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Mishawaka Public Library


Mishawaka, Indiana
ei “WARNING. Whoever shall willfully or mis-
chievously, cut, mark, mutilate, deface, write in or
upon any library book or magazine; or whoever
des shall willfully or mischievously injure or deface
any book plate or library mark, shall on con-
i — ieee: not less than $10.00, nor more
an $100.00.
—Extracts from Indiana Law
3 Burns Statuted, Sec. 2507.

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MIT BILDERN VON

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LEOPOLD VOLLINGER

SEBALDUS-VERLAG
NURNBERG

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Wilor t/ AWAK
DIANA
MISHAWAKA, IN
MARCHEN AUS ALLER WELT
Ill. REIBE / 1 BAN DOHEN

PRINTED IN GERMANY
COPYRIGHT 1944
BY SEBALDUS-VERLAG NURNBERG
41.-46. TAUSEND | 1954
Ga Marchen sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts
zum ersten Malerschienen, sie erhielten sich aber so frisch,
als waren sie uns erst gestern erzahlt worden. Der Text
dieses kleinen Buches ist wohlbekannt, nur die Bilder dazu
sind es nicht, und doch sind sie ebenfalls schon tiber hun-
dert Jahre alt. Zum Teil erwachten sie schon einige Male
aus ihrem Dornréschenschlaf, meist in Verbindung mit
anderen Erzahlungen, Gedichten und Puppenspielen eines
Mannes, der ganz im Kinderreich lebte: des Grafen Pocci.
So oft diese hiibschen Zeichnungen erneuert wurden, fan-
den sie die freundlichste Aufnahme — ihre schlichte Innig-
keit sprach zu Herzen, weil sie von einem fréhlichen Herzen
ausging. Selbst als sie noch im einfach schwarz - weifen
Kleide auftraten, gefielen sie der damals unverwodhnten
Jugend und jetzt wurden sie gar in Farben gesetzt! Das ist
an Ihnen also etwas Neues. Die Bilder des zweiten Zeich-
ners, die zum Fundevogel, von Leopold V6llinger, wurden
seit ihrem ersten Erscheinen tiberhaupt noch nicht wieder
gezeigt. Die beiden Maler, die so Vergniigliches schufen,
hatten gewif selbst ihre Freude an der Buntheit ihrer
Figuren und Landschaften, wenn sie noch lebten, denn die
Farbe hat unserem Buch zur Vollkommenheit noch gefehlt.
Das werdet ihr Kinder, fiir die es bestimmt ist, gewifs
mitempfinden — und nun versenkt euch einmal so recht
in die unscheinbaren Darstellungen! Nicht nur mit den
Augen, sondern von Herzen, wie es die Zeichner auch taten,
als sie Feder und Stift gebrauchten.
Wie mag es nur kommen, dafs diese alten Dinge, Marchen
und Bilder, noch so lebendig wirken, wahrend viele ahnliche
Biicher aus jiingerer Zeit uns heute schon gar nicht mehr
gefallen? Es liegt daran, daf ihre Hersteller nicht kindlich
genug waren und sich von irgend jemandem bestimmen
liefSen, so zu zeichnen, wie es von Erwachsenen verlangt
wurde, die gar nicht wuften, was Kindern gefallt. Zu ihrer
Zeit waren solche Bilder wohl modern, aber die Mode
wechselt, und nur, was sich nicht an sie halt, ist von Dauer.
Grimms Marchen sind von solch ewigem Bestand, und
unsere noch zu Lebzeiten der Briider Grimm entstandenen
Zeichnungen passen so gut zu ihren Worten, daf nur noch
zu wiinschen bleibt, klein und grof’, Kinder und Erwach-
sene, mdchten jetzt wieder recht lange Zeit Freude an
ihnen haben.
HANSEL UND GRETEL

Ein Marchen
der Briider Grimm
Mit Bildern von
FRANZ VON POCCI
,
\af
Vor einem
groBen Walde
wohnteeinar-
mer Holzhak-
ker mit seiner
Frau und sel-
nen zwei Kin-
dern;dasBitib-
lein hieB Han-
sel und das
Madchen Gre-
tel. Er hatte
wenig zu bei-
Ben und zu
brechen, undeinmalendlichkamdie Zeit, dakonnte
er auch das nicht schaffen, und wuBte keine Hilfe
mehr fiir seine Not. Wie ersichnunabendsvor Sorge
im Bett herumwalzte, sprach seine Frau zu ihm:
, £16re Mann, morgen friih nimm die beiden Kinder,
gib jedem noch ein Sttickchen Brot, dann fiihre sie
hinaus in den Wald, mitten inne, wo er am dicksten
ist, da mach ihnen ein Feuer an und dann geh weg
und la sie dort aliein: wir konnen sie nicht langer
ernahren.“ ,,Nein, Frau“‘, sagte der Mann, ,,wie
soll ichs tibers Herz bringen, meine eigenen lieben
Kinder den wilden Tieren im Wald zu iiberliefern,
die wiirden sie bald zerrissen haben.‘* ,,Wenn du
das nicht tust“, sprach die Frau, ,,so miissen wir
alle miteinander Hungers sterben“ und lieB ihm
keine Ruhe, bis er einwilligte.
Die zwei Kinder waren auch noch vor Hunger
wach gewesen und hatten mit angehdrt, was die
Mutter zum Vater gesagt hatte. Gretel dachte,
, nun ist es um mich geschehen“ und fing erbarm-
lich an zu weinen, Hansel aber sprach, ,,sei still,
Gretel und grame dich nicht, ich will uns schon
helfen.“‘ Damit stieg er auf, zog sein Rocklein an,
machte die Hintertiire auf und schlich hinaus. Da
schien der Mond hell und die weiBen Kieselsteine
glanzten wie lauter Batzen. Hansel biickte sich
und steckte soviel in sein Rocktaschel als nur hin-
ein wollten, dann ging er zuriick ins Haus. ,, Trdste

