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Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

1. Sprachverdichtung

1.1. Poetologische Hinführung


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Als der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch (1904–80) seine Anthologie Ex‐


peditionen. Deutsche Lyrik seit 1945 (1959) veröffentlicht, stattet er sie
mit einem An die Leser gerichteten Nachwort aus. Darin wirbt er dafür,
sich aufgeschlossen und gutwillig an diesen lyrischen ‚Expeditionen‘ zu
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beteiligen. Angesichts des herausfordernden Charakters der Lektüre gibt


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er eine Empfehlung, wie den widerständigen Gedichten am besten zu


begegnen sei: „ich habe mir vorgenommen, geduldig zu sein, […] das
Unverständliche, das Fremde, falls es mir begegnet, mir verständlich und
vertraut zu machen, und wenn ich es siebenmal lesen müßte“ (W EYRAUCH
1959, 155). Zudem bietet Weyrauch eine konkrete Hilfestellung: Am Beispiel
eines Gedichts von Helmut Heißenbüttel (1921–96), den Weyrauch in den
1950er Jahren entschieden fördert (vgl. S TEIN 2011, 234), demonstriert er, wie
eine interpretative Annäherung an dieses Gedicht aussehen kann. Ziel einer
produktiven Lektüre sei es, aus den eingangs genannten „inhaltslose[n]
Sätze[n]“ (H EIẞENBÜTTEL 2000, 93), von denen zu Beginn des Gedichts e
aus dem Zyklus Topographien (1956) die Rede ist, „inhaltsvolle Sätze zu
machen“ (W EYRAUCH 1959, 158), um somit aktiv zu dessen Sinnkonstitution
beizutragen. Eine solche Mitwirkung ist vor allem deshalb erforderlich, weil
Heißenbüttels dichterische Sprachverwendung erheblich vom alltäglichen
Sprachgebrauch differiert. Sein poetologisches Verfahren beschreibt er in
einer Stellungnahme, die in Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein
Messer (1961) gedruckt wird:
Wenn die überkommene Sprache sich entzog, galt es, sozusagen ins Innere der
Sprache einzudringen, sie aufzubrechen und in ihren verborgensten Zusammen‐
hängen zu befragen. Was dabei herausgekommen ist, kann keine neue Sprache
sein. Es ist eine Rede, die sich des Kontrasts zur überkommenen Syntax und zum
überkommenen Wortgebrauch bedient. (H EIẞENBÜTTEL 1961, 92)
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Die Ambition, die Gebrauchssprache zu ‚zerlegen‘, um „ins Innere der


Sprache einzudringen“, ist bei Heißenbüttel kein Selbstzweck. Vielmehr geht
es ihm darum, bisher verborgene Daseinsbereiche sprachlich zu erfassen:
Die dichterische Arbeit wird dabei „als Versuch [begriffen], ein erstesmal
einzudringen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache
zu entziehen scheint“ (H EIẞENBÜTTEL 1961, 63). Somit lässt sich der Prozess
des lyrischen Gestaltens – im Sinne Weyrauchs – als eine sprachlich-onto‐
logische ‚Expedition‘ verstehen. Das poetologisch begründete Aufbrechen
der Sprache korrespondiert mit der von Hermann Kasack (1896–1966) be‐
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obachteten Tendenz, dass Heißenbüttel schon in seinem ersten Gedichtband


Kombinationen (1954) „das Begriffliche“ favorisiert, während er „das Gegen‐
ständlich-Sinnliche […] immer stärker eliminiert“ (zit. nach H EIẞENBÜTTEL
2000, 6). Zwei Jahre später folgt die zweite Sammlung Topographien (1956),
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in der die Metaphern „nur noch eine untergeordnete Rolle spielen“ und „der
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Duktus […] noch karger, zurückgenommener“ (K ORTE 2004, 82) wird. Im


Horizont der sich herausbildenden Konkreten Poesie erprobt Heißenbüttel
mit seinem sprachreflexiven Zugang innovative Verfahren der lyrischen
Sprachverdichtung.
Im Anschluss an seine Deutung von Heißenbüttels Gedicht aus dem
Zyklus Topographien hinterfragt Weyrauch die historische Position der
gegenwärtigen Lyrik. Er stellt die Frage, ob es nicht einen geschichtlichen
Augenblick gegeben habe, „da eine Zeit der äußersten Situationen begann,
eine Zeit also, die von der Zeit des [Matthias] Claudius, ja, von der des
Richard Dehmel und Arno Holz aufs äußerste verschieden war?“ (W EYRAUCH
1959, 160) Weyrauch, der diese Frage selbstverständlich bejaht, bezieht sich
in seiner Antwort bemerkenswerterweise auf den ästhetischen Umbruch,
der sich in der Zeit des Expressionismus vollzogen habe. Wie er außerdem
nahelegt, sei es unmöglich, die prägenden Kriegserfahrungen in der moder‐
nen Lyrik zu ignorieren. Weyrauch zieht die Konsequenz, dass Gedichte
keineswegs mehr – wie noch bei Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) –
mit dem Bild „gemalte[r] Fensterscheiben“ (W EYRAUCH 1959, 160; G OETHE
1988, II, 542) zu erfassen seien. Indem er daran erinnert, dass die realen
„Fensterscheiben […] gestern noch zersplittert“ waren, formuliert er ein
Plädoyer für ein anspruchsvolles und zugleich herausforderndes Gedicht,
das in der Lage sei, „den Menschen […] aus der Bewegungslosigkeit, aus den
überholten Ordnungen“ (W EYRAUCH 1959, 160 f.) zu katapultieren.
Die von Weyrauch skizzierte Widerständigkeit korrespondiert mit jener
Abkehr von der „kommunikative[n] Wohnlichkeit“ (F RIEDRICH [1956] 1961,
1. Sprachverdichtung 33

11) des Gedichts, die der Romanist Hugo Friedrich (1904–78) kurz zuvor
diagnostiziert hatte. In seiner einflussreichen Studie Die Struktur der moder‐
nen Lyrik (1956) befasst er sich zunächst mit dem Merkmal der ‚Dunkelheit‘,
das bei der Lektüre moderner Lyrik sowohl zur Anziehung als auch zur
Distanzierung führe: „Ihr Wortzauber und ihre Geheimnishaftigkeit wirken
zwingend, obwohl das Verstehen desorientiert wird.“ (F RIEDRICH [1956] 1961,
10) Das Gedicht erweist sich dabei als Medium einer sprachlichen Funda‐
mentalerfahrung: Die Leser werden mit dem Unvertrauten konfrontiert,
durch die Verfremdung des Bekannten irritiert und durch die Deformation
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des Bestehenden provoziert. Ein solches Wirkungspotential resultiert nicht


zuletzt aus der Vermeidung von semantischer Eindeutigkeit: „Das Gedicht
will […] ein sich selbst genügendes, in der Bedeutung vielstrahliges Gebilde
sein, bestehend aus einem Spannungsgeflecht von absoluten Kräften, die
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suggestiv auf vorrationale Schichten einwirken, aber auch die Geheimniszo‐


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nen der Begriffe in Schwingung versetzen.“ (F RIEDRICH [1956] 1961, 10 f.) Das
Merkmal der ‚Selbstgenügsamkeit‘ wird in der zeitgenössischen Diskussion
über moderne Lyrik freilich auch kritisch gesehen: Weil sich das Gedicht in
„orphischem Geraun“ (P IONTEK 1961, 113) erschöpfe, gelinge es nicht mehr,
eine produktive Dialogbeziehung zwischen Text und Leser zu etablieren.
Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass der polemische Begriff „Geraun“
von einer ablehnenden Haltung zeugt; demgegenüber hatte Weyrauch für
eine mehrmalige und möglichst aufgeschlossene Lektüre votiert. In beiden
Perspektiven geht es um den verborgenen und im Grunde nur bedingt
erschließbaren Bedeutungsgehalt eines Gedichts, der bewusst ‚verdunkelt‘
sei:
Moderne Lyrik nötigt die Sprache zu der paradoxen Aufgabe, einen Sinn gleich‐
zeitig auszusagen wie zu verbergen. Dunkelheit ist zum durchgängigen ästheti‐
schen Prinzip geworden. Sie ist es, die das Gedicht übermäßig absondert von der
üblichen Mitteilungsfunktion der Sprache, um es in einer Schwebe zu halten, in
der es sich eher entziehen als annähern kann. (F RIEDRICH [1956] 1961, 130)

Friedrich greift in diesem Zusammenhang einen Begriff auf, der sich als
kategorisierendes Ordnungskonzept für einen Bereich der deutschen Nach‐
kriegslyrik etabliert hat: „Hermetismus“ (F RIEDRICH [1956] 1961, 131). Die
Hermetik bzw. der Hermetismus bezeichnet zunächst eine Offenbarungs‐
lehre, die ursprünglich aus der Antike stammt und insbesondere in der
Renaissance an Bedeutung gewinnt. Noch vor 1900 wird der Begriff auf
die Literatur übertragen und um 1930 von der italienischen Literaturkritik
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für die Lyrik Giuseppe Ungarettis (1888–1970) verwendet (vgl. S CHÄFER


1971, 148). Auch wenn sich nachweisen lässt, dass gewisse ‚alchemische‘
Wissenselemente in die neuzeitliche Lyrik einwandern (vgl. T ELLE 2013, I,
157), stellt die literarische Hermetik keine Fortsetzung der hermetischen
Tradition dar (vgl. W ALDSCHMIDT 2011, 14 f.). Wenn dieser Begriff im
Zusammenhang mit der Nachkriegslyrik gebraucht wird, bezeichnet er
folglich keine kodierte alchemistische Geheimlehre, sondern eine ‚dunkle‘
Verssprache, in der die semantischen Relationen gelockert und mitunter
aufgehoben werden. Durch das Aufbrechen gebräuchlicher Redeformen
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und bestehender Sinnkohärenzen soll gleichsam die „Substanz“ der Sprache


freigelegt werden; zur Anwendung kommen dabei „Verfahren der Entreali‐
sierung, Entpersönlichung und Entgegenständlichung“ (K ORTE 2004, 49).
Nach 1945 ist ein „Aufblühen der hermetischen Dichtweise“ (S CHÄFER
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1971, 149) zu beobachten. Damit wird an ein poetisches Konzept angeknüpft,


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dessen Wurzeln im französischen Symbolismus liegen und das zunächst


Stefan George (1868–1933) für die deutsche Lyrik fruchtbar gemacht hatte.
Für die Herausbildung einer hermetischen Nachkriegsdichtung erweist sich
einerseits die magische Naturdichtung Oskar Loerkes (1884–1941) und Wil‐
helm Lehmanns (1882–1968) als impulsgebend, an die Günter Eich (1907–72)
anschließen wird. Andererseits ist es die metaphorische Lyrik Rainer Maria
Rilkes (1875–1926) und Georg Trakls (1887–1914), die Paul Celan (1920–70)
aufgreifen wird (vgl. L AMPING [1989] 2000, 237). Im Falle Eichs finden sich
noch in seiner Sammlung Abgelegene Gehöfte (1948) solche naturmagischen
Bilder, wie etwa das Gedicht Aurora belegt. Geht es eingangs um das Erlebnis
eines anbrechenden Tages, mündet die Feststellung, dass die römische
Göttin Aurora noch lebe, in die Überblendung von gegenwärtiger und
antiker Welt:
In Kürbis und in Rüben
wächst Rom und Attika.
Gruß dir, du Gruß von drüben,
wo einst die Welt geschah!

(E ICH 1991, I, 24)

Erweist sich die Natur hier als Medium einer gleichsam magischen Ge‐
schichtserfahrung, akzentuiert Eich in seinem Gedicht Ende eines Sommers
aus der Sammlung Botschaften des Regens (1955) ihre „Unausdeutbarkeit“
(S CHÄFER 1971, 151). Doch der „Trost der Bäume“ (E ICH 1991, I, 81), von dem
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in Ende eines Sommers noch die Rede ist, scheint zusehends zu schwinden
(vgl. H ARTUNG 1966, 90 f.). In den Botschaften des Regens wird die Natur
schließlich zum „Zeichen einer […] unheilvollen Welt“ (L AMPING [1989]
2000, 238). Angesichts dieser Tendenz wird die Dichterin Ingeborg Bach‐
mann (1926–73) in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959/60) darauf
hinweisen, dass Eichs Lyrik gerade nicht dem überholten Konzept einer
Erlebnis- oder Bekenntnislyrik entspreche. Seine Gedichte seien daher nicht
„genießbar“, sondern vielmehr „erkenntnislastig, als müßten sie in einer Zeit
äußerster Sprachnot aus äußerster Kontaktlosigkeit etwas leisten, um die
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Not abzutragen“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 215).


Diese Charakterisierung gilt im Grunde auch für die Gedichte Bach‐
manns, die sie in den 1950er Jahren publiziert und die schon von der
zeitgenössischen Literaturkritik als hermetisch qualifiziert werden. In ihrer
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ersten Sammlung Die gestundete Zeit (1953) liegt der Akzent vorwiegend auf
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der Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der


Nachkriegszeit. So verbindet sie beispielsweise im Gedicht Herbstmanöver
die Zeitkritik mit einer Medienkritik:
In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte
und ihren Folgen, von Törichten und Toten,
von Vertriebenen, Mördern und Myriaden
von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt.

(B ACHMANN [1993] 2010, I, 36)

Dass Bachmanns Lyrik dabei „Widerstand gegen eine gefügig gemachte


Sprache“ (K ORTE 2004, 58) leistet, veranschaulichen weitere Wendungen aus
dem gleichen Gedicht. Wenn darin von der „Spreu des Hohns“, vom „Herbst‐
manöver der Zeit“ oder vom „Splitter traumsatten Marmors“ (B ACHMANN
[1993] 2010, I, 36) die Rede ist, dann werden semantisch polyvalente Bilder
und Vorstellungen evoziert, die sich einer einlinigen Deutbarkeit entziehen.
In ihrem Folgeband Anrufung des großen Bären (1956) wird Bachmann
diese Form der poetischen Sprachverdichtung nutzen, um unbestimmte
Ahnungen von einer dystopischen Zukunft zu erzeugen.
Als eigentlicher Repräsentant der hermetischen Dichtung in der Nach‐
kriegszeit gilt Paul Celan, der zudem die „Königsaura des hermetischen
Dichters“ (S CHÄFER 1971, 155) kultiviert habe. Celan, der sich dezidiert
gegen die Unterstellung einer der Verstehbarkeit entzogenen Dichtung
ausspricht (vgl. F ELSTINER 2000, 322), entwickelt gleichwohl eine Poetik
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des hermetischen Gedichts (vgl. S PARR 1989). Zum prominentesten Beispiel


seiner innovativen dichterischen Sprache, deren Bildgebrauch zunächst
noch an den Surrealismus angelehnt ist, avanciert sein Gedicht Todesfuge
(1947) (vgl. S PARR 2020). Dieses Gedicht, das am musikalischen Kompositi‐
onsprinzip einer Fuge orientiert ist, evoziert über die in Wiederholungs-
und Variationsstrukturen eingebundenen Textelemente den Eindruck „po‐
lyphoner Stimmigkeit“ (B UCK 2002, 16). Der in der Todesfuge und auch in
anderen Gedichten seiner frühen Lyrik verwendete Langvers weicht in den
Folgejahren einer Verknappung der dichterischen Sprache, die zunehmend
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von neuen und originellen Substantivkombinationen geprägt ist. Allein


in Titeln wie Fadensonnen oder Lichtzwang gewinnt die charakteristische
„Celansche Sprachverdichtung“ (B AYERDÖRFER 1988, 62) spezifische Kontur.
Dieses Verfahren der Reduktion zeigt sich außerdem im Aufbrechen der
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sprachlichen Syntax, d. h. in der „Unterbrechung, Suspendierung, Zäsur“


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(L ACOUE -L ABARTHE 1988, 39) der lyrischen Rede. Dementsprechend betont


Celan in seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, dass das
moderne Gedicht „eine starke Neigung zum Verstummen“ (C ELAN 1986,
III, 197) aufweise. Trotz dieser Tendenz könne es sich noch am Rande des
Sagbaren behaupten, wo es sich in einer „aktualisierte[n] Sprache“ (C ELAN
1986, III, 197) formiere. Diese liminale Position des Gedichts macht es
widerständig und bedürftig zugleich: Indem es ein „Gegenwort“ verkörpert,
kann es sich der ideologischen Indienstnahme widersetzen; weil es aber ein
„Gegenwort“ verkörpert, bedarf es eines empfänglichen Gegenübers, dem
es ‚sich zuzusprechen‘ (C ELAN 1986, III, 198) versucht.

1.2. Paul Celan: Dichtung als Trauerarbeit

Am 9. September 1948 gibt Paul Celan (eigentlich: Paul Antschel) in einem


Brief an Dolf Sternberger (1907–89), den Herausgeber der Zeitschrift Die
Wandlung, einen knappen Überblick über seine bisherige Vita:
1920 in Czernowitz, in der östlichsten Provinz der ehemaligen Habsburgermo‐
narchie geboren, habe ich, außer einem einjährigen Aufenthalt in Frankreich,
meine Geburtsstadt vor 1941 fast überhaupt nicht verlassen. Was während der
Kriegsjahre das Leben eines Juden war, brauche ich nicht zu erwähnen. 1945 kam
ich nach Bukarest, das ich 1947 verließ, um nach Wien zu gehn. Seit Juli 1948 lebe
ich in Paris. (C ELAN 2019, 43)
1. Sprachverdichtung 37

Der am 23. November 1920 geborene Celan verbringt seine Jugend, wie
er brieflich darlegt, in Czernowitz, der traditionellen Hauptstadt der Buko‐
wina, die damals zu Nordrumänien und heute zur Westukraine gehört.
Dort wächst er mehrsprachig auf: Während sein Vater für die jüdische
Erziehung sorgt, die auch das Erlernen des Hebräischen umfasst, vermittelt
ihm seine Mutter die deutsche Sprache; später kommt in der Schule die
rumänische Sprache hinzu. Frühzeitig tritt bei ihm eine hohe „Sensibilität
für lyrische Dichtung“ (F ELSTINER 2000, 31) zutage. Diese Disposition zeigt
sich darin, dass er und sein Schulkamerad Immanuel Weissglas (1920–79)
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damit beginnen, erste Gedichte zu verfassen. Nach dem Abschluss der


Schulausbildung geht Celan 1938 für ein Jahr nach Frankreich, um in Tours
Medizin zu studieren. In Czernowitz setzt er diese Ausbildung jedoch nicht
fort, sondern nimmt ein Studium der Romanistik auf.
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Als Czernowitz gegen Mitte Juni 1940 von russischen Truppen besetzt
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wird, kann Celan sein Studium zunächst noch fortführen. Das ändert sich
ein Jahr später, als deutsche Truppen Anfang Juli 1941 in Czernowitz
einmarschieren. Die jüdischen Einwohner werden „in ein Ghetto getrieben
und später zu Zehntausenden deportiert“ (F ELSTINER 2000, 36). Ende Juni 1942
werden Celans Eltern in das Zwangsarbeiterlager Michailowka gebracht,
in dem der Vater an Typhus stirbt und die Mutter von einem SS-Mann
erschlagen wird. Nachdem er davon erfahren hat, schreibt Celan betroffen
an seinen Freund Erich Einhorn: „Deine Eltern sind gesund, Erich, ich habe
mit Ihnen gesprochen […]. Das ist sehr viel, Erich, Du kannst Dir nicht
vorstellen, wie viel.“ (C ELAN 2019, 25) Anders als seine Eltern entgeht Celan
der Deportation und kommt in das 400 km südlich von Czernowitz gelegene
Arbeitslager Tăbărești, wo er Zwangsarbeit im Straßenbau leisten muss.
Trotz der strapaziösen Lebensbedingungen bleibt Celan in dieser Periode
dichterisch produktiv und verfasst ca. 75 eigene Gedichte sowie mehrere
Übersetzungen.
Nach der Einnahme von Czernowitz durch die Rote Armee im Frühjahr
1944 kehrt Celan zunächst in seine Heimatstadt zurück, wo er mit Dichtern
wie Weissglas, Rose Ausländer (1901–88) und Alfred Margul-Sperber (1898–
1967) zusammentrifft. In dieser Zeit entsteht eines der bekanntesten, wenn
nicht gar das berühmteste Gedicht Celans, das mit Pablo Picassos (1881–
1973) Gemälde Guernica (1937) verglichen worden ist: die Todesfuge. Das
Gedicht wird zuerst 1947 in rumänischer Übersetzung gedruckt, die deutsche
Originalfassung erscheint in Celans erster publizierter Lyriksammlung Der
Sand aus den Urnen (1948). Die Todesfuge ist zum einen als Antwort auf
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das von Weissglas zuvor verfasste, aber erst später publizierte Gedicht ER
gelesen worden (vgl. B OLLACK 2006, 47; C ONTERNO 2014, 192). Zum anderen
enthält es auch die Metapher der ‚schwarzen Milch‘, die bereits Ausländer
in ihrem Gedicht Ins Leben (1939) verwendet hatte (vgl. A USLÄNDER 1984/90,
I, 66). Diese Form der produktiven Rezeption verschiedener Prätexte wird
Celan allerdings von missgünstigen Kritikern als unkünstlerische Imitation
vorgeworfen. Eine exponierte Position bezieht in diesem Zusammenhang
vor allem die Schriftstellerin Claire Goll (1890–1977), die Celan zu Beginn
der 1950er Jahre öffentlich des Plagiats bezichtigen wird (vgl. W IEDEMANN
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2000). Demgegenüber wird sich Weissglas konsequent gegen eine solche


Unterstellung aussprechen:
Im Bereich der Dichtung kommt es – mag auch der Umriß einer Metapher von
einem Gebilde ins andere herüberleuchten – immer nur auf Gewinn und Verlust
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im rein Künstlerischen an. Und die Todesfuge ist tief verankert im lyrischen Be‐
wußtsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität.
(zit. nach G OẞENS [2008] 2012, 48)

Die Todesfuge, die „zum Inbegriff für Dichtung ‚nach Auschwitz‘“ (F ELSTINER
2000, 53) geworden ist, markiert den Beginn von Celans dichterischer
Neuorientierung in den Jahren 1944/45. Wenn er später in seiner Bremer
Literaturpreisrede (1958) sagen wird, dass in der Nachkriegszeit die Sprache
„[e]rreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste“ (C ELAN
1986, III, 185), dann verschweigt der Begriff „Verluste“, was fortan den
„Fluchtpunkt seiner Lyrik“ (L AMPART 2013, 311) bilden wird: die Shoah.
Diese thematische Fokussierung hat zugleich poetologische Konsequenzen:
Es geht Celan nicht um die mimetische Abbildung, sondern um die „Wirk‐
lichkeitssuche bei zugleich radikaler Problematisierung der sprachlichen
Annäherung an die gesuchte Wirklichkeit“ (L AMPART 2013, 309). Als Aus‐
druck dieser „Problematisierung“ gelten in Celans Lyrik vor allem seine
antirealistische Darstellungsweise und seine pointierte Sprachverdichtung.
Die daraus resultierende Unmöglichkeit eines unmittelbaren Verstehens hat
wiederholt dazu geführt, Celans Gedichte als ‚dunkel‘ zu kennzeichnen.
Schon Karl Krolow (1915–99) hat in seiner Vorlesungsreihe Aspekte zeitge‐
nössischer deutscher Lyrik (1961) festgehalten: „Bei ihm [Celan] kommt es
zu einer Beschattung der Worte im Gedicht.“ (K ROLOW [1961] 1963, 149) Am
Beispiel des Gedichts Sprich auch du erläutert Krolow, wie sich allmählich
eine Schattenwelt formiert, in der das Gedicht schließlich „dem Verstummen
zutreibt“ (K ROLOW [1961] 1963, 151). Diese Tendenz zur radikalen Reduktion
1. Sprachverdichtung 39

zeigt sich verstärkt in den Lyriksammlungen der 1960er Jahre: „das Gedicht
[wird] der Beinahe-Unmöglichkeit, dem Fast-Verstummen abgewonnen.“
(H ARTUNG [1970] 1973, 253)
Im April 1945 gelangt Celan nach Bukarest und wird dort als Übersetzer
und Verlagslektor tätig. In dieser Periode entsteht nicht nur sein Gedicht
Der Sand aus den Urnen; auch unterstützt Margul-Sperber ihn dabei, einen
Publikationsort für seine Lyrik zu finden. Dem Schriftsteller Max Rychner
(1897–1965), der 1947 einige Gedichte Celans in der Schweizer Tageszeitung
Die Tat abdrucken lassen wird, teilt er allerdings auch seine grundsätzliche
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Befürchtung mit:
[…] ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache
zu schreiben. Wenn meine Gedichte erscheinen, kommen sie wohl auch nach
Deutschland und – lassen Sie mich das Entsetzliche sagen – die Hand, die mein
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Buch aufschlägt, hat vielleicht die Hand dessen gedrückt, der der Mörder meiner
Mutter war … (C ELAN 2019, 27)

Am 17. Dezember 1947 erreicht Celan als sogenannte ‚Displaced Person‘


nach einer „furchtbar schweren Reise“ (C ELAN 2019, 30), die er zu Fuß hinter
sich gebracht hat (ca. 1760 km), den Bestimmungsort Wien. Zuvor hatte
bereits Margul-Sperber mit Otto Basil (1901–83), dem Herausgeber der Zeit‐
schrift Plan, Kontakt aufgenommen und ihm Gedichte Celans übermittelt.
Als er in Wien eintrifft, ist das letzte Heft des Plan (1948) gerade konzipiert,
das nicht nur 17 Gedichte Celans enthalten wird, sondern auch eine lobende
Einschätzung Margul-Sperbers. Darin heißt es: „Paul Celan [ist] der Dichter
unserer westöstlichen Landschaft […]. Ich […] glaube, daß Der Sand aus den
Urnen das wichtigste deutsche Gedichtbuch dieser letzten Dezennien ist,
das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes.“ (zit. nach D OR [1970]
1973, 282) Celans erster Gedichtband Der Sand aus den Urnen erscheint
1948 mit zwei Lithografien des Grafikers und Malers Edgar Jené (1904–84)
(vgl. I VANOVIĆ 2001, 79), dem Wiener „‚Papst‘ des Surrealismus“ (C ELAN
2019, 31). Als Celan nach der Drucklegung jedoch feststellen muss, dass der
Band zahlreiche Druckfehler enthält, entscheidet er sich, ihn einstampfen
zu lassen.
Im Juli 1948 reist Celan nach Paris, wo er sich dauerhaft niederlässt,
aber zunächst ein „Fremder“ (D OR 2001, 133) bleibt. Auf Vermittlung der
Dichterin Ingeborg Bachmann (1926–73), mit der ihn eine mehrjährige
Liebesbeziehung verbindet (vgl. B ACHMANN /C ELAN 2008), erhält er im Mai
1952 die Gelegenheit, an einer Tagung der Gruppe 47 teilzunehmen. Aller‐
40 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

dings wird ihm dort unterstellt, seine Gedichte „im Tonfall von Goebbels
vorgetragen“ (L ENZ 1988, 316) zu haben. Bei dieser Tagung lernt Celan
unter anderem Willi August Koch (1903–80) kennen, den Cheflektor der
Deutschen Verlagsanstalt. Dort erscheint sein zweiter Gedichtband Mohn
und Gedächtnis (1952), in den zahlreiche Gedichte aus Der Sand aus den
Urnen – wie etwa die Todesfuge – Eingang finden. Während Celan in den
1950er Jahren als Übersetzer tätig ist, erlangt er mit den Gedichtbänden
Von Schwelle zu Schwelle (1955), den er seiner Gattin Gisèle Lestrange
(1927–91) widmet, und Sprachgitter (1959) auch in Deutschland größere
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Bekanntheit. Nach der Verleihung des Bremer Literaturpreises (1958) erhält


er 1960 den Georg-Büchner-Preis, auf den er mit einem „poetische[n]
Manifest in Gestalt einer Dankesrede“ (F ELSTINER 2000, 215) reagiert: mit
seiner Rede Der Meridian. Doch trotz der wachsenden Anerkennung sieht
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sich Celan neuerlichen Vorwürfen ausgesetzt: Neben den Nachwirkungen


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der genannten Goll-Affäre trifft ihn die 1965 in der Zeitschrift Merkur
artikulierte Unterstellung, mit seiner Todesfuge das Leid des jüdischen
Volks ästhetisiert und damit ‚beschönigt‘ zu haben. Daraufhin vermerkt
Celan sarkastisch: „jetzt, beim streng nach Adorno denkenden […] Merkur,
weiß man endlich, wo die Barbaren zu suchen sind.“ (zit. nach F ELSTINER
2000, 291) Zu Beginn und nochmals Mitte der 1960er Jahre wird Celan
aufgrund eines Nervenversagens in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung widmet er sich weiterhin
seinem lyrischen Werk: In den 1960er Jahren entstehen die Sammlungen Die
Niemandsrose (1963), Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) und Lichtzwang
(1970); aus dem Nachlass werden Schneepart (1971) und Zeitgehöft (1976)
veröffentlicht. Vermutlich am 20. April 1970 nimmt sich Celan in Paris das
Leben.
Das Gedicht Der Sand aus den Urnen ist wahrscheinlich 1946 während
Celans Aufenthalt in Bukarest entstanden. Bereits frühzeitig gehört es zu
jenen Konvoluten, die zur Veröffentlichung an Max Rychner und Otto Basil
geschickt werden (vgl. G OẞENS [2008] 2012, 46 f.). Basil veröffentlicht das
Gedicht mitsamt 16 anderen unter der Überschrift Der Sand aus den Urnen
in seiner Zeitschrift Plan (1948), rät aber von einer Buchpublikation ab: „An
eine Buchausgabe ist aber vorläufig hier in Österreich nicht zu denken,
man kauft keine Lyrikbücher, nicht einmal von bekannten Dichtern.“ (zit.
nach G OẞENS 2001, 59 f.) Trotz dieser ‚Warnung‘ bereitet Celan seine
erste Gedichtausgabe vor, für die zwischenzeitlich der Titel Der Pfeil der
Artemis erwogen wird (vgl. S ENG 2001, 103). Da der ursprüngliche Plan,
1. Sprachverdichtung 41

sie im Verlag von Erwin Müller zu veröffentlichen (vgl. C ELAN 2019, 31),
scheitert, vermittelt Jené die Verbindung zum Wiener Sexl-Verlag. Celan,
der die Herstellung des Bandes nicht überwachen kann, ist von der Druck‐
ausgabe, wie er Rychner schreibt, tief enttäuscht: „das Buch erschien voller
Druckfehler, mit dem geschmacklosesten Einband, den ich je gesehn, und
obendrein […] mit zwei Beweisen äußerster Geschmacklosigkeit“ (C ELAN
2019, 45), womit die Lithografien Jenés gemeint sind. Da „13 der insgesamt
48 Gedichte des Bandes“ (S ENG 2001, 107) fehlerhaft sind, ordnet Celan an,
den Band einstampfen zu lassen. Bei der Neupublikation der Gedichte in
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der Sammlung Mohn und Gedächtnis verändert Celan ein weiteres Mal die
Zusammenstellung und Anordnung der Zyklen. Gehört das Titelgedicht
Der Sand aus den Urnen in der Sammlung Der Sand aus den Urnen noch
zum Zyklus Mohn und Gedächtnis (vgl. C ELAN 1986, III, 46), wird es in der
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Sammlung Mohn und Gedächtnis in den Zyklus Der Sand aus den Urnen
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eingegliedert (vgl. C ELAN 1986, I, 22). Die Fassungen sind fast identisch, nur
an zwei Stellen ändert Celan die Interpunktion (vgl. C ELAN 2003, II/III/1,
163 f.). Wir legen hier die Fassung aus Der Sand aus den Urnen (1948)
zugrunde.
Der Sand aus den Urnen

Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.


Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann.
Er schlägt dir die Trommel aus Moos und bitterem Schamhaar,
mit schwärender Zehe malt er im Sand deine Braue.
5 Länger zeichnet er sie, als sie war, und das Rot deiner Lippe.
Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz.

(C ELAN 2003, II/III/1, 46; C ELAN 1986, III, 46)

Das Titelgedicht besteht aus einer einzigen Strophe, die ihrerseits sechs
reimlose, daktylische Verse umfasst. Wie schon Winfried Menninghaus fest‐
gestellt hat, bildet der „daktylisch-anapästische Langzeiler“ die „metrische
Dominante“ (M ENNINGHAUS 1988, 173) in den Sammlungen Der Sand aus den
Urnen und Mohn und Gedächtnis. Obwohl die Hebungszahl der einzelnen
Verse in diesem Gedicht variiert, lässt sich eine regelmäßige Struktur
erkennen: Die rahmenden Verse 1 und 6 weisen jeweils vier Hebungen
auf, die nächstfolgenden Verse 2 und 5 jeweils sechs Hebungen und die
Mittelverse 3 und 4 jeweils fünf Hebungen. Gleichwohl sind auch metrische
42 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Unregelmäßigkeiten festzustellen: Zum einen beginnen Vers 2, 3, 4 und 6


mit einem Auftakt, Vers 1 und 5 dagegen nicht; zum anderen sind nicht alle
daktylischen Versfüße vollständig realisiert, was sich insbesondere an den
durchgängig katalektischen Versschlüssen zeigt. Dabei fällt wiederum auf,
dass die Verse 1 bis 5 stimmlos enden, während das Ende von Vers 6 dadurch
akzentuiert wird, dass es stimmhaft endet („Herz“).
Die formale metrische Rahmung durch zwei daktylische Vierheber kor‐
respondiert mit der inhaltlichen Anlage des Gedichts: Ist in den Versen 2 bis
4 von den Aktivitäten eines Spielmanns die Rede, wird in Vers 1 lediglich
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ein „Haus des Vergessens“ benannt und in Vers 6 das angesprochene Du


als Handelnder beschrieben. Das Gedicht setzt zunächst mit einem deskrip‐
tiven Sprechakt ein: „Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.“ (v. 1)
Das demonstrativ am Versbeginn positionierte Farbattribut kennzeichnet
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einen Vorgang schleichender Verwesung, der mit der Prozessualität des


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Vergessens korrespondiert. Das dem Verfall anheimgegebene Haus erinnert


an jenes marode Anwesen, das im Mittelpunkt von Edgar Allan Poes
(1809–49) Kurzgeschichte The Fall of the House of Usher (1839) steht, in der
jedoch das titelgebende Gebäude nicht von Schimmel, sondern von einem
Pilzgeflecht überzogen ist. Auch wenn offen bleiben muss, inwieweit Celan
in der Entstehungszeit seines Gedichts mit dem Werk Poes vertraut war,
und daher nur von einer intertextuell möglichen Parallele ausgegangen
werden kann, wirkt die Vorstellung höchst ungewöhnlich, ein Haus für das
Vergessen zu reservieren. Wenn man diesem Gedanken folgt, könnte hier
eine Umkehrung des aus der Mnemotechnik bekannten ‚Gedächtnispalasts‘
vorliegen, der dazu dient, in bestimmten Erinnerungsräumen konkrete
Erinnerungsinhalte zu deponieren.
Auch wenn im zweiten Vers ohne direkte Referenz von „wehenden
Tore[n]“ die Rede ist, legt es die semantische Kohärenz nahe, diese auf das
„Haus des Vergessens“ zu beziehen. Daraus ergibt sich eine erste topografi‐
sche Orientierung: Der Fokus wird nun darauf gerichtet, was „[v]or“ dem
Haus und damit außerhalb jener „wehenden Tore“ geschieht. Zwar bleibt
unklar, wie es Toren möglich sein soll, wehen zu können, jedoch gewinnt
der Schwellenbereich zwischen Innen und Außen auf diese Weise einen
fließenden Charakter. In diesem Zusammenhang kann erneut an die zitierte
Kurzgeschichte Poes erinnert werden, in der auch das Gedicht The Haunted
Palace enthalten ist, in dessen vierter Strophe die Durchlässigkeit eines
Palasttores anhand einer ‚Schar von Echos‘ („A troop of Echoes“; P OE 1846,
73) thematisiert wird. Die ‚wallende‘ Bewegung dieser Echos („flowing,
1. Sprachverdichtung 43

flowing, flowing“; P OE 1846, 73) auf der Grenze von Innen und Außen
korrespondiert mit der „wehenden“ Bewegung der Tore bei Celan. Vor die‐
sen Toren beginnt sich die Gestalt eines „enthauptete[n] Spielmann[s]“ zu
formieren, der omnipräsent zu sein scheint, da er vor „jedem der wehenden
Tore“ (v. 2) sichtbar wird. Auffällig ist dabei, dass der Spielmann einem Du
zugeordnet ist, für das er in den Folgeversen künstlerisch tätig zu werden
beginnt: Er trommelt, er malt und er zeichnet. Zwar bleibt die Position
dieses Du unbestimmt, jedoch wird hier angenommen, dass es in dem
eingangs erwähnten „Haus des Vergessens“ situiert ist und von dort auf das
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Außengeschehen blickt. Besonders auffällig ist, dass mit dem Verb „blaut“
(v. 2) nach „[s]chimmelgrün“ der nächste Farbwert aufgerufen wird. Weil
sich das Verb ‚blauen‘ semantisch nicht aus dem Gedicht erschließen lässt,
ist es für die Deutung hilfreich, den literaturgeschichtlichen Gehalt dieses
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Farbwerts zu berücksichtigen. Das hervorstechende Blau ist eine Farbe,


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die seit der deutschen Romantik mit der Bedeutung ungestillter Sehnsucht
verknüpft ist. Exemplarisch sei auf Novalis’ (1772–1801) Romanfragment
Heinrich von Ofterdingen (1802) verwiesen, in dem sich die Titelfigur auf
die Suche nach der blauen Blume begibt. Demgegenüber ist intratextuell
auch an Celans Todesfuge zu denken, mit der er seine Sammlung Der Sand
aus den Urnen beschließt. Der einzige Reim, der in dem Gedicht enthalten
ist, bezieht sich auf die Augenfarbe des Todes und auf die Zielgenauigkeit
einer abgeschossenen Kugel: „sein Aug ist blau / […] er trifft dich genau“
(C ELAN 1986, III, 64). Im Unterschied zu diesen zwei Deutungskontexten
scheint das ‚Blauen‘ des Spielmanns eher einer an Intensität gewinnenden
Frühlingsfarbe zu gleichen, wie sie etwa Eduard Mörike (1804–75) in seinem
Gedicht Er ist’s (1832) geschildert hat: „Frühling läßt sein blaues Band /
Wieder flattern durch die Lüfte“ (M ÖRIKE 1997, I, 684). Zugleich ist es auch ein
„unverhofftes blau“ (G EORGE 2008, 48), wie es in Stefan Georges (1868–1933)
Gedicht Komm in den totgesagten park und schau (1897) vorkommt. Darüber
hinaus kann an das Gestaltungsmittel der ‚Verblauung‘ gedacht werden,
das in der Malerei eingesetzt wird, um eine größere Tiefenwirkung zu
erzielen. Bei Celan entsteht wiederum der Eindruck, als werde dieser Effekt
umgekehrt: Durch das ‚Blauen‘ gewinnt der Spielmann an Sichtbarkeit und
Präsenz.
Die Künstlerfigur, die vor „jedem der wehenden Tore“ auftaucht, ist in
doppelter Weise versehrt: Sie ist enthauptet worden und muss sich „mit
schwärender Zehe“ (v. 4) – d. h. mit einem schmerzenden bzw. geschwolle‐
nen Fußglied – fortbewegen. Aufgrund seiner Enthauptung lässt sich der
44 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Spielmann auch als eine in der Tradition der mittelalterlichen Totentänze


stehende Figuration des Todes begreifen. In der Lyrik des 19. Jahrhunderts
ist die Figur des Spielmanns noch sehr präsent (vgl. z. B. Adelbert von
Chamisso: Der Spielmann, Friedrich Rückert: Der Spielmann, Joseph von
Eichendorff: Der irre Spielmann). Bei Celan macht der Spielmann nicht nur
durch sein ‚Blauen‘, sondern auch durch das Schlagen der „Trommel“ (v. 3)
auf sich aufmerksam. Zwar liegt es nahe, in diesem Zusammenhang an
den ersten Vers aus Heinrich Heines (1797–1856) Gedicht Doktrin (1844)
zu denken: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“ (H EINE 2005, IV,
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412); beide Trommlerfiguren unterscheiden sich jedoch signifikant: Geht es


Heines Trommler darum, mit hoher Laustärke eine große Breitenwirkung
zu erzielen, schlägt Celans Spielmann ausschließlich für das angesprochene
Du seine Trommel „aus Moos und bitterem Schamhaar“ (v. 3), womit er
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allenfalls dumpfe Töne erzeugt. Die Parallele zu Heine lässt sich allerdings
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insofern erweitern, als im achten seiner Traumbilder ein lyrischer Sprecher


mit einem Spielmann konfrontiert wird, der zur Mitternacht aus seinem
Grab steigt. Auch wenn er keine Trommel, sondern eine Zither verwendet,
stimmt er jenes „alte Lied“ an, das von der „Liebe“ (H EINE 2005, I, 31) handelt.
Dieses „Lied“ scheint auch bei Celans Spielmann anzuklingen, da seine
Trommel unter anderem aus „bitterem Schamhaar“ gefertigt ist, mit dem
semantisch auf Erotik und Sexualität hingewiesen wird, wie Celan später
selbst angedeutet hat (vgl. C ELAN 2019, 512).
In Verbindung mit den Folgeversen entsteht die schemenhafte Vorstellung
einer Frauenfigur, deren einzelne Körperteile prominent am Ende der Verse
3 bis 5 genannt werden: „Schamhaar“, „Braue“, „Lippe“. Im Unterschied zu
barocken Liebesgedichten geht es jedoch nicht um die Entfaltung eines
Schönheitskatalogs, sondern um den Versuch, eine Körpergestalt bildlich zu
evozieren. Parallel dazu kommt es zu einer topografischen Verschiebung:
Der Spielmann befindet sich zwar noch außerhalb des Hauses, hat aber
inzwischen eine Sandfläche erreicht. Mit dieser Bewegung geht die Verän‐
derung seiner künstlerischen Tätigkeit vom Trommeln zum Malen und
Zeichnen einher. Trotz seiner bereits genannten Versehrung nimmt er es auf
sich, „mit schwärender Zehe […] deine Braue“ (v. 4) in den Sand zu malen.
Dass sich der Wunsch nach bildlicher Vergegenwärtigung nur bedingt
erfüllen lässt, macht der Folgevers kenntlich: „Länger zeichnet er sie, als sie
war, und das Rot deiner Lippe.“ (v. 5) Denn sofern der Komparativ „Länger“
nicht zeitlich, sondern räumlich aufgefasst wird, mündet der Prozess der
Veranschaulichung in eine Inkongruenz zwischen der ursprünglichen und
1. Sprachverdichtung 45

der gezeichneten Braue. Offenbar scheint dieses Körperteil im Rahmen der


künstlerischen Umsetzung nicht adäquat abbildbar zu sein. Auch wenn offen
bleibt, wie es dem Spielmann gelingt, das „Rot deiner Lippe“ in den Sand zu
zeichnen, wird über die substantivierte Farbe „Rot“ eine Verbindung zum
Adjektiv „Schimmelgrün“ und zum Verb „blaut“ geschaffen.
In welcher Beziehung stehen aber der Spielmann und das permanent
angesprochene Du? Es wird deutlich, dass der Spielmann nicht nur ein‐
deutig auf sein Gegenüber bezogen ist („dein enthaupteter Spielmann“),
sondern auch ausschließlich für sein Gegenüber tätig wird („schlägt dir
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die Trommel“). Aufgrund dieser engen Zuordnung verwundert es, dass der
anschließende Versuch, die Braue des Du adäquat wiederzugeben, misslingt.
Offenbar scheint es sich um den Versuch zu handeln, die benannten Körper‐
partien im Modus des Erinnerns zu visualisieren. In diesem Horizont lässt
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sich das Gedicht als Auseinandersetzung mit dem Thema des möglichen
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bzw. scheiternden Erinnerns zu begreifen.


Sofern sich das Du anfangs noch im „Haus des Vergessens“ aufhält,
kann der Spielmann, der vor dessen Toren auftaucht, als Verkörperung der
Erinnerung gedeutet werden. Durch das Schlagen der Trommel lockt er das
Du aus dem Innenraum des Vergessens in den Außenraum der Erinnerung.
Doch die Versehrung des Spielmanns verweist auf ein beschädigtes oder
nur noch unzureichendes Erinnerungsvermögen. So scheitert der Versuch,
ein genaues Bild des Du zu vergegenwärtigen. Hinzu kommt, dass die
Silben der Possessivpronomen „deine“ und „deiner“ (v. 4, 5) aufgrund der
daktylischen Versstruktur jeweils auf zwei Senkungen liegen. Die fehlende
Betonung unterstreicht, wie ferngerückt die nur schemenhaft greifbare
Gestalt noch ist bzw. bleiben wird. Dennoch liegt der eigentliche Akzent auf
der Erinnerungsleistung: Das „Haus des Vergessens“ konnte verlassen und
der Prozess des Gedenkens initiiert werden.
Dass es sich konkret um ein Totengedenken handelt, legt das Signalwort
„Urnen“ im Schlussvers nahe: „Du füllst hier die Urnen und speisest dein
Herz.“ (v. 6) Auffällig ist zunächst, dass nun das angesprochene Du tätig
wird und die Urnen zu füllen beginnt. Als Füllmaterial verwendet es –
in Anlehnung an den Titel – offenbar jenen Sand, in den der Spielmann
zuvor die Braue gemalt hat. Auch wenn die „Chiffre des Sandes“ in diesem
Gedicht „eigentümlich stumm und gestaltlos“ (H ONOLD 2012, 83) bleibt, steht
sie doch in Beziehung zu Parallelstellen wie „Sandvolk“ und „Sandstadt“
(C ELAN 1986, I, 188) bzw. „Sandkunst“ und „Sandbuch“ (C ELAN 1986, II, 39).
Lydia Koelle hat erläutert, dass Celan mit dem „Sandvolk“ das Volk Israel
46 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

bezeichnet, „das in der Wüste auf die Verheißung des Gelobten Landes
wartet, um dann in alle Winde verstreut zu werden wie Flugsand“ (K OELLE
2001, 154). Insofern gemahne Der Sand aus den Urnen „auch an die Shoah:
zermahlen ist der Leib Israels, zu Asche verbrannt, zu Staub zerfallen“
(K OELLE 2001, 154). Allerdings ist in dem Gedicht weder von Asche noch von
Staub die Rede, sondern lediglich von dem Sediment „Sand“. Wenn nun das
Du anfängt, die Urnen zu befüllen, setzt das voraus, dass diese vorher leer
gewesen sein müssen. Diese Leere ist zugleich die Leerstelle, die das Gedicht
umkreist: Unausgesprochen geht es um das vernichtete jüdische Volk, dem
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ein Totengedächtnis gestiftet werden soll. Weil von den Ermordeten nicht
einmal mehr Asche geblieben ist, greift das Du stellvertretend auf den Sand
zurück, um die abwesenden Toten zu bestatten und ihnen „einen Ort, eine
letzte Ruhestätte anzuweisen“ (W ERNER 1998, 9). Diese Form der Trauerarbeit
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gibt nicht nur den Toten ihre Würde zurück, sondern spendet auch dem Du
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emotionalen Trost („und speisest dein Herz“). Die Erinnerung, die nur noch
ein unzuverlässiges Bild der verlorenen Menschen liefert, materialisiert sich
schließlich im Gedenkobjekt der Urne. In poetologischer Perspektive lässt
sich die Lyriksammlung von 1948 selbst als eine solche Urne begreifen, deren
Gedichte jener „Sandkunst“ angehören, die an die Shoah gemahnt.
In jenem Jahr, in dem Celan von Wien nach Paris übersiedelt, erscheint
nicht nur Der Sand aus den Urnen, sondern auch sein Prosatext Edgar Jené
und der Traum vom Traume, der Celans frühestes poetologisches Zeugnis
darstellt. Darin geht er zwar von den Bildern Jenés aus, um gleichsam eine
‚Erkundungsfahrt‘ in die „Tiefsee“ (C ELAN 1986, III, 158) ihrer Bedeutungen
zu unternehmen, reflektiert aber grundsätzlich die „Möglichkeiten der
Sprache, in die Tiefe der bereits verdrängten Geschichte und ihrer Entstel‐
lungen vorzudringen“ (I VANOVIĆ 2001, 69). Celan geht es folglich weniger
um die Affirmation des von Jené vertretenen Surrealismus als vielmehr
um die Begründung eines eigenen dichtungstheoretischen Konzepts. Seine
tastenden Überlegungen, die auf die Frage nach den Möglichkeiten lyrischen
Sprechens nach Auschwitz ausgerichtet sind, münden zehn Jahre später in
die Forderung nach einer „graueren Sprache“:
Ihre Sprache [gemeint ist die der deutschen Lyrik] ist nüchterner, faktischer
geworden, mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist […] eine
‚grauere Sprache‘, eine Sprache, die […] nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘
gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder
unbekümmert einhertönte. (C ELAN 1986, III, 167)
1. Sprachverdichtung 47

1.3. Ingeborg Bachmann: Zeitreflexion und Zeitkritik

Ingeborg Bachmann wird am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Dort


besucht sie zunächst die Volksschule und später das Bundesrealgymnasium,
während sie ihre Ferien oft im Kärntner Gailtal verbringt, aus dem ihr Vater
stammt. Diesen Grenzraum, den die Länder Österreich, Italien und Slowe‐
nien bilden, wird Bachmann später zum utopischen Ort eines „gewaltfreien
Miteinanders der Völker“ (A LBRECHT /G ÖTTSCHE 2002, 2) stilisieren. Schon
in ihrer Schulzeit beginnt Bachmann, Gedichte zu schreiben und Lieder zu
komponieren. In einem Interview hält sie 1973 rückblickend fest:
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Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper
sein sollte, habe ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen
singen sollten, also habe ich es selbst schreiben müssen. […] Aber ich habe ganz
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plötzlich aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles weggeworfen, weil ich
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gewußt habe, daß es nicht reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Und dann
habe ich nur noch geschrieben. (B ACHMANN [1983] 1991, 124)

Da es für sie in der Kärntner Provinz „nichts zu tun“ und „nichts zu lernen“
(B ACHMANN [1993] 2010, 24) gibt, beginnt Bachmann, im Herbst 1945 an
der Universität Innsbruck Philosophie und Germanistik zu studieren. Ein
Semester später wechselt sie an die Universität Graz und im Herbst 1946 an
die Universität Wien. Wie es in einem autobiografischen Kurztext aus dem
Jahr 1952 heißt, repräsentiert die österreichische Hauptstadt für Bachmann
einen Sehnsuchtsort: „Als der Krieg zu Ende war, ging ich fort und kam
voll Ungeduld und Erwartung nach Wien, das unerreichbar in meiner
Vorstellung gewesen war.“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301) Während in der
Kärntner Illustrierten ihre erste Erzählung mit dem Titel Die Fähre (1946)
gedruckt wird, ist Bachmann bestrebt, in Wien einen Mentor zu finden, der
sie, wie sie brieflich schreibt, bei der „Veröffentlichung literarischer Arbei‐
ten“ (zit. nach M C V EIGH 2016, 22) gezielt unterstützt. Durch die Vermittlung
des Lyrikers Hermann Hakel (1911–87) gelingt es Bachmann gegen Ende
1948, erste Gedichte in dessen Zeitschrift Lynkeus zu publizieren, die das
programmatische Ziel verfolgt, „an Vergessenes zu erinnern, Fernes anzunä‐
hern, Fremdes bekanntzumachen und junge Autoren kritisch zu sichten und
zu veröffentlichen“ (zit. nach H AKEL 1991, 11). Da sich allmählich das Ende
ihres Studiums nähert, beginnt das „Dissertationsproblem“, wie Bachmann
an ihre Eltern schreibt, „brennend“ (zit. nach M C V EIGH 2016, 40) zu werden.
Nach dem Weggang des Metaphysikers Alois Dempf (1891–1982), bei dem
48 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

sie zunächst zu promovieren anfängt, übernimmt der Sprachphilosoph


Victor Kraft (1880–1975) die Betreuung ihrer Dissertation, die Bachmann
1949 mit dem Titel Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin
Heideggers abschließt.
Im März 1948 lernt sie in Wien den Dichter Paul Celan kennen, eine
Begegnung, die den Anfang einer „schwierigen, nur in kurzen Intervallen
gelingenden Liebesbeziehung“ (A LBRECHT /G ÖTTSCHE 2002, 4) markiert. Am
20. Mai 1948 berichtet Bachmann ihren Eltern von dem „surrealistische[n]
Lyriker Paul Celan, […] der sehr faszinierend ist […]. Mein Zimmer ist
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momentan ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten


beliebt.“ (zit. nach L ÜTZ 2001, 114) Zugleich ist das Verhältnis von einem
beständigen dichterischen Austausch geprägt: Bereits zu ihrem 22. Geburts‐
tag schenkt ihr Celan unter anderem ein Gedicht, das „eines der ersten
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in einer Reihe korrespondierender Gedichte [bildet], die Bachmann und


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Celan […] zeit ihres Lebens austauschen werden.“ (L ÜTZ 2001, 116) In einem
nicht abgesandten Brief, den Bachmann Ende 1948 verfasst, will sie Celan
nicht nur an den gemeinsamen Frühling, sondern auch an „das Gedicht
[erinnern], das wir miteinander gemacht haben“ (B ACHMANN /C ELAN 2008,
8). Während Celan seinen Lyrikband Mohn und Gedächtnis im März 1953
mit der Widmung versieht: „Für Ingeborg, ein Krüglein Bläue“, antwortet
ihm Bachmann im Dezember 1953 mit ihrem Lyrikband Die gestundete
Zeit, dem die Dedikation vorangestellt ist: „Für Paul – getauscht, um
getröstet zu sein“ (B ACHMANN /C ELAN 2008, 54, 56). Zwischen den Gedichten
dieser Sammlungen lassen sich zahlreiche intertextuelle Korrespondenzen
ausmachen (vgl. B ÖSCHENSTEIN /W EIGEL 2000). Ihre vielschichtige Beziehung
zu Celan wird Bachmann schließlich in ihrem autobiografisch gefärbten
Roman Malina (1971) verarbeiten.
Als wichtiger Förderer Bachmanns, den sie noch vor Celan im Herbst
1947 kennenlernt, erweist sich der Schriftsteller Hans Weigel (1908–91). Mit
ihm verbindet sie, wie Weigel rückblickend angibt, schon bald „eine sehr
intensive Freundschaft“ (W EIGEL 1979, 15). Dank der Vermittlung Weigels
erhält Bachmann die Möglichkeit, mehrere Artikel in den Zeitschriften Der
Turm und Film zu publizieren (vgl. M C V EIGH 2016, 58–84). In ihrer damaligen
Situation ist es aus ökonomischer Sicht nicht zu unterschätzen, dass diese
journalistischen Arbeiten vergütet werden:
1. Sprachverdichtung 49

Wir waren alle Mitte zwanzig, notorisch geldlos, notorisch hoffnungslos, zu‐
kunftslos, kleine Angestellte oder Hilfsarbeiter, einige schon freie Schriftsteller,
das hieß soviel wie abenteuerliche Existenzen, von denen niemand recht wußte,
wovon sie lebten, von Gängen aufs Versatzamt jedenfalls am öftesten. (B ACHMANN
[1993] 2010, IV, 323)

Als Bachmann im Herbst 1951 als Radiojournalistin bei dem Sender


Rot-Weiß-Rot (RWR) angestellt wird, beginnt sie, wieder regelmäßig Ge‐
dichte zu schreiben. Über Weigel kommt der Kontakt zu Hans Werner
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Richter (1908–93) zustande, der als Leiter der Gruppe 47 Bachmann zu einem
Treffen im Mai 1952 einlädt (vgl. L UNDIUS 2017, 208), auf dem auch Celan
seine lyrischen Werke präsentiert. Bei der Folgetagung erhält Bachmann den
Preis der Gruppe 47 für ihre Gedichte, die im Herbst 1953 unter dem Titel
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Die gestundete Zeit in Alfred Anderschs (1914–80) Buchreihe studio frankfurt


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bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheinen. Diese Lyriksammlung, mehr


noch aber ein Spiegel-Heft von 1954, in dem sie großformatig auf dem Cover
abgebildet ist und in einem längeren Artikel vorgestellt wird (vgl. W AGNER
1954), machen sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Bachmann, die sich in den folgenden Jahren in Italien aufhält, veröffent‐
licht 1956 ihre zweite Gedichtsammlung Anrufung des Großen Bären. Im
Wintersemester 1959/60 wird sie eingeladen, die neugegründete Gastdo‐
zentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität zu übernehmen.
Ein Jahr später publiziert Bachmann ihre Erzählsammlung Das dreißigste
Jahr (1961), in der sie den Fokus auf die Nachkriegszeit in Österreich und
Deutschland richtet. Nach der mehrjährigen Beziehung zu dem Schriftsteller
Max Frisch (1911–91), die 1962 ihr Ende findet (vgl. G LEICHAUF 2013), nimmt
Bachmann ein einjähriges Stipendium der Ford-Foundation in Berlin wahr.
Nach der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis siedelt sie 1965
endgültig nach Rom über. Obwohl sie zunehmend unter ihrer Tabletten-
und Alkoholabhängigkeit leidet, veröffentlicht sie 1971 den Roman Malina
und 1972 die Erzählsammlung Simultan. Infolge eines Brandunfalls stirbt
Bachmann am 26. September 1973 in Rom.
Wenngleich sie sich in ihrer Wiener Zeit mit „eigenen poetologischen
Reflexionen“ (M C V EIGH 2016, 112) weitgehend zurückhält, entsteht 1952 ein
autobiografischer Text, an dessen Ende Bachmann kurz über die Aufgabe der
Lyrik nachdenkt. Das Verfassen von Gedichten sei vor allem deswegen als
das „Schwerste“ anzusehen, weil der lyrische Text nicht nur dem „Rhythmus
der Zeit [zu] gehorchen“ habe, sondern es auch gelingen müsse, „die Fülle
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der alten und neuen Dinge auf unser Herz hin[zu]ordnen“ (B ACHMANN [1993]
2010, IV, 302). Drei Jahre später hebt Bachmann in ihrem Artikel Wozu
Gedichte? (1955) zudem die mnemotechnische Leistung der Lyrik hervor:
Gedichte seien dazu geeignet, „das Gedächtnis zu schärfen“, indem sie „For‐
meln in ein Gedächtnis leg[en]“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 303). Damit wird
die produktive Qualität der Lyrik akzentuiert: Im Unterschied zu der zuvor
benannten Ordnungsfunktion erzeuge ein Gedicht poetische „Formeln“, mit
denen die Wirklichkeit neu bzw. anders erfasst werden könne. Auch wenn
sich diese „Formeln“ vielfach einem unmittelbaren Verstehen entziehen, hat
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sich Bachmann 1971 in einem Interview gegen den Vorwurf ausgesprochen,


sie würde „den Inhalt [i]hrer Verse verrätseln“ (B ACHMANN [1983] 1991, 83).
Da die konventionalisierte Sprache nicht für den Dichter tauglich sei, müsse
es darum gehen, sich von ihrem Alltagsgebrauch zu emanzipieren: „ein
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Schriftsteller [kann] sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen,
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bedienen, sondern er muß sie zerschreiben.“ (B ACHMANN [1983] 1991, 84)


Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit wird zuerst am 15. August 1952 in
der Neuen Zeitung veröffentlicht. Die Stimmung, die darin anklingt, kommt
bereits in einem Brief zum Ausdruck, den Bachmann am 17. Juli 1951 an
Celan richtet: „Das Leben in Österreich ist in diesem letzten Jahr um so
vieles härter, um so vieles hoffnungsloser geworden, dass man sehr viel Mut
braucht, um sich, jeden Tag von neuem, hineinzufinden.“ (B ACHMANN /C ELAN
2008, 28 f.) Nach der Einzelpublikation erscheint das Gedicht im Herbst
1953 am Ende des ersten Zyklus in Bachmanns gleichnamigem Gedichtband.
Der Literaturkritiker Günter Blöcker wird die Sammlung ein Jahr später als
„Novum in der Lyrik seit 1945“ (zit. nach B LAU 2008, 353) bezeichnen.

