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Deutsch Skript BK

Konerth & Kühnle

KURZPROSA
In der Kürze liegt die Würze
Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 1: Kurt Marti„Happy End“ (1960)

Sie umarmen sich, und alles ist wieder gut. Das Wort ENDE flimmert über ihrem Kuss. Das
Kino ist aus. Zornig schiebt er sich zum Ausgang, sein Weib bleibt im Gedrängel hilflos
stecken, weit hinter ihm. Er tritt auf die Straße und bleibt nicht stehen, er geht, ohne zu
warten, er geht voll Zorn, und die Nacht ist dunkel. Atemlos, mit kleinen, verzweifelten
Schritten holt sie ihn ein, holt ihn schließlich ein und keucht zum Erbarmen. Eine Schande,
sagt er im Gehen, eine Affenschande, wie du geheult hast. Sie keucht. Mich nimmt nur
wunder warum, sagt er. Sie keucht. Ich hasse diese Heulerei, sagt er, ich hasse das. Sie
keucht noch immer. Schweigend geht er und voll Wut, so eine Gans, denkt er, so eine blöde,
blöde Gans, und wie sie keucht in ihrem Fett. Ich kann doch nichts dafür, sagt sie endlich,
ich kann doch wirklich nichts dafür, es war so schön, und wenn es schön ist, muss ich
einfach heulen. Schön, sagt er, dieser Mist, dieses Liebesgewinsel, das nennst du also
schön, dir ist ja wirklich nicht zu helfen. Sie schweigt und geht und keucht und denkt, was
für ein Klotz von Mann, was für ein Klotz.
Aus: Kurt Marti: Dorfgeschichten. Hamburg 1983.

Arbeitsauftrag:
Lesen Sie den obigen Text und analysieren Sie anhand von Textstellen die Kommunikation
zwischen Mann und Frau.
(TIPP: Erinnern Sie sich an Schulz von Thuns Selbstoffenbarung und Beziehungsaussage)

Arbeitszeit: 10Min.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 1: „Happy End“ – Deutungshypothesen aufstellen

Arbeitsauftrag:
Füllen Sie folgende Tabelle aus, indem Sie Deutungshypothesen (Behauptungen) bezüglich
der Kommunikationssituation zwischen Mann und Frau aufstellen und diese an passenden
Textstellen belegen.
(TIPP: Achten Sie dabei auch auf die Charaktereigenschaften der Figuren. Für die Spalte
sprachliche Mittel siehe auch AB im Anhang.)
Arbeitszeit: 15Min.

Deutungshypothese Textbeleg Sprachl. Mittel / Erklärung / Deutung


(Was?) (Wo?) Darstellung im Text (Warum?)
(Wie?)
(Vgl. Z.4f) Adjektive/ Wortwahl Die Beschreibung ihrer
Sie ist zurückhaltend und Schritte als klein und
„Ich kann doch Steigerung (Klimax),
vertritt nicht selbstbewusst verzweifelt zeigt deutlich,
nichts dafür ... Wiederholung,
ihren Standpunkt. wie sie dem Mann
ich kann doch Parallelismus
hinterherläuft und wie
wirklich nichts
unbeholfen sie in dieser
dafür ...“ (Z.10)
Situation wirkt. Auch die
Tatsache, dass sie sich für
ihre Verhalten wiederholt
entschuldigt, verdeutlicht die
Unsicherheit der Frau.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
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Zusammenfassendes Fazit (Botschaft der Geschichte? Bedeutung des Titels?)

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
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Thema 2: Merkmale einer Kurzgeschichte am Beispiel von „Happy End“

Kurzgeschichten sind eine der bekanntesten Textformen überhaupt, wobei sich ihr Name
von den amerikanischen Short Stories ableitet. Die Kurzgeschichte präsentiert die Form
kurzen Erzählens (Kurzprosa) und grenz sich dadurch von dem Roman, der Novelle und der
Erzählung ab.
Kurzgeschichten entstanden als short stories im Bereich der anglo-amerikanischen Literatur
(z. B. Edgar Allan Poe, William Faulkner) und setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch
in Deutschland durch.
In Deutschland entstanden besonders in der Nachkriegszeit bedeutende Kurzgeschichten z.
B. von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Elisabeth Langgässer, Alfred
Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz. Ab Mitte der 1960er-Jahre hat diese
literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung verloren.

Arbeitsauftrag:
Im Folgenden finden Sie stichwortartig typische Merkmale einer Kurzgeschichte
aufgelistet.Notieren Sie in Stichworten, inwiefern diese Merkmale auf Kurt Martis
„Happy End“ zutrifft.

Form:

- geringer Umfang

- offener Anfang: d.h. keine Exposition / keine Einleitung, sondern überraschender Einstieg

- Orte und Schauplätze sind häufig nicht benannt (wir erfahren also selten, wo die Kurzgeschichte
wirklich spielt

- keine ausführliche Vorstellung der Personen (Grund: Austausch- und Übertragbarkeit)

- kurze skizzenhafte Darstellung einer konfliktreichen Situation

- Technik der Verdichtung durch Aussparungen, Andeutungen und Symbolik

- der Höhepunkt/Wendepunkt ereignet sich meist am Ende der Geschichte.

- Wendepunkt ermöglicht dem Rezipienten eine neue Sicht auf die dargestellte Situation / Problematik

- offener Schuss oder Pointe

Thema:

- das Thema entspricht den gesellschaftlichen Problemen der Entstehungszeit

- die Alltäglichkeit und der Aktualitätsbezug des Themas ermöglichen die Übertragbarkeit auf den
Rezipienten und seine Identifikation mit dem Protagonisten.

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Handlung:

- begrenzte Personenzahl und begrenzter Handlungsraum (Reduktion)

- Personen werden nur in Aspekten beschreiben / charakterisiert

- Verdichtung des Geschehens auf einen Augenblick aus dem Leben eines Menschen (keines Helden)

- Wiedergabe des Geschehens durch erlebte Rede, inneren Monolog etc.

