag
Menschen sterben, kleine Kinder, Säuglinge, alte Menschen.“ (S TOJKA 2008,
24) Den Torturen des Lageralltags mit „Appellstehen, Hunger und Gewalt
durch die SS“ (R AHE 2019, 237) ist die damals neun- bzw. zehnjährige Stojka
ca. 17 Monate ausgesetzt. Kurz bevor die in Auschwitz verbliebenen 3.000
Sinti und Roma in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 in den Gaskammern
ermordet werden, erfolgt die Überstellung von Stojka, ihrer Mutter und
4. Trauma 159
ihrer Tante ins Frauenlager Ravensbrück. In den fünf Monaten, die sie
dort durchleben muss, entgeht sie nur knapp einer Zwangssterilisierung
(S TOJKA [1988] 1995, 52). Gemeinsam mit ihrer Mutter gelangt sie im Januar
1945 in das Vernichtungslager Bergen-Belsen, wo sie unter katastrophalen
Bedingungen mehrere Monate zubringen muss, bis das Lager am 15. April
1945 von den britischen Truppen befreit wird. Thomas Rahe hat bilanziert,
dass „von den etwa 200 Mitgliedern der Großfamilie […] neben Ceija, ihrer
Mutter und ihren vier Geschwistern nur einige wenige Angehörige die
NS-Verfolgung überlebt“ (R AHE 2019, 238) haben. In ihrer autobiografischen
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Schrift Reisende auf dieser Welt schildert Stojka den Verlauf ihres weiteren
Lebens nach der Befreiung. Während das österreichische Innenministerium
Ende der 1940er Jahre schon wieder gegen vermeintlich „lästige Zigeuner“
(zit. nach S TOJKA [1988] 1995, 12) vorzugehen beginnt, ist Stojka nicht zuletzt
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hat Stojka die Frage nach ihren lyrischen Vorbildern weitgehend abgewie‐
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sen: „Alles, was ich schreibe, schreibe ich für mich, alles, was mir gefällt, was
mir einfällt.“ (S TOJKA 2003, 8) Mit Verweis auf Stojkas fehlende Schulbildung
hat Susan Tebbutt kenntlich gemacht, dass Stojka kaum „in a particular
literary tradition“ (T EBBUTT 2005, 48) zu sehen sei. Gleichwohl zeuge ihre
Lyriksammlung Meine Wahl zu schreiben von einem originären künstleri‐
schen Gestaltungsbewusstsein. Das belegt vor allem die Kombination aus
den mehrheitlich zweisprachigen (deutsch/romanes) Gedichten und Stojkas
Gemälden und Zeichnungen, auf denen mitunter die Ursprungsfassungen
der Gedichte notiert sind (vgl. z. B. Das was wir suchen …; S TOJKA 2003, 20 f.).
Die Gedichte selbst sind von Gerald Kurdoğlu Nitsche, dem Herausgeber der
Lyriksammlung, vor der Drucklegung lektoriert und „rektifizier[t]“ (S TOJKA
2003, 10) – d. h. ‚berichtigt‘ – worden.
Wie noch zu zeigen ist, steht das Gedicht Auschwitz 1944 in enger thema‐
tischer Beziehung mit dem Folgegedicht Stacheldraht … (S TOJKA 2003, 17; vgl.
K ANNING 2016, 112). Gleichwohl bildet es mit diesem keine formale Einheit,
wie Tebbutt angenommen hat (vgl. T EBBUTT 2005, 48, 60). Es ist denkbar,
dass Stojka mit der Jahresanzeige des Titels an die Massenvernichtung der
Sinti und Roma in Auschwitz Anfang August 1944 erinnert. In Wir leben im
Verborgenen schreibt sie über die Vorbereitung dieses Verbrechens:
Es war ganz fürchterlich, die Kinder schrien und auch die Kranken, wir hatten
alle große Angst. […] Unsere Mama sagte zu uns: „Agana awillas o zeito, igren
ame anen dumaro.“ (Jetzt ist es soweit, ihr müßt mir alle die Hand geben und
4. Trauma 161
euch an meinem Rock festhalten.) […] Wir marschierten zum Krematorium. Der
Boden unter unseren Füßen war sehr heiß und schwarz, Menschenstaub. (S TOJKA
[1988] 1995, 30 f.)
Auschwitz 1944
5 Nicht verlieren
Vorbei ist es bald
Ihr werdet sehen
Und drüben ist es schön
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Stojkas Gedicht, das aus sechzehn Kurzversen besteht, die der Alltagsspra‐
che angenähert sind, enthält – vom Titel abgesehen – keine zeitlichen und
räumlichen Konkretisierungen. Ein Kollektivsprecher, der eingangs über
das „Wir“ (v. 2) markiert wird, gibt sich als ein Elternteil zu erkennen,
das um seine „Kinder“ (v. 4) besorgt ist. Seine Rede vom „Gedränge“ (v. 1)
lässt an eine große Menschenmenge denken, der offenbar auch zahlreiche
Eltern oder Elternteile angehören, die wiederum auf ihre Kinder achtgeben.
Ihre Fürsorge kommt in dem anschließenden Appell zum Ausdruck: „Doch
dürfen wir / Unsre Kinder / Nicht verlieren“ (v. 3–5). Darüber hinaus sind
sie darum bemüht, ihren Nachkommen Hoffnung zu machen: „Vorbei ist
es bald“ (v. 6). Auch wenn unausgesprochen bleibt, worauf sich das „es“
bezieht, lässt sich mit Rekurs auf den Titel erschließen, dass damit die
qualvollen Lebensumstände im Vernichtungslager Auschwitz indirekt zur
Sprache kommen. Angesichts dieser Situierung wirkt der Ausblick auf eine
gleichsam paradiesische Zukunft eher wie eine utopische Hoffnung: „Ihr
162 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
werdet sehen / Und drüben ist es schön“ (v. 7 f.). Dass jenes „drüben“ als
euphemistische Anspielung auf den Bereich des Todes zu verstehen ist,
verdeutlicht der zweite Teil des Gedichts.
Das Signalwort „Schornstein“ (v. 12) verweist metonymisch auf die
Krematorien und symbolisch auf die Verbrennung der gefangenen Lagerin‐
sassen. Das Temporaladverb „Nun“ (v. 9) markiert eine zeitliche Sukzession:
Nachdem die Sprecherfigur zunächst ihre Kinder beschützt und ihnen
eine harmonische Zukunft angekündigt hat, ist sie gemeinsam mit ihren
Nachkommen am erhofften Ziel angekommen. Während in der Aussage
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„Wir haben es geschafft“ (v. 10) die Erleichterung darüber anklingt, Ausch‐
witz endlich entflohen zu sein, legt ihre räumliche Position nahe, dass die
Familie nicht mehr am Leben ist. Denn die Sprecherfigur, die sich „auf dem
Schornstein“ (Hervorhebung nicht im Original, v. 12) niedergelassen hat,
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kann dort nur durch den Schornstein hingelangt sein. Die neue Existenzform
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bietet den Getöteten die Möglichkeit, das Geschehen gleichsam aus der Vo‐
gelperspektive zu beobachten. Anteilnehmend schauen sie auf jene „Armen
[herab] / Die sich noch durch das Leben plagen / Und zu uns Arme Seelen
sagen“ (v. 14–16). Der veränderte Blickpunkt führt zur Umkehrung der
Wahrnehmung: Nicht mehr die Toten sind die „Arme[n] Seelen“, sondern
diejenigen, die noch immer in Auschwitz ausharren müssen. Wie im Falle
von Nelly Sachs’ Gedicht O die Schornsteine … bleibt auch hier anzumerken,
dass der Gewaltakt, Menschen im Krematorium zu vernichten, zu einer
Fluchthoffnung verklärt wird.