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.


Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
5 und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
10 die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
1. Sprachverdichtung 51

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,


er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
15 er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.


20 Schnür deinen Schuh.
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Jag die Hunde zurück.


Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
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Es kommen härtere Tage.


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(B ACHMANN [1993] 2010, I, 37)

Das Gedicht ist in reimlosen, metrisch ungebundenen Versen gestaltet. Es


besteht aus vier Strophen, deren Versanzahl sich kontinuierlich verringert:
Umfasst die erste Strophe elf Verse, besteht die vierte Strophe nur aus
einem einzigen Vers, der mit dem identischen Eingangsvers das Gedicht
rahmt: „Es kommen härtere Tage.“ (v. 1, 24) Diese Wiederholung ist Teil von
Bachmanns „ausgefeilte[r] Technik der Iteration“ (K UCHER /R EITANI 2000, 16),
die insbesondere in den anaphorischen Versanfängen der zweiten Strophe
sichtbar wird. Darüber hinaus lässt sich insbesondere in der dritten Strophe
die Verwendung des Zeilenstils feststellen, d. h. in dieser Strophe stimmen
Vers- und Satzende in jeder Zeile überein. Grundsätzlich ist das Gedicht
von einer zunehmenden Verknappung gekennzeichnet: Enthält die erste
Strophe noch mehrere Enjambements, dominieren in der zweiten und
dritten Strophe parataktische Reihungen. Zudem endet die dritte Strophe
mit dem einzigen Ausrufezeichen des gesamten Gedichts.
Bereits der Titel des Gedichts erscheint mehrdeutig: Er verweise „auf das
Motiv der vanitas mundi und zugleich auf eine Banalität der Zeiterfahrung:
Zeit ist nur vorübergehend gegeben“ (S CHÄRF 2002, 32). Während jedoch
Motive der Vergänglichkeit erst im weiteren Textverlauf greifbar werden,
geht die Rede von der „gestundete[n] Zeit“ über die „Banalität der Zeiterfah‐
rung“ hinaus. Denn ‚Stundung‘ ist auch ein Rechtsbegriff, der die zeitliche
Verschiebung einer fälligen Forderung bezeichnet. Die im Titel aufgerufene
52 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

„gestundete Zeit“ kann einerseits auf jenen ‚Stundungszeitraum‘ verweisen,


in dem die ausstehenden Forderungen noch nicht geltend gemacht werden
können. Andererseits legt die Formulierung nahe, dass die Zeit selbst das
Objekt der Stundung sei. Im ersten Fall wird der Eindruck einer ablaufenden
Frist, im zweiten Fall der einer verpflichtenden Rückzahlung erzeugt. Durch
den zweiten und zehnten Vers gewinnt diese Vorstellung an Bedrohlichkeit:
Die gewährte Stundung gilt nur „auf Widerruf“ und kann jederzeit zurück‐
genommen werden.
Mit dem Eingangsvers wird die Gewissheit artikuliert, dass eine beschwer‐
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liche Periode bevorsteht. Der Komparativ „härtere Tage“ (v. 1) lässt darauf
schließen, dass sich die Verhältnisse im Vergleich mit der Gegenwart verschär‐
fen werden. Auch wenn bereits hier Bachmanns „Ästhetik des Unbehagens“
(K ORTE 2004, 58) zutage tritt, bleibt die einleitende Voraussage im Grunde
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vollkommen unbestimmt. Der Hinweis, dass die „auf Widerruf gestundete


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Zeit / […] am Horizont“ (v. 2 f.) sichtbar wird, verstärkt die Dringlichkeit
des Eingangsverses. Die Visualisierung des Abstraktums Zeit intensiviert
den Eindruck, als stehe der Ablauf eines Ultimatums unmittelbar bevor.
Fraglich bleibt dabei, welche lyrische Sprechinstanz hier das Wort ergreift.
Christian Schärf zufolge spreche in dem Gedicht „keine in Wien promovierte
Philosophin von 27 Jahren, sondern ein Gott, […] der deus absconditus des
Dichterhimmels, der vertriebene Gott also, […] der unbehauste Gott der Orakel“
(S CHÄRF 2002, 34). Die erste Vermutung versteht sich von selbst: Die bei der
Erstpublikation des Gedichts im Übrigen 26-jährige Ingeborg Bachmann kann
als empirische Verfasserin nicht mit der lyrischen Sprechinstanz identisch sein.
Die zweite Vermutung rekurriert auf die ursprünglich biblische Vorstellung
vom ‚verborgenen Gott‘ (Jes 45,15), die mit der Vokabel ‚unbehaust‘ verknüpft
wird, die wiederum auf den Schriftsteller Hans Egon Holthusen (1913–97) und
seine einflussreiche Essaysammlung Der unbehauste Mensch (1951) verweist.
Tatsächlich liegt es nahe, die Eingangsworte einer göttlichen Sprecherfigur
zuzuweisen, zeugen sie doch von einer Voraussicht, die den menschlichen
Wissenshorizont übersteigt. Demgegenüber kristallisiert sich zwischen der
Sprecherfigur und dem erstmals im vierten Vers genannten „du“ im Verlauf des
Gedichts ein Verhältnis heraus, das eher den Charakter einer partnerschaftli‐
chen Beziehung besitzt.
Dass die verbleibende Zeit zu schwinden scheint, legt auch das Tem‐
poraladverb „Bald“ nahe, mit dem der vierte Vers eingeleitet wird. Dem
angesprochenen Du werden sofort zwei Aufträge mitgeteilt: Zum einen wird
es aufgefordert, „den Schuh [zu] schnüren“ (v. 4), was auf eine bevorstehende
1. Sprachverdichtung 53

Wanderung hindeutet. Zum anderen soll es „die Hunde zurückjagen in die


Marschhöfe“ (v. 5). Denkbar ist, dass die Hunde daran gehindert werden
sollen, dem Du auf seiner Wanderung zu folgen. Der nächste Vers wird
zwar mit der kausalen Konjunktion „Denn“ (v. 6) eingeleitet, nur bieten der
fünfte und sechste Vers keinerlei Begründung für die zuvor artikulierten
Aufträge: „Denn die Eingeweide der Fische / sind kalt geworden im Wind.“
Mit dieser Aussage werden vielmehr semantische Leerstellen erzeugt:
Warum sind die Eingeweide der Fische überhaupt nach außen gekehrt,
so dass sie im Wind erkalten konnten? Steht das Erkalten tatsächlich in
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ursächlichem Zusammenhang mit dem Aufbruch, der von dem Du verlangt


wird? Die Fische tragen zumindest dazu bei, dass sich im Verlauf des
Gedichts eine „Kulissenszenerie“ (W IMMER 2014, 167) herausbildet, die aus
„Marschhöfe[n]“ (v. 5), „Sand“ (v. 12) und „Meer“ (v. 22) besteht. Damit ist ein
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Bildbereich erfasst, der schon frühzeitig das poetische Denken Bachmanns


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bestimmt: „Immer waren es Meere, Sand und Schiffe, von denen ich träumte“
(B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301).
Das Erkalten der „Eingeweide der Fische“ setzt einen Verlust von Vitalität
ins Bild, der auch im Folgevers zu erkennen ist: „Ärmlich brennt das Licht der
Lupinen.“ (v. 8) Diese Pflanzen, die alliterativ mit dem „Licht“ verknüpft und
wohl wegen ihrer Kerzenform zu Lichtspendern stilisiert sind, verfügen nur
noch über eine reduzierte Leuchtkraft. Trotz der deutlichen Fokussierung
auf die Lupinen, die im vorletzten Vers erneut aufgerufen werden, hat Bach‐
mann in einem späteren Interview bekannt, dass sie die Natur „überhaupt
nicht“ interessiere und dass sie keinesfalls zu den „Gräserbewisperern ge‐
höre“ (B ACHMANN [1983] 1991, 45). Da sie Mitte der 1950er Jahre ausdrücklich
Celan und Günter Eich (1907–72) zu jenen Dichtern zählt, die fähig seien,
das „Neue“ (B ACHMANN [1983] 1991, 16) zum Ausdruck zu bringen, ist es
denkbar, dass sie bei der Gestaltung von Die gestundete Zeit an Eichs Gedicht
Lupinen gedacht haben mag, in dem das Bild eines gelben Lupinenfeldes
evoziert und sogar von der „Lupinenflamme“ gesprochen wird (vgl. E ICH
1991, I, 197 f.). Bei Bachmann wird allerdings auf die Nennung einer Farbe
verzichtet: Es ist anzunehmen, dass das „[ä]rmlich[e]“ Leuchten der Lupinen
auf den „Nebel“ zurückzuführen ist, der vom „Blick“ (v. 9) des Du ‚gespurt‘
wird. Der nachfolgende Doppelpunkt erweckt den Eindruck, als gebe der
Nebel die Sicht auf die „gestundete Zeit“ (v. 10) frei.
In der zweiten Strophe verändert sich die Konstellation insofern grund‐
legend, als die „Geliebte“ (v. 12) des Du sowie ein anonymes „er“ (v. 13) in
Erscheinung treten. Auch wenn sich das Personalpronomen „er“ gramma‐
54 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

tisch auf den Sand beziehen lässt, legt der Verlauf der zweiten Strophe nahe,
dass damit ein lebendiger Akteur und kein lebloses Sediment bezeichnet
wird. Während die Geliebte passiv im Sand versinkt, trägt das männliche
Subjekt aktiv zu ihrer Vernichtung bei. In parallel strukturierten Versen
wird sein brutales Verhalten deutlich gemacht: ‚Umsteigt‘ er zunächst ihr
„wehendes Haar“ (v. 13), fällt er ihr danach ins Wort, um sie schließlich zum
Schweigen zu bringen. Erinnert die abschließend genannte „Umarmung“
(v. 18) an die einstige Vertrautheit, verweist das Attribut „sterblich“ (v. 16)
auf das Resultat der anhaltenden Erniedrigung: Mit dem Euphemismus,
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die Geliebte sei „willig dem Abschied“ (v. 17), wird ihr bevorstehender
Tod angekündigt. Selbst wenn das Du des Gedichts und das männliche
Subjekt nicht miteinander identisch sind, trägt das Du Mitschuld an ihrem
Untergang. Denn der Hinweis, dass diese Vernichtung sich „[d]rüben“ (v. 12)
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ereignet, veranlasst das Du nicht dazu, die Geliebte zu verteidigen. Vielmehr


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scheint es sich von seiner persönlichen Bindung zu lösen, was die radikale
Trennung vorbereitet, die in der dritten Strophe gefordert wird.
Die dritte Strophe besteht aus parallel angeordneten Versen, in denen die
lyrische Sprechinstanz mit fünf Imperativen konkrete Handlungsanweisun‐
gen gibt, die – so die Schriftstellerin Hilde Spiel (1911–90) in einer Rezension
von 1974 – wie „Hammerschläge“ (S PIEL [1994] 2011, 24) wirken. Dabei
werden in vier Fällen Motive der ersten Strophe erneut aufgegriffen. Der
Vers „Sieh dich nicht um“ (v. 19) nimmt nicht nur Bezug auf das Geschehen
der zweiten Strophe, von dem sich das Du dezidiert abwenden soll, sondern
rekurriert auch auf den Orpheus-Mythos (vgl. H ÖLLER 2002, 66). Nach dem
Tod seiner Gattin Eurydike versuchte der Sänger Orpheus, sie aus dem
Hades zu befreien, vermochte aber nicht, das ihm auferlegte Blickverbot
einzuhalten. In diesem Kontext ist ferner an das dreizehnte Sonett aus
dem zweiten Teil von Rainer Maria Rilkes (1875–1926) Sonetten an Orpheus
(1922) zu denken (vgl. H ÖLLER 2002, 66), das mit der Aufforderung beginnt:
„Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir“ (R ILKE 1996, 79). Der
Imperativ, sich nicht umsehen zu sollen, folgt überdies „dem Prinzip der Ver‐
stellung“ (B EICKEN 2009, 96), das bereits Bertolt Brecht (1898–1956) in seiner
Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1930) propagiert
hatte. Der produktive Antikenbezug wird außerdem mit dem Vers „Jag die
Hunde zurück“ (v. 21) fortgesetzt, der mit dem Bild des heimkehrenden
Odysseus korrespondiert, der von seinem Jagdhund Argos erkannt wird
(vgl. H ÖLLER 2002, 66). Im Unterschied zu dieser Wiederbegegnung wird
dem Du bei Bachmann die strikte Abschiednahme abverlangt: Während
1. Sprachverdichtung 55

die Gebote, den Schuh zu schnüren und die Hunde zurückzujagen, den
Appellen aus der ersten Strophe entsprechen, verschärfen die übrigen zwei
Forderungen die vorherigen Aussagen. Ebenso wie das männliche Subjekt
der Geliebten in der zweiten Strophe zu schweigen befiehlt, befiehlt die
lyrische Sprechinstanz dem Du zu handeln: „Wirf die Fische ins Meer. / Lösch
die Lupinen!“ (v. 22 f.) Vor allem die verlangte Tilgung des Lupinenlichts
mutet wie eine Stillstellung allen Lebens an, bevor das Du seinen endgültigen
Abschied nimmt.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Schlussvers „Es kommen härtere Tage“
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(v. 24) geradezu resignativ, da es keine Aussicht gibt, dieser bevorstehenden


Zukunft zu entgehen. Damit ist freilich noch immer nicht gesagt, worauf die
Rede von der Ankunft „härtere[r] Tage“ konkret zielt. Eine solche Festlegung
lässt Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit aufgrund seiner Offenheit und
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der bisweilen „orakelhafte[n] Unklarheit“ (S CHÄRF 2002, 33) einiger Verse


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aber auch gar nicht zu. Ulrike Marquardt hat vorgeschlagen, das Gedicht
im Kontext der anbrechenden 1950er Jahre zu sehen: Während Bachmann
selbst von den unmittelbaren Nachkriegsjahren als einer „aufgeregten,
hoffnungsträchtigen Zeit“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 185) gesprochen hat,
markiere die Entstehungszeit des Gedichts die anschließende Phase der
„sich verhärtenden gesellschaftlichen Verhältnisse“, in denen die Tendenz
zunimmt, „die Katastrophe des Nationalsozialismus vergessen zu machen“
(M ARQUARDT 1994, 693). Diese Einschätzung korrespondiert mit dem Gedicht
Früher Mittag, das auch in der Sammlung Die gestundete Zeit enthalten
ist. Darin wird der gesellschaftliche Zustand geschildert, der „Sieben Jahre
später“ – d. h. sieben Jahre nach 1945 – zu beobachten sei:
Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.

(B ACHMANN [1993] 2010, I, 44)

Diesen Deutungsansatz hat Gernot Wimmer weitergeführt und Bachmanns


Gedicht Die gestundete Zeit konsequent als „Erinnerung an die Kriegstrei‐
berei des NS-Totalitarismus“ (W IMMER 2014, 166) gelesen. Auch wenn Bach‐
manns Bilder und Motive auf diese Weise vereindeutigt werden, ist doch
der Versuch unternommen, Bachmanns Konzept einer ‚neuen‘ lyrischen
Sprache interpretativ aufzunehmen. Dieses Konzept wird sie wenige Jahre
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später in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen beschreiben: „Mit einer


neuen Sprache“, heißt es dort, „wird der Wirklichkeit immer dort begegnet,
wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht“ (B ACHMANN [1993]
2010, IV, 192).

1.4. Günter Eich: Lyrik des ‚Kahlschlags‘?

Günter Eich wird am 1. Februar 1907 in der Brandenburger Kleinstadt


Lebus geboren. Sein Biograf Heinz F. Schafroth hat vermerkt, dass Eich
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„zeitlebens nichts getan [habe], [um] seine Biografie zu überliefern […]. Sie
ist deshalb, soweit der Autor selbst sie vermittelt, eine Reihe nackter Zahlen,
Ortsnamen, Daten, Fakten.“ (S CHAFROTH 1976, 7) Bis Eichs Familie 1918 nach
Berlin übersiedelt, ist seine Kindheit von zahlreichen Umzügen geprägt.
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1922 folgt die Übersiedlung nach Leipzig, wo er das Nikolai-Gymnasium


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besucht und 1925 seine Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt. Danach
beginnt er, Sinologie in Berlin zu studieren und lernt dort den Schriftsteller
Martin Raschke (1905–43) kennen. In der Wahl dieses Studienfachs – später
kommen Volkswirtschaft und Handelsökonomie hinzu – zeigt sich Eichs
frühe Tendenz zur Absonderung, wie ein Brief an seinen Freund Willi R.
Fehse (1906–77) belegt: „(außerdem lerne ich Chinesisch) weltabgewandt,
in buddhistischer Versenkung […]. Die Welt ist eben madiger Käse.“ (zit.
nach V IEREGG 1996, 6) Während seines Studiums beteiligt sich Eich an einer
Ausschreibung, die in der von Willy Haas (1891–1973) herausgegebenen
Zeitschrift Die literarische Welt publik gemacht wird. Aus den mehr als 8.000
Einsendungen werden unter anderem acht Gedichte Eichs ausgewählt (vgl.
C UOMO 1989, 10). Diese Gedichte werden in die von Fehse und Klaus Mann
(1906–49) herausgegebene Anthologie jüngster Lyrik (1927) aufgenommen
und dort unter dem Pseudonym ‚Erich Günter‘ veröffentlicht. Wie Stefan
Zweig (1881–1942) im Vorwort der Anthologie darlegt, ist es Ende der 1920er
Jahre für junge Lyriker äußerst schwierig, ihre Werke zu publizieren:
Die lyrische Generation von heute steht vor verschlossenen Türen. Keine einzige
Zeitschrift mehr, die dem Lyrischen Wert und Wichtigkeit gibt. Kein Verleger, der
nicht vor einem Versbuche erschrickt. Kein Jahrbuch mehr, kein Sammelpunkt,
keine Förderung und vor allem: kein Publikum. (Z WEIG 1927, 3)

Bald darauf geht Eich für ein Jahr nach Paris, wo er seine sinologischen
Studien fortsetzt. Später hat er dargelegt, wie prägend dieser Aufenthalt
für ihn war: „Ein Jahr in Paris nährte ich [einen] Hang zur Welt der
1. Sprachverdichtung 57

Kunst und verdarb den Sinn für bürgerliche Sicherung.“ (E ICH 1991, IV, 464)
Wie sehr sich dort sein „Hang zur Welt der Kunst“ ausprägt, wird etwa
daran deutlich, dass er „sich unter die Bohème vom Montparnasse“ (R OLLIN
1996, 32) mischt und engen Kontakt zu dem Surrealisten Philippe Soupault
(1897–1990) pflegt, dessen Roman Le Nègre (1927) er zu übersetzen plant
(vgl. F EHSE 1973, 36). Nach seiner Rückkehr aus Frankreich beginnt Eich an
Raschkes Zeitschrift Die Kolonne (1929–32) mitzuarbeiten und lernt über die
gleichnamige Künstlervereinigung bald Dichter wie Peter Huchel (1903–81)
oder Horst Lange (1904–71) kennen. Während Eichs erster Lyrikband unter
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dem schlichten Titel Gedichte (1930) erscheint, betont er zeitgleich in der


Kolonne, dass der moderne Dichter keine gesellschaftspolitische Funktion
übernehmen solle: „Ich bin zunächst Lyriker und alles, was ich schreibe, sind
mehr oder minder innere Dialoge. […] Und Verantwortung vor der Zeit?
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Nicht im geringsten. Nur vor mir selber.“ (E ICH 1991, IV, 457) Angesichts
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des erstarkenden Nationalsozialismus wirkt eine solche Stellungnahme auf


den ersten Blick eigenartig „zeitfremd“ (S TORCK 1988, 17). Demgegenüber
ist aber zu berücksichtigen, dass Eich mit seiner Aussage die ästhetische
Autonomie der Lyrik verteidigt und damit auch die Geltung seiner ersten
Lyriksammlung legitimiert. Seine Gedichte stehen noch in der Tradition der
naturmagischen Schule und orientieren sich an Vorbildern wie Wilhelm
Lehmann und Oskar Loerke (vgl. N EUMANN 1981, 235).
In seiner kurzen autobiografischen Skizze, die um 1946/47 entstanden sein
dürfte, vermeidet es Eich weitgehend, auf die Zeit des Nationalsozialismus
einzugehen. Das lässt sich einerseits als „Diskretion im Biographischen“
(S TORCK 1988, 2) werten, andererseits aber auch als Versuch, Details der
eigenen Vergangenheit zu verschweigen. Wie Alexander Vieregg in einem
kontrovers diskutierten Essay offengelegt hat, ist Eich von 1933 bis 1940
ein gefragter Rundfunkautor: Gemeinsam mit Raschke verfasst er 75 Folgen
der im Deutschen Reich äußerst beliebten und als Propagandainstrument
genutzten Serie Deutscher Kalender. Monatsbilder vom Königswusterhäuser
Landboten (vgl. V IEREGG 1993; W AGNER 2000, 49–59). Zuvor hatte schon Fehse
rückblickend erwähnt, dass sich Eich „vor dem Ausbruch des Zweiten Welt‐
kriegs […] zu einem unserer bekanntesten Rundfunkautoren entwickelt“
(F EHSE 1973, 41) habe. Mit Kriegsbeginn wird Eich als Wehrpflichtiger
eingezogen und im Oktober 1940 nach Frankreich versetzt. Bald darauf
gelangt er auf Veranlassung von Jürgen Eggebrecht (1898–1982) zurück nach
Berlin, bis er im September 1943 seinen Dienst bei der Luftwaffe antritt (vgl.
58 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

S TORCK 1988, 26). Im April 1945 gerät Eich bei Remagen in amerikanische
Kriegsgefangenschaft.
In dieser Zeit beginnen jene Gedichte zu entstehen, in denen Eich die
Erfahrungen seiner Gefangenschaft verarbeitet und die aufgrund ihrer
sprachlichen Kargheit und Drastik zur sogenannten ‚Kahlschlaglyrik‘ ge‐
rechnet werden. Er publiziert seine ersten Nachkriegstexte in der Kriegsge‐
fangenen-Zeitung Der Ruf, die von Alfred Andersch (1914–80) und Hans
Werner Richter (1908–93) herausgegeben wird. 1948 veröffentlicht Eich
seine zweite Gedichtsammlung mit dem Titel Abgelegene Gehöfte. Wie er
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gegenüber seinem Verleger Georg Kurt Schauer bekräftigt, komme in diesem


Titel seine „Wendung zum Konkreten“ zum Ausdruck: „Das Ungewöhnliche
im Gewöhnlichen, das ist es, was mich interessiert“ (zit. nach S TORCK 1988,
32). Im gleichen Jahr, in dem die Sammlung Abgelegene Gehöfte erscheint,
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nimmt Eich auch an einem Treffen der Gruppe 47 teil. 1950 wird ihm von der
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Gruppe 47 der erste Literaturpreis zugesprochen; gewürdigt werden dabei


vorwiegend jene Gedichte, die Eich später in seiner Sammlung Botschaften
des Regens (1955) veröffentlicht. Neben seiner Produktion von lyrischen Tex‐
ten verfasst Eich zahlreiche Hörspiele und wird 1953 mit dem Hörspielpreis
der Kriegsblinden ausgezeichnet. Nach der Heirat mit der Schriftstellerin
Ilse Aichinger (1921–2016) lebt Eich zunächst in Oberbayern und zieht
1963 nach Großgmain bei Salzburg um. Dort entsteht seine Prosasammlung
Maulwürfe (1968), in der er gezielt die Gattungsgrenzen von Kurzgeschichte
und Gedicht verwischt. Am 20. Dezember 1972 stirbt Eich in Salzburg.
Dass in der Nachkriegszeit eine neue Werkphase beginnt (vgl. N EUMANN
1981, 233), lassen nicht nur Eichs Gedichte der Sammlung Abgelegene Ge‐
höfte erkennen, sondern auch seine poetologischen Positionen, die er nach
1945 bezieht. Auch wenn er sich – etwa im Unterschied zu Hans Magnus
Enzensberger (*1929) – öffentlich kaum zu ästhetischen Fragen äußert, ist
es dennoch unzutreffend, pauschal von Eichs „theoretische[r] Enthaltsam‐
keit“ (M ÜLLER -H ANPFT 1970, 13) zu sprechen. So ist es insbesondere sein
unveröffentlichter Aufsatz Der Schriftsteller 1947, an dem sich ablesen lässt,
wie fundamental sich sein Lyrikverständnis nach 1945 gewandelt hat. Darin
beschreibt er die Aufgabe des modernen Lyrikers:
[…] alles, was er schreibt, sollte fern sein jeder unverbindlichen Dekoration, fern
aller Verschönerung des Daseins. Im Sonnenuntergang, den […] [er] besingt, geht
nicht ein Tag der Gefühle zu Ende, sondern vorerst einmal eine genau meßbare
Anzahl von Stunden, in denen Fabriksirenen ertönen, Straßenbahnen kreischen
1. Sprachverdichtung 59

und ein Bagger den Häuserschutt von den Straßen räumt. […] [S]o trockene Dinge
können bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim
Einatmen des Tannenduftes hat. (E ICH 1991, IV, 469 f.)

Das ästhetische Programm, das Eich nach 1945 entwirft, ist gekennzeichnet
von der „Abkehr vom Inventar der Naturlyrik“ (L AMPART 2013, 140) und von
der Hinwendung zur Gegenwärtigkeit des Urbanen. An anderer Stelle wird
zumindest die Naturerfahrung rehabilitiert, wenn es heißt, dass der Dichter
seine inspirative „Erschütterung nicht nur im Liede der Nachtigall […],
sondern auch vor den Trümmern unserer Städte“ (E ICH 1991, IV, 477) finde.
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Mit der Rede von „Trümmern unserer Städte“ bezieht sich Eich ausdrücklich
auf die desolate Nachkriegswirklichkeit, mit der sich zeitgleich etwa Stephan
Hermlin in seinen Zwölf Balladen von den großen Städten (1945) auseinan‐
dersetzt. In den poetologischen Überlegungen der 1950er Jahre wird jedoch
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seine wachsende Sprachskepsis zunehmend Kontur gewinnen.


Von der Neuausrichtung der eigenen Poetik ist auch Eichs zweite Lyrik‐
sammlung Abgelegene Gehöfte geprägt. Das kommt in erster Linie in jenen
Gedichten zum Ausdruck, die vom Schicksal der Kriegsgefangenen handeln
wie Frühling in der goldenen Meil, Erwachendes Lager, Pfannkuchenrezept,
Camp 16, Blick nach Remagen, Inventur, Latrine, Gefangener bei Nacht und
Der Nachtwind weht. Gleichzeitig „bestehen die Texte […] in Abgelegene Ge‐
höfte hauptsächlich aus Naturhieroglyphen. Pflanzen und Tiere werden zu
diesseitigen Zeichen, die auf die mystische Schöpfungseinheit hinweisen.“
(K RISPYN 1970, 80) Dieses überraschende Festhalten an der naturmagischen
Dichtung, von der sich Eich mit seiner lakonischen Gefangenenlyrik erkenn‐
bar distanziert, hat entstehungsgeschichtliche Hintergründe. Tatsächlich
besteht die Sammlung zu einem Fünftel aus Gedichten, die zwischen
1930 und 1934 entstanden sind und die ursprünglich unter dem Titel
Jugendbildnis als eigenständiger Komplex dargeboten werden sollten (vgl.
S CHAFROTH 1976, 48 f.). Als Eichs ästhetische Neuerung sind die sogenannten
‚Camp‘-Gedichte anzusehen, in denen in sachlich-nüchternem Ton das
leidvolle Leben im Gefangenenlager zur Sprache kommt. Das in diesen
Texten zitathaft aufgerufene „abendländische Kulturgut“ zeugt nur noch
von der „absurde[n] Unvereinbarkeit mit den gegenwärtigen Erfahrungen“
(S CHAFROTH 1976, 52).
Eichs Gedicht Latrine ist vermutlich während seiner Gefangenschaft im
Frühjahr bzw. Sommer 1945 entstanden. Für diese Datierung spricht, dass
er im November 1945 Abschriften einiger Gedichte, die in der ersten Hälfte
60 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

des Jahres entstanden waren, an Horst Lange und die Schriftstellerin Oda
Schaefer (1900–88) schickt und diese Sendung folgendermaßen kommen‐
tiert: „Hier schicke ich euch etwas von der Ernte 45 zur Erbauung und
Verdauung. Es sind die noch genießbaren Gewächse. Was ich sonst noch
habe, handelt vorwiegend von Scheiße, – ein Thema von Ewigkeitswert, wie
uns die Zeit inzwischen gelehrt hat.“ (zit. nach S TORCK 1988, 30) Es liegt nahe,
dass mit dem Hinweis auf jene anderen, von menschlichen Exkrementen
handelnden Texte unter anderem das Gedicht Latrine gemeint sein dürfte.
Wie Eich wenig später darlegt, sei es nicht das Ziel dieser Texte, „den
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Leser oder Hörer in eine schönere Welt zu versetzen, sie bemühen sich
[vielmehr] um Objektivität.“ (EICH 1991, IV, 464) Willi Fehse hat ergänzend
vermerkt, dass Eich schon Ende der 1920er Jahre versuchte, „drastische
Umgangsausdrücke oder gar Vulgarismen wie etwa ‚knöken‘ durch seine
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Dichtungen ‚literaturfähig‘ zu machen“ (F EHSE 1973, 36).


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Latrine wird gemeinsam mit Pfannkuchenrezept und Frühling unter dem


Titel Gedichte aus dem Lager erstmals am 15. November 1946 in der Zeitung
Der Ruf veröffentlicht. Während das Gedicht in dieser Fassung noch aus
zwei Strophen besteht (vgl. E ICH 1991, I, 442), hat es Eich für den Abdruck in
Abgelegene Gehöfte umgestaltet und um zwei Strophen erweitert (vgl. E ICH
1948, 44). Auch wenn diese Lyriksammlung nicht in Binnenzyklen gegliedert
ist, haben die beigegebenen vier Holzschnitte von Karl Rössing (1897–1987)
durchaus die Funktion, einzelne Gedichtgruppen voneinander abzuteilen.
Die Gedichtgruppe, der Latrine zugehört, wird mit dem Gedicht Frühling in
der goldenen Meil eröffnet, in dem bereits die olfaktorische Wahrnehmung
des Lageraborts thematisiert wird:
In trübe Stille das Lager versinkt.
Mein eigener Seufzer füllt kein Ohr.
Als Gruß der Welt noch herüberdringt
der Geruch von Latrine und Chlor.

(E ICH 1991, I, 30)

Wie auch in den anderen ‚Camp‘-Gedichten wird in Latrine die existentiell


bedrohliche Lebenssituation in den improvisierten amerikanischen Gefan‐
genenlagern bei Remagen und Sinzig vergegenwärtigt: „ohne Obdach und
oft mangelhaft mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt, sollen die
US-Lager zahlreiche Opfer gefordert haben“ (S CHÄFER [2009] 2016, 260).
1. Sprachverdichtung 61

Latrine

Über stinkendem Graben


Papier voll Blut und Urin,
umschwirrt von funkelnden Fliegen,
hocke ich in den Knien,

5 den Blick auf bewaldete Ufer,


Gärten, gestrandetes Boot.
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In den Schlamm der Verwesung


klatscht der versteinte Kot.

Irr mir im Ohre schallen


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10 Verse von Hölderlin.


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In schneeiger Reinheit spiegeln


Wolken sich im Urin.

„Geh aber nun und grüße


die schöne Garonne –“
15 Unter den schwankenden Füßen
schwimmen die Wolken davon.

(E ICH 1991, I, 37)

Mit dem Titel des Gedichts ist ein Ort benannt, der für die elementaren
Bedürfnisse des Urinierens und Defäkierens vorgesehen ist. Ursprünglich von
‚lavare‘ (lat. für ‚sich waschen‘, ‚baden‘) abgeleitet, bezeichnet eine Latrine
im 20. Jahrhundert nur noch eine behelfsmäßige Anlage zur Verrichtung der
menschlichen Notdurft. Eichs Gedicht setzt mit einer synästhetischen Wahr‐
nehmung dieses Orts ein, der olfaktorisch durch den Geruch, visuell durch
das Klopapier und akustisch durch das Schwirren der Fliegen vergegenwärtigt
wird. Herbert Heckmann hat dazu angemerkt: „Günter Eich verharrt […] in
einer nüchternen Beobachtung, er deutet nicht, er registriert.“ (H ECKMANN 1997,
128) An dieser Aussage ist zweierlei unzutreffend: Erstens ist Günter Eich der
empirische Verfasser des Gedichts, während die Beobachtungen, die innerhalb
des Gedichts angestellt werden, von einer anonymen Sprechinstanz ausge‐
hen. Zweitens erscheint der Modus dieser Beobachtungen zwar weitgehend
‚nüchtern‘, ja bisweilen teilnahmslos, jedoch gehen die Wahrnehmungen der
62 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Sprecherfigur über ein reines ‚Registrieren‘ hinaus. Um das zu verdeutlichen,


muss zunächst die formale Anlage des Gedichts bestimmt werden.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen, die jeweils vier Verse umfassen,
wobei nur der zweite und der vierte Vers ein Reimpaar bilden (abcb). Eine
Ausnahme bildet die vierte Strophe, in der zusätzlich der erste und der dritte
Vers über einen unreinen Reim („grüße“ / „Füßen“) miteinander verbunden
sind. Weniger eindeutig verhält es sich dagegen mit der metrischen Faktur
des Gedichts. Mit Ausnahme von Vers 14 weist jeder Vers drei Hebungen
auf, während die Anordnung und Anzahl der Senkungen variiert. Wird von
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den Versen 14 und 15 ausgegangen, lässt sich ein daktylisches Grundmuster


erkennen, das allerdings in den übrigen Versen meist nur in reduzierter
Form hervortritt. Auch die daktylischen Dreiheber in Vers 14 und 15 sind
katalektisch, d. h. ihr letzter Versfuß ist jeweils nur unvollständig realisiert
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

(v. 14: X x x | X x x | X x [x], v. 15: X x x | X x x | X [x] [x]).


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In der ersten Strophe kommen der erste und dritte Vers dem genannten
daktylischen Grundmuster am nächsten: Während im ersten und dritten
Versfuß von Vers 1 eine Senkung fehlt (v. 1: X x [x] | X x x | X x [x]),
beginnt Vers 3 mit einem Auftakt und weist ebenfalls einen verkürzten
ersten und dritten Versfuß auf (v. 3: x | X x [x] | X x x | X x [x]). Diese
metrische Struktur lässt erkennen, dass die Attribute „stinkendem“ (v. 1)
und „funkelnden“ (v. 3) jeweils einen daktylischen Versfuß ausmachen.
Auf diese Weise werden beide Attribute formal parallelisiert, inhaltlich
aber kontrastiert, indem sie die Opposition von Hässlichkeit und Schönheit
kenntlich machen. Angesichts dieses kalkulierten Gegensatzes wirkt die
Behauptung, die Sprecherfigur würde ihre Umwelt nur ‚registrieren‘, wenig
überzeugend. Hinzu kommt, dass das Adjektiv „funkelnden“ nicht nur
über die Alliteration mit dem Substantiv „Fliegen“ eigens betont wird,
sondern auch wie eine Ausschmückung erscheint, die über eine nüchterne
Schilderung der Wirklichkeit erkennbar hinausgeht. Ferner lässt sich die
Nennung der schwirrenden Fliegen als intertextueller Verweis auf Charles
Baudelaires (1821–67) Gedicht Une Charogne (Ein Aas) lesen (vgl. K AISER
2003, 280), in dem die Zersetzung eines Kadavers detailliert beschrieben wird
(vgl. B AUDELAIRE 1997, 64–67). Dort ist sowohl von Fliegen („les mouches“)
die Rede, die ein Aas ‚umsummen‘, als auch von einem Moment, in dem sich
das Ungeziefer ‚schillernd‘ („en petillant“) – und damit beinahe funkelnd –
zu erheben scheint. Die Baudelaire-Referenz unterstreicht, dass Eich in
Latrine eine Ästhetik des Hässlichen entfaltet.
1. Sprachverdichtung 63

Der Ort, an dem die Kriegsgefangenen urinieren und defäkieren, ist ein
Ort des Ekels. Das verdeutlichen sowohl die olfaktorische Wahrnehmung
des Gestanks als auch die visuelle Wahrnehmung des „Papier[s] voll Blut
und Urin“ (v. 2). Das „Blut“ zeugt ebenso wie der „versteinte Kot“ (v. 8) davon,
dass im Lager Krankheiten grassieren und permanente Mangelernährung
vorherrscht. Um seine Notdurft zu verrichten, hockt der lyrische Sprecher
„in den Knien“ (v. 4). Damit nimmt er eine Körperhaltung ein, die zugleich
als Ausdruck seines demütigenden Gefangenendaseins gelesen werden
kann. Es wirkt daher wie eine vage Fluchthoffnung, wenn der Sprecher
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in der zweiten Strophe, die über ein Enjambement mit der ersten Strophe
verknüpft ist, den Blick in die Ferne richtet. Während die „bewaldete[n]
Ufer“ und die „Gärten“ (v. 5 f.) einen Naturraum repräsentieren, der für
den Sprecher unerreichbar ist und daher paradiesisch anmutet, werden mit
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dem Anblick des „gestrandete[n] Boot[s]“ (v. 6) Spuren der Zivilisation


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sichtbar. Das unbrauchbar gewordene Transportmittel lässt sich überdies


mit dem lyrischen Sprecher in Beziehung setzen, da es dessen Zustand des
‚Gestrandetseins‘ versinnbildlicht. Das Geräusch des ‚klatschenden Kots‘
(v. 8) führt jedoch abrupt in die abstoßende Lebenswirklichkeit zurück.
Die dritte Strophe setzt mit einem Erinnerungsreflex ein: „Irr mir im
Ohre schallen / Verse von Hölderlin.“ (v. 9 f.) Aufschlussreich ist hier eine
der Veränderungen, die Eich gegenüber der ersten Fassung vorgenommen
hat (vgl. S AVAGE 2008, 3), deren zweite Strophe mit den Versen einsetzt: „Im
Fieber schallen im Ohre / mir Verse von Hölderlin.“ (E ICH 1991, I, 442) In
der zweiten Fassung hat Eich die Rede vom Fieberzustand des lyrischen
Sprechers getilgt und durch das Adverb „Irr“ ersetzt, das zunächst einmal
nur auf den Klangmodus der Verse Friedrich Hölderlins (1770–1853) bezogen
ist. Darüber hinaus verweist das Adverb auch auf den ‚Irrsinn‘ Hölderlins,
der aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung zunächst im Uni‐
versitätsklinikum Tübingen zwangsbehandelt, später aber als ‚unheilbar‘
entlassen wurde. Weil Hölderlins Verse im Ohr des lyrischen Sprechers „Irr“
erschallen, entsteht der Eindruck, als würde sich der ‚Irrsinn‘ des Verfassers
auf ihn übertragen. Während erst in der vierten Strophe mitgeteilt wird, um
welche Verse von Hölderlin es sich konkret handelt, endet die dritte Strophe
mit einer visuellen Wahrnehmung: „In schneeiger Reinheit spiegeln / Wol‐
ken sich im Urin.“ (v. 11 f.) Die bildliche Überlagerung von Wolken und Urin
im Moment der Reflexion erzeugt eine Spannung, die erneut die Opposition
von Schönheit (reine Wolken) und Hässlichkeit (unreiner Urin) sichtbar
macht. Eichs eigentlicher Tabubruch besteht jedoch darin, „Hölderlin“ auf
64 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

„Urin“ zu reimen. Diese Engführung hat bei zeitgenössischen Leserinnen


und Lesern für Empörung und noch in den 1990er Jahren für nachhaltige
Irritation gesorgt (vgl. K AISER 2003, 279).
Aber Eich geht es nicht allein darum, die Kollision von zwei konträren
Sprachregistern herbeizuführen: auf der einen Seite die dichterische Hoch‐
sprache, die Hölderlin mit seiner Lyrik repräsentiert, und auf der anderen
Seite die drastische Fäkalsprache, die das zweimal verwendete Reimwort
„Urin“ (v. 2, 12) stellvertretend anzeigt. Vielmehr greift Eich auch deshalb
auf Hölderlin zurück, weil er ein Dichter ist, der im Nationalsozialismus
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gezielt instrumentalisiert wurde, um die Kriegsbegeisterung zu steigern. So


hat beispielsweise der Schriftsteller Dieter Wellershoff (1925–2018) rückbli‐
ckend festgehalten:
Wir waren für diesen Ausnahmezustand erzogen worden durch die Lektüre
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zahlreicher Kriegsbücher, aber auch in der feierlichen Sprache der Poesie. Ich
weiß nicht mehr, wann ich Hölderlins Gedicht Der Tod fürs Vaterland las oder
rezitiert hörte. Es muß in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf dem
Höhepunkt des nationalen Narzißmus. (W ELLERSHOFF 2007, 184)

Die Popularisierung Hölderlins war insbesondere durch den Neudruck


seiner Werke befördert worden. Neben der verbreiteten Feldauswahl Höl‐
derlin (1943), die der NS-Germanist Friedrich Beißner (1905–77) zusammen‐
gestellt hatte und die in einer Auflage von 100.000 Exemplaren gedruckt
worden war, hatte Eichs Freund Martin Raschke die Anthologie Deutscher
Gesang (1940) mit Gedichten Hölderlins veröffentlicht (vgl. B REUER 1988,
355; S CHÄFER [2009] 2016, 261). Vor diesem Hintergrund lässt sich Eichs
lyrische Gestaltung auch als Kommentar auf den Umgang mit Hölderlin im
Dritten Reich lesen: Es fragt sich, wie nachhaltig die „schneeige[] Reinheit“
(v. 11) dieser Dichtung vom „Urin“ der nationalsozialistischen Ideologie
beschmutzt worden ist.
In der vierten und abschließenden Strophe wird der Hölderlin-Rekurs
durch einen direkten intertextuellen Bezug weiter intensiviert. Das Zitat:
„Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne –“ (v. 13 f.) stammt aus der
ersten Strophe von Hölderlins Hymne Andenken, die er wahrscheinlich nach
seiner Rückkehr aus Bordeaux 1803 verfasst hat. Obwohl nicht überliefert
ist, auf welche Textvorlage Eich zurückgegriffen hat, liegt es zumindest
nahe, dass er den Frontbericht seines Freundes Raschke gelesen hat, der 1942
in der Zeitschrift Das Innere Reich erschienen war. Raschke berichtet darin,
wie die Soldaten auswendig gelernte Gedichte aufsagen und zitiert selbst
1. Sprachverdichtung 65

die Eingangsverse aus Hölderlins Hymne Andenken (vgl. S CHÄFER [2009]


2016, 262). Zu berücksichtigen ist ferner die minimale Änderung, die Eich
gegenüber dem Prätext vornimmt: Aus dem Komma, das bei Hölderlin auf
den Flussnamen „Garonne“ folgt (H ÖLDERLIN 1992, I, 360), wird bei Eich
ein Gedankenstrich. Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines abrupten
Satzabbruchs: Die so erzeugte Leerstelle scheint dazu aufzufordern, sich die
gesamte Hymne zu vergegenwärtigen.
Wie bereits vermerkt, weicht Vers 14 aufgrund seiner Zweihebigkeit
von den übrigen dreihebigen Versen des Gedichts ab. Diese metrische
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Akzentuierung unterstreicht die Nennung des Flussnames „Garonne“, wo‐


gegen der Rhein, der in anderen ‚Camp‘-Gedichten wie Pfannkuchenrezept,
Camp 16 oder Blick nach Remagen explizit erwähnt wird, in Latrine nicht
vorkommt (vgl. L AMPART 2013, 159). In Hölderlins Hymne ist der Flussname
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„Garonne“ zudem mit der auch von Eich zitierten Aufforderung verbunden,
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einen Gruß auszurichten. In diesen Gruß werden weiterhin die „Gärten


von Bordeaux“ einbezogen, wobei präzisierend auf jene Stelle verwiesen
wird, „wo am scharfen Ufer / […] ein edel Paar / Von Eichen und Silberpap‐
peln“ (H ÖLDERLIN 1992, I, 360) wächst. Diese Kombination aus „Gärten“,
einem „Ufer“ und Bäumen ähnelt auffällig jenen Naturelementen, die in
der zweiten Strophe von Latrine angeführt werden. Darüber hinaus wird
die vierte Strophe von Hölderlins Hymne mit zwei Fragen eingeleitet:
„Wo aber sind die Freunde? Bellarmin / Mit dem Gefährten?“ (H ÖLDERLIN
1992, I, 361) Die Einsamkeit des lyrischen Sprechers, die in diesen Fragen
zum Ausdruck kommt, korrespondiert mit der isolierten Position, von der
aus Eichs Sprecherfigur ihre Umwelt wahrnimmt. Über diese Perspektive
hinaus kristallisiert sich in der Nennung des Namens „Bellarmin“, der in
Hölderlins Briefroman Hyperion (1797/99) den Adressaten der Titelfigur
verkörpert, die Sehnsucht nach dem entschwundenen Freund. Bei Eich wird
zwar kein solcher Wunsch nach einem Freund artikuliert, jedoch ist die
Hölderlin-Referenz auf zweifache Weise – nämlich über die Anthologie
Deutscher Gesang sowie über den Frontbericht in Das Innere Reich – mit
Martin Raschke verbunden. In biografischer Hinsicht mag der bei Eich
implizit mitgedachte Ruf „Wo aber sind die Freunde?“ auch Raschke gegolten
haben, der am 24. November 1943 in Newel, im Nordwesten Russlands,
kriegsbedingt gestorben war (vgl. H AEFS /S CHMITZ 2002).
„Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ (H ÖLDERLIN 1992, I, 362) Mit diesem
berühmten Vers endet Hölderlins Hymne Andenken. Bei Eich hingegen
folgen auf das Hölderlin-Zitat noch zwei Schlussverse, in denen allerdings
66 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

nichts ‚Bleibendes‘, sondern vielmehr etwas Vergehendes in den Blick


gerät. Die unter den Füßen des lyrischen Sprechers ‚davonschwimmenden
Wolken‘ (v. 16) veranschaulichen euphemistisch das Abfließen seines Urins,
der in ironischer Wendung zum Adressaten des in Vers 13 ausgesprochenen
Grußes avanciert. Parallel zu dieser Bewegung scheint der lyrische Sprecher
seinen Halt zu verlieren, da ausdrücklich von seinen „schwankenden Füßen“
(v. 15) die Rede ist. Diese physische Destabilisierung kann zum einen
mit seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung begründet werden, die
der „versteinte Kot“ (v. 8) bereits symptomatisch sichtbar gemacht hat.
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Zum anderen ist es ebenso denkbar, dass die plötzliche Einsicht in die
eigene Gefangenschaft diesen Schwindel ausgelöst hat: Während die zitierte
„Garonne“ bei Hölderlin an „Traubenbergen“ vorbeifließt und gemeinsam
mit der Dordogne „meerbreit“ (H ÖLDERLIN 1992, I, 362) in den Atlantik
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

mündet, ist der lyrische Sprecher seiner Bewegungsfreiheit weitgehend


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beraubt. Noch radikaler als in Eichs Gedicht Inventur ist er auf die eigene
Kreatürlichkeit, auf seine „nackte[n] Überlebensreserven“ (K AISER 2003, 280)
verwiesen. Umso mehr hält er an dem fest, was ihm verblieben ist: am
kulturellen Erbe, das er als immateriellen Besitz im Modus des ‚Andenkens‘
zu bewahren versucht. Doch der Reim „Hölderlin“ / „Urin“ demonstriert
auch, wie wenig sich der hohe Ton (genus sublime) der zitierten Hymne
eignet, um das Dasein im Gefangenenlager zu erfassen (vgl. B REUER 1988,
357). Dieser Lebenswirklichkeit, der Eich in seinem Gedicht Latrine ein
Andenken gestiftet hat, entspricht nur noch der niedere Ton (genus humile).
In seiner Rede auf den Preisträger (1959) anlässlich der Verleihung des
Georg-Büchner-Preises an Günter Eich hat der Laudator Walter Höllerer
(1922–2003) betont, dass sich Eichs Dichtung dadurch auszeichne, dass sie
„keine lyrischen Reservate, keine Worte und Situationen [kenne], die spezi‐
ell für Lyrik geeignet oder verboten wären. Ein Gedicht über die Latrine ist
ebenso wahr […] wie ein Gedicht An eine Lerche.“ (H ÖLLERER 1970, 46) Dieser
Anspruch auf ‚Wahrheit‘ besitzt insofern eine politische Qualität, als Eich
in seinen Nachkriegsgedichten darauf zielt, das Widerständige, Abstoßende
und Beunruhigende mit lyrischen Mitteln zu gestalten. Auch wenn er in den
1950er Jahren eine stärker sprachskeptische Haltung auszubilden beginnt –
wie insbesondere seine Rede Der Schriftsteller vor der Realität (1956) belegt,
die er in verkürzter Form in Hans Benders (1919–2015) Anthologie Mein
Gedicht ist mein Messer (1961) unter dem Titel Trigonometrische Punkte
veröffentlicht –, konstatiert Eich selbst, dass sich in seinen nach 1945
entstandenen Dichtungen ein „Hang zum Realen“ manifestiert habe: „Ich
2. Naturerfahrung 67

habe als verspäteter Expressionist und Naturlyriker begonnen, heute enthält


meine Lyrik viel groteske Züge, das liegt wohl an einem Hang zum Realen,
es ist mir nicht möglich, die Welt nur in der Auswahl des Schönen und Edlen
und Feierlichen zu sehen.“ (E ICH 1991, IV, 503)

2. Naturerfahrung

2.1. Poetologische Hinführung


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Gedichte über die Natur sind seit der griechischen Antike überliefert.
Üblicherweise spricht man von Naturgedichten, wenn die Natur zum Ge‐
genstand der lyrischen Darstellung gemacht wird (vgl. K ITTSTEIN [2009]
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

2012). Dabei interessiert sie vor allem als ästhetisches Anschauungsobjekt


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oder als Reflexionsgegenstand, um die Bedeutung des Menschen in einem


transzendentalen oder religiösen Kontext zu thematisieren. Die Idee einer
Lesbarkeit der Natur ist insbesondere in der Naturlyrik der Aufklärung von
großer Bedeutung – beispielsweise bei Barthold Heinrich Brockes (1680–
1747) oder Albrecht von Haller (1708–77). Wenn im Folgenden die Lyrik
der Nachkriegszeit unter der thematischen Konstellation ‚Naturerfahrung‘
betrachtet wird, rücken vor allem die Effekte der Naturerfahrung für den
Sprecher ins Zentrum. Welche Form von Naturerfahrung wird artikuliert?
Wie wird Natur in den Gedichten funktionalisiert? In welchem Verhältnis
stehen Äußerungssubjekt und Natur zueinander?
Naturgedichte sind im 20. Jahrhundert äußerst populär. Insbesondere in
den 1950er Jahren avanciert die Naturlyrik im deutschsprachigen Raum zum
dominierenden Paradigma der Lyrikproduktion. Natur wird förmlich zur
„Universalchiffre“ (K ORTE 2004, 34). Diese deutschsprachigen Naturgedichte
sind zumeist einem bestimmten Genre der Naturlyrik zuzurechnen, nämlich
der naturmagischen Schule. Hierbei handelt es sich um eine Strömung,
die auf den deutschsprachigen Raum begrenzt ist und zwischen 1910
und 1920 im Kontext des Expressionismus entsteht. Als Begründer der
naturmagischen Schule gilt Oskar Loerke (1884–1941), der 1911 seinen ers‐
ten Gedichtband Wanderschaft publizierte. Besonders wirkmächtig wurde
jedoch der zweite Gedichtband von Loerke: Pansmusik (1916). Bereits an
beiden Bandtiteln ist Loerkes Fokussierung auf die Natur als lyrisches
Thema abzulesen. Für Pansmusik ist der aus der griechischen Mythologie
stammende Hirtengott Pan titelgebend. Pan ist ein Mischwesen, das einen
68 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

menschlichen Oberkörper und den Unterkörper eines Widders besitzt. Im


antiken Griechenland ist er der Gott der Wälder und Wiesen. Er wird
oftmals dem Gefolge des Dionysos zugeordnet, wo er die rauschenden Feste
des griechischen Gottes durch seine Flötenmusik begleitet. Der Titel des
Gedichtbands ist insofern doppeldeutig: Denn einerseits kann die Musik
gemeint sein, die für Pan gespielt wird (genitivus objectivus). Andererseits
kann aber auch die Musik, die der Gott Pan selbst spielt (genitivus subjecti‐
vus), gemeint sein.
Pansmusik erscheint im Ersten Weltkrieg. Die Mehrzahl der Gedichte
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kommt jedoch ohne direkte Bezüge zu diesem einschneidenden Ereignis aus.


Dennoch wird vielfach eine bedrückende Atmosphäre erzeugt, indem sich
die menschliche Noterfahrung in der Natur spiegelt. So beginnt das Gedicht
Wiederkehr mit dem Untergang der Sonne: „Die Sonne fällt. Die Bäume all
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

ergrauen. / Ihr Kragen schleppt, den noch kein Scherer schor.“ (L OERKE 2010,
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180) Beklagt wird der Verlust des Gottes, den der Ich-Sprecher nur noch
indirekt in der Natur findet:
Mein Gott, der nicht mehr ist, hier mußt du wohnen,
Hier hast du mich geboren und gewiegt,
Und unser beider Atem rauscht in den Kronen
Der Weiden, die des Abends Zorn umfliegt.

(L OERKE 2010, 180)

Die Gedichte in Pansmusik entwickeln das Bild eines Gottes, der als
„grüne[r] Gott“ (L OERKE 2010, 178) in der Natur versunken ist. Dieser
Naturgott bietet für den Sprecher Halt in einer haltlos gewordenen Welt. In
Die Ferienstube heißt es in den ersten Versen:
Ich sitze in zweihundertjährigem Bodenloch,
Ein Balkenpanzer schleppt sein krummes Backsteinjoch.
Die Mauern atmen Dunkel aus und hallen kühl,
Angst, Krieg und Aberglaube hockt im Dachgestühl.

(L OERKE 2010, 178)

Die Gedichte beschwören den versunkenen Gott, indem sie die Natur
indirekt zum Sprechen bringen. Die Ferienstube endet folglich mit:
2. Naturerfahrung 69

Nah gegenüber sitzt der Vogel und hebt an:


„Du bist in meinem kleinen Munde wie das Meer,
Von deiner Schwermut wurden meine Flügel schwer.
Gott, hebt mein Schnabel auf ein Körnchen Weizenspelt,
So hob er auf die ganze Göttlichkeit der Welt.
In diesem Brunstruf ist ein Haus der Ewigkeit,
In seinem Echo ist sie mit sich selbst zu zweit.
Schon wollen die Gestirne ihre Steuer regen.
Wohl mir!“
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Ich muß das Haupt auf meine Arme legen.