II
dich Gretel und
schlaf nur ruhig“,
sprach er, legtesich
wieder ins Bett und
schhef ein.
Morgens friih, ehe
die Sonne noch aufgegangen war, kam die Mut-
ter und weckte die beiden Kinder: ,,Steht auf,
wir wollen in den Wald gehen. Da hat jedes
von euch ein Stiicklein Brot, aber haltets zu Rat,
und hebts euch fiir den Mittag auf.‘‘ Gretel nahm
das Brot unter die’ Schiirze, weil Hansel die
Steine in der Tasche hatte, dann machten sie sich
auf den Weg zum Wald hinein. Wie sie ein Weil-
chen gegangen waren, stand Hansel still und
guckte nach dem Haus zuriick, bald darauf wieder
und immer wieder. Der Vater sprach, ,,Hansel,
was guckst du da und bleibst zuriick, hab acht,

12
und heb deine Beine auf.“ ,,Ach Vater, ich seh
nach meinem weiBen Katzchen, das sitzt oben auf
dem Dach und will mir ade sagen.“‘ Die Mutter
sprach: ,,Narr, das ist dein Katzchen nicht, das ist
die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.“
Hansel aber hatte nicht nach dem Katzchen ge-
sehen, sondern immer einen von den blanken Kie-
selsteinen aus seiner Tasche auf-den Weg geworfen.
Wie sie mitten in den Wald gekommen waren,
sprach der Vater: ,,
Nun sammelt Holz, ihr Kinder,
ich willein Feuer anmachen, daB8 wir nicht frieren. Se
Hansel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen
kleinen Berg hoch. Dann steckten sie es an und
als die Flamme recht groB brannte, sagte die

13
Mutter: ,»Nun legt euch ans Feuer und schlaft, wir
wollen in dem Wald das Holz fallen, wartet bis wir
wiederkommen und euch abholen.*“‘
Hansel und Gretel saBen an dem Feuer bis Mittag,
da aB jedes sein Stiicklein Brot; sie glaubten, der

14
Vater ware noch im Wald, weil sie die Schlage
einer Axt hérten, aber das war ein Ast, den er an
einen Baum gebunden hatte, und den der Wind
hin- und herschlug. Nun warteten sie bis zum
Abend, aber Vater und Mutter blieben aus, und
niemand wollte kommen und sie abholen. Wie es
nun finstre Nacht wurde, fing Gretel an zu weinen,
Hansel aber sprach: ,, Wart ein Weilchen!“ Als der
Mond aufgegangen war, faBte er Gretel bei der
Hand, da lagen die Kieselsteine, und schimmerten
wie neugeschlagene Batzen, und zeigten ihnen den
Weg. Da gingen sie die ganze Nacht durch, und
wie es Morgen war, kamen sie wieder bei ihres Va-
ters Haus an. Der Vater freute sich sehr, als er
seine Kinder wieder sah, denn es war ihm zu Her-
zen gegangen, wie er sie so allein gelassen hatte.
Die Mutter stellte sich auch, als wenn sie sich
freute, heimlich aber war sie bos.
icht lange danach war wie-
der kein Brot im Hause,
und Hanselund Gretel hér-
ten, wie abends die Mutter
zum Vatersagte : , Einmal
haben die Kinder zuriick-
gefunden, und da habe
ich’s gut sein lassen; aber
jetzt ist wieder nichts als nur noch ein hal-
ber Laib Brot im Haus, du muBt sie morgen
tiefer in den Wald fiihren, daB sie den Weg nicht
zuriickfinden, es ist sonst keine-Hilfe mehr fiir
uns.‘‘ Dem Mann fiels schwer aufs Herz und er
dachte: es ware doch besser, wenn du den letzten
Bissen mit deinen Kindern teiltest. Weil er aber
einmal eingewilligt hatte, so dirfte er nicht nein
sagen. Als die Kinder das Gesprach gehért hatten,
stand Hansel auf und wollte wieder Kieselsteine
auflesen, wie er aber an die Tiire kam, da hatte sie
die Mutter zugeschlossen. Doch tréstete er die
Gretel und sprach: ,,Schlaf nur Gretel, der liebe
Gott wird uns schon helfen.“
Morgens friih erhielten sie ihr Stiicklein Brot, noch

16
kleiner als das vorige Mal. Auf dem Wege bréckelte
es Hansel in der Tasche, stand oft still, und warf
ein Brécklein auf die Erde. ,,Was bleibst du immer

stehen, Hansel, und guckst dich um?“ sagte der


Vater, ,,geh deiner Weg.‘ Ich sehe nach meinem
Taubchen, das sitzt auf dem Dach, und will mir
ade sagen.“ ,,Du Narr“, sagte die Mutter, ,,das ist
dein Taubchen nicht, das ist die Morgensonne, die