Wird Stojkas Gedicht Auschwitz 1944 nun in Verbindung mit dem Fol‐
gegedicht Stacheldraht gelesen, kann festgehalten werden, dass sich „die
Perspektiven des erinnernden Kollektivs der erwachsenen Überlebenden,
die im Lager Kinder waren, mit den imaginierten Blicken der ermordeten
Eltern“ (K ANNING 2016, 112) durchdringen. Während es in Auschwitz 1944
die Toten sind, denen Stojka eine Stimme verleiht, wird in Stacheldraht
die Lageratmosphäre aus kindlicher Perspektive geschildert. Durch die
Kombination dieser Blickwinkel erzeugt sie „den dialogischen Effekt eines
Gesprächs der Toten mit den Lebenden“ (K ANNING 2016, 113). Zugleich
avancieren die Gedichte zu Erinnerungsmedien, die den Massenmord an den
Roma und Sinti sichtbar machen und im kollektiven Gedächtnis bewahren.
Dass sich Stojka immer wieder mit dem Zentralthema ‚Auschwitz‘ ausein‐
andergesetzt hat, belegt beispielsweise ihr Ende Mai 1995 verfasstes Gedicht
Ich Ceja sage … (S TOJKA 2003, 24). Das einleitende persönliche Bekenntnis
legt die andauernde und nicht endende Nachwirkung ihres Lebenstraumas
5. Gesellschaftskritik 163
offen: „Ich / Ceja / sage / Auschwitz lebt / und atmet / noch heute in mir“
(S TOJKA 2003, 24). In diesen Versen deutet sich an, welche Präsenz der einstige
Ort der Massenvernichtung beansprucht: Er „lebt und atmet“ als gleichsam
eigenständige Entität, wodurch die Anmutung eines ungeborenen Kindes
entsteht, das die Sprecherfigur in sich trägt. Doch im Gegensatz zu dieser
lebensbejahenden Vorstellung wird Auschwitz erneut als Ort der radikalen
Lebensverneinung gekennzeichnet. Die Erinnerung an das Erlebte bleibt
nicht nur unauslöschbar, sondern überformt auch die Gegenwart: „Ich habe
gesehen / alles ist wieder da / alles ist wieder nah“ (S TOJKA 2003, 24). In
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ihrem autobiografischen Gedicht auschwitz ist mein mantel, das als ein „ent‐
scheidende[r] Schlüsseltext zu Ceijas Umgang mit dem KZ-Trauma gedeutet
werden kann“ (Z ANDER 2017, 311), hat Stojka mittels der Metapher der Klei‐
dung kenntlich gemacht, wie sehr die Kindheitserlebnisse sie umschließen:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
mein unterhemd.“ (S TOJKA 2008, 5) Der gewählte Bildbereich wirkt auf den
ersten Blick irritierend, dient doch die Kleidung üblicherweise dazu, Wärme
zu spenden und den persönlichen Modegeschmack anzuzeigen. Bezogen auf
Stojkas Vergangenheit handelt es sich hierbei offenbar um textile Schichten,
die nicht abstreifbar sind und Lebenswärme zu nehmen scheinen. Zugleich
veräußerlichen sie die traumatischen Kindheitserlebnisse als Zeichen ihres
persönlichen Schicksals. Wird der Blick auf Stojkas weiteres künstlerisches
Schaffen gerichtet, lässt sich feststellen, dass auch in ihren Gemälden und
Zeichnungen das Vernichtungslager und die damit verbundenen Gewalter‐
fahrungen immer wieder auftauchen. Am eindrücklichsten vergegenwärtigt
das vielleicht ihr Zyklus Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz, der aus etwa
180 Blättern besteht (R AHE 2019, 239; auszugsweise S TOJKA 2008, 102–115).
5. Gesellschaftskritik
„Ich habe mich eigentlich, wenn ich von meiner eigenen Produktion ab‐
sehe (was ohne weiteres geschehen kann), niemals besonders für Lyrik
interessiert“ (B RECHT 1977a, 7). Dies behauptet Bertolt Brecht (1898–1956)
gleich zu Beginn seines Aufsatzes Kurzer Bericht über 400 (vierhundert)
junge Lyriker, den er in der Literaturzeitschrift Die Literarische Welt 1927
veröffentlicht. Anlass ist ein von dem Magazin ausgelobter Wettbewerb für
164 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
junge Dichter. Der damals 29-jährige Brecht war als Preisrichter für genau
jenes Genre vorgesehen, für das ihm angeblich jedwede Begeisterung und
tieferes Verständnis fehlte. Während Alfred Döblin (1878–1957) und Herbert
Ihering (1888–1977) Preisträger in den Kategorien ‚Roman‘ und ‚Drama‘
küren, lehnt Brecht alle eingesandten Gedichte ab und lässt stattdessen
ein Lied von Hannes Küpper (1897–1955) über den australischen Bahnrad‐
rennfahrer Reginald McNamara abdrucken (vgl. K ITTSTEIN 2012, 5). Kein
zeitgenössischer Lyriker scheint Brecht preiswürdig. Dass der Preis in der
Kategorie ‚Dichtung‘ nicht vergeben wird, führt zu einer heftigen Debatte.
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L AMPART 2013, 121). Vielmehr solle sich Lyrik an der Realität orientieren.
Ein Gedicht müsse laut Brecht etwas „beweisen“ (B RECHT 1977d, 50). Damit
positioniert er sich beispielsweise gegen die Naturlyrik seiner Epoche. Weil
sich die zeitgenössische Gesellschaft an einem Krisenpunkt befinde, sei es
Zeit für eine „‚handelnde‘ Lyrik“ – die vermeintlich „zeitlose Schönheit einer
Landschaft“ sei daher nicht mehr „der gebotene Gegenstand für Dichtung“
(H INCK 1994, 254). In Brechts Verständnis besitzt Lyrik eine eminent politi‐
sche Dimension: „Was nützt es, mehrere Generationen schädlicher alter
Leute totzuschlagen oder, was besser ist, totzuwünschen, wenn die jüngere
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Generation nichts ist als harmlos?“ (B RECHT 1977a, 9) Hier agiert Brecht
als engagierter Dichter: Während sich in der Dichtung das Verhältnis des
Individuums zur Gesellschaft manifestiert, steht der Dichter mit seiner Lyrik
im Dienst der Gesellschaft. Er muss eine Haltung haben und diese vertreten,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
darf nicht abseits stehen und Unrecht geschehen lassen, indem er sich in
eine wirklichkeitsferne Ästhetik flüchtet.