(L OERKE 2010, 179)

Dieser ‚grüne Gott‘ wird in vielen Gedichten Loerkes lyrisch angerufen. Es


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handelt sich um die Natur, die allein aufgrund ihres Daseins die Erinnerung
an eine göttliche Ordnung birgt, wie Loerke im Nachwort zu seinem
Gedichtband Der Silberdistelwald (1934) ausführt (vgl. L OERKE 2010, 941). Das
wesentliche Ziel der Gedichte ist es, diese verdeckten Spuren wieder zu
rekonstruieren: „Im Niederfall eines Borkestücks von der hundertjährigen
Platane ergeht sein [Gottes] Spruch, im unsichtbaren Alter aller Blätter
und aller Adern in den Blättern“ (L OERKE 2010, 941 f.). Allerdings ist zu
beachten, dass Loerkes Gedichte überhaupt erst die Idee eines ‚grünen
Gottes‘ konstruieren, den sie dann selbst lyrisch in Szene setzen.
Noch vor Pansmusik erhielt Loerke 1913 den Kleist-Preis, die höchste
literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Seit 1917 war Loerke
als Lektor im einflussreichen S. Fischer-Verlag tätig, wo er intensiven
Austausch mit den Hausautoren (z. B. Gerhart Hauptmann [1862–1946],
Alfred Döblin [1878–1957] und Thomas Mann [1875–1955]) pflegte. Auch
wegen dieser Vermittlerposition bei dem womöglich bedeutendsten Verlag
der Weimarer Republik hatte Loerke – trotz seines frühen Todes 1941 –
einen großen Einfluss auf die deutschsprachige Literatur in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Mit Thomas Mann stand Loerke, auch wegen seiner
Anstellung als Sekretär der Sektion für Dichtung der Preußischen Akade‐
mie der Künste, in einem regen Austausch, der teilweise literaturpolitisch
brisante Aspekte umfasste. Aber schon vorher war Loerke auch für heikle
Fragen eine wichtige Ansprechperson für Thomas Mann. So fragt Mann bei
Loerke nach, ob die ‚Peeperkorn-Episode‘ im Zauberberg (1924) tatsächlich
an Gerhart Hauptmann erinnere (vgl. M ANN 2011, 95).
70 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Noch stark vom Expressionismus geprägt ist Loerkes poetologischer


Essay Von der modernen Lyrik (1912). Gleichwohl steht am Anfang des Essays
bereits ein wichtiger Grundgedanke der naturmagischen Linie. Der Dichter
sei dazu befähigt, in der Umwelt zu lesen: „Keine Zeit hat das Aussehen
der Welt und das Aussehen des Lebens so jäh bereichert wie unsere. Für
jeden, der es betrachten will, ist es da, für den Dichter am meisten. Immer
war erst dann etwas wirklich, sobald es in den Dichtern war.“ (L OERKE 1912,
691) Damit ist der poetologische Ausgangspunkt der naturmagischen Schule
von Loerke benannt: Der Dichter beobachtet die Natur und erkennt die
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‚Schrift‘ der Natur, die nur er zu lesen befähigt ist. Gerade in Anbetracht
der technischen Umbrüche und apparativen Erfindungen des Menschen
ist die Natur der letzte Zufluchtsort einer Transzendenzerfahrung, wie
Loerke dann programmatisch in seiner Schrift Formprobleme der Lyrik (1928)
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ausführt:
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Nicht verändert hat sich die Welt der Natur unter der dünnen bunten Zivilisa‐
tionskruste, nicht das Leben und die Lebewesen, nicht die Kristalle, Pflanzen,
Tiere mit ihren Gesetzen. So gab es, gibt es und wird es geben das Wesen Licht,
unverändert. Aber die Technik des Lichtes bringt jetzt Osramlampen hervor
statt der früheren Ölfunzeln. Der Lyriker taugt nichts, der schon etwas Rechtes
getan zu haben glaubt, wenn er sich in seinen Versen für eine Beleuchtungsart
entscheidet und darüber die Wirklichkeit Licht vergißt. (L OERKE 2010, 931)

Einige Jahre später konstatiert Loerke in Meine sieben Gedichtbücher (1936),


dass seine Verse mehr erzählen, „als daß sie singen, und wenn sie im Gesang
erklingen, so ist das mehr der Gesang der Dinge als meine Stimme“ (L OERKE
2010, 950). Allerdings manifestiert sich in seinen Gedichten ein gebrochenes
Verhältnis zur Natur, denn der ‚grüne Gott‘ kann selbst nicht mehr sprechen.
Erst im Wiederentdecken und Versprachlichen durch den Dichter kann die
verlorene göttliche Einheit erinnert werden. In seiner pseudo-religiösen
Poetik avanciert der Dichter zum Übersetzer einer Hieroglyphenschrift der
Natur. In der Versprachlichung des Dichters wird der versunkene Gott
wieder zum Leben erweckt. Die Natur wird mit einer mythologischen und
magischen Dimension aufgeladen. Sie wird zur magisch-heiligen Sphäre, die
mit der menschlichen Kultur kontrastiert wird, die ihrerseits in den Gedich‐
ten defizitär erscheint und abgelehnt wird. Verbunden ist damit eine Absage
an technizistische Erklärungsmodelle der Welt. In diesem Zusammenhang
stellt Karl Krolow (1915–99) in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen fest:
2. Naturerfahrung 71

Was nun Loerkes Gedichte und das Wesen dieser Gedichte angeht, so scheint
mir, daß er sich in ihnen auf eine seinerzeit so noch nicht erlebte Weise aus
seinen Versen ‚herausnahm‘, als Person, als Individualität. Er hat […] das Dasein
weitgehend dem Zugriff der dichterischen Individualität entzogen und hat dies
Dasein im Gespräch mit sich selber liegenlassen. (K ROLOW [1961] 1963, 29)

Der Mensch spiele in diesen Gedichten kaum eine Rolle, vielmehr werde
ein „Gesang der Dinge“ (K ROLOW [1961] 1963, 30) vernehmbar. Dennoch
wird das Subjekt in den Gedichten Loerkes keinesfalls getilgt. In beinahe
allen Gedichten wird ein Ich-Sprecher eingesetzt, der als Reflektor der
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Naturerfahrung und -wahrnehmung fungiert und so erst die Spuren des


Seins in der Natur wiederentdeckt. Oder wie es Wilhelm Lehmann (1882–
1968), ein guter Freund von Loerke und der zweite wichtige Vertreter der
naturmagischen Schule, ausgedrückt hat: „Wir wurden aus dem Paradies
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der alten Einheit vertrieben. Diese Vertreibung bedeutet den Beginn des
Dichtens, des Schreibens.“ (L EHMANN 1962a, 159) Mit dem Bezug auf den
biblischen Sündenfall wird die menschliche Existenz transzendiert. Wäh‐
rend die Ganzheit des menschlichen Seins verloren ist, bleibt, so Lehmann,
die Erinnerung an den verlorenen Ganzheits- und Einheitszustand: „Wir
verloren das Ganze, wir wurden selbst Teil, um uns als Teil des Ganzen
zu erinnern und uns seiner in der Sehnsucht zu vergewissern.“ (L EHMANN
1962a, 159) Die Sehnsucht nach dem Eins-Sein ist für Lehmann der Motor
des Dichtens. Insofern greift er einen Aspekt auf, den Loerke in seinen
Gedichten immer wieder umkreist, und formuliert ihn lyrisch aus: In der
dichterischen Benennung kann die verlorene Ganzheit des Menschen, die
nur noch als Erinnerung vorhanden ist, reaktiviert werden. Konkret geht es
darum, im Teil das Ganze zu erblicken. Der Dichter hat in diesem Kontext
die Aufgabe, im Akt des Betrachtens und lyrischen Benennens, die Magie
der Natur wieder zu entfalten: „Wir können, wenn wir uns sprachlich in der
Welt zurecht finden, das heißt: Wesen und Dinge benennen wollen, nicht
die Welt als Ganzes in den Mund nehmen, sondern müssen ihrer mit Hilfe
der Partikularität inne werden.“ (L EHMANN 1962a, 159) Der Dichter ist für
Lehmann ein „Mystiker“, der die Augen nicht schließt, sondern weit öffnet:
„Er sieht so genau hin, daß sein Blick die Phänomene zum zweiten Mal
erschafft.“ (L EHMANN 1962b, 192)
Lehmann gehört nach 1945 zu den erfolgreichen Lyrikern, deren Arbeiten
in hohen Auflagen gedruckt werden. Aber schon vor 1933 hatte er sich im
literarischen Feld Deutschlands etabliert: 1923, also zehn Jahre nach Loerke,
72 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

bekam er gemeinsam mit Robert Musil (1880–1942) den Kleist-Preis. Debü‐


tiert hatte Lehmann zunächst mit Erzählungen, seinen ersten Gedichtband
veröffentlichte er 1935: Antwort des Schweigens wurde im Widerstands-Ver‐
lag von Ernst Niekisch (1889–1967) publiziert. Seit 1923 war Lehmann als
Gymnasiallehrer in Eckernförde tätig. 1933 trat er in die NSDAP ein, wohl
aus Sorge um seinen Beamtenstatus, weil er im Ersten Weltkrieg zweimal
desertierte (vgl. S CRASE 2011, 195–209). Seine Erfahrungen als Deserteur
literalisiert Lehmann 1927 im Roman Der Überläufer. Der Text wurde jedoch
von den Verlagen abgelehnt. Lehmann konnte ihn erst 1962 veröffentlichen.
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Typisch sind für Lehmanns naturmagische Gedichte das Festhalten am


Endreim und die Orientierung an lyrischen Formtraditionen. Bereits in
den frühen Tagebüchern manifestiert sich Lehmanns „Interesse an der
offenkundigen Selbstgenügsamkeit der Natur unter Ausschluss des Men‐
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schen“ (S CARSE 2011, 98). Natur stellt dabei das „ideale, aber verlorene
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Paradies“ bereit, „nach dem Menschheit und Dichter streben, um die alte
Einheit wiederzugewinnen“ (S CARSE 2011, 98). Mythologische Figuren und
Gestalten der abendländischen Weltliteratur treten in Lehmanns Gedichten
in eine detailliert beschriebene Naturszenerie, wobei es zur Durchdringung
von Natur und Kultur kommt. In Atemholen, das 1950 in dem Gedichtband
Noch nicht genug publiziert wurde, wird zunächst in der ersten Strophe die
Naturszenerie beschrieben:
Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege,
Es ist August. Kein Wolkenzug.
Kein grober Wind ist auf den Gängen rege,
Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug.

(L EHMANN 1950, 15)

Im Hochsommer wird das Heu zum zweiten Mal geschnitten. Für dieses
Erntegut hat sich in der Landwirtschaft der Fachbegriff ‚Grummet‘ ein‐
gebürgert. Grummet hat einen höheren Eiweißgehalt und ist insgesamt
nährstoffreicher, weshalb man es intensiver trocknen muss als das Heu nach
dem ersten Schnitt im Frühsommer. Dieser zweite Schnitt im Hochsommer
ist nun soeben abgeschlossen, weswegen sein Duft noch auf dem Wege
schwebt. Der olfaktorische Reiz wird mit Ruhe und sanfter Bewegung
kombiniert: Die Wolken bewegen sich nicht und es windet kaum. Nur die
Distelsamen sind leicht genug, um von dieser Sommerbrise getragen zu
werden. Mittels der botanischen Begriffe, die nach 1945 als dichterisch
2. Naturerfahrung 73

‚unverbraucht‘ gelten, wird im Gedicht eine exakte Naturbeobachtung


realisiert. Dabei scheint der in der Luft schwebende Distelsamen dazu zu
führen, dass der Sprecher ein Gefühl der Welt-Entrückung erfährt. In der
zweiten Strophe folgt daher die Absage an jegliche Form der Historie: „Der
Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte“ (L EHMANN 1950, 15). Freilich
handelt es sich um eine doppeldeutige Wendung: Mit dem „Krieg der Welt“
kann der Trubel und die Hektik des weltlichen Daseins gemeint sein. Im
Kontext der Publikationszeit darf auch der Zweite Weltkrieg mindestens
mitschwingen.
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Neben dem Sehsinn und dem Geruchssinn wird nun auch der Hörsinn
angesprochen. Das Hören wird wieder aufgenommen, wenn der Sprecher in
dieser idyllisch-weltabgewandten Sphäre feststellt: „Mozart hat komponiert,
und Shakespeare schrieb Gedichte“ (L EHMANN 1950, 15, alle weiteren Zitate
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ebd.). Es folgt ein Imperativ, der einen Adressaten des Sprechers impliziert:
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„So sei zu hören sie bereit.“ Es werden jetzt jedoch keine Gedichte Shake‐
speares (1564–1616) rezitiert. Vielmehr werden literarische Figuren zum
Leben erweckt. Neben Mozarts (1756–91) Don Giovanni sind es die Figuren
Shakespeares, die in dieser idyllischen Naturszenerie auftauchen: „Bassanio
rudert Portia von Belmont her“, „Timon von Athen und König Lear“ treten
auf. Dieses Aufrufen der Figuren aus dem abendländisch-bürgerlichen
Gedächtnis realisiert sich als gestufter Vorgang: Zunächst hört der Sprecher
nur Don Giovannis Spiel, dann erscheinen tatsächlich Timon von Athen
und König Lear, die sich „zu dir“ setzen. Das Du, das bereits im Imperativ
als Adressat des Gesagten aufscheint, wird nun explizit angeredet. Ein
Effekt dieser Du-Anrede ist, dass sich der Leser angesprochen fühlen dürfte,
womit der Rezipient des Gedichts quasi mit in die Naturszenerie geholt
wird. Diese Naturszenerie hat sich aber über das Aufrufen der literarischen
und mythischen Gestalten bereits zu einer mythologischen Landschaft
gewandelt. Diese mythologische Landschaft, die vom Sprecher erzeugt wird
und in die der Leser nun eintaucht, funktioniert nach eigenen Raum- und
Zeitgesetzen: Hat sich der Beginn des Gedichts schon durch Langsamkeit,
Ruhe und eine gewisse Statik ausgezeichnet, kommt es in der Schlussstrophe
zum Stillstand der Zeit. Sprecher und Leser werden in eine mythische Zeit
gehoben:
74 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert


Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nicht geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.

(L EHMANN 1950, 15)

Sowohl die Zirkelschnecke als auch das durch die Jahrhunderte hallende
Lachen, die über die Enjambements miteinander verbunden werden, sugge‐
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rieren einen mythischen Naturkreislauf. Zeitpolitische Gegenwart und nahe


oder ferne Vergangenheit werden nicht als relevant erachtet. Ihre Bedeutung
für den Menschen wird relativiert. Orientierung bieten die Hochkultur
(Mozart und Shakespeare) und eine ländliche, bäuerliche Landschaft, in der
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der Mensch noch in enger Verbindung mit dem Naturkreislauf steht. Natur,
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Kultur und Mythos werden im Gedicht als Einheit konstruiert. Hierauf


verweist auch der abschließende Chiasmus, der den Ich-Sprecher als Teil
der mythologischen Landschaft einsetzt und im Paradoxon kulminiert, dass
das Ich sowohl jung als auch alt sei. Gleichzeitig wird auf diese Weise erneut
die Zeit-Enthobenheit betont.
Nach dem Zerfall der Einheit des Menschen kann diese Einheit nur in
der Dichtung neu empfunden werden. Dabei bedient sich Atemholen eines
konstant hohen Tons, der teilweise zu Spannungen zwischen pathetischer
Form und banalem Inhalt führt. So erzeugt der folgende Kreuzreim eine
womöglich ungewollte Komik: „Die Kühe rupfen. / Im Heckenausschnitt
blaut das Meer. / Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen“ (L EHMANN 1950,
15). Das Bild der grasfressenden Kühe überlagert sich mit Don Giovannis
Gitarrenspiel. An dieser Stelle tendiert die Verquickung von Hochkultur und
bäuerlicher Idylle ins Kitschige.
In Lehmanns Lyrik kann man gewiss Eskapismus erkennen: die Flucht in
die Natur. Oda Schäfer (1900–88) hat diesbezüglich vom „Trost in der Natur“
(S CHÄFER 1977, 26) gesprochen, womit die Natur jedoch ihren rein eskapis‐
tischen Charakter verliert und die Funktion gewinnt, förmlich therapeutisch
auf den Sprecher zu wirken. Womöglich wegen dieser Trostfunktion wurde
Wilhelm Lehmann in der Bundesrepublik Deutschland mit Preisen und
Ehrungen überhäuft. Erst nach seinem Tod, 1968, geriet sein Werk unter
Ideologieverdacht: Zeigt sich hier eine kulturkonservative Denkweise, die
sich jeglicher Politisierung verweigert? Ist diese Haltung in Anbetracht der
Shoah nicht selbst eminent politisch? Lehmann wurde lyrischer Traditio‐
2. Naturerfahrung 75

nalismus vorgeworfen und unterstellt, er habe die Schrecken des Zweiten


Weltkriegs verschwiegen. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz
richtig. Fermente des Kriegs finden sich auch in seinem Gedichtband Noch
nicht genug (1950). Einerseits manifestiert sich hier eine leise Selbstkritik,
in der die eigene Rolle innerhalb der Inneren Emigration thematisiert wird:
„Die Toten schweigen in der Erde, / Geschwiegen habe ich wie sie“ (L EHMANN
1950, 16). Andererseits werden die Artefakte des Krieges als Stolpersteine
in die Naturlandschaft gesetzt: „Ich stolpre über Flakstandsrest. / Brüllt
sein Geschütz und taubt mein Ohr?“ (L EHMANN 1950, 16) Freilich werden
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diese Erinnerungsreste häufig von der Natur wieder eingehegt: „Wo Bomber
stürzte, rostet Eisen, / Vergeßlich hüllt das Gras den Platz“ (L EHMANN 1950,
32). Insofern artikuliert sich in den Gedichten Lehmanns durchaus die
Hoffnung auf ein Vergessen der Gräuel, das im Kontext der naturmagischen
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Linie öfters ins Verschweigen tendiert. Bertolt Brecht (1898–1956) hat ein
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solches Vorgehen in seinem Exilgedicht An die Nachgeborenen (1938) schon


früh kritisiert:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

(B RECHT 1988, 85)


Das Schlussgedicht der Svendbørger Gedichte besteht aus drei Teilen, die
1934 als unabhängige Teile entstanden sind und sich auf die Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft beziehen. Es thematisiert im ersten Teil, der
sich unter dem Eindruck der Exilerfahrung pessimistisch der Gegenwart
widmet, „das Dilemma, in manchen Zeiten nicht mehr guten Gewissens
vom Schönen und Angenehmen sprechen zu können“ (K ITTSTEIN 2012,
206). Mit diesem „lyrischen Rechenschaftsbericht“ (K ITTSTEIN 2012, 206) hat
sich auch Lehmann auseinandergesetzt. Allerdings bleibt Lehmann seiner
naturmagischen Linie treu, die im Sinne Brechts „ein Schweigen über so
viele Untaten einschließt“.
Die Nachfolger Loerkes und Lehmanns nehmen das Programm der na‐
turmagischen Schule zunächst auf. Ein wichtiges Publikationsorgan ist die
Dresdner Literaturzeitschrift Die Kolonne, die seit 1929 von Martin Raschke
(1905–43) und Adolf Karl Artur Kuhnert (1905–58) herausgegeben wurde,
aber schon 1932 wieder eingestellt wurde. Günter Eich (1907–72) zählte in
den Jahren 1931 und 1932 zu den Autoren, die in dieser Zeitschrift veröffent‐
76 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

lichten. Eich gehört zur zweiten Generation der naturmagischen Schule. Vor
1935 führt Eich die Linie, die Loerke und Lehmann begründet haben, nahezu
ungebrochen weiter, wenn er beispielsweise in seinen Bemerkungen über
Lyrik (1932) konstatiert: „Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der
das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings
um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen.
Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung
kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad an Wirklichkeit.“
(E ICH 1991, IV, 461) Eich wird sich in seiner Lyrik zunehmend von der
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naturmagischen Schule entfernen. Dabei wird die Orientierungsfunktion


in seiner Poetik mehr und mehr von der Lyrik und der Sprache selbst
übernommen, die konstruktivistisch Wirklichkeit erst herstellen.
Elisabeth Langgässer (1899–1950) führt den naturmagischen Stil hingegen
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mit einem christlichen Deutungshorizont zusammen, wie es schon in den


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Gedichten Loerkes angelegt war. Skepsis gegenüber der naturmagischen


Schule oder eine Abkehr von dieser Linie sind bei ihr nicht festzustellen.
Karl Krolow (1915–99) wiederum unternimmt eine „Revision der Naturlyrik
im Zeichen des Surrealismus“ (L AMPART 2013, 192). Stehen Krolows Gedichte
in seinem Debütband Hochgelobtes gutes Leben noch stark im Bann der
naturmagischen Schule, entfernt er sich in seiner Gedichtproduktion Ende
der 1940er Jahre zusehends von dieser Tradition. Dieser poetologische
Paradigmenwechsel wird ausgelöst durch die Reflexion der Möglichkeiten
naturlyrischen Dichtens nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs (vgl.
L AMPART 2013, 223). Natur wird in Krolows Gedichten nach 1945 einerseits
zum Raum der Erlösung und Entlastung von geschichtlicher Schuld. Damit
stehen seine Gedichte durchaus in der etablierten naturmagischen Linie,
die über die Mythisierung der Natur eine Enthistorisierung betreibt. Ande‐
rerseits ist Natur der Erfahrungsraum einer durch Gewalterfahrung und
Kriegstraumata geprägten Wahrnehmung. In der folgenden Analyse von
Krolows Gedicht Die Kammer wird diese Ambivalenz deutlich werden, in
der sich womöglich auch eine textimmanente Kritik an der naturmagischen
Schule à la Loerke und Lehmann manifestiert. Auch die Gedichte Peter
Huchels (1903–81) erscheinen ambivalent, wenngleich in ihnen Natur als
mythischer Erfahrungsraum konstruiert wird, in dem sich die innere Ge‐
stimmtheit des Sprechenden manifestiert.
Neben Huchel und Krolow wird in den folgenden Gedichtanalysen ein
Gedicht von Johannes Bobrowski (1917–65) in den Mittelpunkt rücken. Hier
wird insbesondere der Naturraum als Erinnerungsraum einer vergangenen
2. Naturerfahrung 77

Zeit eingesetzt. Samartische Zeit, so der Titel von Bobrowskis Gedichtband


von 1961, ruft sowohl einen mythischen Raum als auch eine mythische
Zeit auf, die aber an eine konkrete Landschaft gebunden werden und als
‚vergessene‘ und ‚verlorene‘ Raum-Zeit in den Gedichten ‚gesucht‘ und
‚erinnert‘ wird. Die Gedichte in Samartische Zeit sind aber geprägt vom
Scheitern dieser Such- und Erinnerungsbewegung. Insofern manifestiert
sich in Bobrowskis Gedichten das Bewusstsein, „dass ein autonomer Natur‐
raum als poetische Gegenwart nichts anders als eine trügerische Illusion“ ist
(K ORTE 2004, 39). Trost ist in der Naturerfahrung nicht mehr zu finden. Nach
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1945 wird die Natur vor allem als ambiger Erfahrungsraum thematisiert. Die
Natur fungiert als Zeichen innerer und emotiver Gestimmtheiten (Huchel).
Allerdings sind die Zeichen der Natur für den Dichter nur noch bedingt
lesbar. Kombiniert wird diese Ambivalenz mit kollektiv anschlussfähigen
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Entfremdungserfahrungen und einer Kritik an der naturmagischen Schule


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(Krolow). Gleichzeitig bleibt die Naturerfahrung weiterhin der Katalysator,


um eine zeit- und raumübergreifende Geschichtserfahrung zu artikulieren,
wenngleich sie zum Scheitern verurteilt scheint (Bobrowski).

2.2. Peter Huchel: Melancholische Naturerfahrung

Bereits 1925 veröffentlicht Peter Huchel erste Gedichte. Anfang der 1930er
Jahre bereitet er einen ersten Gedichtband unter dem Titel Der Knabenteich
zur Drucklegung vor. Geplant ist eine Veröffentlichung im Jess-Verlag
(Dresden). Huchel unterbindet den Druck jedoch und zieht den Band zurück.
Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise wollte
es Huchel vermeiden, dass der Gedichtband mit seinen Kindheits- und
Landschaftsgedichten von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozia‐
listen vereinnahmt wird, wie Axel Vieregg argumentiert (vgl. V IEREGG 2009,
621–624). Man hätte die Publikation als Akt der Affirmation, so Vieregg,
missverstehen können. Allerdings vollzieht Huchel damit keinen Rückzug
aus dem literarischen Leben Deutschlands (vgl. P ARKER 1998, 162 f.). Denn
er publiziert nach 1933 weiter: Einzelne Gedichte und kleinere Prosatexte
werden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften untergebracht (u. a.
in Der weiße Rabe, Die Dame, Das Innere Reich, Die literarische Welt), dazu
schreibt Huchel 19 Hörspiele. 1941 wird er eingezogen. Im April 1945 setzt er
sich von seiner Flak-Einheit in Berlin ab und gerät in sowjetische Kriegsge‐
fangenschaft. Noch während seiner Gefangenschaft wird er beauftragt, eine
Hörspielabteilung im Berliner Haus des Rundfunks einzurichten. Huchel
78 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

wird Sendeleiter und künstlerischer Direktor des sowjetisch lizensierten


Berliner Rundfunks und 1949 dann Chefredakteur der von Johannes R. Be‐
cher (1891–1958) gegründeten Zeitschrift Sinn und Form, die er maßgeblich
prägt. Wegen der Texte, die er in der Zeitschrift aufnimmt und die oft
nicht der ideologischen Linie der DDR entsprechen, gerät er immer wieder
unter Druck. So muss Bertolt Brecht 1953 gegen eine Absetzung Huchels
intervenieren. Als Huchel nicht bereit ist, den Fontane-Preis West-Berlins
abzulehnen (den Fontane-Preis Ost-Berlins hat er bereits 1955 erhalten),
wird er 1962 als Chefredakteur geschasst und erhält ein Publikations- und
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Reiseverbot. Erst 1971 wird ihm nach Intervention des Internationalen


PEN-Zentrums die Ausreise erlaubt. Nach einem Jahr in der Villa Massimo
in Rom kommt Huchel nach Westdeutschland, wo er 1981 in Staufen stirbt.
Huchel hat zu Lebzeiten nur fünf Gedichtbände veröffentlicht. Manu‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

skripte wurden von ihm in der Regel vernichtet. Den ersten eigenständigen
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Gedichtband publiziert er erst 1948. Auffällig ist, dass Huchel einzelne


Gedichte mehrfach ‚nutzt‘ und beständig überarbeitet. Dies gilt insbeson‐
dere für die frühen Gedichte, mit denen er sich immer wieder befasst.
Sein Band Gedichte (1948) enthält Gedichte, deren Entstehung teilweise
bis in die 1920er Jahre zurückgeht. Aus dem vom Druck zurückgezogenen
Band Der Knabenteich übernimmt Huchel 17 Gedichte und arbeitet sie
teilweise um; zehn weitere Gedichte wurden zwischen 1930 und 1941
bereits in Zeitschriften und Zeitungen publiziert. In diesen frühen Gedichten
sind die zentralen Motive angelegt, die sich durch Huchels Gesamtwerk
ziehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei seine Kindheitserinnerungen
und ihre lyrische Überformung. Aufgrund einer Lungenerkrankung seiner
Mutter kommt Huchel 1907 mit vier Jahren auf den landwirtschaftlichen
Hof seiner Großeltern in Alt-Langerwisch bei Potsdam. Die Magd Anna
übernimmt bei der Betreuung des Enkels die Hauptaufgaben. Die Jahre auf
dem Hof prägen Huchel auch poetisch. Neben zahlreichen Gedichten, die das
dörflich-bäuerliche Leben thematisieren, finden sich auch programmatische
Titel (Kindheit in Alt-Langerwisch oder Herkunft). Auf diese biografische
Situation wurde Huchels Naturlyrik auch von ihm selbst zurückgeführt. Im
Interview mit Karl Corino sagte Huchel:
Ich kann nicht [sic!] dafür, diese Naturmetaphern drängen sich mir immer wieder
auf, selbst wenn ich Stoffe wähle, die eine Konfrontation mit der Gesellschaft
bedeuten. Für mich sind sie legitim. Ich habe eine Kindheit auf dem Lande verlebt,
und die Natur war für mich nicht mehr die heile, die absolute Natur, sondern
2. Naturerfahrung 79

es war für mich die vom Menschen veränderte Natur, in der er leben konnte.
(H UCHEL 1984, II, 393)

Huchel hat sich nur äußerst spärlich zu seiner Poetik geäußert. Als Wer‐
bemaßnahmen zu Der Knabenteich wurden allerdings Selbstanzeigen veröf‐
fentlicht, die einen poetologischen Einblick erlauben. Huchel fordert, dass
man sich den Versen „ohne jede Programmforderung“ nähern solle (H UCHEL
1984, II, 243). Dabei macht er bereits auf die Verschränkung von persönlichen
Kindheitserinnerungen, historischen Ereignissen und Naturlandschaften
aufmerksam: „Denn zeitnah sind die Gedichte nur zum Teil, nämlich sofern
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es ihnen gelungen ist, die vergangene Zeit wieder gegenwärtig zu machen.“


(H UCHEL 1984, II, 243) Weniger relevant sei die visuelle Wahrnehmung;
die Gedichte zielen vielmehr auf akustische und olfaktorische Reize: Die
Gedichte sind „nicht so sehr gesehen“, sie sind vielmehr „gehört“, „gerochen“
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und „geschmeckt“ (H UCHEL 1984, II, 245). Erst so könne in den Texten die
„Kindheit wieder sichtbar werden“, als ein „Stück Natur“ (H UCHEL 1984,
II, 243 f.). Dass es ihm nicht um eine dokumentarische Darstellung der
persönlichen Kindheitserfahrungen geht, wird von Huchel deutlich heraus‐
gestrichen. Zwar greift er auf persönliche Erinnerungen und Erfahrungen
zurück, die er auf dem Hof seiner Großeltern machen konnte, doch werden
sie naturbildlich überformt und durch ‚mythische‘ Elemente ergänzt. Eine in
seiner Dichtung wiederkehrende Figur ist die Magd, die man nicht einfach
mit der historischen Person seiner Kindheit gleichsetzen kann. Vielmehr
überlagern sich in der lyrischen Bildlichkeit auch Mutterfigurationen, wie
sie Johann Jakob Bachofen (1815–87) in Das Mutterrecht (1861) schilderte
(vgl. V IEREGG 1976, 94–102).
In Huchels Gedichten geht es nicht nur um die Zeit, die man erinnert,
sondern auch um „die Zeit davor, die nicht mehr so hell im Bewußtsein“
vorhanden ist (H UCHEL 1984, II, 246). Die lyrischen Texte entfalten ein
Eigenleben, wenn in ihnen die „vorhandene und doch einmal gelebte Welt“
aufscheint, „die erste Kindheit, die ‚mutternackte Frühe‘, in die die Gedichte,
wenn auch sehr dunkel, hindurch vorzustoßen suchen. […] [D]enn nicht wir
rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an.“ (H UCHEL 1984, II, 246)
Insofern ist Fabian Lampart zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass Huchel
die „ahistorisch-mythologische Kindheitslandschaft“ in die geschichtliche
Erfahrung integriert habe (vgl. L AMPART 2013, 181). Es geht nicht darum,
die Natur akribisch darzustellen, sondern Kunstbilder zu erzeugen, „die auf
den Menschen eindring[en] und ihn in sich hineinzieh[en]“ (H UCHEL 1984,
80 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

II, 249). Huchels Lyrik ist eine Kunstsprache, die über die Verwendung
bestimmter Naturbilder, mythologischer und literarischer Bezüge wohl auf
eine „Privatmythologie“ zurückzuführen ist, die ihrerseits auf der mysti‐
schen Tradition Jakob Böhmes (1575–1624) gründet (vgl. V IEREGG 1976). Die
Natur, als Zeichen der äußeren sichtbaren Welt, wäre als Veräußerung einer
innerlich-geistigen Welt zu deuten (vgl. A LLKEMPER 1994, 471).
Gleichzeitig sind Huchels Gedichte stets mit einer historischen Signatur
versehen, worauf er selbst immer wieder hingewiesen hat. Besonders deut‐
lich wird dies im Band Gedichte an Texten wie Der polnische Schnitter:
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Bei diesem Rollengedicht, das die Sicht eines polnischen Wanderarbeiters


einnimmt, wird die Situation des Besitzlosen geschildert: „Acker um Acker
mähte ich, / kein Halm war mein eigen.“ (H UCHEL 1984, I, 54) Der Ich-Spre‐
cher, der auf der Suche nach Arbeit seine Heimat verlassen hat, befindet sich
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auf dem Heimweg. Ein Leitmotiv ist hierbei die ‚Chaussee‘, die zweimal im
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Gedicht erwähnt wird und verdeutlicht, wie eng gespannt das lyrische Netz
von Huchel ist, denn schließlich sind die „Chausseen“ für seinen zweiten
Gedichtband titelgebend. Die Heimatverbundenheit und die Sehnsucht des
polnischen Schnitters werden über die verwendeten Naturbilder nachdrück‐
lich erzeugt.
Huchel hat dieses Gedicht dafür genutzt, um sich als linker Dichter zu
positionieren (vgl. H UCHEL 1984, II, 376). Mit dieser Positionierung ist eine
deutliche Distanzierung vom Kolonne-Kreis und von der naturmagischen
Schule verbunden. Fritz Erpel (1929–2010), Redakteur der Zeitschrift Sinn
und Form unter Huchel, stellte fest: „Es ließe sich leicht nachweisen, daß er
nicht zu der Reihe Wilhelm Lehmann bis Karl Krolow gehört […]“ (H UCHEL
1984, II, 348). Im Gedicht Oktoberlicht, das zwar in Huchels Gedichtband aus
dem Jahr 1948 aufgenommen wurde, doch bereits 1932 in der Zeitschrift
Die Kolonne veröffentlicht wurde, wird deutlich, dass Huchel gleichwohl
ästhetisch an der naturmagischen Schule partizipierte. Auch wenn das
Gedicht nicht nach 1945 entstanden ist, wirkt es doch auf das literarische
Feld dieser Zeit.
Oktoberlicht

Oktober, und die letzte Honigbirne


hat nun zum Fallen ihr Gewicht,
die Mücke im Altweiberzwirne
schmeckt noch wie Blut das letzte Licht,
5 das langsam saugt das Grün des Ahorns aus,
2. Naturerfahrung 81

als ob der Baum von Spinnen stürbe,


mit Blättern, zackig wie die Fledermaus,
gesiedet von der Sonne mürbe.

Durchsüßt ist jedes Sterben von der Luft,


10 vom roten Rauch der Gladiolen,
bis in den Schlaf der Schwalben wird der Duft
die Traurigkeit des Lichts einholen,
bis in den Schlaf der satten Ackermäuse
poltert die letzte Walnuß ein,
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15 die braun aus schwarzgrünem Gehäuse


ans Licht sprang als ein süßer Stein.

Oktober, und den Bastkorb voll und pfündig


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die Magd in Spind und Kammer trägt,


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der Garten, nur von ihrem Pflücken windig,


20 hat sich ins müde Laub gelegt,
und was noch zuckt im weißen Spinnenzwirne,
es flöge gern zurück ins Licht,
das sich vom Ast die letzte Birne,
den süßen Gröps des Herbstes bricht.

(H UCHEL 1984, I, 60)

Auffällig ist die exakte Naturbeschreibung, die verschiedene Wahrneh‐


mungskanäle anspricht. Die visuelle Dimension wird über den Titel des
Gedichts aufgerufen. Die folgenden Naturbilder verweisen dagegen auf
gustatorische, taktile und olfaktorische Wahrnehmungen. Der Zeitpunkt
des Sprechens ist ebenfalls über den Titel und die locker anaphorische
Struktur der ersten und dritten Strophe konkretisiert: Es ist Oktober, die
Obsternte steht an. Die Kommunikationssituation ist eher unterbestimmt.
Es spricht kein Ich, vielmehr wird eine Art Momentaufnahme eines be‐
stimmten Zeitpunkts über Naturbilder von einer nicht näher konkretisier‐
ten Sprechinstanz evoziert. In der ersten Strophe sind es drei Bilder, die
aufgerufen werden: Zum einen wird die Honigbirne im Endpunkt ihres
Wachstumsprozesses geschildert. Sie „hat nun zum Fallen ihr Gewicht“
(v. 2), gefallen ist sie jedoch noch nicht. Thematisch werden damit das
Hinscheiden und Vergehen angesprochen, die im lyrischen Motiv der Birne
oft verhandelt werden. Theodor Fontane (1819–98) stellt in Herr von Ribbeck
auf Ribbeck im Havelland (1889) im Birnen-Motiv den Prozess von Vergehen
82 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

und Aufgehen dar. Friedrich Hölderlin (1770–1843) ist in Hälfte des Lebens
(1804) weitaus pessimistischer, wenn die Birne zum Motiv der Erkenntnis
der Vergänglichkeit im Moment der Schönheit wird: „Mit gelben Birnen
hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ (H ÖLDERLIN 1992,
I, 320). Huchels Gedicht, dies sei an dieser Stelle bereits gesagt, führt eher
die Linie von Hölderlin weiter.
Das zweite Bild zeigt eine Mücke, die die letzten Sonnenstrahlen auskos‐
tet. Die Alliteration und der Vergleich (sie „schmeckt noch wie Blut das letzte
Licht“, v. 4) deuten genau wie der „Altweiberzwirne“ (v. 3), den die Mücke
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trägt, auf die Vergänglichkeit und das bevorstehende Ende ihres Lebens hin.
Möglicherweise rekurriert der Neologismus auch darauf, dass die Mücke in
einem Spinnennetz gefangen ist. Denn „Altweiberzwirne“ verweist auf eine
bestimmte Jahreszeit: Oktober als letzter Monat des ‚Altweibersommers‘.
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Die Bezeichnung ‚Altweibersommer‘, der einen milden Herbst mit stabiler


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Hochdruckphase meint, geht auf die durch die Luft segelnden Spinnfäden
der Baldachinspinnen zurück: Die zahlreichen Spinnennetze, die sich in
Bäumen und Büschen verfangen, würden an das graue Haar alter Frauen
erinnern. Vielleicht ist die Mücke durch so einen schwebenden Faden
geflogen und nun von diesem eingehüllt. Oder sie ist in einem Spinnennetz
im Baum gefangen. Schließlich verweist die folgende ‚als-ob‘-Formulierung
darauf, dass der Baum förmlich von Spinnennetzen eingehüllt zu sein
scheint und diese die Lebenskraft des Baumes entziehen: „als ob der Baum
von Spinnen stürbe“ (v. 6). Das dritte Bild verbindet sich insofern mit dem
zweiten, als das „letzte Licht“ (v. 4) eine Verknüpfung zwischen Mücke und
Ahornbaum bildet: Der Ahorn ist noch beblättert, wobei die Sonne bereits
die grüne Farbe der Blätter „langsam“ (v. 5) aussaugt. Auch hier ist der
Prozess des Verfalls schon ablesbar und wird von der Sprechinstanz in eine
unheimlich anmutende Beschreibung überführt: Das charakteristische Laub
des Ahorns wird mit Fledermäusen verglichen. Flora und Fauna stehen ein
letztes Mal in voller Pracht, wobei ihre Vergänglichkeit deutlich erkennbar
ist. Es scheint der letzte Altweibersommertag zu sein. Der Umschlag der
Jahreszeiten steht unmittelbar bevor. Dass dies wiederum ein natürlicher
Prozess ist, deutet der Schlussvers der ersten Strophe an (v. 8).
In der ersten Strophe wird ein unabwendbarer Prozess geschildert, der
die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Lebens nicht explizit thematisiert.
Die Sprechinstanz beschreibt ausschließlich das bevorstehende Ende des
Sommers, das sich im Oktoberlicht wie in einem Spiegel bricht. Sowohl die
Rahmung des Gedichts über die zentralen Motive (Oktober und Birne, die in
2. Naturerfahrung 83

der letzten Strophe wieder aufgenommen werden) als auch die regelmäßige
Struktur des Gedichts lassen allerdings nicht eindeutig auf eine immanente
Zyklizität schließen. Die durchgängigen Kreuzreime und die vierhebigen
Verse werden lediglich durch den Wechsel von Daktylen und Jamben und
einer wechselnden Silbenzahl aufgelockert. Dabei bestehen die einzelnen
Verse aus acht, neun, zehn oder elf Silben, die erst in der letzten Strophe eine
annähernd regelmäßige Anordnung finden: Elf und acht Silben alternieren
in den ersten vier Versen, der fünfte Vers der letzten Strophe beginnt
erneut mit elf Silben, wobei sich die Verslänge dann plötzlich verkürzt.
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Der Schlussvers des Gedichts hat nur noch acht Silben. Nicht der Zyklus
von Leben und Vergehen steht hier im Zentrum, sondern der Moment
des Umschlags. Dies wird auch als Folgerung aus den drei Bildern der
ersten Strophe in der zweiten Strophe expliziert, die eine Art Reflexions‐
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moment der Sprechinstanz markiert. Das bevorstehende Sterben scheint


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omnipräsent zu sein und wird zunächst über olfaktorische Reize aufgerufen:


„Durchsüßt ist jedes Sterben von der Luft, / vom roten Rauch der Gladiolen“
(v. 9 f.). Die Alliteration erzeugt einerseits eine Synästhesie. Andererseits
werden so auch die erste und die zweite Strophe verbunden, da sich auch
das Licht möglicherweise rot färbt – die Tage im Oktober sind kürzer und es
kommt im Altweibersommer wesentlich früher zu den charakteristischen
rotgefärbten Sonnenuntergängen. Insofern ist der Moment des Übergangs
nicht nur auf der Ebene der Jahreszeiten und der Flora und Fauna, sondern
auch auf der sinnbildlichen Ebene von Tag zu Nacht im Gedicht thematisiert.
In diesem Kontext wäre auch die „Traurigkeit des Lichts“ (v. 12) zu erklären:
Die Personifikation könnte die nachlassende Kraft des Lichts oder gar die
Dämmerung poetisch beschreiben.
Die Gladiole, die häufig als Symbol für Kraft und Sieg firmiert (wegen
des aufrechten Wuchses und ihrer spitzen Blütenblätter wurde sie nach
dem römischen Kurzschwert ‚Gladius‘ benannt), ist Ausgangspunkt des
sich verbreitenden ‚süßen Dufts des Sterbens‘. Im Bild des todbringenden
Gladiolendufts versteckt sich zudem der Krieg; ein Bild, das im Kontext der
Publikationszeit sicherlich mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg verstanden
werden konnte. Ferner deutet Gladiolenduft darauf hin, dass das Vergehen
nicht nur unmittelbar bevorsteht, sondern auch zwingend ist. Verdeutlicht
wird es durch die anaphorische Struktur der Verse 11 und 13. In dem „Schlaf
der Schwalben“ (v. 11) ist der ‚Duft des Sterbens‘ wahrnehmbar und „in
den Schlaf der satten Ackermäuse“ (v. 13), die sich für den bevorstehenden
Winterschlaf satt gefressen haben, „poltert die letzte Walnuß“ (v. 14). Ist die
84 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Birne in der ersten Strophe noch nicht gefallen, schlägt die harte Walnuss
als Zeichen des endgültigen Sommerendes in den Schlaf der Tiere hinein.
Das Motiv des Schlafens, der Ruhe und des Ruhens wird dann in der
dritten Strophe weitergeführt. Hier erfolgt zunächst ein Perspektivenwech‐
sel. Nicht die Natur steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch, der die
Ernte einbringt. Es ist die Magd (v. 18), die „den Bastkorb voll und pfündig“
(v. 17) „in Spind und Kammer trägt“ (v. 18). Die letzte Bewegung im Garten
markiert die vollzogene Ernte. Lediglich die getane Arbeit der Magd bewegt
noch das Gras. Das Bild des ‚müden Laubs‘ partizipiert am Themenkomplex
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des Ruhens, der in der dritten Strophe betont wird. Es liegt nahe, den
Wechsel von Tag zu Nacht hier bebildert zu sehen. Gleichzeitig verweist
die Formulierung möglicherweise darauf, dass das Laub langsam in sich
zusammenfällt. Syntaktisch mehrdeutig scheinen die ersten vier Verse in
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Bezug auf das Subjekt, das „sich ins müde Laub gelegt“ (v. 20) hat. Durch
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die hypotaktische Satzstruktur erwägt man zunächst, dass sich die Magd ins
Gras gelegt habe. Satzlogisch ist es aber „der Garten“ (v. 19), der als totum
pro parte sowohl die Nachtruhe als auch das Vergehen alludiert.
Am Ende des Gedichts werden die Bilder des Anfangs aufgenommen.
Denn das, „was noch zuckt im weißen Spinnenzwirne“ (v. 21), ist möglicher‐
weise die Mücke, die „gern zurück ins Licht“ (v. 22) flöge. Während sich
die Mücke aus dem Spinnennetz zu befreien sucht, fällt die „letzte Birne“
(v. 23) vom Ast. Dabei wird das Licht personifiziert und zum Agens des
‚Birnen-Brechens‘. Nicht die Magd hat die Birne geerntet, sondern der letzte
Sommertag. Deutlich dürfte sein, dass das Gedicht eine Momentaufnahme
in detailliert beschriebenen und symbolisch aufgeladenen Naturbildern prä‐
sentiert. Der Mensch ist Teil dieser kultivierten Natur, die auf der Schwelle
zum Vergehen steht: Zu Beginn des Gedichts wird die kurz vor dem Fall
stehende Birne beschrieben, die in den letzten beiden Versen des Gedichts
dann tatsächlich fällt. Mit dem Bild der fallenden Birne endet das Gedicht.
Aussicht auf einen Neubeginn und eine zyklische Wiederkehr von Aufgehen
und Vergehen oder Leben und Tod, wie es Fontanes Herr von Ribbeck auf
Ribbeck im Havelland lyrisch ausformuliert, wird nicht artikuliert. Vielmehr
wird im gesamten Gedicht eine melancholische Atmosphäre erzeugt, die die
Hoffnung auf die Rückkehr des Sommers nicht explizit ausspricht.
Martin Raschke, der 1932 in Folge der Verleihung des Kolonne-Preises an
Peter Huchel eine recht kritische Analyse der frühen Gedichte vorgelegt
hat, gelangt zu der Einsicht, dass „die Welt Peter Huchels alles andere als
gestrig“ sei, da „die Gedichte wie von einem Traume zu sprechen scheinen“,
2. Naturerfahrung 85

der nicht direkt empfunden, sondern bereits als Illusion ausgestellt werde
(R ASCHKE 1973, 159). Huchels Gedichte liefern keine simple Naturbeschrei‐
bung. Vielmehr konstruieren sie artifizielle Naturbilder, die auf eine innere
Gestimmtheit von durchaus überindividueller Bedeutung verweisen. Hu‐
chels Naturerfahrung ist gebrochen: Wie der „Knabe eine bunte oder blakige
Glasscherbe gegen den Horizont hält“, um das Licht zu brechen, werden
die Naturbilder als Spiegel eingesetzt, um innere Gestimmtheiten lyrisch
zu artikulieren (H UCHEL 1984, II, 245). Raschke sieht hierhin eine Gefahr
der Huchel’schen Lyrik: Denn die Worte „erzeugen, richtig ausgesprochen,
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im Dichtenden und in dem gleichgestimmten Leser einen rauschartigen


Zustand des Verbundenseins mit dem Urgrund aller Wesen, eingehüllt in
einen dumpfen sinnlichen Geruch.“ (R ASCHKE 1973, 157)
Huchels Gedichte werden diese Brechung der lyrischen Naturerfahrung
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weiterführen. Hat die Naturerfahrung in der Sammlung Gedichte noch


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eine gewisse poetische Autonomie, verliert sie sie im Folgeband Chausseen


Chausseen (1963). Die Natur avanciert zum stummen Zeugen, der nicht
mehr zu deuten ist. Die Ödnis und Leere, die am Ende von Oktoberlicht nur
indirekt über das Ende des Altweibersommers in den Blick geraten, stehen
fortan im Zentrum der Gedichte. So hebt das Eingangsgedicht von Chausseen
Chausseen an:
Baumkahler Hügel,
Noch einmal flog
Am Abend die Wildentenkette
Durch wäßrige Herbstlust.

War es das Zeichen?

(H UCHEL 1984, I, 113)

Die Natur repräsentiert nur noch eine Leerstelle und ist folglich unlesbar. Sie
ist ein Zeichen, das zu deuten ist. Dies wird von Huchel über eine stärkere
Einschreibung des Menschen in die Natur weiter ins Bild gesetzt, weswegen
sich seine Gedichte immer weiter einer gewissen Hermetik annähern und
die verwendeten Naturbilder zur Polysemie tendieren:

Wer schrieb,
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern?
Ich fand sie am Pfahl,
86 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Dicht hinter dem See.


War es das Zeichen?

Erstarrt
Im Schweigen des Schnees,
Schlief blind
Das Kreuzotterndickicht.

(H UCHEL 1984, I, 114)


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2.3. Karl Krolow: Natur als Bedrohung des Subjekts

Für die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Bedeutung Karl Krolows (1915–
99) kaum zu überschätzen. Er stammt aus einer Beamtenfamilie und wächst
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in Hannover auf. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und


Kunstgeschichte in Göttingen und Breslau arbeitet Krolow zielbewusst
auf eine Schriftstellerlaufbahn hin und befasst sich mit literaturkritischen
Schriften, Übersetzungen und mit dem Verfassen eigener Lyrik. Krolow
feiert seinen literarischen Durchbruch unmittelbar nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1948 und 1959 werden insgesamt sieben
Gedichtbände publiziert: Gedichte (1948), Heimsuchung (1948), Auf Erden
(1949), Die Zeichen der Welt (1952), Wind und Zeit (1954), Tage und Nächte
(1956), Fremde Körper (1959). Für seine lyrische Produktion erhält er 1956
den Georg-Büchner-Preis. Daneben ist er wegen seiner Übersetzungen
ein wichtiger Literaturvermittler im Nachkriegsdeutschland. Er übersetzt
Werke des spanischen und französischen Surrealismus und ist damit ein
wesentlicher Antreiber einer deutschen Moderne-Rezeption, die aufgrund
der nationalsozialistischen Kulturpolitik zeitversetzt stattfindet. Aus diesen
Gründen rechnet Harald Hartung (*1932) Krolow noch 1985 zu den „füh‐
renden Vertretern der deutschen Nachkriegslyrik“ (H ARTUNG 1985, 163 f.).
Lediglich Paul Celan (1920–70) sei in seiner literarischen Bedeutung mit
Krolow vergleichbar.
Aus heutiger Sicht ist Hartungs Einschätzung wohl überholt. Die Gedichte
Krolows zählen gewiss nicht mehr zum Kanon der deutschsprachigen
Nachkriegslyrik – ganz im Gegensatz zu den Texten Celans. Dies hat seine
Gründe. Zum einen ist Krolows Involviertheit in den nationalsozialistischen
Kulturapparat mittlerweile akribisch aufgearbeitet (vgl. D ONAHUE 2002).
Krolow, der sich nach 1945 als apolitischer Artist inszenierte, tritt 1937 in
2. Naturerfahrung 87

die NSDAP ein, publiziert in streng nationalsozialistischen Zeitschriften


wie Das Reich und bemüht sich mehrfach um die Aufnahme in die Reichs‐
schrifttumskammer (vgl. S ARKOWICZ /M ENTZER 2000, 252). Zum anderen sind
Krolows Gedichte nach 1945 oft betont ahistorisch und vage in ihrem
Bedeutungsgehalt. Ein Beispiel für die aus heutiger Sicht irritierende Vagheit
der Krolow’schen Gedichte bietet Die Kammer.
Das Gedicht stammt aus seinem ersten eigenständigen Gedichtband, der
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint, und wurde bereits 1943
geschrieben. Es ist Herbert Grünhagen (1897–1989) gewidmet. Grünhagen
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war ein mit Krolow bekannter Schriftsteller, der nach seiner frühzeitigen
Pensionierung als Zollbeamter 1937 unter dem Pseudonym Peter Flambusch
Gedichte veröffentlicht und sich in eigenständigen Schriften mit Wetter
und Naturlandschaft auseinandersetzt. 1942 publiziert Grünhagen beispiels‐
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weise eine Kleine Wetterpraktik. Vom Spähen und Schauen. Vom Wind und
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den Wolken und kurz darauf eine Wetterkunde für den Wanderer (1948). Er
übersetzt Gedichte Walt Whitmans (1819–92) und ist maßgeblich durch
die Wandervogelbewegung geprägt. Aus welchen Gründen Grünhagen mit
knapp 40 Jahren pensioniert wurde, ist ebenso ungeklärt wie sein Verhältnis
zu Krolow.
Auch wenn Grünhagen heute sicherlich kein bekannter Schriftsteller
mehr sein dürfte, ist die Widmung für den Band Gedichte (1948) aussage‐
kräftig. Denn bereits über diese soziale Konstellation wird die Naturlyrik
aufgerufen. Hans Egon Holthusen (1913–97) erkennt in Krolow daher
auch einen ‚Schüler Lehmanns‘ (H OLTHUSEN 1972, 11). Gleichzeitig markiert
Holthusen eine Differenz zur Lyrik Lehmanns:
Aber er [Krolow] hat sich, von den fantastischen Ereignissen der Zeitgeschichte
erschüttert, sehr bald auf Gebiete vorgewagt, die Lehmann sein Leben lang ge‐
mieden hat und wohl niemals betreten wird. Die Erlebnisse Krieg und Nachkrieg
sind in seine Verse eingedrungen, gewisse intellektuelle Schwindelerlebnisse, die
dem Nur-Idylliker fremd sind, haben ihn überwältigt. (H OLTHUSEN 1972, 11)

Diese Spannung von naturmagischer Tradition und ‚Kriegserlebnissen‘ wird


von Krolow nun in besonderer Weise lyrisch realisiert.
88 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die Kammer
für Herbert Grünhagen

Den Schlaf hab ich in ihr gesucht,


Gesicht zur Wand gedreht.
Den Wurm im Holz hab ich verflucht,
Die Uhr, die Stunden mäht.

5 Ich nahm den Ruch vom Phlox herein


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Tagsüber, mir zur Lust.


Im Fenster ward der Widerschein
Der Wiese mir bewußt.
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Es gitterte das Walnußlaub


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10 Sich grün ums Glas mit Milch.


Ich wusch die Bank, ich trieb den Staub
Vom Tisch und aus dem Zwilch.

Der Schatten, der mir ins Gesicht


Und auf die Hände fiel,
15 Verriet sich mir beim Kerzenlicht
Im trüben Spiegelspiel.

Ich las die Schrift, ich fand das Wort,


Das ohne Sinn mir blieb,
Und tat die dunklen Bücher fort
20 Und ging und hatte lieb.

Ich strich das Laken mit der Hand


Und griff in kühle Luft,
Betastete den Tellerrand,
Sog ein den sauren Duft

25 Von Brot und Schnaps, gemischt von fern


Mit würzgem Fleisch vom Schöps.
Ich streute listgen Vögeln gern
Den süßen Birnengröps.

Weich fühlte ich wie Gräserhaar


30 Den Nacken einer Frau.
2. Naturerfahrung 89

Ich schmeckte Haut, die bitter war.


Den Mond sah ich genau,

Der böse an den Scheiben hing.


Er war mir nicht geneigt.
35 Der groß durch meine Kammer ging,
Hat Kummer mir gereicht.

Er brannte meine Augen leer,


Hat Bett und Stuhl bedroht,
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Ließ auf dem trocknen Tisch nichts mehr


40 Als harte Krumen Brot.

(K ROLOW 1989, 48 f.)


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Mit der Sammlung Gedichte präsentiert Krolow lyrische Texte, die regelmä‐
ßig gebaut sind und sich an bestehenden lyrischen Traditionen orientieren.
Die Gedichte besitzen geordnete Strophen- und Reimformen. Zumeist be‐
stehen die Strophen aus vier oder fünf Versen, die in der Regel im Kreuzreim
gehalten sind. Zahlreiche Gedichte imitieren romantische Gedichtformen,
die beispielsweise über die Volksliedstrophe Eingängigkeit, Sangbarkeit
und Einfachheit erzeugen. Auch im vorliegenden Gedicht findet sich ein
regelmäßiges und eingängiges Versmaß: Es handelt sich um alternierende
jambische Vier- und Dreiheber. Die Kadenzen sind durchweg stumpf. Ab‐
weichungen sind nicht zu konstatieren, weswegen das Gedicht stark rhyth‐
misiert wirkt. Allerdings thematisieren die zehn Strophen eine ambivalente
Ich-Situation, die im Spannungsverhältnis zu Einfachheit und Dynamik
dieser lyrischen Form steht.
Im Zentrum steht die Evokation einer subjektiv empfundenen Entfremdungs‐
erfahrung (vgl. B OYKEN 2016, 145–163). Typisch für die frühen Gedichte Krolows
ist, dass die Sprechsituation sehr konkret zu rekonstruieren ist. Ein Ich befindet
sich in einer Kammer und versucht vergeblich zu schlafen (vgl. v. 1–4). Zunächst
rücken die visuellen und akustischen Störmomente ins Zentrum. Können die
visuellen Irritationen relativ einfach ausgeschaltet werden, indem sich das Ich
mit dem Gesicht zur Wand dreht, ist es mit den akustischen Belästigungen
ungleich schwerer: Das Ich wird vom Holzwurm und vom Ticken der Uhr
wachgehalten. Insbesondere das Bild der tickenden Uhr, die „die Stunden mäht“
(v. 4), verweist bereits programmatisch auf das barocke Motiv des memento mori.
Sowohl die tickende Uhr als auch der nagende Holzwurm stehen sinnbildlich für
90 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

die verrinnende Lebenszeit des Ich-Sprechers. Mit dem sich ins Holz fressenden
Wurm wird möglicherweise auch schon eine Art Schuldhaftigkeit angezeigt,
wenn man beispielsweise an die stehende Wendung denkt, dass etwas am
Gewissen ‚nagt‘. Ob der Ich-Sprecher jedoch Schuld auf sich geladen hat und
welche Art von Schuld dies sein könnte, wird vom Gedicht nicht expliziert.
Gleichwohl markieren Holzwurm und tickende Uhr eine gewisse Gereiztheit
der wahrnehmenden Person. Beides sind eigentlich keine massiven Störquellen
für den Schlaf. Woraus diese Gereiztheit resultiert, wird im Gedicht nicht
erörtert. Sie ist vielmehr vorausgesetzt und lässt sich nur indirekt über die
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Schlaflosigkeit des Sprechers erschließen. Wichtig ist dabei, dass Holzkäfer und
tickende Uhr in einem engen Bezugsverhältnis stehen: Der holzfressende Käfer
korrespondiert in seiner Bewegung mit der Zeit ‚mähenden‘ Uhr. Der Käfer
frisst sich ins Holz. Von außen bleibt das Bett unbeschadet, von innen wird es
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langsam ausgehöhlt. Dieses Verhältnis von Innen und Außen ist für das Gedicht
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strukturbildend. Denn das Ich im Inneren der Kammer wird durch von außen
kommende olfaktorische Reize bedrängt. Die Sprechinstanz nimmt „den Ruch
vom Phlox“ (v. 5) wahr, der tagsüber zwar Lust bereitet, nachts aber ablenkt
und stört. Aufgrund des Geruchs der Flammenblumen imaginiert das Ich die
Wiese außerhalb der Kammer. Allerdings ist es lediglich der „Widerschein / Der
Wiese“ (v. 7 f.) im Fenster, der ins Bewusstsein des Ich dringt. Es handelt sich also
um eine indirekte Wahrnehmung: Nicht die Wiese, sondern nur die Spiegelung
der Wiese wird im Fenster sichtbar, was wiederum vom olfaktorischen Reiz
ausgeht.
Da im Gedicht vornehmlich ein Zeilenstil vorherrscht, Syntax- und
Versstruktur also in der Regel kongruent sind, erhalten die Zeilen- und
Strophensprünge als Irritations- und Störungsmarkierung ein besonderes
Gewicht. Es handelt sich nicht um die wirkliche Wiese, sondern lediglich um
die vom Geruch indizierte Vorstellung der Wiese außerhalb der Kammer. Der
direkte Zugriff auf die Natur scheint nicht möglich. Das Enjambement macht
auf das gebrochene Verhältnis zu dieser Naturvorstellung aufmerksam.
Holzwurm, Uhr und Phloxgeruch halten das Ich wach. Während sich das Ich
im Inneren der Kammer befindet, drängt von außen die Natur heran: Walnuss‐
laub rankt am Milchglas herauf. Über den Neologismus „gittern“ (v. 5) suggeriert
die Rede, dass die Natur nicht nur die Ruhe und Zurückgezogenheit des Ich in der
Nacht stört, sondern den Sprecher in seiner Kammer einzusperren scheint. Dass
dies über ein Verb ins Bild gesetzt wird, betont die Dynamik dieses Prozesses.
Ferner deutet das „Glas mit Milch“ (v. 10) an, dass die visuelle Wahrnehmung
eigentlich auf das Innere der Kammer beschränkt bleiben muss. Der Sprecher
2. Naturerfahrung 91

wendet sich in der Folge den häuslichen Verrichtungen zu und scheint jegliches
Zeitgefühl zu verlieren, wie die vierte Strophe nahelegt. Bemerkenswert ist, dass
der titelgebende Ort vom Ich-Sprecher zunächst bewohnbar gemacht werden
muss: Auf dem Tisch und der aus Baumwolle angefertigten Tischdecke (Zwilch)
muss zunächst der Staub gewischt werden. Die Kammer wurde offensichtlich
vom Ich bislang nur für den misslingenden Versuch des Schlafens genutzt.
In der Mitte des Gedichts findet sich in der fünften Strophe ein weiterer
scheiternder Versuch: Das Ich liest „die Schrift“ (v. 17). Zwar sind die Wörter
zu entziffern, allerdings bleiben sie „ohne Sinn“ (v. 18). Daraufhin legt
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das Ich die Bücher fort. Um welche Bücher es sich hierbei handelt, muss
spekulativ bleiben. Das Gedicht gibt keine eindeutigen Indizien, dass es sich
bei ‚der‘ Schrift um die Bibel handelt. Die scheiternde Lektüre ist jedoch
möglicherweise metapoetisch zu deuten: So wie die Natur das Ich gefangen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

hält und vom Schlaf abhält, so bleibt der Sinn der Natur-Bücher dem Ich
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verschlossen. Ist das Gedicht eine kritische Reflexion der naturmagischen


Schule? Wenn man dieser selbstreflexiven Lesart folgt, dann wären die
Bilder des Eingesperrtseins in der zweiten Strophe zu erklären. Das For‐
meninventar der Naturlyrik ermöglicht keine angemessene Evokation der
inneren Gestimmtheit. Es gelingt nicht, die vage Entfremdungserfahrung
des Ich in Sprache zu fassen. Im Scheitern dieses Versuchs wird jedoch eben
jene Entfremdung – auch gegenüber der traditionellen Form – ersichtlich.
Insofern könnte Die Kammer eine latente Kritik an der naturmagischen
Schule (Lehmann, Loerke) darstellen. Das Gedicht bedient sich dabei der
Mittel surrealistischer Darstellungen. Die Fokussierung auf Dinge und
Dunkelheit im Ausdruck schaffen eine Atmosphäre existenzieller Isolation.
Während die Natur das Ich belagert, schirmt die Kultur den Sprecher ab.
Nach diesem Wendepunkt des Gedichts kommt es zu einem eklatanten
Wandel der Atmosphäre: Das Ich sucht nun keinen Schlaf mehr, worauf das
Glattstreichen des Lakens verweist, sondern saugt den „sauren Duft // Von
Brot und Schnaps, gemischt von fern / Mit würzgem Fleisch vom Schöps“
(v. 24–26) ein. Kommt dieser Duft aus der Ferne in die Kammer, öffnet sie
sich im Folgenden dem Außenraum, wenn das Ich Vögel mit Birnenresten
füttert. Der Höhepunkt dieser Öffnung ist in einem Vergleich zu sehen, der
auf taktiler Ebene Geschlechtsakt und Naturerfahrung verbindet: „Weich
fühlte ich wie Gräserhaar / Den Nacken einer Frau.“ (v. 29 f.) Allerdings
handelt es sich hierbei um einen prekären Akt. Denn einerseits bleibt die
Frau über den unbestimmten Artikel im Ungefähren und erscheint somit
austauschbar. Andererseits machen die folgenden Verse deutlich, dass es sich
92 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

nur um einen kurzen Moment der Ruhe handelt. Fühlt sich das Nackenhaar
noch weich wie Gras an, schmeckt die Haut der genannten Frau bitter.
Der Umschlag wird mit einem Satz, der die achte und neunte Strophe
verbindet, herbeigeführt. Hier wandert der Blick des Ich zum Mond, „der
böse an den Scheiben hing“ (v. 31). Der Mond wird in der lyrischen Tradition
eher selten als Bedrohungsfiguration eingesetzt. Zumeist bietet er Trost
oder Orientierung. Sein Anblick erleichtert oder beruhigt den Einsamen,
wie beispielsweise in Goethes (1749–1832) An den Mond (1777), Matthias
Claudius’ (1740–1815) Abendlied (1778) oder Hölderlins Abbitte (1799). Er
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spendet nötiges Licht in der Nacht und ermöglicht somit die Orientierung.
Bei Krolow bieten die Gestirne jedoch weder Trost noch Orientierung.
Vielmehr gemahnt der Mond, der dem Ich „nicht geneigt“ (v. 34) ist, die
Sprechinstanz an ihre isolierte Situation. Diese Funktionalisierung des
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Mondes steht auch konträr zu Huchels Gedicht Zunehmender Mond aus


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dem Band Gedichte (1948), das eine zunächst vergleichbare Konstellation


beschreibt. Auch hier befindet sich ein Ich-Sprecher in einer Kammer: „Arm
in meiner Kammer lebend / Und ein Knecht, der bitter front“ (H UCHEL 1984,
I, 92). Doch bietet der Mond hier die Option einer imaginären Flucht aus
der beengten Situation: „Manchmal aber, sichelschwebend, / Wär ich gerne
nachts der Mond.“ (H UCHEL, 1984, I, 92)
Während der Ich-Sprecher in Zunehmender Mond im Blick auf den Mond
das Gefühl bekommt, dass sich seine „Kammer weit“ (H UCHEL 1984, I, 92)
öffnet, führt der Blick auf den Mond in Krolows Gedicht Die Kammer
den Ich-Sprecher zu einer nahezu gegenteiligen Erfahrung: Der durch
das Fenster in die Schlafkammer scheinende Mond beschreibt hier die
voranschreitende Zeit. Die Sprechinstanz kann ihren Blick nicht von
diesem Widerschein abwenden. Die beinahe obsessive Beobachtung des
Mondscheins wird als schmerzhafte Erfahrung beschrieben, nach der die
Augen schließlich ausgebrannt sind. Dieses Bild verweist vielleicht auf die
trockenen Augen als Effekt langen Starrens. Mit dem Bild der ausgebrannten
Augen ist nicht nur eine praktische Schädigung der visuellen Wahrnehmung
verbunden, sondern auch der Verlust der Erkenntnisfähigkeit. Schließlich
fungiert das Sehen sinnbildlich als Modus der Erkenntnis (zu denken ist
hier an den symbolischen Akt des Augenausstechens in Sophokles’ König
Ödipus). Was am Ende dieser schlaflosen Nacht bleibt, sind die vertrockneten
Brotkrumen auf dem Tisch, die mit den trockenen Augen der Sprechinstanz
korrelieren. Dass individuelle Schuld in diesem Gedicht eine Rolle spielen
könnte, legen die Schlussverse und das drastische Bild ausgebrannter Augen
2. Naturerfahrung 93

nahe. Trost, Orientierung und Transzendenz kann der Ich-Sprecher nicht


mehr in der Natur finden.
Alles bleibt aber vage. Welche Gründe dazu führen, dass sich das Ich vom
Mond bedroht fühlt oder warum es diese extreme Gereiztheit besitzt, wird
weder erklärt noch angedeutet. Gleichzeitig manifestiert sich hier ein typi‐
sches Verfahren der Lyrik Krolows. Angedeutet und assoziiert werden die
Themenkomplexe Vergessen, Verdrängen und Flucht (vgl. D ONAHUE 2002).
Insofern bieten die Gedichte eine höchst anschlussfähige Projektionsfläche
für die unmittelbare Nachkriegszeit, eben weil sie vage Angst- und Entfrem‐
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dungszustände, Fluchtbewegungen und Verfolgungsängste thematisieren


und dies in bekannten Formen präsentieren. Dass Krolows Lyrik sich als
Projektionsfläche so gut eignet, hat auch mit der Gattung Lyrik und mit
den lyrischen Rezeptionskonventionen nach 1945 zu tun: Es geht darum,
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die Leser emotional anzusprechen (vgl. K ORTE 2004, 17). Eine unkonkret
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geschilderte Entfremdungserfahrung, die mit Versatzstücken der Naturlyrik


operiert, scheint diese Funktionspotenziale leserseitig aktiviert zu haben.
Die Natur wird nicht mehr als Idylle oder mythischer Ort, sondern als
ambivalenter Raum konzipiert (vgl. K LESSINGER 2011, 80).
Im einfachen jambischen Vier- und Dreiheber und dem konsequenten
Kreuzreimschema kann sich das Gedicht nicht vom Volksliedton lösen. Im
Volkslied selbst ist aber auch ‚der Wurm drin‘, denn es ist nur oberflächlich
intakt: Die stumpfen Kadenzen und das nüchterne Schildern, das mit Aus‐
nahme von Vergleichen eigentlich gänzlich auf Wort-Bild-Tropen verzichtet,
verhindern Esprit und Leichtigkeit. Das Verhältnis von Innen und Außen,
das über Kammer und Natur in oppositioneller Spannung steht, lässt sich auf
die innere Gestimmtheit des Ich-Sprechers zurückführen. Die Kammer ist
dabei kein sicherer Zufluchtsort. Der literarische Traditionalismus vermag
es nicht, den ‚unbehausten Menschen‘ existenziell aufzufangen. Es ist
bemerkenswert, dass Krolow für die Zusammenstellung seiner Gesammelten
Gedichte, die von 1965 bis 1997 in vier Bänden im Suhrkamp-Verlag erschie‐
nen, nur sporadisch auf die Gedichte zurückgegriffen hat, die in den 1940er
Jahren entstanden sind. In dem ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichten
Band Auf Erden, der 1989 die frühen Gedichte zusammenstellt, gibt Krolow
im Nachwort Einblick in seine ambivalente Haltung zu den Texten dieser
Zeit: „Was war übriggeblieben? Was blieb mir übrig? Auf-Erden-Sein als
Illusion, Landschaft als besinnungslose Flucht, als Täuschung, als unsiche‐
rer, menschenleerer Winkel? Fassungslosigkeit ist ein großes Wort. Ich
versuchte mich in Gedichten zu fassen.“ (K ROLOW 1989, 176) Die Kammer
94 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

zeigt möglicherweise eben diesen Versuch des Sich-Fassens, der jedoch


scheitert.

