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Der Kampf Gegen Das Liberale Strafrecht Klaus Marxen
Der Kampf Gegen Das Liberale Strafrecht Klaus Marxen
Band 22
Von
Klaus Marxen
Band 22
Der Kampf gegen das liberale Straf recht
Eine Studie zum Antiliberalismus in der
Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre
Von
D U N C K E R & H U M B L O T / B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten
© 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65
Printed in Germany
I S B N 3 428 03307 8
Vorwort
Die folgende Untersuchung geht auf eine Anregung von Herrn Prof.
Dr. Wolfgang Naucke zurück. Er hat die Arbeit durch zahlreiche Ge-
spräche und schriftliche Stellungnahmen unterstützt und gefördert.
I h m gilt mein besonderer Dank.
Eine wertvolle Unterstützung bedeutete ferner das Promotions-
stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zum Druck hat
der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-
Universität Frankfurt durch einen Zuschuß beigetragen. Schließlich
habe ich mich beim Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme
der Arbeit i n die Reihe „Schriften zum Straf recht" zu bedanken.
Das Manuskript der Arbeit war i m Frühjahr 1973 abgeschlossen.
Anschließend hat die Arbeit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der
Universität Frankfurt als Inaugural-Dissertation vorgelegen. Für den
Druck sind geringfügige Veränderungen vorgenommen worden.
September 1974
K. Marxen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 17
1. Kapitel
1. Das I n d i v i d u u m i m M i t t e l p u n k t 21
a) Der Strafbegriff 29
b) Das Verbrechenssystem 33
c) Die Methode 37
a) Der Strafbegriff 42
b) Das Verbrechenssystem 44
c) Die Methode 46
8 Inhaltsverzeichnis
2. Kapitel
I. Die Lebensphilosophie 47
I I . Die Phänomenologie 49
3. Kapitel
1. Das Menschenbild 60
2. Der Staat als Lebensform des Volkes 62
a) Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs 63
b) Der „konkrete" Gleichheitsbegriff 64
3. Die Staatsform 64
a) Das Führerprinzip 65
b) Der Regierungsstaat 66
4. Der staatliche Wirkungsbereich (Totaler oder autoritärer Staat?) 66
3. Recht u n d Wert 71
4. Recht u n d Sitte 74
5. Recht u n d Gesetz 75
Inhaltsverzeichnis
4. Kapitel
a) A . E . G ü n t h e r 87
b) Nicolai 90
5. Kapitel
IX. Die geringe Bedeutung liberaler Argumente auf Seiten der Ver-
teidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 240
6. Kapitel
Schlußbetrachtung 247
Literaturverzeichnis 277
Abkürzungen
DJ Deutsche Justiz
DJZ Deutsche Juristenzeitung
DR Deutsches Recht
DRiZ Deutsche Richterzeitung
DRWis Deutsche Rechtswissenschaft
DStR Deutsches Strafrecht
GA Goltdammers Archiv
GS Der Gerichtssaal
Jb. der Gef.ges. für Jahrbuch der Gefängnisgesellschaft für Sachsen und
Sachsen u n d A n h a l t Anhalt
JR Juristische Rundschau
JW Juristische Wochenschrift
1 Dahm wechselte 1939 nach Leipzig; Schaff stein ging 1941 von K i e l nach
Straßburg. Dort traf er wieder m i t Dahm zusammen, der ebenfalls 1941 i n
Straßburg tätig wurde.
2 Marxen
18 Einleitung
2 2. Kapitel.
3 3. Kapitel.
4
Wer sich m i t dem untersuchten Zeitraum beschäftigt hat, w i r d vielleicht
einige neuere Analysen aus politischer u n d soziologischer Sicht gerade bei
der Behandlung staatstheoretischer Fragen vermissen. A u f dieses Schrifttum
wurde verzichtet, u m die Gedankenführung i n festen Bahnen zu halten.
Untersucht werden lediglich die staatstheoretischen Anschaungen der dama-
ligen antiliberalen Strafrechtswissenschaft. — Damit hat sich neuerings
Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216 ff. befaßt, allerdings i n sehr knapper
Form, ohne die Breite der Quellenliteratur v o l l auszuschöpfen.
5
I m 5. K a p i t e l wurde dieser Rahmen ein wenig ausgedehnt. I m Gegen-
satz zu der i m allgemeinen wenig ergiebigen Sekundärliteratur haben sich
einige neueren Arbeiten m i t dem dort abgehandelten Themenkreis intensiv
befaßt, so vor allem die Arbeiten von Sina , Amelung u n d Hassemer zum
Rechtsgutsbegriff.
Einleitung 19
2*
1. Kapitel
14
Vgl. Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 10; vgl. auch Dannenberg, L i b . u n d
Straf recht i m 19. Jahrh., S. 7. Dannenberg k a n n allerdings nicht der anti-
liberalen Strafrechtswissenschaft der zwanziger u n d dreißiger Jahre zuge-
rechnet werden, w i e sie von Dahm u n d Schaffstein repräsentiert wurde.
Anders als diese sah er nicht i m Positivismus, sondern i m Naturrecht die
rechtliche Erscheiungsform des Liberalismus.
is Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47.
16 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 10; H. Lange, RuS H. 102, S. 2.
17 Forsthoff, Der totale Staat, S. 21.
is Ebd., S. 21.
19 Ebd., S. 22.
20 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 21.
21 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 50.
I. Die liberale Staatstheorie 23
Der liberalen Staatsauffassung, wie sie von den Gegnern des liberalen
Strafrechts dargestellt wurde, haften i n unlösbarer Verbindung die
Züge einer komplexen, weitgespannten weltanschaulichen Grundhaltung
an 3 9 , deren Gehalt von den Verfechtern eines antiliberalen Strafrechts
I I . Kritische Würdigung:
Die pauschale Betrachtungsweise
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
40
Insgesamt dazu Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 20 ff. ;
Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 18 f., Finke, l i b . u n d Strafverfahrens-
recht, S. 12 ff.; zum Zusammenhang zwischen Liberalismus, Rationalismus
u n d Individualismus: Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 27.
4
1 Forsthoff, Der totale Staat, S. 13.
42
Der Ausdruck stammt von ff. Marcuse, Der K a m p f gegen den Libera-
lismus, S. 21, der der nationalsozialistischen Weltanschauung des „heroisch-
völkischen Realismus" diese Ungeschichtlichkeit bei der Bekämpfung des
Liberalismus v o r w i r f t .
43
Mill , On Liberty, S. 132.
26 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
mus aufzuzeigen 44 I n der Regel boten sie jedoch nicht mehr als einen
groben Uberblick i n der Form einer gerafften Darstellung, die letzten
Endes doch wieder den Eindruck entstehen ließ, daß der Liberalismus
mehr eine statische Erscheinung sei 45 .
Noch schärfere Konturen erhielt dieses Bild, wo von Verbindungen
die Rede war, die der Liberalismus i m Laufe der Geschichte mit ver-
schiedenen Weltanschauungen und politischen Richtungen eingegangen
sei, wie die m i t dem Nationalgedanken i m Bismarckreich und mit dem
Sozialismus i n der Weimarer Republik 4 6 . Das gewandelte Erscheinungs-
bild des Liberalismus wurde allein den von außen an i h n heran-
getragenen Strömungen zugerechnet. Ungeprüft blieb, ob es nicht
vielmehr einem m i t innerer Notwendigkeit ablaufenden Evolutions-
prozeß entsprungen war, der ζ. B. i m wirtschaftlichen Bereich vom
krassen Individualismus des Manchestertums, der die individuelle Frei-
heit nur einer kleinen Schicht wirtschaftlich Mächtiger, aber eine
bedrückende Unfreiheit der Mehrheit zum Ergebnis hatte, zum Ge-
danken der Gemeinschaftsbindung des Eigentums zum Zwecke der
Sicherung eines Freiheitsraumes für alle führte, den die Weimarer
Reichsverfassung i n Art. 153 verankerte 4 7 .
Auch nur vereinzelt wurde angezweifelt, daß die gegen den absoluten
Staat gerichtete liberale Freiheitsbewegung für sich allein überhaupt
eine positive Staatstheorie darstellt: So verneinte C. Schmitt die Frage,
„ob aus einem reinen und folgerichtigen Begriff des individualistischen
Liberalismus eine spezifische politische Idee gewonnen werden kann.
. . . Denn die Verneinung des Politischen, die i n jedem konsequenten
Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer Praxis des Miß-
trauens gegen alle, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von
Staat und P o l i t i k " 4 8 .
Die wenig differenzierende Betrachtungsweise erklärt sich aus der
Methode, der sich die Vertreter des Antiliberalismus i n der Ausein-
Deutschland, S. 122 ff., 140 ff., 195 ff.; Grebing, Geschichte der deutschen
Parteien, S. 22 ff.; vgl. auch zur D y n a m i k des Liberalismus Flach, Noch eine
Chance f ü r die Liberalen, S. 15.
53 Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche Krise, S. 9.
54 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63; vgl. 5. Kap. V.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 29
Die Lehren der klassischen Schule waren, wie die i m folgenden zu-
sammengefaßt wiedergegebenen Äußerungen der Gegner des Liberalis-
mus zeigen 58 , nach ihrer Ansicht nahezu vollständig von liberalen A n -
schauungen durchwirkt 5 9 .
b) Das Verbrechenssystem
3 Marxen
34 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
3*
36 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
c) Die Methode
ein, wie sich u. a. aus der Verwendung seines Namens als Symbol für
die klassische Schule ergibt 1 1 3 . Vorherrschend war jedoch die Meinung,
daß Binding zwar auch dem allgemeinen liberalen Zug seiner Zeit ver-
haftet gewesen sei, daß er aber viele liberalistische Elemente der
klassischen Strafrechtsschule abgelehnt habe und somit eine Sonder-
stellung einnehme 114 . So häufig tauchte sein Name i m Zusammenhang
m i t den Angriffen gegen das liberale Strafrecht auf, und so oft wurde
von den Gegnern des Liberalismus auf ihn i n Einzelfragen Bezug ge-
nommen, daß der Eindruck entsteht, Binding wurde hier als Ahnherr
und Vorkämpfer der neuen Richtung i n Anspruch genommen. Daher
erscheint es angebracht, als Exkurs und als Vorgriff auf die Darstel-
lung des Strafrechts der antiliberalen Richtung die Behandlung Binding-
scher Lehren und ihre Beurteilung i m antiliberalen Schrifttum zu-
sammengefaßt wiederzugeben, soweit sie nach Ansicht der Autoren i m
Gegensatz zum liberalen Ideengut der klassischen Schule standen und
die Gedanken der antiliberalen Richtung vorwegnahmen:
Die Strafauffassung Bindings spiegelte nach Auffassung von Rauch
und Welzel seine „konservativ-autoritäre H a l t u n g " 1 1 5 wider: Da er das
Verbrechen als eine Normwidrigkeit, als eine Gehorsamsverweigerung
gegenüber der bindenden Anordnung der Obrigkeit ansehe 116 , erschöpfe
sich für ihn das Wesen der Strafe nicht i n einer Reaktion auf die
Störung der äußeren Ordnung des Zusammenlebens, sondern sie kehre
den absolut verpflichtenden, gehorsamsfordernden Charakter der
Rechtsordnung heraus 117 . Sie diene der Bewährung des Rechts und
gelte dem Feind des Staates. I n ihr vereinigten sich rechtliche und
ethische Bewertung der verbrecherischen Tat. Da Binding an dem meta-
physischen Gehalt der Vergeltungsstrafe festhalte, räume er der
materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit ein.
Lobend erwähnten die antiliberalen Strafrechtler, daß Binding sich
gegen den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege", das daraus
resultierende Analogieverbot sowie die damit zusammenhängende
126 v g l . Binding , Lehrbuch I I 2, S. 425 ff., 439 ff.; dazu Dahm, ZStaatW 95,
S. 299, 301, 303; Rauch, S.44ff.
127 v g l . Binding , Lehrbuch I I 1, S. 133. Nach Kempermann, Die Erkenntnis
des Verbrechens, S. 17, dringt Binding so bis zum „Wesen" des Delikts vor;
vgl. auch Rauch, S. 46 f.; Schaff stein, J W 1938, S. 146.
128 v g l . GS 76, S. 9 u n d Rauch, S. 50.
129 Vgl. Binding, Normen I I 1, S. 144 f.; dazu Rauch, S. 50.
130 So Rauch, S. 51.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 41
131 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 107 f. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30.
132 Schaff stein, DStR 1935, S. 99.
133 E. Wolf, RuS H. 103, S. 23; vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 113, Anm. 118;
Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108; Rauch, S. 9; Dahm, Nationalsozialistisches
u n d faschistisches Strafrecht, S. 19.
134 Krüger, ZStW 55, S. 112.
135 Die Darstellung stützt sich zu einem großen T e i l auf die Studie von
Welzel aus dem Jahre 1935 über „Naturalismus u n d Wertphilosophie i m
Straf recht", i n der sich der A u t o r eingehend m i t den Lehren v. Liszts be-
schäftigte. Dabei galt sein kritisches Interesse nicht so sehr dem unmittelbar
politischen Gehalt, sondern mehr der „geistigen Grundhaltung, die sich
keineswegs auf das rechtlich — staatliche Leben beschränkt" (S. 20).
A u f G r u n d dieser Zurückhaltung i n politischen Fragen wurde die Schrift
nicht i n allen Besprechungen wohlwollend kommentiert (vgl. Adami, J W
1935,, S. 2348). Es sollte aber nicht übersehen werden, daß die Arbeit trotz
ihrer philosophie-geschichtlichen Zielsetzung auch eine politische Stellung-
nahme enthielt (vgl. Berges, DJZ 1936, S. 60 f.; Mezger, D J 1935, S. 1395). Die
harte K r i t i k am Naturalismus u n d an der Wertphilosophie sowie an ihren
strafrechtlichen Erscheinungsformen führte zu einer Öffnung gegenüber dem
Nationalsozialismus. Das ging zwar nicht bis zu einem offenen, rückhalt-
42 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
D i e m o d e r n e Schule s t ü t z t e i h r e n S t r a f b e g r i f f a u f e m p i r i s c h e U n t e r -
suchungen der K r i m i n a l i t ä t , d i e i h r e Ursachen m i t M i t t e l n der Soziologie
u n d der Psychologie zu e r k l ä r e n s u c h t e n 1 3 8 . N a c h A u f f a s s u n g der
Gegner eines l i b e r a l e n Strafrechts k a m i n der k r i t i k l o s e n Ü b e r n a h m e
n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r D e n k m e t h o d e n , i n der p o s i t i v i s t i s c h e n B e -
g r ü n d u n g u n d A u s g e s t a l t u n g der S t r a f e eine l i b e r a l e A n s c h a u u n g v o n
S t a a t u n d Gesellschaft z u m V o r s c h e i n : D e r G e d a n k e h e i l e n d e r Bes-
serung u n d sichernder V e r w a h r u n g , der k a u m noch m i t d e m B e g r i f f
b) Das Verbrechenssystem
152 Vgl. v. Liszt, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 391; dazu Krüger, ZStW 55,
S. 111 f.
153 vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl., S. 128; 21./22. Aufl., S. 116; dazu Welzel,
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 38; Schwarzschild, Franz v. Liszt,
S. 16 ff.; auch Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 61.
154 Schaff stein, DStR 1935, S. 102; vgl. auch Höhn, DR 1935, S. 266.
iss Vgl. v. Liszt, ZStW 8, S. 140 ff. u n d Schaff stein, DStR 1935, S. 102.
156 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 102; Welzel, Naturalismus u n d W e r t -
philosophie, S. 35 f.
46 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
c) Die Methode
157
Vgl. v. Liszt Stellungnahme gegen die Auffassung der Schuld als sitt-
liches Werturteil, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 45 f., 228 f. ; dazu Krüger,
ZStW 55, S. 110; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 28 f.; vgl. auch
Schwarzschild, Franz v. Liszt, S. 24.
158
Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 36 f.; Rauch, Die
klassische Strafrechtslehre, S. 54 f.
159
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 39 f.
2. Kapitel
I. Die Lebensphilosophie
I I . Die Phänomenologie
4 Marxen
50 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
14
Die erkenntnistheoretischen Aspekte hat E. Husserl vor allem i n den
„Logischen Untersuchungen" (1901) u n d i n den „Ideen zu einer reinen
Phänomenologie u n d phänomenologischen Philosophie" (1913) erörtert.
15
Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 36.
16
Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei Stegmüller, Gegenwarts-
philosophie, S. 70 ff. u n d Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden,
S. 23 ff.
17
Diesen Zusammenhang stellt Stegmüller i n der Person Schelers fest
(vgl. Gegenwartsphilosophie, S. 97).
Vgl. Linke, Niedergangserscheinungen, S. 66 f.; vgl. auch zur K r i t i k an
der Phänomenologie: Kraft, V o n Husserl zu Heidegger.
I I I . Der Popularisierungs- u n d Politisierungsprozeß 51
4*
52 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
38 Ebd., S. 39.
39 Vgl. E.Jünger, a.a.O., S.71: „Das tiefste Glück des Menschen besteht
darin, daß er geopfert w i r d , u n d die höchste Befehlskunst, Ziele zu zeigen,
die des Opfers w ü r d i g sind." Vgl. zur Gestalt des Arbeiters auch Spengler,
Preußentum u n d Sozialismus, S. 10.
40
Einem Hinweis von Prof. Naucke entnehme ich, daß aus dem Gemein-
schaftserlebnis der Front die Garantenstellung aus enger Lebensgemeinschaft
i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte entwickelt w u r d e (vgl. R G 69,
323). Diese Tatsache illustriert die Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens
i m politischen u n d rechtlichen Leben der zwanziger u n d dreißiger Jahre.
41
Antidemokratisches Denken, S. 115; vgl. auch zum politischen Gehalt der
Lebensphilosophie: Kolnai, ZStaatW 94, S. 1 ff.
42 Vgl. z. B. Krieck, Wissenschaft Weltanschauung Hochschulreform; Natio-
nalpolitische Erziehung, S. 1 ff. („Politische Wissenschaft") ; Rein, Die Idee
der politischen Universität, S. 21 ff.
I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß 55
1. Das Menschenbild
das Wesen des deutschen Menschen zum Ziel führen. Als den „realen
deutschen Menschentypus der Gegenwart" stellten die antiliberalen
Strafrechtler den „gemeinschaftsgebundenen, durch Dienst am Volks-
ganzen innerlich verpflichteten Menschen" heraus 32 . Egoistisches Streben
nach persönlichen Vorteilen und das Verlangen nach Berechenbarkeit
staatlicher Eingriffe lägen i h m fern. Dieser „politische Soldat" 3 3 gebe
sich ganz dem Dienst an der Gemeinschaft hin 3 4 . Er existiere somit
nicht als Individualität für sich, sondern als gebundenes Glied über-
geordneter Gemeinschaften, unter denen die höchste das Volk sei 35 .