- wenig Handlung (Chronologisches / lineares Erzählen und in der Regel nur ein Handlungsstrang ohne
Rückblenden)

- Gleichzeitigkeit durch innere Monologe / Einblendungen

- Stunden / Minuten / Augenblicke geben eine exemplarische Situation eines Menschen als eine
Momentaufnahme wieder

Sprache:

- sprachliche Gestaltungsmittel (Metaphern, Wortwahl, etc.) unterstützen die Textaussage

- Sprachvarietäten (Umgangssprache, Standardsprache, Dialekt, Jargon, etc.) dienen der


Veranschaulichung der Problematik

- die Sprache entspricht der Thematik, der Bildung des Protagonisten und der dargestellten Situation

- Sprache oft sachlich, nüchtern, knapp, bildhaft, realitätsnah, funktional

- Doppelbödigkeit und Mehrdeutigkeit verweisen auf ein komplexes Problem hinter der vordergründigen
Handlung

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Thema 3: San Salvador (Peter Bichsel *1935)

Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.


Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige
Wellenlinien, dann die Adressen seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen
neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: »Mir ist es hier zu kalt«, dann »ichgehe nach
Südamerika«, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen
und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass
sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig
seinen Namen Paul darunter.
Dann saß er da.
Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an
irgendetwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien,
entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die
Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er
wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab.
Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in
blauschwarzer Schrift sein Name Paul.
»Mir ist es hier zu kalt«, stand auch darauf.
Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läseseine
Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die
Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein.
Sie würde in den »Löwen« telefonieren.
Der »Löwen« ist mittwochs geschlossen.
Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht.
Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streifen, mit dem Ringfinger der linken
Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann den Mantel aufknöpfen.
Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung
für den Füller noch einmal - leicht nach rechts drehen - las auch den französischen Text,
verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder auf seinen Zettel, dachte an Palmen,
dachte an Hildegard.
Saß da.
Um halb zehn kam Hildegard und fragte: »Schlafen die Kinder?«
Sie strich die Haare aus dem Gesicht.

Aus: Peter Bichsel: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen. Freiburg 1964.

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Thema 3: „San Salvador“ – Deutungshypothesen aufstellen

Arbeitsauftrag:
Füllen Sie folgende Tabelle aus, indem Sie Deutungshypothesen (Behauptungen) bezüglich der
Charaktereigenschaften und der Beziehung zwischen Mann und Frau aufstellen und diese an
passenden Textstellen belegen.
(TIPP: Achten Sie dabei auch auf die Charaktereigenschaften der Figuren. Für die Spalte
sprachliche Mittel siehe auch AB im Anhang.)
Arbeitszeit: 15Min

Deutungshypothese Textbeleg Sprachl. Mittel / Erklärung / Deutung


(Was?) (Wo?) Darstellung im Text (Warum?)
(Wie?)

...

Zusammenfassendes Fazit (Botschaft der Geschichte? Bedeutung des Titels?)

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Merkblatt: Aufbau eines Interpretationsaufsatzes

Checkliste zur schriftlichen Analyse und Interpretation von Kurzgeschichten

1. Einleitung
 Basissatz (Autor*in, Titel, Textart, Entstehungszeit, Thematik / Problematik)

2. Hauptteil
 Inhaltsangabe
Präsens, nur das Wichtigste; Tipp: W-Fragen beantworten, sachlich
 Interpretation
 nah am Text, schlüssig, nachvollziehbar
 Personen (Charakteristik – auch mögliche Gründe für Verhaltensweisen
aufzeigen – und Konstellation der Figuren / Beziehungsanalyse)
 sprachliche Gestaltung (Sprachebene, Wortwahl, siehe AB Stilmittel) und ihre
Wirkung

3. Schluss
 Fazit
Gesamtaussage und Wirkung
 Relevanz des Themas (für heute)
 Begründete Meinung zum Thema / Sachverhalt (kein Autorenlob/keine
Autorenkritik)

Tipps zur Vorbereitung und zum Ausformulieren des Aufsatzes

 Dem Aufsatz geht eine sorgfältige Textarbeit voran. Die wichtigsten Aspekte
werden bei Markierungen, Unterstreichungen, Randbemerkungen und Notizen
unter dem Text bereits beachtet.
 Erstellen Sie zunächst einen Schreibplan / ein Konzept. Fangen Sie nicht an, bevor
Sie nicht alle wichtigen Analyse- und Interpretationsaspekte stichpunktartig geklärt
haben.
 Belegen Sie Ihre Aussagen immer rückbeziehend auf den Text. Möglich sind kurze
Zitate oder indirekte Wiedergabe. Zeilenangaben müssen immer ausgewiesen
werden. (Siehe AB Zitieren)
 Beschreibung und Deutung sollen sich ergänzen. Aus der präzisen Beschreibung
gewinnen Sie Ihre Ergebnisse, die Sie dann noch im Zusammenhang deuten müssen.
 Schreiben Sie Ihren Aufsatz im Präsens.
 Schreiben Sie sachlich.
 Vergessen Sie nicht, Ihren Text sorgfältig Korrektur zu lesen.

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Merkblatt: Mögliche Bewertungskriterien eines Interpretationsaufsatzes

Kriterium Merkmale Notizen (Was muss ich noch üben?)


Einleitung,  Vollständiger Basissatz
Inhaltsangabe  plausible Inhaltsangabe
und  sinnvolle und erkennbare Struktur
Schluss; der Arbeit
Gliederung der  Zusammenhang und Verknüpfung
zwischen den Textelementen
Arbeit erkennbar
 abrundender Schluss
Ausgestaltung  vollständige Bearbeitung des
der Themas gemäß der
Aufgabenstellung
Interpretation im  Bezugnahme auf die Beziehung der
Hauptteil Personen (Kommunikationsproblem,
Lösungsansätze)
 Überzeugungskraft und Schlüssigkeit
der Interpretation
 Intention des Autors / der Autorin,
Wirkung auf den Leser
 Auswahl geeigneter Zitate und
plausible, ausführliche
nachvollziehbare Deutung
 Einbezug sprachlicher
Besonderheiten mit Deutung
Sprache  Formulierung klarer, grammatisch
und Stil richtig gebildeter Sätze
 Trennung ganzer Sätze voneinander
 Flüssigkeit und Verständlichkeit der
Ausdrucksweise
 sachlicher, präziser,
abwechslungsreicher Sprachstil
 Arbeit mit dem Text: flüssiges und
korrektes Zitieren, Verwendung der
indirekten Rede falls nötig
 korrekte Verwendung der Zeitstufe
Fehler und Form  Anzahl der Rechtschreib- und
Zeichensetzungsfehler
 Übersichtlichkeit und Lesbarkeit der
Arbeit

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Thema 4: Übungen für die Klausur –


Einen eigenen Interpretationsaufsatz schreiben

Arbeitsauftrag:
Analysieren und interpretieren Sie die Kurzgeschichte „Happy End“ nach den Ihnen
bekannten Kriterien. Formulieren Sie Ihre Ergebnisse in eigenen Worten.
(TIPP: Verwenden Sie die Checkliste. Formulierungshilfen finden Sie im Anhang.)