2.4. Johannes Bobrowski: Natur im Zeichen des Verlusts

Bobrowski wird 1917 im ostpreußischen Tilsit geboren. Durch den Besuch


eines humanistischen Gymnasiums in Königsberg befasst er sich intensiver
mit den Werken Johann Gottfried Herders (1744–1803), Johann Georg Ha‐
manns (1730–88) und Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803). Bobrowski
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verbringt seine Ferien oft bei Verwandten in Litauen, was sowohl sein
Werk als auch sein Leben beeinflusst. Die Naturerfahrungen nutzt er
für sein poetisches Schaffen, gleichzeitig lernt er dort auch seine spätere
Ehefrau kennen. Nach seiner Schulzeit absolviert Bobrowski seinen Wehr‐
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pflichtdienst und wird zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als Gefreiter im


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Nachrichtenregiment eingezogen. Während der Zeit des Krieges ist er in


dieser Position in verschiedenen Gebieten in Osteuropa im Einsatz (u. a.
beim Überfall auf Polen). Nur für ein Semester lässt er sich zum Studium
der Kunstgeschichte beurlauben (1941/42). Ein zweites Studiensemester
lehnt Bobrowski ab, da er dafür Mitglied der NSDAP hätte werden müssen.
Hingegen tritt er noch während des Zweiten Weltkriegs der Bekennenden
Kirche bei. Nach dem Krieg ist er bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangen‐
schaft. 1950 wird Bobrowski in der DDR Lektor des Kinderbuchverlags
Lucie Groszer. Danach erhält er eine Stelle als Lektor im Ost-Berliner
Union-Verlag. Er veröffentlicht einige Gedichte in Sinn und Form (z. B.
Pruzzische Elegie). Erst 1961 erscheint sein erster Gedichtband Samartische
Zeit. Es ist bemerkenswert, dass der Band zuerst in der BRD (Deutsche
Verlags-Anstalt) und erst danach in der DDR (Union-Verlag) veröffentlicht
wird. Zwischen beiden Ausgaben gibt es einen eklatanten Unterschied: In
der westdeutschen Fassung fehlt die Pruzzische Elegie; die Gründe dafür sind
unklar. In der Folge veröffentlicht Bobrowski zwei weitere Gedichtbände,
Romane und kleinere Prosatexte. Im Oktober 1962 erhält er den Preis
der Gruppe 47. 1965 stirbt Bobrowski im Alter von 48 Jahren an einer
Blinddarmentzündung.
Retrospektiv verknüpft Bobrowski seine Initiation zum Dichter mit sei‐
nen Erlebnissen im seit der Kindheit vertrauten Naturraum, den er im Zuge
des Ostfeldzugs nur noch als Vergangenes und als Fremder erkennen konnte:
2. Naturerfahrung 95

Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft,


aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr:
die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum
aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter
ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung,
seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht
zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch
in deutschen Gedichten. Zu Hilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock.
(B OBROWSKI 1976, 13)
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Zum einen positioniert sich Bobrowski mit dem Verweis auf Klopstock in
der lyrischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich orientiert er sich in
der Formenwahl seiner Gedichte an Oden- und Elegienstrophen, die für die
Lyrik nach 1945 eigentlich zutiefst unmodern schienen. Zeitgenössischen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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Lyrikern ging es eher um die Überwindung der deutschsprachigen Formen‐


tradition und um die Öffnung zum französischen und spanischen Surrealis‐
mus. Dass Bobrowski ein Kenner der Lyrik des 18. Jahrhunderts war, belegt
auch seine Gedichtanthologie Wer mich und Ilse sieht im Grase (1964), in der
er sich ganz bewusst auf die „Kleinmeister und sogar völlig vergessene[n]“
Dichter konzentriert (B OBROWSKI [1964] 2007, 136). Zum anderen markiert
Bobrowski mit dem oben zitierten biografischen Bezugspunkt ein zentrales
Thema seiner Lyrik: Seine Dichtung speist sich aus dem Landschafts- und
Kulturraum Osteuropas. Bobrowski hat dies programmatisch über den Titel
seines ersten Gedichtbandes angezeigt: Samartische Zeit. ‚Samartien‘ kommt
aus der spätantiken Kartografie und bezeichnete u. a. bei Herodot das Gebiet
zwischen Weichsel und Wolga. Es handelt sich also um einen topografischen
Begriff, der zu Lebzeiten Bobrowskis keinen faktisch existierenden Raum
mehr beschrieb und aus der Zeit gefallen war. ‚Samartien‘ verweist damit auf
eine vergangene Zeit und einen vergangenen Raum. Wie schon in der Lyrik
Huchels erfolgt hier also eine Verschaltung von Erinnerung und Landschaft
in lyrischer Naturerfahrung. Und wie bei Huchel handelt es sich weder um
eine oberflächliche Naturbeschreibung noch um reine Erinnerungsarbeit.
Denn bereits der Begriff ‚Samartische Zeit‘ verweist darauf, dass es sich
um eine vergangene Raum-Zeit handelt, die nur noch in der Erinnerung
rekonstruiert werden kann (vgl. L ERMEN /L OEWEN 1987, 200).
Der westdeutsche Erstdruck von Samartische Zeit ist in drei Teile geglie‐
dert: Der erste Teil umfasst 22 Gedichte, der zweite Teil sieben Gedichte
und der dritte Teil erneut 22 Gedichte. Der ostdeutsche Erstdruck ist um die
96 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Pruzzische Elegie als eigenständigen Teil ergänzt, weswegen diese Fassung


aus vier Teilen besteht. Der erste Teil präsentiert lyrische Landschaftsschil‐
derungen. Der zweite Teil besteht in der ostdeutschen Fassung aus der
Pruzzischen Elegie, im westdeutschen Druck umfasst er Widmungsgedichte
an andere Poeten (z. B. Karoline von Günderrode [1780–1806], Joseph
Conrad [1857–1924] und Dylan Thomas [1914–53]), die in der ostdeutschen
Fassung den dritten Teil bilden. Laut Andreas Degen thematisiert der dritte
Teil der westdeutschen bzw. der vierte Teil der ostdeutschen Fassung den
„durch Zerstörung und Verfolgung gezeichneten samartischen Raum der
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Kriegszeit“ (D EGEN 2004, 387). Ob sich diese Trennung zwischen der Thema‐
tisierung der ‚Kindheitslandschaft‘ im ersten Teil und der Thematisierung
der ‚zerstörten Landschaft‘ im dritten bzw. vierten Teil so präzisieren lässt,
ist fraglich. Vielmehr scheint es, als sei den Naturerfahrungen des ersten
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Teils ihre spätere Zerstörung bereits inhärent. Gerahmt werden diese Texte
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von zwei poetologischen Gedichten: Anruf und Absage. Insbesondere das


Abschlussgedicht streicht das Defizitäre des Dichtens heraus, wenn der
pruzzische Gott Perkun als „Stotterer“ mit „wulstige[m] Mund[]“ (B OBROWKSI
2017, 73) gezeichnet wird.
Gedächtnis für einen Flußfischer

Immer
mit Flügen der Elstern
dein weißes Gesicht
in den Wälderschatten geschrieben.
5 Der mit dem Grundfisch zankt,
laut, der Uferwind fragt:
Wer stellt mir das Netz?

Keiner. Der vogelfarbne


Stichling schwimmt durch die Maschen,
10 baut ein Nest für die Brut,
über dem Hechtmaul der Tiefe
eine Laterne,
leicht.

Und wer teert meinen Boden,


15 sagt der Kahn, wer redet
mir zu? Die Katze streicht um den Pfahl
und ruft ihren Barsch.
2. Naturerfahrung 97

Ja, wir vergessen dich schon.


Doch der Wind noch gedenkt.
20 Und der alte Hecht
ist ohne Glauben. Am Hang
schreit der Kater lange:
Der Himmel stürzt ein!

(B OBROWSKI 2017, 11)

Vergangenes und Gegenwärtiges werden in Bobrowskis Dichtung im Na‐


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turraum und der Naturerfahrung verschränkt. Deutlich wird dies im Gedicht


Gedächtnis für einen Flußfischer. Das Gedicht steht im ersten Teil der Samar‐
tischen Zeit und wurde von Bobrowski am 29. Januar 1960 fertiggestellt; Bo‐
browski hat in seinen Belegexemplaren die Entstehungsdaten der einzelnen
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Gedichte notiert. Das Gedicht operiert mit dem Stilmittel der Inversion, was
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für Bobrowskis Dichtung typisch ist. Der Text besteht aus vier Versgruppen
und aus insgesamt 24 Versen, die allerdings nicht gleichmäßig auf die
Versgruppen verteilt sind. Auch wegen der freirhythmischen Struktur und
Reimlosigkeit ist eine deutliche Anlehnung an die Klopstock’sche Odenform
zu erkennen.
Der Beginn des Gedichts mutet hermetisch an: Das Pronomen „dein“ (v. 3)
verweist auf den im Titel genannten Flussfischer. Mit dem alleinstehenden
„Immer“ des ersten Verses wird die Beständigkeit des „weiße[n] Gesicht[s]“
(v. 3) hervorgehoben, das vom Elsternflug „in den Wälderschatten geschrie‐
ben“ (v. 4) wird. Die ersten Verse verbinden also mehrere Oppositionen:
Dunkel und Hell, Oben und Unten, Flüchtigkeit und Beständigkeit. Offen‐
sichtlich ist, dass es sich nicht um das faktische Gesicht des Fischers handelt.
Vielmehr – so legt es das Verb „geschrieben“ nahe – handelt es sich um
eine Form des Erinnerns im Naturraum. Die Schreibfeder fungiert in diesem
Fall als tertium comparationis. Es wird deutlich, dass das Gedicht wohl das
Verhältnis von Mensch und Natur zum Thema macht. Der Flussfischer
scheint nicht mehr anwesend zu sein, worauf die Nachfragen des personi‐
fizierten Uferwindes (v. 7) und des Kahns (v. 15) hinweisen. Die Reihe der
Oppositionen lässt sich also um den Gegensatz von Vergangenheit und
Gegenwart ergänzen. Das Netz wird nicht mehr ins Wasser gestellt, der
Boden des Kahns wird nicht mehr geteert. Insofern handelt das Gedicht
offensichtlich von der Absenz des Fischers. Dies wird als Defizit oder Verlust
artikuliert.
98 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Indem das Gedicht diesen Verlust im Naturraum spiegelt, wird der Text
selbst zum „Gedächtnis für einen Flußfischer“. Dass der Flussfischer mit dem
unbestimmten Artikel bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass es sich hierbei
um eine paradigmatische Konstellation handelt. Der Titel steht damit in
Spannung zu Vers 19: „Ja, wir vergessen dich schon.“ Während das Gedicht ein
relativ konkretes Bild einer verlassenen Fischerstelle poetisch aufruft, bleibt
die Kommunikationssituation eher unbestimmt. Möglicherweise handelt es
sich um eine kollektive Sprechinstanz oder um einen Sprecher, der für
eine bestimmte Gruppe spricht. Das Wir taucht lediglich im Kontext des
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Vergessens auf. Insofern könnte man im Wir die Menschen im Hier und
Jetzt erkennen, die sich an das Vergangene nicht mehr genau erinnern –
das Vergangene ist dem menschlichen Vergessen anheimgegeben und wird
auf absehbare Zeit verschwinden. Zwar sind die Spuren des Fischers noch
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

sichtbar, doch verleibt sich die Natur die Artefakte ein: „Der vogelfarbne /
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Stichling schwimmt durch die Maschen, / baut ein Nest für die Brut“ (v. 8–10).
Ob diese ‚Rückeroberung‘ der Natur konträr zum Gedenken an den
Fischer steht oder ob sie die Erinnerung der Natur erst ermöglicht, ist nicht
eindeutig. Im Gegensatz zum Wir erinnert die Natur jedoch den Flussfischer:
„Doch der Wind noch gedenkt.“ (v. 20) Es sind also die Naturphänomene,
wie der Flug der Elstern, in den sich das Gesicht des Fischers förmlich
einschreibt, die Klage des Kahns und des Uferwindes, die die Absenz
des Fischers in rhetorischen Fragen manifestieren, und das Gedenken des
Windes. Das Vergessen des Wir steht der Bewahrung der Natur gegenüber.
Allerdings kann die Natur das Andenken an den Flussfischer selbst nur
zeichenhaft konservieren (vgl. D EGEN 2004, 48). Diese Zeichen sind für die
Sprechinstanz noch zu lesen, während der Fischer ‚schon vergessen‘ wird.
Das Gedicht endet mit einem Bild der Apokalypse. Es ist uneindeutig,
ob der Kater – in einer Art von Anthropomorphisierung – tatsächlich
ausspricht: „Der Himmel stürzt ein!“ (v. 20) oder ob der Schlussvers dem
lyrischen Wir-Sprecher zuzuschreiben ist. Im zweiten Fall würde das Jam‐
mern des Katers parallel geführt mit dem Einsturz des Himmels. Da aber
schon die Rede von Uferwind und Kahn ohne Anführungszeichen gesetzt
wird, könnte man argumentieren, dass der Kater hier direkt spricht und
damit das letzte Wort behält. Allerdings können weder Kater noch Uferwind
sprechen, sondern nur der, der es dem Tier und dem Wind in den Mund legt.
Insofern erscheint das Einstürzen des Himmels als Folge des (menschlichen)
Vergessens. Die Exclamatio ist in sich wiederum uneindeutig: Handelt es
sich um eine Prophezeiung oder um eine Zustandsbeschreibung? Wird
2. Naturerfahrung 99

der Himmel einstürzen oder stürzt der Himmel mit Ende des Gedichts
ein? Dass sich Bobrowski mit dem Bild des einstürzenden Himmels eines
Märchenmotivs bedient, wäre ausführlicher zu erörtern (vgl. K ORTE 2004,
40). Möglicherweise deutet die Schlusswendung in ihrer Märchenhaftigkeit
auf die Gegenweltlichkeit dieser vergangenen ‚Flussfischerlandschaft‘.
Die Zeit des Flussfischers ist unwiederbringlich verloren. Die Gedichte
Bobrowskis unternehmen den Versuch, diese verschütteten Erinnerungs‐
fermente poetisch wieder heraufzuholen. Mit Blick auf die Gedichte aus
Samartische Zeit hat man von einer „Erinnerungslandschaft“ (L EISTNER 2005,
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55) oder einer „poetische[n] Erinnerungstechnik“ (K ORTE 2013, 1139) gespro‐


chen. Andreas Degen sieht in Bobrowski daher einen „Dichter des Einge‐
denkens und Vergegenwärtigens“ (D EGEN 2006, 385). Typisch ist dabei, dass
zahlreiche Gedichte zwischen Präteritum und Präsens wechseln, wodurch
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

die Sprechergegenwart mit der Vergangenheit, die sich in der Landschaft


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manifestiert, kurzgeschlossen wird. Nahezu leitmotivisch durchziehen den


Gedichtband die Motive des Flusses und des Fischens: Zahlreiche Gedichte
tragen Flussnamen im Titel (Die Jura, Die Memel, Die Daubas oder Die
Düna). Die Flüsse prägen die Landschaft und die Lebensweise der dort
angesiedelten Menschen. Gedichte wie Die Frauen der Nehrungsfischer,
Fischerhafen, Seeufer oder eben Gedächtnis für einen Flußfischer weisen
darauf hin. Einerseits erscheint das Fischen als Lebensform der samartischen
Vergangenheit. Die Sprechinstanz erinnert in lyrischer Überformung an
diese vergangene Lebensform. Andererseits verweist das Fischen aber auch
auf das Erinnern selbst. Der Fluss steht dann sinnbildlich für den ‚Fluss
der Erinnerung‘ und der Flussfischer, der mit seiner Reuse im Fluss fischt,
bringt die Erinnerung ans Tageslicht. Wenn der Flussfischer nun aus dieser
Erinnerungslandschaft verschwindet, dann verschwindet die Erinnerung.
Eine Gesellschaft ohne Vergangenheit erscheint mit Blick auf das Ende des
Gedichts als ‚Weltenende‘.
In einer solchen metaphorischen Lesart hat Bobrowski den Fluss wohl
verstanden, wenn er in einem Brief an den österreichischen Dichter Max
Hölzer (1915–84) konstatiert:
[W]as wollen wir mehr tun: als über der Wirklichkeit wie über einer versunkenen
Stadt kreisen, mit unseren Booten. Es ist nichts heraufzuholen, jeder Augenblick
ist schon immer vergangen, so gibt es keine Gegenwart, und das Zukünftige
beginnt nie. Wir halten einen Augenblick fest, aber die Gestaltung im Wort ist
das Eingeständnis, daß er vorüber ist. (T GARTH 1993, 440)
100 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Insofern thematisiert Gedächtnis für einen Flußfischer nicht nur etwas


Vergangenes, das in Form des Gedichts erinnert wird. Vielmehr werden das
Erinnern und seine Möglichkeiten lyrisch ausgelotet.
Der Naturraum ist in Bobrowskis Naturlyrik ein Gesellschaftsraum, der
vergangene Kultur(en) in sich aufnimmt. Im Sinne von Bobrowskis Poetik
ist es die Aufgabe des Dichters, diese Vergangenheit wieder sprachlich zu
fassen. Dass es sich hierbei um ein unmögliches Unterfangen handelt, legt
das poetologische Gedicht Abgesang am Ende des Gedichtbandes nahe.
In der dritten Versgruppe tritt der entstellte und stotternde pruzzische
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Gott Perkun auf. Die Pruzzen waren ein baltischer Volksstamm, der vom
Deutschen Orden unterworfen wurde. Aufgrund der folgenden kulturellen
Assimilation gingen die pruzzische Kultur und Sprache verloren. Dieser
Gott steht stellvertretend für den Dichter als mnemopoetische Instanz,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

denn Perkun „fuhr auf den Strömen“ (B OBROWSKI 2017, 73). In seinem
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Gefolge kommt die „Finsternis“ (B OBROWSKI 2017, 73), die sinnbildlich für
das Vergessen steht. In dieser intrikaten Verknüpfung von Natur, Kultur
und letztlich scheiternder und unvollständiger Erinnerung liegt der Kern
von Bobrowskis Naturlyrik. Entsprechend hatte er wenig übrig für eine
‚einfache‘, ‚schlichte‘ und ungebrochene Naturlyrik, wie er sie in der natur‐
magischen Schule repräsentiert sah. Natur ist nicht einfach nur Natur und
schon gar nicht der Gegensatz zur Kultur. Entsprechend bissig fällt ein erst
posthum publiziertes Doppeldistichon Bobrowskis über Wilhelm Lehmann
aus, mit dem er Lehmann nicht nur ‚in Rente schickt‘, sondern vor allem
seine – aus Bobrowskis Sicht – naiven Naturvorstellungen kritisiert:
Naturdichter Lehmann

Gründelnd immer im Grunde der tiefsten Natur, daß wir wähnten


Alge geworden ihn schon, Ameise, Spinn’ oder Lurch, –
da erscheint er, und just zum Monatsersten, zu welchem
Zwecke denn? Freundlich quittiert, pünktlich er seine Pension.

(B OBROWSKI 2017, 242)


3. Schuldfragen 101

3. Schuldfragen

3.1. Poetologische Hinführung

Während man sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit weniger um Fragen


nach Schuld und Verantwortung kümmerte, sondern vielmehr mit der
eigenen Notsituation befasst war, wird man im Zuge des Entnazifizierungs‐
prozesses jedoch schnell mit der eigenen Vergangenheit und der Frage nach
der moralischen Schuld der deutschen Gesellschaft konfrontiert. Wer trägt
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die Verantwortung für die zahllosen Kriegsverbrechen und für den Mord
an marginalisierten Bevölkerungsgruppen, ethnischen Minderheiten und
Regimegegnern? Sichtbarstes Zeichen dieses spannungsvollen Diskurses
waren die Nürnberger Prozesse, in deren Verlauf vom 20. November 1945
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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bis zum 14. April 1949 einige der bedeutendsten Funktionäre des NS-Re‐
gimes vor Gericht gestellt wurden. Auch wenn man in den Nürnberger
Prozessen dezidiert die individuelle Schuld der ‚Hauptakteure‘ feststellen
wollte, so wurden die Gerichtsverfahren im Laufe der Zeit von der deutschen
Bevölkerung als Stellvertreterprozesse wahrgenommen (vgl. T AVAKOLIAN
2010, 65–87). Dass die Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit
Bild- und Filmkampagnen die Strategie verfolgten, den Deutschen eine
kollektive Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes zuzuschreiben, ist
mittlerweile in geschichtswissenschaftlichen Schriften gut aufgearbeitet
(vgl. H ENTSCHKE 2001, 41–44; F RIEDEMANN/S PÄTER 2002, 53–90; W OLBRING
2009, 325–364). Allerdings rückten die Alliierten schnell von der Idee einer
‚Kollektivschuldthese‘ ab. Dennoch belegt die „Kritik an den Nürnberger
Prozessen und das starke Engagement von Kirchen, Parteien und Öffent‐
lichkeit für die Begnadigung verurteilter Kriegsverbrecher“, unter denen
sich schwer belastete SS-Einsatztruppenleiter befanden, den Wunsch nach
Verdrängung (B ERGMANN 2007, 18).
Grundlage dieser Verdrängung war der rhetorische Umgang mit der
Schuldfrage: Nicht das ‚deutsche Volk‘ sei an den Verbrechen schuldig,
sondern eine unkontrollierbare Macht, die sich in den Handlungen der
NS-Funktionäre manifestierte. So personifiziert Conrad Gröber (1872–1948),
der Erzbischof von Freiburg, in seinem Hirtenbrief vom 21. September 1945
den Zweiten Weltkrieg als einen „erbarmungslose[n] Vernichter“, der das
Land mit seinen „blutig-mörderischen Händen Haus für Haus und Seele für
Seele“ gezeichnet und aus den „Augen ganze Ströme von Tränen“ gepresst
102 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

habe (G RÖBER 1985, 47). Der Erzbischof stilisiert den Krieg zu einem eigen‐
ständigen Akteur und lässt dadurch unerwähnt, dass es doch Menschen
waren, die den Krieg führten. Vielmehr seien auch die Deutschen von einer
„teuflisch organisierte[n] Flüsterpropaganda“ „satanisch“ gequält worden
(G RÖBER 1985, 50 f.). Das NS-Regime und der allein auf die NS-Funktionäre
zurückgehende Weltkrieg habe schließlich „das Elend über die halbe Welt
[…] wie eine verheerende Seuche“ (G RÖBER 1985, 53) gebracht.
Gegen die Argumentation des Erzbischofs ließe sich die Neujahrsbetrach‐
tung 1945/46 der Dichterin und Historikerin Ricarda Huch (1864–1947)
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stellen, in der „die Logik der Tatsachen“ eingefordert wird: Man müsse
zu der „Einsicht“ gelangen, „daß ein Volk sich nicht als ein Haufen von
Privatleuten abseits von der Regierung stellen und sie schalten lassen kann,
ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen.“ (H UCH 1990, 947) Allerdings
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

konnte sich in der Öffentlichkeit diese Argumentationslinie nicht wirklich


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durchsetzen. Vielmehr dominierte eine Argumentationsstruktur, in der


die Verantwortung des Einzelnen abgestritten wurde und die diese Phase
deutscher Geschichte als unabwendbar erscheinen ließ: Die zwölf Jahre
des nationalsozialistischen Deutschlands seien eine ‚Katastrophe‘, die über
Deutschland hereinbrach, und damit ein ‚Schicksal‘, das man auszuhalten
und durchzustehen hätte. Die Gräueltaten werden so der menschlichen
Verfügbarkeit entzogen und mit religiösen Erklärungsmustern oder mithilfe
literarischer Konzepte (‚Schicksal‘ und ‚Tragik‘) gefasst. Häufig werden auch
Naturbilder genutzt: Man habe einen ‚Bergsturz‘ erlitten oder sei an einer
‚verheerenden Seuche‘ erkrankt, wie in der Argumentation des Erzbischofs
von Freiburg. Die italienische Literaturwissenschaftlerin Elena Agazzi hat
resümiert, dass diese Begriffe „allein dazu dienten, die kaum zu leugnende
Unterstützung des Hitler-Regimes durch das deutsche Volk zu verwässern.“
(A GAZZI 2016, 282) Mit Begriffen wie ‚Katastrophe‘ oder ‚Dämonie‘ wird
die deutsche Bevölkerung zudem zum ‚Opfer‘ der nationalsozialistischen
Herrschaft gemacht. Die Schuld wird so den NS-Funktionären als Akteuren
einer abstrakt-übermenschlichen ‚Schicksalsmacht‘ zugewiesen.
In diese Kerbe schlagen auch die ersten größer angelegten Studien,
die schon ab 1946 erscheinen. Man will Erklärungen für die Entstehung
und den Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland rekonstruieren.
Dabei stützt man sich aber auf allgemein-abstrakte Erklärungsmodelle, die
den Einzelnen von jeglicher Verantwortung freisprechen. Der Historiker
Gerhard Ritter (1888–1967) stellt beispielsweise die Volkssouveränität, wie
sie sich in Folge der Französischen Revolution ausbildete, als Wurzel des
3. Schuldfragen 103

totalitären Staates heraus. Für Alexander Abusch (1902–82), der in der DDR
als Kulturfunktionär Karriere machen wird, führt hingegen der preußische
Staat unweigerlich zum Nationalsozialismus. Gleichfalls kursieren zeitge‐
schichtliche Erklärungsmodelle, die beispielsweise im Versailler Vertrag
oder in der Übernahme des westeuropäischen Demokratiemodells in der
Weimarer Republik einen ‚grundsätzlichen‘ Baufehler sehen, der wiederum
zum Totalitarismus führen musste. Die Schuld für die Kriegsverbrechen und
den Massenmord wurde so in abstrakte Geschichts- und Politikprozesse
verlagert, von denen behauptet wurde, dass man sie nicht beeinflussen
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könne.
Mit dem Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre wird die Verdrängung
der Schuldfrage sicherlich begünstigt. Dennoch stehen die ersten Jahrzehnte
der Bundesrepublik heute „unter dem Ruch der Verdrängung der Vergan‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

genheit; es ist bis heute ihr Stigma geblieben.“ (F RIEDRICH 2007, 1) Diese
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Verdrängungsarbeit, die mit der Entstehungs- und Konsolidierungsphase


eines neuen Staates einherging, lässt sich sowohl für die BRD als auch für
die SBZ bzw. DDR nachweisen (vgl. S CHÜTZ 2016, 2).
Die Lyrik der Nachkriegszeit hat dieser Verdrängungsarbeit mitunter
Vorschub geleistet, wie es an den frühen Texten Karl Krolows (1915–99)
gezeigt werden kann. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Gedichte, die die indi‐
viduelle oder kollektive Schuldfrage ins Zentrum stellen und damit lyrisch
eine Gegenposition formieren. In Susanne Kerckhoffs (1918–50) Gedicht Die
Schuld, das sie dem Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger (1882–
1963) gewidmet hat, wird das individuelle moralisch-ethische Versagen auf
einer allgemeinen Ebene lyrisch ins Bild gesetzt:
Wir können sie nicht erschlagen
die Schuld, die uns zu schwer.
Wir haben die Kraft nicht, zu sagen:
wir tragen sie nicht mehr.

Sie schmiedet uns die Ketten


der Furcht, die uns umgibt,
zertrümmert uns die Stätten,
die wir zumeist geliebt.

(K ERCKHOFF 1946, 210)


Die ‚Ketten der Furcht‘, die jegliche Handlung verunmöglichen, sind die
unmittelbare Folge der Schuld, die zu Beginn des Gedichts nur als leise
104 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Ahnung den Wir-Sprecher anschleicht: „Nur manchmal kam ein Bangen: /


da regte sie sich leis / im atmenden Verlangen, / daß man sie sieht und
weiß.“ (K ERCKHOFF 1946, 210) Weil man die mögliche Schuld jedoch nicht
angenommen hat, kann sie weiter ‚wachsen‘:
Wir ließen sie im Lauen,
wir wollten keinen Bund.
Jetzt zieht sie unsre Brauen
und zeichnet uns zu Grund,
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hat uns mit Blut verkettet


in Schand und Schmach und Leid!

(K ERCKHOFF 1946, 210)


Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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Erst die Anrufung Gottes ermöglicht dem Wir die Befreiung aus der Schuld‐
befangenheit: Gott möge die „Flammenzeichen / der schweren Sühne“
verkünden, damit aus der Schuld der kollektiven Sprechinstanz „der Segen /
erneuter Menschheit dringt!“ (K ERCKHOFF 1946, 210) Die Anrufung Gottes
stellt die Schuld nicht nur in einen religiösen Kontext, sondern bietet auch
ein eminentes Sinnpotenzial: Aus der Schuld und den Verfehlungen des Wir
solle die ganze Menschheit lernen. Das Gedicht operiert mit Bildern, die auf
eine abstrakte und nicht näher konturierte Schuld verweisen. Die regelmä‐
ßigen jambischen Dreiheber werden zwar teilweise durch Senkungen im
Rhythmus gebrochen, doch erscheint das Gedicht in seiner äußeren Form
sehr regelmäßig. Das durchgängig gehaltene Kreuzreimschema steht dabei
in seltsamem Kontrast zur Verzweiflung des Wir-Sprechers.
Kerckhoff, die 1947 Mitglied der SED wurde, hat sich bis zu ihrem Suizid
intensiv an den Schulddebatten im Nachkriegsdeutschland beteiligt. Sie galt
als junge, aufstrebende Dichterin (vgl. G EIPEL 1999, 46 f.). Von Relevanz ist in
diesem Kontext Kerckhoffs Dichterverständnis. Sie weist den Dichtern eine
besondere Rolle zu, wie sie in ihrer Rede auf dem Ersten Deutschen Schrift‐
stellerkongress im Oktober 1947 in Berlin ausführt: Aus der historischen
Schuld, die Stimme nicht gegen den Nationalsozialismus erhoben und sich in
der Inneren Emigration eingerichtet zu haben, entstehe die Verantwortung,
„heute auf jeden Fall wachsam sein [zu] müssen“ (K ERCKHOFF 1947, 171 f.).
Auch in ihren Berliner Briefen (1948) wird die Verdrängungstendenz im
Nachkriegsdeutschland thematisiert. Der Briefroman versammelt Briefe der
Berlinerin Helene, die ihrem jüdischen Freund im Pariser Exil schreibt.
3. Schuldfragen 105

Die unaufgearbeiteten Schuldverstrickungen der Deutschen bilden dabei


das Zentrum des Briefromans. Für Kerckhoff sind die Schuldaufarbeitung
und das Bewusstwerden der Mitverantwortlichkeit notwendige Bestandteile
einer Erneuerung Deutschlands (vgl. M ELCHERT 2010, 391). Dass man nicht
eingegriffen, sondern sich in die Privatheit zurückgezogen habe, wird auch
in den Berliner Briefen kritisiert: „Es handelt sich um eine moralische Forde‐
rung, die nicht bezahlt wurde, die jetzt in kleinen Münzen der Verzweiflung
bis zum Tode abgetragen wird.“ (K ERCKHOFF 1948, 25)
Kerckhoffs Gedicht Schuld findet sich in der Anthologie De profundis,
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die 1946 von Gunter Groll (1914–82) herausgegeben wurde. Das erklärte
Ziel des Herausgebers ist die Dokumentation von Gedichten, die im deut‐
schen NS-Staat entstanden sind und ‚heimlich‘ kursierten. Dabei spielt
er die exilierten Dichterinnen und Dichter nicht gegen die Vertreter der
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

sogenannten Inneren Emigration aus, sondern will das „Ausmaß des inneren
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Widerstandes“ gegen den Nationalsozialismus präsentieren (G ROLL 1946,


13). Grolls Anthologie ist gewiss ein „Dokument der Konsolidierung des Tra‐
ditionalismus und der Kontinuität in der Lyrik der ersten Nachkriegsjahre“
(L AMPART 2013, 67), doch belegen zahlreiche Gedichte, „wie beispielsweise
das neu gestellte Problem der Schuld längst in die deutsche Dichtung ein‐
gegangen war, bevor sich die Welt-Diskussion über dieses Thema erhoben
hatte“ (G ROLL 1946, 22). Dabei lassen sich drei Gedichtgruppen ausmachen,
die den Schuldkomplex lyrisch fassen: (1) Schuld wird im Kontext der
Individualschuld artikuliert, wobei dies häufig mit einer eher resignativen
Haltung einhergeht. Das Schweigen ist ein oft gebrauchtes Signum dieser
Resignation:
Ringsum ihr seid so stumm geworden
und starrt mich so an
als sei ich der einzige Mann
der noch blieb nach dem Morden.

(E IGENBRODT 1946, 105)

Die Erlebnisse haben eine ganze Generation zum Verstummen gebracht,


die sich „ins Schweigen / hineinsinken“ (E IGENBRODT 1947, 105) lässt, wie
Karl-Wilhelm Eigenbrodt (*1921) im ersten Terzett seines Sonetts Verstummt
ausführt. Für den Sprecher besteht nur die Option des ‚Ausharrens‘ im
„tiefsten Grund“, bis „einer im Höhersteigen / auftut seinen jungen Mund“
106 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

(E IGENBRODT 1947, 105). Artikuliert wird hier auch das Trauma des Überle‐
benden, der sich nun gegenüber den Getöteten rechtfertigen muss.
(2) Um aus dieser passiv-resignativen Haltung des Schuldiggewordenen
auszubrechen, bietet sich die religiöse Aufladung an: Mithilfe religiöser
Erklärungsmuster kann dem Schuldkomplex so zumindest retrospektiv ein
Sinn verliehen werden. In Reinhold Schneiders (1903–58) Gedicht Am Rand
der Schlacht wird diese Technik genutzt. Der Ich-Sprecher ist „wehrlos“ im
Angesicht des aufziehenden Donners, der „Schlag um Schlag im Herzen
widerhallt“ (S CHNEIDER 1946, 361). Zwar verliert auch hier das Ich seine
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Sprachfähigkeit, doch wird die Sühne, für die es doch eigentlich keine Worte
hat, im apokalyptischen Schlussbild des Gedichts wieder artikulierbar:
Hier stirbt das Wort, hier ist mein Herz bezwungen.
Schuld wohnt mit Schuld im nachtumtobten Haus
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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Am Rand der Schlacht, die alles überflammt.

(S CHNEIDER 1946, 361)


Die Hoffnung auf Erlösung im Jüngsten Gericht wird auch bei Elisabeth
Langgässer (1899–1950) artikuliert, wenn sie in Fürchte Gott mit dem ambi‐
valenten Vers schließt: „Fürchtet mit Freuden das letzte Gericht!“ (L ANGGÄS‐
SER 1946, 233) Und auch Rudolf Hagelstanges (1912–84) Nachkriegssonette
aus dem Band Venezianisches Credo (1945/46) präsentieren eine solche
Hoffnung auf christliche Erlösung.
(3) Ganz anders wird mit der Schuld und den Schuldigen aber in den
Gedichten umgegangen, die den Hass auf die Täter in lyrischen Gewaltfanta‐
sien freien Lauf lassen. Angelehnt an die antiken Anrufungen der Erinnyen
oder Furien wird hier der Wunsch nach Bestrafung unmissverständlich
artikuliert. Ricarda Huch leitet mit der Personifikation ihres Herzens als
Löwe ein, wobei Emotionalität und Affekt über das Aufrufen des Jagdmodus
hervorgehoben werden: „Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest“
(H UCH 1946, 176). So wie das Herz zur Liebe fähig ist, kann es aber auch
unbedingt hassen:

Aber Gehaßtes gibt es auch,


Das er [der Löwe] niemals entläßt
Bis zum letzten Hauch,
Was immer die Jahre verhängen:
Es gibt Namen, die beflecken
Die Lippen, die sie nennen,
3. Schuldfragen 107

Die Erde mag sie nicht decken,


Die Flamme mag sie nicht brennen.

(H UCH 1946, 176)

Gehasst werden Personen, die sich so sehr versündigt haben, dass selbst
Gott nicht mehr zur Vergebung fähig sei: Es handelt sich hierbei um Mord
(„blutrote Schuld“, H UCH 1946, 176). Der Hass wird dabei auch über die
göttliche Gnade, die hier ohnehin nur im Konjunktiv geschildert wird,
gestellt:
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Und hätte Gott selbst so viel Huld


Zu waschen die blutrote Schuld,
Bis der Schandfleck verblaßte –
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Mein Herz wird hassen, was es haßte […]


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(H UCH 1946, 176)

Neben den hier kursorisch erwähnten Gedichten, die allesamt von Dichte‐
rinnen und Dichtern der Inneren Emigration stammen, wird die Schuldfrage
aber auch von exilierten Dichterinnen und Dichtern forciert. Besondere
Relevanz hat Thomas Manns (1875–1955) Artikel Die Lager, der in mehreren
deutschen Zeitungen im Mai 1945 nach der deutschen Kapitulation erscheint
und vor der Folie der deutschen Konzentrationslager die Schuldfrage stellt:
„Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende
einer sogenannten deutschen Elite, […] die unter dem Einfluß verrückter
Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.“ (M ANN 1997, VI,
11) Er schließt sich also nicht der Kollektivschuldthese an, sondern sucht
die Verantwortung bei einer „deutschen Elite“. Die Schande und Schuld
bezieht Mann aber ausdrücklich auch auf die Exilierten, die ebenso Teil
dieser „Elite“ sind. Manns Argumentationsstruktur ähnelt Huchs Ansatz,
die die grassierende Schuldverdrängung rhetorisch geschickt aus den An‐
geln hebt: „Wenn wir sagen, eine Räuberbande habe uns überfallen, uns
vergewaltigt und gezwungen, ihre Untaten mitzutun, so wird man lachen:
Können viele Millionen sich nicht einer Räuberbande erwehren?“ (H UCH
1990, 947) Mit Thomas Manns und Ricarda Huchs Appellen an die allge‐
meine und individuelle Schuldhaftigkeit ist der Boden bereitet für eine
brisante Kontroverse. Walter von Molo (1880–1958) verfasst in Reaktion auf
Manns Artikel einen offenen Brief, in dem er Mann um die Rückkehr nach
Deutschland bittet, damit der Exilierte das Leid der Zurückgebliebenen mit
108 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

eigenen Augen sehe. Problematisch ist von Molos offener Brief vor allem
deswegen, weil er ausschließlich zwischen NS-Tätern und den Opfern des
Regimes unterscheidet – und dabei auch ‚Mitläufer‘ zu Opfern macht. Mit
diesem Argument wird aus jedem, dem nicht nachgewiesen werden kann,
am NS-Apparat mitgewirkt zu haben, ein ‚Widerstandskämpfer‘. Zudem
wird suggeriert, dass es gefährlicher, beschwerlicher und verzichtreicher
gewesen sei, in Deutschland auszuharren. In diese Richtung argumentiert
auch Frank Thiess (1890–1977). In seinem Artikel Abschied von Thomas
Mann, der am 30. Oktober 1945 im Neuen Hannoverschen Kurier publiziert
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wird, wird das ‚Ausharren‘ im NS-Regime als gefährlicher und patriotischer


stilisiert als die ‚Flucht‘ ins Ausland (vgl. G RUNENBERG 1994, 110–130; K URZ
1996, 221–235; K RENZLIN 1997, 7–25). In einer polemischen Argumentation
spricht Thiess Thomas Mann die Legitimation ab, überhaupt Aussagen über
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Deutschland treffen zu dürfen, da er ja emigrierte und folglich gar nicht


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wissen könne, was in Deutschland vor sich ging. Der Streit zwischen den
exilierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern und den Vertretern der
Inneren Emigration wird damit weiter befeuert. Und auch Gottfried Benn
(1886–1956) schließt sich diesem Argument in seiner Autobiografie Doppel‐
leben (1950) an, wenn er seine Antwort an die literarischen Emigranten (1933)
verteidigt und gegen Klaus Manns (1906–49) Brief vom Mai 1933, in dem
Benn für seine pro-nationalsozialistischen Stellungnahmen kritisiert wird,
rhetorisch geschickt polemisiert. Zunächst lobt Benn Klaus Mann in den
höchsten Tönen, dessen persönlichen Brief er sogar in seiner Autobiografie
abdruckt, um dann aber den ‚Gegenschlag‘ durchzuführen:
Aber noch einen Gedanken muß ich aussprechen, er ist mir zu oft gekommen,
wenn ich an 1933 zurückdachte: wenn die, die dann Deutschland verließen und
noch heute so sehr auf uns herabsehen, so klug und weitsichtig waren, wie es
Klaus Mann ja ohne Zweifel war und wie es viele von den anderen vielleicht auch
waren – warum haben sie das Unheil nicht von sich und von uns abgewendet?
Ihnen gehörte die Öffentlichkeit […]. (B ENN 2006, 411)

Klaus Mann konnte darauf nichts erwidern – er hatte ein Jahr vor der
Veröffentlichung von Benns Doppelleben Suizid begangen.
Die Distanz zwischen den Dichterinnen und Dichtern, die ins Exil gingen,
und denen, die in Deutschland geblieben sind, war im Nachkriegsdeutsch‐
land massiv. Selbst bis heute zeigen sich die Nachwirkungen dieser klaren
Scheidung: So findet sich bis in den wissenschaftlichen Diskurs hinein eine
3. Schuldfragen 109

meist rigorose Trennung zwischen ‚Exilliteratur‘ und ‚Literatur der Inneren


Emigration‘.
Im Folgenden werden drei weitere Dimensionen, wie in der deutsch‐
sprachigen Nachkriegslyrik mit der Schuldfrage umgegangen wurde, exem‐
plarisch aufgezeigt. Die Gedichte von Mascha Kaléko (1907–75), Werner
Bergengruen (1882–1964) und Wolfdietrich Schnurre (1920–89) schließen
thematisch an die Gedichte der Anthologie De profundis an. Allerdings
erweitern sie den lyrischen Umgang mit der Schuldfrage auf je individuelle
Art und Weise. Mit Kaléko steht eine Dichterin am Anfang, die 1938 in
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die USA emigrierte; Bergengruen gilt hingegen als wichtiger Vertreter


der Inneren Emigration. Schnurre wiederum debütierte erst nach 1945
und gehört einer jungen Generation im Nachkriegsdeutschland an, die
sich einerseits von den literarischen Traditionen zu distanzieren versucht,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

andererseits aber auch ein Bewusstsein von der eigenen Schuld besitzt: Hier
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liegt auch ein besonderer Zug der Texte von Schnurre, der im Gegensatz
zu anderen Dichtern seiner Generation (z. B. Günter Grass [1927–2015]) die
eigene Schuldhaftigkeit immer wieder thematisiert und zum Ausgangspunkt
seines Schreibens macht.
Mascha Kalékos Gedicht Höre, Teutschland ist in seiner Drastik eine
nicht nur für die Nachkriegsgesellschaft kaum zu ertragende Anklage
der nationalsozialistischen Gräueltaten, da es selbst explizite Gewaltbilder
nutzt, wenngleich der hier artikulierte Hass durchaus reflektiert wird.
Besonders bemerkenswert ist an diesem Gedicht, dass es sich um eine
Kommunikation nach außen handelt. Kaléko hatte das Gedicht am 14. März
1943 im New York Times Magazine vorab veröffentlicht. Es erschien dort in
einer englischen Fassung unter dem Titel Hear, Germany! (vgl. K ALÉKO [2012]
2013, I, 185). 1945 wurde das Gedicht in deutscher Sprache im Band Verse für
Zeitgenossen im amerikanischen Schoenhof-Verlag veröffentlicht. Der 1856
gegründete Verlag mit Sitz in Cambridge/Massachusetts war auf deutsch-
und französischsprachige Bücher spezialisiert und hat Kalékos Verse für
Zeitgenossen wohl in einer äußerst kleinen Auflage veröffentlicht (vgl.
K ALÉKO [2012] 2013, IV, 48 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt
Kaléko wieder Verbindung zum Rowohlt-Verlag auf, bei dem sie in der
Weimarer Republik und vor ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten zwei
Gedichtbände veröffentlicht hat, die enorm erfolgreich waren. Mit Rowohlt
vereinbart sie eine Neuauflage von Verse für Zeitgenossen, die 1958 gedruckt
wird. Allerdings findet sich Höre, Teutschland in der Rowohlt-Fassung der
Sammlung Verse für Zeitgenossen nicht. Offensichtlich war dieses Gedicht
110 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

nicht für die deutsche Leserschaft gedacht oder geeignet. Die Umstände
dieser Unterdrückung werden im Folgenden ebenfalls thematisiert.
Kontrastiert wird Kalékos lyrischer Umgang mit der Schuldfrage durch
Werner Bergengruens Gedicht An die Völker der Erde. Hierbei handelt es
sich um das Abschlussgedicht des 1945 veröffentlichten Gedichtbandes Dies
Irae. Obwohl im Titel die ‚Völker der Erde‘ adressiert werden, richtet sich
das Gedicht wohl eher an die deutschen Leserinnen und Leser. Es handelt
sich also um eine Kommunikation nach innen, die vor der Folie christlicher
Vorstellungen nicht nur die Schuldfrage relativiert, sondern sogar die ‚Völ‐
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ker der Erde‘ davor warnt, den Deutschen die alleinige Schuld zuzuweisen.
Während Kaléko im Nachkriegsdeutschland nicht mehr an ihre Erfolge der
ausgehenden Weimarer Republik anknüpfen kann, werden Bergengruens
Texte breit rezipiert. Dies liegt womöglich an ihren Rezeptionsangeboten:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Bergengruen lädt die Zeit des Nationalsozialismus religiös auf und verleiht
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dem Schrecken und Leiden einen Sinn, der sich im Kontext von Sühne,
Buße und Eschatologie bewegt. Dabei gerät Bergengruen – spätestens aus
heutiger Sicht – in ein ethisch-moralisches Zwielicht. Als Mitglied einer
unter Generalverdacht stehenden Gesellschaft tritt er als Mahner auf und
strapaziert damit, was unter Anlehnung an die antike rhetorische Kategorie
der Licentia als ‚Lizenz des Sagbaren‘ bezeichnet werden könnte.
Kalékos Anklage hingegen bleibt in Deutschland ungehört und lange un‐
gedruckt. 2005 hat Jutta Rosenkranz das Gedicht in die historisch-kritische
Gesamtausgabe aufgenommen. Erst vor dem Hintergrund einer solchen
Konstellation ist Adornos (1903–69) in der Einleitung bereits erwähnte
Schlussfolgerung nachvollziehbar. Nur wenn man Gedichte wie An die
Völker der Erde kennt und um ihre Breitenwirksamkeit weiß, ist Adornos
Position, dass es „barbarisch“ ist, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schrei‐
ben“ (A DORNO [1951] 2003, 30), nachvollziehbar. Wolfdietrich Schnurres
Gedicht Denunziation, das auf enigmatische Art und Weise die Schuldfrage
verhandelt und dabei auf keine eindeutige Antwort kommt, kann daher als
kritischer Kommentar auf Adorno verstanden werden. Während Kalékos
und Bergengruens Gedichte klare Positionen vertreten, hebt Schnurres
Denunziation die Ambivalenz der Schuldfrage hervor. Dabei nutzt Schnurre
poetische Bilder, die eine Verbindung zum lyrischen Traditionalismus eröff‐
nen. Der Mond als das zentrale Motiv des Gedichts wird in seiner Bedeutung
jedoch durch Schnurres hermetische Neologismen verunklärt.
3. Schuldfragen 111

3.2. Mascha Kaléko: Kommunikation nach außen

Mascha Kaléko erlebt ihren literarischen Durchbruch in der Weimarer


Republik. Ende der 1920er Jahre veröffentlicht sie erste Gedichte in der Ta‐
gespresse, die in einem saloppen Stil den Alltag aufs Korn nehmen und dabei
gleichzeitig eine verhaltene Melancholie erzeugen. Mit diesen Zeitungsge‐
dichten wird Kaléko populär. Ihr äußerst erfolgreicher Debütband Lyrisches
Stenogrammheft, der erst 1933 veröffentlicht wird, enthält vor allem Groß‐
stadt- und Liebesgedichte, die Alltagssituationen mit leiser Ironie schildern
(vgl. K ORTE 2003; B RITTNACHER 2006). 1934 folgt der Gedichtband Kleines
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Lesebuch für Große, der vor allem die Verspieltheit von Kalékos Lyrik belegt.
Noch 1935 plant der Rowohlt-Verlag eine Neuauflage beider Bände. Bis 1935
scheint ihre Religionszugehörigkeit offensichtlich unbekannt geblieben zu
sein. Dann interveniert allerdings die nationalsozialistische Kulturbehörde:
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Kaléko wird als Jüdin aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und


erhält Publikationsverbot. Ihr Verleger Ernst Rowohlt (1887–1960) erfährt
wohl erst 1937 davon (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, III, 35). 1938 emigriert Kaléko
in die USA.
Die Exilerfahrung ist der Biografie Kalékos von Beginn an eingeschrieben.
Als Jüdin musste sie bereits im Kindesalter aus Galizien fliehen; aufgewach‐
sen ist sie in Berlin. Nachdem sie mehrere Jahre in New York lebte, ging
sie nach Hollywood und schließlich mit ihrem zweiten Ehemann nach
Jerusalem. Insbesondere die Flucht aus Deutschland hat sich auch in ihren
Gedichten niedergeschlagen. Während die Gedichte vor ihrer Flucht betont
unpolitisch sind, kreist ihre spätere Lyrik um Flucht, Exil und die Folgen
des Nationalsozialismus. So bezieht sich auch das Gedicht Höre, Teutschland
explizit auf den deutschen Nationalsozialismus, indem es die Gräueltaten
anklagt, wie bereits der Untertitel mit Verweis auf die Konzentrationslager
Majdanek und Buchenwald anzeigt.
Bemerkenswert und aussagekräftig ist zunächst die Publikationsge‐
schichte des Gedichts. 1945 wird es im Band Verse für Zeitgenossen in
den USA in deutscher Sprache verlegt. Laut Kaléko lag die Auflagenhöhe
im Schoenhof-Verlag zwischen 2.000 bis 3.000 Exemplaren (vgl. K ALÉKO
[2012] 2013, III, 1430 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht
sich Kaléko intensiv darum, im deutschen Sprachraum wieder Fuß zu
fassen. Nachdem Kaléko 1952 den Kontakt zum Rowohlt-Verlag wieder
aufgenommen hatte, kommt es 1956 zu einer Neuauflage der beiden ersten
Gedichtbände Kalékos. In kurzer Folge kann Kaléko neue Gedichte auf dem
112 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

deutschen Markt positionieren und geht schließlich in Verhandlungen mit


Rowohlts Sohn, der mittlerweile die Geschäfte führt, um eine Drucklegung
der Verse für Zeitgenossen auszuhandeln. Obwohl Kalékos Gedichtbände
bis 1935 und auch die Neuauflagen einen hohen Absatz bringen, kommt
es zwischen der Dichterin und dem Verlag in verschiedenen Bereichen zu
Problemen. Neben Verstimmungen über Presse- und Funkrechte bleibt die
Gedichtauswahl für den Band Verse für Zeitgenossen ein Streitpunkt. Mit
dem Lektor Wolfgang Weyrauch (1904–80) diskutiert Kaléko die Auswahl,
den Umfang und den Stil der Gedichte. Weyrauch will maximal 50 Gedichte
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aufnehmen, worauf sich Kaléko schnell einlässt (vgl. S CHNEIDER 2015, 205).
Da die Dichterin aber auch neuere Gedichte platzieren will, muss man sich
für die Veröffentlichung auf Streichungen einigen. Von den 54 Gedichten der
amerikanischen Ausgabe werden lediglich 21 Gedichte in die Ausgabe von
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1958 übernommen; ergänzt wird die Auswahl durch 33 neue Texte. Gedichte,
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in denen Kaléko Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und die Shoah
verantwortlich macht und in denen ihr Hass auf die Nationalsozialisten zum
Ausdruck kommt, werden größtenteils gestrichen. Das hat möglicherweise
marktstrategische Gründe: In ihrer früheren Heimat wäre ein Gedicht wie
Höre, Teutschland dem Comeback vielleicht abträglich gewesen. Allerdings
gibt es einige briefliche Äußerungen, die nahelegen, dass Kaléko gerade
diese Gedichte für prädestiniert zur Publikation in Deutschland hält. So
schreibt sie am 17. Februar 1957 dem jüdischen Verleger Felix Guggenheim
(1904–76): „Das mein ‚hunch‘ [meine Ahnung] bezüglich der Emigrations‐
verse nicht falsch ist, dafür finde ich auch heute wieder einen Beweis, sahen
Sie den heutigen NY Times Magazine-Artikel über den sensationellen Pu‐
blikumserfolg der deutschen ‚Anne Frank-Aufführungen?‘“ (K ALÉKO [2012]
2013, II, 585 f.)
Aus welchen Gründen Wolfgang Weyrauch diese Gedichte nicht aufneh‐
men wollte und warum sich Kaléko trotz anderer Publikationspläne so
schnell darauf einließ, lässt sich anhand des Briefwechsels nicht rekonstru‐
ieren. Festzuhalten bleibt aber: Im Band von 1958, der in Deutschland
unter demselben Titel wie in den USA veröffentlicht wurde, fehlt Höre,
Teutschland.
Höre, Teutschland
(In memoriam Maidanek und Buchenwald)

Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern,


Der Tag, da sie ans Hakenkreuz euch schlagen.
3. Schuldfragen 113

Da wird nicht eine Seele um euch klagen,


Und nicht ein Hund beweinen seinen Herrn.