Diese Forderung nach einem politischen „Gebrauchswert“ korreliert
mit der Zunahme eines marxistisch geprägten Impetus, der die politische
Dimension um eine soziale erweitert. In der Schrift Über die ‚Svendborger
Gedichte‘ (1938) vollzieht Brecht seine Entwicklung zum politisch engagier‐
ten, marxistischen Autor. Der Dichter sei Handelnder, der „unter Polizisten“
wandele: „Der Kapitalismus hat uns zum Kampf gezwungen. […] Ich gehe
nicht mehr ‚im Walde so für mich hin‘, sondern unter Polizisten.“ (B RECHT
1977e, 74 f.) Damit verbunden ist eine dezidierte Hinwendung zu den
Lesenden: „Die Wahrheit aber kann man nicht eben schreiben; man muß
sie durchaus jemandem schreiben, der damit etwas anfangen kann. Die
Erkenntnis der Wahrheit ist ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer
Vorgang.“ (B RECHT 1997, 171) Lyrik ist kein zweckfreier Ausdruck, sondern
Handlungsanweisung für eine bestimmte soziale Gruppe. Gedichte sind
Teil einer Moraldidaxe, die eine Bevölkerungsgruppe zum Adressaten hat.
Brecht sieht als Zielgruppe seiner Dichtung das Proletariat.
Die formalen und stilistischen Konsequenzen aus dieser Lyrikvorstellung
führt Brecht in Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen und
dem ergänzenden Nachtrag in der Zeitschrift Das Wort 1939 aus (B RECHT
1977 f, 77–87; B RECHT 1977g, 87 f.). Brechts Lyrik orientiert sich an freien
Rhythmen, gibt dem Vers eine wesentliche Strukturierungsfunktion und
imitiert die gesprochene Sprache. Damit wird die Integration alltäglicher
Ausdrücke im „Tonfall der direkten, momentanen Rede“ ermöglicht und die
166 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
aus diesem Milieu stammt. In der DDR wiederum wird der sogenannte
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Bitterfelder Weg beschlossen (1959), der den Zugang der Arbeiter zur künst‐
lerischen Tätigkeit erleichtern und zu einer Aufhebung von ‚Berufs- und
Laienkunst‘ führen sollte.
Aber auch schon die poetologischen Konzepte des Kahlschlags und der
Trümmerliteratur, die im Westen Deutschlands Verbreitung finden, bauen
ästhetisch auf Brechts Ansatz eines ‚politischen Gebrauchswerts‘ auf. In
dieser Traditionslinie positioniert sich der Dichter als politischer Akteur:
Das „Dichterwort“ erscheint als „gesellschaftlicher Akt“ (B IRKENHAUER 1971,
90). Deutlich wird dies in Wolfgang Borcherts (1921–47) Schrift Das ist unser
Manifest (1947), wenn er in der geistigen Folge Brechts gegen Traditionalis‐
mus und ästhetische Überformung argumentierte:
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns
Geduld. Wir brauchen die[, die] zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und
ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
[…] Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller
Gefechtslärm. […] Und unser Morgen ist voller Alleinsein. (B ORCHERT 1984, 310)
kann die ‚Wahrheit‘ durch Bestandsaufnahme nur „um den Preis der Poesie“
errungen werden (W EYRAUCH 1989, 181). Wie schon Brecht spielt Weyrauch
die ‚Wahrheit‘ gegen die ‚Schönheit‘ aus und sieht in der traditionellen
Poesie den Ausdruck der ‚Schönheit‘, die aber den Blick auf die ‚Wahrheit‘
verstelle. Nimmt man die ‚Wahrheit‘ als Ziel der Literatur an, kommt man
nicht um die ‚Methode der Bestandsaufnahme‘ herum. Wenn man ‚Wahrheit‘
schreiben will, dann dürfe man nichts beschönigen: „Wenn der Wind durchs
Haus geht, muß man sich danach erkundigen, warum es so ist. Die Schönheit
ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne
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lässt sich die Forderung nach einer neuen Sprache in der Literatur nur
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2009, 277). Eine autonome Kunst sei unabhängig von Machtstrukturen und
subvertiere diese durch ihre bloße Existenz. Ein „Gedicht ist in den Augen der
Herrschaft […] anarchisch; unerträglich, weil sie darüber nicht verfügen kann“
(E NZENSBERGER 2009, 286). Auch wenn Alfred Andersch (1914–80), Mentor
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Brecht-Nachfolge sieht, handelt es sich doch eher um eine freie Aneignung des
Brecht’schen ‚Gebrauchsgedichts‘. In den teilweise äußerst polemischen und
provokativen Gedichten aus verteidigung der wölfe werden sowohl Täter als
auch Opfer zur Rechenschaft gezogen. Die Gedichte attackieren grosso modo
die Verhältnisse in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Wie
Brecht geht es Enzensberger aber um eine indirekte politische Wirkung. Er
vertritt den Standpunkt, dass die Lyrik Politisches niemals direkt ansprechen
dürfe.
Am Beispiel von Brechts Gedicht Der Radwechsel (1953) stellt Enzensber‐
ger fest, dass es sich hierbei um ein eminent politisches Gedicht handele:
„Bedeutet Politik den Gebrauch der Macht zu den Zwecken derer, die sie
innehaben, so hat Brechts Text, so hat Poesie nichts mit ihr zu schaffen. Das
Gedicht spricht mustergültig aus, daß Politik nicht über es verfügen kann:
das ist sein politischer Gehalt.“ (E NZENSBERGER 2009, 282) Seine politische
Wirkung entfalte das Gedicht über sein utopisches Potenzial, aus dem sich
sein gesellschaftskritischer Gehalt ergebe: „Poesie tradiert Zukunft. Im An‐
gesicht des gegenwärtig Installierten erinnert sie an das Selbstverständliche,
das unverwirklicht ist.“ (E NZENSBERGER 2009, 286)
Gesellschaftskritische und politische Lyrik nach 1945 zeichnet sich durch
ihre Arbeit an der Sprache aus. Besonders deutlich wird dies an den
Gedichten Hannah Arendts (1906–75), die erst 2015 in einer vollständigen
Edition erschienen sind (vgl. A RENDT 2015). Arendts Gedichte wurden zu
ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Vielmehr sind sie Teil ihrer Notizhefte,
die 2002 als Denktagebücher – Arendt bezeichnete ihre Notizhefte selbst so –
170 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
publiziert wurden (vgl. A RENDT 2002). Darin sind Dichten und Gedankenar‐
beit aufs engste verwoben. Dichtung strukturiert in Arendts Notizheften
ihr philosophisches Denken und geht damit eine enge Verbindung mit
den gesellschaftskritischen Reflexionen ein (vgl. B ERTHEAU 2016, 203 f.).
Denn nach 1945 könne die Welt „mit den bestehenden und überlieferten
Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“ (H AHN/
K NOTT 2007, 15). Das traditionelle Denken passt laut Arendt nicht mehr in
die Welt nach 1945. Arendt schließt sich Adorno (1903–69) an, wenn sie
in den Gräueltaten des Nationalsozialismus einen gesellschaftlichen und
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kulturellen Bruch erkennt, der sich auch in die Sprache einschreibt: „[D]enn
in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle
Versuche es endgültig loszuwerden.“ (A RENDT 2002, II, 723)
Nach 1945 finden sich zahlreiche Gedichte in den Denktagebüchern, die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
nahelegen, dass die Dichtung der ‚Grundzug‘ von Arendts Denken war (vgl.