ODER

Arbeitsauftrag:
Analysieren und interpretieren Sie die Kurzgeschichte „San Salvador“ nach den Ihnen
bekannten Kriterien. Formulieren Sie Ihre Ergebnisse in eigenen Worten.
(TIPP: Verwenden Sie die Checkliste. Formulierungshilfen finden Sie im Anhang.)

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Thema 4: Übungen für die Klausur –


Einen Interpretationsaufsatz bewerten

Arbeitsauftrag:
Lesen Sie – sinnvollerweise nachdem Sie eine eigene Interpretation verfasst haben – die
Interpretation zu „San Salvador“ aus dem Internet
Markieren Sie den Aufbau der Interpretation und machen Sie sich Randnotizen, was Ihnen
positiv und negativ auffällt. Geben Sie eine begründete Note.

„San Salvador“ – Eine Interpretation aus dem Internet beurteilen

San Salvador Interpretation (geschrieben von: Dennis Rudolph, Sonntag, 07.09.2014 um 14:00 Uhr)
In der Kurzgeschichte „San Salvador“ von Peter Bichsel wird beschrieben, wie sich ein Mann die Zeit
vertreibt. Er testet einen neuen Füller, indem er Linien malt und seine Unterschrift gibt. Zusätzlich
schreibt er, ihm sei es „hier zu kalt“ und er gehe nach Südamerika. Über diese beiden Sätze,
besonders über letzteren, denkt er lange und intensiv nach.
Er stellt sich vor, wie seine Frau wohl auf diesen Zettel reagieren wird, sobald sie von ihrer Gesangsprobe
zurückgekehrt sein wird. Dann überlegt er, einen Brief zu schreiben. Als seine Frau Hildegard dann
ankommt, fragt sie ihn, Paul, nur, ob die Kinder schon im Bett seien, und streicht sich die Haare aus dem
Gesicht. Genau, wie er vorher vermutet hat.
Der Text lässt sich in drei Abschnitte teilen: In Abschnitt eins wird erzählt, wie Paul sich mit sinnlosen
Aktivitäten die Zeit vertreibt: Unterschrift, Initialen, Adresse, Adresse seiner Eltern, Wellenlinien schreibt
beziehungsweise zeichnet er mit seinem Füller. Diese Monotonie wird dadurch verdeutlicht, dass es
zahlreiche Aufzählungen gibt, die entweder überleitungslos sind oder durch ein stumpfsinniges „dann“
verbunden werden. Außerdem sind die einzelnen Sätze oder Teile einer Satzreihe sehr kurz gehalten.
Abschnitt eins berichtet, wie er weitere sinnlose Handlungen durchführt, die jedoch eine unbestimmte
Zeit danach erfolgen. Dies kann man an dem simplen „später“ zu Beginn des Absatzes erkennen. Hier
wird die Sinnlosigkeit der Handlungen durch oberflächliche Beschreibungen wie „…dachte an
irgendetwas…“ betont. In Abschnitt zwei, wo seine Frau Hildegard erstmals erwähnt wird, stellt er sich
vor, wie sie wohl auf seine Worte: „Mir ist es hier zu kalt“ und „ich gehe nach Südamerika.“ reagieren
wird. Um unmittelbarer an diesen Gedanken teilnehmen zu können, werden diese in der erlebten Rede
beschrieben.
In Abschnitt drei überlegt er plötzlich und unerwartet, einen Brief zu schreiben und an wen, bevor er
wieder zu den sinnlosen Handlungen zurückkehrt. Denn er liest die Gebrauchsanweisung für den Füller in
mehreren Sprachen und denkt kurz an Palmen und Hildegard, seine Frau. Wie beschrieben kann man
also in dieser Geschichte eigentlich nicht einmal von einer Handlung sprechen.
In dieser Geschichte werden zwei Personen näher vorgestellt: Der Mann, Paul, und seine Frau, Hildegard.
Paul wird erst sehr spät richtig vorgestellt. Einen ganzen Absatz lang wird er nur mit „er“ bezeichnet,
bevor man am Ende des ersten Abschnitts seinen Namen erfährt. Genauer wird er gar nicht beschrieben.
Die Frau hingegen wird sofort als „Hildegard“ bezeichnet, ohne dass man weiß, wer Hildegard ist. Man
kann nur vermuten, dass sie Pauls Ehefrau ist.
Peter Bichsel beschreibt in dieser Geschichte eine recht kurze Zeitspanne sehr ausführlich. Die
beschriebene Zeit beträgt etwa 45 bis 75 Minuten, ist aber, aufgrund der ungenauen Angaben, wie
„dann“ und „später“ nur schwer festzustellen.
Die Erzählweise der Geschichte ist sehr sachlich. Sie ist weder ironisch oder satirisch noch übertrieben
positiv. Sie unterstützt wie anfangs angeführt, durch ihren Satzbau und die Wortwahl den Eindruck der
Monotonie. Die Überschrift ist ein Kapitel für sich. San Salvador liegt in Mittelamerika, auf dem Zettel
steht aber Südamerika. Was ist das für ein Zusammenhang? Ich würde sagen, „San Salvador“ soll einfach
nur, aufgrund eines spanischen Namens, ein Synonym für sommerliches Wetter und Strand und Palmen
und Meer sein. Der Autor spricht mit dieser Geschichte ein recht weit verbreitetes Problem an. Aus der

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Tatsache, dass die Personen nur sehr oberflächlich beschrieben und kaum vorgestellt werden, und
daraus, dass Paul ganz alltägliche „sinnlose Handlungen“ durchführt, kann man schließen, dass diese
Kurzgeschichte eine Art Parabel dafür ist, wie gefährlich Routine für eine Beziehung sein kann. Den
entscheidenden Hinweis hierfür gibt Pauls Vermutung über Hildegards Verhalten beim Nachhause
kommen: Das Streichen der Haare aus dem Gesicht. Von der ewigen Routine gelangweilt, ist der Satz
„Mir ist es hier zu kalt“ nur eine fadenscheinige Begründung für „Ich gehe nach Südamerika“. Vielmehr
will Paul aus der kleinen Welt, seiner Ehe, fliehen, um seine neue Chance im Leben zu erhalten. Mit „kalt“
ist somit innere Kälte gemeint, und zwar im Bezug zur Beziehung seiner Frau. Das größte Hindernis
dieser Verwirklichung sind aber wohl die Kinder, die im vorletzten Satz erwähnt werden. Der offene
Schluss lässt aber vermuten, dass Hildegard den Zettel nie lesen wird und die ewige Routine somit wohl
auch ewig weiterlaufen wird.