5 Umsäumt von Stacheldraht und Kerkermauern,


Sind euch die frischen Gräber schon gerichtet,
Voll feister Würmer, die auf Nahrung lauern.
Habt ihr die Gier in ihnen doch gezüchtet.

Geschändet habt ihr selbst die gute Erde.


10 Sie hat das Höllentreiben wohl gesehen.
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Und auch die Raben wissen, was geschehen,


Als ihr wie Wölfe einfielt in die Herde.

Sie werden kommen aus dem Land im Osten,


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Wo eure Panzertanks im Blute rosten.


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15 Im Schlaf umzingeln werden euch die Scharen,


Die eurer Mordlust stumme Opfer waren.

Ihr Wimmern wird euch in den Ohren dröhnen,


Wenn sie vereint der Massengruft entsteigen.
Noch braust der Sturmwind, gegen euch zu zeugen.
20 Er hörte Nacht um Nacht das grause Stöhnen.

Grell schreit von eurer Stirn das rote Zeichen.


Verflucht auf ewig sei Germaniens Schwert!
Verhasst ward mir der Anblick eurer Eichen,
Die sich von meiner Brüder Blut genährt,
25 Verhasst die Äcker, die da blühn auf Leichen.

Wie hass ich euch, die mich den Hass gelehrt …

(K ALÉKO [2012] 2013, I, 184)

Dass Kaléko mit diesem Gedicht möglicherweise gar nicht die deutschen
Leserinnen und Leser adressieren wollte, legt auch die Vorabpublikation
im New York Times Magazine nahe. Das Gedicht richtet sich nicht an die
deutsche Leserschaft, sondern an internationale Adressaten, wie Kalékos
englische Fassung des Gedichts suggeriert. Ob die deutsche oder die engli‐
sche Fassung zuerst entstanden ist, ist nicht geklärt. Auch Jutta Rosenkranz
macht in ihrem Kommentar zur historisch-kritischen Werkausgabe hierzu
114 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

keine Angaben (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, IV, 58 f.). Sicher ist nur, dass
Kalékos Hear, Germany!, das durch das Ausrufungszeichen in der englischen
Fassung noch an Emphase gewinnt, bereits am 14. März 1943 veröffentlicht
wurde, während sich Höre, Teutschland erst in der amerikanischen Ausgabe
der Gedichtsammlung Verse für Zeitgenossen (1945) findet. Auch in der
englischen Version legt Kaléko Wert auf eine ästhetische Faktur, wenn sie
beispielsweise das alternierende Endreimschema beibehält:
The day will come, it is not far ahead,
When you will hang upon your crooked cross,
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And not a living soul will mourn your loss,


And not a dog will howl his master, dead.

(K ALÉKO [2012] 2013, I, 185)


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Sowohl in der englischen als auch in der deutschen Fassung dominieren


die drastischen Bilder der Vergeltung. Ein Ich-Sprecher klagt dabei eine
Gruppe von Tätern an, die bereits im zweiten Vers als Nationalsozialisten
ausgewiesen werden: „Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern, / Der
Tag, da sie ans Hakenkreuz euch schlagen.“ (v. 1 f.) Die Anapher stellt
die Bedeutung des einen Tages als Tag der Vergeltung heraus, wobei im
zweiten Vers eine explizite Verknüpfung von nationalsozialistischer und
christlicher Symbolik erfolgt, wenn die Täter „ans Hakenkreuz“ geschlagen
werden. Diese Täter, die über weitere nationalsozialistische Schlüsselbe‐
griffe („Germanien“, „Eichen“, v. 22 f.) als Deutsche gekennzeichnet werden,
sind die Adressaten des sprechenden Ich. Über die zentralen Begriffe und
Wendungen, wie „Hakenkreuz“ bzw. ‚Ans-Kreuz-Schlagen‘, „Germaniens
Schwert“ oder „Eichen“, wird die Instrumentalisierung christlicher, mit‐
telalterlicher und romantischer Mythologie durch die Nationalsozialisten
herausgestellt. Wie schon die Hakenkreuze nun am kurz bevorstehenden
Tag der Vergeltung umfunktionalisiert werden, dominiert in den ersten
drei Strophen die Umwertung nationalsozialistischer Begriffe, Symbole und
Artefakte: Der ‚Herr‘ wird nicht einmal mehr von seinem „Hund“ beweint
und „Stacheldraht“ und „Kerkermauern“ bezeichnen nicht mehr nur den
Platz der von den Nationalsozialisten Ermordeten, sondern auch das eigene
Grab. Der Modus der Umkehr wird dann besonders eindringlich in der
vierten Strophe als Totenwiederkehr geschildert. Ein Umschwung wird
hier auch durch die Ablösung des umarmenden Reims durch den Paarreim
markiert (v. 13–16):
3. Schuldfragen 115

Sie werden kommen aus dem Land im Osten,


Wo eure Panzertanks im Blute rosten.
Im Schlaf umzingeln werden euch die Scharen,
Die eurer Mordlust stumme Opfer waren.

Einerseits verweist das Gedicht, das wohl im Frühjahr 1943 entstanden


ist, auf den Zusammenbruch der Ostfront, der sich bereits 1942/43 in der
Schlacht um Stalingrad abzeichnete und ab Sommer 1943 im Vorrücken der
Roten Armee bis zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer
1944 dann faktisch realisieren sollte. Dass es sich bei dem Angriff auf die
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Sowjetunion um einen Vernichtungskrieg handelte, wird auch im Gedicht


deutlich, wenn die im Blut rostenden Panzer erwähnt werden. Andererseits
verweist der Ich-Sprecher über das Bild der auferstehenden Toten auch
auf den Schuldkomplex: Wenn die Ermordeten die hier Angesprochenen
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„[i]m Schlaf umzingeln“ (v. 15) und „[i]hr Wimmern […] euch in den Ohren
dröhn[t]“ (v. 17), dann scheint es sich auch um Geistererscheinungen zu
handeln, die die Sühne für begangene Gräueltaten einfordern. Die Wieder‐
kehr der Toten als Rächende ist jedoch in naher Zukunft situiert: „Noch
braust der Sturmwind, gegen euch zu zeugen“ (v. 19), womit aber bereits
eine übermenschliche Instanz als Ankläger aufgerufen wird.
In der sechsten Strophe weisen die Schuldigen auch das äußere Zeichen
der Schuld auf: „Grell schreit von eurer Stirn das rote Zeichen.“ (v. 21)
Die Signalfarbe Rot stellt eine Verbindung zum vergossenen Blut her und
korrespondiert mit dem Adjektiv, das den Vers einleitet: Das Mal der Schuld
ist auffällig, es blendet förmlich („Grell“) und sticht in unangenehmer
Weise hervor. Dies wird über das direkt folgende Verb ‚schreien‘ sogar
gesteigert. Der offensichtlichen, ‚schreienden‘ Schuld gewahr werdend,
stößt der Ich-Sprecher einen Fluch aus: „Verflucht auf ewig sei Germaniens
Schwert!“ (v. 22) Dass das Ich durchaus von den Taten der hier Adressierten
betroffen ist, wird schließlich auch deutlich: „Verhasst ward mir der Anblick
eurer Eichen, / Die sich von meiner Brüder Blut genährt“ (v. 23 f.). Einerseits
wird damit deutlich, dass „Teutschland“ zwar im Titel als Adressat genannt
ist, faktisch aber Vertreter des Landes gemeint sein dürften. Andererseits
gründet der Fluch auf einem unbedingten Hass, den das Ich aber reflektiert,
worauf der isoliert stehende Schlussvers des Gedichts verweist: „Wie hass
ich euch, die mich den Hass gelehrt …“ (v. 26). Damit wird eine Gruppenzuge‐
hörigkeit realisiert, die sich auch in der Struktur Opfer vs. Täter manifestiert.
Die deutsche Fassung des Gedichts erweist sich aber als ambivalenter als
116 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

die englische Version. Zwar gehört der Ich-Sprecher der Gruppe der Opfer
an, gleichwohl spricht das Gedicht die Sprache der Täter: Der deutsche
Kriegswille und das deutsche Land, für das die Eichen stellvertretend
stehen, werden zwar gehasst, doch gehört der Ich-Sprecher aufgrund der
gesprochenen Sprache zur ‚Kultur‘ der hier Adressierten. Wenn „Eichen“
(v. 23) auf „Leichen“ (v. 25) gereimt wird, markiert dies aber eine gravierende
Entfremdung von einem Land, das auf Leichen gebaut ist. Dass Kaléko mit
dieser heftigen Anklage 1958 nicht an die deutsche Öffentlichkeit gehen
konnte oder wollte, ist durchaus nachvollziehbar. Umso größere Bedeutung
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hat die englische Fassung, die belegt, dass dieses Gedicht, das Teil der
Schuld-Konstellation der deutschen Nachkriegslyrik ist, als Kommunikation
nach außen zu verstehen ist. Zwar wird Deutschland als Adressat im Titel
angerufen, doch richtet sich der Ich-Sprecher nur vermeintlich an die
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Täter. Vielmehr scheint es sich um eine Selbstvergewisserung und Selbst‐


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distanzierung zu handeln, worauf insbesondere der letzte, isoliert stehende


Vers verweist. Dass damit gleichzeitig eine internationale Leserschaft –
zumindest indirekt – adressiert wird, dürfte auf der Hand liegen. Der
angesprochene Adressat, „Teutschland“, wäre also eine Apostrophe, aber
nicht der eigentliche Adressat.
Neben dieser Kommunikation nach außen bietet das Gedicht jedoch auch
Anknüpfungspunkte für eine dritte Adressatengruppe: die exilierten deut‐
schen Juden. Jutta Rosenkranz erkennt im Kommentar zu Höre, Teutschland
eine Anspielung auf das hebräische Gebet Schma Jisrael (Höre, Israel), das
als jüdisches Glaubensbekenntnis im Morgen- und Abendgebet und bei
Begräbnissen eine große Rolle spielt. Es hebt die Einzigartigkeit und Einheit
Gottes hervor (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, IV, 58). Welche Bedeutung dieser
intertextuelle Bezug, der die drastische Anklage in einen religiösen Kontext
stellt, für das vorliegende Gedicht hat, wird leider nicht ausgeführt. Aber
möglicherweise handelt es sich bei Höre, Teutschland um ein invertiertes
Glaubensbekenntnis, das den Hass als zentrales und vielleicht verbindendes
Glied einer Gemeinschaft herausstellt. Im Schma Jisrael wird zu Beginn der
Tagesanbruch begrüßt, dann die Liebe zu Gott und zum Volk Israel besungen
und danach das Glaubensbekenntnis (also: die Anerkennung der göttlichen
Autorität) bekräftigt. Kaléko kehrt diese Operationen in ihrem Gedicht um:
‚Teutschland‘ ist darin Anti-Israel. Der intertextuelle Bezug importiert einen
tradierten Adressatenkreis. Mit Blick auf den Titel des Gedichts scheint
noch ein weiterer intertextueller Bezug naheliegend: Kalékos Gedicht weist
einige Ähnlichkeiten mit dem 1641 in Amsterdam veröffentlichten Sonett
3. Schuldfragen 117

An das Teutschland von Georg Rodolf Weckherlin (1584–1653) auf. In beiden


Gedichten wird Deutschland in einem Moment des Ausnahmezustands
angesprochen: Weckherlins Gedicht thematisiert den Dreißigjährigen Krieg,
während es bei Kaléko um das nahe Ende des Zweiten Weltkriegs geht. Beide
Dichter lebten zum Zeitpunkt der Gedichtproduktion zudem im Ausland
(Kaléko lebte in New York, Weckherlin war seit 1620 in England), und beide
Gedichte wurden im Erstdruck außerhalb des deutschsprachigen Gebiets
publiziert. Aber auch strukturell ähnelt An das Teutschland Kalékos Höre,
Teutschland, wenngleich bei Weckherlin ein Deutschland angerufen wird,
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das sich gegen die Gewalt und die Schrecknisse des Dreißigjährigen Kriegs
erheben solle:
ZErbrich das schwere Joch / darunter du gebunden /
O Teutschland / wach doch auff / faß wider einen muht
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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(W ECKHERLIN 1641, 515, alle weiteren Zitate ebd.)

Gleichzeitig wird auch hier die Rache an den Feinden beschworen, wenn
die „glut“ mit „dem boͤsen blut“ der Feinde und „falschen bruͤder“ gelöscht
werden solle. Wenn man sich endlich gegen die Peiniger wehrt, so werde
Gerechtigkeit für Deutschland herrschen:
So laß nu alle forcht / vnd nicht die zeit, hinfahren /
vnd got wird aller welt / daß nichts dan schand und schmach
des feinds meynaid vnd stoltz gezeuget / offenbaren.

Das Zeugma verweist an dieser Stelle auf das rasche Handeln, das nötig
wäre, um Schuld und Schande von Deutschland abzuwenden. Insofern
mutet Kalékos Gedicht wie eine Antwort auf Weckherlin an: Hoffnung auf
Rückkehr in einen unschuldigen Zustand besteht nach 1945 nicht mehr; die
Schuld kann nicht mehr abgewendet werden.
In Kalékos Höre, Teutschland wird Zugehörigkeit mit den Mitteln der Li‐
teratur vorgeführt und verhandelt. Das Erkennen der intertextuellen Bezüge
ist kultur- und gruppenspezifisch: Der ‚deutsche‘ Adressat liest das Gedicht
als Anklage, das Ausland als Appell und der exilierte jüdische Adressat als
Absage an seine Zugehörigkeit. Und doch ist ‚Teutschland‘ Kalékos ‚Lehrer‘,
wenn auch ein ‚Lehrer des Hasses‘ – sie wird ihre Zugehörigkeit nicht los.
118 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

3.3. Werner Bergengruen: Kommunikation nach innen

Werner Bergengruen gehört nach 1945 zu den etablierten Autoren, die sofort
Publikationsmöglichkeiten erhalten. Mit seinen Gedichtbänden, Romanen
und Erzählungen wurde er einer der bekanntesten und erfolgreichsten
Autoren der Nachkriegszeit. Nach 1945 steigt die Auflagenzahl seines Werks
auf mehrere Millionen (vgl. B ÄNZIGER [1960] 1983, 27). Sein Gedichtband Die
heile Welt erreichte von 1950 bis 1962 sechs Auflagen. Dies mag heute, da
Bergengruens Texte in der Regel weder Schul- noch Universitätslektüre und
aus dem literarischen Kanon nahezu vollständig verschwunden sind, irritie‐
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ren. Mutmaßlich repräsentierte Bergengruen nicht nur die Sehnsucht nach


Kontinuität – er war schließlich seit den 1920er Jahren und auch während
des Nationalsozialismus ein viel publizierender Schriftsteller –, sondern
seine Gedichte boten überdies eine ideale Projektions- und Identifikations‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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fläche für die deutsche Leserschaft. Ein wesentliches Charakteristikum ist


dabei die Trostfunktion seiner Lyrik, die aus Bergengruens christlicher
Verankerung resultiert. In seinem autobiografischen Text Schreibtischerin‐
nerungen (1961) fasst er sein lyrisches Trost-Konzept, das in enger Ausein‐
andersetzung mit Schuldfragen erwächst, zusammen:
Je tiefer ich in die Welt der Bedrohten und Fürchtenden eintauchte und je
unverkennbarer die Zeit um mich herum die Merkmale eines Furchtzeitalters
annahm, um so deutlicher wurde es mir, daß das in dieser Zeit gesprochene Wort
ein Wort des Trostes, der Aufrichtung, der Absage an die Furcht zu sein hatte.
(B ERGENGRUEN 1961, 129)

Gleichzeitig unterlässt es Bergengruen sowohl in seinen Texten, die zwi‐


schen 1933 und 1945 entstanden sind, als auch in den Texten nach 1945, eine
offene politische Positionierung vorzunehmen: Die Sujets seiner Erzählun‐
gen sind im Mittelalter und in der Renaissance situiert; die Lyrik bedient
sich christlicher Themen.
Die Kehrseite dieser apolitischen Trost-Lyrik hat Adorno bereits in Jargon
der Eigentlichkeit (1964) erkannt, wo er sich in ideologiekritischer Weise
gegen den zeitgenössischen Sprachgebrauch wendet. Insbesondere der Er‐
folg von Bergengruens Sammlung Die heile Welt wird von Adorno drastisch
kritisiert. Im Zentrum steht dabei das in vielen Gedichten dieses Bandes
zum Ausdruck kommende Gefühl dankbarer Zustimmung zum Dasein: „Der
Band von Bergengruen ist nur ein paar Jahre jünger als die Zeit, da man
Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf,
3. Schuldfragen 119

wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien. Der Dichter, dem man
bestimmt keinen billigen Optimismus nachsagen könnte, […] vernahm[]
nichts als Lobgesang.“ (A DORNO [1964] 1971, 23 f.)
Bergengruen, der 1892 in Riga geboren wurde und mit seiner Familie
aufgrund der Russifizierung exilieren musste, ist im Kontext der Inneren
Emigration eine bedeutende Person. Er war weder NSDAP-Mitglied noch
aktiver Unterstützer des Regimes, dennoch blieb er in Deutschland. Zwar
wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, Publikationsver‐
bot erhält er jedoch nicht (vgl. B ERGENGRUEN 1966, 115; B ERGENGRUEN 2005,
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279). Wegen der in Bergengruens Texten unterlegten Hochschätzung solda‐


tischer Tugenden sind sie für eine völkische Deutung durchaus anschluss‐
fähig, wenngleich man sich bei den NS-Kulturbehörden sicher ist, dass
Bergengruen ‚politisch unzuverlässig‘ sei (vgl. S ARKOWICZ/M ENTZER 2000,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

90). Dennoch schreibt er für die Krakauer Zeitung, die im von der Wehrmacht
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besetzten Polen klar auf Linie der NS-Ideologie war (vgl. O RŁOWSKI 1999,
90). In seinen autobiografischen Schriften, wie den zu Lebzeiten publizierten
Schreibtischerinnerungen (1961) oder dem Compendium Bergengruenianum,
wird seine geistige Ablehnung des NS-Regimes deutlich. Diesen autobiogra‐
fischen und tagebuchartigen Texten steht der Vorwurf gegenüber, dass sich
Bergengruen in seiner literarischen Produktion nach 1945 nur unzureichend
mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt und die Zeit zwischen 1933
und 1945 marginalisiert habe (vgl. C ZAPLA 2008, 56).
Während die Beschäftigung mit Zeitgeschichte in vielen Texten ostentativ
verweigert wird, setzt sich Bergengruen in seinem Gedichtband Dies Irae
dezidiert mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinander. Der
Band wird direkt nach Kriegsende publiziert und umfasst insgesamt 17
Gedichte. Laut der abschließenden Notiz entstanden die Texte „im Sommer
1944“ (B ERGENGRUEN 1945, 47). Für das Schlussgedicht, das den Titel An die
Völker der Erde trägt, kann dies jedoch nicht gelten – es muss nach dem
Ausgang des Zweiten Weltkrieg verfasst worden sein, da das Gedicht bereits
das Ende der zwölfjährigen NS-Herrschaft als Ausgangspunkt nimmt.
Während die ersten 16 Gedichte das Leiden, das Deutsche während des
Nationalsozialismus über andere gebracht haben, mitunter deutlich benen‐
nen (z. B. Die letzte Epiphanie), werden im Schlussgedicht Leid, Schrecken
und Gewalt verallgemeinert. Hans Bänziger, der 1960 eine erste Monografie
zu Leben und Werk Bergengruens vorlegt, erkennt die Problematik dieses
Gedichts, wenn er noch recht freundlich feststellt: An die Völker der Erde
konnte „im Nachkriegsdeutschland tatsächlich für Gegner Deutschlands
120 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

und Neutrale peinlich wirken“ (B ÄNZIGER [1960] 1983, 44). Max Frisch (1911–
91) bringt in seiner Rezension im Januar 1946 in der Schweizer Rundschau zu
diesem Gedicht nur die Frage heraus: „Geht das an?“ (F RISCH 1976, 308) Das
Problem dieses Gedichts liege „im Verhältnis zwischen Wort und Standort“
(F RISCH 1976, 309). Bergengruen hat als deutscher Dichter der Inneren Emi‐
gration – schon im Blick der Zeitgenossen – eine begrenzte Lizenz des Sag‐
baren. Während Nelly Sachs (1891–1970) in ihrem Band In den Wohnungen
des Todes (1947) das Leid des jüdischen Volks verallgemeinern und religiös
aufladen kann, ohne dass sich Rezensenten daran stoßen – möglicherweise
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auch weil Sachs’ Gedichtband bei seinem Erscheinen weitgehend ignoriert


wurde –, erscheint Bergengruens religiöse Verallgemeinerung und seine
Mahnung an die Völker der Erde als Anmaßung. Die deutsche Schuld, so
Frisch, könne sich nicht in eine religiöse Allgemeinschuld auflösen.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Anknüpfend an den aus dem katholischen Ritus der Totenmesse stam‐


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menden Bandtitel spielen religiöse Themen und Formen eine wesentliche


Rolle für An die Völker der Erde. Das ist wenig verwunderlich, galt Bergen‐
gruen doch spätestens seit seiner Konversion zum Katholizismus 1936 als
religiöser Dichter. Dies Irae ist ein mittelalterlicher Hymnus über das Jüngste
Gericht, der noch bis 1970 im römischen Ritus präsent war. Diese eschatolo‐
gische Perspektive adaptiert Bergengruen nun für die Zeit nach 1945, indem
er das Jüngste Gericht mit den anstehenden Prozessen über die Verbrechen
des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus überblendet. Dabei
kritisiert er keinesfalls, dass Gericht gehalten wird. Über die Gräuel war sich
Bergengruen im Klaren; das belegen die übrigen Gedichte und auch Ber‐
gengruens Tagebuchaufzeichnungen geben entsprechende Auskunft. Umso
irritierender mutet die Argumentations- und Kommunikationsstruktur des
vorliegenden Gedichts an.

An die Völker der Erde

Zwölf, du äußerste Zahl und Maß der Vollkommenheiten,


Zahl der Reife, der heilig gesetzten! Vollendung der Zeiten!
Zwölfmal ist das schütternde Eis auf den Strömen geschwommen,
zwölfmal das Jahr zu des Sommers glühendem Scheitel geklommen,
5 zwölfmal kehrten die Schwalben, weißbrüstige Pfeile, nach Norden,
zwölfmal ist gesät und zwölfmal geerntet worden.
Zwölfmal grünten die Weiden und haben die Bäche beschattet,
Kinder wuchsen heran und Alte wurden bestattet.
Viertausend Tage, viertausend unendliche Nächte,
3. Schuldfragen 121

10 Stunde um Stunde befragt, ob eine das Zeichen brächte!


Völker, ihr zählt, was an Frevel in diesem Jahrzwölft geschehen.
Was gelitten wurde, hat keiner von euch gesehen,
keiner die Taufe, darin wir getauft, die Buße, zu der wir erwählt,
und der Engel allein hat Striemen und Tränen gezählt.
15 Er nur vernahm durch Fanfarengeschmetter, Festrufe und Glockendröhnen
der Gefolterten Schreien, Angstseufzer und Todesstöhnen,
er nur den flatternden Herzschlag aus nächtlichen Höllenstunden,
er nur das Wimmern der Frau’n, denen die Männer verschwunden,
er nur den lauernden Schleichschritt um Fenster und Pforten,
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20 er nur das Haßgelächter der Richter und Häftlingseskorten – –


Völker der Welt, die der Ordnung des Schöpfers entglitt,
Völker, wir litten für euch und für eure Verschuldungen mit.
Litten, behaust auf Europas uralter Schicksalsbühne,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

litten stellvertretend für alle ein Leiden der Sühne.


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25 Völker der Welt, der Abfall war allen gemein:


Gott hatte jedem gesetzt, des Bruders Hüter zu sein.
Völker der Welt, die mit uns dem nämlichen Urgrund entstammen:
Zwei Jahrtausende stürzten vor euren Grenzen zusammen.
Alle Schrecknis geschah vor euren Ohren und Blicken,
30 und nur ein Kleines war es, den frühen Brand zu ersticken.
Neugierig wittert ihr den erregenden Atem des Brandes.
Aber das Brennende war der Herzschild des Abendlandes!
Sicher meintet ihr euch hinter Meeren und schirmendem Walle
und vergaßt das Geheimnis: was einen trifft, das trifft alle.
35 Jeglicher ließ von der Trägheit des Herzens sich willig verführen,
jeglicher dachte: „Was tut es … an mich wird das Schicksal nicht rühren …
ja, vielleicht ist’s ein Vorteil … das Schicksal läßt mit sich reden …“
Bis das Schicksal zu reden begann, ja, zu reden mit einem jeden.
Bis der Dämon, gemästet, von unsrem Blute geschwellt,
40 brüllend über die Grenzen hervorbrach, hinein in die Welt.
Völker der Erde, ihr haltet euer Gericht.
Völker der Erde, vergeßt das Eine nicht:
Immer am lautesten hat sich der Unversuchte entrüstet,
immer der Ungeprüfte mit seiner Stärke gebrüstet,
45 immer der Ungestoßne gerühmt, daß er niemals gefallen.
Völker der Welt, der Ruf des Gerichts gilt uns allen.
Alle verklagt das gemeinsam Verrat’ne, gemeinsam Entweihte.
Völker, vernehmt mit uns allen das göttliche: Metanoeite!

(B ERGENGRUEN 1945, 41–43)


122 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die ersten sieben Verse, die über die anaphorische Struktur miteinander
verbunden werden, pointieren die Kontinuität des Weltganzen. In zwölf
Jahren vollzog sich regelmäßig und unaufgeregt der Jahreszeitenwechsel,
Schwalben flogen nach Norden, der Winter wurde vom Sommer abgelöst
und „Kinder wuchsen heran“, während „Alte“ starben (v. 8). Gleichzeitig
stellt die Sprechinstanz direkt zu Beginn des Gedichts die mythische Be‐
deutung der Zahl Zwölf heraus: „Zwölf, du äußerste Zahl und Maß der
Vollkommenheiten, / Zahl der Reife, der heilig gesetzten! Vollendung der
Zeiten!“ (v. 1 f.) Die heilsgeschichtliche Perspektive, in die Bergengruen
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das Folgende eingliedert, wird somit in den ersten beiden Versen bereits
eingeführt. Es folgt die Aufgliederung der zwölf Jahre in Tage (v. 9) und
Stunden (v. 10). Dass die zwölf Jahre dabei eine Leidenszeit darstellen,
wird über die Hoffnung auf ein „Zeichen“ (v. 10) nahegelegt. Über die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Exclamatio erhält die Suche nach einem göttlichen Zeichen der Erlösung
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besonderen Nachdruck. Dass es sich bei den genannten zwölf Jahren um


die Zeit des Nationalsozialismus handelt, wird über das Signalwort „Frevel“
(v. 11) deutlich.
Hiernach folgt ein Perspektivwechsel, der über eine Apostrophe relativ
unvermittelt hergestellt wird. Nun sind es die „Völker“, die die „Frevel in
diesem Jahrzwölft“ zählen (v. 11). Die Kommunikationssituation gliedert
sich ab Vers 11 in ein Wir und ein Ihr, wobei sich die Sprechinstanz der
Wir-Gruppe zurechnet. In den folgenden Versen wird deutlich, dass das Wir
das deutsche Volk und das Ihr die anderen Nationen der Erde bezeichnet.
Diese Opposition strukturiert dann die folgenden Verse: „Was“ in dem
„Jahrzwölft“ des Nationalsozialismus „gelitten wurde, hat keiner von euch
gesehen, / keiner die Taufe, darin wir getauft, die Buße, zu der wir erwählt“
(v. 12 f.). Einzig die göttliche Macht, in Person des Engels, ist fähig, durch
das „Fanfarengeschmetter“, die „Festrufe“ und das „Glockendröhnen“ das
Schreien und den Jammer zu hören (v. 15). Das Enjambement verbindet
dabei auf formaler Ebene das „Glockendröhnen“ mit dem „Schreien“ der
Gefolterten. Dieser versteckte Schrecken wird in einer sechs Verse umfas‐
senden Enumeratio mit Nachdruck thematisiert (vgl. v. 15–20).
Die diese Aufzählung abschließenden zwei Gedankenstriche markieren
den Gedankenabbruch, ohne dass die Liste vollständig abgeschlossen wäre.
Es folgt erneut die Anrede an die „Völker der Erde“ und der Vorwurf, dass
ihnen die „Ordnung des Schöpfers entglitt“ (v. 21). Über die anaphorische
Struktur dieser Verse entsteht eine nachdrückliche Ansprache, die den
Vorwurf schuldhaften Handelns aller (!) hervorhebt. Weil den übrigen
3. Schuldfragen 123

Völkern die göttliche Ordnung „entglitt“ (v. 21), stellt die Sprechinstanz die
Legitimation der Völker als Richter in Frage. Damit wären zwei Argumente
im Gedicht genannt, weswegen ‚die Völker der Erde‘ nicht über das Wir
gerecht richten könnten: (1) Man hat nicht das gesamte Ausmaß der Schre‐
cken gesehen, da sich das Meiste für die Weltbevölkerung im Versteckten
abspielte und (2) schließlich ist man selbst schuldig geworden, da man nicht
eingriff. Diese beiden Argumente werden nun weiter vor dem religiösen
Deutungsmuster ausgefaltet.
Die Sprechinstanz, die sich als Teil des kollektiven Wir positioniert, hebt
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den stellvertretenden Charakter des erfahrenen Leids hervor: „Völker, wir


litten für euch und für eure Verschuldungen mit.“ (v. 22) Die deutsche Schuld
wird als gottgewollte Allgemeinschuld gedeutet und damit transzendiert.
Die Jahre des Nationalsozialismus werden religiös aufgeladen, indem das
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deutsche Volk zum leidenden Volk stilisiert wird. Dabei wird auch die
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Verantwortung für die Machtübertragung verschoben. Das stellvertretende


Leiden, das in Vers 24 wiederholt wird, steht zudem in der Tradition Jesu
Christi, der am Kreuz für die Sünden der Menschen gelitten hat. Ähnlich
verhält es sich nun mit dem Nationalsozialismus und den Deutschen:
Aus Sicht der Sprechinstanz sei es ein „Dämon“ (v. 39) gewesen, der sich
am Blut der Deutschen geweidet habe und gegen den man als einzelner
Mensch nichts ausrichten konnte. Das „Jahrzwölft“ (v. 11) musste ertragen
und durchlitten werden, da die Deutschen von einer dämonischen Macht
heimgesucht wurden. Gleichzeitig, und das scheint ein Widerspruch zu der
Vorstellung einer numinosen Macht zu sein, haben die übrigen Völker der
Erde ihre Pflicht nicht erfüllt, frühzeitig zu intervenieren: „Alle Schrecknis
geschah vor euren Ohren und Blicken“ (v. 29). Es wäre „nur ein Kleines“
gewesen, „den frühen Brand zu ersticken.“ (v. 30) Hier kommt Bergengruens
religiöse Aufladung des Nationalsozialismus an ihre Grenzen.
Die Eindringlichkeit der 48 Verse, die im Paarreim gehalten sind, wird
vor allem über diverse Wiederholungsfiguren (wie z. B. Anaphern) erzeugt,
wodurch auch eine Ähnlichkeit zu Kirchenliedern evoziert wird. Dabei
spielt eine spezifische Vorstellung vom Abendland eine große Rolle, denn
die Sprechinstanz richtet sich an die „Völker der Welt, die mit uns dem
nämlichen Urgrund entstammen“ (v. 27). Hier wird eine christlich-abend‐
ländische Gemeinschaft beschworen, die ihren Zusammenhalt in zwei Jahr‐
tausenden Christentum besitzt. Dieser christlich-humanistische „Urgrund“
ist nun aber zusammengestürzt (v. 27). Auch aus dieser Erinnerung an
die gemeinschaftliche Verantwortung eines abendländischen Europas bzw.
124 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

einer abendländisch geprägten (westlichen) Welt entspringt eine allgemeine


Verantwortung, die aber von den Adressaten der Sprecherrede nicht ange‐
nommen wurde: „Sicher meintet ihr euch hinter Meeren und schirmendem
Walle / und vergaßt das Geheimnis: was einen trifft, das trifft alle.“ (v. 33 f.)
Allerdings verwendet die Sprechinstanz diese Verantwortung zur Entlas‐
tung für die eigene Schuld.
Zwar ist der christlich-humanistische Impetus, der hinter der Rede des
Wir-Sprechers steht, ethisch-moralisch nachvollziehbar: „Immer am lautes‐
ten hat sich der Unversuchte entrüstet, / immer der Ungeprüfte mit seiner
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Stärke gebrüstet, / immer der Ungestoßne gerühmt, daß er niemals gefallen.“


(v. 43–45) Der Parallelismus evoziert aber auf syntaktischer Ebene bereits die
semantische Folgerung: Schuld ist geteilte Schuld. Nicht das deutsche Volk
müsse angeklagt werden, sondern „das gemeinsam Verrat’ne, gemeinsam
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Entweihte“ klagt „Alle“ an (v. 46) – also auch die anderen „Völker der
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Erde“. In Kombination mit der religiösen Aufladung der NS-Herrschaft als


Zeit der ‚Dämonie‘ erhält das hier vorgetragene Argument jedoch eine
moralische Schieflage, da von der eigenen Schuld des Wir keine Rede ist. Das
Wir erscheint vielmehr als Opfer. Als Schlussgedicht des Bandes gewinnt
diese einseitige Perspektive besonderes Gewicht. Es handelt sich um eine
dichterische Mahnung, dass auch das deutsche Volk gelitten habe. Damit
schlägt Bergengruen einen Bogen zum Eingangsgedicht des Bandes:
Wo ist das Volk, das dies schadlos an seiner Seele ertrüge?
Jahre und Jahre war unsre tägliche Nahrung die Lüge.
Festlich hoben sie an, bekränzten Maschinen und Pflüge,
sprachen von Freiheit und Brot, und alles, alles war Lüge.

(B ERGENGRUEN 1945, 7)

Die religiöse Aufladung, mit der die Rede in An die Völker der Erde als mah‐
nende Predigt präsentiert wird, findet im Schlussvers über den Verweis auf
das Matthäusevangelium ihren Höhepunkt: „Völker, vernehmt mit uns allen
das göttliche: Metanoeite!“ (v. 48) Im Gedichtband stellt Bergengruen sicher,
dass die griechische Wendung auch von einer nicht sonderlich bibelfesten
Leserschaft verstanden wird. Denn am Ende findet sich eine Anmerkung:
„Zur Seite 43: Das griechische Wort Metanoeite ist der Predigt Johannes
des Täufers entnommen. Es bedeutet im kirchlichen Sprachgebrauch: Tut
Buße. Wörtlich übersetzt: Ändert euren Sinn.“ (B ERGENGRUEN 1945, 47) Im
Matthäusevangelium wird über Johannes den Täufer berichtet, wie er in
3. Schuldfragen 125

der Wüste seine Botschaft verkündet: „Kehrt um! Denn das Himmelreich
ist nahe.“ (Mt 3,2) Gemeint ist damit eine Aufforderung zum Sinneswandel.
Das Umkehren meint hier ein Umdenken. Metanoeite kommt im Matthäus‐
evangelium allerdings auch in einer Reich-Gottes-Verkündigung von Jesus
Christus vor. Direkt im Anschluss an eine abgewehrte Versuchung durch
den Teufel plädiert auch Christus, wie Johannes, für eine Umkehr. Hier meint
metanoeite ein Umdenken, das auf Verhaltensänderung im Angesicht der
drohenden teuflischen Verführung zielt (vgl. Mt 4,17). Auch Bergengruen
nutzt metanoeite in diesem doppelten Sinn.
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Die Sprechinstanz mag sich in der Rolle des Bußpredigers erkennen,


jedoch positioniert sie sich als Teil des Wir. Auch hier scheint das ‚Verhältnis
von Wort und Standort‘ des Sprechenden vertrackt, denn der Sprecher
spricht keineswegs aus einer ahistorischen Wüste, sondern aus dem vom
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Krieg zerstörten Deutschland. Insofern kann die abschließende Aufforde‐


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rung, dass die anderen Völker ihren Sinn umkehren und ebenso wie das
deutsche Volk Buße tun müssten, nicht ernsthaft an die Völker der Erde
adressiert sein. Vielmehr bietet Bergengruen hier eine camouflierte Adres‐
sierung: Das Gedicht ist zwar über den Titel an die Weltgemeinschaft
gerichtet. Da es aber ausschließlich in Deutschland und ausschließlich
auf Deutsch publiziert wird, scheint es vor allem eine Kommunikation
nach innen zu sein. Nicht die europäischen Nachbarn, die USA und die
Sowjetunion sind hier angesprochen, sondern die deutsche Leserschaft. Die
titelgebende Apostrophe verdeckt also die eigentlichen Adressaten.
Erst vor der Folie dieser Kommunikation nach innen ist zu erklären,
welche Funktionen mit der Verklärung des Nationalsozialismus als numi‐
nose, dämonische Macht verbunden sind. Bergengruens An die Völker der
Erde schreibt der unmittelbaren Vergangenheit einen Sinn zu, der von den
zeitgenössischen Leserinnen und Lesern dankend aufgenommen wurde. Das
unzweifelhaft erfahrene Leid der Deutschen wird im Kontext der Heilsge‐
schichte als Stellvertreterleid für alle anderen Nationen stilisiert, während
andere Bevölkerungsschichten und deren Verfolgung und Ermordung nicht
explizit erwähnt werden. Bergengruen stellt mit seinen deutlichen Bezügen
zur Heilsgeschichte den Deutschen gewissermaßen eine Belohnung in
Aussicht und suggeriert, dass sie sogar durch ihre Verfehlungen den anderen
Völkern überlegen seien. Das metanoeite gilt nicht den Deutschen, sondern
den Völkern der Erde. Diese Argumentation wurde in der poetologischen
Hinführung mit dem Hirtenbrief des Erzbischofs von Freiburg (1872–1948)
herausgearbeitet. Auch die Apologeten der Inneren Emigration – Thiess
126 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

(1890–1977), von Molo (1880–1958) oder Benn (1886–1956) – standen dieser


Argumentationsstruktur nahe.
Die Wirkkraft dieser Stilisierung darf nicht unterschätzt werden. In seiner
Laudatio anlässlich der Vergabe der Ehrendoktorwürde an Bergengruen am
24. Juni 1958 schließt Hermann Kunisch (1901–91), seit 1955 Professur für
Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün‐
chen, mit den Worten: „Wir danken mit dieser Ehrung für ein Werk, in dem
Trost angeboten ist, da es verweist auf Möglichkeit und Verheißung des
Heilwerdens“ (K UNISCH 1958, 33). Der Trost, der hier gemeint ist, bezieht sich
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aber auf eine bestimmte Gruppe, die im Nachkriegsdeutschland wohl die


Mehrheit der Leserschaft ausmachte. Bergengruen bietet ein Lektüreange‐
bot, das die deutsche Schuld als eine Schuld aller Völker verallgemeinert
und mittels religiöser Erklärungsmodelle sogar als christliches Märtyrertum
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verklärt. Für die unmittelbare Nachkriegszeit war das offensichtlich ein


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äußerst attraktives Angebot, das aber im Zuge der politischen und gesell‐
schaftlichen Umwälzungen ethisch-moralisch zunehmend problematischer
wurde.

3.4. Wolfdietrich Schnurre: Warnung vor dem Vergessen

Wolfdietrich Schnurre wurde in der Nachkriegszeit als „Meister der kurzen


Form“ bezeichnet, da er als Verfasser von Kurzgeschichten in den 1950er
Jahren bekannt wurde (H ÜFNER 1991, 347). Dabei lehnen sich Schnurres
Erzählungen an die amerikanische short story an. Er war Gründungsmitglied
der Gruppe 47 und hat im Rahmen der ersten Diskussionsrunde auch den
ersten literarischen Text vorgestellt, der von den Mitgliedern der Gruppe 47
besprochen wurde. Es handelt sich um seine Kurzgeschichte Das Begräbnis,
die 1948 in der Zeitschrift Ja. Zeitung der jungen Generation veröffentlicht
wurde.
Die in parataktischer Syntax gehaltene Sprache der Kurzgeschichte orien‐
tiert sich in der Wortwahl an der Umgangssprache. Dabei führen zahlreiche
Ellipsen zu einer ‚natürlich‘ anmutenden Alltagssprache. Inhaltlich geht
es um den Tod Gottes: Ein namenloser Ich-Erzähler erhält plötzlich und
unvermittelt die Nachricht, dass Gott gestorben sei. Er reagiert gleichgültig
und kann sich später sogar gar nicht richtig an den Namen des Toten
erinnern. Dennoch geht der Ich-Erzähler zum Begräbnis, bei dem aber nur
ein Pfarrer und zwei Totengräber zugegen sind. Während der Pfarrer seine
Trauerrede schon nach wenigen Sätzen im strömenden Regen abbricht,
3. Schuldfragen 127

weil die Totengräber noch mit ihrer Arbeit beschäftigt sind, findet der
Ich-Erzähler noch einmal die Todesanzeige. Dabei hört er, wie die Maschinen
in der Stickstoff-Fabrik rattern und beobachtet, wie der Pfarrer hinkend
den Friedhof verlässt. In dieser Kurzgeschichte, die oftmals als Teil der
Kahlschlags- und Trümmerliteratur zitiert wird, wird ein existenzieller
Glaubensverlust ins Bild gesetzt, der auch den Verlust an Menschlichkeit
bedeutet. Formal umgesetzt wird dies über Parataxen, Alltagssprache und
zahlreiche Ellipsen (vgl. B AUER 1996, 61).
Die Aushandlung von Schuldfragen besitzt für Schnurres gesamtes Werk
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eine große Bedeutung (vgl. A DELHOEFER 1990, 4, 74). Dies ließe sich auch
auf persönliche Erlebnisse zurückführen. So wird er 1939 zur Wehrmacht
eingezogen, wobei er sich nach eigener Auskunft aktiv und kriegsbegeistert
zeigte (vgl. S CHNURRE 1991, 43). Erst in den späten Kriegsjahren beginnt
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Schnurre, an seiner Begeisterung für den Krieg zu zweifeln. Im Skorpion, dem


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projektierten Nachfolger der Zeitschrift Der Ruf, fasst Schnurre zusammen:


„Meine ganze Schreiberei hat zur Wurzel die Gewißheit einer unaustilgbaren
Lebensschuld. Schreiben ist für mich die einzig akzeptable Form der Sühne.“
(S CHNURRE 1991, 45) Dabei geht es ihm beim Schreiben als Sühne nicht
um eine Entlastung von Schuld – die Auseinandersetzung mit Schuld wird
vielmehr zum modus operandi des Dichters: „Ich weiß, daß ich schuldig bin,
tausendmal mehr schuldig, als alle Menschen, die sich dieses Gefühls nicht
bewußt sind, sei es aus Unwissenheit oder bewußter Abkapselung dagegen.
Ihre Schuld trage ich als Schreibender mit.“ (S CHNURRE 1991, 45) Weil sich
Schnurre seiner Schuld und der Schuld der anderen bewusst ist, fühlt er
sich dazu verpflichtet, diese Schuld fortwährend zu thematisieren. Dass dies
möglicherweise ein tiefer sitzender Impuls für seine Dichtung ist, belegt
Schnurres Dankrede, die er anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises
1983 hält:
[I]ch bin während der sechseinhalb sinnlosen Jahre, die ich auf der falschen,
nämlich der deutschen Seite Soldat sein mußte, immer so feige, will sagen:
lebenshungrig wie möglich gewesen, und statt mich bis zum bitteren Ende mit
meinen kämpfenden Kumpeln solidarisch zu fühlen, habe ich […] die Desertion
vorgezogen. Die Folge: Jene sind draußen geblieben, ich stehe hier. (S CHNURRE
1983)

Poetologisch wird dies gewendet, indem es Schnurre um die Aktivierung des


Lesers geht, weswegen er oftmals auch als ‚engagierter Schriftsteller‘ be‐
zeichnet wurde, wenngleich er sich aus den politischen Fragen heraushielt.
128 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Im Gegensatz zu Grass war Schnurre niemals Mitglied einer politischen


Partei. Nicht die politische Agitation steht für Schnurre im Vordergrund,
sondern die moralisch-ethische Aktivierung der Lesenden, wie er in einem
Interview ausführte:
Ich versuche, meinen Leser unruhig zu machen. Ich bitte ihn, nachzudenken.
Und ich glaube, schon sehr viel erreicht zu haben, wenn ich eine Denkschablone
angeknackt habe, und wenn mein Leser […] zu einem neuen Denkanstoß kommt.
Ob er ihn selber vollzieht, oder ob ich ihn vorgedacht habe, wäre mir nicht so
wichtig dabei.“ (R UDOLPH 1971, 109 f.)
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Auch hier bildet der Schuldkomplex einen wichtigen Hintergrund, da es


Schnurre nicht nur um das ‚Anknacken von Denkschablonen‘ geht, sondern
auch um eine Mahnung gegen das Vergessen. Dieser hohe moralische
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Anspruch kann nur realisiert werden, wenn man die eigene Position des
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Sagbaren reflektiert: „Der deutsche Autor kann nach dem Krieg nur über
die Schattenseiten des Krieges und der Nachkriegsjahre berichten. […]
Historische Einsicht – um nicht Mitschuld sagen zu müssen – engt den
Blickwinkel ein, erlegt thematische Beschränkungen auf.“ (S CHNURRE 1993,
199)
In seinem ersten Gedichtband Kassiber (1956) bildet der Umgang mit
der Schuld das Zentrum der Gedichte. Allein in vier Gedichten werden die
Harpyien, geflügelte Chimären der griechischen Mythologie, aufgerufen.
Die Harpyien sind mit den Sturmwinden assoziiert und tragen die Toten in
den Tartaros. Sie stehen häufig für grausame Qualen, die man zu erleiden
hat; so auch in Androhung, wo der Ich-Sprecher „die unbegangenen Pfade /
ins Dickicht der Furcht“ gehen will, weil „die Harpyien“ sie gehen (S CHNURRE
1956, 51). Die Harpyien erscheinen im Band Kassiber als gerechte oder gar
göttliche Strafe für meist nicht näher konturierte Verfehlungen:
Gott hat
die Harpyie
zum Freund;
die schärft sich
die Krallen.

(S CHNURRE 1956, 66)

Schuld und Schuldige werden bei Schnurre aber nicht so explizit genannt,
wie in Kalékos Höre, Teutschland. Vielmehr nutzt Schnurre Konzepte der
3. Schuldfragen 129

Mythologie und Begriffe der Tierwelt, um Assoziationen der Entmenschli‐


chung herzustellen:
Ich roch Hyänenbrunft in Bars.
Ich traf in den Kneipen Schakale.
Ich hörte Brüllaffenschrei auf den Rängen.
[…]
doch ich sah keinen Menschen.

(S CHNURRE, 1956, 21)


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Ein weiteres Leitmotiv, das im Gedichtband mit dem Schuldkomplex ver‐


woben wird, bildet der Titel der Sammlung, der für sechs Gedichte als
eigenständiger Titel fungiert. Kassiber sind heimlich verschickte schriftliche
Nachrichten, die Häftlinge untereinander oder an Außenstehende versen‐
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den. Ein Kassiber soll eine Geheimkommunikation ermöglichen. Etymolo‐


gisch geht das Wort ‚Kassiber‘ auf das Rotwelsch und einen hebräischen
Wortstamm zurück. Wenn Schnurre seinen ersten Gedichtband mit Kassiber
betitelt, dann scheint er damit eine Kommunikationssituation aufzumachen,
die an einem bestimmten Personenkreis vorbei (den ‚Wachleuten‘) sich an
einen anderen Personenkreis als Geheimbotschaft richtet (‚Häftlinge‘). Der
Literaturwissenschaftler Hans-Georg Kemper sieht darin einen „nachgerade
tollkühnen Versuch“, dieses Kommunikationsmittel „nun für die Schuld-
und Vergangenheitsbewältigung sowie die Sprache der Täter“ zu usurpieren
(K EMPER 2009, 61). Wie passt dieser Versuch mit Schnurres eigener Reflexion
zusammen, dass man als deutscher Autor – zumal als Autor, der sechs Jahre
auf der ‚falschen Seite‘ kämpfte – nur eine begrenzte Lizenz des Sagbaren
besitzt?
Für Schnurre muss man sich der historischen Schuld als Lyriker bewusst
werden. Es geht darum, „Auschwitz im Rücken“, gleichzeitig aber „den Men‐
schen vor Augen“ zu haben (S CHNURRE 1978, 457). In Auseinandersetzung
mit Adorno stellt Schnurre die Frage, ob es denn nicht „weit ärger ist“, wenn
man „nach Auschwitz noch Schlaf“ findet, „als nach Auschwitz Gedichte
zu schreiben“ (S CHNURRE 1978, 457). Man muss also mit der Schuld, für die
Auschwitz hier als Chiffre steht, umgehen:
Nicht auf die Hereinnahme eines so unfaßbaren Themas wie Auschwitz kommt es
an im Gedicht. Es kommt darauf an, daß der Gedichteverfertiger es sich klarmacht,
nach Auschwitz zu dichten. Er kann schreiben, worüber er will. Auch über Bäume.
130 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Aber seine Bäume müssen andere sein als die, die in den Gedichten rauschten,
die vor Auschwitz entstanden. (S CHNURRE 1978, 456)

Umgesetzt wird diese poetologische Forderung in dem Gedicht Denunzia‐


tion. Die vermeintlich unschuldige Schönheit der Natur, hier versinnbildlicht
durch den Mond, wird in Frage gestellt. Der Mond wird wie schon in Krolows
(1915–99) Gedicht Die Kammer von seiner Trostfunktion entbunden. Der
Wir-Sprecher klagt den Mond an, da er „Spionage getrieben“ (v. 6) habe.
Insofern erscheint der Titel als Anklage des Mondes, der vom Wir-Sprecher
direkt adressiert wird: Der Mond hat als Spion die Menschen denunziert.
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Denunziation

Mond,
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Milchspinne der Frauen,


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Lästerer;
Mond:
5 Wir klagen dich an.
Du hast Spionage getrieben,
das Weiß deiner Hände, es lügt.
So weiß ist Chlor, so weiß ist Schnee;
Chlor, das auf Erschossene rieselt,
10 Schnee, der die Erfrorenen wärmt.
So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen;
Nebel, der ins Pesttal sich senkt,
Linnen, das die Ermordeten kühlt.
Mond,
15 Heuschreckenmünze der Männer,
Verhöhner;
Mond:
Du hast Spionage getrieben.
Dein Auftraggeber ist uns bekannt;
20 er wohnt jenseits der Liebe.

(S CHNURRE 1956, 22)


Die Attribute, die der Wir-Sprecher dem Mond zuschreibt, bestehen aus
zwei Neologismen, die den Geschlechtern zugeordnet werden: Der Mond
sei „Milchspinne der Frauen“ (v. 2) und „Heuschreckenmünze der Männer“
(v. 15). Beide Zuschreibungen muten irritierend an. Als botanischer Begriff
existiert ‚Milchspinne‘ nicht, gleichwohl wird so eine Assonanz zwischen
3. Schuldfragen 131

dem ersten und zweiten Vers hergestellt. Der Neologismus scheint ein
Oxymoron zu sein, das zwei gegensätzliche Begriffe verbindet. Während
die Milch gemeinhin mit Leben assoziiert wird, ist die Spinne häufig mit
Ängsten besetzt. Möglicherweise wird mit der Spinne auf Ovids Metamor‐
phosen und den Mythos um Arachne angespielt, was die Geschlechterzu‐
schreibung wiederum erklären könnte. Die begnadete Weberin Arachne
forderte Athene zum Wettkampf heraus, in dem sie die Göttin so sehr
brüskierte, dass sie sie schließlich in eine Spinne verwandelte. Arachne
wird für ihre Hybris bestraft, die Göttin herauszufordern (vgl. O VID 2003,
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281–289). Einen expliziten Textbeleg für diesen intertextuellen Bezug gibt


es jedoch nicht. Der Neologismus ist nicht auflösbar. Dennoch erzeugt er
vielfältige Assoziationen: Spinnen sind listige Fallensteller, die ihre Beute
mit Netzen fangen. Hier könnte man eine Analogie zur Ideologie erkennen.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Genauso könnte man die acht Augen der Spinne als gutes Bild für den Spion
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deuten; gleichzeitig sind Spinnen aber äußerst schlechte Seher, da sich ihre
Augen im Laufe der Evolution zurückentwickelt haben. ‚Milchspinne‘ kann
gleichfalls eine Katachrese sein, die ein gewisses Unheimlichkeitspotenzial
entfaltet: Wer will von einer Spinne gestillt werden? Ferner kann die ‚Milch‐
spinne‘ auch ein poetisches Bild für das Mondlicht über einer nächtlichen
Landschaft sein. Diese Assoziationsgruppen scheint Schnurre im Blick zu
haben, wenn er den Neologismus an zentraler Stelle seines Gedichts einsetzt.
Schnurre selbst hat auf diese poetologische Technik hingewiesen: „Absetzen.
Flüssig schreiben gilt für die Milchmädchenrechnung. Den Sprunggelenken
der Assoziationen vertrauen: Verbindungen finden, nicht suchen. […] Immer
wenn ich nachts schreibe, und ich schreibe immer nachts, das Gefühl, mich
mit zunehmender Unentschuldbarkeit an etwas Wesentlichem versündigt
zu haben.“ (S CHNURRE 1978, 53)
Besser aufzuschlüsseln ist die Farbe Weiß, die leitmotivisch das Gedicht
durchzieht. Dabei markiert die „Milchspinne“ (v. 2) bereits eine Aus- und
Umdeutung der Farbe Weiß, die im Mittelteil des Gedichts an mehreren
Beispielen exemplifiziert wird (vgl. v. 6–13). Im Gegensatz zur gängigen
Symbolik steht die Farbe nicht mehr für Unschuld, wie die Beschreibung
der weißen Mondhände nahelegt: „das Weiß deiner Hände, es lügt.“ (v. 7)
Dass dem Mond Hände gegeben werden, deutet die Handlungsfähigkeit des
Gestirns an: Der personifizierte Mond scheint nicht nur am Nachthimmel,
sondern er handelt. Über die weiße Farbe wird ferner eine Verbindung zu den
folgenden Versen hergestellt, die das Weiß als eine ‚Deckfarbe‘ konstruieren.
Die weißen Hände des Mondes werden mit Elementen verglichen, die auf
132 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

vergleichbare Weise Schrecken und Leid verdecken: „So weiß ist Chlor,
so weiß ist Schnee, / Chlor, das auf Erschossene rieselt, / Schnee, der die
Erfrorenen wärmt.“ (v. 8–10) Es wird eine Motivumkehr evoziert: Das Weiße
steht für Schuld – nur vordergründig halte es noch die unschuldige Fassade
aufrecht, eigentlich „lügt“ es (v. 7). Dies wird durch die Parallelkonstruktion
der Verse 11 bis 13 verstärkt: „So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen; /
Nebel, der ins Pesttal sich senkt, / Linnen, das die Ermordeten kühlt.“
Die weißen Gegenstände (Leinengewebe, Chlor) und die mit Weiß assozi‐
ierten Naturereignisse (Nebel, Schnee) verschleiern vielmehr das Grauen:
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Das Säuremittel Chlor soll die Erschossenen verdecken, genauso wie der
Schnee die Erfrorenen bedeckt. Auch der Nebel kaschiert die Schrecken, die
sich im „Pesttal“ (v. 12) abspielen und das Linnen – das Leinengewebe –
wärmt nicht die Toten, vielmehr kühlt sie das Leichentuch. Die Kälte, die
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hier über die verwendeten Wortfelder hergestellt wird, wird durch den
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zweiten Neologismus, der mit den ersten drei Versen einen Rahmen bildet,
abgeschlossen. Den Männern sei der Mond eine „Heuschreckenmünze“
(v. 15). Auch dieses Kompositum stellt einen Neologismus dar, der nicht
letztgültig aufgelöst werden kann. Zum einen verweist die Heuschrecke auf
die sieben biblischen Plagen und gilt dort als Symbol für Gefräßigkeit und
Zerstörung. Zum anderen wird auch in der Offenbarung des Johannes von
Heuschrecken gesprochen, die beim Aufruf der fünften Posaune aus einem
riesigen Abgrund auftauchen und die Menschen, die das Siegel Gottes nicht
auf der Stirn tragen, über Monate quälen. Verbunden wird die Heuschrecke
mit der Münze, die als Zeichen des Geldes und möglicherweise auch der
Käuflichkeit fungiert.
Der Mond wird in den Rahmungen jeweils negativ attribuiert und mit
Insekten (Heuschrecken) bzw. Spinnen assoziiert. Insofern erscheint der
Mond nicht mehr als Trost spendendes Objekt, wie es im Volkslied oder
in der romantischen Lyrik ein gängiges Motiv war. Obwohl der Mond
passiv bleibt, fungiert er doch als Projektionsfläche des Sprechers: Der Mond
behaupte nur noch Unschuld, in Wirklichkeit sei er aber schuldig geworden.
Diese Schuld ist nun jede Nacht am Firmament sichtbar.
In den beiden Schlussversen spricht der Wir-Sprecher den Mond auf die
‚Hintermänner‘ seiner Spionage an: „Dein Auftraggeber ist uns bekannt; /
er wohnt jenseits der Liebe.“ (v. 19 f.) Mit dieser überraschenden Wendung
erhält der Titel des Gedichts eine weitere Bedeutungsebene: Ist vielleicht
nicht der Mond der Denunziant, sondern der Wir-Sprecher? Wer ist eigent‐
lich der Auftraggeber des Mondes? Auch wenn das Gedicht selbst keine
3. Schuldfragen 133

Antwort auf diese Fragen bietet, so ließe sich mit Hans-Georg Kemper doch
argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich um eine Selbstanklage han‐
delt – nicht der Mond ist der Denunziant, sondern der zeitgenössische Leser,
der seine eigenen Verfehlungen vorgeführt bekommt: Die „‚Auftraggeber‘
der ‚Spionage‘ und Verursacher der ganzen Katastrophen sind ‚uns bekannt‘,
sind also ‚wir‘ selbst, die zeitgenössischen Adressaten des Gedichts, wenn
sie sich zu der schmerzlichen Einsicht bringen lassen, dass sie ‚jenseits der
Liebe‘ ‚wohnen‘. ‚Wir‘ projizieren unsere eigene Traumatisierung, unsere
unbewältigten Schreckenserfahrungen und Schuldgefühle auf die Natur“
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(K EMPER 2009, 62).