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ten damals kräftig in den offenen Wunden des eigenen Staats“ (K NOPF
1996, 266). Mehrere Gedichte der Buckower Elegien positionieren sich gegen
die politisch vorherrschende Meinung der DDR (vgl. K ITTSTEIN 2012, 304).
Am bekanntesten dürfte Brechts Gedicht Die Lösung sein, in dem direkt auf
den Aufstand vom 17. Juni 1953 Bezug genommen wird. Dieses historische
Ereignis, das für das Selbstverständnis der DDR gravierende Auswirkungen
hatte, bildet für viele Gedichte der Buckower Elegien einen Fixpunkt. Im
Aufstand vom 17. Juni 1953 wendeten sich zahlreiche Arbeiter in mehreren
Städten der DDR gegen eine von der SED vorgeschriebene Erhöhung der
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von großen Firmen traten am Morgen des 17. Juni in den Generalstreik.
In ca. 500 Städten und Ortschaften kam es zu Arbeitsniederlegungen und
Protesten. Die Ballungszentren waren Ost-Berlin, Halle, Magdeburg, Leipzig
und Dresden. Die Forderung nach Rücknahme der Normerhöhung führte
dann auch zu allgemeinen Forderungen, wie beispielsweise der Wiederver‐
einigung der beiden deutschen Staaten oder dem Recht auf freie Wahlen.
Insbesondere in Ost-Berlin geriet das staatliche Gewaltmonopol dabei in Ge‐
fahr. Die Sowjetbehörden reagierten mit der Verhängung des Kriegsrechts
und ließen die Armee aufmarschieren. Als diese Abschreckungsmaßnahmen
nicht zur Auflösung der Streiks führten, ging man militärisch gegen die
Aufständischen vor. Insgesamt kamen über 100 Menschen ums Leben,
zahlreiche Personen wurden verletzt und in der Folge des Aufstands kam es
zu Verhaftungen und Todesurteilen. Noch am Nachmittag des 17. Juni nahm
die SED via Rundfunkerklärung die Normerhöhung zurück. Dabei wurde
der Streik als vom Westen initiierte Destabilisierungsmaßnahme bezeichnet.
Der Streik sei, so die staatliche Propaganda, eine Art Konterrevolution und
ein Putschversuch von westlichen Provokateuren gewesen. Inwieweit dies
zutrifft oder eine (bewusste) Falschinformation der DDR-Regierung war, ist
bis heute nicht geklärt.
Entbunden von diesem historischen Bezugspunkt firmieren die Buckower
Elegien jahrelang als Brechts ‚Alterswerk‘, in dem er sich der Naturlyrik
zugewandt habe (vgl. K NOPF 1996, 266 f.). Das Idyllische wird betont, da der
politische Bezugspunkt des 17. Juni 1953 bereits gute zehn Jahre später kaum
noch präsent ist. Und auch in dem Gedicht Böser Morgen, das tatsächlich
174 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
10 Schuldbewußt.
erneuten Verwendung des nun als Attribut fungierenden „Heut“ (v. 6) wird
die Verbindung zwischen veränderter Wahrnehmung und Traum erzeugt.
Ausgangspunkt des Wandels ist also ein Traum, in dem der Ich-Sprecher
„Finger“ sah, „auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen“ (v. 6 f.).
Dass die anklagenden Finger „zerarbeitet“ (v. 7) sind, lässt auf die soziale
Schicht der Personen schließen, die metonymisch über ihre Finger reprä‐
sentiert werden: Es handelt sich um Arbeiter (vgl. T HIELE 1981, 197). Der
Neologismus „zerarbeitet“ erzeugt durch das Präfix ebenso wie das Adjektiv
„gebrochen“ (v. 8) nicht nur den Eindruck von schwerer körperlicher Arbeit,
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Klimax, die die prekären Lebensstandards der sozialen Schicht, die durch
die Finger repräsentiert wird, nachdrücklich ins Bild setzt.
Diese Arbeiterfinger deuten im Traum des Ich-Sprechers auf ihn und
markieren ihn als „Aussätzigen“ (v. 7). Der Ich-Sprecher wird damit von
der Masse der Arbeiter isoliert und als Kranker stigmatisiert. Es rückt der
Gegensatz zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern in den Blick. In diesem
Zusammenhang ist es entscheidend, dass Letztere ausschließlich auf ihre
körperliche Arbeit reduziert werden und die Sprechinstanz lediglich auf den
Ort, von dem sie spricht (Natur), und die veränderte Wahrnehmung eben
dieses Naturorts: Der Ich-Sprecher scheint über den Ort seines Sprechens
als privilegiert gekennzeichnet. Bis „Heut“ (v. 2) konnte der Ich-Sprecher die
Natur in ihrer Schönheit genießen. Erst der Traum scheint ihm die Arbeiter
wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Es ist diese Traum-Erinnerung, die
die Naturwahrnehmung umkehrt. Der Gegensatz ist damit einer zwischen
jenen, die körperlich bis zur Erschöpfung schuften, und dem Ich-Sprecher,
der fern aller Arbeit Natur erfahren und genießen kann. Wenn man diese
Opposition von Ich-Sprecher und Arbeitern akzeptiert, so liegt die Schluss‐
folgerung nahe, dass auch die Lebenssphären voneinander getrennt sind.
Diese Trennung ist bereits auf der kommunikativen Ebene zu beobachten.
So kann von einer wechselseitigen Kommunikation der Arbeiter mit dem
Ich-Sprecher (oder vom Ich-Sprecher mit der Natur) keine Rede sein. Dies
zeigt sich beispielsweise an dem Kommunikationsmodus, der die Trennung
der beiden Sphären hervorhebt: Der anklagenden, körperlichen Gestik der
Arbeiter setzt der Ich-Sprecher das Wort, d. h. eine verbale Äußerung, ent‐
176 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
gegen. Das Wort ermöglicht jedoch noch keine Kommunikation, denn der
Ich-Sprecher hinterfragt oder erfragt nichts, sondern reagiert seinerseits mit
einer Anklage: „Unwissende schrie ich“ (v. 9). Das Schreien betont wiederum
das potenzielle Misslingen der Kommunikation. Der Abwehrreflex wird
sogleich konterkariert, wenn der Ich-Sprecher seine Schuld abschließend –
freilich nur für sich – eingesteht: „Schuldbewußt“ (v. 10) ist das letzte
Wort des Gedichts und wird als einziges Wort des letzten Verses besonders
hervorgehoben. Insofern ist in diesem Gedicht von einer individuellen
Schuld die Rede, die sich mit einer Absage an den Topos der bukolischen
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Idylle verbindet.
Will man die Opposition zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern weiter
forcieren, könnte man argumentieren, dass es sich beim Ich-Sprecher um
jemanden handelt, der mit Worten umgeht. Im Gegensatz zu den stummen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Arbeitern, die eben auch nur durch ihre Finger repräsentiert werden, besitzt
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der 1930er Jahre in Frage stellt. Vielmehr bietet der Bezugspunkt des
Aufstands vom 17. Juni 1953 die entscheidende Folie, um den politischen
‚Gebrauchswert‘ auch dieses Gedichts herauszustreichen: Brecht setzt die
persönlichen Freiheiten eines renommierten Dichters der DDR in Opposi‐
tion zu der Situation der Arbeiter. Allerdings solidarisiert sich Brecht mit
der DDR-Führung und teilt auch die Einschätzung, dass es sich um eine
neofaschistische Konterrevolution handelte, wie er in einem Brief vom 1.