http://www.frustfrei-lernen.de/deutsch/san-salvador-interpretation.html (Stand 08.08.2022)

Begründete Note (in Stichworten)

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Thema 4: Übungen für die Klausur –


Einen Interpretationsaufsatz bewerten

Arbeitsauftrag:
Lesen Sie – sinnvollerweise nachdem Sie eine eigene Interpretation verfasst haben – die
Interpretation zu „Happy End“ durch.
Markieren Sie den Aufbau der Interpretation und machen Sie sich Randnotizen, was Ihnen
positiv und negativ auffällt. Geben Sie eine begründete Note.

Die Kurzgeschichte "Happy End", die von Kurt Marti geschrieben und im Jahr 1960
veröffentlich wurde, problematisiert am Beispiel einer Konfliktsituation nach dem Kino
männliche und weibliche Rollenbilder.
Die Handlung beginnt unvermittelt in einem Kino, wo der Film mit einer Kussszene ein
"Happy End" findet. Der Mann und seine Partnerin verlassen den Kinosaal allerdings nicht
gemeinsam, sondern der Mann lässt sie unbeachtet zurück und stürmt auf die Straße vor
dem Kino. Während sie ihn einholt und versucht Schritt zu halten, lässt er seinem Unmut
freien Lauf. Er äußert unverhohlen sein Unverständnis und die Scham darüber, dass seine
Partnerin während des Films weinen musste. Sie versucht erfolglos ihr Verhalten zu
erklären, der Konflikt bleibt ungelöst und beide Partner bleiben ernüchtert zurück.
Auffällig ist das Verhalten des Mannes, der sich "zornig [...] zum Ausgang [schiebt]" (Z.2)
und ohne zu warten auf die Straße tritt (vgl. Z.3f). So wirkt er rücksichtslos und wenig
empathisch gegenüber seiner Partnerin, die "[...] im Gedrängel hilflos stecken [bleibt]" (Z.3).
Gerade nach einem romantischen Liebesfilm, der mit einem Happy End schließt, würde
man eher erwarten, dass er in ruhiger und entspannter Stimmung ist. Selbst wenn er sich
den Film nicht ausgesucht hat, so könnte er zumindest froh darüber sein, dass der Film
seine Partnerin emotional erreicht hat. Sie äußert ihm gegenüber, dass es so schön war,
dass sie weinen musste (vgl. Z.11f). Er dagegen verlässt nicht nur fluchtartig den Kinosaal,
sondern empfindet ihren Gefühlsausbruch als Schande (vgl. Z.7) - er steigert sich sogar
noch: "[...] eine Affenschande, wie du geheult hast" (Z.7). Diese Steigerung verstärkt seine
Ablehnung und die Verständnislosigkeit gegenüber der Emotionalität seiner Partnerin. Die
deutlichen Worte zeugen nicht von besonderem Feingefühl und zielen nicht darauf ab,
wirklich verstehen zu wollen, was in seiner Partnerin vorgeht oder sich mit ihr interessiert
austauschen zu wollen. Er fragt sie in der gesamten Situation kein einziges Mal, wie sie sich
fühlt oder was der Anlass für ihr Weinen ist. Seine Partnerin dagegen versucht sich zu
erklären, fast schon zu entschuldigen, indem sie sagt: "Ich kann doch nichts dafür [...]"
(Z.10f). Sie legt sogar noch einmal nach, dass sie "[...] doch wirklich nichts dafür [...]" könne
(Z.11). Die Tatsache, dass sie sich für ihr nachvollziehbares Verhalten rechtfertigt und
entschuldigt, anstatt sich über die abschätzigen Worte ihres Partners ihr gegenüber zu
beschweren, zeigt deutlich, wie sie sich ihm unterordnet. Auch seiner abschätzigen
Wortwahl ihrem Verhalten gegenüber setzt sie sich nicht zur Wehr. Der Leser erhält am
Ende einen kurzen Einblick in die Gedanken der Frau, die sich durchaus über seine
emotionale Kälte beschwert, indem sie ihn als Klotz bezeichnet und diese Bezeichnung
sogar noch einmal wiederholt (vgl. Z.14f). Diese Feststellung und den impliziten Wunsch
nach mehr Emotionalität von seiner Seite behält sie für sich. Die beiden Protagonisten
entsprechen in ihrem Verhalten den typischen Rollenerwartungen, gerade in der

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Nachkriegszeit. Männer weinen nicht und zeigen keinerlei Gefühle, wohingegen die Frau
ihre Emotionalität zeigt. Dennoch unklar bleibt, weshalb der Mann so aggressiv und
abwertend auf das Weinen seiner Partnerin reagiert und nicht nur nüchtern und
unemotional bleibt, sondern völlig überreagiert, was er mit abwertenden Begriffen wie
"Liebesgewinsel" (Z.13) und "Heulerei" (Z.8) zum Ausdruck bringt. Eine mögliche Erklärung
wäre, dass er sich aufgrund der Rollenerwartung an männliches Verhalten keine
Gefühlsregung zugesteht und verbietet. Das kategorische Ablehnen und Abwerten könnte
also ein Zeichen dafür sein, dass er sich nicht mit zwischenmenschlichen Emotionen
auseinandersetzen kann und möchte. Gerade in der Nachkriegsgeneration war es nicht
unüblich, dass Menschen aufgrund von traumatischen Kriegserfahrungen emotional
abgestumpft waren und diese Unfähigkeit, Emotionen zuzulassen und auszuleben, in
zahlreichen Fällen auch an die nachfolgende Generation weitergegeben wurde.
Am Ende bleibt festzuhalten, dass es zwischen den Protagonisten zu keinem konstruktiven
Austausch über Wünsche und Bedürfnisse kommt - stattdessen macht er ihr Vorwürfe, um
seinem Ärger Luft zu machen und sie versucht sich zurückzuhalten, um die angespannte
Situation nicht noch mehr zu befeuern. An dieser - für Kurzgeschichten typischen -
beispielhaften und übertragbaren Alltagssituation wird deutlich, wie wichtig offene
Kommunikation in einer Beziehung ist und wie diese durch unreflektiertes Übernehmen von
Rollenerwartungen behindert werden kann.
Begründete Note (in Stichworten)