Der Mond steht möglicherweise stellvertretend für die Schuld. Das Ge‐
dicht selbst wäre dann die Bewusstmachung der eigenen Schuld. Auch wenn
der Syllogismus, dass es sich bei dem ‚bekannten Auftraggeber‘ notwendi‐
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gerweise um die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten handelt,


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durchaus anfechtbar ist, ist es sich doch eine legitime und plausible Deutung.
Denn mit der pathetischen Schlusswendung, die nicht so recht zu dem
eher lakonischen Stil des Gedichts passt, wird ein Anderes und Verdrängtes
bezeichnet, das aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Man
kann argumentieren, dass Schnurre in Denunziation nicht den Mond als
Spion und Denunziant anklagt, sondern auf die schuldhaften Verstrickungen
der Deutschen im NS-Staat hinweist. Der Mond in diesem Gedicht wäre
dann ein radikal anderer Mond als in den Gedichten vor Auschwitz.
Die Auseinandersetzung mit der Schuldhaftigkeit seiner und der älteren
Generation hat Schnurre immer wieder umgetrieben. Dass dies nicht immer
einfach war, legt Schnurre in seinem autobiografischen Buch Der Schatten‐
fotograf (1978) nahe: „Schließlich, sechseinhalb Jahre lang (als Hitler-Soldat)
auf der falschen Seite gestanden zu haben, ist, wenn man den Verzweif‐
lungsmut hat, es sich einzugestehen, eine Erkenntnis, mit der zu leben,
gar: zu schreiben nicht ganz einfach ist.“ (S CHNURRE 1978, 368) Das Gedicht
Denunziation zielt auf das Nicht-Vergessen, wobei für Schnurre aber auch
diejenigen, die sich im Nachkriegsdeutschland als vermeintlich schuldlos
darstellten, schuldig geworden waren: „Es gibt keine ‚Innere Emigration‘,
auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird
schuldig.“ (S CHNURRE 1964, 49)
134 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

4. Trauma

4.1. Poetologische Hinführung

Der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Trauma‘ bezeichnet in der


Medizin eine körperliche und in der Psychologie eine seelische Verletzung.
Bereits in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips (1920) hat sich Sigmund
Freud (1856–1939) mit diesen Formen der Versehrung auseinandergesetzt:
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Nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahnzusammenstößen und


anderen, mit Lebensgefahr verbundenen Unfällen ist seit langem ein Zustand
beschrieben worden, dem dann der Name ‚traumatische Neurose‘ verblieben ist.
Der schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg hat eine große Anzahl solcher
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Erkrankungen entstehen lassen […]. (F REUD 2000, III, 222)


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Freud thematisiert nicht nur verschiedene Katastrophenszenarien, um die


Entstehung einer „traumatische[n] Neurose“ zu beschreiben, sondern ver‐
weist auch auf die gravierenden psychischen Nachwirkungen des Ersten
Weltkriegs. Im Hinblick auf jene „Kriegsneurosen“ sei es „einerseits auf‐
klärend, aber doch wiederum verwirrend, daß dasselbe Krankheitsbild
gelegentlich ohne Mithilfe einer groben mechanischen Gewalt zustande
kam“ (F REUD 2000, III, 222). Indem er die körperlichen und seelischen Ver‐
sehrungen analogisiert, verdeutlicht Freud, dass ein Trauma gleichermaßen
aus einer psychischen Überforderung resultieren kann. Vor einer solchen
Überforderung werde der Mensch grundsätzlich durch den „Reizschutz“
bewahrt:
Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe
als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und
muß vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung,
die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der
übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren. (F REUD 2000, III, 237)

Sobald diese „draußen arbeitenden Energien“ Überhand gewinnen, durch‐


brechen sie den psychischen Schutzmechanismus und erzeugen ein Trauma.
Das geschieht vor allem dann, wenn es nicht mehr gelingt, besonders
intensive oder extreme Wahrnehmungen zu verarbeiten.
In welchem Verhältnis stehen aber nun Trauma und Literatur zueinander?
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Literatur als ein Medium anzusehen
4. Trauma 135

ist, das es ermöglicht, traumatische Erfahrungen zu artikulieren, im Prozess


der Artikulation zu ‚verarbeiten‘ und durch die Darstellung intersubjektiv
sichtbar zu machen (vgl. K ÖHNEN /S CHOLZ 2006, 7–16). Nach Cathy Caruth
entsteht ein Trauma als Reaktion auf ein verstörendes Ereignis, das die
bisherige Erlebnisfolge disruptiv unterbricht (vgl. C ARUTH 1995, 3–12). Trau‐
matisierend sei in diesem Zusammenhang weniger das Ereignis selbst als
vielmehr die spezifische Ausprägung des individuellen Erlebens. Die daraus
resultierende Erschütterung und Desorientierung habe zur Folge, dass man
das Erlebte nicht mehr mit herkömmlichen sprachlichen Mitteln artiku‐
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lieren könne. Ohnehin sei die traumatische Erfahrung nicht unmittelbar


objektivierbar, sondern gerade durch ihre Unverfügbarkeit charakterisiert.
Schon Freud hat darauf hingewiesen, dass die Betroffenen das verstörende
Ereignis wiederholt in Form einer „traumatischen Rückführung“ (W EINBERG
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

1999, 175; F REUD 2000, III, 223) erleiden. Durch dieses „Hereinreichen der
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Vergangenheit in die Gegenwart [wird] die Nachträglichkeit des Traumas


[sichtbar], welche die generelle Unabschließbarkeit der Erfahrung bedingt“
(N ICKENIG 2011, 289). Da sich die traumatische Erfahrung zu plötzlich und
zu unerwartet eingestellt habe, bedürfe sie der Wiederholung, um kenntlich
zu werden als „the story of a wound that cries out, that addresses us
in the attempt to tell us of a reality or truth is not otherwise available“
(C ARUTH 1995, 4). Bereits der Begriff der „story“ deutet an, dass Caruth das
Trauma selbst als sprachlich verfasst begreift und es daher strukturanalog
zur Literatur bestimmt. Trotz der kulturhistorischen Wirksamkeit dieses
Traumakonzepts ist es für seine Tendenz zur Enthistorisierung und Entgren‐
zung kritisiert worden (vgl. K ANSTEINER 2004, 117).
Im Horizont dieser Parallelisierung von Trauma und Literatur hat Ulrich
Baer die Relation von Trauma und Lyrik in den Blick genommen: „Sowohl
traumatische Erinnerungen als auch Gedichte erheben Anspruch auf abso‐
lute Singularität, die sich in dem Maß, wie sie sich zu erkennen gibt, auch
zersetzt.“ (B AER 2002, 26) In dieser postulierten Ähnlichkeit tritt zugleich eine
Aporie zutage: Denn in dem Maße, in dem das Trauma bzw. das einzelne
Gedicht ‚verstehbar‘ wird, d. h. in dem es sich jeweils „zu erkennen gibt“,
geht seine Besonderheit verloren. Im Hinblick auf die Lyrik Paul Celans
(1920–70) hat Baer festgehalten, dass dessen Gedichte von der Einsicht
zeugen, dass „die Wahrheit eines bestimmten historischen Ereignisses in
der Unmöglichkeit liegt, es nachzuvollziehen“ (B AER 2002, 27). Gleichzeitig
bestehe die dichterische Arbeit in dem Bemühen, jene „absolute Singularität“
literarisch zu kommunizieren. Vor allem lyrische Texte seien dazu geeignet,
136 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

eine individuelle Symbol- und Formensprache zu entwickeln, um die trau‐


matischen Erfahrungen, die sich der Versprachlichung entziehen, zumindest
näherungsweise zu vermitteln.
In diesem Zusammenhang bleibt grundsätzlich zu beachten, dass Ge‐
dichte, die traumatische Erfahrungen thematisieren, reflektieren und pro‐
blematisieren, nicht als unvermittelter und ungebrochener Ausdruck eines
vorgängigen Schmerzerlebens gewertet werden können. Vielmehr sind sie
als „Produkte von Reflexions- und Ästhetisierungsprozessen“ (B OYKEN /I MMER
2016, 25) zu begreifen, die aufgrund ihrer künstlerischen Verfasstheit ana‐
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lysiert und interpretiert werden können. So ist es durchaus möglich, ein


Phänomen wie das der „traumatischen Rückführung“ in einen poetischen
Vorgang zu überführen. Das lässt sich etwa in Celans Gedicht Dein vom
Wachen aus der Sammlung Atemwende (1967) beobachten, in dem eine
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Sprechinstanz folgende Worte an ein nicht näher bezeichnetes Du richtet:


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„Dein vom Wachen stößiger Traum.“ (C ELAN 1986, II, 24) Dieser Traum
erweist sich in der Folge als Handlungsträger, der in Gestalt eines Widders
bzw. eines ähnlichen Wesens mit seinem Horn einen „letzte[n] Stoß“ (C E‐
LAN 1986, II, 24) ausführt. Dieser Stoß, der sich als Reaktualisierung der
traumatischen Erfahrung lesen lässt, wird anschließend in das Bild einer sich
senkrecht bewegenden Fähre transponiert: Indem sie in der „senk- / rechten,
schmalen / Tagschlucht nach oben“ stakt, setzt sie „Wundgelesenes über“
(C ELAN 1986, II, 24). Dabei wirkt das ‚Wundgelesene‘ wie eine „Konzentration
früherer Versehrungen, die von der Fähre ans Licht geholt werden und
dort die Gestalt eines Gedichts annehmen“ (B OYKEN /I MMER 2016, 8). In
dieser Deutung gewinnt die Vertikalbewegung vom Innen zum Außen eine
poetologische Qualität: Das Gedicht konturiert den – durchaus mühsamen –
Übergang von der Vorsprachlichkeit der traumatischen Erfahrung zu ihrer
sprachlichen Ausformung im Gedicht.
Eines der zentralen Traumata, das in der deutschsprachigen Nachkriegs‐
lyrik behandelt wird, bildet die Shoah. Dabei lässt sich einerseits beobachten,
wie sich zunehmend „Vermeidungsstrategien […] im sprachlichen Umgang
mit der Shoah“ (A UEROCHS 2013, 1039) auszuprägen beginnen. Gegenüber
dieser Tendenz zur Tabuisierung verteidigt andererseits Celan die Position,
dass die Shoah aufgrund ihrer Inkommensurabilität als menschheitsge‐
schichtliche Zäsur begriffen werden müsse und daher alle nachfolgende
Dichtung von dieser Zäsur betroffen sei. In seiner am 26. Januar 1958
gehaltenen Bremer Literaturpreisrede hat Celan die poetologischen Konse‐
quenzen dieser Überlegung formuliert:
4. Trauma 137

Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurch‐
gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares
Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.
Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie
ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten,
„angereichert“ von all dem. (C ELAN 1986, III, 185 f.)

Celan führt aus, dass sich die Sprache nach der Konfrontation mit ihren
„Antwortlosigkeiten“, mit ihrem „Verstummen“ und mit „tausend Finster‐
nisse[n]“ entscheidend verändert habe. Sie könne im Grunde nicht mehr
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‚unschuldig‘ gebraucht werden, da sie „angereichert“ sei vom Wissen um


die nationalsozialistischen Verbrechen, die insbesondere am jüdischen Volk
verübt wurden. Wenn Celan im Anschluss bekennt, dass er in dieser Sprache
„Gedichte zu schreiben versucht“ habe, dann bestärkt seine Rede von
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der sprachlichen ‚Anreicherung‘ die nachfolgende Behauptung, dass ein


Gedicht gerade nicht „zeitlos“ (C ELAN 1986, III, 186), sondern vielmehr
zeitbewusst ist. Von dieser Zeitbewusstheit zeugt etwa sein Gedicht Eng‐
führung, dessen überraschende Kühnheit darin besteht, „das Geschehen
in der Gaskammer mit der Entstehung von Poesie“ (A UEROCHS 2013, 1049)
zu überblenden. In seiner Deutung dieses Gedichts hat der Literaturwis‐
senschaftler Peter Szondi (1929–71) daher zu Recht das bekannte Diktum
Theodor W. Adornos (1903–69) geistreich abgewandelt: „Nach Auschwitz ist
kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ (S ZONDI
1978, II, 383 f.)
In den frühen 1950er Jahren wird diese Dimension von Celans Dichtung
jedoch noch kaum wahrgenommen. So wirft ihm etwa der Literaturkritiker
Hans Egon Holthusen (1913–97) in seiner Rezension der Gedichtsammlung
Mohn und Gedächtnis (1952) vor, Celan praktiziere mit seiner Dichtung nur
„ein reines Spiel der Sprache, die nichts will als sich selbst“ (H OLTHUSEN
1954b, 158). In diesem Zusammenhang ist zwingend zu berücksichtigen, dass
Holthusen, der gut zehn Jahre zuvor seinen Sonettzyklus Totenklage (1943)
veröffentlicht hatte (vgl. I MMER 2016, 91–97), als ehemaliges SS-Mitglied
zur ‚Tätergeneration‘ gehörte. Die Perfidie von Holthusens Besprechung
liegt vor allem darin, über die Kritik von Celans vermeintlicher Selbstre‐
ferentialität die „Aberkennung des Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalts
seiner Gedichte“ (K LEINDIENST 2007, 74) vorzunehmen. Dieser Angriff dürfte
für Celan auch deshalb überraschend erfolgt sein, weil Holthusen und
Friedhelm Kemp (1914–2011) ein Jahr zuvor zwei Gedichte aus Mohn und
138 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Gedächtnis in ihrer Anthologie Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900–1950


publiziert hatten (vgl. H OLTHUSEN /K EMP 1953, 339 f.). Im Nachwort dieser
Sammlung sprechen die Herausgeber nicht nur von der gegenwärtigen
„nachsintflutliche[n] Atmosphäre“, sondern versuchen auch, die großen
Erschütterungen der Nachkriegszeit zu erfassen, von denen die Gedichte der
späten 1940er und frühen 1950er Jahre zeugen:
Gewiß sind neue Themen und Motive hinzugekommen: die inkommensurablen
Erfahrungen der modernen Katastrophenlandschaft, der zweite Krieg, Gefangen‐
schaft, die Unterwelt des politischen Terrors, das soziale und seelische Chaos der
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Nachkriegszeit, apokalyptische Bewußtseinskrisen […]. (H OLTHUSEN /K EMP 1953,


353 f.)

Was Holthusen und Kemp anführen, ist im Grunde eine Aufzählung der
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

zentralen Nachkriegstraumata: das Fundamentalerlebnis des Zweiten Welt‐


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kriegs und der vielfach damit verbundenen Erfahrung der Gefangenschaft,


die Wahrnehmung der aus den Kriegszerstörungen resultierenden „Kata‐
strophenlandschaft“ und die posttraumatischen Belastungsstörungen, die
sich in „apokalyptische[n] Bewußtseinskrisen“ äußern. Während Holthusen
und Kemp zwar anerkennend darauf hinweisen, dass sich insbesondere
der junge Celan „um die Erweiterung des lyrischen Vokabulars und um
eine Differenzierung und Potenzierung der metaphorischen Möglichkeiten
beträchtliche Verdienste erworben“ habe, müsse jedoch grundsätzlich fest‐
gestellt werden, dass von den Dichterinnen und Dichtern vielfach „poetische
Möglichkeiten genutzt [werden], die schon vor dreißig Jahren gestiftet wor‐
den sind“ (H OLTHUSEN /K EMP 1953, 353). Gegenüber diesem Urteil eines ästhe‐
tischen Innovationsmangels wird in poetologischen Gedichten wiederholt
über die Möglichkeiten reflektiert, mit welcher Sprache jene von Holthusen
und Kemp konstatierten „inkommensurablen Erfahrungen“ auszudrücken
seien. So schreibt beispielsweise Marie Luise Kaschnitz (1901–74) in ihrem
Gedicht Dann sei geübt im Traum … aus ihrer Sammlung Gedichte (1947):
Und selbst das Wort.
Der Dichter Lob und Klage,
Des Geistes unermüdliche Erhebung,
Es tönt nicht mehr im dumpfen Gang der Tage,
Und spottet der unsäglichen Bestrebung.

(K ASCHNITZ 1947, 129)


4. Trauma 139

Trotz dieser Einsicht in die Unmöglichkeit, das dichterische Wort in seiner


‚tönenden‘ Schönheit zu evozieren, bleibt es tauglich, um das anhaltende
Leid zu vergegenwärtigen, das die traumatischen Erfahrungen verursachen.
In ihrem Gedicht Im Schlafe werden metonymisch einzelne Körperteile
benannt, die stellvertretend auf jene Menschen verweisen, die zur Nachtzeit
mit ihren bedrückenden Erinnerungen konfrontiert werden. Das Nebenein‐
ander der Körperteile Hände, Füße, Lippen und Augen betont die Gleichran‐
gigkeit der je unterschiedlichen Leiderfahrungen, bei denen nicht zwischen
Täter und Opfer unterschieden wird. Während einerseits von Händen die
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Rede ist, „die getötet haben“, werden andererseits Lippen angesprochen,


„die Erbarmen schrieen“ (K ASCHNITZ 1947, 170). Wiederholt scheint das
jeweils traumatisierende Ereignis auf, um sofort durch die Hoffnung auf
eine friedliche Zukunft zurückgedrängt zu werden. Nachdrücklich wird in
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

der abschließenden Strophe der Wunsch zum Ausdruck gebracht, endlich


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„Krieg und Not vergessen“ zu können:


Augen, die den Tod ermessen,
Wollen Krieg und Not vergessen,
Bild um Bild der Lust beschwören,
Tausendfach der Welt gehören,
Heute Nacht, im Schlafe …

(K ASCHNITZ 1947, 170)

Dass sich vor den Augen der Betroffenen geradezu apokalyptische Bild‐
welten entfalten können, hat Peter Huchel (1903–81) mit seinem Gedicht
Chausseen (1950) demonstriert, das sich als „Versuch“ lesen lässt, „das
[Kriegs-]Trauma sprachlich zu erfassen“ (L AMPING 2008, 35). In der zweiten
Strophe wird die Kriegswirklichkeit nahezu expressionistisch konturiert:
Nächte mit Lungen voll Rauch,
Mit hartem Atem der Fliehenden,
Wenn Schüsse
Auf die Dämmerung schlugen.
Aus zerbrochenem Tor
Trat lautlos Asche und Wind,
Ein Feuer,
Das mürrisch das Dunkel kaute.

(H UCHEL 1997, 141)


140 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die Vergangenheitsform („schlugen“, „Trat“, „kaute“) verdeutlicht, dass ein


zurückliegendes Ereignis erneut imaginiert wird. Das bedrohliche Szenario,
das durch die „Fliehenden“, die „Schüsse“ und das „Feuer“ zunehmend an
Intensität gewinnt, wird in der dritten Strophe noch dadurch gesteigert,
dass auch die „Tote[n]“ (H UCHEL 1997, 141) in grausam entstellten Posen
in den Blick geraten. Im Unterschied zu Kaschnitz wird bei Huchel zwar
keine Hoffnung auf Vergessen formuliert, aber in einer späteren Fassung
immerhin die abschließende Aussicht geboten, dass „[d]as Dröhnen des
Todes weiterzog“ (H UCHEL 1997, 407). Dass damit freilich nur eine vorläufige
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Sicherheit geboten ist, macht Karl Krolow (1915–99) nahezu zeitgleich in


seinem Gedicht In der Fremde geltend. Denn selbst im Gang durch die Natur
können die Toten eine fast bedrohliche Präsenz gewinnen:
Die Toten nehmen in der Dämm’rung zu.
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Sie schweben – Bast und Bärlapp in den Haaren.


Wie sie mir dumpf im Blattlicht widerfahren,
Streif’ ich sie langsam mit dem flachen Schuh
Und fühl’ sie nahe, die vergessen waren.

(K ROLOW 1952, 33)

Das Widerspiel zwischen der Unfähigkeit, vergessen zu können, dem


Wunsch, vergessen zu wollen, und der Gefahr, sich dem Vergessen zu
ergeben, bildet einen Fixpunkt der Nachkriegsgedichte, in denen trauma‐
tische Erfahrungen im Zentrum stehen. Die Frage nach den Möglichkei‐
ten und Bedingungen des Erinnerns wird vor allem in jenen Gedichten
reflektiert, die von der Shoah bzw. vom Porrajmos handeln. Als Medien
des kollektiven Gedächtnisses besitzen diese Gedichte selbst die eminent
wichtige erinnerungspolitische Funktion, das Gedenken an die Opfer des
Nationalsozialismus im gesellschaftlichen Bewusstsein wachzuhalten.

4.2. Nelly Sachs: Poetik der ‚Durchschmerzung‘

Nelly (Leonie) Sachs wird am 10. Dezember 1891 in Berlin als einziges Kind
einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. Bereits in ihrer Jugend beginnt
sie, erste Gedichte und Erzählungen zu schreiben, bleibt jedoch zunächst
konventionalisierten literarischen Formen verpflichtet (vgl. T ÖLLER 1998,
134). Nach ihrer begeisterten Lektüre von Selma Lagerlöfs (1858–1940)
Debütroman Gösta Berling (1891) beginnt sie einen Briefwechsel mit der
4. Trauma 141

schwedischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin, der sich über die


Dauer von mehr als 35 Jahren erstrecken wird. Mit der Unterstützung
von Stefan Zweig (1881–1942) veröffentlicht Sachs ihre erste Sammlung
Legenden und Erzählungen (1921), die sie Lagerlöf übersendet und die kurz
darauf mit ironischem Gestus antwortet: „Hätte es selbst nicht besser tun
können.“ (zit. nach F IORETOS 2010, 38) Trotz dieses günstigen Eintritts in
die dichterische Laufbahn hat Sachs in einer 1967 verfassten Kurzbiografie
deutlich gemacht: „mein Leben [war] durch ein eigenes Schicksal mit tiefer
Tragik verknüpft, die auch eine Quelle meines Werks geworden ist“ (zit.
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nach D INESEN 1994, 9). Diese „Tragik“ verweist zurück auf die einschneidende
Erfahrung einer unglücklichen Liebe zu einem nichtjüdischen Mann, die
Sachs im 17. Lebensjahr machen muss. Das Erlebnis mündet in eine „lange
Krise“ (H OLMQVIST 1977, 27) und avanciert gleichsam zu ihrem „Urtrauma“
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

(F IORETOS 2010, 17).


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Mit der nationalsozialistischen Herrschaft beginnen sich die Lebensum‐


stände für Sachs zunehmend zu verschlechtern. Sie ist nicht nur von
Zwangsenteignungen betroffen, sondern muss auch mit ansehen, wie der
in ihrer Jugend geliebte Mann vor ihren Augen „gemartert und schließlich
umgebracht“ (zit. nach F RITSCH -V IVIÉ 1993, 40) wird. Sachs selbst wird vor‐
übergehend von der Gestapo inhaftiert und erleidet daraufhin eine tempo‐
räre Stimmbandlähmung. Trotz dieser unmittelbaren Bedrohung engagiert
sie sich in einem jüdischen Kulturbund, über den sie rückblickend schreibt:
„Es kamen die Jahre in Berlin, wo wir, ein kleiner Kreis Schriftsteller, […] uns
zusammenfanden, jedesmal in einem neuen Schauer der Angst, wen würde
nun das Los treffen.“ (S ACHS 1984, 45) Mit dieser Bemerkung kennzeichnet
Sachs die Anfang der 1940er Jahre gegenwärtige Bedrohung, jederzeit in
ein Konzentrationslager deportiert werden zu können. Tatsächlich wird die
Dichterin Gertrud Kolmar (1894–1943), die ebenfalls dem Kulturbund ange‐
hört, in dem Sachs tätig ist, Anfang März 1943 nach Auschwitz verbracht
und vermutlich direkt nach der Ankunft ermordet.
Nelly Sachs und ihrer Mutter gelingt es gewissermaßen im letzten
Moment, am 16. Mai 1940 per Flugzeug nach Schweden auszureisen.
Unterstützung erhält sie dabei sowohl von ihren Freundinnen (vgl. D ÄH‐
NERT 2009, 226–257) als auch von Lagerlöf, die kurz vor ihrem Tod ein
Empfehlungsschreiben für Sachs verfasst hatte. Trotz der Unterstützung
durch die jüdische Gemeinde in Stockholm muss Sachs als Wäscherin und
Übersetzerin arbeiten, um sich und ihrer Mutter ein knappes Auskommen
zu sichern. In dieser Zeit beginnt Sachs, sich intensiv mit der modernen
142 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

schwedischen Lyrik zu beschäftigen (vgl. O LSSON 2017, 55–63). Dazu gehören


beispielsweise auch die Dichtungen Johannes Edfelts (1904–97), die sie
unter anderem in der deutschen Auswahlausgabe Der Schattenfischer (1958)
veröffentlicht. Edfelt schreibt 1947 über sie: „Auf schwedischem Boden, im
Exil hat Nelly Sachs ihre schöne Meisterschaft als Lyrikerin erreicht.“ (zit.
nach F IORETOS 2010, 123) Davon zeugt insbesondere ihre im gleichen Jahr
publizierte Anthologie Von Welle und Granit, die – so der Untertitel – als
Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts angelegt ist.
Die Arbeit als Übersetzerin ermöglicht Sachs nicht nur die „Begegnung
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mit der Moderne“ (B AHR 1980, 193), sondern gestattet es ihr auch, eigene
Erfahrungen wie die des „Außer-Raum-geschleudert-[S]ein[s]“ (zit. nach
F IORETOS 2010, 134) in den übersetzten Texten wiederzuerkennen.
Die Auseinandersetzung mit der modernen Lyrik beeinflusst ihre eigene
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

dichterische Arbeit derart nachhaltig, dass im Grunde von einer „künstleri‐


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schen Neugeburt“ (D OMIN 1993, 114) gesprochen werden kann. Gleichzeitig


gestaltet Sachs seit dem Sommer 1943 Gedichte, in denen sie den national‐
sozialistischen Völkermord an den europäischen Juden behandelt. Auf den
Zyklus Grabschriften in die Luft geschrieben, der aus lyrischen Epitaphen
besteht, folgen im Winter 1944/45 die Gebete für den toten Bräutigam (S ACHS
2010/11, I, 232). Beide Zyklen finden Eingang in ihre Sammlung In den
Wohnungen des Todes (1947), die sie ausdrücklich ihren „toten Brüdern und
Schwestern“ (S ACHS 2010/11, I, 10) widmet. Vierzehn Jahre später wird sie
rückblickend schreiben, dass mit diesem Gedichtband „für so viele […]
ein neuer Äon – ein Äon der Schmerzen“ (S ACHS 1984, 272) begonnen
habe. Doch obwohl sie Druckausgaben von In den Wohnungen des Todes
unter anderem an Schriftsteller wie Thomas Mann (1875–1955), Alfred
Döblin (1878–1957) oder Hermann Hesse (1877–1962) verschickt, bleibt
die unmittelbare öffentliche Resonanz recht gering (vgl. B ERENDSOHN 1966,
227; D OMIN 1993, 135, Anm. 1). Ihr zweiter Gedichtband Sternverdunkelung
(1949) findet sogar noch weniger Beachtung, so dass ein Teil der Auflage
eingestampft werden muss (vgl. B RAUN 1998, 33).
Als ihre Mutter 1950 verstirbt, erleidet Sachs einen schweren Nervenzu‐
sammenbruch. Trotz ihrer „Seelenqual“ (S ACHS 1984, 113) gelingt es ihr,
die dichterische Arbeit fortzusetzen. Von den Elegien, die sie in Gedenken
an ihre Mutter verfasst, finden fünf Eingang in ihre nächste Sammlung
Und Niemand weiß weiter (1957). Darin greift sie Themen aus dem Alten
Testament und dem kabbalistischen Sohar auf, den sie auszugsweise durch
Gershom Scholems (1897–1982) Arbeit Die Geheimnisse der Schöpfung (1935)
4. Trauma 143

kennengelernt hatte. Bald darauf schreibt ihr Paul Celan (1920–70) über den
neuen Gedichtband: „er steht, mit den beiden anderen, neben den wahrsten
Büchern in meiner Bibliothek“ (C ELAN /S ACHS 1996, 10). Zunehmend erhält
Sachs Gelegenheit, ihre Dichtungen in Zeitschriften wie Sinn und Form,
Akzente und Merkur zu publizieren. Im gleichen Jahr, in dem ihre nächste
Sammlung Flucht und Verwandlung (1959) erscheint, veröffentlicht Hans
Magnus Enzensberger (*1929) seinen Artikel Die Steine der Freiheit. Mit
Bezug auf die Dichtungen von Nelly Sachs wendet er sich darin gegen
Adornos sogenanntes ‚Lyrik-Verbot‘ (vgl. L AMPING 1991, 237–255):
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Ihrer [d. h. Nelly Sachs’] Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht,
gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache.
Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. […] Die Gedichte sprechen von
dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. […] Die Erlösung der Sprache
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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aus ihrer Verzauberung steht bei denen, die In den Wohnungen des Todes waren.
(zit. nach K IEDAISCH 1995, 73)

Nach der Publikation von Flucht und Verwandlung wird die Dichterin
„schlagartig in Deutschland bekannt“ (B RAUN 1998, 39). 1960 wird ihr der
Meersburger Droste-Preis, 1965 der Friedenspreis des Deutschen Buchhan‐
dels und am 10. Dezember 1966 der Literaturnobelpreis (zusammen mit
Samuel Joseph Agnon [1888–1970]) verliehen. Im Zuge ihrer Reise nach
Meersburg trifft sie in Zürich auf Celan, der ihre denkwürdige Begegnung in
seinem Gedicht Zürich, Zum Storchen festhält (vgl. A UEROCHS 2006, 66–72).
Aufgrund eines zunehmenden psychischen Leidens muss Sachs zu Beginn
der 1960er Jahre längere Zeit in einer Nervenheilanstalt in Stockholm
verbringen. Danach veröffentlicht sie die Gedichtbände Glühende Rätsel
(1964) und Landschaft aus Schreien (1966). Nach ihrem Tod am 12. Mai 1970
erscheint die postume Sammlung Teile dich Nacht (1971), die ihr lyrisches
Spätwerk enthält.
Auch wenn Nelly Sachs gegenüber der Schriftstellerin Elisabeth Borchers
(1926–2013) im Herbst 1959 behauptet hat, „kein literarischer Mensch“,
ja „[n]iemals eine Dichterin“ (S ACHS 1984, 231) gewesen zu sein, belegen
insbesondere ihre Briefe, wie intensiv sie die poetologischen Grundlagen
ihrer Lyrik reflektiert. So hatte sie bereits zehn Jahre zuvor an Gudrun
Dähnert (1907–76) geschrieben: „Wir können einfach nicht mehr die al‐
ten verbrauchten Stilmittel anwenden. In keiner Kunst ist das möglich.“
(S ACHS 1984, 110) Zu dieser Einsicht war Sachs auch im Zusammenhang
mit der Übersetzung schwedischer Lyrik gelangt: „Sie wußte, daß sie aus
144 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

dem verbrauchten Sprachschatz der Spätromantik, der ihre frühen Texte


verpflichtet waren, zu einer neuen Sprache finden mußte, um in ihren
künftigen Gedichten dem Schmerz über die Ermordeten der Shoah gerecht
zu werden.“ (E ICHMANN -L EUTENEGGER 2008, 15) Doch wodurch ist jene „neue
Sprache“ gekennzeichnet?
Im Unterschied zu ihrer Jugendlyrik stellt Sachs in den Gedichten, die
seit 1943 entstehen, gezielt Brüche, Diskontinuitäten und Dissonanzen aus.
Die Verwendung freier Rhythmen und teilweise stark verknappter Verse
erlaubt es, den Fokus auf isolierte Worte oder Wortgruppen zu lenken.
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„Gedankenstriche am Satzende lassen die Rede ins Offene laufen, Ellipsen


verkürzen die Sprache bisweilen zu formelhafter Ausdrücklichkeit, und
dunkle Metaphern generieren nicht festlegbare, polyseme Aussagen.“ (I MMER
2010, 108) Diese fundamentale Spracherneuerung ist kein ästhetischer
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Selbstzweck, sondern gewinnt für Sachs geradezu existentielle Bedeutung:


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„Hätte ich nicht schreiben können, hätte ich nicht überlebt.“ (H OLMQVIST
1977, 28) Somit erweist sich die Dichtung einerseits als Medium zur Bewäl‐
tigung persönlicher Leiderfahrungen, andererseits besitzt sie ebenso die
Funktion, „den unwiderruflich Verstummten“ (ebd., 14) eine Stimme zu
geben. In der Verschränkung von individueller und kollektiver Perspektive
wird das Trauma als eigentliche Konstante im lyrischen Werk von Sachs
kenntlich (vgl. F IORETOS 2014, 18).
In diesem Zusammenhang hat Sachs ein dichterisches Verfahren skizziert,
das sich als ‚Poetik der Durchschmerzung‘ charakterisieren lässt. Anfang
des Jahres 1959 greift sie brieflich den Gedanken auf, dass der „Rilkezeit“
mit ihren überladenen Versen inzwischen eine junge Dichtergeneration
mit ihrer „kühnen, nackten Linie“ (S ACHS 1984, 199) entgegengetreten sei.
Sachs betont zwar, dass sie sich mit diesen jungen Dichtern „in ihrer
Bemühung, der Ehrlichkeit und dem Ernst der Aussage verwandt fühle“,
setzt jedoch relativierend hinzu, dass ihre dichterische Bewegung der
„schmerzgekrümmte[n] Laokoon-Linie“ (S ACHS 1984, 199) folge. Wie der
römische Dichter Vergil in seiner Aeneis überliefert, war Laokoon ein
trojanischer Priester, der zusammen mit seinen Söhnen von zwei Schlangen
getötet wurde. Seit der Wiederentdeckung der griechischen Laokoon-Plas‐
tik gilt er als Repräsentant einer eminenten menschlichen Leiderfahrung.
Indem Nelly Sachs ihre quälenden Erlebnisse mit dem Schicksal Laokoons
in Beziehung setzt, prägt sie den Neologismus der „Durchschmerzung“:
„Ich glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes
als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten.“ (S ACHS 1984, 181) In einer
4. Trauma 145

Stellungnahme für die Zeitschrift Le Monde wird Sachs dieses mythisch


gefärbte Lebenskonzept später auf ihre poetische Produktion ausrichten:
„Mein Glauben, daß der Mensch […] dazu geschaffen ist, diese Materie zu
durchleben, zu durchschmerzen, liebend durchsichtig zu machen, zieht als
Grundgedanke durch alles, was ich schreibe“ (S ACHS 1994, 328). Mit der
„Materie“ ist jener weltliche Gegenstandsbereich bezeichnet, den sich das
Subjekt im Akt der Durchdringung allmählich aneignet. Diese Erschließung,
in deren Verlauf selbst „Materie […] durchsichtig“ wird, lässt sich im Grunde
als Prozess einer „dichterischen Transformation“ (A LLEMANN 1977, 291) be‐
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stimmen. Die offene Metapher des „Staubes“, die Sachs zunächst gebraucht,
legt es außerdem nahe, den Referenzhorizont noch zu erweitern: Während
in der „Durchschmerzung“ die Erinnerung an die traumatische Erfahrung
der Judenvernichtung zum Ausdruck kommt, erscheint die „Durchseelung“
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als jener Versuch, das Unaussprechliche mithilfe des dichterischen Worts


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fassbar zu machen. Diese Doppelung klingt noch an, wenn Sachs gegenüber
Celan bekundet, dass beide über den „Meridian des Schmerzes und des
Trostes“ (C ELAN /S ACHS 1996, 25) miteinander verbunden seien.
Mit dem Gedicht O die Schornsteine … eröffnet Sachs ihre erste Lyrik‐
sammlung, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert. Das
Gedicht leitet zugleich in den Zyklus Dein Leib im Rauch durch die Luft ein,
der in den Jahren 1945/46 entsteht und aus dem einige Texte am 12. Mai 1946
auf einer Veranstaltung des Freien Deutschen Kulturbunds in Stockholm
vorgetragen werden (vgl. S ACHS 2010/11, I, 232). Nach längerer Suche erklärt
sich der Ostberliner Aufbau-Verlag dank einer Empfehlung Johannes R.
Bechers (1891–1958) bereit, den Gedichtband zu drucken, der im Frühjahr
1947 in einer Auflage von 20.000 Exemplaren und mit elf Zeichnungen von
Rudi Stern erscheint. Die Sammlung enthält 50 Gedichte, die Sachs in vier
Zyklen gegliedert hat: Dein Leib im Rauch durch die Luft (13), Gebete für den
toten Bräutigam (10), Grabschriften in die Luft geschrieben (13) und Chöre
nach Mitternacht (14). Im ersten Zyklus liegt der thematische Fokus auf dem
Massenmord an den Juden: „die Ermordung in den Konzentrationslagern
(A1), Hitler (A10), die Gesellschaft (A12), die Täter (A3, A4, A5, A8), die
Opfer (A5, A6, A9), die Trauer und das Leid (A2, A13) und – trotz allem –
die Hoffnung (A7 und A11)“ (O RTH 2016, 69).
Auch wenn die öffentlichen Reaktionen auf den ersten Gedichtband
überschaubar bleiben, avanciert O die Schornsteine … spätestens in den
1960er Jahren zum „meistanthologisierte[n] Gedicht von Sachs“ (S ACHS
2010/11, I, 210). Dem Gedicht ist ein Motto aus dem alttestamentarischen
146 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Buch Hiob vorangestellt, in dem die klassische Leidensfigur Hiob (hebräisch


‚Ijob‘: der Angefeindete) sich mit dem im alten Israel verbreiteten Vergel‐
tungsglauben auseinandersetzt. In mehreren Klagereden reflektiert er über
die ihm widerfahrenen Heimsuchungen, bleibt aber aufgrund seines Gott‐
vertrauens grundsätzlich hoffnungsvoll. Seine Heilsgewissheit, am Ende
seines Leidens Gott „schauen“ zu dürfen (H IOB 19,26), stellt Sachs ihrem
Gedicht voran. Die Figur Hiobs greift Sachs, die selbst als „Schwester Hiobs“
(J ENS 1977, 388) bezeichnet werden wird, insbesondere in der Frühphase
ihrer Nachkriegslyrik auf, in der die Gestalt eine „tragische Endposition“
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(O BERHÄNSLI -W IDMER [2003] 2017, 262) bekleidet. In ihrem Gedicht Hiob,


das Sachs in der Sammlung Sternverdunkelung veröffentlicht, charakterisiert
sie den Propheten außerdem als „Windrose der Qualen“ (S ACHS 2010/11, I,
59). Im Kontext dieser dichterischen Gestaltung ist zum einen Margarete
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Susmans (1872–1966) Schrift Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen
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Volkes (1946) zu berücksichtigen, über das sich Sachs 1960 mit Celan in
Zürich austauschen wird (vgl. F IORETOS 2010, 222). In der Einleitung zu
ihrer Schrift hatte Susman mit Blick auf die „Weltkatastrophe“ der Juden‐
vernichtung geschrieben: „Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes
Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus
den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz.“ (S USMAN 1996, 23) Zum
anderen ist es denkbar, dass sich Sachs an Martin Bubers (1878–1965) Schrift
Die Legende des Baalschem (1908) und der darin entfalteten Mystik des Opfers
orientiert hat (vgl. K IEFER 1998, 313 f.).
„Und wenn diese, meine Haut zerschlagen sein wird, so
werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen“ (Hiob)

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
5 Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
10 Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?
4. Trauma 147

O die Wohnungen des Todes,


Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
15 O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
20 Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!
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(S ACHS 2010/11, I, 11)

Sachs hat das Gedicht O die Schornsteine … als einen Klagegesang gestaltet,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

der in vier Strophen gegliedert ist, die jeweils mit der elegischen Apostrophe
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„O“ beginnen. Bereits im Eingangsvers werden die leitmotivisch aufgeru‐


fenen „Schornsteine“ von einem anonymen Sprecher lokal bestimmt. Sie
stehen auf jenen „sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ (v. 2), die als
die Krematorien der Vernichtungslager identifiziert werden können. Ebenso
lässt die Formulierung an die sogenannten ‚Gaswagen‘ denken, die seit
1939/40 zum Einsatz kamen und die tatsächlich „[e]inladend hergerichtet“
(v. 13) wurden (vgl. B EER 1987, 404–406). Damit wird deutlich, dass die
vermeintlich positive Rede von den „sinnreich erdachten“ Räumen zynisch
gemeint ist: Indirekt kommt zur Sprache, dass die menschliche Schöpfungs‐
kraft missbraucht wurde, um eine effektive Tötungsmaschinerie zu konstru‐
ieren. Von dieser baulichen Anlage ausgehend, richtet der Sprecher den
Blick auf die Opfer, deren Vernichtung dezidiert nicht in ihrer Drastik,
sondern als fast schon neutraler Prozess der Transformation geschildert
wird: „Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft –“ (v. 3 f.). Der
Gedankenstrich, mit dem der Satz abbricht, markiert nicht nur ein stummes
Innehalten, sondern scheint auch die Strömungsbewegung des Rauches zu
visualisieren. Doch die angesprochene ‚Auflösung‘ ist kein Vorgang, der
spurlos bleibt. Das verdeutlicht ein Stern, der als „Essenkehrer“ (v. 5) bzw.
Schornsteinfeger tätig ist und sich aufgrund des heraufziehenden Rauchs
„schwarz“ (v. 6) verfärbt. Auf diese Weise bleibt von der massenhaften
Ermordung ein untilgbares Erinnerungszeichen am Himmel zurück. Mit
diesem Bild korrespondiert die erste Illustration Rudi Sterns, die dem
Erstdruck der Wohnungen des Todes beigegeben ist (S ACHS 1947, 11), insofern,
als sie zwei Schornsteine eines Vernichtungslagers zeigt, aus denen eine
148 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

anthropomorphisierte Rauchwolke steigt. Der Verweis auf die Shoah erfolgt


somit auch über die paratextuelle Ebene der Illustrationen, die die Schorn‐
steine in eine deutliche Nähe zu den Konzentrationslagern setzen. Die sich
im Gedicht anschließende Frage: „Oder war es ein Sonnenstrahl?“ (v. 7)
bringt eine Unsicherheit zum Ausdruck, die wiederum vermuten lässt, dass
der Sprecher schon nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob der Rauch das
Sternen- oder das Sonnenlicht verhüllt. Das Bild der Sternverdunkelung –
das Sachs als Titel ihres zweiten Gedichtbands verwendet – verfestigt sich
bei ihr zu einer Metapher für die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des
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nationalsozialistischen Terrors.
Obwohl die Schornsteine nicht von den „Wohnungen des Todes“ zu
trennen sind, werden sie in der zweiten Strophe zu „Freiheitswege[n]“ (v. 9)
stilisiert. Aber von welcher Freiheit kann hier die Rede sein, wenn nur
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

„Flüchtlinge aus Rauch“ (v. 11) diesen Weg passieren? Möglicherweise ist
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die ‚Staubwerdung‘ der Propheten Jeremias und Hiob, die stellvertretend


für das jüdische Volk genannt werden, im Sinne einer religiösen Verheißung
zu verstehen: Denn die Zerstörung ihrer Physis ist die Bedingung – wie es
das Motto ankündigt –, um „Gott schauen“ zu können. Dieser Gedanke wird
jedoch nicht weiter vertieft, da über das Verb „erdachte“ (v. 10), das die erste
mit der zweiten Strophe verklammert, der Blick erneut auf die Täter gelenkt
wird. Dabei bezieht sich die rhetorische Frage nicht nur auf die Identität
derjenigen, die die Vernichtungslager konstruiert und erbaut haben, sondern
transportiert auch die Fassungslosigkeit des Sprechers darüber, dass diese
Baupläne überhaupt ausgeführt werden konnten. Die Perfidie der Konstruk‐
teure zeigt sich ferner darin, dass die „Wohnungen des Todes“ (v. 12), wie
es in der dritten Strophe heißt, „[e]inladend hergerichtet“ (v. 13) wurden. In
der Darstellung des Sprechers gilt diese ‚Herrichtung‘ aber offenbar nicht
den Gefangenen, sondern einer nur andeutungsweise umschriebenen Figur:
nämlich „de[m] Wirt des Hauses, der sonst Gast war“ (v. 14). Wird diese Figur
als der Tod identifiziert, dann markiert dieser Vers die eklatante Zunahme
seiner Präsenz. War er früher nur gelegentlich als „Gast“ gegenwärtig,
behauptet er nun als „Wirt“ eine Omnipräsenz, die jede Hoffnung auf
ein Entkommen zunichte macht. Diese Annahme wird gestützt durch die
Fokussierung auf die „Finger“, die eine „Eingangsschwelle“ (v. 15 f.) legen
und damit einen Grenzbereich zwischen Leben und Tod eröffnen. Indem
die „Finger“ synekdochisch auf den Akt der Selektion hinweisen (vgl. B AHR
1980, 81), wirken sie wie ein „Messer“ (v. 17), das potenziell zu töten vermag.
Angesichts dieser unmittelbaren Bedrohung versagen dem Sprecher die
4. Trauma 149

Worte, so dass die dritte Strophe mit einem Anakoluth endet. Durch den
Verzicht auf Verben in der letzten Strophe wird die Rede elliptisch zu einer
Klage über die Ermordung von „Israels Leib“ (v. 20) verdichtet, die durch die
wiederholte „O“-Apostrophe an Beschwörungskraft gewinnt.
Aufgrund der pathetischen Färbung dieser Klagerede hat Aris Fioretos
die Frage gestellt, ob es sich bei diesem Gedicht nicht um „Holocaustkitsch“
(F IORETOS 2010, 147) handele:
Deutet die Parallele zu den Propheten nicht an, daß die Vernichtung eine Prüfung
war, für die es nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Rechtfertigung
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gab? Und was macht man mit dem Schornstein? Ist das Hauptsymbol des
Gedichts nicht bedrückend überdeutlich? […] Vor allem: Was macht man mit dem
Gedanken, daß industriell ermordete Gefangene „Flüchtlinge aus Rauch“ sind –
als wäre der Tod kein grauenhaftes Unrecht, sondern eine sich selbst erfüllende
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Befreiung? (F IORETOS 2010, 148)

Zunächst impliziert die Rede vom „Holocaustkitsch“ den Vorwurf künstle‐


rischer Inadäquatheit. Doch nach welchen Kriterien soll die ästhetische
Angemessenheit bei einem Gedicht, in dem die Massenvernichtung der Ju‐
den thematisiert wird, beurteilt werden? Und würde mit der Kennzeichnung
vermeintlich künstlerisch unzureichender Lyrik nicht Adornos Diktum
reproduziert, solche Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch?
Davon abgesehen, ist die textbezogene Kritik, die Fioretos vorsichtig in Fra‐
geform formuliert hat, freilich nicht einfach abzuweisen. Selbstverständlich
lässt sich die Leiderfahrung der biblischen Propheten und die der Opfer
der Shoah keinesfalls parallelisierend gleichsetzen. Und selbstverständlich
erscheint es befremdlich, wenn die Schornsteine der Krematorien euphe‐
mistisch zu „Freiheitswege[n]“ umgedeutet werden, als hätten sie reelle
Fluchtmöglichkeiten geboten. Schon Ehrhard Bahr hat angemerkt, dass
somit „in der Metaphorisierung ein Trost gegeben [werde], der nur für den
Gläubigen verbindlich sein kann“ (B AHR 1980, 81). Doch ist nicht schon
die konsolatorische Ambition, die dem Gedicht eingeschrieben ist, eigens
anzuerkennen? Liegt eine Qualität des Gedichts nicht darin, einen religiös
aufgeladenen Gegenraum sichtbar zu machen, der zumindest spirituelle
Freiheit verheißt? Kommt dem Gedicht nicht zuletzt deshalb eine exponierte
Stellung zu, weil es eine Gedichtsammlung eröffnet, die „als umfassende
sprachliche Reflexion unterschiedlicher, von der Shoah ausgehender, Trau‐
mata gedeutet werden kann“ (O RTH 2016, 63 f.)? Bei der Zusammenstellung
ihrer Anthologie Fahrt ins Staublose (1961) wird Nelly Sachs noch einmal
150 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

die Bedeutung der Wohnungen des Todes betonen: „Fahrt ins Staublose muß
mit den Wohnungen beginnen und ihre Bahn durchschmerzen“ (S ACHS 1984,
272).

4.3. Stephan Hermlin: Zwischen Erinnern und Vergessen

Stephan Hermlins (1915–97) Gedicht Die Asche von Birkenau entsteht nicht
nur im gleichen Jahr (1949), in dem Theodor W. Adorno seinen Essay
Kulturkritik und Gesellschaft verfasst, sondern wird auch im gleichen Jahr
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(1951) erstmals veröffentlicht. Ohne von Adornos wirkmächtigem Verdikt


über Lyrik nach Auschwitz Kenntnis zu haben, veranschaulicht Hermlins
behutsame und zugleich eindringliche Gestaltung die Statthaftigkeit einer
lyrischen Thematisierung des größten deutschen Vernichtungslagers, das
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1941 errichtet und am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.
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Hermlin (eigentlich: Rudolf Leder) wird am 13. April 1915 in Chemnitz


als Sohn des jüdischen Unternehmers David Leder geboren. Wie Hermlin
rückblickend schildert, sei sein Vater „ein vorzüglicher Pianist“ gewesen, der
zudem Gemälde „vorwiegend französische[r] und deutsche[r] Impressionis‐
ten“ (H ERMLIN 1971, 1280) gesammelt habe. Geprägt von dieser künstleri‐
schen Atmosphäre seines Elternhauses beginnt Hermlin schon frühzeitig,
Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Nach seinem Eintritt in den
kommunistischen Jugendverband engagiert er sich in den Jahren 1933 bis
1936 im Kampf gegen den Faschismus. Nach einem einjährigen Aufenthalt in
Palästina gelangt Hermlin Anfang Oktober 1937 nach Frankreich und wird
seit Mai 1940 als Arbeitssoldat in Südfrankreich eingesetzt. Er flüchtet im
April 1943 in die Schweiz, wird aber sogleich in wechselnden Arbeitslagern
interniert. Gleichwohl hat Hermlin dort Gelegenheit, Gedichte Paul Éluards
(1895–1952) zu übersetzen und an der Flüchtlingszeitschrift Über die Grenzen
mitzuarbeiten. Außerdem verfasst er einen Zyklus von Balladen, die er
1945 als erste eigenständige Sammlung unter dem Titel Zwölf Balladen von
den Großen Städten publiziert. In diesen Balladen, die der Literaturkritiker
Max Rychner (1897–1965) als „moderne urbane Dichtung“ (R YCHNER 1945,
7) gewürdigt hat, entfaltet Hermlin eine Schmerzpoetik, „über die er die
Erfahrung des kollektiv erlebten Kriegstraumas zu vergegenwärtigen ver‐
sucht“ (I MMER 2017, 419). „Stephan Hermlin“, so hat der Literaturhistoriker
Hans Mayer (1907–2001) rückblickend geschrieben, „war der Lyriker eines
großen geschichtlichen Augenblicks: des antifaschistischen Kampfes und
der Befreiung von der Barbarei.“ (M AYER 1998, 247 f.)
4. Trauma 151

1945 kehrt Hermlin nach Deutschland zurück, wo er als Rundfunkredakteur


in Frankfurt am Main tätig wird. Ein Jahr später erscheint sein zweiter
Gedichtband Die Straßen der Furcht (1946), mit dem er „noch einmal die
Zeit des Exils“ (L ERMEN /L OEWEN 1987, 158) aufgreift. Mit der anschließenden
Übersiedlung nach Ost-Berlin beginnt Hermlins steiler Aufstieg zu einem der
einflussreichsten Schriftsteller der DDR. Das zeigt sich insbesondere an den
zahlreichen Ämtern, die er bekleidet: „Vizepräsident des deutschen Schriftstel‐
lerverbandes, Redaktionsbeirat der Zeitschrift Aufbau, Delegierter auf Schrift‐
steller-, Friedens- und Völkerkongressen, Mitglied des Zentralrats der FDJ,
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Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie der Künste
und Mitglied des Pen-Clubs“ (L ERMEN /L OEWEN 1987, 159). Zugleich häufen sich
die Preise, mit denen Hermlin für sein dichterisches Werk ausgezeichnet wird;
so erhält er beispielsweise 1947 den Berliner Fontanepreis für seine erweiterte
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Sammlung Zweiundzwanzig Balladen (1947). Darüber hinaus tritt Hermlin


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wiederholt als Vermittler zeitgenössischer Literatur in Erscheinung: zum


einen als Essayist, indem er gemeinsam mit Hans Mayer die Essaysammlung
Ansichten über einige neue Schriftsteller und Bücher (1947) veröffentlicht; zum
anderen als Übersetzer, indem er Gedichte von Paul Éluard, Pablo Neruda
(1904–73), Attila Jozsef (1905–37) und Nazim Hikmet (1902–63) ins Deutsche
überträgt. In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, dass
Hermlin seine Vita in Interviews und Selbstdarstellungen zunehmend dem
Lebenslauf eines idealtypischen Widerstandskämpfers anzupassen beginnt.
Insbesondere mit seinem autobiografisch gefärbten Erzähltext Abendlicht
(1979) suggeriert er, dass sein Vater im Konzentrationslager umgekommen
sei, dass er selbst im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft habe und dass er
als aktives Mitglied in der französischen Résistance tätig gewesen sei. Diese
Behauptungen sind inzwischen allesamt als Legendenbildungen entlarvt
worden (vgl. C ORINO 1996).
Nach der Publikation seiner ersten zwei Lyrikbände beginnt sich Hermlin
auch poetologisch mit der zeitgenössischen Dichtung auseinanderzusetzen.
In seinen Bemerkungen zur Situation der zeitgenössischen Lyrik (1947) regis‐
triert er zunächst die erhebliche Menge an lyrischen Neuerscheinungen,
um nach ihrer Durchsicht festzustellen: „Was es nicht gibt? Jene Gedichte,
die uns erschrecken, an denen etwas ist, was wir nie ganz verstehen –
Gedichte, die unser Leben ändern, die beim Weiterlesen von unbegreiflicher
Neuheit sind“ (H ERMLIN 1947, 186). Diesen Mangel führt er zum einen auf die
„unglückselige Spaltung in eine ‚innere‘ und ‚äußere‘ deutsche Dichtung“
(H ERMLIN 1947, 188) zurück, die sich seit 1933 intensiviert habe. Zum anderen
152 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

orientiere sich die moderne Dichtung verstärkt am hohen Ton Friedrich


Hölderlins (1770–1843) und Rainer Maria Rilkes (1875–1926), ohne selbst
innovative Schreibweisen hervorzubringen. Im Besonderen wendet sich
Hermlin gegen Johannes R. Becher (1891–1958), den ursprünglich expres‐
sionistischen Dichter und damaligen Präsidenten des am 8. August 1945
gegründeten „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“.
Hermlin ist der Meinung, dass Becher, der kurz zuvor seine Gedichtsamm‐
lung Heimkehr (1946) veröffentlicht hatte, sich zwar um einen „neuen
Realismus“ in der Lyrik bemühe, aber längst „in neo-klassizistischer Glätte
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und konventioneller Verseschmiederei gelandet“ (H ERMLIN 1947, 191) sei.


Am Ende seiner Bemerkungen fordert Hermlin die junge Dichtergeneration
dazu auf, nicht nur ästhetische Wagnisse einzugehen, sondern auch die
gegenwärtige internationale Dichtung produktiv zu rezipieren. Noch im
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

gleichen Jahr hält Hermlin die Rede Wo bleibt die junge Dichtung? auf dem
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ersten deutschen Schriftstellerkongress, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in


Berlin stattfindet. Darin greift er die allgemeine „Klage“ auf, derzufolge „die
junge Dichtung […] unfähig [sei], die erlebte Epoche auch nur annähernd
zu bewältigen“ (H ERMLIN [1947] 1983, 20). Auch wenn eigens diskutiert
werden müsste, wie die Forderung, „die erlebte Epoche […] zu bewältigen“,
konkret erfüllt werden sollte, verfolgt Hermlin die Frage, wie das skizzierte
Defizit auszuräumen sei. Während er sich von „der Richtung eines vulgären
Naturalismus“ und jener eines gekünstelten „Neoklassizismus“ distanziert,
votiert er programmatisch für einen „progressiven Realismus“ und eine
„praktisch-politische Literatur im weitesten Sinne“ (H ERMLIN [1947] 1983,
25). In diesen Horizont einer ästhetischen Neubestimmung ist Hermlins
Gedicht Die Asche von Birkenau einzuordnen.

Die Asche von Birkenau

Leicht wie später Wind, wie die Kühle,


Vorm Regen die Schwalbenbahn,
Wie Gewölk nach getränkter Schwüle,
Wie der Pollen vom Löwenzahn,
5 Leicht wie der Schnee auf den Lidern der Toten,
Wie ein alter Kinderreihn,
Wie Schmetterlingslast am roten
Mund der Nelke, leicht wie ein
Gericht, das die Kranken essen,
10 Wenn sie am Sterben sind,
4. Trauma 153

So leicht ist das Vergessen,


Wie Kühle und später Wind …

Wo Tag sich und Nacht verflechten,


Der Rost am Geleise frißt,
15 Ist die Asche der Gerechten, Ungerächten
Am Mast der Winde gehißt.
Birkenau ohne Birken
Liegt abends ganz allein,
Und die Disteln wirken
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20 Zeichen über den Stein.


Als auf den Feldern von Polen
Die Mittagsdistel erblich,
Hieß die Erde an meinen Sohlen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Entsinnedich …
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25 Schwer wie im Berg das Eisen,


Wie das Schweigen vor dem Entschluß,
Wie der Baumsturz an Nebelschneisen,
Wie auf unsern Lippen der Ruß
Von denen, die man verbrannte,
30 Schwer wie das letzte Fahrwohl,
Die man ins Gas sandte,
Waren des Lebens voll,
Liebten die Dämmerung, die Liebe,
Den Drosselschlag, waren jung.
35 Schwer wie vorm Sturm Wolkengeschiebe
Ist die Erinnerung.

Doch die sich entsinnen


Sind da, sind viele, werden mehr.
Kein Mörder wird entrinnen,
40 Kein Nebel fällt um ihn her.
Wo er den Menschen angreift,
Da wird er gestellt.
Saat von eisernen Sonnen,
Fliegt die Asche über die Welt.
45 Allen, Alten und Jungen,
Wird die Asche zum Wurf gereicht,
Schwer wie Erinnerungen
Und wie Vergessen leicht.
154 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die da Frieden sagen


50 Millionenfach,
Werden die Herren verjagen,
Bieten dem Tode Schach,
Die an die Hoffnung glauben,
Sehen die Birken grün,
55 Wenn die Schatten der Tauben
Über die Asche fliehn:
Lied des Todes, verklungen,
Das jäh dem Leben gleicht:
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Schwer wie Erinnerungen


60 Und wie Vergessen leicht.

Auschwitz-Birkenau, Sommer 1949


Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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(H ERMLIN 1951, 91 f.)