Juli 1953 an Peter Suhrkamp, der ihn um eine Stellungnahme zum Aufstand
des 17. Juni bat, ausführt:
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Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen des 17.
Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das
Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke
kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen, brutalen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen
hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren. Die Parolen
verwandelten sich rapide. Aus ‚Weg mit der Regierung!‘ wurde ‚Hängt sie!‘, und
der Bürgersteig übernahm die Regie. […] Und den ganzen Tag kamen über den
RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit
von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren ‚Kräfte‘ am Werk, die Tag
und Nacht an das Wohlergehen der Arbeiter und der ‚kleinen Leute‘ denken
und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu
einem hohen Todesstandard führt. […] Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen
der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs. […] Die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine
sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind […]. Im Kampf gegen Krieg und
Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite [der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands]. (B RECHT 1998, 30, 184 f.)
Brecht, der nie Parteimitglied der SED war, verteidigt die politische Füh‐
rung gegenüber Peter Suhrkamp. Seine Argumentation ist hier wesentlich
differenzierter als in den ersten Reaktionen auf den Aufstand: Bereits am
17. Juni schreibt Brecht an Walter Ulbricht (1893–1973), dass er sich der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands verbunden fühle. Und Wladimir
Semjonowitsch Semjonow (1911–92), dem Vorsitzenden der Hohen Kommis‐
sion der UdSSR in Deutschland und späteren Botschafter der Sowjetunion in
der DDR, erklärt Brecht in einem Brief seine „unverbrüchliche Freundschaft
zur Sowjetunion“ (B RECHT 1998, 30, 178). Dieses uneindeutige Handeln
Brechts, der sich zwar einerseits mit den Arbeitern solidarisiert, andererseits
178 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
aber der SED-Führung eng verbunden bleibt, hat Günter Grass (1927–2015)
in seinem Drama Die Plebejer proben den Aufstand (1966) konterkariert.
In Brechts Böser Morgen erklärt der Vergleich der eigenen privilegierten
Lebensumstände mit denen der Arbeiter möglicherweise die ‚Schuld‘. Die
Beschreibung der eigenen Traumerfahrung und der sich deswegen verändern‐
den Naturerfahrung unterstreicht den subjektiven Charakter der Schilderun‐
gen. Die private und die politische Situation werden miteinander verknüpft.
Die Natur wird in Böser Morgen „zum politischen Reflexionsraum“ (L AMPART
2013, 128). Die veränderte Naturerfahrung zeigt die Notwendigkeit von poli‐
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177). Vielleicht schreibt der Dichter noch die Wahrheit, vielleicht schreibt
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er sie auch noch für die Arbeiter, aber er erreicht seine Adressaten nicht
mehr. Das Schuldbewusstsein ergibt sich sowohl aus dem Wissen über das
eigene Versagen als auch aus der Erkenntnis über die eigenen, von den
Arbeitern abgehobenen Lebensumständen. Böser Morgen präsentiert keine
Lösung dieses Problems, sondern bietet vielmehr das Anschauungsmaterial,
durch das die Struktur durchschimmert, die gesellschaftlich prekär ist.
Hans Magnus Enzensberger (*1929), der den Zweiten Weltkrieg als Kind und
als spät Einberufener erlebt, ist bis heute eine einflussreiche Person im Li‐
teraturbetrieb. Nach seinem Abitur 1949 studiert Enzensberger in Erlangen,
Freiburg im Breisgau, Hamburg und an der Pariser Sorbonne. 1955 wird er
mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos (1778–1842) promoviert.
Von 1955 bis 1957 arbeitet er gemeinsam mit Alfred Andersch (1914–80) als
Rundfunkredakteur in Stuttgart. Aus den in dieser Zeit gesendeten Radio-Es‐
says resultieren die ersten breit rezipierten Essay-Bände Enzensbergers:
Einzelheiten I und Einzelheiten II (1962). Bereits 1955 stößt er zur Gruppe 47
und kann dort einige Texte vorstellen. Mit seinem Debütband verteidigung
der wölfe (1957) reüssiert Enzensberger als freier Schriftsteller. Es folgen mit
landessprache (1959) und blindenschrift (1964) zwei weitere Gedichtbände,
die das poetische Programm seines Debüts fortsetzen. Enzensberger ist
Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er gehört zu den wichtigsten
und einflussreichsten Schriftstellern der letzten 60 Jahre. Dabei tritt er
5. Gesellschaftskritik 179
Bundeswehr im Jahr 1955 und die Einführung der Wehrpflicht im Juli 1956
gerungen. Spätestens aber das Titelgedicht, das den Band beschließt, muss
man 1957 als Provokation wahrnehmen, da es sich im Kontext des Zweiten
Straffreiheitsgesetzes von 1954, in dessen Folge es zu zahlreichen Amnes‐
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Die Wölfe sind Raubtiere; sie können nicht aus ihrer Haut. Eine Anklage
der Wölfe unter moralischer Perspektive wird vom Gedicht daher als Kate‐
gorienfehler abgelehnt. Die Verantwortung liegt vielmehr bei den Opfern
der Wölfe, die sich willfährig den Tätern hingeben. In der zweiten Strophe
wird dies in einer Reihe rhetorischer Fragen nahegelegt. Gleichzeitig wird
die Tiermetaphorik aufgedeckt:
wer näht denn dem general
den blutstreif an seine hose? wer
zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
[…] es gibt
viel bestohlene, wenig diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
steckt die abzeichen an, wer
lechzt nach der lüge?
Schlagwort der 1950er Jahre war, um Künstler zu bezeichnen, die vor allem
soziale Missstände und Klassenkonflikte in ihren Texten verhandelten.
Martin Walser (*1927) hat dieses Label für Enzensberger schon früh in
Frage gestellt: „Mir ist es immer komisch zumute, wenn ich wieder einmal
irgendwo lese, Enzensberger sei ein zorniger junger Mann.“ (W ALSER 1984,
65) Zudem hätten die Kritiker nicht nur dieses unpassende Label für En‐
zensberger verbreitet, sondern „Enzensberger auch zum politischen Dichter
und Muster-Non-Konformisten gestempelt.“ (W ALSER 1984, 65) Während
Walser die Gegensätzlichkeit der Enzensberger’schen Gedichte pointiert,
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sieht Andersch Enzensberger in der Folge von Brecht als politischen Dichter:
Enzensberger „hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht
mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.“ (A NDERSCH 1984, 62)
Der Gedichtband verteidigung der wölfe gliedert sich in drei Abteilungen:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
(E NZENSBERGER 1957, 7)
Programmatisch für den Band verteidigung der wölfe steht das Gedicht
lock lied. Es wurde bereits 1955 gewissermaßen als eine erste Arbeitsprobe
Enzensbergers in der Zeitschrift Akzente veröffentlicht (vgl. L AU 1999, 35).