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Thema 5: Wolfgang Borchert „Die Küchenuhr“ (1947)

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes
Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem
alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug. Das
war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der
Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt eine runde
tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blau gemalten Zahlen ab.
Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch
nicht besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen
Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und
nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht
noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang.
Und er sagte leise: Und sie ist übrig geblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die
Frau sah in ihren Kinderwagen.
Dann sagte jemand: Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die
Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie
immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr
er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt
nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb dreistehen geblieben. Ausgerechnet um halb
drei, denken Sie mal.
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die
Unterlippe vor. Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die
Uhren stehen. Das kommt von dem Druck.
Er sah seine Uhr an und schüttelte den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich das hat
mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um
halb drei war etwas ganz anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass
sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht um Viertel nach vier oder um sieben.
Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb
drei. Das ist ja gerade der Witz.
Er sah die anderen an, aber sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen.
Er fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr?
Und ich ging immer gleich in die Küche. Da war es dann fast immer halb drei. Und dann,
dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich
immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das
Licht an.
Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Und dabei
unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell
war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte
sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße
aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
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lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in
meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens
immer um halb drei. Das war ganzselbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb
drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja
immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und
ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. das alles war doch
immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die
anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht:
Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies. Auf der Bank war es
ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? ja, die sind auch mit weg.
Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.
Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.
Da hob er wieder die Uhr hoch und lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das
Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist. Ausgerechnet um
halb drei.
Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben
ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das
Wort Paradies...

Aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk. Hamburg 2004.

Arbeitsauftrag:
Interpretieren Sie die Kurzgeschichte von Borchert nach den Ihnen bekannten Kriterien.
Achten Sie dabei auch auf die Entstehungszeit. Formulieren Sie Ihre Ergebnisse in eigenen
Worten.

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Thema 6: Thomas Hürlimann „Der Filialleiter“

Als der Filialleiter des Supermarktes auf dem Fernsehschirm seine Frau erblickte, erschrak er zu
Tode. Nein, er täuschte sich nicht – das erste Programm zeigte Maria-Lisa, seine eigene Frau. Im
schicken Blauen saß sie in einer größeren Runde, und gerade jetzt, da der Filialleiter seinen Schock
überwunden glaubte, wurde Maria-Lisa von der Moderatorin gefragt, was sie für ihren Ehemann
5 empfinde.
«Nichts», sagte Maria-Lisa.
«Maria-Lisa!», entfuhr es dem Filialleiter, und mit zittriger Hand suchte er den Unterarm seiner Frau.
Wie jeden Abend saßen sie nebeneinander vordem Fernseher, und beide hatten ihre Füße in rote
Plastikeimerchen gestellt, in ein lauwarmes Kamillenbad – das stundenlange Stehen im Supermarkt
10 machte ihnen zu schaffen.
Die Bildschirm-Maria-Lisa lächelte. Dann erklärte sie, über den Hass, ehrlich gesagt, sei sie schon
hinaus. Der Filialleiter hielt immer noch Maria-Lisas Arm. Er schnaufte, krallte seine Finger in ihr
Fleisch und stierte in den Kasten. Hier, fand er, war sie flacher als im Leben. Sie hatte ihr Was-darfs-
denn-sein-Gesicht aufgesetzt und bemerkte leise, aber dezidiert: «Mein Willy ekelt mich an.»
15 Und das in Großaufnahme!
Nun sprach eine blonde Schönheit über die Gefahren der Affektverkümmerung und der Filialleiter,
dem es endlich gelang, die Augen vom Apparat zu lösen, versuchte seine Umgebung unauffällig zu
überprüfen. Jedes Ding war an seinem Platz. In der Ecke stand der Gummibaum, an der Wand tickte
die Kuckucksuhr, und neben ihm saß die Frau, mit der er verheiratet war. Kein Spuk – Wirklichkeit!
20 Maria-Lisa war auf dem Bildschirm, und gleichzeitig griff sie zur Thermosflasche, um in die beiden
Plastikeimer heißes Wasser nachzugießen.
Sein Fußbad erfüllte Willy auch an diesem Abend mit Behagen. Dann rief er sich in Erinnerung, was
ablief. Ungeheuerlich! Auf dem Schirm wurde das emotionale Defizit eines Ehemanns behandelt,
und dieser Ehemann war er selbst, der Filialleiter Willy P.! Er griff zum Glas und hatte Mühe, das Bier
25 zu schlucken. Hinter seinem Rücken war Maria-Lisa zu den Fernsehleuten gegangen. Warum? Willy
hatte keine Ahnung. Willy wusste nur das eine: Vor seinen Augen wurde sein Supermarkt zerstört.
Maria-Lisa reichte ihm das Frotteetuch, aber der Filialleiter stieg noch nicht aus dem Eimer. Er hielt
das Tuch in der Hand, und so stand er nun, nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet,
30 minutenlang im Kamillenbad – ein totes Paar Füße, im Supermarkt plattgelatscht.
«Das Wasser wird kalt», sagte Maria-Lisa.
Der Filialleiter rieb sich die Füße trocken, dann gab er Maria-Lisa das Tuch. Als die Spätausgabe der
Tagesschau begann, saßen sie wieder auf dem Kanapee. Maria-Lisa und der Filialleiter, Seite an
Seite, er trank sein Bier und sie knabberte Salzstangen.

Aus: Thomas Hürlimann: Sammelband. Die Satellitenstadt. Veröffentlicht 1992.