Die Bindungen seien nicht ein Ergebnis individueller Einsicht; sie
beruhten auf natürlichen Gegebenheiten 36 .
Vor dem einzelnen ist also das Volk da; der einzelne ist lediglich
„Material" 3 7 . Das antiliberale Denken i n Ganzheiten sah i m Volk
mehr als die Summe der Individuen: Das Individuum sei von vorn-
herein Volksgenosse; das Wesen des Volkes liege i n der Gemeinschaft 38 .
Es zeige sich i n einer Gleichartigkeit des Fühlens und des Denkens.
Dem einzelnen eröffne sich das Gemeinschaftserlebnis als eine existen-
zielle Erfahrung. Das Vorhandensein einer echten Volksgemeinschaft
habe sich „schlaglichtartig" i m Erlebnis des ersten Weltkrieges
gezeigt 39 .
Zur Untermauerung ihres Standpunktes verwiesen die antiliberalen
Strafrechtswissenschaftler auf die gemeinsame geschichtliche Ver-
gangenheit, auf die Verbindung durch einen gemeinsamen Lebensraum
und auf die blutsmäßige Gleichartigkeit der Volksglieder („Blut und
Boden") 40 . Unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Rassen-
doktrin rückte später der letztgenannte Gesichtspunkt i n den Vorder-
nötigt. Vgl. zum folgenden Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 101 ff.,
dessen Darstellung jedoch vorwiegend auf das Staats- u n d Rechts Verständnis
der nationalsozialistischen Machthaber abstellt.
32 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
33
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130.
34 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 67.
35 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109.
36 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18; Röhrborn, Der autori-
täre Staat, S. 18, spricht von „Ursprungskollektivität" ; Specht, Der Straf-
zweck, S. 27: „Das V o l k ist die natürliche überindividuelle Gemeinschaft."
37 Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 20; Gerland, D J Z 1933, Sp. 860:
„ V o r der Gemeinschaft bedeutet der einzelne n u r soviel, als er für sie
bedeutet."
38 Vgl. Dahm, DR 1934, S.417; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 109.
39 Specht, Der Strafzweck, S. 26; vgl. auch Höhn, Referat zum Kongreß
für Rechtsvergleichung 1937, S. 152.
40 Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 8 f.; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38.
62 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
grund: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse und
eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 41 ."
Der „heroisch-völkische Realismus" 42 erhob den Anspruch, von der
tatsächlichen Geisteslage i m deutschen Volk auszugehen. I n der histo-
rischen Wirklichkeit hatte nun aber die „geistige Überfremdung" 4 3
deutlich sichtbar Einfluß genommen. Der „reale deutsche Menschen-
typus" 4 4 war gerade nicht stets real gewesen.
Die antiliberalen Strafrechtlicher befreiten sich aus dem Dilemma,
indem sie „Wirklichkeit" nicht als empirische Wirklichkeit auffaßten 45 .
Das zeigt auch der häufige Gebrauch der Attribute „wahr", „echt" oder
„gesund" i m Zusammenhang mit Begriffen wie „Volksgemeinschaft"
oder „Volksanschauung". So wurde eine bestimmte Organisationsform
des Volkes oder eine bestimmte Geisteshaltung als dem deutschen
Wesen gemäß herausgehoben und für maßgeblich erklärt. Sie müßten
i m politischen Leben durchgesetzt werden. Wo die Bereitschaft zur
Unterordnung unter die Gemeinschaftsbelange fehle, müsse mit Härte
durchgegriffen werden 4 6 Der darin liegende Widerspruch zur angeblich
wirklichkeitsbezogenen Denkweise trat i n einer Formulierung Henkels
offen zutage: „Die nationalsozialistische Bewegung hat den volks-
verbundenen, aus freien Stücken zu Hingabe und Opfer bereiten Men-
schen als deutschen Menschentypus geschaffen 46 ." Dieser Widerspruch
w i r d uns i m folgenden noch häufig beschäftigen.
Gestalt, der des Staates. Damit wurde auch der Staat als natürliche
Gegebenheit oder zumindest als Konsequenz natürlicher Voraussetzun-
gen erklärt 4 7 . I m Staat verwirkliche sich die Gemeinschaft des Volkes.
Staat und Volk bildeten eine Einheit: „Der deutsche Staat ist nicht nur
äußerliche Zutat zum lebendigen Volkstum, sondern die der Lebens-
wirklichkeit unseres völkischen Daseins entsprechende Gestalt 48 ."
Klare Angaben über die politischen Ziele eines derartigen „Volks-
staates" 49 ließen sich dem nicht entnehmen. Die Antiliberalen bedienten
sich hier verschwommener Wendungen: Der Zweck des Staates liege i n
der „Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte" 5 0 ; der neue
Staat ziele auf die Verwirklichung seines „totalen Lebensgesetzes" 51 .
Die Ausfüllung dieser Leerformeln 5 2 blieb den politischen Instanzen,
d. h. der nationalsozialistischen Führungsschicht überlassen, deren ras-
sistische Doktrin sich dabei voll entfalten konnte.
Zugleich mit dem liberalen Postulat der Freiheit wurde i n der neuen
Staatstheorie auch das der Gleichheit modifiziert und i m Ergebnis
pervertiert. Wie den Freiheitsbegriff unterwarf man auch den liberalen
Gleichheitsbegriff einer Fragestellung, die seiner Tradition völlig
konträr war: Geprüft wurde, inwieweit er mit den Prinzipien und An-
forderungen des völkischen Staates vereinbar sei.
Gegen die liberale Gleichheitsidee wurde i m einzelnen vorgebracht 58 :
Das Volk bestehe nicht aus einer gleichförmigen Masse unabhängig
voneinander existierender Individuen. Es setze sich aus vielen natür-
lich gewachsenen Gemeinschaften wie Familie, berufliche Gruppe,
militärischer Verband zusammen und bilde selbst wiederum eine
Gemeinschaft. Dem Charakter der Gemeinschaft widerspreche es, wenn
sich der einzelne unter Berufung auf das Postulat absoluter Gleichheit
seiner besonderen Verantwortung entziehen könne, die aus seiner kon-
kreten Stellung innerhalb der Gemeinschaft resultiere. Die ständische
Gliederung des Staates 59 müsse sich auch i n der Rechtsordnung nieder-
schlagen; das Recht habe auf die Besonderheiten der vielen Gemein-
schaften innerhalb des Volksganzen Rücksicht zu nehmen und müsse
ihnen durch eine konkrete Erfassung gerecht werden. — Nach Höhn
sollte der abstrakte liberale Gleichheitsbegriff durch das „Prinzip der
konkreten Gleichheit der Volksgenossen" ersetzt werden 5 8 .
Diese Umschreibung der Gleichheit hielt nur noch am Wort fest. I n
ihr verflüchtigte sich das liberale Postulat zu dem romantischen B i l d
einer organischen Eingliederung des einzelnen i n den Volkskörper,
das die geeignete Form für handfeste politische Inhalte abgab; denn
es ermöglichte die Beseitigung aller formalen Schranken, die ein
Mindestmaß an Gleichheit jedenfalls i m Rahmen des Rechts gewähr-
leisten.
3. Die Staatsform
Die Form des neuen Staates sollte den „Grundlagen des Volkslebens"
entsprechen 60 ; i n einem kraftvollen Staat sollte der Gedanke der Einheit
57 Strafrichter u n d Gesetz, S. 66.
58
Vgl. zum folgenden Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung
1937, S. 158; Larenz, RuS H. 109, S. 39.
59 Vgl. E. Wolf, RuS H. 103, S. 33.
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses 65
a) Das Führerprinzip
5 Marxen
66 3. Kap. : Das neue Staatsverständnis
b) Der Regierungsstaat
5*
68 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
83 Diesen Begriff prägte Koellreutter; vgl. RuS H. 89; vgl. auch ders.,
RuS H. 101, S. 9 ff.; D J Z 1933, Sp. 517 ff.
86 Krüger, ZStW 55, S. 199.
87 Ganz deutlich der Satz bei C.Schmitt, J W 1934, S. 716; „ W i r bestimmen
. . . nicht den Nationalsozialismus von einem i h m vorgehenden Begriff des
Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat v o m Nationalsozialismus
her."
88 Vgl. Die drei Arten, S.35; J W 1934, S. 713 ff.; ZStaatW 95, S. 189 ff.
89 Vgl. die folgenden Anmerkungen. Den Meinungsstand zum Rechts-
staatsbegriff i n der Staatsrechtswissenschaft referierte 1936 Groß-Fengels,
Der Streit u m den Rechtsstaat.
90 Vgl. Strafrichter u n d Gesetz, S. 53 ff.; u n d die Besprechungen von
Dahm, DStR 1934, S. 248 ff., Schaff stein, ZStW 54, S. 261 ff. sowie Bung,
J W 1934, S. 1107.
91 Forsthoff, Der totale Staat, S. 14; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d
Gesetz, S. 53.
92 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 64.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben 69
Die Gegner des liberalen Strafrechts wandten sich gegen die Auf-
fassung, daß das Recht i n einem rational aufgebauten, zweckorientierten
io» Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24; Larenz, RuS H. 109,
S. 17; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 22 u n d 26.
no vgl. H.Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 8; Nicolai, Rassen-
gesetzliche Rechtslehre, S. 22.
m Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 252: „Die Volksanschauung als der letzte
Geltungsgrund des Rechts ist nicht der ,still waltende Volksgeist 4 der
Romantik u n d der historischen Rechtsschule, den es zu belauschen gilt,
sondern völkisches Recht ist ein bewußt u n d a k t i v gestaltendes Recht." Vgl.
zum Positivismus der historischen Rechtsschule Bloch, Naturrecht, S. 102 ff.
ι " ZStW 57, S. 255; vgl. auch Referat zum Kongreß f ü r Rechtsverglei-
chung 1937, S. 520.
us Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
114 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75; E. Wolf, Z S t W 53,
S.573.
72 3. Kap.: Das neue Staatserständnis
gingen davon aus, daß i n dem „konkreten Dasein des Volkes" ein
Dualismus von Sein und Sollen bestehe 126 ; die „Harmonie von Wert
und Wirklichkeit" müsse als Ziel angestrebt werden 1 2 7 . Der Wert
behalte als Maßstab seine Bedeutung 1 2 8 .
I m Ergebnis unterschied sich diese Ansicht aber nicht von der Dahms
und Welzels. Auch bei diesen blieb der Dualismus von Wirklichkeit
und Wert i n verschleierter Form erhalten; denn nicht die empirische,
sondern nur die „sinnvolle" Wirklichkeit 1 2 9 sollte deskriptiv erfaßt
werden; nicht i n der allgemeinen, sondern nur i n der „gesunden"
Volksanschauung sollte das materielle Recht i n Erscheinung treten.
Notwendigerweise bedurfte es eines Maßstabes, um diesen Gegenstand
zu bestimmen. Zu behaupten, er liege i m Gegenstand selbst, war ein
Zirkelschluß, der nur deswegen nicht offen zutage trat, weil die
Antiliberalen ihren Erkenntnisweg nicht präzise beschrieben. Sie
sprachen nebulös von einer irrationalen, ganzheitlichen, wesenhaften
Methode, von einer „emotional-wertfühlenden Erkenntniseinstellung" 1 3 0 .
Die Rechtsidee des Nationalsozialismus könne nur „erlebt" werden 1 3 1 .
Die Ablehnung rationaler Erkenntnismethoden ließ wissenschaftliche
Genauigkeit und Redlichkeit i n ihrer Bedeutung absinken. Es ging
die Bereitschaft verloren, den eigenen Erkenntnisweg selbstkritisch
zu überprüfen. Unerörtert blieb die Frage, ob nicht das, was der
Wirklichkeit als „sinnvoll" entnommen wurde, vorher hineingedacht
worden war.
Unbestimmt blieb aber auch die Beschreibung der obersten Werte
bei den antiliberalen Strafrechtlern, die an der Trennung von Wert
und Wirklichkeit festhielten. Als höchste Werte wurden die „Gemein-
schaftswerte" 132 genannt, das „Wohl der Gesamtheit" 1 3 3 . Henkel for-
derte, daß der Wertgehalt der gesunden Volksanschauung „unter dem
Leitgedanken der völkischen Rechtsidee" 134 bestimmt werden sollte.
behandelte und sie nicht durch einen gemeinsamen allgemeinen Teil mit
den Verbrechen und Vergehen verband; weiterhin, daß er die Todes-
strafe als „Fremdkörper" 4 aus dem Strafensystem ausschied und auch
die Zuchthausstrafe wegen ihres Makels, der allen Resozialisierungs-
versuchen entgegenwirkt, beseitigte. Übrig blieb eine einheitliche
Freiheitsstrafe i n der Form des Gefängnisses 5. Aus demselben Grund,
der für die Abschaffung der Zuchthausstrafe maßgebend gewesen war,
erfolgte eine weitgehende Zurückdrängung der Ehrenstrafen. Eine
erhebliche Ausdehnung erfuhr die Geldstrafe. Bei Vergehen sollte,
soweit mildernde Umstände vorlagen, eine Freiheitsstrafe durch eine
Geldstrafe ersetzt werden können. I n großzügiger Form fand der
Gedanke des bedingten Straferlasses Aufnahme i n den Entwurf: Die
Anwendung dieses Instituts —, wie i m übrigen auch die Umwandlung
der Freiheitsstrafe i n eine Geldstrafe, — wurde nicht von einer
bestimmten Höhe der verwirkten Strafe abhängig gemacht, sondern
richtete sich ausschließlich nach der Täterpersönlichkeit. Für alle
Delikte war vorgesehen, daß die Strafe gemildert werden konnte,
wenn es nach den Umständen des Einzelfalles angebracht war. Weiter-
hin ermöglichte der Entwurf eine Herabsetzung der Strafe nach freiem
Ermessen des Richters i n „besonders leichten Fällen". Die Verringerung
des Strafmaßes sollte bis an die untere Strafgrenze, u. U. sogar zu einer
bloßen Verwarnung führen können. Eine Privilegierung des Uber-
zeugungstäters kam i n der für i h n vorgesehenen Einschließung anstatt
der Gefängnisstrafe zum Ausdruck. I m Bereich der Sicherungsmaßnah-
men gegenüber dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher ging der
Entwurf von einer Zweispurigkeit von Strafen und Maßnahmen aus.
Durch die Zulassung des sog. „Vikariierens", der Möglichkeit, die
Strafe durch eine Maßregel zu ersetzen, näherte er sich aber i n diesem
Bereich einer unbestimmten Sicherungsstrafe an.
Insgesamt war dieser Reformvorschlag von dem Willen getragen,
dem staatlichen Strafensystem humanere Züge zu verleihen und der
betonte. Daher ergibt die Formulierung Maurachs, A l l g . Teil, S. 51, der
E n t w u r f „baute auf neuen Grundlagen auf", ein schiefes Bild. Derselbe
E i n w a n d muß Baumann, Allg. Teil, S. 51, entgegengehalten werden, der
davon spricht, daß der E n t w u r f 1919 „alsbald i n einem österreichischen
Gegenentwurf von 1919 . . . u n d i m E n t w u r f Radbruch 1922 seine E n t -
gegnungen (!) fand". Der E n t w u r f 1922 wurde als Ganzes i m übrigen erst
nach 30 Jahren publiziert („Gustav Radbruchs E n t w u r f eines Allgemeinen
Deutschen Strafgesetzbuches, Tübingen 1952"); erste Hinweise auf den
I n h a l t aber schon bei Radbruch, Z S t W 45, S. 417 ff.
s Radbruch, E n t w u r f 1922, Bemerkungen, S. 51.
4 Ebd., S. 52.
5
Die i m E n t w u r f vorgenommene Unterscheidung zwischen „Gefängnis"
u n d „strengem Gefängnis" hatte lediglich gesetzestechnische Bedeutung.
M i t i h r w a r keine tiefgreifende Differenzierung nach der A r t des Vollzuges
beabsichtigt; vgl. Radbruch, E n t w u r f 1922, S. 54.
78 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
6 Marxen
82 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
6*
84 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
27 Ebd., S. 16.
28 Ebd., S. 27 ff.
29 Ebd., S. 33.
30 Ebd., S. 35.
31 Ebd., S. 36.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 85
37 RuS H. 103, S. 5.
38 E. Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 177 ff.
39 So Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 24 ff.;
Specht, Der Strafzweck, S. 31 ff.; Gallas, ZStW 53, S. 12; Nagler, GS Bd. 103,
S . X I V f . A n m . 30, S . X X I ; Sauer, GS Bd. 103, S. 19; Radbruch, Die Gesell-
schaft 1933, .223 ff.; vgl. auch die Besprechungen von Nicolais „rassen-
gesetzlicher Rechtslehre" i n ArchRWPh Bd. 26, S. 84 ff. (Sauer); M S c h r K r i m -
Psych 1933, S. 633 (v.Hentig); ZStW 53, S. 572 ff. (E.Wolf); Z R P h 1933,
S. 189 ff. (Jung).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 87
α) Α. E. Günther
Für Α. E. Günther bedeutete die Strafrechtsreform die „Auflösung des
Strafrechts" 40 und damit die „Auflösung jeder autoritären Ordnung" 4 1 .
Diesem Zweck diene das von den Reformern eingesetzte Kampfmittel
des Liberalismus, die Humanisierung. M i t seinen Forderungen i m
Namen der Menschlichkeit gehe es dem Liberalismus jedoch nicht nur
um eine Milderung der Gesetze, sondern u m die Durchsetzung der ihm
eigentümlichen Auffassung vom Verbrechen und von der Strafe, die
„jeder Staatsautorität feindlich ist" 4 2 . Die Ausdeutung der Strafe durch
die Reformer als Mittel zum Schutz der Gesellschaft gibt nach Günthers
Meinung die Absicht zu erkennen, die „Majestät" 4 3 des Staates durch
eine „fortschreitende Privatisierung der Staatsauffassung" zu unter-
graben 44 . Je mehr nämlich die Gesellschaft i n den Vordergrund rücke,
desto weiter trete der Staat zurück, und der liberale Begriff der Gesell-
schaft, „die ja keine Gemeinschaft ist" 4 5 , beruhe auf dem Prinzip des
freien Lebenskampfes, i n dem jeder seine privaten, egoistischen Interes-
sen ungehindert verfolgen könne.