17
auf den Schornstein oben scheint.‘‘
Hansel aber zerbréckelte all sein
Brot und warf die Brocklein auf
den Weg.
Die Mutter fiihrte sie noch tiefer in
den Wald hinein, wo sie ihr Lebtag nicht gewesen
waren, da sollten sie wieder bei einem groBen Feuer
sitzen und schlafen, und abends wollten die Eltern
kommen und sie abholen. Zu Mittag teilte Gretel
ihr Brot mit Hansel, weil der seins all auf den Weg

18
gestreut hatte, aber der Mittag verging und der
Abend verging, und niemand kam zu den armen
Kindern. Hansel tréstete die Gretel und sagte:
,, Wart, wenn der Mond aufgeht, dann seh ich die
Brécklein Brot, die ich ausgestreut habe, die zeigen
uns den Weg nach Haus.“ Der Mond ging auf, wie
aber Hansel nach den Brécklein sah, da waren sie
weg: die viel tausend Végelein in dem Wald, die
hatten sie gefunden und aufgepickt. Hansel meinte
doch den Weg nach Haus zu finden, und zog die
Gretel mit sich, aber sie verirrten sich bald in der
groBen Wildnis, und gingen die Nacht und den
ganzen Tag, da schliefen sie vor Miidigkeit ein.
Dann gingen sie noch einen Tag, aber sie kamen
nicht aus dem Wald heraus und waren so hungrig,
denn sie hatten nichts zu essen, als ein paar kleine
Beeren, die auf der Erde standen.

19
Issieam drittenTage
wieder bis zu Mittag
gegangen waren, da
kamen sie an ein
Hauslein, das war
ganz aus Brot ge-
baut, und war mit
Kuchen _ gedeckt,
und die Fenster wa-
ren von hellem Zuk-
ker. ,,Da wollen wir
uns niedersetzen, und uns satt essen‘, sagte Han-
sel, ,,ich will vom Dach essen, i8 du vom Fen-
ster, Gretel, das ist fein siiB fiir dich.‘ Wie nun
Gretel an dem Zucker knuperte, rief drinnen eine
feine Stimme:
,nuper, knuper, kneischen,
wer knupert an meinem Hauschen?“
Die Kinder antworteten:
, Ver Wind, der Wind,
das himmlische Kind,“
und aBen weiter. Gretel brach sich eine ganze
runde Fensterscheibe heraus, und Hansel riB sich

20
ein groBes Stiick Kuchen vom Dach ab. Da ging
die Tiire auf und eine steinalte Frau kam heraus-
geschlichen. Hansel und Gretel erschraken so ge-
waltig, daB sie fallen lieBen, was sie in Handen
hatten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopf und
sagte: ,,Ei, ihr lieben Kinder, wo seid ihr denn
hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollt’s gut
haben“, faBte beide an der Hand, und fiihrte sie
inihr Hauschen. Da ward gutes Essen aufgetragen,
Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Apfel mit
Nissen, und dann wurden zwei schone Bettlein be-
reitet, da legten sich Hansel und Gretel hinein und
meinten sie waren im Himmel.

21
ie Alte aber war eine
bodse Hexe, dielauer-
te den Kindern auf
und hatte bloB um
sie zu locken ihr
Brothausleingebaut
und wenn eins in
ihre Gewalt kam, da
machte sie es tot,
kochte es und aB es,
und das war ihr ein Festtag. Da war sie nun recht
froh, wie Hansel und Gretel ihr zugelaufen kamen.
Friih, ehe sie noch erwacht waren, stand sie schon
auf, ging an ihre Bettlein, und wie sie die zwei so
lieblich ruhen sah, freute sie sich und murmelte:
, Das wird ein guter Bissen fiir mich sein.‘ Darauf
packte sie Hansel, und steckte ihn in einen kleinen
Stall. Wie er nun aufwachte, war er von einem
Gitter umschlossen, wie man junge Hiihnlein ein-
sperrt, und konnte nur ein paar Schritte gehen.
Gretel aber schiittelte sie, und rief: ,, Steh auf, du
Faulenzerin, hol Wasser und geh in die Kiiche und
koche was Gutes zuessen, dort steekt dein Bruder
in einem Stall, den will ich erst fett machen, und
wenn er fett ist, dann will ich ihn essen: jetzt sollst
du ihn fiittern.“‘ Gretel erschrak und weinte,
muBte aber tun, was die bose Hexe verlangte. Da
ward nun alle Tage dem Hansel das beste Essen
gekocht, daB er fett werden sollte: Gretel aber be-
kam nichts, als die Krebsschalen. Alle Tage kam
die Alte und sagte: ,, Hansel, streck deinen Finger
heraus, daB ich fiihle, ob du bald fett genug bist.“‘
Hansel streckte ihr aber immer statt des Fingers
ein Knoéchlein heraus: da wunderte sie sich, daB er
so mager blieb und gar nicht zunehmen wollte.
Nach vier Wochen sagte sie eines Abends zu Gre-
tel: ,,Sei flink, geh und trag Wasser herbei, dein
Briiderchen mag nun fett sein oder nicht, morgen
will ich es schlachten und sieden, ich will derweile
*3
den Teig anmachen, daB wir auch dazu backen
kénnen.“‘ Da ging Gretel mit traurigem Herzen,
und trug das Wasser, worin Hansel sollte gesotten
werden. Friih morgens muBte Gretel aufstehen,
Feuer anmachen, und den Kessel mit Wasser auf-
hangen. ,,Gib nun acht“, sagte die Hexe, ,,ich
will Feuer in den Backofen machen, und das Brot
hineinschieben.‘‘ Gretel stand in der Kiiche und
weinte blutige Tranen und dachte: ,, Hatten uns
lieber die wilden Tiere im Walde gefressen, so
waren wir zusammen gestorben und miiBten nun
nicht das Herzeleid tragen: und ich miiBte nicht
selber das Wasser sieden zu dem Tode meines lie-
ben Bruders, barmherziger Gott, hilf uns armen
Kindern aus der Not.“