Arbeitsauftrag zur Übung vor der Klausur:


Interpretieren Sie die Kurzgeschichte anhand der Ihnen bekannten Kriterien. Formulieren Sie
Ihre Ergebnisse in eigenen Worten.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 6: „Der Filialleiter“ – Eine mögliche Interpretation

Thomas Hürlimann setzt sich in seiner Kurzgeschichte „Der Filialleiter“ mit dem modernen
Alltagsleben eines Ehepaares auseinander und beleuchtet auf diese Weise ihr immer gleich
ablaufendes abendliches Freizeitverhalten, welches sich auf regelmäßigen Fernsehkonsum
beschränkt. Im Zentrum der Geschichte steht der Filialleiter Willy P. und seine Ehefrau Maria-Lisa,
die, wie jeden Abend nach erledigter Arbeit im Supermarkt, eine Fernsehsendung anschauen, als
plötzlich ungeheuerliches geschieht: Maria-Lisa erscheint in einer Gesprächsrunde auf dem
Bildschirm, in der sie sich über die emotionalen Defizite ihres Mannes äußert und der Moderatorin
der Talkshow mitteilt, dass sie für ihren Mann nichts empfinde und dieser sie nur noch anekle. Ihr
Mann reagiert zunächst geschockt und sieht sein Ansehen als Filialleiter des eigenen Supermarktes
geschädigt. Kurz darauf verfällt er aber wieder in die allabendliche Routine und lässt sich vom
Fernsehangebot ablenken. Als die Spätausgabe der Tagesschau beginnt, ist der Vorfall schon wieder
vergessen: Willy und seine Frau sitzen wieder gemeinsam auf dem Sofa, trinken Bier und knabbern
Salzstangen.
Mit dieser Talkshowszene im Mittelpunkt des Geschehens hinterfragt Thomas Hürlimann kritisch
den TV-Alltag der Eheleute. Ihre Liebe und ein erfülltes Leben sind in der alltäglichen Routine der
Arbeit und des Fernsehkonsums abhanden gekommen. Der Text führt auf diese Weise
Kommunikationsprobleme eines einfachen Ehepaares vor, deren häuslicher Lebensmittelpunkt der
Fernseher ist. So findet Leben nicht mehr statt, sondern wird ersatzweise als TV-Realität
konsumiert.
Bereits im ersten Satz der Geschichte werden die Eckpunkte des Geschehens in einer Alliteration
benannt: „Als der Filialleiter des Supermarktes auf dem Fernsehschirm seine Frau erblickte, erschrak
er zu Tode.“ (Z. 1/2) Mit dem Filialleiter, seiner Frau und dem Fernsehapparat wird auf diese Weise
der Fokus auf eine ‚Dreiecks-Beziehung’ gelenkt, die das Thema der Geschichte, welches sich noch
entfalten wird, konzentriert auf den Punkt bringt: Der Filialleiter wird mit zwei Realitäten, mit zwei
Ausprägungen seiner Frau, konfrontiert. Die Szene im Fernsehen und ihr Verhalten vor den
laufenden Kameras stehen damit im direkten Kontrast zur Situation im Wohnzimmer vor dem
Fernseher, wo das Ehepaar einträglich nebeneinandersitzt. Der Filialleiter nimmt erschrocken die
„Bildschirm-Maria-Lisa“ (Z. 16) wahr, wie sie sich „im schicken Blauen“, in einer „größeren Runde“
(Z. 3/4) der Fernsehöffentlichkeit präsentiert. Das blaue Kostüm oder das Blaue Kleid der
Fernsehshow steht dabei im starken Kontrast zur Bekleidung des Ehepaares vor dem Fernseher – es
wird beschrieben, dass der Ehemann nur „mit Unterhemd und Unterhose“ (Z. 37/38) bekleidet ist
und für seine Frau kann man wohl ähnlich legere Kleidung annehmen, schließlich liegt die harte
Arbeit des Tages hinter ihnen.
Somit verdeutlicht die Betonung „im schicken Blauen“ den Kontrast zur Alltagssituation. Ein
weiterer Gegensatz lässt sich im Hinblick auf die „größere[n] Runde“ feststellen, wie sie sich in der
Fernsehsendung präsentiert. Während der Filialleiter Willy und seine Frau Maria-Lisa zu Hause
isoliert, wortlos und in Konzentration auf das Geschehen im Fernsehapparat auf dem Kanapee
sitzen, findet in der Gesprächsrunde Kommunikation statt. Maria-Lisa äußert sich gegenüber der
Moderatorin sehr deutlich, wie sie zu ihrem Mann steht: „’Mein Willy ekelt mich an.’“ (Z. 20) Maria-
Lisa diskutiert in aller Öffentlichkeit über das Phänomen „Affektverkümmerung“ (Z. 22) und spricht
das „emotionale Defizit“ (Z. 30/31) ihres Ehepartners an. In der Fernseh-Realität findet also diejenige
Kommunikation statt, die in der Wohnzimmer-Realität nötig wäre. (man kann auch sagen fehlt)
Doch Maria-Lisa äußert auf dem heimischen Sofa keinerlei Gefühle und lässt die Stille zwischen sich
und ihrem Mann einfach zu: Sie äußert sich in der Alltags-Realität in direkter Rede nur ein einziges
Mal und das auch nur, um auf das kalt gewordene Wasser in den Fußbädern aufmerksam zu machen
(Z. 39). Das Wasser ist kalt geworden – wie auch die Gefühle und das Leben zwischen den
Eheleuten.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Besonders an einer Textstelle wird deutlich, dass der Filialleiter von den beiden Realitäten und
Bildern seiner Frau, die sich ihm auf dem Bildschirm und dem heimischen Sofa präsentieren, verwirrt
ist. Der Protagonist charakterisiert ihr Verhalten und Auftreten im Fernsehen als „flacher als im
Leben“ (Z. 19) und spricht von ihrem „Was-darfs-denn-sein-Gesicht“, welches sie „aufgesetzt“ (Z.
19) habe. Er erkennt, dass das Fernsehen nicht die Frau darstellt, die sich ihm Tag für Tag
präsentiert, sondern eine für ihn „flachere“, eindimensionalere Person. Andererseits erkennt er in
ihrem typischen ‚Verkaufsgesicht’ ein alltägliches Verhaltensmuster, dass auch im Fernsehen
sichtbar ist. Diese Verwirrung, die sich im Verschwimmen der Realitätsebenen äußert, steigert sich
im nächsten Abschnitt des Textes noch einmal drastisch: Nachdem es dem Filialleiter endlich
gelingt, seine Augen vom Fernsehapparat zu lösen, „versuchte [er] seine Umgebung unauffällig zu
überprüfen. Jedes Ding war an seinem Platz.“ (Z. 24/25) An diesem Punkt angelangt, versucht er,
seine Verhaftung in der Realität zu überprüfen und untersucht, ob alles noch so ist, wie es bisher
war, ob der Alltag noch immer in seinen gewohnten Bahnen verläuft: „In der Ecke stand der
Gummibaum, an der Wand tickte die Kuckucksuhr, und neben ihm saß die Frau, mit der er
verheiratet war. Kein Spuk – Wirklichkeit!“ (Z. 25/26) Die Parallelität des Satzbaus, die bei der
Beschreibung der Wohnung deutlich wird, enthüllt die spießig-kleinbürgerliche Normalität der
Einrichtung und macht dem Filialleiter schließlich klar, dass er nicht in einem Traum gefangen ist,
sondern mit einer realen Situation konfrontiert wird. Die Maria-Lisa im Fernsehen und seine Frau
neben ihm auf dem Kanapee begegnen ihm gleichzeitig: „Maria-Lisa war auf dem Bildschirm, und
gleichzeitig griff sie zur Thermosflasche, um in die beiden Plastikeimer heißes Wasser
nachzugießen.“ (Z. 26-28) Doch er zieht keinerlei Konsequenz aus diesem krassen Gegensatz, so
dass Willy P. den Kontrast zwischen der Fernseh-Realität und der Wohnzimmer-Realität nicht zum
Anlass nimmt, die Kommunikationslosigkeit zwischen ihm und seiner Ehefrau zu durchbrechen.
Zwar greift er zwei Mal nach dem Arm seiner Frau, doch dies geschieht im ersten Schock der
Erkenntnis, als er mit den überraschenden Aussagen seiner Frau konfrontiert wird: „’Maria-Lisa’!,
entfuhr es dem Filialleiter, und mit zittriger Hand suchte er den Unterarm seiner Frau.“ (Z. 10-12)
„Der Filialleiter hielt immer noch Maria-Lisas Arm. Er schnaufte, krallte seine Finger in ihr Fleisch
und stierte in den Kasten.“ (Z. 17/18) Bezeichnenderweise schaut er seine Frau, nachdem er von
ihren wahren Gefühlen erfahren hat, nicht an, sondern konzentriert sich weiter auf das Leben, die
Realität im Fernseher und nimmt die Persönlichkeit auf dem Sofa neben ihm gar nicht wahr, was vor
allem durch das Verb „stieren“ (Z. 18) verdeutlicht wird. Die Kommunikation findet nur mit und über
den Fernseher statt. Der „Schock“ des Filialleiters (Z. 6) gipfelt schließlich darin, dass er nicht einmal
mehr sein Feierabendbier richtig genießen kann: „Er griff zum Glas und hatte Mühe, das Bier zu
schlucken“ (Z. 32). An dieser Stelle wird die Motivation seines Schocks deutlich und macht
letztendlich klar, dass er keine Angst vor der Zerstörung seiner Ehe und dem Verlust der Liebe seiner
Frau hat, sondern allein die Vernichtung seines Supermarktes und seines Rufes als Filialleiter
fürchtet: „Hinter seinem Rücken war Maria-Lisa zu den Fernsehleuten gegangen. Warum? Willy
hatte keine Ahnung. Willy wusste nur das eine: Vor seinen Augen wurde sein Supermarkt zerstört.“
(Z. 32-35) Dieses „Warum“ bleibt still – der Filialleiter denkt es nur für sich und spricht es nicht aus.
Genau diese Frage, seiner Frau gestellt, hätte die Kommunikationslosigkeit durchbrochen und die
Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit der Situation ermöglicht. Doch das egoistische
Denken des Protagonisten lässt ihn die Frage nicht aussprechen, was durch die Verwendung und
Wiederholung des Vornamens „Willy“ (Z. 33/34) deutlich wird: Er steht im Mittelpunkt seiner
Überlegungen, er spekuliert, welche Auswirkungen der Fernsehauftritt seiner Frau auf ihn und sein
Geschäft hat, ohne sich klar zu werden, dass das Verhalten seiner Frau ihre gemeinsame Ehe
beeinflussen könnte.
Ab Zeile 36 legt sich schließlich der Schock des Filialleiters wieder und er kehrt in die Alltagsroutine
seines Fernsehabends zurück, als wäre er nie mit dem Fernsehauftritt seiner Frau konfrontiert
worden: „Als die Spätausgabe der Tagesschau begann, saßen sie wieder auf dem Kanapee, Maria-
Lisa und der Filialleiter, Seite an Seite, er trank sein Bier und sie knabberte Salzstangen.“ (Z. 41-43)
Betrachtet man die direkt vorangehenden Zeilen, so ist festzustellen, dass die Protagonistin in der