Wenn das Strafrecht aber nur dem möglichst zweckmäßigen Schutz
der gesellschaftlichen Sicherheit diene, gerate es i n Konflikt mit dem
sittlichen Empfinden: „Denn es widerspricht dem sittlichen Empfinden,
daß die Gesellschaft . . . ihre Mitglieder sollte aufhängen dürfen, um sich
die ungestörte Nachtruhe zu sichern 46 ." — Günther gestand der libera-
len Reformbewegung ein gewisses Gefühl für die von der Sittlichkeit ge-
steckten Grenzen zu: „Das schlechte Gewissen, das die Gesellschaft
empfindet, wenn sie sich über die Störer ihrer Wohlfahrt zum Richter
erhebt, ist der zwingende Grund ihrer ,Humanität 4 gegenüber dem
Verbrecher 47 ." Die Auffassung von der Gesellschaft als einem Mechanis-
mus zum Ausgleich einander widerstreitender Triebe und Interessen
müsse auch dem Verbrecher zugute halten, daß er durch seine Triebe
und Interessen zur Tat komme. Dem setze die Gesellschaft ihr Interesse
am Schutz der gesellschaftlichen Abläufe entgegen. Der Richter rücke i n
die Rolle des „Syndikus gesellschaftlicher Interessen" 48 . Damit gerate
der „Rechtsgrund zur Strafe" 4 9 ins Wanken, und so sei zu erklären, daß
40 Widerstand 1930, S. 244.
41 Liberale und autoritäre Straf rechtsreform, S. 101.
42 Ebd., S. 101.
43 Ebd., S. 104.
44 Widerstand 1930, S. 341.
45 Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform, S. 103.
46 Ebd., S. 101.
47 Ebd., S. 103.
48 Ebd., S. 103.
49 Widerstand 1930, S. 250.
88 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
so Ebd., S. 247.
si Ebd., S. 250.
62
Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
53 Widerstand 1930, S. 248.
54 Ebd., S. 262.
55 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
56 Eine Bestandsaufnahme des umfangreichen Materials würde den Rah-
men dieser Untersuchung sprengen. Es sei daher n u r auf die Darstellungen
u n d Schrifttumsangaben bei Maurach, A l l g . Teil, S. 64 ff. u n d 470 f.; Wegner,
A l l g . Teil, S. 23 ff. verwiesen.
57 Genau diese Formulierung findet sich schon bei Birkmeyer, Was läßt
von Liszt v o m Strafrecht übrig?, S. 97.
58 Vgl. dazu die i n A n m . 56 genannten Darstellungen sowie die A u s -
führungen oben l . K a p . I I I . 1. Zeugnis von der Grundhaltung der Reform-
gegner legen insbesondere die „Kritischen Beiträge zur Strafrechtsreform",
herausgegeben von Birkmeyer u n d Ν agier seit 1908, ab; vgl. vor allem die
Abhandlung von R. Schmidt, Die Strafrechtsreform i n ihrer staatsrechtlichen
u n d politischen Bedeutung (H. 15).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 89
59
Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 102.
60 Widerstand 1930, S. 339.
90 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
b) Nicolai
61
A u f den 7 V2 Seiten dieser Abhandlung taucht das W o r t „Liberalismus"
bzw. „ l i b e r a l " oder „liber alistisch" 19mal auf, während es i n der 18seitigen
Aufsatzreihe aus dem Jahr 1930 n u r 8mal Verwendung findet.
62
Das Wesentliche ist i m Abschnitt „Rassengesetzliche Straftheorie",
S. 41 ff., enthalten.
63
Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 91
Rechtsordnung selbst 63 ." Aus dieser Sicht sei der Verbrecher „das
schuldlose und bemitleidenswerte Opfer der Umwelt, der Rechtsord-
nung, des Staates, des Volkes" und die Strafe „ein Unrecht, das man
dem Verbrecher zufügt" 6 3 . Nach dieser Auffassung müsse man zu dem
Schluß kommen, daß „nicht die Gesamtheit vor dem Verbrecher, sondern
dieser vor der Justiz zu schützen ist" 6 3 . Die Ansicht, daß ein humanes
Strafrecht ein Zeichen für einen hohen Kulturstand sei, nannte Nicolai
„nicht nur falsch, sondern auch sittlich bedenklich. Denn sie läßt erken-
nen, daß der Urteilende gefühlsmäßig mehr für den Verbrecher als für
dessen Opfer Partei ergreift und das Volkswohl und den Schutz des
Rechtsgedankens hintansetzt" 6 4 . Sein Urteil fiel kurz und bündig aus:
„Dies ist die Lehre des Marxismus und die Auffassung unseres demo-
kratischen Judentums 63 ."
Noch weniger als die Äußerungen Α. E. Günthers fußten die Aus-
führungen Nicolais auf strafrechtswissenschaftlichen Grundlagen. Der
gewählte Ausschnitt aus der Gedankenwelt der Reformer war zu schmal,
die Bewertung stand i m Zeichen einer voreingenommenen, entschieden
parteipolitischen Stellungnahme.
Zu diesen Mängeln stand das Echo dieser Schrift auch i n der Straf-
rechtswissenschaft 66 i n keinem Verhältnis. Erklären läßt es sich nur
damit, daß das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung eine
Auseinandersetzung auch mit deren strafrechtlichen Zielen erforderlich
machte. Die Schrift Nicolais mußte dafür als geeigneter Ausgangspunkt
erscheinen; ein von der Partei verabschiedetes strafrechtliches Pro-
gramm existierte nicht, und die Position des Autors i n der Reichsleitung
der Partei bürgte für einen zumindest halbwegs offiziellen Charakter
seiner Äußerungen. Daß eine sorgfältige, kritische Uberprüfung m i t
fachspezifischen M i t t e l n unterblieb, ist ein Beweis für die wachsende
Politisierung der strafrechtlichen Auseinandersetzung.
Nachhaltigen Eindruck hinterließ i n der weiteren Diskussion der
Vorwurf Nicolais, die von den Reformern geplante Humanisierung des
Strafrechts bezwecke den Schutz des Verbrechers.
64 Ebd., S. 44.
65 Ebd., S. 42.
66 Vgl. oben 4. Kap. I. 3. a) A n m . 39.
92 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
78 Ebd., S. 168; vgl. Verh. des Reichstags I V . Wahlperiode 1928, Bd. 440,
Drucksache 1741: Der E n t w u r f sah die Todesstrafe f ü r Landesverrat i n
weitester F o r m vor („Wer es unternimmt, . . . eine Handlung zu begehen, die
die Sicherheit oder Unabhängigkeit der deutschen Nation i m Verhältnis
zum Ausland zu gefährden geeignet ist . . . " ; Werbung f ü r Abrüstung; A u f -
forderung zur Kriegsdienstverweigerung; Dienstpflichtentziehung) sowie f ü r
„Volksverrat" (Behauptung der „Kriegsschuldlüge"; weitere Aufnahme von
Kriegsfolgelasten; Mißbrauch von Freiheitsrechten zur Schädigung der
Lebensinteressen des deutschen Volkes). M i t Zuchthaus waren „Wirtschafts-
verrat", „Rassenverrat" u n d die Verächtlichmachung nationaler Symbole be-
droht. I n schweren Fällen sollte auch hier die Todesstrafe verhängt werden
können.
79 Die Bemerkung bezog sich auf E.Schmidts Schrift „Strafrechtsreform
u n d K u l t u r k r i s e " , RuS H. 79, i n der die Äußerung i n Wahrheit nicht ent-
halten ist. Sie würde auch i m Gegensatz zum ganzen I n h a l t des Buches
stehen, i n dem sich E. Schmidt u m den Nachweis bemühte, daß die E n t w ü r f e
gerade nicht liberalistisch seien. Vgl. auch E. Schmidts Widerspruch i n der
nachfolgenden Diskussion, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176.
so Ebd., S. 165.
8i Die Möglichkeit einer Wesensverschiedenheit negierte Gleispach, ebd.,
S. 165, kurzerhand. Seine apodiktische Tonart entsprach dem aktivistischen
Element i n der nationalsozialistischen Ideologie.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 95
82 Ebd., S. 166.
83 Ebd., S. 168; hier n a h m Gleispach wieder auf den nationalsozialistischen
E n t w u r f eines Gesetzes zum Schutze der Nation Bezug (Reichstag I V 1928,
Drucksache 1741).
96 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
gänge wieder auf, die er bereits früher geäußert hatte 8 4 : Als Charak-
teristikum der Strafrechtsreform bezeichnete er, „was i n den Straf-
begriff hineingedacht w i r d " 8 5 . Der Gedanke einer spezialpräventiven,
„individualisierenden" Strafe habe nichts mit einem „Individualismus"
i m Sinne einer Freiheitsgarantie für den einzelnen gemein. Der Zweck
der Resozialisierung mache aus Gründen des Gemeinwohls sogar ein-
schneidende Eingriffe i n die individuelle Freiheitssphäre durch Er-
ziehungsmaßnahmen erforderlich, die ein liberalistisches Strafrecht nie
gestatten würde. Sichtbarstes Zeichen des Illiberalismus in der Straf-
rechtsreform sei die angestrebte Sicherungsstrafe.
Nach eindringlichen Appellen von Radbruch und E. Schmidt an die
Reformgegner, endlich ihre Bedenken klar zu äußern, ergriff der
Göttinger Privatdozent Schaffstein als Sprecher der „Jüngeren" das
Wort 8 6 . Den Kern seiner Ausführungen bildete die Feststellung, daß
die in den Entwürfen angelegte Tendenz zur Milde dazu berechtige,
die Reform „liberalistisch" zu nennen; denn dem Liberalismus wohne ein
individualistisches Element inne, das i n der Bewahrung des einzelnen
Rechtsbrechers vor einschneidenden staatlichen Maßnahmen zum Zuge
komme. Zum Beweis führte Schaffstein das „weitgehende und viel-
gestaltige Milderungssystem" 87 der Entwürfe an. Die Auswirkungen der
Reformgedanken waren jedoch nach seiner Ansicht i n der Vergangen-
heit nicht auf die Gesetzesvorschläge allein beschränkt geblieben; auch
i n der Gesetzgebungspraxis und i n der Strafrechtspflege habe sich der
Individualismus durchgesetzt.
I m Verein m i t dem Sozialismus, der gleichfalls eine individualistische
Bewegung sei, habe der Liberalismus dazu beigetragen, daß nach dem
Weltkrieg nur solche Reformvorstellungen i n die Gesetzgebungspraxis
umgesetzt worden seien, die dem Rechtsbrecher Vergünstigungen ge-
bracht hätten, so ζ. B. die Strafvollzugsreform und die Ausdehnung der
bedingten Begnadigung.
Schaffstein beließ es bei diesen Andeutungen. Er sprach damit ein-
mal auf die Veränderungen i m Strafvollzug an, die durch die Reichsrats-
grundsätze aus dem Jahre 1923 und die sich daran anschließenden
Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder herbeigeführt worden waren.
Die Reichsratsgrundsätze stellten den Erziehungs- und Besserungs-
gedanken i n den Mittelpunkt des Freiheitsstrafvollzugs und nahmen
den Stufenvollzug i n das Strafvollzugssystem auf. Zum anderen wies
88
So die Bezeichnung i n den Reformentwürfen; vgl. oben 4. Kap. I . 1.
8
» Vgl. dazu unten 4. Kap. I I . 2. a).
so Kriminalistische Abhandlungen, H. 16, Leipzig 1931.
91 S chaff st ein, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 183.
92 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 190 ff.
7 Marxen
98 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
sa Ebd., S. 192.
94
„Sozialwucher" meint die Schädigung der Allgemeinheit durch die
Forderung überhöhter Preise für unentbehrliche Gegenstände u n d Leistun-
gen. A n die Stelle des Tatbestandsmerkmales der individuellen Notlage
beim Individualwucher (§§ 302 a ff. StGB) t r i t t das der allgemeinen Notlage.
E. Wolf sprach hier die während u n d nach dem 1. Weltkrieg erlassenen
Gesetze u n d Verordnungen zur Bekämpfung des Preiswuchers, des Leistungs-
wuchers, der Warenzurückhaltung, des Schleichhandels usw. an, die bis 1926
nach u n d nach außer K r a f t gesetzt w u r d e n (vgl. Frank, Strafgesetzbuch,
18. Aufl., S. 707 f.).
95
Soweit i n der Aussprache „der E n t w u r f " angesprochen wurde, w a r
der E n t w u r f 1930 gemeint.
96 Ebd., S. 193.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 99
*
100 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Turbulenz der politischen Ereignisse, von denen hier nur die gewaltigen
Stimmengewinne der radikalen Parteien und die abermalige Reichstags-
auflösung vom 12. September 1932 erwähnt seien, ließ i n der Folgezeit
dem Gedanken an eine Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit
an der Strafrechtsreform keinen Raum, schon gar nicht unter A n -
knüpfung an die vor auf gegangenen Bestrebungen 105 .
Das heißt jedoch nicht, daß die Auseinandersetzung um den künftigen
Weg des Straf rechts verstummt war; i m Gegenteil, durch das vorzeitige
Scheitern der Reform fühlten sich ihre Gegner aufgerufen, m i t Nach-
druck einen Umschwung i n der Strafrechtsentwicklung i m Sinne der
weltanschaulichen Grundlagen der neuen politischen Kräfte zu fordern.
I n zahlreichen Veröffentlichungen, die sich m i t den Grundfragen des
Strafrechts, insbesondere mit der Frage seiner Abhängigkeit von der
Staats auf fassung befaßten, versuchten „national" gesinnte Strafrechts-
wissenschaftler, dem Strafrecht den Weg zu weisen. Auch die national-
sozialistische Machtergreifung ließ die allgemein zu beobachtende
Neigung zu übergreifender Erörterung strafrechtlicher Probleme zu-
nächst unberührt, da kein fertiges nationalsozialistisches Strafrechts-
programm vorlag. I n der Zeit kurz vor und nach der Machtübernahme
herrschte daher i n der Strafrechtswissenschaft das Bemühen vor, die
wesentlichen Züge des künftigen Straf rechts zu entwerfen, und das
bedeutete vor allem, die Fragen der Rechtfertigung und Ausgestaltung
der Strafe unter Berücksichtigung des neuen Staatsverständnisses zu
beantworten.
Wenn auch die Konzeptionen eines neuen Strafrechts manche Unter-
schiede auf wiesen, so bestand doch weitgehende Übereinstimmung i n der
Beurteilung der „vorrevolutionären" Verhältnisse als „liberalistisch" ;
die Forderung nach einer Überwindung eines solchen „liberalen" Straf-
rechts bildete den Hintergrund dieser erweiterten Reformdiskussion.
Die Vermehrung der Angriffsziele um Gegenstände der praktischen
Strafrechtspflege mußte eigentlich zu der Schwierigkeit führen, daß
die gegnerische Position nicht mehr ohne weiteres als „liberalistisch"
abqualifiziert werden konnte; denn nun bildete das Angriffsobjekt nicht
mehr eine idealtypische Konstruktion, sondern es setzte sich aus Er-
scheinungen i n der Strafrechtspraxis zusammen, die sich bei näherem
Hinsehen stets als außerordentlich komplex erweisen. Wie i m folgen-
den zu zeigen sein wird, begegneten die Vertreter der antiliberalen
Richtung der Schwierigkeit, indem sie eine eingehende Würdigung aller
Umstände vermieden und sich darauf beschränkten, die Aspekte heraus-
zustellen, die geeignet waren, ihre Thesen auszufüllen. Auf diese Weise
blieben Elan und Schärfe ihrer Angriffe gewahrt.
2. Die Hauptangriffspunkte
lösung des Strafrechts" 120 , die sich in drei Punkten äußere: a) I m In-
dividualismus bei der Bestimmung der Strafzwecke, b) i m Rationalis-
mus und Individualismus bei der Bewertung der geschützten Rechts-
güter und c) i n der teilweisen Erweiterung und teilweisen Einschrän-
kung des richterlichen Ermessens, jeweils zugunsten des Individuums.
131
b) Der Individualismus in der Rechtsgüterordnung
138
§52 der Grundsätze f ü r den Vollzug der Freiheitsstrafen bestimmte:
„Bestand bei einem Gefangenen nach der ausdrücklichen Feststellung des
Urteils der ausschlaggebende Beweggrund zur Tat darin, daß er sich zu
der Tat auf G r u n d seiner sittlichen, religiösen oder politischen Uberzeugung
f ü r verpflichtet hielt, so sind i h m die für die Strafart zulässigen Vergünsti-
gungen ohne weiteres zu gewähren. V o n der Einhaltung v o n Fristen, die
für die Gewährung von Vergünstigungen vorgeschrieben sind, k a n n bei einem
solchen Gefangenen abgesehen werden."
139
Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 27;
Dahm, D R 1934, S.419; ders., D J Z 1934, Sp. 824.
140
Vgl. insgesamt dazu Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Straf-
recht?, S. 28 ff. Der Stellungnahme zu Fragen der Gewaltenteilung i n
„Liberales oder autoritäres Straf recht?" w a r e n zwei Veröffentlichungen
Dahms voraufgegangen (Die Zunahme der Richtermacht i m modernen Straf-
recht, 1931; Der Richter i m modernen Strafrecht, 1932), die sich zur H a u p t -
sache auf eine Darstellung der Verschiebungen i m System der Gewalten-
teilung beschränkten u n d noch keine Bewertung v o n einem entschieden
antiliberalen Standpunkt aus enthielten.
110 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Die große Bedeutung, die Radbruch der Exnerschen Schrift über die
Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte i n einer Besprechung
m i t den einleitenden Worten zuerkannte: „Seit langem ist kein wichti-
geres Buch kriminalistischen Inhalts erschienen als dieses" 146 , konnte
auch die Abhandlung von Dahm und Schaff stein für sich i n Anspruch
nehmen. Die Verfasser verstanden es, ihrer Interpretation des Zahlen-
materials die stärkste Resonanz zu verschaffen: Die Verweichlichung
und Auflösung der Strafrechtspflege als ein Ergebnis liberalistischen
Denkens. Für ein positives Echo sorgte schon der weitverbreitete poli-
tische Antiliberalismus ihrer Zeit. Die bewußte politische Stellungnahme
der Autoren und ihre Absicht, ein möglichst breites Publikum zu er-
reichen, verführte sie aber zu mancher Einseitigkeit und Vereinfachung
i n der Darstellung und den Deutungsversuchen.
i « Ebd., S. 33.
144 Ebd., S. 36.
145
Ebd., S. 36; sie spielten damit auf die gleichnamige Schrift von Zarnow
an.