24
Da rief die Alte: ,,Gretel, komm her zu dem Back-
ofen.*‘ Wie Gretel kam, sagte sie: ,,Guck hinein,
ob das Brot schon hiibsch braun und gar ist,
meine Augen sind schwach, ich kann nicht soweit .
sehen, und wenn du auch nicht kannst, so setz
dich auf das Brett, so will ich dich hineinschieben,
da kannst du darin herumgehen und nachsehen.
Sobald aber Gretel darin war, wollte sie zumachen,

25
und Gretel sollte in dem heiBen Ofen backen und
dann wollte sie es auch aufessen. Gott gab es aber
dem Madchen in den Sinn, daB es sprach: ,,Ich
weiB nicht, wie ich das anfangen soll, zeige mir’s
erst, und setz dich auf, ich will dich hineinschie-
ben.’ Da setzte sich die Alte auf das Brett und

weil sie leicht war, schob Gretel sie hinein soweit


der Stiel an dem Brett reichte und machte ge-
schwind die Tiire zu. Nun fing die Alte an, in dem
heiBen Backofen zu schreien und zu jammern;
Gretel aber lief fort und die gottlose Hexe muBte
elendiglich verbrennen. Da lief Gretel zum Hansel,
machte ihm sein Tiirchen auf, und rief: ,,Spring
-heraus Hansel, wir sind erlést.“‘ Da sprang Hansel
heraus, wie ein eingesperrtes Vogelein aus dem
Kafig springt, wenn ihm das Ttirchen ge6dffnet
26
wird. Und sie weinten vor Freude und kiiBten ein-
ander herzlich. Das ganze Hauschen aber war voll
von Edelsteinen und Perlen, damit fiillten sie ihre
Taschen und gingen fort, und suchten den Weg
nach Haus. Sie kamen aber vor ein groBes Wasser,
und konnten nicht hintiber. Da sah das Schwester-
chen ein weiBes Entchen hin- und herschwimmen,
dem rief es: ,,Ach liebes Entchen, nimm uns auf
deinen Riicken.“* Als das Entchen das hérte, kam
es geschwommen und trug Gretel hintiber und
dann holte es auch Hansel. Danach fanden sie
bald ihre Heimat. Der Vater freute sich herzlich,
als er sie wieder sah, denn er hatte keine vergniig-
ten Tage gehabt, seit seine Kinder fort waren. Die
Mutter aber war gestorben. Nun brachten die Kin-
der Reichtiimer genug mit, und sie brauchten fiir
Essen und Trinken nicht mehr zu sorgen.

27
GRIMMS MARCHEN

Mit Bildern von


FRANZ VON POCCI
ine arme Witwe, die lebte ein-
sam in einem Hiittchen, und vor
dem Hiittchen war ein Garten, darin standen
zwei Rosenbéumchen, davon trug das eine weiBe,
das andere rote Rosen: und sie hatte zwei Kin-
der, die glichen den beiden Rosenbaumchen, und
das eine hieB SchneeweiBchen, das andere Rosen-
rot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeit-
sam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf
der Welt gewesen sind: SchneeweiBchen war
nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot
sprang lieber in den Wiesen und Feldern um-

3!
.

her, suchte Blumen und fing Sommervégel;


SchneeweiBchen aber saB daheim bei der Mutter,
half ihr im Hauswesen, oder las ihr vor, wenn
nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten ein-
ander so lieb, daB sie sich immer an den Handen
faBten, so oft sie zusammen ausgingen, und wenn
SchneeweiBchen sagte: ,, Wir wollen uns nicht ver-
lassen‘, so antwortete Rosenrot: ,,Solange wir
“leben nicht‘‘, und die Mutter setzte hinzu: ,,Was
das eine hat, soll’s mit dem andern teilen.‘* Oft
liefen sie im Walde allein umher, und sammelten
rote Beeren, aber kein Tier tat ihnen etwas zu leid,
sondern sie kamen vertraulich herbei: Das Has-

32
chen fraB ein Kohlblatt aus ihren Handen; das
Reh graste an ihrer Seite; der Hirsch sprang ganz
lustig vorbei; die Végel blieben auf den Asten
sitzen und sangen, was sie wuBten. Kein Unfail
traf sie: wenn sie sich im. Walde verspatet hatten
und die Nacht sie iiberfiel, so legten sie sich neben-
einander auf das Moos und schliefen bis der Morgen
kam, und die Mutter wuBte das, und hatte ihret-
wegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde iiber-
nachtet hatten, und das Morgenrot sie aufweckte,
da sahen sie ein schénes Kind in einem weiBen
glanzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen.
Es stand auf und blickte sie ganz freundlich an,
sprach aber nichts und ging in den Wald hinein.
Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe
bei einem Abgrunde geschlafen und waren gewiB
hineingefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch
ein paar Schritte weitergegangen waren. Die
Mutter aber sagte ihnen, das miiBte der Engel
gewesen sein, der gute Kinder bewache.