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Wohnzimmer-Realität zum ersten Mal handelt und greifbar ist: „Maria-Lisa reichte ihm das
Frotteetuch, aber der Filialleiter stieg noch nicht aus dem Eimer“ (Z. 36/37) „’Das Wasser wird kalt’,
sagte Maria-Lisa. Der Filialleiter rieb sich die Füße trocken, dann gab er Maria-Lisa das Tuch.“ (Z.
39/40) Die Ehefrau des Filialleiters handelt an dieser Stelle bezeichnend: Sie bekräftigt und
unterstützt das allabendliche Fußbad und zieht ihren Ehemann somit in die Alltagswelt der Routine
zurück. Es hat sich nichts am Tagesablauf geändert. Nach dem Arbeiten kommt die Entspannung
beim Fußbad und beim Fernsehkonsum – auch wenn die Situation mit der Fernsehshow eigentlich
alles hätte ändern müssen. Die Routine, welche im Fußbad deutlich wird und von der Frau stoisch
weiterverfolgt wird, überdeckt die Lieblosigkeit und Kommunikationslosigkeit der Beziehung. Am
Ende bleibt der Leser verwirrt und ratlos zurück. Eingefangen und abgeschottet durch das personale
Erzählen, kann er nicht feststellen, warum Maria-Lisa in der Fernsehshow aufgetreten ist. Der
Protagonist beantwortet die Frage nach dem „Warum“ nicht und so bleibt dem Leser nur die
Spekulation: Hält Maria-Lisa der Alltagsverlogenheit der Wohnzimmer-Realität mit ihrem Auftritt in
der Talkshow den Spiegel vor oder möchte sie sich nur in aller Öffentlichkeit inszenieren? Eines lässt
sich über den Schluss, das Vergessen der Fernseh-Realität und die Rückkehr in die Routine sicher
sagen: Mediale Wahrheiten bestehen nicht lange.
Zwischen dem Filialleiter Willy P. und seiner Frau Maria-Lisa findet keinerlei Kommunikation statt.
Während er nur auf das Fernsehgeschehen reagiert, den entstehenden Gegensatz zur
Wohnzimmer-Realität ignoriert und nur nach Folgen für sein Leben sucht, reagiert seine Frau auf die
Provokation ihres Fernsehauftrittes mit Schweigen. Sie handelt erst, als die Routine des Fußbades
sie zum Handeln zwingt. Auf diese Weise hat es Thomas Hürlimann in seiner Geschichte „Der
Filialleiter“ auf beeindruckende Weise verstanden, dem Leser die schädliche Wirkung von
Alltagsroutine und Fernsehkonsum auf eine partnerschaftliche Beziehung vor Augen zu führen. Die
TV-Konsumenten erleben leblos und lieblos die Welt vom Sofa aus – jeweils reduziert auf ihre
Passivität. In der modernen Welt des alltäglichen Medienkonsums darf somit nicht vergessen
werden, dass außerhalb der eindimensionalen Welt des Fernsehers eine reale Welt und ein erfülltes
Leben wartet.