146 J W 1932, S. 925.
112 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Weder findet sich bei Exner dafür ein Beleg, noch erbrachten Dahm
und Schaffstein den statistischen Nachweis. So mußte Dahm i n seinem
späteren Aufsatz über „Autoritäres Straf recht" einräumen: „Ein sicheres
Urteil über die praktischen Auswirkungen der Milderungstendenz i m
Strafrecht läßt sich auf Grund des vorliegenden statistischen Materials
noch nicht fällen 1 4 7 ."
Von anderer Seite 1 4 8 wurde eingewandt, daß nachgewiesenermaßen
der Gesamtumfang der Kriminalität nicht bedeutsam zugenommen habe,
wie ein Blick i n die Kriminalstatistik beweise: Von 100 000 Personen
der strafmündigen Bevölkerung wurden 1886 1 020, 1913 1 169 und
1929 1 191 verurteilt 1 4 9 . Auch unter Berücksichtigung der Unsicherheits-
faktoren, die sich aus einer bloßen Urteilsstatistik ergeben, muß man zu
der Feststellung kommen, daß die Kriminalitätsentwicklung den Be-
fürchtungen von Dahm und Schaffstein nicht entsprach. Lediglich durch
eine Verschiebung i n den Deliktsgruppen konnten sie sich bestätigt
fühlen: Die Delikte gegen den Staat und die öffentliche Ordnung waren
stark angewachsen 150 .
Dahm und Schaffstein waren jedoch nicht bereit, kriminologischen
Argumenten entscheidende Bedeutung beizumessen. Die irrationale
Grundhaltung 1 5 1 trat deutlich i n der Äußerung Dahms zutage: „Keine
Kriminalstatistik, keine kriminologischen Einzelerfahrungen, selbst
wenn sie gegen uns sprächen, würden die Bedenken gegen die einseitige
Milderungstendenz und gegen den Eindruck der Schwäche beseitigen,
den die Strafrechtspflege heute hervorruft 1 5 2 ."
153
M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 189.
154 R G 62, S. 92 f.
1 5 5 R G 62, S. 93.
156 v g l . Festgabe für F r a n k 1930, Bd. I I , S. 106 ff.
8 Marxen
114 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
8*
116 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
171
Vgl. ζ. B. die 4. V O des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft
und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens v o m 8.12.1931 (RGBl. I
699, 742, 743) oder die V O des Reichspräsidenten zur Erhaltung des inneren
Friedens v o m 19.12.1932 (RGBl. I 548).
172 Vgl. Mittermaier, Die Justiz 1932/33, S. 61 f.; Gallas, Z S t W 53, S. 13 ff.
Grünhut, ZStW 53, S. 3 ff.; sie beklagten vor allem, daß die Sicherungs-
verwahrung für Berufs- u n d Gewohnheitsverbrecher nicht eingeführt worden
sei.
173 v g l . oben 4. Kap. I I . c).
174 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 51.
175 Vgl. oben 4. Kap. I I . 2. b).
176 Als irrational k a n n diese Forderung bezeichnet werden, w e i l sie i m
Gegensatz zu dem rationalen Prinzip des Gesellschaftsschutzes steht. Vgl.
Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 171.
118 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
überhaupt mit dem Besonderen Teil beschäftigte 203 , bei der „Aufrichtung
einer neuen Werttafel der Lebensgüter" 2 0 4 , und über die Rangfolge be-
stand i m wesentlichen Einigkeit.
a) Die Neuklassiker
9 Marxen
130 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
241 vgl. Nagler, DR 1934, S. 56; Stock, Die Strafe, S.8; v. Weber, DJZ 1933,
Sp. 864.
242 Nagler, GS 103, S. X X V .
243 Gerland, D J Z 1933, Sp. 861.
244 Stock, Die Strafe, S. 7.
245 Gerland, D J Z 1933, Sp. 860; vgl. auch Stock, Die Strafe, S.2; v.Weber,
D J Z 1933, Sp. 862.
246 Nagler, GS 103, S. X X I I .
247 D J Z 1933, Sp. 860.
248 Nagler, GS 103, S. X X V I I I .
249 Ders., DR 1934, S. 56.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 131
bracht werden" 2 5 0 . Man sprach sich für eine Verschärfung der Freiheits-
strafe durch erhöhten Arbeitszwang 2 5 1 , sparsamen Einsatz der Ver-
günstigungen 252 und strenge Disziplinierung aus. Der Geldstrafe standen
die Neuklassiker ablehnend gegenüber: Sie sei „primitiv, unsozial, ohne
Erziehungswert" 2 5 3 .
Die Spezialprävention komme nur „sekundär" 2 5 4 i n Betracht, „nur
soweit es mit der kollektiv prävenierenden Funktion des Strafrechts
vereinbar i s t " 2 5 4 . Aus der Priorität der Gemeinschaft sollten der
Spezialprävention neue Aufgaben erwachsen: Zur „Verhütung der
Rassenentartung" 255 schlugen die Neuklassiker Maßnahmen vor wie
„Zwangssterilisation zur Ausräumung bestehender krimineller Anlagen
oder zur Verhinderung ihrer Vererbung" 2 5 6 , „nötigenfalls" zwangs-
weise Kastration der „rückfälligen, psychopathischen Sittlichkeitsver-
brecher oder der ihren Instinkten haltlos preisgegebenen Schwach-
sinnigen oder Triebmenschen" 256 , „Internierung des kriminellen Geistes-
kranken" 2 5 7 . Außerdem befürworteten sie ein schärferes Vorgehen gegen
Berufsverbrecher i m Wege der Sicherungsverwahrung 258 .
Wie der Strafbegriff der Neuklassiker, so trug auch ihre darin ver-
arbeitete Interpretation der autoritären Staatsidee trotz der A n -
näherung an jungkonservative Auffassungen unverkennbar die Züge
ihres traditions verhafteten Denkens. I n seinen Grundzügen präsentierte
sich der autoritäre Staat der Neuklassiker als der Obrigkeitsstaat des
ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Er trat i n der
Devise „Autorität, Ordnung und Gerechtigkeit" 2 5 9 zutage, er kam i n dem
250 Ders., GS 103, S. X X V ; vgl. auch Stock, Die Strafe, S. 110. Deutlich zeigt
sich hier die Uberlagerung des Vergeltungsgedankens durch Zweckerwägun-
gen: I n der Begründung der Todesstrafe w a r von den ansonsten häufig
gegen die liberale Reform ins Feld geführten ethischen Grundsätzen keine
Rede mehr. Nach Nagler, GS 103, S. X X V , ist die Todesstrafe „lediglich eine
Frage der Zweckmäßigkeit" u n d hängt nicht von „irgendwelchen außer-
rechtlichen Grundsätzen" ab.
251 Vgl. Stock, Die Strafe, S. 106 ff. Seine besondere Gedankenführung
veranlaßte Stock jedoch, daneben die Forderung nach einer Arbeitsstrafe
ohne gleichzeitigen Freiheitsentzug zu stellen. I n der A r b e i t als „Dienst
am V o l k " erblickte er die konsequente Umsetzung des i n der Vergeltungs-
strafe angelegten Ausgleichsprinzips.
252 Dazu gehörte auch der A b b a u von Privilegien f ü r Uberzeugungstäter;
vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I .
253 Ebd., S. X X V .
254 Stock, Die Strafe, S. 7; vgl. auch Nagler, GS 103, S . X X I V .
255 Nagler, GS 103, S. X X X .
256 Ebd., S. X X I X ; i n A n m . 67 hob Nagler i n Entgegnung zu Nicolai, Die
rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43, hervor, daß Maßnahmen wie die Sterili-
sation nicht als Strafen angesehen werden dürften.
257 ν, Weber, D J Z 1933, Sp. 862.
258 vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I I I ; v. Weber, DJZ 1933, Sp. 863.
259 Stock, Die Strafe, S. 1.
*
132 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
b) Α. E. Günther
damit allein ein liberales Strafrecht gesichert war, erweist sich — und
das ist nur ein Beispiel — an seiner Stellungnahme zur Frage der Un-
abhängigkeit der Justiz. Er betrachtete sie als „dem Rechte nicht eigen-
tümlich" 2 8 4 und als „Benefiz" 2 8 4 des Staates. Sie könne niemals so weit
gehen, „daß das Imperium . . . i n seinen vitalen Interessen dadurch ge-
fährdet wird: Die Autonomie der Justiz findet ihre Grenze i n der
Souveränität des Imperiums, das die Autonomie des Rechts allein zu
verbürgen vermag" 2 8 5 . M i t dem Begriff „vitale Interessen" lieferte
Α. E. Günther dem autoritären Staat einen festen Punkt, von dem aus
er die Rechtsordnung aus den Angeln heben konnte.
Autorität des Staates" 295 . Die Autorität des Staates komme i n der
unbedingten Herrschaft des Gesetzes zum Ausdruck.
Für die Diskussion u m das autoritäre Strafrecht in Deutschland zog
Dahm den Vergleich: „Binding und die klassische Schule sind gerade i m
faschistischen Strafrecht lebendig 2 9 6 ."
Die Trennung von Volk und Staat, wie sie i m faschistischen Staat und
i n jedem anderen Staat aufzufinden sei, der der staatlichen Autorität
unmittelbar den höchsten Wert zuerkenne und so die Staatssouveränität
der Volkssouveränität entgegensetze, lehnten die jungen antiliberalen
Strafrechtswissenschaftler ab. Nicht der Staat, verstanden als ein eigen-
ständiges Gebilde, sondern das Volk nahm i n ihrem System die be-
herrschende Stellung ein. Der Staat stelle lediglich einen „Teil des
Volkes als seine Gestalt und Lebensform" 2 9 7 dar; er werde „von der
Urkraft des völkischen Seins mit erfaßt und so i n den Strom des völki-
schen Lebens als ,die Kraft, die den Staat erzeugt, bewegt und trägt'
hineingezogen " 2 9 8 .
Die Zugehörigkeit zum Volke ergebe sich nach rassischen Gesichts-
punkten: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse
und des Blutes und eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 299 ."
Unter Abwendung vom alten Obrigkeitsstaat hoben die jüngeren
Vertreter des Antiliberalismus die Bedeutung des „Sozialen" hervor 3 0 0 .
Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dieser Frage bedeutete jedoch nicht,
daß sie zur Lösung der m i t diesem Schlagwort angesprochenen Probleme
einschneidende Veränderungen i n den äußeren Bedingungen mensch-
lichen Zusammenlebens für notwendig hielten. Eine Auflösung der
sozialen Gegensätze erwarteten sie von der Abkehr vom individualisti-
schen Denken und der Hinwendung zum Gemeinschaftsdenken. Die
Idee der Volksgemeinschaft sollte i n einem rein geistigen Prozeß der
Neuorientierung Wirklichkeit werden, der i n der Besinnung auf das
Wesen des deutschen Menschen, auf den „realen 3 0 1 deutschen Menschen-
s. 15.
296 s. 15. Dieselbe Verbindung hatte bereits 1928 v. Heutig hergestellt
(MSchrKrimPsych 1928, S. 1).
297 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 7; vgl.
auch Schaff stein, DStR 1934, S. 280; E.Wolf, RuS H. 103, S. 33.
298 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9; i m
letzten T e i l des Satzes hatte Dahm ein Zitat von Huber, ZStaatW 95, S. 35,
eingefügt.
299 Ebd., S. 7.
300 So E. Wolf, RuS H. 103, S. 30 u n d 32.
301
Vgl. zur Widersprüchlichkeit dieser „realitätsbezogenen" Denkweise
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft, hinter der sich ein bestimmter
politischer Gestaltungswille verbarg, oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 3.
138 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
312 Ebd., S. 6.
313 So Nagler, GS 103, S. X X A n m . 39.
314 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9 f.
315 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42.
316 RuS H. 90, S. 7.
140 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Sie strichen das autoritäre Element als einen Wesenszug des totalen
Staates heraus und machten gleichzeitig die Grenzen des Gemein-
schaftsdenkens erkennbar: „Voraussetzung des autoritären totalen Staa-
tes ist die Aufrichtung und praktische Durchführung der Unterscheidung
zwischen Regierenden und Regierten, und zwar eine Unterscheidung,
die nicht nur eine äußerliche ist, sondern auf ein wirkliches Anderssein
zurückgeht. . . . Damit w i r d eine nach eigenen Gesetzen lebende, beson-
deren geschichtlichen Verantwortlichkeiten unterworfene Schicht aus
dem Volke herausgehoben, ohne vom Volk getrennt zu werden 3 1 7 ."
Bei den „jüngeren Kriminalisten" trat der autoritäre Charakter des
totalen Staates nicht immer so deutlich hervor. Sie rückten stärker die
Volksgemeinschaft als höchsten Wert i n den Vordergrund. Den Gedan-
ken der Führung suchten sie aus dem Gemeinschafts denken abzuleiten.
Auf Grund einer inneren Bindung bringe die Volksgemeinschaft dem
Führer Gehorsam und Treue entgegen 318 .
Zahlreiche Forderungen, die eine Ausdehnung und Verschärfung von
Strafbestimmungen betrafen 3 1 9 , lassen aber auch erkennen, daß man
eine autoritäre Durchsetzung und Sicherung des totalen Staates für
erforderlich hielt. Treffend kennzeichnete Schaffstein die Staatsauf-
fassung der jungen antiliberalen Richtung, indem er die beiden A t t r i -
bute „autoritär" und „total" nebeneinander verwandte 3 2 0 .
Die straftheoretischen Äußerungen der „jüngeren Kriminalisten" wei-
sen dieselbe Entwicklung auf, wie sie schon bei der Erörterung ihres
Staatsbegriffs festzustellen war: I h r Bekenntnis zu einem autoritären
Strafrecht erweckte zunächst den Eindruck, als bestünde eine Über-
einstimmung mit den Neuklassikern und Α. E. Günther. Dem Typus
eines autoritären Staates, wie er bei diesen aufzufinden war, entsprach
die Auffassung Dahms und Schaff steins : „ I n der Strafe offenbart sich
symbolisch die Würde des Staates 321 ." Wichtiger, als das Verbrechen mit
rein rationalen M i t t e l n zu bekämpfen, sei es, die „Fernwirkungen der
Strafe, ihren Eindruck auf die Gesamtheit der Bürger, ihre Bedeutung
für das Ansehen des Staates zu beachten" 321 . Auch dort, wo auf den
einzelnen eingewirkt werde, müsse der Staat bestrebt sein, „nicht nur
i n dem unmittelbar Erzogenen, sondern i n der Gesamtheit ein Höchst-
maß von Staatsgesinnung zu erzielen, seine Autorität soweit als möglich
zu steigern" 3 2 1 . Indem sie der Strafe die Ausgabe zuordneten, für die
317 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33; vgl. auch Thalheimer, Der F ü h r e r -
gedanke, S. 6: „ F ü h r u n g u n d V o l k stehen sich gegenüber w i e der Kompagnie-
chef seiner Kompagnie."
318 vgl. Dahm, D J Z 1934, Sp. 826 u n d oben 3. Kap. I I . 3. a).
319 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 3.
320 ZStW 53, S. 622.
321 Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 41.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 141
330 Ebd., u n d Schaff stein, DStR 1934, S. 282; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft
und Strafrecht, S. 9.
331 E. Wolf, RuS H. 87, S. 33; auch Dahm, D J Z 1934, Sp. 828.
332 Dahm, D J Z 1934, Sp. 831 u n d E. Wolf, ZStW 54, S. 561, griffen hier
eine Formulierung von A. Rosenberg auf; vgl. Der Mythos des 20. J a h r h u n -
derts, S.580.
333 Schaff stein, ZStW 55, S. 286.
334 Dahm, D J Z 1934, Sp. 827.
335 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175; vgl. auch Nationalsozialistisches
u n d faschistisches Strafrecht, S. 17 sowie D J Z 1934, Sp. 827.
336 v g l . Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17;
Schaffstein, DStR 1934, S. 282.
337 D J Z 1934, Sp. 827.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 143
10 Marxen
146 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
d) Nicolai
10*
148 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
372
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 13.
373 Ebd., S. 13; vgl. auch S. 14, 27.
374 Ebd., S. 25; vgl. auch S. 27 sowie Grundlagen, S. 12.
375 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 18; Grundlagen, S. 10.
376 v g l . Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 32.
377 Ebd., S. 38.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 149
378
Vgl. D R 1933, S. 4; Nicolai berief sich dort auf eine statistische Erhebung
der K r i m i n a l i t ä t aus den Jahren 1882 - 91, die nach den Ländern i m Deut-
schen Reich unterschied. Seine Folgerung zog er aus der geringeren Straf-
fälligkeit i n den nördlichen Ländern gegenüber den östlich u n d südlich
gelegenen, i n denen eine weitgehende Vermischung der nordischen Rasse
m i t der slawischen bzw. dinarischen stattgefunden habe.
379
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42.
380 Ebd., S. 42 f.
381
Ebd., S. 43; vgl. auch D R 1933, S. 4. F ü r ein solches „Schutzrecht" t r a t
auch v. Hey debrand und der Lasa, Mitarbeiter Nicolais i n der Reichsleitung
der NSDAP, i n Deutsche Rechtserneuerung, S. 160 f., ein.
382
Dem wurde E. Schmidt nicht gerecht, als er das nationalsozialistische
Strafrecht Nicolais als „terroristisches Abschreckungsstrafrecht" bezeichnete
(Mitt. I K V N.F. 6. Bd., S. 178). Auch vernachlässigte er bei der an derselben
Stelle vorgenommenen Gleichsetzung von A. E. Günther u n d Nicolai die
150 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
389
So ganz deutlich Dahm/S chaff stein, Liberales oder autoritäres Straf-
recht?, S. 5.
39
0 Vgl. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 40 ff., 423 ff.,
669 ff., 728 f. jeweils m. H i n w .
391
Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller,
Zwischen Romantik u n d Faschismus, S. 138 ff.
152 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
erwies sich nach 1933, als die Nationalsozialisten ihm und seinem M i t -
arbeiter Stapel die Verlage und Zeitschriften entzogen und sie damit
jeder politischen Wirkungsmöglichkeit beraubten 4 0 0 .