Das Gedicht gliedert sich in fünf Strophen, die jeweils aus zwölf kreuz‐
gereimten Versen bestehen. Eine einzige Ausnahme findet sich in der
vierten Strophe, in der das Reimschema an einer Stelle durchbrochen ist
(„angreift“ / „Sonnen“, v. 41, 43). Die drei- und vierhebigen Verse weisen
keine einheitliche metrische Form auf. Die in unregelmäßigem Wechsel
trochäisch, jambisch und bisweilen daktylisch gestalteten Verse enthalten
zahlreiche freie Füllungen.
Die erste Strophe des Gedichts besteht aus einer einzigen hypotaktischen
Satzkonstruktion, die mit einer Reihung mehrerer Vergleiche einsetzt.
Diesen Vergleichen kommt die Funktion zu, eine spezifische Gewichtslo‐
sigkeit bildhaft zu veranschaulichen. Referieren diese Analogiebildungen
zunächst auf den Gegenstandsbereich der Natur („Wind“, „Schwalbenbahn“,
„Gewölk“, „Pollen“, v. 1–4), ist bereits im fünften Vers von anonymen
„Toten“ die Rede. Die Fokussierung auf die menschliche Vergänglichkeit
findet ihre Fortsetzung, wenn im Anschluss jene Speise thematisiert wird,
die „die Kranken essen, / Wenn sie am Sterben sind“ (v. 9 f.). Diese Pa‐
rallelisierung von Vergleichsbildern aus unterschiedlichen semantischen
Bereichen erzeugt den Eindruck einer assoziativen Reihung, die aufgrund
ihrer quantitativen Ausdehnung die Spannungssteigerung befördert. Erst
am Ende der ersten Strophe wird kenntlich, dass es darum geht, primär
die Leichtigkeit und sekundär die Nicht-Verhinderbarkeit des Vergessens
zu konturieren. Indem mit der „Kühle“ und dem „Wind“ (v. 12) auf den
4. Trauma 155

Eingangsvers zurückverwiesen wird, entsteht eine Wiederholungsstruktur,


die auch die nachfolgenden Strophen kennzeichnet.
Im Unterschied zur Reflexion über das Vergessen erfolgt in der zweiten
Strophe eine Annäherung an den Gedenkort Auschwitz. Viereinhalb Jahre
nach der Befreiung des Vernichtungslagers werden dort bereits Zeichen
einer einsetzenden ‚Erosion‘ sichtbar: Während der „Rost am Geleise frißt“
(v. 14), wuchern die sich ausbreitenden Disteln „über den Stein“ (v. 20).
Dieser natürliche Verfallsprozess korrespondiert einerseits mit der Leich‐
tigkeit des menschlichen Vergessens, kontrastiert aber andererseits mit
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dem Erinnerungszeichen der ‚Totenasche‘ (v. 15), die noch immer in der
Atmosphäre präsent ist und von der Gegenwart der ermordeten Opfer zeugt.
Über die auffällige Homophonie „Gerechten, Ungerächten“ (v. 15) wird
explizit das Rachemotiv und implizit die Schuld der Täter angesprochen, die
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in der vierten Strophe erneut zur Sprache kommt. Das Possessivpronomen


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„meinen“ (v. 23) zeigt schließlich die Subjektivierung des retrospektiven


Vorgangs an: Der Besuch von Auschwitz wird als persönliche Erfahrung
eines lyrischen Sprechers kenntlich, der sich seinerseits von dem Gedenkort
zu einer aktiven Erinnerungsleistung herausgefordert fühlt: „Hieß die Erde
an meinen Sohlen / Entsinnedich …“ (v. 23 f.). Auffällig ist im Erstdruck
das fehlende Spatium zwischen dem Imperativ „Entsinne“ und dem Posses‐
sivpronomen „dich“, das beim Wiederabdruck des Gedichts an dieser Stelle
eingefügt wird (H ERMLIN 1952, 8). Die Verschmelzung von „Entsinne“ und
„dich“ lässt den Eindruck entstehen, als würde der Sprecher ein undeutliches
Raunen vernehmen, dem ein Gedenkimpuls eingeschrieben ist, der erst
‚entziffert‘ werden muss. Darüber hinaus verweist der komprimierte Begriff
„Entsinnedich“ auf den analogen Pflanzennamen ‚Vergißmeinnicht‘, dem
auch das Gedenken inhärent ist.
Die dritte Strophe ist komplementär auf die erste Strophe bezogen: Nach‐
dem eingangs das leichte Vergessen thematisiert wurde, liegt der Akzent
nun auf dem schweren Erinnern. Erneut wird das Stilmittel des Vergleichs
genutzt, um die Qualität des Gedächtnisvorgangs zu kennzeichnen. Auch
wenn dabei mehrmals auf den Gegenstandsbereich der Natur rekurriert
wird („im Berg das Eisen“, „Baumsturz“, „vorm Sturm Wolkengeschiebe“,
v. 25, 27, 35), geht es in dieser Strophe vorwiegend um die Opfer des
Vernichtungslagers. Mit der Fokussierung auf jene, „die man verbrannte“
(v. 29), verbindet sich die Erfahrung der gleichsam haptischen Präsenz ihrer
durch das Feuer zerstörten Körper. Denn der „Ruß“, der von diesem Akt der
Auslöschung zeugt, setze sich nun auf „unsern Lippen“ (v. 29) ab. Damit
156 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

wird das Motiv der Totenasche aus der zweiten Strophe erneut aufgegriffen.
Darüber hinaus erstreckt sich das Gedenken auch auf jene Opfer, die „man
ins Gas sandte“ (v. 31). Das Ausmaß dieser Vernichtung wird anhand der
abrupten Tilgung menschlicher Lebenspotenziale kenntlich gemacht: Die
Ermordeten „Waren des Lebens voll / Liebten die Dämmerung, die Liebe, /
Den Drosselschlag, waren jung“ (v. 32–34). Dieser einschneidende Verlust
verdeutlicht, warum das Erinnern als derart schwer eingestuft wird: Das
Gedenken löst nicht nur Schmerz und Trauer aus, sondern bringt auch die –
freilich im Gedicht nicht ausdrücklich artikulierte – Erfahrung mit sich, dass
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mit wachsendem zeitlichen Abstand allmählich das Vermögen zu schwinden


beginnt, sich differenziert und detailliert der Opfer zu erinnern.
Einer solchen nachlassenden Rekonstruktionsleistung ungeachtet wird
eingangs der vierten Strophe emphatisch behauptet, dass sich die Zahl
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

derjenigen, „die sich entsinnen“ (v. 37), stetig vergrößere. Der intersubjek‐
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tive Blick auf die jüngste Vergangenheit geht mit einer Reflexion über die
Schuldverhältnisse einher. Den Tätern wird in Aussicht gestellt, dass sie für
ihre Verbrechen haften müssen: „Kein Mörder wird entrinnen, / Kein Nebel
fällt um ihn her.“ (v. 39 f.) Der optimistische Absolutheitsanspruch, aller
Täter habhaft zu werden, wird in eine allgemeine anthropologische Maxime
von gerechter Koexistenz überführt: „Wo er den Menschen angreift, / Da
wird er gestellt.“ (v. 41 f.) Zwar ließe sich das Personalpronomen „er“
grammatisch auch auf den zuvor genannten „Nebel“ beziehen. Da jedoch
ausdrücklich vom ‚Angreifen‘ die Rede ist, erscheint es plausibler, eine
Relation zu den „Mörder[n]“ herzustellen, deren Vergehen nicht ungesühnt
bleiben. Die thematische Zäsur, die im Anschluss erfolgt, wird durch die
fehlende Reimbindung „angreift“ / „Sonnen“ (v. 41, 43) noch verstärkt.
Während die Asche der Ermordeten einerseits auf die genannten „Mörder“
zurückverweist, avanciert sie andererseits zu einer „Saat“ (v. 44), die sich
über die gesamte Welt zu verteilen beginnt. Indem sie „Allen, Alten und
Jungen, / […] zum Wurf gereicht“ (v. 45 f.) wird, gewinnt die Asche die
Qualität eines universalen Erinnerungssymbols. Zugleich alludiert das Dar‐
bieten der Asche „zum Wurf“ den Gestus des Erdewerfens bei Beerdigungen.
In der nachgestellten Erläuterung, in der das eigentümliche Gewicht der
Asche zur Sprache kommt, werden erste und dritte Strophe synthetisiert:
„Schwer wie Erinnerungen / Und wie Vergessen leicht.“ (v. 47 f.)
Mit dem typographisch hervorgehobenen Signalwort „Frieden“ (v. 49),
das die abschließende fünfte Strophe einleitet, wird ein optimistischer
Ausblick auf die Zukunft geboten. Der Friedenswunsch wird von einer
4. Trauma 157

Gemeinschaft artikuliert, die sich aktiv für die Realisierung dieses Ziels
einsetzt: indem sie ihn „millionenfach“ (v. 50) und folglich mit höchster
Dringlichkeit einfordert; indem sie die alten „Herren verjag[t]“ (v. 51) und
Raum für eine menschliche Nachkriegsordnung schafft; und indem sie sich
nachdrücklich dem Leben zuwendet und „dem Tode Schach“ (v. 52) bietet.
Angesichts dieser Aussicht kann den Bildern der Vergänglichkeit aus der
zweiten Strophe nun ein Bild der Vitalität entgegengesetzt werden: „Die
an die Hoffnung glauben, / Sehen die Birken grün“ (v. 53 f.). Über das
im gleichen Satz genannte Motiv der fliegenden Tauben wird eine semanti‐
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sche Beziehung zum zuvor thematisierten „Drosselschlag“ (v. 34) gestiftet.


Zugleich bewegen sich die „Schatten der Tauben“ über das nach wie vor
präsente Erinnerungszeichen der „Asche“ (v. 56). Mit dem anschließenden
Doppelpunkt setzt ein Wechsel von der visuellen zur akustischen Ebene
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ein: Das „Lied des Todes“, das das Gedicht ‚hörbar‘ gemacht hat, ist zwar
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inzwischen „verklungen“, gleiche aber nun „jäh dem Leben“ (v. 57 f.). Diese
Überlagerung von Mortalität und Vitalität, die im bildlichen Nebeneinander
von mahnender Asche und grünenden Birken zur Geltung kommt, erzeugt
die Vorstellung einer Kopräsenz von Vergangenheit und Zukunft. Über
die „Figur der wiederholenden Wiederkehr“ (L ERMEN /L OEWEN 1987, 188)
werden die Schlussverse der vierten Strophe erneut aufgerufen, in denen
eine Warnung anklingt: Während es ausgesprochen schwer bleibe, die
Erinnerung an die Getöteten zu bewahren, sei es verführerisch leicht, sich
künftig dem Vergessen hinzugeben. Die Hoffnung auf den Frieden, den die
Taube symbolisch anzeigt, muss daher mit der Verpflichtung einhergehen,
das Andenken an die Opfer von Auschwitz lebendig zu erhalten. Ein Jahr
nach dem Erstdruck hat Hermlin das Gedicht Terzinen gemeinsam mit Die
Asche von Birkenau unter dem Titel Erinnerungen zu Beginn seiner dritten
Gedichtsammlung abgedruckt (H ERMLIN 1952, 5–11). Diese Sammlung, auf
deren Umschlag eine Taube abgebildet ist, trägt bezeichnenderweise den
Titel Der Flug der Taube.

4.4. Ceija Stojka: Die geraubte Kindheit

Ceija Stojka (eigentlich Margarete Horvath-Stojka, 1933–2013) stammt aus


einer österreichischen Roma-Familie, die mehrheitlich dem Holocaust zum
Opfer gefallen ist (vgl. Z ANDER 2017, 290). Im Alter von neun bis elf Jahren
gelingt es ihr, zwei Jahre in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravens‐
brück und Bergen-Belsen zu überleben. Erst gegen Ende der 1980er Jahre
158 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

beginnt sie, ihren traumatischen Erfahrungen sprachlichen und bildlichen


Ausdruck zu verleihen. Neben den autobiografischen Schriften Wir leben im
Verborgenen (1988) und Reisende auf dieser Welt (1992) entstehen zunehmend
auch Gedichte und Gemälde, in denen sie sich mit ihrer Vergangenheit
auseinandersetzt. Eine zweisprachige Sammelausgabe von Stojkas Lyrik
erscheint unter dem Doppeltitel Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht /
O fallo de isgri – me tschischanaf les (2003). Somit stellen die Gedichte einen
Sonderfall dar: Sie sind nicht in direkter zeitlicher Nähe zum Porrajmos –
d. h. zum Völkermord an den europäischen Roma – verfasst worden, zeugen
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aber unmittelbar von dessen verheerenden Auswirkungen. Dabei wird


die grausame Lageratmosphäre vielfach aus einer kindlich-staunenden,
gleichsam ‚naiv‘ wirkenden Perspektive dargeboten.
Ceija Stojka wird am 23. Mai 1933 in Krautbath, einem Dorf in der
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Steiermark, geboren. Zusätzlich zu dem Namen Margarete, auf den sie


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getauft wird, erhält sie den Roma-Namen Ceija (‚Mädchen‘; R AHE 2019,
233). Sie gehört zum Stamm der Lovara, der traditionell vom Pferdehandel
lebt. Nach dem ‚Anschluss‘ von Österreich im März 1938 beginnen sich die
Lebensumstände für die Familie zusehends zu verschlechtern. Nachdem den
Roma-Kindern ab Mai 1938 der Schulbesuch verboten worden ist, untersagt
man den Roma durch den sogenannten Festsetzungserlass gut ein Jahr
später, ihren Aufenthaltsort zu verlassen (vgl. R AHE 2019, 234). 1941 wird
Stojkas Vater von der Gestapo verhaftet und nach Dachau gebracht; erst
2003 erfährt sie, dass er „1942 von Dachau in die Euthanasieanstalt Hartheim
deportiert wurde und dort der Tötungsaktion T4 zum Opfer fiel“ (S TOJKA
2008, 128). Am 31. März 1943 werden Stojka, ihre Mutter und ihre Geschwis‐
ter verhaftet und bald darauf ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
gebracht. Über ihre dortige Ankunft schreibt Stojka aus der Erinnerung: „So
sind wir angekommen in Auschwitz-Birkenau. Ein verfluchtes Stück Erde,
ein gottvergessenes Stück Erde. An einem Tag haben sie dort sechstausend
Menschen ermordet.“ (S TOJKA 2008, 22) Am Tag nach der Ankunft werden
ihr „der Name genommen“ und die Gefangenennummer ‚Z 6399‘ (‚Z‘ für
‚Zigeuner‘) zugewiesen: „Auschwitz war die Hölle. Wir sahen jeden Tag
Menschen sterben, kleine Kinder, Säuglinge, alte Menschen.“ (S TOJKA 2008,
24) Den Torturen des Lageralltags mit „Appellstehen, Hunger und Gewalt
durch die SS“ (R AHE 2019, 237) ist die damals neun- bzw. zehnjährige Stojka
ca. 17 Monate ausgesetzt. Kurz bevor die in Auschwitz verbliebenen 3.000
Sinti und Roma in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 in den Gaskammern
ermordet werden, erfolgt die Überstellung von Stojka, ihrer Mutter und
4. Trauma 159

ihrer Tante ins Frauenlager Ravensbrück. In den fünf Monaten, die sie
dort durchleben muss, entgeht sie nur knapp einer Zwangssterilisierung
(S TOJKA [1988] 1995, 52). Gemeinsam mit ihrer Mutter gelangt sie im Januar
1945 in das Vernichtungslager Bergen-Belsen, wo sie unter katastrophalen
Bedingungen mehrere Monate zubringen muss, bis das Lager am 15. April
1945 von den britischen Truppen befreit wird. Thomas Rahe hat bilanziert,
dass „von den etwa 200 Mitgliedern der Großfamilie […] neben Ceija, ihrer
Mutter und ihren vier Geschwistern nur einige wenige Angehörige die
NS-Verfolgung überlebt“ (R AHE 2019, 238) haben. In ihrer autobiografischen
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Schrift Reisende auf dieser Welt schildert Stojka den Verlauf ihres weiteren
Lebens nach der Befreiung. Während das österreichische Innenministerium
Ende der 1940er Jahre schon wieder gegen vermeintlich „lästige Zigeuner“
(zit. nach S TOJKA [1988] 1995, 12) vorzugehen beginnt, ist Stojka nicht zuletzt
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

aufgrund ihrer frühen Mutterschaft zur „Flucht in die Normalität“ (Z ANDER


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2017, 308) gezwungen. Ihr damit einhergehender Verzicht, in der frühen


Nachkriegszeit die Gräuel der Vernichtungslager zu thematisieren, ist jedoch
auch auf die Roma-Tradition zurückzuführen, „sich unauffällig zu verhalten
und innerfamiliäre Erfahrungen nicht in die Öffentlichkeit der Gadje, der
Nicht-Roma, gelangen zu lassen“ (K ANNING 2016, 111). Erst der Austausch
mit der Regisseurin Karin Berger gibt Stojka den entscheidenden Impuls,
ihre autobiografischen und dichterischen Texte zu publizieren. Ihr hat
Stojka außerdem die traumatisierende Wirkung der kindlichen Erlebnisse
anvertraut: „Ich träum immer davon. Vom Stacheldraht, vom Gestöhne und
vom Schreien der Menschen. Alpträume. […] Ich hab es ja echt erlebt, und
mit großer Angst, jeden Tag.“ (S TOJKA [1988] 1995, 105)
Angesichts dieses „perennierende[n] Leiden[s]“ (A DORNO [1966] 2013,
355) hat Stojka die existenzielle Dringlichkeit ihrer künstlerischen Betäti‐
gung geltend gemacht: „Es vergeht kein Tag, wo ich mich nicht mit meinem
Bleistift oder mit dem Pinsel hinsetze.“ (S TOJKA 2008, 32) Dabei entfalte
das Schreiben eine geradezu therapeutische Qualität: „Wenn ich etwas
geschrieben habe, habe ich mich davon gelöst. Dann liegt eine Geschichte
vor mir oder ein Gedicht […], und ich weiß, ich bin jetzt ein bisschen erlöst.“
(S TOJKA 2008, 32) Krista Hauser hat festgehalten, dass die Texte, die im
Zuge dieser Schreibprozesse entstehen, recht vielfältig sein können: Neben
„Sprachspielen“ und „poetische[n] Miniaturen“ finden sich auch „immer
wieder beängstigende [lyrische] Rückblenden“ (S TOJKA 2003, 8) in ihrem
Werk. Ihr Gedicht Noch hängen die Tränen … stellt ein exemplarisches
Beispiel dieser Form der Erinnerungslyrik dar:
160 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Noch hängen die Tränen


im Augenwinkel fest
Ein Schleier der Erinnerungen
hält sie
und lässt sie nicht los
Doch wehe wenn eine
aus dem Augenwinkel rollt
dann ist niemand im Stande
sie aufzuhalten
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(S TOJKA 2003, 50)

Während sich das ausgestellte Tränenmotiv im Horizont der Tränenpoetik


lesen lässt, die in Paul Celans (1920–70) Gedicht Stimmen Kontur gewinnt,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

hat Stojka die Frage nach ihren lyrischen Vorbildern weitgehend abgewie‐
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sen: „Alles, was ich schreibe, schreibe ich für mich, alles, was mir gefällt, was
mir einfällt.“ (S TOJKA 2003, 8) Mit Verweis auf Stojkas fehlende Schulbildung
hat Susan Tebbutt kenntlich gemacht, dass Stojka kaum „in a particular
literary tradition“ (T EBBUTT 2005, 48) zu sehen sei. Gleichwohl zeuge ihre
Lyriksammlung Meine Wahl zu schreiben von einem originären künstleri‐
schen Gestaltungsbewusstsein. Das belegt vor allem die Kombination aus
den mehrheitlich zweisprachigen (deutsch/romanes) Gedichten und Stojkas
Gemälden und Zeichnungen, auf denen mitunter die Ursprungsfassungen
der Gedichte notiert sind (vgl. z. B. Das was wir suchen …; S TOJKA 2003, 20 f.).
Die Gedichte selbst sind von Gerald Kurdoğlu Nitsche, dem Herausgeber der
Lyriksammlung, vor der Drucklegung lektoriert und „rektifizier[t]“ (S TOJKA
2003, 10) – d. h. ‚berichtigt‘ – worden.
Wie noch zu zeigen ist, steht das Gedicht Auschwitz 1944 in enger thema‐
tischer Beziehung mit dem Folgegedicht Stacheldraht … (S TOJKA 2003, 17; vgl.
K ANNING 2016, 112). Gleichwohl bildet es mit diesem keine formale Einheit,
wie Tebbutt angenommen hat (vgl. T EBBUTT 2005, 48, 60). Es ist denkbar,
dass Stojka mit der Jahresanzeige des Titels an die Massenvernichtung der
Sinti und Roma in Auschwitz Anfang August 1944 erinnert. In Wir leben im
Verborgenen schreibt sie über die Vorbereitung dieses Verbrechens:
Es war ganz fürchterlich, die Kinder schrien und auch die Kranken, wir hatten
alle große Angst. […] Unsere Mama sagte zu uns: „Agana awillas o zeito, igren
ame anen dumaro.“ (Jetzt ist es soweit, ihr müßt mir alle die Hand geben und
4. Trauma 161

euch an meinem Rock festhalten.) […] Wir marschierten zum Krematorium. Der
Boden unter unseren Füßen war sehr heiß und schwarz, Menschenstaub. (S TOJKA
[1988] 1995, 30 f.)
Auschwitz 1944

Ein Gedränge ist hier


Wir müssen gehen
Doch dürfen wir
Unsre Kinder
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5 Nicht verlieren
Vorbei ist es bald
Ihr werdet sehen
Und drüben ist es schön
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Nun meine Kinder


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10 Wir haben es geschafft


Kommt her zu mir
Denn auf dem Schornstein
Ist noch Platz
Und seht hinunter auf die Armen
15 Die sich noch durch das Leben plagen
Und zu uns Arme Seelen sagen

(S TOJKA 2003, 16)

Stojkas Gedicht, das aus sechzehn Kurzversen besteht, die der Alltagsspra‐
che angenähert sind, enthält – vom Titel abgesehen – keine zeitlichen und
räumlichen Konkretisierungen. Ein Kollektivsprecher, der eingangs über
das „Wir“ (v. 2) markiert wird, gibt sich als ein Elternteil zu erkennen,
das um seine „Kinder“ (v. 4) besorgt ist. Seine Rede vom „Gedränge“ (v. 1)
lässt an eine große Menschenmenge denken, der offenbar auch zahlreiche
Eltern oder Elternteile angehören, die wiederum auf ihre Kinder achtgeben.
Ihre Fürsorge kommt in dem anschließenden Appell zum Ausdruck: „Doch
dürfen wir / Unsre Kinder / Nicht verlieren“ (v. 3–5). Darüber hinaus sind
sie darum bemüht, ihren Nachkommen Hoffnung zu machen: „Vorbei ist
es bald“ (v. 6). Auch wenn unausgesprochen bleibt, worauf sich das „es“
bezieht, lässt sich mit Rekurs auf den Titel erschließen, dass damit die
qualvollen Lebensumstände im Vernichtungslager Auschwitz indirekt zur
Sprache kommen. Angesichts dieser Situierung wirkt der Ausblick auf eine
gleichsam paradiesische Zukunft eher wie eine utopische Hoffnung: „Ihr
162 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

werdet sehen / Und drüben ist es schön“ (v. 7 f.). Dass jenes „drüben“ als
euphemistische Anspielung auf den Bereich des Todes zu verstehen ist,
verdeutlicht der zweite Teil des Gedichts.
Das Signalwort „Schornstein“ (v. 12) verweist metonymisch auf die
Krematorien und symbolisch auf die Verbrennung der gefangenen Lagerin‐
sassen. Das Temporaladverb „Nun“ (v. 9) markiert eine zeitliche Sukzession:
Nachdem die Sprecherfigur zunächst ihre Kinder beschützt und ihnen
eine harmonische Zukunft angekündigt hat, ist sie gemeinsam mit ihren
Nachkommen am erhofften Ziel angekommen. Während in der Aussage
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„Wir haben es geschafft“ (v. 10) die Erleichterung darüber anklingt, Ausch‐
witz endlich entflohen zu sein, legt ihre räumliche Position nahe, dass die
Familie nicht mehr am Leben ist. Denn die Sprecherfigur, die sich „auf dem
Schornstein“ (Hervorhebung nicht im Original, v. 12) niedergelassen hat,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

kann dort nur durch den Schornstein hingelangt sein. Die neue Existenzform
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bietet den Getöteten die Möglichkeit, das Geschehen gleichsam aus der Vo‐
gelperspektive zu beobachten. Anteilnehmend schauen sie auf jene „Armen
[herab] / Die sich noch durch das Leben plagen / Und zu uns Arme Seelen
sagen“ (v. 14–16). Der veränderte Blickpunkt führt zur Umkehrung der
Wahrnehmung: Nicht mehr die Toten sind die „Arme[n] Seelen“, sondern
diejenigen, die noch immer in Auschwitz ausharren müssen. Wie im Falle
von Nelly Sachs’ Gedicht O die Schornsteine … bleibt auch hier anzumerken,
dass der Gewaltakt, Menschen im Krematorium zu vernichten, zu einer
Fluchthoffnung verklärt wird.
Wird Stojkas Gedicht Auschwitz 1944 nun in Verbindung mit dem Fol‐
gegedicht Stacheldraht gelesen, kann festgehalten werden, dass sich „die
Perspektiven des erinnernden Kollektivs der erwachsenen Überlebenden,
die im Lager Kinder waren, mit den imaginierten Blicken der ermordeten
Eltern“ (K ANNING 2016, 112) durchdringen. Während es in Auschwitz 1944
die Toten sind, denen Stojka eine Stimme verleiht, wird in Stacheldraht
die Lageratmosphäre aus kindlicher Perspektive geschildert. Durch die
Kombination dieser Blickwinkel erzeugt sie „den dialogischen Effekt eines
Gesprächs der Toten mit den Lebenden“ (K ANNING 2016, 113). Zugleich
avancieren die Gedichte zu Erinnerungsmedien, die den Massenmord an den
Roma und Sinti sichtbar machen und im kollektiven Gedächtnis bewahren.
Dass sich Stojka immer wieder mit dem Zentralthema ‚Auschwitz‘ ausein‐
andergesetzt hat, belegt beispielsweise ihr Ende Mai 1995 verfasstes Gedicht
Ich Ceja sage … (S TOJKA 2003, 24). Das einleitende persönliche Bekenntnis
legt die andauernde und nicht endende Nachwirkung ihres Lebenstraumas
5. Gesellschaftskritik 163

offen: „Ich / Ceja / sage / Auschwitz lebt / und atmet / noch heute in mir“
(S TOJKA 2003, 24). In diesen Versen deutet sich an, welche Präsenz der einstige
Ort der Massenvernichtung beansprucht: Er „lebt und atmet“ als gleichsam
eigenständige Entität, wodurch die Anmutung eines ungeborenen Kindes
entsteht, das die Sprecherfigur in sich trägt. Doch im Gegensatz zu dieser
lebensbejahenden Vorstellung wird Auschwitz erneut als Ort der radikalen
Lebensverneinung gekennzeichnet. Die Erinnerung an das Erlebte bleibt
nicht nur unauslöschbar, sondern überformt auch die Gegenwart: „Ich habe
gesehen / alles ist wieder da / alles ist wieder nah“ (S TOJKA 2003, 24). In
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ihrem autobiografischen Gedicht auschwitz ist mein mantel, das als ein „ent‐
scheidende[r] Schlüsseltext zu Ceijas Umgang mit dem KZ-Trauma gedeutet
werden kann“ (Z ANDER 2017, 311), hat Stojka mittels der Metapher der Klei‐
dung kenntlich gemacht, wie sehr die Kindheitserlebnisse sie umschließen:
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

„auschwitz ist mein mantel, / bergen-belsen mein kleid / und ravensbrück


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mein unterhemd.“ (S TOJKA 2008, 5) Der gewählte Bildbereich wirkt auf den
ersten Blick irritierend, dient doch die Kleidung üblicherweise dazu, Wärme
zu spenden und den persönlichen Modegeschmack anzuzeigen. Bezogen auf
Stojkas Vergangenheit handelt es sich hierbei offenbar um textile Schichten,
die nicht abstreifbar sind und Lebenswärme zu nehmen scheinen. Zugleich
veräußerlichen sie die traumatischen Kindheitserlebnisse als Zeichen ihres
persönlichen Schicksals. Wird der Blick auf Stojkas weiteres künstlerisches
Schaffen gerichtet, lässt sich feststellen, dass auch in ihren Gemälden und
Zeichnungen das Vernichtungslager und die damit verbundenen Gewalter‐
fahrungen immer wieder auftauchen. Am eindrücklichsten vergegenwärtigt
das vielleicht ihr Zyklus Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz, der aus etwa
180 Blättern besteht (R AHE 2019, 239; auszugsweise S TOJKA 2008, 102–115).

5. Gesellschaftskritik

5.1. Poetologische Hinführung

„Ich habe mich eigentlich, wenn ich von meiner eigenen Produktion ab‐
sehe (was ohne weiteres geschehen kann), niemals besonders für Lyrik
interessiert“ (B RECHT 1977a, 7). Dies behauptet Bertolt Brecht (1898–1956)
gleich zu Beginn seines Aufsatzes Kurzer Bericht über 400 (vierhundert)
junge Lyriker, den er in der Literaturzeitschrift Die Literarische Welt 1927
veröffentlicht. Anlass ist ein von dem Magazin ausgelobter Wettbewerb für
164 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

junge Dichter. Der damals 29-jährige Brecht war als Preisrichter für genau
jenes Genre vorgesehen, für das ihm angeblich jedwede Begeisterung und
tieferes Verständnis fehlte. Während Alfred Döblin (1878–1957) und Herbert
Ihering (1888–1977) Preisträger in den Kategorien ‚Roman‘ und ‚Drama‘
küren, lehnt Brecht alle eingesandten Gedichte ab und lässt stattdessen
ein Lied von Hannes Küpper (1897–1955) über den australischen Bahnrad‐
rennfahrer Reginald McNamara abdrucken (vgl. K ITTSTEIN 2012, 5). Kein
zeitgenössischer Lyriker scheint Brecht preiswürdig. Dass der Preis in der
Kategorie ‚Dichtung‘ nicht vergeben wird, führt zu einer heftigen Debatte.
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Brecht erscheint als enfant terrible dieses kleinen Literaturskandals. Denn


mit den jungen Dichtern verwirft Brecht gleichzeitig deren Vorbilder: Rainer
Maria Rilke (1875–1926), Stefan George (1868–1933) und Franz Werfel
(1890–1940).
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

An diesem Literaturpreisskandal lässt sich gleichzeitig eine markante


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Wende im deutschen Lyrikverständnis des 20. Jahrhunderts erkennen.


Brechts polemische Haltung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er
durchaus eine alternative Lyrikvorstellung vertritt. Sein Kokettieren mit
dem Status, ein vermeintlich lyrisch Uninteressierter zu sein, gehört zu
einer Selbstinszenierungsstrategie, die Ausdruck eines neuen lyrischen
Funktionsprofils ist: Brecht hebt die politische Dimension des Gedichts und
sein gesellschaftskritisches Potenzial nachdrücklich hervor. So betont er
im Aufsatz Weder nützlich noch schön (1927), mit dem er auf die Kritik an
seiner Entscheidung reagiert, „den Ernst des Aspektes“ (B RECHT 1977b, 13).
Keineswegs geht es Brecht darum, die deutschsprachige Lyrik in Bausch
und Bogen lächerlich zu machen. Vielmehr nutzt er die Polemik, um seine
eigene Auffassung gegenüber der etablierten Lyrikvorstellung zu behaup‐
ten. Gleichzeitig präsentiert er so einen Gegenentwurf zu den Lyrikern
seiner Generation und hält fest, dass Gedichte einen „Gebrauchswert“,
nämlich „den Wert von Dokumenten“ bzw. einen „dokumentarischen Wert“
haben müssen (B RECHT 1977a, 8 f.). Lyrik habe eine Funktion für die Gesell‐
schaft und dürfe sich nicht im Ästhetizismus erschöpfen. In Weder nützlich
noch schön korrespondieren mit dem „Gebrauchswert“ unterschiedliche
Varianten des Lexems ‚Nutzen‘, die insgesamt sechsmal erwähnt werden.
Kurz gesagt: Der „Gebrauchswert“ eines Gedichts ergibt sich aus seinem
gesellschaftlichen Nutzen. Gedichte, „deren Inhalt aus hübschen Bildern
und aromatischen Wörtern“ besteht, lehnt Brecht kategorisch ab (B RECHT
1977a, 8). Der „Gebrauchswert“ von Lyrik steht somit einer elitären Ästhetik
gegenüber, die vor allem das Schöne und Verspielte der Lyrik betont (vgl.
5. Gesellschaftskritik 165

L AMPART 2013, 121). Vielmehr solle sich Lyrik an der Realität orientieren.
Ein Gedicht müsse laut Brecht etwas „beweisen“ (B RECHT 1977d, 50). Damit
positioniert er sich beispielsweise gegen die Naturlyrik seiner Epoche. Weil
sich die zeitgenössische Gesellschaft an einem Krisenpunkt befinde, sei es
Zeit für eine „‚handelnde‘ Lyrik“ – die vermeintlich „zeitlose Schönheit einer
Landschaft“ sei daher nicht mehr „der gebotene Gegenstand für Dichtung“
(H INCK 1994, 254). In Brechts Verständnis besitzt Lyrik eine eminent politi‐
sche Dimension: „Was nützt es, mehrere Generationen schädlicher alter
Leute totzuschlagen oder, was besser ist, totzuwünschen, wenn die jüngere
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Generation nichts ist als harmlos?“ (B RECHT 1977a, 9) Hier agiert Brecht
als engagierter Dichter: Während sich in der Dichtung das Verhältnis des
Individuums zur Gesellschaft manifestiert, steht der Dichter mit seiner Lyrik
im Dienst der Gesellschaft. Er muss eine Haltung haben und diese vertreten,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

um damit seine Rezipientinnen und Rezipienten zu ‚erziehen‘. Der Dichter


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darf nicht abseits stehen und Unrecht geschehen lassen, indem er sich in
eine wirklichkeitsferne Ästhetik flüchtet.
Diese Forderung nach einem politischen „Gebrauchswert“ korreliert
mit der Zunahme eines marxistisch geprägten Impetus, der die politische
Dimension um eine soziale erweitert. In der Schrift Über die ‚Svendborger
Gedichte‘ (1938) vollzieht Brecht seine Entwicklung zum politisch engagier‐
ten, marxistischen Autor. Der Dichter sei Handelnder, der „unter Polizisten“
wandele: „Der Kapitalismus hat uns zum Kampf gezwungen. […] Ich gehe
nicht mehr ‚im Walde so für mich hin‘, sondern unter Polizisten.“ (B RECHT
1977e, 74 f.) Damit verbunden ist eine dezidierte Hinwendung zu den
Lesenden: „Die Wahrheit aber kann man nicht eben schreiben; man muß
sie durchaus jemandem schreiben, der damit etwas anfangen kann. Die
Erkenntnis der Wahrheit ist ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer
Vorgang.“ (B RECHT 1997, 171) Lyrik ist kein zweckfreier Ausdruck, sondern
Handlungsanweisung für eine bestimmte soziale Gruppe. Gedichte sind
Teil einer Moraldidaxe, die eine Bevölkerungsgruppe zum Adressaten hat.
Brecht sieht als Zielgruppe seiner Dichtung das Proletariat.
Die formalen und stilistischen Konsequenzen aus dieser Lyrikvorstellung
führt Brecht in Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen und
dem ergänzenden Nachtrag in der Zeitschrift Das Wort 1939 aus (B RECHT
1977 f, 77–87; B RECHT 1977g, 87 f.). Brechts Lyrik orientiert sich an freien
Rhythmen, gibt dem Vers eine wesentliche Strukturierungsfunktion und
imitiert die gesprochene Sprache. Damit wird die Integration alltäglicher
Ausdrücke im „Tonfall der direkten, momentanen Rede“ ermöglicht und die
166 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

„Sprechweise des Alltags“ nachgeahmt (B RECHT 1977g, 88). Brechts Lyrik‐


theorie fordert eine Abkehr vom traditionell Lyrischen. Er bestimmt sowohl
den Lyrikbegriff als auch seine Grundlagen neu: Brechts Lyrik liegt eine
‚politische Gebrauchsästhetik‘ zugrunde, die inhaltliche und formal-ästheti‐
sche Implikationen besitzt. Diese Neubestimmung deduziert Brecht aus den
gesellschaftlichen Zeitumständen der ausgehenden Weimarer Republik und
des erstarkenden Nationalsozialismus. Seine ‚politische Gebrauchsästhetik‘
führt er sowohl im Exil als auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)
und in der DDR weiter. Die Lyrik soll zwar auf die Gesellschaft wirken,
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allerdings eine direkte politische Stellungnahme meiden:


Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche
nehmen, wenn die Dinge, von denen sie handeln, nicht in ihrer lebendigen, d. h.
allseitigen, nicht zu Ende gekommenen und nicht zu Ende zu formulierenden
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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Form auftreten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Tendenzlyrik.


(B RECHT 1977c, 25)

Die spezifische Dialektik seiner ‚Gebrauchsästhetik‘ liegt darin, simplifizie‐


rende politische Stellungnahmen zu vermeiden. Vielmehr gehe es darum, die
gesellschaftlichen Problemlagen in ihrer Komplexität lyrisch transparent zu
machen.
Nach 1945 avanciert Brecht zum Vertreter einer politischen Lyrik, die
sich an den herrschenden Gesellschaftsstrukturen reibt. Dabei wird seine
lakonische Dichtung im Zeichen eines politischen ‚Gebrauchswerts‘ für die
Nachkriegslyrik in Ost und West stilbildend. Den Gegenpol bildet Gottfried
Benn (1886–1956), der als Vertreter eines apolitischen Ästhetizismus gilt.
Benn, der zu Beginn der 1930er Jahre mit dem Nationalsozialismus sympa‐
thisierte, konnte in den späten 1940er Jahren erstaunlich schnell wieder
publizieren und war mit seinen Gedichten insbesondere in Westdeutschland
enorm erfolgreich. In der Marburger Rede Probleme der Lyrik (1951) vertritt
Benn dezidiert die Auffassung, dass Lyrik weder einen Zeitindex besitze
noch in irgendeiner Form politisch sein könne: Lyrik sei monologisch
und absolut (vgl. B ENN [1951] 1954). Benn verteidigt das Konzept einer
‚artistischen‘ Poesie, die überzeitlich wirke. Die Opposition zwischen diesen
beiden Positionen und Personen wurde durch die Teilung in BRD und DDR
sicherlich forciert. Dieser Antagonismus wurde dann nochmals bestärkt
durch den Zufall, dass Benn und Brecht im selben Jahr sterben: Benn stirbt
am 7. Juli 1956, Brecht fünf Wochen später am 14. August 1956. In diese
vermeintliche Lücke, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung durch den
5. Gesellschaftskritik 167

Tod des politischen Dichters Brecht und den des artistisch-ästhetischen


Dichters Benn entstand, stößt 1957 Hans Magnus Enzensberger (*1929)
mit seinem Debütband die verteidigung der wölfe, der als Beginn eines
Revisionsprozesses bezeichnet wurde, in dem die Ansätze einer politisch
engagierten Literatur mit den Mitteln des Ästhetizismus verbunden wurden
(vgl. D IETSCHREIT/H EINZE -D IETSCHREIT 1986, 13).
Die gesellschaftskritische Lyrik nach 1945 darf größtenteils in der Folge
Brechts betrachtet werden. So wäre das Programm der Dortmunder Gruppe
61 um den Bibliotheksdirektor Fritz Hüser (1908–79) und den Dichter
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Max von der Grün (1926–2005) als politische ‚Gebrauchsästhetik‘ im Sinne


Brechts zu deuten. Ziel der Gruppe 61 war es, schriftstellerisch tätigen Ar‐
beitern Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen. Man wollte also ‚Arbei‐
terliteratur‘ entstehen sehen, die nicht nur von Arbeitern handelt, sondern
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

aus diesem Milieu stammt. In der DDR wiederum wird der sogenannte
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Bitterfelder Weg beschlossen (1959), der den Zugang der Arbeiter zur künst‐
lerischen Tätigkeit erleichtern und zu einer Aufhebung von ‚Berufs- und
Laienkunst‘ führen sollte.
Aber auch schon die poetologischen Konzepte des Kahlschlags und der
Trümmerliteratur, die im Westen Deutschlands Verbreitung finden, bauen
ästhetisch auf Brechts Ansatz eines ‚politischen Gebrauchswerts‘ auf. In
dieser Traditionslinie positioniert sich der Dichter als politischer Akteur:
Das „Dichterwort“ erscheint als „gesellschaftlicher Akt“ (B IRKENHAUER 1971,
90). Deutlich wird dies in Wolfgang Borcherts (1921–47) Schrift Das ist unser
Manifest (1947), wenn er in der geistigen Folge Brechts gegen Traditionalis‐
mus und ästhetische Überformung argumentierte:
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns
Geduld. Wir brauchen die[, die] zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und
ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
[…] Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller
Gefechtslärm. […] Und unser Morgen ist voller Alleinsein. (B ORCHERT 1984, 310)

Und auch Wolfgang Weyrauch (1904–80) knüpft im Nachwort zu seiner


Sammlung Tausend Gramm (1949), die neue deutschsprachige Prosa versam‐
melt, an Brecht an. Die spröde, schroffe und alltägliche Sprache der jungen
Dichterinnen und Dichter nach 1945 sei, so Weyrauch, kein Zeichen des
Unvermögens, sondern Signum einer neuen Poetik. Man nutze bewusst „die
Methode der Bestandsaufnahme“ (W EYRAUCH 1989, 181). Erklärtes Ziel ist
es, die Welt lyrisch so darzustellen, wie sie vermeintlich sei. Allerdings
168 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

kann die ‚Wahrheit‘ durch Bestandsaufnahme nur „um den Preis der Poesie“
errungen werden (W EYRAUCH 1989, 181). Wie schon Brecht spielt Weyrauch
die ‚Wahrheit‘ gegen die ‚Schönheit‘ aus und sieht in der traditionellen
Poesie den Ausdruck der ‚Schönheit‘, die aber den Blick auf die ‚Wahrheit‘
verstelle. Nimmt man die ‚Wahrheit‘ als Ziel der Literatur an, kommt man
nicht um die ‚Methode der Bestandsaufnahme‘ herum. Wenn man ‚Wahrheit‘
schreiben will, dann dürfe man nichts beschönigen: „Wenn der Wind durchs
Haus geht, muß man sich danach erkundigen, warum es so ist. Die Schönheit
ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne
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Schönheit ist besser.“ (W EYRAUCH 1989, 181)


Weyrauchs Position ist zum einen als Reflex auf die Erfahrung zu deuten,
dass weder die deutschsprachige Hochliteratur noch die deutsche Kunst
ihr Versprechen auf Humanität und Humanismus halten konnten. Insofern
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

lässt sich die Forderung nach einer neuen Sprache in der Literatur nur
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aus der Vergangenheit heraus begreifen. Zum anderen führt Weyrauchs


‚Kahlschlagforderung‘, die er an Günter Eichs (1907–72) Gedicht Inventur
entwickelt, zur Vorstellung einer deutschen Sprache, die seit der Sprach‐
verwendung im Nationalsozialismus kontaminiert sei. Jede Ästhetisierung
steht in dieser Perspektive unter Ideologieverdacht. Stattdessen wird die
nicht minder problematische Sichtweise vertreten, dass man Wirklichkeit
tatsächlich dokumentarisch festhalten könne. Damit geht ein auf die soziale
und politische Gesellschaft bezogenes Ziel einher: „Die Dichtung, die nur
für sich selbst da ist, ist keine Dichtung. Die Dichtung ist für den andern
da.“ (W EYRAUCH 1989, 175) Weyrauch pointiert die gesellschaftskritische
Funktion von Literatur, wenn er behauptet, die Schriftstellerinnen und
Schriftsteller des Kahlschlags würden das „schreiben […], was ist“ (W EY‐
RAUCH 1989, 181).
Dass sich Gesellschaftskritik und Sprachkritik verbinden, sieht man auch
an den Positionen von Hans Magnus Enzensberger. Im Essay Poesie und
Politik (1962) beschreibt er das Verhältnis von Dichtung und Politik als „ein
immer leidiges, zuweilen blutiges Thema, getrübt von Ressentiment und
Untertanengeist, Verdächtigung und schlechtem Gewissen“ (E NZENSBERGER
2009, 265). Enzensberger selbst nimmt dann eine Zwischenposition ein, indem
er Lyrik zwar grundsätzlich eine gesellschaftskritische Funktion zuweist,
doch einräumt, dass ihr dieses Potenzial nicht selbstverständlich oder absolut
eingeschrieben sei (vgl. U RVÁLEK 2015, 142). Dieser Vorbehalt ist erst später in
Enzensbergers poetologischen Überlegungen aufgekommen. Noch bis in die
1960er Jahre hinein hält er alles Poetische per se für subversiv. Enzensbergers
5. Gesellschaftskritik 169

Positionsänderungen lassen sich an seinen Vor- und Nachworten zu der von


ihm herausgegebenen Anthologie Museum der modernen Poesie beobachten.
Der politische Beitrag von Lyrik sei nicht durch eine inhaltliche Beteiligung
an politischen Diskursen gegeben, sondern durch die Art und Weise, wie im
Gedicht mit der Sprache umgegangen wird. Enzensberger fordert folglich keine
engagierte Lyrik, da man diese schließlich auch zur politischen Instrumentali‐
sierung missbrauchen könne. Vielmehr liege der politische Gehalt des Gedichts
gerade im Ausweis, dass die Politik nicht über Lyrik verfügen könne, da der
„politische Aspekt der Poesie […] ihr selber immanent“ sei (E NZENSBERGER
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2009, 277). Eine autonome Kunst sei unabhängig von Machtstrukturen und
subvertiere diese durch ihre bloße Existenz. Ein „Gedicht ist in den Augen der
Herrschaft […] anarchisch; unerträglich, weil sie darüber nicht verfügen kann“
(E NZENSBERGER 2009, 286). Auch wenn Alfred Andersch (1914–80), Mentor
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und Freund Enzensbergers, den Gedichtband verteidigung der wölfe in der


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Brecht-Nachfolge sieht, handelt es sich doch eher um eine freie Aneignung des
Brecht’schen ‚Gebrauchsgedichts‘. In den teilweise äußerst polemischen und
provokativen Gedichten aus verteidigung der wölfe werden sowohl Täter als
auch Opfer zur Rechenschaft gezogen. Die Gedichte attackieren grosso modo
die Verhältnisse in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Wie
Brecht geht es Enzensberger aber um eine indirekte politische Wirkung. Er
vertritt den Standpunkt, dass die Lyrik Politisches niemals direkt ansprechen
dürfe.
Am Beispiel von Brechts Gedicht Der Radwechsel (1953) stellt Enzensber‐
ger fest, dass es sich hierbei um ein eminent politisches Gedicht handele:
„Bedeutet Politik den Gebrauch der Macht zu den Zwecken derer, die sie
innehaben, so hat Brechts Text, so hat Poesie nichts mit ihr zu schaffen. Das
Gedicht spricht mustergültig aus, daß Politik nicht über es verfügen kann:
das ist sein politischer Gehalt.“ (E NZENSBERGER 2009, 282) Seine politische
Wirkung entfalte das Gedicht über sein utopisches Potenzial, aus dem sich
sein gesellschaftskritischer Gehalt ergebe: „Poesie tradiert Zukunft. Im An‐
gesicht des gegenwärtig Installierten erinnert sie an das Selbstverständliche,
das unverwirklicht ist.“ (E NZENSBERGER 2009, 286)
Gesellschaftskritische und politische Lyrik nach 1945 zeichnet sich durch
ihre Arbeit an der Sprache aus. Besonders deutlich wird dies an den
Gedichten Hannah Arendts (1906–75), die erst 2015 in einer vollständigen
Edition erschienen sind (vgl. A RENDT 2015). Arendts Gedichte wurden zu
ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Vielmehr sind sie Teil ihrer Notizhefte,
die 2002 als Denktagebücher – Arendt bezeichnete ihre Notizhefte selbst so –
170 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

publiziert wurden (vgl. A RENDT 2002). Darin sind Dichten und Gedankenar‐
beit aufs engste verwoben. Dichtung strukturiert in Arendts Notizheften
ihr philosophisches Denken und geht damit eine enge Verbindung mit
den gesellschaftskritischen Reflexionen ein (vgl. B ERTHEAU 2016, 203 f.).
Denn nach 1945 könne die Welt „mit den bestehenden und überlieferten
Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“ (H AHN/
K NOTT 2007, 15). Das traditionelle Denken passt laut Arendt nicht mehr in
die Welt nach 1945. Arendt schließt sich Adorno (1903–69) an, wenn sie
in den Gräueltaten des Nationalsozialismus einen gesellschaftlichen und
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kulturellen Bruch erkennt, der sich auch in die Sprache einschreibt: „[D]enn
in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle
Versuche es endgültig loszuwerden.“ (A RENDT 2002, II, 723)
Nach 1945 finden sich zahlreiche Gedichte in den Denktagebüchern, die
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

nahelegen, dass die Dichtung der ‚Grundzug‘ von Arendts Denken war (vgl.
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W EIGEL 2004, 120). Sie selbst reflektiert in ihrem philosophischen Hauptwerk


Vita activa:
Dichtung ist gewissermaßen die menschlichste und umweltlichste der Künste.
Von allen Gedankendingen der Kunst bleibt sie dem Denken selbst am nächsten
[…]. Es ist, als wäre ein in Dichtung gesprochenes Sprechen bereits dichterisch.
Beide, Dichter und Denker, stellen nichts her, und der Status der greifbaren
Dinge, der von beiden in der Welt zeugt und materialisierter in der Sprache
existiert, ist ein gleich ursprünglicher und für das Gedächtnis der Menschheit
gleich existenzieller. (A RENDT 2013, 157)

Wie sich eine solche philosophisch-gesellschaftskritische Lyrik manifestiert,


belegen insbesondere die Gedichte, die vor 1950 entstanden sind und leider
nicht in die Edition der Denktagebücher aufgenommen wurden:
Unaufhörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen
Das in gesammelter Kraft eben noch stand in der Tür.
Unaufhörlich schlagen Türen ins Schloss und Brücken versinken
in den strömenden Strom, hat sie dein Fuss kaum berührt.

(A RENDT 2015, 45)

Dieses titellose Gedicht stammt aus den frühen, unveröffentlichten Notizen


Arendts und ist mit dem Datum „September 1948“ versehen. Es ist reim‐
los und in zwei parallele Sätze unterteilt. Der erste Satz wirkt mit dem
Relativsatz noch klarer, hat aber bereits durch Inversionen einen von der
5. Gesellschaftskritik 171

Alltagssprache unterschiedenen Klang. Während die ersten beiden Verse


syntaktisch nachvollziehbar in Haupt- und Nebensatz gegliedert sind, wirkt
der Satzbau in den beiden Schlussversen irritierender. In Vers 3 werden
zwei Hauptsätze über die Konjunktion „und“ verbunden, wobei der zweite
Hauptsatz in Vers 4 übergeht. Hier schließt ein dritter Hauptsatz an, der
durch die Inversion eher an eine Frage erinnert, obwohl der Vers mit einem
Punkt und nicht mit einem Fragezeichen schließt. Möglicherweise handelt
es sich hier um eine syntaktische Zerlegung, die ihre Entsprechung auf der
Bildebene findet: Die zuschlagenden Türen und die versinkenden Brücken
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versinnbildlichen einen Abbruch von Verbindungen. Mit der Anapher „Un‐


aufhörlich“ (v. 1, 3) wird nicht nur die Machtlosigkeit des Sprechinstanz,
diese Vorgänge in irgendeiner Form zu beeinflussen, deutlich, sondern auch
die Zyklizität der Ereignisse suggeriert. Über das Reflexivpronomen „uns“
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

(v. 1) erhält das Gedicht zudem einen allgemeingültigen Bezugsrahmen. Es


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wird eine gemeinschaftliche Verlusterfahrung artikuliert: Das „Eine[]“ (v. 1),


das „eben noch stand in der Tür“ (v. 2), ist jetzt nicht mehr ansprechbar.
Es ist unverfügbar geworden. Es ist hier der personifizierte Tag, der das
Wir von „dem Einen“, das aber nicht näher spezifiziert wird, trennt. Diese
latente Gewalt wird im Bild der zuschlagenden Türen und der versinkenden
Brücken forciert. Das tautologische Bild des „strömenden Stroms“ (v. 4)
betont abschließend die ‚Strömung‘, aus der sich das Wir nicht selbsttätig
lösen kann. Dagegen ruft der Fuß, der die Brücke nur „kaum berührt“ (v. 4),
die Zartheit und Präsenz des Einzelnen hervor. Die Bilder der zuschlagenden
Türen, der versinkenden Brücken und des „strömenden Strom[s]“ (v. 4) or‐
ganisieren das Gedicht und legen nahe, dass es sich hierbei um eine lyrische
Artikulation erfahrener Machtlosigkeit handelt. Wie stark dieses lyrische
Motivnetz auch Arendts philosophisches Denken bestimmt, erkennt man
daran, dass in ihren Denktagebüchern die hier verwendeten Bilder (Türen,
Brücken, Strom) immer wieder auftauchen und in ihre philosophischen
und gesellschaftskritischen Gedanken eingebettet werden. Insofern stoßen
diese lyrischen Versuche Arendts Denken maßgeblich an und bilden den
Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftskritik.
In den folgenden drei Fallanalysen rücken Böser Morgen (1953) von
Bertolt Brecht, lock lied (1957) von Hans Magnus Enzensberger und Askese
(1960) von Günter Grass (1927–2015) in den Fokus. Am Beispiel von Böser
Morgen wird diskutiert, ob in diesem Gedicht Brechts ‚politische Gebrauchs‐
ästhetik‘ hinterfragt wird. Aufbauend auf Brechts politischer Lyrik werden
Enzensberger und Grass als zwei wichtige Vertreter politisch-intellektueller
172 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Positionen ausführlicher gewürdigt. Im Gegensatz zu Enzensberger, der,


wie bereits oben ausgeführt, eine Vereinbarung von politischem Engage‐
ment und forciert ästhetischer Darstellungsweise anstrebt, setzt Grass
Zweifel und Skepsis als Grundhaltungen seiner Gedichte ein. Grass bricht
wegen seiner anti-ideologischen Position mit der lyrischen Tradition, da
ihr nach seiner Auffassung eine apolitische Haltung eingeschrieben sei.
Insofern nähern sich Grass’ Gedichte stärker als Enzensbergers Lyrik den
Brecht’schen Vorbildern an, wenngleich Grass nicht gänzlich auf lyrische
Stilmittel verzichtet. Vielmehr nutzt er alltägliche Gegenstände, Figuren und
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Erfahrungen, um sie in einen neuen Kontext zu setzen und so tendenziell


hermetische Bilder zu erzeugen. Problematisch mag an Grass’ kategorischer
Ablehnung der lyrischen Tradition und jeder politischen Ideologie ihre
Radikalität sein: In seinem anti-ideologischen Impetus sind Grass’ Gedichte
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

mitunter selbst ideologisch.


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5.2. Bertolt Brecht: Scheitern der ‚politischen Gebrauchsästhetik‘?

Böser Morgen gehört zu einem Gedichtkonvolut, das Brecht im November


1953 an den Verleger Peter Suhrkamp (1891–1959) schickt und das er als
‚Buckowlische Elegien‘ bezeichnet (vgl. K ITTSTEIN 2012, 314). Die Zuordnung
verweist zum einen auf den Ort ihrer Entstehung: Brecht schreibt den
Großteil der Gedichte in seinem Landhaus in Buckow am Schermützelsee in
der Märkischen Schweiz. Dieses Haus hatte Brecht gemietet, um in Ruhe und
Abgeschiedenheit arbeiten zu können. Selbst für den wohl renommiertesten
Dichter der jungen DDR war dies ein enormes Privileg. Zum anderen
deutet der Titel schon klanglich auf die bukolische Dichtung hin, also
auf die Schäfer-, Hirten- und idyllische Landschaftsdichtung, die seit der
griechisch-römischen Antike das Bild eines einfachen, glücklichen und
friedlichen Lebens in Einklang mit der Natur entwirft. Insbesondere zur
Bukolik stehen Brechts Gedichte jedoch in einem Spannungsverhältnis,
da sie eben keine geschichtsfreie Idylle bieten, sondern zeithistorische
Konflikte in indirekter und verschlüsselter Form verarbeiten (vgl. K ITTSTEIN
2012, 314).
Ebenfalls im November 1953 – also parallel zur privaten Sendung an
Suhrkamp – werden einige Gedichte der Buckower Elegien in der Zeitschrift
Sinn und Form veröffentlicht. Eine vollständige Publikation aller Gedichte
erfolgt erst nach Brechts Tod. Brecht hat die Gesamtpublikation dieses
Bandes möglicherweise bewusst zurückgehalten. Denn diese „Elegien rühr‐
5. Gesellschaftskritik 173

ten damals kräftig in den offenen Wunden des eigenen Staats“ (K NOPF
1996, 266). Mehrere Gedichte der Buckower Elegien positionieren sich gegen
die politisch vorherrschende Meinung der DDR (vgl. K ITTSTEIN 2012, 304).
Am bekanntesten dürfte Brechts Gedicht Die Lösung sein, in dem direkt auf
den Aufstand vom 17. Juni 1953 Bezug genommen wird. Dieses historische
Ereignis, das für das Selbstverständnis der DDR gravierende Auswirkungen
hatte, bildet für viele Gedichte der Buckower Elegien einen Fixpunkt. Im
Aufstand vom 17. Juni 1953 wendeten sich zahlreiche Arbeiter in mehreren
Städten der DDR gegen eine von der SED vorgeschriebene Erhöhung der
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Arbeitsnormen ohne Lohnausgleich, die im Zuge der Sowjetisierung der


DDR beschlossen worden war. Die SED wollte mit der Normerhöhung den
wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR begegnen. Bereits Anfang Juni
1953 kam es zu ersten Protesten der Arbeiterschaften, die sich dann am 17.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Juni in landesweiten Protesten niederschlugen. Zahlreiche Belegschaften


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von großen Firmen traten am Morgen des 17. Juni in den Generalstreik.
In ca. 500 Städten und Ortschaften kam es zu Arbeitsniederlegungen und
Protesten. Die Ballungszentren waren Ost-Berlin, Halle, Magdeburg, Leipzig
und Dresden. Die Forderung nach Rücknahme der Normerhöhung führte
dann auch zu allgemeinen Forderungen, wie beispielsweise der Wiederver‐
einigung der beiden deutschen Staaten oder dem Recht auf freie Wahlen.
Insbesondere in Ost-Berlin geriet das staatliche Gewaltmonopol dabei in Ge‐
fahr. Die Sowjetbehörden reagierten mit der Verhängung des Kriegsrechts
und ließen die Armee aufmarschieren. Als diese Abschreckungsmaßnahmen
nicht zur Auflösung der Streiks führten, ging man militärisch gegen die
Aufständischen vor. Insgesamt kamen über 100 Menschen ums Leben,
zahlreiche Personen wurden verletzt und in der Folge des Aufstands kam es
zu Verhaftungen und Todesurteilen. Noch am Nachmittag des 17. Juni nahm
die SED via Rundfunkerklärung die Normerhöhung zurück. Dabei wurde
der Streik als vom Westen initiierte Destabilisierungsmaßnahme bezeichnet.
Der Streik sei, so die staatliche Propaganda, eine Art Konterrevolution und
ein Putschversuch von westlichen Provokateuren gewesen. Inwieweit dies
zutrifft oder eine (bewusste) Falschinformation der DDR-Regierung war, ist
bis heute nicht geklärt.
Entbunden von diesem historischen Bezugspunkt firmieren die Buckower
Elegien jahrelang als Brechts ‚Alterswerk‘, in dem er sich der Naturlyrik
zugewandt habe (vgl. K NOPF 1996, 266 f.). Das Idyllische wird betont, da der
politische Bezugspunkt des 17. Juni 1953 bereits gute zehn Jahre später kaum
noch präsent ist. Und auch in dem Gedicht Böser Morgen, das tatsächlich
174 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

am Morgen nach dem Aufstand entsteht, bildet es einen eher verdeckten


Fixpunkt.
Böser Morgen

Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit


Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
5 Warum?
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Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend


Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Unwissende schrie ich


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10 Schuldbewußt.