Arbeitsauftrag / Hausaufgabe:
Beurteilen Sie den Text nach dem Bewertungsraster und geben Sie am Ende eine begründete
Note. Notieren Sie sich stichpunktartig drei Aspekte, die Ihnen besonders aufgefallen sind.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Kriterium Merkmale Bemerkungen


Einleitung,  Vollständiger Basissatz
Inhaltsangabe  plausible Inhaltsangabe
und  sinnvolle und erkennbare Struktur der Arbeit
Schluss;  Zusammenhang und Verknüpfung zwischen den
Textelementen erkennbar
Gliederung der
 abrundender Schluss
Arbeit
Ausgestaltung  vollständige Bearbeitung des Themas gemäß der
der Aufgabenstellung
 Bezugnahme auf die Beziehung der Personen
Interpretation im (Kommunikationsproblem, Lösungsansätze)
Hauptteil  Überzeugungskraft und Schlüssigkeit der
Interpretation
 Intention des Autors / der Autorin, Wirkung auf den
Leser
 Auswahl geeigneter Zitate und plausible,
ausführliche nachvollziehbare Deutung
 Einbezug sprachlicher Besonderheiten mit Deutung
Sprache  Formulierung klarer, grammatisch richtig gebildeter
und Stil Sätze
 Trennung ganzer Sätze voneinander
 Flüssigkeit und Verständlichkeit der Ausdrucksweise
 sachlicher, präziser, abwechslungsreicher Sprachstil
 Arbeit mit dem Text: flüssiges und korrektes
Zitieren, Verwendung der indirekten Rede falls nötig
 korrekte Verwendung der Zeitstufe
Fehler und Form  Anzahl der Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler
 Übersichtlichkeit und Lesbarkeit der Arbeit

Begründete Note:

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 7: Bildimpuls

Arbeitsauftrag:
Beschreiben Sie das Bild.
Stellen Sie Deutungshypothesen auf und überlegen Sie, inwiefern die Aussage etwas mit
Ihrem Leben zu tun hat.
Arbeitszeit: 5Min

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 7: Heinrich Böll „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“

In einem Hafen an der westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in
seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen
Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel,
grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote
Fischermütze. Klick.
Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind, ein drittes Mal: klick.
Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig
aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt, aber bevor er das Gesuchte
gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nasegehalten, ihm die
Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick,
das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie
nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der
Tourist - der Landessprache mächtig -durch ein Gespräch zu überbrücken versucht.
„Sie werden heute einen guten Fang machen.“
Kopfschütteln des Fischers.
„Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“
Kopfnicken des Fischers.
„Sie werden also nicht ausfahren?“
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl
des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste
Gelegenheit.
„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“
Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über.
„Ich fühle mich großartig", sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt."
Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle
mich phantastisch.“
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nichtmehr
unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann
nicht aus?“
Die Antwort kommt prompt und knapp.
„Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“
„War der Fang gut?“
„Er war so gut, dass ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in
meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ...“
Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die
Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar
unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele zu
erleichtern.
„Rauchen Sie eine von meinen?“
„Ja, danke.“
Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich
kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt
beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

„Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber stellen
Sie sich mal vor, sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus
und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelenfangen... stellen Sie
sich das mal vor.“
Der Fischer nickt.
„Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an
jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sie, was
geschehen würde?“
Der Fischer schüttelt den Kopf.
„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein
zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit
zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden
Sie zwei Kutter haben, Sie würden ...“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar
Augenblicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei,
später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die
Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die
Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler
direkt nach Paris exportieren – und dann ...“, wieder verschlägt die Begeisterung dem
Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude
schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich herein rollende Flut, in der die ungefangenen
Fische munter springen. „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die
Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat.
„Was dann?“, fragt der Fischer leise.
„Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im
Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken.“
„Aber das tue ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse,
nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“
Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte
er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen,
und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur
ein wenig Neid.

Aus: Heinrich Böll:Romane und Erzählungen Band 4. 1961-1970. Köln 1994.

Arbeitsauftrag:
Stellen Sie in den jeweiligen Gruppen eine markante Szene Ihres Abschnitts (siehe unten) in
einem Standbild dar. Dieses sollte zugleich die Figurenkonstellation verdeutlichen.
Achten Sie dabei besonders auf Gestik, Mimik, Körperhaltung, Nähe/ Distanz etc.

Abschnitt Gruppe 1: Zeile 1 - 23


Abschnitt Gruppe 2: Zeile 24 - 70
Abschnitt Gruppe 3: Zeile 71 – Ende Arbeitszeit: 10Min

7
Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Thema 7: Heinrich Böll „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“

Aufgabe 1: Charakterisieren Sie anhand des Textes die beiden Protagonisten


stichpunktartig. Gehen Sie dabei auf folgende Punkte ein. (12 Min.)

Tourist Fischer
Erscheinungs-
bild

Verhalten

Einstellung

Lebens-
umstände

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Unterrichtseinheit: Kurzprosa
DEUTSCH BK Skript Konerth & Kühnle

Aufgabe 2:
Beurteilen Sie, inwiefern die Standbilder gelungen sind und begründen Sie Ihre
Antwort. (10 Min.)

Zeile 1-23 Zeile 24-70 Zeile 71-Ende

Foto 1 Foto 2 Foto 3

Übungsaufgabe (Hausaufgabe):
Wählen Sie einen der beiden Protagonisten aus und verfassen Sie eine
Charakterisierung.

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