Die angeführten Widersprüche und Ungereimtheiten erklären sich
daraus, daß diese politischen Wertungen von Zeitgenossen vorgenom-
men wurden. Die begrenzte Einsichtsmöglichkeit des unmittelbar Teil-
nehmenden verengte ihren Blickwinkel. Auch dürfte das jeweilige poli-
tische Engagement zum Urheber mancher Fehlbeurteilung geworden
sein.
b) Eigener Einordnungsversuch
aa) Nicolai
405
Z u m Verhältnis von „Konservativer Revolution" u n d Nationalsozialis-
mus vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 53 ff.; Sontheimer, Anti-
demokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller, Zwischen Romantik u n d F a -
schismus, S. 138 ff.; Ger st enb er g er, Der revolutionäre Konservativismus,
S. 93 ff., 104 ff.
4
06 Möhler unterscheidet „Völkische", „Jungkonservative" u n d „ N a t i o n a l -
revolutionäre" (unter Einschluß der „Nationalbolschewisten"), sowie die
156 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
413 Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S.4, bezeich-
neten es als falsch, ihre Zielsetzungen „ohne weiteres parteimäßig zu
etikettieren, sie also etwa »nationalsozialistisch' oder ,deutsch-national* zu
nennen". M a n solle nicht verkennen, „daß die politischen Parteien u n d
Gruppen der Rechten, so vor allem auch der Nationalsozialismus, heute n u r
der tagespolitische u n d deshalb offenkundigste Ausdruck einer w e i t breiteren
u n d tieferen Bewegung sind, welche besonders die Jugend ergriffen hat".
414 E. Wolf, RuS H. 103, S. 26.
415 Dahm!Schaf stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 5.
416 Z u der hier vorgenommenen Klassifizierung scheint i n Widerspruch
zu stehen, daß Dahm sich i n MSchrKrimPsych 1933, S. 164, gegen die B e -
zeichnung „jungkonservativ" verwahrte: „Es handelt sich nicht u m das
nationalsozialistische, deutschnationale oder gar ,jungkonservative 4 Straf-
recht, sondern u m den Reflex einer über das Tagespolitische hinausreichen-
den geistigen Bewegung." Aus diesem Z i t a t geht jedoch hervor, daß er den
Begriff des jungen Konservativismus auf eine bestimmte, durch eine p o l i -
tische Gruppe repräsentierte Richtung bezog u n d nicht, w i e es heute
üblich ist, auf eine breite geistige Strömung der Weimarer Zeit.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 159
gegangen werden", meinte Kohlrausch. „Aber auch hier ist die Tendenz
unverkennbar, den Magna-Charta-Gedanken auf ein vernünftiges Maß
zurückzuführen 423 . "
I m Prinzip wiederholten die Verteidiger der Reform lediglich Auf-
fassungen, die bereits von Liszt vertreten hatte. Dennoch bestanden
einige gewichtige Unterschiede: von Liszt entwickelte seine Gedanken-
gänge i n einer Zeit, i n der dem Staat ein wirtschaftlich mächtiges
Bürgertum gegenüberstand, dessen Position konstitutionell durch eine
Begrenzung der Staatsgewalt abgesichert war. Die außen- und innen-
politische Situation gab keinen Anlaß, einen politischen Umsturz und
eine Beseitigung des rechtlich garantierten Freiheitsraumes zu be-
fürchten. Von daher mußte von Liszt nicht unbedingt m i t einem Miß-
brauch seiner Ideen rechnen, wenngleich i h m die Gefahren seines
Programms von seinen Gegnern immer wieder vor Augen geführt
wurden.
Außerdem zeigen seine Äußerungen über die Tragweite des Zweck-
gedankens i m Strafrecht, daß er die zweckhafte Strafe als eine zum
Schutze der individuellen Freiheit gebundene Strafe betrachtete: „Wie
die Rechtsstrafe als Selbstbeschränkung der Staatsgewalt durch Objek-
tivierung entstanden ist, so erhält sie ihre höchste Vollkommenheit
durch die Vervollkommnung der Objektivierung. Das völlige Gebunden-
sein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der
strafenden Gerechtigkeit. Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die
Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt
Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit i n
seiner Verwendung 4 2 4 ."
Zwar hat sich i m Laufe der Zeit der Optimismus als verfehlt erwiesen,
die Orientierung am Zweck der Strafe erlaube eine eindeutige und
sichere Grenzziehung zwischen den zur Einwirkung auf den Straf-
gefangenen erforderlichen Maßnahmen und einer übermäßigen Be-
schneidung seines Freiheitsraumes 425 ; dennoch ist nicht zu übersehen,
daß von Liszt die Einführung des Zweckgedankens i n das Strafrecht
nicht als einen antiliberalen Vorgang betrachtete. I m übrigen schuf er
mit seinen methodischen und systematischen Arbeiten ein Gegengewicht
zur transpersonalistischen Zielsetzung der Besserungs- und Sicherungs-
11 Marxen
162 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
426
Vgl. außer dem oben i m 1. Kap. I I I . 2. aufgeführten Schrifttum aus der
neueren L i t e r a t u r : E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 381 ff.; Radbruch, Ele-
gantiae Juris Criminalis, S. 208 ff.; Grünwald, ZStW 76, S . U .
427 v, Liszt , Aufsätze u n d Vorträge, Bd. 2, S. 60 u n d 80.
428 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 161; auch E.Schmidts Idee
eines „Volksstaates" (RuS H. 79, S. 20 f.) w a r nicht konkreter. Lediglich
Gallas nahm i n diesen Fragen eindeutig Stellung; vgl. ZStW 53, S. 26 ff.
u n d den folgenden Abschnitt.
429 Die i m folgenden herangezogenen Fundstellen dienen Renneb erg als
Belege für die Behauptung, daß das 3. Reich die Reformideen der modernen
Schule v e r w i r k l i c h t habe (vgl. Schriftenreihe Strafrecht H. 5, S. 116 ff.). Die
Gegnerschaft nationalsozialistischer Strafrechtswissenschaftler zur „liberalen"
Reform der modernen Schule w i r d unterschlagen.
430 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 160.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 163
11'
164 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
System des Straf rechts, wie sie 1934/35 aufgenommen worden war, auch
noch i n den ersten Jahren des 2. Weltkrieges fortgeführt.
7
Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6, 12; Welzel, Naturalis-
mus u n d Wertphilosophie, S. 52, 58; Krieck, D R 1934, S. 297 ff.
170 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
8
Eingehend kritisierte Welzel den Neukantianismus; vgl. Naturalismus
und Wertphilosophie; DRWis 1938, S. 119; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d
Tatbestand, S. 85 ff.; ZStW 57, S. 251 ff.; Z f K u l t u r p h 1936, S. 215.
9 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 43.
10 Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6. Den Begriff „politische
Wissenschaft" dürfte Kriech geprägt haben; vgl. Nationalpolitische Erziehung,
S. 1 ; vgl. dazu auch Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 57 f. Dahm
zog den Begriff „völkische Wissenschaft" v o r ( Z f K u l t u r p h 1936, S. 216).
Praktische Unterschiede ergaben sich daraus nicht; denn V o l k u n d politische
Führung w u r d e n als Einheit gesehen. Vgl. oben 3. Kap. I I . 3. a).
I. Verlagerung der Diskussion auf dogmatische Fragen 171
11
Schaff stein, Pol. Strafwissenschaft, S. 25.
12 Ebd., S. 19.
!3 Ebd., S. 23; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 23, 37.
14
Vgl. Schaff stein, Pol. Straf rech tswissenschaft, S. 6 f.; Dahm Z f K u l t u r p h
1936, S. 215.
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109; vgl. auch
Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 65; Finke, Lib. und Strafverfahrens-
recht, S. 18: „ F ü r uns gibt es keine I n d i v i d u a l i t ä t an sich."
16 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52; Schaffstein, Das Verbrechen
als Pflichtverletzung, S. 113.
17 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130 f.; Dahm,
ZStaatW 95, S. 304. Der Begriff stammte von E. Jünger. Er beschrieb die
172 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
33
a) Überblick über vorauf gegangene materielle Verbrechensbegriffe
Die moderne Schule hatte ihre Straftheorie dem Gedanken der Gesell-
schaftssicherung unterstellt; auf der Seite der Verbrechensbetrachtung
entsprach dem eine materielle Bestimmung des Verbrechens als „gesell-
schaftsschädliches" 34 oder „antisoziales" 35 Verhalten. Als notwendig für
die Erhaltung der Gesellschaft wurde der Schutz von „Rechtsgütern"
erachtet, so daß das Verbrechen auch als „Rechtsgutsverletzung oder
-gefährdung" erschien 36 .
43 Vgl. R G 61, 242; 62, 137; dazu Schaff stein, ZStW 55, S. 29 sowie Pol.
Strafrechtswissenschaft, S. 12 f. Ä h n l i c h kritisierten auch die Vertreter der
„liberalen" Strafrechtsreform die Entscheidungen; vgl. E.Schmidt, ZStW 49,
S. 3881; Günhut, ZStW 51, S. 461.
44 Schaff stein, ZStW 55, S. 29.
45 Vgl. Beling, Rechtswissenschaft u n d Rechtsphilosophie, S. 39; Heinitz,
Die Rechtswidrigkeit, S. 99, 108; Grünhut, Festgabe für F r a n k 1930, Bd. 1,
S. 8, 10; Mezger, RG-Festgabe, Bd. V, S. 20; Drost, Das Ermessen des Straf-
richters, S. 28; dazu Krüger, ZStW 54, S. 657 ff.; Dahm, DStR 1934, S. 88.
46 Vgl. Dahm, Z f K u l t u r p h 1936, S. 213.
47 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30 f. Auch Mezger selbst unterzog seine
Formel dieser K r i t i k und stimmte den Idealen des neuen Staates zu; vgl.
ZStW 55, S. 7 f. Insgesamt blieb seine H a l t u n g aber schwankend. Nicht i n
allen Fragen stimmte er m i t den jüngeren antiliberalen Strafrechtswissen-
schaftlern überein. Vgl. unten 5. Kap. I X .
48 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S . 3 0 1 ; ZStW 57, S.299; Dahm, ZStaatW 95,
S. 295.
49 Vgl. Krüger, ZStW 54, S. 657 f.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 177
50a
c) Die antiliberale Kritik an der Rechtsgutslehre
12 Marxen
178 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
habt. Ausgehend von der Erwägung, daß nicht das subjektive Recht
selbst, sondern nur sein Gegenstand durch das Verbrechen verletzt
werden könne, habe Birnbaum die verbrecherische Tat als Beeinträchti-
gung von Rechtsgütern erklärt 5 4 . Diese Auffassung habe die Strafrechts-
wissenschaft der vornationalsozialistischen Zeit beherrscht.
Einen entscheidenden Wandel hatte die Rechtsgutslehre nach Ansicht
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft auch nicht durch die neueren
Arbeiten von Honig und Schwinge erfahren 55 . Diese faßten den Rechts-
gutsbegriff als methodisches Prinzip auf. „Rechtsgut" bedeutete bei
ihnen „der vom Gesetzgeber i n den einzelnen Strafrechtssätzen an-
erkannte Zweck i n seiner kürzesten Formel" 5 6 . Dieser Zweck sollte den
maßgebenden Gesichtpunkt für die Untersuchung, systematische Be-
arbeitung und Anwendung des Strafrechts bilden.
Der jüngeren Rechtsgutslehre hielten die antiliberalen Strafrechtler
entgegen, daß die Entwicklung „auf halbem Weg stehen geblieben"
sei 57 . Trotz der Vergeistigung hielten die Vertreter des methodischen
Rechtsgutsbegriffs an der Vorstellung fest, daß das Verbrechen sich
gegen ein bestimmtes Angriffsobjekt richte, daß es allein i n einer Ver-
letzung der äußeren Ordnung, i n einem Eindringen i n die individuelle
Gütersphäre bestehe 58 . Das ergebe sich schon aus der Beibehaltung des
Begriffs „Rechtsgut" 59 . Beherrschend bleibe der Geist des Liberalismus,
des neutralistischen Positivismus und des individualistischen Materialis-
mus. Die Rechtsgutslehre suche das Verbrechen gegenständlich zu erfas-
sen. A l l e i n der materielle, äußere Schaden werde zum Anknüpfungs-
punkt einer gedanklichen Verarbeitung des Verbrechens genommen, die
ausschließlich den kausalen Kategorien Ursache und Wirkung Bedeu-
tung beimesse. Diese Sicht ermögliche es, überindividuelle Gehalte des
Rechts als „metaphysisch" und damit unbeachtlich auszuschalten. Sie
gestatte größtmögliche Exaktheit bei der gesetzlichen Umschreibung
des Verbrechens und bei der Handhabung des Gesetzes. Ziel sei es, ein
Höchstmaß an Berechenbarkeit herzustellen. Die Rechtsgutslehre münde
i n die Auffassung ein, das Strafgesetz sei die Magna Charta des Ver-
brechers oder auch des gesetzestreuen Staatsbürgers 60 .
Das Straf recht könne jedoch nicht mehr als Einrichtung zum Schutz
individueller Interessen angesehen werden. Wichtiger als persönliche
Freiheit und individuelle Glückseligkeit sei die Verwirklichung der
übergeordneten Einheit, der Volksgemeinschaft, die ihre „geschichtliche
Bestimmung" zu erfüllen habe 61 . Es gebe keine „Individualsphären"
und keine „juristische Staatsperson" mehr 6 2 . Staat und Gemeinschaft
seien die beherrschenden Werte i m Strafrecht geworden.
Von dieser grundlegenden politischen Einstellung aus brachten die
antiliberalen Strafrechtler i m einzelnen gegen die Rechtsgutslehre vor:
Sie habe ersichtlich von einem Deliktskomplex ihren Ausgang genom-
men; Prototyp des deliktischen Handelns sei für das materialistische
und individualistische Denken das Vermögensdelikt 63 . Ohne Berück-
sichtigung gewichtiger Unterschiede seien auch die übrigen Delikte i n
die „begriffliche Zwangsjacke" des Rechtsguts gepreßt worden 6 4 . Die
Schwierigkeiten, die dabei insbesondere die Verbrechen gegen die Ge-
meinschaft bereiteten, seien durch die Konstruktion des Staates als
juristische Person beseitigt worden, die in besonderem Maße ein Produkt
liberaler Denkweise sei 6 5 : Als juristischer Person werde dem Staat ein
nur beschränkter Kreis von Rechten zudiktiert. Deren Grenzen dürfte
er nicht überschreiten; sie bedeuteten gleichzeitig eine Sicherung der
individuellen Freiheitssphäre. Individuum und Gemeinschaft seien
strikt voneinander getrennt — eine für das antiliberale Denken unhalt-
bare Vorstellung, Sie führe zu wirklichkeitsfernen und inhaltsleeren
Abstraktionen: Der innere Frieden des Staates und das individuelle
Vermögen könnten nicht als zwei völlig verschiedene Gegenstände ge-
meinsam unter den Begriff „Rechtsgut" gezogen werden.
Die Rechtsgutslehre sei der Ursprung vieler „Trennungen und Zer-
reißungen" 6 6 : Sie gehe i m politischen Bereich von der Spaltung zwischen
Staat und Gesellschaft, zwischen Staat und Individuum aus, auf dem
Gebiet des Rechts von der Trennung zwischen Recht und Sittlichkeit,
der die Auffassung zugrundeliege, daß das Recht lediglich die Aufgabe
habe, durch den Schutz individueller Rechtsgüter das äußere Zusam-
menleben der Menschen zu regeln. I m Strafrecht habe sich das Trennung-
denken fortgesetzt i n Unterscheidungen wie: Objektive-subjektive Ver-
12'
180 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
67
Vgl. ebd., S. 101 f.
es Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
69 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 117 f.; DStR
1935, S. 100 f.; Boldt, DR 1937, S.94; Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 138;
H. Mayer, DStR 1938, S. 82.
70 Schaff stein, DStR 1935, S. 97.
71
Vgl. ebd., S. 101: Der methodische Rechtsgutsbegriff ermögliche „dem
Gift der Aufklärungsideologie ein Eindringen i n viele Ritzen u n d Spalten
des Strafrechts, die es i n einer kompakteren Form nicht hätte erreichen
können".
72
Insgesamt dazu: Schaff stein, DStR 1937, S. 337; Dahm, ZStW 57, S. 233;
Boldt, DR 1937, S. 94; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 130 ff. (unter ausdrück-
licher K o r r e k t u r seines i n MschrKrimPsych 1934, S. 80 f. vertretenen Stand-
punktes; vgl. S. 139 A n m . 34).
73
Diesen kritischen Aspekt hat H. Mayer am gründlichsten herausgear-
beitet; vgl. Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 71 ff., 95 f., 194 ff.; DStR 1938,
S. 78; vgl. auch Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 58; Kempermann,
Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 9, 16.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 181
stand, S. 75: „So verstanden ist die Enteignung kein Eingriff, sondern eine
Durchsetzung von Bedürfnissen der Gemeinschaft, die das Recht des einzel-
nen gar nicht erst zu beseitigen braucht."
82 Vgl. H. Mayer, DStR 1938, S. 77; ebd., A n m . 19; Koch, Ist das Wesen des
Verbrechens Rechtsguts- oder Pflichtverletzung?, S. 1 f.
83 DStR 1938, S. 81.
84 Festschrift für Gleispach 1936, S. 68.
85 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 111 f., 125;
DStR 1935, S. 98; DStR 1937, S. 336 u n d 338; Dahm, ZStW 57, S. 235 (gegen
eine „Überbetonung" des Rechtsgutsbegriffs) ; vgl. dazu Lüderssen, Zum
Strafgrund der Teilnahme, S. 122; Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz
der Gesellschaft, S. 251 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 82.
86 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125.
87 Vgl. Schaffstein, ZStW 55, S. 29 f.; Dahm, ZStW 57, S. 281.
88 Dahm, DStR 1934, S. 213 f.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 183
innerliche Abfall von der inneren Bindung an die Gemeinschaft 94 ." Auch
wenn es sich gegen einen einzelnen richte, treffe es letzten Endes doch
die Gemeinschaft; der einzelne werde durch die Rechtsordnung nicht als
solcher, sondern nur als Glied der Gemeinschaft geschützt 95 .
Für die Antiliberalen war der Gegensatz von Recht und Sitte i n der
Volksanschauung als Rechtsquelle überwunden. Die Gemeinschafts-
widrigkeit wurde daher auch als „Verstoß gegen die völkische Sitten-
ordnung" definiert 96 . Nicht eine individual-ethische Auffassung sollte
den Maßstab liefern, sondern die allgemeinverbindliche völkische,
nationalsozialistische Sittlichkeit 9 7 .
I n jeder Hinsicht also richteten die antiliberalen Straf rechtswissen-
schaftler ihre Versuche, das Verbrechen materiell zu beschreiben, am
„Volksbewußtsein" aus. Der Begriff war unbestimmt genug. Gleich-
wohl behauptete Mezger. daß das deutsche Volk einen „inhaltlich und
konkret bestimmten Rechtswert" darstelle 98 . Zur Begründung trug der
Hinweis auf die „Geschichte des Volkes, auf seine Verbundenheit durch
Rasse und Landschaft" 9 9 wenig bei. Er sagte nicht, was tatsächlich für die
Bestimmung der Gemeinschaftswidrigkeit maßgebend sein sollte. Be-
deutsamer war die Bezugnahme auf den politischen Gestaltungswillen,
der aus den Grundlagen des völkischen Lebens hervorgehe und an dem
sich Recht vom Unrecht scheide 100 . Dieser Wille zur Gemeinschaft habe
seinen Ausdruck i n der nationalsozialistischen Bewegung gefunden 101 .