(B RECHT 1967, 1010)

Das Gedicht thematisiert eine Wahrnehmungsveränderung, die über Nacht


stattgefunden hat. Die schöne Natur des Vortags hat sich ins Gegenteil ver‐
kehrt. Ein Ich-Sprecher nimmt am Morgen die gravierenden Veränderungen
wahr: Die Silberpappel war gestern noch „eine ortsbekannte Schönheit“
(v. 1), jetzt ist sie lediglich eine „alte Vettel“ (v. 2). Der See, auf den der
Ich-Sprecher blickt, ist am Morgen nur noch eine „Lache Abwaschwasser“
(v. 3), und die pflegeleichten Fuchsien und Löwenmäulchen sind im Blick
des Betrachtenden nur noch „billig und eitel“ (v. 4). Die Irritation, die
sich aufgrund des plötzlichen Wandels einstellt, wird durch die harten
Enjambements unterstützt. Die drei jeweils mit einer Determinansphrase
beginnenden Ellipsen erzeugen dabei einen konfrontativen Charakter und
deuten – da sie wie eine Aufzählung wirken – gleichermaßen an, dass die
Natur als Ganzes ‚entzaubert‘ sei. Die elliptische Satzstruktur der ersten
drei Verse evoziert im Zusammenspiel mit den Zeilenumbrüchen einen
unregelmäßigen Rhythmus, der den Eindruck der Disharmonie verstärkt.
Durch das Enjambement von Vers 1 auf Vers 2 wird das Temporaladverb
„Heut“ (v. 2) hervorgehoben. Semantisch wird so die nächtliche Verände‐
rung betont, die eben ‚heute‘ sichtbar wird. Allerdings hat sich die Natur
faktisch nicht über Nacht verändert; verändert hat sich die Perspektive des
Ich-Sprechers, die nun keine idyllische Naturerfahrung mehr zulässt. Mit der
5. Gesellschaftskritik 175

erneuten Verwendung des nun als Attribut fungierenden „Heut“ (v. 6) wird
die Verbindung zwischen veränderter Wahrnehmung und Traum erzeugt.
Ausgangspunkt des Wandels ist also ein Traum, in dem der Ich-Sprecher
„Finger“ sah, „auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen“ (v. 6 f.).
Dass die anklagenden Finger „zerarbeitet“ (v. 7) sind, lässt auf die soziale
Schicht der Personen schließen, die metonymisch über ihre Finger reprä‐
sentiert werden: Es handelt sich um Arbeiter (vgl. T HIELE 1981, 197). Der
Neologismus „zerarbeitet“ erzeugt durch das Präfix ebenso wie das Adjektiv
„gebrochen“ (v. 8) nicht nur den Eindruck von schwerer körperlicher Arbeit,
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sondern auch den von einer enormen Überarbeitung. Das Enjambement


verstärkt die Empfindung, dass es sich um gesprochene Alltagssprache
handelt, und führt im Zusammenspiel mit dem anaphorischen Parallelismus
zu einer größeren Eindringlichkeit: Die Finger waren nicht nur „zerarbeitet“,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

sondern auch „gebrochen“. Insofern handelt es sich hierbei auch um eine


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Klimax, die die prekären Lebensstandards der sozialen Schicht, die durch
die Finger repräsentiert wird, nachdrücklich ins Bild setzt.
Diese Arbeiterfinger deuten im Traum des Ich-Sprechers auf ihn und
markieren ihn als „Aussätzigen“ (v. 7). Der Ich-Sprecher wird damit von
der Masse der Arbeiter isoliert und als Kranker stigmatisiert. Es rückt der
Gegensatz zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern in den Blick. In diesem
Zusammenhang ist es entscheidend, dass Letztere ausschließlich auf ihre
körperliche Arbeit reduziert werden und die Sprechinstanz lediglich auf den
Ort, von dem sie spricht (Natur), und die veränderte Wahrnehmung eben
dieses Naturorts: Der Ich-Sprecher scheint über den Ort seines Sprechens
als privilegiert gekennzeichnet. Bis „Heut“ (v. 2) konnte der Ich-Sprecher die
Natur in ihrer Schönheit genießen. Erst der Traum scheint ihm die Arbeiter
wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Es ist diese Traum-Erinnerung, die
die Naturwahrnehmung umkehrt. Der Gegensatz ist damit einer zwischen
jenen, die körperlich bis zur Erschöpfung schuften, und dem Ich-Sprecher,
der fern aller Arbeit Natur erfahren und genießen kann. Wenn man diese
Opposition von Ich-Sprecher und Arbeitern akzeptiert, so liegt die Schluss‐
folgerung nahe, dass auch die Lebenssphären voneinander getrennt sind.
Diese Trennung ist bereits auf der kommunikativen Ebene zu beobachten.
So kann von einer wechselseitigen Kommunikation der Arbeiter mit dem
Ich-Sprecher (oder vom Ich-Sprecher mit der Natur) keine Rede sein. Dies
zeigt sich beispielsweise an dem Kommunikationsmodus, der die Trennung
der beiden Sphären hervorhebt: Der anklagenden, körperlichen Gestik der
Arbeiter setzt der Ich-Sprecher das Wort, d. h. eine verbale Äußerung, ent‐
176 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

gegen. Das Wort ermöglicht jedoch noch keine Kommunikation, denn der
Ich-Sprecher hinterfragt oder erfragt nichts, sondern reagiert seinerseits mit
einer Anklage: „Unwissende schrie ich“ (v. 9). Das Schreien betont wiederum
das potenzielle Misslingen der Kommunikation. Der Abwehrreflex wird
sogleich konterkariert, wenn der Ich-Sprecher seine Schuld abschließend –
freilich nur für sich – eingesteht: „Schuldbewußt“ (v. 10) ist das letzte
Wort des Gedichts und wird als einziges Wort des letzten Verses besonders
hervorgehoben. Insofern ist in diesem Gedicht von einer individuellen
Schuld die Rede, die sich mit einer Absage an den Topos der bukolischen
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Idylle verbindet.
Will man die Opposition zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern weiter
forcieren, könnte man argumentieren, dass es sich beim Ich-Sprecher um
jemanden handelt, der mit Worten umgeht. Im Gegensatz zu den stummen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Arbeitern, die eben auch nur durch ihre Finger repräsentiert werden, besitzt
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der Ich-Sprecher Sprach- und Sprechfähigkeit. In Anbetracht der Tatsache,


dass der Ort des Sprechens mit See und Naturlandschaft durchaus an Brechts
Landhaus in Buckow erinnert, schlägt Ulrich Kittstein vor, dass Brecht in
diesem Gedicht „Fragen seiner eigenen Existenz als Dichter reflektierte,
mit denen er sich unter dem Eindruck der Juni-Ereignisse konfrontiert sah“
(K ITTSTEIN 2012, 327). Wenn der Ich-Sprecher den Arbeitern ‚Unwissenheit‘
vorwirft, dann bedeutet das, dass er, sofern es sich um einen Schriftsteller
handeln sollte, das poetologische Programm Brechts nicht umsetzen konnte.
Das ‚Schreien‘ scheint dabei Symptom dafür zu sein, dass er die Arbeiter
nicht mehr erreicht. Oder es verweist auf die Angst des Ich-Sprechers, dass
er seine Leserinnen und Leser nicht mehr erreichen kann, dass sie ihn nicht
mehr hören. Ohne das Wechselverhältnis mit seinen Leserinnen und Lesern
kann der Schriftsteller laut Brecht aber nicht mehr politisch agieren. Und
wenn sich der Dichter nicht mehr mitteilen kann, „ist der ästhetischen
Existenz des Dichters die soziale Grundlage entzogen. Sie verliert damit ihre
Legitimation. Der isolierte Standort der ‚abgespaltenen‘ Existenz begründet
kein Recht auf Kommunikation.“ (J OOST 2001, 446 f.) An der Unwissenheit,
die er den Arbeitern vorwirft, ist der Ich-Sprecher selbst schuld. Diese
Paradoxie wird am Ende des Gedichts explizit.
Führt das Gedicht also das Scheitern von Brechts ‚politischer Gebrauchs‐
ästhetik‘ vor? Schließlich kann der Dichter, der die Arbeiter nicht mehr
erreicht, seine Rolle als Lehrer nicht mehr erfüllen (vgl. K ITTSTEIN 2012,
328). Dabei ist zu beachten, dass es sich bei diesem Gedicht weniger um
ein allgemein-poetologisches Gedicht handelt, das die eigenen Positionen
5. Gesellschaftskritik 177

der 1930er Jahre in Frage stellt. Vielmehr bietet der Bezugspunkt des
Aufstands vom 17. Juni 1953 die entscheidende Folie, um den politischen
‚Gebrauchswert‘ auch dieses Gedichts herauszustreichen: Brecht setzt die
persönlichen Freiheiten eines renommierten Dichters der DDR in Opposi‐
tion zu der Situation der Arbeiter. Allerdings solidarisiert sich Brecht mit
der DDR-Führung und teilt auch die Einschätzung, dass es sich um eine
neofaschistische Konterrevolution handelte, wie er in einem Brief vom 1.
Juli 1953 an Peter Suhrkamp, der ihn um eine Stellungnahme zum Aufstand
des 17. Juni bat, ausführt:
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Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen des 17.
Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das
Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke
kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen, brutalen
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

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Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen
hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren. Die Parolen
verwandelten sich rapide. Aus ‚Weg mit der Regierung!‘ wurde ‚Hängt sie!‘, und
der Bürgersteig übernahm die Regie. […] Und den ganzen Tag kamen über den
RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit
von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren ‚Kräfte‘ am Werk, die Tag
und Nacht an das Wohlergehen der Arbeiter und der ‚kleinen Leute‘ denken
und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu
einem hohen Todesstandard führt. […] Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen
der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs. […] Die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine
sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind […]. Im Kampf gegen Krieg und
Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite [der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands]. (B RECHT 1998, 30, 184 f.)

Brecht, der nie Parteimitglied der SED war, verteidigt die politische Füh‐
rung gegenüber Peter Suhrkamp. Seine Argumentation ist hier wesentlich
differenzierter als in den ersten Reaktionen auf den Aufstand: Bereits am
17. Juni schreibt Brecht an Walter Ulbricht (1893–1973), dass er sich der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands verbunden fühle. Und Wladimir
Semjonowitsch Semjonow (1911–92), dem Vorsitzenden der Hohen Kommis‐
sion der UdSSR in Deutschland und späteren Botschafter der Sowjetunion in
der DDR, erklärt Brecht in einem Brief seine „unverbrüchliche Freundschaft
zur Sowjetunion“ (B RECHT 1998, 30, 178). Dieses uneindeutige Handeln
Brechts, der sich zwar einerseits mit den Arbeitern solidarisiert, andererseits
178 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

aber der SED-Führung eng verbunden bleibt, hat Günter Grass (1927–2015)
in seinem Drama Die Plebejer proben den Aufstand (1966) konterkariert.
In Brechts Böser Morgen erklärt der Vergleich der eigenen privilegierten
Lebensumstände mit denen der Arbeiter möglicherweise die ‚Schuld‘. Die
Beschreibung der eigenen Traumerfahrung und der sich deswegen verändern‐
den Naturerfahrung unterstreicht den subjektiven Charakter der Schilderun‐
gen. Die private und die politische Situation werden miteinander verknüpft.
Die Natur wird in Böser Morgen „zum politischen Reflexionsraum“ (L AMPART
2013, 128). Die veränderte Naturerfahrung zeigt die Notwendigkeit von poli‐
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tischer Veränderung an, um die sozialen Ungleichheiten zwischen Arbeitern


und Intellektuellen aufzuheben. Gleichwohl bleibt das Kommunikationsver‐
hältnis zwischen Dichter und Arbeitern aufgebrochen. Der „gemeinsame
Vorgang“, der zur „Erkenntnis der Wahrheit“ führt, ist gestört (B RECHT 1997,
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

177). Vielleicht schreibt der Dichter noch die Wahrheit, vielleicht schreibt
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er sie auch noch für die Arbeiter, aber er erreicht seine Adressaten nicht
mehr. Das Schuldbewusstsein ergibt sich sowohl aus dem Wissen über das
eigene Versagen als auch aus der Erkenntnis über die eigenen, von den
Arbeitern abgehobenen Lebensumständen. Böser Morgen präsentiert keine
Lösung dieses Problems, sondern bietet vielmehr das Anschauungsmaterial,
durch das die Struktur durchschimmert, die gesellschaftlich prekär ist.

5.3. Hans Magnus Enzensberger: Subversive Lyrik

Hans Magnus Enzensberger (*1929), der den Zweiten Weltkrieg als Kind und
als spät Einberufener erlebt, ist bis heute eine einflussreiche Person im Li‐
teraturbetrieb. Nach seinem Abitur 1949 studiert Enzensberger in Erlangen,
Freiburg im Breisgau, Hamburg und an der Pariser Sorbonne. 1955 wird er
mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos (1778–1842) promoviert.
Von 1955 bis 1957 arbeitet er gemeinsam mit Alfred Andersch (1914–80) als
Rundfunkredakteur in Stuttgart. Aus den in dieser Zeit gesendeten Radio-Es‐
says resultieren die ersten breit rezipierten Essay-Bände Enzensbergers:
Einzelheiten I und Einzelheiten II (1962). Bereits 1955 stößt er zur Gruppe 47
und kann dort einige Texte vorstellen. Mit seinem Debütband verteidigung
der wölfe (1957) reüssiert Enzensberger als freier Schriftsteller. Es folgen mit
landessprache (1959) und blindenschrift (1964) zwei weitere Gedichtbände,
die das poetische Programm seines Debüts fortsetzen. Enzensberger ist
Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er gehört zu den wichtigsten
und einflussreichsten Schriftstellern der letzten 60 Jahre. Dabei tritt er
5. Gesellschaftskritik 179

immer wieder als kritischer Kommentator des politisch-gesellschaftlichen


Geschehens in Erscheinung (vgl. S CHLÖSSER 2009, 9; H IEBEL 1994, 785).
Die Sammlung verteidigung der wölfe wird von der zeitgenössischen
Kritik kontrovers diskutiert. Dass Enzensbergers Debüt zudem in eine span‐
nungsvolle Situation der noch jungen Bundesrepublik fällt, tut sicherlich
sein Übriges zur heftigen Diskussion um diesen Gedichtband. Die inter‐
nationalen Spannungen des sich abzeichnenden Kalten Krieges schlagen
sich in Deutschland nieder. Besonders heftig wird in der unmittelbaren
Nachkriegszeit um die Wiederbewaffnung der BRD, die Gründung der
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Bundeswehr im Jahr 1955 und die Einführung der Wehrpflicht im Juli 1956
gerungen. Spätestens aber das Titelgedicht, das den Band beschließt, muss
man 1957 als Provokation wahrnehmen, da es sich im Kontext des Zweiten
Straffreiheitsgesetzes von 1954, in dessen Folge es zu zahlreichen Amnes‐
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

tierungen nationalsozialistischer Verbrecher kommt, sowohl auf aktuelles


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Zeitgeschehen als auch auf das nationalsozialistische Regime beziehen lässt:


soll der geier vergißmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom schakal,
daß er sich häute, vom wolf? soll
er sich selber ziehen die zähne?

(E NZENSBERGER 1957, 90)

Die Wölfe sind Raubtiere; sie können nicht aus ihrer Haut. Eine Anklage
der Wölfe unter moralischer Perspektive wird vom Gedicht daher als Kate‐
gorienfehler abgelehnt. Die Verantwortung liegt vielmehr bei den Opfern
der Wölfe, die sich willfährig den Tätern hingeben. In der zweiten Strophe
wird dies in einer Reihe rhetorischer Fragen nahegelegt. Gleichzeitig wird
die Tiermetaphorik aufgedeckt:
wer näht denn dem general
den blutstreif an seine hose? wer
zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
[…] es gibt
viel bestohlene, wenig diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
steckt die abzeichen an, wer
lechzt nach der lüge?

(E NZENSBERGER 1957, 90)


180 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die im Gedicht erwähnten Fabelfiguren (Wolf, Lamm), die an Brechts


Tiermetaphern aus dem erst im Januar 1957 uraufgeführten Schauspiel
Schweyk im Zweiten Weltkrieg (1943) erinnern, verweisen auf das Thema des
Gedichts. Im Zentrum steht der Umgang mit politischer Macht, wobei das
Zusammenspiel aus Missbrauchenden und Missbrauchten den Machtmiss‐
brauch erst ermögliche. Das Gedicht kulminiert in einem zynischen Lob der
Verbrecher, für die die Wölfe stellvertretend stehen:
gelobt sei’n die räuber: ihr,
einladend zur vergewaltigung,
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werft euch aufs faule bett


des gehorsams. winselnd noch
lügt ihr. zerrissen
wollt ihr werden. Ihr
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

ändert die welt nicht.


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(E NZENSBERGER 1957, 91)

Diese „sarkastisch-ironische Verteidigung der Mächtigen gegen die Ohn‐


mächtigen“ (Z IMMERMANN 1977, 69) mag als Unzumutbarkeit aufgefasst wor‐
den sein. Der beißende Zynismus, der die vergewaltigte Person als eigentlich
Schuldige an ihrer Vergewaltigung hinstellt, zielt an dieser Stelle auf eine
Aktivierung: Wer in seiner Opferrolle aufgeht, „ändert die Welt nicht“.
Alfred Andersch (1914–80), der Enzensbergers Debüt nahezu hymnisch
bespricht, geht auf den Zynismus dieser Gedichte explizit ein. Enzensbergers
gesellschaftspolitische Kritik richte sich, so Andersch, „ebenso gegen die
Opfer der Macht wie gegen die Mächtigen selbst“ (A NDERSCH 1985, 62). Auch
wenn Andersch erkennt, dass im Gedicht verteidigung der wölfe gegen die
lämmer „die Hinnahme des Mißbrauchs“ wohl deutlicher angeklagt wird
als der „Mißbrauch selbst“, will er doch eindeutige Ironiesignale erkennen.
Das Gedicht spreche die Missbrauchenden nicht von ihrer Schuld frei:
„Enzensberger stellt sich nicht auf die Seite der Macht, nur weil er die sich
ihr Beugenden verachtet. Gerade dieses Element seines Denkens verleiht
seinen Gedichten den Ton revolutionärer Aufrufe.“ (A NDERSCH 1984, 62)
Die in vielen Gedichten forcierte Provokation wird von Andersch gou‐
tiert: „Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen,
der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn
auf die der poetischen Qualität.“ (A NDERSCH 1984, 62) Andersch verweist
auf den Typus des angry young man, der in England ein journalistisches
5. Gesellschaftskritik 181

Schlagwort der 1950er Jahre war, um Künstler zu bezeichnen, die vor allem
soziale Missstände und Klassenkonflikte in ihren Texten verhandelten.
Martin Walser (*1927) hat dieses Label für Enzensberger schon früh in
Frage gestellt: „Mir ist es immer komisch zumute, wenn ich wieder einmal
irgendwo lese, Enzensberger sei ein zorniger junger Mann.“ (W ALSER 1984,
65) Zudem hätten die Kritiker nicht nur dieses unpassende Label für En‐
zensberger verbreitet, sondern „Enzensberger auch zum politischen Dichter
und Muster-Non-Konformisten gestempelt.“ (W ALSER 1984, 65) Während
Walser die Gegensätzlichkeit der Enzensberger’schen Gedichte pointiert,
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sieht Andersch Enzensberger in der Folge von Brecht als politischen Dichter:
Enzensberger „hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht
mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.“ (A NDERSCH 1984, 62)
Der Gedichtband verteidigung der wölfe gliedert sich in drei Abteilungen:
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„freundliche gedichte“, „traurige gedichte“ und „böse gedichte“. Diese Ein‐


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ordnung geht womöglich auf Schillers (1759–1805) Aufsatz Ueber naive


und sentimentalische Dichtung (1795) zurück, in dem eine Einteilung der
Literatur nach ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit in Idylle, Elegie und
Satire vorgeschlagen wird; Enzensbergers Sammlung verteidigung der wölfe
scheint Schillers Dichtungskategorien nun zu aktualisieren (vgl. S CHLÖSSER
2009, 18). Die Gedichte unterscheiden sich aber vor allem im Ton bzw. im
Grad ihrer Provokation. Alle Gedichte konzentrieren sich „auf die Sehnsucht
nach dem einfachen erfüllten Leben in den Idyllen, auf die Klage über
Sinn und Ausweglosigkeiten und schließlich auf die Anklage konkreter,
zeitgebundener Mißstände“ (D IETSCHREIT/H EINZE -D IETSCHREIT 1986, 15). Dass
es sich bei diesem Gedichtband durchaus um Dichtung mit politischem
und gesellschaftskritischem Anspruch handelt, macht der flugblattähnliche
Zettel deutlich, der der ersten Auflage des Bandes beigefügt war. Dieser
‚Waschzettel‘ informiert die Leserinnen und Leser über die Intentionen des
Autors und gibt damit gleichzeitig eine explizite und in ihrem Gestus betont
objektive Leseanweisung:
Hans Magnus Enzensberger will seine Gedichte verstanden wissen als Inschrif‐
ten, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer
Mauer verteilt; nicht im Raum sollen sie verklingen, in den Ohren des einen,
geduldigen Lesers, sondern vor den Augen vieler, und gerade der Ungeduldigen,
sollen sie stehen und leben, sollen sie wirken wie das Inserat in der Zeitung, das
Plakat auf der Litfaßsäule, die Schrift am Himmel. Sie sollen Mitteilungen sein,
hier und jetzt, an uns alle. (zit. nach D IETSCHREIT/H EINZE -D IETSCHREIT 1986, 14)
182 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Die „Gebrauchsanweisung“ lehnt sich poetologisch durchaus an Brechts


‚politische Gebrauchsästhetik‘ an (D IETSCHREIT/H EINZE -D IETSCHREIT 1986,
14). Auch Enzensberger sieht seinen Gedichtband als politisch engagierte
Literatur, die gesellschaftskritisch wirken soll. Der avisierte Adressat ist
zudem nicht der elitäre Leser, sondern die breite Masse. Im Gegensatz zu
Brecht wird das subversive Potenzial der Lyrik aber stärker betont: Wenn
die Gedichte mit Einritzungen auf einer Mauer, mit Flugblättern oder mit
der flüchtigen Schrift des Himmelsschreibers verglichen werden, dann wird
zum einen der anarchisch-rebellische Impetus hervorgehoben. Zum anderen
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wird auch die Vergänglichkeit der medialen Fixiertheit pointiert. Wegen


ihrer Flüchtigkeit ist hinter ihr gesellschaftsveränderndes Potenzial somit
ein Fragezeichen zu setzen.
lock lied
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meine weisheit ist eine binse


schneide dich in den finger damit
um ein rotes ideogramm zu pinseln
auf meine schulter
5 ki wit ki wit

meine Schulter ist ein schnelles schiff


leg dich auf das sonnige deck
um zu einer insel zu schaukeln
aus glas aus rauch
10 ki wit

meine stimme ist ein sanftes verlies


laß dich nicht fangen
meine binse ist ein seidener dolch
hör nicht zu
15 ki wit ki wit ki wit

(E NZENSBERGER 1957, 7)

Programmatisch für den Band verteidigung der wölfe steht das Gedicht
lock lied. Es wurde bereits 1955 gewissermaßen als eine erste Arbeitsprobe
Enzensbergers in der Zeitschrift Akzente veröffentlicht (vgl. L AU 1999, 35).
1957 stellt es Enzensberger als Eröffnungsgedicht an den Anfang seiner
Sammlung. Bemerkenswert ist dieser Vorgang, weil das Gedicht dezidiert
5. Gesellschaftskritik 183

vor den Gefahren der Dichtung warnt. Ein Ich-Sprecher adressiert ein nicht
näher bestimmtes Du. Die direkte Ansprache gilt nicht einer Gruppe oder
einer anonymen Masse, sondern hebt die Bedeutung und Verantwortung
des Individuums hervor. Dabei ist nicht zuletzt die Überlagerung des im
Gedicht genannten Du mit den faktischen Leserinnen und Lesern intendiert.
In drei parallel strukturierten Strophen von gleicher Länge geht es um die
Verführungskraft der Sprache. Das adressierte Du wird vor der subtilen
Manipulationskraft der Dichtung gewarnt. Man kann diese Warnung sicher‐
lich auf die folgenden Gedichte beziehen. Wenn man die programmatische
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Positionierung als Einleitungsgedicht ernst nimmt, warnt das Gedicht aber


möglicherweise vor Dichtung im Allgemeinen. Dabei gibt die Sprechinstanz
eine kritische Leseanweisung: Die Lesenden sollten sich im Klaren darüber
sein, dass Dichtung ein eminentes Verführungspotenzial besitzt. Vor dieser
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Verführungs- und Manipulationskraft dichterischer Sprache wird einerseits


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gewarnt. Dies geschieht andererseits aber mit den Mitteln der dichterischen
Sprache. Zwar wird lock lied ohne Endreim und in freien Rhythmen präsen‐
tiert, doch werden andere (lyrische) Stilmittel eingesetzt: Die visuelle Prä‐
sentation des Gedichts ohne Interpunktionszeichen erlaubt das Aufheben
syntaktisch normativer Regeln: Bezüge werden uneindeutig und der Aussa‐
gegehalt wird so ambivalent. In der Originalausgabe von 1957 werden diese
Uneindeutigkeiten durch die konsequente Kleinschreibung noch gesteigert.
Die Enjambements forcieren ferner einen durchgehenden Lesefluss, der die
lyrischen Äußerungen noch eingängiger macht. Es gibt zwar kein regelmä‐
ßiges Metrum oder Reimschema, doch werden über Assonanzen subtile
Klangbilder erzeugt (z. B. v. 1–3, 8). Auffällig sind die onomatopoetischen
Wendungen, die jede Strophe abschließen. Mit dem wiederholten „ki wit“
wird möglicherweise der Lockruf des Kiebitzes imitiert. Dass es sich hierbei
um einen Kiebitz handeln könnte, wird auch über den Verweis auf die
„Binsen“ (v. 1) gestärkt; Binsengräser sind der natürliche Lebensraum des
Kiebitzes. Ferner unterstreichen die Alliterationen (z. B. v. 6) den unbewusst
verführerischen Klang der poetischen Sprache. Ein intertextueller Bezug
besteht auch zu dem niederdeutschen Märchen Van den Machandelboom,
das Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) in ihre Kinder- und
Hausmärchen von 1812/15 aufgenommen haben. Zuvor wurde es bereits
1808 von Achim von Arnim (1781–1831) veröffentlicht, wobei Clemens
Brentano Arnim darüber informierte, dass er auch eine schwäbische Vari‐
ante dieses Märchens kenne. Enzensbergers Gedicht übernimmt von diesem
Märchen möglicherweise das markante Erkennungszeichen des schönen
184 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Singvogels (‚Kiwitt‘), der eine Reinkarnation des von seiner Stiefmutter


ermordeten Knaben ist und der seine Stiefmutter am Ende des Märchens mit
einem Mühlstein erschlägt.
Der Titel stellt durch seine Trennung des Kompositums selbst eine dieser
Alliterationen dar, welche durch ihre klangliche Qualität den Rezipienten
förmlich anlocken: lock lied. Darüber hinaus wird über die Getrenntschrei‐
bung ein Bezug zum englischen Wort ‚lock‘ hergestellt: Das Anlocken
hat also das Gefangennehmen zum Ziel. Die dichterische Sprache erzeugt
eine Illusion, die die Lesenden einschließt. Dass es sich um eine poetische
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Gefangennahme handelt, belegen die genutzten Wort-Bild-Tropen, wenn


es beispielsweise heißt: „meine stimme ist ein sanftes verlies“ (v. 11). Die
Stimme als Medium des Dichters wird in ihrer Ambivalenz und Gefährlich‐
keit ausgestellt. Es ist zwar ein „sanftes“ Gefängnis, aber die poetische
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Sprache neigt zur Entmündigung des Subjekts. Sprache wird dazu genutzt,
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jemanden in den Bann zu ziehen und so gefangen zu nehmen. Die Dichtung


erweist sich als ein Gefängnis, aus dem es – wenn man gefangen wurde –
kein Entrinnen mehr gibt.
Die Verwendung des Imperativs zeigt dabei ein Machtgefälle zwischen
der aktiven Sprechinstanz und dem passiven Adressaten in der Zuhörerrolle
auf. Dieser wird in der ersten Strophe angewiesen, sich in den Finger
zu schneiden, in der zweiten Strophe sich hinzulegen und in der dritten
Strophe sich nicht fangen zu lassen und nicht zuzuhören. Über die Form der
Verben kann über die Strophen hinweg eine Steigerung der Passivität des
adressierten Du konstatiert werden. Während es in der ersten Strophe noch
zu einer aktiven Handlung aufgefordert wird, wird ihm abschließend in der
dritten Strophe das Zuhören verweigert. Insofern realisiert das vorliegende
Gedicht genau das, wovor es zu warnen versucht. Es handelt sich um eine
Art subversive Performanz oder performative Subversion.
Dass es sich um ein poetologisches Gedicht handelt, wird bereits im
ersten Vers deutlich, wenn es heißt: „meine weisheit ist eine binse“ (v. 1).
Als Binse bzw. Binsenweisheiten gelten weithin bekannte Tatsachen, die
sich als innovative Erkenntnis ausgeben. Sie haben als Wahrheit keinen
Wert, da sie gemeinhin bekannt sind. Es handelt sich nicht um echte Er‐
kenntnisse, sondern um Gemeinplätze. Gleichzeitig wird mit der Binse eine
poetologische Dimension dieses Gedichts angedeutet. Schließlich fungierten
Binsen früher als Schreibwerkzeuge. Tatsächlich wird die Binse dann als
Schreibwerkzeug eingesetzt, wenn der Ich-Sprecher das Du auffordert, sich
in den Finger zu schneiden, um dann mit dem Blut ein „rotes ideogramm“
5. Gesellschaftskritik 185

(v. 3) auf die Schulter des Ich-Sprechers zu „pinseln“ (v. 3). Die reflexive
Verwendung des Verbs ‚schneiden‘ zeigt an, dass das Du hier verantwortlich
gemacht wird und nicht die Binse schuld daran ist, wenn der Adressat
sich verletzt. Vielmehr befiehlt der Ich-Sprecher, dass das Du sich mit der
Binse schneiden soll. Syntaktisch könnte hier jedoch auch eine Ellipse
vorliegen. Dann wäre der Ich-Sprecher Agens des Schneidens. Enigmatisch
mutet das „rote[] ideogramm“ (v. 3) an. Einerseits wird damit das Schreiben
indirekt aufgenommen. Andererseits kann man im roten Bildzeichen einen
intertextuellen Bezug zum Nibelungenlied erkennen (vgl. S CHLÖSSER 2009,
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19). Der Sprechinstanz würde damit die Rolle des heldenhaften Siegfrieds
zugewiesen, dem Kriemhild ein Zeichen ins Gewand stickte, das Hagen von
Tronje den Mord an Siegfried erst ermöglichte. Ferner wird mit der Hand‐
schrift die persönliche Involviertheit des Du angezeigt. Ich-Sprecher und
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adressiertes Du gehen mit diesem Schreib- oder Pinselakt in jedem Fall eine
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Beziehung ein. Ferner dürfte das Trägermedium von Bedeutung sein: Denn
gezeichnet wird das Ideogramm nicht mit Tinte, sondern mit Blut. Mit Blut
zu schreiben, kann bedeuten, dass man sich innerlich verausgabt hat. Diese
existenzielle Metaphorik wird ergänzt durch den mit Blut unterschriebenen
Vertrag, wie man es beispielsweise von Faust und Mephistopheles kennt.
Das Zeichen, das auf die Schulter des Ich-Sprechers gepinselt werden soll,
ist zudem ein Ideogramm. Hierbei handelt es sich um ein Schriftzeichen, das
nicht eine bestimmte Lautung besitzt, sondern in der Regel einen ganzen
Begriff repräsentiert, wie beispielsweise die ägyptischen Hieroglyphen oder
die chinesischen Schriftzeichen. Was das Zeichen aber zu bedeuten hat, ist
unklar. Möglicherweise markiert es den Vertragsabschluss zwischen Dichter
und Zuhörenden.
Das Schulter-Motiv stellt dann den Übergang von der ersten zur zweiten
Strophe her. Die Schulter des Ich-Sprechers wird nun zu einem „schnelle[n]
schiff“ (v. 6), auf dem es sich das Du bequem machen soll. Das ‚Schaukeln‘
des Schiffes verweist wiederum auf den Verführungscharakter. Prekär ist
dabei das Ziel der Reise: eine „insel“ „aus glas“ und „aus rauch“ (v. 8 f.).
Mit dieser Insel ist möglicherweise die poetische Illusion bezeichnet, die
sich nicht aus festen Materialien, sondern aus zerbrechlichen (Glas) und
flüchtigen Elementen (Rauch) zusammensetzt.
In der dritten Strophe wird die Binse wieder aufgenommen und damit
das Schreiben erneut thematisiert. Gleichzeitig wird der Bezug zum Nibe‐
lungenlied etwas deutlicher: Wenn die Binse als „seidener dolch“ (v. 13)
bezeichnet wird, wird das Gefahrenpotenzial der Dichtung ausgestellt.
186 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Gleichzeitig wird die poetische Schrift mit dem heimtückisch handelnden


Hagen von Tronje parallelisiert, der Siegfried unter falschem Vorwand mit
einem Dolch ersticht. Irritieren mag hier das Paradoxon „seidener dolch“
(v. 13), womit aber die Sanftheit und die Manipulationskraft von Sprache
ins Bild gesetzt werden. Dennoch ist Sprache gefährlich – sie kann sogar
töten. Vor genau dieser Gefahr warnt der Ich-Sprecher: „laß dich nicht
fangen“ (v. 12) und „hör nicht zu“ (v. 14) sind Imperativformulierungen,
die einerseits das körperliche Gefangen-Sein, andererseits die akustische
Verführung kennzeichnen. Damit werden die Lesenden in ein poetisch
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konstruiertes Dilemma gestellt: Wenn man sich jetzt vom Gedicht abwendet,
muss man sich den Vorwurf machen lassen, im Sinne des Gedichts zu
handeln. Wenn man aber weiterliest, dann bleibt man ebenfalls ‚gefangen‘
in der Poesie.
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An diesem Gedicht lassen sich die zentralen Merkmale von Enzensbergers


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Lyrik der 1950er und 1960er Jahre verdeutlichen. Enzensberger selbst hat
im Vorwort zu seiner Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) seine
Techniken – in der Folge moderner Poesie – beschrieben:
Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Disso‐
nanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfremdung
und Mathematisierung; Langverstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung
und Verdunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuartiger
metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren.
(E NZENSBERGER 1960, 11)

Der Effekt ist eine politisch-engagierte Lyrik, die subversive Performanz


bietet. Dabei wird die Grenze von Provokation und Unzumutbarkeit mitun‐
ter überschritten. Ausgangs- und Bezugspunkt der verteidigung der wölfe ist
die politische Gemengelage der ausgehenden 1950er Jahre in Deutschland.
Angesichts einer ausbleibenden Aufarbeitung der Verbrechen während des
Nationalsozialismus und des realpolitischen Agierens lässt sich die scharfe
Polemik vieler Gedichte durchaus erklären. Die geforderte moralische In‐
tegrität erscheint als Zerrbild einer überzeichneten Zeitdiagnostik. Enzens‐
bergers politische Lyrik wurde daher immer wieder mit Heinrich Heines
(1797–1856) Konzept des Zeitdichters, der quasi seismographisch auf die
gesellschaftlichen Entwicklungen zu reagieren hat und gewitzte Satiren und
beißende Anklagen zu liefern habe, in Verbindung gebracht. Inzwischen hat
sich Enzensberger selbst allerdings von seinen frühen Gedichten distanziert.
In einem Interview mit Alexander Kluge (*1932) lehnt Enzensberger das
5. Gesellschaftskritik 187

Pathos und die Rhetorik seiner Debütgedichte ab, auch weil sie mitunter
„schrille Töne“ angenommen hätten (E NZENSBERGER /K LUGE 2000).

5.4. Günter Grass: Lyrische Alternativen? Gegen Ideologie und


Traditionalismus

Wie Hans Magnus Enzensberger gehört Günter Grass (1927–2015) zu den


einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik und des wiederverein‐
ten Deutschlands. Welche Rolle Grass als Schriftsteller des 20. Jahrhunderts
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spielt, dokumentiert der Literaturnobelpreis, den er 1999 für sein Lebens‐


werk erhält. Der im Vergleich zu Bertolt Brecht (1898–1956) und Gottfried
Benn (1886–1956) um zwei Generationen jüngere Grass erlebt den Zweiten
Weltkrieg als Jugendlicher. Von 1948 bis 1952 studiert er an der Kunstaka‐
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demie Düsseldorf Graphik und Bildhauerei und von 1953 bis 1956 an der
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Hochschule der Künste in Berlin. Grass’ ‚Doppelbegabung‘ als bildender


Künstler und Schriftsteller prägt bis heute die Rezeption seines literarischen
Werks (vgl. N EUHAUS 2016, 33–36). Nachdem schon erste Plastiken und
Graphiken ausgestellt wurden, debütiert Grass 1956 mit dem Band Die
Vorzüge der Windhühner als Lyriker. Der Gedichtband findet aber kaum
Absatz und bleibt vom breiten Lesepublikum weitestgehend unbeachtet (vgl.
V ORMWEG 1996, 36). Die wenigen Kritiken heben die ‚Welthaltigkeit‘ der
Gedichte hervor, die sich auf Details, Gegenstände und reale Sachverhalte
beziehen. Bereits die Titel signalisieren dieses Interesse an alltäglichen
Gegenständen und Erfahrungen: Die Mückenplage, Bohnen und Birnen, Die
Klingel oder Polnische Fahne. Allerdings handelt es sich bei diesen Gedichten
nicht um reine Alltagsminiaturen. Vielmehr wird im detaillierten Blick auf
die Dinge die Engstirnigkeit der in der Wirklichkeit Handelnden aufgezeigt.
Für Hermann Korte sind daher „das Gegenständliche“ und „die Realien“
bei Grass nie Selbstzweck, „sondern einbezogen in eine Diagnose von
Verhaltens- und Denkmustern, in eine zum Teil satirisch zugespitzte Replik
auf kleinbürgerliche Nachkriegsmentalität“ (K ORTE 2004, 114).
Nach seinem Debütband wirkt Grass vor allem als Dramatiker, bis er mit
Die Blechtrommel 1959 seinen ersten Roman vorlegt und schnell zu einem in‐
ternational angesehenen Schriftsteller avanciert. Die beiden zentralen Themen,
die sowohl Die Blechtrommel als auch das Gesamtwerk von Grass bestimmen,
sind der Verlust seiner Danziger Heimat und die Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus (vgl. u. a. P REECE 2009, 10–23). Seit 1957 gehört Grass der
Gruppe 47 an, wo er sich an Lesungen und Diskussionsrunden beteiligt, zu
188 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

denen Hans Werner Richter (1908–93) bis 1967 einlud. Für das erste Kapitel
der Blechtrommel erhält Grass den Preis der Gruppe 47. Trotz seines enormen
Erfolgs, den er mit Die Blechtrommel hat, sieht sich Grass vor allem als Lyriker,
und selbst seine Romane betrachtet er in gewisser Weise als Gedichte, die
allerdings aus der Form geraten seien (vgl. L EEDER 2009, 151).
Korte sieht Grass als eine Art Vorläufer Enzensbergers: Grass habe
ein diffuses Unbehagen an der deutschen Nachkriegsgesellschaft lyrisch
artikuliert. Seine Gedichte kämen nur selten über den spöttisch-überlegenen
Ton hinaus, während Enzensberger „seine poetische Form fand: als Mixtur
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aus Artistik und Engagement“ (K ORTE 2004, 115). Gleichwohl sind Grass’ und
Enzensbergers Texte in ihrer teilweise heftigen Polemik und ihren Zynismen
vergleichbar. In Grass’ Texten tendiert der provokative Stil mitunter ins
Obszöne. Insbesondere die expliziten Episoden in den Romanen, die über
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Geschlechtsverkehr oder Masturbation handeln, wurden von der zeitgenös‐


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sischen Kritik negativ bemerkt und sanktioniert (vgl. M EWS 2008, 77–81).
Grass gehört zu den politisch engagierten Dichtern der Nachkriegszeit.
Im Gegensatz zu Enzensberger ist Grass auch parteipolitisch tätig. So ist er
mit Willy Brandt (1913–92) persönlich verbunden. Er schreibt für Brandt
Reden und wirbt bei politischen Veranstaltungen für die SPD. Grass tritt
1982 in die SPD ein; 1993 gibt er das Parteibuch aber wieder zurück.
Im Nachkriegsdeutschland avanciert er zum politischen Intellektuellen und
moralischen Mahner, der sich regelmäßig zu innen- und außenpolitischen
Sachverhalten positioniert. 2006 wird Grass’ Rolle heftig diskutiert, da er
im autobiografischen Werk Beim Häuten der Zwiebel (2006) zum ersten Mal
öffentlich bekannt macht, dass er mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört hatte.
Die folgende Debatte bezieht sich vor allem auf die Integrität des Dichters, der
die nationalsozialistischen Verstrickungen anderer meist heftig kritisiert hatte.
Mit seinem zweiten Gedichtband Gleisdreieck (1960), aus dem das Gedicht
Askese stammt, hat Grass in der Folge der Blechtrommel weitaus mehr
Erfolg als mit Die Vorzüge der Windhühner. Gleichwohl erkennt man eine
enge Vernetzung der einzelnen Werke: In diesem Band finden sich einige
Gedichte, die auf seinen Romanerfolg und auf den ersten Gedichtband
anspielen und zentrale Motive weiterführen (z. B. Normandie, Geflügel auf
dem Zentralfriedhof, In eigener Sache, Auf weißem Papier). Diese gattungs‐
übergreifende, auf ein Gesamtwerk zielende Schreibweise gilt auch für die
bildenden Künste, denn dem Gedichtband sind diverse Kohlezeichnungen
von Grass beigegeben, die die 55 Gedichte in eine düstere Atmosphäre
tauchen. Gleisdreieck versammelt Gedichte, die bereits den stark politischen
5. Gesellschaftskritik 189

Impuls der späteren Gedichte Grass’ vorwegnehmen. Gleichzeitig reflektie‐


ren sie auch immer wieder das Schreiben und die Schwierigkeit, sich in eine
lyrische Tradition zu stellen. Exemplarisch lässt sich dies an Askese zeigen.

Askese

Die Katze spricht.


Was spricht die Katze denn?
Du sollst mit einem spitzen Blei
die Bräute und den Schnee schattieren,
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5 du sollst die graue Farbe lieben,


unter bewölktem Himmel sein.

Die Katze spricht.


Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, 9783825254025, 2020

Was spricht die Katze denn?


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Du sollst dich mit dem Abendblatt,


10 in Sacktuch wie Kartoffeln kleiden
und diesen Anzug immer wieder wenden
und nie in neuem Anzug sein.

Die Katze spricht.


Was spricht die Katze denn?
15 Du solltest die Marine streichen,
die Kirschen, Mohn und Nasenbluten,
auch jene Fahne sollst du streichen
und Asche auf Geranien streun.

Du sollst, so spricht die Katze weiter,


20 nur noch von Nieren, Milz und Leber,
von atemloser saurer Lunge,
vom Seich der Nieren, ungewässert,
von alter Milz und zäher Leber,
aus grauem Topf: so sollst du leben.

25 Und an die Wand, wo früher pausenlos


das grüne Bild das Grüne wiederkäute,
sollst du mit deinem spitzen Blei
Askese schreiben, schreib: Askese.
So spricht die Katze: Schreib Askese.

(G RASS 2007, 90)


190 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Das Gedicht ist in freien Rhythmen und ohne Endreim gehalten. Während
sich Enzensbergers lock lied anderer lyrischer Stilmittel (Alliteration, Asso‐
nanz etc.) bedient und Brechts Böser Morgen den Prosastil bevorzugt, ist
Askese durch hermetisch anmutende Bilder bestimmt: Exemplarisch sei die
sprechende Katze erwähnt, die keine einheitliche Motivtradition besitzt
und deswegen als Motiv und Chiffre hermetisch bleibt, da ihre Bedeutung
auch nicht aus dem Gedichtkontext rekonstruiert werden kann. Dies ist
auch deswegen von besonderer Relevanz, weil die sprechende Katze für
die ersten drei Strophen strukturbildend ist. So beginnen die jeweiligen
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Eingangsverse mit derselben Formulierung: „Die Katze spricht. / Was spricht


die Katze denn?“ (v. 1 f., 7 f., 13 f.) Diese Verse dienen als Einleitung
für unterschiedliche Imperative, die syntaktisch durch das Verb ‚sollen‘
angezeigt werden. Die Sprechinstanz des Gedichts tritt hinter die Gebote
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der sprechenden Katze zurück. Diese Struktur wurde u. a. von Werner


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Frizen als eine Art theologische Belehrung aufgefasst, da die syntaktische


Form ‚du sollst‘ an biblische Formeln erinnere (F RIZEN 1992, 36 f.). Folgt
man Frizens Deutung, so handelt es sich bei der Katze um eine göttliche
Instanz, die aber der Exegese bedarf. Denn das, was die Katze spricht, wird
nicht direkt wiedergegeben, sondern von der Sprechinstanz des Gedichts
paraphrasiert. Die strukturierende Frage: „Was spricht die Katze denn?“
markiere insofern die folgende Paraphrase und Exegese des göttlichen
Wortes (vgl. M ETZGER -H IRT 1965, 285), die dann vor allem als Imperative
formuliert werden.
Die Befehle, die die Katze spricht, wenden sich an ein nicht näher
bestimmtes Du, dem ein ‚einfaches‘ Leben angeordnet wird: „Du sollst dich
mit dem Abendblatt, / in Sacktuch wie Kartoffeln kleiden“ (v. 9 f.), wie es
in der zweiten Strophe heißt. Dieser Anzug darf weder gewaschen noch
ausgetauscht werden. Das Du muss sein Leben lang im sprichwörtlichen
Kartoffelsack umhergehen. Die titelgebende Askese kann an dieser Stelle
also auf die Lebensführung bezogen werden: Es geht um die Disziplinierung
des eigenen Verhaltens, die im freiwilligen Verzicht auf Annehmlichkeiten
und Genüsse ihren Ausdruck findet. Auch die auf Innereien reduzierte
Ernährung, die in der vierten Strophe ausgeführt wird, ließe sich in diesem
Kontext verstehen.
Zwei Dinge stehen dieser alltäglichen Auffassung der Askese aber gegen‐
über: Einerseits ist die Askese des adressierten Du wohl nicht freiwillig,
schließlich hat es den Geboten der sprechenden Katze zu folgen. Anderer‐
seits ist die Askese gemeinhin auf die Erreichung höherer Ziele, meist
5. Gesellschaftskritik 191

auf transzendentale oder religiöse Erfahrungen, gerichtet. Worin besteht


also das Ziel der oktroyierten Entsagung? Einen ersten Hinweis geben
vielleicht die in dieser Strophe angesprochenen Organe: Mit Niere, Milz,
Leber und Lunge werden die zentralen Verdauungs- und Stoffwechselor‐
gane angesprochen. Möglicherweise wird mit dieser Bildgruppe auf das
‚Verarbeiten‘ von Schuld angespielt. Ferner stellt sich das Gedicht über die
erste Strophe bereits in einen poetologischen Kontext: „Du sollst mit einem
spitzen Blei / die Bräute und den Schnee schattieren“ (v. 3 f.). Verwiesen wird
hier auf den Bleistift, der an dieser Stelle zum Malen oder Schreiben dient.
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Die mit Weiß assoziierten „Bräute“ und der „Schnee“ sollen mithilfe des
Bleistifts „schattier[t]“ werden (v. 3). Welchen Zweck diese ‚Schattierungen‘
verfolgen, ist nicht klar. Vielmehr wird apodiktisch gefordert, dass das Du
„die graue Farbe lieben“ soll (v. 5). Das Grau steht dabei in enger Verbindung
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mit dem Bleistift und wird auch in der vierten Strophe erneut aufgenommen.
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Ferner verweist auch die „Asche“, die „auf Geranien“ gestreut werden soll,
auf die graue Farbe (v. 18). Grau ist in der Farbsymbolik des Gedichts
also von zentraler Bedeutung und wird mit dem Schreib- und Zeichenwerk‐
zeug eng verknüpft. Der Bleistift ist zudem ein Schreibwerkzeug, das in
weitaus höherem Maße den Prozesscharakter betont, da er im Gegensatz
zum Kugelschreiber, Füllfederhalter oder zur Schreibmaschine die schnelle
Korrektur ermöglicht. Die Bleistiftschrift kann radiert werden, womit der
Schreibprozess als eine Art Handwerk hervorgehoben wird. Beim Bleistift
handelt es sich ferner um ein altes Schreibgerät, dessen Verwendung bereits
im 13. Jahrhundert nachgewiesen ist.
Dass es sich bei der sprechenden Katze um eine poetologische Souffleuse
handeln könnte, legt die letzte Strophe nahe. Während die ersten vier
Strophen jeweils sechs Verse umfassen, ‚fehlt‘ in der letzten Strophe ein
Vers: Das Gedicht schließt mit fünf Versen ab. Auch das „Blei“ (v. 27) wird
hier wieder aufgenommen. Diesmal wird auch dezidiert auf das Schreiben
eingegangen. Das Du soll auf einer „Wand, wo früher pausenlos / das grüne
Bild das Grüne wiederkäute“ (v. 25 f.), mit dem Bleistift das Wort „Askese“
(v. 28) schreiben. Hier wird eine Redundanz gegen eine andere ausgetauscht
(v. 27–29):
sollst du mit deinem spitzen Blei
Askese schreiben, schreib: Askese.
So spricht die Katze: Schreib Askese.
192 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

Der eigene Schreibakt erscheint als Palimpsest. Das „grüne Bild“ auf der
Wand wird mit dem Grau des Bleistifts überschrieben, wobei nur das Wort
‚Askese‘ notiert wird. Möglicherweise tendiert das Schreiben dann auch
ins Malen, da der graue Ton des Graphits bei wiederholter Schreibung
des Wortes sich überlagert und das vormals „grüne Bild“ verdunkelt bzw.
‚schattiert‘. Es könnte sich hierbei auch um eine Anspielung auf die in der
Renaissance etablierte Technik handeln, Gesichter in der Ölmalerei grün zu
grundieren, damit sie nicht zu rot erscheinen und somit nicht zu sehr danach
aussehen, dem Genuss zugeneigt zu sein.
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Mit dieser Ablehnung der Farbigkeit wendet sich das Gedicht gegen
den lyrischen Traditionalismus, für den die Naturlyrik exemplarisch steht
(„das grüne Bild das Grüne wiederkäute“, v. 26). Schon in Die Vorzüge der
Windhühner hat sich Grass gegen die Naturlyrik gewendet, wenn im Gedicht
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An alle Gärtner das Festhalten an traditionellen Motiven als defizitär und


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nicht mehr zumutbar abgewiesen wird:


Jetzt kommt ihr mit Blumen,
bereitet mir Astern zu,
als bliebe vom Herbst nicht Nachgeschmack genug.

(G RASS 2007, 12)


„Blumen“ und „Astern“ sind angesichts der gesellschaftlich-politischen Ent‐
wicklungen und der historischen Ereignisse nicht mehr angemessen: Die
„Nelken“ solle man „im Garten“ lassen (G RASS 2007, 12). Auf die historische
Schuld verweist die (mögliche) Celan-Allusion, dass die „Mandeln“ „doch
bitter“ (G RASS 2007, 12) sind, weil Blausäure nach Bittermandeln riecht. Insofern
proklamiert die sprechende Katze in Askese das poetologische Programm,
das Grass seinen Gedichten unterlegt. Grass selbst hat diesen programma‐
tischen Charakter immer wieder betont, beispielsweise in den Frankfurter
Poetikvorlesungen von 1990. Einerseits wird auf den handwerklichen Aspekt
des Schreibens und Malens verwiesen und andererseits die Ablehnung tradi‐
tionell-lyrischer Motive gefordert. Die Privilegierung der Farbe Grau scheint
das entscheidende Leitmotiv für diese Poetik zu sein. Dieses poetologische
Programm fußt jedoch auf einem spezifisch politischen Programm, dessen
Fluchtpunkt die deutsche Vergangenheit ist.
Grass hat Askese interessanterweise als (indirekte) Antwort auf Adornos
(1903–69) vermeintliches Lyrik-Verbot bezeichnet. Adornos Auschwitz-Ma‐
xime hat Grass aber weniger als Verbot, sondern vielmehr als Maßstab für
5. Gesellschaftskritik 193

Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Er stellte die Aporie, die
Adorno mit seinem provokativen Satz markiert, in der Retrospektive heraus.
In den Frankfurter Poetikvorlesungen reflektiert er diesen Prozess, der sich
in den Texten der 1950er Jahre niederschlägt: „Denn wenn ich auch mit
vielen anderen Adornos Gebot als Verbot mißverstanden habe, blieb dessen
neue, die Zäsur markierende Gesetzestafel dennoch in jeder Blickrichtung
sichtbar.“ (G RASS 1990, 17) Mit Adorno wird also auch das Aussprechen
eines Verbots verbunden; die Katze aus Askese deswegen aber als Figuration
Adornos zu deuten, scheint doch zu forciert (vgl. F RIZEN 1992, 38).
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Ebenso wie für Adorno bedeutete ‚Auschwitz‘ (als Chiffre für die Shoah)
für Grass einen gesellschaftlichen Riss, den man niemals wieder schließen
könne. Grass benennt hier klar die ‚Lizenzen des Sagbaren‘, wenn er
konstatiert:
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Wir alle, die damals jungen Lyriker der fünfziger Jahre […] waren uns deutlich
bis verschwommen bewußt, daß wir zwar nicht als Täter, doch im Lager der Täter
zur Auschwitz-Generation gehörten, daß also unserer Biographie, inmitten der
üblichen Daten, das Datum der Wannsee-Konferenz eingeschrieben war (G RASS
1990, 17 f.).

Diese Zugehörigkeit zur ‚Täter-Generation‘ prägt Grass’ literarisches Werk.


Dennoch besteht die Möglichkeit, lyrisch weiterzusprechen: „aber auch
soviel war uns gewiß, daß das Adorno-Gebot – wenn überhaupt – nur
schreibend zu widerlegen war.“ (G RASS 1990, 18) Dabei muss man sich
jedoch von der lyrischen Tradition emanzipieren und sich der Wirklichkeit
zuwenden. Verbunden ist damit die unhintergehbare Prozesshaftigkeit des
lyrischen und literarischen Arbeitens. Grass versucht, dies im Rahmen
seiner Farbsymbolik darzustellen. Konnte die Kunst vor Auschwitz noch
die gesamte Farbpalette bedienen, muss zeitgenössische Kunst sich auf die
„unendlichen Abstufungen“ des Grau konzentrieren (G RASS 1990, 18). Eine
Scheidung in ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ sei nicht mehr möglich. Aber nicht nur
die Schwarzweißmalerei, die sinnbildlich wohl auch auf die klare Scheidung
in ‚gute‘ und ‚böse‘ politische Lager bezogen werden muss, lehnt Grass
ab. In Askese gilt nur das Grau in seinen unterschiedlichen Schattierungen
(Bleistift, Kartoffelsack und der ‚graue Topf‘; selbst die Innereien, die in
der vierten Strophe als Nahrung aufgeführt werden, sind im ausgebluteten
Zustand grau). Andere Farben werden abgelehnt, wie das Weiß („Bräute“,
„Schnee“), das Blau („die Marine“), das Rot („Kirschen, Mohn und Nasenblu‐
194 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

ten“) und das Grün („das grüne Bild“). Folgt man dieser Farbsymbolik, dann
handelt es sich um eine Absage an jegliche Form poetischer Artistik:
Weg mit den sich blumig plusternden Genitivmetaphern, Verzicht auf eingerilkte
Irgendwie-Stimmungen und den gepflegten literarischen Kammerton. Askese,
das hieß Mißtrauen allem Klingklang gegenüber, jenen lyrischen Zeitlosigkeiten
der Naturmystiker, die in den fünfziger Jahren ihre Kleingärten bestellten und
– gereimt wie ungereimt – den Schullesebüchern zu wertneutraler Sinngebung
verhalfen. (G RASS 1990, 19)
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Grass nimmt hier dezidiert die Dichterinnen und Dichter, die in der Tradition
der naturmagischen Schule stehen, aufs Korn. Angesichts der Schrecken des
Nationalsozialismus könne ein lyrischer Traditionalismus eben nicht unge‐
brochen weitergeführt werden. Diese poetologische Dimension verbindet
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Grass mit einer politischen Ideologiekritik, die den Zweifel und die Skepsis
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zu Leitkategorien erhebt. Denn der Vorwurf, den Grass gegen die Naturlyrik
erhebt, ist ihre apolitische Haltung. Zwar lehnt Grass das Vorbild, das die
Brecht’sche Lyrik bietet, ab (wie er auch Benns Lyrik ablehnt), doch sieht
man in ihrem dezidierten Weltbezug eine Familienähnlichkeit zwischen
Grass’ ideologie- und gesellschaftskritischer Lyrik und Brechts politischer
Gebrauchsästhetik.
Mit der redundanten Forderung, nicht nur asketisch zu leben, sondern
nur noch Askese zu schreiben, wird also auch der permanente Zweifel
verbunden. Zweifeln kann der Entsagende, weil man glaubt, dass die Askese
gegenüber den Verführungen immun mache.
Der Fluchtpunkt der Gedichte in Gleisdreieck bleibt die Vergangenheit.
Sowohl explizit als auch implizit werden der Nationalsozialismus und seine
Folgen für die Gegenwart thematisiert. Ausgangspunkt des Schreibens ist
der Zweifel, der hinter der Bequemlichkeit moralischen Zündstoff erkennt.
Grass hat die Voraussetzungen und Folgen dieser „Schreibhaltung“ 1990
selbst reflektiert: „Eine so akzeptierte Schreibhaltung setzt voraus, daß sich
der Autor nicht als abgehoben oder in Zeitlosigkeit verkapselt, sondern als
Zeitgenosse sieht, mehr noch, daß er sich den Wechselfällen verstreichender
Zeit aussetzt, sich einmischt und Partei ergreift.“ (G RASS 1990, 36) Grass’
Lyrik rekonstruiert aus der Vergangenheit die gegenwärtigen Verstrickun‐
gen. Für Grass ist der Dichter „jemand, der gegen die verstreichende Zeit
schreibt“ (G RASS 1990, 36). Gleichzeitig soll die Dichtung aber auf die Ge‐
genwart wirken. Die Bundesrepublik und die unmittelbare Nachkriegszeit
5. Gesellschaftskritik 195

werden dabei als heuchlerisch desavouiert, wie beispielsweise in Kleine


Aufforderung zum großen Mundaufmachen – oder der Wasserspeier spricht:
Wer jene Fäulnis,
die lange hinter der Zahnpaste lebte,
freigeben, ausatmen will,
muß seinen Mund aufmachen.

(G RASS 2007, 112)

Ein alltägliches Phänomen wird hier in seinen poetischen Bedeutungs‐


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schichten ausgelotet. Das Öffnen des Mundes wird in der ersten Strophe auf
die organisch-chemischen Prozesse, die im geschlossenen Mund stattfinden,
reduziert. Wer den Mund nicht öffnet, bekommt schlechten Mundgeruch,
da es zu bakteriell indizierten Zersetzungsprozessen kommt. Dieses Bild
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erhält aber eine dreifache Bedeutungsebene: (a) Der geöffnete Mund ist das
Zeichen desjenigen, der widerspricht. (b) Das Öffnen des Mundes wird fer‐
ner mit dem Emanzipationsprozess von der Vätergeneration parallelgeführt
(vgl. G RASS 2007, 112). (c) Gleichzeitig stellt das Gedicht die Mundfäule als
Signum einer historischen Schuld heraus:
Wir wollen den Mund aufmachen,
die schlimmen Goldzähne,
die wir den Toten brachen und pflückten,
auf Ämtern abliefern.

(G RASS 2007, 112)

Dieter Stolz sieht in der Mundfäule daher den „mit den Verbrennungsöfen
der Konzentrationslager assoziierten Gestank“ (S TOLZ 1999, 30). Es gehe in
den Gedichten darum, die „[g]eschichtlichen Tatsachen, insbesondere die
mit den kollektiven Schuldbekenntnissen, den sogenannten ‚Persilscheinen‘
und der fragwürdigen Gnade der späten Geburt bis heute oft verdrängten
Greueltagen der Hitlerzeit“ poetisch zu benennen (S TOLZ 1999, 30). Freilich
bleibt es bei der bloßen Absichtserklärung, die aus den Mundhöhlen der
Toten herausgebrochenen Goldzähne zurückzugeben: „Wir wollen“ (G RASS
2007, 112). Es zeigt sich die Ambivalenz von Grass’ welthaltiger Lyrik, denn
ob die Absichtserklärung in die Tat umgesetzt wird, ist ungewiss.
Grass’ zweiter Gedichtband und das Gedicht Askese präsentieren ein
ästhetisch-politisches Programm, das im Kontext des ‚Schreibens nach
Ausschwitz‘ zu betrachten ist (vgl. E NGELS 2005, 20 f.). Bei Askese handelt sich
196 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik

sowohl um ein poetologisches als auch um ein politisches Gedicht, wenn es


sich ästhetisch einerseits gegen den lyrischen Traditionalismus und politisch
andererseits gegen jegliche Ideologie wendet. In seiner radikalen Ideologie‐
abwehr gerät Askese jedoch in Gefahr, selbst ideologisch zu werden.
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