1957 stellt es Enzensberger als Eröffnungsgedicht an den Anfang seiner
Sammlung. Bemerkenswert ist dieser Vorgang, weil das Gedicht dezidiert
5. Gesellschaftskritik 183
vor den Gefahren der Dichtung warnt. Ein Ich-Sprecher adressiert ein nicht
näher bestimmtes Du. Die direkte Ansprache gilt nicht einer Gruppe oder
einer anonymen Masse, sondern hebt die Bedeutung und Verantwortung
des Individuums hervor. Dabei ist nicht zuletzt die Überlagerung des im
Gedicht genannten Du mit den faktischen Leserinnen und Lesern intendiert.
In drei parallel strukturierten Strophen von gleicher Länge geht es um die
Verführungskraft der Sprache. Das adressierte Du wird vor der subtilen
Manipulationskraft der Dichtung gewarnt. Man kann diese Warnung sicher‐
lich auf die folgenden Gedichte beziehen. Wenn man die programmatische
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gewarnt. Dies geschieht andererseits aber mit den Mitteln der dichterischen
Sprache. Zwar wird lock lied ohne Endreim und in freien Rhythmen präsen‐
tiert, doch werden andere (lyrische) Stilmittel eingesetzt: Die visuelle Prä‐
sentation des Gedichts ohne Interpunktionszeichen erlaubt das Aufheben
syntaktisch normativer Regeln: Bezüge werden uneindeutig und der Aussa‐
gegehalt wird so ambivalent. In der Originalausgabe von 1957 werden diese
Uneindeutigkeiten durch die konsequente Kleinschreibung noch gesteigert.
Die Enjambements forcieren ferner einen durchgehenden Lesefluss, der die
lyrischen Äußerungen noch eingängiger macht. Es gibt zwar kein regelmä‐
ßiges Metrum oder Reimschema, doch werden über Assonanzen subtile
Klangbilder erzeugt (z. B. v. 1–3, 8). Auffällig sind die onomatopoetischen
Wendungen, die jede Strophe abschließen. Mit dem wiederholten „ki wit“
wird möglicherweise der Lockruf des Kiebitzes imitiert. Dass es sich hierbei
um einen Kiebitz handeln könnte, wird auch über den Verweis auf die
„Binsen“ (v. 1) gestärkt; Binsengräser sind der natürliche Lebensraum des
Kiebitzes. Ferner unterstreichen die Alliterationen (z. B. v. 6) den unbewusst
verführerischen Klang der poetischen Sprache. Ein intertextueller Bezug
besteht auch zu dem niederdeutschen Märchen Van den Machandelboom,
das Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) in ihre Kinder- und
Hausmärchen von 1812/15 aufgenommen haben. Zuvor wurde es bereits
1808 von Achim von Arnim (1781–1831) veröffentlicht, wobei Clemens
Brentano Arnim darüber informierte, dass er auch eine schwäbische Vari‐
ante dieses Märchens kenne. Enzensbergers Gedicht übernimmt von diesem
Märchen möglicherweise das markante Erkennungszeichen des schönen
184 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Sprache neigt zur Entmündigung des Subjekts. Sprache wird dazu genutzt,
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(v. 3) auf die Schulter des Ich-Sprechers zu „pinseln“ (v. 3). Die reflexive
Verwendung des Verbs ‚schneiden‘ zeigt an, dass das Du hier verantwortlich
gemacht wird und nicht die Binse schuld daran ist, wenn der Adressat
sich verletzt. Vielmehr befiehlt der Ich-Sprecher, dass das Du sich mit der
Binse schneiden soll. Syntaktisch könnte hier jedoch auch eine Ellipse
vorliegen. Dann wäre der Ich-Sprecher Agens des Schneidens. Enigmatisch
mutet das „rote[] ideogramm“ (v. 3) an. Einerseits wird damit das Schreiben
indirekt aufgenommen. Andererseits kann man im roten Bildzeichen einen
intertextuellen Bezug zum Nibelungenlied erkennen (vgl. S CHLÖSSER 2009,
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19). Der Sprechinstanz würde damit die Rolle des heldenhaften Siegfrieds
zugewiesen, dem Kriemhild ein Zeichen ins Gewand stickte, das Hagen von
Tronje den Mord an Siegfried erst ermöglichte. Ferner wird mit der Hand‐
schrift die persönliche Involviertheit des Du angezeigt. Ich-Sprecher und
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
adressiertes Du gehen mit diesem Schreib- oder Pinselakt in jedem Fall eine
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Beziehung ein. Ferner dürfte das Trägermedium von Bedeutung sein: Denn
gezeichnet wird das Ideogramm nicht mit Tinte, sondern mit Blut. Mit Blut
zu schreiben, kann bedeuten, dass man sich innerlich verausgabt hat. Diese
existenzielle Metaphorik wird ergänzt durch den mit Blut unterschriebenen
Vertrag, wie man es beispielsweise von Faust und Mephistopheles kennt.
Das Zeichen, das auf die Schulter des Ich-Sprechers gepinselt werden soll,
ist zudem ein Ideogramm. Hierbei handelt es sich um ein Schriftzeichen, das
nicht eine bestimmte Lautung besitzt, sondern in der Regel einen ganzen
Begriff repräsentiert, wie beispielsweise die ägyptischen Hieroglyphen oder
die chinesischen Schriftzeichen. Was das Zeichen aber zu bedeuten hat, ist
unklar. Möglicherweise markiert es den Vertragsabschluss zwischen Dichter
und Zuhörenden.
Das Schulter-Motiv stellt dann den Übergang von der ersten zur zweiten
Strophe her. Die Schulter des Ich-Sprechers wird nun zu einem „schnelle[n]
schiff“ (v. 6), auf dem es sich das Du bequem machen soll. Das ‚Schaukeln‘
des Schiffes verweist wiederum auf den Verführungscharakter. Prekär ist
dabei das Ziel der Reise: eine „insel“ „aus glas“ und „aus rauch“ (v. 8 f.).
Mit dieser Insel ist möglicherweise die poetische Illusion bezeichnet, die
sich nicht aus festen Materialien, sondern aus zerbrechlichen (Glas) und
flüchtigen Elementen (Rauch) zusammensetzt.
In der dritten Strophe wird die Binse wieder aufgenommen und damit
das Schreiben erneut thematisiert. Gleichzeitig wird der Bezug zum Nibe‐
lungenlied etwas deutlicher: Wenn die Binse als „seidener dolch“ (v. 13)
bezeichnet wird, wird das Gefahrenpotenzial der Dichtung ausgestellt.
186 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
konstruiertes Dilemma gestellt: Wenn man sich jetzt vom Gedicht abwendet,
muss man sich den Vorwurf machen lassen, im Sinne des Gedichts zu
handeln. Wenn man aber weiterliest, dann bleibt man ebenfalls ‚gefangen‘
in der Poesie.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Lyrik der 1950er und 1960er Jahre verdeutlichen. Enzensberger selbst hat
im Vorwort zu seiner Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) seine
Techniken – in der Folge moderner Poesie – beschrieben:
Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Disso‐
nanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfremdung
und Mathematisierung; Langverstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung
und Verdunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuartiger
metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren.