I h r totaler Geltungsanspruch enthalte einen klaren Wertmaßstab für
das neue Recht 102 . Die Entscheidung darüber, was „die Grundlage des
völkischen Lebens" 1 0 3 , „das innere Gesetz der Gemeinschaft" 104 , „die
völkische Sittenordnung" 1 0 5 sei, sollte der „ganzen, lebensvoll erfaßten
politischen Wirklichkeit der deutschen Gegenwart" zu entnehmen
sein 1 0 6 . Sie wurde damit den Bedürfnissen der nationalsozialistischen
94 Boldt, DR 1937, S. 94; vgl. auch ders., ZStaatW 96, S. 504; Dahm, Natio-
nalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17.
95 Vgl. Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 62 f.
96 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17.
97 Vgl. Schaffstein, Tel. Begriffsbildung, S. 27; Siegert, Grundzüge, S . l l .
98 Mezger, ZStW 55, S. 8.
99 Ebd., S. 9. Diese Worte ersetzten die vulgäre nationalsozialistische For-
m e l „ B l u t u n d Boden"; vgl. dazu auch Siegert, Grundzüge, S. 8 f.
100 v g l . Mezger, ZStW 55, S. 9.
ιοί v g l . Boldt, DR 1937, S. 94.
102 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30.
103 Freisler, DStR 1935, S. 12.
104 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14; vgl.
auch Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
los Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14.
106 Mezger, ZStW 55, S. 6.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 185
12
6 Ebd., S. 297; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14;
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 118. Nationalsozialisti-
schem Strafrechtsdenken w a r daher die Zielsetzung, bloßes Polizeiunrecht
aus dem K r i m i n a l s t r a f recht auszuscheiden, durchaus nicht fremd; so aber
E. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsrecht, S. 13 f., u n d Michels,
Strafbare Handlungen u n d Zuwiderhandlungen, S. 26 Anm. 66. Vgl. noch
Freisler, DStR 1936, S. 199; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43 f.;
insgesamt dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft,
S. 246.
127 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 103 A n m . 80.
128 vgl. Siegert, DR 1934, S. 528 f., sowie oben 4. Kap. I I I . 4. c).
12» Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15.
130 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 122.
131 Vgl. Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 189
seine Motive und auch die A r t der Tatausführung i n Betracht ziehe 145 .
Bisweilen könne aber auch die äußere Tatseite, der Schaden, den Aus-
schlag geben 146 . I n Gegensatz zum kriminologischen Täterbegriff richte
sich der volkstümliche Tätertyp nicht oder doch nur sehr wenig nach
der Häufigkeit der Tatbegehung oder einer kriminellen Veranlagung 1 4 7 .
Feste Regeln für die Ermittlung der Typenmäßigkeit gab es nicht 1 4 8 .
Es konnte sie nicht geben, weil m i t ihnen ein gewisses Maß an liberaler
Rechtssicherheit geblieben wäre. „Einfache und volkstümliche Unter-
scheidungen" sollten entscheiden 149 . „Das B i l d wechselt von Fall zu
Fall 1 5 0 ."
Die antiliberale Tätertyplehre war Ausdruck der Bestrebungen i n der
Straf rechts Wissenschaft, die persönliche „Inpflichtnahme" des einzelnen
i m neuen Staat durch eine Subjektivierung des Straf rechts zu unter-
stützen. Aus diesem Grunde hatte auch das Eingehen auf die Täter-
person seine Grenzen. Das Maß der Rücksichtnahme auf die individuelle
Motivationslage gab die „völkische Sittenordnung" 1 5 1 , die allgemein-
verbindliche Anforderungen stellte. Daher war die antiliberale Täter-
lehre eine Lehre vom Tätertyp.
Welche Auswirkungen die antiliberale Täterlehre sowie insgesamt
die Vorstellungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler zu einem
materiellen Verbrechensbegriff auf die strafrechtliche Theorienbildung
hatten, soll i m folgenden untersucht werden. Eine vollständige Dar-
stellung kann allerdings i m Rahmen dieser Arbeit nicht erreicht
werden. Sie müßte nach Gliederung und Umfang den Charakter eines
Lehrbuchs annehmen. Sie wäre zudem m i t der Gefahr verbunden, daß
der Gedankenfaden der Untersuchung verloren ginge.
Die erforderliche Eingrenzung orientiert sich an den Schwerpunkten,
die die antiliberale Strafrechtswissenschaft selbst setzte: Eine der ersten
konkreten Folgerungen, die sie aus der Priorität eines materiellen Ver-
brechensbegriffs zog, war der Ruf nach Beseitigung des Analogie-
verbots (III). Zugleich m i t diesem Thema war der gesamte Bereich der
Fragen zur Funktion und Handhabung des Gesetzes angesprochen. Diese
13 Marxen
194 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
13*
196 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Einigen Strafrechtlern ging die Neufassung von § 2 StGB, die nur die
Gesetzesanalogie gestattete, nicht weit genug. M i t dem Strafrechtsaus-
schuß der Akademie für Deutsches Recht forderten sie, daß auch die
Rechtsanalogie zuzulassen sei 1 7 6 .
Die Frage des Analogieverbots bildet immer nur einen Ausschnitt
aus einem viel größeren Problemkreis: M i t ihr ist zugleich die allgemeine
Frage nach der Bedeutung des Gesetzes und der dieser Bedeutung an-
gemessenen Auslegungsmethode gestellt. Schaffstein nannte daher § 2
StGB a. F. „das Feldzeichen des Gegners" 177 . Nach seiner Eroberung sei
der Kampf noch keineswegs beendet.
178
Vgl. auch ders., Methodenstreit. Auch die Schriften von Grünhut ver-
schaffen einen guten Einblick i n die Entwicklung: Begriffsbildung u n d
Rechtsanwendung i m Strafrecht (RuS H. 41; 1926); Methodische Grundlagen
der heutigen Strafrechtswissenschaft (Festgabe f ü r F r a n k 1930, Bd. 1, S. 1 ff.);
Strafrechtswissenschaft u n d Strafrechtspraxis (1932).
i™ Vgl. Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 69 ff.
180
Ebd., S. 69.
« ι Vgl. auch Krüger, Z S t W 54, S. 642 f.
18« Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
183 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 17.
184 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 233; auch Schaff stein, Tel. Begriffsbildung,
S. 15 f.; DStR 1937, S. 347; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 138.
198 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Stellung" 185 , daß das Gesetz nach seinem Zweck auszulegen sei; eine
Auslegung nach dem Zweck habe aber bereits von Ihering gefordert 1 8 6 .
M i t der ausschließlichen Berücksichtigung zweckbezogener Gesichts-
punkte werde zudem das Blickfeld unzulässig verengt. Die Frage nach
den Schranken der Zweckauslegung werde nicht gestellt 1 8 7 . Das Straf-
recht werde von allen anderen Gesichtspunkten abgeschirmt. Die indi-
vidualisierende teleologische Methode berge die Gefahr i n sich, daß
allein der besondere Zweck der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung
die Auslegung beherrsche. Dadurch blieben die „formal-teleologischen"
Gesichtspunkte 188 , allgemeine Rechtsprinzipien wie Rechtssicherheit,
Praktikabilität, Gerechtigkeit, unberücksichtigt 189 .
Da die Rechtsgutstheorie auf die Erhaltung und den Schutz eines
bestimmten Zustandes abziele, werde sie auch nicht den mannigfaltigen
Wertbeziehungen gerecht, aus denen der gesetzliche Tatbestand her-
vorgegangen sei. Außer Betracht bleibe, daß dem geschützten Interesse
„Gegeninteressen" gegenüberstünden, deren allgemeinstes das der
menschlichen Betätigungsfreiheit sei 1 9 0 .
Daß sie nicht unbeachtlich sein könnten, ergebe sich unmittelbar aus
den gesetzlichen Tatbeständen: Aus den subjektiven Elementen, wie
ζ. B. Bereicherungsabsicht, erpresserische Absicht, oder aus der Be-
schränkung auf eine bestimmte Begehungsart sei zu entnehmen, daß es
nicht allein u m den Schutz von Rechtsgütern gehe 191 .
Die Ausdehnung des ursprünglich konkreten Rechtsgutsbegriffs habe
zu einer „Vergeistigung und Verflüchtigung" seines Inhalts geführt 1 9 2 .
Was unter „Zweck" zu verstehen sei, könne nicht mehr klar angegeben
werden. Indem der Rechtsgutsbegriff zur Lösung aller noch so ver-
schiedenartiger Auslegungsprobleme bemüht werde 1 9 3 , mute man ihm
zuviel zu. Das Ergebnis sei ein Übermaß an Abstraktion.
216
Ähnliche Feststellungen wie diese und die folgenden machte schon 1937
Neumann i n : „Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen
Gesellschaft" (vgl. vor allem S. 43 ff.). Seine allgemeinen rechtstheoretischen
Aussagen betrafen die Bedeutung der Generalklauseln i m vornationalsozia-
listischen u n d nationalsozialistischen Recht. Vgl. auch Böhmer, Grundlagen
I I , 1, S. 215 über den „antinomischen" Charakter der nationalsozialistischen
Rechtsauffassung; ferner Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 176 ff.
217
Zwei Gründe dürften maßgebend sein: Die Reformarbeiten basierten
auf dem E n t w u r f 1927 u n d enthielten i n Restbeständen liberales Gedanken-
gut. Durch die Ablehnung einer Neukodifikation w o l l t e der nationalsozia-
listische Gesetzgeber die Möglichkeit einer Selbstbindung ausschließen. Vgl.
E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 450 f.
218 v g l . Peters, Die Umgestaltung des Strafgesetzes 1933 - 1945.
219
Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14;
Verbrechen u n d Tatbestand, S. 107; DStR 1934, S. 89; Henkel, Strafrichter
u n d Gesetz, S. 52 f.
220
Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14,
und oben 3. Kap. I I I . 2. u n d 5. Kap. I I . 3. d).
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 203
Nach dem politischen Umbruch des Jahres 1933 trat die national-
sozialistische Strafrechtswissenschaft entschieden für eine freiere
Handhabung des Gesetzes ein; nur so konnte das weiterhin geltende
Strafgesetzbuch für die Zwecke der nationalsozialistischen Machterobe-
rung eingesetzt werden. Durch eine „materielle" Auslegungsmethode
wurde der Unterschied zwischen lex lata und lex ferenda beseitigt 2 2 6 .
Die neuen politischen Ideen konnten ohne eine Gesetzesänderung i n das
bestehende Strafgesetz eingeführt werden. Da auch später trotz
einiger Neukodifikationen die vornationalsozialistischen Strafgesetze
zur Hauptsache den Beschäftigungsgegenstand der Strafrechtswissen-
schaft bildeten, war die Auslegungsmethode überwiegend vom Gedan-
ken einer Lösung der gesetzlichen Bindung geprägt.
22
7 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 89.
228 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75.
229 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89.
230 Ebd., S. 102 .
231 Vgl. die restriktive Intention der Tätertypenlehre Dahms, unten 5. Kap.
IV. 5. sowie Schröder, Georg D a h m als Strafrechtler, S. 18 f.
232 Dahm, ZStW 57, S. 252.
233 Mezger, Strafrecht, 2. Aufl., S. 333.
234 ZStW 57, S. 255.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 205
235 Vgl. Dohm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89, 106 f.; ZStW 57, 275;
Krüger, ZStW 55, S. 123; auch H.Mayer, DStR 1938, S. 93. H.Mayer wandte
sich aber gegen eine unkritische Übernahme des herrschenden Sprachge-
brauchs. U m eine „praktisch ausreichende Bestimmtheit" zu erreichen, sei
es erforderlich, den Sprachgebrauch anhand der überlieferten Rechtspraxis
kritisch zu überprüfen (Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 210).
236 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89.
237 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 91; ZStW 57, S. 255; vgl. auch oben 3. Kap. I I I .
2. und 4.
238 Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
239 Dahm, DStR 1934, S. 91; vgl. auch S.90: „Zweifellos hat der Richter i m
neuen Staat die Werturteile zu fällen, die der nationalsozialistischen Rechts-
anschauung u n d dem W i l l e n der politischen F ü h r u n g entsprechen."
240 C.Schmitt, J W 1934, S.717; vgl. auch Mezger, ZStW 55, S. 2: „Nicht der
historisch erforschbare W i l l e eines i n der Vergangenheit tätig gewordenen
206 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Gesetzgebers, sondern das Verstehen und die Auslegung des Gesetzes aus
den Bedürfnissen und Anschauungen der nationalsozialistischen deutschen
Gegenwart u n d ihrer politischen S t r u k t u r erschließt das i m Gesetz enthaltene
wirkliche Recht."
241 Vgl. Dahm, ZStaatW 95, S.283; auch Mezger, ZStW 55, S. 5.
242 v g l . Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125; auch
H.Mayer, DStR 1938, S. 96.
243 v g l . Dahm, ZStaatW 95, S. 283.
244 v g l . H. Mayer, DStR 1938, S. 94.
245 Was w a r i m Einzelfall ζ. B. m i t einer Formulierung anzufangen wie:
Aufgabe einer neuen Rechtswissenschaft sei es, das Gesetz „so auszulegen,
wie es das innere Gesetz der Gemeinschaft verlangt" (Dahm, Gemeinchaft
und Strafrecht, S. 17)?
246 v g l . oben 5. Kap. IV. 1. u n d Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtver-
letzung, S. 128 f.; DStR 1937, S.343; J W 1938, S. 146; Dahm, ZStW 57, S.245;
Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 16 f.; Rauch, Die klassische
Strafrechtslehre, S. 46.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 207
247 v g l . Dahm, ZStW 57, S.235: H.Mayer, DStR 1938, S.89; Schaff stein,
Das Verbrechen als Pflichtverletzung S. 121; Festschrift für Gleispach 1936,
S. 112 A n m . 37.
248 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253 f.
249
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 102. Nach Angaben Dahms
(S. 79) stammte dieses Beispiel von C. Schmitt.
2
50 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 99; ZStW 57, S. 254; vgl.
damit R G 61, 242 u n d R G 62, 137.
2
51 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Ebermeyer/Lobe/Rosenberg,
Reichsstrafgesetzbuch, S. 812.
252 Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Kohlrausch, StGB, § 239 a A n m . 2.
208 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
StGB bestraft werden, weil ihr Unterlassen nicht von der Vorstellung
erfaßt werde, die sich i n der Volksanschauung vom Mord und vom
Mörder herausgebildet habe 2 5 3 .
A n den Beispielen fällt auf, daß sie häufig auf eine Straflosigkeit des
Täters hinausliefen. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich i n
der Strafrechtspraxis die antiliberalen Vorstellungen zur Auslegungs-
methode anders auswirken konnten und wohl auch sollten. Die Beispiele
verschleierten die eigentliche Zielsetzung, die hier und dort anklang;
so, wenn die Priorität des materiellen Verbrechensbegriffs mit der Not-
wendigkeit begründet wurde, die Verbrechensbekämpfung wirksamer
zu gestalten 254 , wenn für die straf begründende Analogie angeführt
wurde, daß sie das notwendige Gegengewicht zu den übergesetzlichen
Unrechtsausschließungsgründen bilde 2 5 5 . Eine entsprechende Tendenz i n
der antiliberalen Auslegungsmethode deutete Dahm an, als er sich dafür
einsetzte, das argumentum e contrario sparsamer zu verwenden 2 5 6 . Es
beruhe auf der Gleichsetzung von Gesetz und Recht. Gerade ein
„wesenhaftes und lebendiges Denken" werde dazu führen, „daß die
Strafbarkeit über den Wortlaut des Gesetzes hinaus ausgedehnt w i r d " 2 5 7 .
Der extensiven nationalsozialistischen Strafrechtspraxis begegnete
also von Seiten der antiliberalen Strafrechtswissenschaft kein Wider-
stand. Aber auch sie konnte schließlich die Auswüchse i n Gesetzgebung
und Rechtsprechung nicht übersehen, die mit Kriegsbeginn immer zahl-
reicher wurden 2 5 8 . Gegen Ende der dreißiger Jahre machten antiliberale
Strafrechtswissenschaftler erste Versuche, die von ihnen selbst geför-
derte Entwicklung zu dämpfen. Der Tendenz zur Ausdehnung der Straf-
barkeit entgegenzuwirken, war ein Motiv der Lehre vom Tätertyp.
Die Denkform des Typus war von Beginn an Bestandteil der anti-
liberalen Auslegungsmethode. Die materielle Auffassung ging von der
Unzulänglichkeit der gesetzgeberischen Formulierungsversuche aus 2 5 9 .
Der Gesetzgeber mache sich stets eine Vorstellung vom typischen Gehalt
260 v g l . Dahm, Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 205 f.; Schaff stein,
DStR 1942, S. 36 ff.
261 Vgl. oben 5. Kap. I I . 3. c).
262 Ebd., S. 188; vgl. auch S. 186, 221; Schaff stein, DStR 1942, S. 36, 38, 41.
263 V O gegen Gewaltverbrecher v o m 5.12.1939; R G B l I, 2378.
264 V O gegen Volksschädlinge v o m 5.9.1939; R G B l I, 1679.
265 V o m 4. 12.1941; R G B l I, 759.
266 R G B l I, 549.
267 Gesetz zum Schutze des deutschen Bluts u n d der deutschen Ehre v o m
15.9. 1935; R G B l I, 1146.
268 V O zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher v o m 4.10.1939;
R G B l I, 2000.
14 Marxen
210 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
14*
212 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
291 Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 92; Referat zum Kongreß für Rechtsverglei-
chung 1937, S. 522; Schaffstein, DR 1934, S.352; Krüger, ZStW 55, S. 115 f.;
Larenz, RuS H. 109, S. 35 f.
292 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 116 ff.
293 v g l . ebd., S. 116, 118 f.
294 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 90; ZStW 59, S. 151 Anm. 40; Larenz, Rus
H. 109, S. 34; Schaff stein, DR 1934, S.352.
295 v g l . oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 2.
214 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
»09 Verbrechen und Tatbestand, S. 87; vgl. Binder, Logos Bd. 18, S. 12 f.;
C.Schmitt, Die drei Arten, S. 13, 20; vgl. auch Thierfelder, Normativ und
Wert, S. 8 A n m . 3.
aio v g l . Dahm, ZStW 57, S. 268.
an Vgl. ebd., S. 266 f.