33
chneeweiBchen und Rosenrot
hielten das Hiittchen der Mutter
so reinlich, daB es eine Freude
war, hineinzuschauen. Im Som-
as, mer besorgte Rosenrot das
Haus, und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe
sie aufwachte, einen BlumenstrauB vors Bett,
darin war von jedem Baumchen eine Rose. Im
Winter ziindete SchneeweiBchen das Feuer an,
und hing den Kessel an den Feuerhaken, und der
Kessel war von Messing, glanzte aber wie Gold, so
rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken
fielen, sagte die Mutter: ,,Geh, SchneeweiBchen,
und schieb den Riegel vor“, und dann setzten sie
sich an den Herd, und die Mutter nahm die Brille
und las aus einem groBen Buche vor, und die bei-
den Madchen hérten zu, saBen und spannen; neben
ihnen lag ein Lammchen auf dem Boden, und hin-
ter ihnen auf einer Stange saB ein weiBes Taub-
chen und hatte seinen Kopf unter die Fligel ge-
steckt.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen
saBen, klopfte jemand an die Tiire, als wollte er

an!
eingelassen sein. Die Mutter sprach: ,,Geschwind,
Rosenrot, mach auf, es wird ein Wanderer sein,
der Obdach sucht.“ Rosenrot ging und schob den
Riegel weg, und dachte, es ware ein armer Mann,
aber der war es nicht, es war ein Bar, der seinen
dicken schwarzen Kopf zur Tiir hereinsteckte.
Rosenrot schrie laut und sprang zuriick; das
Lammchen blokte, das Taubchen flatterte auf,
und SchneeweiBchen versteckte sich hinter der
Mutter Bett. Der Bar aber fing an zu sprechen und
sagte: ,,Fiirchtet euch nicht, ich tue euch nichts zu
leid, ich bin halb erfroren und will mich nur ein
wenig beieuch warmen.“ ,,Duarmer Bar“, sprach
die Mutter, ,,leg dich ans Feuer und gib nur acht,

35
daB dir dein Pelz nicht brennt.“‘ Dann rief sie:
,,ochneeweiBchen, Rosenrot, kommt hervor, der
Bar tut euch nichts, er meint’s ehrlich.‘‘ Da kamen
sie beide heran, und nach und nach naherten sich
auch das Lammchen und Taubchen und hatten
keine Furcht mehr. Der Bar sprach: ,,[hr Kinder,
-klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelz-
werk“*, und sie holten den Besen und kehrten dem
Bar das Fell rein, er aber streckte sich ans Feuer
und brummte ganz vergniigt und behaglich. Nicht
lange, so wurden sie ganz vertraut und trieben
Mutwillen mit dem unbeholfenen Gast. Sie zausten
ihm das Fell mit den Handen, setzten ihre FiiBchen
auf seinen Riicken und walgerten ihn hin und her,
oder sie nahmen eine Haselrute und schlugen auf
ihn los, und wenn er brummte, so lachten sie. Der
Bar lieB sich’s aber gerne gefallen, nur wennsie’s gar
36
zu arg machten, rief er: ,,LaBt mich am Leben, ihr

Kinder: — schneeweiBchen, Rosenrot,


schlagst dir den Freier tot.“
Als Schlafenszeit war, und die andern zu Bett
gingen, sagte die Mutter zu dem Bar: ,,Du kannst
in Gottes Namen da am Herde liegenbleiben, so
bist du vor der Kalte und dem bésen Wetter ge-
schiitzt.“* Als der Tag graute, lieBen ihn die beiden
Kinder hinaus, und er trabte tiber den Schnee in
den Wald hinein. Von nun an kam der Bar jeden
Abend zur bestimmten Stunde, legte sich an den
Herd und erlaubte den Kindern, Kurzweil mit ihm
zu treiben, soviel sie wollten; und sie waren so ge-
wohnt an ihn, daB die Tiire nicht eher zugeriegelt
ward, als bis der schwarze Gesell angelangt war.

ls das Friihjahr herangekommen


es Z\y unddrauBenalles griin war,sagte
er areeiness Morgens zu SchneeweiBchen: ,,Nun
muB ich fort und darf den ganzen Sommer nicht

37
wiederkommen.“ ,,Wo gehst du denn hin, lieber
Bar?“ fragte SchneeweiBchen. ,,[ch muB in den
Wald und meine Schatze vor den bésen Zwergen
hiiten: im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist,
-miissen sie wohl unten bleiben und kénnen sich
nicht durcharbeiten, aber jetzt wenn die Sonne
die Erde auftaut und erwarmt hat, da brechen sie
durch, steigen herauf, suchen und stehlen ; und was
einmal in ihren Handen ist und in ihren Hohlen
liegt, das kommt so leicht nicht wieder an des Tages
Licht.‘ SchneeweiBchen war ganz traurig tiber den
Abschied und riegelte ihm die Tiire auf, und als
der Bar sich hinausdrangte, blieb er an dem Tiir-
haken hangen, und ein Stiick seiner Haut riB auf,

38
und da war es SchneeweiBchen, als hatte es Gold
durchschimmern gesehen ; aber es war seiner Sache
nicht gewiB, weil der Bar eilig fortlief und bald
hhinter den Baumen verschwunden war.

ach einiger Zeit schickte die


SS Mutter die Kinder in den
Wald, Reisig zu sammeln. Da fanden sie drau-
Ben einen groBen Baum, der lag gefallt auf dem
Boden, und an dem Stamme sprang zwischen dem
Gras etwas auf und ab, sie konnten aber ‘nicht
unterscheiden, was es war. Als sie naherkamen,
sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten
Gesicht und einem ellenlangen schneeweiBen Bart.
Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baumes
eingeklemmt und der Kleine sprang hin und her
wie ein Hiindchen an einem Seil und wuBte nicht,
wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Madchen
mit seinen roten, feurigen Augen an, und schrie:
,,Was steht ihr da! k6nnt ihr nicht herbeigehen und
mir Beistand leisten?“‘ ,,Was hast du angefangen,
kleines Mannchen?“ fragte Rosenrot. ,,Dumme,

69
neugierige Gans‘, antwortete der Zwerg, ,,den
Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines
Holz in der Kiiche zu haben; bei den dicken
Kl6étzen verbrennt gleich das bi®chen Speise, das
unsereiner braucht, der nicht soviel hinunter-
schlingt, als ihr, grobes Volk. Ich hatte einen Keil
hineingetrieben, und es ware alles nach Wunsch

gegangen, aber das verwiinschte Holz war zu glatt,


und sprang unversehens heraus, und der Baum
fuhr so geschwind zusammen, daB ich meinen
schénen weiBen Bart nicht mehr herausziehen
konnte; nun steckt er drin, und ich kann nicht
fort. Da lachen die albernen, glatten Milchge-
sichter! pfui, was seid ihr garstig!“‘ Die Kinder
gaben sich alle Miihe, aber sie konnten den Bart
nicht herausziehen, er steckte zu fest. ,,Ich will

40
laufen und Leute herbeiholen“, sagte Rosenrot.
,, Wahnsinnige Schafsképfe“, schnarrte der Zwerg,
wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seid mir
schon um zwei zuviel; fallt euch nichts Besseres
ein?“ ,,Sei nur nicht ungeduldig“, sagte Schnee-
weiBchen, ,,ich will schon Rat schaffen‘, und holte
sein Scherchen aus der Tasche, und schnitt das
Ende des Bartes ab. Sobald der Zwerg sich frei
fiihlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den
Wurzeln des Baumes steckte und mit Gold gefiillt
war, hob ihn heraus, und brummte vor sich hin:
,,Ungehobéltes Volk, schneidet mir ein Stiick von
meinem stolzen Barte ab! lohns euch der Kuk-
kuck!“* damit schwang er seinen Sack auf den
Riicken und ging fort, ohne die Kinder nur noch
einmal anzusehen.

41
inige Zeit danach wollten Schnee-
weiBchen und Rosenrot ein Ge-
Me richt Fische angeln. Als sie auf den
Piers Bach zugingen, sahensie, daBetwas
wie eine eal Heuschrecke nach dem Wasser zu
hiipfte, als wollte es hineinspringen. Sie liefenheran
und erkannten den Zwerg. ,,Wo willst du hin?“
sagte Rosenrot, ,,du willst doch nicht ins Wasser? “
,,o0lch ein Narr bin ich nicht“, schrie der Zwerg,
,seht ihr nicht? der verwitinschte Fisch will mich
hineinziehen!“‘ Der Kleine hatte dagesessen und
geangelt und unglticklicherweise hatte der Wind
seinen Bart mit der Angelschnur verflochten: als
gleich darauf ein groBer Fisch anbiB, fehlten dem
schwachen Geschépf die Krafte, ihn herauszu-
ziehen: der Fisch behielt die Oberhand und riB
den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen
Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er
muBte den Bewegungen des Fisches folgen und
war in bestandiger Gefahr, ins Wasser gezogen zu
werden. Die Madchen kamen zu rechter Zeit, hiel-
ten ihn fest, und versuchten, den Bart von der

42
Schnurloszumachen, aber ver-
gebens; Bart und Schnur wa-
ren fest ineinander verwirrt.
' Es blieb nichts iibrig, als das
Scherchen hervorzuholen und
den Bart abzuschneiden: Da-
bei ging ein kleiner Teil dessel-
ben verloren. Alsder Zwerg das
sah, schrie er sie an: ,,Ist das Manier, ihr Lorche,
einem das Gesicht zu schanden? nicht genug, daB
ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt
schneidet ihr mir den besten Teil davon ab: ich
darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen.
Da8 ihr laufen miiBtet und die Schuhsohlen ver-
loren hattet!“ Dann holte er einen Sack Perlen,
der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiterzu

43
sagen, schleppte er ihn fort, und verschwand hin-
ter einem Stein.
Es trug sich zu, daB bald hernach die Mutter die
beiden Madchen nach der Stadt schickte, Zwirn,
Nadeln, Schniire und Bander einzukaufen. Der
Weg fiihrte sie tiber eine Heide, auf der hier und da
miachtige Felsenstiicke zerstreut lagen. Da sahen
sie einen groBen Vogel in der Luft schweben, der
langsam iiber ihnenkreiste, sichimmer tiefer herab-
senkte und endlich nicht weit bei einem Felsen
niederstieB. Gleich darauf hérten sie einen durch-
dringenden, jammerlichen Schrei. Sie liefen herzu
und sahen mit Schrecken, daB der Adler ihren alten
Bekannten, den Zwerg gepackt hatte und ihn
forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten
gleich das Mannchen fest und zerrten sich so lange
mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren
lieB. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken
erholt hatte, schrie er mit seiner kreischenden
Stimme: ,,K6nntet ihr nicht sduberlicher mit mir
umgehen? gerissen habt ihr an meinem diinnen
Roéckchen, daB es iiberall zerfetzt und durch-
léchert ist, unbeholfenes und tappisches Gesindel,
das ihr seid !“* Dann nahm er einen Sack mit Edel-
steinen und schliipfte wieder unter den Felsen in
seine Hohle. Die Madchen waren an seinen Un-
dank schon gewohnt, setzten ihren Weg fort und
verrichteten ihr Geschaft in der Stadt. Als sie
beim Heimweg wieder auf die Heide kamen, iiber-
raschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen
Platzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausge-

45
schittet und nicht gedacht hatte, daB so spat noch
jemand daherkommen wiirde. Die Abendsonne
schien iiber die glanzenden Steine, sie schimmerten
und leuchteten so prachtig in allen Farben, daB die
Kinder stehenblieben und sie betrachteten. ,,
Was
steht ihr da und habt Maulaffen feil!‘‘ schrie der
Zwerg, und sein aschgraues Gesicht ward zinnober-
rot vor Zorn. Er wollte mit seinen Scheltworten
fortfahren, als sich ein lautes Brummen héren lieB
und ein schwarzer Bar aus dem Walde herbei-
trabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber
er konnte nicht.mehr zu seinem Schlupfwinkel ge-
langen, der Bar war schon in seiner Nahe. Da rief
er in Herzensangst: ,,Lieber Herr Bar, verschont
mich, ich will euch alle meine Schatze geben,
sehet die schénen Edelsteine, die da liegen.
Schenkt mir das Leben, was habt ihr an mir
kleinem, schmachtigen Kerl? ihr spiirt mich nicht
zwischen den Zahnen: da, die beiden gottlosen
Madchen packt, das sind fiir euch zarte Bissen,
fett wie junge Wachteln, die freBt in Gottes Na-
men.‘‘ Der Bar kiimmerte sich um seine Worte
nicht, gab dem boshaften Geschépf einen einzigen
Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr.

ie Madchen waren fortgesprungen,


aber der Bar rief ihnen nach:
»ochneeweiBchen und Rosenrot,
fiirchtet euch nicht, wartet, ich will
mt eee gehen. “ Da erkannten sie seine Stimme,
und blieben stehen, und als der Bar beiihnen war,

A?
fiel plétzlich die Barenhaut ab, und er stand da als
ein schéner Mann, und war ganz in Gold gekleidet.
,lch bin eines Kénigs Sohn, und war von dem
gottlosen Zwerg, der mir meine Schatze gestohlen
hatte, verwiinscht, als ein wilder Barin dem Walde
zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlést wiirde.
Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe emp-
fangen.“‘
SchneeweiBchen wurde mit ihm, und Rosenrot
mit seinem Bruder vermihlt und sie teilten die
48
groBen Schatze miteinander, die der Zwerg in
seiner Hohle zusammengetragen hatte. Die alte
Mutter lebte noch lange Jahre ruhig und gliicklich
bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbiumchen aber
nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster,
und trugen jedes Jahr die schénsten Rosen, weiB
und rot.

49
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DER FUNDEVOGEL

Ein Marchen
der Briider Grimm

Mit Bildern von

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Es war einmal ein Forster, der ging in den Wald


auf die Jagd und wie er in den Wald kam, hérte er
schreien, als ob’s ein kleines Kind ware. Er ging
dem Schreien nach und kam endlich zu einem
hohen Baum und oben darauf saB ein kleines
Kind. Die Mutter des Kindes war unter dem Baum
eingeschlafen und ein Raubvogel hatte das Kind
in ihrem SchoBe gesehen: er war hinzugeflogen
und hatte es mit seinem Schnabel weggenommen
und auf den hohen Baum gesetzt.

} er Forster stieg hinauf, holte das


Kind herunter und dachte: Du willst das
Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Len-
chen zusammen aufziehn. Er brachte es also heim
und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf. Das
aber, das auf dem Baum gefunden worden war und

54
weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Funde-
vogel geheiBen. Fundevogel und Lenchen hatten
sich so lieb, nein, so lieb, daB, wenn eins das andere
nicht sah, ward es traurig.

Der Forster hatte aber eine alte Kéchin, die nahm


eines Abends zwei Eimer und fing an, Wasser zu
schleppen und sie ging nicht einmal, sondern viele-
mal hinaus an den Brunnen. Lenchen sah es und
sprach: ,,H6ér einmal, alte Sanne, was tragst du
denn soviel Wasser zu?‘‘ — ,,Wenn du’s keinem
Menschen wieder sagen willst, so will ich dir’s
wohl sagen.“ Da versprach Lenchen keinem
Menschen etwas davon zu sagen. ,,Morgen friih“,

ape
sagte die Kéchin, ,,wenn der Forster auf der Jagd
ist, da koche ich das Wasser und wenn’s im Kessel
siedet, werfe ich den Fundevogel ’nein und will ihn
darin kochen.“‘
Des andern Morgen in aller Frithe stieg der Forster
auf und ging auf die Jagd und als er weg war,
lagen die Kinder noch im Bett. Da sagte Lenchen
zum Fundevogel: ,,Verla8t du mich nicht, so

56
verlaB ich dich auch
nicht !‘‘ So sprach der
Fundevogel: ,,Nun
und nimmermehr.“
Da antwortete Len-
chen: ,,[ch will es dir
nur sagen, die alte
Sanne schleppte ge-
stern abend soviel E1-
mer Wasser ins Haus,
da fragteich sie, war-
um sie das tate, so
sagte sie, wenn ich’s

keinem Menschen verrate, so wollte sie es mir wohl


sagen. Ich versprach, da8 ich es gewiB keinem
Menschen sagen wollte. Nun vertraute sie mir
folgendes: Morgen friith, wenn der Vater auf die:
Jagd gegangen, wollte sie den Kessel voll Wasser

sieden und dich hineinwerfen und kochen. Wir


wollen nun aber geschwind aufsteigen, uns an-
ziehen und zusammen fortgehen.“
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich ge-
schwind an und gingen fort. Wie nun das Wasser
im Kessel kochte, ging die Kéchin in die Schlaf-
kammer, wollte den Fundevogel holen und ihn
hineinwerfen. Aber als sie hineinkam und zu den

58
Betten trat, waren die Kinder alle beide fort: da
wurde ihr grausam angst und sie sprach vor sich:
,,Was will ich nun sagen, wenn der Forster heim-
kommt und sieht, daB die Kinder weg sind? Ge-
schwind hintennach, daB wir sie wiederkriegen!*‘

Da schickte die Kéchin drei Knechte nach, die


sollten laufen und die Kinder einfangen. Die Kin-
der aber saBen vor dem Wald und als sie die drei
Knechte von weitem laufen sahen, sprach Len-
chen zum Fundevogel: ,, VerlaBt du mich nicht, so
verlaB’ ich dich auch nicht.‘‘ So sprach Funde-
vogel: ,,Nun und nimmermehr.“ Da sagte Len-

59
chen: ,,Werde du zum Rosenstéckchen und ich
zum Réschen drauf.‘‘ Wie nun die drei Knechte
vor den Wald kamen, so war nichts da als ein
Rosenstrauch und ein Réschen oben drauf, die
Kinder aber nirgends. Da sprachen sie: ,,Hier ist
nichts zu machen“, und gingen heim und sagten
der Kochin, sie hatten nichts in der Welt gesehen
als nur ein Rosenstéckchen und ein Réschen oben
darauf. Da schalt die alte Kéchin: ,, Ihr Einfalts-
pinsel, ihr hattet das Rosenstéckchen sollen ent-
zweischneiden und das Réschen abbrechen und
mit nach Haus bringen, geschwind und tut’s.“‘ Sie
muBten alle zum zweitenmal hinaus und suchen.

60
ie Kinder sahen sie aber
von weitem kommen, da
sprach Lenchen:,,Funde-
vogel, verlaBt du mich
nicht, so verlaB ich dich auch
nicht.‘‘ Fundevogel sagte: ,,Nun
und nimmermehr.‘‘ Sprach Len-
chen: ,,So werde du eine Kirche
und ich die Krone darin. Wienun
die drei Knechte dahin kamen,
war nichts da als eine Kirche und
eine Krone darin. Sie sprachen also zueinander:
,,Was sollen wir hier machen? LaBt uns nach
Hause gehen.“ Wie sie nach Hause kamen, fragte
die Kochin, ob sie nichts gefunden hatten: so sag-
ten sie, nein, sie hatten nichts gefunden als eine

Kirche, da ware eine Krone darin gewesen. ,,Thr


Narren“, schalt die Kéchin, ,,;warum habt ihr
nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit
heimgebracht?“‘ Nun machte sich die alte Kéchin
selbst auf die Beine und ging mit den drei Knech-
ten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die
drei Knechte von weitem kommen und die Kéchin
wackelte hintennach. Da sprach Lenchen: ,,Fun-

63
devogel, verla8t du mich nicht, so verlass’ ich
dich auch nicht.“ Da sprach Fundevogel: ,,Nun
und nimmermehr.“ Sprach Lenchen: ,,Werde
zum Teich und ich die Ente drauf.“‘ Die Kéchin
aber kam herzu und als sie den Teich sah, legte
sie sich driiber hin und wollte ihn aussaufen. Aber
die Ente kam schnell geschwommen, faBte sie mit
ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser
hinein: da muBte die alte Hexe ertrinken. Da
gingen die Kinder zusammen nach Haus und
waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben
sind, leben sie noch.

M WAKA PUBLIC LIBRARY

MISHAWAKA, INDIANA
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