(E NZENSBERGER 1960, 11)
Pathos und die Rhetorik seiner Debütgedichte ab, auch weil sie mitunter
„schrille Töne“ angenommen hätten (E NZENSBERGER /K LUGE 2000).
demie Düsseldorf Graphik und Bildhauerei und von 1953 bis 1956 an der
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denen Hans Werner Richter (1908–93) bis 1967 einlud. Für das erste Kapitel
der Blechtrommel erhält Grass den Preis der Gruppe 47. Trotz seines enormen
Erfolgs, den er mit Die Blechtrommel hat, sieht sich Grass vor allem als Lyriker,
und selbst seine Romane betrachtet er in gewisser Weise als Gedichte, die
allerdings aus der Form geraten seien (vgl. L EEDER 2009, 151).
Korte sieht Grass als eine Art Vorläufer Enzensbergers: Grass habe
ein diffuses Unbehagen an der deutschen Nachkriegsgesellschaft lyrisch
artikuliert. Seine Gedichte kämen nur selten über den spöttisch-überlegenen
Ton hinaus, während Enzensberger „seine poetische Form fand: als Mixtur
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aus Artistik und Engagement“ (K ORTE 2004, 115). Gleichwohl sind Grass’ und
Enzensbergers Texte in ihrer teilweise heftigen Polemik und ihren Zynismen
vergleichbar. In Grass’ Texten tendiert der provokative Stil mitunter ins
Obszöne. Insbesondere die expliziten Episoden in den Romanen, die über
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sischen Kritik negativ bemerkt und sanktioniert (vgl. M EWS 2008, 77–81).
Grass gehört zu den politisch engagierten Dichtern der Nachkriegszeit.
Im Gegensatz zu Enzensberger ist Grass auch parteipolitisch tätig. So ist er
mit Willy Brandt (1913–92) persönlich verbunden. Er schreibt für Brandt
Reden und wirbt bei politischen Veranstaltungen für die SPD. Grass tritt
1982 in die SPD ein; 1993 gibt er das Parteibuch aber wieder zurück.
Im Nachkriegsdeutschland avanciert er zum politischen Intellektuellen und
moralischen Mahner, der sich regelmäßig zu innen- und außenpolitischen
Sachverhalten positioniert. 2006 wird Grass’ Rolle heftig diskutiert, da er
im autobiografischen Werk Beim Häuten der Zwiebel (2006) zum ersten Mal
öffentlich bekannt macht, dass er mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört hatte.
Die folgende Debatte bezieht sich vor allem auf die Integrität des Dichters, der
die nationalsozialistischen Verstrickungen anderer meist heftig kritisiert hatte.
Mit seinem zweiten Gedichtband Gleisdreieck (1960), aus dem das Gedicht
Askese stammt, hat Grass in der Folge der Blechtrommel weitaus mehr
Erfolg als mit Die Vorzüge der Windhühner. Gleichwohl erkennt man eine
enge Vernetzung der einzelnen Werke: In diesem Band finden sich einige
Gedichte, die auf seinen Romanerfolg und auf den ersten Gedichtband
anspielen und zentrale Motive weiterführen (z. B. Normandie, Geflügel auf
dem Zentralfriedhof, In eigener Sache, Auf weißem Papier). Diese gattungs‐
übergreifende, auf ein Gesamtwerk zielende Schreibweise gilt auch für die
bildenden Künste, denn dem Gedichtband sind diverse Kohlezeichnungen
von Grass beigegeben, die die 55 Gedichte in eine düstere Atmosphäre
tauchen. Gleisdreieck versammelt Gedichte, die bereits den stark politischen
5. Gesellschaftskritik 189
Askese
Das Gedicht ist in freien Rhythmen und ohne Endreim gehalten. Während
sich Enzensbergers lock lied anderer lyrischer Stilmittel (Alliteration, Asso‐
nanz etc.) bedient und Brechts Böser Morgen den Prosastil bevorzugt, ist
Askese durch hermetisch anmutende Bilder bestimmt: Exemplarisch sei die
sprechende Katze erwähnt, die keine einheitliche Motivtradition besitzt
und deswegen als Motiv und Chiffre hermetisch bleibt, da ihre Bedeutung
auch nicht aus dem Gedichtkontext rekonstruiert werden kann. Dies ist
auch deswegen von besonderer Relevanz, weil die sprechende Katze für
die ersten drei Strophen strukturbildend ist. So beginnen die jeweiligen
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Die mit Weiß assoziierten „Bräute“ und der „Schnee“ sollen mithilfe des
Bleistifts „schattier[t]“ werden (v. 3). Welchen Zweck diese ‚Schattierungen‘
verfolgen, ist nicht klar. Vielmehr wird apodiktisch gefordert, dass das Du
„die graue Farbe lieben“ soll (v. 5). Das Grau steht dabei in enger Verbindung
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
mit dem Bleistift und wird auch in der vierten Strophe erneut aufgenommen.
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Ferner verweist auch die „Asche“, die „auf Geranien“ gestreut werden soll,
auf die graue Farbe (v. 18). Grau ist in der Farbsymbolik des Gedichts
also von zentraler Bedeutung und wird mit dem Schreib- und Zeichenwerk‐
zeug eng verknüpft. Der Bleistift ist zudem ein Schreibwerkzeug, das in
weitaus höherem Maße den Prozesscharakter betont, da er im Gegensatz
zum Kugelschreiber, Füllfederhalter oder zur Schreibmaschine die schnelle
Korrektur ermöglicht. Die Bleistiftschrift kann radiert werden, womit der
Schreibprozess als eine Art Handwerk hervorgehoben wird. Beim Bleistift
handelt es sich ferner um ein altes Schreibgerät, dessen Verwendung bereits
im 13. Jahrhundert nachgewiesen ist.
Dass es sich bei der sprechenden Katze um eine poetologische Souffleuse
handeln könnte, legt die letzte Strophe nahe. Während die ersten vier
Strophen jeweils sechs Verse umfassen, ‚fehlt‘ in der letzten Strophe ein
Vers: Das Gedicht schließt mit fünf Versen ab. Auch das „Blei“ (v. 27) wird
hier wieder aufgenommen. Diesmal wird auch dezidiert auf das Schreiben
eingegangen. Das Du soll auf einer „Wand, wo früher pausenlos / das grüne
Bild das Grüne wiederkäute“ (v. 25 f.), mit dem Bleistift das Wort „Askese“
(v. 28) schreiben. Hier wird eine Redundanz gegen eine andere ausgetauscht
(v. 27–29):
sollst du mit deinem spitzen Blei
Askese schreiben, schreib: Askese.
So spricht die Katze: Schreib Askese.
192 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
Der eigene Schreibakt erscheint als Palimpsest. Das „grüne Bild“ auf der
Wand wird mit dem Grau des Bleistifts überschrieben, wobei nur das Wort
‚Askese‘ notiert wird. Möglicherweise tendiert das Schreiben dann auch
ins Malen, da der graue Ton des Graphits bei wiederholter Schreibung
des Wortes sich überlagert und das vormals „grüne Bild“ verdunkelt bzw.
‚schattiert‘. Es könnte sich hierbei auch um eine Anspielung auf die in der
Renaissance etablierte Technik handeln, Gesichter in der Ölmalerei grün zu
grundieren, damit sie nicht zu rot erscheinen und somit nicht zu sehr danach
aussehen, dem Genuss zugeneigt zu sein.