»12 DRWis 1936, S. 45; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 101.
313 S chaff stein, Teleologische Begriffsbildung, S. 11 f.
314 Krüger, ZStW 55, S. 123; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand,
S. 106 f.; ZStW 57, S. 275.
315 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 107.
316 Ebd., S. 107.
V. Angriffe gegen begriffliche und systematische Zergliederung 217
herrschende Lehre vom Tatbestand. Sie wandten sich gegen die Heraus-
lösung eines allgemeinen Handlungsbegriffs und die Trennung von
Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit.
stelle, i n die der Mensch gestellt sei und zu der er ständig durch sein
Handeln Stellung beziehe 330 .
Nach dem politischen Umsturz drangen i n diese Lehre auch Splitter
der nationalsozialistischen Weltanschauung ein, ohne daß jedoch eine
Abhängigkeit vom Nationalsozialismus behauptet werden könnte 3 3 0 3 .
Die ganzheitliche Auffassung des Handlungsbegriffs, die den Vorsatz
aus dem Bereich der Schuld i n den der Handlung zog, übernahmen
Strafrechtswissenschaftler, die dem Nationalsozialismus weitaus stärker
verbunden waren, für ihr Konzept, das darauf angelegt war, dem
Streben nach rationalen Maßstäben i m Strafrecht entgegenzuwirken
und eine irrational-ganzheitliche Betrachtungsweise an ihre Stelle zu
setzen 331 . Daher waren sie letzten Endes auch nicht allein an einer
Umformung des Handlungsbegriffs interessiert; die gesamte Tatbe-
standslehre, vor allem aber die Unterscheidung von Tatbestands-
mäßigkeit und Rechtswidrigkeit sollte aufgelöst werden.
Die antiliberalen Angriffe konzentrierten sich auf die seit von Liszt
und Beling übliche Unterteilung i n einen objektiv und wertfrei gedach-
ten Tatbestand und in eine bewertende Rechtswidrigkeit.
Die Ausscheidung normativer Merkmale aus dem Tatbestand ver-
folgte nach Dahms Ansicht einzig und allein den Zweck, eine optimale
Durchführung des Satzes „nulla poena sine lege" zu gewährleisten 332 .
Die gesonderte Prüfung der Rechtswidrigkeit sei durch die Rechtsguts-
lehre erforderlich geworden; da sich i m Rahmen dieser Lehre die tat-
bestandlichen Feststellungen darauf beschränkten, ob ein Rechtsgut
verletzt sei, werde eine Korrektur i n den Fällen erforderlich, i n denen
aus besonderen Gründen keine Strafwürdigkeit gegeben sei 3 3 3 .
Diese Aufgabenverteilung zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit
hatte sich nach antiliberaler Auffassung auch durch die neueren Be-
strebungen zur Teleologisierung des Verbrechenssystems nicht grund-
sätzlich geändert. Die Erkenntnis „normativer" Tatbestandsmerkmale
habe die dualistische Denkweise nicht beseitigt. Nach Dahm zeigt das
„unmögliche Wort" bereits, daß Wirklichkeit und rechtliche Bewertung
getrennt gesehen würden 3 3 4 . Auch i n der Lehre vom Tatbestand als dem
„vertypten Unrecht" 3 3 5 werde i m Grundsatz an der liberal-rechtsstaat-
lichen Funktion der Tatbestandslehre festgehalten; letzten Endes werde
auch hier zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit unter-
schieden 336 .
Die h. L. halte somit an der „widersinnigen" Konstruktion fest, daß
es ein an sich tatbestandsmäßiges, aber nicht rechtswidriges Verhalten
geben könne 3 3 7 . M i t scharfen Worten bekämpfte Dahm dieses „An-Sich-
Denken" 3 3 8 : Er sah darin einen „Hohn auf die Logik . . . und auf jedes
gesunde Gefühl" 3 3 9 . Die liberale Tatbestandslehre behaupte zu Unrecht,
daß die Unterordnung unter den Tatbestand noch kein Werturteil ent-
halte. Die Gleichbehandlung rechtswidriger und rechtmäßiger Hand-
lungen bei der Tatbestandsprüfung stelle einen Zusammenhang zwischen
beiden her. Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit bedeute daher
für den rechtmäßig Handelnden eine Herabsetzung 340 . Von einer wert-
neutralen Subsumtion könne insbesondere dann keine Rede sein, wenn
der gesetzliche Tatbestand Begriffe enthalte, denen der einfachen Wort-
bedeutung nach ein abfälliges Urteil innewohne. Dahm nannte als Bei-
spiel das Wort „mißhandeln" aus dem Körperverletzungstatbestand. Für
die natürliche Volksanschauung müsse es unbegreiflich bleiben, daß
nach einer lebensfremden, abstrakten juristischen Denkweise auch dann
eine „Mißhandlung" vorliege, wenn ein Rechtfertigungsgrund gegeben
sei und die Tat somit letzten Endes rechtmäßig sei, wie ζ. B. der
gelungene ärztliche Eingriff zu Heilzwecken 340 .
Die Entfernung des Werturteils aus der Tatbestandsprüfung hat nach
Dahms Ansicht zur Folge, daß der besondere Sinngehalt des jeweiligen
Delikts nicht zur Geltung kommt. Um die erforderliche Eingrenzung i m
Bereich der Rechtswidrigkeit vornehmen zu können, sei man darauf
angewiesen, die Unrechtsausschließungsgründe zu dehnen und zu ver-
allgemeinern 341 . Die Ganzheit von Tatbestand und zugehörigen Un-
rechtsausschließungsgründen werde gelöst: Die konkreten Voraus-
setzungen der zulässigen Schwangerschaftsunterbrechung würden zum
allgemeinen Güterabwägungsprinzip ausgedehnt; die Rechtfertigung
Zwar sagte Dahm ganz klar, daß ein Strafrecht ohne differenzierte
Tatbestände nicht angestrebt werde 3 4 6 ; dennoch ist es sehr schwierig,
eine Vorstellung davon zu erhalten, wie Strafrechtswissenschaftler wie
Dahm und Schaffstein die verschiedenen Deliktsarten erfassen wollten.
Sie fühlten sich nicht verpflichtet, ihre Auffassung präzise vorzutragen,
einen klaren methodischen Weg aufzuzeigen und rationale Begründun-
gen anzugeben. Eine solche Formalisierung hätte ihrer ganzen Denk-
weise widersprochen, weil sie letztlich dem bekämpften liberalen Inter-
esse an Rechtssicherheit gedient hätte. Ihre Unrechtslehre erschöpfte
sich daher i n unbestimmten Andeutungen und vagen Umschreibungen.
Fest stand für sie: Handlung, Tatbestand und Rechtswidrigkeit sollten
347 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 86; vgl. auch S. 80 f.; Schaff stein, Das
Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133 Anm. 22; Kempermann, Die Erkennt-
nis des Verbrechens, S. 7 f.
348 Dahm hielt sich i n dieser Frage zurück; vgl. Verbrechen u n d Tatbe-
stand, S. 93 A n m . 60 u n d ZStW 57, S. 268 f. A n m . 104. M a n könnte daher fast
von einer Arbeitsteilung bei der Auflösung des Verbrechenssystems sprechen:
Dahm griff es i m Bereich der Tatbestandslehre an, Schaffstein i m Rahmen
von Rechtswidrigkeit u n d Schuld.
349 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S. 31; Das Verbrechen als Pflichtverletzung,
S. 134.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 223
350
Vgl. die Rechtswidrigkeit, 1911.
351 Vgl. ZStW 36, S. 19 ff., 31 ff., 184 ff.; Festschrift f ü r F r a n k 1930 Bd. 1,
S. 251 ff.
352 v g l . GS 89, S. 207 ff.; Festschrift f ü r Träger 1926, S. 187 ff.; Straf recht,
S. 168 ff.
353 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S. 20 f.
354 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S.20f.; ZStW 57,
S. 303.
355 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 33; ZStW 57, S.302; auch Dahm, ZStW 59,
S. 183; vgl. dazu R G 58, 97; 226.
356 vgl. Festschrift für F r a n k 1930, Bd. 1, S. 253 f.
357 Objektiv gefaßte Schuldmerkmale, 1932.
358 vgl. Schaff stein, ZStW 57, S.302; Tel. Begriffsbildung, S. 28.
224 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Zwangslage vorsieht. Hier werde das Prinzip der rein subjektiven Fas-
sung der Schuld durchbrochen, wie auch i m Falle des entschuldigenden
Notstandes, dessen Vorliegen das RG von einer Güterabwägung ab-
hängig gemacht habe, von einem Merkmal, das ansonsten nur zur Un-
rechtsbegründung herangezogen werde 3 5 9 .
Schließlich nannte Schaff stein die subjektive Versuchstheorie als
Beweis für die Unrichtigkeit der herkömmlichen Unterscheidung von
Rechtswidrigkeit und Schuld 3 6 0 . Der Unrechtsgehalt des ungefährlichen
untauglichen Versuchs könne nicht aus dem Gedanken der objektiven
Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung erklärt werden. Die Notwen-
digkeit, die Rechtswidrigkeit mit Hilfe subjektiver Merkmale zu be-
stimmen, könne hier nicht mehr übersehen werden.
Schaffstein mußte konzedieren, daß durch den Ubergang von der
psychologischen zur normativen Schuldlehre 361 der Pflichtverletzungs-
gedanke i n das Strafrecht eingezogen und damit die Rechtsgutsver-
letzungslehre zurückgedrängt worden war. Insgesamt habe sich an
ihrer dominierenden Position aber nichts geändert, weil der Gedanke
der Pflichtverletzung eben nur im Rahmen der Schuld Beachtung ge-
funden habe und somit nur zur Einschränkung der Strafbarkeit ver-
wandt worden sei. Das Schuldurteil knüpfe an eine Pflichtnorm an, die
ein der objektiven Rechtsnorm entsprechendes inneres Verhalten ver-
lange 3 6 2 . Die Unterordnung unter das rationalistische Verbrechens-
system zeige sich auch i n der Bestimmung des Maßstabes, der über eine
Verletzung der Pflicht entscheide: Dieser richte sich nach den Anforde-
rungen, die man i n der gleichen Situation an den durchschnittlichen
Menschen stellen könne 3 6 3 . M i t dem Abstellen auf das menschliche
Durchschnittsverhalten würden wieder die gesetzlichen Tatbestände
maßgebend, i n denen die durchschnittlichen Anforderungen typisiert
worden seien 364 .
Die Grundgedanken der nationalsozialistischen Rechtserneuerung
machten nach Schaffsteins Auffassung eine Verschmelzung von Rechts-
widrigkeit und Schuld zwingend erforderlich. „Vom Standpunkt einer
materiellen Verbrechensauffassung" sei die Aufrechterhaltung der
Trennung „undurchführbar und zu verwerfen" 3 6 5 ; denn die Frage nach
359 Vgl. Schaffstein, ZStW 57, S.303; Tel. Begriffsbildung, S. 29; RG 66, 397.
360 v g l . ZStW 55, S. 33.
sei Vgl. die 12./13. Auflage, S. 157 f. von Liszts Lehrbuch m i t der 14./15,
S. 158 f.; ferner Frank, Festschrift für die juristische Fakultät i n Gießen 1907,
S. 519 ff.
362 v g l . Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 135.
363 Vgl. ebd., S. 135 f., 138.
364 v g l . Krüger, ZStW 55, S. 82 f.
365 ZStW 55, S. 26.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 225
366
Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.31; auch Dahm, ZStW 57, S. 244.
367 v g l . ZStaatW 95, S. 288 f.; auch Mezger, ZStW 55, S. 14.
3€8 Dahm, ZStaatW 95, S. 288.
369 v g l . oben 3. Kap. I I . 1.
370 vgl. ZStW 55, S. 26.
371 Vgl. Mezger, Z S t W 55, S. 13 ff.; SchwingelZimmerl, Wesensschau u n d
konkretes Ordnungsdenken, S. 33 ff.; Kohlrausch, Vermögensverbrechen u n d
Eigentumsverbrechen, S. 504, sowie unten 5. Kap. I X .
372 v g l . ZStW 57, S. 305.
15 Marxen
226 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Der Geltungsbereich des StGB von 1871 bestimmte sich zur Haupt-
sache gem. § 3 nach dem sog. Territorialitätsprinzip. Dahm erblickte
darin einen Widerspruch zu „deutschrechtlichem Denken" 3 8 0 , das sich die
15*
228 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
sei Vgl. Reimer, Räumliche Geltung des künftigen Strafgesetzes, S. 140 ff.,
und Gleispach, ZStW 55, S. 399 ff.
382 R G B l I, 754.
383 v g l . d a z u Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 137 ;
DRWis 1936, S. 48 f.; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf-
recht, S. 18; Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 9 ff.
384 Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18.
385 Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 23.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n Einzelproblemen 229
wurde durch die VO vom 29. 5.1943 erreicht 3 8 6 . Sie ersetzte die i n § 44
Abs. 1 StGB zwingend vorgesehene Milderbestrafung des Versuchs durch
eine fakultative.
3
86 R G B l I, 341.
387
Vgl. dazu Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht,
S. 18; Schaffstein, ZStW 53, S. 612; Angermeier, DR 1935, S. 527 ff.
388
Vgl. S. 131; auch S. 27 u n d 117.
389
Vgl. Schaff stein, ZStW 53, S. 612.
390 v.Dohnanyi, Täterschaft u n d Teilnahme, S. 75.
391 Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 236.
392 vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 ff.; Festschrift für
Gleispach 1936, S.70ff.; D J 1936, S. 767 ff.
393 vgl. ZStW 59, S. 133 ff.
394 Vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 f.; Festschrift für
Gleispach 1936, S. 98.
230 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
nicht entstehen. Wie bereits dargelegt, war die Lehre vom Tätertyp nicht
geeignet, die Grenzen des strafbaren Verhaltens enger zu ziehen oder
sie auch nur klar zu bezeichnen 409 .
Das bestätigen die Formulierungen, die Dahm und auch Schaff stein
für die Untersuchung der Täterschaftsmäßigkeit i m Rahmen der un-
echten Unterlassungsdelikte verwandten: Der Unterlassende müsse
„nach gesundem Volksempfinden" als Täter des Delikts erscheinen 410 .
„Ist zweifelhaft, ob der Unterlassende ,tötet', so soll der Richter sich
fragen, ob ihn die Volksanschauung als Mörder betrachtet 4 1 1 ." Als
Täter habe er i n zahlreichen Fällen dann zu gelten, wenn von i h m „nach
seiner Gesinnung ebensowohl wie die Nichtabwendung des Erfolges
auch seine Herbeiführung durch aktives T u n hätten erwartet werden
können" 4 1 2 . Allgemeine Begriffe und Richtlinien könnten nicht weiter-
helfen 4 1 3 ; die Frage nach der Typmäßigkeit müsse konkret aus dem
einzelnen Delikt heraus beantwortet werden: „Nur eine wesenhafte
und konkrete Betrachtung führt hier zum Ziel 4 1 4 ."
Noch i n anderer Hinsicht hatte die Tätertyplehre i m Bereich der un-
echten Unterlassungsdelikte weitreichende Konsequenzen: Die Prüfung
der Täterschaftsmäßigkeit erfolgte unter dem Aspekt, ob der Unter-
lassende dem Tätertyp unterfällt, ob er Täter „ i s t " 4 1 5 . Nach Dahms Auf-
fassung konnte daher nicht mehr von einer „Gleichstellung" die Rede
sein; diese Vorstellung sei zusammen m i t dem herkömmlichen Hand-
lungsbegriff überwunden. Es komme nicht auf den „naturalistischen
Vorgang des äußeren Geschehens, sondern auf den objektiven Sinn an,
der dem Verhalten i n der Gemeinschaftsordnung zukommt" 4 1 6 . Der
Unterlassende sei von vornherein Täter, sofern er dem B i l d entspreche,
das sich die Volksanschauung vom Täter mache. Die Aufhebung der
scharfen Trennung von positivem Tun und Unterlassen veranlaßte
Dahm zu fordern, daß viele Delikte, die bis dahin dem Bereich des un-
echten Unterlassens zugerechnet worden waren, als positives T u n ein-
zustufen. Er dachte dabei vor allem an die Vermögensdelikte 417 .
Diese Forderung muß i m Lichte der damaligen Rechtsprechung be-
trachtet werden: Trotz der antiliberalen K r i t i k hielt sie an der Unter-
409
Vgl. oben 5. Kap. I V . 5.
410 Schaffstein } Festschrift für Gleispach 1936, S. 95.
411 Dahm, ZStW 59, S. 149.
412 Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 111.
413 Vgl. ebd., S. 95.
414 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 100.
415 Vgl. Dahm, ZStW 59, S. 148.
416 Ebd., S. 160; ähnliche Gedankenführung bei H. Mayer, Straf recht des
Deutschen Volkes, S. 214 f.
417 Vgl. ZStW 59, S. 159 ff.
234 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
V I L D e r Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht:
Die Auflösung des Legalitätsprinzips
418 so ganz deutlich R G 70, 154; vgl. auch Niethammer, ZStW 57, S. 437.
419 Die Referate u n d ein Bericht über die Diskussion wurden i n ZStW 54,
S. 1 ff. abgedruckt.
420 vgl. ZStW 54, S. 14 ff.
421 Ebd., S. 25.
V I I . Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht 235
422 v g l . Henkel, ZStW 54, S . 3 8 1 ; Dahm, ZStW 54, S. 401 ff.; Schaff stein,
DR 1935, S. 521. Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 49, forderte sogar
eine verstärkte Anwendung des Grundsatzes, so bei privater Kenntnisnahme
„verdächtiger Umstände oder begangener Straftaten" durch den Staatsanwalt.
Das Opportunitätsprinzip ist nach seiner Auffassung „undeutsch".
423 Freisler, DStR 1935, S.232; vgl. auch Schaffstein, DR 1935, S. 521.
424 v g l . Freisler, DStR 1935, S.232; Schaff stein, DR 1935, S. 521; W.Busch,
DR 1934, S. 63.
425 R G B l I, 508, 510.
426 V O zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse
des totalen Krieges; R G B l I, 339.
236 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
t e n " 4 3 9 . Für ihre objektive Gültigkeit führte er an, daß sie i m Wege
phänomenologischer Reduktion gewonnen worden seien 440 . Inwieweit
damit die Subjektivität des Schauenden überwunden war, erörterte er
nicht. Auch die Frage der rationalen Nachprüfbarkeit erschien ihm nicht
problematisch 4 4 0 3 .
Schwinge und Zimmerl hatten aber nicht völlig unrecht m i t ihrer
Behauptung, daß zwischen der Dahm/Schaffsteinschen Richtung und
der Phänomenologie ein Zusammenhang bestand. Die Phänomenologie
war i n den zwanziger Jahren über die Grenzen des Fachbereichs
Philosophie hinausgetreten. Sie wurde von der Woge des Irrationalis-
mus mitgerissen 441 . I n einem Simplifizierungs- und Vulgarisierungs-
prozeß wurde die irrationale Endphase der Phänomenologie, das
„Schauen" des Gegenstandes, zum alleinigen Inhalt der phänomenolo-
gischen Methode gemacht. I n dieser Form verband es sich m i t der
Lebensphilosophie und m i t der antiliberalen und antidemokratischen
politischen Erneuerungsbewegung und beeinfiußte auf diesem Wege
mehr unterschwellig die Anschauungen der antiliberalen Strafrechts-
wissenschaft.
Schwinge und Zimmerl behaupteten ferner, daß sich die neue straf-
rechtswissenschaftliche Richtung der Lehre C. Schmitts, insbesondere
dem von ihm propagierten Denken i n konkreten Ordnungen, unter-
geordnet habe 4 4 2 . Hier war die Beweisführung einfacher. Häufig und
eingehend nahmen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler auf
C. Schmitts Lehren Bezug 4 4 3 . Übernommen wurde die Vorstellung, daß
sich die Volksgemeinschaft aus einer Vielzahl engerer Gemeinschaften
zusammensetze, aus „konkreten Ordnungen", die ihre eigene Gesetz-
mäßigkeit i n sich tragen. Die Forderung, das Denken an diesen konkre-
43
9 S. 30.
440 v g l . s. 20, 27 ff.
44oa Ganz beiläufig heißt es i n seiner Verteidigungsabhandlung i n ArchR-
SozPh Bd. 31, S. 300: Der phänomenologische Blick überlasse sich dem
„vorgängigen Seins Verständnis, das jedem Menschen mehr oder weniger
eignet".
441 Vgl. oben Kap. 2.
442 v g l . Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 27 ff.; vgl. zum
konkreten Ordnungsdenken: C.Schmitt, Die drei A r t e n ; D R 1934, S. 225 ff.;
D R 1936, S. 181 ff.; D J Z 1934, S. 691 ff.; vgl. ferner die Darstellung bei
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 277 ff., i n der auch die Bedeutung
des konkreten Ordnungsdenkens für die nationalsozialistische Rechtserneue-
rung erörtert w i r d .
443 v g l . oben 3. Kap. I I I . 1. u n d 5. Kap. V. 1. u n d die Nachweise bei
Schwingel Zimmerl, ebd.
V I I I . Philosophische Hintergründe 239
444 Der weite Bogen, den C.Schmitt zog, u m seine Lehre v o m konkreten
Ordnungsdenken herzuleiten u n d abzustützen, reichte v o n Thomas von
Aquin über Luther, Fichte, Savigny, Schelling, Hegel, v. Gierke, Hauriou,
Renard bis zum Führer der deutschen Rechtsfront, Hans Frank (vgl. Die drei
Arten, S. 41 ff.). Vgl. dazu Schneider, Ausnahmezustand u n d Norm, S. 268 ff.
445 v g l . oben Kap. 2.
446 So auch H. Mayer, DStR 1938, S. 96 A n m . 101, i n bezug auf die A u f -
fassung v o m Verbrechen als Pflichtverletzung; vgl. auch zum Abstand der
Kieler Strafrechtsschule von der Methodenlehre C.Schmitts: Dahm, ZStW
57, S. 292 u n d ZStaatW 95, S. 181 f., sowie Amelung, Rechtsgüterschutz u n d
Schutz der Gesellschaft, S. 220 A n m . 34.
447 v g l . z.B. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62 f. A n m . 1; S. 87
A n m . 47; ZStW 57, S. 251 A n m . 63 a; S. 262 A n m . 88; S. 289 A n m . 166.
448 v g l . E. Wolf, DRWis 1939, S. 174.
449 v g l . Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealis-
mus, S. 187 ff.; Glockner, Logos Bd. X X , S. 169 ff.; speziell zu Binder:
Larenz, ZRPh Bd. 5, S. 185 ff.; u n d aus der neueren L i t e r a t u r : Evers, Der
240 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
16 Marxen
242 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
16*
244 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
491
Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 92.
492 Ebd., S. 92; vgl. auch S. 58.
493 Ebd., S. 58.
494 v g l . ebd., S. 59.
495 Ebd., S. 58.
496 Ebd., S. 75 f.; vgl. auch Zimmerl, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 174:
„Der Gesetzgeber hat dem Richter gegenüber die Stellung eines Ober-
führers."
6. Kapitel
Schlußbetrachtung
währen. Zwar setzte sich eine autoritäre neuklassische Richtung für eine
Ausdehnung der staatlichen Macht zuungunsten der individuellen Frei-
heitssphäre ein; am Prinzip der Gegenüberstellung und Abgrenzung des
staatlichen und individuellen Bezirks hielt sie jedoch fest 3 . Gerade die-
sem Prinzip galt aber der Kampf der antiliberalen Richtung, die sich
zum totalen Staat bekannte.
I n ihren kriminalpolitischen Vorschlägen war auch einiges aus dem
Ideengut der modernen Schule enthalten. Ein unmittelbarer Zusammen-
hang läßt sich zwar nicht herstellen; waren doch die Reformbestrebun-
gen der modernen Schule das Hauptangriffsziel der antiliberalen Straf-
rechtswissenschaft i n ihrer Anfangsphase. Es kann jedoch nicht be-
deutungslos gewesen sein, daß der Widerspruch gegen die „liberale"
Reform und das Verlangen nach einem „autoritären" Straf recht zuerst
auf einer Sitzung der deutschen Landesgruppe der I K V , einer Organisa-
tionsform der modernen Schule, öffentlich vorgetragen wurden. Be-
merkenswert ist auch die Annäherung führender Vertreter der moder-
nen Schule an das autoritäre Strafrecht, die sie vollziehen konnten, ohne
ihren bisherigen Standpunkt völlig aufzugeben 4 . Das war nur möglich,
weil ihr Konzept einer Besserungs- und Sicherungsstrafe i m Keim
illiberales, rechtsstaatsgefährdendes Gedankengut enthielt. Zu voller
Entfaltung konnte es bei einer Änderung des angestrebten Endzieles
gelangen, wenn es nicht mehr um die Sicherung der als politisch neutral
gedachten Gesellschaft ging, sondern um die Durchsetzung der totalen
Politisierung.
Der konservative Antiliberalismus übernahm die Forderung nach
einschneidenden Maßnahmen gegen Berufs- und Gewohnheitsver-
brecher 5 , er erweiterte den Erziehungsgedanken, indem er als Er-
ziehungsziel den opferbereiten „politischen Soldaten" setzte6, und über-
steigerte den Determinismus der modernen Schule, indem er verbreche-
risches Verhalten als blutmäßig bedingte Entartung kennzeichnete 7 .
I n der Mitte der dreißiger Jahre verlagerte sich der Kampf gegen den
Liberalismus i m Strafrecht auf den Bereich der Dogmatik. Auch hier
knüpfte die antiliberale Bewegung an voraufgegangene Entwicklungen
an, wenngleich sie deren Resultate i n vielen Punkten ablehnte.
A m Ende des 19. und i m ersten D r i t t e l des 20. Jahrhunderts hatte sich
i n der Strafrechtswissenschaft ein Wandel von einer kategorialen Denk-
weise zu einer teleologischen vollzogen 8 . Die Grenzen positivistischer
Gesetzesgebundenheit, schematischer, logischer Begriffs ableitungen,
rein objektiver, wertfreier juristischer Betrachtungsweise waren er-
kannt und überschritten worden. Es hatte sich die Einsicht durchgesetzt,
daß juristisches Erkennen und Entscheiden wertbezogen ist. I m Zuge
dieser Entwicklung entstand die teleologische Auslegungsmethode; das
herkömmliche formelle Verbrechenssystem wurde durch die Formulie-
rung materieller Rechtswidrigkeits- und Schuldbegriffe modifiziert.
Die Dogmatik vom teleologischen Standpunkt aus zielte jedoch nicht
auf einen Bruch m i t der liberal-rechtsstaatlichen Tradition, die die
strafrechtliche Methode und das Verbrechenssystem entscheidend ge-
prägt hatte. Sie sollte lediglich das formelle System verfeinern. Daß sie
stattdessen seine politische Grundlage aufweichte, war ihren Ver-
tretern nicht bewußt. Die Diskrepanz zwischen Absicht und Erfolg
erklärt sich aus dem Abstand, den sie zum liberal-rechtsstaatlichen Hin-
tergrund des Verbrechenssystems hatten. Sie behandelten es als eine
rein wissenschaftliche, unpolitische Konstruktion. Die Teleologisierung
der Verbrechenselemente leiteten sie aus einer philosophischen Konzep-
tion ab (zumeist der des Neukantianismus der südwestdeutschen Rich-
tung), die sie wiederum für unpolitisch hielten 9 .
Diese Evolutionierung des Verbrechensbegriffs blieb jedoch i n Gren-
zen. Die Lockerung der gesetzlichen Bindung durch den materiellen
Verbrechensbegriff wurde auf die Fälle beschränkt, i n denen sie dem
Angeklagten zugutekam (übergesetzlicher Notstand, Zumutbarkeit). Die
verhältnismäßig geringen Auswirkungen der teleologischen Betrach-
tungsweise waren außerdem eine Folge der Zurückhaltung und Unent-
schlossenheit bei der Bestimmung maßgebender Werte. Soweit möglich,
bezog man sich auf die Wertentscheidungen des Gesetzgebers. I m
übrigen gelangte man nicht über einen relativistischen Standpunkt
hinaus 10 .
Hier setzten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler an. Für sie
hatte der Relativismus als Erscheinung des demokratischen Liberalis-
mus mit dem Zusammenbruch des liberalen Systems seine Existenz-
8
Vgl. dazu u n d zum folgenden: Grünhut u n d Radbruch i n Festgabe für
Frank 1930, Bd. 1, S. 1 ff. bzw. S. 158 ff.; Mittasch, Die Auswirkungen des
wertbeziehenden Denkens i n der Strafrechtsdogmatik; Gallas, ZStW 67,
S. I f f . ; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, S. 156 ff.; Schmidhäuser, Ge-
dächtnisschrift für Radbruch 1968, S. 268 ff.
9
Vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 114 f.
10
Vgl. das Bekenntnis zum Relativismus bei Radbruch, Rechtsphilosophie
(1932), S . V I I I .
250 6. Kap.: Schlußbetrachtung
13
I n der Bedeutung von „Gesetzespositivismus"; vgl. Lüderssen, Einleitung
zu: Theorie der Erfahrung i n der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts,
S. 18 f., der die verschiedenen Erscheinungsformen des Positivismus sorg-
fältig unterscheidet.
14
Vgl. etwa Weinkauff, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus,
S. 182; Schmidhäuser, Straf recht, S. 59; Ostermeyer, Strafunrecht, S. 38.
14a
Vgl. zur Rolle des Positivismus i m totalitären Staat m i t besonderer
Blickrichtung auf das Zivilrecht: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung,
S. 98 f.
is v g l . Schwinge, Methodenstreit (1930).
252 6. Kap. : Schlußbetrachtung
D i e angeschnittene P r o b l e m a t i k der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e
u n d i h r e B e w ä l t i g u n g d u r c h die Strafrechtswissenschaft der N a c h k r i e g s -
zeit müssen als e i n T e i l a s p e k t i n e i n e n g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g e i n -
g e o r d n e t w e r d e n : Das E n d e der a n t i l i b e r a l e n Epoche u n d d a m i t der
m ö g l i c h e A n s a t z f ü r eine energische W e n d u n g i n der gesamten E n t w i c k -
l u n g des Strafrechts w u r d e d u r c h d i e A u f h e b u n g des § 2 S t G B i n der
seit 1935 g e l t e n d e n Fassung, d i e m i t d e m K o n t r o l l r a t s g e s e t z N r . 11 v o m
30.1. 1946 erfolgte, u n d später d u r c h die S c h a f f u n g des A r t . 103 A b s . 2
G G angezeigt. A n diesen äußeren Zeichen m u ß t e sich der E r n e u e r u n g s -
w i l l e der Strafrechtswissenschaft erweisen. Gerade die verfassungs-
rechtliche A b s i c h e r u n g des Satzes „ n u l l u m c r i m e n , n u l l a poena sine
lege" h ä t t e z u r W e n d e m a r k e i n der gesamten s t r a f r e c h t l i c h e n D o g m a t i k
w e r d e n k ö n n e n 3 6 ; sie hätte, w i e H . M a y e r f o r m u l i e r t e , A n l a ß f ü r eine
17 Marxen
258 6. Kap. : Schlußbetrachtung
Naucke, Betrug, S. 182 ff.; ders., Festschrift f ü r Engisch, S. 274 ff. Gerade
Naucke hat aber zahlreiche Gegner gefunden; vgl. u. a. Schänke - Schröder,
StGB, §263 A n m . 1 a; Cramer , Vermögensbegriff u n d Vermögensschaden i m
Strafrecht, S. 31 f.; Lüderssen, JuS 1974, S. 132 f.; Otto Die S t r u k t u r des straf-
rechtlichen Vermögensschutzes, S. 17 ff.
37 SJZ 1947, Sp. 12; ferner ders., Straf recht, S. 85; Buchwald, Gerechtes
Recht, S. 85 f.
38 Vgl. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, S. 547; ferner Schänke, StGB,
5. Aufl., S. 31 ff: Die Kommentierung von §2 läßt i n keiner Weise erkennen,
daß diese Vorschrift eine Wendemarke bedeuten könnte. Die Überlegungen
zum Fragenkomplex Auslegung/Analogie, w i e sie etwa Schwinge i n der V o r -
kriegszeit angestellt hat, werden ohne besondere Begründung u n d ohne
grundsätzliches Eingehen auf die Zwischenzeit fortgeführt.
Daß A r t . 103 Abs. 2 GG keine praktische Bedeutung beigemessen wurde,
läßt der Aufsatz von Schwarz „Das Grundgesetz i n der strafrechtlichen
Praxis" (NJW 1950, S. 124 ff.) erkennen. Die Vorschrift w i r d dort nicht
behandelt.
39 Vgl. Welzels Uberblick über die strafrechtliche Dogmatik der letzten
100 Jahre u n d i h r Verhältnis zur finalen Handlungslehre i n JuS 1966,
S. 421 ff.
40 Vgl. Würtenberger, Die geistige Situation, S. 48 f.; Gallas, ZStW 67, S. 4;
Engisch, ZStW 66, S. 341.
I I I . Das liberale Strafrecht i n der Gegenwart 259
17*
260 6. Kap.: Schlußbetrachtung
50 Vgl. Naucke, RuS H. 417; ferner Claß, Festschrift für E.Schmidt 1961,
S. 129; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 232; Lenckner,
JuS 1968. S. 249.
si Vgl. Bruckmann, ZRP 1973, S. 30 ff. Das 2. StrRG operiert gerade i m
Bereich der Strafzumessung i n großem Umfang m i t Generalklauseln; vgl.
Naucke, RuS H. 417, S. 4 f. E i n Begriff w i e „Verteidigung der Rechtsordnung"
(§§ 41, 47, 56 Abs. 3, 59) läßt jede klare Regelung vermissen; vgl. Kieler
Seminar, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 134 ff.
52 Vgl. Wagner, Festschrift f ü r den 45. Deutschen Juristentag 1964, S. 169 ff.;
Baumann, ZRP 1972, S. 274 f.
53 Vgl. zur „Warenhausjustiz" Kramer, ZRP 1974, S. 62 ff.; zur Betriebs-
justiz Metzger - Pregizer, ZRP 1974,S. 167 ff.
54 Vgl. Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter; Kaltenbrunner, Neue
Rundschau 1974, S. 7.
55 Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter, S. 11.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 263
59
Das Schrifttum gibt hierfür wenig Hilfen. Pfenningers Abhandlung über
„Liberalismus u n d Strafrecht" (Festgabe für Fleiner 1937, S. 257 ff.) behandelt
von den hier interessierenden Fragen n u r die des Analogieverbots u n d der
Straftheorie, letztere außerordentlich knapp. Wenig ergiebig ist auch die
kurze allgemeine Betrachtung Dannenbergs über das Verhältnis von L i b e r a -
lismus u n d Strafrecht (Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 5 ff.). Als
typische Kennzeichen eines liberalen Straf rechts f ü h r t er lediglich auf:
Den Grundsatz „ n u l l a poena sine lege", das Prinzip der Vergeltung, den
formellen Schuldbegriff u n d die Möglichkeit einer rechtfertigenden E i n -
w i l l i g u n g des Verletzten.
I V . Zur Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Straf recht 265
b) Das Verbrechenssystem
c) Die Methode
Strafrechts reicht nicht so weit, daß sich auch der totale Staat liberal
gebärden könnte. Er ist auf die Bekämpfung des liberalen Strafrechts
angewiesen.
Die Reformbewegung der modernen Schule wandte sich gegen die
starre Grenzziehung durch das liberale Straifrecht m i t kriminalpoli-
tischen Argumenten. Ein eigener materieller Verbrechensbegriff er-
möglichte es ihr, die Begrenzungsfunktion des Strafrechts und insbe-
sondere der liberalen strafrechtlichen Dogmatik zu verringern 7 1 .
Weitaus energischer und zielstrebiger ging die antiliberale Richtung
i n der Straf rechtswissenschaft vor. Es waren bei ihr jedoch weniger
kriminalpolitische Erwägungen i m engeren Sinne maßgebend für die
Beseitigung der Begrenzungsfunktion des Straf rechts; vorwiegend ihre
allgemeinpolitische Grundhaltung, das Bekenntnis zum starken Staat
und zur Gemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus, veranlaßte sie,
das Strafrecht zu einem flexiblen Machtmittel des Staates umzuformen.
18 Marxen
274 6. Kap.: Schlußbetrachtung
77 v g l . Schaff stein, DStR 1935, S. 103; ders., Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 113; ferner H.Mayer, Strafrecht, S. 184f.
78 Vgl. Naucke, RuS H. 417, S. 11 A n m . 14.
79 Vgl. Zundel, Die Erben des Liberalismus, S. 25 ff.; Molt, Der politische
Liberalismus i n Deutschland, S. 412 ff.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 275
18*
276 6. Kap.: Schlußbetrachtung
19 Marxen
290 Literaturverzeichnis
19*
292 Literaturverzeichnis