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Mit dieser Ablehnung der Farbigkeit wendet sich das Gedicht gegen
den lyrischen Traditionalismus, für den die Naturlyrik exemplarisch steht
(„das grüne Bild das Grüne wiederkäute“, v. 26). Schon in Die Vorzüge der
Windhühner hat sich Grass gegen die Naturlyrik gewendet, wenn im Gedicht
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Er stellte die Aporie, die
Adorno mit seinem provokativen Satz markiert, in der Retrospektive heraus.
In den Frankfurter Poetikvorlesungen reflektiert er diesen Prozess, der sich
in den Texten der 1950er Jahre niederschlägt: „Denn wenn ich auch mit
vielen anderen Adornos Gebot als Verbot mißverstanden habe, blieb dessen
neue, die Zäsur markierende Gesetzestafel dennoch in jeder Blickrichtung
sichtbar.“ (G RASS 1990, 17) Mit Adorno wird also auch das Aussprechen
eines Verbots verbunden; die Katze aus Askese deswegen aber als Figuration
Adornos zu deuten, scheint doch zu forciert (vgl. F RIZEN 1992, 38).
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Ebenso wie für Adorno bedeutete ‚Auschwitz‘ (als Chiffre für die Shoah)
für Grass einen gesellschaftlichen Riss, den man niemals wieder schließen
könne. Grass benennt hier klar die ‚Lizenzen des Sagbaren‘, wenn er
konstatiert:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Wir alle, die damals jungen Lyriker der fünfziger Jahre […] waren uns deutlich
bis verschwommen bewußt, daß wir zwar nicht als Täter, doch im Lager der Täter
zur Auschwitz-Generation gehörten, daß also unserer Biographie, inmitten der
üblichen Daten, das Datum der Wannsee-Konferenz eingeschrieben war (G RASS
1990, 17 f.).
ten“) und das Grün („das grüne Bild“). Folgt man dieser Farbsymbolik, dann
handelt es sich um eine Absage an jegliche Form poetischer Artistik:
Weg mit den sich blumig plusternden Genitivmetaphern, Verzicht auf eingerilkte
Irgendwie-Stimmungen und den gepflegten literarischen Kammerton. Askese,
das hieß Mißtrauen allem Klingklang gegenüber, jenen lyrischen Zeitlosigkeiten
der Naturmystiker, die in den fünfziger Jahren ihre Kleingärten bestellten und
– gereimt wie ungereimt – den Schullesebüchern zu wertneutraler Sinngebung
verhalfen. (G RASS 1990, 19)
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Grass nimmt hier dezidiert die Dichterinnen und Dichter, die in der Tradition
der naturmagischen Schule stehen, aufs Korn. Angesichts der Schrecken des
Nationalsozialismus könne ein lyrischer Traditionalismus eben nicht unge‐
brochen weitergeführt werden. Diese poetologische Dimension verbindet
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
Grass mit einer politischen Ideologiekritik, die den Zweifel und die Skepsis
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zu Leitkategorien erhebt. Denn der Vorwurf, den Grass gegen die Naturlyrik
erhebt, ist ihre apolitische Haltung. Zwar lehnt Grass das Vorbild, das die
Brecht’sche Lyrik bietet, ab (wie er auch Benns Lyrik ablehnt), doch sieht
man in ihrem dezidierten Weltbezug eine Familienähnlichkeit zwischen
Grass’ ideologie- und gesellschaftskritischer Lyrik und Brechts politischer
Gebrauchsästhetik.
Mit der redundanten Forderung, nicht nur asketisch zu leben, sondern
nur noch Askese zu schreiben, wird also auch der permanente Zweifel
verbunden. Zweifeln kann der Entsagende, weil man glaubt, dass die Askese
gegenüber den Verführungen immun mache.
Der Fluchtpunkt der Gedichte in Gleisdreieck bleibt die Vergangenheit.
Sowohl explizit als auch implizit werden der Nationalsozialismus und seine
Folgen für die Gegenwart thematisiert. Ausgangspunkt des Schreibens ist
der Zweifel, der hinter der Bequemlichkeit moralischen Zündstoff erkennt.
Grass hat die Voraussetzungen und Folgen dieser „Schreibhaltung“ 1990
selbst reflektiert: „Eine so akzeptierte Schreibhaltung setzt voraus, daß sich
der Autor nicht als abgehoben oder in Zeitlosigkeit verkapselt, sondern als
Zeitgenosse sieht, mehr noch, daß er sich den Wechselfällen verstreichender
Zeit aussetzt, sich einmischt und Partei ergreift.“ (G RASS 1990, 36) Grass’
Lyrik rekonstruiert aus der Vergangenheit die gegenwärtigen Verstrickun‐
gen. Für Grass ist der Dichter „jemand, der gegen die verstreichende Zeit
schreibt“ (G RASS 1990, 36). Gleichzeitig soll die Dichtung aber auf die Ge‐
genwart wirken. Die Bundesrepublik und die unmittelbare Nachkriegszeit
5. Gesellschaftskritik 195
schichten ausgelotet. Das Öffnen des Mundes wird in der ersten Strophe auf
die organisch-chemischen Prozesse, die im geschlossenen Mund stattfinden,
reduziert. Wer den Mund nicht öffnet, bekommt schlechten Mundgeruch,
da es zu bakteriell indizierten Zersetzungsprozessen kommt. Dieses Bild
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020
erhält aber eine dreifache Bedeutungsebene: (a) Der geöffnete Mund ist das
Zeichen desjenigen, der widerspricht. (b) Das Öffnen des Mundes wird fer‐
ner mit dem Emanzipationsprozess von der Vätergeneration parallelgeführt
(vgl. G RASS 2007, 112). (c) Gleichzeitig stellt das Gedicht die Mundfäule als
Signum einer historischen Schuld heraus:
Wir wollen den Mund aufmachen,
die schlimmen Goldzähne,
die wir den Toten brachen und pflückten,
auf Ämtern abliefern.
Dieter Stolz sieht in der Mundfäule daher den „mit den Verbrennungsöfen
der Konzentrationslager assoziierten Gestank“ (S TOLZ 1999, 30). Es gehe in
den Gedichten darum, die „[g]eschichtlichen Tatsachen, insbesondere die
mit den kollektiven Schuldbekenntnissen, den sogenannten ‚Persilscheinen‘
und der fragwürdigen Gnade der späten Geburt bis heute oft verdrängten
Greueltagen der Hitlerzeit“ poetisch zu benennen (S TOLZ 1999, 30). Freilich
bleibt es bei der bloßen Absichtserklärung, die aus den Mundhöhlen der
Toten herausgebrochenen Goldzähne zurückzugeben: „Wir wollen“ (G RASS
2007, 112). Es zeigt sich die Ambivalenz von Grass’ welthaltiger Lyrik, denn
ob die Absichtserklärung in die Tat umgesetzt wird, ist ungewiss.
Grass’ zweiter Gedichtband und das Gedicht Askese präsentieren ein
ästhetisch-politisches Programm, das im Kontext des ‚Schreibens nach
Ausschwitz‘ zu betrachten ist (vgl. E NGELS 2005, 20 f.). Bei Askese handelt sich
196 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik