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Schriften zum Strafrecht

Band 22

Der Kampf gegen das liberale Strafrecht


Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft
der zwanziger und dreißiger Jahre

Von

Klaus Marxen

Duncker & Humblot · Berlin


KLAUS MARXEN

Der Kampf gegen das liberale Straf recht


Schriften zum Strafrecht

Band 22
Der Kampf gegen das liberale Straf recht
Eine Studie zum Antiliberalismus in der
Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre

Von

Dr. Klaus Marxen

D U N C K E R & H U M B L O T / B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten
© 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65
Printed in Germany
I S B N 3 428 03307 8
Vorwort

Die folgende Untersuchung geht auf eine Anregung von Herrn Prof.
Dr. Wolfgang Naucke zurück. Er hat die Arbeit durch zahlreiche Ge-
spräche und schriftliche Stellungnahmen unterstützt und gefördert.
I h m gilt mein besonderer Dank.
Eine wertvolle Unterstützung bedeutete ferner das Promotions-
stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zum Druck hat
der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-
Universität Frankfurt durch einen Zuschuß beigetragen. Schließlich
habe ich mich beim Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme
der Arbeit i n die Reihe „Schriften zum Straf recht" zu bedanken.
Das Manuskript der Arbeit war i m Frühjahr 1973 abgeschlossen.
Anschließend hat die Arbeit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der
Universität Frankfurt als Inaugural-Dissertation vorgelegen. Für den
Druck sind geringfügige Veränderungen vorgenommen worden.

September 1974
K. Marxen
Inhaltsverzeichnis

Einleitung 17

1. Kapitel

Der Liberalismus in der Strafrechtswissenschaft


des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
aus der Sicht der Vertreter eines Antiliberalismus 20

I. Die liberale Staatstheorie in der Darstellung der antiliberalen


Strafrechtswissenschaft 21

1. Das I n d i v i d u u m i m M i t t e l p u n k t 21

2. Die liberale Gesellschaftstheorie 22

3. Die Beschränkung des Staates auf eine Ordnungs- u n d Siche-


rungsfunktion 22

4. Die Aufgabe der Rechtsordnung 23

5. Weltanschauliche Grundzüge der liberalen Staatstheorie 24

I I . Kritische Würdigung: Die pauschale Betrachtungsweise der anti-


liberalen Strafrechtswissenschaft 25

I I I . Liberales Gedankengut in den Lehren der beiden Strafrechtsschulen


aus der Sicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft 28

1. Die klassische Schule 29

a) Der Strafbegriff 29

b) Das Verbrechenssystem 33

c) Die Methode 37

d) Die Sonderstellung Bindings 37

2. Die moderne Schule 41

a) Der Strafbegriff 42

b) Das Verbrechenssystem 44

c) Die Methode 46
8 Inhaltsverzeichnis

2. Kapitel

Der irrationale Zeitgeist als Voraussetzung


des Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft 47

I. Die Lebensphilosophie 47

I I . Die Phänomenologie 49

I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß 51

3. Kapitel

Das neue Staatsverständnis als Ausgangspunkt der


strafrechtswissenschaftlichen Gegenbewegung zum Liberalismus 56

I. Die Kritik der antiliberalen Strafrechtswissenschaft am Liberalis-


mus 57

1. Entartung des Freiheitsgedankens 57

2. Entleerung des Staatsbegriffs 58

3. Wider die parlamentarische Demokratie 59

4. Der „undeutsche" Liberalismus 60

I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses 60

1. Das Menschenbild 60
2. Der Staat als Lebensform des Volkes 62
a) Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs 63
b) Der „konkrete" Gleichheitsbegriff 64
3. Die Staatsform 64
a) Das Führerprinzip 65
b) Der Regierungsstaat 66
4. Der staatliche Wirkungsbereich (Totaler oder autoritärer Staat?) 66

I I I . Die aus dem antiliberalen Staatsverständnis hervorgegangene Auf-


fassung vom Wesen des Rechts und von seinen Aufgaben 67

1. Der antiliberale „Rechtsstaat" 67

2. Die Quelle des Rechts 69

3. Recht u n d Wert 71

4. Recht u n d Sitte 74

5. Recht u n d Gesetz 75
Inhaltsverzeichnis

4. Kapitel

Der Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft bis zur


Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates 76

I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 76

1. Die Reformarbeiten bis 1930 76

a) Der E n t w u r f Radbruchs 1922 76


b) Der E n t w u r f 1925 78
c) Der E n t w u r f 1927 78
d) Der E n t w u r f 1930 79

2. Die unterschwellige Reformgegnerschaft gegen Ende der zwan-


ziger Jahre 80
a) Die hochschulinterne Diskussion 80
b) Die R e f o r m k r i t i k E, Wolfs 81

3. Antiliberale R e f o r m k r i t i k i m politischen Schrifttum 85

a) A . E . G ü n t h e r 87
b) Nicolai 90

4. Die Tagung der deutschen Landesgruppe der Internationalen


Kriminalistischen Vereinigung i n F r a n k f u r t a. M . i m September
1932 91
a) Der Verlauf der Tagung 93
b) Das Ergebnis der Tagung 99

I I . Die Fortsetzung und Erweiterung der Auseinandersetzung um die


„liberale" Strafrechtsreform in der Zeit des Umsturzes 101

1. Die antiliberale Kampfschrift von D a h m und Schaff stein


„Liberales oder autoritäres Strafrecht?" 103

2. Die Hauptangriffspunkte 105

a) Die liberalistische Bestimmung der Strafzwecke 106


b) Der Individualismus i n der Rechtsgüterordnung 108
c) Die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips zugunsten
des Rechtsbrechers 109

3. Einseitigkeiten u n d Widersprüche i n den Angriffen gegen das


„liberale" Straf recht 111

a) Das Fehlen eines Nachweises f ü r einen Anstieg der K r i m i -


nalität 111
b) Die Unterschlagung der Verschärfungstendenzen i n Recht-
sprechung und Gesetzgebung 112
c) Widersprüche i n der Argumentation 117
10 Inhaltsverzeichnis

I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 118

1. Der Verlauf der antiliberalen Gegenreform 119

2. Die Thematik der antiliberalen Strafrechtsprogramme 122

3. Übereinstimmende Forderungen der antiliberalen Gegenrefor-


mer zum Besonderen T e i l 124

4. Die unterschiedlichen Vorstellungen zum Strafbegriff 128

a) Die Neuklassiker 128


b) Α . E. Günther 132
c) Die „jüngeren K r i m i n a l i s t e n " 135
d) Nicolai 147

5. Die politischen Standorte der antiliberalen Richtungen 150

a) Einordnungsversuche von dritter Seite 152


b) Eigener Einordnungsversuch 153
aa) Nicolai 153
bb) Α. E. Günther, die „jüngeren Kriminalisten" und die
„Konservative Revolution" 153

cc) Die Neuklassiker 158

I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 159

1. Das antiliberale Verteidigungskonzept 160


2. Die Annäherung an das autoritäre Strafrecht 162

3. Die Verteidigung liberaler Prinzipien durch einige Reform-


anhänger 165

5. Kapitel

Antiliberales Denken in der strafrechts-


wissenschaftlichen Diskussion während des Dritten Reiches 167

I. Die Verlagerung der Diskussion von kriminalpolitischen auf dog-


matische Fragen 167

1. Der Verlauf der straf rechtswissenschaftlichen Auseinanderset-


zung nach 1933 167

2. Die an den Angriffen gegen eine liberale Strafrechtsdogmatik


beteiligten Wissenschaftler 169

3. Das neue Wissenschaftsverständnis: Die „politische" Strafrechts-


wissenschaft 169

4. Die allgemeine Anerkennung des „totalen" Staates als richtung-


weisendes Prinzip 171
Inhaltsverzeichnis

I I . Der materielle Verbrechensbegriff als Ausgangspunkt der neuen


Dogmatik 172

1. Die Begründung für das Erfordernis eines materiellen Ver-


brechensbegriffs 172

2. Die Verwerfung bisheriger materieller Verbrechensbegriffe 174

a) Überblick über voraufgegangene materielle Verbrechens-


begriffe 174
b) Allgemeine Einwände der Antiliberalen gegen die bisherigen
materiellen Verbrechensbegriffe 175
c) Die antiliberale K r i t i k an der Rechtsgutslehre 177

3. Der materielle Verbrechensbegriff der antiliberalen Strafrechts-


wissenschaft 182
a) Das Verbrechen als Pflichtverletzung 185
b) Das Verbrechen als Verrat 186
c) Das Verbrechen als Ausdruck einer niedrigen Gesinnung 188
d) Die neue Täterlehre 1.89

I I I . Der Kampf gegen das Analogieverbot 192

I V . Die Bestrebungen zur Erneuerung der strafrechtlichen Auslegungs-


methode 196

1. Die entschiedene Gegnerschaft zur teleologischen Methode 196

2. Bedenken gegen die Interessenjurisprudenz i m Strafrecht 199

3. Die F u n k t i o n des Strafgesetzes aus antiliberaler Sicht 202

4. Die ganzheitliche u n d wesenhafte Gesetzesauslegung 203

5. Die Lehre v o m Tätertyp 208

6. Die Einschränkung der Auslegungsfreiheit durch das Führer-


prinzip 212

V. Die Angriffe gegen die begriffliche und systematische Zergliede-


rung des Verbrechens und die Forderung nach einer wesenhaften
und ganzheitlichen Begriffsbildung und Verbrechenssystematik . . . 214

1. Der K a m p f gegen allgemeine abstrakte Begriffe u n d gegen das


„Trennungsdenken" 214

2. Die Angriffe gegen die Untergliederung des Tatbestandes 216

a) Die Bekämpfung des naturalistischen Handlungsbegriffs 217


b) Die Forderung nach Überwindung der Trennung v o n T a t -
bestandsmäßigkeit u n d Rechtswidrigkeit 219
c) Die ganzheitliche u n d wesenhafte Betrachtung des Unrechts 221
12 Inhaltsverzeichnis

3. Die Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung zwischen


Rechtswidrigkeit u n d Schuld 222
4. Das antiliberale „Verbrechenssystem" 226

V I . Die Auswirkungen des neuen strafrechtlichen Denkens in Einzel-


problemen 227

1. Die Forderung nach Ersetzung des Territorialitätsprinzips durch


das Personalitätsprinzip 227
2. Die Gleichstellung von Versuch u n d Vollendung 228
3. Die Gleichstellung von Täterschaft u n d Teilnahme 229
4. Die Lösung der Problematik unechter Unterlassungsdelikte m i t
Hilfe des Pflichtverletzungsgedankens u n d der Tätertyplehre . . . 229

VII. Der Antiliberalismus im Strafprozeßrecht: Die Auflösung des


Legalitätsprinzips 234

V I I I . Philosophische Hintergründe der antiliberalen Strafrechtswissen-


schaft 236

1. Der Einfluß der Phänomenologie 236


2. Das konkrete Ordnungsdenken i n der damaligen Strafrechts-
wissenschaft 238
3. Der Einfluß des Neuhegelianismus 239

IX. Die geringe Bedeutung liberaler Argumente auf Seiten der Ver-
teidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 240

6. Kapitel

Schlußbetrachtung 247

I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase 247

1. Die antiliberale Straf rechtswissenschaft als T e i l der straf rechts-


wissenschaftlichen Gesamtentwicklung 247

2. V o m Positivismus zum materiellen Verbrechensbegriff und


zurück 251

3. Gemeinschaftsdenken und autoritäres Denken — der W i d e r -


spruch i m Denken der antiliberalen Strafrechtswissenschaft 252

4. Die politische Bedeutung der antiliberalen Strafrechtswissen-


schaft 253

I I . Die Bedeutung des liberalen Strafrechts in der Straf rechtswissen-


schaft der unmittelbaren Nachkriegszeit 254

I I I . Die Bedeutung des liberalen Strafrechts in der Gegenwart 259


Inhaltsverzeichnis

I V . Überlegungen zu einer Wiederaufnahme der Liberalismusdiskus-


sion im Strafrecht 263

1. Der K e r n eines liberalen Straf rechts 264

a) Der Strafbegriff 266


b) Das Verbrechenssystem 267
c) Die Methode 268

2. Ansatzpunkte f ü r liberale u n d antiliberale Tendenzen 269

a) Die (kriminal-)politische Zurückhaltung 269


b) Der formale Gleichheits- u n d Freiheitsbegriff 270
c) Das starre System, die abstrakte Begriffsbildung 272
d) Das begrenzte Betätigungsfeld des liberalen Strafrechts 273

Literaturverzeichnis 277
Abkürzungen

AkDR Akademie f ü r Deutsches Recht


ArchRSozPh Archiv für Rechts- u n d Sozialphilosophie
ArchRWPh Archiv für Rechts- u n d Wirtschaftsphilosophie

DJ Deutsche Justiz
DJZ Deutsche Juristenzeitung
DR Deutsches Recht
DRiZ Deutsche Richterzeitung
DRWis Deutsche Rechtswissenschaft
DStR Deutsches Strafrecht

GA Goltdammers Archiv
GS Der Gerichtssaal

IKV Internationale Kriminalistische Vereinigung

Jb. der Gef.ges. für Jahrbuch der Gefängnisgesellschaft für Sachsen und
Sachsen u n d A n h a l t Anhalt
JR Juristische Rundschau
JW Juristische Wochenschrift

KrimMon Kriminalistische Monatshefte

MSchrKrimBio Monatsschrift für Kriminalbiologie u n d Strafrechts-


reform
MSchrKrimPsych Monatsschrift f ü r Kriminalpsychologie u n d Strafrechts-
reform

RuS Recht u n d Staat


RG Reichsgericht bzw. Reichsgerichtsentscheidung i n Straf-
sachen
SchwZStR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
SJZ Süddeutsche Juristenzeitung
StrRG Strafrechtsreformgesetz
VO Verordnung

WRV Weimarer Reichsverfassung

ZAkDR Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht


ZfKulturph Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie
ZRPh Zeitschrift für Rechtsphilosophie i n Lehre u n d Praxis
ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStaatW Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Strafrechtswissenschaft der


zwanziger und dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts. Beabsichtigt ist,
die Geschichte der Strafrechtswissenschaft über den Streit der beiden
Strafrechtsschulen hinaus fortzuschreiben. Dieses Gebiet ist bisher
vernachlässigt worden; die Lücke kann erst allmählich geschlossen
werden. Die folgende Darstellung beschränkt sich daher auf einen
bestimmten Aspekt der damaligen Strafrechtswissenschaft, auf deren
Kampf gegen ein liberales Strafrecht.
Die Untersuchung ist zugleich gedacht als ein Beitrag zur Wissen-
schaftsgeschichte unter dem Einfluß des Nationalsozialismus. Sie geht
von der These aus, daß die nationalsozialistische Machteroberung i m
Bereich der Strafrechtswissenschaft keinen Umbruch herbeiführte,
sondern lediglich Entwicklungstendenzen stark forcierte, die i n der
voraufgegangenen Periode schon angelegt waren. Als ein Bindeglied
zwischen der vornationalsozialistischen und der nationalsozialistischen
Strafrechtswissenschaft ist der Antiliberalismus anzusehen.
Geplant ist, vor allem die Argumente gegen ein liberales Strafrecht
und die Argumentationsweise darzulegen. Weniger Gewicht ist auf
eine Untergliederung nach den beteiligten Personen gelegt. Zur Grund-
lage der Sachdarstellung wurden i n besonderem Maße die Arbeiten von
zwei Strafrechtswissenschaftlern gemacht, von Dahm und Schaffstein.
Sie bildeten schon vor dem politischen Umsturz des Jahres 1933 die
treibende K r a f t i m Kampf gegen den Liberalismus. Danach konnten
sie ihren Einfluß noch durch Mitarbeit i n der amtlichen Strafrechts-
kommission verstärken. I n ihrer gemeinsamen Tätigkeit an der Uni-
versität K i e l von 1935 bis 19391 gaben sie dem Kampf gegen ein
liberales Straf recht wichtige Impulse.
Den weitaus größten Raum i n der gesamten Untersuchung nehmen
die antiliberalen strafrechtswissenschaftlichen Anschauungen ein, die
von einer politisch rechtsgerichteten Haltung geprägt waren. Diese
Seite bekämpfte das liberale Strafrecht am lautstärksten und versetzte
i h m den entscheidenden Stoß. Darüber hinaus w i r d aber auch der Ver-

1 Dahm wechselte 1939 nach Leipzig; Schaff stein ging 1941 von K i e l nach
Straßburg. Dort traf er wieder m i t Dahm zusammen, der ebenfalls 1941 i n
Straßburg tätig wurde.

2 Marxen
18 Einleitung

such unternommen, Parallelitäten und Affinitäten auf der Seite der


politischen Gegner herauszuarbeiten.
Da der angesprochene Zeitraum bisher noch keine umfassende und
gründliche historische Untersuchung i m Hinblick auf die Strafrechts-
wissenschaft erfahren hat, ist die folgende Darstellung vorwiegend
als Vorarbeit gedacht, d. h. als Materialsammlung, -Sichtung und
-Ordnung. Die Aufgabe einer historischen Analyse in Form einer
Einordnung i n größere Zusammenhänge konnte nur i n Ansätzen
bewältigt werden. Dazu ist der Versuch zu rechnen, die antiliberale
Strafrechtswissenschaft als Ergebnis und als Teil der irrationalen
Zeitströmung verständlich zu machen 2 . Die Abhängigkeit eines liberalen
und ebenso eines antiliberalen Strafrechts von bestimmten Staats-
vorstellungen gab zudem Anlaß zu einer gesonderten Betrachtung der
staatstheoretischen Zusammenhänge 3 .
Die Arbeit orientiert sich entsprechend ihrer Zielsetzung am originä-
ren Schrifttum des Untersuchungszeitraums. Nicht aus Geringschätzung,
sondern u m der methodischen Klarheit w i l l e n wurde Sekundärliteratur
nur i n beschränktem Maße herangezogen 4 , und zwar i m wesentlichen
dort, wo sie zur Rekonstruktion früherer strafrechtswissenschaftlicher
Auffassungen notwendig erschien 5 . Da die Untersuchung i n erster Linie
das Ziel einer Stoffsammlung und -aufbereitung verfolgt, wurde darauf
verzichtet, von einem eigenen Standpunkt aus zu bestimmen, was ein
liberales und was ein antiliberales Strafrecht ist. Ein einführendes
Kapitel enthält, was die antiliberale Strafrechtswissenschaft als typisch
liberales Strafrecht betrachtete, nämlich die Anschauungen der Straf-
rechtswissenschaft am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Dieses liberale Strafrecht w i r d aus der Sicht des strafrechtlichen
Antiliberalismus referiert.
Bei dieser A r t des Vorgehens ist mit dem Einwand zu rechnen, daß
ein historischer Standpunkt eingenommen werde, der ziel- und nutzlos

2 2. Kapitel.
3 3. Kapitel.
4
Wer sich m i t dem untersuchten Zeitraum beschäftigt hat, w i r d vielleicht
einige neuere Analysen aus politischer u n d soziologischer Sicht gerade bei
der Behandlung staatstheoretischer Fragen vermissen. A u f dieses Schrifttum
wurde verzichtet, u m die Gedankenführung i n festen Bahnen zu halten.
Untersucht werden lediglich die staatstheoretischen Anschaungen der dama-
ligen antiliberalen Strafrechtswissenschaft. — Damit hat sich neuerings
Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216 ff. befaßt, allerdings i n sehr knapper
Form, ohne die Breite der Quellenliteratur v o l l auszuschöpfen.
5
I m 5. K a p i t e l wurde dieser Rahmen ein wenig ausgedehnt. I m Gegen-
satz zu der i m allgemeinen wenig ergiebigen Sekundärliteratur haben sich
einige neueren Arbeiten m i t dem dort abgehandelten Themenkreis intensiv
befaßt, so vor allem die Arbeiten von Sina , Amelung u n d Hassemer zum
Rechtsgutsbegriff.
Einleitung 19

sei. Die Thematik ermöglicht, dem Einwand zu begegnen, ohne i n aller


Breite auf Probleme historischer Darstellung und Wertung einzugehen.
Die antiliberale Strafrechtswissenschaft hat die nationalsozialistische
Strafrechtspraxis vorbereitet und begleitet. Die Beschäftigung m i t dem
historischen Prozeß des strafrechtlichen Antiliberalismus läßt daher
ganz bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung des Straf-
rechts nach dem Abschluß der antiliberalen Phase entstehen, die
jedenfalls nach außen mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs
beendet wurde. Objekt dieser Erwartungen, die mit dem Stichwort
zusammengefaßt werden können: Völlige Abkehr von antiliberalen
nationalsozialistischen Strafrechtslehren, ist nicht nur die Strafrechts-
wissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit; denn sie hat die A n -
sätze für die Strafrechtswissenschaft der Gegenwart geliefert. Ein
Bruch i n der Entwicklung läßt sich nicht feststellen. Die Frage, ob auf
die Zeit des strafrechtlichen Antiliberalismus angemessen reagiert
wurde, muß auch heute noch beantwortet werden. Eine genaue Kenntnis
des historischen strafrechtlichen Antiliberalismus ist dafür unerläßlich.
Dazu beizutragen, ist das hauptsächliche Anliegen dieser Untersuchung.
Die Schwierigkeiten einer Verwertung der historischen Erfahrung i n
der Gegenwart und mögliche Ansätze dafür werden i m abschließenden
Kapitel angesprochen.

2*
1. Kapitel

Der Liberalismus in der Strafrechtswissenschaft


des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aus der
Sicht der Vertreter eines Antiliberalismus

Die Gegner des liberalen Strafrechts verstanden sich primär als


Gegner des liberalen Staates. Immer wieder betonten sie, daß das
Straf recht nur eine Funktion der jeweils herrschenden Staatstheorie
darstelle 1 . Soweit strafrechtliche Lehrmeinungen, Methoden, Begriffe
auf das liberale Staatsbild zurückgeführt werden konnten, ordnete
man sie dem liberalen Strafrecht zu. Ihre Ablehnungsbedürftigkeit
folgte aus der Verwerfung der liberalen Staatsauffassung. Da bei dieser
A r t des Vorgehens die liberale Staatstheorie stets den Ausgangspunkt
bildete, schickten die Vertreter der antiliberalen Richtung ihrer Dar-
stellung der verflossenen Epoche der Strafrechtswissenschaft häufig
eine Erörterung des liberalen Staatsverständnisses voraus 2 . Auf Grund
der Thematik ist ohne weiteres verständlich, daß Untersuchungen der
Staatsrechtswissenschaft, i n der zur selben Zeit ebenfalls starke anti-
liberale Strömungen auftraten, als Grundlage dienten oder daß zumin-
dest darauf Bezug genommen wurde 3 .
Die Vertreter eines antiliberalen Strafrechts i n den zwanziger und
dreißiger Jahren waren sich i n der Beurteilung der vergangenen straf-
rechtswissenschaftlichen Epoche i m wesentlichen einig. Daher werden
sie i m folgenden auch noch ohne weitere Unterscheidung herangezogen.
Die anschließenden Kapitel werden Auskunft über die Besonderheiten
einzelner Personen und Richtungen innerhalb der antiliberalen Straf-
rechtswissenschaft geben 4 .

ι Vgl. Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 7;


Henkel, Straf rieh ter u n d Gesetz, S. 38, 46 u n d 50; Finke, L i b . u n d Strafver-
fahrensrecht, S. 6; Fr eisler, i n : Nat. soz. Strafrecht, S. 6; Siegert, Grundzüge,
S. 2.
2
Vgl. z.B. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 11 ff. u n d 24 ff.; Rauch, Die
klass. Strafrechtslehre, S. 25 f.
3
Der Zielsetzung der Untersuchung entsprechend wurde die i m folgenden
zitierte staatsrechtliche L i t e r a t u r nicht selbständig herangezogen, sondern
nur, soweit sie Eingang i n das strafrechswissenschaftliche Schrifttum ge-
fungen hat.
4
Vgl. insbesondere 4. Kap. I I I .
I. Die liberale Staatstheorie 21

I. Die liberale Staatstheorie in der Darstellung


der antiliberalen Strafrechtswissenschaft

1. Das Individuum im Mittelpunkt

Wesentliches trat nach antiliberaler Auffassung bereits i m Denk-


ansatz hervor, dem das Phänomen „Staat" von der liberalen Staats-
theorie unterworfen wurde, i n der Frage nach dem Sinn und Zweck
des Staates und seiner Einrichtungen 5 : Weder verstehe sich die Existenz
des Staates danach von selbst, noch bleibe er menschlicher K r i t i k
entzogen, w e i l seine Macht überirdischen Ursprungs sei; der Mensch
beanspruche ob seiner geistigen Kräfte und Fähigkeiten die letzte
Entscheidung über die Daseinsberechtigung des Staates für sich.
Dieses der Einzelperson eigene Selbstbewußtsein bilde die Grund-
lage für die liberale Auffassung, daß der Staat seine Existenz dem
„freiwilligen Zusammenschluß" 6 der Menschen verdanke und daß der
einzelne „Ausgangs- und Zielpunkt" 7 sei. „Die humanistische Tendenz
des Liberalismus" 8 , „der Glaube an den guten Menschen" 9 , „die Ver-
legung aller bewegenden Kraft, aller schöpferischen Impulse i n den
isolierten Menschen" 10 machten aus antiliberaler Sicht den individua-
listischen Kern des Liberalismus aus 11 .
Der Staat solle allein dem Wohl des einzelnen dienen, indem er dem
vernünftigen und zweckmäßig handelnden Menschen, der seine Inter-
essen selbst am besten zu wahren wisse, ein möglichst weites Feld zu
freier Betätigung belasse. Uber Gebühr egoistische Ziele zu verfolgen,
werde dieser i m „wohlverstandenen Eigeninteresse" unterlassen, „ w e i l
jeder einzelne auf die Rücksichtnahme und das Wohlwollen der übrigen
angewiesen ist" 1 2 . Die Funktion des Staates bestehe i n diesem System
somit nur i n der Absicherung der erforderlichen Grenzen; i h m obliege
es, dafür zu sorgen, „daß sich die Persönlichkeit frei entfalten kann,
lediglich beschränkt durch die Rücksichtnahme auf die gleiche Freiheit
des Mitmenschen" 13 .
5
Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 23 ff.; vgl. näher zu
Welzels damaliger antiliberaler H a l t u n g 1. Kap. I I I . 2. A n m . 135.
6 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 9.
7 Freisler, D J 1935, S. 1248.
8 Finke, S. 7.
9 Forsthoff, Der totale Staat, S. 21.
10 Ebd., S. 10 f.
11
Vgl. Finke, S. 13; Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf-
recht?, S. 10.
12
Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 15; vgl. auch Henkel,
Strafrichter u n d Gesetz, S. 57.
13
Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 13; vgl. auch Freisler,
D J 1935, S. 1249.
22 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

Zur tieferen Begründung verweise der Liberalismus auf ursprüng-


liche Freiheitsrechte, die nicht auf staatlicher Verleihung beruhten und
unabhängig von staatlicher Anerkennung bestünden 14 . Ihre schranken-
lose Ausübung würde jedoch ein vernünftiges menschliches Miteinander
verhindern und sie letzten Endes selbst zunichte machen. Die Menschen
opfern daher einen Teil ihrer natürlichen Freiheit, indem sie sich zum
Staat zusammenschließen, der „ i m Dienste der Wahrung größtmöglicher,
m i t dem gesellschaftlichen Zusammenleben verträglicher Freiheit
steht" 1 5 .

2. Die liberale Gesellschaftstheorie

Fremd steht die liberale Staatsauffassung nach Ansicht der anti-


liberalen Rechtswissenschaft dem Gemeinschaftsgedanken gegenüber 16 .
Der weite Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen werde dem
Gebiet des Gesellschaftlichen zugeordnet, das als eine „ i n sich ruhende,
durch eigene spontane Gesetze i n geordnete Bewegung gehaltene
soziale Realität" 1 7 betrachtet werde, i n der die gegensätzlichen indivi-
duellen Interessen zur Austragung gelangen. Die selbsttätige regulie-
rende Funktion der Gesellschaft bestehe darin, „daß sich der Wider-
streit der Interessen i n einem harmonischen Ausgleich auflöst" 1 8 , der
letztlich wieder dem Individuum zugute kommt. Gegenüber dem
autonomen Gesellschaftsbereich habe der Staat zurückzutreten und
sich darauf zu beschränken, „die Gesellschaft i n der Gesetzmäßigkeit
ihrer Fortentwicklung zu erhalten" 1 9 , indem er Verletzungen der
natürlichen Gesetze durch „nichtangepaßte, die Grenzen gleicher Frei-
heit überschreitende Individuen" 2 0 entgegentritt 2 1 .

3. Die Beschränkung des Staates auf eine


Ordnungs- und Sicherungsfunktion

I n diesem System, so sahen es die Vertreter des Antiliberalismus,


w i r d der Staat auf eine Garantiefunktion für die persönlichen Freiheits-

14
Vgl. Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 10; vgl. auch Dannenberg, L i b . u n d
Straf recht i m 19. Jahrh., S. 7. Dannenberg k a n n allerdings nicht der anti-
liberalen Strafrechtswissenschaft der zwanziger u n d dreißiger Jahre zuge-
rechnet werden, w i e sie von Dahm u n d Schaffstein repräsentiert wurde.
Anders als diese sah er nicht i m Positivismus, sondern i m Naturrecht die
rechtliche Erscheiungsform des Liberalismus.
is Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47.
16 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 10; H. Lange, RuS H. 102, S. 2.
17 Forsthoff, Der totale Staat, S. 21.
is Ebd., S. 21.
19 Ebd., S. 22.
20 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 21.
21 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 50.
I. Die liberale Staatstheorie 23

rechte und die Betätigungsfreiheit des Individuums i m gesellschaft-


lichen Raum sowie auf eine Ordnungs- und Sicherungsfunktion für
die gesellschaftlichen Abläufe verwiesen 22 . Seine Leistung bestehe i n
der „Versicherung auf größtmögliche Ungestörtheit i n der privaten
Existenz" 2 3 . Eine zutreffende Kennzeichnung enthalte die Lasallesche
Wortschöpfung „NachtwächterStaat" 24 . Die staatliche Machtausübung
unterliege einer immanenten Beschränkung: „Wo der Staat diese nur
durch die Rücksichtnahme auf die Mitmenschen begrenzte Freiheit
weiter einschränken w i l l , überschreitet er seine Machtbefugnisse und
begeht selbst Unrecht 2 5 ." Die liberale Furcht vor Ubergriffen des
„Leviathans Staat" 2 6 sei der Grund dafür, daß die Schranken der
Staatsgewalt durch Institutionen abgesichert würden: Das Gewalten-
teilungsprinzip sorge für eine Aufsplitterung und eine gegenseitige
Hemmung und Überwachung der Teilbereiche 27 ; die Übernahme des
parlamentarisch-demokratischen Systems, die „Herrschaft aller einzel-
nen m i t dem Hilfsmittel der Repräsentation" 28 ermögliche eine völlige
Überwachung der Staatsgewalt durch den Staatsbürger. „Denn wie kann
der einzelne sich des Staates besser erwehren, als indem er sich des
Staates bemächtigt 29 ?" Indem sich der demokratische Gedanke Eingang
i n das liberale Staatsbild verschafft habe, habe das Postulat der Gleich-
heit aller Bürger, mit dessen Hilfe als Regulativ bereits die Grenze der
individuellen Freiheit bestimmt worden sei, noch größere Bedeutung
gewonnen.

4. Die Aufgabe der Rechtsordnung

Nach antiliberaler Auffassung dient i m liberalen Staat vor allem


die Rechtsordnung dazu, diesen Prinzipien i m politischen Leben zur
Wirksamkeit zu verhelfen. Sie fuße auf der Ermächtigungsgrundlage
des „Grundvertrages, des freiwilligen Zusammenschlusses der Indivi-

22 Vgl. Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 167; ZStaatW 95, S. 299; Freisler,


D J 1935, S. 1248; C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 52.
23 Forsthoff, Der totale Staat, S. 11; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d
Gesetz, S. 50.
24 Vgl. H. Lange, RuS H. 102, S. 2; Siegert, Grundzüge, S. 4.
25
Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 13; vgl. auch Finke, L i b .
u n d Strafverfahrensrecht, S. 9 u n d 14.
26 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 14; Henkel, Die Unabhängig-
keit, S. 11.
27 Vgl. Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 181; Dahm/Schaff stein, Liberales
oder autoritäres Starfrecht?, S. 9; Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 10
u. 15; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 17 f.; ders., Die Unabhängigkeit,
S. 10.
28 Freisler, D J 1935, S. 1248.
29 Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 183.
24 1. Kap. : Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

duen zum Staat durch Begebung eines Teils ihrer Freiheitsrechte" 30 .


Sie habe die doppelte Funktion zu erfüllen, „die individuelle Freiheit
zu garantieren und die Grenzen der Tätigkeit des Staates derart
festzusetzen, daß jeder einzelne nur so weit staatlichem Zwang sich zu
unterwerfen hat, wie er geeignet und notwendig war, die Freiheit zu
gewährleisten" 31 . Alles staatliche Leben steht somit i m Zeichen der
Gesetzmäßigkeit; „ i m liberalen Gesetzgebungsstaat 32 . . . erhält jede
Staatstätigkeit ihre Legitimität i n der Legalität" 3 3 . Die sich darin
äußernde „Selbständigkeit des Rechts gegenüber dem Staat" 3 4 habe die
Einreihung des Staates als juristische Person unter die Rechtssubjekte
und damit seine Unterwerfung unter die Betrachtungsweise des
bürgerlichen Rechts zur Folge 35 . U m die i n sie gesetzten Erwartungen
zu erfüllen, müsse die Rechtsordnung präzise Gesetzesformulierungen
aufweisen, die die Grenzen der individuellen Betätigungsfreiheit klar
erkennen lassen. I m Vordergrund stehe das Bedürfnis nach Rechts-
sicherheit, das nach der „äußerlichen Berechenbarkeit der Folgen
eigenen Handelns" verlange 3 6 ; die dieser Forderung entsprechenden
Rechtsregeln brauchten eine „innere Gerechtigkeit" nicht zu enthalten 3 7 .
Die Führungsrolle übernehme so der Positivismus, der den „Dualis-
mus von Recht und Sitte" i n sich berge 38 .

5. Weltanschauliche Grundzüge der liberalen Staatstheorie

Der liberalen Staatsauffassung, wie sie von den Gegnern des liberalen
Strafrechts dargestellt wurde, haften i n unlösbarer Verbindung die
Züge einer komplexen, weitgespannten weltanschaulichen Grundhaltung
an 3 9 , deren Gehalt von den Verfechtern eines antiliberalen Strafrechts

30 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 9 f.


31 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 14.
32 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 40 f., bediente sich hier der von
C. Schmitt eingeführten Dreiteilung i n der Staatstypenlehre, die den Ge-
setzgebungs-, den Justiz- oder Jurisdiktions- u n d den Regierungsstaat unter-
scheidet; vgl. C. Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung, S. 75; ders., Legalität
u n d Legitimität, S. 7 ff.
33 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 41. -
34 Dannenberg, L i b . u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 51.
35 Vgl. Höhn, Wandlung, S. 13 ff., Hoffmann, Die Analogie i m Strafrecht,
S. 16; H. Lange, RuS H. 114, S. 10 f.; Schaffstein, DJZ 1934, Sp. 1174 ff.; C.
Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 52.
36 H. Lange, RuS H. 102, S. 5.
37 Ebd.; ausführlich dazu: Krüger ZStW 54, 595 ff.; vgl. auch Dannenberg,
Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 9.
38 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 15; vgl. auch Henkel, Straf-
richter u n d Gesetz, S. 15 u n d 60; H. Lange, RuS H. 102, S. 6.
39 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 20.
I I . Kritische Würdigung 25

mit folgenden Attributen umrissen wurde 4 0 : Sie sei „individualistisch",


w e i l der Mensch i m Mittelpunkt stehe und alles Streben der Sicherung
eines möglichst großen Freiheitsraumes für das Individuum gelte,
„rationalistisch" und „naturalistisch", w e i l der Mensch nur seinen
Verstandeskräften vertraue, nur die Welt des Sichtbaren, Einsehbaren,
Überprüfbaren anerkenne. Dem Prinzip größtmöglicher Freiheit des
einzelnen liege der „utilaristische" Gedanke zugrunde, daß der „mate-
rialistisch" eingestellte, vernünftig denkende und maßvoll handelnde
Mensch seine Ziele selbst am besten zu verfolgen wisse und auf diesem
Wege zugleich das Wohl der anderen fördere. Der Vorstellung von
einem Staat „ohne Gehalte" 4 1 , der lediglich die der individuellen Frei-
heit dienende Ordnung zu wahren habe, entspreche eine „relativistische"
Einstellung. Schließlich komme „positivistisches" Gedankengut i m Vor-
rang der äußeren Rechtssicherheit zum Vorschein.

I I . Kritische Würdigung:
Die pauschale Betrachtungsweise
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft

Bemerkenswert an diesem B i l d der liberalen Staatstheorie i n der


antiliberalen Strafrechtswissenschaft ist vor allem seine „Ungeschicht-
lichkeit" 4 2 : Der Liberalismus w i r d als festgefügtes, starres System dar-
gestellt. Die Vernachlässigung der geschichtlichen Entwicklung t r i t t
deutlich hervor, wenn als Ausgangspunkt des Liberalismus gleicher-
maßen absolute Freiheitsrechte und das utilaristische Prinzip genannt
werden. V ö l l i g unberücksichtigt bleibt der geschichtliche Entwicklungs-
prozeß, den das liberale Gedankengut von der anfänglichen naturrecht-
lichen Begründung liberaler Forderungen bis zur rein utilaristischen
Konzeption J. St. Mills durchlaufen hat, der ausdrücklich darauf ver-
zichtete, sein liberales System auf absoluten Freiheitsrechten aufzu-
bauen 43 .
Zwar wurden i m antiliberalen strafrechtlichen Schrifttum vereinzelt
Versuche unternommen, die geschichtliche Entwicklung des Liberalis-

40
Insgesamt dazu Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 20 ff. ;
Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 18 f., Finke, l i b . u n d Strafverfahrens-
recht, S. 12 ff.; zum Zusammenhang zwischen Liberalismus, Rationalismus
u n d Individualismus: Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 27.
4
1 Forsthoff, Der totale Staat, S. 13.
42
Der Ausdruck stammt von ff. Marcuse, Der K a m p f gegen den Libera-
lismus, S. 21, der der nationalsozialistischen Weltanschauung des „heroisch-
völkischen Realismus" diese Ungeschichtlichkeit bei der Bekämpfung des
Liberalismus v o r w i r f t .
43
Mill , On Liberty, S. 132.
26 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

mus aufzuzeigen 44 I n der Regel boten sie jedoch nicht mehr als einen
groben Uberblick i n der Form einer gerafften Darstellung, die letzten
Endes doch wieder den Eindruck entstehen ließ, daß der Liberalismus
mehr eine statische Erscheinung sei 45 .
Noch schärfere Konturen erhielt dieses Bild, wo von Verbindungen
die Rede war, die der Liberalismus i m Laufe der Geschichte mit ver-
schiedenen Weltanschauungen und politischen Richtungen eingegangen
sei, wie die m i t dem Nationalgedanken i m Bismarckreich und mit dem
Sozialismus i n der Weimarer Republik 4 6 . Das gewandelte Erscheinungs-
bild des Liberalismus wurde allein den von außen an i h n heran-
getragenen Strömungen zugerechnet. Ungeprüft blieb, ob es nicht
vielmehr einem m i t innerer Notwendigkeit ablaufenden Evolutions-
prozeß entsprungen war, der ζ. B. i m wirtschaftlichen Bereich vom
krassen Individualismus des Manchestertums, der die individuelle Frei-
heit nur einer kleinen Schicht wirtschaftlich Mächtiger, aber eine
bedrückende Unfreiheit der Mehrheit zum Ergebnis hatte, zum Ge-
danken der Gemeinschaftsbindung des Eigentums zum Zwecke der
Sicherung eines Freiheitsraumes für alle führte, den die Weimarer
Reichsverfassung i n Art. 153 verankerte 4 7 .
Auch nur vereinzelt wurde angezweifelt, daß die gegen den absoluten
Staat gerichtete liberale Freiheitsbewegung für sich allein überhaupt
eine positive Staatstheorie darstellt: So verneinte C. Schmitt die Frage,
„ob aus einem reinen und folgerichtigen Begriff des individualistischen
Liberalismus eine spezifische politische Idee gewonnen werden kann.
. . . Denn die Verneinung des Politischen, die i n jedem konsequenten
Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer Praxis des Miß-
trauens gegen alle, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von
Staat und P o l i t i k " 4 8 .
Die wenig differenzierende Betrachtungsweise erklärt sich aus der
Methode, der sich die Vertreter des Antiliberalismus i n der Ausein-

44 Vgl. E. Wolf, RuS H. 103, S. 6 ff.; Siegert, Grundzüge, S. 4; vgl. auch


Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 3 ff., 7 ff., 55 ff.
45 Vgl. Finke, L i b . u n d Straf rechtsverfahren, S. 12; C.Schmitt, Der Begriff
des Politischen, S. 56 f.
46 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 7 f., 9 f.;
Siegert, Grundzüge, S. 4 f.
47 Vgl. über den Wandel zum „sozialen" Liberalismus i n der Wirtschafts-
theorie de Ruggiero , Geschichte des Liberalismus, S. 253 ff.
48 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 50; vgl. ferner: Nagler, GS.
103, S. X I f., Anm. 23 („Zersetzungsfunktion des Liberalismus"); Finke, Lib.
u n d Strafverfahrensrecht, S. 14 („Überwindung des Staates" als „ I d e a l des
Liberalismus") u n d S. 19. Forsthoff, Der totale Staat, S. 13, nennt den
liberalen Staat einen „Scheinstaat . . . (der) n u r als Wunschbild i n den Köpfen
einiger Gelehrter entstand".
I I . Kritische Würdigung 27

andersetzung m i t dem liberalen Straf recht bedienten: Aus der „histo-


rischen Analyse" gewannen sie die nach ihrer Ansicht typischen Züge
eines vom liberalen Staatsgedanken durchdrungenen Strafrechts, die
sie als Negativum ihren vom völlig entgegensetzten B i l d eines „auto-
ritären" oder „totalen" Staates geprägten Auffassungen gegenüber-
stellten. Den beabsichtigten Zweck, das Positivum der eigenen Vor-
stellung u m so strahlender leuchten zu lassen, erfüllte eine geraffte,
oberflächliche Darstellung weitaus besser als eine i n die Einzelheiten
gehende, die Grauabstufungen nachzeichnende. Auch auf die anti-
liberale Strafrechtswissenschaft t r i f f t die von H. Lange i n der Einleitung
zu seiner 1933 erschienenen Schrift „Liberalismus, Bürgerliches Recht
und Nationalsozialismus" i n aller Offenheit vorgetragenen Äußerung
zu: „Auch hier ist das Überlieferte mitunter schwärzer gezeichnet,
als es bei kühler Abwägung verdient; nur auf diesem Unter gründe
konnte das Neue klar und scharf herausgearbeitet werden 4 9 ."
Ein tieferer Grund für die „Ungeschichtlichkeit", die i n den anti-
liberalen Darstellungen des Liberalismus vorherrschte, lag i n der
revolutionären Gesinnung und i n der Freund-Feind-Ideologie des jungen
Konservatismus, der, wie später zu zeigen sein wird, die antiliberale
Strafrechtswissenschaft maßgeblich beeinflußt hat. Lückenlos fügte
sich i n diese Denkschemata die Konstruktion eines statischen Liberalis-
mus ein, der sich selbst überlebt hatte und damit zu einer „dekaden-
t e n " 5 0 Erscheinung geworden war, die unnachsichtig ausgemerzt werden
mußte. Die Forderung nach einem gewaltsamen Umsturz und die von
C. Schmitt aus seinem Begriff des „Politischen" gewonnene Aufteilung
der Welt i n Freund und Feind 5 1 ließen keinen Raum für einen Liberalis-
mus, der sich i n einem ständigen Evolutionsprozeß selbst erneuert und
damit gesellschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen vermag 5 2 .

49 H. Lange, RuS H. 192, S. I V ; sehr deutlich auch Forsthoff, Der totale


Staat, S. 8, „Politische Geschichte w i r d erst anschaulich u n d f ü r die politische
Gegenwart wichtig, w e n n sie i n zusammenfassender Kennzeichnung u n d i n
der Entgegensetzung der w i r k e n d e n K r ä f t e dargeboten w i r d . . . . Diese
Schrift steht nicht i m Dienste des historischen Erkennens, sondern der poli-
tischen Aktion. Sie bedient sich darum bewußt jenes summarischen, auf die
Herausstellung der wesentlichen Kampfpositionen gerichteten Verfahrens;
u n d die Frage, ob w i r k l i c h das Feld der W i l l k ü r betreten w i r d , soll hier
bewußt unerörtert bleiben." Vgl. auch S. 16 f.
so Dannenberg, Lib. u n d Straf recht i m 19. Jahrh., S. 10.
si Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen.
52
Die wechselvolle Geschichte der liberalen Parteien i n Deutschland be-
weist, daß ein solcher Liberalismus tatsächlich existierte. M a n vergleiche
n u r den Wandel i n den Anschauungen von der P o l i t i k der 1867 gegründeten
Nationalliberalen Partei bis zum Gründungsprogramm der Deutschen Demo-
kratischen Partei aus dem Jahre 1918; vgl. Goetz, Die Deutsche Demokra-
tische Partei, S. 88 ff.; Bussmann, Z u r Geschichte des deutschen Liberalismus
i m 19. Jahrhundert; Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien i n
28 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

Die Kampfeshaltung der Antiliberalen kam weiterhin i n der reich-


lichen Verwendung von Begriffen m i t der Endung -ismus, wie Indi-
vidualismus, Rationalismus, Naturalismus usw., zum Ausdruck. I n
seiner Berliner Rektoratsrede 1932 warnte Kohlrausch: „Jene ismen sind
ja zur Ordnung der Gedanken unentbehrlich; sie haben aber i n der Auf-
regung unserer Zeit die Tendenz, das Nachdenken vorzeitig abzuriegeln,
selber zu versteinern und dann zu Waffen zu werden i n einem Kampf,
der kaum mehr ein Kampf der Geister genannt werden kann 5 3 ."
Tatsächlich muß jeder Versuch, eine exakte inhaltliche Klärung der
Begriffe vorzunehmen, wie sie von der antiliberalen Richtung gebraucht
wurden, an ihrem schlagwortartigen Charakter scheitern. Es machte
sich hier der Einfluß der breiten antiliberalen Strömungen i m politischen
Leben der Weimarer Zeit bemerkbar: Die häufige Verwendung dieser
antiliberalen Vokabeln i n der täglichen politischen Auseinandersetzung
nahm ihnen die begriffliche Klarheit und ließ den Bedeutungsgehalt
verschwimmen. Daß die antiliberale Einstellung allmählich die Ober-
hand gewann und damit das Erfordernis einer gründlichen Ausein-
andersetzung mit dem Liberalismus immer geringer wurde, verstärkte
die Neigung, die Begriffe schlagwortmäßig, d. h. ohne eindeutige
Definition und eingehende Begründung, zu verwenden. I m übrigen
konnten gerade von den Vertretern des Antiliberalismus in der Straf-
rechtswissenschaft keine Bemühungen um begriffliche Schärfe erwartet
werden; denn sie warfen dem strafrechtlichen Liberalismus ein „zer-
gliederndes" und „zersetzendes" abstraktes begriffliches Denken vor,
das „den Keim der Zerstörung i n sich trägt" 5 4 .

Als ein vorläufiges Ergebnis, das es in der weiteren Untersuchung zu


erhärten gilt, kann festgehalten werden: Die antiliberalen Vokabeln
waren i n ihrer Unbestimmtheit durch politische Einflüsse geprägt; sie
waren ihrem Inhalt nach nahezu austauschbar; die Verwendung nur
eines dieser Begriffe Schloß die Ablehnung aller Züge des Liberalismus
zumeist mit ein.

ΙΠ. Liberales Gedankengut in den Lehren


der beiden Straf rechtsschulen aus der Sicht der
antiliberalen Strafrechtswissenschaft

Ihre Schablone des liberalen Staatsverständnisses legten die Ver-


treter der antiliberalen Richtung an das Strafrecht des ausgehenden

Deutschland, S. 122 ff., 140 ff., 195 ff.; Grebing, Geschichte der deutschen
Parteien, S. 22 ff.; vgl. auch zur D y n a m i k des Liberalismus Flach, Noch eine
Chance f ü r die Liberalen, S. 15.
53 Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche Krise, S. 9.
54 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63; vgl. 5. Kap. V.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 29

19. und beginnenden 20. Jahrhunderts an, um die darin vorhandenen


liberalen Einflüsse aufzudecken. I n den Mittelpunkt ihrer Betrachtun-
gen stellten sie die Lehrmeinungen der beiden Strafrechtsschulen, die
diesen Zeitraum beherrschten. I n welchem Umfang sie liberales Ge-
dankengut i n den beiden Strafrechtsschulen feststellten, soll i m folgen-
den Abschnitt wiedergegeben werden.
I m Bemühen um eine zutreffende Würdigung sollte dabei stets das
besondere Interesse der antiliberalen K r i t i k an der jüngeren Strafrechts-
geschichte i m Auge behalten werden: Gegen Ende der zwanziger Jahre,
so berichtet E. Schmidt 55 , breitete sich unter dem straf rechtswissen-
schaftlichen Nachwuchs an den juristischen Fakultäten die Meinung aus,
„daß die Strafrechtsreform ,individualistisch', jliberalistisch' und
Rationalistisch' sei, m i t ihrem geistig-politischen Gehalt i n die 70er Jahre
des 19. Jahrhunderts gehöre und der Förderung durch wissenschaftliche
Arbeit nicht mehr wert sei'\ Das läßt vermuten, daß die rechts-
historischen Betrachtungen der antiliberalen Richtung, zumindest so-
weit sie die jüngere Geschichte der Strafrechtswissenschaft betrafen 56 ,
am Unmut über die Strafrechtsreform teilhatten und i m Zeichen
gegenwartsbezogener Auseinandersetzungen standen 57 .

1. Die klassische Schule

Die Lehren der klassischen Schule waren, wie die i m folgenden zu-
sammengefaßt wiedergegebenen Äußerungen der Gegner des Liberalis-
mus zeigen 58 , nach ihrer Ansicht nahezu vollständig von liberalen A n -
schauungen durchwirkt 5 9 .

a) Der Straf begriff

Nach antiliberaler Auffassung war es m i t einer liberalen Grund-


haltung durchaus vereinbar, daß die klassische Schule die Vergeltung als

55 E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 412.


56 Daß auch die Arbeit i m Bereich der älteren Rechtsgeschichte nicht
immer sine ira et studio betrieben wurde, läßt die Aufforderung Schaff steins
an den Rechtshistoriker vermuten, sorgfältig die Spuren des römischen
Rechts zu verfolgen, damit es als „undeutsch ausgemerzt" werden könne
(Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 16).
57 Vgl. Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 17, der eine „ a m Poli-
tischen orientierte Strafrechtsgeschichte" fordert; s. auch ders., Z A k D R 1935,
S. 106.
58 Die Darstellung lehnt sich eng an die Arbeit von Rauch an, „Die
klassische Strafrechtslehre i n ihrer politischen Bedeutung", die, 1936 er-
schienen, die antiliberalen Stellungnahmen zu diesem Thema zusammenfaßte.
59 Nach Krüger, Z S t W 55, 112 hat die klassische Schule den liberalen
Rechtsstaatsgedanken lücken- u n d konzessionslos verwirklicht.
30 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

Grund der Strafe betrachtete. Zwar sei der Geltungsanspruch dieses


Gedankens absolut, zwar gründe er sich auf eine sittliche Forderung und
betone die Autorität des Staates 60 ; gleichzeitig befriedige aber die Ver-
geltungsstrafe das Genugtuungsbedürfnis des durch das Verbrechen
Verletzten. Sie knüpfe also an den individualistischen Gedanken an, daß
das Recht den Schutz des einzelnen zu gewährleisten habe* 1 . Dem Ein-
wand, daß jedes Strafrecht den einzelnen um des Ganzen w i l l e n
schützen müsse, stehe entgegen, daß hier i n der klassischen Lehre der
Schutz des einzelnen „ u m seiner selbst willen" zum Ausdruck komme:
„Anders kann die Berücksichtigung des Genugtuungsbedürfnisses des
Verletzten i n der Frage des Strafgrundes gar nicht verstanden werden 6 2 ."
Als A n t w o r t auf die zweckorientierte Straftheorie 63 der modernen
Schule verwandte die klassische Schule den Vergeltungsgedanken aus-
drücklich auch zur Bestimmung des Straf zwecks 64 . Die Vergeltung ver-
lange den Ausgleich des dem Täter zugerechneten Übels, u m die „ideel-
len und materiellen Güter der Gesamtheit" zu erhalten 65 . Als dem
liberalen Staatsbild entsprechend erweist sich nach antiliberaler A u f -
fassung das Verständnis der klassischen Schule vom Inhalt des Begriffs
„ Ü b e l " 6 6 : Es bestehe i m Überschreiten der durch das Recht klar und
eindeutig gezogenen Grenzen zwischen den Freiheitsräumen der

so Nach Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 26 f., befindet sich selbst dieses


autoritäre Element der klassischen Schule i n „Gedankennähe zur A u f k l ä -
r u n g " : Der Strafanspruch beziehe nach klassischer Lehre seine Autorität v o m
Gesetz. Wenn jedoch die Gesetzesbewährung oberstes Rechtsprinzip sei, so
liege darin auch eine Garantie der v o m Gesetz umgrenzten bürgerlichen
Freiheitsraumes beschlossen.
ei So Rauch, Die klass. Strafrechtslehre, S. 23; vgl. auch Dahm/Schaff stein,
Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 8; Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108.
62 Rauch, S. 23. Die antiliberale K r i t i k stützte sich u. a. auf Oetker, ZStW
17, S. 532; Birkmeyer, ZStW 16, S. 97; Köhler, Deutsches Strafrecht, A T , S. 31.
Sie erwähnte nicht, daß diese Autoren das Genugtuungsbedürfnis des V e r -
letzten n u r als neben- oder untergeordneten Gesichtspunkt anführten. Da-
neben stellten sie auf die „Gesamtheit der Rechtsschutzgenossen" (Oetker,
S. 533), auf das „ethische Bedürfnis" der Bevölkerung (Birkmeyer, S. 97) u n d
auf das „Bedürfnis der staatlich organisierten Gesellschaft nach Einschrän-
kung der Selbsthilfe" (Köhler, S. 32) ab.
63 i n Anlehnung an E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 161 w i r d dem Begriff
„Straftheorie" der Vorzug vor dem häufiger verwandten Ausdruck „Straf-
rechtstheorie" gegeben, der einen umfassenderen, aber nicht immer beab-
sichtigten Geltungsanspruch beinhaltet u n d daher mißverständlich ist; vgl.
Naucke, Kieler rechtsw. Abh. Heft 3, S. 3 A n m . 9 m i t Hinweis auf die V e r -
wendung des Begriffs „Straftheorie" schon durch Binding, Grundriß A T ,
7. Aufl., S. 203; wie hier auch Henrici, Die Begründung des Strafrechts, S. 39
u n d neuerdings Calliess, Theorie der Strafe, S. 27 ff.
64 Vgl. Birkmeyer, ZStW 16, S. 97; R. Schmidt, Die Aufgaben der Straf-
rechtspflege, S. 51 ff., 131 ff.
65 Oetker, ZStW 17, S. 329; vgl. auch R. Schmidt, Die Aufgaben der Straf-
rechtspflege, S. 131 ff.
66 Vgl. Rauch, Die klass. Strafrechtslehre, S. 25.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 31

Individuen sowie derjenigen zwischen den Wirkungsbereichen des ein-


zelnen und des Staates. Diese „Grenzwertbetontheit" 6 7 habe zur Folge,
daß bei der Feststellung des Übels der äußere Taterfolg als maßgebend
zugrunde gelegt werde, da er allein einen sicheren und überprüfbaren
Anhaltspunkt biete. Die subjektive Gedanken- und Willenssphäre werde
dem nach liberaler Uberzeugung nicht anzutastenden persönlichen
Bereich zugerechnet, der grundsätzlich einer Bewertung entzogen sei.
Lediglich i m Rahmen der Schuld finde der verbrecherische Wille zur
Regulierung der Erfolgshaftung Berücksichtigung 68 .
Die Orientierung am äußeren Erfolg war nach Ansicht der antilibera-
len Strafrechtswissenschaftler m i t dem Ziel verbunden, klare und ver-
läßliche Richtlinien zur Ermittlung der Tat und der Strafe zu ge-
winnen. A u f diesem Wege habe die klassische Schule einer zu weit-
gehenden staatlichen Machtentfaltung entgegenzuwirken versucht 69 .
Die Angriffe der modernen Schule, die dem absoluten und abstrakten
Charakter der Vergeltungsstrafe eine soziologisch fundierte Straftheorie
gegenüberstellte, veranlaßten die klassische Lehre, vom metaphysischen
Überbau der Vergeltungsstrafe abzurücken und dem Gegner mit
gleichen Waffen entgegenzutreten 70 : Da die Vergeltungsstrafe einer
nachweisbaren inneren Erwartung der Menschen entspreche, befinde sie
sich allein mit der empirisch überprüfbaren Wirklichkeit i n voller
Ubereinstimmung. Die Gegner eines liberalen Strafrechts sahen i n
der Ausschaltung jeglicher Metaphysik und der Hinwendung zum
„soziologischen Positivismus" Auswirkungen der liberalen Weltanschau-
ung 7 1 .
Auf derselben Linie lag nach ihrer Auffassung die von der klassischen
Schule vorgenommene Verschmelzung der Vergeltungsidee m i t dem
Gedanken der Generalprävention: Der Zweckstrafe der modernen
Schule hielten die Klassiker entgegen, daß die Vergeltungsstrafe eine
zugleich stabilisierende und abschreckende W i r k u n g auf die Rechts-
gemeinschaft ausübe, da sie einer allgemeinen Erwartung der Bürger
entspreche 72 . Um diesen Zweck nicht zu verfehlen, werde der äußere,

67 Gelbert, DR 1934, S. 56.


es Vgl. 1. Kap. I I I . 1. b).
es Vgl. Rauch, S. 26 m i t H i n w . auf Nagler, Die Strafe, S. 577 u n d Köhler,
Vergeltungsgedanke, S. 32.
70 Vgl. R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 51 ff.; Straf-
rechtsreform, S. 24, Nagler, Verbrechensprophylaxe, S. 144 f.
71 Rauch, S. 8 und 28 f.; Krüger, ZStW 54, S. 601, spricht von einem „ n a t u -
ralistischen Empirismus" der klassischen Schule; vgl. auch ders., ZStW 55,
S. 101 ff. u n d Welzel, DRWis 1938, S. 118.
72 Vgl. R.Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 79; Birkmeyer,
ZStW 16, S. 97; Oetker, GS 70, S. 335 f.
32 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

von jedermann sinnlich wahrnehmbare und verstandesmäßig überprüf-


bare Taterfolg zum Bezugspunkt der Strafandrohung genommen, i n
der Erwartung, daß sich der nach liberaler Anschauung von seiner Ver-
nunft geleitete Bürger diesem Appel] nicht verschließe. A u f diesem
Wege sei auch für eine Gleichbehandlung gesorgt, da jeder für den-
selben Taterfolg dieselbe Strafe zu gewärtigen habe. Liberales Gedan-
kengut werde darüber hinaus auch dadurch verwirklicht, daß die Orien-
tierung des Gesetzes am äußeren Erfolg dem Staat eine klare, feste
Grenze für seine Machtausübung ziehe. Der Gegenseite, dem Bürger,
erwachse daraus eine Freiheitsgarantie, die i h m dazu verhelfe, die
Folgen seiner Handlungen i m Voraus berechnen zu können 7 3 .
I n ihrer weiteren Entwicklung verband die klassische Schule den
Vergeltungsgedanken m i t dem Prinzip der „Gerechtigkeit" zur Forde-
rung nach „gerechter Vergeltung" 7 4 . Die antiliberale Strafrechtswissen-
schaft bewertete diesen Vorgang folgendermaßen: „Das Prinzip der
,Gerechtigkeit', von dem damit das reine Vergeltungsprinzip durch-
kreuzt wird, ist jedoch i n seinem politischen Gehalt eindeutiger Aus-
druck einer liberal-rechtsstaatlichen Haltung. Seine Verknüpfung mit
den Prinzipien bürgerlicher Freiheit und Gleichheit macht das ohne
weiteres deutlich. Die Gerechtigkeit der Vergeltungsstrafe bestimmt
sich damit von der Erwartung des einzelnen her 7 5 ." Während die reine
Vergeltungsstrafe i n ihrer Ausrichtung am äußeren Taterfolg zumindest
i n der Theorie stets nur zu einer objektiv richtigen Strafe führe, werde
durch das Gerechtigkeitsprinzip ein Strafrahmen geschaffen, der der
Verfolgung einer m i t der Vergeltungsstrafe verquickten Generalpräven-
tion Grenzen nach unten und oben ziehe. „Damit aber verliert die
Vergeltungsidee . . . endgültig den Charakter einer dem einzelnen
gegenüber erhobenen sittlichen Forderung, sie w i r d i m Gegenteil zu
einer dem Staate gegenüber erhobenen Forderung des einzelnen und
t r i t t so ausschließlich i n den Dienst der Garantierung individueller
Freiheit und Rechtssicherheit 76 ."
Den nächsten bedeutsamen Schritt zur Verwirklichung liberaler A n -
schauungen vollzog die klassische Schule nach antiliberaler Auffassung
m i t der Überführung der Vergeltungsstrafe i n eine „Rechts- oder
Gesetzesstrafe" 77 . Um die Unwägbarkeiten richterlichen Urteilens bei
73
Vgl. insgesamt dazu Rauch, S. 29 f.
74 Vgl. Birkmeyer, G A 48, S. 75 f.; Köhler, Der Vergeltungsgedanke, S. 73;
R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 107.
75 Rauch, S. 30.
76 Ebd., S. 31; vgl. Krüger, ZStW 55, S. 106 f.: Der Gerechtigkeitsgedanke
der kl. Schule werde von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit u n d des
Rechtsstaates bestimmt
77 Vgl. das Programm der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft, D J Z
1925, Sp. 1300; R. Schmidt, D J Z 1925, Sp. 1291 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Straf rechtsschulen 33

der Bewertung des Taterfolges auszuschalten, fordere sie eine strikte


Bindung des Richters an das Gesetz, das den alleinigen Bezugspunkt für
die Frage nach der Strafbarkeit und nach der Bemessung der Strafe
bilden solle. Der mit der Generalprävention i n das Vergeltungsstraf-
recht eingezogene Grundsatz „nulla poena sine lege" solle dafür sorgen,
daß die i m Gesetz fixierte Grenze zwischen Staats- und Einzelsphäre bei
seiner Anwendung nicht wieder zugunsten des Individuums verschoben
werde. Dahinter stehe das „ganze Mißtrauen des Liberalismus gegen
den Machtstaat" 78 .
Eine weitere Ausdrucksform des Satzes „nulla poena sine lege" er-
blickten die Gegner eines liberalen Strafrechts i n der Konstruktion eines
„Straf rechts Verhältnisses", i n dem der Staat und der einzelne Staats-
bürger einander gegenüberstehen 79 . Der „Strafanspruch" des Staates
und der Wirkungsbereich des einzelnen würden i n diesem Verhältnis
entscheidend vom Gesetz bestimmt. Eine „individualistische H a l t u n g " 8 0
offenbare sich in der Betrachtung des Staates als eine durch klare Grenz-
ziehung gesonderte juristische Person und i n der Vorstellung eines zu-
gunsten der Freiheitssphäre des einzelnen gesetzlich begrenzten sub-
jektiven öffentlichen Rechtes des Staates zu strafen 81 .

b) Das Verbrechenssystem

Auch in der systematischen Erfassung des Verbrechens kam die


klassische Schule den Forderungen des Liberalismus nach Auffassung
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i n fast allen Punkten nach 82 :
Dem Übergang von der Vergeltungs- zur Rechtsstrafe entspreche i m
Verbrechensbegriff der klassischen Schule die unbedingte Ausrichtung
am Gesetz. Liberales Rechtssicherheitsdenken manifestiere sich vor
allem i m Begriff der „Tatbestandsmäßigkeit", der unmittelbar m i t dem
Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" verknüpft sei. Indem die
klassische Lehre die Forderung nach absoluter Priorität des gesetz-

78 Rauch, S. 32; vgl. auch Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 27.


79 Vgl. Binding , Handbuch des Strafrechts, 1. Bd., 2. Buch: „Das subjektive
Strafrecht u n d das S traf rechts Verhältnis" (S. 475 ff.); Beling, Grundzüge des
Strafrechts, S. 11; Köhler, Deutsches Strafrecht, A T , S. 24 f.; H. Mayer, GS 104,
S. 308 f. — Kritisch dazu vor allem Schaffstein, D J Z 1934, Sp. 1174 ff., insbe-
sondere 1177.
80 Rauch, S. 33.
81 Vgl. Höhn, DR 1935, S. 266 f.; Rauch, S. 12 f. u n d 33, Schaff stein, DJZ
1934, Sp. 1176 f.
82 Ihre Zielsetzung (vgl. oben 1. Kap. II.) veranlaßte die Gegner des L i b e -
ralismus, n u r Grundzüge des formellen klassischen Verbrechensbegriffs zu
erörtern. Wichtige Teilbereiche, ζ. B. die Teilnahmelehre oder die Lehre vom
Versuch, blieben zumeist unberücksichtigt.

3 Marxen
34 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

liehen Tatbestandes zu einem Glaubenssatz, zum „Allgesetzlichkeits-


dogma" 8 3 erhebe, verstelle sie jeder K r i t i k daran den Weg. Die Rechts-
sicherheit erhalte damit als unantastbares Rechtsprinzip den Vorrang
vor der materiellen Gerechtigkeit 84 . Der Lisztsche „Magna-Charta"-
Gedanke finde i n der Form Eingang i n die klassische Schule, daß das
Strafgesetz als „Magna Charta des Nicht Verbrechers" verstanden werde,
als allgemeingültige und verbindliche Garantie der bürgerlichen Frei-
heit 8 5 . Der Tatbestandsbegriff der klassischen Schule lege daher i n
Übereinstimmung mit der Zielrichtung der Generalprävention Wert
auf „beschreibende Genauigkeit" 8 6 und verlange den Ausschluß wert-
ausfüllungsbedürftiger Begriffe. Dem Richter verbleibe die Aufgabe,
streng logisch zu subsumieren 87 .
Ein solchermaßen positivistisches Denken war nach antiliberaler A n -
sicht auch die Ursache für die Aufsplitterung des klassischen Tatbe-
standsbegriffs i n Handlung, Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Dem
Tatbestand werde ein „kausalmechanischer" 88 Handlungsbegriff vor-
gelagert, der nur auf die Frage zugeschnitten sei, ob überhaupt eine
willensgetragene menschliche Körperbewegung vorliege. Die Prüfung
des Willensinhalts erfolge erst im Rahmen der Schuld. Diese „Ent-
wesung" 8 9 des Handlungsbegriffs sei eine Station auf dem Wege zur
Beschränkung der Rechtswidrigkeit auf die fernab subjektiver, sittlicher
Erwägungen getroffene Feststellung, daß die Tat einen Eingriff i n die
äußere Ordnung staatlich überwachten zwischenmenschlichen Zusam-
menlebens darstelle 90 .
Dieselbe Denkweise offenbarte sich aus antiliberaler Sicht i n der
Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit 9 1 : Durch Ausschaltung
jeglicher Wertung aus dem Tatbestand werde die Unrechtsbewertung
allein dem Rechtswidrigkeitsbegriff überantwortet. Die Trennung von
Tatbestand und Rechtswidrigkeit entspreche der Unterscheidung von
Objekt und Wert, von Sein und Sollen. Die Subsumtion unter den Tat-
bestand bedeute somit „an sich" noch kein rechtliches Unwerturteil.

83 Vgl. Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 19.


84 v g l . Rauch, S. 35; Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 78; Henkel,
Strafrichter u n d Gesetz, S. 20.
85 Vgl. Hoegel, Die Einteilung der Verbrecher, S. 39; R.Schmidt, Grundriß,
S. 79; dazu Rauch, S. 38; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 29.
86 Rauch, S. 38.
87 Vgl. insgesamt dazu Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 27 f.
88 Rauch, S. 40; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, S. 65.
89 Berges, DStR 1934, S. 240.
9
<> Vgl. Ebd., S. 241; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 91; Welzel,
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 64 ff.
91
Vgl. dazu Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62 ff. Dahm berief sich
insbesondere auf Belings „Lehre v o m Verbrechen".
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 35

Seine Rechtfertigung beziehe dieses „An-Sich-Denken" 9 2 aus der vom


liberalen Rechtssicherheitsgedanken getragenen Forderung, den Tat-
bestand frei von Wertungen zu halten, und somit letzten Endes aus dem
Satz „nulla poena sine lege" 9 3 .
Das „Allgesetzlichkeitsdogma" des Liberalismus fanden die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler i m Rechtswidrigkeitsbegriff der-
jenigen Vertreter der klassischen Lehre wieder, die einer rein fomellen
Formulierung gegenüber jeder „materiellen" Rechtswidrigkeitsauffas-
sung den Vorzug gaben 94 : Die Rechtswidrigkeit eines Tuns steht danach
fest, wenn es einem gesetzlichen Tatbestand unterfällt und kein positiv-
rechtlicher Rechtfertigungsgrund eingreift. Wer außer- und übergesetz-
liche Wertungsmaßstäbe anwendet, entzieht dem Recht die feste, ver-
läßliche Grundlage 95 .
Soweit der Gedanke der „materiellen" Rechtswidrigkeit von der
klassischen Schule aufgenommen wurde, stellten die Vertreter der
antiliberalen Strafrechtswissenschaft einen Zusammenhang m i t dem
individualistischen Gehalt der Vergeltungsstrafe fest 9 6 : Aus der Be-
gründung der Vergeltungsstrafe m i t der Notwendigkeit, das Genug-
tuungsbedürfnis des Verletzten zu befriedigen, gehe die Auffassung von
der Rechtswidrigkeit als der Gefährdung oder Verletzung eines Rechts-
gutes hervor 9 7 . Auch an dieser Stelle werde wiederum die „Grenzwert-
betontheit" klassischen Rechtsdenkens 98 deutlich; indem die Rechtsgüter
des einzelnen i n den Mittelpunkt der Betrachtung rückten, werde der
zu schützende individuelle Interessenbereich der staatlichen Macht-
sphäre gegenübergestellt 99 . Wenn die klassische Lehre darüber hinaus
auch Rechtsgütern des Staates strafrechtlichen Schutz zukommen lassen
wolle, so offenbare sie ebenfalls darin „ein Denken liberalen und
rationalistischen Ursprungs" 1 0 0 : Hinter der Vorstellung staatlicher
Rechtsgüter verberge sich die Konstruktion einer juristischen Staats-

92 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 78.


93 Vgl. ebd., S. 78 f.
94 Vgl. Beling, Die Lehre v o m Verbrechen, S. 32; Grundzüge des Straf-
rechts, S. 13 f.; Nagler, Festschrift f ü r Binding 1911, Bd. 2, S. 273 ff.; Festgabe
für Frank 1930, Bd. 1, S. 339 ff. Gegen die häufig hervorgebrachte Behaup-
tung, die kl. Schule habe insgesamt einer formellen Rechtswidrigkeit das
Wort geredet, wandte sich H.Mayer, DStR 1938, S. 73 f.; er betonte, daß
vielmehr der Gedanke des Rechtsgüterschutzes vorgeherrscht habe.
95 Vgl. Rauch, S. 42.
96 Vgl. ebd., S. 43.
97 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. Bd., S. 169 f.; Mezger, Straf-
recht, S. 198.
98 Gelbert, DR 1934, S. 56.
99 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 98 f.; Höhn, DR 1935, S. 266.
100 Rauch, S. 44; vgl. auch Schaff stein, DStR 1935, S. 103.

3*
36 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

person mit fest umgrenzten Wirkungsbereich. Da die Gefährdung oder


Verletzung von Rechtsgütern nur an Vorgängen festzustellen sei, die i n
der Außenwelt i n Erscheinung treten, stelle der Rechtsgüterschutz-
gedanke auch i n dieser Hinsicht das Streben nach Rechtssicherheit i n
der klassischen Schule zufrieden 1 0 1 .
Eine Prüfung des Willens habe somit i m Rahmen der Rechtswidrigkeit
keinen Platz; sie gehöre ganz i n den Bereich der Schuld. Der scharfe
Schnitt zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld ermögliche es, das
Unrechtsurteil auf eine rein rechtliche Bewertung der äußeren Tat-
seite zu beschränken. I n einem solchen Rechtswidrigkeitsbegriff erfülle
sich die liberale Forderung nach Trennung von Recht und Sitte 1 0 2 .
Der erbitterte Kampf gegen die Forderung der modernen Schule, daß
nicht die Tat, sondern der Täter zu bestrafen sei, ließ die klassische
Lehre nach Ansicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i n ihrer
Auffassung von der Schuld gleichfalls i n eine extreme Position
geraten 1 0 3 : Anknüpfend an ihren auf den äußeren Taterfolg ausge-
richteten Strafbegriff messe sie selbst i m Rahmen der Schuld dem
Willen nur insoweit Bedeutung bei, als er das auf den Erfolg bezogene
Wissen und Wollen umfasse 104 . Vorrangig bleibe also die Proportionalität
von Taterfolg und Strafe; der Schuld komme nur eine gegenüber der
reinen Erfolgshaftung regulierende und schützende Funktion zu, „d. h.,
daß sie i n erster Linie Grenze und nicht selbständiger Grund der Strafe
i s t " 1 0 5 . Dieser Schuldauffassung liege eine ethische Bewertung der
Tätergesinnung fern. Sie trage zur Verwirklichung der liberalen Forde-
rung nach Gleichheit aller vor dem Gesetz bei, indem sie die zu indi-
vidueller Beurteilung herausfordernde psychische Seite der Tat hintan-
stelle. „Rein rationalistisches Gleichheitsdenken" 106 bestimme die klas-
sische Lehre, ihren Täterbegriff nicht über das anonyme „Wer" des
Strafgesetzbuches auszudehnen 107 . Der gleiche Taterfolg solle stets die
gleiche Strafe nach sich ziehen.

ιοί So Rauch, S. 47.


102 Vgl. Rauch, S. 48, m i t H i n w . auf van Calker, Ethische Werte i m Straf-
recht, S. 19.
10
3 Vgl. insgesamt dazu Rauch, S. 48 ff.
104
Vgl. Berner, Lehrbuch, S. 119 ff., R.Schmidt, Strafrechtsreform, S. 167 f.;
Beling, Vergeltungsidee, S. 62 ff.; nach Beling sollte sich die Schuld nach der
Stärke der „HemmungsVorstellung" bemessen; diese wiederum sollte sich
aus der Stärke des strafrechtlichen Schutzes ergeben.
los Rauch, S. 50.
106 Ebd., S. 51.
107 Vgl. E. Wolf, RuS H. 87, S. 19 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 37

c) Die Methode

Die antiliberale Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger


Jahre betrachtete auch die Methode der klassischen Schule als das
Ergebnis einer liberalen Grundhaltung: Sie stehe unter dem A x i o m
„rein juristischer" Arbeitsweise der Strafrechtswissenschaft 108 . Klarsten
Ausdruck habe die Verwerfung metajuristischer Gesichtspunkte bei der
Bildung strafrechtlicher Begriffe i n der Konstruktion einer formellen
Rechtswidrigkeit gefunden 109 . Individualistisches Rechtssicherheits-
denken äußere sich in der absoluten Priorität des positiven Rechts, das
nach klassischer Anschauung mittels formaler Logik auszuwerten, aus-
zulegen und zu systematisieren sei. Probleme würden i m Wege wert-
freier, streng logischer Arbeit an den Begriffen gelöst 110 . Die Ergebnisse
sollten ein hohes Maß an Sicherheit und Verläßlichkeit aufweisen, weil
sie anhand einer objektiv überprüfbaren Methode gewonnen wurden.
Den Bemühungen der klassischen Schule u m den Ausbau und die
Systematisierung des Allgemeinen Teils standen die Gegner des Libe-
ralismus ablehnend gegenüber: Durch Rückführung des geltenden Rechts
mittels immer weiter vorangetriebener Abstraktion auf wenige, all-
gemeingültige Grundsätze verfolge die klassische Schule allein das
Ziel, „die Gleichheit der Rechtsanwendung, die Eindeutigkeit und
Berechenbarkeit des Rechts und damit eben die Rechtssicherheit des
einzelnen zu gewährleisten" 1 1 1 .

d) Die Sonderstellung Bindings

Das Gesamturteil der Vertreter des Antiliberalismus über die klas-


sische Schule faßte Rauch zusammen: Sie sei stark vom liberalen Rechts-
staatsgedanken geprägt gewesen und habe jedenfalls i n ihrer späteren
Phase nur noch schwache Anzeichen der i n einem reinen Vergeltungs-
strafrechts verkörperten autoritären Staatsauffassung aufgewiesen 112 .
I n dieses Urteil schlossen einige Autoren auch die Lehre Bindings m i t

los insgesamt dazu Rauch, S. 53 ff.


i° 9 Vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. b).
no Die Gleichsetzung von klassischer Schule u n d Begriffsjurisprudenz
konnte Rauch (S. 54) n u r auf zwei wenig überzeugende Beispiele stützen:
1. Ν agier, Die Strafe, S. 556: „Das begriffliche Wesen der Strafe besteht
i n . . . " ; 2. Oetker, ZStW 17, S. 496: „Rechtsgut ist ein Zustand, der den
Menschen gut erscheint." Der zitierte Satz von Ν agier beinhaltete eine Z u -
sammenfassung; der Begriff der Strafe diente also nicht als Ausgangspunkt
für Problemlösungen. Das Oetker-Zitat w a r falsch. Bei Oetker heißt es: „ E i n
solcher Zustand erscheint dem Rechte ,gut', er ist ein Rechts,gut 4 ." Aus der
Ä q u i v o k a t i o n wurde keine Schlußfolgerung abgeleitet.
m Rauch, S. 54; vgl. auch Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 62 ff.
112 Ebd., S. 3 ff., 57 f.
38 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

ein, wie sich u. a. aus der Verwendung seines Namens als Symbol für
die klassische Schule ergibt 1 1 3 . Vorherrschend war jedoch die Meinung,
daß Binding zwar auch dem allgemeinen liberalen Zug seiner Zeit ver-
haftet gewesen sei, daß er aber viele liberalistische Elemente der
klassischen Strafrechtsschule abgelehnt habe und somit eine Sonder-
stellung einnehme 114 . So häufig tauchte sein Name i m Zusammenhang
m i t den Angriffen gegen das liberale Strafrecht auf, und so oft wurde
von den Gegnern des Liberalismus auf ihn i n Einzelfragen Bezug ge-
nommen, daß der Eindruck entsteht, Binding wurde hier als Ahnherr
und Vorkämpfer der neuen Richtung i n Anspruch genommen. Daher
erscheint es angebracht, als Exkurs und als Vorgriff auf die Darstel-
lung des Strafrechts der antiliberalen Richtung die Behandlung Binding-
scher Lehren und ihre Beurteilung i m antiliberalen Schrifttum zu-
sammengefaßt wiederzugeben, soweit sie nach Ansicht der Autoren i m
Gegensatz zum liberalen Ideengut der klassischen Schule standen und
die Gedanken der antiliberalen Richtung vorwegnahmen:
Die Strafauffassung Bindings spiegelte nach Auffassung von Rauch
und Welzel seine „konservativ-autoritäre H a l t u n g " 1 1 5 wider: Da er das
Verbrechen als eine Normwidrigkeit, als eine Gehorsamsverweigerung
gegenüber der bindenden Anordnung der Obrigkeit ansehe 116 , erschöpfe
sich für ihn das Wesen der Strafe nicht i n einer Reaktion auf die
Störung der äußeren Ordnung des Zusammenlebens, sondern sie kehre
den absolut verpflichtenden, gehorsamsfordernden Charakter der
Rechtsordnung heraus 117 . Sie diene der Bewährung des Rechts und
gelte dem Feind des Staates. I n ihr vereinigten sich rechtliche und
ethische Bewertung der verbrecherischen Tat. Da Binding an dem meta-
physischen Gehalt der Vergeltungsstrafe festhalte, räume er der
materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit ein.
Lobend erwähnten die antiliberalen Strafrechtler, daß Binding sich
gegen den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege", das daraus
resultierende Analogieverbot sowie die damit zusammenhängende

H3 Gelbert, DR 1934, S. 56; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie,


S. 22, Anm. 5; Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrhundert, S. 45,
bezeichnete Binding als „ F ü h r e r der modernen liberalen Strafrechtler"; vgl.
auch ebd., S. 24, 41.
114
So stellte Rauch i n seiner Untersuchung über den politischen Gehalt
der klassischen Schule durchgehend der klassischen Lehre die Bindingschen
Auffassungen gegenüber u n d betonte i m m e r wieder deren Eigenständigkeit;
vgl. S. 3, 15 f., 37, 40 f., 42 — „ D a m i t steht aber Binding ganz außerhalbt der
klassischen Schule" — 44 ff., 50 f., 56 f.; vgl. auch Dahm, ZStaatW 95, S. 299 f.;
ders., Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f.; Schaff stein, DStR 1935, S. 100.
us Rauch, S. 14; Welzel, DRWis 1938, S. 116.
ne Vgl. etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 186.
117 Vgl. Rauch, S. 14 ff. m. H i n w . auf Binding, Grundriß A T , S. 228.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 39

Garantie bürgerlicher Freiheit wandte 1 1 8 . Zwar habe er maßgeblich an


der Begründung der „zivilistischen" Lehre vom „Strafrechtsverhältnis"
mitgewirkt; i m Unterschied zur klassischen Schule lege er jedoch das
größere Gewicht auf die übergeordnete Position des Staates gegenüber
dem Verbrecher, dessen Freiheitsgarantie erst an zweiter Stelle interes-
siere 119 .
Diese Ausgangsposition hatte aus antiliberaler Sicht i m Verbrechens-
begriff bedeutende Abweichungen von der klassischen Lehre zur Folge:
Den Trennungen innerhalb des klassischen Tatbestandsbegriffs sei
Binding entgegengetreten. Rauch verwies auf die ablehnende Haltung
Bindings gegenüber dem naturalistischen Handlungsbegriff und sein
Eintreten für einen inhaltlich erfüllten Handlungsbegriff 1 2 0 . Noch ent-
schiedener habe er sich gegen die Auseinanderreißung von Tatbestand
und Rechtswidrigkeit zur Wehr gesetzt 121 . Seinem Verständnis von der
Norm als einem absolut bindenden Befehl habe die Vorstellung wider-
strebt, daß der Tatbestand einer Norm erfüllt sein könne, ohne daß
die Handlung zugleich rechtswidrig sei. Diesem „zergliedernden" Tat-
bestandsbegriff habe er eine „wesenhafte und ganzheitliche Betrach-
tung der Dinge" 1 2 2 gegenübergestellt, die davon ausgehe, daß der Tat-
bestand neben objektiven auch stets subjektive und wertende Elemente
enthalte, wie es Bindings Auffassung zur Strafbarkeit des ärztlichen
Eingriffs verdeutliche 1 2 3 : Die Strafbarkeit wegen Körperverletzung
sollte nicht erst deswegen ausscheiden, weil die angeblich tatbestands-
mäßige Handlung durch das Eingreifen eines Unrechtsausschließungs-
grundes gerechtfertigt werde; bereits der Tatbestand der Körperver-
letzung sei nicht erfüllt. Der Eingriff in den Körper des Patienten stelle
als Ganzes gesehen seinem Zweck nach gerade keine Gesundheitsschädi-
gung dar, sondern diene vielmehr der Gesundheitsmehrung. Schon gar
nicht könne das ärztliche Tun mit dem abwertenden Begriff „miß-
handeln" erfaßt werden 1 2 4 .
Binding gewann seine Lösung nach antiliberaler Ausfassung aus
einer natürlichen Betrachtung „der Wirklichkeit des Lebens nach ihrer
inneren Ordnung", aus einem „konkreten Ordnungsdenken" heraus 125 .
ne Vgl. Binding , Handbuch des Strafrechts, S. 28; Strafr. Abhandlungen I,
S. 37 f.; dazu Rauch, S. 31, 36 f.
119
Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 191 u n d Rauch, S. 33 f.
120 v g l . Binding, Normen I I 1, S. 89 ff., 390 u n d Rauch, S. 40.
121 Vgl. Rauch, S. 40 f.; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f.
122 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f.
123 Dieses Beispiel stellt Rauch, S. 41, heraus.
124 vgl. Binding, Lehrbuch I, S. 55 ff.
125 M i t dieser Bezeichnung knüpfte Rauch, S. 41, an das Vokabular C.
Schmitts an, dessen sich die antiliberale Strafrechtswissenschaft, wie noch zu
zeigen sein w i r d , i n großem Umfang bediente.
40 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

Auch i n der Rechtswidrigkeitslehre stand Binding nach der Ein-


schätzung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft über der indivi-
dualistischen Zeitströmung. Wenngleich selbst er von der zu seiner Zeit
allgemeinen Lehre vom Rechtsgüterschutz nicht unbeeinflußt geblieben
sei, so sei es i h m dennoch immer wieder i n Fragen des Besonderen Teils
gelungen, sich davon zu lösen, indem er neben die Deutung der Rechts-
widrigkeit als Rechtsgutsverletzung das Moment der Pflichtverletzung
gestellt habe. Das zeige sich i n der Betonung des Treuegedankens für
die Delikte des Hoch- und Landesverrats 126 , deren Wesen sich bei ihm
nicht i m ruhe- und ordnungsstörenden Charakter der Tat erschöpfe. I m
K e r n stehe die Verletzung der Treuepflicht gegenüber dem Staat, der
Verrat. Als praktische Konsequenz ergebe sich u. a. eine andersgeartete
Behandlung des Ausländers. Von demselben Grundgedanken sei die
Bindingsche Lösung der Frage bestimmt, ob eine subjektiv falsche, aber
objektiv richtige eidliche Aussage den Meineidstatbestand erfüllt. Ent-
gegen der dem Rechtsgutsdenken folgenden herrschenden Lehre seiner
Zeit, für die der Unrechtsgehalt des Meineides i n der Verletzung der
Sicherheit der Rechtspflege gelegen habe, sei Binding zur Strafbarkeit
gelangt, weil für ihn die Verletzung der Wahrheitspflicht i m Vorder-
grund stehe 127 .
Wer der verbrecherischen Gesinnung ein derartiges Gewicht beimesse,
müsse auch i n Widerspruch zur klassischen Schuldauffassung geraten,
nach der die Schuld lediglich regulierende Bedeutung habe. Aus anti-
liberaler Sicht war es vorbildlich, daß Binding den Schuldvorwurf nicht
nur auf die Tat bezog, sondern i h n m i t aller Schärfe auch gegen die Per-
son des Täters, gegen den „Feind" der Rechtsordnung richtete 1 2 8 .
Daraus folge die Bindingsche Lehre von der Zugehörigkeit des Bewußt-
seins der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz, weil von einem „Ungehorsam
gegen die Norm", der i m Mittelpunkt seiner Verbrechensauffassung und
somit auch seiner Schuldlehre stand, nur die Rede sein könne, wenn
der Täter das übertretene Verbot auch gekannt habe 1 2 9 . Dieser personale
Schuldbegriff als Ausgangsposition habe ihm den Weg für wichtige
Erkenntnisse i m Besonderen Teil geöffnet, die vor allem die Bedeutung
der Gesinnungsmerkmale beträfen und die an vielen Stellen das „Wesen
des Täters" hervorleuchten ließen 1 3 0 .

126 v g l . Binding , Lehrbuch I I 2, S. 425 ff., 439 ff.; dazu Dahm, ZStaatW 95,
S. 299, 301, 303; Rauch, S.44ff.
127 v g l . Binding , Lehrbuch I I 1, S. 133. Nach Kempermann, Die Erkenntnis
des Verbrechens, S. 17, dringt Binding so bis zum „Wesen" des Delikts vor;
vgl. auch Rauch, S. 46 f.; Schaff stein, J W 1938, S. 146.
128 v g l . GS 76, S. 9 u n d Rauch, S. 50.
129 Vgl. Binding, Normen I I 1, S. 144 f.; dazu Rauch, S. 50.
130 So Rauch, S. 51.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 41

2. Die moderne Schule

Es mag verwundern, wenn jetzt, um die Darstellung des liberalen


Strafrechts durch seine Gegner wieder aufzunehmen, auch von der
modernen Schule die Rede sein soll. Sind schon die Lehren der klas-
sischen Schule zum größten Teil als „liberalistisch", „individualistisch"
und „positivistisch" eingestuft worden, so sollte man erwarten, daß sich
die von ihr so erbittert bekämpfte moderne Richtung einer gleichen Ein-
ordnung entzog. I m antiliberalistischen Schrifttum fehlte auch nicht der
Hinweis, daß eine konsequente Verwirklichung der Sicherungs- und
Besserungsstrafe der modernen Schule Ergebnisse zeitige, die mit
liberalem Ideengut unverträglich seien 131 . I n dem ihrem Strafgedanken
zugrundeliegenden B i l d vom Menschen und von der staatlichen Ordnung
sowie i n der konkreten Ausgestaltung des Strafbegriffs und des Ver-
brechenssystems, so urteilten die antiliberalen Autoren aber überein-
stimmend, verrate die moderne Schule dieselbe weltanschaulichen Bin-
dungen, die auch die klassische Schule prägten. „Zwei verschiedene
Schößlinge derselben W u r z e l " 1 3 2 seien die beiden Schulen, „Brüder
gleicher Stammesart" 1 3 3 , deren nur geringe Unterschiede die klassische
Schule „zu einem Gegensatz aufgebauscht" habe 1 3 4 , indem sie rechts-
sicherheitsgefährdende Konsequenzen einer Sicherungs- und Besserungs-
strafe angegriffen habe, die von der modernen Schule tatsächlich nie
gezogen worden seien.
I n welcher Form liberales Gedankengut die Lehren der modernen
Schule nach Ansicht der Vertreter des Antiliberalismus durchzog, legt die
folgende zusammenfassende Wiedergabe der antiliberalen Stellung-
nahmen dar 1 3 5 . Die herangezogenen Äußerungen beziehen sich über-

131 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 107 f. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30.
132 Schaff stein, DStR 1935, S. 99.
133 E. Wolf, RuS H. 103, S. 23; vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 113, Anm. 118;
Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108; Rauch, S. 9; Dahm, Nationalsozialistisches
u n d faschistisches Strafrecht, S. 19.
134 Krüger, ZStW 55, S. 112.
135 Die Darstellung stützt sich zu einem großen T e i l auf die Studie von
Welzel aus dem Jahre 1935 über „Naturalismus u n d Wertphilosophie i m
Straf recht", i n der sich der A u t o r eingehend m i t den Lehren v. Liszts be-
schäftigte. Dabei galt sein kritisches Interesse nicht so sehr dem unmittelbar
politischen Gehalt, sondern mehr der „geistigen Grundhaltung, die sich
keineswegs auf das rechtlich — staatliche Leben beschränkt" (S. 20).
A u f G r u n d dieser Zurückhaltung i n politischen Fragen wurde die Schrift
nicht i n allen Besprechungen wohlwollend kommentiert (vgl. Adami, J W
1935,, S. 2348). Es sollte aber nicht übersehen werden, daß die Arbeit trotz
ihrer philosophie-geschichtlichen Zielsetzung auch eine politische Stellung-
nahme enthielt (vgl. Berges, DJZ 1936, S. 60 f.; Mezger, D J 1935, S. 1395). Die
harte K r i t i k am Naturalismus u n d an der Wertphilosophie sowie an ihren
strafrechtlichen Erscheinungsformen führte zu einer Öffnung gegenüber dem
Nationalsozialismus. Das ging zwar nicht bis zu einem offenen, rückhalt-
42 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

w i e g e n d auf das A n f a n g s s t a d i u m der m o d e r n e n Schule, also z u r H a u p t -


sache a u f die L e h r e n v o n Liszts. Das e r k l ä r t sich aus der Z i e l s e t z u n g der
a n t i l i b e r a l e n A u t o r e n , e i n e n V e r g l e i c h m i t der Strafrechtswissenschaft
des b ü r g e r l i c h e n Rechtsstaates des späten 19. u n d f r ü h e n 20. J a h r -
h u n d e r t s v o r z u n e h m e n . D e n i n dieser Phase ausgetragenen Schulen-
s t r e i t b e t r a c h t e t e n die Gegner des L i b e r a l i s m u s als historisch b e w ä l -
t i g t 1 3 6 . U n m i t t e l b a r e G e g e n w a r t w a r i h n e n h i n g e g e n die A u s e i n a n d e r -
setzung m i t d e m G e d a n k e n g u t der m o d e r n e n Schule i n d e n E n t -
w ü r f e n z u r R e f o r m des Strafgesetzbuches, w i e noch zu zeigen sein
wird137.

a) Der Straf begriff

D i e m o d e r n e Schule s t ü t z t e i h r e n S t r a f b e g r i f f a u f e m p i r i s c h e U n t e r -
suchungen der K r i m i n a l i t ä t , d i e i h r e Ursachen m i t M i t t e l n der Soziologie
u n d der Psychologie zu e r k l ä r e n s u c h t e n 1 3 8 . N a c h A u f f a s s u n g der
Gegner eines l i b e r a l e n Strafrechts k a m i n der k r i t i k l o s e n Ü b e r n a h m e
n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r D e n k m e t h o d e n , i n der p o s i t i v i s t i s c h e n B e -
g r ü n d u n g u n d A u s g e s t a l t u n g der S t r a f e eine l i b e r a l e A n s c h a u u n g v o n
S t a a t u n d Gesellschaft z u m V o r s c h e i n : D e r G e d a n k e h e i l e n d e r Bes-
serung u n d sichernder V e r w a h r u n g , der k a u m noch m i t d e m B e g r i f f

losen Bekenntnis; die theoretischen Gedankengänge Welzeis bedurften jedoch


keiner weiteren Umformung; sie konnten unmittelbar m i t nationalsozialisti-
schem Gedankengut ausgefüllt werden, w i e folgende Zitate zeigen:
S. 57: „ . . . die Werte sind nicht lebens- u n d daseinstranszendent i n dem
Sinne eines irrealen, dem Streit der Zeit entzogenen Ideenhimmels;
ihre Absolutheit besteht nicht i n ihrer ,Abgelöstheit' v o m Sein, son-
dern i n ihrer Verwurzelung m i t dem metaphysischen Wesensgefüge
des menschlichen Seins, das den leiblichen w i e seelisch-geistigen
Lebensäußerungen identisch zugrunde liegt. I n der Metaphysik des
Menschen finden auch die Werte ihre Absolutheit wieder. Aber dieses
Mensch-Sein ist keine abstrakte Begriffsallgemeinheit, sondern — wie
schon seine leibliche Seite i n ihren rassischen Konkretionen zeigt —
ein konkretes Mensch-Sein, d. h. ein Deutscher-Sein, Spanier-Sein usw.
Die inhaltliche Fülle der Werte differenziert sich nach dem konkreten
menschlichen Sein, das nach seiner leiblichen Seite h i n durch V e r -
wandtschaft des Blutes gekennzeichnet ist. So ist die konkrete K u l t u r
stets die gestaltgewordene Weise, i n der sich die Werthaltung des
einzelnen b l u t - u n d schicksalmäßig zusammenhängenden Volkstums
ausspricht."
S. 76: „ . . . müssen die konkreten Lebensordnungen i n der großen Einheit
gesehen werden, i n der sie ihre W i r k l i c h k e i t haben u n d die ihnen i h r
begrenztes Recht u n d i h r gegenseitiges Verhältnis zuweist, nämlich i n
der Volksgemeinschaft m i t den Notwendigkeiten der konkreten histo-
rischen Situation, die auf rechtlichem Felde vor allem i n dem ge-
äußerten Führerwillen, d. h. i m Gesetz ihren sichtbaren Niederschlag
findet."
136 v g l . Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 24.
137 Vgl. unten 4. Kap.
138 Vgl. n u r v. Liszt , Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 75 ff., 170 ff., 230 ff., 433 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 43

„Strafe" i n Zusammenhang gebracht werden könne, beziehe seine


Rechtfertigung aus der Uberzeugung, daß der menschliche Wille deter-
miniert sei, so daß „der Entschluß als blindnotwendige Folge der gerade
bestehenden kausalen Konstellation erscheint" 139 . Der fehlorientierten
Motivation des Täters solle die Strafe als neues, i n Richtung auf ein ge-
sellschaftlich angepaßtes, rechtmäßiges Verhalten weisendes Moment
entgegentreten. Ein sittlich belastendes Werturteil über die Persönlich-
keit des Täters verbiete sich, da von echter Verantwortlichkeit nicht
gesprochen werden könne und das Ziel der Strafe nur i n einer äußer-
lichen Anpassung an die gesetzlich fixierte gesellschaftliche Ordnung
bestehe 140 . Der Strafgedanke der modernen Schule entspringe dem
„liberal-bürgerlichen Denken über Recht und Staat" 1 4 1 , das alle Lebens-
bereiche als berechenbare Größen auszudrücken bestrebt sei, um sie
seiner „Machtideologie" unterwerfen zu können, und ethische Maß-
stäbe beiseiteschiebe 142 .
Der Widerspruch zwischen der m i t der Sicherungs- und Besserungs-
strafe verbundenen Überantwortung größerer Macht über den ein-
zelnen an den Staat und dem liberalen Mißtrauen gegenüber staat-
licher Machtfülle löste sich aus antiliberaler Sicht i n der Straftheorie der
modernen Schule in der Weise auf, daß sie die Strafe nur als eine von
vornherein engen Grenzen unterliegende staatlichen Machtausübung
begriff. Das erkläre sich aus der Theorie von Liszts zur geschichtlichen
Entwicklung der Strafe 1 4 3 : Die ursprüngliche Form, eine vom Rache-
bedürfnis angestachelte Triebhandlung, sei i m Laufe der Zeit durch eine
sinn- und zweckhafte Gestaltung verdrängt worden, indem ein unbe-
fangener, zu objektiver Beobachtung fähiger Dritter, der Staat, einge-
schaltet worden sei. Diese Rationalisierung und Objektivierung der
Strafe, der Ubergang von einer Trieb- zu einer Zweckhandlung nötige
dem Staat Selbstbeschränkung bei der Ausübung der Strafgewalt auf,
die der staatlichen Reaktion erst wahren Rechtscharakter verleihe. — Da
die evolutionistische Geschichtsauffassung von Liszts den Anspruch
erhob, auch künftige Entwicklungstendenzen auszuweisen 144 , sollte das
Maßprinzip uneingeschränkt für die von der modernen Schule ange-
strebte Ausformung staatlicher Strafen gelten.

139 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 28.


140 Vgl. ebd., S. 28.
141 Ebd., S. 20.
142 Vgl. ebd., S. 20 f.; E.Wolf bezeichnete als Quellen des naturalistischen
Positivismus den politischen Liberalismus, den ethischen Individualismus
u n d den relativistischen Naturalismus (RuS H. 87, S. 11).
143 Vgl. v. Liszt, Aufsätze und Vorträge I, S. 145 ff.; dazu Welzel, Natura-
lismus u n d Wertphilosophie, S. 34 f.; Krüger, ZStW 55, S. 109.
144 Vgl. V. Liszt, ZStW 26, S. 556.
44 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

I n der Konsequenz des Gedankens der Selbstbindung des Staates lag


es nach Ansicht antiliberaler Strafrechtswissenschaftler, daß die moderne
Schule die individualistische Lehre vom „Strafanspruch" des Staates
und vom „Strafrechtsverhältnis" zwischen Staat und Individuum gut-
hieß 1 4 5 .
Die zurückhaltende Handhabung der Strafe durch die moderne
Schule hatte aus antiliberaler Sicht den Grund, daß sie sich wegen der
Schwere des Eingriffs nicht m i t dem Verdacht begnügen mochte, daß
eine verbrecherische Gesinnung gegeben sei 1 4 6 . Um der Gefahr einer zu
weit reichenden staatlichen Strafgewalt zu begegnen, habe es sich an-
geboten, die Verwirklichung eines äußeren, gesetzlich fixierten Tatbe-
standes zur Voraussetzung für staatliche Maßnahmen zu machen. Damit
sei der Weg für eine nahezu vollständige Übereinstimmung m i t der
klassischen Schule i n Fragen der Strafrechtsdogmatik bereitet worden 1 4 7 .

b) Das Verbrechenssystem

Die Orientierung am Gesetz sollte nach Meinung antiliberaler Straf-


rechtswissenschaftler i n der modernen Schule den Ausgleich für die
freiheitsbeschränkenden Auswirkungen einer spezialpräventiven K r i -
minalpolitik schaffen 148 . Das Wort vom Gesetz als der „Magna Charta
des Verbrechers" 149 bringe zum Ausdruck, daß eine der wichtigsten
Aufgaben des Strafrechts i m Schutz der individuellen Freiheit be-
stehe 150 . U m aus diesem Grunde die Alleinherrschaft des Gesetzes zu
sichern, bediene sich die moderne Schule des Grundsatzes „nulla poena
sine lege", der gewährleisten solle, daß die tatbestandsmäßigen Voraus-
setzungen tatsächlich erfüllt seien, wenn durch die Strafe ein Eingriff
i n die Freiheit des einzelnen vorgenommen werde 1 5 1 . Auch seinen
weiteren Auswirkungen stimme die moderne Lehre zu; so befürworte
sie eine strikte Bindung des richterlichen Ermessens und erkenne als
Notwendigkeit an, die Garantiefunktion bei der Ausgestaltung des Tat-
bestandes zu wahren. Dem widerspreche nicht ihre Forderung, der ver-

145 v g l . ν . Liszt, Lehrbuch 21./22. Aufl., S. 1 Anm. 1 u n d Schaff stein, DJZ


1934, Sp. 1176 f.; Höhn, DR 1935, S. 267, zitiert bei der Behandlung der Lehre
v o m „Strafrechtsverhältnis" n u r v. Liszt- Schmidt, ohne ein Wort über die
Rolle Bindings bei der Begründung der Lehre zu verlieren.
146 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 108 m. H i n w . auf v. Liszt, Aufsätze u n d V o r -
träge I I , S. 16.
147 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 36; Krüger, ZStW 55,
S. 110.
148 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff.
149 Vgl. v. Liszt, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 60, 80.
150 v g l . neben Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff., auch Dannenberg,
L i b . u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 60.
151 Vgl. dazu u n d zum folgenden Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen 45

brecherischen Gesinnung bei der Bildung gesetzlicher Tatbestände


größere Beachtung zu schenken 152 . Zwar bedeute dieses Vorhaben einen
Ausbau der subjektiv gefärbten Tatbestandselemente; die Rechtssicher-
heit wolle die moderne Schule damit jedoch nicht gefährden; denn sie
hege die Hoffnung, allgemeinverbindliche typische Kriterien für Ver-
brechergruppen unter Zuhilfenahme objektiver Merkmale herausarbei-
ten zu können, und glaube, durch Fortschritte i n den Naturwissen-
schaften, vor allem i n dem jungen Zweig der Psychologie, optimistisch
gestimmt, auch die subjektive Seite der Tat m i t rationalen Erkenntnis-
mitteln erfassen und genau bestimmen zu können.
Naturalistisch-positivistisches und damit liberalistisches Denken hatte
nach antiliberaler Auffassung auch den Handlungsbegriff der modernen
Schule geformt. U m aus Gründen der individuellen Rechtssicherheit die
Prüfung der Strafbarkeit mit möglichst sinnfälligen Kriterien zu be-
ginnen, habe die moderne Schule einen Handlungsbegriff vertreten,
der nur die Ursächlichkeit des Willens i m Hinblick auf eine die Außen-
welt verändernde Körperbewegung erfasse 153 .
Eine völlige Übereinstimmung der modernen Schule mit der klas-
sischen stellte die antiliberale Strafrechtswissenschaft der dreißiger
Jahre bei der Ausdeutung des Unrechts als eine Gefährdung oder Ver-
letzung von Rechtsgütern fest: „Gerade Liszt (hat) durch die Einführung
des Zweckgedankens i n das Strafrecht der materiellen Auffassung des
Verbrechens als Rechtsgutverletzung ihre durchschlagende Begründung
gegeben 154 ." Individualistischem Denken entspringe die Dreiteilung der
Rechtsgüter i n solche des einzelnen, des Staates und der Gesellschaft 155 .
Besonderer Beachtung sei dabei die Trennung von Staat und Gesell-
schaft wert, die der liberalen Auffassung entstamme, daß der Gesell-
schaft ein gegenüber dem Staat autonomer Bereich zustehe 156 .

I n der Ausschaltung ethischer Werturteile aus dem Schuldbegriff


sahen die Antiliberalen einen weiteren Beweis für die liberale Grund-
haltung der modernen Schule: Die kausalmechanische Betrachtungs-
weise führe notwendigerweise zu einem nur aus deskriptiven Merk-
malen bestehenden, rein psychologischen Schuldbegriff, der durch die

152 Vgl. v. Liszt, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 391; dazu Krüger, ZStW 55,
S. 111 f.
153 vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl., S. 128; 21./22. Aufl., S. 116; dazu Welzel,
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 38; Schwarzschild, Franz v. Liszt,
S. 16 ff.; auch Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 61.
154 Schaff stein, DStR 1935, S. 102; vgl. auch Höhn, DR 1935, S. 266.
iss Vgl. v. Liszt, ZStW 8, S. 140 ff. u n d Schaff stein, DStR 1935, S. 102.
156 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 102; Welzel, Naturalismus u n d W e r t -
philosophie, S. 35 f.
46 1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.

Vermeidung einer ethischen Bewertung und durch die leichte Fest-


stellbarkeit seiner Merkmale liberales Gedankengut verwirkliche 1 5 7 .

c) Die Methode

Auch in Fragen der Methode bestanden nach antiliberaler Auffassung


kaum Diskrepanzen zwischen der modernen und der klassischen
Schule 158 : Das Bestreben, i m Wege naturalistisch-positivistischer Be-
trachtung zu festen, berechenbaren Größen zu gelangen, finde auf dem
rein juristischen Feld seine Parallele i n der Verwendung der formalen
Logik als Mittel zur Auslegung, Abgrenzung und Systematisierung von
Begriffen. M i t der Übernahme der begriff s juristischen Arbeitsweise be-
zwecke die moderne Schule, zur Sicherung der individuellen Freiheit
beizutragen.
„ I m ganzen erweist sich so sein (v. Liszts, d. Verf.) System — so-
wohl i n den Voraussetzungen wie i n den Ergebnissen — als eine der
vollkommensten Anwendungen positivistischen Gedankenguts auf den
Bereich einer Einzelwissenschaft überhaupt", stellte Welzel i n einer ab-
schließenden Bewertung der modernen Schule fest 1 5 9 .

157
Vgl. v. Liszt Stellungnahme gegen die Auffassung der Schuld als sitt-
liches Werturteil, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 45 f., 228 f. ; dazu Krüger,
ZStW 55, S. 110; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 28 f.; vgl. auch
Schwarzschild, Franz v. Liszt, S. 24.
158
Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 36 f.; Rauch, Die
klassische Strafrechtslehre, S. 54 f.
159
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 39 f.
2. Kapitel

Der irrationale Zeitgeist als Voraussetzung des


Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft

Die geistigen Voraussetzungen des Antiliberalismus i n der Straf-


rechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre vollständig be-
nennen zu wollen, würde einen Aufwand erfordern, der den Rahmen
dieser Untersuchung sprengen würde. Die Darstellung beschränkt sich
daher auf eine geistige Zeitströmung, die als wesentliche Bedingung für
die Entstehung des Antiliberalismus erkannt wurde: das Vordringen
des Irrationalismus.

I. Die Lebensphilosophie

Die Wurzeln des Irrationalismus der zwanziger und dreißiger Jahre


reichen weit zurück i n das 19. Jahrhundert. Philosophen wie Bergson,
Nietzsche und Dilthey legten das Fundament 1 . Ihre Lehren werden
häufig m i t dem schlagwortartigen Begriff „Lebensphilosophie" zusam-
mengefaßt 2 . Diese Kennzeichnung und die damit verbundene Gleich-
setzung so unterschiedlicher Philosophen stößt auf manche Bedenken.
Hier soll jedoch nicht auf den Inhalt ihrer Lehren i m einzelnen ein-
gegangen werden; i m Mittelpunkt der Betrachtung stehen die erkennt-
nistheoretischen Aussagen, denn sie überspringen am leichtesten die
Grenzen des Bezirks philosophischer Fachwissenschaft und bieten sich
den anderen Wissenschaften zur Verwendung an.
I n erkenntnistheoretischen Fragen weisen diese Philosophen aller-
dings so viele Ubereinstimmungen auf, daß eine Gemeinsamkeit nicht
geleugnet werden kann. Sie besteht zur Hauptsache in der Absicht, den
rationalistischen Optimismus als Folgeerscheinung der französischen
Revolution i n seine Schranken zu weisen: Das Erkenntnismittel der
reinen Verstandestätigkeit habe sich als unfähig erwiesen, das Leben
vollständig zu durchdringen. Der Rationalismus, der i n den Naturwis-
senschaften seine Domäne habe und von dort aus einen absoluten Herr-
schaftsanspruch geltend mache, sei bestrebt, m i t Hilfe abstrakter Be-
1
Die Aufzählung ist i n keiner Weise vollständig. Es sollten n u r prägnante
Beispiele hervorgehoben werden.
2
Vgl. Heinemann, Schicksal u n d Aufgabe, S. 268 f.; Diemer, Metaphysik,
S. 180.
48 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist

griffe ein System allgemeingültiger Gesetze zu errichten. Auf diesem


Wege sei es jedoch unmöglich, das Wesen der vielfältigen Erscheinungen
des Lebens zu erfassen. Abstrakte Begriffe zerteilten und zergliederten
nur, ließen die organische Einheit außer acht und führten am Kern der
Dinge vorbei.
„ I I suffirait d'en considérer les résultats (du travail intellectuel;
d. Verf.)", meint Bergson. „On verrait, que l'intelligence, si habile à
manipuler l'inerte, étale sa maladresse dès qu'elle touche au vivant.
Qu'il s'agisse de traiter la vie du corps ou celle de l'esprit, elle procède
avec la rigueur, la raideur et la brutalité d'un instrument, qui n'était
pas destiné à un pareil usage 3 ." Daher sei die Intuition, das einfühlende
Nacherleben dem Verstand überlegen. Nach Bergson „brauchen w i r
unsere Erlebnisse nur unbefangen und vorurteilslos, d. h. ohne das
Begriffschema, das w i r gewöhnlich über sie breiten, i n ihrer Unmittel-
barkeit zu betrachten, so blicken w i r den Dingen bis auf den Grund, so
schauen w i r sie i n ihrer wahren Wirklichkeit an" 4 .
Die Erwähnung Nietzsches i n diesem Zusammenhang erscheint selbst-
verständlich angesichts der Wertschätzung seiner Schriften durch die
Nationalsozialisten, die ihre Weltanschauung i n den Mythen Nietzsches
bestätigt sahen5. Nun lassen sich aber nicht wenige Äußerungen Nietz-
sches anführen, die nachzuweisen scheinen, daß er der begrifflichen
Verstandesarbeit einen höheren Rang einräumte als der Intuition.
Schwinge warnte daher davor, i h n vorbehaltlos der Lebensphilosophie
zuzurechnen 6 . Richtig daran ist, daß eine eindeutige Zuordnung Nietz-
sches zu jedweder Geistesrichtung stets schwerfallen wird. Dagegen
sperrt sich schon seine aphoristische Ausdrucksweise. Auch hat er sich
nie um ein festgefügtes System bemüht: denn i m Willen zum System
erblickte er einen Mangel an Rechtschaffenheit 7 . Das Fehlen eines
Systems aber verleitet die Interpreten dazu, die philosophischen Lehren
einseitig auszudeuten und Gedanken zu unterschlagen. Was Nietzsche
angeht, so kann sich eine Interpretation, die sein hier und dort aufzu-
findendes Eintreten für eine rationale Logik vernachlässigt, darauf be-
rufen, daß seine Schriften insgesamt ein geistiges K l i m a verbreiten.

3 L'Evolution créatrice, S. 179.


4
So Kroner, Logos Bd. I, S. 128 über Bergson.
5
Auch von den noch darzustellenden strafrechtlichen Lehren aus der Zeit
des Nationalsozialismus wurde behauptet, daß sie sich m i t dem Gedankengut
Nietzsches deckten (vgl. Heinze, Verbrechen u n d Strafe bei Friedrich
Nietzsche). Die Zusammenhänge zwischen Nietzsches Philosophie u n d dem
Nationalsozialismus hat Löwith eindringlich dargelegt (Einleitung zu
Nietzsche, Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes, F r a n k f u r t 1956). Vgl. auch
Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, u n d Sandvoss, H i t l e r u n d Nietzsche.
6
Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 6 m. Nachw.
? Werke, Bd. V I I I , S. 64.
i t . Die Phänomenologie 49

das von einem vitalistischen Egoismus, von einer Verherrlichung der


Gewalt und der gesunden Instinkte geprägt ist 8 . Dem entsprechen die
erkenntnistheoretischen Äußerungen, i n denen er jede Objektivität
der Wirklichkeit leugnet und die Intuition als das entscheidende M i t t e l
bezeichnet, die Wahrheit zu erfahren 9 .
Ein wichtiger Vorläufer der breiten irrationalistischen Geistes-
strömungen der Zeit nach dem 1. Weltkrieg war Dilthey. Seine erkennt-
nistheoretischen Aussagen gingen von der grundlegenden Unterschei-
dung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aus, einer Unterschei-
dung, die der südwestdeutsche Neukantianismus aufnahm und weiter
ausbaute. Der erklärenden Verstandestätigkeit erkannte Dilthey i m
Rahmen der Naturwissenschaften eine gewisse Bedeutung zu 1 0 . Die
Grundlage der Geisteswissenschaften bestand für ihn i m „Leben": „Die
fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind i m Leben gegeben,
und das Denken kann nicht hinter sie greifen 11 ." Anders als die Ver-
treter des südwestdeutschen Neukantianismus gelangte Dilthey nicht zu
einer festen, rational durchgegliederten geisteswissenschaftlichen Er-
kenntnismethode. Das Leben sei nur durch verstehendes Nacherleben
faßbar, das i m Gegensatz zum verallgemeinernden rationalen Denken
stehe und ohne begriffliche Logik auskomme. Die Erkenntnis des Lebens
vollziehe sich „durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte i n der
Auffassung" 12 .
Einen Anspruch auf objektiven Erkenntniswert konnte dieses Ver-
fahren nur erheben, weil es nach außen zwischen „Leben" und „Er-
leben" unterschied. Er mußte jedoch an der Subjektivität und Irrationa-
lität des Erkenntnisweges scheitern: Inhaltlich waren „Leben" und
„Erleben" deckungsgleich 13 .

I I . Die Phänomenologie

Eine Verfeinerung der lebensphilosophischen Methode brachte die


Phänomenologie, die E. Husserl i n den wesentlichen Zügen noch vor
dem 1. Weltkrieg konzipierte 14 . Die Grundregel der Phänomenlogie be-
8
Vgl. Löwith, Einleitung zu Nietzsche, Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes;
ferner Lukàcs, V o n Nietzsche zu H i t l e r , S. 27 ff.; Sontheimer, Antidemokra-
tisches Denken, S. 68.
9 Vgl. Lukàcs, V o n Nietzsche zu Hitler, S. 93 ff. m. Nachw.
i° Gesammelte Schriften Bd. V , S. 144: „ D i e N a t u r erklären w i r , das
Seelenleben verstehen w i r . "
u Ebd., S. 136; vgl. auch Bd. V I I , S. 359: Das Leben sei „dasjenige, hinter
welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben k a n n nicht vor den
Richterstuhl der V e r n u n f t gezogen werden".
ι 2 Ebd., Bd. V, S. 172; vgl. dazu Linke, Niedergangserscheinungen, S. 47
sowie S. 68 ff.
13 Vgl. Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 125.

4 Marxen
50 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist

steht i n der Forderung: „ Z u den Sachen selbst!" Jede Erkenntnis müsse


am ursprünglich Gegebenen ansetzen, der Voraussetzung für weitere
Erkenntnisse i m Wege des Schließens. Da aber auf das Gegebene kein
Schluß möglich sei, könne es nur durch eine „Schau" intuitiv erfaßt
werden. E. Husserl formulierte: „Das unmittelbare ,Sehen', nicht bloß
das sinnliche, erfahrende, sondern das Sehen überhaupt als originär ge-
bendes Bewußtsein, welcher A r t immer, ist die letzte Quelle aller ver-
nünftigen Behauptungen 15 ."
Zur Ausschaltung der Einflüsse, die ein Vordringen zu den Sachen
selbst verhindern könnten, ist nach den Grundsätzen der Phänomeno-
logie eine mehrfache Reduktion erforderlich; d. h. eine Lösung des
geschauten Gegenstandes aus Seinsbezügen, die eine reine Erkenntnis
hemmen (historische, existenziale, eidetische, transzendentale Reduk-
tion) 1 6 .
Der Zusammenhang der phänomenologischen Methode m i t der
Lebensphilosophie ist nicht zu übersehen 17 : Die Übertragung der ent-
scheidenden Aufgaben i m Erkenntnisprozeß auf die Intuition charak-
terisieren sowohl das einfühlende Nacherleben als auch die phänomeno-
logische Wesensschau i n ihrer letzten Konsequenz als irrationalistische
Erkenntnismethoden.
Weit über die Lebensphilosophie erhob sich die phänomenologische
Methode jedoch durch das Bemühen u m Objektivität. Dieser „rationale"
Zug in der Phänomenologie war in besonders starkem Maße noch bei
E. Husserl vorhanden, der seine Methode zur Hauptsache auf formal-
logische Probleme der Mathematik und der Naturwissenschaften an-
wandte. Die Gefahr des Abgleitens seiner philosophischen Lehre war
jedoch bereits i n ihr selbst angelegt: Die starke Betonung der Evidenz
des letztendlich Gegebenen minderte die Möglichkeiten intersubjektiver
Vermittlung und Kontrolle und war geeignet, den Gedanken wissen-
schaftlicher Objektivität zu verdrängen 18 .
Eine vollständige Wendung i n das Irrationalistische nahm die Phäno-
menologie mit der Fortführung und dem Ausbau durch Schüler und

14
Die erkenntnistheoretischen Aspekte hat E. Husserl vor allem i n den
„Logischen Untersuchungen" (1901) u n d i n den „Ideen zu einer reinen
Phänomenologie u n d phänomenologischen Philosophie" (1913) erörtert.
15
Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 36.
16
Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei Stegmüller, Gegenwarts-
philosophie, S. 70 ff. u n d Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden,
S. 23 ff.
17
Diesen Zusammenhang stellt Stegmüller i n der Person Schelers fest
(vgl. Gegenwartsphilosophie, S. 97).
Vgl. Linke, Niedergangserscheinungen, S. 66 f.; vgl. auch zur K r i t i k an
der Phänomenologie: Kraft, V o n Husserl zu Heidegger.
I I I . Der Popularisierungs- u n d Politisierungsprozeß 51

Anhänger E. Husserls. Vor allem Scheler „führte die Husserlsche


Phänomenologie . . . i n den großen Strom des lebensphilosophischen
Irrationalismus hinein" 1 9 . Er betonte den erlebnishaften Charakter der
Wesensschau von „Sachen, wie sich ganz unmittelbar i m Er-leben, i m
A k t des Erlebens geben, und i n ihm und nur i n i h m ,selber da' sind" 2 0 .
Ihm folgte Hartmann nach, der den Gegenstand seiner erkenntnis-
theoretischen Bemühungen als „Metaphysik der Erkenntnis" bezeich-
nete 21 . Seine Behandlung des Erkenntnisproblems maß dem Irrationalen
entscheidende Bedeutung bei 2 2 , die noch durch die Betonung erkenntnis-
theoretischer Aporien verstärkt wurde 2 3 . „Letzter Sinn philosophischer
Erkenntnis" war für ihn „nicht so sehr ein Lösen von Rätseln, als ein
Aufdecken von Wundern 2 4 ."

I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß

Die Lebensphilosophie der Nachkriegszeit war von einer noch heftige-


ren Ablehnung des Rationalismus, der „Ideen des 19. Jahrhunderts" ge-
kennzeichnet. Sie wandte sich m i t aller Schärfe gegen die Vernunft als
einziges Organ der Erkenntnis und ersetzte das zergliedernde und
abstrakte Denken i n Begriffen durch ein ganzheitliches, intuitives Ver-
stehen. I n vielen Wissenschaften fand sie ein breites Echo. Vor allem
die Geisteswissenschaften wandten sich ihr zu; aber selbst i n den
Naturwissenschaften ließ die intuitive Ganzheitsbetrachtung die exakte
begriffliche Analyse in den Hintergrund treten 2 5 . Bedenkenlos wurden
überkommene gesicherte Erkenntniswege verlassen. Zu verstehen ist
dieser Vorgang nur, wenn man sich den Popularisierungsprozeß vor
Augen führt, den die Lebensphilosophie, begünstigt durch die damaligen
politischen und sozialen Verhältnisse, i n den zwanziger Jahren durch-
machte und der auf die Wissenschaften zurückwirkte.
Nach dem 1. Weltkrieg mehrten sich die Anzeichen dafür, daß der
Irrationalismus die Höhen philosophischer Fachdiskussionen hinter sich
gelassen und breitere Schichten erfaßt hatte. Weite Beachtung fand das

19 Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 163; vgl. auch v.Krockow, Die E n t -


scheidung, S. 29 ff.
20 Schriften aus dem Nachlaß, S. 380.
21 Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 3. Aufl. 1941.
22 Vgl. Stegmüller, Gegenwartsphilosophie, S. 248 f. Anm. 1; Kraft, Von
Husserl zu Heidegger, S. 60 Anm. 27, S. 125.
23 Vgl. Linke, Niedergangserscheinungen, S. 18 ff.; Kraft, V o n Husserl zu
Heidegger, S. 58 Anm. 36.
24 Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, S. 255; vgl.
auch S. 248.
25
Vgl. Schwinge, Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 44 ff.

4*
52 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist

Werk Oswald Sprenglers, „des großen Dilettanten" 2 6 , i n dessen Mittel-


punkt der eine Gedanke stand: Die rationale Verstandestätigkeit ist
unfähig, das Leben zu begreifen. „Der Verstand, das System, der Be-
griff töten, indem sie ,erkennen' .. , 2 7 ." I n seinem bekanntesten Buch,
„Der Untergang des Abendlandes", setzte er an ihre Stelle die Analogie,
die nach seiner Auffassung das geeignete Mittel ist, „lebendige Formen
zu verstehen" 28 . M i t ihrer Hilfe entwickelte er eine weitschweifige,
schillernde Geschichtstheorie, die die Entstehung, das Wachsen und den
Untergang der großen Kulturen als einen immer wiederkehrenden
Prozeß des Alterns interpretierte. Von einer Wissenschaftlichkeit i m
herkömmlichen Sinne war diese organisch-biologische Konstruktion weit
entfernt, wie Sprengler selbst wiederholt betonte. Seine Einsichten
gründeten sich auf ein intuitives Schauen und Fühlen, das aber auch mit
dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit i m Sinne von Wahrheit ver-
sehen wurde, weil es, viel mehr als die Kategorien von Ursache und
Wirkung, der lebendigen Geschichte angepaßt sei 29 .
Die lebensphilosophischen Gedankengänge Spenglers waren gegen-
über denen seiner Vorgänger von einem deutlichen Niveauverlust
gekennzeichnet, was zur weiten Verbreitung seines Werkes beigetragen
haben dürfte 3 0 . Sie förderten die Feindschaft gegen den „Intellektualis-
mus", ließen die rationale Auseinandersetzung zurücktreten und schmä-
lerten den Wert wissenschaftlicher Redlichkeit.
Einen tiefen Eindruck bei den Zeitgenossen hinterließen auch die
Lehren L u d w i g Klages', die eine noch entschiedenere, radikale Ver-
werfung der Vernunft beinhalteten: Der „Geist", die bohrende, zer-
setzende Tätigkeit des Verstandes zerstörte die ursprüngliche Einheit
von Leib und Seele und trenne so das menschliche Dasein ab „vom
Rhythmus des kosmischen Lebens" 31 . Vergebens mühe sich der Verstand
ab, die Wirklichkeit zu erfassen; seine Begriffe und Urteile bildeten eine
Scheinwelt abseits des wahren Lebens. Klages nannte den Drang nach
Wissen die Wurzel des Übels und machte dabei keinen Unterschied
zwischen primitiver Neugierde und wissenschaftlichem Forschergeist.
Nur eine vom Geist ungestörte Seele könne die Erscheinungen des
Lebens „schauen", die Klages als Mythen und Ursymbole beschrieb 32 .
26
Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 49; vgl. zu Spengler auch
Lübbe, Politische Philosophie, S. 209 f.
27
Der Untergang des Abendlandes, 1. Bd., S. 136.
28 Ebd., S. 4.
2
ö Vgl. ebd., S. V I I I .
30 Vgl. Lukacs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 151.
31 V o m kosmogonischen Eros, S. 63.
A m eindringlichsten i n seinem H a u p t w e r k „Der Geist als Widersacher
der Seele" (3 Bde., 1929 - 32).
I I I . Der Popularisierungs- u n d Politisierungsprozeß 53

Die Lebensphilosophie Klages' bediente sich einer schärferen Tonart


gegenüber dem rationalistischen Geist des 19. Jahrhunderts, war aber
noch frei von unmittelbar politischen, aktivistischen Elementen. Die
Wendung ins Politische 33 vollzogen seine Nochfolger, unter denen sich
i n dieser Hinsicht Ernst Jünger hervortat. Ausgangspunkt und ständig
wiederkehrender Bezugspunkt seiner lebensphilosophisch untergrün-
deten Anschauungen war das Erlebnis des 1. Weltkrieges. I n zahl-
reichen Schilderungen glorifizierte er die Schrecken des Krieges 34 . Der
Krieg habe das Elementare sichtbar werden lassen und einen neuen,
stahlharten Menschenschlag geboren, das Geschlecht der Frontsoldaten,
das der toten Welt des u m „Sekurität" besorgten Bürgers m i t unerbitt-
licher Feindschaft gegenüberstehe 35 .
Jünger führte damit Gedanken aus, die i n Ansätzen bereits i n der
Kriegspropaganda auf deutscher Seite vorhanden gewesen waren: Der
Krieg w a r als ein Kampf deutschen Heldentums gegen angelsächsischen
Krämergeist bezeichnet worden. Für die ideologische Untermauerung
hatten zahlreiche deutsche Professoren m i t den „Ideen von 1914" ge-
sorgt 36 . Darin war das gegnerische Eintreten für Demokratie, Freiheit
und Menschenrechte als Betrug dargestellt. A l l e i n deutscher Geist ver-
bürge die wahre Freiheit, die nur durch Uberwindung der formalen und
abstrakten Ideen der französischen Revolution zu erlangen sei. I n der
freiwilligen Unterordnung, i m Dienst am Volk finde der Mensch zu
sich selbst und werde so wahrhaft frei.
Die Gegnerschaft des Krieges übertrug Jünger auf das liberale bür-
gerliche System von Weimar, das nach seiner Ansicht nur einen letzten
Ausläufer der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts bildete. Das Gegen-
bild zum Bürger, den Typ des Frontsoldaten, formte Jünger später zur
„Gestalt" des Arbeiters um. I n dieser Gestalt verwirkliche sich das
Leben, von dem das Bürgertum abgeschlossen sei. Sie entspricht nach
Jüngers Darstellung einer elementaren Kategorie, die dem Werdegang
der Geschichte entzogen ist. „Eine Gestalt ist, und keine Entwick-
lung vermehrt oder vermindert sie 37 ." Das Sehen von Gestalten be-
schrieb Jünger als einen „revolutionären A k t " , in dem „ein Sein in
der ganzen und einheitlichen Fülle seines Lebens" erkennbar werde; „es
ist die große Überlegenheit dieses Vorgangs, daß er sich jenseits sowohl

33 Vgl. dazu Marcuse , Der K a m p f gegen den Liberalismus, S. 18 f.


34 A m meisten w u r d e n gelesen: „ I n Stahlgewittern" u n d „Das Wäldchen
125".
35 Vgl. Der Arbeiter, V o r w o r t u n d S. 53 ff.
36 Vgl. dazu Bleuel, Deutschlands Bekenner, S. 77 ff.; Lübbe, Politische
Philosophie, S. 173 ff.; v.Krockow, Die Entscheidung, S. 38 ff.
37 Der Arbeiter, S. 79.
54 2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist

der moralischen und ästhetischen, als auch der wissenschaftlichen Gel-


tung vollzieht" 3 8 .
Inhaltlich beschrieb Jünger die Gestalt des Arbeiters als eine Seins-
weise, i n der der Mensch sich i n soldatischem Einsatz für die Ziele der
nationalen Gemeinschaft aufopfert 39 . Darin wirkte ein Gemeinschafts-
denken fort, das seinen Ursprung ebenfalls i m Kriegserlebnis hatte.
Die nationalistische lebensphilosophische Literatur verstand darunter
einmal die allgemeine Kriegsbegeisterung des deutschen Volkes im
Jahre 1914, aber mehr noch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Front-
soldaten im Stellungskrieg, das auch den militärischen Vorgesetzten mit
einschloß, dem man i m Dienste der Sache aller unbedingten Gehorsam
zu leisten hatte. Dieses Gemeinschaftserlebnis der Front, i n dem die
Klassengegensätze angeblich überwunden waren, war die Keimzelle für
einen neuen Nationalismus, der die Kriegskameradschaft als Modellfall
für eine zu schaffende „Volksgemeinschaft" nahm 4 0 . Der Weg dahin
sollte über den revolutionären Umsturz des Weimarer Systems und die
Bildung eines „autoritären" Staates führen. Den ideengeschichtlichen
Hintergrund faßt Sontheimer i n den Worten zusammen: „Indem man
nun dieses Kriegserlebnis zum Ausgangspunkt einer neuen Welt- und
Lebensanschauung erhob, verband man die von der vulgärphiloso-
phischen irrationalistischen Strömung zu Ehren gebrachte Kategorie des
Erlebens mit einem politischen Willen 4 1 ."
Die fortschreitende Vulgarisierung der Lebensphilosophie i n den
zwanziger Jahren zeigte sich i m Verfall der herkömmlichen Wissen-
schaftstheorie. Das positivistische Wissenschaftsideal sah sich heftigen
Angriffen ausgesetzt, die von der Seite des jungen Nationalismus m i t
besonderer Schärfe geführt wurden. Die Voraussetzungslosigkeit der
positivistischen Wissenschaft wurde als Täuschung „entlarvt". Dahinter
verberge sich das Sicherheitsstreben der bürgerlich-liberalen Epoche
des 19. Jahrhunderts, das sich an sichtbaren und berechenbaren Größen
orientierte 4 2 .

38 Ebd., S. 39.
39 Vgl. E.Jünger, a.a.O., S.71: „Das tiefste Glück des Menschen besteht
darin, daß er geopfert w i r d , u n d die höchste Befehlskunst, Ziele zu zeigen,
die des Opfers w ü r d i g sind." Vgl. zur Gestalt des Arbeiters auch Spengler,
Preußentum u n d Sozialismus, S. 10.
40
Einem Hinweis von Prof. Naucke entnehme ich, daß aus dem Gemein-
schaftserlebnis der Front die Garantenstellung aus enger Lebensgemeinschaft
i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte entwickelt w u r d e (vgl. R G 69,
323). Diese Tatsache illustriert die Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens
i m politischen u n d rechtlichen Leben der zwanziger u n d dreißiger Jahre.
41
Antidemokratisches Denken, S. 115; vgl. auch zum politischen Gehalt der
Lebensphilosophie: Kolnai, ZStaatW 94, S. 1 ff.
42 Vgl. z. B. Krieck, Wissenschaft Weltanschauung Hochschulreform; Natio-
nalpolitische Erziehung, S. 1 ff. („Politische Wissenschaft") ; Rein, Die Idee
der politischen Universität, S. 21 ff.
I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß 55

Ablehnend standen die Vertreter der „politischen Wissenschaft" aber


i n gleichem Maße dem Neukantianismus gegenüber, der, insbesondere i n
der Ausgestaltung durch die südwestdeutsche Schule (Windelband, Rik-
kert), dem Positivismus seinen Herrschaftsanspruch streitig gemacht
hatte. Gerügt wurde am wertbeziehenden Verfahren des Neukantianis-
mus, daß es über einen schwächlichen Relativismus nicht hinausgelange
und daß es sich einer „ausschließlich analytisch verfahrenden Methodik"
bediene 43 .
A n die Stelle rationaler Begrifflichkeit wurde eine lebensphiloso-
phische, ganzheitliche Betrachtungsweise gesetzt, die sich nicht scheute,
i m Gewand der Wissenschaftlichkeit aufzutreten. So berief sich ζ. B. der
politische Publizist Stapel ausdrücklich auf die Phänomenologie, die
„WesensWissenschaft", bei seinen Betrachtungen über den Zentral-
begriff seiner politischen Lehren, das Volk: „Der notwendige Volkswille
w i r d von innen bestimmt: durch die Wesensart des Volkes. Dieser
Volkswille offenbart sich nicht durch Wahlen, sondern durch Prophetie,
d. h. durch Erfüllung und Erkenntnis des schicksalhaft Notwendigen,
die genialen Persönlichkeiten zuteil w i r d 4 4 . " Auf eine Weise, die i m
übrigen den phänomenologischen Grundsätzen E. Husserls Hohn sprach,
verschaffte er seiner persönlichen Stellungnahme für das Führertum den
Glanz wissenschaftlicher Autorität. Daß die durch intuitive Wesensschau
gewonnenen Erkenntnisse weltanschaulich bedingt waren, tat dem
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit keinen Abbruch; denn das A x i o m der
Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft war ja verworfen worden.
Das weltanschauliche Bekenntnis wurde m i t dem Anspruch auf abso-
lute Gültigkeit zum Fundament wissenschaftlicher Aussagen. Das Vor-
dringen des Irrationalismus und diese Öffnung gegenüber der Welt-
anschauung waren entscheidende Voraussetzungen dafür, daß sich die
Wissenschaft dem Primat des Politischen unterordnete, daß es zu einer
„Politischen Strafrechtswissenschaft" 45 kommen konnte.

43 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 17 A n m . 12 a; vgl.


dazu ausführlich unten 3. Kap. I I I . 3., 5. Kap. I 3., 5. Kap. V. 1.
44 V o l k u n d Volkstum, S. 82.
45 So das Thema von S chaff steins Antrittsvorlesung i n Leipzig 1934;
näheres zum Wissenschaftsverständnis der antiliberalen Strafrechtswissen-
schaft unten 5. Kap. I. 3.
3. Kapitel

Das neue Staatsverständnis als Ausgangspunkt der


strafrechtswissenschaftlichen Gegenbewegung zum Liberalismus

Nachdem das Angriffsziel und die geistige Basis der antiliberalen


Bewegung i n der Strafrechtswissenschaft umrissen sind, kann der
eigentliche Untersuchungsgegenstand i n Augenschein genommen wer-
den. Die folgende Betrachtung der Staatstheorie der antiliberalen
Strafrechtswissenschaft nimmt bereits eine Kernfrage i n Angriff, näm-
lich die nach den Ansatzpunkten der antiliberalen K r i t i k .
M i t ihrer Auffassung vom Staat glaubten die antiliberalen Straf-
rechtswissenschaftler den festen Punkt gefunden zu haben, von dem
aus sie die herrschenden strafrechtlichen Lehren aus den Angeln heben
könnten und der dem künftigen Strafrecht als Richtpunkt dienen
könnte. Man erwartet daher, daß sie ihre K r i t i k und ihre Vorschläge
durch intensive kritische Analysen der liberalen Staatstheorie und
ebenso sorgfältige und umfassende Begründungen für die eigene
Staatsauffassung absicherten. Diese Erwartung w i r d jedoch enttäuscht.
Die Einwände gegen den liberalen Staat liefen auf eine pauschale
Verurteilung hinaus. Das hatte folgende Gründe:
I n der Strafrechtswissenschaft entfaltete sich der Antiliberalismus
relativ spät. Vorkämpferin war die Staatsrechtswissenschaft gewesen.
Schon zu Beginn der zwanziger Jahre war i n ihr antiliberales Ge-
dankengut zum Durchbruch gelangt und hatte i n der Folgezeit stark
u m sich gegriffen 1 . Erst gegen Ende der zwanziger Jahre folgte die
Strafrechtswissenschaft nach 2 . Sie konnte vom Stand der Meinungen
i n der Staatsrechtslehre ausgehen. Sie beschäftigte sich daher nicht so
ausführlich m i t der liberalen Staatstheorie, sondern widmete sich mehr
der kritichen Betrachtung der herrschenden strafrechtlichen Lehren
und der Umsetzung antiliberaler Auffassungen i n das Strafrecht 3 .
Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler erstrebten eine revolu-
tionäre Erneuerung des Strafrechts 4 . Wer aber entschlossen ist, Uber-

1 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 79 ff.


2 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht? (1933), S. 4,
zählten das Strafrecht zu den Bereichen, i n denen die Auseinandersetzung
u m Rationalismus u n d Individualismus „eben erst" begonnen habe.
3 Vgl. Krüger, ZStW 54, S. 591.
I. Die K r i t i k am Liberalismus 57

kommenes umzustoßen, zurückzulassen und an neue Ufer zu gelangen,


dem genügt es, daß er eine Erscheinung als historisch bedingt zu
erkennen glaubt, u m sie abzulehnen.
Die Gegner des Liberalismus kritisierten an i h m die Verknüpfung
m i t dem Rationalismus. Sie selbst ließen das Pendel weit zur Gegen-
seite ausschwingen: Nicht die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern
das weltanschauliche Bekenntnis machten sie zur Grundlage ihrer
Angriffe 5 . I n einer mit rationalen Argumenten geführten Auseinander-
setzung hätten sie ihren Standpunkt nicht genügend zur Geltung brin-
gen können.
Die zerrütteten politischen Verhältnisse i n der Weimarer Republik
am Ende der zwanziger Jahre und zu Beginn der dreißiger Jahre
schienen eine gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung m i t
dem Liberalismus überflüssig zu machen. Wegen der offenkundigen
Schwäche des „liberalen Systems" und dem ständigen Zuwachs der
nationalistischen Bewegungen durfte derjenige schon m i t Zustimmung
rechnen, der bei der Ablehnung einer konträren Meinung allein auf
deren Abhängigkeit von einer liberalen Grundhaltung hinwies.
Dem Versuch, die Einwände der Gegner des Liberalismus i n der
Strafrechtswissenschaft darzustellen, kann also nur ein bescheidenes
Ziel gesetzt werden. Ein Katalog rationaler Argumente darf nicht
erwartet werden, bestenfalls eine Sammlung einiger Topoi antiliberalen
Denkens 6 .

I. Die Kritik der antiliberalen


Strafrechtswissenschaft am Liberalismus

1. Entartung des Freiheitsgedankens

„Der Liberalismus ist eine Entartung des Freiheitsgedankens 7 ." Dieser


einleitende Satz i n H. Langes Schrift „Liberalismus, Nationalsozialismus
und Bürgerliches Recht" gibt auch den Grundtenor der K r i t i k am
Liberalismus i n der Strafrechtswissenschaft wieder. Die antiliberalen
Strafrechtler wandten gegen die liberale Staatsauffassung ein, daß

4 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54 f.; s. auch Mittermaier,


SchwZStR 1934, S. 321.
5
I m „ K a m p f zwischen V e r n u n f t u n d Glauben" mußte nach Ansicht von
Dahm u n d Schaffstein der Glaube den Sieg davontragen (Liberales oder
autoritäres Straf recht?, S. 3).
6
Eine Zusammenfassung der „Argumente" gegen den Liberalismus gibt
Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18 ff. Umfang u n d I n h a l t sind
bezeichnend f ü r die antiliberale Argumentationsweise: A u f n u r 2 V2 Seiter
w i r d der Liberalismus i n Bausch u n d Bogen verdammt.
7 RuS H. 102, S. 1.
58 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

sie ihr wesentliches Ziel darin erblicke, „eine staatsfreie Sphäre zu


schaffen", die der „völligen Willkürherrschaft des Einzelindividuums" 8
vorbehalten bleibe. Die Freiheit werde zum Selbstzweck 9 . Sie warnten
vor dem Chaos als letzter Konsequenz dieser Anschauung 10 . Der
Liberalismus kenne „keine Grenzen der maßlosen Individualisierung" 1 1 .
Sie bekämpften die liberale Ansicht, daß alle bewegende, schöpfe-
rische K r a f t vom Menschen als Einzelwesen ihren Ausgang nehme.
Der Liberalismus verkenne, daß die menschliche Lebensenergie aus
überindividuellen Quellen gespeist werde, aus Ordnungen, denen der
Mensch von Natur aus angehöre. Auf Grund seiner rationalistischen
Denkweise sei der Liberale unfähig, derartige „Samtschaften" 12 zu
erkennen; er sehe nur die Elemente, die Individuen. Er habe kein
Verständnis für die innere Bindung des Menschen an die „gewachsenen
Lebenseinheiten" 12 wie Familie, Sippe, Volk, für die gegenseitige Treue,
die die Glieder einer solchen Einheit miteinander verbinde, und für die
Verantwortung, die der einzelne der übergeordneten Ganzheit schulde.
Das Werk des Liberalismus sei es gewesen, daß sich das einheitliche
Volksbewußtsein i n eine „relativistische Vielheit sittlicher Anschauun-
gen" aufgelöst habe 13 .

2. Entleerung des Staatsbegriffs

Die Unfähigkeit liberalen Denkens, irrationale Gegebenheiten zu


verstehen, habe dazu geführt, daß an die Stelle der Gemeinschaft eine
Gesellschaft getreten sei, i n der die einzelnen Glieder unverbunden
nebeneinander stünden 14 . Zugleich sei dem Staat die Funktion, Aus-
druck der Gemeinschaft zu sein, genommen und die Aufgabe zuge-
wiesen worden, die gesellschaftlichen Vorgänge zu überwachen. Der
liberale Staat sei ein Gebilde „ohne Ehre und Würde" 1 5 . I h m fehle
die lenkende Kraft übergeordneter, allgemeingültiger Werte 1 6 . Der
Liberalismus verweise den Menschen auf sich selbst und seine persön-
lichen Vorteile. Er bevorzuge das „berechnend kluge Individuum, das
sich i n seinem eigensüchtigen Streben keiner inneren Bindung an die
Gemeinschaft u n t e r w i r f t " 1 7 .

8 Berges, DStR 1934, S. 240.


9 Vgl. Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 18; Siegert, Grundzüge, S. 4.
10 Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 37;
Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18.
n Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18.
12 Ebd., S. 18.
13 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 60.
14 Vgl. Freisler, D J 1935, S. 1248 f.; Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 180.
is Forsthoff, Der totale Staat, S. 13.
16 Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 60.
I. Die K r i t i k am Liberalismus 59

Der Liberalismus fördere das Gewinnstreben der bürgerlichen


Klasse. Da sein System dem wirtschaftlich Mächtigen erlaube, von
seiner Macht ungehindert Gebrauch zu machen, sei es nicht i n der
Lage, die Spaltung des Volkes durch Klassengegensätze zu über-
winden. Uberhaupt sei i n den sozialen Problemen vom liberalen
Standpunkt der Interessengegensätzlichkeit aus kein Fortschritt zu
erzielen 18 .
Aus der Trennung und Gegenüberstellung von Staat und Gesell-
schaft sowie von Staat und Individuum resultiere die liberale Lehre
vom Staat als juristischer Person 19 . Sie gehe davon aus, daß eine
ursprüngliche, autonome Individualsphäre bestehe, die der Staat
wie eine rechtlich gebundene Person zu respektieren habe. Zum Schutz
des Individuums werde für staatliche Eingriffe eine ausdrückliche
Rechtfertigung durch ein Gesetz verlangt.

3. Wider die parlamentarische Demokratie

Als vollendete Ausdrucksform des Liberalismus i m Bereich der poli-


tischen Willensbildung betrachteten die Vertreter des stafrechtlichen
Antiliberalismus die parlamentarische Demokratie. Bei der Bewertung
dieser Staatskonstruktion ließen sie sich von der gegenteiligen Vor-
stellung eines autoritären Machtstaates leiten. Sie behaupteten, daß
i n einem pluralistischen Parteienstaat eine „einheitliche Willens-
bildung" nicht möglich sei 20 . Es war ihnen zuwider, daß „der blasse,
relativistische und neutrale Staat unter dem Einfluß wechselnder
Massenstimmungen und Parteiverbindungen immer wieder Gestalt und
Farbe wechselt" 21 . Die Abhängigkeit vom schwankenden Wählerwillen
bewirke „Verantwortungslosigkeit und Autoritätslosigkeit" 2 2 .
Da das Prinzip der Demokratie — Regierung der Regierten — nicht
vollständig durchzuführen sei, übernehme die unpersönliche Gesetzes-
norm die Herrschaft 23 . Darin vollende sich die „Entwesung" 2 4 des

i? Ebd., S. 57; Henkel kennzeichnet das Menschenbild des Liberalismus als


„personifizierten Egoismus".
ι» Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18 f.
ι» Vgl. Schaff stein, D J Z 1934, Sp. 1176 f. I n der Staatsrechtswissenschaft
wurde der Begriff der juristischen Staatsperson vor allem von Höhn
bekämpft, vgl. D R 1934, S. 322 ff.; D R 1935, S. 266; Rechtsgemeinschaft u n d
Volksgemeinschaft, S. 11 ff., 53 ff.
20 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 36 f.
Dahm/ S chaff st ein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 38.
22 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 19, 48; vgl. auch Henkel, Straf-
richter u n d Gesetz, S. 36 f.
23 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 48 f.; Koellreutter, RuS H. 101,
S. 15 f.
24 Berges, DStR 1934, S. 240.
60 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

Staates zum „bürokratischen Apparaturstaat" 2 5 , der das persönliche


Moment vollständig ausschließe. Die Herrschaft der Norm gewähr-
leiste ein hohes Maß an Berechenbarkeit, das der geschickte und
skrupellose egoistische Mensch benötige, um seine Freiheit ohne Rück-
sich auf die Belange anderer oder auf übergeordnete Belange zum
eigenen Vorteil auszunutzen. Beweis dafür seien die zahlreichen
Skandale der Weimarer Zeit 2 6 .
Jener Staat von Weimar verkörpere die „Verfallsform des bürger-
lichen Rechtsstaats" 27 . Unter Anknüpfung an die politischen Grund-
gedanken des 19. Jahrhunderts lege er lediglich das Verfahren zur
Gewinnung und Ausübung der politischen Macht fest. Deren Recht-
mäßigkeit hänge allein von der Einhaltung formaler Vorschriften
ab. Da diesem Staat die richtungsweisende Mitte fehle, habe er auch
keine materiellen Rechtswerte aufzuweisen 28 .

4. Der „undeutsche" Liberalismus

Neben der K r i t i k an den theoretischen Voraussetzungen und an den


praktischen Konsequenzen des Liberalismus führten seine Gegner an,
daß er „undeutsch" sei 29 : „Er ist unserer eigenen deutschen A r t , die
Welt anzuschauen, entgegengesetzt und widerwärtig 3 0 ." Dem deutschen
Menschen sei die innere Bindung an Gemeinschaften, insbesondere an
die des Volkes, selbstverständlich. Das westliche System der liberalen
parlamentarischen Demokratie werde daher i n Deutschland nie voll-
ständig und endgültig Fuß fassen können.

II. Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses31

1. Das Menschenbild

Wie sollte der Liberalismus überwunden werden? Da er nach anti-


liberaler Ansicht deutschem Geist fremd war, sollte eine Besinnung auf

25 Forsthoff, Der totale Staat, S. 11; vgl. auch Dahm, MSchrKrimPsych


1933, S. 174.
26 Forsthoff, Der totale Staat, S. 26.
27 Ebd., S. 20.
28 Vgl. ebd., S. 26 ff.; v.Weber, D J Z 1933, Sp. 864; insgesamt dazu: C.
Schmitt, Legalität u n d Legitimität.
29 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18; vgl. Forsthoff, Der totale
Staat, S. 24; Nicolai, Grundlagen, S. 14.
30 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18.
31
Es werden hier nur die Grundzüge dargestellt, w e ü die Verquickung
strafrechtlicher u n d staatstheoretischer Auffassungen i m Laufe der weiteren
Untersuchimg i m m e r wieder zur Erörterung der antiliberalen Staatstheorie
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses 61

das Wesen des deutschen Menschen zum Ziel führen. Als den „realen
deutschen Menschentypus der Gegenwart" stellten die antiliberalen
Strafrechtler den „gemeinschaftsgebundenen, durch Dienst am Volks-
ganzen innerlich verpflichteten Menschen" heraus 32 . Egoistisches Streben
nach persönlichen Vorteilen und das Verlangen nach Berechenbarkeit
staatlicher Eingriffe lägen i h m fern. Dieser „politische Soldat" 3 3 gebe
sich ganz dem Dienst an der Gemeinschaft hin 3 4 . Er existiere somit
nicht als Individualität für sich, sondern als gebundenes Glied über-
geordneter Gemeinschaften, unter denen die höchste das Volk sei 35 .
Die Bindungen seien nicht ein Ergebnis individueller Einsicht; sie
beruhten auf natürlichen Gegebenheiten 36 .
Vor dem einzelnen ist also das Volk da; der einzelne ist lediglich
„Material" 3 7 . Das antiliberale Denken i n Ganzheiten sah i m Volk
mehr als die Summe der Individuen: Das Individuum sei von vorn-
herein Volksgenosse; das Wesen des Volkes liege i n der Gemeinschaft 38 .
Es zeige sich i n einer Gleichartigkeit des Fühlens und des Denkens.
Dem einzelnen eröffne sich das Gemeinschaftserlebnis als eine existen-
zielle Erfahrung. Das Vorhandensein einer echten Volksgemeinschaft
habe sich „schlaglichtartig" i m Erlebnis des ersten Weltkrieges
gezeigt 39 .
Zur Untermauerung ihres Standpunktes verwiesen die antiliberalen
Strafrechtswissenschaftler auf die gemeinsame geschichtliche Ver-
gangenheit, auf die Verbindung durch einen gemeinsamen Lebensraum
und auf die blutsmäßige Gleichartigkeit der Volksglieder („Blut und
Boden") 40 . Unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Rassen-
doktrin rückte später der letztgenannte Gesichtspunkt i n den Vorder-

nötigt. Vgl. zum folgenden Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 101 ff.,
dessen Darstellung jedoch vorwiegend auf das Staats- u n d Rechts Verständnis
der nationalsozialistischen Machthaber abstellt.
32 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
33
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130.
34 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 67.
35 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109.
36 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18; Röhrborn, Der autori-
täre Staat, S. 18, spricht von „Ursprungskollektivität" ; Specht, Der Straf-
zweck, S. 27: „Das V o l k ist die natürliche überindividuelle Gemeinschaft."
37 Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 20; Gerland, D J Z 1933, Sp. 860:
„ V o r der Gemeinschaft bedeutet der einzelne n u r soviel, als er für sie
bedeutet."
38 Vgl. Dahm, DR 1934, S.417; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 109.
39 Specht, Der Strafzweck, S. 26; vgl. auch Höhn, Referat zum Kongreß
für Rechtsvergleichung 1937, S. 152.
40 Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 8 f.; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38.
62 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

grund: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse und
eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 41 ."
Der „heroisch-völkische Realismus" 42 erhob den Anspruch, von der
tatsächlichen Geisteslage i m deutschen Volk auszugehen. I n der histo-
rischen Wirklichkeit hatte nun aber die „geistige Überfremdung" 4 3
deutlich sichtbar Einfluß genommen. Der „reale deutsche Menschen-
typus" 4 4 war gerade nicht stets real gewesen.
Die antiliberalen Strafrechtlicher befreiten sich aus dem Dilemma,
indem sie „Wirklichkeit" nicht als empirische Wirklichkeit auffaßten 45 .
Das zeigt auch der häufige Gebrauch der Attribute „wahr", „echt" oder
„gesund" i m Zusammenhang mit Begriffen wie „Volksgemeinschaft"
oder „Volksanschauung". So wurde eine bestimmte Organisationsform
des Volkes oder eine bestimmte Geisteshaltung als dem deutschen
Wesen gemäß herausgehoben und für maßgeblich erklärt. Sie müßten
i m politischen Leben durchgesetzt werden. Wo die Bereitschaft zur
Unterordnung unter die Gemeinschaftsbelange fehle, müsse mit Härte
durchgegriffen werden 4 6 Der darin liegende Widerspruch zur angeblich
wirklichkeitsbezogenen Denkweise trat i n einer Formulierung Henkels
offen zutage: „Die nationalsozialistische Bewegung hat den volks-
verbundenen, aus freien Stücken zu Hingabe und Opfer bereiten Men-
schen als deutschen Menschentypus geschaffen 46 ." Dieser Widerspruch
w i r d uns i m folgenden noch häufig beschäftigen.

2. Der Staat als Lebensform des Volkes

Die Gemeinschaft des Volkes beruht nach Auffassung der A n t i -


liberalen auf dem inneren Gefühl der Zusammengehörigkeit. Zur
Wirksamkeit nach außen bedürfe es einer bestimmten politischen

Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 7 ; vgl.


auch Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 169.
42 Marcuse, Der K a m p f gegen den Liberalismus, S. 17.
43 Larenz, RuS H. 109, S. 3.
44 Henkel Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
45 Vgl. z.B. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S.85, der „empirische"
u n d „sinnvolle" W i r k l i c h k e i t unterscheidet. Hier besteht ein Zusammenhang
m i t Hegelschem Denken. Auch Hegel versteht „ W i r k l i c h k e i t " nicht als
empirische Wirklichkeit. E r unterscheidet mehrere Stufen des Seins, unter
denen die W i r k l i c h k e i t eine der höchsten ist. E r definiert sie als „Einheit
des Wesens u n d der Existenz; i n i h r hat das gestaltlose Wesen u n d die
haltlose Erscheinung; — oder das bestimmungslose Bestehen u n d die
bestandslose Mannigfaltigkeit ihre Wahrheit" (Wissenschaft der Logik, T e i l 1,
S. 662). Vgl. dazu Bloch, Naturrecht, S. 150 f. Über den Einfluß Hegelscher
Philosophie auf die antiliberale Strafrechtswissenschaft vgl. unten 5. Kap.
V I I . 3.
46 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz,, S. 65. Vgl. zu diesem „tendenziösen
Wirklichkeitsbegriff" Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 296.
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses 63

Gestalt, der des Staates. Damit wurde auch der Staat als natürliche
Gegebenheit oder zumindest als Konsequenz natürlicher Voraussetzun-
gen erklärt 4 7 . I m Staat verwirkliche sich die Gemeinschaft des Volkes.
Staat und Volk bildeten eine Einheit: „Der deutsche Staat ist nicht nur
äußerliche Zutat zum lebendigen Volkstum, sondern die der Lebens-
wirklichkeit unseres völkischen Daseins entsprechende Gestalt 48 ."
Klare Angaben über die politischen Ziele eines derartigen „Volks-
staates" 49 ließen sich dem nicht entnehmen. Die Antiliberalen bedienten
sich hier verschwommener Wendungen: Der Zweck des Staates liege i n
der „Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte" 5 0 ; der neue
Staat ziele auf die Verwirklichung seines „totalen Lebensgesetzes" 51 .
Die Ausfüllung dieser Leerformeln 5 2 blieb den politischen Instanzen,
d. h. der nationalsozialistischen Führungsschicht überlassen, deren ras-
sistische Doktrin sich dabei voll entfalten konnte.

a) Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs

Die Vertreter des Antiliberalismus bezeichneten ihre Staatsauffas-


sung als „universalistisch und idealistisch" 53 . Nicht der freiwillige
Zusammenschluß einzelner zur Förderung des individuellen Wohls
bilde die Grundlage des Staates. Maßgebend sei die „Einsicht, . . . daß
das gesamte Sein des einzelnen nur gegeben ist mit dem Sein des
Staates und der Rechtsordnung" 54 . Der Staat schaffe die Ordnung, die
es dem einzelnen erst ermögliche zu leben 55 . Es könne daher keine
Freiheit vom Staat geben; Freiheit — rechtverstanden — bedeute
zugleich Gebundenheit 56 . Da sich das Wesen der menschlichen Persön-

47 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 21; Kriech, Der Staat des


deutschen Menschen, S. 60.
48 Dahm, ZStaatW 95, S. 304; ähnliche Formulierungen bei Schaff stein,
DStR 1934, S. 280; E.Wolf, RuS H. 103, S. 33; Siegert, Grundzüge, S. 9;
Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, S. 11; Thalheimer, Der F ü h r e r -
gedanke, S. 5.
4» Binder, RuS H. 110, „Der deutsche Volksstaat".
so Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47.
51 Forsthoff, Der totale Staat, S. 43; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d
Gesetz, S. 52.
52 Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 7: Es gehe i n erster L i n i e u m den „Bestand
der Gemeinschaft u m ihrer selbst w i l l e n " .
53 Finke, Lib. und Strafverfahrensrecht, S. 21; vgl. Henkel, Strafrichter
u n d Gesetz, S. 46 („transpersonalistisch").
54 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47.
55 Vgl. ebd., S. 47 u n d Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 21.
56 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 22; Gerland, D J Z 1933,
Sp. 860 („Korrelatidee zu der Leistung des einzelnen gegenüber dem Gan-
zen"); Koellreutter, Staatslehre, S. 101; ders., RuS H. 101, S.31.
64 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

lichkeit erst i n der Hingabe an die Gemeinschaft entfalte, könne der


individualistische Freiheitsbegriff keine Gültigkeit mehr haben.
Henkel definierte „Freiheit" neu als „persönlicher Handlungsspiel-
raum innerhalb der Bindung an das Volksganze" 57 .

b) Der „konkrete" Gleichheitsbegriff

Zugleich mit dem liberalen Postulat der Freiheit wurde i n der neuen
Staatstheorie auch das der Gleichheit modifiziert und i m Ergebnis
pervertiert. Wie den Freiheitsbegriff unterwarf man auch den liberalen
Gleichheitsbegriff einer Fragestellung, die seiner Tradition völlig
konträr war: Geprüft wurde, inwieweit er mit den Prinzipien und An-
forderungen des völkischen Staates vereinbar sei.
Gegen die liberale Gleichheitsidee wurde i m einzelnen vorgebracht 58 :
Das Volk bestehe nicht aus einer gleichförmigen Masse unabhängig
voneinander existierender Individuen. Es setze sich aus vielen natür-
lich gewachsenen Gemeinschaften wie Familie, berufliche Gruppe,
militärischer Verband zusammen und bilde selbst wiederum eine
Gemeinschaft. Dem Charakter der Gemeinschaft widerspreche es, wenn
sich der einzelne unter Berufung auf das Postulat absoluter Gleichheit
seiner besonderen Verantwortung entziehen könne, die aus seiner kon-
kreten Stellung innerhalb der Gemeinschaft resultiere. Die ständische
Gliederung des Staates 59 müsse sich auch i n der Rechtsordnung nieder-
schlagen; das Recht habe auf die Besonderheiten der vielen Gemein-
schaften innerhalb des Volksganzen Rücksicht zu nehmen und müsse
ihnen durch eine konkrete Erfassung gerecht werden. — Nach Höhn
sollte der abstrakte liberale Gleichheitsbegriff durch das „Prinzip der
konkreten Gleichheit der Volksgenossen" ersetzt werden 5 8 .
Diese Umschreibung der Gleichheit hielt nur noch am Wort fest. I n
ihr verflüchtigte sich das liberale Postulat zu dem romantischen B i l d
einer organischen Eingliederung des einzelnen i n den Volkskörper,
das die geeignete Form für handfeste politische Inhalte abgab; denn
es ermöglichte die Beseitigung aller formalen Schranken, die ein
Mindestmaß an Gleichheit jedenfalls i m Rahmen des Rechts gewähr-
leisten.
3. Die Staatsform

Die Form des neuen Staates sollte den „Grundlagen des Volkslebens"
entsprechen 60 ; i n einem kraftvollen Staat sollte der Gedanke der Einheit
57 Strafrichter u n d Gesetz, S. 66.
58
Vgl. zum folgenden Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung
1937, S. 158; Larenz, RuS H. 109, S. 39.
59 Vgl. E. Wolf, RuS H. 103, S. 33.
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses 65

und Gemeinschaft sichtbar zum Ausdruck kommen. Damit wurde der


Gemeinschaftsgedanke zugleich i n Grenzen verwiesen. Eine unmittel-
bare Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungsprozessen
wie i n der liberalen parlamentarischen Demokratie kam nicht i n Be-
tracht. „Unser Volk ist von jeher kraftvoll gewesen, solange es geführt
wurde 6 0 ."

a) Das Führerprinzip

Die Herrschaft der unpersönlichen Norm i m liberalen Gesetzgebungs-


staat sollte durch die „persönliche Entscheidung der staatlichen Ver-
antwortungsträger" 6 1 ersetzt werden. Es wurde eine klare Trennung von
Regierung und Regierten, von „Herrschaft und V o l k " 6 2 angestrebt 63 .
Die Gliederung des Volksstaates ergebe sich aus den Gesichtspunkten
von Befehl und Gehorsam 64 . Die Führerschicht bedürfe keiner Be-
stätigung durch das V o l k 6 5 . Die Zugehörigkeit zur Herrschaftsschicht
beruhe auf einem „wirklichen Anderssein" 66 .
Zwischen dem Gedanken der allumfassenden Volksgemeinschaft und
dem autoritären Führerprinzip bestand ein klarer Widerspruch. Die
antiliberalen Sträfrechtlicher überbrückten ihn durch die Behauptung,
Führer und Gefolgschaft seien innerlich miteinander verbunden 67 . Der
Verantwortung, die der Führer für die Gemeinschaft trage, entspreche
die Treue des Volkes. Die innere Bindung folge aus der Artgleichheit
von Führer und Gefolgschaft 68 . Durch sie sei der Führer i m Volk
verwurzelt. Auf Grund der inneren Verbundenheit sei sicher, daß der
Führer den Interessen des Volkes nicht zuwider handeln werde 6 9 . Eine
Reglementierung der staatlichen Führung durch eine äußere gesetz-
liche Bindung lehnten die Vertreter des Antiliberalismus ab 7 0 .

60 Siegert, Grundzüge, S. 10.


61 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45.
62 Forsthoff, Der totale Staat, S. 30.
63 Vgl. ebd., S. 33; Horstmann, D R 1933, S. 102.
64 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45, 49; Α. E. Günther, Widerstand
1930, S. 263 f.; Forsthoff, Der totale Staat, S.34; Horstmann, D R 1933, S. 102.
65 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 30; Thalheimer, Der Führergedanke,
S. 7.
66 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33.
67 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 22; Krüger, ZStW 55, S. 117.
68 Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 10; C.Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k ,
S. 32 ff.; Thalheimer, Der Führergedanke, S. 6.
69 Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 34.
70 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33, vertrat die Auffassung, daß die
Führungsschicht nach eigenen Gesetzen lebe. Vgl. auch Finke, L i b . u n d
Strafverfahrensrecht, S. 2; Larenz, RuS H. 109, S. 44: „ E r (der Führer) ge-

5 Marxen
66 3. Kap. : Das neue Staatsverständnis

b) Der Regierungsstaat

Für die liberale Gewaltenteilungslehre, die bestimmt war, eine Be-


grenzung und Kontrolle der Staatsgewalt zu ermöglichen, war kein
Platz i m „völkischen Führerstaat" 7 1 . Die Trennung von Legislative
und Exekutive war m i t dem Prinzip der persönlichen Entscheidung des
politischen Führers unvereinbar 7 2 .
Die notwendige Konsequenz war die Vereinigung beider Gewalten
i n einer Hand. C. Schmitt hatte i n seiner Staatstypenlehre den Weg des
neuen Staates vorgezeichnet 73 : I m „Regierungsstaat" herrscht allein
die ungebundene Entscheidung des Führers. I m Ermächtigungsgesetz
vom 24. März 1933 sah man den Ubergang zum „Regierungsstaat"
vollzogen74.

4. Der staatliche Wirkungsbereich


(Totaler oder autoritärer Staat?)

Die antiliberale Staatstheorie zielte auf eine Auflösung der Gegen-


sätze von Staat und Individuum, von Staat und Gesellschaft und auf
eine vollständige gegenseitige Durchdringung von Staat und Volks-
gemeinschaft 75 . Der staatlichen Einwirkung auf Individuum und Gesell-
schaft wurden keine Grenzen gesetzt 76 . Dieser „Totalisierung des
staatlichen Wirkungsbereiches" 77 entsprach die vollständige Aufhebung
der Privatsphäre 78 .
Der Begriff eines dermaßen „totalen Staates" war jedoch i m konser-
vativen Lager nicht unumschritten. I h m wurde der des „autoritären
Staates" gegenübergestellt 79 . I m autoritären Staat sollte der Macht-

horcht nicht einer an i h n gerichteten Norm, sondern dem Lebensgesetz der


Gemeinschaft, das i n i h m Fleisch u n d B l u t gewonnen hat."
Siegert, Grundzüge, S. 9; Thalheimer, Der Führergedanke, S.5; Begriff
entwickelt bei Walz, D J Z 1933, Sp. 1339 f.
72 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45.
73 Vgl. C.Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung, S.75f.; Legalität u n d L e g i -
t i m i t ä t , S. 7 ff.
74 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54; C. Schmitt, D J Z 1933, Sp. 455;
Walz, D J Z 1933, Sp. 1334 f.
7δ Vgl. Gallas, Z S t W 53, S. 26.
76 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S.21; C.Schmitt, Der H ü t e r
der Verfassung, S. 78 f.
77 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54.
78 Vgl. ebd., S. 52; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113;
Forsthoff, Der totale Staat, S. 42.
79 Vgl. zu der Kontroverse: Ziegler, RuS H. 90; Röhrborn, Der autoritäre
Staat, S. 83 ff.; Förster, Der Einfluß der universalistischen Redits- u n d Staats-
auffassung, S. 13 ff.; Koellreutter, Staatslehre, S. 64; Walz, D J Z 1933, Sp. 1338
sowie unten 4. Kap. I I I . 4. c).
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben 67

Zuwachs des Staates nicht zu einem unbeschränkten Wirkungsbereich


führen. Der Staat sollte sich einer vollständigen Reglementierung der
gesellschaftlichen Abläufe enthalten, u m die gesellschaftlichen Kräfte
nicht zum Erliegen zu bringen 8 0 . Befürwortet wurde ein begrenzter
Bereich einer „ständischen Selbstverwaltung i m Staat" 8 1 .
Der Streit erlangte keine große praktische Bedeutung. Ein echter
Gegensatz bestand nicht. Auch der totale Staat war i n seinem Aufbau
autoritär 8 2 . I m übrigen erstrebten auch die Verfechter eines totalen
Staates keine völlige Bürokratisierung aller Lebensbereiche 83 . Total
sollte die Verantwortung des einzelnen sein: „Nicht daß der Staat bis i n
die kleinsten Zellen des Volkslebens hinein Gesetze und Befehle ergehen
läßt, ist wesentlich, sondern, daß er auch hier eine Verantwortung
geltend machen kann, daß er den einzelnen zur Rechenschaft ziehen
kann, der sein persönliches Geschick nicht dem der Nation völlig unter-
ordnet 8 4 ." Dieser Gedanke war total und autoritär zugleich. Die Ver-
bindung beider Elemente machte das Wesen des neuen Staates aus.

I I I . Die aus dem antiliberalen Staats-


verständnis hervorgegangene Auffassung vom
Wesen des Rechts und von seinen Aufgaben

1. Der antiliberale „Rechtsstaat"

I m totalen und autoritären Staat ist kein Platz für Rechtsgarantien


zugunsten des einzelnen Staatsbürgers. Das Verlangen nach Rechts-
sicherheit bedeutet dort Auflehnung gegen den „Gemeinschaftswillen".
I n keiner Beziehung deckt sich dieser Staat m i t dem herkömmlichen
B i l d des „Rechtsstaates", dessen Begriff i m allgemeinen Sprachgebrauch
und i n der Rechtstheorie einen festen Platz hat und der schon seinem
Wortsinn nach eine positive Bedeutung aufweist. Erfüllt ein Staat
seine Anforderungen nicht, läuft er Gefahr, zum „Unrechtsstaat" ab-
gestempelt zu werden.
Aus diesem Grunde war die antiliberale Rechtswissenschaft genötigt,
sich m i t dem Begriff des Rechtsstaates auseinanderzusetzen. Eine völlige

so Vgl. Ν agier, GS 103, S . X X A n m . 39; Röhrborn, Der autoritäre Staat,


S. 84 f.; H. J. Wolff, RuS H. 104, S. 43 f.
81 Förster, Der Einfluß der universalistischen Rechts- u n d Staatsauffassung,
S. 16.
82 Vgl. oben 3. Kap. I I . 3. a).
83 vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 34; Dahm, Nationalsozialistisches
u n d faschistisches Strafrecht, S. 9 f.
84 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42; vgl. auch Henkel, Sraftrichter u n d
Gesetz, S. 52.

5*
68 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

Tilgung aus dem Rechtsbewußtsein des Volkes erschien jedoch un-


möglich; eine lange Tradition hatte i h n zu einem unauslöschlichen
Bestandteil gemacht. Dem Begriff glaubte sich auch die antiliberale
Strafrechtswissenschaft beugen zu müssen, nicht aber seinem Inhalt.
Sie war bestrebt, den liberalen Rechtsstaat zu diffamieren und i h m den
„nationalen Rechtsstaat" 85 als „wirklichen Rechtsstaat" 86 entgegenzu-
setzen. Sie wollte sich von der Herrschaft eines vorgegebenen Rechts-
staatsbegriffs befreien, den i n i h m enthaltenen Maßstab neu bestim-
men, u m i h n für den neuen Staat anwendbar zu machen 87 .
Aus der Staatsrechtswissenschaft diente vor allem C. Schmitt als
Vorbild 8 8 . Daneben fanden noch die Arbeiten der jüngeren Staats-
rechtswissenschaftler Forsthoff und Höhn starke Beachtung 89 . I n der
Strafrechtswissenschaft bemühte sich Henkel besonders intensiv und
m i t nachhaltiger Wirkung u m eine Neuformulierung des Rechtsstaats-
begriffs 90 .
Daß der liberale Staat die Bezeichnung „Rechtsstaat" für sich
beanspruchte, war nach antiliberaler Ansicht eine „Anmaßung" 9 1 . I n
i h m herrsche eine einseitige Auffassung vom Recht, die unmittelbar
m i t den besonderen Prinzipien des liberal-bürgerlichen Staates zu-
sammenhänge: „ I n der Opferung der Idee materieller Gerechtigkeit
zugunsten der formalen Garantien der Freiheit und Gleichheit zeigt
sich die Verbindung des individualistischen Rechtssicherheitsbegriffs
m i t dem Gedankengut und Staatszweck des bürgerlichen Rechts-
staates 92 ." Gesetzesbestimmtheit und Berechenbarkeit der staatlichen
Tätigkeit seien zum alleinigen Maßstab der Rechtsstaatlichkeit erhoben
und überindividualistische Rechtswerte aus der Betrachtung ausge-
schlossen worden. Das i m liberalen Staat herrschende Prinzip des
Relativismus verhindere die Aufstellung materieller Rechtswerte. Daher

83 Diesen Begriff prägte Koellreutter; vgl. RuS H. 89; vgl. auch ders.,
RuS H. 101, S. 9 ff.; D J Z 1933, Sp. 517 ff.
86 Krüger, ZStW 55, S. 199.
87 Ganz deutlich der Satz bei C.Schmitt, J W 1934, S. 716; „ W i r bestimmen
. . . nicht den Nationalsozialismus von einem i h m vorgehenden Begriff des
Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat v o m Nationalsozialismus
her."
88 Vgl. Die drei Arten, S.35; J W 1934, S. 713 ff.; ZStaatW 95, S. 189 ff.
89 Vgl. die folgenden Anmerkungen. Den Meinungsstand zum Rechts-
staatsbegriff i n der Staatsrechtswissenschaft referierte 1936 Groß-Fengels,
Der Streit u m den Rechtsstaat.
90 Vgl. Strafrichter u n d Gesetz, S. 53 ff.; u n d die Besprechungen von
Dahm, DStR 1934, S. 248 ff., Schaff stein, ZStW 54, S. 261 ff. sowie Bung,
J W 1934, S. 1107.
91 Forsthoff, Der totale Staat, S. 14; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d
Gesetz, S. 53.
92 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 64.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben 69

sei dieser Staat unfähig, Recht und Unrecht sinnvoll zu unterscheiden 93 .


Es müsse i h m daher die Berechtigung bestritten werden, sich ein Staat
des Rechts zu nennen. Nicht die Bezeichnung „Rechtsstaat", sondern
„Rechtssicherheitsstaat" treffe auf ihn zu 9 4 .
Von der Befolgung rein formaler Rechtsprinzipien könne es nicht
abhängen, ob ein Staat für sich das Ethos der Rechtsstaatlichkeit i n
Anspruch nehmen dürfe. Jeder Staat, der sich zur Aufgabe setze,
„Recht zu schaffen und es innerhalb seines Wirkungsbereiches zur
Geltung zu bringen", war nach Henkels Auffassung ein Rechtsstaat 95 .
M i t dieser Formulierung wurde der Anwendungsbereich des Begriffs
ganz erheblich erweitert. Objektive Kriterien waren i n ihr nicht mehr
enthalten; sie stellte allein auf die Intention der staatlichen Machthaber
ab. Es sollte die erklärte Absicht genügen, Recht verwirklichen zu
wollen.
Erfahrungsgemäß geht aber den Machthabern eines Unrechtsstaates
diese Absichtserklärung besonders leicht von den Lippen. Den Gefahren
ihres Rechtsstaatsbegriffes gegenüber waren die Antiliberalen jedoch
blind.
Erst der neue Staat bot nach ihrer Ansicht die Gewähr für die
Durchsetzung des Rechts. I n i h m sei der Gedanke der Gesetzes-
bestimmtheit abgelöst worden durch den „tiefergreifenden Gedanken
der Rechtmäßigkeit" 96 . Rechtssicherheit bedeute nicht mehr: Sicherung
eines individuellen Freiheitsraumes durch ein starres, formales Recht,
sondern „Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes i m Sinne des Rechts-
gedankens der Volksgesamtheit J 7 " Der neue Staat habe sich zum Ziel
gesetzt, das über dem Gesetz stehende Recht des deutschen Volkes
ohne Rücksicht auf formale Schranken zur Geltung zu bringen. I n
diesem „nationalen Rechtsstaat" sei erst die eigentliche Rechtsstaatlich-
keit hergestellt, indem dort das „artgemäße" 9 8 Recht des Volkes ver-
wirklicht werde.
Wie sah nun dieses Recht aus? Woher wurde es genommen?

2. Die Quelle des Rechts98a

Die Gegner des liberalen Strafrechts wandten sich gegen die Auf-
fassung, daß das Recht i n einem rational aufgebauten, zweckorientierten

93 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 14.


94 Krüger, ZStW 55, S. 119; vgl. auch C. Schmitt, J W 1934, S. 714.
95 Strafrichter und Gesetz, S. 53.
96 Ebd., S. 68.
97 Ebd., S. 66; vgl. auch Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 25.
98 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
70 3. Kap.: Das neue Staatsverständnis

System gesetzlicher Vorschriften bestehe. Verfehlt sei zudem die Vor-


stellung, der Gesetzgeber habe es frei von irrationalen Erwägungen
und historischen Bindungen aus seiner eigenen Gedankenwelt heraus
geschaffen". Das Gesetz sei nur die äußere Erscheinung eines tieferen
Rechts, das sich i n einem ständigen Entwicklungsprozeß befinde 1 0 0 . Die
gesetzliche Positivierung erfolge lediglich aus Gründen der Praktika-
bilität, nämlich „ u m der Rechtseinheit und der Rechtskontinuität
w i l l e n " 1 0 1 . A u f Grund ihrer Formgebundenheit halte die gesetzliche
Vorschrift immer nur einen Punkt der Rechtsentwicklung fest und
beschwöre die Gefahr herauf, daß das Recht erstarre.
U m ihr zu begegnen, sei es erforderlich, die statische Betrachtungs-
weise des Positivismus durch eine „dynamische" zu ersetzen 102 . Man
müsse sich stets vor Augen halten, daß das Recht i n einem langen
geschichtlichen Prozeß geformt worden sei und sich fortwährend
erneuere. Als sekundäre Erscheinung könne das Gesetz nicht die
Bedeutung einer Rechtsquelle haben; lediglich als „Rechtserkenntnis-
quelle" 1 0 3 könne es Aufschluß über das „lebende Recht" 1 0 4 geben, das
unabhängig vom Gesetz bestehe.
I m betonten Gegensatz zu einer rationalen Begründung leiteten
die antiliberalen Strafrechtler dieses Recht „organisch" 1 0 5 aus dem
Gemeinschaftsgedanken ab: Zum Wesen der Gemeinschaft gehöre eine
Gemeinschaftsordnung. Recht und Gemeinschaft stünden i m Verhältnis
wechselseitiger Einwirkung. Das Recht gehe aus der Gemeinschaft
hervor und die Gemeinschaft bilde sich i m Recht fort 1 0 6 . Gemeinschaft
und Recht seien daher gleichermaßen „ursprünglich" 1 0 7 . Aus der
Verbindung des Rechts m i t der Gemeinschaft beziehe die Rechtsordnung
ihre verpflichtende K r a f t und ihre Würde 1 0 8 . Die Quelle des Rechts lag

08a v g l . zur nationalsozialistischen Rechtsquellenlehre Rüthers, Die unbe-


grenzte Auslegung, S. 121 ff.
»9 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 23; Gallas, Festschrift f ü r
Gleispach 1936, S. 64; Larenz, RuS H. 109, S. 5; Dahm, Z S t W 57, S.252.
190 Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 14; Welzel, Naturalismus
u n d Wertphilosophie, S. 75; Mezger, Leitfaden, S. 25; Henkel, Die Unab-
hängigkeit, S. 28 f.
ιοί Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 28; vgl. auch Latenz, RuS H . 109, S. 25 f.
102 Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 14; vgl. auch Finke, L i b . u n d
Strafverfahrensrecht, S. 23.
103 Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 28.
104 Ebd., S. 29.
los Schaff stein, ZStW 55, S. 607, sprach von einer „organischen Rechts-
auffassung des Nationalsozialismus".
loe Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 6 f., 19.
107 Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 31.
io« Vgl. ebd., S. 32.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des echts u n d von seinen Aufgaben 71

nach dieser Auffassung i n der gemeinschaftsbewußten, gemeinschafts-


bildenden Volksanschauung.
Diese Rechtsquellenlehre knüpfte an die Lehren der historischen
Rechtsschule wieder an 1 0 9 . Auch der Begriff des „Volksgeistes" wurde
wieder aufgenommen 110 . I m Unterschied zu den Vertretern der histo-
rischen Rechtsschule beschränkten sich die antiliberalen Strafrechtler
aber nicht auf eine kontemplative und rezeptive Betrachtung des Volks-
bewußtseins, die die historische Rechtsschule letzten Endes zu einer
völligen Akzeptierung des bestehenden positiven Rechts als angeblicher
Ausdrucksform des Volksgeistes führte 1 1 1 . Ihre politischen Intentionen
waren zu stark, als daß sie sich m i t der Hinnahme der tatsächlich
vorhandenen Volksanschauungen zufrieden geben konnten. Für maß-
geblich erklärten sie die „gesunde" Volksanschauung.
Weder der Begriff, noch seine Definitionen enthielten eine klare
Beschreibung des Gegenstandes. Dahm sprach von der „geschichtlich
gewordenen Sittenordnung" des Volkes, von seinem „inneren Lebens-
gesetz" 112 . Zu einer Präzisierung fühlten sich die Gegner des Liberalis-
mus nicht verpflichtet. Aufgabe der neuen Rechtsordnung könne nicht
sein, Recht und Unrecht i m Interesse einer individualistisch verstande-
nen Rechtssicherheit scharf voneinander zu unterscheiden 113 . Das i m
Volksbewußtsein verankerte Recht könne nur ganzheitlich und wesen-
haft erfühlt und erlebt werden 1 1 4 .
So blieben die Kriterien für die Bestimmung der „gesunden" Volks-
anschauung unerörtert. Das Unterlassen einer Klärung des Begriffs
i n der Rechtswissenschaft erleichterte es den nationalsozialistischen
Machthabern, ihn für ihre Zwecke nach Belieben einzusetzen.

3. Recht und Wert

Auf Grund ihrer „organischen Rechtsauffassung" 115 widersprachen


die Antiliberalen der Ansicht, das Recht stelle ein Normengefüge dar,

io» Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24; Larenz, RuS H. 109,
S. 17; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 22 u n d 26.
no vgl. H.Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 8; Nicolai, Rassen-
gesetzliche Rechtslehre, S. 22.
m Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 252: „Die Volksanschauung als der letzte
Geltungsgrund des Rechts ist nicht der ,still waltende Volksgeist 4 der
Romantik u n d der historischen Rechtsschule, den es zu belauschen gilt,
sondern völkisches Recht ist ein bewußt u n d a k t i v gestaltendes Recht." Vgl.
zum Positivismus der historischen Rechtsschule Bloch, Naturrecht, S. 102 ff.
ι " ZStW 57, S. 255; vgl. auch Referat zum Kongreß f ü r Rechtsverglei-
chung 1937, S. 520.
us Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
114 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75; E. Wolf, Z S t W 53,
S.573.
72 3. Kap.: Das neue Staatserständnis

m i t dessen Hilfe tatsächliche Geschehnisse bewertet würden. Vor allem


Dahm 1 1 6 und Welzel 1 1 7 wandten sich gegen die strikte Trennung von
Wirklichkeit und Wert, wie sie insbesondere der südwestdeutsche
Neukantianismus durchgeführt hatte.
Von diesem Standpunkt aus sei die Wirklichkeit ein Chaos, das erst
durch von außen herangetragene Werte geordnet werde. Diese Auf-
fassung sei widerlegt durch die Erkenntnis, daß biologische Grundlagen
das geistige Leben entscheidend beeinflußten, Wirklichkeit und Wert
also nicht nebeneinander existierten 1 1 8 . So sei die Volksgemeinschaft
ein Ergebnis der rassischen Gleichartigkeit ihrer Glieder 1 1 9 . Sie enthalte
i n sich sinnvolle Ordnungsstrukturen; die Gemeinschaft sei eine
„wirkliche, lebendige, innere Ordnung" 1 2 0 . Sie werde nicht von außen
geordnet, sondern trage „ i h r inneres Gesetz, ihr Recht" 1 2 1 i n sich.
Recht und Leben könnten daher nicht als Gegensätze betrachtet werden.
Bei gemeinschaftsbezogener Sicht zeige sich, daß das Recht nicht das
menschliche Handeln zum Objekt seiner Bewertung mache, daß viel-
mehr dieses Handeln „seinen Sinn oder Widersinn i n sich t r ä g t " 1 2 2 ,
d. h., daß sein Bedeutungsgehalt für die Gemeinschaft nicht erst durch
Wertung ermittelt werden müsse, sondern, daß er ihn i n sich berge. Er
offenbare sich, wenn man sich um eine Erfassung des „Sinnes und des
Wesens der Dinge" 1 2 3 bemühe.
Der Weg für die Gesetzgebung und die juristische Begriffsbildung
ist nach dieser Ansicht i n der Wirklichkeit vorgezeichnet. Es könne
nur darum gehen, das „gestaltete ontische Sein" nachzubilden 124 . Alle
juristischen Begriffe seien daher letztlich deskriptive Begriffe 1 2 5 .
Nicht alle antiliberalen Strafrechtswissenschaftler schlossen sich der
monistischen Auffassung von Dahm und Welzel an. Gallas und andere

us Schaff stein, ZStW 55, S. 607.


lie v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85 ff.; ZStW 57, S. 251 ff.; Z f K u l t u r -
p h 1936, S. 215.
117 Vgl. Naturalismus u n d Wertphilosophie; D RWis 1938, S. 119.
lis v g l . Welzel, DRWis 1938, S. 119.
Ii® Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 7.
120 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85.
121 Dahm, ZStW 57, S. 251; vgl. auch Welzel, Naturalismus u n d W e r t -
philosophie, S. 74 f. I m Prinzip dieselbe Auffassung vertrat Larenz (vgl. RuS
H. 109, S. 17, 19, 29). Er bemühte zur Begründung den Hegeischen Begriff
des „objektiven Geistes".
122 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 87.
123 Ebd., S. 86.
124 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74; vgl. auch Dahm,
Verbrechen u n d Tatbestand, S. 87.
125 vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74 f.; Dahm, ZStW 57,
S. 251 f.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben 73

gingen davon aus, daß i n dem „konkreten Dasein des Volkes" ein
Dualismus von Sein und Sollen bestehe 126 ; die „Harmonie von Wert
und Wirklichkeit" müsse als Ziel angestrebt werden 1 2 7 . Der Wert
behalte als Maßstab seine Bedeutung 1 2 8 .
I m Ergebnis unterschied sich diese Ansicht aber nicht von der Dahms
und Welzels. Auch bei diesen blieb der Dualismus von Wirklichkeit
und Wert i n verschleierter Form erhalten; denn nicht die empirische,
sondern nur die „sinnvolle" Wirklichkeit 1 2 9 sollte deskriptiv erfaßt
werden; nicht i n der allgemeinen, sondern nur i n der „gesunden"
Volksanschauung sollte das materielle Recht i n Erscheinung treten.
Notwendigerweise bedurfte es eines Maßstabes, um diesen Gegenstand
zu bestimmen. Zu behaupten, er liege i m Gegenstand selbst, war ein
Zirkelschluß, der nur deswegen nicht offen zutage trat, weil die
Antiliberalen ihren Erkenntnisweg nicht präzise beschrieben. Sie
sprachen nebulös von einer irrationalen, ganzheitlichen, wesenhaften
Methode, von einer „emotional-wertfühlenden Erkenntniseinstellung" 1 3 0 .
Die Rechtsidee des Nationalsozialismus könne nur „erlebt" werden 1 3 1 .
Die Ablehnung rationaler Erkenntnismethoden ließ wissenschaftliche
Genauigkeit und Redlichkeit i n ihrer Bedeutung absinken. Es ging
die Bereitschaft verloren, den eigenen Erkenntnisweg selbstkritisch
zu überprüfen. Unerörtert blieb die Frage, ob nicht das, was der
Wirklichkeit als „sinnvoll" entnommen wurde, vorher hineingedacht
worden war.
Unbestimmt blieb aber auch die Beschreibung der obersten Werte
bei den antiliberalen Strafrechtlern, die an der Trennung von Wert
und Wirklichkeit festhielten. Als höchste Werte wurden die „Gemein-
schaftswerte" 132 genannt, das „Wohl der Gesamtheit" 1 3 3 . Henkel for-
derte, daß der Wertgehalt der gesunden Volksanschauung „unter dem
Leitgedanken der völkischen Rechtsidee" 134 bestimmt werden sollte.

126 Festschrift f ü r Gleispach, 1936, S. 66.


127 Ebd., S. 67.
128 Vgl. auch Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 33; Engisch, M S c h r K r i m B i o
1938, S. 136 f.
129 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85; vgl. auch ders., ZStW 57,
S. 251 A n m . 63 a, S. 255; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 57:
„ N u r Werte, die dem neuen Lebensstrom entsprechen, sind w i r k l i c h e Werte,
andernfalls sind es n u r Reste eines versunkenen Lebens, die bestenfalls
noch »Dasein4, aber keine lebendige W i r k l i c h k e i t mehr haben."
130 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75.
131 E. Wolf, ZStW 53, S. 573; vgl. auch Larenz, RuS H. 109, S. 5.
132 Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 66.
133 Stock, Die Strafe, S. 1.
134 Die Unabhängigkeit, S. 33.
74 3. Kap. : Das neue Staatsverständnis

4. Redit und Sitte

Einen weiteren Angriffspunkt gegen das liberale Rechtsdenken bilde-


te dessen Trennung von Recht und Sitte. Die antiliberale Strafrechts-
wissenschaft wandte sich gegen die Auffassung, daß ethische Entschei-
dungen ganz der individuellen Sphäre zuzurechnen seien, i n die der
Staat nicht eingreifen dürfe. Es werde i h m verwehrt, allgemeingültige
ethische Maßstäbe zu setzen. Die daraus resultierende Ohnmacht des
Staates habe sich am Beispiel der Privilegierung des Überzeugungs-
verbrechers erwiesen 135 . Die scharfe Sonderung von Recht und Sitte
bringe zudem die Rechtsordnung i n einen Gegensatz zum Volksbewußt-
sein, das vorwiegend nach sittlichen Gesichtspunkten urteile.

Einen Widerspruch zwischen Recht und Sittlichkeit hielten die anti-


liberalen Strafrechtler für unerträglich. Es könne nicht etwas rechtens
sein, was unsittlich sei. Eine solche Lösung sei nur möglich gewesen
unter der absoluten Herrschaft des starren positiven Rechts. Das neue
Recht strebe nach Auflösung des Gegensatzes; i m Gemeinschaftswillen
als der maßgeblichen Rechtsquelle begegneten sich Recht und Sitte
wieder auf einer Ebene 136 . Die Sittlichkeit könne jedoch nicht mehr
als Individualethik aufgefaßt werden. „Das sittliche Empfinden des
Volkes" enthalte die Richtschnur für die individuelle Verantwortlich-
keit137.
Wie diese völkische Sittlichkeit aufzufinden sei, erklärten die A n t i -
liberalen nicht genau. Sie quantitativ durch Ermittlung der herrschen-
den Kulturanschauungen zu bestimmen, lehnten sie als „positivistisch"
ab 1 3 8 . Auch hier sollte wieder das dem Volk Wesensgemäße, das seinem
Wohl Entsprechende entscheiden. Diese verschwommenen Leerformeln,
die sich für die Verwendung zu politischen Zwecken geradezu anboten,
erlaubten eine „glatte" Lösung der zahlreichen Probleme aus dem
Verhältnis von Recht und Sittlichkeit, wie sie paradigmatisch in der
Frage der Privilegierung des Uberzeugungsverbrechers zutage treten:
I n einem Staat, der entschieden politisch sei und i n dem die Volks-
gemeinschaft den höchsten Wert darstelle, könne der Überzeugungs-
täter keine Besserstellung erwarten; denn sein individueller Stand-
punkt sei der völkischen Sittlichkeit unterlegen 1 3 9 .

iss v g l . Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 26 f.;


Dahm, D J Z 1934, Sp. 824; D R 1934, S. 419.
136 v g l . Siegert, Grundzüge, S. 10.
137 Ebd., S. 11; vgl. auch Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung,
S.139.
138 v g l . Dahm, Z S t W 57, S. 255 u n d DStR 1934, S. 88.
139 v g l . Dahm, D R 1934, S.419; S chaff stein, D RWis 1936, S. 47.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d v o n seinen Aufgaben 75

5. Recht und Gesetz

Daß Recht und Gesetz nach antiliberaler Auffassung nicht gleichzu-


setzen sind, daß vielmehr nach dieser Ansicht das „Volksrecht" das
positive Recht überformt, wurde bereits ausgeführt. Hier soll die
antiliberale Haltung zum Gesetz noch ein wenig differenzierter be-
trachtet werden.
I n der Durchführung dieses materiellen Prinzips wurden nämlich
deutliche Unterschiede gemacht: I n vollem Umfang wurde es auf die
Gesetze angewandt, die vor der „nationalen Revolution" entstanden
waren. Dem Richter wurde i m Hinblick auf diese Gesetze ein volles
Nachprüfungsrecht zugestanden 140 . Zurückhaltung übte man jedoch
gegenüber den nationalsozialistischen Gesetzen. Bei ihnen könne davon
ausgegangen werden, daß sie i n Einklang mit der gesunden Rechts-
überzeugung des Volkes stünden; denn die innige Verbindung des
Führers mit dem Volk und seine Funktion, die richtungsweisenden
Werte aus dem Volksbewußtsein hervorzuheben, sprächen für die
Vermutung, daß ein Gegensatz zwischen Führergesetz und dem mate-
riellen Recht nicht bestehe 141 . Ein Bindung an das nationalsozialistische
Gesetz sei auch zur Wahrung der staatlichen Autorität erforderlich 1 4 2 .
Die Antiliberalen scheuten sich nicht, eine Rückkehr zum Formalismus
zu fordern, den sie „materiell" zu verbrämen suchten 143 . Sie leisteten
damit einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der nationalsozialisti-
schen Herrschaft.

140 v g l . Larenz, RuS H. 109, S . 3 4 f .


141 Vgl. ebd., S. 34; Dahm, DStR 1934, S. 253 („Einheit v o n Staatsgewalt
u n d Rechtsidee"). Nach Mezger, Leitfaden, S. 25, ist der „Führerbefehl"
die Erscheinungsform des Rechts als „konkrete Lebensform".
142 Höhn, Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 174: „ I n
der Volksgemeinschaft ist das Gesetz ein A k t der Führung.".
143 Vgl. unten 5. Kap. I V . 3. u n d 6.
4. Kapitel

Der Antiliberalismus in der Straf rechts wissensch aft bis


zur Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates

I. Der Widerstand gegen die


„liberale" Strafrechtsreform

Die i n Deutschland nach dem 1. Weltkrieg u m sich greifende anti-


liberale Stimmung gelangte i n der Strafrechtswissenschaft zunächst
nicht über das Stadium diffuser Äußerungen und einer untergründigen
Strömung hinaus. Damit sich eine klar erkennbare, i n der öffentlichen
Diskussion beachtete Richtung herausbilden konnte, war ein konkretes,
gemeinsames Angriffsziel erforderlich. Gegen Ende der zwanziger
Jahre wurden die Vorarbeiten zur Strafrechtsreform zu einem solchen
Kristallisationspunkt. Sie bildeten ein zentrales Thema i n der damaligen
straf rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung; ihre zahlreichen poli-
tischen Aspekte boten der vorwiegend politischen Zielsetzung des straf-
rechtlichen Antiliberalismus geeignete Ansatzpunkte.

1. Die Reformarbeiten bis 1930*

Zunächst soll ein Überblick über die Entwicklung des Reformvor-


habens nach dem 1. Weltkrieg die damalige Situation verdeutlichen.

a) Der Entwurf Radbruch 1922

Die erste offizielle Maßnahme zur Fortsetzung der Bemühungen um


eine Gesamtreform des Strafrechts nach dem Ersten Weltkrieg bestand
i n einer Vorlage an die Reichsregierung, die Reichs justizminister
Radbruch 1922 einbrachte 2 . Bemerkenswert an diesem sog. Entwurf
Radbrach war, daß er die Übertretungen als „Polizeiunrecht" 3 gesondert

ι Vgl. dazu E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 405 ff. ; ders., Einleitung zum


E n t w u r f Radbruch; Stammberger, Geschichte der Strafrechtsreform; Maurach,
A l l g . Teil, S. 51; Materialien zur Strafrechtsreform, 3 . - 5 . Bd.
2
Der voraufgegangene E n t w u r f 1919 erschien nicht als „Regierungsent-
w u r f " , sondern wurde als persönliche Stellungnahme seiner Verfasser
herausgegeben. Der E n t w u r f Radbruch knüpfte aber an diesen Reform-
vorschlag sowie an dessen Vorgänger aus der Vorkriegszeit an, wie Radbruch
i n den Bemerkungen zu seinem E n t w u r f (S. 49) u n d i n ZStW 45, S. 417
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 77

behandelte und sie nicht durch einen gemeinsamen allgemeinen Teil mit
den Verbrechen und Vergehen verband; weiterhin, daß er die Todes-
strafe als „Fremdkörper" 4 aus dem Strafensystem ausschied und auch
die Zuchthausstrafe wegen ihres Makels, der allen Resozialisierungs-
versuchen entgegenwirkt, beseitigte. Übrig blieb eine einheitliche
Freiheitsstrafe i n der Form des Gefängnisses 5. Aus demselben Grund,
der für die Abschaffung der Zuchthausstrafe maßgebend gewesen war,
erfolgte eine weitgehende Zurückdrängung der Ehrenstrafen. Eine
erhebliche Ausdehnung erfuhr die Geldstrafe. Bei Vergehen sollte,
soweit mildernde Umstände vorlagen, eine Freiheitsstrafe durch eine
Geldstrafe ersetzt werden können. I n großzügiger Form fand der
Gedanke des bedingten Straferlasses Aufnahme i n den Entwurf: Die
Anwendung dieses Instituts —, wie i m übrigen auch die Umwandlung
der Freiheitsstrafe i n eine Geldstrafe, — wurde nicht von einer
bestimmten Höhe der verwirkten Strafe abhängig gemacht, sondern
richtete sich ausschließlich nach der Täterpersönlichkeit. Für alle
Delikte war vorgesehen, daß die Strafe gemildert werden konnte,
wenn es nach den Umständen des Einzelfalles angebracht war. Weiter-
hin ermöglichte der Entwurf eine Herabsetzung der Strafe nach freiem
Ermessen des Richters i n „besonders leichten Fällen". Die Verringerung
des Strafmaßes sollte bis an die untere Strafgrenze, u. U. sogar zu einer
bloßen Verwarnung führen können. Eine Privilegierung des Uber-
zeugungstäters kam i n der für i h n vorgesehenen Einschließung anstatt
der Gefängnisstrafe zum Ausdruck. I m Bereich der Sicherungsmaßnah-
men gegenüber dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher ging der
Entwurf von einer Zweispurigkeit von Strafen und Maßnahmen aus.
Durch die Zulassung des sog. „Vikariierens", der Möglichkeit, die
Strafe durch eine Maßregel zu ersetzen, näherte er sich aber i n diesem
Bereich einer unbestimmten Sicherungsstrafe an.
Insgesamt war dieser Reformvorschlag von dem Willen getragen,
dem staatlichen Strafensystem humanere Züge zu verleihen und der
betonte. Daher ergibt die Formulierung Maurachs, A l l g . Teil, S. 51, der
E n t w u r f „baute auf neuen Grundlagen auf", ein schiefes Bild. Derselbe
E i n w a n d muß Baumann, Allg. Teil, S. 51, entgegengehalten werden, der
davon spricht, daß der E n t w u r f 1919 „alsbald i n einem österreichischen
Gegenentwurf von 1919 . . . u n d i m E n t w u r f Radbruch 1922 seine E n t -
gegnungen (!) fand". Der E n t w u r f 1922 wurde als Ganzes i m übrigen erst
nach 30 Jahren publiziert („Gustav Radbruchs E n t w u r f eines Allgemeinen
Deutschen Strafgesetzbuches, Tübingen 1952"); erste Hinweise auf den
I n h a l t aber schon bei Radbruch, Z S t W 45, S. 417 ff.
s Radbruch, E n t w u r f 1922, Bemerkungen, S. 51.
4 Ebd., S. 52.
5
Die i m E n t w u r f vorgenommene Unterscheidung zwischen „Gefängnis"
u n d „strengem Gefängnis" hatte lediglich gesetzestechnische Bedeutung.
M i t i h r w a r keine tiefgreifende Differenzierung nach der A r t des Vollzuges
beabsichtigt; vgl. Radbruch, E n t w u r f 1922, S. 54.
78 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Resozialisierung den höchsten Rang einzuräumen. I n i h m hatte sich


aber auch die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Gesellschaft vor
gefährlichen Gewohnheitsverbrechern geschützt werden muß.

b) Der Entwurf 1925

Nach einigen gewichtigen Änderungen des Radbruchschen Entwurfes


verabschiedete die Reichsregierung i m Herbst 1924 einen ersten „amt-
lichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches" und
leitete ihn an den Reichsrat weiter. I m strafrechtswissenschaftlichen
Schrifttum w i r d er als „Entwurf 1925" behandelt 6 . I m Unterschied zum
Entwurf Radbruch hielt er an der Todesstrafe fest. Auch die Zuchthaus-
strafe und die damit verbundenen Ehrenstrafen wurden i n i h m wieder-
hergestellt. I n einigen Vorschriften mußte die Geldstrafe als Neben-
strafe weichen. I m großen und ganzen war der Entwurf jedoch so
gestaltet, daß der Schöpfer des Entwurfs 1922 schreiben konnte: „Es ist
m i r ein Bedürfnis zu betonen, daß sie (die am Entwurf 1922 vorgenom-
menen Veränderungen; d. Verf.), wie wichtig immer, doöh nur Einzel-
fragen betreffen und die freudige Genugtuung über die endlich erreichte
erste Situation des großen Gesetzgebungswerks nicht zu mindern ver-
mögen 7 ."

c) Der Entwurf 1927

Der Reichsrat unterzog den Entwurf einer zweijährigen Beratung,


die zu einschneidenden Änderungen führte. So entstand ein neuer Ent-
wurf, der 1927 an den Reichstag ging. I n i h m fehlte die Möglichkeit
einer Strafmilderung i n „besonders leichten Fällen". Die Ersetzung
der Freiheitsstrafe durch eine Geldstrafe wurde an die Voraussetzung
gebunden, daß die verwirkte Gefängnis- oder Einschließungsstrafe
drei Monate nicht überschritt. Desgleichen beschränkte der Entwurf
den bedingten Straferlaß auf Gefängnis- oder Einschließungsstrafen
bis zu sechs Monaten und versagte diese Möglichkeit ganz, wenn das
öffentliche Interesse oder die Rücksicht auf den Verletzten die alsbaldige
Vollstreckung der Strafe forderten. Die Vorschrift über die privile-
gierende Behandlung des Überzeugungstäters war gestrichen worden.
Auch die Möglichkeit einer Ersetzung der Strafe durch sichernde Maß-

6 Daß diese Bezeichnung unzutreffend ist, hob L. Schäfer bereits 1927 i n


seiner Zusammenstellung der Strafgesetzentwürfe S. I X hervor. Sowohl die
Verabschiedung durch die Reichsregierung als auch die Vorlage an den
Reichsrat erfolgten noch i m November 1924. So spricht auch Radbruch i n
ZStW 45, S. 417 von der „Reichsratsvorlage 1924". Die Bezeichnung „ E n t w u r f
1925", die sich i m Schrifttum eingebürgert hat, ist darauf zurückzuführen,
daß die Veröffentlichung erst i m Jahre 1925 vorgenommen wurde.
7 Radbruch, Z S t W 45, S. 420.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 79

nahmen i m Sinne des „Vikariierens" war nicht mehr vorgesehen. Bei


sichernden Maßnahmen m i t Ausnahme der Sicherungsverwahrung sollte
dem Richter nur noch die Entscheidungsbefugnis über ihre Zulässig-
keit verbleiben; ob sie tatsächlich durchgeführt wurden, war den
Verwaltungsbehörden anheimgestellt. Trotz bedeutender Änderungen
blieb aber auch dieser Entwurf den Grundlinien der Reform treu, als
deren Hauptziele K a h l 1927 i n seiner Rede zur Eröffnung der parlamen-
tarischen Arbeit an der Strafrechtsreform nannte: 1. Die psychologische
Differenzierung des Verbrechertums, 2. Die Verbindung der Siche-
rung m i t der Strafe und 3. Die Erweiterung der Freiheit des richter-
lichen Ermessens®.

d) Der Entwurf 1930

Ein Strafrechtsausschuß des Reichstages überprüfte den Entwurf i n


eingehender Beratung. Ein vorzeitiges Scheitern des Reformvorhabens
auf Grund der Reichstagsauflösung 1928 verhinderte ein i m Wege der
Verfassungsänderung beschlossenes Uberleitungsgesetz, das die Fort-
führung der Ausschußarbeit ohne Zeitverlust erlaubte, der durch eine
erneute Einbringung der Vorlage einzutreten drohte. I n insgesamt 205
Sitzungen konnten eine erste Lesung des Entwurfs vollständig und
eine zweite über große Teile durchgeführt werden. U m eine Rechts-
angleichung m i t Österreich zu ermöglichen, fanden gleichzeitig deutsch-
österreichische parlamentarische Strafrechtskonferenzen statt, die eben-
falls den Entwurf 1927 zum Gegenstand hatten. Das gesamte Reform-
werk war jedoch i n Frage gestellt, als der Reichstag i m J u l i 1930
erneut aufgelöst wurde. Da ein Uberleitungsgesetz nicht wieder zustande
kam, mußte der parlamentarische Instanzenzug erneut durchschritten
werden, wollte man den Reformgedanken nicht aufgeben. Ein ent-
sprechender Antrag der Abgeordneten K a h l und Genossen fußte auf
dem Entwurf 1927, berücksichtigte aber die i n den Strafrechtskonfe-
renzen und i m Strafrechtsausschuß i n der ersten Lesung erarbeiteten
Änderungen. Gegen den lautstark vorgetragenen Widerspruch der
Flügelparteien verwies der Reichstag die Vorlage an den Strafrechts-
ausschuß, der wie der voraufgegangene unter der Leitung von K a h l
tagte.
Die Abweichungen des dem Ausschuß vorgelegten Entwurfs 19309
von dem Entwurf 1927 hielten sich i n Grenzen: Aus dem Strafensystem

β Vgl. Kahl, D J Z 1927, Sp. 1000 f.


9
Der E n t w u r f w i r d auch häufig als „ E n t w u r f Kahl" bezeichnet. Das stimmt
zwar m i t der offiziellen Kennzeichnung der Reichstagsvorlage überein (vgl.
Materialien zur Strafrechtsreform, 5. Bd., S. 1), gibt aber auch zu dem M i ß -
verständnis Anlaß, daß die Vorlage allein auf Kahls I n i t i a t i v e zurückging
80 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

war wieder die Todesstrafe entfernt worden. Allerdings behielt man


sich eine endgültige Klärung vor 1 0 . Der Rahmen für einen bedingten
Straferlaß war auf Gefängnis oder Einschließungsstrafen bis zu einem
Jahr ausgedehnt worden.
Der Tätigkeit des Ausschusses stellten sich i n zunehmendem Maße
Hindernisse i n den Weg. Das Desinteresse der radikalen Parteien
äußerte sich darin, daß sie entweder i m Ausschuß eine Obstruktions-
politik betrieben 11 oder nach nur kurzer Tätigkeit ihre Mitarbeit ein-
stellten 12 .

2. Die unterschwellige Reformgegnerschaft


gegen Ende der zwanziger Jahre

Eine ablehnende Haltung gegenüber der Strafrechtsreform auf der


Grundlage einer antiliberalen Einstellung trat i m Bereich der Straf-
rechtswissenschaft mit aller Deutlichkeit erstmals auf der 25. Sitzung
der Deutschen Landesgruppe der von v. Liszt gegründeten Internatio-
nalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) am 12. und 13. September
1932 i n Frankfurt a. M. hervor.

a) Die hochschulinterne Diskussion

Vorher hatte sich jedoch bereits eine „Mißstimmung gegenüber Geist


und Tendenz der Strafrechtsreform" an den Hochschulen breitgemacht,
wie E. Schmidt berichtet 13 . Ihr lag die Ansicht zugrunde, „daß die
Strafrechtsreform ,individualistisch, liberalistisch und rationalistisch'
sei, m i t ihrem geistig politischen Gehalt i n die 70er Jahre des 19. Jahr-
hunderts gehöre und der Förderung durch wissenschaftliche Arbeit
nicht mehr wert sei" 1 3 . Diese Auffassung trug insbesondere der
wissenschaftliche Nachwuchs vor. Die Auseinandersetzungen darüber
spielten sich zunächst nur i m internen Hochschulbereich ab. Selten
gelangte diese neue Form einer antiliberalen K r i t i k an der Straf-
rechtsreform an das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Zwar
bemühten sich Befürworter der Reform wie Kohlrausch und E. Schmidt

(vgl. ζ. B. Bornhak, Beruf zur Strafgesetzgebung, S. 65). Kahl selbst wies


jedoch darauf hin, daß sein Schritt m i t dem Reichsjustizministerium abge-
sprochen w a r (JW 1931, S. 914).
io Daß endgültige K l a r h e i t nicht bestand, beweist die Uneinheitlichkeit
der Vorlage: Z w a r fehlt die Todesstrafe bei der Aufzählung der Strafen
(§§ 33, 34), an anderer Stelle w i r d sie dennoch genannt (z. B. §§ 46, 49 —
Verlust der Amtsfähigkeit bzw. des W a h l - u n d Stimmrechtes bei Ver-
urteilung zum Tode).
n So die K P D ; vgl. Ebermayer, D R i Z 1932, S. 108.
12 Die 8 Ausschußmitglieder der D N V P u n d der N S D A P blieben den
Beratungen seit dem 9. 2. 31 fern.
13 Strafrechtspflege, S. 412.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 81

um eine Aufklärung der i n den Schlagworten „liberalistisch", „indivi-


dualistisch" und „rationalistisch" enthaltenen Vorwürfe. Eine klare
Antwort wurde ihnen jedoch nicht zuteil. Noch i n seinem Eingangs-
referat auf der IKV-Sitzung 1932 zum Thema „Die Fortführung der
Straf rechtsreform" beklagte Kohlrausch, daß i h m jüngere Juristen
auf seine Fragen, was der Begriff „liberalistisch" bedeute und welches
die liberalen Eigenschaften des Entwurfs seien, keine klare A n t w o r t
gegeben hätten 1 4 . Was an antiliberaler Reformkritik aus den Reihen
der Straf rechtswissenschaftler vorgebracht wurde, glaubte E. Schmidt
1931 i n einem Aufsatz „Zur Theorie des unbestimmten Strafurteils"
so wiedergeben zu können 1 5 : Die Reformentwürfe gehen zu sehr auf
die Täterpersönlichkeit ein und beinhalten ein Zurückweichen des
Staates vor dem einzelnen. Der Verbrecher w i r d als Individuum gegen
und über den Staat gestellt. Der Gedanke kriminalpolitischer Zweck-
mäßigkeit w i r d i n rationalistischer Weise überbetont. — Bezeichnend
ist, daß E. Schmidt diese Gesichtspunkte dem „privaten Schreiben
eines Fachkollegen" entnahm und auf wissenschaftliche Belege ver-
zichten mußte 1 6 .

b) Die Reformkritik E. Wolfs

Ein kaum faßbareres Zeugnis antiliberaler Reformpolitik hatte E. Wolf


1927 mit einem Aufsatz i n der Zeitschrift „Die Justiz" unter dem
Titel „Die Wertung der Rechtsgüter i m Reichsstrafgesetzbuch und
ihre Umwertung durch die Reform" abgelegt 17 . Daß hierin ansatzweise
die Gedanken der rechtsgerichteten antiliberalen Reformgegnerschaft
enthalten waren, drang aus zwei Gründen nicht ins allgemeine Bewußt-
sein der damaligen Strafrechtswissenschaft: Einmal war der Ort dieser
Veröffentlichung, die Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes,
unverdächtig; denn sie bekannte sich ausdrücklich zur Weimarer
Republik. Zum anderen betrafen die Ausführungen E. Wolfs einen
Aspekt, der die Reformdiskussion, die von der Auseinandersetzung
u m die Rechtfertigung und die Inhaltsbestimmung der Strafe be-
herrscht war, jedenfalls zunächst nur am Rande beschäftigte: Die Frage
nach der Wertordnung der Rechtsgüter 18 .

14 Kohlrausch, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 155; vgl. auch ders., Die geistes-


geschichtliche Krise, S. 18.
is E. Schmidt, SchwZStR 1931, S. 213 ff.
16 Ebd., S. 213, A n m . 1.
17 Die Justiz, Bd. I I I , S. 110 ff.
is E. Wolf verwandte i n dieser Untersuchung den Begriff des Rechtsguts
unkritisch für die Beurteilung eines Strafgesetzes. D a m i t scheint er sich
von der antiliberalen Richtung zu entfernen, bei der der Rechtsgutsbegriff
i n erheblichem M i ß k r e d i t stand, w e i l er angeblich eine individualistische
Sichtweise verkörperte (vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. b) u n d 2. b) u n d unten 5. Kap.

6 Marxen
82 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

I n seinem Aufsatz verglich er den Entwurf 1927 mit dem geltenden


Recht. Eine Untersuchung der gesetzlichen Tatbestände nach A r t und
Höhe der angedrohten Strafen zeigte ihm, daß das geltende Strafgesetz-
buch dem physischen Leben, den staatlichen Garantien (Verfassung,
gesetzgebende Körperschaften, öffentlicher Glaube, Geld- und Verkehrs-
sicherheit) und der Eigentumssphäre den stärksten Schutz zubilligte.
Diesem Ergebnis gewann er eine spezifisch politische Bedeutung ab: I n
der Höchstbewertung des Einzellebens und der natürlichen Handlungs-
freiheit sei individualistisches Gedankengut zum Zug gekommen; die
Betonung des Schutzes des einzelnen gegen willkürliche staatliche
Ubergriffe beweise eine liberalistische Tendenz; die Berücksichtigung
des Genugtuungsbedürfnisses des Verletzten, des natürlichen Rache-
triebes, im geltenden Recht zeuge von einer naturalistischen Denk-
weise 19 .
Demgegenüber vermerkte E.Wolf anerkennend gewisse Verbesse-
rungen i m Entwurf 1927: Das Institut der Sicherungsverwahrung, das
Aufrücken einiger Übertretungstatbestände i n den Katalog der Ver-
gehen und die Erhöhung des Strafmaßes für Straftaten wider die
Staatsgewalt drängten die liberalistische Tendenz zurück. Auch die
naturalistische Tendenz sei zurückgetreten, wie u. a. die Abschaffung
der reinen Erfolgshaftung und die Berücksichtigung der Wahrung
öffentlicher Interessen bei der üblen Nachrede zeige. Seine K r i t i k kam
i n der noch sehr zurückhaltenden Formulierung zum Ausdruck: „Von
einer völligen Umwertung der Rechtsgüter kann aber i m E 1927 noch
keine Rede sein 20 ." Einen entscheidenden Mangel erblickte er i m
I I . 2. c) u n d I V . 1.). Dagegen spricht aber, daß seine Veröffentlichung aus
dem Jahre 1927 stammt, während eine intensive Beschäftigung der a n t i -
liberalen Richtung m i t dem Rechtsgutsbegriff erst i m Anschluß an Schwinges
1930 erschienene Schrift „Teleologische Begriff sbüdung i m Straf recht" ein-
setzte (vgl. Dahm, MschrKrimPsych 1931, S. 764 ff.; Schaff stein, Teleologische
Begriffsbildung, 1934). Auch plädierten n u r wenige, radikale Antiliberale
für eine völlige Aufgabe des Rechtsgutsbegriffs (so Höhn, DR 1935, S. 266;
dagegen erheblich differenzierter i n der Stellungnahme Dahm, ZStW 57,
S. 234). Besonders bemerkenswert ist schließlich, daß die spätere K r i t i k am
Rechtsgutsbegriff bereits andeutungsweise bei E. Wolf zur Geltung k a m :
I n einer A n m e r k u n g (ebd., S. 110 f. A n m . 1) meldete er Zweifel daran an,
ob das Rechtsgut w i e bisher als bloßes Lebens- oder K u l t u r g u t verstanden
werden könne. Der Problematik des Rechtsgutsbegriffs müsse i n Z u k u n f t
mehr durch eine spezifisch juristische Betrachtungsweise Rechnung getragen
werden. Die Gültigkeit seiner Ausführungen relativierte er ausdrücklich
durch eine clausula rebus sie stantibus.
19
Die oben 1. Kap. I I . am Ende behauptete Austauschbarkeit der von der
antiliberalen Richtung benutzten Schlagworte zeigt sich an der unterschied-
lichen Deutung der Berücksichtigung des Genugtuungsbedürfnisses des
Verletzten: Während E. Wolf hier von naturalistischer Denkweise sprach,
erblickten Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 8
u n d Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108 darin eine Erscheinung des I n d i v i d u a l i s -
mus (vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. a)).
so Ebd., S. 119.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 83

unzureichenden Schutz des sozialen Gemeinschaftslebens, besonders


des Arbeitslebens und vor allem der Arbeitskraft 2 1 .
Deutlichere Akzente setzte E. Wolf mit seiner Freiburger Antritts-
vorlesung „Vom Wesen des Täters" i m November 193122. Zunächst
würdigte er die Bedeutung des Lisztschen Täterbegriffs für die Straf-
rechtsreform, machte dann aber einschränkend geltend, daß jetzt „eine
jüngere Generation die Zeitbedingtheit jenes Ringens (um Reformen i m
Sinne von Liszts; d. Verf.) schärfer sieht und seine gegenwärtige
Unzeitgemäßheit lebhaft empfindet" 2 3 . Verfehlt seien die Bemühungen
von Liszts gewesen, das Individuelle am Täter mit Hilfe naturwissen-
schaftlicher Methoden zu erfassen. Dieser wissenschaftliche Positivismus
sei aus einem „politischen Liberalismus, einem ethischen Individualis-
mus und einem religiösen Naturalismus" 2 4 hervorgegangen. Dem
Liberalismus entstamme die Vorstellung eines „natürlichen" Menschen,
dem sittliche Bindungen nicht notwendigerweise zugeordnet seien, dem
Individualismus „die These vom körperlich-seelischen Können als Maß-
stab des geistig-leiblichen Sollens" 2 4 ; naturalistischer Herkunft sei „die
Lehre von der zwingenden biologisch-sozialen Determiniertheit des
Menschen" 24 . Gegen eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Bes-
serungs- und Sicherungsstrafe und deren Alleingültigkeitsanspruch
führte E. Wolf ins Feld, daß die kausaldeterministische Auffassung dem
Sinn des Begriffs „Erziehung" nicht gerecht werde und i m Extrem zu
einer bloßen Dressur führe und daß der Vergeltungsgedanke nicht aus
dem Strafrecht hinwegzudenken sei. Er sei das „Eidos des Strafbegriffs,
der ohne es in seiner Eigenart verschwinden würde" 2 5 .
Seine Täterlehre entwickelte E.Wolf aus dem Umschwung i n der
geistigen Zeitströmung vom „ethisch indifferenten positivistischen
Individualismus" zum „phänomenologischen Personalismus", vom
„Naturalismus" zum „Normativismus" 2 6 . Überholt sei die Annahme
eines „natürlichen" Täters. Es gelte, den Täter als menschliche Person
i m Raum der rechtlichen K u l t u r zu erfassen. Nur so könne die Los-
lösung vom naturwissenschaftlichen Abstraktum „Mensch" und der
Schritt zum Verständnis der Besonderheit der Täterpersönlichkeit
gelingen.
Die Stellung der Rechtsperson „Mensch" werde entscheidend von
ihrer Gesinnung bestimmt, die alle noch so unterschiedlichen Willens-

21 Vgl. ebd., S. 118.


22 Veröffentlicht i n RuS H. 87.
23 Ebd., S. 8.
24 Ebd., S. 11.
as Ebd., S. 33.
26 Ebd., S. 12.

6*
84 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

akte umspanne. „Der Täter", so E.Wolfs Definition, „ist seinem


Wesen nach ein personales Glied der Rechtsgemeinschaft m i t verfallen-
der Rechtsgesinnung" 27 . Das Täterschaftsmäßige erschließe sich aus der
jeweiligen Qualität der Rechtspersönlichkeit, d. h. aus der rechtlichen
Daseinsform, i n der sie tätig geworden sei, (nach E. Wolfs Nomenklatur
ist Rechts genösse jedermann; die Zuordnung bürgerlicher Rechte ver-
leiht dem Rechtsgenossen Rechtssubjefctivität; die Fähigkeit, rechtlich
gestaltend zu wirken, macht die Rechts person im engeren Sinne aus) so-
wie aus der Quantität des Gesinnungsverfalls. Aus seiner Täterlehre
gewann E. Wolf fünf Grundtypen der Täterschaftsmäßigkeit: Das
gemeingefährliche, das gemeinwidrige, das gemeinfeindliche, das ge-
meinlässige und das gemeinschädliche Verhalten 2 8 .
A n kriminalpolitischen Konsequenzen leitete er aus seiner spezifisch
juristischen Betrachtungsweise ab, daß der Sinn der Vergeltung nur i n
einer capitis deminutio, i n einer spürbaren Minderung der Rechts-
persönlichkeit bestehen könne, die das „Mißtrauen der Rechtsgemein-
schaft" 29 zum Ausdruck bringe. Eine Betonung dieser Seite der Strafe
sei auch zum Zwecke der Abschreckung erforderlich. Daneben sei Platz
für spezialpräventive Maßnahmen, die aber dem normativen Wesens-
begriff des Täters Rechnung tragen müßten: Eine sinnvolle Erziehung
diene der Kräftigung der Rechtsgesinnung zum Zwecke eines Wieder-
aufbaus der Rechtspersönlichkeit. Die Sicherungsstrafe ziele auf die
„Reinerhaltung der Rechtsgemeinschaft" ab, aus der „der grundsätzliche
Normfeind und der schlechthin triebunterworfene Normfremde" 3 0 aus-
zuscheiden seien.
Ein unmittelbarer, energischer Angriff gegen die Strafrechtsreform
lag i n den Ausführungen E. Wolfs noch nicht. Es klangen aber bereits
wegweisende Motive der antiliberalen K r i t i k an: Das Straf recht dürfe
die sittlichen Bindungen des Menschen an die Gemeinschaft nicht außer
acht lassen; die aus überindividuellen Quellen fließenden strafrecht-
lichen Gebote dürften nicht durch einen „Psychologismus und Soziologis-
mus" 3 1 bei der Täterbetrachtung verwässert werden; das Wesen des
Täters zeige sich bei juristischer und somit geisteswissenschaftlicher
Sicht i n seiner gerneinschaftswidrigen Gesinnung.

27 Ebd., S. 16.
28 Ebd., S. 27 ff.
29 Ebd., S. 33.
30 Ebd., S. 35.
31 Ebd., S. 36.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 85

3. Antiliberale Reformkritik i m politischen Schrifttum

Zu diesen Andeutungen und Ansätzen gesellten sich anfangs der


dreißiger Jahre Äußerungen i m politischen Schrifttum, die die Straf-
rechtsreform mit antiliberalen Argumenten bekämpften. Die größte
Beachtung fanden die Autoren Α. E. Günther, Mitherausgeber der jung-
konservativen Zeitschrift „Deutsches Volkstum" 3 2 und enger Mitarbeiter
des konservativen Publizisten Stapel, der dem Juniklub um Moeller van
den Bruck angehört hatte, sowie Nicolai, Leiter der innenpolitischen
Abteilung der Reichsleitung der NSDAP.
Dem Thema „Strafrechtsreform" widmete Günther 1930 eine Auf-
satzreihe i n der Zeitschrift „Widerstand" 3 3 , die den Untertitel „Zeit-
schrift für nationalrevolutionäre Politik" trug 3 4 . Eine Zusammenfassung
seiner strafrechtlichen Anschauungen veröffentlichte er 1932 i n einem
Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Was w i r vom
Nationalsozialismus erwarten" unter dem Titel „Liberale und auto-
ritäre Strafrechtsreform" 35 .
Nicolai legte seine Vorstellungen über die künftige R'chtung des
Strafrechts i n seiner Schrift „Die rassengesetzliche Rechtslehre" nie-
der, die 1932 i n der „Nationalsozialistischen Bibliothek" erschien 36 .
Die Beiträge der beiden Autoren zielten unmittelbar auf die Ver-
wirklichung ihrer politischen Vorstellungen i m Bereich des Straf rechts
ab. Sie beschränkten sich auf grundsätzliche Aussagen und ließen die
weiteren strafrechtlichen Konsequenzen außer Betracht. Es fehlte auch
eine Auseinandersetzung m i t dem straf rechts wissenschaftlichen Schrift-
tum.
32
Vgl. zur Einordnung der Zeitschrift: Möhler, Die konservative Revolu-
tion, S. 293.
33 Reform oder Auflösung des Straf rechts, Jahresband 1930, S. 244 ff.;
Der Ursprung des Strafrechts i m Imperium, Jb. 1930, S. 262 ff.; Recht u n d
Gnade, Jb. 1930, S. 336 ff.
34 Herausgeber der Zeitschrift u n d zugleich Leiter der „Widerstands-
bewegung" w a r Ernst Niekisch, der i m allgemeinen zu den „National-
bolschewisten" gezählt w i r d . Dieser Nationalbolschewismus muß — wie
auch der U n t e r t i t e l der Zeitschrift zeigt — als Bestandteil der national-
revolutionären Bewegung betrachtet werden u n d ist von den nationalistischen
Bestrebungen i n der K P D u n d den sozialistischen i n der N S D A P abzu-
grenzen; vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 47 ff.; Schüddekopf,
L i n k e Leute von rechts, insbesondere S. 287 ff.
35 Was w i r v o m Nationalsozialismus erwarten, Zwanzig Antworten,
S. 100 ff. ; über die politische Stellung der Antwortenden führte der Heraus-
geber i n seinem V o r w o r t S. 9 aus: „Die Mitarbeiter sind nicht gefragt
worden, ob sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ange-
hören; es dürfte nur für wenige zutreffen." I n diesem Sammelband kamen
führende Vertreter der Konservativen Revolution zu W o r t (u. a. Winnig,
Mirgeler, Bogner, Steinbömer, Stapel).
36 Die rassengesetzliche Rechtslehre, Grundzüge einer nationalsozialisti-
schen Rechtsphilosophie; Nationalsozialistische Bibliothek, Heft 39.
86 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Aus zwei Gründen verdienen diese Stellungnahmen aus dem poli-


tischen Schrifttum dennoch i m Rahmen einer Untersuchung der Straf-
rechtswissenschaft Beachtung: Der Blick ins politische Schrifttum ist
gerade an dieser Stelle angebracht. Die Entwicklung des Antiliberalis-
mus am Ende der zwanziger Jahre wurde hier als ein der Öffentlichkeit
größtenteils entzogener Prozeß beschrieben, der zunächst nur zu verein-
zelten Ansätzen führte. Große Aufmerksamkeit verdient daher der
Übergang zu einer von einheitlichen Überzeugungen getragenen, auf
breiter Basis ruhenden „Richtung", die sich durch Elan und Unbedingt-
heit des Wollens Beachtung i n Wissenschaft und Politik zu verschaffen
weiß. Wesentliche Impulse für diesen Vorgang könnte eine Erweiterung
des Blickwinkels über die Grenzen der an den Hochschulen betriebenen
Straf rechtswissenschaft hinaus deutlich werden lassen.
Zudem erscheint sehr fraglich, ob die genannten Kriterien (streng
juristische, unpolitische Argumentation, Untersuchung der einzelnen
strafrechtlichen Konsequenzen, Auseinandersetzung m i t dem straf-
rechtswissenschaftlichen Schrifttum) eine zutreffende Unterscheidung
erlauben zwischen strafrechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen und
Äußerungen, die nicht dem Bereich der Strafrechtswissenschaft zuzu-
rechnen sind, insbesondere für eine Zeit, i n der die Auseinander-
setzung um die Strafrechtsreform die wissenschaftliche Diskussion
wieder an die Grundfragen des Strafrechts heranführte, die auch stets
politischer Natur sind. ,,Strafrechtsreform ist keine Sache der Rechts-
theorie, sondern der Kriminalpolitik und damit der Rechtspolitik",
erklärte E. Wolf 1933. „Rechtspolitik wiederum ist keine fachmännische
Sonderauf gäbe 37 . "
Der starke Widerhall der Schriften Α. E. Günthers und Nicolais
beweist ein übriges: Auf der IKV-Tagung 1932 i n Frankfurt a. M. stellte
E. Schmidt, der i n einem ausführlichen Diskussionsbeitrag versuchte,
die von antiliberaler Seite gegen die Reform erhobenen Vorwürfe zu
entkräften, die beiden Autoren als antiliberale Reformgegner heraus
und machte verschiedene ihrer Ansichten zum Untersuchungsgegen-
stand 38 . Wiederholt nahmen nachfolgende strafrechtswissenschaftliche
Veröffentlichungen ζ. T. eingehend auf Günther und Nicolai Bezug 39 .

37 RuS H. 103, S. 5.
38 E. Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 177 ff.
39 So Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 24 ff.;
Specht, Der Strafzweck, S. 31 ff.; Gallas, ZStW 53, S. 12; Nagler, GS Bd. 103,
S . X I V f . A n m . 30, S . X X I ; Sauer, GS Bd. 103, S. 19; Radbruch, Die Gesell-
schaft 1933, .223 ff.; vgl. auch die Besprechungen von Nicolais „rassen-
gesetzlicher Rechtslehre" i n ArchRWPh Bd. 26, S. 84 ff. (Sauer); M S c h r K r i m -
Psych 1933, S. 633 (v.Hentig); ZStW 53, S. 572 ff. (E.Wolf); Z R P h 1933,
S. 189 ff. (Jung).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 87

α) Α. E. Günther
Für Α. E. Günther bedeutete die Strafrechtsreform die „Auflösung des
Strafrechts" 40 und damit die „Auflösung jeder autoritären Ordnung" 4 1 .
Diesem Zweck diene das von den Reformern eingesetzte Kampfmittel
des Liberalismus, die Humanisierung. M i t seinen Forderungen i m
Namen der Menschlichkeit gehe es dem Liberalismus jedoch nicht nur
um eine Milderung der Gesetze, sondern u m die Durchsetzung der ihm
eigentümlichen Auffassung vom Verbrechen und von der Strafe, die
„jeder Staatsautorität feindlich ist" 4 2 . Die Ausdeutung der Strafe durch
die Reformer als Mittel zum Schutz der Gesellschaft gibt nach Günthers
Meinung die Absicht zu erkennen, die „Majestät" 4 3 des Staates durch
eine „fortschreitende Privatisierung der Staatsauffassung" zu unter-
graben 44 . Je mehr nämlich die Gesellschaft i n den Vordergrund rücke,
desto weiter trete der Staat zurück, und der liberale Begriff der Gesell-
schaft, „die ja keine Gemeinschaft ist" 4 5 , beruhe auf dem Prinzip des
freien Lebenskampfes, i n dem jeder seine privaten, egoistischen Interes-
sen ungehindert verfolgen könne.
Wenn das Strafrecht aber nur dem möglichst zweckmäßigen Schutz
der gesellschaftlichen Sicherheit diene, gerate es i n Konflikt mit dem
sittlichen Empfinden: „Denn es widerspricht dem sittlichen Empfinden,
daß die Gesellschaft . . . ihre Mitglieder sollte aufhängen dürfen, um sich
die ungestörte Nachtruhe zu sichern 46 ." — Günther gestand der libera-
len Reformbewegung ein gewisses Gefühl für die von der Sittlichkeit ge-
steckten Grenzen zu: „Das schlechte Gewissen, das die Gesellschaft
empfindet, wenn sie sich über die Störer ihrer Wohlfahrt zum Richter
erhebt, ist der zwingende Grund ihrer ,Humanität 4 gegenüber dem
Verbrecher 47 ." Die Auffassung von der Gesellschaft als einem Mechanis-
mus zum Ausgleich einander widerstreitender Triebe und Interessen
müsse auch dem Verbrecher zugute halten, daß er durch seine Triebe
und Interessen zur Tat komme. Dem setze die Gesellschaft ihr Interesse
am Schutz der gesellschaftlichen Abläufe entgegen. Der Richter rücke i n
die Rolle des „Syndikus gesellschaftlicher Interessen" 48 . Damit gerate
der „Rechtsgrund zur Strafe" 4 9 ins Wanken, und so sei zu erklären, daß
40 Widerstand 1930, S. 244.
41 Liberale und autoritäre Straf rechtsreform, S. 101.
42 Ebd., S. 101.
43 Ebd., S. 104.
44 Widerstand 1930, S. 341.
45 Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform, S. 103.
46 Ebd., S. 101.
47 Ebd., S. 103.
48 Ebd., S. 103.
49 Widerstand 1930, S. 250.
88 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

das liberale „Strafrecht" auf die Mitglieder der Gesellschaft Rücksicht


nehme, „die i n der zivilisatorischen Domestikation schlecht ausgerüstet
geboren und i n ihrem undurchsichtigen Getriebe zu Fall gekommen
sind" 5 0 . Die Blickwendung von der Tat auf den Täter sei somit nicht so
sehr auf das Bestreben nach größerer Humanität, sondern auf den
„Mangel einer objektiven Rechtsordnung", auf das „Vordringen der
subjektiven Interessen der Gesellschaft" zurückzuführen 51 .
Die Erfassung der Verbrecherpersönlichkeit mit Hilfe naturwissen-
schaftlicher Kategorien, wie sie von der Reformbewegung gefordert
werde, könne nur bis zu einer „Diagnose" 52 gedeihen, nie aber zu einem
bewertenden Urteil führen, weil keine Naturwissenschaft „aus sich
selbst heraus" ethische Maßstäbe hervorbringen könne 5 3 . Somit werde
die „Auflösung des Rechtschärakters der Strafjustiz" 5 4 angestrebt. Dem
richterlichen Spruch, der auf die Individualität des Täters Rücksicht
nehme, fehle es an einer Allgemeinverbindlichkeit, er habe „keine
Bedeutung für die Sphäre des öffentlichen Lebens" 55 .
Viele Argumente Α. E. Günthers gegen die Straf rechtsreform waren
der Strafrechtswissenschaft seit langem bekannt aus dem Streit der
beiden Strafrechtsschulen als Argumente der klassischen Schule gegen
die Vorstellungen der modernen 56 . So w a r der V o r w u r f einer „Auflösung
des Straf rechts" schon lange Zeit vorher zum ersten Mal erhoben 57 und
seitdem ständig wiederholt worden, und zwar von einer Basis aus, die i n
krassem Widerspruch zu der antiliberalen politischen Grundhaltung Α. E.
Günthers stand: Den Gegnern der modernen Richtung ging es gerade
u m die Sicherung des liberalen Rechtsstaates, den sie durch eine Erwei-
terung der staatlichen Machtbefugnisse mittels der Besserungs- und
Sicherungsstrafe gefährdet glaubten 5 8 .

so Ebd., S. 247.
si Ebd., S. 250.
62
Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
53 Widerstand 1930, S. 248.
54 Ebd., S. 262.
55 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
56 Eine Bestandsaufnahme des umfangreichen Materials würde den Rah-
men dieser Untersuchung sprengen. Es sei daher n u r auf die Darstellungen
u n d Schrifttumsangaben bei Maurach, A l l g . Teil, S. 64 ff. u n d 470 f.; Wegner,
A l l g . Teil, S. 23 ff. verwiesen.
57 Genau diese Formulierung findet sich schon bei Birkmeyer, Was läßt
von Liszt v o m Strafrecht übrig?, S. 97.
58 Vgl. dazu die i n A n m . 56 genannten Darstellungen sowie die A u s -
führungen oben l . K a p . I I I . 1. Zeugnis von der Grundhaltung der Reform-
gegner legen insbesondere die „Kritischen Beiträge zur Strafrechtsreform",
herausgegeben von Birkmeyer u n d Ν agier seit 1908, ab; vgl. vor allem die
Abhandlung von R. Schmidt, Die Strafrechtsreform i n ihrer staatsrechtlichen
u n d politischen Bedeutung (H. 15).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 89

I m Vergleich mit deren Argumentationsweise bieten die von Α. E.


Günther verwandten Begriffe ein verwirrendes Bild: Den „Verfechtern
der liberalen Strafrechtsreform" 59 hält er entgegen, daß „ihnen wohl
kaum bewußt ist, daß die Gedanken, die sie vertreten, von der In-
quisition herrühren" 5 9 , und er beklagt von seinem antiliberalen Stand-
punkt aus das „Eindringen subjektivistischer, niemals an Tatsachen zu
erhärtender Erwägungen i n Urteilsbegründung und Strafvollzug" als
eine Verletzung der „Menschenwürde des Straffälligen" 6 0 . Die Paradoxie
dieses liberalen Antiliberalismus liegt auf der Hand.
Wie ist es zu erklären, daß die Ansichten Günthers trotz dieser
Widersprüche und Ungereimtheiten überhaupt und insbesondere i n der
Strafrechtswissenschaft Beachtung fanden? I m K e r n der antiliberalen
Reformkritik Günthers stand das Gesellschaftsmodell, das er als Hinter-
grund der Reform zeichnete. Der hervorstechende Zug der „liberalen"
Strafrechtsreform lag danach i n der Verdrängung der staatlichen Auto-
rität durch eine auf die Erfüllung privater Interessen ausgerichtete,
autonome Gesellschaft. Die dahinterstehende Liberalismustheorie wich
von dem historischen Begriff des Liberalismus insofern ab, als un-
erwähnt blieb, daß die liberalen Ideen i n ihrem Ursprung und auch
später auf den Ausbau und die Sicherung der individuellen Rechts-
stellung gegenüber dem Staat ohne die Zwischenschaltung der Gesell-
schaft abzielten.
I n der Deutung des Liberalismus durch Α. E. Günther trat die Ein-
schätzung der Weimarer Republik durch den revolutionären Konserva-
tismus zutage: Die verächtliche Bezeichnung „liberales System" stand
für die Uberzeugung, daß an die Stelle eines Staates, der eine Einheit
verkörpert, eigenständigen Wert auf weist und integrierende Funktion
besitzt, ein gesellschaftlicher Apparat getreten sei, dessen Mechanismus
bestimmten gesellschaftlichen Gruppen eine nahezu unbeschränkte Ent-
faltungsmöglichkeit ihrer Interessen biete. Sich selbst betrachtete man
als aus diesem System ausgeschlossen und jeder Möglichkeit beraubt,
Einfluß zu nehmen.
Die gegenwartsbezogene Interpretation führte zu einer uferlosen Aus-
dehnung des Begriffs „Liberalismus". Er wurde zum Sammelbegriff für
die verschiedensten -ismen aufgebauscht: Individualismus (das liberale
Gesellschaftsmodell dient letzten Endes individuellen Interessen),
Rationalismus (in i h m sind nur Zweckgesichtspunkte maßgebend),
Materialismus (höchste überpersönliche Werte treten i n i h m hinter
materiellen Werten zurück). I n dieser Form gestattete die gegen Ende

59
Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 102.
60 Widerstand 1930, S. 339.
90 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

der Weimarer Republik i n der politischen Auseinandersetzung immer


mehr zum Schimpfwort degradierte Vokabel „liberal" eine abwertende
Kennzeichnung der verschiedenartigsten Gegenstände.
Deutlich w i r d die gegenwartsorientierte, unmittelbar tagespolitisch
ausgerichtete Verwendung des Begriffs „liberal" daran, daß Α. E. Gün-
ther in seinen ersten Veröffentlichungen zur S traf rechtsreform i m
Jahre 1930 noch zurückhaltend m i t dem Begriff umging, daß er aber in
seiner Abhandlung „Liberale und autoritäre Straf rechtsreform", die
1932 erschien, zu einem Zeitpunkt also, i n dem die politischen Macht-
kämpfe zu viel heftigeren und härteren Auseinandersetzungen führten,
reichlich und bedenkenlos von dem Wort i n dem oben aufgezeigten Sinne
Gebrauch machte 61 .
Das große Echo, das Α. E. Günthers Äußerungen auch i n der Straf-
rechtswissenschaft hervorriefen, erklärt sich einmal daraus, daß i n ihnen
eine weitverbreitete Haltung gegenüber dem Staat von Weimar zum
Ausdruck kam. Die zahlreichen Skandale und die schließlich immer
deutlicher werdende Brüchigkeit des Systems schienen die Richtigkeit
seiner Auffassung zu bestätigen. Der Siegeszug der rechtsradikalen
Parteien tat ein übriges zu ihrer Verbreitung. Zum anderen bot die
Liberalismustheorie Günthers das geeignete Mittel, um die Strafrechts-
reform politisch wirkungsvoll abzuqualifizieren: Obwohl die Reform
sich i n einigen wesentlichen Punkten den Ideen des Liberalismus gegen-
über geradezu konträr verhielt, konnte sie auf diese Weise, dem poli-
tischen Trend der Zeit entsprechend, pauschal m i t antiliberalen Argu-
menten bekämpft werden.

b) Nicolai

Die Überlegungen Nicolais zur Strafrechtsreform waren eingebaut


i n die Darstellung und Begründung seiner „rassengesetzlichen Rechts-
lehre" 6 2 . Zum hauptsächlichen Gegenstand seiner Bewertung machte er
die These, „daß der einzelne i n dem Zusammenhang von Ursache und
Wirkung steht, daß auch die einzelne Straftat auf bestimmte Ursachen
zurückgeht, die der einzelne zu ändern nicht i n der Lage ist" 6 3 . Dazu
führte er aus: „Geht man . . . auf die Rechts- und Gesellschaftsordnung
zurück, so erscheint die einzelne Straftat nicht durch den Verbrecher
verursacht, sondern durch die äußeren sozialen Umstände, durch die

61
A u f den 7 V2 Seiten dieser Abhandlung taucht das W o r t „Liberalismus"
bzw. „ l i b e r a l " oder „liber alistisch" 19mal auf, während es i n der 18seitigen
Aufsatzreihe aus dem Jahr 1930 n u r 8mal Verwendung findet.
62
Das Wesentliche ist i m Abschnitt „Rassengesetzliche Straftheorie",
S. 41 ff., enthalten.
63
Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 91

Rechtsordnung selbst 63 ." Aus dieser Sicht sei der Verbrecher „das
schuldlose und bemitleidenswerte Opfer der Umwelt, der Rechtsord-
nung, des Staates, des Volkes" und die Strafe „ein Unrecht, das man
dem Verbrecher zufügt" 6 3 . Nach dieser Auffassung müsse man zu dem
Schluß kommen, daß „nicht die Gesamtheit vor dem Verbrecher, sondern
dieser vor der Justiz zu schützen ist" 6 3 . Die Ansicht, daß ein humanes
Strafrecht ein Zeichen für einen hohen Kulturstand sei, nannte Nicolai
„nicht nur falsch, sondern auch sittlich bedenklich. Denn sie läßt erken-
nen, daß der Urteilende gefühlsmäßig mehr für den Verbrecher als für
dessen Opfer Partei ergreift und das Volkswohl und den Schutz des
Rechtsgedankens hintansetzt" 6 4 . Sein Urteil fiel kurz und bündig aus:
„Dies ist die Lehre des Marxismus und die Auffassung unseres demo-
kratischen Judentums 63 ."
Noch weniger als die Äußerungen Α. E. Günthers fußten die Aus-
führungen Nicolais auf strafrechtswissenschaftlichen Grundlagen. Der
gewählte Ausschnitt aus der Gedankenwelt der Reformer war zu schmal,
die Bewertung stand i m Zeichen einer voreingenommenen, entschieden
parteipolitischen Stellungnahme.
Zu diesen Mängeln stand das Echo dieser Schrift auch i n der Straf-
rechtswissenschaft 66 i n keinem Verhältnis. Erklären läßt es sich nur
damit, daß das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung eine
Auseinandersetzung auch mit deren strafrechtlichen Zielen erforderlich
machte. Die Schrift Nicolais mußte dafür als geeigneter Ausgangspunkt
erscheinen; ein von der Partei verabschiedetes strafrechtliches Pro-
gramm existierte nicht, und die Position des Autors i n der Reichsleitung
der Partei bürgte für einen zumindest halbwegs offiziellen Charakter
seiner Äußerungen. Daß eine sorgfältige, kritische Uberprüfung m i t
fachspezifischen M i t t e l n unterblieb, ist ein Beweis für die wachsende
Politisierung der strafrechtlichen Auseinandersetzung.
Nachhaltigen Eindruck hinterließ i n der weiteren Diskussion der
Vorwurf Nicolais, die von den Reformern geplante Humanisierung des
Strafrechts bezwecke den Schutz des Verbrechers.

4. Die Tagung der deutschen Landesgruppe der


Internationalen Kriminalistischen Vereinigung
in Frankfurt a. M. i m September 1932

Die von einer rechtsgerichteten antiliberalen Basis aus geführten A n -


griffe gegen die Strafrechtsreform konnten auf um so größere Aufmerk-
samkeit rechnen, je mehr sich die politischen Macht Verhältnisse zu-

64 Ebd., S. 44.
65 Ebd., S. 42.
66 Vgl. oben 4. Kap. I. 3. a) A n m . 39.
92 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

gunsten der rechtsradikalen Parteien verschoben. Bei der Reichstags-


wahl vom 31. Juli 1932 mußten die liberalen Parteien und die SPD ζ. T.
starke Stimmenverluste hinnehmen, während die NSDAP einen enor-
men Stimmengewinn für sich verbuchen konnte. Ihre 1930 erzielte
Stimmenanzahl vergrößerte sich um mehr als das Doppelte; m i t 230
Abgeordneten (37,3 °/o) stellte sie die stärkste Fraktion i m neuen Reichs-
tag.
So kann es nicht verwundern, daß die i n der Strafrechtswissenschaft
zunächst nur unterschwellig vorhandene antiliberale Reformgegner-
schaft gegen Ende des Jahres 1932 an das Licht der Öffentlichkeit drang.
Zum Anlaß wurde die Tagung der deutschen Landesgruppe der Inter-
nationalen Kriminalistischen Vereinigung i n Frankfurt a. M. am 12.
und 13. September 1932.
Für eine klare Stellungnahme bestand allerdings auch ein gewisser
äußerer Zwang: Die Befürworter der Strafrechtsreformbestrebungen
hatten dafür gesorgt, daß das Problem der Straf rechtsreform als Ganzes
wieder i n den Mittelpunkt der Arbeit i n der deutschen Landesgruppe
der I K V rückte. Bereits 1931 hatte E. Schmidt, der dem Vorstand an-
gehörte, angesichts der Gefahren, die der Reform von den extremen
politischen Kräften drohten, dazu aufgefordert 67 . Den Reformanhängern
war daran gelegen, die gegnerischen Argumente i n Erfahrung zu brin-
gen, die attackierten weltanschaulichen Grundlagen der Strafrechts-
reform noch einmal klar herauszustellen und etwaige Mißverständnisse
zu beseitigen 68 . Nur so ist zu erklären, daß auf der Tagesordnung der
Frankfurter Sitzung der I K V , der die Fortsetzung ihrer Bemühungen
um die Straf rechtsreform auf Grund der ihr von ihren Gründern mit-
gegebenen Zielsetzung 69 sowie des bisher stets unbeirrbar eingehaltenen
Weges eigentlich selbstverständlich sein mußte, die Frage nach der
„Fortführung der Straf rechtsreform" gestellt war.
Wie wenig dennoch die Fachwelt damit rechnete, daß eine mit anti-
liberalen Argumenten kämpfende Reformgegnerschaft zum Durch-
bruch gelangen könnte, zeigen Tagungsberichte : „Geradezu ,sensationell/
gestaltete sich am zweiten Tage die Verhandlung über den Gegenstand

67 E. Schmidt, RuS H. 79, S. 22.


68 Das geht deutlich aus dem Referat Kohlrauschs u n d den Diskussions-
beiträgen von Radbruch u n d E. Schmidt hervor. Vgl. M i t t . I K V N.F. 6. Bd.,
S. 145 ff., 173 ff., 175 ff.
69 v. Liszt, ZStW 9, S. 367: „Ohne sich u m rein theoretische Schulstreitig-
keiten zu kümmern, verfolgt die Vereinigung ein durchaus praktisches Ziel:
die allmähliche U m w a n d l u n g des geltenden Rechts, damit die Strafe mehr
als bisher ihrer Aufgabe entsprechend gestaltet werde." — Diesem Gedanken
verlieh die erste Satzung der I K V klaren Ausdruck (vgl. A r t . I u n d I I ; M i t t .
I K V , l . J g . 1889).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 93

Fortführung der Strafrechtsreform' " 7 0 , führte Reichsgerichtsrat Här-


tung aus. Dieselbe Überraschung spiegelt ein anderer Bericht: „Die . . .
Aussprache über die Fortführung der Strafrechtsreform gestaltete sich
wider allgemeines Erwarten zum Höhepunkt der Tagung 7 1 ." Diese
Äußerungen beweisen noch einmal, daß der Prozeß der Entstehung und
Formierung der neuen Richtung der Öffentlichkeit größtenteils ent-
zogen war.

a) Der Verlauf der Tagung

Schon i m Rahmen der einleitenden Referate erhielt ein Gegner der


bisherigen Reformvorschläge, der damals i n Wien, später i n Berlin
tätige Hochschullehrer Graf Gleispach, als zweiter Berichterstatter das
Wort 7 2 . Zwar trat er in Übereinstimmung m i t dem ersten Referenten
Kohlrausch für eine Fortsetzung der Bemühungen um die Strafrechts-
reform ein; ob sie jedoch die bisherige Richtung beibehalten könne, zog
er angesichts der jüngsten politischen Ereignisse, die „ja schließlich
doch nur Auswirkungen neuer Geistesströmungen sind" 7 3 , i n Zweifel.
Man dürfe nicht achtlos an dem Ergebnis der letzten Reichstagswahl
vorübergehen. Hinter der dadurch hervorgerufenen Verschiebung i m
Kräfteverhältnis der politischen Parteien erblickte Gleispach das Wir-
ken einer „machtvollen Volksbewegung, . . . das Emporkommen neuer
Geistesrichtungen, die mit ganz bestimmten Zielpunkten alles, W i r t -
schaft, geistige Kultur, Staat und Recht ziu durchdringen suchen" 74 .
I n seinen weiteren Ausführungen legte er ein deutliches Bekenntnis
zur nationalsozialistischen Bewegung ab 75 . Zwar versuchte er i n einem
späteren Diskussionsbeitrag, diesen Eindruck zu verwischen: Er habe,
um die neuen Bestrebungen deutlich zu machen, absichtlich den Stand-
punkt der radikalsten Partei gewählt. Sein Referat ließ jedoch erkennen,
daß er sich mit der nationalsozialistischen Bewegung identifizierte: Nach-
dem er zunächst vom Standort eines objektiven Beobachters aus sprach
(„Nach der Grundeinstellung der jungen Bewegung .. .") 7 6 , wurde er
später zum Beteiligten („Die Annahme irgendeines der rechtlichen Rege-
lung entzogenen Kreises des Beliebens des einzelnen a priori ist uns77
70 Härtung, JR 1933, S. 161.
71 Brenner, D R i Z 1932, S. 307.
72 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 160 ff.
73 Ebd., S. 163.
74 Ebd., S. 163 f.
75 Nationalsozialistische Äußerungen Gleispachs führten i m übrigen 1933
zu seiner Maßregelung durch die österreichische Regierung u n d zum Wechsel
nach Berlin, wo er eine Honorarprofessur erhielt (vgl. Bracher /Sauer/Schulz,
Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 566).
76 Ebd., S. 165.
77 Hervorhebung v. Verf.
94 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

fremd") 7 6 . Nachdrücklich verteidigte er den von der NSDAP i n den


Reichstag eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der
Nation 7 8 .
I n Ermangelung eines strafrechtlichen Programms der NSDAP unter-
nahm Gleispach es i n seinem Vortrag, von ihren Grundideen ausgehend
die nationalsozialistischen Vorstellungen von einer Gesamtreform des
Strafrechts zu entwickeln. So sehr stand er unter dem Eindruck der
nationalsozialistischen Erfolge, daß er es nicht für notwendig erachtete,
die bisherigen Reformvorschläge eingehender K r i t i k zu unterziehen.
Vielmehr begnügte er sich damit, i n einer kurzen Bemerkung E. Schmidt
zu unterstellen, die Reform „eine schöne Blüte des Liberalismus"
genannt zu haben 79 , und sie wegen dieser Kennzeichnung durch einen
ihrer Anhänger zu verwerfen. Diese Weltanschauung besitze heute i m
Volk keine Wurzeln mehr und verfüge fast nur noch i n den Reihen der
deutschen Professoren über Anhänger.
Die ablehnende Haltung Gleispachs gegenüber dem bisherigen Weg
der Strafrechtsreform kam somit zur Hauptsache als Spiegelbild i n dem
von ihm entworfenen Programm zum Ausdruck: Das Straf recht habe der
„Förderung und Hochzüchtung der deutschen Volksgemeinschaft" 80 zu
dienen. Artfremde Rechtsgedanken seien aus dem Strafrecht zu ver-
bannen; an altes deutsches Rechtsdenken sei wieder anzuknüpfen.
Angelpunkt jeder rechtlichen Regelung sei das Wohl des Ganzen, nicht
hingegen die Freiheit des einzelnen. Ein Widerspruch zwischen Recht
und Sitte könne nicht hingenommen werden 8 1 . Die Strafe solle zur

78 Ebd., S. 168; vgl. Verh. des Reichstags I V . Wahlperiode 1928, Bd. 440,
Drucksache 1741: Der E n t w u r f sah die Todesstrafe f ü r Landesverrat i n
weitester F o r m vor („Wer es unternimmt, . . . eine Handlung zu begehen, die
die Sicherheit oder Unabhängigkeit der deutschen Nation i m Verhältnis
zum Ausland zu gefährden geeignet ist . . . " ; Werbung f ü r Abrüstung; A u f -
forderung zur Kriegsdienstverweigerung; Dienstpflichtentziehung) sowie f ü r
„Volksverrat" (Behauptung der „Kriegsschuldlüge"; weitere Aufnahme von
Kriegsfolgelasten; Mißbrauch von Freiheitsrechten zur Schädigung der
Lebensinteressen des deutschen Volkes). M i t Zuchthaus waren „Wirtschafts-
verrat", „Rassenverrat" u n d die Verächtlichmachung nationaler Symbole be-
droht. I n schweren Fällen sollte auch hier die Todesstrafe verhängt werden
können.
79 Die Bemerkung bezog sich auf E.Schmidts Schrift „Strafrechtsreform
u n d K u l t u r k r i s e " , RuS H. 79, i n der die Äußerung i n Wahrheit nicht ent-
halten ist. Sie würde auch i m Gegensatz zum ganzen I n h a l t des Buches
stehen, i n dem sich E. Schmidt u m den Nachweis bemühte, daß die E n t w ü r f e
gerade nicht liberalistisch seien. Vgl. auch E. Schmidts Widerspruch i n der
nachfolgenden Diskussion, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176.
so Ebd., S. 165.
8i Die Möglichkeit einer Wesensverschiedenheit negierte Gleispach, ebd.,
S. 165, kurzerhand. Seine apodiktische Tonart entsprach dem aktivistischen
Element i n der nationalsozialistischen Ideologie.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 95

Durchsetzung sittlicher Grundsätze beitragen, die, aus der Volks-


gemeinschaft hervorgegangen, absolute Gültigkeit beanspruchen könn-
ten. Den Bezugspunkt strafrechtlicher Haftung bilde die Schuld, „die
Schuld des einzelnen zurechnungsfähigen Individuums, als ein Zurück-
bleiben hinter den Forderungen, die ein Volk an das Individuum stellen
darf" 8 2 .
Zwingend folgte nach Gleispachs Ansicht aus diesen Prämissen, daß
die Strafe an der Vergeltungsidee auszurichten sei. Darüber hinaus
müsse die Forderung durchgesetzt werden, „daß der entartete Ver-
brecher aus der Volksgemeinschaft ausgeschaltet werde" 8 2 . Dazu seien
die Sicherungsmittel einzusetzen, die aber, von den Strafen scharf ge-
trennt, nur untergeordnete Bedeutung hätten. Die Todesstrafe sei selbst-
verständlicher Bestandteil des Strafensystems. Die Strafe solle sich nach
der Bedeutung der verletzten Richtsgüter richten; die Verletzung höch-
ster Gemeinschaftsgüter bedürfe der Ahndung durch schwerste, m i t
Ehrverlust verbundene Strafen. Verstärkter Schutz solle den ideellen
Gütern zukommen, wie „Ehre und Würde des deutschen Volkes und
seiner Helden, die Fruchtbarkeit der deutschen Rasse und das deutsche
Volkstum schlechthin" 83 . Verschärfte Bestimmungen i m Wirtschafts-
strafrecht sollten der Ausbeutung i n jeder Form begegnen. Hätten diese
Grundgedanken einmal Eingang i n ein neues Strafgesetz gefunden, so
dürfe die Durchsetzung nicht durch eine zu großzügige Gestaltung des
richterlichen Ermessens behindert werden.
Abschließend faßte Gleispach sein Strafrechtsprogramm zusammen,
indem er es als Konsequenz des durch die neue geistige Strömung be-
wirkten Vordringens von Idealismus, Universalismus und Nationalis-
mus gegenüber Materialismus, Individualismus und Liberalismus be-
zeichnete, daß die Anlagetheorie gegenüber den Umwelttheorie größere
Bedeutung gewinnen und daß sich die Generalprävention gegenüber
der Spezialprävention i n den Vordergrund schieben werde.
Erst die nachfolgende Diskussion war von dem eigentlichen Streit-
punkt beherrscht, von der Frage, inwiefern der Vorwurf des „Liberalis-
mus" und des „Individualismus" auf die bisherigen Reformbestrebungen
zutreffe. Ein ausführlicher Beitrag E. Schmidts gleich zu Beginn, der i m
wesentlichen mit dem Referat von Kohlrausch übereinstimmte, wies der
Aussprache die Richtung. Er engte zugleich den Raum der antiliberalen
Argumentation ein und verwehrte den Reformgegnern, sich m i t all-
gemein gehaltenen Angriffen zu begnügen. E. Schmidt nahm Gedanken-

82 Ebd., S. 166.
83 Ebd., S. 168; hier n a h m Gleispach wieder auf den nationalsozialistischen
E n t w u r f eines Gesetzes zum Schutze der Nation Bezug (Reichstag I V 1928,
Drucksache 1741).
96 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

gänge wieder auf, die er bereits früher geäußert hatte 8 4 : Als Charak-
teristikum der Strafrechtsreform bezeichnete er, „was i n den Straf-
begriff hineingedacht w i r d " 8 5 . Der Gedanke einer spezialpräventiven,
„individualisierenden" Strafe habe nichts mit einem „Individualismus"
i m Sinne einer Freiheitsgarantie für den einzelnen gemein. Der Zweck
der Resozialisierung mache aus Gründen des Gemeinwohls sogar ein-
schneidende Eingriffe i n die individuelle Freiheitssphäre durch Er-
ziehungsmaßnahmen erforderlich, die ein liberalistisches Strafrecht nie
gestatten würde. Sichtbarstes Zeichen des Illiberalismus in der Straf-
rechtsreform sei die angestrebte Sicherungsstrafe.
Nach eindringlichen Appellen von Radbruch und E. Schmidt an die
Reformgegner, endlich ihre Bedenken klar zu äußern, ergriff der
Göttinger Privatdozent Schaffstein als Sprecher der „Jüngeren" das
Wort 8 6 . Den Kern seiner Ausführungen bildete die Feststellung, daß
die in den Entwürfen angelegte Tendenz zur Milde dazu berechtige,
die Reform „liberalistisch" zu nennen; denn dem Liberalismus wohne ein
individualistisches Element inne, das i n der Bewahrung des einzelnen
Rechtsbrechers vor einschneidenden staatlichen Maßnahmen zum Zuge
komme. Zum Beweis führte Schaffstein das „weitgehende und viel-
gestaltige Milderungssystem" 87 der Entwürfe an. Die Auswirkungen der
Reformgedanken waren jedoch nach seiner Ansicht i n der Vergangen-
heit nicht auf die Gesetzesvorschläge allein beschränkt geblieben; auch
i n der Gesetzgebungspraxis und i n der Strafrechtspflege habe sich der
Individualismus durchgesetzt.
I m Verein m i t dem Sozialismus, der gleichfalls eine individualistische
Bewegung sei, habe der Liberalismus dazu beigetragen, daß nach dem
Weltkrieg nur solche Reformvorstellungen i n die Gesetzgebungspraxis
umgesetzt worden seien, die dem Rechtsbrecher Vergünstigungen ge-
bracht hätten, so ζ. B. die Strafvollzugsreform und die Ausdehnung der
bedingten Begnadigung.
Schaffstein beließ es bei diesen Andeutungen. Er sprach damit ein-
mal auf die Veränderungen i m Strafvollzug an, die durch die Reichsrats-
grundsätze aus dem Jahre 1923 und die sich daran anschließenden
Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder herbeigeführt worden waren.
Die Reichsratsgrundsätze stellten den Erziehungs- und Besserungs-
gedanken i n den Mittelpunkt des Freiheitsstrafvollzugs und nahmen
den Stufenvollzug i n das Strafvollzugssystem auf. Zum anderen wies

84 Vgl. E. Schmidt, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 175 ff., sowie RuS H. 79,


SchwZStR 1931, S. 200 ff. u n d MschrKrimPsych 1931, S. 193 ff.
85 M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 176.
86 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 181 ff.
87 Ebd., S. 183.
I . Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 97

er mit der Erwähnung der bedingten Begnadigung auf die Bestrebun-


gen hin, den Gedanken des „bedingten Straferlasses" 88 auf dem Weg
über das Gnadenrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Sie hatten bereits
vor dem ersten Weltkrieg Erfolge verzeichnen können, als von 1895
bis 1903 i n fast allen deutschen Ländern das Gnadenrecht der Landes-
herren durch Verordnung an die Justizminister delegiert wurde, die
ihre Entscheidung von der Stellungnahme des Gerichts und der Straf-
vollzugsbehörde abhängig machten. Schaff steins Bedenken richteten sich
offensichtlich gegen die i n vielen Ländern nach 1919 vorgenommene
weitere Verfestigung der bedingten Begnadigung durch die Delegation
des Gnadenrechts an die Gerichte und gegen deren Begnadigungs-
praxis 8 9 .
Seine Befürchtung, daß auch die Strafrechtspflege auf Grund libera-
listischer Einflüsse verweichliche, sah Schaffstein durch die Unter-
suchung Exners über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte
bestätigt 90 , die aufzeige, „daß die Strafzumessungskurve sich immer
mehr der gesetzlichen Mindeststrafe nähert, und daß, wenn man sich die
Kurve über 30 bis 40 Jahre fortgesetzt denkt, w i r dann überhaupt keine
Strafe mehr haben würden" 9 1 .
Schaffstein verzichtete darauf, die Alternative zum bisherigen Weg
der Strafrechtsreform, ein konservatives Strafrechtsprogramm, selbst zu
entwerfen, sondern verwies auf die Ausführungen Gleispachs. Ergän-
zend bemerkte er zum Strafbegriff, daß die Spezialprävention als die
für den Verbrecher vorteilhafteste staatliche Reaktion der Vergeltung
und Abschreckung zu weichen habe, weil nur i n ihnen die Staats-
autorität in rechter Weise wiederhergestellt und betont werde. I n diesem
Sinne empfehle sich ein Umbau der Strafrechtsreformentwürfe. Ein
Gelingen dieses neuartigen Gesetzeswerkes sei aber erst nach zwei oder
drei Jahren zu erwarten, wenn der autoritär-konservative, organische
Staatsgedanke allgemein anerkannt sei.
I m weiteren Verlauf der Aussprache erfuhr Schaffsteins Beitrag nach-
drückliche Unterstützung durch die Äußerungen des Freiburger Profes-
sors Erik Wolf 9 2 . Bemerkenswert war vor allem, was dieser zur poli-
tischen Standortbestimmung der von ihm und Schaff stein repräsen-
tierten Gruppe der „jüngeren Kriminalisten" ausführte: Ihre Auffas-
sungen seien von der Ideenwelt des jungen Nationalismus oder
Konservativismus geprägt. Entschieden verwahrte er sich gegen eine

88
So die Bezeichnung i n den Reformentwürfen; vgl. oben 4. Kap. I . 1.
8
» Vgl. dazu unten 4. Kap. I I . 2. a).
so Kriminalistische Abhandlungen, H. 16, Leipzig 1931.
91 S chaff st ein, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 183.
92 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 190 ff.

7 Marxen
98 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

pauschale Gleichsetzung der jungkonservativen Richtung mit dem


Nationalsozialismus. Die neue Richtung i n der Strafrechtswissenschaft
wolle „vorläufig nur Zurückhaltung üben, um die i m Entstehen be-
griffenen Umformungen des Staats- und Rechtsdenkens i n Deutsch-
land nicht aus der Entwicklung des Strafrechts auszuschalten" 93 .
Die von Schaffstein an den Entwürfen vorgetragene K r i t i k ergänzte
E. Wolf durch Angriffe gegen einige besondere Aspekte der Reform-
bestrebungen, denen er bereits vorher i n seinen Schriften kritische, aber
zurückhaltend formulierte Äußerungen gewidmet hatte. Die Wertung
der Rechtsgüter i n den Entwürfen stehe noch weitgehend unter dem
Einfluß des individualistischen Liberalismus, wie es sich am Fehlen des
Schutzes der Arbeitskraft sowie an der wesentlich niedrigeren Strafe
erweise, mit der die Verletzung der öffentlichen Ordnung gegenüber
der Verletzung von Individualgütern bedroht sei. Auch bedauerte
E. Wolf, daß die Entwürfe die „so nützlichen" Bestimmungen über den
Sozialwucher aus dem Kriegsstrafrecht nicht übernommen hätten 9 4 .
Dem sich darin manifestierenden individualistischen Liberalismus, ins-
besondere dem Wirtschaftsliberalismus, gelte der Kampf der neuen
Richtung; keineswegs solle der Satz „nulla poena sine lege" und damit
der Besondere Teil abgeschafft werden.
Liberalistisch fundiert sei auch der Täterbegriff des Entwurfs 9 5 .
E . W o l f hatte an ihm auszusetzen, daß er dem dringenden Ruf nach
gesetzlicher Täterpsychologie nicht nachkomme und m i t der formalen
Definition der Schuldelemente dem „farblosen individualistischen
Gesetzesliberalismus des 19. Jahrhunderts" 9 6 verhaftet geblieben sei.
Das zugrundeliegende Menschenbild sei von einer naturalistischen Welt-
betrachtung geformt: „Der Mensch als abstrakte Ursache i m natur-
wissenschaftlichen Sinn 9 6 ." Seinen Platz müsse ein geisteswissenschaft-
lich fundierter, normativer Täterbegriff einnehmen.
Sein letztes Bedenken galt dem „Internationalismus" des Entwurfs.
Er beklagte, daß dieser i n fehlgeleitetem Bestreben nach Internationali-

sa Ebd., S. 192.
94
„Sozialwucher" meint die Schädigung der Allgemeinheit durch die
Forderung überhöhter Preise für unentbehrliche Gegenstände u n d Leistun-
gen. A n die Stelle des Tatbestandsmerkmales der individuellen Notlage
beim Individualwucher (§§ 302 a ff. StGB) t r i t t das der allgemeinen Notlage.
E. Wolf sprach hier die während u n d nach dem 1. Weltkrieg erlassenen
Gesetze u n d Verordnungen zur Bekämpfung des Preiswuchers, des Leistungs-
wuchers, der Warenzurückhaltung, des Schleichhandels usw. an, die bis 1926
nach u n d nach außer K r a f t gesetzt w u r d e n (vgl. Frank, Strafgesetzbuch,
18. Aufl., S. 707 f.).
95
Soweit i n der Aussprache „der E n t w u r f " angesprochen wurde, w a r
der E n t w u r f 1930 gemeint.
96 Ebd., S. 193.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform 99

tät Begriffe und Kategorien verwende, die auch i n vielen „modern"


eingestellten ausländischen Reformvorschlägen und Gesetzen zu finden
seien. Das Augenmerk müsse mehr auf das nationale Rechtsgut gerichtet
werden, dessen Begriffsbildung dann international zur Geltung zu
bringen sei.
Auf Grund der Zeitumstände hielt E. Wolf ein Gelingen der Reform,
soweit sie die bisherige Richtung beibehalten sollte, für i n höchstem
Maße unwahrscheinlich. Erst müsse sich i m Volk eine einheitliche
Rechts- und Staatsgesinnung durchgesetzt haben. Keinen Zweifel ließ
er daran, daß nach seiner Ansicht den Ideen des jungen Konservativis-
mus die Zukunft gehörte.

b) Das Ergebnis der Tagung

Die Frankfurter Tagung hatte deutlich gemacht, daß die deutsche


Landesgruppe der I K V i n der Frage der Strafrechtsreform i n zwei,
wenn nicht drei Gruppen gespalten w a r 9 7 . Zahlenmäßig trat dieses
Ergebnis bei der abschließenden Abstimmung über die von den beiden
Berichterstattern vorgelegten Thesen i n Erscheinung: Zwar enthielten
sie auch ein Votum für die Fortführung der Strafrechtsreform (These 1);
These 4 schwächte jedoch ab: „Unbeschadet der Anerkennung des Ein-
flusses neuer Geistesströmungen und bedeutender Veränderungen i m
Verhältnis der politischen Kräfte 9 8 ." Sie enthielt i n versteckter Form
— nur auf den ersten Blick stellte die Aussage eine Selbstverständlich-
keit dar — den Hebel, mit dessen Hilfe die Strafrechtsreform i m bisheri-
gen Sinne abgebrochen und eine neue Reform mit veränderten Vor-
zeichen an ihre Stelle gesetzt werden konnte. Daher verlangte Radbruch
eine gesonderte Abstimmung über diese These. M i t 25 gegen 23 Stim-
men bei 7 Stimmenthaltungen wurde sie angenommen.
Sicherlich wäre es verfehlt, hinter den 25 Ja-Stimmen die gleiche
Anzahl entschiedener Gegner der bisherigen Richtung der Reform zu
vermuten. Dafür fehlte es i n der vorausgegangenen Diskussion an
entsprechend vielen, klaren Stellungnahmen. Zumindest aber läßt sich
der Abstimmung entnehmen, daß viele Teilnehmer i n ihrer Haltung
schwankend geworden waren und daß sie sich bemühten, für neue Ent-
wicklungen offen zu bleiben, um den Anschluß nicht zu versäumen.
Nicht leicht zu erklären ist, daß eine derartige Spaltung innerhalb
der Vereinigung i n Anbetracht ihrer programmatischen Zielaussage und
der zuvor stets verfolgten Richtung überhaupt möglich war, zumal sich

97 Vgl. dazu u n d zum folgenden den Tagungsbericht von Grünhut, ZStW


52, S. 763 ff. (773 f.).
98 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 171.

*
100 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

den Reformgegnern i n der „Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft"


eine Organisation anbot, die dem kriminalpolitischen Reformprogramm
der I K V entschieden Widerstand entgegensetzte". Für die antiliberalen
Reformgegner kam jedoch ein Anschluß nicht i n Betracht, da die
„Deutsche strafrechtliche Gesellschaft" eine Organisationsform der
klassischen Schule darstellte, die sie gleichfalls als „liberalistisch" ein-
stuften. I h r Verbleib i n der I K V dürfte auch darauf zurückzuführen
sein, daß die I K V i m Laufe der Zeit eine allseits anerkannte führende
Position i m Kampf um die Straf rechtsreform errungen hatte. Wer über
die Richtung der Reform mitbestimmen wollte, dem mußte die I K V als
das geeignetste Arbeitsfeld erscheinen. Schließlich könnte die Mitglied-
schaft der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler i n der I K V auch auf
einer gewissen Übereinstimmung m i t den illiberalen Elementen i n den
Reformvorschlägen der Vereinigung beruht haben.
I m übrigen war auch die Gegensätzlichkeit zwischen der Deutschen
strafrechtlichen Gesellschaft und der I K V i n personeller Hinsicht nicht so
scharf, wie die Unterschiedlichkeit der Programme erwarten läßt: So
gehörten mehrere Gründungsmitglieder der Gesellschaft der I K V an
und verblieben auch weiterhin in ihr (Allfeld, Gerland, Honig, Kern,
Lobe, Mezger, Sauer) 100 . Die dadurch bedingte Spannweite der I K V
trug m i t zu einer Flügelbildung bei, die sich nach der Beobachtung
Sauers bereits 1927 i n der Ausbildung eines führenden linksliberalen
und eines schwächeren nationalliberalen oder konservativen Flügels
äußerte 101 . Bis 1932 gelang es dem rechtsgerichteten Flügel aber nicht,
der Reformarbeit entscheidende Akzente zu verleihen. Weithin sicht-
bare Zeichen konnte er erst auf der Frankfurter Tagung vor dem
Hintergrund umwälzender politischer Ereignisse setzen.
Aber die antiliberalen Reformgegner bewegten sich, wie die Tagung
gezeigt hatte, nicht auf einer Linie. Als Repräsentanten der i n ihren
Reihen vorhandenen beiden Gruppen können Gleispach einerseits sowie
Schaffstein und E. Wolf andererseits genommen werden 1 0 2 . Während
Gleispach ein nationalsozialistisches Strafrecht vertrat, vermied die
andere Seite eine parteipolitische Festlegung.
Erstmals hatte die Frankfurter Sitzung näheren Aufschluß über die
Argumente gegen ein liberales Strafrecht gegeben, das einige Straf-
rechtswissenschaftler i n den Reformentwürfen verkörpert sahen: Als

99 Vgl. Oetker, D J Z 1925, Sp. 1300 f.


100 s. D J Z 1925, Sp. 1302 u n d M i t t . I K V N.F. 1. Bd., S. 3 ff. u n d 6. Bd.,
S. 209 ff.
ιοί Sauer, ArchRWPh Bd. 26, S. 274; auch ders., GS 103, S. 15.
102 Vgl. dazu Grünhut, ZStW 52, S.773f.; Radbruch, Die Gesellschaft 1933,
S. 223 ff.; Brenner, D R i Z 1932, S. 307 f.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 101

liberalistisch glaubten sie einmal die Rechtsgüterordnung und den Täter-


begriff erkannt zu haben. Zum hauptsächlichen Streitgegenstand, zur
Frage der Straf auf fassung, verwiesen sie auf die i n den Entwürfen, i n
der Gesetzgebung und i n der Strafrechtspflege zu verzeichnenden Ten-
denzen zur Milde. Ihre Vorwürfe richteten sich nicht immer unmittel-
bar gegen die Strafrechtsreform. Die Feststellung, daß bisher nur die
für den Rechtsbrecher günstigen Teile der Reform Vorschläge i n die
Praxis umgesetzt worden seien, enthielt zugleich unausgesprochen das
Zugeständnis, daß der Reform in diesem Sinne auch illiberale Elemente
eigen waren, indem sie harte, durchgreifende Maßnahmen des Staates
gegen den Verbrecher vorsah.

II. Die Fortsetzung und Erweiterung der Auseinandersetzung


um die „liberale" Strafrechtsreform in der Zeit des Umsturzes

Die antiliberalen Argumente der Reformgegner bezogen sich — das


hatte die Frankfurter Tagung ganz deutlich gemacht — nur noch zum
Teil auf die Strafrechtsreformentwürfe selbst; i m übrigen richteten sich
die Angriffe, die sich auch jetzt noch vielfach auf Andeutungen be-
schränkten, gegen die gesamte, angeblich durch die Reformtendenzen
bestimmte Strafrechtsentwicklung i n Gesetzgebung und Rechtspflege.
I m weiteren Verlauf der Auseinandersetzung ging die antiliberale Seite
immer mehr dazu über, eine kritische Würdigung des Zustandes der
gesamten Strafrechtspflege zur Grundlage ihrer Erneuerungsbewegung
zu machen, was nicht zuletzt eine Folge des Scheiterns der Strafrechts-
reform war.
Die Ausschußberatungen i m Reichstag der V. Wahlperiode waren
von Beginn an (Dezember 1930) nur schleppend vorangegangen, da die
radikalen Parteien ihre Mitarbeit verweigerten 1 0 3 . Trotz wiederholter
längerer Sitzungspausen, die zu Sondierungsgesprächen genutzt wurden,
konnten die weltanschaulichen Gegensätze nicht zugunsten pragma-
tischer Lösungen überwunden werden. I m Frühjahr 1932 kam die Aus-
schußarbeit vollends zum Stillstand. Zu diesem Zeitpunkt wurde offen-
kundig, daß sich die Strafrechtsreform in einem „Zustand der Agonie" 1 0 4
befand. I m Mai desselben Jahres verlor sie ihren wichtigsten Für-
sprecher, den langjährigen Ausschußvorsitzenden Wilhelm Kahl, der
nach unermüdlichem, beispielgebendem Einsatz für eine Reform des
Strafrechts i m Alter von 82 Jahren verstarb. I h m blieb erspart, mit-
erleben zu müssen, wie die Reichstagsauflösung vom 4. Juni 1932 dem
Vorhaben einer Gesamtreform des Strafrechts ein Ende bereitete. Die

103 v g l . oben 4. Kap. I . 1. d).


104 Ebermayer, D R i Z 1932, S. 108.
102 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Turbulenz der politischen Ereignisse, von denen hier nur die gewaltigen
Stimmengewinne der radikalen Parteien und die abermalige Reichstags-
auflösung vom 12. September 1932 erwähnt seien, ließ i n der Folgezeit
dem Gedanken an eine Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit
an der Strafrechtsreform keinen Raum, schon gar nicht unter A n -
knüpfung an die vor auf gegangenen Bestrebungen 105 .
Das heißt jedoch nicht, daß die Auseinandersetzung um den künftigen
Weg des Straf rechts verstummt war; i m Gegenteil, durch das vorzeitige
Scheitern der Reform fühlten sich ihre Gegner aufgerufen, m i t Nach-
druck einen Umschwung i n der Strafrechtsentwicklung i m Sinne der
weltanschaulichen Grundlagen der neuen politischen Kräfte zu fordern.
I n zahlreichen Veröffentlichungen, die sich m i t den Grundfragen des
Strafrechts, insbesondere mit der Frage seiner Abhängigkeit von der
Staats auf fassung befaßten, versuchten „national" gesinnte Strafrechts-
wissenschaftler, dem Strafrecht den Weg zu weisen. Auch die national-
sozialistische Machtergreifung ließ die allgemein zu beobachtende
Neigung zu übergreifender Erörterung strafrechtlicher Probleme zu-
nächst unberührt, da kein fertiges nationalsozialistisches Strafrechts-
programm vorlag. I n der Zeit kurz vor und nach der Machtübernahme
herrschte daher i n der Strafrechtswissenschaft das Bemühen vor, die
wesentlichen Züge des künftigen Straf rechts zu entwerfen, und das
bedeutete vor allem, die Fragen der Rechtfertigung und Ausgestaltung
der Strafe unter Berücksichtigung des neuen Staatsverständnisses zu
beantworten.
Wenn auch die Konzeptionen eines neuen Strafrechts manche Unter-
schiede auf wiesen, so bestand doch weitgehende Übereinstimmung i n der
Beurteilung der „vorrevolutionären" Verhältnisse als „liberalistisch" ;
die Forderung nach einer Überwindung eines solchen „liberalen" Straf-
rechts bildete den Hintergrund dieser erweiterten Reformdiskussion.
Die Vermehrung der Angriffsziele um Gegenstände der praktischen
Strafrechtspflege mußte eigentlich zu der Schwierigkeit führen, daß
die gegnerische Position nicht mehr ohne weiteres als „liberalistisch"
abqualifiziert werden konnte; denn nun bildete das Angriffsobjekt nicht
mehr eine idealtypische Konstruktion, sondern es setzte sich aus Er-
scheinungen i n der Strafrechtspraxis zusammen, die sich bei näherem
Hinsehen stets als außerordentlich komplex erweisen. Wie i m folgen-
den zu zeigen sein wird, begegneten die Vertreter der antiliberalen
Richtung der Schwierigkeit, indem sie eine eingehende Würdigung aller
Umstände vermieden und sich darauf beschränkten, die Aspekte heraus-

105 Unverständlich ist daher Wegners Behauptung: „ Z u r Zeit des Umsturzes


von 1933 w a r die Strafrechtsreform i n vollem Gange" (Strafrecht, A l l g . Teil,
S. 59).
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 103

zustellen, die geeignet waren, ihre Thesen auszufüllen. Auf diese Weise
blieben Elan und Schärfe ihrer Angriffe gewahrt.

1. Die antiliberale Kampfschrift von Dahm und Schaffstein


„Liberales oder autoritäres Strafrecht?"

I m Januar 1933, kurz nach der Frankfurter IKV-Tagung, erschien die


von den Privatdozenten Dahm (Heidelberg) und Schaffstein (Göttingen)
gemeinsam verfaßte Streitschrift „Liberales oder autoritäres Straf-
recht?", die zur meistbeachteten Veröffentlichung der antiliberalen
strafrechtlichen Erneuerungsbewegung wurde. I n der Einleitung er-
klärten die Autoren ausdrücklich, daß ihre Abhandlung keinen wissen-
schaftlichen Beitrag darstelle; vielmehr beabsichtigten sie, m i t ihren
Ausführungen die gesamte Staats- und kulturpolitisch interessierte
Öffentlichkeit zu erreichen 106 . Zur Verwirklichung dieses Anspruchs trug
bei, daß das Buch knapp und übersichtlich gehalten war, sich durch
prägnante, allgemeinverständliche Formulierungen auszeichnete und
auf wissenschaftliche Belege verzichtete.
Obwohl sich die Autoren vor allem an die breite Öffentlichkeit
wandten, stieß ihre Abhandlung auf ein vielfältiges Echo auch i n der
Strafrechtswissenschaft, das sich i n zahlreichen Besprechungen 107 , zu-
stimmenden Stellungnahmen 1 0 8 und Entgegnungen niederschlug 109 . Es
wurde deutlich, daß die Schrift erstmalig i n nahezu programmatischer
Form Auffassungen i n die öffentliche Diskussion einbrachte, die sich i n
der internen strafrechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung schon
seit langem angestaut hatten. Die politischen Machtverschiebungen
erhöhten die Bedeutung der von Dahm und Schaffstein vertretenen
Richtung, so daß auch Strafrechtswissenschaftler m i t entgegengesetzten
Anschauungen nicht umhin konnten, ihre Linie als ein wesentliches
Moment i n der Reformdiskussion anzuerkennen.
So wurde der alljährlich stattfindenden Zusammenkunft von Straf-
rechtslehrern in Frankfurt a. M. am 8. Januar 1933 als Thema die Frage

106 Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 4.


107 Drost, ArchRSozPh Bd. 27, S. 113 ff.; Härtung, JR 1933, S. 175; v. Hentig,
MSchrKrimPsych 1933, S.235; Kern, D J Z 1933, Sp. 1442; H.Mayer, J W 1933,
S. 944 f.
los u.a. Stock, Die Strafe, S.7; Nagler, GS 103, S . X X I V A n m . 4 9 ; Sauer,
GS 103, S. 3 Anm. 1; Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 158 ff. (Der
Beitrag ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, daß Verfechter einer
sozial-liberalen Reform versuchten, den Anschluß an den konservativen
Zeitgeist zu gewinnen; vgl. dazu unten 4. Kap. I V . 2.); zurückhaltend: Gallas,
ZStW 53, S. 1 ff.
109
u.a. Drost i n : Recht u n d Leben — Wochenbeilage der Vossischen
Zeitung v o m 26.1.1933; Grünhut, ZStW 53, S. 1 ff.; Radbruch, Die Gesellschaft
1933, S. 217 ff.
104 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

„Liberales oder autoritäres Strafrecht?" vor angestellt 110 . A u f i h r erhielt


Dahm Gelegenheit, die Vorstellungen der jüngeren Kriminalisten-
generation über ein „autoritäres" Straf recht darzulegen 111 . Man konnte
den Eindruck gewinnen, die neue Antithese habe den alten Schulen-
streit verdrängt 1 1 2 .
Nach der „nationalen Revolution" vom 30. Januar 1933 verlagerte
sich das Schwergewicht i n den strafrechtswissenschaftlichen Abhand-
lungen, die eine Erneuerung des gesamten Strafrechts zum Gegenstand
hatten, von den Angriffen gegen das „liberale" Strafrecht auf program-
matische Aussagen über das kommende Strafrecht. Zwar wurde auch i n
ihnen immer wieder die Frontstellung zum „liberalen" Strafrecht her-
vorgehoben; die Beseitigung des „liberalen Systems" von Weimar ließ
jedoch i n den politisch unmittelbar relevanten Fragen der Rechtfertigung
und Ausgestaltung der Strafe eine Rückkehr zu liberalen Lösungen nicht
mehr erwarten, so daß man sich darauf konzentrierte, i n der Ausein-
andersetzung um das künftige Strafrecht die eigenen Ansichten als
konsequente Umsetzung des Nationalsozialismus i n das Strafrecht
herauszustellen und so die Entwicklung zu beeinflussen.
Der Kampf gegen den Liberalismus war damit keineswegs abgeschlos-
sen: I n einer späteren Phase 113 bemühten sich die Vertreter des A n t i -
liberalismus, wie noch zu zeigen sein wird, i n speziellen Problem-
kreisen der Strafrechtswissenschaft, vor allem i m Bereich der Dogmatik,
liberales Gedankengut auszumerzen 114 .
Der erste Abschnitt der Angriffe gegen den Liberalismus i m Straf-
recht erreichte m i t der Schrift von Dahm und Schaffstein zweifellos
einen Höhepunkt. Als die Abhandlung konzipiert wurde, hatte sich der
autoritäre Staatsgedanke i n der politischen Wirklichkeit noch nicht
110
Vgl. dazu den Tagungsbericht von v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26,
S. 497 ff.
m Der Vortrag ist abgedruckt i n MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff.
" 2 so v. Gemmmgen, ArchRWPh Bd. 26, S. 497.
us w i e jede historische Phasentheorie, so muß auch diese Einteilung i n
Phasen m i t der Einschränkung versehen werden, daß damit n u r eine
Schwerpunktbildung gekennzeichnet sein soll. Daß als maßgebender Zeit-
p u n k t für den Einschnitt — Konsolidierung des nationalsozialistischen
Machtapparates — k e i n genaues D a t u m genannt w i r d , macht deutlich, daß
der Übergang fließend war.
114
A n diesen Bestrebungen waren Dahm u n d Schaffstein ebenfalls maß-
geblich beteiligt. Auch aus diesem Grunde verdient i h r Beitrag zur a n t i -
liberalen R e f o r m k r i t i k besonderes Interesse. Daher erscheint die folgende
ausführliche Darstellung gerechtfertigt; denn auf diese Weise w i r d der
Zusammenhang zwischen den späteren dogmatischen Arbeiten u n d den
früheren kriminalpolitischen Vorstellungen deutlich u n d so eine rein
theoretische Betrachtung der dogmatischen Arbeiten vermieden. Gleich-
zeitig könnten grundsätzliche Aspekte über die gegenseitige Abhängigkeit
von Straf- u n d Verbrechensbegriff erkennbar werden.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 105

durchgesetzt; das Engagement der Autoren schlug sich daher i n der


Breite ihrer Angriffsfront und i n der Unbedingtheit ihrer ablehnenden
Haltung nieder. Sie leisteten damit einen grundlegenden Beitrag für alle
späteren autoritären Strafrechtsprogramme. I m übrigen bekräftigten
und untermauerten sie ihren Standpunkt i n der Folgezeit durch einige
weitere Schriften 1 1 5 , die ζ. T. auch schon die spätere dogmatische
Diskussion unmittelbar berührten.

2. Die Hauptangriffspunkte

Ihre Auffassung, daß die Strafrechtspflege liberalistischem Einfluß


unterworfen sei, sahen die Vertreter des Antiliberalismus i n einer
Fülle von Einzelerscheinungen bestätigt, „die zwar für sich betrachtet
vielfach hingenommen, zum Teil sogar begrüßt werden können, i n
ihrer Gesamtheit aber Anzeichen des Zerfalls und für ein Zurück-
weichen der Staatsgewalt sind" 1 1 6 . Diesen „Schrumpfungsprozeß" 117
führten sie auf die i n der Staatsform der Weimarer Republik voll-
zogene Verbindung von Liberalismus und Sozialismus zurück. Beide
Weltanschauungen verfolgen nach ihrer Auffassung das Ziel, dem
Individuum das größtmögliche Maß an Freiheit zukommen zu lassen; der
Unterschied bestehe lediglich darin, „daß der Liberalismus glaubte, sein
Freiheitsideal sofort und ohne Übergangsformen verwirklichen zu
müssen" 116 , während der Sozialismus sein „individualistisches Endziel" 1 1 9
nur unter der Voraussetzung als erreichbar betrachte, daß i n einer
Übergangsstufe der Staat das Prinzip der Gleichheit „oder besser noch:
der gleichen Freiheit 4 " 1 2 ° durchsetze. Das Zusammenwirken der beiden
Kräfte i n einem soizal-liberalen Kompromiß müsse zwangsläufig dem
Individuum zu größten Freiheiten und Vorteilen verhelfen und die
staatliche Macht auf ein M i n i m u m reduzieren.
Die Konsequenz der Beschneidung der staatlichen Machtbefugnisse
war nach der Ansicht von Dahm und Schaffstein „eine allmähliche A u f -

115 Dahm, Autoritäres Strafrecht, MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff.; Die


Ehre i m Straf recht, D R 1934, S. 417 ff.; Die Erneuerung der Ehrenstrafen,
DJZ 1934, Sp. 821 ff.; Gemeinschaft u n d Strafrecht, 1935; Nationalsozialisti-
sches u n d faschistisches Strafrecht, 1935; Schaff stein: Nationalsozialistisches
Strafrecht, Gedanken zur Denkschrift des Preußischen Justizministers, ZStW
53, S. 603; Die Bedeutung des Erziehungsgedankens i m neuen deutschen
Strafvollzug, ZStW 55, S. 276 ff.; Der Begriff „Strafanspruch" u n d sein
rechtspolitischer Gehalt, D J Z 1934, Sp. 1174 ff.; Ehrenstrafe u n d Freiheits-
strafe i n ihrer Bedeutung f ü r das neue Strafrecht, DStR 1934, S. 273 ff.
" β Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 169.
i n Ebd., S. 171.
us Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 11.
us Ebd., S. 10.
120 Ebd., S. 11.
106 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

lösung des Strafrechts" 120 , die sich in drei Punkten äußere: a) I m In-
dividualismus bei der Bestimmung der Strafzwecke, b) i m Rationalis-
mus und Individualismus bei der Bewertung der geschützten Rechts-
güter und c) i n der teilweisen Erweiterung und teilweisen Einschrän-
kung des richterlichen Ermessens, jeweils zugunsten des Individuums.

a) Die liberalistische Bestimmung der Straf zwecke 121

Das Vordringen des Individualismus bei der Festsetzung der Straf-


zwecke sahen Dahm und Schaffenstein als ein Ergebnis der Reform-
bestrebungen an, die zwar nicht ihr Gesamtkonzept, wohl aber ihr
Gedankengut durchgesetzt hätten. I m Bemühen, das Täterverhalten
naturalistisch und rationalistisch zu begreifen, sei die Strafe zu einem
möglichst rationellen Verbrechensbekämpfungsmittel umgestaltet wor-
den, das jeder „überpersönlichen W ü r d e " 1 2 2 entbehre. Der Staat sei auf
diese Weise zu einer nach dem Prinzip der Funktionstüchtigkeit und
Zweckmäßigkeit ausgerichteten Organisation degradiert worden. Auf
den Gedanken der Zweckmäßigkeit gehe ζ. B. die Forderung nach A b -
schaffung der Zuchthausstrafe und somit nach Beseitigung der durch
diese Straf art herbeigeführten Entehrung zurück 1 2 3 .

Der liberalistische Einschlag i m sozialliberalen Kompromiß habe aber


nur eine begrenzte Rationalisierung der Strafe zugelassen. I n einem
vollständig zweckhaft ausgestalteten Strafensystem würde neben dem
Besserungsgedanken auch der Gesichtspunkt der sichernden Verwah-
rung des Unverbesserlichen seinen Platz beanspruchen. Die Anhänger
eines liberalen Strafrechts hätten es aber verstanden, die Einführung
der Sicherungsverwahrung zu verhindern und ihrem Freiheitsideal i m
Strafvollzug durch die Maxime der prinzipiellen Besserungsfähigkeit
Anerkennung zu verschaffen.
Überhaupt sei i n der Gesetzgebungspraxis mit erstaunlicher Einseitig-
keit von den Reformvorschlägen nur das verwirklicht worden, was dem
Individuum Vorteile biete und eine Erweiterung seines Freiheits-
raumes bedeute. Dahm und Schaffstein verwiesen i n diesem Zusam-
menhang auf den Straferlaß i n der Form der Begnadigung, i n der der
Gedanke der unbestimmten Verurteilung, der entsprechend dem damit
verbundenen Erziehungszweck eine Verkürzung oder Verlängerung
der Strafe vorsehe, nur einseitig durchgesetzt worden sei. Den Abbau
der Strafen sahen sie weiterhin i m Geldstrafengesetz sowie i m Jugend-

121 Vgl. insgesamt dazu ebd., S. 13 ff.


122 Ebd., S. 15; vgl. auch Dahm, DR 1934, S. 419.
123 vgl. Dahm, D R 1934, S. 419.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 107

gerichtsgesetz dokumentiert, das dem Richter i n zu weitem Umfang er-


laube, an die Stelle der Strafe Erziehungsmaßnahmen zu setzen.
Auch i n die praktische Strafrechtspflege war nach Auffassung der
beiden Autoren die individualistische Zeitströmung eingedrungen. Als
symptomatisch bezeichneten sie die Einschränkung der Todesstrafe i m
Wege der Gnadenpraxis nach dem Krieg, „obwohl i n i h r nicht nur die
Idee der absoluten Priorität des Staates gegenüber dem einzelnen, son-
dern auch der rationalistische Gedanke der Sicherung am sinnfälligsten
i n Erscheinung t r i t t " 1 2 4 . Als eine Ursache nannten sie die „ i n ihrer
Übertreibung typisch liberale Furcht vor dem Justizirrtum" 1 2 4 .
Zur Hauptsache diente Dahm und Schaffstein aber die Studie Exners
über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte als Beleg für die
Auflösungstendenzen i n der Strafrechtspraxis. Aus seinem Material
hoben sie besonders die Nachweise für den Rückgang der Zuchthaus-
strafe und damit der Ehrenstrafe und der langen Gefängnisstrafe sowie
die Belege für die Neigung der Gerichte hervor, von der normalen
gesetzlichen Strafe abzuweichen und die Annahme mildernder Um-
stände zum Regelfall zu machen.
Daß diese Entwicklung allein den rationalistischen Reformbestrebun-
gen anzukreiden war, mußte jedoch zweifelhaft erscheinen, angesichts
der Feststellung Exners, die Strafzumessung entspringe mehr „tra-
ditionalem" als rationalem Handeln 1 2 5 und sei von einer „moralisieren-
den Ethik des täglichen Lebens" 1 2 6 durchzogen. Dahm und Schaff stein
werteten dieses Untersuchungsergebnis als Beweis dafür, „daß der Ver-
geltungsgedanke viel zu tief i m Rechtsgefühl des Volkes verwurzelt ist,
als daß er i n absehbarer Zeit durch rationalistische Theorien ausgerot-
tet werden könnte" 1 2 7 . Der verderbliche Einfluß der naturalistischen
Verbrechenslehre habe zwar nicht den tragenden Grund der Strafzu-
messung beseitigt; er habe aber zu einer erheblichen quantitativen
Minderung der Strafen geführt. „Die liberale Auffassung der Strafe als
Preis für die Verletzung fremder Güter bleibt bestehen, der soziale
Gedanke aber kommt in einer Senkung des Preises zum Ausdruck. Das
Ergebnis ist . . . ein Höchstmaß von Vorteilen für das Individuum zum
Nachteil der Staatsinteressen 128 ."
Auch i m Vollzug der Strafen stellten die beiden Autoren Erscheinungs-
formen des Liberalismus fest, wenngleich Dahm in seinem Aufsatz

124 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 19.


125 v g l . Exner, Strafzumessungspraxis, S. 10.
126 Ebd., S. 94.
127 Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 22.
128 Ebd., S. 23.
108 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

„Autoritäres Strafrecht" nicht umhin konnte, die energischen Proteste


E. Schmidts gegen die Kennzeichnung der individualisierenden Täter-
behandlung als „individualistisch" 1 2 9 als berechtigt anzuerkennen und
die darin enthaltenen sozialen Intentionen zuzugestehen 130 . I n der prak-
tischen Anwendung jedoch habe sich der Individualismus des Er-
ziehungsgedankens bemächtigt: Da dem sozial-liberalen Staat jedes
positive richtungsweisende Element fehle, habe sich i m Strafvollzug als
Erziehungsmaxime die Forderung durchsetzen können, daß der einzelne
i n die Lage versetzt werden solle, sich möglichst frei und ungehemmt
zu entfalten.

131
b) Der Individualismus in der Rechtsgüterordnung

Dem von Exner nachgewiesenen Abbau der Strafen gewannen Dahm


und Schaff stein eine über den Rahmen der Straftheorie hinausreichende
Bedeutung ab: Hierin zeige sich eine Erschütterung und ein Zerfall der
durch das Recht zu schützenden Werte, was nur als Ergebnis ratio-
nalistischen und individualistischen Denkens gewertet werden könne. I m
Zuge dieser Entwicklung beginne die Schutzwürdigkeit vieler Rechts-
güter zweifelhaft zu werden: Der Kampf gegen die Strafbarkeit der
Abtreibung werde i m Namen eines aufklärerischen Individualismus
geführt, der dem „religiösethischen Moment und den Bedürfnissen einer
nationalen Bevölkerungspolitik" 1 3 2 verständnislos gegenüberstehe. M i t
der Gesetzesnovelle von 1926 133 und einem Beschluß der I K V von 1932,
der die Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung sowohl i m
Falle medizinischer und eugenischer als auch sozialer Indikation vor-
sah 1 3 4 , zeigten sich erste praktische Auswirkungen. Ähnliche Bestrebun-
gen i m Bereich des Sexualstraf rechts (§ 175 StGB) 1 3 5 , der Religions-
delikte 1 3 6 und des strafrechtlichen Eidesrechts 137 dienten nach Ansicht
von Dahm und Schaff stein dazu, die Kompetenzen des Staates zu be-

129 v g l . e. Schmidt, SchwZStR 1931, S. 216 f. u n d M i t t . I K V N.F. Bd. 6,


S. 176 f.
130 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 173 A n m . 2; vgl. auch ders., Der Richter
i m modernen Strafrecht, S. 32.
131 Vgl. insgesamt dazu Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres
Straf recht?, S. 24 ff.
ι * 2 Ebd., S. 25.
133 U m w a n d l u n g des Tatbestandes der Abtreibung durch die Schwangere
selbst oder durch einen anderen m i t ihrer E i n w i l l i g u n g v o n einem V e r -
brechen i n ein Vergehen.
134 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 126.
135 Vgl. z. B. Liszt! Schmidt, Lehrbuch, S. 562.
136 Vgl. ζ. B. Thümmel, Der Religionsschutz durch das Strafrecht; Straf-
gesetzbuch u n d Religions vergehen (RuS H. 53).
137 v g l . Hegler, Die Eidesreform, S. 23 ff. m. w. Nachw.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 109

schneiden und den Freiheitsraum des einzelnen noch weiter auszu-


dehnen.
Unter den vielen Beispielen für die strafrechtlichen Konsequenzen
der skeptischen liberalen Staatsidee stach aber nach ihrer Meinung die
Privilegierung des Uberzeugungstäters hervor, wie sie i n den ver-
schiedenen Strafgesetzentwürfen vorgeschlagen und i n die Reichsrats-
grundsätze über den Vollzug von Freiheitsstrafen aus dem Jahre 1923
aufgenommen worden w a r 1 3 8 . Daß der Staat sich hier eines ethischen
Werturteils enthalte, beruhe einmal auf dem Fehlen eines Eigenwertes;
zum anderen bedeute es einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur
Loslösung des Rechts von der Ethik, wenn sich der Staat auf Grund
einer angeblich fehlenden sittlichen Überlegenheit ein Unwerturteil
über den Täter versage. Dieses Beispiel verdeutliche zugleich die Grenze,
die eine liberale und individualistische Strafrechtsauffassung zum
Schutze der individuellen Freiheit dem rationalistischen Prinzip des
Gesellschaftsschutzes setze. Die Forderung nach Unantastbarkeit des per.
sönlichen Bereichs politischer Uberzeugungen verhelfe dem Uber-
zeugungsverbrecher zu einer Besserstellung, die an sich m i t einem
rationalistischen System nicht i n Einklang zu bringen sei 1 3 9 .

c) Die Durchbrechung des Gewaltenteilungs-


prinzips zugunsten des Rechtsbrechers 140

Die zahlreichen Veränderungen i n der Strafrechtspraxis konnten nach


Dahm und Schaffstein nur auf Grund erheblicher Verschiebungen i m
System der Gewaltenteilung eintreten, die i n der Mehrzahl zu einer
Erweiterung der Richtermacht, i n wenigen Fällen auch zu einer Ein-
schränkung geführt hätten, stets aber dem einzelnen ein hohes Maß

138
§52 der Grundsätze f ü r den Vollzug der Freiheitsstrafen bestimmte:
„Bestand bei einem Gefangenen nach der ausdrücklichen Feststellung des
Urteils der ausschlaggebende Beweggrund zur Tat darin, daß er sich zu
der Tat auf G r u n d seiner sittlichen, religiösen oder politischen Uberzeugung
f ü r verpflichtet hielt, so sind i h m die für die Strafart zulässigen Vergünsti-
gungen ohne weiteres zu gewähren. V o n der Einhaltung v o n Fristen, die
für die Gewährung von Vergünstigungen vorgeschrieben sind, k a n n bei einem
solchen Gefangenen abgesehen werden."
139
Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 27;
Dahm, D R 1934, S.419; ders., D J Z 1934, Sp. 824.
140
Vgl. insgesamt dazu Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Straf-
recht?, S. 28 ff. Der Stellungnahme zu Fragen der Gewaltenteilung i n
„Liberales oder autoritäres Straf recht?" w a r e n zwei Veröffentlichungen
Dahms voraufgegangen (Die Zunahme der Richtermacht i m modernen Straf-
recht, 1931; Der Richter i m modernen Strafrecht, 1932), die sich zur H a u p t -
sache auf eine Darstellung der Verschiebungen i m System der Gewalten-
teilung beschränkten u n d noch keine Bewertung v o n einem entschieden
antiliberalen Standpunkt aus enthielten.
110 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

an Vorteilen gewährten. Den i m Grunde illiberalen Prozeß einer A u f -


lösung des Gewaltenteilungsprinzips bezogen die beiden Strafrechts-
wissenschaftler i n ihre antiliberale Konzeption m i t ein, indem sie den
individualistischen Aspekt hervorhoben u n d den Vorgang als Folge-
erscheinung des sozial-liberalen Kompromisses erklärten: „ I n d i v i -
dualistischem Denken aber entspricht die einseitige Lockerung dieser
Teilung. Die Gewaltenteilung bleibt erhalten, soweit sie dazu dient,
den einzelnen vor Eingriffen der Staatsgewalt zu schützen. Sie w i r d
preisgegeben, u m die Lage des einzelnen zu verbessern 1 4 1 ." Eine Aus-
dehnung der Richtermacht sei insbesondere durch den Wandel i n der
Auslegungsmethode b e w i r k t worden: Der Ubergang von der Begriffs-
jurisprudenz zur teleologischen Auslegung habe die Bindung des
Richters an das Gesetz entscheidend gelockert. Jetzt sei dem Richter ein
M i t t e l an die Hand gegeben, m i t dessen Hilfe er Gesetzeslücken aus-
füllen und eine Bewertung der Interessenlage vornehmen könne. Sein
Tätigkeitskreis habe sich damit u m Aufgaben erweitert, die nach dem
Gewaltenteilungsprinzip dem Gesetzgeber vorbehalten seien. I n welchem
Sinne die Rechtsprechung g e w i l l t sei, von dieser Kompetenzerweiterung
Gebrauch zu machen, habe das Reichsgericht durch die Schaffung eines
neuen Unrechtsausschließungsgrundes, nämlich des „übergesetzlichen
Notstandes", klargestellt. Ferner sei damit zu rechnen, daß der Gedanke
der „ Z u m u t b a r k e i t " als „übergesetzliche Straf barkeitsvoraussetzung" 1 4 2
i n der Rechtsprechung Anerkennung finde.

Die Gesetzgebung selbst hatte nach Auffassung von Dahm u n d


Schaff stein diese Entwicklung gefördert: Das Jugendgerichtsgesetz und
die Geldstrafengesetze hätten den Umfang des richterlichen Ermessens
i m Rahmen der Strafzumessung erheblich ausgedehnt. D a m i t seien sie
den Strafgesetzentwürfen gefolgt, die über den Bereich der Strafzu-
messung hinaus dem Richter noch größere Machtbefugnisse anver-
trauen wollten, indem sie i h m durch absichtlich unklar formulierte Tat-
bestände zu weitreichenden Werturteilen u n d Interessenabwägungen
anhielten.
Auch durch eine Gegenbewegung zur Einschränkung der Richtermacht
sahen sich die beiden antiliberalen Autoren i n ihren Ansichten bestätigt;
i m Ergebnis habe sie ebenfalls zu einer Verweichlichung der Strafjustiz
geführt. Der Druck der öffentlichen Meinung, insbesondere der libera-
len Presse, enge den Richter i n seiner A r b e i t ein. Die Lockerung der
gesetzlichen Bindung habe zur Folge gehabt, daß die Straf justiz den
Wünschen u n d Forderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Grup-
p i Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 173 Anm. 1.
142 Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 30; vgl.
dazu die voraufgegangene Schrift Schaffsteins, Die Nichtzumutbarkeit,
S. 60 ff.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 111

pen ungeschützt gegenüberstehe. Der Richter w i r d nach Meinung der


beiden Verfasser „die K r i t i k am wenigsten dann herausfordern oder
herauszufordern glauben, wenn er milde bestraft" 1 4 3 . Dazu komme ein
weitreichender Einfluß des Parlaments und der Exekutive auf die
Gestaltung der Rechtspflege, der sich in der Personalpolitik bei der
Besetzung der Richterstellen, i n der Einforderung von Akten und
Berichten durch das Justizministerium und i n Begnadigungen sowie
„autoritätszersetzenden" 144 Amnestien äußere. Das Resultat sei — und
damit griffen die Autoren auf den Titel eines weithin beachteten
Pamphletes zurück — eine „gefesselte Justiz" 1 4 5 .

3. Einseitigkeiten und Widersprüche


in den Angriffen gegen das „liberale" Strafrecht

Die große Bedeutung, die Radbruch der Exnerschen Schrift über die
Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte i n einer Besprechung
m i t den einleitenden Worten zuerkannte: „Seit langem ist kein wichti-
geres Buch kriminalistischen Inhalts erschienen als dieses" 146 , konnte
auch die Abhandlung von Dahm und Schaff stein für sich i n Anspruch
nehmen. Die Verfasser verstanden es, ihrer Interpretation des Zahlen-
materials die stärkste Resonanz zu verschaffen: Die Verweichlichung
und Auflösung der Strafrechtspflege als ein Ergebnis liberalistischen
Denkens. Für ein positives Echo sorgte schon der weitverbreitete poli-
tische Antiliberalismus ihrer Zeit. Die bewußte politische Stellungnahme
der Autoren und ihre Absicht, ein möglichst breites Publikum zu er-
reichen, verführte sie aber zu mancher Einseitigkeit und Vereinfachung
i n der Darstellung und den Deutungsversuchen.

a) Das Fehlen eines Nachweises


für einen Anstieg der Kriminalität

Ihrem Plädoyer für ein „autoritäres" Strafrecht fügten sich die A n -


gaben Exners über die Abnahme der Strafen nach A r t und Umfang
scheinbar lückenlos ein: Das schwächliche Zurückweichen des demokra-
tischen Staatsgebildes vor dem Verbrechen müsse von der scharf
durchgreifenden Verbrechensbekämpfung eines autoritären Staates ab-
gelöst werden. Lückenlos wäre die Gedankenkette jedoch nur dann
gewesen, wenn auch der Beweis dafür vorgelegen hätte, daß die Milde-
rung der Strafen zu einem Anstieg der Kriminalität geführt hätte.

i « Ebd., S. 33.
144 Ebd., S. 36.
145
Ebd., S. 36; sie spielten damit auf die gleichnamige Schrift von Zarnow
an.
146 J W 1932, S. 925.
112 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Weder findet sich bei Exner dafür ein Beleg, noch erbrachten Dahm
und Schaffstein den statistischen Nachweis. So mußte Dahm i n seinem
späteren Aufsatz über „Autoritäres Straf recht" einräumen: „Ein sicheres
Urteil über die praktischen Auswirkungen der Milderungstendenz i m
Strafrecht läßt sich auf Grund des vorliegenden statistischen Materials
noch nicht fällen 1 4 7 ."
Von anderer Seite 1 4 8 wurde eingewandt, daß nachgewiesenermaßen
der Gesamtumfang der Kriminalität nicht bedeutsam zugenommen habe,
wie ein Blick i n die Kriminalstatistik beweise: Von 100 000 Personen
der strafmündigen Bevölkerung wurden 1886 1 020, 1913 1 169 und
1929 1 191 verurteilt 1 4 9 . Auch unter Berücksichtigung der Unsicherheits-
faktoren, die sich aus einer bloßen Urteilsstatistik ergeben, muß man zu
der Feststellung kommen, daß die Kriminalitätsentwicklung den Be-
fürchtungen von Dahm und Schaffstein nicht entsprach. Lediglich durch
eine Verschiebung i n den Deliktsgruppen konnten sie sich bestätigt
fühlen: Die Delikte gegen den Staat und die öffentliche Ordnung waren
stark angewachsen 150 .
Dahm und Schaffstein waren jedoch nicht bereit, kriminologischen
Argumenten entscheidende Bedeutung beizumessen. Die irrationale
Grundhaltung 1 5 1 trat deutlich i n der Äußerung Dahms zutage: „Keine
Kriminalstatistik, keine kriminologischen Einzelerfahrungen, selbst
wenn sie gegen uns sprächen, würden die Bedenken gegen die einseitige
Milderungstendenz und gegen den Eindruck der Schwäche beseitigen,
den die Strafrechtspflege heute hervorruft 1 5 2 ."

b) Die Unterschlagung der Verschärfungstendenzen


in Rechtsprechung und Gesetzgebung

Grober Vereinfachung machten sich die antiliberalen Autoren schul-


dig, als sie neben die Milderungstendenzen i n der Strafzumessungs-
praxis „Auflösungserscheinungen" i n Rechtsprechung und Gesetzgebung

147 MSchrKrimPsych 1933, S. 175 A n m . 2.


148 v.Hentig, MSchrKrimPsych 1933, S. 235 f.; Mittermaier, SchwZStR 1934,
S. 328; 1939 schrieb Exner selbst: „Die Strafzumessungspraxis der deutschen
Gerichte ist i n den ersten fünfzig Jahren unserer statistischen Beobachtungen,
d. h. bis zur nationalsozialistischen Revolution i m m e r milder geworden,
trotzdem ist die K r i m i n a l i t ä t i m großen u n d ganzen zurückgegangen'·
(Kriminalbiologie, S. 139 f.).
149 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 14 u n d K r i m i n a l s t a t i s t i k 1927, S. 58 ff., 1928,
S. 6 ff., 63; vgl. auch H. Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 54 f.
150 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 14; Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen
u n d Anhalt, S. 19 f.
151 Vgl. v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26, S. 507 f.
152 MSchrKrimPsych 1933, S. 175.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 113

stellten. Bereits auf der IKV-Sitzung i n Frankfurt hatte E. Schmidt den


Verfechtern eines „autoritären" Strafrechts vorgehalten, daß sie i n
ihren Angriffen gegen die angeblich liberalistische Strafrechtspraxis
die i n ihr ebenfalls feststellbaren Verschärfungstendenzen einfach
übergingen 153 . Als Beispiele für Verschärfungstendenzen i n der Recht-
sprechung, die zwar nicht i n der Strafzumessung, wohl aber i n einer
Ausdehnung des Bereiches des Strafbaren zum Durchbruch gelangt
seien, nannte E. Schmidt: Die Einengung des § 193 StGB, die Über-
nahme des extensiven Täterbegriffs durch das RG, die Erweiterung des
Untreuetatbestandes, der Beamtendelikte und des Wuchers.
Diese Andeutungen betrafen i m einzelnen folgende Entwicklungen
in der Rechtsprechung: I n seiner Entscheidung vom 11. März 1927 zur
ärztlichen Schwangerschaftsunterbrechung hatte das RG für den Fall
einer Interessenkollision die Möglichkeit einer Rechtfertigung i m Wege
eines „übergesetzlichen Notstandes" anerkannt. I m Anschluß daran
stellte es zu § 193 StGB fest, daß „die Anerkennung der Wahrnehmung
berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund lediglich eine Anwen-
dung des für Fälle des Notstandes — der ,Interessenkollision 4 — gelten-
den Grundsatzes der Güterabwägung i s t " 1 5 4 . Die Abwägung müsse wie
bei der Schwangerschaftsunterbrechung unter Beachtung einer be-
stimmten Rangordnung der Rechtsgüter erfolgen. Von daher kam das
RG zu dem Ergebnis, daß nur solche Interessen, die den Beleidiger un-
mittelbar beträfen, ehrwidrige Äußerungen rechtfertigen könnten, nicht
hingegen „allgemeine Interessen, die jeden Staatsbürger oder doch
größere, durch Religion, Politik oder dgl. allgemeine Gesichtspunkte
verbundene Gruppen von Staatsbürgern berühren" 1 5 5 . Das RG schränkte
damit den Anwendungsbereich des §193 StGB erheblich ein und be-
schnitt so vor allem den Tätigkeitsbereich der Presse.
M i t der Übernahme des von E. Schmidt begründeten extensiven Täter-
begriffs 1 5 6 bekannte sich das RG zu der Ansicht, daß die gesetzlichen
Teilnahmeformen nur Straf einschränkungs gründe für denjenigen
bilden, der am Zustandekommen des tatbestandsmäßigen Erfolges m i t -
gewirkt hat und damit nach dieser Auffassung i m weitesten Sinne als
Täter anzusehen ist, dem aber die Privilegierung für bestimmte, gesetz-
lich fixierte Beteiligungsformen zugute kommt. Es entschied sich somit
gegen den vorher eindeutig herrschenden restriktiven Täterbegriff,
demzufolge die Teilnahmevorschriften als Strafausdehnungsgründe zu
betrachten sind, die den Bereich des strafbaren Verhaltens über die i n

153
M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 189.
154 R G 62, S. 92 f.
1 5 5 R G 62, S. 93.
156 v g l . Festgabe für F r a n k 1930, Bd. I I , S. 106 ff.

8 Marxen
114 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

den gesetzlichen Tatbeständen festgelegten typischen Ausführungs-


handlungen hinaus ausdehnen. I m Hintergrund der reichsgerichtlichen
Entscheidung stand das Problem, daß sich der restriktive Täterbegriff
als ungeeignet zur befriedigenden Lösung zweier Kreise von Fällen
erwiesen hatte, die man als strafwürdig erachtete: Die Fälle der
mittelbaren Täterschaft und der fahrlässigen Veranlassung und Förde-
rung fremder Taten. Ausschlaggebend war die zweite Fallgruppe; denn
die Strafbarkeit der mittelbaren Täterschaft war durch eine dauer-
hafte Judikatur gesichert, wenngleich es an einer erschöpfenden dog-
matischen Begründung fehlte. M i t Hilfe eines erweiterten Täterbegriffs
konnte das RG jetzt auch die fahrlässige Veranlassung, Förderung und
Nichthinderung einer fremden vorsätzlichen Tat bestrafen 157 .
Die Rechtsprechung zum Tatbestand der Untreue war ein besonders
plastisches Beispiel für die Ausdehnung der Strafbarkeitsgrenze. Das
RG sorgte für einen außerordentlich weiten Anwendungsbereich des
§ 266 StGB, indem es die Mißbrauchstheorie verwarf und sich der
Treubruchstheorie anschloß. I n diesem Zusammenhang ist zu berück-
sichtigen, daß bis zum 26. 5.1933 eine alte Fassung i n Kraft war, die i n
kasuistischer Form bestimmte, durch Rechtspflicht gebundene Personen
in einer Vertreterstellung m i t Strafe bedrohte, sofern sie ihrer Ver-
fügung unterworfenes fremdes Vermögen schädigten. Den weitaus
häufigsten Anwendungsfall machte Ziff. 2 aus, die durch Verwendung
der Begriffe „Beauftragter" und „Auftraggeber" deutlich auf das rein
rechtliche Vertretungsverhältnis abstellte. Eine gewichtige Ansicht i n
der Lehre (Binding, Frank) Schloß daraus, daß für den Untreuetatbestand
der Mißbrauch einer rechtlichen Vertretungsmacht entscheidend sei. Die
Mißbrauchstheorie bestimmte den Kreis der von § 266 StGB erfaßten
Fälle eindeutig. Ihr wurde entgegengehalten, daß sie eine Reihe von
Fällen ausschließe, die strafwürdig seien; so reichten tatsächliche Hand-
lungen, Unterlassungen und Rechtsgeschäfte, die wegen Überschreitens
oder Fehlens der Vertretungsmacht oder aus sonstigen Gründen u n w i r k -
sam seien, nicht als Anknüpfungspunkt für eine Bestrafung aus 1 5 8 . Diese
Schwierigkeiten beseitigte die Treubruchstheorie, die vor allem H.
Mayer 1926 eingehend begründete 159 . Ihre Vertreter erblickten das
konstitutive Element der Untreue i m Bruch eines Vertrauensverhält-
nisses. Später wurde zur Begründung der Treubruchstheorie der „welt-
anschauliche Gegensatz" 160 zwischen den beiden Meinungen herange-
zogen: „Die Mißbrauchstheorie war . . . eine typisch liberalistische Aus-

R G 61, 318; 64, 316; 64, 370.


158 v g l . Zoller, Ausdehnung u n d Einschränkung des Untreuebegriffs, S.7.
«β H. Mayer, Die Untreue, S. 79 ff.
160 Zoller y Ausdehnung u n d Einschränkung des Untreuebegriffs, S. 10.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 115

legungsmethode 160 ." Sie entspreche der liberalen Forderung nach


„möglichst enger Auslegung der Strafgesetze zugunsten der Freiheit
des einzelnen" 1 6 0 . Die Treubruchstheorie verwirkliche dagegen die
„völkische Weltanschauung, die das Allgemeinwohl über das Einzel-
interesse stellt und nach der deshalb nicht die Freiheit des Staatsbürgers
. . . zu schützen ist, vielmehr das Interesse der Gemeinschaft unter allen
Umständen vorgeht" 1 6 1 . Die reichsgerichtliche Rechtsprechung entschied
sich für die Treubruchstheorie und eröffnete so der Vorschrift des
§ 266 StGB einen weiten, nicht klar abgrenzbaren Anwendungsbereich 162 .
Dahinter stand die Absicht, eine angebliche Straflücke zwischen der Un-
treue und der Unterschlagung zu beseitigen.
Die Beamtendelikte erfuhren eine Ausdehnung durch die Recht-
sprechung zum Beamtenbegriff: § 359 StGB bestimmt, daß als Beamte
i m strafrechtlichen Sinne außer den Beamten i m engeren Sinne auch
andere, mit der Verwaltung von Amtsgeschäften betraute Personen an-
zusehen sind, die i n einem Dienstverhältnis „angestellt" sind. Bei der
Anwendung dieser Vorschrift legte das RG entscheidendes Gewicht auf
die Frage, ob der Täter hoheitsrechtliche Funktionen ausgeübt habe.
Das Merkmal der „Anstellung", das das Gesetz offenbar als „Anstellung
i m Staatsdienst" versteht, trat demgegenüber zurück, so daß die Recht-
sprechung auch privatrechtliche Funktionen ausgeübt habe. Das Merk-
mal der „Anstellung", das das Gesetz offenbar als „Anstellung i m
Staatsdienst" versteht, trat demgegenüber zurück, so daß die Recht-
sprechung auch privatrechtlich angestellte Personen mit öffentlichrecht-
lichen Funktionen darunter rechnete 163 und schließlich aus der Tatsache,
daß jemand hoheitliche Funktionen ausübte, grundsätzlich die Beamten-
eigenschaft Schloß, indem sie i n zweifelhaften Fällen eine still-
schweigende staatliche Anstellung unterstellte 1 6 4 .
Eine Erweiterung der Strafgewalt i m Bereich der Tatbestände des
Wuchers erreicht das RG durch seine Auslegung der Worte „oder auf
ein anderes zweiseitiges Rechtsgeschäft" i n § 302 a StGB. Eine Lehr-
meinung knüpfte ihre Auslegung an den nachfolgenden Relativsatz an,
„welches denselben wirtschaftlichen Zwecken dienen soll", und sah
darin eine Bezugnahme auf das vorher genannte Darlehen 1 6 5 . Ein
„anderes" Rechtsgeschäft lag nach dieser Ansicht daher nur vor, wenn

iei Ebd., S. 11.


162 v g l . ζ. β . R G 17, 242; 38, 363; 58, 391. Die Gesetzesnovelle v o m 26. 5.1933
sanktionierte diese Rechtsprechung. § 266 StGB erhielt die heute noch gültige
Tatbestandsfassung, die sowohl das Mißbrauchs- als auch das Treubruchs-
element enthält.
163 Vgl. R G 30, 29; 62, 188.
164 Vgl. R G 51, 65; 52, 309; 56, 366.
165 v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch, S. 685 A n m . 5 m. w . H i n w .

8*
116 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

eine spätere Rückzahlung vereinbart worden war. Dagegen faßte das


RG unter diesen Begriff alle auf Befriedigung eines augenblicklichen
Geldbedürfnisse des Empfängers gerichteten Rechtsgeschäfte 166 , also
auch Bargeschäfte, die andernfalls nur m i t dem Tatbestand des Sach-
wuchers (§ 302 e StGB) erfaßt werden konnten. Dieser enthält aber das
zusätzliche Tatbestandselement des Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigen.
Durch seine Auslegung vermied es das RG, diese die Strafbarkeit ein-
schränkende Voraussetzung auf einen großen Komplex wucherischer
Geschäfte anwenden zu müssen.
Diese Beispiele E. Schmidts, die das Bestreben der Rechtsprechung
deutlich hervortreten lassen, den Bereich des Strafbaren auszudehnen,
stellten keineswegs eine vollständige Zusammenstellung dar; von an-
derer Seite 1 6 7 wurde u. a. noch auf „die Verwischung der Grenzen von
Vorbereitung und Versuch beim Diebstahl" 1 6 8 , auf die Rechtsprechung
zum Erfordernis der Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch 169 und
auf die Auslegung des Begriffs „unzüchtige Handlung" i n § 174 StGB
durch das R G 1 7 0 aufmerksam gemacht. Das antiliberale Schrifttum ver-
schwieg diese Erscheinungen i n der Rechtsprechung, deren Aufzählung
bei weitem nicht vollständig ist; denn sie fügten sich nicht i n das welt-
anschaulich aasgerichtete Gedankenschema, mit dem die antiliberale
Richtung der Rechtspraxis i n der Weimarer Republik begegnete.

Unterschlagen wurden auch die Verschärfungstendenzen i n der Ge-


setzgebung: Die Kriminalstatistik des Jahres 1927 verzeichnete z.B.
eine Zunahme von 240 Strafbestimmungen gegenüber den 550 Straf-
vorschriften des Jahres 1913. Zu einem großen Teil hatte sich diese Ent-
wicklung außerhalb des Strafgesetzbuches vollzogen und war wohl auch
deswegen nicht i n das Blickfeld der Strafrechtswissenschaft geraten. Sie
hatte sich nach 1927 fortgesetzt und sogar noch zu einer Steigerung ge-
führt, so z. B. i n dem Gesetz zum Schutze der Republik vom 25. März
1930 und in dem Gesetz gegen den Waffenmißbrauch vom 28. März 1931.
Eine nochmalige Verschärfung brachte schließlich das Strafrecht der

166 Vgl. R G 35, 111; 39, 126.


167 ν . Heutig, MSchrKrimPsych 1932, S. 686 f.
168 B e i m Diebstahl bediente sich das R G der subjektiven Unterscheidung
von Vorbereitung u n d Versuch u n d bestrafte auch bloße Vorkehrungen,
die m i t der Absicht getroffen wurden, daß sie den Diebstahl ermöglichen
sollten. Vgl. R G 53, 217; 55, 191; 59, 275.
169 Das RG dehnte das Erfordernis der F r e i w i l l i g k e i t aus § 46 Ziff. 1 StGB
auf Ziff. 2 aus, obwohl dort der Ausschluß der Straflosigkeit beim Rücktritt
v o m beendeten Versuch n u r davon abhängig gemacht ist, daß die Tat nicht
entdeckt war. Vgl. R G G A 69, 396 u n d H R R 1, 241.
170 Das R G ließ die früher geforderte Voraussetzung, daß die Verletzung
des Sittlichkeitsgefühls „gröblich" sein müsse, später fallen. Vgl. R G 32, 419.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes 117

Notverordnungen 1 7 1 . Aber auch Veränderungen i m Strafgesetzbuch


selbst machten die Entwicklung deutlich, so ζ. B. die Einfügung der
§§ 181 a. 184 a, 184 b, die Erweiterung des § 243 durch die beiden Gesetze
vom 29. 6.1926 und 23. 7.1926 und die Ausdehnung der Strafbestim-
mungen über das Glücksspiel §§ 284 a ff.
Diese der Milderung entgegengesetzte Tendenz reichte i n ihren Aus-
wirkungen vielleicht nicht so weit wie jene; auch Anhänger der Straf-
rechtsreform beklagen, daß viele ihrer Vorschläge nur einseitig durch
die Gesetzgebung i n die Praxis umgesetzt worden seien 172 . Sie war
jedoch unübersehbar. Daß Dahm oind Schaff stein sie außer acht ließen,
macht deutlich, m i t welcher Unbedingtheit sie ihr politisches Anliegen
vertraten.

c) Widersprüche in der Argumentation

Sie führten diesen Kampf i m Zeichen des Antiliberalismus; doch


nicht immer stimmte ihre Argumentation m i t der Ausgangsposition
überein: Sie wandten sich gegen die Auflösung des liberalen Gewalten-
teilungsprinzips, die durch den Ubergang von der Begriffs- zur Interes-
senjurisprudenz eingetreten sei 1 7 3 . Ihr Verlangen nach Sicherheiten
dafür, „daß der Richter das Straf recht i m Sinne der autoritären Staats-
führung auch wirklich anwendet" 1 7 4 , lag auf der gleichen Linie wie die
liberale Forderung nach Rechtssicherheit durch unbedingte Herrschaft
des Gesetzes. Ähnliches gilt für die Ablehnung einer Privilegierung des
UberzeugungsVerbrechers 175 . I n Anbetracht ihres sonstigen Eintretens
gegen den Rationalismus als ein Element des Liberalismus hätten sie
dieser irrationalen Forderung der Reformbewegung eigentlich nicht so
fern stehen dürfen 1 7 6 .
A n diesen Beispielen erweist sich, daß Dahm und Schaffstem als
Maßstab ihrer K r i t i k nicht stets alle Merkmale des Liberalismus ver-
wandten, sondern ihr Augenmerk vor allem darauf richteten, inwieweit

171
Vgl. ζ. B. die 4. V O des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft
und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens v o m 8.12.1931 (RGBl. I
699, 742, 743) oder die V O des Reichspräsidenten zur Erhaltung des inneren
Friedens v o m 19.12.1932 (RGBl. I 548).
172 Vgl. Mittermaier, Die Justiz 1932/33, S. 61 f.; Gallas, Z S t W 53, S. 13 ff.
Grünhut, ZStW 53, S. 3 ff.; sie beklagten vor allem, daß die Sicherungs-
verwahrung für Berufs- u n d Gewohnheitsverbrecher nicht eingeführt worden
sei.
173 v g l . oben 4. Kap. I I . c).
174 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 51.
175 Vgl. oben 4. Kap. I I . 2. b).
176 Als irrational k a n n diese Forderung bezeichnet werden, w e i l sie i m
Gegensatz zu dem rationalen Prinzip des Gesellschaftsschutzes steht. Vgl.
Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 171.
118 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

die Autorität des Staates gegenüber den Interessen des Individuums


gestärkt bzw. ausgehöhlt wird. Ihre Angriffe galten zur Hauptsache dem
Individualismus i m Liberalismus 1 7 7 .
Daher entsprach die Alternative „Liberales oder autoritäres Straf-
recht?" nicht i n vollem Umfang ihren Ansichten. Soweit sich liberale
Prinzipien m i t autoritärem Gedankengut vereinbaren ließen, hatten
sie nichts gegen sie einzuwenden.
Gleichwohl stellten sie den Liberalismus und nicht etwa den Indivi-
dualismus als Angriffsziel heraus. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein,
daß sie die individualistische Seite für die bei weitem überwiegende i m
Liberalismus hielten. I n ihren Ausführungen sind die Begriffe „libera-
listisch" und „individualistisch" nahezu immer austauschbar, ohne daß
sich ein anderer Bedeutungszusammenhang ergäbe. Z u m anderen w i r k t e
sich hier aus, daß Dahm und Schaffstein sich mit ihrer Schrift an die
breite Öffentlichkeit wandten und somit unmittelbar i n die politische
Auseinandersetzung eingriffen. Der Begriff „liberal" rief weitaus mehr
und klarere Assoziationen hervor, als es etwa das Schlagwort „indi-
vidualistisch" vermocht hätte. Hinzu kam, daß i n dieser Phase der
Diskussion der Begriff „Liberalismus" bereits so sehr abgewertet war,
daß man darunter puren Egoismus und Staatsfeindlichkeit verstand.
Vorwiegend i n diesem Sinne bedienten Dahm und Schaffstein sich
seiner.

I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme

Die erste Phase des Antiliberalismus i n der Strafrechtswissenschaft


der zwanziger und dreißiger Jahre war von dem Kampf gegen die
Strafrechtsreform beherrscht. Wiederholt mußten sich die antiliberalen
Reformgegner die Frage stellen lassen, womit sie das „liberale"
Strafrecht ersetzen wollten 1 7 8 .
Die Antwort blieben sie nicht schuldig. Ihre Vorstellungen von einem
neuen Strafrecht enthielten i n spiegelbildlicher Form ihre antiliberale
Grundhaltung. Ihre programmatischen Aussagen sollen i m folgenden
zusammengefaßt wiedergegeben werden, soweit sie deutlich von einem
antiliberalen Akzent geprägt waren und daher nur eine Fortsetzung der
antiliberalen Angriffe bedeuteten 179 .

177 v g l . Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 28; er


h ä l t Dahm u n d Schaff stein entgegen daß ihre Angriffe „nicht den Gedanken
des Liberalismus i m S traf recht schlechthin" träfen, „sondern n u r eine
orthodoxe Spielart des Liberalismus, w i e er geschichtlich bei W. v o n
H u m b o l d t u n d Rottek am reinsten auf getreten ist".
178 So von Grünhut, ZStW 52, S. 773; Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche
Krise, S. 4.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 119

1. Der Verlauf der antiliberalen Gegenreform

„Liberale und autoritäre Straf rechtsreform" 1 8 0 ; m i t dieser Gegen-


überstellung bot zuerst Α. E. Günther eine Alternative an. I n seiner
Aufsatzreihe i n der Zeitschrift „Widerstand" sowie i n seinem Beitrag
zu dem Sammelband „Was w i r vom Nationalsozialismus erwarten"
(1932) deutete er die Grundzüge eines „autoritären" Strafrechts an.
Dahm und Schaff stein übernahmen das Schlagwort: „Liberales oder
autoritäres Straf recht?" Ein vollständiges „autoritäres" Straf rechts-
konzept wollten sie jedoch nicht vorlegen: „Gerade von dem . . .
konservativ-autoritären Standpunkt aus ist das Heil weniger von
Programmen oder Reformen irgendwelcher A r t als von der praktischen
Handhabung des Gesetzes und von der Erfüllung der praktischen
Rechtspflege mit einem neuen Geist zu erwarten 1 8 1 ." Da „die Dinge
so sehr i n Fluß sind", erklärten sie sich lediglich imstande, „die Richtung
zu zeigen, i n der ein lebensfähiges Strafrecht sich fortbilden könnte" 1 8 2 .
I n diesem Sinne nannten die beiden Autoren auf den letzten Seiten
ihrer gemeinsamen Schrift einige Leitgedanken eines „autoritären"
Strafrechts. Diese Andeutungen versuchte Dahm i n seinem Referat
über „Autoritäres Strafrecht" 1 8 3 auf der Zusammenkunft der Straf-
rechtslehrer i n Frankftur a. M. am 8. Januar 1933 durch etwas konkre-
tere Angaben auszufüllen.
Eine Verlagerung des Schwergewichts i n den antiliberalen Äußerun-
gen auf programmatische Aussagen führte die Umwälzung i n den poli-
tischen Machtverhältnissen herbei. Die neuen Machthaber verkündeten,
daß sie den liberalen Rechtsstaat m i t allen seinen Konsequenzen aus-
merzen wollten 1 8 4 . So konnten sich die antiliberalen Reformgegner

i™ Diese Absicht begegnet einer hermeneutischen Schwierigkeit: Während


der Antiliberalismus an den Angriffen gegen das liberale Strafrecht k l a r
ablesbar ist, bereitet es Mühe, i h n aus den programmatischen Aussagen
herauszulösen. I m strengen Wortsinn k a n n hier nicht einmal v o n „ A n t i -
liberalismus" die Rede sein, w e i l die Reformvorschläge nicht der B e -
kämpfung, sondern dem Neuaufbau dienen sollten, so daß lediglich der
Begriff „Illiberalismus" Verwendung finden dürfte. Auch w a r i n diesen
Programmen zumeist mehr als n u r eine L e i t l i n i e enthalten. Die Darstellung
soll daher auf die programmatischen Äußerungen beschränkt bleiben, i n
denen eine antiliberale Grundauffassung gesondert hervorgehoben w a r
oder die i n unmittelbarer Verknüpfung m i t A n g r i f f e n gegen das „liberale"
Strafrecht standen.
180 Uberschrift seines Beitrages i n „Was w i r v o m Nationalsozialismus
erwarten".
181 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 164.
iss Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 40.
183 Abgedruckt i n MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff.
184 Schaff stein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 16, zitierte den A u s -
spruch Goebbels, daß es die Aufgabe des Nationalsozialismus sei, das Jahr
1789 aus der deutschen Geschichte auszulöschen.
120 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

ermutigt fühlen, auf ihrem Weg weiter voranzuschreiten und eigene


Vorschläge zu unterbreiten, zumal die NSDAP keine fertige straf-
rechtliche Konzeption besaß. Zwar lagen einzelne Stellungnahmen
seitens der Reichstagsfraktion vor. Sie vermittelten den Eindruck, daß
die Partei ein „autoritäres" Strafrecht wünschte 185 . I n diese Richtung
wiesen die Vorschläge, durch drastisch erhöhte Strafen den Staats-
schutz zu verstärken 1 8 6 . Die Bruchstücke waren jedoch nie zusammen-
gefügt und zu einem von der Partei gebilligten nationalsozialistischen
Strafrecht ausgebaut worden.
Auch die i m September 1933 unter dem Titel „Nationalsozialistisches
Strafrecht" erschienene Denkschrift des preußischen Justizministers
Kerrl, ausgearbeitet von Angehörigen des preußischen Justiz-
ministeriums unter maßgeblicher Beteiligung des Staatssekretärs Freis-
ler, kann nicht als ein offizielles strafrechtliches Programm des
Nationalsozialismus angesehen werden. Hinter ihr stand nicht die
Autorität der Parteispitze 187 ; außerdem war sie nur als eine „ A n -
regung" gedacht 188 .
So bot sich der Strafrechtswissenschaft die Gelegenheit, bei der Neu-
orientierung des Strafrechts ein entscheidendes Wort mitzureden. A n -
gesichts der politischen Machtverhältnisse setzte eine Einflußnahme
jedoch voraus, daß i n überzeugender Weise der Nachweis gelang, daß
die Reformvorstellungen eine adäquate Umsetzung des Nationalsozialis-
mus i n das Strafrecht bedeuteten.
Damit lagen gewisse Grundpositionen fest: Die i n der Weimarer
Republik herrschende strafrechtliche Linie mußte verlassen werden;
die liberale Abgrenzung des Individuums gegen den Staat mußte fallen-
gelassen werden; die Priorität des Staates und der Volksgemeinschaft
war als richtungsweisend anzuerkennen. Sehr bald stellte sich aber

185 v g l . die Protokolle des Strafrechtsausschusses der V. Wahlperiode


1930. Allgemeine Ausführungen machte der Abgeordnete Frank II i n der
7. Sitzung a m 29.1.1931. Er sagte u . a . laut Protokoll S. 5: „ M a n treibe hier
auf der L i n k e n geradezu einen K u l t m i t dem Verbrecher, der m i t den
Erfordernissen der nationalen Gemeinschaft unvereinbar sei. . . . Das W e r t -
volle an der Zuchthausstrafe sei gerade ihre diffamierende W i r k u n g i m
Volksbewußtsein. . . . V o m Standpunkt der nationalen Volksgemeinschaft
u n d der Rasse aus fordere die N S D A P die Diffamierung, die Herausholung
des Verbrechers aus der Volksgemeinschaft. . . . liege die Unfruchtbarmachung
des geborenen Verbrechers i m Dienste der Gemeinschaft."
186 v g l . Gesetz zum Schutz der Nation. Verh. des Reichstags der I V . W a h l -
periode 1928, Bd. 440, Drucksache 1741 ; s. oben 4. Kap. I. 4. a) A n m . 78.
187 Ausdrücklich heißt es auf S. 12 : „So w i e Gliederung u n d Leitsätze dieser
Denkschrift die Meinung des Justizministers wiedergeben, stellt die Be-
gründung der Gliederung u n d der einzelnen Leitsätze die Ansicht des
jeweils kenntlich gemachten Sachbearbeiters dar."
188 Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 5.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 121

heraus, daß eine antiliberale Grundhaltung und die nationalsozialistische


„Weltanschauung" keine Gewähr dafür boten, daß volle Übereinstim-
mung über ein nationalsozialistisches S traf recht erzielt werden konnte.
Die Unbestimmtheit der antiliberalen Staatsbilder, die nur i m Negativen
einen gemeinsamen Nenner besaßen, und die Verschwommenheit der
nationalsozialistischen Ideologie, die sich aus Bruchstücken vielerlei
geistiger und politischer Strömungen zusammensetzte 189 , waren die
Ursachen für eine Auseinandersetzung um das „richtige" national-
sozialistische Strafrecht 190 .
Auf Anerkennung ihres Rechtes als Erstgeborene pochten diejenigen,
die bereits vor der Machtübernahme ein nationalsozialistisches Straf-
recht propagiert hatten. Dazu zählte einmal Gleispach 191 und vor allem
aber Nicolai 1 9 2 .
Auch einige Vertreter der früheren klassischen Schule (u. a. Nagler,
Gerland, Sauer) griffen i n die Diskussion um das nationalsozialistische
Strafrecht ein. Sie waren i n der vorausgegangenen Phase des A n t i -
liberalismus nicht hervorgetreten; zählten ihre Anschauungen doch
sogar zu den Objekten der antiliberalen Angriffe. Um die Uberwindung
früherer Auffassungen anzuzeigen, verwandten sie die Bezeichnung
„Neuklassiker" für sich 193 .
Wesentlichen Anteil an der Auseinandersetzung hatte die von Dahm
und Schaffstein repräsentierte Richtung. Vor der Machtübernahme
hatten sich diese Vertreter eines „autoritären" Straf rechts zwar noch
dagegen gewehrt, als nationalsozialistisch eingeordnet zu werden 1 9 4 ,
eine gewisse weltanschauliche Ubereinstimmung hatten sie jedoch be-
reits damals hervorgehoben 195 . Daher konnten sie der Auffassung sein,

189 v g l . Bracher! Sauerl Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung,


S. 261 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 169 ff.; Broszat, D e u t -
scheRundschau 1958, S. 53 ff.
190 vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 23 f.
ιοί Vgl. oben 4. Kap. I . 4. a).
192 Vgl. oben 4. Kap. I . 3. b).
lös Vgl. Gerland, D J Z 1933, Sp.860; Nagler, GS 103, S. X X I I I . Sauer, GS
103, S. 20 u n d 23, verband m i t dem Begriff „Neuklassik" eine etwas ab-
weichende Vorstellung, nämlich eine Vereinigung der „Tendenzen der
früheren Klassik u n d der Einst-Moderne" (S. 23).
194 Vgl. Dahm! Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4;
Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 164; auch E.Wolf, M i t t . I K V N.F. 6. Bd.,
S. 191 f.
io» Dahm!Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 4: „ D i e
politischen Parteien u n d Gruppen der Rechten, so vor allem auch der
Nationalsozialismus (sind) heute n u r der tagespolitische u n d deshalb offen-
kundigste Ausdruck einer w e i t breiteren u n d tieferen geistigen Bewegung,
welche besonders die Jugend ergriffen hat."
122 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

daß sich ihre Überzeugungen ohne deutsame Veränderungen i n den


Rahmen einer nationalsozialistischen Reform einfügen würden. Zahl-
reiche Beiträge zum neuen Strafrecht zeigen, daß diese Richtung aus
ihrer führenden Rolle i m Kampf gegen die „liberalistische" Strafrechts-
reform den Anspruch herleitete, ein entscheidendes Wort bei der Fest-
legung des neuen Kurses zu sprechen 196 .
M i t der Verfestigung der Machtverhältnisse ließ allmählich die
Neigung i n der Strafrechtswissenschaft nach, auf grundlegende und
umfassende Weise zu strafrechtlichen Fragen Stellung zu nehmen 1 9 7 .
Einmal verschaffte die Konsolidierung des nationalsozialistischen Macht-
apparates i n den Jahren 1934/35, die sich insbesondere i n der Beseiti-
gung der SA-Führung und i m Abschluß des Gleichschaltungsprozesses
äußerte, die Gewißheit, daß vorerst eine Rückkehr zu den Verhältnis-
sen der Weimarer Republik unmöglich geworden war. Damit trat das
Erfordernis, eine Auseinandersetzung m i t dem liberalen Staatsgedan-
ken i n aller Breite durchzuführen, i n den Hintergrund.
Zu dieser Entwicklung i n der strafrechtswissenschaftlichen Diskus-
sion trug auch bei, daß die neuen Reformbestrebungen sehr bald i n amt-
liche Bahnen gelenkt wurden und zusehends Fortschritte machten: A m
3. November 1933 nahm eine amtliche Strafrechtskommission die Arbeit
auf. I h r gehörten neben den Justizministern von Preußen und Bayern
als Vorsitzende, neben zwei Staatssekretären und fünf Vertretern der
Praxis auch fünf Hochschullehrer an (Kohlrausch, Dahm, Gleispach,
Mezger, Nagler). Bis zum Herbst 1936 behandelten sie i n zwei Lesungen
auf insgesamt 13 Tagungen den Entwurf eines neuen Strafgesetz-
buches.
Nachdem die antiliberale Grundtendenz gesichert war, rückten Einzel-
fragen i n den Vordergrund, und die Strafrechtswissenschaft konnte dazu
übergehen, „auch die juristische Systematik und die systemtragenden
Abstraktionsbegriffe" daraufhin zu überprüfen, „ob ihr substantieller
Gehalt und die Denkvorstellungen, auf denen sie beruhen, m i t dem
Geist der neuen Rechtsordnung noch übereinstimmen" 1 9 8 .

2. Die Thematik der antiliberalen Strafrechtsprogramme

Die antiliberalen Strafrechtsprogramme i m Anfang der dreißiger


Jahre bedeuteten inhaltlich eine Fortsetzung der Auseinandersetzung
mit der Strafrechtsreform der Weimarer Republik. Diese hatte wesent-
196 Vgl. oben 4. Kap. I I . 1. A n m . 115.
1 9 7 I m Laufe des Jahres 1934 ging die Anzahl der Stellungnahmen i m
strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum zum Thema „Strafrechtsreform"
deutlich zurück; vgl. die Übersichten i m Jahrbuch des Deutschen Recht, N.F.
1. Bd., 1934, S. 88 f., 508 u n d 757.
198 Schaff stein, D J Z 1934, Sp. 1174.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 123

liehe Impulse aus den straftheoretischen Gedankengängen der modernen


Schule bezogen. U m ihre alternativen Ansichten deutlich werden zu las-
sen, rückten die antiliberalen Gegenreformer ebenfalls den Straf-
begriff i n das Zentrum ihrer Vorschläge.
Damit reagierten sie zugleich auf das Verteidigungskonzept der
Reformanhänger gegen die antiliberalen Angriffe. Diese betonten, „daß
für ein Strafrecht charakteristisch das ist, was i n den Strafbegriff
hineingedacht wird, und daß das maßgebend ist, was sich aus dem
Straf recht für das Verhältnis des Staates zum Verbrecher ergibt", und
forderten dazu auf, „die allgemeine Charakterisierung für den Sinn
und den Geist der Strafrechtsreform . . . allein aus der A r t und Weise
zu entnehmen, wie dieser Punkt i n den Entwürfen behandelt worden
ist" 1 * 9 . Von daher erschienen den Verteidigern der „liberalen" Reform
die antiliberalen Angriffe als ein einziges Mißverständnis, weil die
spezialpräventive Verbrecherbehandlung ein illiberaler, wenn nicht gar
ein antiliberaler Vorgang sei, so daß die Vorwürfe der Reformgegner
fehlgingen 200 . Die Gegner der „liberalen" Reform folgten auf dieses
Feld, blieben aber i m Großen und Ganzen bei ihrer Einschätzung der
Reform; die straf theoretische Grundlage der Entwürfe sei wegen des
rationalistisch-naturalistischen Denkansatzes und der individualistischen
Tendenz zur Milde der liberalen Gedankenwelt zuzurechnen 201 . I n den
Mittelpunkt ihrer eigenen strafrechtlichen Reformvorschläge stellten sie
einen als antiliberal verstandenen Strafbegriff, i n dem das Individuum
die gebührende Zurücksetzung gegenüber Staat und Gemeinschaft
erfahre.
Neben dieser zentralen Frage führte der Besondere Teil des Straf-
rechts i n den programmatischen Aussagen der antiliberalen Strafrechts-
wissenschaft ein Schattendasein. I n die allgemein gehaltene, weitge-
spannte Argumentationsweise fügte sich die Sachlichkeit und Nüchtern-
heit des Besonderen Teils nur schwer ein; zu groß war der Maßstab, m i t
dem das Strafrecht gemessen wurde 2 0 2 . Man beließ es, soweit man sich

199 E. Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176.


zoo vgl. Kohlrausch, M i t t . I K V N.F. 6.Bd., S. 156f.; E.Schmidt, M i t t . I K V
N.F. 6. Bd., S. 176 f.; dazu ausführlich unten 4. Kap. I V . 1.
201 Vgl. oben 4. Kap. I . 4. a) u n d I I . 2.
202 Teilweise eine Ausnahme machte hier n u r Dahms Beitrag „Autoritäres
Strafrecht" i n MSchKrimPsych 1933, S. 162 ff., der einen Vortrag v o r der
Frankfurter Zusammenkunft deutscher Straf rech tslehrer v o m 8. Januar 1933
wiedergab. Das hatte vorwiegend taktische Gründe: Gegenstand der Tagung
w a r die durch „Liberales oder autoritäres Strafrecht?" i n die Öffentlichkeit
getragene Kontroverse. Als Gegenreferent zu Dahm w a r Mittermaier
geladen, der seine Skepsis gegenüber dem „autoritären" Strafrecht deutlich
zu erkennen gegeben hatte (vgl. Die Justiz 1932/33, S. 60 ff.). Dahm mußte
damit rechnen, daß Mittermaier v o r allem die starke Betonung des w e l t -
anschaulichen Bekenntnisses u n d den Mangel an juristischer Kleinarbeit
124 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

überhaupt mit dem Besonderen Teil beschäftigte 203 , bei der „Aufrichtung
einer neuen Werttafel der Lebensgüter" 2 0 4 , und über die Rangfolge be-
stand i m wesentlichen Einigkeit.

3. Übereinstimmende Forderungen der


antiliberalen Gegenreformer zum Besonderen Teil

Da eine inténsive, i n die Einzelheiten gehende Behandlung des


Besonderen Teils nicht erfolgte, konnten sich die Unterschiede zwischen
den verschiedenen Richtungen i n der antiliberalen Strafrechtswissen-
schaft in diesem Punkt nicht weiter auswirken. Daher ist es möglich,
vorweg die Forderungen zum Besonderen Teil aus den verschiedenen
antiliberalen Strafrechtsprogrammen zusammengefaßt wiederzugeben.
Beachtung verdient neben den Inhalten, wie sich die antiliberale Grund-
haltung i n der Formulierung von Straftatsbeständen niederschlug.
A n der Spitze der Reformwünsche der Antiliberalen für den Beson-
deren Teil stand die Forderung nach einer „Verstärkung der strafrecht-
lichen Bestimmungen zum Schutze des Staates und staatlicher Einrich-
tungen" 2 0 5 . Die Vorschläge zielten u. a. auf eine scharfe strafrechtliche
Ahndung von „Angriffen gegen die Würde der Staatsorgane, Miß-
achtung der nationalen Symbole, Verwendung staatsfeindlicher Zeichen
der Auflehnung und der Widersetzlichkeit, Amtserschleichung und
K o r r u p t i o n " 2 0 6 ab. Besonders eindringlich wurde das Verlangen nach
einer Erweiterung der Bestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat
geäußert. Als Orientierungspunkte dienten hier der nationalsozialistische
Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Nation vom 12. März 1930
und die entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen i m faschistischen
Italien 2 0 7 . Kennzeichnend für die dort vorgenommene Regelung der
Delikte gegen den Staat war die weite, unscharfe Fassung der Tat-
bestände und eine brutale Härte i n der Strafandrohung, die sich u. a. i n

kritisieren würde. I n d e m er sich jetzt bemühte, „wenigstens die Richtung


zu zeigen, i n der das Strafrecht sich i n der Z u k u n f t fortentwickeln könnte"
(S. 164), u n d dabei den Besonderen T e i l i n sein „autoritäres" Strafrechts-
programm einbezog, verdarb er Mittermaier i m wahrsten Sinne des Wortes
das Konzept. Dieser w a r gezwungen, aus dem Stegreif zu antworten.. Vgl.
die Tagungsberichte v o n v. Gemmingen, ArchRWPh, Bd. 26, S. 497 ff. u n d
Grünhut, ZStW 53, S. 8 f.
203
Die politischen A u t o r e n A. E. Günther u n d Nicolai ließen den Beson-
deren T e i l v ö l l i g außer Betracht.
204 Nagler, D R 1934, S. 54.
205 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 168; vgl. auch Nagler, GS 103,
S. X X X I I I ; v. Weber, D J Z 1933, Sp. 864.
206 Nagler, GS 103, S. X X X I I I .
207 v g l . zum Gesetz zum Schutze der Nation oben 4. Kap. I. 4. a) A n m . 78 ;
ausführlich zum faschistischen Straf recht: Dahm, Nationalsozialistisches und
faschistisches Strafrecht.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 125

der häufigen Verwendung der Todesstrafe als absoluter Strafe äußerte.


Dahm lobte den „mutigen Verzicht auf tatbestandliche Begrenzun-
gen" 2 0 8 i n der faschistischen Landesverratsbestimmung, und Naglers
Formulierungen standen dem nationalsozialistischen Gesetzes Vorschlag
in nichts nach: Den „Defaitismus aller A r t " , die „Beeinträchtigung der
Wehrkraft und des Wehrwillens der N a t i o n " 2 0 9 wollte er bestraft wis-
sen. „Auch die Störung der Kriegspolitik der Regierung, die Unter-
haltung illegaler internationaler Verbindungen, die Entfaltung anti-
nationaler Tätigkeit i m Ausland, der unzulässige Handel m i t dem
Feind erfordern volle Berücksichtigung. Auch der fahrlässige Landes-
verrat muß unter Strafe gestellt werden, vielleicht sogar die fahrlässige
Beihilfe zum Landesverrat 2 1 0 ." Der Gedanke der Rechtssicherheit, der
sich i n vorsichtigen, zurückhaltenden Formulierungen, i n präzisen
Gesetzesvorschlägen geäußert hätte, war i n diesen Aussagen bedenken-
los beiseite geschoben.
Die Delikte des Hoch- und Landesverrats sollten über den Bereich der
Angriffe auf das äußere Staatsgefüge hinaus ausgedehnt werden: Mit
Strafe sollte auch die „geistige Zersetzung" bedroht werden, der
„literarische und intellektuelle Hochverrat und Landesverrat" 2 1 1 . Ver-
suche, nicht strafbare kritische Äußerungen über den Staat davon ab-
zugrenzen, wurden nicht unternommen.
Als neue Rechtsgüter wurden „die Ehre, das Ansehen und die Würde
des Staates und der N a t i o n " 2 1 2 proklamiert. Ehrenschutz sollte auch dem
Volk als Gesamtheit und den Verbänden und Personengemeinschaften
zukommen, aus denen es sich aufbaut 2 1 3 .
Die kulturellen Werte des Volkes und damit die „kulturellen und
religiösen Werte der abendländischen K u l t u r " gelte es gegen „Zer-
setzungserscheinungen" 214 zu verteidigen. Zur Umsetzung dieser Forde-
rung i n das Strafgesetz wollten die antiliberalen Strafrechtswissen-
schaftler vor allem die Religions-, Sittlichkeits-, Familien- und Eides-
straftatbestände heranziehen, die wieder m i t „überpersonalen Wert-
vorstellungen" 2 1 5 zu erfüllen seien.

208 Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 24.


209 GS 103, S. X X X I V .
210 Ebd., S. X X X V , A n m . 78.
211 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14.
212 Nagler, GS 103, S . X X X V ; vgl. auch Dahm/Schaff stein, Liberales oder
autoritäres Strafrecht?, S. 50.
213 vgl. Dahm, D R 1934, S. 418.
214 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 50.
215 Nagler, GS 103, S. X X X I I I ; vgl. auch Dahm, MSchrKrimPsych 1933,
S. 167; Dahm!Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 50.
126 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Auch der Volkskörper wurde zum Gegenstand der strafrechtlichen


Reformprojekte: M i t der Machtübernahme der Nationalsozialisten
rückte die Forderung nach „Gesund- und Reinerhaltung der Rasse" 216
in den Vordergrund. Während Nicolai, wie unten zu zeigen sein w i r d 2 1 7 ,
seine gesamte Straftheorie nach diesem Ziel ausrichtete, gaben i h m die
übrigen antiliberalen Reformer vorwiegend i m Besonderen Teil Raum.
So setzte Nagler sich für ein „Verbot der Rassenschändung i n Form des
Rassenverrats, der Rassengefährdung oder Rassenverunehrung" 218 ein
und schreckte selbst vor dem Verbot von Lehrmeinungen nicht zurück,
indem er die „Bekämpfung des Malthusianismus" verlangte 2 1 8 . I n den
Zusammenhang des Volksschutzes und der Rassenfrage wurde auch
das Problem der Abtreibung eingeordnet 219 , dessen Lösung „unter dem
universalistischen Blickpunkt der Erhaltung des Volksbestandes" 220 , der
eine unnachsichtige Bekämpfung verlange, erfolgen sollte.
Die vorher als höchstpersönlich eingestuften Rechtsgüter waren nach
Ansicht der Gegenreformer i n die allumfassende Gemeinschaftsbindung
einzubeziehen, so daß die „liberalistische" Trennung zwischen Rechts-
gütern des Staates und denen des einzelnen wegfalle: „Der Schutz des
Eigentums, der individuellen Privatsphäre, der Ehre bedarf eines Um-
baus i n der Richtung, daß staatliche Kräfte zur Verfolgung und Sühne
staatlich belangloser Eingriffe nicht eingesetzt werden 2 2 1 ."
Unter diesem Blickwinkel und ausgehend von einem ständisch ge-
stuften Staatsaufbau erweise sich gerade die Ehre als „eine wesentliche
Voraussetzung für den Bestand und die Erhaltung einer wirklichen
Gemeinschaft überhaupt und insofern als unmittelbar völkisches Rechts-
g u t " 2 2 2 . „Eine vorsichtige Einschränkung des Wahrheitsbeweises, i n
Verbindung damit eine Erneuerung und Umbildung des Begriffs der
Wahrnehmung berechtigter Interessen" sowie eine Verschärfung der
Strafdrohung wurden als Mittel für einen besseren Schutz vorge-
schlagen 223 .
Nicht neu war der Ruf nach strafrechtlicher Absicherung der Arbeits-
kraft, die über den Tatbestand der Körperverletzung hinausgehen und
zu einer Anerkennung als selbständiges Rechtsgut führen sollte 2 2 4 .
216 Nagler, GS 103, S. X X X V ; vgl. auch v. Weber, D J Z 1933, Sp. 865.
217 s. unten 4. Kap. I I I . 4. d).
218 Nagler, DR 1934, S. 54. V o n „Rasseverrat" sprach auch Dahm, Gemein-
schaft u n d Strafrecht, S. 14.
219 Dahm! Schaff stein, Liberales oder autortäres Strafrecht?, S. 25.
220 Nagler, GS 103, S. X X X V .
221 E. Wolf, RuS H. 103, S. 34.
222 Dahm, D R 1934, S.417; vgl. Schaff stein, DStR 1934, S.273.
223 Dahm, D R 1934, S. 418.
224 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S.166; Nagler, GS 103, S. X X X V I I I f.;
vgl. oben 4. Kap. I . 2. b).
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 127

M i t Nachdruck forderten die antiliberalen Reformer eine „Umgestal-


tung des Wirtschaftsrechts" i m Wege einer „stärkeren Betonung volks-
wirtschaftlicher gegenüber privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten" 225 .
Die Skandalfälle der Weimarer Zeit noch vor Augen, drangen sie auf
eine „wirkungsvollere Bekämpfung und Diffamierung einer indivi-
dualistischen Gaunermoral" 2 2 5 . Die Vorschläge Dahms umfaßten eine
Ausdehnung der Tatbestände, die strafrechtliche Erfassung „der fahr-
lässigen Untreue gegen gemeinnützige Verbände und ihre Bestrafung
nach A r t anderer gemeingefährlicher D e l i k t e " 2 2 5 und die Aufnahme von
schweren Steuerdelikten und Wirtschaftsstraftaten in das Strafgesetz-
buch. Außerdem verlangte er eine Erhöhung der Mindeststrafen für
die Wirtschaftsstraftaten, die sich „gegen die Gesamtheit oder größere
Volksteile richten" 2 2 5 , i n schweren Fällen Beschlagnahme des Ver-
mögens sowie Zuchthausstrafe.
Ein Gesetzesvorschlag Naglers suchte die Lösung der Probleme des
Wirtschaftsstrafrechts bei einer generalklauselartigen Formulierung des
Tatbestandes, die den Bruch m i t liberalem Rechtssicherheitsdenken
deutlich hervorkehrte: „Das Finanzverbrechen wäre etwa die vor-
sätzlich rechtswidrige Verletzung oder Gefährdung des Vermögens
eines nicht geschlossenen Personenkreises mittels gewinnsüchtigen, durch
vernünftige Wirtschaftszwecke nicht gerechtfertigten Mißbrauchs der
Wirtschaftsmacht zu frivolen Spekulationen oder zur Ausbeutung des
Publikums 2 2 6 ."
Ubereinstimmend traten die Verfechter eines „autoritären" Straf-
rechts für einen Ausbau der Sonderdelikte ein, i n denen die Standes-
pflichten des einzelnen, die sich aus dem „berufsständischen Aufbau
des Volkskörpers" 2 2 7 ergäben, ihren Niederschlag finden sollten 2 2 8 .
Neben diesen Veränderungen i m Katalog der strafrechtlichen Ver-
botsnormen entnahm die neue strafrechtliche Richtung dem „autoritä-
ren" Staatsgedanken auch Neuerungen für die Gebotsnormen des
Besonderen Teils: Die Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft ver-
pflichte den einzelnen auch zu positiven Leistungen. Daher forderte
E. Wolf die Verschärfung der Bestimmungen über die Bestrafung unter-
lassener Verbrechensanzeige und ihren Ausbau „ i n Richtung auf straf-
rechtlich geschützte Pflichten zur Verbrechensverhütung und -Verhinde-
r u n g " 2 2 9 sowie die Erweiterung der Strafdrohung für unterlassene

225 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 166.


226 GS 103, S. X X V I I .
227 Ebd., S. X X X I X .
228 vgl. E.Wolf, ZStW 54, S.553; Schaff stein, ZStW 53, S.621; ders., DStR
1934, S. 281 A n m . 25.
229 RuS H. 103, S. 34.
128 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

Hilfeleistung i n Notfällen. A u f derselben Linie lag seine Forderung,


daß eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit bei jedem Delikt möglich
sein müsse.

4. Die unterschiedlichen Vorstellungen zum Strafbegriff

Differenzen traten unter den Befürwortern eines autoritären Straf-


rechts i n den Fragen der Inhalts- und Zweckbestimmung der Strafe
auf. Auch hier standen unterschiedliche staatstheoretische Auffassungen
im Hintergrund. Diesen Unterschieden, die zur Bildung verschiedener
Gruppierungen innerhalb der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
führten, soll i m einzelnen nachgegangen werden.

a) Die Neuklassiker

Zwischen der klassischen Schule und den „jüngeren Kriminalisten"


bestanden einige Berührungspunkte: Sie waren sich darin einig, daß die
Reformideen der modernen Schule mit Entschiedenheit zu bekämpfen
seien. Auch stimmten sie i n der Forderung nach einem starken Staat
überein, der sich seiner Strafmittel ohne Rücksichtnahme auf die
Individualität des Täters bedient. Aus diesen Ubereinstimmungen
folgerten einige Vertreter der klassischen Schule, daß die junge anti-
liberale Strafrechtswissenschaft nur die Tradition der Klassiker fort-
führe und daß somit die klassische Schule den neuen Reformtendenzen
den Weg bereitet habe 2 3 0 . Bedauernd vermerkten sie, daß die „jüngeren
Kriminalisten" die Vorarbeit der klassischen Schule nicht würdigten 2 3 1 .
Aber auch die Strafrechtswissenschaftler der klassischen Schule
konnten auf die Dauer den Gegensatz zur jungen autoritären Richtung
nicht übersehen: Waren sie doch selbst deren Angriffen ausgesetzt, die
auf das liberale Gedankengut i n der klassischen Lehre abzielten 232 .
Wenn man den Anschluß an die Entwicklung halten wollte, war eine
Revision überkommener Auffassungen erforderlich. Diesen Schritt voll-
zog die Gruppe der „Neuklassiker", zu der vor allem Nagler, Gerland,
von Weber und m i t Abstrichen auch Sauer zu rechnen sind. M i t Stock
ist ein jüngerer Verfechter neuklassischer Anschauungen hinzuzu-
zählen, der nicht in der Tradition der klassischen Lehre stand.
Ein Wandel machte sich einmal i n der K r i t i k an den Reformideen
der modernen Schule bemerkbar 2 3 3 . Von den früher erhobenen Vor-

230 v g l . Nagler, GS 103, S. X I V Anm. 28.


231 Vgl. ebd., S . X X I V A n m . 49; Gerland, D J Z 1933, Sp. 861.
232 v g l . oben 1. Kap. I I I . 1.
233 vgl. zum folgenden: Nagler, GS 103, S . X f f . ; Gerland, DJZ 1933,
Sp. 859 f.; Sauer, GS 103, S. 15 ff.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprgramme 129

würfen fanden diejenigen keine Verwendung mehr, die die Beseitigung


der liberalen Rechtsstaatlichkeit beklagten.
Der Naturalismus, Rationalismus und Individualismus i n der Be-
trachtung und angestrebten Behandlung des Täters, die Beseitigung
der Ethik aus dem Recht sowie die Minderung und Aushöhlung der
Staatsautorität durch ein utilaristisches Gesellschaftssystem bildeten jetzt
zur Hauptsache die Ziele der Angriffe gegen die moderne Richtung. Die
Neuklassiker schwenkten damit auf die Angriffslinie der jungen anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler ein 2 3 4 . Sie wiederholten lediglich
bekannte Argumente; neue fügten sie nicht hinzu. Eine Besonderheit
bestand allerdings darin, daß der Vorwurf des „Liberalismus", der von
den anderen Vertretern des Antiliberalismus zahlreich und den oben
genannten Gesichtspunkten übergeordnet verwandt wurde, verhältnis-
mäßig selten bei ihnen auftauchte. Ein völliges Umschwenken auf den
antiliberalen Kurs hätte den vollständigen Bruch m i t der eigenen Ver-
gangenheit bedeutet.
Das Traditionsbewußtsein der Neuklassiker war jedoch ungebrochen:
Nagler verlangte, daß „an die gesunde Rechtsentwicklung bis 1918
wieder anzuknüpfen" sei 2 3 5 . Daß damit die Wiederaufnahme einiger
klassischer Grundsätze gemeint war, wurde deutlich, wenn es hieß:
„Straf recht muß wieder Straf recht werden 2 3 6 ." Die Neuklassiker gingen
unverändert von dem Gegensatz „Vergeltungs- oder Sicherungsstrafe"
aus 237 . Sie waren fest davon überzeugt, daß für den autoritären Staat
die Strafe „nur den Sinn der rechtlichen Sühne . . . aufweisen k a n n " 2 3 8 .
Eine Modifizierung früherer Positionen brachte aber bereits die Be-
gründung des Vergeltungsgedankens. Das Argument, er gewährleiste
das erforderliche Maß an Rechtssicherheit durch das Prinzip des recht-
lichen Ausgleichs, wurde ersetzt durch die mystische Deutung als „un-
entbehrliches, lebensfrisches, aus den elementaren Tiefen des unver-
fälschten Volksbewußtseins aufsteigendes Gerechtigkeitsprinzip" 239 .
Stock erklärte das Prinzip der gerechten Vergeltung als ein „dem
Rechtsempfinden des deutschen Volkes entsprechendes", als „das eigent-
lich deutsche Strafrechtsprinzip" 2 4 0 .

234 Gerland, D J Z 1933, Sp. 861, u n d Nagler, GS 103, S. X X I V A n m . 49


betonten die Ubereinstimmung m i t Dahm/ Schaff stein „ i n allem G r u n d -
sätzlichen" (Nagler).
235 Nagler, GS 103, S. X X I I I .
236 Gerland, D J Z 1933, Sp. 860.
237 Nagler, DR 1934, S. 55 f.
238 Ebd., S. 56.
239 Ders., GS 103, S. X X I I I ; s. auch D R 1934, S.55.
240 stock, Die Strafe, S. 2; dem entsprach Sauers Bezeichnung der modernen
Schule als „undeutsch" (GS 103, S. 12).

9 Marxen
130 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

Trotz dieser „organischen" Herleitung hätten sich die Neuklassiker


wegen des unveränderten Inhalts der Vergeltungsstrafe dem Vorwurf
des Liberalismus ausgesetzt. Das Prinzip der Vergeltung lieferte ihnen
jedoch nur den Unterbau für ein neu errichtetes Gebäude: Der autori-
täre Staatsgedanke mache es erforderlich, m i t allem Nachdruck den
Charakter der Strafe als ein Übel zu betonen 241 , das durch „rückhalt-
lose Energie der Strafaktion" 2 4 2 zum Ausdruck zu bringen sei. I n die-
selbe Kerbe schlug die Forderung: „Das Wort ,Abschreckung' muß wie-
der salonfähig werden 2 4 3 ."
Damit rückten die Strafzwecke der simplen Bewährung der Staats-
autorität und der generalpräventiven Abschreckung i m Sinne einer
„steten Erneuerung und Stärkung der Volksdisziplin" 2 4 4 in den Vorder-
grund und überlagerten das Prinzip der Vergeltung. Den Maßstab für
die Strafe sollten die Anforderungen bilden, die Staat und Volk an den
einzelnen stellen könnten, die „sozial generelle Verantwortung des
einzelnen vor dem Staat" 2 4 5 . Der „objektiven Staatsauffassung" 246 ent-
sprach so ein objektivierter Strafbegriff.
I n einer Erweiterung der staatlichen Macht sahen die Neuklassiker
keine Gefahr, die bekämpft werden müßte. Sie zeigten damit an, wie
weit sie von der Position der früheren klassischen Schule abgerückt
waren. I n einer Formulierung Gerlands trat dieser Wandel über deutlich
hervor: „Es geht i m Straf recht eben nicht um den Rechtsschutz des
einzelnen vor dem Staat, sondern um den Schutz des Staates vor dem
einzelnen 247 ."
Aus ihren straftheoretischen Überlegungen zogen die Neuklassiker
i m einzelnen folgende Konsequenzen: Da sie i m Grundsatz an der Ver-
geltungsstrafe festhielten, traten sie für eine strikte Trennung von
Strafen und Maßnahmen ein, die dem Unterschied zwischen „Justiz-
und Verwaltungsprinzip" 2 4 8 entspreche. Die Strafen der Zukunft sollten
„bitter ernst und eindrucksvoll" 2 4 9 sein. Die Todesstrafe müsse aus
Gründen der Abschreckung „mit aller Entschiedenheit zum Einsatz ge-

241 vgl. Nagler, DR 1934, S. 56; Stock, Die Strafe, S.8; v. Weber, DJZ 1933,
Sp. 864.
242 Nagler, GS 103, S. X X V .
243 Gerland, D J Z 1933, Sp. 861.
244 Stock, Die Strafe, S. 7.
245 Gerland, D J Z 1933, Sp. 860; vgl. auch Stock, Die Strafe, S.2; v.Weber,
D J Z 1933, Sp. 862.
246 Nagler, GS 103, S. X X I I .
247 D J Z 1933, Sp. 860.
248 Nagler, GS 103, S. X X V I I I .
249 Ders., DR 1934, S. 56.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 131

bracht werden" 2 5 0 . Man sprach sich für eine Verschärfung der Freiheits-
strafe durch erhöhten Arbeitszwang 2 5 1 , sparsamen Einsatz der Ver-
günstigungen 252 und strenge Disziplinierung aus. Der Geldstrafe standen
die Neuklassiker ablehnend gegenüber: Sie sei „primitiv, unsozial, ohne
Erziehungswert" 2 5 3 .
Die Spezialprävention komme nur „sekundär" 2 5 4 i n Betracht, „nur
soweit es mit der kollektiv prävenierenden Funktion des Strafrechts
vereinbar i s t " 2 5 4 . Aus der Priorität der Gemeinschaft sollten der
Spezialprävention neue Aufgaben erwachsen: Zur „Verhütung der
Rassenentartung" 255 schlugen die Neuklassiker Maßnahmen vor wie
„Zwangssterilisation zur Ausräumung bestehender krimineller Anlagen
oder zur Verhinderung ihrer Vererbung" 2 5 6 , „nötigenfalls" zwangs-
weise Kastration der „rückfälligen, psychopathischen Sittlichkeitsver-
brecher oder der ihren Instinkten haltlos preisgegebenen Schwach-
sinnigen oder Triebmenschen" 256 , „Internierung des kriminellen Geistes-
kranken" 2 5 7 . Außerdem befürworteten sie ein schärferes Vorgehen gegen
Berufsverbrecher i m Wege der Sicherungsverwahrung 258 .
Wie der Strafbegriff der Neuklassiker, so trug auch ihre darin ver-
arbeitete Interpretation der autoritären Staatsidee trotz der A n -
näherung an jungkonservative Auffassungen unverkennbar die Züge
ihres traditions verhafteten Denkens. I n seinen Grundzügen präsentierte
sich der autoritäre Staat der Neuklassiker als der Obrigkeitsstaat des
ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Er trat i n der
Devise „Autorität, Ordnung und Gerechtigkeit" 2 5 9 zutage, er kam i n dem
250 Ders., GS 103, S. X X V ; vgl. auch Stock, Die Strafe, S. 110. Deutlich zeigt
sich hier die Uberlagerung des Vergeltungsgedankens durch Zweckerwägun-
gen: I n der Begründung der Todesstrafe w a r von den ansonsten häufig
gegen die liberale Reform ins Feld geführten ethischen Grundsätzen keine
Rede mehr. Nach Nagler, GS 103, S. X X V , ist die Todesstrafe „lediglich eine
Frage der Zweckmäßigkeit" u n d hängt nicht von „irgendwelchen außer-
rechtlichen Grundsätzen" ab.
251 Vgl. Stock, Die Strafe, S. 106 ff. Seine besondere Gedankenführung
veranlaßte Stock jedoch, daneben die Forderung nach einer Arbeitsstrafe
ohne gleichzeitigen Freiheitsentzug zu stellen. I n der A r b e i t als „Dienst
am V o l k " erblickte er die konsequente Umsetzung des i n der Vergeltungs-
strafe angelegten Ausgleichsprinzips.
252 Dazu gehörte auch der A b b a u von Privilegien f ü r Uberzeugungstäter;
vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I .
253 Ebd., S. X X V .
254 Stock, Die Strafe, S. 7; vgl. auch Nagler, GS 103, S . X X I V .
255 Nagler, GS 103, S. X X X .
256 Ebd., S. X X I X ; i n A n m . 67 hob Nagler i n Entgegnung zu Nicolai, Die
rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43, hervor, daß Maßnahmen wie die Sterili-
sation nicht als Strafen angesehen werden dürften.
257 ν, Weber, D J Z 1933, Sp. 862.
258 vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I I I ; v. Weber, DJZ 1933, Sp. 863.
259 Stock, Die Strafe, S. 1.

*
132 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Verlangen nach Stärkung der staatlichen Autorität zur Disziplinierung


des Volkes 2 6 0 zum Vorschein, er wurde i m Fehlen einer sozialen
Komponente deutlich. Die Worte „Dienst" und „Gehorsam", „Leistung"
und „Opfer" gehörten zu den meistverwandten bei der Charakterisie-
rung des „autoritären Nationalstaates" 261 . Nachdrücklich verteidigte
Nagler die Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft 262 .
Die Neuklassiker hielten am Gegensatz zwischen „Obrigkeit" und
„ V o l k " fest. Dieser Denkkategorie entsprach das Eintreten für einen,
wenn auch geschrumpften Freiheitsraum des einzelnen. Daher wandten
sie sich gegen eine völlige „Etatisierung aller Lebensbereiche", gegen
einen „totalen" Staat 2 6 3 . Die Stelle einer Begründung m i t dem Argu-
ment der Rechtssicherheit nahm aber auch hier die Berufung auf das
Volksempfinden ein. „Dem germanischen Empfinden scheint . . . der
Staatsabsolutismus zu widersprechen 263 ." Nach Ansicht Naglers würde
das „Gesetz des Gegensatzes" die weitere Entwicklung beherrschen, nach
dem „Enkelgenerationen grundsätzlich m i t den Großvätergenerationen
zusammenzustimmen pflegen" 264 .

b) Α. E. Günther

Der rechtsgerichtete politische Schriftsteller Α. E. Günther gewann


seine Vorstellungen über das künftige autoritäre Strafrecht aus einem
Staatsbild, das i n den wesentlichen Punkten m i t dem der Neuklassiker
übereinstimmte; nur zeichnete er seine Konturen ungleich schärfer und
stellte es ausdrücklich als wegweisend voran.
Als das „Wesen des Staates" definierte er „Befehl und Gehorsam" 2 6 5 ;
seine Entstehung sei durch die Ausbildung von „Uber- u n d Unter-
ordnungsverhältnissen" 266 gekennzeichnet. Er verstand den Staat als die
Etablierung einer besonderen Hoheitsgewalt, die ihren historischen
Ursprung i n der Verkörperung der Macht durch das Heer habe. I n i h m
habe die „Technizität der Leitung" i n der Form „planmäßiger Organi-
sation, die durch eindeutig und ausdrücklich verkündete Befehle ge-
lenkt w i r d " , den „Organismus der Sippe m i t seinen aus den Tiefen
260 Vgl. ebd., S. 7; auf S. 110 heißt es, die Nation müsse erst wieder „zur
Staats- und Rechtsgesinnung erzogen" werden. Nagler, D R 1934, S. 52, sprach
von „Volksführung".
261 Nagler, GS 103, S. X V I I I .
262 Ebd., S. V I I I f., A n m . 13.
263 Ebd., S. X X A n m . 39.
264 GS 102, S. 485.
265 Widerstand 1930, S. 263; Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform,
S.104.
266 Widerstand 1930, S. 264; Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform,
S. 104.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 133

quellenden seelenhaften Impulsen" 2 6 7 zurückgedrängt. Trotz dieser


rational-zweckhaften Funktionsweise erkannte Α. E. Günther dem Staat
eine „besondere Würde, die Majestät" 2 6 8 zu, die daraus fließe, daß seine
Ordnung nur „sekundär" 2 6 9 sei, „eine geistige Schöpfung, die ihre
Wucht und metaphysische Würde daraus zieht, daß sie eine zwar tief-
greifende, rationalisierende Umformung der urtümlichen Gemein-
schaftskräfte, aber eben doch nur eine Ausformung darstellt" 2 6 9 .
Der autoritäre Staat Güntherscher Prägung hatte allein den Zweck,
eine äußere Ordnung zu gewährleisten. Der befehlsmäßig durch-
gegliederte Staatsaufbau beinhaltete eine Verstärkung der staatlichen
Hoheitsgewalt, beließ es aber bei der Entgegensetzung von staatlicher
und individueller Sphäre. So begründete Α. E. Günther den Rechts-
charakter des autoritären Staates damit, „daß er bei typischen Vor-
fällen einen i m voraus verkündeten Ablauf mit zulänglicher Sicherheit
verbürgen kann" 2 7 0 . Damit war zugleich gesagt, daß dem einzelnen,
soweit er dem staatlichen Befehl durch sein äußeres Verhalten nach-
kommt, ein gesicherter, wenn auch stark eingeengter Lebensraum zu
freier Betätigung bleibt.
Die Beschränkung der Staatsgewalt auf die Reglementierung der
äußeren Vorgänge, die Forderung nach Berechenbarkeit der staatlichen
Maßnahmen sowie die Anerkennung einer privaten Sphäre bedeuteten
zumindest i n formeller Hinsicht die Erfüllung einiger liberaler Forde-
rungen. Α. E. Günther war sich offenbar dieses Widerspruchs in seinem
antiliberalen autoritären Staatskonzept nicht bewußt. Er setzte sich i n
seinem autoritären Strafrechtsprogramm fort:
Das Verbrechen erklärte Α. E. Günther als „Ungehorsam" 2 7 1 gegen den
staatlichen Befehl, der sich i n der „gesatzten Ordnung" 2 7 2 nieder-
geschlagen habe. M i t der Strafe verfolge der Staat das Ziel, „am Bei-
spiele des Rechtsbrechers — daher i m öffentlichen Strafvollzuge — den
Normunterworfenen die Erzwingbarkeit seiner Ordnung vor Augen zu
stellen: er statuiert ein Exempel" 2 7 3 . Weder sei es die Aufgabe des
Strafrechts, „durch .Abschreckung' den Normunterworfenen einzu-
schüchtern", noch solle es „ i n A r t einer monopolisierten Rache ,ver-

267 Widerstand 1930, S. 265.


268
Liberale und autoritäre Strafrechtsreform, S. 104.
269 Widerstand 1930, S. 265.
269 Ebd., S. 265.
270 Ebd., S. 263.
271 Ebd., S. 265, 267, 337; Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform, S. 104.
272 Widerstand 1930, S. 265.
273 Ebd., S. 265.
134 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

gelten' " 2 7 4 . Vielmehr wirke das autoritäre Strafrecht „orientierend auf


das Verhalten der Staatsbürger", es schaffe „durch die Verurteilung des
Verbrechers öffentliche Klarheit darüber, was der Staat i n seinem
Bereiche mit seiner Würde und seinem Bestände für vereinbar hält und
was nicht" 2 7 4 .
Wie schon i m Bereich der Staatstheorie versuchte Α. E. Günther auch
seinen straftheoretischen Vorstellungen eine tiefere Rechtfertigung zu
geben, indem er sie irrational untergründete: Die Strafe stelle „die
durch den Ungehorsam beleidigte Würde des ,Imperiums'" 2 7 5 wieder
her; sie diene also „der Wiederherstellung der beleidigten Rechtsord-
nung" 2 7 6 . A n die Tat und nicht an den Täter müsse die rechtliche Be-
wertung anknüpfen, „damit allen Staatsbürgern durch die Verurteilung
der Tat ohne Ansehen der Person die Unverbrüchlichkeit der Rechts-
ordnung sichtbar werde" 2 7 7 , folgerte Α. E. Günther aus seinem Straf-
begriff. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung sei nicht erforderlich,
daß die Bürger bestimmten ethischen Leitbildern genügten; vielmehr sei
ausreichend, „daß sie sich i m Gemeinschaftsleben so verhalten, wie es die
Rechtsordnung vorschreibt" 2 7 8 .
Die beherrschende Stellung i n diesem System nahm daher das
„ordnungsgemäß zustande gekommene und verkündete Gesetz" 279 ein.
Α. E. Günther verlangte, daß es „erzwingbar und i n seiner Durchfüh-
rung an äußerlichen Merkmalen kontrollierbar" 2 8 0 sein müsse: „Der
objektive Tatbestand entscheidet 281 ." Die Rücksichtnahme auf die Täter-
persönlichkeit sei nicht Sache des rechtsprechenden Urteils; hier sei
allein die caritative Gnade zuständig 282 .
Indem sich Günther für die unbedingte Herrschaft des staatlichen
Befehls aussprach, befand er sich i n gedanklicher Nähe zu Bindings Auf-
fassungen 283 . I n Ubereinstimmung mit ihnen erfüllte sein Konzept trotz
der autoritären Zielsetzung viele liberale Forderungen, die die Ab-
fassung und Anwendung des Strafgesetzes betreffen. Wie wenig jedoch

274 Ebd., S. 340; vgl. auch S. 265.


275 Ebd., S. 265, 267.
276 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
277 Ebd., S. 106 f.
278 w i d e r s t a n d 1930, S. 340.
279 Ebd., S. 265.
280 Ebd., S. 339; vgl. auch Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105.
281 Widerstand 1930, S. 339; auch Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform,
S.103.
282 Vgl. Widerstand 1930, S. 341; Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform,
S. 107.
283 Denselben Zusammenhang stellte Nagler, GS 103, S. X X I f. her; vgl.
auch Gallas, Z S t W 53, S. 22 A n m . 33.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 135

damit allein ein liberales Strafrecht gesichert war, erweist sich — und
das ist nur ein Beispiel — an seiner Stellungnahme zur Frage der Un-
abhängigkeit der Justiz. Er betrachtete sie als „dem Rechte nicht eigen-
tümlich" 2 8 4 und als „Benefiz" 2 8 4 des Staates. Sie könne niemals so weit
gehen, „daß das Imperium . . . i n seinen vitalen Interessen dadurch ge-
fährdet wird: Die Autonomie der Justiz findet ihre Grenze i n der
Souveränität des Imperiums, das die Autonomie des Rechts allein zu
verbürgen vermag" 2 8 5 . M i t dem Begriff „vitale Interessen" lieferte
Α. E. Günther dem autoritären Staat einen festen Punkt, von dem aus
er die Rechtsordnung aus den Angeln heben konnte.

c) Die „ jüngeren Kriminalisten"

Die ersten Äußerungen der „jüngeren Kriminalisten" zu einem


autoritären Strafrecht erweckten den Eindruck, daß sich ihre Staats-
konzeption mit den Vorstellungen der anderen Vertreter eines straf-
rechtlichen Antiliberalismus deckte: Schaff stein erkannte dem Staat
„unmittelbaren und obersten Wert" zu; „er ist nicht zur Förderung der
Wohlfahrt seiner Bürger da, sondern umgekehrt hat die Wohlfahrt
seiner Bürger für i h n nur ein mittelbares Interesse, weil und soweit sie
seiner eigenen Wesensentfaltung dient" 2 8 6 . Deutliche Spuren dieser
Auffassung sind auch in der gemeinsam m i t Dahm verfaßten Schrift
„Liberales oder autoritäres Straf recht?" vorhanden. Dort ist von der
„höheren Würde des Staates" 2 8 7 die Rede, und das Straf recht w i r d
„zunächst und i n erster Linie als Mittel zur Erhaltung und Bewährung
der Staatsgewalt schlechthin" 288 betrachtet.
Daraus darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß eine völlige
Ubereinstimmung mit der Staatstheorie bestand, die die Neuklassiker
und Α. E. Günther vertraten. Daß die Unterschiede zunächst m cht deut-
lich wurden, erklärt sich aus der Einschätzung der politischen, kulturel-
len und wissenschaftlichen Lage durch die beiden Autoren und aus
ihrer Zielsetzung: Dahm und Schaffstein glaubten, daß Liberalismus,
Rationalismus und Individualismus noch große Teile des geistigen
Lebens beherrschten. Vor allem das Strafrecht stand nach ihrer Auf-
fassung noch weitgehend unter diesem verhängnisvollen Einfluß 2 8 9 . M i t
aller Kraft müsse daher für die Beseitigung dieser Anschauungen ge-
kämpft werden. Um i n möglichst breiter Front vorgehen zu können,

284 Widerstand 1930, S. 266.


285 Ebd., S. 267.
286 Die Nichtzumutbarkeit, S. 69.
287 s. 44; vgl. auch S. 41.
288 s. 4 0 .
289 V g l . ebd., S. 4.
136 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

betonten sie die Gemeinsamkeiten i m konservativen Lager. Die Kampf-


schrift „Liberales oder autoritäres Straf recht?" enthielt sich ausdrück-
lich einer Stellungnahme zu der auf konservativer Seite damals heftig
diskutierten Frage, ob der neue Staat lediglich eine Verstärkung der
autonomen Staatsgewalt oder eine totale Erfassung aller Lebensver-
hältnisse herbeiführen sollte 2 9 0 .
Auch die gemeinsame Gegnerschaft zum Liberalismus konnte aber
auf die Dauer Unterschiede in den staatstheoretischen Auffassungen der
antiliberalen Strafrechtswissenschaftler nicht verdecken. Sie waren
bereits in der Anfangsphase des Kampfes gegen das liberale Strafrecht
latent vorhanden und wurden von den „jüngeren Kriminalisten" klar
herausgestellt, nachdem das Schicksal der liberalen Demokratie besie-
gelt w a r 2 9 1 .
Gerade i n der Gegenüberstellung m i t dem Konservativismus obrig-
keitsstaatlicher Prägung schälen sich die Eigentümlichkeiten der jungen
antiliberalen Strafrechtswissenschaft heraus; i m übrigen erweist sich
an diesem Gegensatz, daß unter einem autoritären Staat und damit
auch unter einem autoritären Strafrecht etwas durchaus Verschiedenes
verstanden werden kann, wenn „autoritär" zunächst nur die Betonung
der staatlichen Suprematie bedeutet 292 .
A m klarsten hat diesen Unterschied Dahm i n seiner Abhandlung
„Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht" herausgestellt.
Der faschistische Staat Italiens erscheint dort als der Prototyp des
autoritären Obrigkeitsstaates. Der faschistische Staat knüpfe an die
Nation an, „eine geistige und geschichtliche Einheit, geschaffen durch
den Willen und durch geschichtliche Taten" 2 9 3 . Nach faschistischer Auf-
fassung sei „das Sein der Nation nur i m Staate und durch den Staat
denkbar" 2 9 4 . Die Würde der Nation spiegele sich i n der „unbegrenzten

290 v g l . s. 3; Dahm/ S chaff st ein verwandten dort das Begriffspaar „konser-


v a t i v - t o t a l i t ä r " . Es gibt aber keinen Anlaß zu zweifeln, daß damit der
Gegensatz zwischen den Theorien des „autoritären" u n d des „totalen"
Staates gemeint war, w i e i h n ζ. B. Ziegler unter Verwendung der gebräuch-
licheren A d j e k t i v e herausstellte (RuS H. 90). Vgl. dazu oben 3. Kap. I I . 4. Daß
der anfängliche autoritäre Stndpunkt von Dahm/Schaffstein noch undiffe-
renziert war, bestätigte Dahm i n DStR 1934, S. 249.
291 Drost, ArchRSozPh Bd. 27, S. 116 A n m . 2, übersah diese E n t w i c k l u n g
noch nicht u n d glaubte daher, einen Gegensatz zwischen Dahm u n d Schaff-
stein feststellen zu können, indem er die unter A n m . 286 belegte Äußerung
Schaffstevns m i t einem Z i t a t v o n Dahm konfrontierte, daß „der Staatszwang,
die äußere A u t o r i t ä t als solche k e i n oberster W e r t " sei (MSchrKrimPsych
1933, S. 177 A n m . 2).
292 v g l . Gallas, ZStW 53, S. 22; Gallas hielt daher Dahm u n d Schaff stein
zu Recht vor, daß die A l t e r n a t i v e „Liberales oder autoritäres Strafrecht"
nicht eindeutig sei.
293 s . 7 .
294 S.9.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 137

Autorität des Staates" 295 . Die Autorität des Staates komme i n der
unbedingten Herrschaft des Gesetzes zum Ausdruck.
Für die Diskussion u m das autoritäre Strafrecht in Deutschland zog
Dahm den Vergleich: „Binding und die klassische Schule sind gerade i m
faschistischen Strafrecht lebendig 2 9 6 ."
Die Trennung von Volk und Staat, wie sie i m faschistischen Staat und
i n jedem anderen Staat aufzufinden sei, der der staatlichen Autorität
unmittelbar den höchsten Wert zuerkenne und so die Staatssouveränität
der Volkssouveränität entgegensetze, lehnten die jungen antiliberalen
Strafrechtswissenschaftler ab. Nicht der Staat, verstanden als ein eigen-
ständiges Gebilde, sondern das Volk nahm i n ihrem System die be-
herrschende Stellung ein. Der Staat stelle lediglich einen „Teil des
Volkes als seine Gestalt und Lebensform" 2 9 7 dar; er werde „von der
Urkraft des völkischen Seins mit erfaßt und so i n den Strom des völki-
schen Lebens als ,die Kraft, die den Staat erzeugt, bewegt und trägt'
hineingezogen " 2 9 8 .
Die Zugehörigkeit zum Volke ergebe sich nach rassischen Gesichts-
punkten: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse
und des Blutes und eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 299 ."
Unter Abwendung vom alten Obrigkeitsstaat hoben die jüngeren
Vertreter des Antiliberalismus die Bedeutung des „Sozialen" hervor 3 0 0 .
Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dieser Frage bedeutete jedoch nicht,
daß sie zur Lösung der m i t diesem Schlagwort angesprochenen Probleme
einschneidende Veränderungen i n den äußeren Bedingungen mensch-
lichen Zusammenlebens für notwendig hielten. Eine Auflösung der
sozialen Gegensätze erwarteten sie von der Abkehr vom individualisti-
schen Denken und der Hinwendung zum Gemeinschaftsdenken. Die
Idee der Volksgemeinschaft sollte i n einem rein geistigen Prozeß der
Neuorientierung Wirklichkeit werden, der i n der Besinnung auf das
Wesen des deutschen Menschen, auf den „realen 3 0 1 deutschen Menschen-

s. 15.
296 s. 15. Dieselbe Verbindung hatte bereits 1928 v. Heutig hergestellt
(MSchrKrimPsych 1928, S. 1).
297 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 7; vgl.
auch Schaff stein, DStR 1934, S. 280; E.Wolf, RuS H. 103, S. 33.
298 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9; i m
letzten T e i l des Satzes hatte Dahm ein Zitat von Huber, ZStaatW 95, S. 35,
eingefügt.
299 Ebd., S. 7.
300 So E. Wolf, RuS H. 103, S. 30 u n d 32.
301
Vgl. zur Widersprüchlichkeit dieser „realitätsbezogenen" Denkweise
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft, hinter der sich ein bestimmter
politischer Gestaltungswille verbarg, oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 3.
138 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

typus" 3 0 2 des gemeinschaftsverbundenen Menschen bestehen sollte. Der


Gemeinschaftsgedanke sei i m Volk auf Grund seiner rassischen Ein-
heit verwurzelt 3 0 3 .
Der Entschärfung der sozialen Problematik diente neben ihrer Ver-
geistigung die Idee des Ständestaates 304 : Die Probleme unterschiedlicher
ökonomischer Bedingungen und daraus resultierender sozialer Un-
gerechtigkeiten lösten sich i m Modell eines ständisch strukturierten
völkischen Staates auf. Der Forderung nach Beseitigung ökonomischer
Ungleichheiten fehlte der Boden in einem Staat, i n dem die „reale Viel-
falt . . . ständisch gestufter Glieder" 3 0 5 ein natürliches Ordnungsprinzip
bildete 3 0 6 . Die Idee des Klassenkampfes wurde daher, und weil ein
entschiedener Gegensatz zum Gemeinschaftsdenken bestand, scharf
bekämpft 3 0 7 .
Die Definition des Staates als „Ganzheit der völkischen Lebens-
ordnung" 3 0 8 meinte eine vollständige gegenseitige Durchdringung von
Staat und Volk. Zu prüfen bleibt, ob in der Staatstheorie der „jüngeren
Kriminalisten" damit nicht der Ubergang zum „totalen Staat" vollzogen
worden war.
Tatsächlich trat i n Schriften dieser Gruppe nach 1933 der Terminus
„autoritär" hinter dem Ausdruck „total" zurück. Auch inhaltlich ließen
einige Formulierungen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: „ I m
totalen Staat erscheint nicht nur der Beamte, sondern letztlich jeder
irgendwie als Treuhänder und ,Amtsträger 4 der Volksgesamtheit" 3 0 9 ;
oder: „Der Staat darf verlangen, daß jeder Volksgenosse ihn um seiner
Idee w i l l e n innerlich auch da anerkennt, wo er i h m i m einzelnen die
Gefolgschaft versagen zu müssen glaubt 3 1 0 ."
Damit scheint die Definition gedeckt, die Ziegler, der die Kontroverse
zwischen der autoritären und totalen Staatsauffassung ausführlich ab-
handelte 3 1 1 , vom totalen Staat gab: „ A n Stelle des Gegensatzes oder
eines Nebeneinander von ,Staat' und ,Gesellschaft' träte deren Gleich-
setzung und diese Gleichsetzung führte notwendigerweise zu einer

302 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.


303 v g l . oben A n m . 299.
304 vgl. oben 3. Kap. I I . 2. b).
305 E. Wolf, RuS H. 103, S. 33.
306 Specht, Der Strafzweck, S. 27: „ I n der Standwerdung des Arbeiters
lag die E r f ü l l u n g seiner Sehnsucht."
307 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 48.
308 Schaff stein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 15.
309 Schaff stein, ZStW 53, S. 621.
310 E. Wolf, ZStW 54, S. 548 f.
311 Autoritärer u n d totaler Staat, RuS H. 90, 1932.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 139

immer weitergehenden, prinzipiell eigentlich unbeschränkbaren Kompe-


tenz- und Machtausweitung des Staates, die gleichzeitig eine totale
Politisierung aller sozialen Lebensbereiche und -bezüge bedeutet. Für
den totalen Staat gibt es keine Grenze seiner Herrschaftszuständigkeit
wie seiner Herrschaftsmacht 312 ."
I n einigen Punkten bedarf dieses B i l d des totalen Staates, angewandt
auf die Staatsvorstellung der „jüngeren Kriminalisten", jedoch einer
Korrektur:
Verfehlt wäre es, den totalen Staat als eine vollständige „Etatisie-
rung" und Bürokratisierung des staatlichen Lebens zu interpretieren 3 1 3 .
So wollten die „jüngeren Kriminalisten" ihren Staat nicht verstanden
wissen. Dahm wandte sich i n diesem Sinne gegen eine „Allgewalt und
Totalität des Staates" 314 . Auch die Verfechter des totalen Staates in der
Staatsrechtswissenschaft dachten nicht so sehr an eine bürokratische
Totalisierung: „Nicht daß der Staat bis i n die kleinsten Zellen des
Volkslebens hinein Gesetze und Befehle ergehen läßt, ist wesentlich,
sondern, daß er auch hier eine Verantwortung geltend machen kann,
daß er den einzelnen zur Rechenschaft ziehen kann, der sein persönliches
Geschick nicht dem der Nation völlig unterordnet. Dieser Anspruch des
Staates, der ein totaler ist und an jeden Volksgenossen gestellt ist, macht
das neue Wesen des Staates aus 3 1 5 ."
Eine solche „totale Inpflichtnahme" 3 1 5 entsprach der Ansicht der
jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, daß der individuelle,
gegen den Staat gerichtete Freiheitsanspruch zu beseitigen sei und der
einzelne einer totalen Verantwortlichkeit vor Volk und Staat zu unter-
werfen sei.
Der totale Staat ist gegenüber dem autoritären Staat kein aliud,
sondern ein plus. Das wurde i n der anfänglichen, rein theoretischen
Diskussion nicht recht deutlich. Nach Ziegler erstrebt der totale Staat
vor allem „die quantitative Ausdehnung der Herrschaftsbefugnis", nicht
so sehr eine Stärkung seiner Autorität 3 1 6 . Eine solche Sonderung von
quantitativer und qualitativer Machtsteigerung ist jedoch nur theo-
retisch möglich; i n der Praxis fußt eine laterale Ausdehnung der
Macht stets auf einer Veränderung der Qualität der Macht i m
Zentrum oder hat diese zur Folge. Spätere, am nationalsozialistischen
Staat orientierte Abhandlungen über den totalen Staat bestätigten dies.

312 Ebd., S. 6.
313 So Nagler, GS 103, S. X X A n m . 39.
314 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9 f.
315 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42.
316 RuS H. 90, S. 7.
140 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Sie strichen das autoritäre Element als einen Wesenszug des totalen
Staates heraus und machten gleichzeitig die Grenzen des Gemein-
schaftsdenkens erkennbar: „Voraussetzung des autoritären totalen Staa-
tes ist die Aufrichtung und praktische Durchführung der Unterscheidung
zwischen Regierenden und Regierten, und zwar eine Unterscheidung,
die nicht nur eine äußerliche ist, sondern auf ein wirkliches Anderssein
zurückgeht. . . . Damit w i r d eine nach eigenen Gesetzen lebende, beson-
deren geschichtlichen Verantwortlichkeiten unterworfene Schicht aus
dem Volke herausgehoben, ohne vom Volk getrennt zu werden 3 1 7 ."
Bei den „jüngeren Kriminalisten" trat der autoritäre Charakter des
totalen Staates nicht immer so deutlich hervor. Sie rückten stärker die
Volksgemeinschaft als höchsten Wert i n den Vordergrund. Den Gedan-
ken der Führung suchten sie aus dem Gemeinschafts denken abzuleiten.
Auf Grund einer inneren Bindung bringe die Volksgemeinschaft dem
Führer Gehorsam und Treue entgegen 318 .
Zahlreiche Forderungen, die eine Ausdehnung und Verschärfung von
Strafbestimmungen betrafen 3 1 9 , lassen aber auch erkennen, daß man
eine autoritäre Durchsetzung und Sicherung des totalen Staates für
erforderlich hielt. Treffend kennzeichnete Schaffstein die Staatsauf-
fassung der jungen antiliberalen Richtung, indem er die beiden A t t r i -
bute „autoritär" und „total" nebeneinander verwandte 3 2 0 .
Die straftheoretischen Äußerungen der „jüngeren Kriminalisten" wei-
sen dieselbe Entwicklung auf, wie sie schon bei der Erörterung ihres
Staatsbegriffs festzustellen war: I h r Bekenntnis zu einem autoritären
Strafrecht erweckte zunächst den Eindruck, als bestünde eine Über-
einstimmung mit den Neuklassikern und Α. E. Günther. Dem Typus
eines autoritären Staates, wie er bei diesen aufzufinden war, entsprach
die Auffassung Dahms und Schaff steins : „ I n der Strafe offenbart sich
symbolisch die Würde des Staates 321 ." Wichtiger, als das Verbrechen mit
rein rationalen M i t t e l n zu bekämpfen, sei es, die „Fernwirkungen der
Strafe, ihren Eindruck auf die Gesamtheit der Bürger, ihre Bedeutung
für das Ansehen des Staates zu beachten" 321 . Auch dort, wo auf den
einzelnen eingewirkt werde, müsse der Staat bestrebt sein, „nicht nur
i n dem unmittelbar Erzogenen, sondern i n der Gesamtheit ein Höchst-
maß von Staatsgesinnung zu erzielen, seine Autorität soweit als möglich
zu steigern" 3 2 1 . Indem sie der Strafe die Ausgabe zuordneten, für die
317 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33; vgl. auch Thalheimer, Der F ü h r e r -
gedanke, S. 6: „ F ü h r u n g u n d V o l k stehen sich gegenüber w i e der Kompagnie-
chef seiner Kompagnie."
318 vgl. Dahm, D J Z 1934, Sp. 826 u n d oben 3. Kap. I I . 3. a).
319 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 3.
320 ZStW 53, S. 622.
321 Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 41.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 141

„Erhaltung und Bewährung der Staatsgewalt schlechthin" 322 zu sorgen,


bewegten sich Dahm und Schaffstein i n den Gedankenbahnen der Neu-
klassiker und Α. E. Günthers 3 2 3 .
Der Prozeß der Abklärung und Differenzierung innerhalb des konser-
vativen Lagers führte aber auch i n straftheoretischen Fragen zu einer
klaren Abgrenzung der jüngeren antiliberalen Strafrechtswissenschaft-
ler von den Vertretern eines rein autoritären, obrigkeitsstaatlichen
Strafrechts. Der entscheidende Gegensatz bildete sich hier wie schon
i n der Staatstheorie am Begriff der Volksgemeinschaft heraus. Wie die
„jüngeren Kriminalisten" ihr Staatsleitbild am Gemeinschaftsgedanken
orientierten, so räumten sie ihm auch Priorität i n ihren straftheo-
retischen Überlegungen ein 3 2 4 .
Bereits i n ihren Bemühungen um eine begriffliche Erfassung des
Täters, die ganz unter dem Einfluß der personalen, normativen Täter-
lehre E. Wolfs 3 2 5 standen, trat der Unterschied deutlich hervor: Schaff-
stein nannte als Ziel, „den Täter nicht als isoliertes, natürliches ,Indivi-
duum 4 , wie ihn die Lisztschule sah, sondern als Glied der Volksgemein-
schaft (als ,Person') zum Gegenstand strafrechtlicher Wertungen zu
machen" 326 . Da eine echte Gemeinschaft i m Gegensatz zur bloßen Ge-
sellschaft nach Auffassung der Antiliberalen auf einer inneren Bindung
ihrer Glieder, auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl und einem Ver-
hältnis von Treue und Ehre beruht, sollte der sichtbar gewordene Man-
gel einer Gemeinschaftsgesinnung den Anknüpfungspunkt für straf-
rechtliche Sanktionen bilden. Das nationalsozialistische Strafrecht müsse
daher notwendigerweise Gesinnungsstrafrecht sein 3 2 7 .
Das Straf urteil enthalte „ein sittliches Werturteil über die Gesinnung
des Täters als Volksgenossen" 328 . Es solle zugleich feststellen, wie sich
nach der Tat das Verhältnis des Täters zur Gemeinschaft gestalte,
nämlich „ob der Täter noch zur Gemeinschaft gehört oder nicht" 3 2 9 .

322 Ebd., S. 40.


323 Daher erfolgte teilweise i m zeitgenössischen Schrifttum eine Gleich-
setzung: H.Marx, Die Justiz 1932/33, S. 239, vertrat die Ansicht: „Die jüngste
Generation von Strafrechtlern übernimmt wieder das Programm jener
überwunden geglaubten, bereits zu den M u m i e n gestellten Klassiker"; vgl.
auch Frick, Der Besserungsgedanke, S. 64; Specht, Der Strafzweck, S. 31,
rechnete Α. E. Günther u n d Dahm/ S chaff stein zu einer Richtung.
324 Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18.
325 v g l . oben 4. Kap. I. 2. b).
326 DStR 1934, S. 273.
327 Vgl. Schaff stein, DStR 1934, S. 280; Dahm, Nationalsozialistisches u n d
faschistisches Strafrecht, S. 18.
328 Schaff stein, DStR 1934, S.280; so auch Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S.36f.
329 Dahm, D J Z 1934, Sp. 826.
142 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Dem Urteil kommt nach Ansicht der „jüngeren Kriminalisten" nur


delatorische Bedeutung zu; der Täter habe die Verbindung zur Ge-
meinschaft bereits durch die Tat abgebrochen und damit seine Ehre,
die sein Verhältnis zur Gemeinschaft kennzeichne, aufs Spiel gesetzt.
„Nicht die Strafe, sondern das Verbrechen vernichtet oder mindert die
Ehre. Die Strafe macht nur kund, was unabhängig vom Ausspruch des
Richters geschehen ist 3 3 0 ." Der tiefere Grund der Strafe liege i n einem
„Mißtrauensvotum seitens der Rechtsgemeinschaft" 331 , das darüber ent-
scheide, inwieweit der Täter einen Ehrverlust und damit zugleich eine
Minderung seiner Rechtsstellung innerhalb der Gemeinschaft erlitten
habe. Die Strafe erhalte so die Funktion einer „wertbetonten Typen-
sonderung" 332 . Das Maß der Ehrminderung richte sich nach dem Grad
des Gesinnungs ver falls.
Die Hauptaufgabe der Strafe liegt nach Ansicht der „jüngeren
Kriminalisten" jedoch nicht i n der Ausrichtung auf den einzelnen Täter,
sondern in der Wirkung auf die Gemeinschaft. Die Strafe diene deren
„Reinigung und Wiederherstellung" 3 3 3 . Diese „Fernwirkungen" 3 3 4 resul-
tierten aus den „Integrationseffekten des Strafrechts" 3 3 5 und der „De-
monstrationskraft der Strafdrohung wie der Strafvollstreckung" 3 3 5 .
Erst i n zweiter Linie ziele die Strafe auf den einzelnen Verbrecher ab;
sie bewirke als ein echtes Übel seine „Entsühnung" und ermögliche so
eine spätere Wiedereingliederung in die Gemeinschaft 336 .
Die inhaltliche Ausgestaltung der Strafe leitete die Gruppe um Dahm
und Schaff stein ganz aus ihrer Auffassung vom Wesen der Strafe ab:
Sie müsse den Abstand des Rechtsbrechers von der Gemeinschaft, die
Verminderung seiner Geltung i n der Gemeinschaft wiedergeben. Dahm
folgerte, daß „jede wirkliche Strafe Ehrenstrafe" 3 3 7 sei. Der Begriff der
Ehrenstrafe beherrschte das gesamte Strafensystem der jungen A n t i -
liberalen, die glaubten, daß er dem Geist der neuen Zeit entspreche, so
wie die Freiheitsstrafe den Geist der Aufklärung und des bürgerlichen
Liberalismus und die Geldstrafe den materialistischen Geist der Nach-

330 Ebd., u n d Schaff stein, DStR 1934, S. 282; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft
und Strafrecht, S. 9.
331 E. Wolf, RuS H. 87, S. 33; auch Dahm, D J Z 1934, Sp. 828.
332 Dahm, D J Z 1934, Sp. 831 u n d E. Wolf, ZStW 54, S. 561, griffen hier
eine Formulierung von A. Rosenberg auf; vgl. Der Mythos des 20. J a h r h u n -
derts, S.580.
333 Schaff stein, ZStW 55, S. 286.
334 Dahm, D J Z 1934, Sp. 827.
335 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175; vgl. auch Nationalsozialistisches
u n d faschistisches Strafrecht, S. 17 sowie D J Z 1934, Sp. 827.
336 v g l . Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17;
Schaffstein, DStR 1934, S. 282.
337 D J Z 1934, Sp. 827.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 143

kriegsepoche verkörpert habe 3 3 8 . Zwar solle die Freiheitsstrafe nicht


beseitigt werden, doch habe sie sich ganz dem Primat der Ehrenstrafe
unterzuordnen 339 . Die Zuchthausstrafe müsse stets m i t dem Verlust der
Ehre verbunden sein. Das Ziel einer Resozialisierung müsse außer
Betracht bleiben. Dahm berief sich dabei auf die Volksanschauung:
„Das Zuchthaus ist für das Volk gerade kein ,strenges Gefängnis', son-
dern die schwerste Form der Entehrung 3 4 0 ." Die Gefängnisstrafe be-
deute dagegen nicht stets den völligen Verlust der Ehre, sie könne aber
den „Verlust bestimmter Rechte und Ehren nach Lage des Einzelfal-
les" 3 4 1 nach sich ziehen. Diesem Unterschied habe der Vollzug durch
deutliche Unterschiede i n der Härte, i n der Behandlung der Gefangenen
und i n ihrer Kenntlichmachung Rechnung zu tragen.
Darüber hinaus traten die „jüngeren Kriminalisten" für den Ausbau
„selbständiger Ehrenstrafen" ein, und griffen dabei gelegentlich auf
mittelalterliche Strafformen zurück 3 4 2 . Die härteste Strafe i n diesem
Bereich sollte die Ächtung 3 4 3 sein, die zum vollständigen Ausschluß aus
der Volksgemeinschaft führen sollte. Nach Dahm fordert der Gedanke
der Ächtung, daß der Verbrecher aufhört, „ein ,Rechtssubjekt' zu sein.
Er darf auch nicht mehr i m bürgerlichen' Rechtsverkehr auftreten, und
es erscheint unvermeidlich, daß auch seine familienrechtlichen Beziehun-
gen erlöschen" 344 . Mildere Formen der Ehrenstrafe stellten die öffent-
liche Verkündung des Urteils und der Verlust einzelner Ehrenrechte,
wie ζ. B. „Aberkennung der Bauernfähigkeit und anderer ständischer
Würden, Verbot der Teilnahme an festlichen Kundgebungen der Volks-
gemeinschaft" 345 dar.

338 Dahm, D J Z 1934, Sp. 827. u n d Gemeinschaft u n d Straf recht, S. 8;


Schaff stein, DStR 1934, S. 282.
339 Z u r Verbindung der Freiheitsstrafe m i t der Ehrenstrafe: Dahm, D J Z
1934, Sp. 831 f. u n d DR 1934, S.419; Schaffstein, DStR 1934, S.282; E.Wolf,
ZStW 54, S. 549.
340 Dahm, D J Z 1934, Sp.832; ähnlich Schaff stein, DStR 1934, S.282.
341 Dahm, DJZ 1934, Sp. 831 f.
342 v g l . ebd., Sp.832; Schaff stein, DStR 1934, S.281f.; E.Wolf, ZStW 54,
S. 561 ff. Sie warnten jedoch vor einer unbedachten Übernahme mittelalter-
licher Strafen, etwa Pranger u n d Prügel, wie sie i n der Reformdiskussion
teilweise verlangt wurde (Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 140;
Denkschrift der A k D R , S. 113 f.), da diese nicht mehr der gesunden Volks-
anschauung u n d modernem kriminalpolitischen Denken entsprächen.
343 Später nahm Dahm i n ZStaatW 95 (1935), S. 286, die Ächtung aus dem
allgemeinen Strafensystem heraus u n d verknüpfte sie allein m i t den t y p i -
schen Verratsdelikten wie Hoch- u n d Landesverrat, durch die der Täter zum
Ausdruck bringe, daß er „außerhalb der Ordnung steht". Gleichwohl blieb
der Gedanke der Ächtung i n abgeschwächter Form bei den übrigen Delikten
durch das Prinzip der Ehrenstrafe erhalten.
344 Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 9.
345 E. Wolf, ZStW 54, S. 561; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht,
144 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

A n der Todesstrafe hielten die jungen antiliberalen Strafrechtler


„aus dem Grundsatz autoritärer Notwendigkeit" 3 4 6 fest und befür-
worteten eine „Erweiterung ihres Anwendungsgebietes" 346 .
Für spezialpräventive Maßnahmen traten sie nur bedingt ein. Daß
sie ihnen aber überhaupt als strafrechtliche Sanktionen Bedeutung bei-
maßen, unterschied sie bereits von den Neuklassikern und Α. E. Günther.
Zur Voraussetzung machten sie, daß die Maßnahmen den Gemein-
schaftsinteressen angepaßt würden. Daher gebühre dem Gedanken der
Sicherung der Vorrang vor dem Erziehungsgedanken 347 . Die Sicherungs-
verwahrung der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sei ohne weiteren
Verzug in die Tat umzusetzen 348 . Auch der Gedanke der Tötung „geistes-
kranker Verbrecher, die todeswürdige Verbrechen begehen" 349 , wurde
propagiert.
Diese Maßnahmen waren jedoch nicht als eine Übernahme der
Spezialprävention i m bisherigen Sinne gedacht. Sie bedeuteten nicht
„Sicherung der Gesellschaft gegen Sozialgefährliche, sondern Aus-
stoßung des Volksfeindes, vorübergehende Fernhaltung von der Ge-
meinschaft oder doch ein ,Mißtrauensvotum' der Gemeinschaft" 350 . Auch
i n diesem Bereich habe die normative Betrachtung Gültigkeit; sie
komme in einer „wertbetonten Auslese und ,Typensonderung'" zum
Ausdruck 3 5 0 .
Wie man auf diesem Wege den Zwiespalt zwischen Strafen und
Maßnahmen überwinden könnte, deutete Dahm i n einer „theoretischen
Perspektive" 3 5 1 an: „Während früher starke Neigung bestand, das
Strafensystem in ein System bessernder und sichernder Maßnahmen
aufzulösen, könnte einmal das Umgekehrte eintreten und die Reaktion
gegen Untauglichkeit und Volksschädlichkeit schlechthin i n den k r i m i -
nellen Bereich hineinfallen." Das Ergebnis wäre eine „neue, wertbetonte
Einspurigkeit".

S. 10; Dahm wünschte eine „Bereicherung unseres armseligen Strafensystems"


(DStR 1934, S. 94).
346 E.Wolf, ZStW 54, S. 547; vgl. auch Dahm/ S chaff st ein, Liberales oder
autoritäres Strafrecht?, S. 49.
347 v g l . Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 45;
E.Wolf, Rus H. 103, S.42; Schaff stein, ZStW 55, S. 287.
348 Dise Forderung erübrigte sich nach dem 24.11.1933, an dem das Gesetz
gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher u n d über Maßregeln der Siche-
rung und Besserung (RGBl I, S. 995) i n K r a f t trat.
349 Dahm, D J Z 1934, Sp. 829, griff hier einen Gedanken aus Kerrl, Natio-
nalsozialistisches Strafrecht (S. 136) auf.
350 Dahm, D J Z 1934, Sp. 828; vgl. auch ders., DStR 1934, S. 96 sowie E. Wolf,
RuS H. 87, S. 33.
351 DJZ 1934, Sp. 829; i m folgenden schwächte er jedoch seine Erwägung
ab: Dies sei ein Weg, „der schließlich Rechtsdenken u n d Volksanschauung
voneinander entfernen müßte".
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 145

Dem Erziehungsgedanken waren i m System der „jüngeren K r i m i -


nalisten" einmal schon dadurch Grenzen gezogen, daß die Strafe zur
Hauptsache der Aufgabe nachkommen sollte, das „entmindernde oder
entehrende Unwerturteil der Gemeinschaft zum sichtbaren Ausdruck
zu bringen" 3 5 2 ; eine weitere Einschränkung erfuhr er durch die Auf-
fassung, daß nur derjenige Täter eine Erziehung verdiene, dessen „erb-
biologische Veranlagung für Volkstum und Rasse" erkennen lasse, daß
seine Wiedereingliederung von Wert für die Gemeinschaft sein werde 3 5 3 .
I m Gegensatz zum individualistischen Grundsatz allgemeiner Bes-
serungsfähigkeit seien die Erziehungsbemühungen auf einen begrenzten
Kreis vor allem jugendlicher und erstmalig bestrafter Deliquenten zu
konzentrieren 354 .
Auch dürfe die Ausgestaltung des Erziehungsstrafvollzuges die son-
stigen Wirkungen der Strafe nicht beeinträchtigen. Für Vergünstigungen
und Milderungen des Strafzwanges bestünden daher nur beschränkte
Möglichkeiten. Die Verfechter eines autoritären Strafrechts maßen
militärischer Straffheit und Disziplin „außerordentliche pädagogische
Bedeutung" bei 3 5 5 .
Nach ihrer Ansicht war bisher verabsäumt worden, dem Erziehungs-
strafvollzug eindeutige und feste Ziele voranzustellen. I m Gefangenen
müsse eine „staatsbewußte, soziale Einstellung" 3 5 6 hervorgerufen wer-
den; „erzogen werden soll der Gefangene nicht zum formal rechtstreuen
Staatsbürger, sondern zum bewußt und freudig mitschaffenden Glied
der Volksgemeinschaft" 357 .
Diese Forderung beinhaltete den Totalitätsanspruch eines Staates,
der von seinen Bürgern über ein äußerlich gesetzmäßiges Verhalten
hinaus eine opferbereite, staatstreue Gesinnung verlangt. Sie stand i n
deutlichem Gegensatz zu den Vorstellungen der Neuklassiker und Α. E.
Günthers, die eine Einflußnahme auf die Gesinnung des einzelnen ab-
lehnten und sich m i t seinem äußerlichen Wohlverhalten begnügten.
Mit ihrem Strafbegriff versuchten die „jüngeren Kriminalisten"
einen Standpunkt außerhalb und oberhalb des Schulenstreites zu ge-
winnen. Sie erstreben eine „Ethisierung des Rechts", wandten sich
jedoch gegen eine „moralisierende Bewertung der T a t " 3 5 8 ; sie vollzogen

352 Schaff stein, ZStW 55, S. 286.


353
Ebd., S. 287; Anklänge dieses Gedankens bei Dahm/Schaff stein, Libe-
rales oder autoritäres Straf recht?, S. 45.
354 S chaff stein, ZStW 55, S. 288.
355 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 49.
356 E. Wolf, RuS H. 103, S. 42.
357 Ders., ZStW 54, S. 546.
358 Dahm, DJZ 1934, Sp. 828.

10 Marxen
146 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

die Wendung zum Täterstrafrecht, das bedeutete jedoch „kein Bekennt-


nis zur Spezialprävention" 358 . Den gesunden Kern beider Richtungen
glaubten sie i n ihrer normativen Täterbetrachtung vom Standpunkt der
Gemeinschaft aus enthalten 3 5 9 . Nicht die mit der Einzeltat verknüpfte
Schuld und nicht die Sozialgefährlichkeit des Täters, sondern seine
sittliche Verantwortlichkeit für sein gemeinschaftswidriges Verhalten
bilde den Grund der Strafe 3 6 0 .
M i t Hilfe neuer Wendungen wie „Integrationseffekt des Strafrechts" 3 6 1
oder „Sozialprävention" 3 6 2 versuchten sie, den Abstand zu den über-
kommenen Straftheorien, zur „individualistischen Spezialprävention" 3 6 3
und zur „liberalistischen Generalprävention" 3 6 3 zu demonstrieren.
Die praktische Bedeutung ihres Gemeinschaftsstrafrechts trat nicht
deutlich hervor. Die nationalsozialistische Strafrechtspraxis kann nicht
zur Beurteilung herangezogen werden; denn sie entwickelte sich nicht
nach einem wissenschaftlichen Programm, sondern war, wie jede Straf-
rechtspraxis, das Produkt vielfältiger Faktoren. Zudem läßt sich nicht
der Beweis führen, daß eine solche Entwicklung von den Verfechtern des
autoritären Strafrechts vorhergesehen oder gar geplant worden war.
Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß der Denkansatz der „jünge-
ren Kriminalisten" den Keim zu einer solchen Entwicklung i n sich barg.
Zur Verdeutlichung sei auf die doppelte Funktion hingewiesen, die das
Gemeinschaftsdenken i n ihrem System erfüllte: Einmal diente die
Berufung auf die Volksanschauung zur Begründung strafrechtlicher
Postulate, so z. B. bei der Interpretation der Strafe als Ehrenstrafe 364
oder bei dem Festhalten an der Todesstrafe 365 . Entsprechend den Prin-
zipien völkischen Denkens wurde hier die Volksanschauung als Quelle
des Rechts herangezogen und somit die rechtsphilosophische Auffassung
i n das Strafrecht umgesetzt, daß das Recht „lebendiger Wille der Rechts-
gemeinschaft" 366 sei, i n dem der Gegensatz von Norm und Wirklichkeit,
von Sein und Sollen überwunden sei. Stärker zur Geltung kam aber die
andere Seite des Gemeinschaftsgedankens, seine Bedeutung als ein mit
den Mitteln des Strafrechts zu erreichendes Ziel. 3 6 7 .

359 v g l . zur Vereinigung u n d Überwindung der gegensätzlichen straf-


theoretischen Standpunkte: Schaff stein, ZStW 53, S. 611 u n d 615; E.Wolf,
Rus H. 103, S. 37 f. u n d Z S t W 54, S. 556.
360 Dahm, DStR 1934, S. 96 sprach von „Tätervergeltung".
361 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175.
362 E. Wolf, RuS H. 103, S. 41.
363 Ders., ZStW 54, S. 569.
364 vgl. Dahm, D J Z 1934, Sp. 827 u n d DR 1934, S. 419; Schaff stein, ZStW 55,
S. 286.
365 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 49.
366 Larenz, RuS H. 109, S. 26.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 147

Die Blickrichtung zeigt, daß die jungen antiliberalen Strafrechts-


wissenschaftler trotz anderslautender Beteuerungen einen bereits aus-
getretenen Pfad beschritten: I m Prinzip verfochten sie ein general-
präventives Strafrecht. Nur sprengte es den Rahmen der Generalprä-
vention, wie Feuerbach ihn abgesteckt hatte und wie er seither an-
erkannt worden war. Eine Äußerung Dahms macht das ganz deutlich:
„Der Staat kann nicht darauf verzichten, durch eine beweiskräftige
Reaktion auf das Verbrechen i n der Gesamtheit Staatsgesinnung und
Rechtsgefühl zu erzeugen, und somit eine Gesamtwirkung zu erzielen,
die über jede generalpräventive Wirkung weit hinausreicht 368 ." Dieses
Strafrecht zielte darauf ab, einmal bei dem einzelnen Staatsbürger eine
staatsergebene, opferbereite Gesinnung hervorzurufen und zum andern
die Gemeinschaft der Rechtstreuen enger zusammenzuführen. Das war
mit dem geforderten rigorosen Einsatz der Strafmittel, m i t der Aus-
stoßung des Verbrechers aus der Gemeinschaft oder seiner Ehrminde-
rung innerhalb dieser Gemeinschaft bezweckt 369 .

d) Nicolai

Die Reformvorstellungen Nicolais hatten alle Aussicht, beträchtlichen


Einfluß auf die Rechtspraxis zu gewinnen. Der Autor der „Rassengesetz-
lichen Rechtslehre" übte als Leiter der Innenpolitischen Abteilung der
Reichsleitung der NSDAP eine bedeutende Funktion innerhalb der
Partei aus. Von der Reichsleitung wurden unter maßgeblicher Beteili-
gung Nicolais in den Jahren 1931 und 1932 zahlreiche Pläne und Ge-
setzesvorhaben entworfen, die der späteren nationalsozialistischen Ge-
setzgebungspraxis als Grundlage dienten 3 7 0 . Dazu gehörte auch ein Vor-
schlag zur „Strafrechtsreform vom rassenhygienischen Standpunkte
aus" 3 7 1 , der zwar nicht i n dieser Form i n die Gesetzgebungspraxis um-
367 v g l . z.B. E.Wolf, RuS H. 103, S. 33; Schaff stein, DStR 1934, S.281;
ZStW 53, S. 609; ZStW 55, S. 287.
368 MSchrKrimPsych 1933, S. 175; vgl. auch Schaffstein, D J Z 1934, Sp. 1179:
Entscheidendes Gewicht sei auf die „ A u ß e n w i r k u n g der Strafe gegenüber
der Volksgemeinschaft" zu legen.
3
69 Das M i t t e l zur Integration der Gemeinschaft w a r die Betonung der
Andersartigkeit des Verbrechers u n d seine Ausstoßung aus der Gemeinschaft.
Damit paßte sich diese Straftheorie an die „Sündenbockphilosophie" des
Nationalsozialismus an. Vgl. dazu Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft,
S. 93 ff.; vgl. zur Rolle des „Sündenbocks" i m Strafrecht: Naegeli, Das Böse
und das Straf recht; Bauer, Das Verbrechen u n d die Gesellschaft, S. 8, 140;
Methler, ZRP 1971, S. 2; Mergen, Kriminologie, S. 70; Ostermeyer, Straf-
unrecht, S. 17 f.; ders., ZRP 1970, S. 241 ff.
370 vgl. Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung,
S. 411 ff.
371 Daran w a r neben Nicolai v o r allem von Heydebrink und der Lasa
beteiligt; vgl. Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergrei-
fung, S. 412.

10*
148 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

gesetzt und nicht einmal i n die öffentliche Diskussion eingebracht wurde;


das darin enthaltene rassistische Gedankengut hat aber doch i n der
Strafrechts- und Polizeipraxis des Dritten Reiches deutliche Spuren
hinterlassen. Der Einfluß Nicolais erhöhte sich noch durch seine Er-
nennung zum Leiter der innenpolitischen Abteilung i m Reichsinnen-
ministerium i m Oktober 1933. A u f Grund der bedeutenden Positionen,
die Nicolai innehatte, nahmen seine Reformvorstellungen, selbst wenn
ihnen die öffentliche Billigung der Partei fehlte, zumindest den Rang
halboffizieller Äußerungen ein.
Seine Vorschläge zur Erneuerung des Strafrechts leitete Nicolai aus
seiner vom völkischen Gedanken beherrschten Rechtslehre ab. Sie hatte
zum Ausgangspunkt, daß sich das Recht i n seiner wahren Bedeutung
allein dem Menschen von reiner nordischer Rasse erschließe. Der
nordischen Rasse sei die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch, gut und
böse zu unterscheiden und zu wissen, „wie man sich richtig verhalten
soll, damit der Frieden, die Ordnung i n der Gemeinschaft erhalten
bleibt" 3 7 2 , von den Ahnen blutsmäßig vererbt, „von dem Rechtsgotte
selbst überliefert" 3 7 3 .
Nach dieser deutschen Anschauung habe das Recht seinen Ursprung
i n einer „ewigen Rechtsidee" 374 und werde offenkundig „durch das
Rechtsgefühl des Volkes, dem dieses Recht angeboren erscheint" 375 .
Dieses Gefühl verwerfe jede Trennung von Recht und Sittlichkeit. Das
eigentlich deutsche Recht, das vor der Verfälschung durch die Rezep-
tion bereits einmal existiert habe, sei von der Bindung des einzelnen
an die Gemeinschaft der Rassegenossen beherrscht gewesen: „So wurde
das Recht von dem Gedanken der Sittlichkeit durchdrungen, i n deren
Mittelpunkt Treue und Ehre als Grundsteine deutscher Wesensart
standen 3 7 6 ."
I n dem System Nicolais fiel dem Staat die Aufgabe zu, das Rechts-
gefühl des Volkes für die praktischen Fragen des Zusammenlebens nutz-
bar zu machen, indem er es i n Gesetzen ausformuliert und das so ge-
setzt e Recht verwaltet 3 7 6 . Theoretisch war möglich, daß der Staat
gegen die Rechtsidee verstößt. Nicolai schwächte jedoch ab: Nur wenn
verneint werden müsse, „daß die Staatsgewalt, die diese Gesetzes erlas-
sen hat, aus ihrer ganzen Anschauung heraus rechtmäßig handeln
wollte", sei anzunehmen, daß tatsächlich ein Verstoß vorliege 3 7 7 . Das

372
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 13.
373 Ebd., S. 13; vgl. auch S. 14, 27.
374 Ebd., S. 25; vgl. auch S. 27 sowie Grundlagen, S. 12.
375 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 18; Grundlagen, S. 10.
376 v g l . Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 32.
377 Ebd., S. 38.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 149

korrigierende Element einer materiellen Rechtsidee wurde damit wieder


getilgt.
Die überragende Bedeutung des Rassegedankens auch i m Strafrecht
ergab sich für Nicolai aus seiner Auffassung, daß der Hang zur
Kriminalität auf vererbter Anlage beruhe. Er glaubte, den Nachweis
für unterschiedliche Grade der Kriminalität i n den verschiedenen Ras-
sen erbringen zu können 3 7 8 . Je nordischer die Bevölkerung sei, desto
weniger neige sie zu kriminellen Handlungen.
Die Frage nach der Willensfreiheit beantworte Nicolai m i t dem Satz:
„Die menschliche Veranlagung ist die Ursache des Handelns des Men-
schen 379 ." Er unterließ es jedoch, die letzte Konsequenz zu ziehen, näm-
lich die Abschaffung des Schuldstrafrechts zu fordern. Vielmehr ver-
suchte er, das ethische Pathos des Schuldgedankens i n das deterministi-
sche Rassen„straf"recht einzubauen: „Er (der Verbrecher, d. Verf.) ist
aber doch nicht schuldlos, sondern er ist Träger derjenigen Eigenschaften
die zu der Straftat geführt haben. Niemand kann i n die Seele eines
anderen hineinsehen — wer wollte entscheiden, was i n dieser wohl vor
sich ging, als die Straftat begangen wurde? Wohl aber kann man sagen,
daß eine bestimmte Straftat von einer Gesinnung, von einer Anlage
zeugt, die unsozial ist, die nicht rechtmäßig ist, die ihren Träger als
untauglich erscheinen läßt, i n der menschlichen Gesellschaft, i m Volke
als Volksgenosse zu leben 3 8 0 ."
M i t allen Konsequenzen kam die deterministische Grundeinstellung
Nicolais i n seinem rein zweckgerichteten Straf begriff zur Geltung: „Ziel
des Strafrechts . . . ist der Schutz des Volkes vor lebensfeindlichen,
rechtsschädigenden Entartungen, die sich i n einer ungesunden Ver-
anlagung offenbaren 381 ." Der Volks- und Rassenschutz sollte nach
seinen Vorstellungen vor allem durch spezialpräventive Maßnahmen
gewährleistet werden 3 8 2 , wobei wegen der Dominanz der Erbmasse für

378
Vgl. D R 1933, S. 4; Nicolai berief sich dort auf eine statistische Erhebung
der K r i m i n a l i t ä t aus den Jahren 1882 - 91, die nach den Ländern i m Deut-
schen Reich unterschied. Seine Folgerung zog er aus der geringeren Straf-
fälligkeit i n den nördlichen Ländern gegenüber den östlich u n d südlich
gelegenen, i n denen eine weitgehende Vermischung der nordischen Rasse
m i t der slawischen bzw. dinarischen stattgefunden habe.
379
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42.
380 Ebd., S. 42 f.
381
Ebd., S. 43; vgl. auch D R 1933, S. 4. F ü r ein solches „Schutzrecht" t r a t
auch v. Hey debrand und der Lasa, Mitarbeiter Nicolais i n der Reichsleitung
der NSDAP, i n Deutsche Rechtserneuerung, S. 160 f., ein.
382
Dem wurde E. Schmidt nicht gerecht, als er das nationalsozialistische
Strafrecht Nicolais als „terroristisches Abschreckungsstrafrecht" bezeichnete
(Mitt. I K V N.F. 6. Bd., S. 178). Auch vernachlässigte er bei der an derselben
Stelle vorgenommenen Gleichsetzung von A. E. Günther u n d Nicolai die
150 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Erziehung kein Raum bleiben sollte: „Wessen Veranlagung so ist, daß


er auf den Weg des ehrlosen Verbrechers geführt wird, muß aus dieser
Gemeinschaft entfernt werden, darf vor allem die überkommene Veran-
lagung nicht forterben, da andernfalls von den Nachkommen ähnliche
Rechtsbrüche erwartet werden müssen 383 ." I n den Fällen erwiesener
Ehrlosigkeit, „beispielsweise bei allen aus Habgier begangenen Ver-
gehen oder Gewohnheitsverbrechen", empfahl Nicolai die Todesstrafe,
lebenslängliche Sicherungsmaßnahmen oder die zwangsweise eugenische
Sterilisation 3 8 4 .
Von dieser Verbrechensgruppe wollte er die Delikte unterschieden
wissen, die nicht m i t ehrloser Gesinnung verbunden seien, wie ζ. B.
Fahrlässigkeitstaten oder Verstöße gegen Ordnungsvorschriften. Hier
sei es zum Schutz der Gesamtheit erforderlich aber auch ausreichend,
wenn eine Bestrafung zwecks Abschreckung erfolge, durch die deutlich
gemacht werde, daß die Nachteile der Strafe gegenüber den Vorteilen
aus der kriminellen Handlung überwiegen 3 8 5 .
Die strafrechtlichen Forderungen Nicolais eröffneten dem Staat die
Möglichkeit, seine Macht nahezu unbegrenzt auszuüben. Auch das Be-
kenntnis zum „Rechtsstaat" 386 änderte hieran nichts; denn es deckte
sich nicht mit dem herkömmlichen B i l d des Rechtsstaates. Nicolai for-
derte „den auf der lebensgesetzlichen 387 Rechtslehre aufgebauten Rechts-
staat" 3 8 8 , d. h. den von jeder Bindung gegenüber seinen Bürgern be-
freiten, nur dem Rassegedanken verpflichteten Staat.

5. Die politischen Standorte der antiliberalen Richtungen

Die ordnenden Gesichtspunkte für die Einteilung der verschiedenen


antiliberalen Richtungen waren i n der bisherigen Darstellung staats-
und straftheoretischer A r t . Es dürfte aber auch angeklungen sein, daß
Unterschiede i n den Ausgangspunkten. E r dürfte von dem Eindruck geleitet
worden sein, den die Forderung nach unbarmherzigem Gebrauch der Straf-
m i t t e l hervorrief, die Α. E. Günther u n d Nicolai gleichermaßen erhoben.
383
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43. Bei konsequenter Durch-
führung müßte der Rassegedanke zu Maßnahmen auch gegen die Familie des
Rechtsbrechers führen. Z w a r äußerte sich Nicolai dazu nicht eindeutig; die
furchtbaren rassenpolitischen Exzesse des Dritten Reiches klangen aber i n
seiner Drohung an: „ W i r haben auch andere M i t t e l (als strafrechtliche, d.
Verf.), u m die Fortpflanzung moralisch (!) nicht gesunder Menschen zu
verhindern" (DR 1933, S. 5).
384 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43; vgl. auch D R 1933, S . 4 f . ;
ähnlich v. Heydebrand und der Lasa, Deutsche Rechtserneuerung, S. 161 f.
385 v g l . die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43 f.; v. Heydebrand und der
Lasa, Deutsche Rechtserneuerung, S. 162 f.
see Ebd., S. 4.
387 Gleichbedeutend mit „rassengesetzlich"; vgl. ebd., S. 27.
«88 Ebd., S. 4.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 151

die Meinungsunterschiede auf Unterschiede i n den politischen Anschau-


ungen zurückgingen. War doch der Ausgangspunkt für die antiliberalen
Strafrechtler eine politische Grundsatzentscheidung, ein weltanschau-
liches Bekenntnis 3 8 9 , und bildete zur Hauptsache der Bereich der
Kriminalpolitik das Feld, auf dem die Auseinandersetzung m i t dem
gemeinsamen Gegner, dem Liberalismus, ausgetragen wurde. Auch die
Parallelität i m zeitlichen Ablauf m i t den politischen Ereignissen ist nicht
zu übersehen: Der kräftigste Stoß wurde gegen die „liberale" Straf-
rechtsreform geführt, als die Grundmauern der Weimarer Republik
zum Einsturz gebracht wurden.
Der Versuch, den politischen Standort der verschiedenen „autoritä-
ren" Richtungen zu bestimmen, w i r d die politischen Implikationen des
Strafrechts noch deutlicher hervortreten lassen, als es bisher geschehen
konnte. Es mag verwundern, daß dieser Versuch bereits jetzt unter-
nommen werden soll, bevor der zu untersuchende Zeitraum vollständig
abgeschritten ist. Für dieses Vorgehen sprechen folgende Gründe:
Bis zur Machtübernahme hatte der Nationalsozialismus sein end-
gültiges Gesicht noch nicht gefunden; auch vereinigte er zunächst noch
nicht soviel Macht auf sich, daß er das Gesetz des Handelns vollständig
an sich reißen konnte. Diese Situation verführte viele Politiker zu dem
Irrglauben, die nationalsozialistische Bewegung bändigen und für ihre
Zwecke einspannen zu können 3 9 0 . Auch i m Bereich der politischen
Theorie war die Ansicht verbreitet, man könne die diffuse Weltanschau-
ung des Nationalsozialismus i n eine bestimmte Richtung lenken 3 9 1 . So
konnten sich i m Kampf der rechtsgerichteten Kräfte gegen den Staat
von Weimar die Unterschiede i n den politischen Auffassungen noch v o l l
entfalten.
Spätestens nach 1934 war das Bekenntnis zum Nationalsozialismus
allgemein. Auch wenn es sich bisweilen nur um Lippenbekenntnisse
gehandelt haben mag, so bieten die vorhandenen Zeugnisse kaum noch
Anhaltspunkte für eine differenzierende Betrachtung.
Speziell für die Strafrechtswissenschaft gilt: Da sie nach der A n -
fangsphase des Dritten Reiches dazu überging, sich stärker dogmatischen
Problemen zu widmen, stand das politische Bekenntnis nicht mehr so
sehr i m Vordergrund, wenngleich es eine wesentliche Ausgangsbasis
blieb. I m übrigen fußten diese Arbeiten auf den i n der Reformdiskus-

389
So ganz deutlich Dahm/S chaff stein, Liberales oder autoritäres Straf-
recht?, S. 5.
39
0 Vgl. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 40 ff., 423 ff.,
669 ff., 728 f. jeweils m. H i n w .
391
Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller,
Zwischen Romantik u n d Faschismus, S. 138 ff.
152 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

sion vertretenen kriminalpolitischen Grundsätzen, so daß auch aus


diesem Grunde eine politische Einordnung der kriminalpolitischen Rich-
tungen anfangs der dreißiger Jahre angebracht erscheint.

a) Einordnungsversuche von dritter Seite

Von anderer Seite unternommene Versuche, die politischen Stand-


orte zu bestimmen, bieten ein verwirrendes Bild. Schon bei einem Autor
allein finden sich durchaus verschiedene Kennzeichnungen einer Rich-
tung: I n einer Besprechung der IKV-Sitzung bezeichnete Radbruch die
Anschauungen der „jüngeren Kriminalisten" als „jungkonservativ" 3 9 2 .
A n anderer Stelle stufte er Dahm und Schaffstein als „deutsch-
national" 3 9 3 ein und nannte sie schließlich „Gesinnungverwandte" des
Nationalsozialismus 394 , obwohl Dahm und Schaffstein energischen
Widerspruch gegen jede parteimäßige Etikettierung eingelegt hatten 3 9 5 .
I m Gegensatz zur Bezeichnung „jungkonservativ" stand die Behaup-
tung von H. Marx, daß das autoritäre Strafrecht Dahms und Schaff-
steins lediglich eine „Wiederkehr des Gleichen" 3 9 6 , eine Rückkehr zu
bürgerlichen Denkschemata bedeute, und Grünhut wiederum hob die
Unabhängigkeit der kriminalpolitischen Forderungen der „jüngeren
Kriminalisten" vom Nationalsozialismus hervor 3 9 7 .
Auch bei der Beurteilung anderer Autoren stellten sich i m damaligen
Schrifttum Widersprüche und Fehleinschätzungen ein. So rechneten
E. Schmidt und Schwinge die Veröffentlichungen A. E. Günthers zur
nationalsozialistischen Literatur 3 9 8 . Zwar hatte der Autor einen Sammel-
band unter dem Titel „Was w i r vom Nationalsozialismus erwarten"
herausgegeben und i n seinem Vorwort die großen Hoffnungen zum
Ausdruck gebracht, die er auf den Nationalsozialismus setzte. Die Kon-
zeption des Buches und Äußerungen Günthers lassen aber deutlich
erkennen, daß hier zur Hauptsache Außenstehende den National-
sozialismus beurteilten und Wünsche an ihn herantrugen 3 9 9 . Daß A. E.
Günther nicht m i t der nationalsozialistischen Bewegung konform ging,

S92 Die Justiz 1932/33, S. 59.


303 Die Gesellschaft 1933, S. 224.
394 Ebd., S. 227.
395 v g l . Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4.
396 Die Justiz 1932/33, S. 239.
397 z t S W 52, S. 774.
398 v g l . E.Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 177 f.; Schwinge, 49. Jb. der
Gef.ges. für Sachsen und Anhalt, S. 24.
399 i m V o r w o r t heißt es auf S. 9: „Die Mitarbeiter sind nicht gefragt worden,
ob sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehören; es
dürfte f ü r wenig zutreffen." Vgl. auch Sontheimer, Antidemokratisches
Denken, S. 375 und oben 4. Kap. I. 3. A n m . 35.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 153

erwies sich nach 1933, als die Nationalsozialisten ihm und seinem M i t -
arbeiter Stapel die Verlage und Zeitschriften entzogen und sie damit
jeder politischen Wirkungsmöglichkeit beraubten 4 0 0 .
Die angeführten Widersprüche und Ungereimtheiten erklären sich
daraus, daß diese politischen Wertungen von Zeitgenossen vorgenom-
men wurden. Die begrenzte Einsichtsmöglichkeit des unmittelbar Teil-
nehmenden verengte ihren Blickwinkel. Auch dürfte das jeweilige poli-
tische Engagement zum Urheber mancher Fehlbeurteilung geworden
sein.

b) Eigener Einordnungsversuch

aa) Nicolai

Um den politischen Standort Nicolais zu bestimmen, bedarf es keiner


mühevollen Auslegungsarbeit: Er war aktiv an der nationalsozialisti-
schen Machteroberung und i n der Anfangsphase auch an der Machtaus-
übung beteiligt. Der Rassegedanke, den er besonders betonte, bildete
ein wesentliches Element der nationalsozialistischen Weltanschauung,
das die Nationalsozialisten von den „völkischen" Gruppen übernommen
hatten 4 0 1 .
Die Vielfalt des nationalsozialistischen Ideengutes erlaubte es Gegnern
seines vorwiegend spezialpräventiv orientierten Strafrechts, i h m den
Anspruch zu bestreiten, den Nationalsozialismus adäquat ins Straf-
recht umgesetzt zu haben. Sie glaubten den Nationalsozialismus i n
einem mehr an der Tat ausgerichteten „autoritären" Straf recht ver-
w i r k l i c h t 4 0 2 . Die Straf rechts- und Polizeipraxis des Dritten Reiches be-
schritt jedoch i m wesentlichen den von Nicolai vorgezeichneten Weg.

bb) Α. E. Günther, die „jüngeren Kriminalisten"


und die „Konservative Revolution"

Auch Α. E. Günther vertrat seine politischen Ansichten m i t aller


Deutlichkeit. Sein Engagement galt einer nationalen Erneuerungs-
bewegung, die heute i m Anschluß an Rauschning und Möhler i m all-
gemeinen mit dem Begriff „Konservative Revolution" 4 0 3 umschrieben
wird. Auch die „jüngeren Kriminalisten" standen ihr sehr nahe. Sie soll
daher etwas ausführlicher dargestellt werden.

400 vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 6.


401 Vgl. Broszat, Deutsche Rundschau 1958, S. 53 ff.
402 vgl. Nagler, GS 103, S. I ff. (insbesondere A n m . 67) sowie D R 1934,
S. 52 ff.; Frick, Der Besserungsgedanke, S. 65.
403
I n den allgemeinen Sprachgebrauch hat Hofmannsthal diesen Begriff
eingeführt, für den das Wesentliche der „Konservativen Revolution" i n der
154 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Die Bezeichnung „Konservative Revolution" erfaßt eine breite Strö-


mung der Weimarer Zeit, die mehr auf eine geistige Erneuerung als auf
bestimmte politische Aktionen gerichtet war. Die „Konservative Revolu-
tion" wurde verstanden als Gegenpol zum Gedankengut der Fran-
zösischen Revolution, die man als den Beginn einer Auflösung der
abendländischen K u l t u r ansah. M i t ihr habe sich der Individualismus i n
allen Lebensbereichen durchgesetzt. Die Selbstherrlichkeit des Indivi-
duums habe die überlieferte Ordnung allgemeinverbindlicher Werte zum
Einsturz gebracht; der einzelne sei aus jeglicher Gemeinschaftsbindung
herausgelöst und von jeder Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit
befreit worden. Als Konsequenz i m politischen Bereich betrachteten die
Verfechter der „Konservativen Revolution" den Liberalismus, dessen
Ziel eine möglichst weitreichende Dezimierung staatlicher Macht i m
Interesse des Individuums sei. Dieses Ziel sahen sie im parlamen-
tarischen System der Weimarer Republik verwirklicht, dem sie i n
offener Feindschaft gegenüberstanden.
Der Kristallisationspunkt i n den Ideen der konservativen Revolu-
tionäre war die Volksgemeinschaft, i n der die Aufhebung der individuel-
len Isolierung und die Bindung des einzelnen an das Ganze vollzogen
werden sollten. Ein konkretes politisches System, das geeignet gewesen
wäre, diese Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen, hatten sie
jedoch nicht vor Augen. Treffend gibt Sontheimer den politischen
Irrationalismus des revolutionären Konservativismus wieder: „Er w i l l
keine politische Vernunftordnung, kein zweckgerichtetes politisches
System, sondern eine Herrschaft, i n der Ewigkeitswerte zur Geltung
kommen 4 0 4 ."
Seine idealistische Gesinnung und der Wunsch, etwas tatsächlich
Neues zu schaffen, können jedoch nicht i n Abrede gestellt werden. Zu-
mindest in der Theorie maßen die Anhänger der konservativen Er-
neuerung der „sozialen Frage" große Bedeutung bei. Entschieden setzten
sie sich gegen eine Einordnung i n das bestehende Partei schema zur

Uberwindung des Individualismus durch das Streben nach Einheit u n d


Bindung an das Ganze bestand. Seine spezifische politische Wendung erhielt
der Begriff durch Rauschning, der i h n als Sammelbegriff f ü r die konser-
vative geistig-politische Bewegung der Weimarer Republik verwandte
(Rauschning y Konservative Revolution, 1941). Weitere grundlegende L i t e r a t u r
zur „Konservativen Revolution": Möhler, Die konservative Revolution;
Klemperer, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich u n d National-
sozialismus; Sontheimer, Antidemdokratisches Denken; neuere Darstellungen:
Gerstenberger, Der revolutionäre Konservativismus; dies., Konservativismus
i n der Weimarer Republik; Schneller, Zwischen Romantik u n d Faschismus;
Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus i n Deutschland; Schüdde-
kopf, L i n k e Leute von rechts. I m folgenden k a n n n u r ein stark geraffter
Überblick gegeben werden.
404 Antidemokratisches Denken, S. 150.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 155

Wehr. M i t aller Deutlichkeit, die bisweilen sogar zu offener Feind-


schaft auswuchs, distanzierten sie sich vom reaktionären Deutsch-
Nationalismus, der eine Wiedererrichtung der obrigkeitsstaatlichen
Ordnung erstrebte, wie sie vor dem ersten Weltkrieg Bestand gehabt
hatte. Für sie hatte der Weltkrieg den entscheidenden Einschnitt ge-
bracht, der eine Rückkehr unmöglich machte. Die Forderung nach Ab-
kehr vom 19. Jahrhundert bezog sich nicht nur allgemein auf den
Liberalismus, sondern auch konkret auf das wilhelminische Kaiserreich,
das nationale, autoritäre und liberale Elemente i n sich vereinigt hatte.
Neben dem Gegensatz zum Liberalismus gab der Anspruch der Jugend-
lichkeit, des Neuartigen und die gleichzeitige Abgrenzung von reaktionä-
ren Anschauungen der „Konservativen Revolution" das Gepräge.
Auch gegenüber dem Nationalsozialismus bestanden auf Seiten der
konservativen Revolutionäre Vorbehalte 4 0 5 : Wenngleich anerkannt
wurde, daß die NSDAP die Beseitigung des liberalen Systems erstrebte,
so wurde ihr doch verübelt, daß sie als Partei i m herkömmlichen Sinne
innerhalb dieses Systems tätig war. Häufig bestand auch aus der
geistigen Grundhaltung heraus eine gefühlsmäßige Abneigung gegen
den radikalen politischen Aktivismus des Nationalsozialismus. Schließ-
lich widerstrebte vielen Vertretern der „Konservativen Revolution"
die starke Hervorhebung des Rassegedankens. I m übrigen war jedoch
eine weitgehende politische Affinität gegeben, die zur Hauptsache darauf
beruhte, daß der Nationalsozialismus wesentliches Gedankengut der
„Konservativen Revolution" i n seine weitgespannte, unscharfe und
vieldeutige Weltanschauung einbezog. Viele junge Nationalisten hoff-
ten, der nationalsozialistische Staat werde ihre Vorstellungen ver-
wirklichen.
Weder als geistiges Phänomen noch als politische Bewegung stellte
die „Konservative Revolution" ein völlig homogenes Gebilde dar. Viel-
mehr setzte sie sich aus mehreren unterschiedlichen Richtungen und
Gruppierungen zusammen. I n ihnen zeigte sich, daß die jungkonserva-
tive Ideenwelt aus mannigfachen Quellen gespeist wurde: Dazu sind die
jugendliche Aufbruchsbewegung des Wandervogels und die völkische
Konzeption der Alldeutschen zu rechnen. Ferner gehören der i m Welt-
krieg geborene „soldatische Nationalismus" und der nach Osten orien-
tierte „Nationalbolschewismus" hierher 4 0 6 .

405
Z u m Verhältnis von „Konservativer Revolution" u n d Nationalsozialis-
mus vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 53 ff.; Sontheimer, Anti-
demokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller, Zwischen Romantik u n d F a -
schismus, S. 138 ff.; Ger st enb er g er, Der revolutionäre Konservativismus,
S. 93 ff., 104 ff.
4
06 Möhler unterscheidet „Völkische", „Jungkonservative" u n d „ N a t i o n a l -
revolutionäre" (unter Einschluß der „Nationalbolschewisten"), sowie die
156 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

Die strafrechtlichen Gedankengänge Α. E. Günthers und auch seine


sonstigen Schriften lassen deutlich erkennen, daß das Kriegserlebnis
nachhaltig auf ihn eingewirkt hatte 4 0 7 . Gemeinhin wurden i n der
Kriegsliteratur zwei Aspekte dieses Erlebnisses besonders hervorgeho-
ben: Die Gemeinschaftsbindung und die unbedingte Unterordnung unter
den Führer. Beide sind auch bei Α. E. Günther aufzufinden. Seine
strafrechtlichen Überlegungen gründete er jedoch fast ausschließlich
auf das Prinzip von Befehl und Gehorsam: Der Gesetzgeber erteile in
den Strafgesetzen bindende Befehle, denen gegenüber der Staatsbürger
sich durch äußerlich korrektes Verhalten gehorsam zu erweisen habe. I m
Falle eines Verstoßes habe der Richter unter strikter Einhaltung der
gesetzlichen Vorschriften eine der Tat entsprechende Strafe zu ver-
hängen. Die Ubereinstimmung mit altkonservativen, obrigkeitsstaat-
lichen strafrechtlichen Theorien hat Α. E. Günther vermutlich nicht
erkannt. Ansonsten wäre von ihm, einem Anhänger der konservativen
Erneuerungsbewegung, eine deutliche Abgrenzung zumindest i n der
ideologischen Grundlegung seines strafrechtlichen Programms zu er-
warten gewesen.
Gerade diese Abgrenzung betrieben aber die „jüngeren Kriminalisten"
m i t Nachdruck. A m deutlichsten wurden diese Bemühungen i n der
ständigen Hervorhebung des Generationsunterschiedes. Immer wieder
pochten sie auf ihre Jugendlichkeit 4 0 8 . Dieser Hinweis schien die
Bedeutung eines Arguments zu haben. Unüberhörbar klang darin der
Anspruch an: Der Jugend gehört die Zukunft!
Diese A r t der Argumentation entsprach einer weit verbreiteten Stim-
mung i n der Weimarer Republik: Den ersten Weltkrieg und den an-
schließenden Zusammenbruch wertete man als ein Zeichen für das Ver-
sagen der älteren Generation und glaubte, daß nur von der Jugend zu-
kunftsweisende Ideen erwartet werden könnten. Auch außerhalb der
Richtung der „jüngeren Kriminalisten" würde dieser Auffassung
Rechnung getragen. Nur selten begegnet der Einwand, der Jugend
fehle es an Erfahrung und Reife. Viel häufiger ist dagegen das Be-

weniger theoretisch u n d mehr praktisch ausgerichteten Gruppen der


„Bündischen" u n d der „Landvolkbewegung"; vgl. Die konservative Revolu-
tion, S. 130 ff. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 148 ff., schließt
sich i m wesentlichen dieser Aufgliederung an.
407
Vgl. seine Beiträge i n den Zeitschriften „Deutsches V o l k s t u m " u n d
„Widerstand", sowie die Schrift „Geist der Jungmannschaft". Gemäß der
Einteilung von Möhler u n d Sontheimer wäre er damit der Richtung des
„revolutionären Nationalismus" zuzurechnen.
408 v g l . dazu die Diskussion über die Strafrechtsreform auf der F r a n k -
furter I K V - S i t z u n g 1932, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 145 ff.; nahezu jeder
Diskussionsteilnehmer sprach darauf an. Vgl. ferner als Beispiele Dahm/
Schaffstein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4; E. Wolf, RuS H. 103,
S. 31.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme 157

mühen anzutreffen, Übereinstimmungen m i t der Jugend hervorzuheben


oder, soweit die Zugehörigkeit zur älteren Generation nicht geleugnet
werden konnte, zumindest seine Ideen als „jugendlich" auszugeben 409 .
Den Gegensatz zum alten, reaktionären Konservativismus strichen die
jungen Straf rechts wissenschaf tier auch i n ihren Staats- und straf -
theoretischen Überlegungen heraus: Zwar bestand zunächst noch eine
Gemeinsamkeit zwischen ihnen und den Neuklassikern i n der Forde-
rung nach einem starken „autoritären" Staat; durch die Präzisierung
und Weiterentwicklung ihres Staatsbildes zur Konzeption eines „totalen"
Staates setzten sie sich jedoch sehr bald deutlich von der Vorstellung
eines nur autoritären Obrigkeitsstaates ab. M i t dieser Distanzierung
ging auch i n den strafrechtlichen Auffassungen eine klare Abgrenzung
einher: „Die Antithese ,Liberales oder autoritäres Strafrecht', die für
den Beginn der Auseinandersetzungen mit der liberal-sozialen Haltung
der Moderne geeignet sein konnte, verdeckte jedoch zu einem erheb-
lichen Teil den anderen Gegensatz, der auf die Dauer nicht verborgen
bleiben durfte: Die Unverträglichkeit des neuen Strafrechtsgedankens
mit der i n der klassischen Richtung vollzogenen Verschmelzung von
liberalen und autoritären Strafrechtselementen. Entsprechend der Ver-
schmelzung liberaler und autoritärer Elemente i m nationalliberalen
Staat der Vorkriegszeit enthält auch der strafrechtliche Klassizismus
eine Mischung von liberalem und autoritärem Gedankengut 410 ." Die
„jüngeren Kriminalisten" wollten ihre Reformideen klar von den
Vorstellungen „jener reaktionären Geister" geschieden wissen, „die
nach 1918 i n Opposition gegen die Reformbestrebungen hervorgetreten
sind" 4 1 1 .
Wie i n dieser Hinsicht, so liegen auch i n anderen Punkten sichtbare
Zeichen dafür vor, daß die junge antiliberale Strafrechtswissenschaft
Gedankengut der „Konservativen Revolution" vertrat: Einen äußer-
lichen Anhaltspunkt gibt einmal die Tatsache, daß die grundlegende
Schrift „Liberales oder autoritäres Straf recht?" i n der „Hanseatischen
Verlagsanstalt Hamburg" erschien, i n einem Verlag, dessen Programm
Autoren der „Konservativen Revolution" wie Moeller van den Bruck,
G. Günther, Jünger und Stapel prägten 4 1 2 .

409 v g l . Gerland, D J Z 1933, Sp.861; Sauer, ArchRWPh Bd. 26, S.372;


sowie v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26, S. 505 f. u n d Grünhut, ZStW 53,
S. 10 i n ihren Berichten über die Frankfurter Kriminalistische Zusammen-
k u n f t i m Januar 1933.
410 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 25; vgl. auch Dahm, DStR 1934,
S. 249.
411 E. Wolf, RuS H. 103, S. 26.
412 Vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 63.
158 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

Konservativ-revolutionäres Gedankengut äußerte sich i m Bekenntnis


zur Volksgemeinschaft als dem höchsten Wert und dem damit ver-
bundenen (zumindest verbalen) Engagement i n der „sozialen Frage".
Weitere Belege liefern die nationalistische Grundhaltung, die Ver-
wendung des Rassegedankens sowie der Abstand zu den Parteien, der
jedenfalls i n der Anfangsphase auch zu einer gewissen Distanzierung
von der NSDAP führte 4 1 3 . Das verbindende Element sahen die jungen
Strafrechtswissenschaftler i n „mehr gefühlsmäßigen Regungen" 4 1 4 , i n
einer gemeinsamen „Grundstimmung" 4 1 5 . I n diesen Formulierungen und
i n dem Mangel an konkreten programmatischen Aussagen kehrte die
Unschärfe der jungkonservativen Ideenwelt wieder 4 1 6 .

cc) Die Neuklassiker

Die Neuklassiker waren bemüht, Anschluß an die politische und


geistige Entwicklung zu halten, indem sie die autoritären Züge der
klassischen Strafrechtslehren i n den Vordergrund stellten. Uber dieses
autoritäre Strafrecht, das unverkennbar die Merkmale des Obrigkeits-
staates enthielt, gelangten sie jedoch nicht hinaus. Trotz einiger A n -
näherungsversuche an die „jüngeren Kriminalisten" und an die
nationalsozialistische Weltanschauung blieben sie der Position des
Altnationalismus verhaftet, wie die Zurückhaltung gegenüber dem Ge-
meinschaftsgedanken und der totalen Erfassung des Individuums sowie
i n der Behandlung sozialer Probleme beweist. Von den Parteien der
Weimarer Republik repräsentierte weitgehend die Deutschnationale
Volkspartei ihre Gedankenwelt.

413 Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S.4, bezeich-
neten es als falsch, ihre Zielsetzungen „ohne weiteres parteimäßig zu
etikettieren, sie also etwa »nationalsozialistisch' oder ,deutsch-national* zu
nennen". M a n solle nicht verkennen, „daß die politischen Parteien u n d
Gruppen der Rechten, so vor allem auch der Nationalsozialismus, heute n u r
der tagespolitische u n d deshalb offenkundigste Ausdruck einer w e i t breiteren
u n d tieferen Bewegung sind, welche besonders die Jugend ergriffen hat".
414 E. Wolf, RuS H. 103, S. 26.
415 Dahm!Schaf stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 5.
416 Z u der hier vorgenommenen Klassifizierung scheint i n Widerspruch
zu stehen, daß Dahm sich i n MSchrKrimPsych 1933, S. 164, gegen die B e -
zeichnung „jungkonservativ" verwahrte: „Es handelt sich nicht u m das
nationalsozialistische, deutschnationale oder gar ,jungkonservative 4 Straf-
recht, sondern u m den Reflex einer über das Tagespolitische hinausreichen-
den geistigen Bewegung." Aus diesem Z i t a t geht jedoch hervor, daß er den
Begriff des jungen Konservativismus auf eine bestimmte, durch eine p o l i -
tische Gruppe repräsentierte Richtung bezog u n d nicht, w i e es heute
üblich ist, auf eine breite geistige Strömung der Weimarer Zeit.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 159

IV. Die Verteidiger der Straf rechtsreform

Zu Beginn des Jahres 1933 beschrieb Gallas die Situation i n der


Auseinandersetzung u m die weitere Entwicklung des Strafrechts mit
den Worten: „Die gegenwärtige Etappe i m Kampf um die Erneuerung
unseres Strafrechts sieht die moderne Strafrechtsschule i n der Defen-
sive 4 1 7 ."
Theoretisch bestanden für die Verfechter der bisherigen Reformbe-
strebungen zwei Möglichkeiten, sich i n dieser Bedrängnis zur Wehr zu
setzen: Die Forderung ihrer Gegner nach Verstärkung der staatlichen
Macht hätte für sie Anlaß sein können, auf die Bedrohung der indivi-
duellen Freiheit hinzuweisen und für die Wahrung liberaler Prinzipien
einzutreten. Damit wäre eine Tradition innerhalb der modernen Schule
fortgesetzt worden, die Franz von Liszt durch seine dogmatischen
Arbeiten begründet hatte; sie waren von der Sorge getragen, daß bis
zur Verurteilung des Täters ein möglichst hohes Maß an Rechtssicher-
heit gewährleistet sei 4 1 8 . — Aber auch eine gegenteilige Stellungnahme
hätte sich auf den Begründer der modernen Schule berufen können: Das
entscheidend Neue seines Programms, der Strafbegriff, bedeutete einen
Bruch m i t dem herkömmlichen Proportionalitätsdenken und enthielt
einen Ansatzpunkt für eine Ausdehnung der staatlichen Macht zu-
gunsten des Rechtsbrechers. Diese illiberale Seite des Marburger
Programms, die je nach dem Grad der Verwirklichung auch zu einer
antiliberalen werden konnte, bot den Verteidigern der Reform eine
geeignete Grundlage, um die antiliberalen Angriffe m i t dem Argu-
ment abzuwehren, sie seien irreführend und beruhten auf einem Miß-
verständnis.
I n den Veröffentlichungen, die auf eine Verteidigung der bisherigen
Reformbemühungen abzielten, sind beide Positionen aufzufinden. Bei
weitem überwogen jedoch die Stellungnahmen, die die Straf rechtsreform
m i t illiberalen oder antiliberalen Argumenten zu verteidigen suchten.
Auch die Vertreter der modernen Schule konnten sich dem antilibera-
len Zeitgeist nicht entziehen. I n ihren Äußerungen wurden zudem die
antiliberalen Züge der modernen Schule so deutlich hervorgehoben, wie
sie i n der Auseinandersetzung m i t der klassischen Schule nie darge-
stellt worden waren. I h r Verteidigungskonzept bedeutete einen wesent-
lichen Beitrag zum Antiliberalismus i n der damaligen Strafrechts-
wissenschaft.

417 ZStW 53, S. 12.


418 Vgl. Schwarzschild, Franz v. Liszt; E.Schmidt, Strafrechtspflege,
S. 381 ff.
160 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

1. Das antiliberale Verteidigungskonzept

Die Argumente, mit denen die Nachfolger v. Liszts die Strafrechts-


reform der zwanziger Jahre gegen die antiliberalen Angriffe vorwie-
gend zu verteidigen gedachten, tauchten erstmals i n zwei Abhandlungen
von E. Schmidt auf: „Strafrechtsreform und K u l t u r k r i s e " 4 1 9 und „Zur
Theorie des unbestimmten Strafurteils" 4 2 0 . Sie wurden 1932 auf der
Tagung der deutschen Landesgruppe der I K V i n Frankfurt von ihm und
Kohlrausch wieder aufgenommen und noch schärfer umrissen 421 .
Beide gingen davon aus, daß die programmatischen Aussagen v. Liszts
über die zweckhafte Ausgestaltung der Strafe die Antriebsfeder der
Reform gebildet hätten. Der auf die Verwirklichung einer sozialen
Gerechtigkeit i m Gegensatz zu einer fiktiven liberalen Gleichbehandlung
abzielende Strafbegriff habe die Reformentwürfe entscheidend ge-
prägt. Der Gedanke der Besserung und Sicherung sei i n Weg und Ziel
ein illiberaler, wenn nicht gar ein antiliberaler Gedanke. Er eröffne
dem Staat die Möglichkeit, viel stärker als bisher Einfluß auf den ver-
urteilten Verbrecher zu nehmen. Der Staat könne tief i n die Persönlich-
keitssphäre eingreifende erzieherische bzw. sichernde Maßnahmen tref-
fen, um den Zweck der Resozialisierung des Verbrechers und der
Sicherung der Gesellschaft zu erreichen. Darin liege eine erhebliche Be-
schneidung des individuellen Freiheitsraumes zugunsten der staat-
lichen Machtsphäre. Überindividualistisch und daher illiberal sei das
mit der Besserung und Sicherung angestrebte Gesamtziel, der Schutz der
Gesellschaft vor Rechtsbrechern.
Als wichtige Stationen auf dem Wege zur Erreichung dieses Zieles
nannten die Reformanhänger die Maßregeln zur Sicherung und das
unbestimmte Straf urteil. Sie bedauerten, daß die ersteren bisher nicht
eingeführt, das zweite nur unvollkommen zugunsten des Straffälligen
verwirklicht worden sei. M i t Entschiedenheit wiesen sie den V o r w u r f
zurück, daß diese Unterlassungen und die Verweichlichung der Straf-
rechtspflege insgesamt den Reformbestrebungen anzulasten seien. Sie
begegneten i h m mit dem Hinweis auf die wiederholten Appelle der
I K V an den Gesetzgeber, einschneidende Maßnahmen gegen das
Berufs- und Gewohnheitsverbrechertum zu ergreifen 422 .
Als weiteren Beweis für die antiliberale Tendenz führten sie die i n
den Entwürfen festzustellende Neigung an, die Tatbestände des Be-
sonderen Teils „aufzulockern". „Hier könnte noch sehr viel weiter

419 RuS H. 79.


420 SchwZSt 1931, S. 200 ff.
421 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 145 ff. u n d 175 ff.
422 Vgl. ζ. B. M i t t . I K V N.F. 3. Bd., S. 125 u n d 5. Bd., S. 102.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 161

gegangen werden", meinte Kohlrausch. „Aber auch hier ist die Tendenz
unverkennbar, den Magna-Charta-Gedanken auf ein vernünftiges Maß
zurückzuführen 423 . "
I m Prinzip wiederholten die Verteidiger der Reform lediglich Auf-
fassungen, die bereits von Liszt vertreten hatte. Dennoch bestanden
einige gewichtige Unterschiede: von Liszt entwickelte seine Gedanken-
gänge i n einer Zeit, i n der dem Staat ein wirtschaftlich mächtiges
Bürgertum gegenüberstand, dessen Position konstitutionell durch eine
Begrenzung der Staatsgewalt abgesichert war. Die außen- und innen-
politische Situation gab keinen Anlaß, einen politischen Umsturz und
eine Beseitigung des rechtlich garantierten Freiheitsraumes zu be-
fürchten. Von daher mußte von Liszt nicht unbedingt m i t einem Miß-
brauch seiner Ideen rechnen, wenngleich i h m die Gefahren seines
Programms von seinen Gegnern immer wieder vor Augen geführt
wurden.
Außerdem zeigen seine Äußerungen über die Tragweite des Zweck-
gedankens i m Strafrecht, daß er die zweckhafte Strafe als eine zum
Schutze der individuellen Freiheit gebundene Strafe betrachtete: „Wie
die Rechtsstrafe als Selbstbeschränkung der Staatsgewalt durch Objek-
tivierung entstanden ist, so erhält sie ihre höchste Vollkommenheit
durch die Vervollkommnung der Objektivierung. Das völlige Gebunden-
sein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der
strafenden Gerechtigkeit. Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die
Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt
Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit i n
seiner Verwendung 4 2 4 ."
Zwar hat sich i m Laufe der Zeit der Optimismus als verfehlt erwiesen,
die Orientierung am Zweck der Strafe erlaube eine eindeutige und
sichere Grenzziehung zwischen den zur Einwirkung auf den Straf-
gefangenen erforderlichen Maßnahmen und einer übermäßigen Be-
schneidung seines Freiheitsraumes 425 ; dennoch ist nicht zu übersehen,
daß von Liszt die Einführung des Zweckgedankens i n das Strafrecht
nicht als einen antiliberalen Vorgang betrachtete. I m übrigen schuf er
mit seinen methodischen und systematischen Arbeiten ein Gegengewicht
zur transpersonalistischen Zielsetzung der Besserungs- und Sicherungs-

423 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 157.


424 Aufsätze u n d Vorträge Bd. 1, S. 161.
425 i n diesem Zusammenhang sei an die Diskussion u m die Geltung
von Grundrechten i m Strafvollzug erinnert. Die Lösung dieses Problems
lediglich v o m Anstaltszweck her hat sich als unhaltbar erwiesen. Z u diesem
Themenkreis: Schüler-Springorum, Strafvollzug i m Ubergang, S. 85 ff.;
Würtenberger, Festschrift f ü r Germann, S. 309 ff.; Müller-Dietz, ZRP 1970,
S. 181 ff.; Starch , ZRP 1969, S. 147 ff.

11 Marxen
162 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

strafe. Er erreichte eine gewisse Ausgewogenheit i n seinem System,


indem er i n dogmatischen Fragen den i n dem Satz „ n u l l u m crimen et
nulla poena sine lege" enthaltenen Forderungen nachzukommen ver-
suchte und den Richter bei der Prüfung der Verbrechensmerkmale auf
strenge Begrifflichkeit und auf weitgehende Ausschaltung subjektiver
Wertungen verpflichtete 426 . Diese Bemühungen gipfelten i n der bekann-
ten „Magna-Charta" Formel 4 2 7 .
Diese Einrahmung des Zweckgedankens trat bei den Verteidigern
der Straf rechtsreform i n den Hintergrund; sie paßte nicht i n ihr anti-
liberales Verteidigungskonzept.
Das Konzept w a r auf den Nachweis illiberaler und antiliberaler
Elemente der Reform beschränkt. Es reichte nicht wesentlich über den
Bereich juristischer Fragen hinaus. I m Unterschied zu den antiliberalen
Reformgegnern erklärten die Vertreter der modernen Schule nicht ein
bestimmtes weltanschauliches Bekenntnis zum allein maßgebenden
Ausgangspunkt. Es fehlte auch an klaren Stellungnahmen zu Fragen der
staatstheoretischen Grundlage. Die Äußerungen hierzu erschöpften sich
i n der Forderung nach einem „kraftvollen" Staat 4 2 8 .

2. Die Annäherung an das autoritäre Strafrecht

I n der antiliberalen Verteidigungsstrategie kam die Ansicht der


Reformbefürworter zum Ausdruck, daß zwischen den Reformvorstel-
lungen der modernen Schule und dem autoritären Strafrecht kein un-
überbrückbarer Gegensatz bestehe, daß vielmehr beide i n wesentlichen
Punkten miteinander i n Einklang stünden 4 2 9 .
Der wichtigste konkrete Punkt, i n dem eine Übereinstimmung vorlag,
war die Forderung nach einer Sicherungsverwahrung für Gewohn-
heitsverbrecher, „das Kernstück der Straf rechtsreform" 430 . Weiterhin
bestand Einigkeit mit den Anhängern eines autoritären Straf rechts über

426
Vgl. außer dem oben i m 1. Kap. I I I . 2. aufgeführten Schrifttum aus der
neueren L i t e r a t u r : E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 381 ff.; Radbruch, Ele-
gantiae Juris Criminalis, S. 208 ff.; Grünwald, ZStW 76, S . U .
427 v, Liszt , Aufsätze u n d Vorträge, Bd. 2, S. 60 u n d 80.
428 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 161; auch E.Schmidts Idee
eines „Volksstaates" (RuS H. 79, S. 20 f.) w a r nicht konkreter. Lediglich
Gallas nahm i n diesen Fragen eindeutig Stellung; vgl. ZStW 53, S. 26 ff.
u n d den folgenden Abschnitt.
429 Die i m folgenden herangezogenen Fundstellen dienen Renneb erg als
Belege für die Behauptung, daß das 3. Reich die Reformideen der modernen
Schule v e r w i r k l i c h t habe (vgl. Schriftenreihe Strafrecht H. 5, S. 116 ff.). Die
Gegnerschaft nationalsozialistischer Strafrechtswissenschaftler zur „liberalen"
Reform der modernen Schule w i r d unterschlagen.
430 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 160.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 163

das Erfordernis einer Internierung geisteskranker Rechtsbrecher 431 .


Schließlich konnten sich die Vertreter der Reformbewegung, die stets
auf eine schärfere Differenzierung der Tätertypen gedrängt hatten, i m
Prinzip m i t der Einordnung und Bewertung des Täters nach berufs-
ständischen Gesichtspunkten einverstanden erklären 4 3 2 .
Die Frage, inwieweit aus diesen Übereinstimmungen auf eine völlige
Kongruenz zu schließen sei, wurde von den Reformverteidigern unter-
schiedlich beantwortet. Zu der Auffassung, daß das autoritäre Straf-
recht auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht wesentlich von den
Reformgedanken der modernen Schule abweiche, bekannte sich Aschaf-
fenburg: „Ich persönlich kann mich nicht davon überzeugen, daß ein
autoritäres Strafrecht einen anderen Weg geht als die Lisztsche Schule
und w i r Naturwissenschaftler 433 ." Zur Verdeutlichung führte er aus:
„Ich habe schon mehrfach geäußert, daß unser Strafgesetzbuch nicht die
Magna Charta des Verbrechers, sondern die des friedlichen und red-
lichen Staatsbürgers sein müsse. Die Sicherungsverwahrung, die richtig
bemessene Strafverlängerung bei Rückfällen, die rücksichtslose Aus-
scheidung aller Schädlinge ist ein Verlangen, dem sich nur verknöcherte
Anhänger des Satzes ,Fiat iustitia, pereat mundus' widersetzen wer-
den 4 3 4 ." Aschaffenburg sah deshalb auch „keine Schwierigkeiten i n der
Zusammenarbeit m i t der andrängenden Jugend" 4 3 5 .
Bezeichnend ist, daß diese Äußerungen von einem führenden Ver-
treter des vorwiegend medizinisch und soziologisch, weniger juristisch
orientierten Flügels innerhalb der modernen Schule stammen. Bereits
früher waren von dieser Seite aus Forderungen nach einschneidenden
Maßnahmen gegen den Straftäter erhoben worden, die zwar i n der
Linie des Marburger Programms lagen, die aber die juristische Ver-
ankerung i n rechtsstaatlichen Prinzipien, wie von Liszt sie durch seine
dogmatischen Arbeiten vorgenommen hatte, vermissen ließen 4 3 6 .
Etwas zurückhaltender äußerten sich andere Befürworter der bisheri-
gen Rôformbewegung. Sie sahen die K l u f t , die die beiden Richtungen
trotz einiger Berührungspunkte trennte und deren Ursachen i n einer
unterschiedlichen Strafauffassung und i n dem Maße begründet lagen,

431 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 20.


432 Vgl. Mittermaier, Die Justiz 1932/33, S. 61. Einschränkend machte er
jedoch auf die Gefahr einer Klassenjustiz aufmerksam.
433 MSchrKrimPsych 1933, S. 161.
434 Ebd., S. 161 f.
435 Ebd., S. 162; ähnlich Wulff en, K r i m M o n 1934, S. 5 ff.
436 v g l . etwa Kraepelin, Die Abschaffung des Strafmaßes, u n d Aschaffen-
bürg, Das Verbrechen u n d seine Bekämpfung. Die L i n i e ließe sich nach
beiden Seiten, i n die Vergangenheit bis Lombroso u n d i n die Gegenwart,
verlängern.

11'
164 4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34

i n dem man bereit war, antiliberales Gedankengut i n die Tat umzu-


setzen. Von ihnen gingen Bemühungen aus, eine Annäherung herbei-
zuführen und die gegnerische Bewegung, die ζ. T. aus den eigenen
Reihen hervorgegangen war, wieder einzufangen. So vertrat Mitter-
maier die Auffassung: „Wenn w i r bisher immer und immer wieder die
Sicherung der Gesellschaft gegen Asoziale und Antisoziale fordern, so
scheint das doch ziemlich der gleiche Gedanke zu sein, wie die Forde-
rung der Neuen nach stärkerer Betonung des Staats gegenüber dem
I n d i v i d u u m " 4 3 7 , und er rief dazu auf, „ m i t der Jugend ernsthaft zu
arbeiten, um sie selbst und uns über ihre Stimmung und über das Er-
reichbare verstandesmäßig zu unterrichten" 4 3 8 .
Gallas versuchte eine Synthese zwischen dem autoritären Strafrecht
und den Lisztschen Reformgedanken herzustellen. Sein Konzept deutete
i n einigen Punkten den Weg an, den das autoritäre Straf recht durch
den Wandel des leitenden Staatsbildes vom autoritären zum totalen
Staat tatsächlich beschritt. Gallas schlug eine „Verstaatlichung des
Erziehungsgedankens" 439 vor. Grundlage eines solchen Straf rechts sollte
ein von der Volksgemeinschaft vollkommen durchdrungener, also ein
totaler Staat sein. „Erziehungsziel wäre nicht mehr das farblose Ideal
eines Durchschnittsbürgers, der das friedliche Zusammenleben aller m i t
allen nicht stört, . . . Erziehungsziel wäre vielmehr ein Gesinnungs-
wandel, der die Wiederaufnahme i n die Volksgemeinschaft rechtfertigt.
Die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft aber ist Existenzbedingung;
ihrem einheitlichen Wertwillen gegenüber gibt es keine Gleichwertig-
keit des ,eigenen' Standpunktes. Eine Erziehungsstrafe i n diesem Sinne
würde keine Preisgabe der generalmotivierenden Funktion der Strafe
bedeuten. . . . Sie würde zu einer harten Last, zu einem die Aufnahme i n
die Gemeinschaft Sich-wieder-erringen-müssen, geeignet, auch der
Gesamtheit die ethischen und physischen Konsequenzen einer Rechts-
verletzung eindringlich vor Augen zu führen 4 4 0 ." Zu den Vorstellungen
der „jüngeren Kriminalisten" merkte Gallas i n diesem Zusammenhang
an: „Auch der Erziehungsstrafe wohnt somit eine »integrierende 4 K r a f t
inne, wie sie für das »autoritäre 4 Strafrecht i n Anspruch genommen
wird. I m übrigen sei daran erinnert, daß es hier u m den Geist geht, der
die Strafrechtspflege i n ihrer Gesamtheit beherrschen soll. Daß i m kon-
kreten Falle der gesamterzieherischen Aufgabe der Strafe der Vorrang
vor der Arbeit am einzelnen gebühren kann, soll daher keineswegs i n
Abrede gestellt werden 4 4 1 ."
«7 Die Justiz 1932/33, S. 61.
«β Ebd., S. 63.
439 ZStW 53, S. 26.
440 s. 27.
441 S. 27 A n m . 49.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform 165

Die Annäherung der Reformanhänger an das autoritäre Strafrecht


schlug sich i n einer Entschließung des Vorstandes der deutschen Landes-
gruppe der I K V vom 10. Juni 1933 nieder. Zwar könnte zu diesem
Beschluß auch nationalsozialistischer Druck beigetragen haben 4 4 2 ; sein
Inhalt unterschied sich jedoch nicht wesentlich von Äußerungen einiger
Reformverteidiger vor der nationalsozialistischen Machtergreifung.
„Die Zusammenfassung des politischen Denkens und Wollens zu einer
einheitlichen Staatsauffassung des nationalen Sozialismus hat die
Möglichkeit einer planmäßigen und wirksamen Verbrechensbekämpfung,
wie sie die Deutsche Landesgruppe der I K V seit Jahrzehnten vergeblich
gefordert hat, in greifbare Nähe gerückt. Das Bekenntnis zum starken
Staat ist geeignet, der Strafe i n der Hand des Richters und i m Volks-
bewußtsein den Nachdruck und die Achtung wiederzugeben, die ihr als
Ausdruck staatlichen Willens i n rechtlicher Form gebühren. Nunmehr
w i r d auch die Staatsgewalt Entschlossenheit zur rücksichtslosen Aus-
merzung des berufs- und gewerbsmäßigen Verbrechertums bewähren
können, die ihr bislang so wenig innewohnte — zum Schaden der
Bemühungen auch der I K V u m eine wirksame Kriminalpolitik. Das m i t
diesem Bekenntnis zum Staat verbundene Bekenntnis zur Volksge-
meinschaft als zu der Grundlage und Rechtfertigung jedes staatlichen
Wirkens gibt andererseits dem Erziehungsgedanken i m Strafvollzug
einen neuen Sinn: Jetzt bietet sich die Möglichkeit, das Stadium wahl-
loser und erfolgloser ,Besserungs'-Versuche zu überwinden zugunsten
einer verantwortungsbewußten, von dem Ziel der Wiedergewinnung
für die Volksgemeinschaft beherrschten Arbeit an denen, die einer
solchen Einwirkung fähig und zum Nutzen der Gesamtheit wert er-
scheinen.
A n einer Neugestaltung unseres Strafrechts i n diesem Geiste mitzu-
arbeiten, betrachtet die Deutsche Landesgruppe der I K V als ihre vor-
nehmste Aufgabe 4 4 3 ."

3. Die Verteidigung liberaler Prinzipien


durch einige Reformanhänger

Trotz der weitverbreiteten antiliberalen Zeitstimmung und ihres Ein-


flusses in der Straf rechts Wissenschaft fanden sich unter den Verteidigern

442 E i n solcher Druck zeigte sich z.B. i n dem an Kohlrausch gerichteten


Verlangen, den Vorsitz niederzulegen (vgl. E. Schmidt, Strafrechtspflege,
S. 427). Nach ihrer Sitzung i m September 1932 t r a t die deutsche Landes-
gruppe der I K V nicht mehr zusammen. F ü r Gruppierungen w a r k e i n Platz
i n der „Deutschen Rechtsfront".
443 ZStW 53, S. 348. V o r der Beschlußfassung hatten einige Mitglieder
des Vorstandes ihre Ä m t e r niedergelegt, darunter Goldschmidt, Grünhut u n d
Radbruch. Dazugewählt wurden: Engisch, Gallas, Sieverts, Lange. Vgl. D J Z
1933, Sp. 961.
166 4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34

der Strafrechtsreform Strafrechtswissenschaftler, die nicht bereit waren,


den Liberalismus und seine Erscheinungsformen i m Strafrecht i n Bausch
und Bogen zu verdammen. Radbruch und Grünhut seien hier als zwei
herausragende Beispiele aufgeführt.
Radbruch nannte die Reformentwürfe „eine gleichermaßen vom
liberalen wie vom sozialen Gedanken beherrschte Strafrechtsreform" 444 .
Freimütig bekannte er sich i n der Diskussion auf der IKV-Tagung 1932
zum liberalen Gedanken: „Ich empfinde den liberalen Gedanken als
einen notwendigen Einschlag jeder möglichen Staatsauffassung", und
sprach sich gegen eine „Geringschätzung der sogenannten liberalistischen
Staatsauffassung" aus 445 .
Auch Grünhut widersetzte sich der antiliberalen Zeittendenz: „So
gewiß alle Strafgesetzgebung unter dem Vorrang des Gesamtinteresses
steht, so führt doch die Technik unserer strafrechtlichen Verbotsgesetze
dazu, daß sie nur die Grenzen der i m übrigen freien Willenssphäre des
einzelnen bilden. Eine solche private Freiheitssphäre vermag selbst
wieder einen sozialen Wert darzustellen 446 ."
Ihren Nonkonformismus mußten beide teuer bezahlen. Als erster
deutscher Professor wurde Radbruch i m Jahre 1933 aus politischen
Gründen seines Amtes enthoben; Grünhut wurde i n den Ruhestand
versetzt und emigrierte 1939 nach England 4 4 7 .

444 Die Justiz 1932/33, S. 59.


445 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 174. Einen Eindruck v o m unbeirrten Festhalten
Radbruchs an unabdingbaren Freiheitsforderungen v e r m i t t e l t auch die 1932
veröffentlichte 3. Aufl. seiner „Rechtsphilosophie"; vgl. insbesondere das
V o r w o r t ; vgl. ferner Cattaneo u n d Würtenberger i n Gedächtnisschrift für
Radbruch, S. 182 ff. u n d 200 ff.
446 ZStW 52, S. 778.
447 Näheren Aufschluß über das Schicksal beider geben: Radbruch, Lebens-
beschreibung, i n Gedächtnisschrift für Radbruch 1969, S. 21 ff.; ders., Der
innere Weg; Göppinger, Die Verfolgung der Juristen jüdischer Abstammung
durch den Nationalsozialismus, S. 102, u n d Friesenhahn, Erinnerungsgabe
für Grünhut, S. 5 ff.
5. Kapitel

Antiliberales Denken in der strafrechtswissenschaftlichen


Diskussion während des Dritten Reiches

I. Die Verlagerung der Diskussion von


kriminalpolitischen auf dogmatische Fragen

1. Der Verlauf der strafrechtswissenschaftlichen


Auseinandersetzung nach 1933

Bis 1934 konzentrierte sich das Interesse der antiliberalen Straf-


rechtswissenschaft auf Fragen der Kriminalpolitik. Die Ablehnung eines
liberalen Strafrechts bedeutete i m allgemeinen die Ablehnung einer
liberalen Gesetzgebungspolitik und eines liberalen Strafvollzuges 1 . Die
kämpferische Haltung der Verfechter eines strafrechtlichen A n t i -
liberalismus, die den „Auflösungserscheinungen" i n der Strafrechtspflege
Einhalt gebieten und die Entwicklung i n eine andere Bahn lenken
wollten, ließ eine eingehende und subtile Erörterung von Einzelfragen
der strafrechtlichen Dogmatik nicht zu.
Auch nach dem politischen Umsturz zu Anfang des Jahres 1933 waren
die Voraussetzungen für eine solche Arbeit zunächst noch nicht gegeben.
Die Grundsatzdiskussion ging weiter, weil über die Richtung eines
nationalsozialistischen Strafrechts keine Klarheit bestand. Die zahl-
reichen Programmschriften, die i m Laufe des Jahres 1933 erschienen,
sollten erst den Boden für eine Durchdringung des gesamten Straf-
rechts m i t dem neuen politischen Geist bereiten 2 .
Zu den Programmsätzen gehörte auch die Forderung nach einer
Revision der Methode und der Systematik 3 : Die Erneuerung des Straf-
rechts könne sich nicht i n einer Reform der Gesetze und der Auslegungs-
grundsätze erschöpfen. Nach und nach wurde diese Forderung seit An-
1
Eine Ausnahme bildete E. Wolfs Untersuchung über das „Wesen des
des Täters" (RuS H. 87), die auch die Konsequenzen des Antiliberalismus
für die Strafrechtsdogmatik andeutete. Ansätze waren auch bei Dahm,
MSchrKrimPsych 1931, S. 764 ff., u n d Schaff stein, Die Nichtzumutbarkeit,
vorhanden.
2 Vgl. Mittermaier, SchwZStR 1934, S. 323 f.; zur E n t w i c k l u n g i m P r i v a t -
recht: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 115.
3 Vgl. S chaff stein, D J Z 1934, Sp. 1174; ders., Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 110.
168 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

fang 1934 i n die Tat umgesetzt. Das Wiederaufleben der Diskussion um


Fragen der Dogmatik zeigte i m Januar 1934 ein Aufsatz von Mezger an,
der die theoretischen Grundlagen der Denkschrift des Preußischen
Justizministers, „Nationalsozialistisches Straf recht", untersuchte 4 .
Die Wiederaufnahme der dogmatischen Diskussion dürfte auf die
Konsolidierung der nationalsozialistischen Macht zurückzuführen sein,
die nach dem Erlaß des Ermächtigungsgesetzes vom 24.3. 1933, der
Auflösung der Gewerkschaften (2. 5. 1933) und der Parteien (Juni/Juli
1933) sowie nach dem Erlaß des Gesetzes „über den Neuaufbau des
Reiches" vom 30.1.1934 m i t der Beseitigung der Führungsspitze der
SA am 30. 6.1934 einen vorläufigen Abschluß erreichte. Danach gab es
keinen Zweifel mehr über die herrschende politische Macht i n Deutsch-
land. Die politisch motivierte neue Richtung i n der Strafrechtswissen-
schaft konnte ihre Aufmerksamkeit den inneren Angelegenheiten ihres
Fachbereichs zuwenden.
A m intensivsten wurde die Diskussion über dogmatische Fragen i n
den Jahren 1935 - 1938 geführt. I n diesem Zeitraum erschienen die
wichtigsten Schriften der beiden gegensätzlichen Richtungen, der „Kie-
ler" und der „Marburger Schule". Den Anfang i n dieser Auseinander-
setzung machten die Kieler Professoren Dahm und Schaffstein m i t ihren
Beiträgen zu dem Sammelband „Grundfragen der neuen Rechtswissen-
schaft" (1935)5. Ihre Äußerungen wurden von den Marburger Wissen-
schaftlern Schwinge und Zimmerl i n ihrer gemeinsamen Schrift
„Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken i m Straf recht" (1937)
heftig kritisiert. 1938 antworteten die Angegriffenen mit zwei A u f -
sätzen i n der ZStW Bd. 576. I m selben Jahr noch erschien Schwinges
Schrift „Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtung i n der deutschen
Rechtswissenschaft".
Der Kriegsbeginn führte nicht sofort zu einem Abbruch der Diskus-
sion. Er schränkte jedoch den Kreis der Fragen ein. Das Kriegsstraf-
recht stellte der strafrechtlichen Dogmatik neue Aufgaben. Klärung ver-
langte vor allem die Figur des „Tätertyps", die bereits in der Mitte der
dreißiger Jahre i n die dogmatische Diskussion eingeführt worden war
und die die Tatbestandsbildung i m Kriegsstrafrecht beeinflußt hatte 6 3 .
I n diesem Teilbereich wurde die Auseinandersetzung um Methode und

4 D J Z 1934, Sp. 97 ff.


5 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand; Schaff stein, Das Verbrechen als
Pflichtverletzung.
6 Dahm, Der Methodenstreit i n der heutigen Strafrechtswissenschaft,
ZStW 57, S. 225 ff. ; Schaff stein, Rechtswidrigkeit u n d Schuld i m A u f b a u
des neuen Strafrechtssystems, ZStW 57, S. 71 ff.
6a Vgl. unten 5. Kap. I V . 5.
I. Verlagerung der Diskussion auf dogmatische Fragen 169

System des Straf rechts, wie sie 1934/35 aufgenommen worden war, auch
noch i n den ersten Jahren des 2. Weltkrieges fortgeführt.

2. Die an den Angriffen gegen eine liberale


Strafrechtsdogmatik beteiligten Wissenschaftler

Wie schon in der kriminalpolitischen Auseinandersetzung zu Anfang


der dreißiger Jahre vertraten Dahm und Schaffstein auch i n der dog-
matischen Diskussion am entschiedensten antiliberales Gedankengut.
Dieselben oder ähnliche Vorstellungen wie sie entwickelte ein Kreis
vornehmlich jüngerer Strafrechtswissenschaftler, dem Boldt. Gallas.
Henkel, Krüger, Welzel und E. Wolf zuzurechnen sind. Sie können nicht
durchweg als Anhänger der „Kieler Schule" eingestuft werden. Zu-
meist hatten sie ihre Lehren unabhängig von Dahm und Schaffstein
erarbeitet; auch stimmten sie nicht in allen Fragen m i t ihnen überein.
Neben den genannten Strafrechtswissenschaftlern nahm bei der Be-
kämpfung überkommener Lehren Freisler eine besondere Stellung ein.
Zwar enthielten seine Beiträge weder neue Einsichten, noch vertieften
sie die bereits vorgetragenen Thesen zur strafrechtlichen Neuorientie-
rung. Dennoch fanden seine Äußerungen i n der Strafrechtswissenschaft
starke Beachtung. Er formulierte die Gedanken der Erneuerungsbewe-
gung radikaler als andere und verschaffte ihnen durch seine politische
Machtposition verstärkte Geltung. Seine Funktionen als Staatssekretär
i m preußischen, später i m Reichsjustizministerium, als Mitglied der
amtlichen Strafrechtskommission und Vorsitzender des Zentralausschus-
ses der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht ver-
halfen ihm auch i n der S traf rechts Wissenschaft zu Ansehen.

3. Das neue Wissenschaftsverständnis:


Die „politische" Strafrechtswissenschaft

Die antiliberale Strafrechtswissenschaft bekämpfte die Auffassung,


daß Wissenschaft unpolitisch, wertfrei und autonom sein solle. Diese
Forderungen seien selbst politisch motiviert; sie enthielten Postulate
des Liberalismus und des Rationalismus 7 . Das zeige sich i n der Bevor-
zugung der naturgegebenen Lebensverhältnisse als eigentliches wissen-
chaftliches Arbeitsfeld, i m Bemühen um wertneutrale Ordnungsbegriffe
sowie i n der Ausschaltung irrationaler Faktoren. Die reine Vernunft
werde zur maßgeblichen Erkenntnisquelle erklärt. I m Mittelpunkt dieser
Wissenschaftslehre stehe das Individuum, dem als Träger dieses Mittels,
zu „wahrer" Erkenntnis zu gelangen, eine höhere Würde zuerkannt

7
Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6, 12; Welzel, Naturalis-
mus u n d Wertphilosophie, S. 52, 58; Krieck, D R 1934, S. 297 ff.
170 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

werde. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit dieser A r t sollten das


Individuum durch ein Höchstmaß an Vorhersehbarkeit und Berechen-
barkeit zu freier und unabhängiger Lebensgestaltung befähigen. Diese
angeblich unpolitische, wertneutrale wissenschaftliche Haltung diene
den Interessen des liberalen Bürgertums.
Ein entscheidender Wandel war nach Auffassung der jungen Straf-
rechtswissenschaftler auch durch die neukantianische Wertphilosophie
der südwestdeutschen Richtung nicht eingetreten 8 . Wie der natura-
listische Positivismus halte sie daran fest, daß primärer Betrachtungs-
gegenstand der Wissenschaft die natürliche Welt sei, die als chaotisch
und amorph angesehen werde. Eine Ordnung werde nach dieser Auf-
fassung erst durch die Ausrichtung an Werte geschaffen, die einer über
dem natürlichen Leben schwebenden Sphäre angehörten. Die Verbin-
dung stelle die neukantianische Wertphilosophie m i t Hilfe abstrakter,
lebensfremder Begriffe her. I n doppelter Hinsicht, i n der naturalistischen
Grundlage und i m begrifflichen Szientismus, erweise sie sich als
„Komplementärtheorie des Positivismus" 9 . Zu einer klaren Entschei-
dung bei der Bestimmung der maßgebenden Werte könne sich diese
Theorie nicht durchringen; sie enthalte sich ihr m i t dem Pathos der
Wissenschaftlichkeit. Diese relativistische Einstellung entspreche voll-
kommen der Idee des liberalen und neutralen Staates.
Dem setzte die neue Strafrechtswissenschaft ein bewußtes und ent-
schiedenes Bekenntnis zu höchsten Werten entgegen. „Die Idee des
Staates" erklärte sie zum Grundprinzip wissenschaftlicher Tätigkeit, das
„Primat des Politischen" zum Richtpunkt ihrer „politischen Straf-
rechtswissenschaft" 10 . Wissenschaftliche Konstruktionen seien nicht um
ihrer selbst willen da, sondern um eine bestimmte Auffassung vom
Wesen und von den Aufgaben des Staates zu verwirklichen.
Die antiliberalen Straf rechts wissenschaf tier beseitigten das Postulat
der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, das sie als eine Forde-
rung des Liberalismus erkannten. Ihre m i t revolutionärem Pathos ver-
kündete „Voraussetzung", das Bekenntnis zum völkischen Staat, ver-
langte eine gewisse Bedenkenlosigkeit, eine „ursprüngliche Unbefangen-

8
Eingehend kritisierte Welzel den Neukantianismus; vgl. Naturalismus
und Wertphilosophie; DRWis 1938, S. 119; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d
Tatbestand, S. 85 ff.; ZStW 57, S. 251 ff.; Z f K u l t u r p h 1936, S. 215.
9 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 43.
10 Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6. Den Begriff „politische
Wissenschaft" dürfte Kriech geprägt haben; vgl. Nationalpolitische Erziehung,
S. 1 ; vgl. dazu auch Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 57 f. Dahm
zog den Begriff „völkische Wissenschaft" v o r ( Z f K u l t u r p h 1936, S. 216).
Praktische Unterschiede ergaben sich daraus nicht; denn V o l k u n d politische
Führung w u r d e n als Einheit gesehen. Vgl. oben 3. Kap. I I . 3. a).
I. Verlagerung der Diskussion auf dogmatische Fragen 171

heit" 1 1 . I n vollem Umfang war nach ihrer Auffassung eine solche


„ N a i v i t ä t " 1 1 jedoch erst von der heranwachsenden Generation zu
erwarten, die nicht um eine nationalsozialistische Rechtsidee habe
ringen müssen, „die von Anfang an einen i n sich ausgereiften National-
sozialismus als Selbstverständlichkeit empfunden hat" 1 1 .
Die Berechtigung dieses Standpunktes war für sie keine Frage, die
der Klärung mittels rationaler Argumentation bedurfte. Die Bezug-
nahme auf bestimmte oberste Strafrechtswerte könne nicht i m Wege
rationaler Beweisführung erfolgen, denn diese Werte entstammten
„einer letztlich nur erlebnis- und glaubensmäßig bestimmten Welt-
anschauung" 12 . Ihre Maßgeblichkeit folge i n der konkreten politischen
Situation aus dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staa-
tes 13 .
Zwar behaupteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, ihre
„politische" Strafrechtswissenschaft bedeute keine Unterwerfung unter
die Wünsche der politischen Machthaber 14 . Nach der Unterordnung
unter das „Primat des Politischen" war eine solche Entwicklung, eine
völlige Anpassung an die politischen Ideen des Nationalsozialismus,
aber unausweichlich.

4. Die allgemeine Anerkennung des


„totalen" Staates als richtungsweisendes Prinzip

M i t dem Beginn der dogmatischen Auseinandersetzung hatte sich i n


der Praxis des politischen Lebens und auch i n der Staatstheorie der
Straf rechts Wissenschaft der total-autoritäre Staat durchgesetzt. Gegen-
stand der neuen strafrechtswissenschaftlichen Arbeiten w a r der Mensch
„ i n seiner notwendigen Gebundenheit als Gemeinschaftsmitglied" 15 .
Eine Freiheit vom Staat kam nicht mehr i n Betracht; die Schranke
zwischen privater und staatlicher Sphäre erklärte man für aufgehoben 16 .
Die „totale Mobilmachung" 1 7 erfasse jeden i n seiner gesamten Existenz.
Das Maß sollte der Menschentyp des „politischen Soldaten" geben 18 , der

11
Schaff stein, Pol. Strafwissenschaft, S. 25.
12 Ebd., S. 19.
!3 Ebd., S. 23; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 23, 37.
14
Vgl. Schaff stein, Pol. Straf rech tswissenschaft, S. 6 f.; Dahm Z f K u l t u r p h
1936, S. 215.
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109; vgl. auch
Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 65; Finke, Lib. und Strafverfahrens-
recht, S. 18: „ F ü r uns gibt es keine I n d i v i d u a l i t ä t an sich."
16 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52; Schaffstein, Das Verbrechen
als Pflichtverletzung, S. 113.
17 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130 f.; Dahm,
ZStaatW 95, S. 304. Der Begriff stammte von E. Jünger. Er beschrieb die
172 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

sein Schicksal dem „Lebensgesetz des Staates" 19 bedingungslos unter-


ordnet.
Das autoritäre Element des totalen Staates begründeten die Verfech-
ter der „politischen" Strafrechtswissenschaft zusätzlich m i t Veränderun-
gen i n der Verfassungswirklichkeit. Der Gesetzgebungsstaat der
Weimarer Republik sei durch die „nationale Revolution" vom Regie-
rungsstaat abgelöst worden, in dem gesetzgebende und ausführende
Gewalt in einer Hand vereinigt seien 20 . A n die Stelle der Herrschaft der
unpersönlichen Norm sei die persönliche Entscheidung der autoritären
Führung getreten.
Einen Widerspruch zum Gemeinschaftsgedanken erblickten die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler darin nicht. Die Verbindung stell-
ten sie mit der Behauptung her, daß das Volk i m Führer „seine wahre
Vertretung" finde 21.

II. Der materielle Verbrechensbegriff als


Ausgangspunkt der neuen Dogmatik

Die Bemühungen um eine Erneuerung der strafrechtlichen Aus-


legungs- und Begriffsbildungsmethode sowie des Verbrechenssystems
nahmen vom politischen Bekenntnis zum totalen Staat ihren Ausgang.
I n allen dogmatischen Einzelfragen stellte es einen immer wieder be-
mühten Bezugs- und Zielpunkt dar. Diese Funktion übte es i n der
spezifisch strafrechtlichen Umschreibung als „materieller Verbrechens-
begriff" aus. I h m wiesen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler
den beherrschenden Platz i n ihren dogmatischen Lehren zu.

1. Die Begründung für


das Erfordernis eines materiellen Verbrechensbegriffs

Die Beschränkung der Strafrechtswissenschaft auf einen formellen


Vebrechensbegriff, der Rechtswidrigkeit gleichsetzt mit Gesetzeswidrig-
keit, lehnten die Anhänger einer „politischen" Strafrechtswissenschaft
entschieden ab. Eine solche Verbrechensumschreibung stelle den Wert
der Rechtssicherheit über den der Gerechtigkeit. Die Priorität eines

„totale Mobilmachung" als einen „ A k t , durch den das weitverzweigte und


vielfach geäderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen G r i f f
am Schaltbrett dem großen Strome der kriegerischen Energie zugeleitet
w i r d " (Die totale Mobilmachung, S. 11).
i8 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130.
is Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52.
20 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45 u n d 54; vgl. auch oben
3. Kap. I I . 3. b).
21 Dahm, DStR 1934, S. 90.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 173

materiellen Verbrechensbegriffs folge aus der Wendung von der


„mechanistisch-formalen Staatsauffassung" 22 zur „inhaltlich vollständi-
gen Erfassung des Staatsbegriffs" 23 i n Dritten Reich. Da die Aufgabe
des Staates nicht mehr i n der Behütung eines individuellen Freiheits-
raumes liege, sondern „ i n der Zusammenfassung und Förderung der
Volkskräfte" 2 4 , müsse die Strafrechtsordnung der materiellen Gerech-
tigkeit, wie sie i m Rechtsgewissen des Volkes verankert sei, den Vor-
rang vor der formalistischen Gesetzesbestimmtheit einräumen 25 . I m
liberalen Rechtssicherheitsstaat sei der „stillwaltende Volksgeist" 2 6 aus
dem Prozeß der Rechtsbildung ausgeschlossen worden, indem man dem
einmal festgelegten Gesetz die alleinige Herrschaft zuerkannt habe. I m
totalen Staat, i n dem das Volk seine wahre Lebensform gefunden habe,
sei es die wichtigste Aufgabe der Strafrechtsordnung, das „Volksrecht"
wieder zur Geltung zu bringen und die i m liberalen Zeitalter einge-
tretene Entfremdung von Gesetz und Recht zu überwinden.
Hinter diesen unklaren und pathetischen Aussagen standen prak-
tische, handfeste Motive, die aber nur selten deutlich angesprochen
wurden, weil sie sich nicht m i t dem Pathos des gerechten Volksrechtes
vertrugen: Ein materieller Verbrechensbegriff lenkt den Blick von der
Frage der Grenzziehung zwischen strafbarem und nicht strafbarem Ver-
halten auf die Frage der Strafwürdigkeit. Er eignet sich dazu, dog-
matische Problemstellungen durch kriminalpolitische Zweckerwägungen
zu überspielen 27 . Schaffstein führte i n diesem Sinne zur Begründung des
materiellen Verbrechensbegriffs an, daß er „ein Maximum an Wirksam-
keit der Verbrechensbekämpfung" ermögliche 28 . Damit war i n erster
Linie gemeint, daß unter der Herrschaft einer materiellen Verbrechens-
bestimmung strafbegründende Analogieschlüsse erlaubt sein müßten 2 9 .
Daß ein materieller Verbrechensbegriff die Grenze zwischen Recht und
Unrecht durch das Gesetz verwischt, wurde von den antiliberalen Straf-
rechtlehrern begrüßt. Sie befürworteten eine „Gefahrenzone" 30 , die die
gesetzlichen Tatbestände umgibt, damit ein schamloses Ausnutzen ge-
setzlicher Lücken verhindert und das Streben nach persönlichen Vor-

22 Schaffstein, ZStW 55, S. 19.


23 Berges, DStR 1934, S. 239; vgl. auch Schaff stein, Pol. Strafrechtswissen-
schaft, S. 15 u n d ZStW 53, S. 606.
24 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47.
25 Vgl. ebd., S. 47 ff.
26 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 23.
27 Vgl. Naucke, Betrug, S. 36 ff.
28 ZStW 55, S. 19.
29 Vgl. ebd., S. 22; Schaff stein, DR 1934, S. 352; H.Mayer, DStR 1938, S. 74.
so Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
174 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

teilen auf dem schlüpfrigen Gebiet zwischen dem nur Sittenwidrigen


und dem Rechtswidrigen eingedämmt werde 3 1 .
Ein materieller Verbrechensbegriff mußte jedoch i n Kollision m i t dem
absoluten Führungsanspruch des nationalsozialistischen Gesetzgebers
geraten, sobald dieser Strafgesetze erließ. Die weitere Untersuchung
w i r d zeigen, wie die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler diesem
Dilemma zu entgehen suchten.

2. Die Verwerfung bisheriger materieller Verbrechensbegriffe

M i t der Formulierung eines materiellen Verbrechensbegriffs betraten


die antiliberalen Strafrechtler kein Neuland. Schon vor ihrer Zeit
waren Versuche unternommen worden, das strafrechtliche Unrecht von
einem Punkt außerhalb des Gesetzes zu bestimmen. Nach antiliberaler
Auffassung waren sie jedoch alle von einer liberalen Grundhaltung ge-
prägt. Die neue Strafrechtswissenschaft entwickelte ihren materiellen
Verbrechensbegriff antithetisch zu ihnen.
I n einer kurzen Zusammenfassung sollen zunächst die materiellen
Verbrechensdefinitionen wiedergegeben werden, die die antiliberale
Strafrechtswissenschaft zum Gegenstand ihrer K r i t i k machte 32 :

33
a) Überblick über vorauf gegangene materielle Verbrechensbegriffe

Die moderne Schule hatte ihre Straftheorie dem Gedanken der Gesell-
schaftssicherung unterstellt; auf der Seite der Verbrechensbetrachtung
entsprach dem eine materielle Bestimmung des Verbrechens als „gesell-
schaftsschädliches" 34 oder „antisoziales" 35 Verhalten. Als notwendig für
die Erhaltung der Gesellschaft wurde der Schutz von „Rechtsgütern"
erachtet, so daß das Verbrechen auch als „Rechtsgutsverletzung oder
-gefährdung" erschien 36 .

31 Vgl. auch Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937,


S. 519.
3 2 Die kurze u n d fragmentarische Wiedergabe entspricht der Behandlung
durch die antiliberale Strafrechtswissenschaft. Einen tieferen Einblick ver-
schaft Heinitz, Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit.
33 Streng genommen könnte nur von Unrechtsbegriffen die Rede sein.
Die Antiliberalen behandelten sie jedoch durchweg als umfassende V e r -
brechensdefinitionen.
34 v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch, S. 173.
35 Merkel/Liepmann, Die Lehre von Verbrechen u n d Strafe, S. 5.
36 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 14. Aufl., S. 64 f., 2981; ZStW 8, S. 133 ff.; A u f -
sätze und Vorträge I, S. 212 ff. Naucke, Betrug, S. 39 ff., hat aufgezeigt, daß
die inhaltliche Bestimmung des Rechtsgutsbegriffs bei v. Liszt entscheidend
wiederum v o m Gedanken der Sozialgefährlichkeit beherrscht war.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 175

Um eine Uberwindung einer rein formellen Verbrechensauffassung


hatte sich auch Graf zu Dohna bemüht. Die Rechtswidrigkeit einer Hand-
lung bestimmte er unter Zuhilfenahme der Formel, daß die Anwen-
dung des angemessenen Mittels zum angemessenen Zweck rechtmäßig
sei 37 .
Ähnlich ging Sauer vor: „Rechtswidrig ist ein Verhalten, das nach
seiner allgemeinen Tendenz dem Staat und seinen Gliedern gemäß dem
Urteil der Rechtswissenschaft mehr schadet als nützt 3 8 ."
Nach Mezger sollte sich die Inhaltsbestimmung des Verbrechens aus
der allgemeinen Zielsetzung der Rechtsordnung ergeben, ein „kompos-
sibles Maximum der Interessenbefriedigung" zu gewährleisten 39 . Inhalt-
lich bedeute das Verbrechen die „Verletzung menschlicher Lebens-
interessen" 40 .

b) Allgemeine Einwände der Antiliberalen gegen


die bisherigen materiellen Verbrechensbegriffe

Diese Versuche, den Gehalt des Verbrechens unabhängig vom Gesetz


zu definieren, lehnte die junge Strafrechtswissenschaft insgesamt als
Produkte liberalen Denkens ab. N u r das Bemühen, über einen formel-
len Verbrechensbegriff hinauszugelangen, erkannte sie an. Das Ziel sei
jedoch nicht erreicht worden; die materiellen Verbrechensbegriffe seien
i m Formalen steckengeblieben 41 . Deutlicher Beweis sei der hohe A b -
straktionsgrad der Definitionen. Sie enthielten zudem keinen inhaltlich
präzise bestimmten Wertmesser und ließen somit die Frage offen, was
i m einzelnen gesellschaftswidrig sei, woraus sich die Angemessenheit
von M i t t e l und Zweck ergebe. Eine klare A n t w o r t hätte einen bestimm-
ten weltanschaulichen Standpunkt vorausgesetzt. Ein solcher könne
jedoch i m pluralistischen Staat des Liberalismus keinen Anspruch auf
Allgemeingültigkeit erheben. I n i h m könne nur eine möglichst formale
und abstrakte Verbrechensdefinition allgemeine Gültigkeit bean-
spruchen.
Diese wiederum erlaube aber nicht, ein Ergebnis für den einzelnen
Rechtsfall abzuleiten 42 . Es sei daher nicht verwunderlich, daß die Praxis,
soweit sie sich der materiellen Verbrechensbegriffe bedient habe, letzten
Endes zu einem Gesetzespositivismus zurückgekehrt sei. Die A n t i -

37 Vgl. Die Rechtswidrigkeit, S. 53 f.


38 Grundlagen des Strafrechts, S. 391.
39 GS 89, S. 249, 260.
4
« Ebd., S. 248; Strafrecht, S. 198.
41 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 27 f.; Dahm, Verbrechen und Tatbestand,
S. 70; DStR 1934, S.213; Krüger, ZStW 54, S. 591 ff., 644 ff., 655 ff.
42 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 29.
176 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

liberalen erinnerten an die reichsgerichtliche Entscheidung zur Güter-


abwägung bei der medizinisch indizierten Schwangerschaftsunter-
brechung, die zur Bewertung der Rechtsgüter die gesetzlichen Straf-
androhungen für eine Verletzung des Lebens der Mutter bzw. des
Embryos herangezogen hatte 4 3 .
Einem „Rückzug in den Positivismus" 4 4 komme es aber auch gleich,
wenn zur näheren Bestimmung des Wertmessers auf die Rechtsanschau-
ungen der „kulturell führenden Schicht" oder ähnliche Maßstäbe ver-
wiesen werde 4 5 . Hieran erweise sich die Unfähigkeit der Liberalen, über
den Zustand einer bloßen Beobachtung des Lebens hinauszugelangen
und politisch gestaltend zu wirken 4 6 . Der liberale und neutrale Staat
könne sich nicht dazu durchringen, eine klare Rangfolge der verschie-
denen Interessen aufzustellen. Ohne Rücksicht auf den sachlichen Gehalt
gehe es ihm nur um einen Ausgleich der Interessen, um ein „kompos-
sibles Maximum der Interessenbefriedigung" 47 .
Nach antiliberaler Auffassung war den materiellen Verbrechensbe-
griffen Einseitigkeit vorzuwerfen. Sie richteten ihr Augenmerk vor-
wiegend auf äußere Merkmale. Sie beschränkten sich auf den Bereich
des Unrechts; das Element der Schuld werde von ihnen nicht erfaßt.
Ethische und sittliche Gesichtspunkte blieben unberücksichtigt. Auch
hierin mache sich der Einfluß einer liberalistischen und rationalistischen
Denkweise geltend. Das Recht werde als ein zweckbestimmtes Instru-
ment zur Regelung des äußeren Zusammenlebens betrachtet 48 .
Dieselbe Grundhaltung offenbare sich i n der praktischen Anwendung
der materiellen Verbrechensbegriffe, die auf dem Boden der liberalen
Gesetzestechnik erfolge 49 : Die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens
bedeute i n der Regel auch dessen Rechtswidrigkeit. Erst i m Bereich der

43 Vgl. R G 61, 242; 62, 137; dazu Schaff stein, ZStW 55, S. 29 sowie Pol.
Strafrechtswissenschaft, S. 12 f. Ä h n l i c h kritisierten auch die Vertreter der
„liberalen" Strafrechtsreform die Entscheidungen; vgl. E.Schmidt, ZStW 49,
S. 3881; Günhut, ZStW 51, S. 461.
44 Schaff stein, ZStW 55, S. 29.
45 Vgl. Beling, Rechtswissenschaft u n d Rechtsphilosophie, S. 39; Heinitz,
Die Rechtswidrigkeit, S. 99, 108; Grünhut, Festgabe für F r a n k 1930, Bd. 1,
S. 8, 10; Mezger, RG-Festgabe, Bd. V, S. 20; Drost, Das Ermessen des Straf-
richters, S. 28; dazu Krüger, ZStW 54, S. 657 ff.; Dahm, DStR 1934, S. 88.
46 Vgl. Dahm, Z f K u l t u r p h 1936, S. 213.
47 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30 f. Auch Mezger selbst unterzog seine
Formel dieser K r i t i k und stimmte den Idealen des neuen Staates zu; vgl.
ZStW 55, S. 7 f. Insgesamt blieb seine H a l t u n g aber schwankend. Nicht i n
allen Fragen stimmte er m i t den jüngeren antiliberalen Strafrechtswissen-
schaftlern überein. Vgl. unten 5. Kap. I X .
48 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S . 3 0 1 ; ZStW 57, S.299; Dahm, ZStaatW 95,
S. 295.
49 Vgl. Krüger, ZStW 54, S. 657 f.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 177

Ausnahmen sollten die materiellen Verbrechensdefinitionen zur A n -


wendung kommen. Beabsichtigt sei, den Bereich des Unrechtsausschlus-
ses umfassend zu definieren und so die Lücken zwischen den gesetzlichen
Rechtfertigungsgründen zu schließen. A n der Funktion des gesetzlichen
Tatbestandes, das Feld des Strafbaren klar abzustecken, werde nicht
gerüttelt. Den materiellen Verbrechensbegriffen sei zum Ziel gesetzt,
i m Rahmen der Rechtswidrigkeit die Grenzen des Strafbaren noch enger
zu ziehen und damit gleichzeitig die individuelle Freiheitssphäre zu
erweitern 5 0 .

50a
c) Die antiliberale Kritik an der Rechtsgutslehre

I m Mittelpunkt antiliberaler Angriffe gegen frühere materielle Ver-


brechensbegriffe stand die Lehre, die das Verbrechen als Verletzung
eines Rechtsgutes erklärte. Sie hing nach Ansicht der antiliberalen
Strafrechtswissenschaftler mit Verbrechensdefinitionen zusammen, die
auf die Gesellschaftswidrigkeit oder Sozialschädlichkeit abstellten 51 .
A m intensivsten setzte sich Schaffstein m i t der Rechtsgutslehre aus-
einander. Er war zugleich ihr schärfster Gegner. Nach seiner Auffas-
sung zeigt sich die innige Verknüpfung m i t dem Staatsideal des Libera-
lismus bereits i m historischen Ursprung 5 2 : Die Rechtsgutslehre stamme
unmittelbar von der Lehre Feuerbachs ab, daß das Verbrechen ein
subjektives Recht verletze 53 . Das Augenmerk sei dabei auf den Kreis
subjektiver Berechtigungen gerichtet, die der Staat vor Übergriffen zu
schützen habe. Zur Pflicht werde dem Staatsbürger lediglich gemacht,
fremde Individualsphären nicht anzutasten.
Die Umformulierung durch Birnbaum habe keine Änderung dieses
Standpunktes bedeutet; sie habe mehr äußere, technische Gründe ge-
50 Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 29 ff.
zum übergesetzlichen Notstand.
50a vgl. die Darstellungen von Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der
Gesellschaft, S. 231 ff., Sina, Dogmengeschichte, S. 70 ff. u n d Hassemer, Theorie
u n d Soziologie des Verbrechens, S. 50 ff. Amelung untergliedert nach „histo-
risch-politischen" und „dogmatischen" Argumenten. W i r halten diese Unter-
scheidung f ü r verfehlt; die antiliberale Strafrechtswissenschaft ging gerade
von der historisch-politischen Bedingtheit der Dogmatik aus.
si Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 121.
52 Vgl. zum folgenden: Schaffstein, DStR 1935, S.98f.; DRWis 1936, S. 42.
A n der historischen Beweisführung Schaff steins rügt Amelung, Rechtsgüter-
schutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 236 ff. die „Ungeschichtlichkeit" (vgl.
oben 1. Kap. II.). Er w i r f t Schaffstein vor, daß er nicht zwischen der Sozial-
schadenstheorie des Frühliberalismus u n d dem spätliberalen Rechtsgüter-
schutzgedanken unterscheide. Die pauschale Kennzeichnung der Rechtsguts-
lehre als „ l i b e r a l " übergehe die konservativen u n d restaurativen Elemente
des Spätliberalismus.
53 Schaff stein, DStR 1935, S. 99, verweist auf Feuerbach, Lehrbuch des
gemeinen peinlichen Rechts, 12. Ausgabe 1836, §§ 8 u n d 21.

12 Marxen
178 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

habt. Ausgehend von der Erwägung, daß nicht das subjektive Recht
selbst, sondern nur sein Gegenstand durch das Verbrechen verletzt
werden könne, habe Birnbaum die verbrecherische Tat als Beeinträchti-
gung von Rechtsgütern erklärt 5 4 . Diese Auffassung habe die Strafrechts-
wissenschaft der vornationalsozialistischen Zeit beherrscht.
Einen entscheidenden Wandel hatte die Rechtsgutslehre nach Ansicht
der antiliberalen Strafrechtswissenschaft auch nicht durch die neueren
Arbeiten von Honig und Schwinge erfahren 55 . Diese faßten den Rechts-
gutsbegriff als methodisches Prinzip auf. „Rechtsgut" bedeutete bei
ihnen „der vom Gesetzgeber i n den einzelnen Strafrechtssätzen an-
erkannte Zweck i n seiner kürzesten Formel" 5 6 . Dieser Zweck sollte den
maßgebenden Gesichtpunkt für die Untersuchung, systematische Be-
arbeitung und Anwendung des Strafrechts bilden.
Der jüngeren Rechtsgutslehre hielten die antiliberalen Strafrechtler
entgegen, daß die Entwicklung „auf halbem Weg stehen geblieben"
sei 57 . Trotz der Vergeistigung hielten die Vertreter des methodischen
Rechtsgutsbegriffs an der Vorstellung fest, daß das Verbrechen sich
gegen ein bestimmtes Angriffsobjekt richte, daß es allein i n einer Ver-
letzung der äußeren Ordnung, i n einem Eindringen i n die individuelle
Gütersphäre bestehe 58 . Das ergebe sich schon aus der Beibehaltung des
Begriffs „Rechtsgut" 59 . Beherrschend bleibe der Geist des Liberalismus,
des neutralistischen Positivismus und des individualistischen Materialis-
mus. Die Rechtsgutslehre suche das Verbrechen gegenständlich zu erfas-
sen. A l l e i n der materielle, äußere Schaden werde zum Anknüpfungs-
punkt einer gedanklichen Verarbeitung des Verbrechens genommen, die
ausschließlich den kausalen Kategorien Ursache und Wirkung Bedeu-
tung beimesse. Diese Sicht ermögliche es, überindividuelle Gehalte des
Rechts als „metaphysisch" und damit unbeachtlich auszuschalten. Sie
gestatte größtmögliche Exaktheit bei der gesetzlichen Umschreibung
des Verbrechens und bei der Handhabung des Gesetzes. Ziel sei es, ein
Höchstmaß an Berechenbarkeit herzustellen. Die Rechtsgutslehre münde
i n die Auffassung ein, das Strafgesetz sei die Magna Charta des Ver-
brechers oder auch des gesetzestreuen Staatsbürgers 60 .

54 v g l . Archiv des Kriminalrechts, N.F. Jg. 1834, S. 149 ff.


55
Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 99 ff.
56 Honig, Die Einwilligung, S. 94; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung,
S. 22 f.
57 Gallas, Festschrift f ü r Gleisbach 1936, S. 57 f.
58 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 101; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936,
S. 57 ff.; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 137.
59 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 234.
60 Vgl. Boldt, DR 1937, S. 93.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 179

Das Straf recht könne jedoch nicht mehr als Einrichtung zum Schutz
individueller Interessen angesehen werden. Wichtiger als persönliche
Freiheit und individuelle Glückseligkeit sei die Verwirklichung der
übergeordneten Einheit, der Volksgemeinschaft, die ihre „geschichtliche
Bestimmung" zu erfüllen habe 61 . Es gebe keine „Individualsphären"
und keine „juristische Staatsperson" mehr 6 2 . Staat und Gemeinschaft
seien die beherrschenden Werte i m Strafrecht geworden.
Von dieser grundlegenden politischen Einstellung aus brachten die
antiliberalen Strafrechtler i m einzelnen gegen die Rechtsgutslehre vor:
Sie habe ersichtlich von einem Deliktskomplex ihren Ausgang genom-
men; Prototyp des deliktischen Handelns sei für das materialistische
und individualistische Denken das Vermögensdelikt 63 . Ohne Berück-
sichtigung gewichtiger Unterschiede seien auch die übrigen Delikte i n
die „begriffliche Zwangsjacke" des Rechtsguts gepreßt worden 6 4 . Die
Schwierigkeiten, die dabei insbesondere die Verbrechen gegen die Ge-
meinschaft bereiteten, seien durch die Konstruktion des Staates als
juristische Person beseitigt worden, die in besonderem Maße ein Produkt
liberaler Denkweise sei 6 5 : Als juristischer Person werde dem Staat ein
nur beschränkter Kreis von Rechten zudiktiert. Deren Grenzen dürfte
er nicht überschreiten; sie bedeuteten gleichzeitig eine Sicherung der
individuellen Freiheitssphäre. Individuum und Gemeinschaft seien
strikt voneinander getrennt — eine für das antiliberale Denken unhalt-
bare Vorstellung, Sie führe zu wirklichkeitsfernen und inhaltsleeren
Abstraktionen: Der innere Frieden des Staates und das individuelle
Vermögen könnten nicht als zwei völlig verschiedene Gegenstände ge-
meinsam unter den Begriff „Rechtsgut" gezogen werden.
Die Rechtsgutslehre sei der Ursprung vieler „Trennungen und Zer-
reißungen" 6 6 : Sie gehe i m politischen Bereich von der Spaltung zwischen
Staat und Gesellschaft, zwischen Staat und Individuum aus, auf dem
Gebiet des Rechts von der Trennung zwischen Recht und Sittlichkeit,
der die Auffassung zugrundeliege, daß das Recht lediglich die Aufgabe
habe, durch den Schutz individueller Rechtsgüter das äußere Zusam-
menleben der Menschen zu regeln. I m Strafrecht habe sich das Trennung-
denken fortgesetzt i n Unterscheidungen wie: Objektive-subjektive Ver-

H.Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 9; Henkel, Strafrichter


und Gesetz, S. 47: „Hingabe des Volkes an seine Aufgaben."
62 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113; DRWis
1936, S. 43.
63 Vgl. Schaffstein, DStR 1935, S. 103.
64 Ders., Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113.
65 Vgl. ebd., S. 113; DStR 1935, S. 103 f.; DRWis 1936, S. 42 f.
66 Schaff stein, DStR 1935, S. 101.

12'
180 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

brechensvoraussetzungen, Rechtswidrigkeit-Schuld, Rechtsnorm-Pflicht-


norm, Bewertungsfunktion-Bestimmungsfunktion des Rechts 67 .
A m Endpunkt der wirklichkeitsfernen Trennungen und Abstrak-
tionen stehe der methodische Rechtsgutsbegriff. Bei der Bearbeitung
des Strafrechts nur nach Zweckgesichtspunkten, bei der strikten Unter-
scheidung zwischen rein tatsächlichem Tathergang und rechtlicher Be-
wertung würden die Wege des südwestdeutschen Neukantianismus
begangen, der Wert und Wirklichkeit m i t aller Schärfe unterscheide,
dabei aber die Werthaftigkeit des konkreten völkischen Seins ver-
kenne 68 .
I m Streben nach Gültigkeit für alle Delikte sei der ursprünglich kon-
krete Inhalt der Rechtsgutslehre verlorengegangen und nur ein formales
Prinzip Übriggeblieben, das die Erkenntnis des Verbrechens u m keinen
Schritt voranbringe 69 .
Die Verallgemeinerung diene als „Deckmantel für politische Inhalte" 7 0 :
Die angebliche Allgemeingültigkeit solle dem Rechtsgutsbegriff ewigen
Bestand sichern, unabhängig von den politischen Strömungen der Zeit.
Das i m Rechtsgutsbegriff verborgene liberalistische Denken solle auf
diese Weise die Vorherrschaft erlangen und ausüben, ohne sich aus-
weisen zu müssen 71 .
Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vertraten weiterhin die
Auffassung, daß die Rechtsgutslehre den Unrechtsgehalt des Ver-
brechens nicht vollständig ausschöpfe 72. Sie lasse die A r t der Begehung,
die verbrecherische Tätigkeit unbeachtet 73 . Diese könne aber nicht be-
deutungslos sein. Ansonsten hätte sich der Gesetzgeber ζ. B. i m Rahmen
der Eigentumsdelikte m i t einem Generaltatbestand der vorsätzlichen,
dauernden Entziehung fremden Eigentums begnügt, der einen umfassen-

67
Vgl. ebd., S. 101 f.
es Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
69 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 117 f.; DStR
1935, S. 100 f.; Boldt, DR 1937, S.94; Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 138;
H. Mayer, DStR 1938, S. 82.
70 Schaff stein, DStR 1935, S. 97.
71
Vgl. ebd., S. 101: Der methodische Rechtsgutsbegriff ermögliche „dem
Gift der Aufklärungsideologie ein Eindringen i n viele Ritzen u n d Spalten
des Strafrechts, die es i n einer kompakteren Form nicht hätte erreichen
können".
72
Insgesamt dazu: Schaff stein, DStR 1937, S. 337; Dahm, ZStW 57, S. 233;
Boldt, DR 1937, S. 94; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 130 ff. (unter ausdrück-
licher K o r r e k t u r seines i n MschrKrimPsych 1934, S. 80 f. vertretenen Stand-
punktes; vgl. S. 139 A n m . 34).
73
Diesen kritischen Aspekt hat H. Mayer am gründlichsten herausgear-
beitet; vgl. Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 71 ff., 95 f., 194 ff.; DStR 1938,
S. 78; vgl. auch Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 58; Kempermann,
Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 9, 16.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 181

den Schutz des Rechtsguts „Eigentum" gewährleistet hätte 7 4 . Die


Rechtsgutslehre könne auch die Unterschiede zwischen den verschie-
denen Delikten nicht erklären, die dasselbe Rechtsgut beträfen, weil sie
von der Begehungsform, von personalen, irrationalen und ethischen
Elementen absehe75 . A m schwersten wiege die Unterschlagung des ver-
brecherischen Willens „als der i n der Volksmoral wurzelnde tiefste
Grund allen Strafens" 76 . Das i n vielen Delikten wie ζ. B. i m Landes-
verrat oder i n der Untreue enthaltene „Verrats- und Treubruchs-
moment" komme überhaupt nicht zur Geltung 7 7 . Es werde nicht ge-
nügend klar gemacht, daß der Verbrecher eine Pflichtverletzung gegen-
über der Gemeinschaft begehe 78 .
Unvereinbar sei die Rechtsgutstheorie m i t den neueren straftheo-
retischen Überlegungen. Die Ziele der „Typensonderung", der Auslese
und der „Integration" reichten weit über die „bloße Güterschutzfunk-
tion" hinaus 79 .
Die Rechtsgutslehre lasse sich auch angesichts des Wandels in der
Auffassung von den subjektiven Rechten nicht mehr halten. Die anti-
liberalen Strafrechtler verwiesen dabei auf die Arbeiten zum bürger-
lichen Recht von H. Lange, Larenz, Siebert, Eckhardt und Wieacker 80 ,
die eine neue Inhaltsbestimmung von privatrechtlichen Rechten und
Rechtsverhältnissen erbracht hätten. Danach könne nicht mehr von
einem subjektiven Recht i m Sinne einer dem individuellen Belieben
völlig überantworteten Berechtigung die Rede sein. Es sei untrennbar
mit einer Verpflichtung gegenüber der Gesamtheit verbunden, die zum
Inhalt des Rechts gehöre. So sei die Vorstellung verlassen, daß das
Eigentum seinem Inhaber grundsätzlich eine unumschränkte Herrschaft
gewähre, die erst i m nachhinein durch öffentlich-rechtliche Beschrän-
kungen eingeengt werde. Die angeblichen Schranken des Eigentums
gehörten unmittelbar zu seinem Inhalt 8 1 . Aus dieser Sicht sei die Ent-

74 Vgl. Schaff stein, DStR 1937, S. 342.


75 Vgl. Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 139.
76 ν . Gemmingen, J W 1933, S. 2372; Schaffstein, DStR 1935, S. 102; Freisler,
Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 31; H.Mayer, Strafrecht des
Deutschen Volkes, S. 96: „Unzulässige Unterbewertung der Innenseite der
T a t " ; vgl. auch Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 9.
77 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 104; Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 139.
78 Vgl. Dahm, ZStW 57, S.233; Schaff stein, DStR 1937, S. 342 ff.
79 Vgl. Schaffstein, DStR 1935, S. 98; DStR 1937, S.340; vgl. zur Straf-
theorie der antiliberalen Strafrechtswissenschaft oben 4. Kap. I I I . 4. c).
so Vgl. dazu Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113 f.;
Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 74 f. m. w. Nachw.
8i Vgl. Wieacker, Wandlungen der Eigentumsverfassung; Eigentum u n d
Enteignung: DJZ 1934, Sp. 1446 ff. Die Frage des Rechtsschutzes hatte für das
antiliberale Denken keine Bedeutung. Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbe-
182 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

gegensetzung von Individuum und Gemeinschaft aufgehoben. Damit


werde i m Strafrecht der Rechtsgutslehre, die auf der Lehre von den un-
umschränkten subjektiven Rechten aufbaue, der Boden entzogen.
I n der Anfangsphase der dogmatischen Diskussion wurde der Kampf
gegen den Rechtsgutsbegriff m i t großer Heftigkeit und Bedingungs-
losigkeit geführt. Insbesondere Schaff steins Äußerungen ließen den
Eindruck entstehen, daß der Begriff des Rechtsgutes vollständig be-
seitigt werden sollte 52 . Dagegen erhoben selbst solche Straf rechtswissen-
schaftler Einspruch, die ansonsten der Rechtsgutstheorie kritisch gegen-
überstanden. So betonte H. Mayer, daß der Rechtsgutsbegriff nicht
notwendigerweise individualistisch gedacht werden müsse 83 und Gallas
warf Schaffstein Einseitigkeit i n der Denkweise vor 8 4 .
Schließlich setzte sich eine etwas zurückhaltendere Auffassung durch 85 .
Der Rechtsgutsgedanke wurde als ein möglicher Standpunkt bei der
Betrachtung des Verbrechens akzeptiert. Bestritten wurde nur noch
seine Brauchbarkeit als alleiniger Erklärungsgrund. Er könne auch nicht
mehr die Stellung eines übergeordneten Gesichtspunktes innehaben.
Erforderlich sei eine „Akzentverlagerung" 8 6 auf die personale Seite des
Verbrechens.

3. Der materielle Verbrechensbegriff


der antiliberalen Strafrechtswissenschaft

Die Darstellung des eigenen materiellen Verbrechensbegriffs be-


gannen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler zumeist m i t einer
einschränkenden Vorbemerkung: Der materielle Gehalt des jeweiligen
Delikts könne nicht in eine allgemeine Formel gefaßt werden 8 7 . Das
materielle Rechtsprinzip abstrakt umschreiben zu wollen, sei „geradezu
ein Widerspruch i n sich selbst" 88 . Das neue Rechtsgedenken zeichne sich
gerade durch eine Abkehr von den Allgemeinbegriffen und durch eine

stand, S. 75: „So verstanden ist die Enteignung kein Eingriff, sondern eine
Durchsetzung von Bedürfnissen der Gemeinschaft, die das Recht des einzel-
nen gar nicht erst zu beseitigen braucht."
82 Vgl. H. Mayer, DStR 1938, S. 77; ebd., A n m . 19; Koch, Ist das Wesen des
Verbrechens Rechtsguts- oder Pflichtverletzung?, S. 1 f.
83 DStR 1938, S. 81.
84 Festschrift für Gleispach 1936, S. 68.
85 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 111 f., 125;
DStR 1935, S. 98; DStR 1937, S. 336 u n d 338; Dahm, ZStW 57, S. 235 (gegen
eine „Überbetonung" des Rechtsgutsbegriffs) ; vgl. dazu Lüderssen, Zum
Strafgrund der Teilnahme, S. 122; Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz
der Gesellschaft, S. 251 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 82.
86 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125.
87 Vgl. Schaffstein, ZStW 55, S. 29 f.; Dahm, ZStW 57, S. 281.
88 Dahm, DStR 1934, S. 213 f.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 183

Hinwendung zum Konkreten aus 89 . Der materielle Inhalt des Ver-


brechens lasse sich nur aus der Eigenart des einzelnen Delikts erschlie-
ßen. Seine Bestimmung sei daher ein Problem des Besonderen Teils 9 0 .
Dieser Gedanke hätte die antiliberalen Strafrechtler eigentlich ver-
anlassen müssen, auf jede allgemeine Definition des Verbrechens zu
verzichten. Sie hielten sich jedoch nicht daran; ihre antiliberale Haltung,
ihr antithetisches Denken verführte sie dazu, den Liberalismus auf
seinem Terrain m i t seinen Waffen entgegenzutreten. Den liberalen A l l -
gemeinbegriffen stellten sie eigene gegenüber, die zumeist noch un-
bestimmter waren, w e i l keine feste Verbindung zum Gesetz bestand.
Zwar fehlte nie der Hinweis, daß eine Bewährung und Konkretisie-
rung am einzelnen Delikt erfolgen müsse; dieser zweite Schritt wurde
jedoch nur selten getan. Der Beschäftigung mit Einzelproblemen gingen
allgemeine rechtstheoretische Arbeiten v o r 9 0 a , deren Ziel es war, einen
grundsätzlichen Umschwung i m Rechtsdenken der Zeit herbeizuführen.
Wie i m liberalen Strafrecht blieb das Schwergewicht i n allgemeinen
Erörterungen,
Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler gelangten nicht stets zu
übereinstimmenden Definitionen eines materiellen Verbrechensbegriffs.
I n ihrem K e r n deckten sich aber die unterschiedlichen Fassungen:
Gemeinsame Ausgangsbasis war die „Uberzeugung von der Geschicht-
lichkeit der strafrechtlichen Begriffe" 9 1 , die organisch aus dem Rechts-
empfinden des Volkes hervorgegangen seien. Auch nach der Kodifizie-
rung werde die weitere Entwicklung maßgeblich vom völkischen Rechts-
gefühl bestimmt, dessen Anfangs- und Endpunkt die Gemeinschaft sei.
Diese dürfe nicht als eine bloß äußere Ordnung verstanden werden. Sie
beruhe auf dem „inneren Zusammenhalt ihrer Glieder", auf einer Ge-
meinschaftsgesinnung, „die alle erfaßt" 9 2 . Das Wesen des Verbrechens
bestehe i n der „GemeinschaftsWidrigkeit" 93 . Der Verbrecher entziehe
sich der Gemeinschaft; er lasse die Gemeinschaftsgesinnung vermissen:
„Das Verbrechen ist von allem Anfang und i n seinem tiefsten Kern der

89 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 29 f. sowie unten 5. Kap. V. 1.


90 Vgl. Schaffstein, ZStW 55, S.30f.; Dahm, DStR 1934, S. 213 f.
90a v g l . Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken,
S. 11.
91 H.Mayer, DStR 1938, S. 92; vgl. auch ders., Straf recht des Deutschen
Volkes, S. 161; Dahm, ZStW 57, S. 252 u n d Festschrift für Siber 1941, Bd. 1,
S. 217.
92 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17.
93 Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S.33; vgl. auch Boldt, DR 1937, S. 94; Schaff-
stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109 f.; Gallas, Festschrift für
Gleispach 1936, S. 67; Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
184 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

innerliche Abfall von der inneren Bindung an die Gemeinschaft 94 ." Auch
wenn es sich gegen einen einzelnen richte, treffe es letzten Endes doch
die Gemeinschaft; der einzelne werde durch die Rechtsordnung nicht als
solcher, sondern nur als Glied der Gemeinschaft geschützt 95 .
Für die Antiliberalen war der Gegensatz von Recht und Sitte i n der
Volksanschauung als Rechtsquelle überwunden. Die Gemeinschafts-
widrigkeit wurde daher auch als „Verstoß gegen die völkische Sitten-
ordnung" definiert 96 . Nicht eine individual-ethische Auffassung sollte
den Maßstab liefern, sondern die allgemeinverbindliche völkische,
nationalsozialistische Sittlichkeit 9 7 .
I n jeder Hinsicht also richteten die antiliberalen Straf rechtswissen-
schaftler ihre Versuche, das Verbrechen materiell zu beschreiben, am
„Volksbewußtsein" aus. Der Begriff war unbestimmt genug. Gleich-
wohl behauptete Mezger. daß das deutsche Volk einen „inhaltlich und
konkret bestimmten Rechtswert" darstelle 98 . Zur Begründung trug der
Hinweis auf die „Geschichte des Volkes, auf seine Verbundenheit durch
Rasse und Landschaft" 9 9 wenig bei. Er sagte nicht, was tatsächlich für die
Bestimmung der Gemeinschaftswidrigkeit maßgebend sein sollte. Be-
deutsamer war die Bezugnahme auf den politischen Gestaltungswillen,
der aus den Grundlagen des völkischen Lebens hervorgehe und an dem
sich Recht vom Unrecht scheide 100 . Dieser Wille zur Gemeinschaft habe
seinen Ausdruck i n der nationalsozialistischen Bewegung gefunden 101 .
I h r totaler Geltungsanspruch enthalte einen klaren Wertmaßstab für
das neue Recht 102 . Die Entscheidung darüber, was „die Grundlage des
völkischen Lebens" 1 0 3 , „das innere Gesetz der Gemeinschaft" 104 , „die
völkische Sittenordnung" 1 0 5 sei, sollte der „ganzen, lebensvoll erfaßten
politischen Wirklichkeit der deutschen Gegenwart" zu entnehmen
sein 1 0 6 . Sie wurde damit den Bedürfnissen der nationalsozialistischen

94 Boldt, DR 1937, S. 94; vgl. auch ders., ZStaatW 96, S. 504; Dahm, Natio-
nalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17.
95 Vgl. Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 62 f.
96 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17.
97 Vgl. Schaffstein, Tel. Begriffsbildung, S. 27; Siegert, Grundzüge, S . l l .
98 Mezger, ZStW 55, S. 8.
99 Ebd., S. 9. Diese Worte ersetzten die vulgäre nationalsozialistische For-
m e l „ B l u t u n d Boden"; vgl. dazu auch Siegert, Grundzüge, S. 8 f.
100 v g l . Mezger, ZStW 55, S. 9.
ιοί v g l . Boldt, DR 1937, S. 94.
102 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30.
103 Freisler, DStR 1935, S. 12.
104 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14; vgl.
auch Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
los Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14.
106 Mezger, ZStW 55, S. 6.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 185

Machthaber überantwortet. Die vielen weitschweifigen Versuche, den


Gehalt des Verbrechens materiell zu bestimmen, endeten i n der lapida-
ren Formel: „Materiell rechtswidriges Handeln ist Handeln gegen die
deutsche nationalsozialistische Weltanschauung 107 ."
Dieser Gedanke wurde für strafrechtliche Belange unterschiedlich
ausgeformt. Die verschiedenen Formulierungen des materiellen Ver-
brechensbegriffs widersprachen einander aber nicht 1 0 8 . Es handelte sich
lediglich um unterschiedliche Ausprägungen desselben Grundgedankens.

a) Das Verbrechen als Pflichtverletzung

Den Gedanken, daß das Verbrechen seinem Wesen nach Pflichtver-


letzung sei, vertrat unter den antiliberalen Straf rechtswissenschaftlern
Schaffstein m i t besonderem Nachdruck. Zur Begründung berief er sich
u. a. auf das geltende Strafgesetz: Die Sonderdelikte des Strafgesetz-
buches könnten nicht m i t der Rechtsgutstheorie erklärt werden, weil
das jeweilige Rechtsgut schon durch den Grundtatbestand geschützt sei.
Strafschärfend wirke sich aus, daß der Täter seine besonderen Pflichten,
ζ. B. die aus seiner Amtsstellung, verletzt habe 1 0 9 . Dasselbe gelte für
das Militärstrafrecht, dessen Tatbestände ebenfalls durch die Rechts-
gutslehre nicht ausreichend gedeutet würden. Auch dort liege der maß-
gebliche Grund für die Bestrafung i n der Verletzung der besonderen
Pflichten des Soldaten 110 .
I n einer Zeit der „totalen Mobilmachung" könne dieser Gedanke aber
nicht auf einige Sonderbezirke des Strafrechts beschränkt bleiben. Das
Strafrecht müsse insgesamt vom Menschenbild des Nationalsozialismus,
vom „politischen Soldaten" 1 1 0 , durchdrungen sein. Schaff stein hielt es
daher für „selbstverständlich, daß die Rechtsformen und Begriffe des
Militärstraf rechts Eingang in das , Allgemeine', bürgerliche' Straf recht
finden" 110.
Der strafrechtlich relevante Pflichtenkreis des einzelnen sollte sich
aus seiner Stellung innerhalb der Gemeinschaft ergeben. Zwei Ebenen
wurden unterschieden 111 : Pflichten begründe einmal die Zugehörigkeit

107 Ebd., S. 9; ähnlich E.Wolf, DRWis 1939, S. 177: „ . . . die materiellen


Inhalte der Gerechtigkeit i m Raum des deutschen Rechts der Gegenwart sind
durch den Nationalsozialismus gegeben. Von seiner Idee her bestimmen sich
alle einzelnen Rechtsideale, auch die des Straf rechts."
i° 8 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 118, 122, zur
Übereinstimmung zwischen dem Pflichtverletzungsgedanken u n d der Deu-
tung des Verbrechens als Verrat oder als Gesinnungsverfall.
i° 9 Vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 120 ff.
no Vgl. ebd., S. 130 f.
m Vgl. ebd., S. 123 u n d 126 ff.; Festschrift für Gleispach 1936, S. 101.
186 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

zu engeren konkreten Gemeinschaften wie Familie, Berufsstand, Wehr-


macht usw. Z u m anderen bestimme die Volksgemeinschaft als über-
greifender Gesichtspunkt das Maß der individuellen Pflichten.
Inhalt und Umfang der jeweiligen Pflichten könnten nicht m i t Hilfe
allgemeiner Regeln ermittelt werden. Das „innere Gesetz" der Gemein-
schaft sei zur Konkretisierung heranzuziehen 112 .
Nur scheinbar führte der Pflichtverletzungsgedanke zu einer Subjek-
tivierung der Verbrechensauffassung, indem er die persönliche Stellung
des einzelnen in der Gemeinschaft zugrunde legte. Nicht das individuelle
Leistungsvermögen, sondern die strengen Anforderungen der völkischen
Sittenordnung sollten für A r t und Umfang der Pflichten bestimmend
sein. Der soldatische Geist kenne keine Rücksichtnahme auf persönliche
Schwächen. Er fordere sogar oft mehr als nur ein durchschnittliches
Verhalten, nämlich ein Standhalten auch i n großer Bedrängnis und die
Bereitschaft, Opfer für die Gemeinschaft zu bringen 1 1 3 . Schaffstein
konzedierte zwar, daß neben der Pflichtverletzung auch noch andere
Gesichtspunkte, darunter auch die Bedeutung des Angriffsobjekts, das
Unrecht näher bestimmen könnten. Sie hätten i m allgemeinen aber nur
untergeordnete Bedeutung und stellten zumeist auch nur einen Ausfluß
aus der Pflichtverletzung dar. So spiegele sich i n der Abstufung der
Strafandrohungen nach dem Wert des verletzten Gutes lediglich die
unterschiedliche Bewertung der i n der Tat zugleich liegenden Pflicht-
verletzung wider 1 1 4 .

b) Das Verbrechen als Verrat

Eine Zuspitzung erfuhr der Pflichtverletzungsgedanke durch die


Lehre, daß das Verbrechen einen „Verrat" beinhalte. Ziel war es, die
Vorstellung der Pflichtverletzung „kraftvoller und volkstümlicher" aus-
zudrücken 115 . Begründer und Hauptvertreter dieser Auffassung war
Dahm.
Er entwickelte sie aus den Delikten des Hoch- und Landesverrats
heraus 116 . I n ihnen sei der Grundtypus des Rechtsbruchs, der Verrat,
noch erhalten, auch wenn i h n die Rechtsgutslehre durch ihre Auslegung
us v g l . Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96 f.; DR Wis 1936,
S. 48.
us Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 139; Fest-
schrift für Gleispach 1936, S.96; DRWis 1936, S. 46; Dahm, DStR 1934, S.93;
Boldt, DR 1937, S. 95.
h 4 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 132; Fest-
schrift für Gleispach 1936, S. 99.
us H.Mayer, DStR 1938, S. 100 A n m . 20; vgl. auch Schaff stein, Das Ver-
brechen als Pflichtverletzung, S. 114 f.
ne Vgl. ZStaatW 95, S. 283 ff.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 187

immer weiter zurückgedrängt habe. Diese gehe am Wesen der Delikte


vorbei, wenn sie sie auf die Verletzung der inneren Ordnung bzw. der
äußeren Sicherheit reduziere; denn das besonders Verwerfliche des
Verrats bestehe nicht i m Angriff auf eine äußere Form des Zusammen-
lebens oder i n der Schädigung von staatlichen Rechtsgütern, sondern i n
der Verletzung der Treuepflicht, die jeden Volksgenossen an die Ge-
meinschaft binde 1 1 7 . Der Verräter offenbare eine gegen die Gemeinschaft
gerichtete Gesinnung.
Dahm beschränkte den Begriff des Verrats zunächst auf die Delikte,
durch deren Begehung nach seiner Ansicht die Beziehung zur Gemein-
schaft völlig zerstört w i r d 1 1 8 . Ihnen entsprach in seiner Straftheorie die
„Ächtung" als Rechtsfolge 119 . „Verbrechen" nannte er diejenigen k r i m i -
nellen Handlungen, die gegen die Gemeinschaft gerichtet seien, die den
Täter aber nicht als vollständig außerhalb der Gemeinschaft stehend
kennzeichneten 120 . Diese Unterscheidung hielt er jedoch nicht durch;
vielmehr dehnte er den Verratsgedanken aus: Jedes „echte Verbrechen"
berge i n sich das Moment des Verrats 1 2 1 . I m nationalsozialistischen
Strafrecht, das Ehre und Treue in den Mittelpunkt strafrechtlichen
Denkens rücke, habe der Verrat als „Prototyp" des Verbrechens zu
gelten 1 2 2 . Er bestimme die allgemeinen Grundsätze 122 .
Auch der Verratsgedanke sollte auf zwei Ebenen Anwendung finden:
Grunddelikt sei der Verrat an der Volksgemeinschaft. Von Verrat könne
auch bei einer Verletzung von Treuepflichten gegenüber einer engeren
Gemeinschaft gesprochen werden 1 2 3 .
Daß die Erklärung jedes Verbrechens als Bruch eines Treueverhält-
nisses die psychische Konstellation des Täters und das Zusammen-
gehörigkeitsgefühl i m Volk verzerrt wiedergab, konnten aber auch die
antiliberalen Strafrechtswissenschaftler nicht völlig übersehen. Schaff-
stein räumte ein, daß die „Verdichtung der Volksgemeinschaft" noch
nicht den erforderlichen Grad erreicht habe 1 2 4 . Um eine „Banalisie-
r u n g " 1 2 5 des Verratsgedankens zu vermeiden, wurde angestrebt, aus
der Fülle strafbarer Handlungen die „echten Verratsdelikte" heraus-

Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17 f.


us Vgl. ZStaatW 95, S. 285 f.
Ii» Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c).
120 vgl. ZStaatW 95, S. 285.
121 Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14.
122 ZStaatW 95, S. 291.
123 Vgl. ebd., S. 294; auch Siegert, DR 1934, S. 530.
124 Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 115.
ΐ2δ Dahm, ZStaatW 95, S. 297.
188 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

zuarbeiten 126 . Zur Durchführung gelangte dieses Vorhaben jedoch nicht.


I m Zuge der Ausdehnung der nationalsozialistischen Macht wurde viel-
mehr der Kreis dieser Delikte noch erweitert. Sogar dem einfachen
Diebstahl wurde Treubruchscharakter zuerkannt 1 2 7 .
Deutlich zeichnet sich hier eine Übereinstimmung m i t der Straftheorie
ab: I m nationalsozialistischen Straf recht sollte die Strafe die Funktion
ausüben, das gestörte Verhältnis des Täters zur Gemeinschaft, seine
geminderte Ehre, deutlich werden zu lassen. Diese Auffassung setzte
das Bestehen einer Volksgemeinschaft voraus; ihr eigentlicher Sinn aber
lag darin, durch das Zwangsmittel der Strafe erst an der Herstellung
einer solchen Gemeinschaft mitzuwirken 1 2 8 . Sie stellte sich i n den Dienst
der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie, der nur an der un-
umschränkten politischen Macht gelegen war. Das Gegenstück zur Ehren-
strafe bildete der Verbrechensbegriff, der jedes Verbrechen als Verrat
erklärte.

c) Das Verbrechen als Ausdruck


einer niedrigen Gesinnung

Das Merkmal der Gesinnung hatte bereits in denjenigen Verbrechens-


begriffen großes Gewicht, die auf die Pflichtverletzung oder den Treu-
bruch abstellten. Darüber hinaus wurde dieser Gedanke als ein beson-
derer und eigenständiger Aspekt des Verbrechens hervorgehoben. Dahm
erinnerte an das „Neidingswerk" des mittelalterlichen Rechts, das die
Tat desjenigen erfaßte, der aus „tückischer, unehrlicher und feiger
Gesinnung" handelte 1 2 0 . I n der Interpretation des Verbrechens als „Aus-
druck der verbrecherischen Gesinnung des Täters" 1 3 0 trat der Gemein-
schaftsgedanke etwas zurück. Nicht so sehr die Verletzung der Treue-
pflicht, sondern die Niedrigkeit der Gesinnung sollte das Wesen des
Verbrechens ausmachen 131 . Der Verbrecher wurde nicht mehr als

12
6 Ebd., S. 297; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14;
Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 118. Nationalsozialisti-
schem Strafrechtsdenken w a r daher die Zielsetzung, bloßes Polizeiunrecht
aus dem K r i m i n a l s t r a f recht auszuscheiden, durchaus nicht fremd; so aber
E. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsrecht, S. 13 f., u n d Michels,
Strafbare Handlungen u n d Zuwiderhandlungen, S. 26 Anm. 66. Vgl. noch
Freisler, DStR 1936, S. 199; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43 f.;
insgesamt dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft,
S. 246.
127 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 103 A n m . 80.
128 vgl. Siegert, DR 1934, S. 528 f., sowie oben 4. Kap. I I I . 4. c).
12» Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15.
130 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 122.
131 Vgl. Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 189

potentielles Glied der Gemeinschaft behandelt. Sein Verhalten wurde


als Beweis für seine Andersartigkeit gewertet.
Noch deutlicher als i n den anderen materiellen Verbrechenslehren
trat i n dieser Auffassung die Bedeutung des neuen Strafrechts als ein
Kampfrecht hervor. Der Schleier einer absoluten Rechtfertigung der
Strafe und einer idealistisch gefärbten Gemeinschaftsideologie wurde
weggezogen. Nachdem der Nationalsozialismus sich eine unumschränkte
Machtposition gesichert hatte, traten die Konturen des materiellen
Verbrechensbegriffs m i t aller Schärfe hervor. Aus dem Jahre 1936
stammen die Worte Schaffsteins: „Für uns ist . . . Sinn der Strafe und
des Strafrechts nicht mehr der Schutz von Individualgütersphären, son-
dern Reinigung und zugleich Schutz der Volksgemeinschaft durch die
Ausscheidung der Entarteten. So liegt nichts näher, als dem Ausdruck
einer entarteten Gesinnung unmittelbare Unrechtsbedeutung zuzu-
erkennen 1 3 2 ."

d) Die neue Täterlehre

Die Bemühungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler um


Überwindung einer rein formellen Verbrechensauffassung hatten auch
eine Lehre vom Täter zum Ergebnis, die dieselbe Funktion erfüllte,
wie der materielle Verbrechensbegriff 133 . Da die Tatbestände des Straf-
gesetzbuches überwiegend auf den äußeren Taterfolg abstellen und
täterschaftliche Elemente nur sporadisch und dann attributiv ver-
wenden, sollte die Täterlehre das Strafgesetz ergänzen, konkretisieren,
korrigieren und letzten Endes beiseite schieben.
Eine eigenständige Täterlehre hatten zuvor Vertreter der modernen
Schule entwickelt. Ihre Arbeiten hatten vornehmlich der soziologischen
und psychologischen Erforschung des Täter Verhaltens gegolten 134 . Von
antiliberaler Seite wurden ihre Versuche entschieden abgelehnt; sie
seien Produkte einer individualistischen, naturalistischen und rationa-
listischen Denkweise 135 . Der Täter werde als isoliertes Wesen betrachtet.
Von einem angeblich wertfreien Standpunkt aus werde er m i t natur-
wissenschaftlichen Methoden bis i n alle Feinheiten analysiert. Die Auf-
schlüsselung des Täterverhaltens nach naturwissenschaftlichen Gesetzen
habe zur Folge, daß nahezu alles entschuldigt werde 1 3 6 . Die Mittel der
kriminologischen Forschung versagten jedoch, wenn es darum gehe, den

132 DRWis 1936, S. 46.


iss vgl. Schaff stein, DStR 1942, S. 34.
134 v g l . υ. Liszt! Schmidt, Lehrbuch, S. 9 ff.
135 vgl. E. Wolf, RuS H. 87, S . 8 f f . ; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 120 f.
136 vgl. Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
190 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

wesensmäßigen K e r n des Täters zu erschließen, seine Bedeutung und


die seiner Tat für die Gemeinschaft 137 .
Die neue Täterlehre war von E. Wolf vorbereitet worden 1 3 8 . Sein
„personaler" Täterbegriff zielte auf den Täter als Glied der Rechts-
gemeinschaft. Von der späteren antiliberalen Täterlehre unterschied
er sich noch i n zweifacher Hinsicht: E. Wolf begründete i h n nicht m i t der
Volksanschauung, sondern mit modernen philosophischen Strömun-
gen 1 3 9 ; i n ihrer ersten Gestalt enthielt seine Täterlehre noch keine un-
mittelbaren Folgerungen für die Rechtsanwendung 140 .
Die antiliberale Lehre vom Täter ging von der Auffassung aus, daß
der Gesetzgeber bei der Formulierung des Tatbestandes ein bestimmtes
Täterbild vor Augen gehabt habe, das der i m Volk lebendigen Vorstel-
lung vom Täter entspreche 141 . Er habe sich bemüht, diese Vorstellung
begrifflich nachzuzeichnen. Ein solcher Formulierungsversuch müsse
jedoch notwendigerweise wegen der beschränkten M i t t e l begrifflicher
Wiedergabe unvollkommen bleiben. Die Fixierung durch das Gesetz
könne nicht bedeuten, daß die Volksanschauung vom Täter bedeutungs-
los geworden sei. Sie enthalte ja gerade das konkrete, lebendige Recht,
das sich ständig weiterentwickle, während das Gesetz seinem Wesen
nach abstrakt und starr sei. Jede Beschäftigung m i t dem Gesetz habe
sich daher an dem B i l d des Täter zu orientieren, das i m Volksbewußt-
sein aufzufinden sei. Es erfasse den Mörder, den Brandstifter, den Dieb
als Typ. Die Besinnung auf diesen Tätertyp führe zum richtigen Ver-
ständnis des rechtlichen Sinngehalts der gesetzlichen Tatbestände 142 .
Ob der Täter einem bestimmten Typ entspreche, könne somit weder
durch kriminologische Untersuchungen noch durch scharfe begriffliche
Unterscheidungen festgestellt werden. Diese Frage könne nur eine ganz-
heitliche und konkrete „Wesensschau" beantworten 1 4 3 . Dabei sei zu
beachten, daß die Volksanschauung stärker als das verletzte Rechtsgut
die Pflichtenstellung des Täters i n der Gemeinschaft 144 , seine Gesinnung,
137
v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88.
13
8 V o m Wesen des Täters, RuS H. 87; vgl. oben 4. Kap. I. 2. b).
139
Ebd., S. 12: „Phänomenologischer Personalismus" u n d „Normativismus";
vgl. auch ders., RuS H. 103, S. 27.
140 vgl. Dahm, Festschrift f ü r Siber, 1941, Bd. 1, S. 208.
!4i Vgl. Dahm, ZStW 59, S. 143; Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936,
S. 102 ff.
142 vgl. Dahm, ZStW 59, S. 144 f.
143
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88; Schaff stein, Das Ver-
brechen als Pflichtverletzung, S. 120.
144 Dahm sprach daher v o m „sozialen" Tätertyp (Festschrift für Siber 1941,
Bd. 1, S. 210). Weitere Bezeichnungen, die der Abgrenzung v o m k r i m i n o l o -
gischen Tätertyp dienten, waren: „normativer" (vgl. Dahm, ebd., S. 210) und
„genereller" Tätertyp (vgl. Mezger, ZStW 57, S. 680).
I I . Der materielle Verbrechensbegriff 191

seine Motive und auch die A r t der Tatausführung i n Betracht ziehe 145 .
Bisweilen könne aber auch die äußere Tatseite, der Schaden, den Aus-
schlag geben 146 . I n Gegensatz zum kriminologischen Täterbegriff richte
sich der volkstümliche Tätertyp nicht oder doch nur sehr wenig nach
der Häufigkeit der Tatbegehung oder einer kriminellen Veranlagung 1 4 7 .
Feste Regeln für die Ermittlung der Typenmäßigkeit gab es nicht 1 4 8 .
Es konnte sie nicht geben, weil m i t ihnen ein gewisses Maß an liberaler
Rechtssicherheit geblieben wäre. „Einfache und volkstümliche Unter-
scheidungen" sollten entscheiden 149 . „Das B i l d wechselt von Fall zu
Fall 1 5 0 ."
Die antiliberale Tätertyplehre war Ausdruck der Bestrebungen i n der
Straf rechts Wissenschaft, die persönliche „Inpflichtnahme" des einzelnen
i m neuen Staat durch eine Subjektivierung des Straf rechts zu unter-
stützen. Aus diesem Grunde hatte auch das Eingehen auf die Täter-
person seine Grenzen. Das Maß der Rücksichtnahme auf die individuelle
Motivationslage gab die „völkische Sittenordnung" 1 5 1 , die allgemein-
verbindliche Anforderungen stellte. Daher war die antiliberale Täter-
lehre eine Lehre vom Tätertyp.
Welche Auswirkungen die antiliberale Täterlehre sowie insgesamt
die Vorstellungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler zu einem
materiellen Verbrechensbegriff auf die strafrechtliche Theorienbildung
hatten, soll i m folgenden untersucht werden. Eine vollständige Dar-
stellung kann allerdings i m Rahmen dieser Arbeit nicht erreicht
werden. Sie müßte nach Gliederung und Umfang den Charakter eines
Lehrbuchs annehmen. Sie wäre zudem m i t der Gefahr verbunden, daß
der Gedankenfaden der Untersuchung verloren ginge.
Die erforderliche Eingrenzung orientiert sich an den Schwerpunkten,
die die antiliberale Strafrechtswissenschaft selbst setzte: Eine der ersten
konkreten Folgerungen, die sie aus der Priorität eines materiellen Ver-
brechensbegriffs zog, war der Ruf nach Beseitigung des Analogie-
verbots (III). Zugleich m i t diesem Thema war der gesamte Bereich der
Fragen zur Funktion und Handhabung des Gesetzes angesprochen. Diese

145 vgl. Dahm, ZStW 57, S.257; Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12; V e r -


brechen u n d Tatbestand, S., 88; Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936,
S. 104 f.
146
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88: „Auch die Tat tötet den
Mann."
147 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 257; ZStW 59, S. 146; Festschrift für Siber 1941,
Bd. 1, S. 212.
148
So ausdrücklich Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89.
149 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
150 Ders., Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88.
151 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 139.
192 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

allgemeinen Probleme fanden noch größere Beachtung, nachdem der


nationalsozialistische Gesetzgeber die Hindernisse beseitigt hatte, die
einer analogen Anwendung des Strafgesetzes i m Wege standen. Eine
Erneuerung der Auslegungsmethode sollte die Anpassung des Straf-
gesetzbuches von 1871 an die Bedürfnisse des nationalsozialistischen
Staates ermöglichen (IV). Liberales Gedankengut glaubte man weiter-
h i n vor allem i n den herkömmlichen Lehren zur strafrechtlichen Be-
griffsbildung und zum Verbrechenssystem enthalten. Um eine Neu-
formulierüng war die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechts-
wissenschaft besonders i n ihrer Spätphase bemüht (V).

Neben diesen Schwerpunkten können die Einwirkungen des anti-


liberalen Denkens auf besondere Probleme des Strafrechts nur an
einigen Beispielen kurz angedeutet werden (VI). Der exemplarischen
Darstellungsweise w i r d sich auch die Erörterung der Bedeutung des
Antiliberalismus für das Gebiet des Strafprozeßrechts bedienen (VII).

I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot

Die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft be-


kannte sich zu politischen Zielen. Sie drängte auf konkrete Veränderun-
gen i n der praktischen Strafrechtspflege. Erster Gegenstand dieser
Bemühungen war das Verbot einer analogen Anwendung von Straf-
gesetzen, wie es i n § 2 StGB festgelegt und durch A r t . 116 WRV verfas-
sungsrechtlich abgesichert war. Die antiliberalen Strafrechtswissen-
schaftler hielten es für unvereinbar m i t ihrer materiellen Verbrechens-
auf fassu ng. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933
unternahmen sie große Anstrengungen, um seine Abschaffung und die
Beseitigung der übrigen m i t dem Grundsatz „ n u l l u m crimen, nulla
poena sine lege" zusammenhängenden Prinzipien (Tatbestandsbestimmt-
heit, Gesetzesbindung, Rückwirkungsverbot) durchzusetzen.
Sie waren sich dabei der Tatsache bewußt, daß die Bedeutung des
Grundsatzes für die unmittelbare Rechtsanwendung ständig abgenom-
men hatte. Die Methode der wertbeziehenden Auslegung hatte das Ver-
bot der analogen Anwendung eines Strafgesetzes weitgehend aus-
gehöhlt. Was als Analogie verboten war, konnte durch eine ausdehnende
Auslegung erreicht werden 1 5 2 . E. Wolf bezeichnete den Grundsatz daher
als eine „bloße Formel, die eine sehr verschiedene inhaltliche Aus-

152 v g l . Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 516 f.


Das Referat Dahms diente der Rechtfertigung der zu dem Zeitpunkt bereits
vorgenommenen Abschaffung des Grundsatzes gegenüber dem Ausland. Es
faßte noch einmal die Argumente der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
zusammen.
I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot 193

füllung verträgt" 1 5 3 , und Dahm vermochte i n i h m „kein Bollwerk


gegenüber der richterlichen Ermessensfreiheit" zu erkennen 1 5 4 .
Z u der Abwertung hatte auch der Gesetzgeber der Weimarer Republik
beigetragen, der die Bindung des Richters an das Gesetz durch zahl-
reiche Generalklauseln und „Kautschukbestimmungen" 1 5 5 gelockert
hatte. E i n markantes Beispiel bildete das Republikschutzgesetz, das
weitgehend auf bestimmte Tatbestandsbeschreibungen verzichtete 156 .
Auch die Rechtsprechung beteiligte sich an der Zersetzung des
Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege". I n der Entschei-
dung der Vereinigten Strafsenate vom 2. Mai 1934 157 trat das Reichs-
gericht für die Möglichkeit einer gesetzlich nicht vorgesehenen alter-
nativen Tatbestandsfeststellung ein. Es gestand sich selbst zu, bei
Gesetzeslücken rechtsschöpferisch tätig zu werden.
Angesichts dieser Entwicklung erklärt sich die Vehemenz, m i t der
Straf rechtswissenschaftler nach 1933 gegen den Grundsatz vorgingen,
vorwiegend aus den Fernwirkungen, die er auf die gesamte Strafrechts-
pflege ausübt 1 5 8 . Als Programmsatz i n § 2 des StGB enthielt er eine
ständige Mahnung an den Gesetzgeber, das Gebot einer eindeutigen
Tatbestandsformulierung und das Rückwirkungsverbot zu beachten.
Er hielt den Richter dazu an, durch ausschließliche und genaueste
Beachtung des Gesetzes die Eingriffe des Staates i n die individuelle
Freiheitssphäre zu begrenzen und berechenbar zu machen. Der anti-
liberale Kampf gegen das Analogieverbot hatte vor allem das Ziel,
diesen Einfluß des Grundsatzes auf den Geist der Rechtspflege zu be-
seitigen.
Fernwirkungen löste der Grundsatz vor allem dadurch aus, daß er
ein Bestandteil der Verfassung war. Auch nach der Machtübernahme
wurde die Weimarer Verfassung nicht insgesamt förmlich aufgehoben.
Dennoch vertraten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftlicher die
Auffassung, daß A r t . 116 WRV nicht mehr gelte 1 5 9 . Zur Begründung
führten sie an, daß die WRV zu weiten Teilen materiell keine Gültig-
keit mehr habe. Die „nationale Revolution" habe einen neuen Staatstyp

153 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 193.


154 Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 517.
iss H. Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 112.
156 Vgl. § 5 Ziff. 1 u n d § 8 Ziff. 1 des Gesetzes zum Schutze der Republik
v o m 21. J u l i 1922 (RGBl I, 585); dazu H.Mayer, Strafrecht des Deutschen
Volkes, S. 112; Naucke, RuS H. 417, S. 10.
157 J W 1934, S. 2049 ff.; mit zustimmender Anmerkung von Schaff stein.
158 vgl. die Andeutungen bei Dahm, Referat zum Kongreß f ü r Rechtsver-
gleichung 1937, S. 519.
159 vgl. Dahm, DStR 1934, S. 251; Nationalsozialistisches u n d faschistisches
Strafrecht, S. 12; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54.

13 Marxen
194 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

geschaffen, der nichts mehr mit dem bürgerlichen Rechtsstaat der


Weimarer Zeit gemein habe. Der Bruch m i t der Vergangenheit sei i m
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 deutlich geworden, das durch
eine Beseitigung des liberalen Gewaltenteilungsprinzips den neuen Typ
des „Regierungsstaates" auch gesetzlich verankert habe und das die
Verfassungslage des neuen deutschen Staates entscheidend präge. Die
damit unvereinbaren Bestimmungen der WRV hätten auch ohne for-
melle Aufhebung ihre Gültigkeit verloren 1 6 0 .
Eine solche Unvereinbarkeit bestehe m i t dem Satz „nulla poena sine
lege" ; denn i h m liege der Menschentyp des Bourgeois und das B i l d der
liberalen Gesellschaft zugrunde, die maßgeblich von der Forderung nach
Berechenbarkeit der staatlichen Eingriffe bestimmt seien. Der National-
sozialismus dagegen erhebe die Volksgemeinschaft zum höchsten Wert.
Er habe den Typ des gemeinschaftsgebundenen Menschen geformt, des-
sen Lebensinhalt der freudig geleistete Dienst am Staat, das w i l l i g
dargebrachte Opfer an Freiheit bilde. Der individualistische Rechts-
sicherheitsbegriff habe daher vollständig seine Bedeutung eingebüßt 161 .
Die nationalsozialistische Rechtserneuerung erstrebe eine Vereinigung
von Recht und Sitte; sie bemühe sich um die Erfassung des wahrhaft
Rechtswidrigen, das nur mit Hilfe der „völkischen Sittenordnung und
des inneren Gesetzes der Gemeinschaft" 162 festgestellt werden könne.
Der Abbau der absoluten Gesetzesherrschaft sei dafür unumgänglich.
Er sei notwendig, wenn der neue materielle Verbrechensbegriff zur
Entfaltung kommen solle 1 6 3 . Wenn die Rechtsanwendung insgesamt auf
die Erfassung des wahrhaft Strafwürdigen ziele, werde auch die Denk-
figur der Analogie überflüssig. Die angeblich analoge Anwendung des
Gesetzes bedeute i n Wahrheit die „unmittelbare Sinn- und Wesens-
erfassung des Verbrechens", wie sie das Gesetz auch ursprünglich ver-
wirklichen sollte 1 6 4 . Zwischen Auslegung und Lückenausfüllung bestehe
kein grundsätzlicher Unterschied 165 .
Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler begrüßten, daß durch die
Abschaffung des Analogieverbots eine „Gefahrenzone" 166 u m die ge-
setzlichen Tatbestände gelegt werde. Der Gemeinschaftsfeind, der durch

160 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54 f.; speziell zu den staats-


theoretischen Fragen: Walz, D J Z 1933, Sp. 1335 ff. u n d oben 3. Kap. I I . 3.
161
Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52, 67; Dahm, Referat zum
Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 520; Schaffstein, DR 1934, S. 351.
162
Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14.
163 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 22.
164 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 103.
165 Vgl. ebd., S. 103; ZStW 57, S.263; Schaffstein, J W 34, S. 2051.
166 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot 195

sittlich verwerfliches, aber strafrechtlich vielleicht nicht ohne weiteres


faßbares Handeln gegen die Gemeinschaftsinteressen verstoße, werde
zu Recht i n seiner Bewegungsfreiheit eingeengt 167 .
Das m i t dem Kampf gegen das Analogieverbot angestrebte kriminal-
politische Ziel wurde auch i n der Formulierung Schaffsteins deutlich,
die Aufhebung des Verbots sei das „notwendige Gegenstück" zu den
übergesetzlichen Unrechtsausschließungsgründen 168 .
Ziel der antiliberalen Angriffe gegen den Grundsatz war ursprüng-
lich, i h n ganz zu beseitigen. Eine bloße „Auflockerung" des Satzes hielt
Dahm 1934 für unzureichend 169 . M i t dem Wegfall des liberalen Rechts-
staates habe er seine Grundlage verloren und müsse völlig entfallen.
C. Schmitt wollte den Satz „nulla poena sine lege" durch die „Gerech-
tigkeitsformel ,nullum crimen sine poena' " ersetzen 170 .
Die radikale Lösung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. National-
sozialistische Bedürfnisse standen einer völligen Auflösung der Ge-
setzesbindung entgegen. Soweit bereits Gesetze des nationalsozialisti-
schen Gesetzgebers vorlagen, mußte ihre unbedingte Durchsetzung
gewährleistet sein. Gegen die Schmittsche Formel wurde eingewandt,
sie sei mit dem Führerprinzip unvereinbar 1 7 1 . Aus der Identität von
Gesetzgeber und Führer folge, daß das Gesetz als Führerbefehl für den
Richter verbindlich sei 1 7 2 .
Eine Kompromißformel i n Form einer Auflockerung der gesetzlichen
Bindung enthielt der Reformvorschlag des preußischen Justizministers 173 ,
der mit nur geringen Änderungen von der amtlichen Strafrechtskom-
mission übernommen wurde: „Ist die Tat nicht ausdrücklich für straf-
bar erklärt, aber eine ähnliche Tat in einem Gesetz m i t Strafe bedroht,
so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn der i h m zugrundeliegende
Rechtsgedanke und die gesunde Volksanschauung Bestrafung for-
dern 1 7 4 ." Die Gesetzesnovelle vom 28. 6. 1935 175 stimmte i m wesentlichen
damit überein.

7 Vgl. ebd., S. 68; Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung
1937, S. 519; Freister, DStR 1935, S. 13 f.; Nicolai, DR 1933, S. 6.
168 ZStW 55, S. 22; vgl. auch DStR 1934, S. 352.
169 DStR 1934, S. 92.
170 J W 1934, S. 714; vgl. auch Bung, J W 1934, S. 1108.
171 Vgl. Schaff stein, ZStW 54, S. 262; DR 1934, S.352; Dahm, DStR 1934,
S. 251 f.
172 Vgl. unten 5. Kap. I V . 6.
173 Vgl. Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 127; zustimmend:
Schaffstein, ZStW 53, S. 607 f.; ZStW 55, S.23; Siegert, Grundzüge, S. 22.
174 K . Schäfer, N u l l u m crimen sine lege, nulla poena sine lege, S. 132.
175 R G B l I, 839. Eine teilweise Vorwegnahme bedeutete das Gesetz über
Verhängung und Vollzug der Todesstrafe v o m 29. 3.1933 (sog. „ L e x van der
Lübbe"), das das Rückwirkungsverbot durchbrach (RGBl I, S. 151).

13*
196 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Einigen Strafrechtlern ging die Neufassung von § 2 StGB, die nur die
Gesetzesanalogie gestattete, nicht weit genug. M i t dem Strafrechtsaus-
schuß der Akademie für Deutsches Recht forderten sie, daß auch die
Rechtsanalogie zuzulassen sei 1 7 6 .
Die Frage des Analogieverbots bildet immer nur einen Ausschnitt
aus einem viel größeren Problemkreis: M i t ihr ist zugleich die allgemeine
Frage nach der Bedeutung des Gesetzes und der dieser Bedeutung an-
gemessenen Auslegungsmethode gestellt. Schaffstein nannte daher § 2
StGB a. F. „das Feldzeichen des Gegners" 177 . Nach seiner Eroberung sei
der Kampf noch keineswegs beendet.

I V . Die Bestrebungen zur Erneuerung


der strafrechtlichen Auslegungsmethode

Die antiliberale Straf rechts Wissenschaft nach 1933 entwickelte ihre


Auslegungsmethode aus der Antithese zu voraufgegangenen Methoden.
Was die Diskussion u m den materiellen Verbrechensbegriff allgemein
zum Inhalt hatte, wurde bei der Erörterung der Auslegungsmethode
wieder aufgenommen und vertieft: Der Gegensatz zum Denken i n
Rechtsgütern und Interessen.
Der Neigung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft, undifferen-
zierte Betrachtungen anzustellen und pauschale Urteile zu fällen, waren
auf dem Gebiet der strafrechtlichen Auslegungsmethode Grenzen ge-
setzt. Unübersehbar hatte der Gedanke, das Gesetz nach dem ge-
schützten Rechtsgut auszulegen, bedeutende Veränderungen erfahren,
die vom substanzerfüllten Rechtsgutsbegriff zur teleologischen Methode
führten. Die antiliberale K r i t i k konnte auch an dem Einfluß der zivil-
rechtlichen Interessenjurisprudenz auf das Strafrecht nicht achtlos
vorübergehen.

1. Die entschiedene Gegnerschaft zur teleologischen Methode

Energisch und bedingungslos wurde der Kampf gegen die Auslegungs-


methode geführt, die eine verfeinerte Form der Rechtsgutstheorie zu-
grundelegte. Sie hatte sich i n einer intensiven Diskussion der zwanziger
Jahre über Fragen der Gesetzesauslegung herausgebildet. I n der Schrift

176 v g l . Freisler, DStR 1935, S. I f f . ; Krug, Z A k D R 1935, S. 99; Dahm,


Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 12; DStR 1934, S. 252.
I m Ausland äußerte Dahm sich anders (vgl. Referat zum Kongreß für
Rechtsvergleichung 1937, S. 522), vermutlich u m das ohnehin große M i ß -
trauen gegenüber der Rechtsentwicklung i n Deutschland nicht noch zu
bestärken.
177 DR 1934, S. 350.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 197

Schwinges „Teleologische Begriffsbildung i m Strafrecht" (1930), die


die Ergebnisse zusammenfaßte, fand sie ihren klarsten Ausdruck 1 7 8 .
Der Zusammenhang m i t der geisteswissenschaftlichen Methode des
Neukantianismus wurde deutlich herausgestellt. Die teleologische
Methode verfuhr individualisierend: Zum Bezugspunkt der Auslegung
wurde der Zweck der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung genommen,
womit nicht ein substantielles Schutzobjekt gemeint war, sondern die
Gesamtheit der für die Kodifizierung maßgeblichen Wertgesichts-
punkte. Der substanzerfüllte Rechtsgutsbegriff wurde zum methodischen
erweitert. Die Anwendung des Gesetzes und die dabei erforderliche
Auslegung erfolgte i m Wege einer Bewertung des Lebenssachverhalts
nach dem so verstandenen Gesetzeszweck.
Gegen die Verknüpfung der teleologischen Methode m i t dem Neu-
kantianismus richtete vor allem Welzel heftige Angriffe 1 7 9 . Die neu-
kantianische Wertphilosophie verstehe die Welt als chaotisches, amor-
phes Material, i n das eine Ordnung erst durch das wertbeziehende Ver-
fahren juristischen Denkens hineingetragen werde. Typisch für diese
Lehre sei der „überaus theoretische, abstrakt-begriffliche Charakter"
und der Abstand von der „unmittelbaren Lebenswirklichkeit" 1 8 0 . Nur
i m Ziel unterscheide sich das Rechtsguts denken der teleologischen
Methode von der Begriffsjurisprudenz; die Verbindung der einzelnen
Tatbestandsmerkmale mit dem Gesetzeszweck werde durch abstrakte
Begriffe hergestellt 181 .
Welzel und Dahm vertraten die Auffassung, daß das völkische Leben
von einer werthaften Ordnung durchdrungen sei, die es nur nachzu-
empfinden gelte 1 8 2 . Die Auslegung des Gesetzes müsse lebensnah die
Ordnung der konkreten Gemeinschaft widerspiegeln. Sie habe so zu
erfolgen, „wie es das innere Gesetz der Gemeinschaft verlangt" 1 8 3 .
Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vermochten i m metho-
dischen Rechtsgutsbegriff keinen wissenschaftlichen Fortschritt zu er-
kennen 1 8 4 . Diese Theorie beinhalte nicht mehr als die „triviale Fest-

178
Vgl. auch ders., Methodenstreit. Auch die Schriften von Grünhut ver-
schaffen einen guten Einblick i n die Entwicklung: Begriffsbildung u n d
Rechtsanwendung i m Strafrecht (RuS H. 41; 1926); Methodische Grundlagen
der heutigen Strafrechtswissenschaft (Festgabe f ü r F r a n k 1930, Bd. 1, S. 1 ff.);
Strafrechtswissenschaft u n d Strafrechtspraxis (1932).
i™ Vgl. Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 69 ff.
180
Ebd., S. 69.
« ι Vgl. auch Krüger, Z S t W 54, S. 642 f.
18« Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
183 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 17.
184 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 233; auch Schaff stein, Tel. Begriffsbildung,
S. 15 f.; DStR 1937, S. 347; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 138.
198 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Stellung" 185 , daß das Gesetz nach seinem Zweck auszulegen sei; eine
Auslegung nach dem Zweck habe aber bereits von Ihering gefordert 1 8 6 .
M i t der ausschließlichen Berücksichtigung zweckbezogener Gesichts-
punkte werde zudem das Blickfeld unzulässig verengt. Die Frage nach
den Schranken der Zweckauslegung werde nicht gestellt 1 8 7 . Das Straf-
recht werde von allen anderen Gesichtspunkten abgeschirmt. Die indi-
vidualisierende teleologische Methode berge die Gefahr i n sich, daß
allein der besondere Zweck der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung
die Auslegung beherrsche. Dadurch blieben die „formal-teleologischen"
Gesichtspunkte 188 , allgemeine Rechtsprinzipien wie Rechtssicherheit,
Praktikabilität, Gerechtigkeit, unberücksichtigt 189 .
Da die Rechtsgutstheorie auf die Erhaltung und den Schutz eines
bestimmten Zustandes abziele, werde sie auch nicht den mannigfaltigen
Wertbeziehungen gerecht, aus denen der gesetzliche Tatbestand her-
vorgegangen sei. Außer Betracht bleibe, daß dem geschützten Interesse
„Gegeninteressen" gegenüberstünden, deren allgemeinstes das der
menschlichen Betätigungsfreiheit sei 1 9 0 .
Daß sie nicht unbeachtlich sein könnten, ergebe sich unmittelbar aus
den gesetzlichen Tatbeständen: Aus den subjektiven Elementen, wie
ζ. B. Bereicherungsabsicht, erpresserische Absicht, oder aus der Be-
schränkung auf eine bestimmte Begehungsart sei zu entnehmen, daß es
nicht allein u m den Schutz von Rechtsgütern gehe 191 .
Die Ausdehnung des ursprünglich konkreten Rechtsgutsbegriffs habe
zu einer „Vergeistigung und Verflüchtigung" seines Inhalts geführt 1 9 2 .
Was unter „Zweck" zu verstehen sei, könne nicht mehr klar angegeben
werden. Indem der Rechtsgutsbegriff zur Lösung aller noch so ver-
schiedenartiger Auslegungsprobleme bemüht werde 1 9 3 , mute man ihm
zuviel zu. Das Ergebnis sei ein Übermaß an Abstraktion.

«s Schaffstein, DStR 1937, S. 347.


186 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 233.
187 Vgl. ebd., S. 233.
188 Bezeichnung von Hegler, ZStW 36, S. 20 Anm. 4.
189 v g l . Schaffstein, Tel. Begriffsbildung, S. 17.
190 Vgl. ebd., S. 10, 15; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 73;
Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 57 f., u n d schon früher: Dahm,
MschrKrimPsych 1931, S. 766. Dieses Argument bedeutete nicht ein Eintreten
für die menschliche Betätigungsfreiheit, sondern hatte allein taktische Be-
deutung. Insofern w i r d es von Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der
Gesellschaft, S. 10 Anm. 43, überschätzt.
191 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 73; H.Mayer, DStR
1938, S. 86 ff.
192 Schaff stein, DStR 1935, S. 100; vgl. auch DStR 1937, S. 347.
193 Vgl. H. Mayer, DStR 1938, S. 88.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 199

Der Ubergang von einem materiell bestimmten Rechtsgutsbegriff zu


einem methodischen Prinzip habe an dem Einfluß liberalen Denkens
i n der Auslegungsmethode nichts geändert. Das wichtigste Prinzip
liberaler Rechtsanwendung, das der Gesetzesbestimmtheit, sei von der
teleologischen Methode nicht angetastet worden 1 9 4 . Als Beweis diente
Schwinges Formulierung, daß der „mögliche Wortlaut" die Grenze der
Auslegung bilde 1 9 5 .
Hauptsächlich zwei Beispiele trugen die antiliberalen Strafrechts-
wissenschaftler vor, um die praktische Unbrauchbarkeit der Rechts-
gutstheorie nachzuweisen: Sie müsse notwendigerweise zu dem Ergeb-
nis führen, daß nicht wegen vollendeten Meineids bestraft werden
könne, wenn trotz des Vorsatzes, falsch auszusagen, eine objektiv
richtige Aussage beschworen werde. Eine Beeinträchtigung der Rechts-
pflege liege ja nicht vor und das irrationale Wesen des Eides, das den
eigentlichen Grund für die Strafe bilde, sei mit Zweckgesichtspunkten
nicht zu fassen 196 Ein zweites häufig angeführtes Beispiel betraf die
Frage, ob ein Ausländer in gleichem Maße wie ein Deutscher wegen
Landesverrats zu bestrafen sei 1 9 7 . Aus der Gleichartigkeit des Erfolges
müsse die Rechtsgutstheorie die strafrechtliche Gleichbehandlung fol-
gern. Sie unterschlage dabei die Bindung des Deutschen an die Volks-
gemeinschaft, die das Wesen des Landesverrats als „Treubruch" er-
scheinen lasse. Demgegenüber stelle sich die Tat des Ausländers als
etwas völlig anderes dar: Er verletze das Gastrecht, das das deutsche
Volk i h m gewähre.
Das abschließende Urteil über den methodischen Rechtsgutsbegriff
lautete: Er ist „überflüssig und schädlich" 198 .

2. Bedenken gegen die lnteressenjurisprudenz i m Strafrecht 199

Die Interessenjurisprudenz 200 betrachtete das Gesetz als „Kraft-


diagonale ringender Faktoren" 2 0 1 , d. h. als die Entscheidung eines

194 v g l . Krüger, ZStW 54, S. 643.


195 Teleologische Begriffsbildung, S. 48.
196 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 128; DStR 1937,
S. 343; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 16 f.; Gallas, Fest-
schrift für Gleispach 1936, S. 52.
197 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 235 Anm. 27 a; Verbrechen u n d Tatbestand,
S. 92; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 121; auch H.
Mayer, DStR 1938, S. 89 f.; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 52.
198 Dahm, ZStW 57, S. 234; vgl. auch Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 15.
!99 Eine allgemein gehaltene Darstellung findet sich bei Rüthers, Die unbe-
grenzte Auslegung, S. 270 ff.
200
Einen Einblick verschafft die Neuauflage wichtiger Schriften Hecks
i n : Studien u n d Texte zur Theorie u n d Methodologie des Rechts, Bd. 2,
soi Ebd., S. 155.
200 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Interessenkonflikts, wobei bestimmte Interessen den Vorrang vor an-


deren erhalten. Sie forderte eine Gesetzesanwendung unter Beachtung
der generellen Interessenentscheidung des Gesetzgebers. Der konkrete
Interessenkonflikt sei i m Wege vergleichender Bewertung zu lösen: Die
Entscheidung des Einzelfalles habe die für das Gesetz kausalen Inter-
essen zu beachten und sie i n einem Maße zu berücksichtigen, das der
generellen Lösung des Gesetzgebers entspreche.
Die Interessenjurisprudenz war für das Zivilrecht entwickelt worden.
Ihr führender Vertreter, Heck, war der Ansicht, daß ihr auch i m
Straf recht eigenständige Bedeutung zukomme 2 0 2 . Dieser Auffassung
schlossen sich einige antiliberale Strafrechtswissenschaftler an, die die
Interessenjurisprudenz neben dem methodischen Rechtsgutsbegriff einer
gesonderten K r i t i k unterzogen 203 . Ihrer Meinung nach kam der Denk-
ansatz der Interessenjurisprudenz bei den Vertretern der teleologischen
Methode nicht zum Tragen, weil diese die ratio legis ausschließlich in
der Verfolgung nur eines Zweckes, i m Schutz eines bestimmten Objekts
sähen 204 .
I n vielen Punkten bewegten sich die Einwände gegen die Interessen-
jurisprudenz aber auf derselben Linie wie die K r i t i k am methodischen
Rechtsgutsbegriff: Sie enthalte sich einer Stellungnahme zu den ober-
sten Rechtswerten. Sie stelle lediglich ein rein formelles Verfahren für
die Rechtsanwendung zur Verfügung und sei nicht i n der Lage, aus sich
selbst heraus den Maßstab für die Bewertung der verschiedenen Interes-
sen zu entwickeln 2 0 5 . Indem sie i n positivistischer Manier die Entschei-
dung des Interessenkonflikts durch den Gesetzgeber für maßgeblich
erkläre, bewege sie sich i n den Gedankenbahnen liberal-rechtsstaatlicher
Gesetzesanwendung 206 . Sie stelle allein auf die Interessenlage, also auf
Zweckgesichtspunkte ab und vernachlässige die irrationalen Elemente
des Rechts. Sie bilde das „methodische Gegenstück" zu der Auffassung,
die das Wesen der Rechtswidrigkeit i n der Sozialschädlichkeit der Tat
erblicke 207 .
Die besondere K r i t i k der antiliberalen Strafrechtswissenschaft an der
Interessen jurisprudenz richtete sich gegen deren Denkmodell. Es wider-
202
Vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessenturisprudenz, S. 48 f.
2
°3 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 232 ff.; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936,
S. 50 ff. ; Krüger, ZStW 54, S. 641 f.
204 v g l . Dahm, ZStW 57, S.233f.; MSchrKrimPsych 1931, S .766; Gallas,
Festschrift für Gleispach 1936, S. 57 f.; Schaff stein, Tel. Begriffsbildung,
S. 10, 15.
205 vgl. Krüger, ZStW 54, S. 641; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936,
S. 64; auch Engisch, MSchrKrimPsych 1934, S. 71; Larenz, Über Gegenstand
und Methode, S. 37 f.
206 vgl. Krüger, ZStW 54, S. 642.
207 Dahm, ZStW 57, S. 244.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 201

spreche i n mehrfacher Hinsicht nationalsozialistischem, gemeinschafts-


bezogenem Rechtsdenken: Die Interessenturisprudenz bediene sich einer
schrittweisen Methode. Zunächst stelle sie die beteiligten Interessen
fest. Anschließend unterziehe sie diese einer Wertung m i t Hilfe der vom
Gesetzgeber vorgezeichneten Entscheidung. Dabei übergehe sie die
„Vorarbeit" 2 0 8 des Gemeinschaftslebens und der völkischen Sittenord-
nung, in denen der Rechtsstoff weitgehend vorgeformt sei. Daher erfasse
sie die Erscheinungen des Lebens nur unzulänglich und presse sie i n ein
künstliches Schema 209 . Es werde übersehen, daß m i t der Bindung des
einzelnen an die Gemeinschaft und der unbedingten Überlegenheit der
Gemeinschaft der Gedanke des Interessenkonflikts überwunden sei. Die
Interessenjurisprudenz gehe am „wirklichen Leben" vorbei 2 1 0 .
Sie vermittle zudem ein falsches B i l d von der Arbeitsweise des
Richters: Diese bestehe nicht i n einer rationalistischen Zergliederung des
Sachverhalts nach den beteiligten Interessen. Vielmehr lege der Richter
seiner Entscheidung eine bestimmte ganzheitliche Vorstellung von der
betroffenen konkreten Ordnung und deren Anforderungen an den ein-
zelnen zugrunde und bemühe sich, diesem „gesunden Vorurteil" gemäß
das Gesetz auszulegen 211 .
Das gewichtigste Bedenken der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
war unmittelbar politischer Natur. Dahm nannte es das „psychologisch
Bedenkliche" der Konfliktschau 212 . Man befürchtete eine Behinderung
der nationalsozialistischen Rechtserneuerung. Die Beachtung auch von
Gegeninteressen könne den Richter bei der Anwendung national-
sozialistischer Gesetze veranlassen, „den Grundgedanken abzuschwächen
und den entgegenstehenden Erwägungen auch dort Raum zu lassen,
wo dies nicht angebracht wäre" 2 1 3 . Dahm führte i n diesem Zusammen-
hang die Nürnberger Gesetze und das Gesetz zur Verhütung erb-
kranken Nachwuchses an 2 1 4 .
I m nationalsozialistischen Straf recht könne die lnteressenjurisprudenz
daher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sie sei wenig geeignet,
„gerade die tief erliegenden Probleme einer Lösung nahezubringen" 215 .
208 Ebd., S. 249.
209 v g l . ebd., S. 240, 248 f.
210 Ebd., S. 248; vgl. auch Larenz, Über Gegenstand u n d Methode, S. 39 f.
211 Dahm, ZStW 57, S. 248. Dahm legte nicht etwa eine empirische Unter-
suchung des Richterverhaltens zugrunde. Bezeichnend f ü r die unwissen-
schaftliche Argumentationsweise w a r die häufige Verwendung der Floskel
„doch w o h l " u n d des Verbs „glauben" sowie ähnlicher Verben („glaube
i c h . . . ; glauben w i r . . . ; können w i r uns nicht recht vorstellen ...).
212 ZStW 57, S. 243.
213 Ebd., S. 243.
214 Ebd., S. 242.
215 Ebd., S. 250.
202 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

3. Die Funktion des Strafgesetzes aus antiliberaler Sicht

I n der Ablehnung herkömmlicher Auslegungsmethoden hielt die anti-


liberale Strafrechtswissenschaft eine einheitliche und klare Linie ein.
Anders verhielt es sich mit ihrer eigenen Lehre zur Auslegung, die
deutlich ambivalent w a r 2 1 6 . Zu Unterscheidungen sahen sich die A n t i -
liberalen genötigt, weil die anzuwendenden Gesetze Unterschiede auf-
wiesen: Auch nach der „nationalen Revolution" behielt das Strafgesetz-
buch von 1871 Gültigkeit. Der Versuch einer Gesamtreform scheiterte
trotz großer Anstrengungen. Der nationalsozialistische Gesetzgeber
zeigte sich am Entwurf der amtlichen Kommission uninteressiert 217 . Er
führte aber einige Teilreformen innerhalb des StGB durch. Noch
größere A k t i v i t ä t entfaltete er auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts,
insbesondere des Kriegsstrafrechts 218 . Somit standen sich zwei unter-
schiedliche Gesetzestypen gegenüber, das vornationalsozialistische und
das nationalsozialistische Gesetz.
Um die vornationalsozialistischen Gesetze denselben Zielen unter-
werfen zu können, denen die nationalsozialistische Gesetzgebung
gehorchte, propagierte die antiliberale, nationalsozialistische Straf-
rechtswissenschaft für sie eine Auslegungsmethode, i n der ihre mate-
rielle Verbrechensauffassung sich voll entfalten konnte. Den Ansatz-
punkt dafür schuf sie, indem sie die Funktion der Gesetze neu
definierte:
Sie sollten keineswegs wie i m liberalen Staat die Staatsgewalt vom
Freiheitsbereich des Bürgers abgrenzen 219 . Auch könnten sie keine all-
umfassende und endgültige Beschreibung des Verbrechens geben. Jedes
Verbrechen enthalte in sich begrifflich nicht faßbare Bestandteile 220 . Das
Gesetz könne daher nur als ein notwendigerweise lückenhafter Ver-

216
Ähnliche Feststellungen wie diese und die folgenden machte schon 1937
Neumann i n : „Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen
Gesellschaft" (vgl. vor allem S. 43 ff.). Seine allgemeinen rechtstheoretischen
Aussagen betrafen die Bedeutung der Generalklauseln i m vornationalsozia-
listischen u n d nationalsozialistischen Recht. Vgl. auch Böhmer, Grundlagen
I I , 1, S. 215 über den „antinomischen" Charakter der nationalsozialistischen
Rechtsauffassung; ferner Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 176 ff.
217
Zwei Gründe dürften maßgebend sein: Die Reformarbeiten basierten
auf dem E n t w u r f 1927 u n d enthielten i n Restbeständen liberales Gedanken-
gut. Durch die Ablehnung einer Neukodifikation w o l l t e der nationalsozia-
listische Gesetzgeber die Möglichkeit einer Selbstbindung ausschließen. Vgl.
E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 450 f.
218 v g l . Peters, Die Umgestaltung des Strafgesetzes 1933 - 1945.
219
Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14;
Verbrechen u n d Tatbestand, S. 107; DStR 1934, S. 89; Henkel, Strafrichter
u n d Gesetz, S. 52 f.
220
Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14,
und oben 3. Kap. I I I . 2. u n d 5. Kap. I I . 3. d).
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 203

such einer Wiedergabe der im Volk lebendigen Vorstellung vom Ver-


brechen, der „völkischen N o r m " 2 2 1 , verstanden werden. Es habe ledig-
lich die Funktion, der Auslegung als „Richtlinie" zu dienen, m i t deren
Hilfe der Richter die Volksanschauung zur Geltung bringe 2 2 2 .
Daneben gab es aber auch die Kennzeichnung des Gesetzes als
„Führerbefehl" 2 2 3 . Sie war ganz offensichtlich auf die Gesetze des
nationalsozialistischen Gesetzgebers gemünzt. Die für diese Gesetze
erhobene Forderung nach engerer Bindung des Richters bei der Aus-
legung ging bis zum Ruf nach „absolutem Gehorsam" 224 , und Schaffstein
sah einen neuen Formalismus heraufziehen 225 .
Vorläufig läßt sich zusammenfassen: Die Auslegungsmethode der
antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechtswissenschaft war nicht
einheitlich. Sie schwankte zwischen einer Lösung vom Gesetz und
strenger gesetzlicher Bindung je nach dem Inhalt des auszulegenden
Gesetzes. Die folgende Darstellung w i r d die beiden Pole näher be-
leuchten.

4. Die ganzheitliche und wesenhafte Gesetzesauslegung

Nach dem politischen Umbruch des Jahres 1933 trat die national-
sozialistische Strafrechtswissenschaft entschieden für eine freiere
Handhabung des Gesetzes ein; nur so konnte das weiterhin geltende
Strafgesetzbuch für die Zwecke der nationalsozialistischen Machterobe-
rung eingesetzt werden. Durch eine „materielle" Auslegungsmethode
wurde der Unterschied zwischen lex lata und lex ferenda beseitigt 2 2 6 .
Die neuen politischen Ideen konnten ohne eine Gesetzesänderung i n das
bestehende Strafgesetz eingeführt werden. Da auch später trotz
einiger Neukodifikationen die vornationalsozialistischen Strafgesetze
zur Hauptsache den Beschäftigungsgegenstand der Strafrechtswissen-
schaft bildeten, war die Auslegungsmethode überwiegend vom Gedan-
ken einer Lösung der gesetzlichen Bindung geprägt.

221 Ebd., S. 15.


222 Ebd., S. 14; vgl. auch Dahm, DStR 1934, S.89; Mezger, ZStW 55, S.4;
Boldt, DR 1937, S. 97, verwandte den Ausdruck „ L e i t b i l d " .
223 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 101; Herschel, DJZ 1933,
Sp. 1009.
224 Herschel, DJZ 1933, Sp. 1009.
225 v g l . Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24. Er schwächte jedoch anschlie-
ßend ab: „Eine Perspektive, die freilich niemals W i r k l i c h k e i t werden kann,
w e i l u n d solange das nationalsozialistische Bekenntnis zu einem organischen
Rechts- und Staatsbegriff die rechtswissenschaftliche Entwicklung nach der
entgegengesetzten Seite drängt."
226 v g l . Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 7; Pol. Strafrechtswissenschaft,
S. 20.
204 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Das Wort „Methode" sollte nicht zu der Vorstellung verleiten, daß es


sich um ein durchgegliedertes System von Denkschritten handelte. Eine
solchermaßen rationale Gedankenführung lehnten die Antiliberalen als
unzureichend ab; sie erfasse nie das Wesen der Verbrechenstatbestände,
das vorwiegend i m irrationalen Bereich liege. M i t M i t t e l n der Logik
sei der Kern des Verbrechens nicht zu fassen 227 . Der eigentliche Gehalt
der Delikte sei nur i m Wege ganzheitlicher Betrachtung „emotional-
wertfühlend" zu „verstehen" 2 2 8 . Er sei nur „durch Erforschung seines
wirklichen Seins und durch die Einsicht i n die Unordnung zu begreifen,
die das Verbrechen enthält" 2 2 9 .
Das „Wesen" des Delikts rückte so sehr i n den Mittelpunkt, daß der
gesetzliche Tatbestand aus dem Blickfeld zu geraten drohte. Von Dahm
stammte die Formulierung, daß „Dieb nicht jeder ist, der ,eine fremde
bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe
sich rechtswidrig zuzueignen', sondern nur, wer seinem Wesen nach
Dieb ist". Weiter hieß es bei ihm: „Was Diebstahl ist, sagt ja i m Grunde
nicht das Gesetz, sondern das ergibt sich aus dem Wesen der Sache 230 ."
Diese Sätze konnten so verstanden werden, daß von den gesetzlichen
Voraussetzungen ganz abgesehen werden könne. Das lag vielleicht nicht
in der Absicht des Autors 2 3 1 ; die wesenhafte Betrachtungsweise barg
jedoch unverkennbar diese Tendenz i n sich.
Worin bestand jetzt aber das „Wesen" der Delikte? Es war nach anti-
liberaler Auffassung vor allem i n der volkstümlichen Anschauung
von den Verbrechen zu finden. Die Gesetze seien keine „Kunst-
produkte des Gesetzgebers", sondern „geschichtlich gewordene, i m
Volksbewußtsein lebendige, für das Gemeinschaftsleben i n be-
stimmter Weise bedeutsame Vorstellungen" 2 3 2 . M i t der Kodifizierung
höre die Funktion der Volksanschauung als Rechtsquelle nicht auf;
die Auslegung habe sich maßgeblich nach der i m Volk herrschenden
Auffassung vom Mord, Diebstahl oder Betrug zu richten. Dahm meinte,
daß der für die Ermittlung des subjektiven Unrechtsbewußtseins ent-
wickelte Gesichtspunkt der „Parallelwertung i n der Laiensphäre" 2 3 3
darüber hinaus auch bei der Bestimmung der einzelnen Deliktstypen
heranzuziehen sei 2 3 4 .

22
7 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 89.
228 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75.
229 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89.
230 Ebd., S. 102 .
231 Vgl. die restriktive Intention der Tätertypenlehre Dahms, unten 5. Kap.
IV. 5. sowie Schröder, Georg D a h m als Strafrechtler, S. 18 f.
232 Dahm, ZStW 57, S. 252.
233 Mezger, Strafrecht, 2. Aufl., S. 333.
234 ZStW 57, S. 255.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 205

Aufschlüsse über das Wesen des Verbrechens glaubten die anti-


liberalen Strafrechtler aus dem volkstümlichen Sprachgebrauch ge-
winnen zu können. Er sei organisch-geschichtlich gewachsen und erlaube
häufig bessere Einblicke als die abstrakten, gekünstelten Begriffe der
Fachsprache 235 . Ζ. B. leitete Dahm aus dem Sprachgebrauch des Volkes
ab: „Wo der Täter mit einem Hauptwort benannt werden kann — Ver-
räter, Mörder, Betrüger, Erpresser —, dort liegt das Wesen i n der Regel
i m ,Willen'. Wo das nicht der Fall ist — Notzucht, Körperverletzung,
Unterschlagung usw. —, dort t u t man meistens gut, den Erfolg und den
äußeren Vorgang stärker hervortreten zu lassen 236 ."
Nur scheinbar ordnete sich die antiliberale Auslegungsmethode der
Volksanschauung und dem volkstümlichen Sprachgebrauch unter. Eine
bedingungslose Akzeptierung hätte i m Widerspruch zu den politischen
Intentionen der antiliberalen Strafrechtler gestanden. M i t Volksan-
schauung war daher nicht die Auffassung gemeint, die i m Volk tat-
sächlich vorherrscht und die empirisch feststellbar ist 2 3 7 . Das macht die
Ergänzung durch das A t t r i b u t „gesund" deutlich. Von einem außerhalb
der Volksanschauung befindlichen Standpunkt wurde festgelegt, welche
i m Volk vertretene Ansicht als „gesunde Volksanschauung" die Aus-
legung bestimmen sollte. Das von den Antiliberalen so hart attackierte
„Trennungsdenken", die Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit,
zog an dieser Stelle auch i n ihr Auslegungsverfahren ein. Die Auffas-
sung, daß das völkische Sein i n sich werthaft sei und nicht von außen
durch die Bezugnahme auf höhere Werte geordnet werden müsse 238 ,
verschleierte nur den wahren Tatbestand: Der Nationalsozialismus be-
stimmte, was als völkisch wertvoll zu gelten hatte, und dem ordnete die
antiliberale Strafrechtswissenschaft ihre Auslegung unter: „Als gesund
kann . . . nur die Rechtsanschauung gelten, die der deutschen und
nationalsozialistischen Rechtsidee entspricht 2 3 9 ." — „Jede Auslegung
muß eine Auslegung i m nationalsozialistischen Sinne sein 2 4 0 ."

235 Vgl. Dohm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89, 106 f.; ZStW 57, 275;
Krüger, ZStW 55, S. 123; auch H.Mayer, DStR 1938, S. 93. H.Mayer wandte
sich aber gegen eine unkritische Übernahme des herrschenden Sprachge-
brauchs. U m eine „praktisch ausreichende Bestimmtheit" zu erreichen, sei
es erforderlich, den Sprachgebrauch anhand der überlieferten Rechtspraxis
kritisch zu überprüfen (Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 210).
236 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89.
237 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 91; ZStW 57, S. 255; vgl. auch oben 3. Kap. I I I .
2. und 4.
238 Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3.
239 Dahm, DStR 1934, S. 91; vgl. auch S.90: „Zweifellos hat der Richter i m
neuen Staat die Werturteile zu fällen, die der nationalsozialistischen Rechts-
anschauung u n d dem W i l l e n der politischen F ü h r u n g entsprechen."
240 C.Schmitt, J W 1934, S.717; vgl. auch Mezger, ZStW 55, S. 2: „Nicht der
historisch erforschbare W i l l e eines i n der Vergangenheit tätig gewordenen
206 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Aus der Auslegung unter Zugrundelegung der Volksanschauung


konnten nach Ansicht ihrer Vertreter keine allgemeinen Regeln abge-
leitet werden. Die Abkehr vom Allgemeinen und Abstrakten sei gerade
das Kennzeichen des neuen Rechtsdenkens 241 . Die Lösung von der ab-
strakten Norm erlaube dem Richter, bei der Auslegung die „konkrete
Ordnung" zu würdigen, die den Rahmen für die Tat bilde. Erforderlich
sei eine Besinnung auf das Wesen der engeren Gemeinschaft, der der
Täter angehöre. Die Auffassung des Verbrechens als Pflichtverletzung
mache es notwendig, die konkrete Pflichtenstellung des Täters inner-
halb der Gemeinschaft zu ermitteln 2 4 2 . Die Verschiedenheit der Aus-
legungsergebnisse könne nicht als Mangel angesehen werden, sondern
bedeute i m Gegenteil einen großen Gewinn; denn sie stelle die Lebens-
nähe der neuen Denkweise unter Beweis 4 2 3 . Eine gefühlsmäßige und
kasuistische Methode sei dem Wesen des Strafrechts durchaus an-
gemessen 244 .
Wie i m einzelnen praktischen Rechtsfall zu arbeiten sei, machten die
Ausführungen über die Gesetzesauslegung nicht deutlich 2 4 5 . Das konnte
auch nicht geschehen, weil eine intuitive Wesensschau und nicht ein
präzises Denkverfahren vorgeschlagen wurde. Anhaltspunkte für die
praktische Handhabung gaben nur die Beispiele, m i t denen die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler ihre Methode erläuterten. Der Kreis
dieser Beispiele war begrenzt.
Sehr oft wurden die Delikte des Meineids und des Landesverrats
angeführt, so daß man von „Paradebeispielen" sprechen könnte: Eine
Besinnung auf das Wesen des Meineides führe zu dem Ergebnis, daß er
mehr als nur die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes enthalte.
Nach volkstümlicher Auffassung liege das Wesentliche i n der Gesin-
nung des Täters. Daher verdiene die subjektive Theorie den Vorzug 2 4 6 .

Gesetzgebers, sondern das Verstehen und die Auslegung des Gesetzes aus
den Bedürfnissen und Anschauungen der nationalsozialistischen deutschen
Gegenwart u n d ihrer politischen S t r u k t u r erschließt das i m Gesetz enthaltene
wirkliche Recht."
241 Vgl. Dahm, ZStaatW 95, S.283; auch Mezger, ZStW 55, S. 5.
242 v g l . Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125; auch
H.Mayer, DStR 1938, S. 96.
243 v g l . Dahm, ZStaatW 95, S. 283.
244 v g l . H. Mayer, DStR 1938, S. 94.
245 Was w a r i m Einzelfall ζ. B. m i t einer Formulierung anzufangen wie:
Aufgabe einer neuen Rechtswissenschaft sei es, das Gesetz „so auszulegen,
wie es das innere Gesetz der Gemeinschaft verlangt" (Dahm, Gemeinchaft
und Strafrecht, S. 17)?
246 v g l . oben 5. Kap. IV. 1. u n d Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtver-
letzung, S. 128 f.; DStR 1937, S.343; J W 1938, S. 146; Dahm, ZStW 57, S.245;
Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 16 f.; Rauch, Die klassische
Strafrechtslehre, S. 46.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 207

Ähnliches gelte für den Landesverrat. Bei einer richtigen Würdigung


des Verratsmomentes könne die Spionage des Ausländers nicht mit
diesem Tatbestand erfaßt werden, weil der Wesenskern des Delikts i m
Bruch des Treueverhältnisses des deutschen Volksgenossen zu seinem
Volk liege 2 4 7 .
Eine Gruppe von Beispielsfällen trug offen den Stempel der poli-
tischen Überzeugung der antiliberalen Strafrechtler: Diebstahl habe
nicht vorgelegen, als 1919 einige Männer i n das Berliner Zeughaus ein-
drangen, die 1871 erbeuteten französischen Fahnen, die auf Grund des
Versailler Vertrages herauszugeben waren, mitnahmen und anschlie-
ßend verbrannten. Zwar seien alle tatbestandlichen Voraussetzungen
erfüllt gewesen, doch der Grundtypus des Diebstahls sei nicht ge-
geben 248 . Z u demselben Ergebnis komme eine wesenhafte Betrachtungs-
weise i n dem Fall, daß eine Gruppe der Hitler-Jugend einer katho-
lischen Jugendorganisation die Fahne entreiße und als Trophäe ver-
brenne 2 4 9 .
I n vielen Fällen gelangte die antiliberale, nationalsozialistische Straf-
rechtswissenschaft zu denselben Resultaten wie die herrschende Lehre,
nur auf einem anderen Wege: Der Arzt, der die Schwangerschaft unter-
breche, um das Leben der Mutter zu retten, begehe keine Abtreibung,
weil er „seiner A r t nach" kein Abtreiber sei 2 5 0 . — Vergleiche man die
Tatbestandsformulierung von § 253 StGB m i t der volkstümlichen Vor-
stellung vom Wesen des Delikts und des Täters, so schieden zahlreiche
Fälle aus dem Bereich des Tatbestandes der Erpressung aus, i n denen
i m Rahmen des Verkehrsüblichen Druck ausgeübt werde 2 5 1 . — Der
erpresserische Kindesraub des § 239 a StGB habe ersichtlich nur die
Fälle zum Gegenstand, i n denen die Vorenthaltung des Kindes mit der
Drohung verbunden werde, es zu töten oder ernsthaft zu verletzen.
Fehle es an dieser Drohung, so könne die Vorschrift nicht angewandt
werden, weil der Täter nicht dem „Wesen des i n dieser Vorschrift
gemeinten Tätertyps" entspreche 252 . — Ein Polizist oder eine Für-
sorgerin, denen bekannt sei, daß eine Mutter ihr K i n d verhungern lasse,
und die nicht einschritten, könnten nicht wie die Mutter nach §211

247 v g l . Dahm, ZStW 57, S.235: H.Mayer, DStR 1938, S.89; Schaff stein,
Das Verbrechen als Pflichtverletzung S. 121; Festschrift für Gleispach 1936,
S. 112 A n m . 37.
248 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253 f.
249
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 102. Nach Angaben Dahms
(S. 79) stammte dieses Beispiel von C. Schmitt.
2
50 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 99; ZStW 57, S. 254; vgl.
damit R G 61, 242 u n d R G 62, 137.
2
51 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Ebermeyer/Lobe/Rosenberg,
Reichsstrafgesetzbuch, S. 812.
252 Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Kohlrausch, StGB, § 239 a A n m . 2.
208 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

StGB bestraft werden, weil ihr Unterlassen nicht von der Vorstellung
erfaßt werde, die sich i n der Volksanschauung vom Mord und vom
Mörder herausgebildet habe 2 5 3 .
A n den Beispielen fällt auf, daß sie häufig auf eine Straflosigkeit des
Täters hinausliefen. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich i n
der Strafrechtspraxis die antiliberalen Vorstellungen zur Auslegungs-
methode anders auswirken konnten und wohl auch sollten. Die Beispiele
verschleierten die eigentliche Zielsetzung, die hier und dort anklang;
so, wenn die Priorität des materiellen Verbrechensbegriffs mit der Not-
wendigkeit begründet wurde, die Verbrechensbekämpfung wirksamer
zu gestalten 254 , wenn für die straf begründende Analogie angeführt
wurde, daß sie das notwendige Gegengewicht zu den übergesetzlichen
Unrechtsausschließungsgründen bilde 2 5 5 . Eine entsprechende Tendenz i n
der antiliberalen Auslegungsmethode deutete Dahm an, als er sich dafür
einsetzte, das argumentum e contrario sparsamer zu verwenden 2 5 6 . Es
beruhe auf der Gleichsetzung von Gesetz und Recht. Gerade ein
„wesenhaftes und lebendiges Denken" werde dazu führen, „daß die
Strafbarkeit über den Wortlaut des Gesetzes hinaus ausgedehnt w i r d " 2 5 7 .
Der extensiven nationalsozialistischen Strafrechtspraxis begegnete
also von Seiten der antiliberalen Strafrechtswissenschaft kein Wider-
stand. Aber auch sie konnte schließlich die Auswüchse i n Gesetzgebung
und Rechtsprechung nicht übersehen, die mit Kriegsbeginn immer zahl-
reicher wurden 2 5 8 . Gegen Ende der dreißiger Jahre machten antiliberale
Strafrechtswissenschaftler erste Versuche, die von ihnen selbst geför-
derte Entwicklung zu dämpfen. Der Tendenz zur Ausdehnung der Straf-
barkeit entgegenzuwirken, war ein Motiv der Lehre vom Tätertyp.

5. Die Lehre vom Tätertyp

Die Denkform des Typus war von Beginn an Bestandteil der anti-
liberalen Auslegungsmethode. Die materielle Auffassung ging von der
Unzulänglichkeit der gesetzgeberischen Formulierungsversuche aus 2 5 9 .
Der Gesetzgeber mache sich stets eine Vorstellung vom typischen Gehalt

253 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 254; Verbrechen u n d Tatbestand, S.99f.;


Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 94 f.; vgl. damit Mezger, Straf-
recht, 2. Aufl., S. 143.
254 v g l . Schaffstein, ZStW 55, S. 19.
255 v g l . ebd., S. 22.
256 Vgl. DStR 1934, S. 210.
257 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 102.
258 v g l . E.Schmidt, Straf rechtspflege, S. 432 ff.; Schorn, Die Gesetzgebung
des Nationalsozialismus als M i t t e l der Machtpolitik; Staff, Justiz i m D r i t t e n
Reich, S. 50 ff.; Broszat, Vierteljahreshef te f ü r Zeitgeschichte Bd. 6 (1958).
259 v g l . oben 5. Kap. I V . 3.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 209

eines Delikts, der i n der gesetzgeberischen Formulierung aber nie voll-


kommen Ausdruck finde. Der Richter habe die Aufgabe, bei der Anwen-
dung des Gesetzes durch einen Vergleich mit der vom Gesetzgeber
gemeinten Vorstellung vom Deliktstypus zu prüfen, ob der materielle
Inhalt des Gesetzes den Sachverhalt erfaßt.
Der Deliktstypus setzt sich nach antiliberaler Auffassung aus beiden
Seiten des Verbrechens zusammen, aus dem äußeren Tathergang und
dem Erfolg sowie aus den subjektiven, täterschaftlichen Elementen 2 6 0 .
Der Spielraum für die Anwendung dieser Denkform war jedoch i m
Hinblick auf die Täterseite weitaus größer, weil die Tatbestände des
StGB ganz überwiegend auf die Tatseite abstellen. Daher und weil die
antiliberale Strafrechtswissenschaft der Gesinnung des Täters bei der
Prüfung der Strafbarkeit besondere Beachtung beimaß 261 , geriet das
Denken i n Typen zu einer Lehre vom Tätertyp.
Einen entscheidenden Anstoß zur Ausbildung der Lehre vom Täter-
typ gab die Entwicklung i n Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die
Subjektivierung des Straf rechts nahm Ausmaße an, die selbst die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler, die dieser Tendenz Vorschub ge-
leistet hatten, nicht mehr gutheißen konnten. Dahm wandte gegen die
strafrechtliche Novellengesetzgebung ein, daß die „Entwertung und
Verflüchtigung des äußeren Tatbestandes" bis zu einer „Gleichgültig-
keit . . . gegen die Eigenart der begangenen Tat" gehe 262 . Namentlich
wurde auf die Vorschriften des Kriegsstrafrechts (Gewaltverbrecher
V O 2 6 3 , VolksschädlingsVO 264 , VO über die Strafrechtspflege gegen Juden
und Polen 2 6 5 ) hingewiesen. Aber auch sonstige Novellierungen innerhalb
des StGB (Novelle vom 4. 9.1941 266 ; Reform des Tötungsstrafrechts) und
außerhalb (Blutschutzgesetz 267 ; VO gegen jugendliche Schwerver-
brecher 268 ) bestätigten diese Entwicklung. A u f eine präzise Angabe der
tatbestandsmäßigen Handlung wurde weitgehend verzichtet. Die Tat-
bestände beschränkten sich auf eine bloß typmäßige Benennung des
Täters.

260 v g l . Dahm, Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 205 f.; Schaff stein,
DStR 1942, S. 36 ff.
261 Vgl. oben 5. Kap. I I . 3. c).
262 Ebd., S. 188; vgl. auch S. 186, 221; Schaff stein, DStR 1942, S. 36, 38, 41.
263 V O gegen Gewaltverbrecher v o m 5.12.1939; R G B l I, 2378.
264 V O gegen Volksschädlinge v o m 5.9.1939; R G B l I, 1679.
265 V o m 4. 12.1941; R G B l I, 759.
266 R G B l I, 549.
267 Gesetz zum Schutze des deutschen Bluts u n d der deutschen Ehre v o m
15.9. 1935; R G B l I, 1146.
268 V O zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher v o m 4.10.1939;
R G B l I, 2000.

14 Marxen
210 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Eine gleichgerichtete Tendenz zeigte sich i n der Rechtsprechung ζ. B.


am fast vollständigen Verzicht auf objektive Merkmale für die Grenz-
ziehung zwischen Vorbereitung und Versuch bei der Rassenschande269.
Die Entwicklung in der Strafrechtspflege brachte die antiliberalen
Straf rechtswissenschaftler i n eine schwierige Lage: Sie mußten zu-
geben, daß die Subjektivierung des Straf rechts m i t ihren Ideen zur
strafrechtlichen Erneuerung übereinstimmte 2 7 0 . Wollten sie dieser Ent-
wicklung entgegenwirken, so konnten sie nicht gut eine Rückkehr zu
einem reinen Tatstrafrecht fordern. Die offensichtlichen Auswüchse
konnten sie lediglich dadurch bekämpfen, daß sie sich um eine Ein-
grenzung der Tatbestände durch eine restriktive Anwendung der Typen-
lehre i m Hinblick auf die täterschaftlichen Merkmale bemühten.
Als Zweck der Tätertypenlehre wurde daher genannt: Sie solle zu
einer „Einschränkung und Verdichtung" der Tatbestände führen und so
eine „Begrenzung der Strafe" ermöglichen 271 . Schaff stein betrachtete die
Typenmäßigkeit als ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal 272 . Die mehr-
deutigen Begriffe und Generalklauseln des Gesetzes sollten durch eine
Besinnung auf das volkstümliche Täterbild verfestigt und eingeengt
werden. Neben der Prüfung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sei
zusätzlich nach der „zweiten Grenzlinie" 2 7 3 zu fragen, nämlich, ob der
Sachverhalt den vom Gesetzgeber gemeinten Lebenserscheinungen und
der Volksanschauung darüber gleiche 274 .
I m Rahmen der Lehre vom Tätertyp wurden auch sonstige Korrek-
turen an früheren antiliberalen Auffassungen vorgenommen. Vor allem
Dahm zeigte sich am Beginn der vierziger Jahre zur Aufgabe über-
spitzter Forderungen bereit. Er hob wieder die Tat als Grundvoraus-
setzung jeder Strafe hervor 2 7 5 und rückte vom Begriff des Gesinnungs-
strafrechts ab 2 7 6 . Er gab zu, daß der Volksanschauung keine fertigen
Entscheidungen zu entnehmen seien 277 , daß die Strafrechtsdogmatik

269 V g l . R G 71, 4 u n d R G 71, 7.


270 Dahm, Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 187: „ . . . läßt sich nicht gut
übersehen, daß gerade das neue Kriegsstrafrecht manche Wesenszüge unserer
Rechtsentwicklung überhaupt besonders deutlich hervortreten läßt."
271 Ebd., S. 224; vgl. auch S. 202, 219, 222 f.; Z A k D R 1939, S. 528 f.; vgl.
dazu Schröder, Georg Dahm als Strafrechtler, S. 18 f.
272 Vgl. DStR 1942, S. 40.
273 Dahm, Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 224.
274 v g l . ebd., S. 205, 217, 219 („Der Typus ist der Schatten des Tatbestan-
des."), 223 f.
275 v g l . ebd., S. 189 f.; auch Schaff stein, DStR 1942, S. 76 A n m . 12, S. 37
Anm. 15.
276 v g l . ebd., S. 206 Anm. 41.
277 v g l . ebd., S. 195.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 211

einer eigenen, auch allgemein gehaltenen Begrifflichkeit bedürfe 2 7 8 und


daß die Einheit von Recht und Sitte, von Recht und Volksanschauung
kein bestehender Zustand, sondern ein anzustrebendes Ideal sei 2 7 9 .
M i t der Lehre vom Tätertyp wurde der Versuch unternommen, die
Auswirkungen der materiellen Verbrechensauffassung zu begrenzen.
Er wurde jedoch nur mit halbem Herzen unternommen. Die antiliberale
Strafrechtswissenschaft trug auch i n der Tätertyplehre den Anforderun-
gen des nationalsozialistischen Staates und seiner Kriegspolitik Rech-
nung: Dahm erklärt die Tätertyplehre dort für nicht anwendbar, wo das
Gesetz — wie ζ. B. i m Kriegsstrafrecht — an Zweckmäßigkeitsgesichts-
punkten orientiert sei 2 8 0 . Hier könne nicht stets auf eine zutreffende
typmäßige Einordnung des Täters geachtet werden. Auch bei einer
strafbegründenden analogen Anwendung eines Gesetzes sei es nicht
erforderlich, daß der Täter dem Tätertyp dieses Gesetzes entspreche,
wenn aus Zweckmäßigkeitsgründen die Bestrafung geboten sei 2 8 1 . Daß
man die Tätertyplehre i m übrigen für den Bereich der Analogie gem.
§ 2 StGB i. d. F. vom 28. 6.1935 für anwendbar erklärte 2 8 2 , trug auch
nicht zur Strafeinschränkung bei; i n wertender, ganzheitlicher Prüfung
sollte allein festgestellt werden, ob der Tätertyp des analog anzuwen-
denden Gesetzes auf den Sachverhalt passe. Für die Strafbarkeit der
Ersatzhehlerei stellte Dahm lediglich darauf ab, „wieweit der Täter
jenem Typus des ,Parasiten' entspricht, an den der Gesetzgeber
denkt" 2 8 3 .
Die Einschränkung der Tätertyplehre und ihre Anwendung i m
Rahmen strafbegründender Analogie machte die Absicht, den Bereich
des Strafbaren einzuengen, zu einem großen Teil wieder zunichte. Den-
noch verdient festgehalten zu werden, daß antiliberale Strafrechts-
wissenschaftler i n der Spätphase des Dritten Reiches es öffentlich für
notwendig erklärten, der Tendenz zur Ausdehnung der Strafbarkeit
zu begegnen.
Doch kehren w i r zur strafrechtlichen Diskussion i n der Mitte der
dreißiger Jahre zurück. Wie bereits angedeutet, bildete die ganzheitliche
und wesenhafte Gesetzesauslegung nur einen Teil der antiliberalen
Theorie zur Gesetzesanwendung. Zu ihr gehörte auch die scheinbar
damit unvereinbare Kennzeichnung des Gesetzes als „Führerbefehl",
dem der Richter unbedingten Gehorsam zu leisten habe 2 8 4 .
278 v g l . ebd., S. 241.
279 Vgl. ebd., S. 219.
280 v g l . ebd., S. 220 f.
281 Vgl. ebd., S. 230 f.
282 v g l . Dahm, Z A k D R 1939, S. 528 f.
2β3 Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 233 f.
284 v g l . oben 5. Kap. I V . 3.

14*
212 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

6. Die Einschränkung der Auslegungsfreiheit durch das Führerprinzip

Die Stellungnahme der antiliberalen Strafrechtswissenschaft zu


Fragen der Gesetzesanwendung bieten ein anschauliches Studienobjekt
für allgemeine Betrachtungen zum Ablauf eines Umsturzes der Rechts-
ordnung: Unmittelbar nach 1933 wurde eine nahezu vollständige Lösung
der gesetzlichen Bindung gefordert. Der Strafrichter sollte die Stellung
eines „königlichen Richters" einnehmen 285 . Ziel dieser Bestrebungen
war, die weitergeltenden strafrechtlichen Normen sofort für national-
sozialistische Zwecke verwendbar zu machen. Bedenken mußte dieser
Standpunkt hervorrufen, sobald Strafgesetze des nationalsozialistischen
Gesetzgebers vorhanden waren. Eine freie Auslegungsmethode konnte
auch zu einer Abschwächung des politischen Gehalts führen. Auf der-
selben politischen Basis wurde daher jetzt eine Schwenkung vollzogen:
Die Autorität des Führers müsse durch eine unbedingte Gesetzestreue
gewahrt werden 2 8 6 . Ganz deutlich trat dieser Gedanke i n der Erwägung
zutage, daß i m nationalsozialistischen Staat Aufgaben der Rechtspflege
auf die Verwaltung übertragen werden könnten 2 8 7 .
Das Erfordernis einer Einschränkung der richterlichen Freiheit ent-
nahmen die Antiliberalen wiederum dem Leitbild des total-autoritären
Staates: Das i n ihm enthaltene Führerprinzip verbiete eine völlige
Lösung der gesetzlichen Bindung, die letzten Endes einen „Individualis-
mus auf der Richterseite" hervorrufen würde 2 8 8 . Auch u m der Rechts-
einheit w i l l e n und damit zur Festigung der staatlichen Gemeinschaft
verlange der Führergedanke bei der Gesetzesanwendung Beachtung 289 .
Ein unüberbrückbarer Gegensatz zur ganzheitlichen, wesenhaften
und volksanschauungsgemäßen Auslegungsmethode bestehe nicht, weil
es einmal i m Sinne des Führers sei, wenn der Richter die Volksan-
schauung als Rechtsquelle heranziehe 290 , und weil zum anderen der
Führer i n seinen Gesetzen der Volksanschauung Ausdruck verleihe; die
Eigenschaft des Führers befähige ihren Träger, die echten völkischen
Werte zu erkennen und ihnen Gestalt zu geben 291 .

ses v g l . etwa Goetzeler, GS 104, S.350; Ostwald, D J Z 1934, Sp.439ff.; dazu


Krüger, ZStW 55, S. 115; Dahm, ZStW 57, S. 261.
286
Schaffstein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24: „ I m Verhältnis von
Gesetzgeber u n d Richter ist der letztere der Geführte." Vgl. auch oben
3. Kap. I I I . 5. u n d 5. Kap. I V . 3.
287 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 90. Zusätzlich w a r f Dahm die Frage auf, „ob
nicht die Entscheidung politischer Strafsachen i n gewissem Umfang ganz der
Führung u n d den politischen Instanzen zu überlassen wäre".
2
88 Dahm, DStR 1934, S. 92.
289 v g l . Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 21 f.; Dahm, Gemeinschaft und
Strafrecht, S. 17.
2
90 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 263.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode 213

Die Bindung an die Gesetze des Führers konnte nach antiliberaler


Anschauung nicht mit der liberalen Gesetzesbindung gleichgesetzt wer-
den. Diese habe lediglich dem Ziel vollkommener formaler Rechts-
sicherheit gedient; jene sei dagegen Ausfluß der materiellen Rechts-
auffassung des Nationalsozialismus: Der Führer und der Richter als
sein Gefolgsmann arbeiteten gemeinsam an der Verwirklichung des
wahren Rechts, dessen Quelle i n der Volksanschauung liege. Die
Gefolgschaft des Richters bestehe nicht i n einem blinden Gehorsam,
sondern i n einem „Nachschaffen" der vom Führer formulierten Rechts-
sätze. Als „Mitarbeiter" des Führers vollende er dessen T a t 2 9 2 .
Für die praktische Rechtsanwendung war entscheidend, daß dem
Richter bei der Anwendung nationalsozialistischer Gesetze die unmittel-
bare Bezugnahme auf die Rechtsvorstellungen des Volkes verwehrt
wurde. Diese wurden nach antiliberaler Auffassung durch die Gesetz-
gebung des Führers vermittelt 2 9 3 .
I n beiden Teilaspekten der antiliberalen Theorie zur Gesetzesanwen-
dung, i n der ganzheitlichen und wesenhaften Auslegungsmethode sowie
i n der Beschränkung der richterlichen Freiheit durch den Führer-
gedanken, sollte also die Volksanschauung das herrschende Prinzip
darstellen. Wo sie i n der Form des Führergesetzes konkrete Gestalt
angenommen hatte, sollte jede Abweichung vom Gesetz ausgeschlossen
sein. Völlig undenkbar war es für die antiliberalen Strafrechtswissen-
schaftler, daß der Richter ein solches Gesetz für nicht anwendbar
erklären könnte, weil es der Volksanschauung widerspreche 294 .
Hingegen folgte aus der Priorität der volkstümlichen Rechtsan-
schauungen für die Anwendung vornationalsozialistischer Gesetze eine
Lockerung der gesetzlichen Bindung. Auch hier war es aber praktisch
ausgeschlossen, daß der Richter sich dem Willen der politischen Führung
versagte: Durch das A t t r i b u t „gesund" wurde die Volksanschauung zu
einem Instrument nationalsozialistischer Machtpolitik 2 9 5 . Aus dem
Führergrundsatz und der angeblichen Fähigkeit des Führers, die „ge-
sunde Volksanschauung" zu erkennen und zu gestalten, wurde gefolgert,
daß nicht nur die Führergesetze, sondern auch sonstige „außerjuristische
Äußerungen des Führerwillens" die Rechtsanwendung maßgeblich be-

291 Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 92; Referat zum Kongreß für Rechtsverglei-
chung 1937, S. 522; Schaffstein, DR 1934, S.352; Krüger, ZStW 55, S. 115 f.;
Larenz, RuS H. 109, S. 35 f.
292 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 116 ff.
293 v g l . ebd., S. 116, 118 f.
294 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 90; ZStW 59, S. 151 Anm. 40; Larenz, Rus
H. 109, S. 34; Schaff stein, DR 1934, S.352.
295 v g l . oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 2.
214 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

einflussen müßten 2 9 6 . Schließlich plädierten Strafrechtswissenschaftler


dafür, nur aktive, von der nationalsozialistischen Weltanschauung durch-
drungene Richter mit Aufgaben der Rechtspflege zu betrauen 2 9 7 .
Auf dieser theoretischen Grundlage konnten sich die national-
sozialistischen Praktiken der Richterauslese und der massiven Beein-
flussung der Rechtsprechung 298 ungehindert entfalten.

V. Die Angriffe gegen die begriffliche


und systematische Zergliederung des Verbrechens
und die Forderung nach einer wesenhaften und ganzheitlichen
Begriffsbildung und Verbrechenssystematik

Das Interesse der Strafrechtswissenschaft an Fragen der gesetzlichen


Bindung des Richters und der Auslegungsmethode nahm m i t der Fort-
dauer der nationalsozialistischen Herrschaft ab. Der totale Staat ließ den
Organen der Rechtspflege kaum noch einen Spielraum. Nach wenigen
Jahren war gewährleistet, daß sie sowohl die alten als auch die neuen
Strafgesetze i m Sinne der politischen Führung anwandten. Stärkere
Beachtung fanden in der Strafrechtswissenschaft gegen Ende der
dreißiger Jahre Themen, die allerdings auch schon i n der Mitte der
dreißiger Jahre behandelt worden waren: I n den Mittelpunkt der Aus-
einandersetzung rückten die Probleme einer Erfassung des Rechts-
stoffs mit Hilfe generalisierender Begriffe (im Unterschied zur indivi-
dualisierenden Auslegung) und des Verbrechenssystems.

1. Der Kampf gegen allgemeine abstrakte Begriffe


und gegen das „Trennungsdenken"

I n einem jahrhundertelangen Entwicklungsprozeß waren i n der


Strafrechtstheorie die isolierte Betrachtung der einzelnen Verbrechen
überwunden und gemeinsame Bestandteile und Merkmale heraus-
gearbeitet worden. Das Ergebnis waren allgemeine Verbrechenslehren,
wie sie der Allgemeine Teil des Strafrechts verzeichnet. Die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler hielten dies für einen zweifelhaften
Fortschritt 2 9 9 .
Zweifel an der Brauchbarkeit des Denkens in allgemeinen Begriffen
und Merkmalen hegten sie auf Grund des historischen Ursprungs:

296 Dahm, DStR 1934, S. 91.


297
Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 16;
DStR 1934, S. 96; Boldt, DR 1937, S. 95.
298 v g l , Weinkauff, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus,
S. 96 ff.; Johe, Die gleichgeschaltete Justiz.
2
99 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 90; auch ZStaatW 95, S. 289
(„ Zerf allserscheinung").
V. Angriffe gegen begriffliche und systematische Zergliederung 215

„Dieser Allgemeine Teil verdankt seine Entstehung vornehmlich der


deduktiv-rationalistischen Denkweise des Naturrechts und der Auf-
klärung und w i r d eben dadurch bereits i n seinem weltanschaulichen
Gehalt charakterisiert 300 ." Als weitere geistige Quelle des Denkens i n
Allgemeinbegriffen betrachteten sie den Neukantianismus der süd-
westdeutschen Schule 301 . A u f die strikte Unterscheidung von Wirklich-
keit und Wert sei das „Trennungsdenken" i n der Strafrechtswissenschaft
zurückzuführen. Das Recht erhalte die Bedeutung einer Ordnung, die
von außen an das chaotische Leben herangetragen werde; es sei durch
den Abstand vom Leben gekennzeichnet. Rechtsbegriffe sollten nach
dieser Auffassung frei von Bestandteilen der Wirklichkeit und von
konkreten Inhalten sein. Dieses normativistische Denken erstrebe mög-
lichst allgemeine und neutrale Begriffe. Alle wissenschaftliche Arbeit sei
dem Ausbau des Allgemeinen Teils und allgemeiner Rechtslehren ge-
widmet 3 0 2 .
Das inhaltlose und „blutleere" 3 0 3 Denken i n Allgemeinbegriffen ent-
wertete nach antiliberaler Auffassung das Leben und das „innere Gesetz
der Gemeinschaft" 304 . Es zerstöre die inneren Sachzusammenhänge und
nehme keine Rücksicht auf das „Wesen" der Lebenserscheinungen 305 .
Als Folge im Bereich der Verbrechenslehren beklagte Dahm eine
„Vernachlässigung der einzelnen Verbrechen" 3 0 6 und eine Zerstörung der
Eigenart des einzelnen Verbrechens. Die Aufgliederung i n allgemeine
Merkmale versperre den Zugang zum tieferen Verständnis des einzelnen
Delikts. Sie biete nicht das geeignete Mittel, u m ζ. B. das Wesen des
Verrats erkennbar zu machen; denn Ehre, Treue oder Gemeinschafts-
gesinnung könnten nicht i n abstrakte Begriffe gefaßt werden 3 0 7 .
Das politische Ziel der abstrakten, zergliedernden Denkweise sei
gewesen, m i t Hilfe allgemeiner Begriffe, die zumeist einen zivilistischen
Ursprung hätten, alle Lebensbereiche dem Urteil des Bürgers zu unter-
werfen 3 0 8 . Die besonderen Sinnzusammenhänge des Militärischen und
Politischen sollten zerstört werden, so ζ. B. durch die Ausschaltung des

300 Schaffstein, DStR 1935, S. 97.


301
Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 70 ff.; Dahm, V e r -
brechen u n d Tatbestand, S. 62, sowie oben 3. Kap. I I I . 3. u n d 5. Kap. I. 3.
302 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62.
303 Schaff stein, DStR 1935, S. 97.
304 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62.
305 v g l . ebd., S. 62; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 7 f.,
wandte sich gegen das „zergliedernde u n d atomisierende" Denken.
306 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63.
307 v g l . ZStaatW 95, S. 289, 292; Nationalsozialistisches u n d faschistisches
Strafrecht, S. 14.
308 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 74; Boldt, DR 1937, S. 92.
216 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Verratsmoments aus den Delikten des Hoch- und Landesverrats m i t


Hilfe der Rechtsgutslehre. Das Strafrecht werde auf die Funktion einer
bloßen Sicherung individualistisch gedachter Rechtsgüter beschränkt.
Erforderlich sei eine grundlegende Erneuerung der juristischen Be-
griffsbildung. Volk und Rasse enthielten i n sich sinnvolle Ordnungs-
strukturen und Gesetzlichkeiten, die durch juristische Begriffe nur
nachzubilden seien. Dahm knüpfte an Binder und C. Schmitt an und
forderte eine „nachdenkliche Begriffsauffassung" 309 . Die Begriffe und
Gliederungsschemata müßten dem Stoff angepaßt sein; innerlich ver-
schiedenartige Erscheinungen dürften nicht unter einen Begriff gepreßt
werden; wesensmäßig Gleichartiges dürfe nicht durch begriffliche
Unterscheidungen auseinandergerissen werden 3 1 0 . Eine wirklichkeits-
bezogene Betrachtungsweise werde Verallgemeinerungen scheuen; sie
interessiere sich mehr für den konkreten Gehalt des Delikts 3 1 1 . Schaff-
stein setzte sich daher für einen Abbau des Allgemeinen Teils und für
eine Konkretisierung der Allgemeinbegriffe vom Besonderen Teil her
ein 3 1 2 . I m übrigen seien die „irrationalen Momente und das Bestreben,
die Spaltung zwischen ethischer und rechtlicher Wertung zu beseitigen",
als „begriffsbildende Faktoren" zu beachten 313 .
I n engem Zusammenhang m i t dem Kampf gegen abstrakte Begriffe
stand die Forderung nach einer neuen „Rechtssprache" 314 . Die gekün-
stelte Fachsprache des Juristen diene lediglich dem Zweck, eine präzise
Grenzlinie zwischen Privatsphäre und staatlichem Machtbereich zu
ziehen 315 . Ein Volksrecht müsse sich auch einer Sprache bedienen, die
die Sprache des Volkes sei. Einfache, lebendige, bildhafte Worte sollten
dem Richter und auch dem ungelehrten Volksgenossen „das Wesen der
Dinge bezeichnen" 316 . Die Begriffe des Strafrechts müßten für jeden
gefühlsmäßig verständlich sein.

2. Die Angriffe gegen die Untergliederung des Tatbestandes

Als typisches Produkt des „wesenlosen und abstrakten Rechts-


denkens" 3 1 7 betrachteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler die

»09 Verbrechen und Tatbestand, S. 87; vgl. Binder, Logos Bd. 18, S. 12 f.;
C.Schmitt, Die drei Arten, S. 13, 20; vgl. auch Thierfelder, Normativ und
Wert, S. 8 A n m . 3.
aio v g l . Dahm, ZStW 57, S. 268.
an Vgl. ebd., S. 266 f.
»12 DRWis 1936, S. 45; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 101.
313 S chaff stein, Teleologische Begriffsbildung, S. 11 f.
314 Krüger, ZStW 55, S. 123; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand,
S. 106 f.; ZStW 57, S. 275.
315 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 107.
316 Ebd., S. 107.
V. Angriffe gegen begriffliche und systematische Zergliederung 217

herrschende Lehre vom Tatbestand. Sie wandten sich gegen die Heraus-
lösung eines allgemeinen Handlungsbegriffs und die Trennung von
Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit.

a) Die Bekäynpfung des naturalistischen Handlungsbegriffs

Scharfe Angriffe gegen den i m Anschluß an Radbruch 3 1 8 von der ganz


überwiegenden Meinung vertretenen Handlungsbegriff trugen Welzel,
Dahm und Berges vor 3 1 9 . Die Absonderung der Handlung vom übrigen
Tatbestand und die Definition der Handlung als willensgetragene Ver-
änderung der Außenwelt verriet nach ihrer Auffassung eine „libera-
listische Grundeinstellung" 3 2 0 . Sie äußere sich i n der „Entwesung" der
Handlung zu einem „blutleeren Gespenst" 321 . Von den wesentlichen
Merkmalen der verbrecherischen Handlung, vom Willensinhalt, von der
Bewußtseinslage des Täters, von seiner Gesinnung und sonstigen per-
sonalen Eigenschaften werde abgesehen. Materialistisches und rationa-
listisches Denken habe für eine Anpassung an die Denkkategorien der
Naturwissenschaften gesorgt: Die juristische Handlung werde auf einen
naturalistisch verstandenen Kausalvorgang reduziert, um ein möglichst
hohes Maß an Rechtssicherheit zu erreichen. Von der naturalitischen
Kausalität erwarte man, daß sie die rechtlichen Folgen menschlichen
Verhaltens berechenbar mache 322 .
Nach Meinung der antiliberalen Strafrechtler stand der naturalistische
Handlungsbegriff i n einem engen Zusammenhang m i t der Rechtsguts-
verletzungslehre, die die Handlungsformen der strafrechtlichen Tat-
bestände zu bloßen KausalitätsVorgängen umgeformt habe 3 2 3 .
I n die antiliberale Beurteilung des naturalistischen Handlungsbegriffs
paßte nicht ohne weiteres hinein, daß er die strafrechtliche Haftungs-

317 Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 91.


318
Der Handlungsbegriff i n seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem,
1903.
319 Hier wäre auch noch H. Mayer zu nennen, der das „Verursachungs-
dogma" gründlich analysierte u n d m i t Entschiedenheit bekämpfte (vgl. Straf-
recht des Deutschen Volkes, S. 163 ff.). I n der Zielrichtung stimmte er aber
m i t den genannten Autoren nicht überein. Die Beschäftigung m i t dem Straf-
recht w a r bei i h m m i t dem Streben nach einer präzisen Bestimmung der
Grenzen strafbaren Handelns verbunden (vgl. ebd., S. 53 ff., DStR 1938,
S. 74 f.).
320 Berges, DStR 1934, S. 240; vgl. auch Dahm, Verbrechen und Tatbestand,
S. 91.
321 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 77; vgl. auch Berges,
DStR 1934, S., 240; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 91.
322 v g l . Krüger, ZStW 54, S. 652 f.
323 v g l . Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 91; auch Berges, DStR 1935,
S. 441.
218 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

grundlage erweitert, indem er die Motivationslage des Täters unbe-


rücksichtigt läßt. Berges konnte jedoch darauf verweisen, daß die
Haftungserweiterung durch eine Prüfung des Willensinhalts i m Rah-
men der Schuld wieder rückgängig gemacht w i r d 3 2 4 . Aus dieser Plazie-
rung der Willensprüfung ergaben sich aber nach seiner Auffassung die
„verschwiegenen straf rechtstheoretischen Grundlagen der bisherigen
Dogmatik" 3 2 5 : Durch die Verbannung der täterschaftlichen Merkmale in
den Bereich der Schuld sei die Möglichkeit ausgeschlossen worden, „die
Rechtswidrigkeit des äußeren Verhaltens als Pflichtwidrigkeit gegen-
über dem Staate zu begreifen" 3 2 5 ; denn die Feststellung, daß eine Pflicht
verletzt worden sei, könne nur erfolgen, wenn auch die Bewußtseinslage
des Täters berücksichtigt werde. Der naturalistische Handlungsbegriff
sei hingegen Bestandteil einer strafrechtlichen Grundauffassung, die das
Wesen des strafrechtlichen Unrechts i n der Verursachung einer Ver-
letzung der äußeren Ordnung erblicke 3 2 5 .
Die „völlige Neuorientierung des Handlungsbegriffs" 3 2 6 wurde am
stärksten von Welzel gefördert. Die Ergebnisse seiner Arbeit wurden
von anderen antiliberalen Strafrechtswissenschaftlern übernommen,
allerdings mit dem Unterschied, daß sie auf den politischen Aspekt
weitaus größeres Gewicht legten. Seine Auffassung von der Hand-
lungsstruktur legte er erstmals i n dem Aufsatz „Kausalität und Hand-
lung" 1931 nieder 3 2 7 . Zur Begründung führte er vorwiegend denk- und
willenspsychologische sowie philosophische Argumente an. Die Hand-
lung könne nicht als naturalistischer Kausalvorgang verstanden werden,
den das Recht einer Wertung unterwerfe. Die entscheidenden Merkmale
menschlichen Handelns würden dabei übersehen: Der Erfolg werde vom
Menschen nicht blind-kausal „verursacht", sondern gedanklich anti-
zipiert und bei jedem Abschnitt der Handlung intendiert. Welzel be-
zeichnete die Handlung als „Sinneinheit" 3 2 8 , die weit mehr als nur den
Kausalzusammenhang umfasse. Anknüpfungspunkt für die strafrecht-
liche Zurechnung sollte die „Intentionalität" menschlichen Handelns
sein 329 .
Diese Gedanken erweiterte Welzel zu seiner finalen Handlungslehre.
Sie ging als ein Teilaspekt aus seiner Grundanschauung hervor, daß die
Werte nicht i n einer idealen Schicht dem Sein übergeordnet seien, son-
dern daß die Werthaftigkeit eine ontische Struktur der Wirklichkeit dar-

324 Vgl. DStR 1934, S. 240.


325 Ebd., S. 241.
326
Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 78.
327 ZStW 51, S. 703 ff.
328 Ebd., S. 718.
329 Ebd., S. 709.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 219

stelle, i n die der Mensch gestellt sei und zu der er ständig durch sein
Handeln Stellung beziehe 330 .
Nach dem politischen Umsturz drangen i n diese Lehre auch Splitter
der nationalsozialistischen Weltanschauung ein, ohne daß jedoch eine
Abhängigkeit vom Nationalsozialismus behauptet werden könnte 3 3 0 3 .
Die ganzheitliche Auffassung des Handlungsbegriffs, die den Vorsatz
aus dem Bereich der Schuld i n den der Handlung zog, übernahmen
Strafrechtswissenschaftler, die dem Nationalsozialismus weitaus stärker
verbunden waren, für ihr Konzept, das darauf angelegt war, dem
Streben nach rationalen Maßstäben i m Strafrecht entgegenzuwirken
und eine irrational-ganzheitliche Betrachtungsweise an ihre Stelle zu
setzen 331 . Daher waren sie letzten Endes auch nicht allein an einer
Umformung des Handlungsbegriffs interessiert; die gesamte Tatbe-
standslehre, vor allem aber die Unterscheidung von Tatbestands-
mäßigkeit und Rechtswidrigkeit sollte aufgelöst werden.

b) Die Forderung nach Überwindung der Trennung


von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit

Die antiliberalen Angriffe konzentrierten sich auf die seit von Liszt
und Beling übliche Unterteilung i n einen objektiv und wertfrei gedach-
ten Tatbestand und in eine bewertende Rechtswidrigkeit.
Die Ausscheidung normativer Merkmale aus dem Tatbestand ver-
folgte nach Dahms Ansicht einzig und allein den Zweck, eine optimale
Durchführung des Satzes „nulla poena sine lege" zu gewährleisten 332 .
Die gesonderte Prüfung der Rechtswidrigkeit sei durch die Rechtsguts-
lehre erforderlich geworden; da sich i m Rahmen dieser Lehre die tat-
bestandlichen Feststellungen darauf beschränkten, ob ein Rechtsgut
verletzt sei, werde eine Korrektur i n den Fällen erforderlich, i n denen
aus besonderen Gründen keine Strafwürdigkeit gegeben sei 3 3 3 .
Diese Aufgabenverteilung zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit
hatte sich nach antiliberaler Auffassung auch durch die neueren Be-
strebungen zur Teleologisierung des Verbrechenssystems nicht grund-
sätzlich geändert. Die Erkenntnis „normativer" Tatbestandsmerkmale
habe die dualistische Denkweise nicht beseitigt. Nach Dahm zeigt das
„unmögliche Wort" bereits, daß Wirklichkeit und rechtliche Bewertung

330 v g l . ZStW 51, S. 715; Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74 ff.


330a v g l . oben 1. Kap. I I I . 2. a) A n m . 135.
331 So Berges, Dahm u n d Schaffstein.
332 v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 78 f.
333 vgl. ebd., S. 79 f.; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung,
S. 133.
220 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

getrennt gesehen würden 3 3 4 . Auch i n der Lehre vom Tatbestand als dem
„vertypten Unrecht" 3 3 5 werde i m Grundsatz an der liberal-rechtsstaat-
lichen Funktion der Tatbestandslehre festgehalten; letzten Endes werde
auch hier zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit unter-
schieden 336 .
Die h. L. halte somit an der „widersinnigen" Konstruktion fest, daß
es ein an sich tatbestandsmäßiges, aber nicht rechtswidriges Verhalten
geben könne 3 3 7 . M i t scharfen Worten bekämpfte Dahm dieses „An-Sich-
Denken" 3 3 8 : Er sah darin einen „Hohn auf die Logik . . . und auf jedes
gesunde Gefühl" 3 3 9 . Die liberale Tatbestandslehre behaupte zu Unrecht,
daß die Unterordnung unter den Tatbestand noch kein Werturteil ent-
halte. Die Gleichbehandlung rechtswidriger und rechtmäßiger Hand-
lungen bei der Tatbestandsprüfung stelle einen Zusammenhang zwischen
beiden her. Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit bedeute daher
für den rechtmäßig Handelnden eine Herabsetzung 340 . Von einer wert-
neutralen Subsumtion könne insbesondere dann keine Rede sein, wenn
der gesetzliche Tatbestand Begriffe enthalte, denen der einfachen Wort-
bedeutung nach ein abfälliges Urteil innewohne. Dahm nannte als Bei-
spiel das Wort „mißhandeln" aus dem Körperverletzungstatbestand. Für
die natürliche Volksanschauung müsse es unbegreiflich bleiben, daß
nach einer lebensfremden, abstrakten juristischen Denkweise auch dann
eine „Mißhandlung" vorliege, wenn ein Rechtfertigungsgrund gegeben
sei und die Tat somit letzten Endes rechtmäßig sei, wie ζ. B. der
gelungene ärztliche Eingriff zu Heilzwecken 340 .
Die Entfernung des Werturteils aus der Tatbestandsprüfung hat nach
Dahms Ansicht zur Folge, daß der besondere Sinngehalt des jeweiligen
Delikts nicht zur Geltung kommt. Um die erforderliche Eingrenzung i m
Bereich der Rechtswidrigkeit vornehmen zu können, sei man darauf
angewiesen, die Unrechtsausschließungsgründe zu dehnen und zu ver-
allgemeinern 341 . Die Ganzheit von Tatbestand und zugehörigen Un-
rechtsausschließungsgründen werde gelöst: Die konkreten Voraus-
setzungen der zulässigen Schwangerschaftsunterbrechung würden zum
allgemeinen Güterabwägungsprinzip ausgedehnt; die Rechtfertigung

334 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 82 f.


335 vgl. Mezger, Festschritf für Träger 1926, S. 187 ff.
336 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 270; Verbrechen und Tatbestand, S.82; Schaff-
stein, ZStW 57, S. 297.
337 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133.
338 Verbrechen und Tatbestand, S. 74.
339 Ebd., S. 66 f.
340 vgl. ebd., S. 68 f.
341 v g l . ZStW 57, S. 270 ff.; Verbrechen u n d Tatbestand, S. 97 ff.; auch
Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 52.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 221

der Körperverletzung durch Einwilligung des Verletzten werde zum


allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Einwilligung erweitert und auf
völlig andersgeartete Verbrechen wie die Beleidigung oder die Ver-
mögensdelikte angewandt. Dieses „Inversionsverfahren" 3 4 2 zerreiße die
konkreten Lebenszusammenhänge. Die Maßstäbe des Rechtswidrigkeits-
urteils verflüchtigten sich immer mehr ins Allgemeine, wie die inhalts-
leeren, abstrakten materiellen Rechtswidrigkeitslehren bewiesen 343 .
Der verborgene politische Gehalt der Verallgemeinerung und des
„An-Sich-Denkens" lag nach Ansicht Dahms i n der Unterwerfung aller
Lebensbereiche unter allgemeine und bürgerliche Begriffe 3 4 4 . Gerade
die unbürgerlichen Bereiche des soldatischen und politischen Handelns
sollten bürgerlicher Kontrolle unterzogen werden. Die Verallgemeine-
rung des Rechtswidrigkeitsurteils solle zudem das Maß an Rechtssicher-
heit vergrößern.
Das Ergebnis der antiliberalen K r i t i k an der Tatbestandslehre lautete
kurz und bündig: „Begriff und Wort des Tatbestands sollten aus der
Strafrechtsdogmatik verschwinden 345 ."
Was aber sollte an deren Stelle treten?

c.) Die ganzheitliche und wesenhafte Betrachtung des Unrechts

Zwar sagte Dahm ganz klar, daß ein Strafrecht ohne differenzierte
Tatbestände nicht angestrebt werde 3 4 6 ; dennoch ist es sehr schwierig,
eine Vorstellung davon zu erhalten, wie Strafrechtswissenschaftler wie
Dahm und Schaffstein die verschiedenen Deliktsarten erfassen wollten.
Sie fühlten sich nicht verpflichtet, ihre Auffassung präzise vorzutragen,
einen klaren methodischen Weg aufzuzeigen und rationale Begründun-
gen anzugeben. Eine solche Formalisierung hätte ihrer ganzen Denk-
weise widersprochen, weil sie letztlich dem bekämpften liberalen Inter-
esse an Rechtssicherheit gedient hätte. Ihre Unrechtslehre erschöpfte
sich daher i n unbestimmten Andeutungen und vagen Umschreibungen.
Fest stand für sie: Handlung, Tatbestand und Rechtswidrigkeit sollten

842 Vgl. ZStW 57, S. 272.


343 v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 69 ff.
344 Ebd., S. 89.
345 Ebd., S. 89.
346 Vgl. ZStW 57, S. 206. Weder von Dahm noch von anderen antiliberalen
Strafrechtswissenschaftlern wurde ein Strafrecht bestehend aus einer Gene-
ralklausel entsprechend § 6 des damaligen sowjetrussischen StGB gefordert.
Diese Forderung wurde aber von politischer Seite erhoben, von dem Natio-
nalsozialisten v. Heydebrink und der Lasa, der a k t i v an der nationalsozia-
listischen Machteroberung beteiligt w a r (vgl. Deutsche Rechtserneuerung,
S. 163 f.).
222 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

nicht mehr getrennt werden; die Unterscheidung von natürlichem


Lebensvorgang und rechtlicher Bewertung galt als überwunden. Das
Verbrechen ist, wie Dahm meinte, „konkrete Unordnung", die wesen-
haft und ganzheitlich zu erfassen sei 3 4 7 . Die A r t des Verbrechens und
damit seine rechtliche Erfassung bestimme sich vor allem nach dem
Wesen des Täters, das wiederum entscheidend von seiner Stellung
innerhalb der Gemeinschaft, von seinem Pflichtenkreis geprägt werde.
Auch aus der inneren Haltung und der Gesinnung des Täters, wie sie in
der Tat zum Ausdruck komme, aus der Beschaffenheit des Willens sei
näher auf das Verbrechen zu schließen.
Die Aufzählung weiterer ähnlicher Formulierungen ist überflüssig;
denn schon jetzt w i r d erkennbar, daß die Ausführungen zur Tatbe-
standslehre nahezu identisch waren m i t denen zur Auslegungsmethode.
Beide Bereiche flössen ineinander über, gingen auf i n der ganzheit-
lichen „Wesensschau" des Verbrechens.
Vollständig w i r d dieses Bild, untersucht man den Kampf der A n t i -
liberalen gegen eine weitere Unterscheidung i m herkömmlichen Ver-
brechenssystem, die zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld.

3. Die Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung


zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld

Die Bekämpfung der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und


Schuld hatte sich insbesondere Schaffstein zur Aufgabe gemacht, der
zugleich einer der schräfsten K r i t i k e r der Rechtsgutslehre w a r 3 4 8 . Nach
seiner Auffassung waren beide Konstruktionen ineinander verzahnt: Die
Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld sei eine Konsequenz der
Rechtsgutstheorie, die das Strafrecht als Instrument zum Schutz von
Interessen und Rechtsgütern betrachte 349 . Die Grundlage für das Straf-
barkeitsurteil gebe allein die objektive Veränderung der Rechtsgüter-
welt ab. Die Frage nach der Rechtswidrigkeit beantworte sich nur da-
nach, ob ein objektiv feststellbarer Eingriff i n eine fremde Interessen-
sphäre vorliege. Ob auf Grund subjektiver Gegebenheiten eine mildere
Beurteilung angezeigt sei, werde erst sekundär geprüft. Die Schuld

347 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 86; vgl. auch S. 80 f.; Schaff stein, Das
Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133 Anm. 22; Kempermann, Die Erkennt-
nis des Verbrechens, S. 7 f.
348 Dahm hielt sich i n dieser Frage zurück; vgl. Verbrechen u n d Tatbe-
stand, S. 93 A n m . 60 u n d ZStW 57, S. 268 f. A n m . 104. M a n könnte daher fast
von einer Arbeitsteilung bei der Auflösung des Verbrechenssystems sprechen:
Dahm griff es i m Bereich der Tatbestandslehre an, Schaffstein i m Rahmen
von Rechtswidrigkeit u n d Schuld.
349 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S. 31; Das Verbrechen als Pflichtverletzung,
S. 134.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 223

bleibe auf die Funktion der Strafbegrenzung beschränkt; die Strafbe-


gründung bleibe allein dem objektiven Unrecht vorbehalten.
Nach Schaffsteins Ansicht war diese Theorie schon angesichts zahl-
reicher wissenschaftlicher Erkenntnisse der vornationalsozialistischen
Zeit nicht mehr zu halten. Zum Beweis führte er einmal die von
Fischer begründete 350 , von Hegler 3 5 1 und Mezger 3 5 2 weiterentwickelte
und vertiefte Lehre von den subjektiven Unrechtselementen an 3 5 3 . Sie
durchbreche die strikte Scheidung von objektiver Rechtswidrigkeit
und subjektiver Schuld. Nur ζ. T. könnten die subjektiven Unrechts-
elemente von der Rechtsgutslehre erklärt werden. Bei dem Element der
Bereicherungsabsicht i n den §§ 263, 253 und 268 StGB, bei dem Merk-
mal „aus Eigennutz" i n den §§ 180, 181 a, 257 Abs. 2, 258, 259 oder auch
bei den Merkmalen „böswillig" i n § 134 a StGB und „roh mißhandelt"
i n § 223 b StGB versage sie ganz offensichtlich, weil hier nicht der Schutz
von Rechtsgütern, sondern die Erfassung einer bestimmten Gesinnung
i m Vordergrund stehe.
I m Gegensatz zur These des rein objektiven Unrechts stünden auch
die subjektiven Elemente vieler Unrechtsausschließungsgründe 354 : Der
Verteidigungswille bei der Notwehr und der Wahrnehmung berechtig-
ter Interessen, die Verfolgung eines Erziehungszwecks bei der Züchti-
gung eines Kindes, die pflichtgemäße Prüfung der Notlage beim über-
gesetzlichen Notstand. Ein Schuldmoment sei auch durch einige Ent-
scheidungen des RG i n Fällen unechten Unterlassens i n die Unrechts-
prüfung einbezogen: I m Rahmen der Rechtswidrigkeitsfeststellung habe
das RG erwogen, ob dem Unterlassenden ein aktives Eingreifen zuzu-
muten gewesen wäre 3 5 5 .
Weiterhin berief sich Schaffstein auf die von Hegler 3 5 6 und Thier-
felder 3 5 7 vorgetragene Lehre von den objektiven Schuldmerkmalen 358 ,
deren typischstes Beispiel § 217 StGB (Kindestötung) war, der eine
Privilegierung der unehelichen Mutter auf Grund ihrer psychischen

350
Vgl. die Rechtswidrigkeit, 1911.
351 Vgl. ZStW 36, S. 19 ff., 31 ff., 184 ff.; Festschrift f ü r F r a n k 1930 Bd. 1,
S. 251 ff.
352 v g l . GS 89, S. 207 ff.; Festschrift f ü r Träger 1926, S. 187 ff.; Straf recht,
S. 168 ff.
353 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S. 20 f.
354 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S.20f.; ZStW 57,
S. 303.
355 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 33; ZStW 57, S.302; auch Dahm, ZStW 59,
S. 183; vgl. dazu R G 58, 97; 226.
356 vgl. Festschrift für F r a n k 1930, Bd. 1, S. 253 f.
357 Objektiv gefaßte Schuldmerkmale, 1932.
358 vgl. Schaff stein, ZStW 57, S.302; Tel. Begriffsbildung, S. 28.
224 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Zwangslage vorsieht. Hier werde das Prinzip der rein subjektiven Fas-
sung der Schuld durchbrochen, wie auch i m Falle des entschuldigenden
Notstandes, dessen Vorliegen das RG von einer Güterabwägung ab-
hängig gemacht habe, von einem Merkmal, das ansonsten nur zur Un-
rechtsbegründung herangezogen werde 3 5 9 .
Schließlich nannte Schaff stein die subjektive Versuchstheorie als
Beweis für die Unrichtigkeit der herkömmlichen Unterscheidung von
Rechtswidrigkeit und Schuld 3 6 0 . Der Unrechtsgehalt des ungefährlichen
untauglichen Versuchs könne nicht aus dem Gedanken der objektiven
Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung erklärt werden. Die Notwen-
digkeit, die Rechtswidrigkeit mit Hilfe subjektiver Merkmale zu be-
stimmen, könne hier nicht mehr übersehen werden.
Schaffstein mußte konzedieren, daß durch den Ubergang von der
psychologischen zur normativen Schuldlehre 361 der Pflichtverletzungs-
gedanke i n das Strafrecht eingezogen und damit die Rechtsgutsver-
letzungslehre zurückgedrängt worden war. Insgesamt habe sich an
ihrer dominierenden Position aber nichts geändert, weil der Gedanke
der Pflichtverletzung eben nur im Rahmen der Schuld Beachtung ge-
funden habe und somit nur zur Einschränkung der Strafbarkeit ver-
wandt worden sei. Das Schuldurteil knüpfe an eine Pflichtnorm an, die
ein der objektiven Rechtsnorm entsprechendes inneres Verhalten ver-
lange 3 6 2 . Die Unterordnung unter das rationalistische Verbrechens-
system zeige sich auch i n der Bestimmung des Maßstabes, der über eine
Verletzung der Pflicht entscheide: Dieser richte sich nach den Anforde-
rungen, die man i n der gleichen Situation an den durchschnittlichen
Menschen stellen könne 3 6 3 . M i t dem Abstellen auf das menschliche
Durchschnittsverhalten würden wieder die gesetzlichen Tatbestände
maßgebend, i n denen die durchschnittlichen Anforderungen typisiert
worden seien 364 .
Die Grundgedanken der nationalsozialistischen Rechtserneuerung
machten nach Schaffsteins Auffassung eine Verschmelzung von Rechts-
widrigkeit und Schuld zwingend erforderlich. „Vom Standpunkt einer
materiellen Verbrechensauffassung" sei die Aufrechterhaltung der
Trennung „undurchführbar und zu verwerfen" 3 6 5 ; denn die Frage nach

359 Vgl. Schaffstein, ZStW 57, S.303; Tel. Begriffsbildung, S. 29; RG 66, 397.
360 v g l . ZStW 55, S. 33.
sei Vgl. die 12./13. Auflage, S. 157 f. von Liszts Lehrbuch m i t der 14./15,
S. 158 f.; ferner Frank, Festschrift für die juristische Fakultät i n Gießen 1907,
S. 519 ff.
362 v g l . Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 135.
363 Vgl. ebd., S. 135 f., 138.
364 v g l . Krüger, ZStW 55, S. 82 f.
365 ZStW 55, S. 26.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung 225

der materiellen Strafwürdigkeit sei nur zu klären, wenn Tat- und


Täterseite unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit
ganzheitlich betrachtet würden.
Das nationalsozialistische Straf recht strebe eine durchgängige Ver-
knüpfung von Recht und Sittlichkeit an. Maßgebend für die sittliche
Bewertung seien aber der Wille und die Gesinnung, nicht jedoch die
äußere Interessen Verletzung. Das führe zwangsläufig zur Subjektivie-
rung des Unrechtsbegriffs und schließlich zur Beseitigung der Grenze
zwischen Unrecht und Schuld 3 6 6 .
Die Unsinnigkeit des herkömmlichen Verbrechensaufbaus trat nach
Dahms Auffassung bei den Treubruchsdelikten offen zutage 3 6 7 : Der
Wesenskern des Verrats liege i n der inneren Haltung, i m gesinnungs-
mäßigen Abfall von der Gemeinschaft: „Die Schuld ist ja gerade das
Unrecht 3 6 8 ."
Die herkömmliche Grenzlinie zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld
wurde von beiden Seiten aus angegriffen: Der geschilderten Subjek-
tivierung des Unrechtsbegriffs entsprach eine Objektivierung des
Schuldbegriffs: Der Maßstab für die Pflichtverletzung sollte sich nicht
aus einer Individualethik ergeben, sondern aus den Anforderungen der
völkischen Sozialethik, die am Menschenbild des „politischen Soldaten"
ausgerichtet w a r 3 6 9 .
Die ersten Angriffe Schaffsteins gegen die Trennung von Rechts-
widrigkeit und Schuld zielten auf eine völlige Aufhebung der Unter-
scheidung 370 . Sie wurden i n der übrigen Strafrechtswissenschaft ζ. T.
skeptisch aufgenommen. Ihnen wurde zur Hauptsache entgegengehal-
ten, daß die Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld i n vielen
Bereichen des Strafrechts unumgänglich sei, so i m Rahmen der Not-
wehr, des Maßnahmenrechts, der Teilnahme- und der Fahrlässigkeits-
lehre 3 7 1 . Später äußerte sich auch Schaffstein etwas zurückhaltender:
Notwendig sei vor allem die Aufhebung der Trennung von Recht-
fertigungs- und Entschuldigungsgründen. Auch sei der Vorsatz i n die
Rechtswidrigkeitsprüfung einzubeziehen 372 .

366
Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.31; auch Dahm, ZStW 57, S. 244.
367 v g l . ZStaatW 95, S. 288 f.; auch Mezger, ZStW 55, S. 14.
3€8 Dahm, ZStaatW 95, S. 288.
369 v g l . oben 3. Kap. I I . 1.
370 vgl. ZStW 55, S. 26.
371 Vgl. Mezger, Z S t W 55, S. 13 ff.; SchwingelZimmerl, Wesensschau u n d
konkretes Ordnungsdenken, S. 33 ff.; Kohlrausch, Vermögensverbrechen u n d
Eigentumsverbrechen, S. 504, sowie unten 5. Kap. I X .
372 v g l . ZStW 57, S. 305.

15 Marxen
226 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

4. Das antiliberale „Verbrechenssystem"

Was ließen die Antiliberalen vom Verbrechenssystem übrig?


Die antiliberale K r i t i k am formellen Verbrechensbegriff bewegte
sich auf unterschiedlichen Argumentationsebenen. Einen Teil der
Argumente übernahm sie von einem wissenschaftlichen Standpunkt, der
grundsätzlich am herkömmlichen Verbrechenssystem festhielt und
lediglich eine Beseitigung von Unebenheiten und Widersprüchen sowie
eine Verfeinerung des Systems beabsichtigte. Auf dieser Basis ruhten die
Lehren von den subjektiven Unrechtselementen, von den objektiven
Schuldmerkmalen, die materiellen Rechtswidrigkeitsbegriffe aus der
vornationalsozialistischen Zeit und die normative Schuldlehre. Diese
systemimmanente K r i t i k wurde als Beweis für die Systemauflösung
vorgetragen.
Sie war eingebettet i n eine grundsätzlichere K r i t i k , deren Grund-
these war, daß das Verbrechenssystem nicht lediglich ein technisches
Instrument zur Prüfung von Strafrechtsfällen sei. Diese K r i t i k am
alten Verbrechenssystem hob dessen politische Voraussetzungen hervor
und stellte von daher die einzelnen Elemente i n Frage.
Ihre Tendenz war überwiegend destruktiv; Anstrengungen zum Auf-
bau eines neuen Verbrechenssystems waren von einer antirationali-
stischen Grundhaltung nicht zu erwarten. Das Desinteresse an einem
System zeigte sich auch i m Fehlen einer Bestandsaufnahme dessen, was
nach der antiliberalen K r i t i k noch vom alten System verwendbar war.
Nur Schaffstein umriß i n groben Zügen das Ergebnis der K r i t i k am
Verbrechenssystem: Er lobte die „außerordentliche Vereinfachung und
Einschränkung", die die allgemeinen Verbrechenslehren erfahren hät-
ten 3 7 3 . Aus dem Tatbestand werde ein „Deliktstypus", der als negative
Merkmale sowohl Unrechts- als auch Schuldausschließungsgründe i n sich
aufnehme. Da das Verbrechen seiner Natur nach „Willensverwirk-
lichung" sei, ergebe sich eine Untergliederung nach inneren und
äußeren Voraussetzungen. Diese beiden Seiten des Verbrechens würden
jedoch wieder durch den ganzheitlichen Handlungsbegriff zusammen-
gefaßt und erst i n dieser Form als rechtswidriges Verhalten gewür-
digt 3 7 4 . Die „Zweispurigkeit von Rechtswidrigkeit und Schuld als ein-
ander gleichgeordnete und selbständige Haftungs Voraussetzungen"
konnte nach Schaffsteins Ansicht nicht mehr aufrechterhalten werden 3 7 5 .
Die Begriffe fallenzulassen, sei jedoch nicht erforderlich; nur müßten
ihnen neue Aufgabenbereiche zugewiesen werden: Nach seinen Vor-

373 ZStW 55, S. 36.


374 v g l . ZStW 57, S. 315.
375 Ebd., S. 335.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n Einzelproblemen 227

Stellungen sollte die Rechtswidrigkeit alle objektiven und subjektiven


Verbrechensvoraussetzungen i n sich aufnehmen, also den „gesamten
Deliktstypus" umfassen 376 . Für die Verwendung des Schuldbegriffs
machte er drei Vorschläge 377 : Er könne einmal auf die Zurechnungs-
fähigkeit reduziert werden. Auch sei denkbar, daß er zur Bezeichnung
der gesamten objektiven und subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen
unter Einschluß der Rechtswidrigkeit der Handlung und der Zurech-
nungsfähigkeit des Täters verwandt werde. Schließlich könne er als
Oberbegriff die Merkmale des Vorsatzes und der Zurechnungsfähigkeit
in sich aufnehmen und damit zur Kennzeichnung derjenigen Merkmale
dienen, auf die sich die Akzessorietät der Teilnahme nicht erstrecke.
Diese Vorschläge Schaffsteins konnten kaum noch verdecken, daß
der Schuldbegriff seine eigenständige Bedeutung eingebüßt hatte. Seine
Entleerung war symptomatisch für die Auflösung des gesamten Ver-
brechenssystems. Die Elemente der einzelnen Bestandteile des Systems
wurden zu einem ungegliederten, unförmigen Gebilde zusammengefaßt,
zum „Deliktstypus". Dessen Etikettierung als „Rechtswidrigkeit" mußte
eher verwirren als zu einer Klärung beitragen; die Bezeichnung „rechts-
widrig" war keineswegs identisch m i t dem entsprechenden Merkmal
des überkommenen Verbrechenssystems. Das Einheitsmerkmal der
„Rechtswidrigkeit" erfülle i n idealer Weise die Anforderungen einer
wesenhaften und ganzheitlichen Verbrechensbetrachtung. Es befreite
von dem Zwang, den eine systematische Untergliederung ausübt. A n
die Stelle einer geordneten schrittweisen Gedankenführung, die einer
rationalen Nachprüfung zugänglich ist, konnte eine intuitive Wesens-
schau treten.

VI. Die Auswirkungen des neuen strafrecht-


lichen Denkens in Einzelproblemen 378

1. Die Forderung nach Ersetzung des Territo-


rialitätsprinzips durch das Personalitätsprinzip379

Der Geltungsbereich des StGB von 1871 bestimmte sich zur Haupt-
sache gem. § 3 nach dem sog. Territorialitätsprinzip. Dahm erblickte
darin einen Widerspruch zu „deutschrechtlichem Denken" 3 8 0 , das sich die

376 Vgl. ebd., S. 335 f.


377 v g l . ebd., S. 336.
378 Der Rahmen dieser Untersuchung bringt es m i t sich, daß sich die D a r -
stellung auf Beispiele beschränkt. Auch sie können n u r sehr kurz abge-
handelt werden. Das Schrifttum stellt zumeist n u r eine A u s w a h l dar.
379 Vgl. dazu Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 13; Nationalsozia-
listisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 29; ZStaatW 95, S. 318 f.; Schaff-
stein, DRWis 1936, S. 48; Mezger, ZStW 55, S. 12; Gleispach, ZStW 55, S. 399 ff.
»so Gemeinschaft und Strafrecht, S. 13.

15*
228 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Staatsgewalt nicht als territoriale Herrschaftsmacht, sondern als Ver-


pflichtung des einzelnen zur Treue gegenüber der Gemeinschaft vor-
stelle. Wer nicht zur Gemeinschaft gehöre, den könne die Strafe auch
nicht i n ihrer ehrmindernden Funktion treffen. Das materielle Ver-
brechensprinzip des Treubruchs und die Verdrängung der Rechtsguts-
verletzungstheorie durch den Pflichtverletzungsgedanken verlangten
eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Ausländern. Diese
müßten einem besonderen „Fremdenrecht" 3 8 0 unterworfen werden, das
dem Gedanken der sichernden Maßnahmen näher stehe als dem der
echten Strafe. Die Treuepflicht des deutschen Volksgenossen ende nicht
mit dem Verlassen des Vaterlandes. Aus diesen Gründen sei es insbe-
sondere i m Hinblick auf die Delikte des Hoch- und Landesverrats not-
wendig, das Territorialitätsprinzip durch das Personalitätsprinzip ab-
zulösen.
I n der amtlichen Strafrechtskommission setzte sich dieser Gedanke
durch 3 8 1 . Eine entsprechende Änderung des Gesetzes erfolgte durch die
VO vom 6. 5.1940 382 .

2. Die Gleichstellung von Versuch und Vollendung 3 ^

Die unterschiedliche Behandlung von Versuch und Vollendung i m


StGB erklärte Schaffstein als Konsequenz der Rechtsgutslehre; für sie
bestehe die Rechtswidrigkeit des Versuchs i n der Gefährdung des
Rechtsguts i m Unterschied zur Verletzung i m Falle der Vollendung.
Wenn dagegen der Pflichtverletzungsgedanke zum herrschenden mate-
riellen Prinzip i m Strafrecht erhoben werde, könne der Grad der
Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht mehr über das Strafmaß entscheiden.
Die Pflichtverletzung bestimme sich nach subjektiven Kriterien, wie
überhaupt i m neuen „Willensstrafrecht" — so formulierte Dahm — die
„Betätigung des gefährlichen und volksfeindlichen Willens" der maß-
gebende Anknüpfungspunkt für die Strafe sei 3 8 4 . Daraus folge zwingend
die strafrechtliche Gleichbehandlung von Versuch und Vollendung.
Das Ziel dieser Forderung, durch eine gleich hohe Bestrafung des
Versuchs eine „aktivistisch geführte Verteidigungslinie des Staates
gegen ordnungsverneinende und -bedrohende Elemente" aufzubauen 385 ,

sei Vgl. Reimer, Räumliche Geltung des künftigen Strafgesetzes, S. 140 ff.,
und Gleispach, ZStW 55, S. 399 ff.
382 R G B l I, 754.
383 v g l . d a z u Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 137 ;
DRWis 1936, S. 48 f.; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf-
recht, S. 18; Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 9 ff.
384 Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18.
385 Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 23.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n Einzelproblemen 229

wurde durch die VO vom 29. 5.1943 erreicht 3 8 6 . Sie ersetzte die i n § 44
Abs. 1 StGB zwingend vorgesehene Milderbestrafung des Versuchs durch
eine fakultative.

3. Die Gleichstellung von Täterschaft und T e i l n a h m e ^

Aus der Maßgeblichkeit des gemeinschaftsfeindlichen Willens wurde


weiterhin gefolgert, daß es keinen Unterschied ausmachen könne, ob
der Tatbeitrag i n einer unmittelbaren Ausführung, einer Beihilfe oder
einer Anstiftung bestehe. Die Denkschrift des Preußischen Justiz-
ministers enthielt daher den Vorschlag, den Täterbegriff i n diesem
Sinne zu vereinheitlichen 388 . Er fand zunächst Zustimmung, weil er der
antiliberalen Bestrebung entsprach, „doktrinäre" Unterscheidungen zu
beseitigen und stattdessen eine ganzheitliche Betrachtungsweise einzu-
führen 3 8 9 . Begrüßt wurde, daß i n der Ausdehnung des Täterbegriffs eine
„erhöhte Verantwortlichkeit des einzelnen" zum Ausdruck komme 3 9 0 .
Erst mit der Zuschärfung der Tätertyplehre stellten sich Zweifel an
der Richtigkeit einer unterschiedslosen Behandlung von Täterschaft und
Teilnahme ein. Dahm hielt jetzt diesen Gedanken für „schon i m Ansatz
verfehlt" 3 9 1 . Einmal rufe er unüberwindliche technische Schwierigkei-
ten hervor; zum anderen vermenge er dem Wesen nach Verschiedenes:
„Kein Gesetzgeber vermag etwas daran zu ändern, daß der Anstifter und
der Gehilfe ein anderer ist als der Täter 3 9 1 ."

4. Die Lösung der Problematik unechter Unterlassungsdelikte


mit Hilfe des Pflichtverletzungsgedankens und der Tätertyplehre

Fragen der unechten Unterlassungsdelikte wurden zunächst von


Schaff stein 3 9 2 , dann auch von D a h m 3 9 3 intensiv abgehandelt. Die bis
dahin i n Wissenschaft und Praxis herrschenden Auffassungen waren
ihrer Ansicht nach eindeutig liberalen Ursprungs. Vor allem Schaff-
stein betonte den Zusammenhang m i t der Rechtsgutslehre 394 . Für diese
liege der Sinn des Strafrechts darin, daß der Bürger angehalten werde,

3
86 R G B l I, 341.
387
Vgl. dazu Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht,
S. 18; Schaffstein, ZStW 53, S. 612; Angermeier, DR 1935, S. 527 ff.
388
Vgl. S. 131; auch S. 27 u n d 117.
389
Vgl. Schaff stein, ZStW 53, S. 612.
390 v.Dohnanyi, Täterschaft u n d Teilnahme, S. 75.
391 Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 236.
392 vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 ff.; Festschrift für
Gleispach 1936, S.70ff.; D J 1936, S. 767 ff.
393 vgl. ZStW 59, S. 133 ff.
394 Vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 f.; Festschrift für
Gleispach 1936, S. 98.
230 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Eingriffe i n fremde Rechtsgütersphären zu unterlassen. Grundsätzlich


hätten die Pflichten nur negativen Charakter. Die offensichtliche Straf-
würdigkeit bestimmter Unterlassungen bringe die Rechtsgutslehre daher
i n erhebliche systematische Schwierigkeiten, die auch darauf beruhten,
daß die ihr eigene kausale Betrachtungsweise nicht ausreiche, um die
Straf bar keit i n diesen Fällen zu begründen. Stelle man allein darauf
ab, daß das Unterlassen kausal für eine Rechtsgutsbeeinträchtigung ge-
worden sei, so ergebe sich ein unendlich großer Kreis zu bestrafender
Fälle, denen aber nach vernünftiger Einschätzung zum größten Teil die
Strafwürdigkeit fehle. Nach vergeblichen Anläufen, die Lösung i m Be-
reich der Kausalität zu finden, habe man versucht, die notwendige Ein-
schränkung i m Rahmen der Rechtswidrigkeit vorzunehmen. Man habe
nicht umhin können, die Verletzung positiver Pflichten als Strafgrund
zu statuieren. Dabei sei das liberale Denken stets darum besorgt ge-
wesen, diese Ausnahmen vom grundsätzlich negativen Charakter der
Strafrechtspflichten i n engen und zugleich berechenbaren Grenzen zu
halten. Als strafrechtlich relevant sei daher nur die Verletzung sog.
„Rechtspflichten" anerkannt worden, d. h. solcher Pflichten, die aus
Gesetz oder vertraglicher Vereinbarung resultierten 3 9 5 .
Durch die Anknüpfung an Rechtspflichten habe man auch i m Bereich
der unechten Unterlassungsdelikte die Durchführung des Grundsatzes
„nullum crimen, nulla poena sine lege" sichergestellt. Die Rechtspflichts-
lehre habe eine klare, formale Unterscheidung von Strafbarem und
Nicht straf barem zu treffen versucht. Sie kenne daher auch nur ein
Entweder-Oder 3 9 6 : Entweder habe eine Rechtspflicht zum Handeln be-
standen, dann treffe den Unterlassenden die volle Strafbarkeit; oder das
Vorliegen einer Rechtspflicht werde verneint, dann gehe er straffrei aus,
auch wenn er offensichtlich gegen sittliche Pflichten verstoßen habe.
Eine differenzierende Betrachtung des Unrechts erlaube die Rechts-
pflichtslehre nicht.
U m die scharfe Grenzziehung nicht wieder i n Frage zu stellen, sei i m
Gegensatz zu den Begehungsdelikten hier der Übergang zur materiellen
Rechtswidrigkeit nicht vollzogen worden. Man klammere sich positi-
vistisch an den Wortlaut des Gesetzes und komme daher zu widersin-
nigen und lebensfremden Ergebnissen: Der Positivismus gehe so weit,
daß alle nur möglichen Rechtsvorschriften herangezogen würden, auch
solche, die nicht für das Gebiet des Straf rechts paßten, nur um eine
gesetzliche Grundlage vorweisen zu können. M i t der Berücksichtigung
vor allem der Handlungspflichten des Zivilrechts werde i m übrigen ein
395 v g l . Z U r Rechtspflichtlehre: S chaff stein, Das Verbrechen als Pflichtver-
letzung, S. 142 f.; Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 76 ff.; D J 1936, S. 767 f.
3»6 vgl. neben Schaff stein (Anm. 395) noch Dahm, Verbrechen u n d T a t -
bestand, S. 99 f.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n E i n z e l p r o b l e m e n 2 3 1

weiterer Beitrag zur Unterwerfung des Strafrechts unter die zivilistische


Denkweise geleistet. Daraus resultiere eine Abhängigkeit von völlig
sachfremden Vorschriften: Die Frage, ob ein Vertrag wegen fehlender
Genehmigung unwirksam, wegen Formverstoßes nichtig oder wegen
Irrtums angefochten sei, könne nicht der Entscheidung über die Straf-
barkeit wegen Mordes, Betrugs oder Brandstiftung zugrundegelegt
werden.
Positivistisches Denken zeige sich in der Entgegensetzung von recht-
lichen und nur sittlichen Pflichten, die nicht zur Strafbarkeitsbegrün-
dung ausreichten. Damit würden Gesetz und völkische Sittenordnung
i n einen Gegensatz gebracht 397 .
Daß die Rechtspflichtslehre aus dem Gedankenkreis der Rechtsguts-
theorie hervorgegangen sei, erweise sich auch daran, daß für diese wie
für jene die A r t der Tatbegehung, die Gesinnung des Täters und die
Intensität des verbrecherischen Willens bedeutungslos seien 398 .
Ein entscheidender Wandel habe sich auch nicht durch die jüngere,
vor allem von Nagler vertretene Lehre von der Garantenpflicht voll-
zogen 399 . Auch i n ihr komme einseitiges Rechtsgutsdenken zum Aus-
druck: denn auch sie stelle maßgeblich darauf ab, ob eine rechtliche
Pflicht des Garanten zur Abwendung des Erfolges, d. h. aber der
Rechtsgutsverletzung, bestand. Personale Gesichtspunkte blieben wie-
derum außer Betracht.
M i t Entschiedenheit setzte sich Schaffstein dagegen für die Priorität
des Pflicht Verletzungsgedankens gerade i m Bereich der unechten Un-
terlassungsdelikte ein. Es müsse erkennbar gemacht werden, daß der
neue Staat als Ausdrucksform der Volksgemeinschaft von jedem Ge-
meinschaftsglied die Erfüllung weitgehender Handlungspflichten ver-
langen könne. Die Identität von Recht und Sitte i n der völkischen
Rechtsordnung mache es überflüssig, daß die Pflicht zum Handeln
positivrechtlich festgelegt sei. Die Unterscheidung rechtlicher und sitt-
licher Pflichten habe ihren Sinn verloren 4 0 0 .
I n zweifacher Hinsicht zog diese Theorie eine Ausdehnung der Straf-
barkeit nach sich: Auch solche Handlungsgebote, die bis dahin als nur
sittliche Pflichten eingestuft worden waren, sollten die Strafbarkeit
wegen Unterlassens begründen können. Der Maßstab zur Bestimmung
von Inhalt und Umfang der Pflichten sollte nicht auf die individuellen
397
Vgl. außer Schaff stein (Anm. 395) noch Dahm, Verbrechen u n d T a t -
bestand, S. 99.
»98 vgl. Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 107; DJ 1936, S. 768.
399 vgl. Nagler, GS 111, S. 59 ff., 80 ff.; dazu Dahm, ZStW 59, S. 140 f.
400 v g l . Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96; D J 1936, S. 767;
Dahm, ZStW 59, S. 116.
232 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Voraussetzungen zugeschnitten sein, sondern sich aus der „völkischen


Sittenordnung" ergeben 401 . Zum Richtpunkt wurde der „vorbildlich
urteilende Volksgenosse" genommen, „der besonders hohe sittliche A n -
forderungen stellt" 4 0 2 . Insgesamt sollte bei der Bestimmung der Pflichten
Berücksichtigung finden, daß der neue Staat den „aktiven Einsatz des
Volksgenossen zum Schutz der Gemeinschaft und zur Abwendung von
Gefahren für andere Volksgenossen" erwarte 4 0 3 . Schaff stein Schloß
daraus die „Notwendigkeit, die Strafandrohungen gegen die Unter-
lassungsdelikte zu vermehren, u m damit die Erfüllung jener Gemein-
schaftspflichten sicherzustellen" 404 .
Ein Mittel, das sich dazu eignete, die unechten Unterlassungsdelikte
den Bedürfnissen des totalen Staates zu unterwerfen, war, die Grenzen
der erweiterten Handlungspflichten nicht präzise und allgemeinverbind-
lich zu bestimmen. I m einzelnen sei der Umfang der Pflichten durch
eine „Besinnung" 4 0 5 auf die jeweilige konkrete Ordnung, auf das „innere
Gesetz" 406 der betreffenden engeren Gemeinschaft zu ermitteln.
Die Verdrängung des Rechtsgutsverletzungsgedankens sollte eine
stärkere Beachtung der personalen Seite des unechten Unterlassungs-
delikts zur Folge haben. Schaffstein vertrat daher die Ansicht, daß auch
die neue materielle Täterlehre den Aufbau des unechten Unterlassungs-
delikts bestimmen müsse. Der Pflichtverletzungsgedanke lege es nahe
zu untersuchen, ob der Täter nach seiner Stellung i n der Gemeinschaft,
nach seinem Willen und seiner Gesinnung und auch nach der A r t der
Tatausführung dem Tätertyp des betreffenden Delikts zuzurechnen
sei 4 0 7 .
Dahm rückte die Frage nach der Täterschaftsmäßigkeit noch weiter
i n den Vordergrund. Er sah das Verhältnis zwischen dieser Frage und
der nach der Pflichtverletzung umgekehrt: Die Feststellung, daß der
Unterlassende m i t dem Täterbild i n der Volksanschauung überein-
stimme, könne als wesentlicher Anhaltspunkt dafür genommen wer-
den, daß er eine strafrechtlich relevante Pflicht zur Abwendung des
Erfolges gehabt habe 4 0 8 . Praktische Unterschiede konnten daraus jedoch

401 Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96.


402
Ebd., S. 97 A n m . 26. Schaff stein übernahm hier eine Formulierung, die
Larenz bei der Kennzeichnung des Begriffs der „guten Sitten" i n § 138 B G B
verwandt hatte (vgl. Vertrag u n d Unrecht I, S. 81 f.).
403 vgl. Schaffstein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 98.
404 D J 1936, S. 767.
405 Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 76.
406 Ebd., S. 97.
407 vgl. ebd., S. 94 f.
408 vgl. ZStW 59, S. 135 ff.; Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 228 f.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n E i n z e l p r o b l e m e n 2 3 3

nicht entstehen. Wie bereits dargelegt, war die Lehre vom Tätertyp nicht
geeignet, die Grenzen des strafbaren Verhaltens enger zu ziehen oder
sie auch nur klar zu bezeichnen 409 .
Das bestätigen die Formulierungen, die Dahm und auch Schaff stein
für die Untersuchung der Täterschaftsmäßigkeit i m Rahmen der un-
echten Unterlassungsdelikte verwandten: Der Unterlassende müsse
„nach gesundem Volksempfinden" als Täter des Delikts erscheinen 410 .
„Ist zweifelhaft, ob der Unterlassende ,tötet', so soll der Richter sich
fragen, ob ihn die Volksanschauung als Mörder betrachtet 4 1 1 ." Als
Täter habe er i n zahlreichen Fällen dann zu gelten, wenn von i h m „nach
seiner Gesinnung ebensowohl wie die Nichtabwendung des Erfolges
auch seine Herbeiführung durch aktives T u n hätten erwartet werden
können" 4 1 2 . Allgemeine Begriffe und Richtlinien könnten nicht weiter-
helfen 4 1 3 ; die Frage nach der Typmäßigkeit müsse konkret aus dem
einzelnen Delikt heraus beantwortet werden: „Nur eine wesenhafte
und konkrete Betrachtung führt hier zum Ziel 4 1 4 ."
Noch i n anderer Hinsicht hatte die Tätertyplehre i m Bereich der un-
echten Unterlassungsdelikte weitreichende Konsequenzen: Die Prüfung
der Täterschaftsmäßigkeit erfolgte unter dem Aspekt, ob der Unter-
lassende dem Tätertyp unterfällt, ob er Täter „ i s t " 4 1 5 . Nach Dahms Auf-
fassung konnte daher nicht mehr von einer „Gleichstellung" die Rede
sein; diese Vorstellung sei zusammen m i t dem herkömmlichen Hand-
lungsbegriff überwunden. Es komme nicht auf den „naturalistischen
Vorgang des äußeren Geschehens, sondern auf den objektiven Sinn an,
der dem Verhalten i n der Gemeinschaftsordnung zukommt" 4 1 6 . Der
Unterlassende sei von vornherein Täter, sofern er dem B i l d entspreche,
das sich die Volksanschauung vom Täter mache. Die Aufhebung der
scharfen Trennung von positivem Tun und Unterlassen veranlaßte
Dahm zu fordern, daß viele Delikte, die bis dahin dem Bereich des un-
echten Unterlassens zugerechnet worden waren, als positives T u n ein-
zustufen. Er dachte dabei vor allem an die Vermögensdelikte 417 .
Diese Forderung muß i m Lichte der damaligen Rechtsprechung be-
trachtet werden: Trotz der antiliberalen K r i t i k hielt sie an der Unter-
409
Vgl. oben 5. Kap. I V . 5.
410 Schaffstein } Festschrift für Gleispach 1936, S. 95.
411 Dahm, ZStW 59, S. 149.
412 Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 111.
413 Vgl. ebd., S. 95.
414 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 100.
415 Vgl. Dahm, ZStW 59, S. 148.
416 Ebd., S. 160; ähnliche Gedankenführung bei H. Mayer, Straf recht des
Deutschen Volkes, S. 214 f.
417 Vgl. ZStW 59, S. 159 ff.
234 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Scheidung zwischen „Rechtspflichten" und strafrechtlich irrelevanten


nur sittlichen Pflichten fest und wehrte sich durch eine gewisse Formali-
sierung gegen eine völlige Auflösung der Strafbarkeitsgrenzen 418 . Eine
Übernahme von Unterlassungsfällen i n den Bereich des positiven Tuns
hätte es ermöglicht, diese Rechtsprechung zu unterlaufen.

V I L D e r Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht:
Die Auflösung des Legalitätsprinzips

Von den zahlreichen Ansatzpunkten antiliberalen Denkens i m Straf-


prozeßrecht soll hier einer als Beispiel herausgegriffen werden. Die
Diskussion um das Legalitätsprinzip eignet sich besonders gut für eine
exemplarische Darstellung, weil i n dieser Frage noch einmal die Struk-
tur der antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechtspolitik m i t aller
Deutlichkeit hervortritt: Die Stellungnahme zum Legalitätsprinzip war
ambivalent, jedoch nur scheinbar widersprüchlich. Sie leitete sich aus
dem einen Ziel ab, die Strafrechtspflege dem nationalsozialistischen
Führungsanspruch zu unterwerfen.
Die Frage, ob das Legalitätsprinzip i m nationalsozialistischen Staat
beizubehalten sei, wurde auf einer Zusammenkunft deutscher Straf-
rechtslehrer i m März 1934 unter dem Thema „Richter, Staatsanwalt und
Beschuldigter i m Strafprozeß des neuen Staates" angeschnitten 419 . Als
entschiedener Gegner des Legalitätsgrundsatzes gab sich Siegert zu
erkennen 420 . Zwei Gründe brachte er vor: Der Staatsanwalt übe im
Vorverfahren die Funktion eines Führers aus; daher müsse es ihm
überlassen bleiben, ob das Verfahren eingeleitet werde. Seine völlige
Entscheidungsfreiheit folge auch zwingend aus der Überwindung des
Formalismus i m Strafrecht: „Wo aber nicht der Wortlaut, sondern der
Geist des Gesetzes, nicht die formelle Gesetzesverletzung, sondern die
Volksschädlichkeit i m materiellen Recht ausschlaggebend sind, da muß
i m Prozeß die Staatsanwaltschaft die Freiheit haben, die Anklage zu
erheben oder sie zu unterlassen 421 ." Die Forderung nach Beseitigung des
Legalitätsgrundsatzes war eine Konsequenz aus der Priorität des
materiellen Verbrechensbegriffs. Sie sollte von der strafprozessualen
Seite her eine „immanente Straf rechtsreform" ermöglichen, eine A n -
passung des auch nach dem politischen Umsturz weitergeltenden Straf-
gesetzes an das nationalsozialistische Rechtsdenken und an die poli-
tischen Forderungen des Nationalsozialismus.

418 so ganz deutlich R G 70, 154; vgl. auch Niethammer, ZStW 57, S. 437.
419 Die Referate u n d ein Bericht über die Diskussion wurden i n ZStW 54,
S. 1 ff. abgedruckt.
420 vgl. ZStW 54, S. 14 ff.
421 Ebd., S. 25.
V I I . Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht 235

Siegerts Vorstoß entsprach jedoch nur zu einem Teil den Prinzipien


der antiliberalen, nationalsozialistischen Rechtserneuerung. Auf der
anderen Seite konnte die Abschaffung des Legalitätsprinzips den ge-
planten verschärften Einsatz der Strafe behindern. Unvereinbar war
der Vorschlag weiterhin m i t dem Führerprinzip, aus dem zumindest für
die nationalsozialistischen Gesetze eine strenge Bindung der Rechts-
pflegeorgane gefolgert wurde.
Die überwiegende Meinung sprach sich daher für die Beibehaltung des
Legalitätsprinzips aus 422 , das jetzt jedoch nicht mehr aus formal-rechts-
staatlichen Gründen abgeleitet, sondern „materiell" erklärt wurde: Der
Legalitätsgrundsatz sei „nicht als Sicherung der Rechtsgleichheit, son-
dern als natürliche Folge der Funktionszuweisung an Staatsorgane" auf-
zufassen 423 .
Die Affinität zwischen antiliberalem Denken und dem Opportunitäts-
prinzip setzte sich jedoch insoweit durch, als daneben eine Ausdehnung
der Opportunitätsfälle verlangt wurde 4 2 4 . Z u bewerten ist diese Forde-
rung i m Hinblick auf die praktisch politische Seite des Opportunitäts-
prinzips: Es ermöglicht der politischen Führung, über die weisungs-
gebundene Staatsanwaltschaft Einfluß auf die Rechtspflege zu nehmen
und durch willkürlichen Zugriff ein K l i m a der Unsicherheit zu schaffen.
Dieser Gesichtspunkt gab schließlich den Ausschlag für die Ent-
wicklung des Strafprozeßrechts i n dieser Frage durch die Gesetzgebung:
A r t i k e l 9 § 2 der VO zur weiteren Vereinfachung der Rechtspflege vom
13. August 1942 425 entband den Staatsanwalt bei allen Antragsdelikten
von dem Zwang zum Einschreiten, sofern das öffentliche Interesse
fehlte, und befreite ihn für die Vergehensfälle des § 153 Abs. 2 StPO
von dem Erfordernis der richterlichen Zustimmung. Schließlich hob
A r t i k e l 2 § 8 der 4. VereinfachungsVO vom 13. Dezember 1944 426 das
Legalitätsprinzip überhaupt auf: Der Staatsanwalt konnte bei allen
Delikten von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn die
Verfolgung i m Kriege zum Schutz des Volkes nicht erforderlich schien:
das Gericht konnte noch nach Anklageerhebung das Verfahren mit Zu-
stimmung der Staatsanwaltschaft einstellen.

422 v g l . Henkel, ZStW 54, S . 3 8 1 ; Dahm, ZStW 54, S. 401 ff.; Schaff stein,
DR 1935, S. 521. Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 49, forderte sogar
eine verstärkte Anwendung des Grundsatzes, so bei privater Kenntnisnahme
„verdächtiger Umstände oder begangener Straftaten" durch den Staatsanwalt.
Das Opportunitätsprinzip ist nach seiner Auffassung „undeutsch".
423 Freisler, DStR 1935, S.232; vgl. auch Schaffstein, DR 1935, S. 521.
424 v g l . Freisler, DStR 1935, S.232; Schaff stein, DR 1935, S. 521; W.Busch,
DR 1934, S. 63.
425 R G B l I, 508, 510.
426 V O zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse
des totalen Krieges; R G B l I, 339.
236 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

V I I I . Philosophische Hintergründe der


antiliberalen Strafrechtswissenschaft

Nach der Darstellung der wichtigsten antiliberalen Strafrechtslehren


können die eingangs angestellten allgemeinen Betrachtungen über die
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des strafrechtswissenschaft-
lichen Antiliberalismus 4 2 7 spezifiziert werden. Anlaß für eine Wieder-
aufnahme dieser Fragen gibt die 1937 von den Marburger Professoren
Schwinge und Zimmerl veröffentlichte Schrift „Wesensschau und kon-
kretes Ordnungsdenken i m Straf recht". Grundthese der Arbeit war:
Die von Dahm und Schaffstein repräsentierte strafrechtswissenschaft-
liche Richtung befindet sich i n völliger Abhängigkeit von philoso-
phischen Lehrmeinungen. Ihre Methoden und ihr System sind von der
Phänomenologie und vom konkreten Ordnungsdenken C. Schmitts be-
herrscht. — Zu prüfen bleibt, ob dieses vom Standpunkt des zeit-
genössischen Betrachters gefällte Urteil aus heutiger Sicht aufrecht-
erhalten werden kann.

1. Der Einfluß der Phänomenologie

Die von Schwinge/Zimmerl behauptete Abhängigkeit von der Phäno-


menologie scheint sich zu bestätigen, wenn man einige Elemente des
Denkverfahrens näher betrachtet, das Auslegung, Begriffsbildung und
Systematik bestimmen sollte: Wie das von Husserl entwickelte Reduk-
tionsverfahren zielte es auf eine Ausscheidung des Unwesentlichen ab.
Beabsichtigt war eine bewußte „Vereinfachung der Blickrichtung" 4 2 8 .
Die Lebenswirklichkeit i n ihrer konkreten Gestalt sollte erfaßt werden.
I n Übereinstimmung mit einigen phänomenologischen Denkern, allen
voran Heidegger, erwarteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaft-
ler von der Sprache tiefere Aufschlüsse über den Bedeutungsgehalt des
Gegenstandes 429 . Für einen Zusammenhang mit der Phänomenologie
spricht aber vor allem der häufige Gebrauch des Wortes „Wesen" und
abgeleiteter Wörter wie „wesenhaft" und insbesondere „Wesensschau".
Diese Indizien reichen jedoch nicht aus, um das Urteil zu stützen,
Straf rechts wissenschaf tier wie Dahm und Schaff st ein hätten es unter-
nommen, die Phänomenologie in das Strafrecht umzusetzen 430 .
Zur Begründung mag ein Vergleich mit Reinach dienen: I n seiner
Schrift „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts" bemühte

427 v g l . oben Kap. 2.


428 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88.
429 v g l . oben 5. Kap. I V . 4.
430 So auch schon Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 134 Anm. 4; Mittermaier,
SchwZStR 1938, S. 213; E.Wolf, DRWis 1939, S. 173.
V I I I . Philosophische Hintergründe 237

er sich u m den Nachweis, daß i m Recht eine apriorische Wesenserkennt-


nis möglich ist. Zunächst legte er den philosophischen Grundgedanken
dar 4 3 1 ; daran anschließend versuchte er am Beispiel verschiedener
Institutionen des bürgerlichen Rechts i m Wege streng phänomenolo-
gischer Betrachtungsweise, d. h. durch eine „rein immanente, intuitive
Klärung ihres Wesens" 432 , den Beweis zu erbringen, daß es „an sich
seiende rechtliche Gebilde" g i b t 4 3 3 .
Ganz anders dagegen Dahm und Schaff stein: Weder lehnten sie sich
ausdrücklich an die fachphilosophische Phänomenologie an 4 3 4 , noch be-
dienten sie sich eines ähnlich geordneten Gedankenschemas. Während
die Phänomenologie zumindest i m Ansatz rationale Logik als Erkennt-
nismittel verwandte, bekämpften die antiliberalen Strafrechtler den
Rationalismus m i t aller Entschiedenheit. Ihre „Wesensschau" bildete
kein genau angebbares Verfahren. Uber die bloße Forderung, ganz-
heitlich und wesenhaft zu denken, die nur einen Irrationalismus und
Intuitionismus zum Ergebnis haben konnte, gelangten sie nicht hinaus 4 3 5 .
Allenfalls die Schrift Kempermanns „Die Erkenntnis des Ver-
brechens und seiner Elemente" eignet sich als Beleg für einen Zusam-
menhang mit der philosophischen Lehrmeinung der Phänomenologie.
Kempermann hatte sich zum Ziel gesetzt, die strafrechtlichen Lehren
vom Boden der Phänomenologie aus zu erneuern 4 3 6 . Seine Arbeit fand
jedoch bei weitem nicht die Beachtung der Schriften Dahms und
Schaff st eins. Sie machte i m übrigen die m i t der phänomenologischen
Denkweise verbundenen Gefahren erkennbar: Zwar verstand Kemper-
mann die phänomenologische Methode i m Sinne ihres Begründers als
ein objektives, streng logisches Verfahren 4 3 7 . Zur Begründung seiner
Ergebnisse berief er sich auf „evidente Erkenntnisse" 4 3 8 und „Einsich-
43
i § 1.
432 s . 7 .
433 s . 6 .
434 Nach Dahms Aussage hielten sich die K i e l e r Strafrechtler bewußt v o n
philosophischen Überlegungen fern (ZStW 57, S. 285). E r verwahrte sich m i t
dem Hinweis auf Husserls jüdische Abstammung dagegen, m i t i h m i n einen
Zusammenhang gebracht zu werden (ebd.). Die philosophische Abstinenz
machte Schaff stein m i t den Worten deutlich, die Neuorientierung der Straf-
rechtswissenschaft nehme ihren Ausgang „ v o n dem politischen Geschehen
der letzten Jahre" (Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 5).
435 Diese Feststellung soll nicht besagen, daß ein streng phänomenolo-
gisches Denkverfahren zu besseren Ergebnissen führen würde. Vgl. die
K r i t i k Blochs an Reinach (Naturrecht u n d menschliche Würde, S. 164 ff.).
436 v g l . z.B. S. 17 f., 19 f.; vgl. auch die spätere Abhandlung Kampermanns
über „Strafrecht und Phänomenologie" (ArchRSozPh Bd. 31, S. 292 ff.), die
der Verteidigung seiner Schrift über „ D i e Erkenntnis des Verbrechens u n d
seiner Elemente" diente.
437 Vgl. z. B. S. 2, 51.
438 s . 2 9 .
238 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

t e n " 4 3 9 . Für ihre objektive Gültigkeit führte er an, daß sie i m Wege
phänomenologischer Reduktion gewonnen worden seien 440 . Inwieweit
damit die Subjektivität des Schauenden überwunden war, erörterte er
nicht. Auch die Frage der rationalen Nachprüfbarkeit erschien ihm nicht
problematisch 4 4 0 3 .
Schwinge und Zimmerl hatten aber nicht völlig unrecht m i t ihrer
Behauptung, daß zwischen der Dahm/Schaffsteinschen Richtung und
der Phänomenologie ein Zusammenhang bestand. Die Phänomenologie
war i n den zwanziger Jahren über die Grenzen des Fachbereichs
Philosophie hinausgetreten. Sie wurde von der Woge des Irrationalis-
mus mitgerissen 441 . I n einem Simplifizierungs- und Vulgarisierungs-
prozeß wurde die irrationale Endphase der Phänomenologie, das
„Schauen" des Gegenstandes, zum alleinigen Inhalt der phänomenolo-
gischen Methode gemacht. I n dieser Form verband es sich m i t der
Lebensphilosophie und m i t der antiliberalen und antidemokratischen
politischen Erneuerungsbewegung und beeinfiußte auf diesem Wege
mehr unterschwellig die Anschauungen der antiliberalen Strafrechts-
wissenschaft.

2. Das konkrete Ordnungsdenken


in der damaligen Strafrechtswissenschaft

Schwinge und Zimmerl behaupteten ferner, daß sich die neue straf-
rechtswissenschaftliche Richtung der Lehre C. Schmitts, insbesondere
dem von ihm propagierten Denken i n konkreten Ordnungen, unter-
geordnet habe 4 4 2 . Hier war die Beweisführung einfacher. Häufig und
eingehend nahmen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler auf
C. Schmitts Lehren Bezug 4 4 3 . Übernommen wurde die Vorstellung, daß
sich die Volksgemeinschaft aus einer Vielzahl engerer Gemeinschaften
zusammensetze, aus „konkreten Ordnungen", die ihre eigene Gesetz-
mäßigkeit i n sich tragen. Die Forderung, das Denken an diesen konkre-
43
9 S. 30.
440 v g l . s. 20, 27 ff.
44oa Ganz beiläufig heißt es i n seiner Verteidigungsabhandlung i n ArchR-
SozPh Bd. 31, S. 300: Der phänomenologische Blick überlasse sich dem
„vorgängigen Seins Verständnis, das jedem Menschen mehr oder weniger
eignet".
441 Vgl. oben Kap. 2.
442 v g l . Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 27 ff.; vgl. zum
konkreten Ordnungsdenken: C.Schmitt, Die drei A r t e n ; D R 1934, S. 225 ff.;
D R 1936, S. 181 ff.; D J Z 1934, S. 691 ff.; vgl. ferner die Darstellung bei
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 277 ff., i n der auch die Bedeutung
des konkreten Ordnungsdenkens für die nationalsozialistische Rechtserneue-
rung erörtert w i r d .
443 v g l . oben 3. Kap. I I I . 1. u n d 5. Kap. V. 1. u n d die Nachweise bei
Schwingel Zimmerl, ebd.
V I I I . Philosophische Hintergründe 239

ten Ordnungen auszurichten, schlug sich i m „personalen" Täterbegriff


und i n der Deutung des Verbrechens als Pflichtverletzung nieder, die
z. B. i m Bereich der Unrechtsausschließungsgründe oder der unechten
Unterlassungsdelikte weitreichende Konsequenzen hatten.
Es weckt jedoch falsche Vorstellungen, wenn behauptet wird, daß die
strafrechtlichen Lehren Dahms und Schaffsteins sich i n vollständiger
Abhängigkeit vom konkreten Ordnungsdenken befanden. Eine unselb-
ständige Nachahmung der Lehre C. Schmitts war gar nicht möglich;
denn diese enthielt kein umfassendes Denkverfahren, sondern lediglich
einen Denkanstoß, den Aufruf, konkret zu denken. Der Typus des
konkreten Ordnungsdenkens wies eine solche Weite und Vielfalt auf 4 4 4 ,
daß für eine strikte Befolgung die notwendigen festen Anhaltspunkte
fehlten. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß der K e r n des
konkreten Ordnungsdenkens, die Abwendung von Abstraktion und
Kationalismus, einer weit umfassenderen geistigen Zeitströmung ent-
sprach 445 . Die Ausrichtung der neuen strafrechtlichen Lehren an kon-
kreten Ordnungen setzte nicht notwendigerweise das konkrete Ord-
nungsdenken C. Schmitts voraus 4 4 6 . Es wäre daher besser, von einem
Gleichklang als von einer Abhängigkeit zu sprechen.

3. Der Einiluß des Neuhegelianismus

Eine dritte geistesgeschichtliche Verbindungslinie, die Schwinge/Zim-


merl jedoch nicht zogen, findet ihren äußeren Anhalt darin, daß wieder-
holt auf rechtsphilosophische Ansichten Binders und dessen Schüler
Larenz Bezug genommen wurde 4 4 7 . Larenz galt gemeinhin als Rechts-
philosoph der „Kieler Schule" 4 4 8 .
Zusammen m i t seinem Lehrer repräsentierte er eine Geistesrichtung,
die um eine Wiederbelebung Hegeischen Gedankengutes bemüht w a r 4 4 9 .

444 Der weite Bogen, den C.Schmitt zog, u m seine Lehre v o m konkreten
Ordnungsdenken herzuleiten u n d abzustützen, reichte v o n Thomas von
Aquin über Luther, Fichte, Savigny, Schelling, Hegel, v. Gierke, Hauriou,
Renard bis zum Führer der deutschen Rechtsfront, Hans Frank (vgl. Die drei
Arten, S. 41 ff.). Vgl. dazu Schneider, Ausnahmezustand u n d Norm, S. 268 ff.
445 v g l . oben Kap. 2.
446 So auch H. Mayer, DStR 1938, S. 96 A n m . 101, i n bezug auf die A u f -
fassung v o m Verbrechen als Pflichtverletzung; vgl. auch zum Abstand der
Kieler Strafrechtsschule von der Methodenlehre C.Schmitts: Dahm, ZStW
57, S. 292 u n d ZStaatW 95, S. 181 f., sowie Amelung, Rechtsgüterschutz u n d
Schutz der Gesellschaft, S. 220 A n m . 34.
447 v g l . z.B. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62 f. A n m . 1; S. 87
A n m . 47; ZStW 57, S. 251 A n m . 63 a; S. 262 A n m . 88; S. 289 A n m . 166.
448 v g l . E. Wolf, DRWis 1939, S. 174.
449 v g l . Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealis-
mus, S. 187 ff.; Glockner, Logos Bd. X X , S. 169 ff.; speziell zu Binder:
Larenz, ZRPh Bd. 5, S. 185 ff.; u n d aus der neueren L i t e r a t u r : Evers, Der
240 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Dieser Neuhegelianismus hinterließ i n den Anschauungen der anti-


liberalen Straf rechtswissenschaft deutliche Spuren 4 5 0 : Eine wichtige
Verbindungslinie läßt sich von der Staatstheorie Hegels zur organischen
Machtstaatsideologie der antiliberalen Straf rechtswissenschaft ziehen 4 5 0 a .
Hegelschem Denken entsprach die Unterscheidung von Stufen der W i r k -
lichkeit („empirische", „sinnvolle" Wirklichkeit) 4 0 1 . Anklänge an Hegel
enthielt auch die Anknüpfung an den „Volksgeist" 4 5 2 . Der Begriff des
„objektiven Geistes" erlebte eine Renaissance 453 . I n i h m sollte die
Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit überwunden sein. Der
Neuhegelianismus erstrebte eine „Abwendung von der formalen Logik
und Erkenntnistheorie" sowie eine „Hinwendung zum Gegenständlichen
und zu einer immanenten Sachlogik" 4 5 4 . Damit erfuhr Hegels „konkreter
Begriff" eine Wiederbelebung. Deutlich zeichnen sich die Verbindungs-
linien zur Phänomenologie und zum konkreten Ordnungsdenken ab.

I X . Die geringe Bedeutung liberaler


Argumente auf Seiten der Verteidiger
der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik

Die Ansichten und Forderungen der antiliberalen S traf rechts Wissen-


schaftler blieben nicht unwidersprochen. Widerstand ging vor allem von
den beiden Marburger Hochschullehrern Schwinge und Zimmerl aus. Sie

Richter u n d das unsittliche Gesetz, S. 61 ff.; Legaz y Lacambra, Rechtsphilo-


sophie, S. 187 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 314 ff.
450 Vgl. auch E. Wolf, DRWis 1939, S. 174; H. Mayer, DStR 1938, S. 76
A n m . 16; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 134 A n m . 4, u n d die Aussage
Schaffsteins, die Begriffsbildungslehre der Jüngeren sei „teüs phänomeno-
logisch, teüs hegelianisch" beeinflußt (ZStW 56, S. 106). Ob jedoch der Z u -
sammenhang zwischen der antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechts-
theorie u n d Hegels Theorie der Strafe als „direkte A b l e i t u n g " dargestellt
werden k a n n (Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, S. 322), muß bezweifelt
werden. Die führenden antiliberalen Strafrechtswissenschaftler Dahm u n d
S chaff stein standen sicherlich nicht i n gleichem Maße i n der T r a d i t i o n
Hegelscher Philosophie wie etwa Larenz. Wenn auch i m Rahmen der allge-
meinen Rechts- u n d Staatstheorie der Einfluß der Hegeischen Staats-
ideologie nicht zu verkennen ist (vgl. Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler,
S. 233 ff.), so k a n n aber auch der Abstand i n der strafrechtlichen Theorie
nicht übersehen werden, der etwa i n den von antiliberaler Seite vorge-
tragenen A n g r i f f e n gegen Allgemeinbegriffe, gegen strafrechtliche Syste-
m a t i k u n d auch gegen eine absolute Straftheorie deutlich w i r d .
450a Einen detaillierten Nachweis für den Zusammenhang zwischen Hegels
Staats- u n d Rechtsverständnis u n d der nationalsozialistischen Staatsideologie
hat jetzt Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, 1974, geführt. Die Ansichten
der führenden antiliberalen Strafrechtswissenschaftler sind dort verarbeitet.
451 Vgl. oben 3. Kap. I I . 1. A n m . 45.
452 v g l . oben 3. Kap. I I I . 2.
453 v g l . oben 3. Kap. I I I . 3. A n m . 121 u n d Larenz, RuS H. 109, S. 15.
454 Larenz, RuS H. 109, S. 15.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 241

setzten sich für eine abstrakte wissenschaftliche Begriffsbildung, für


die Beibehaltung der Rechtsgutslehre und für die Aufrechterhaltung
des Verbrechenssystems ein. Eine Überprüfung ihrer Argumentation
w i r d weiteren Aufschluß über das Verhältnis der damaligen Straf-
rechtswissenschaft zum liberalen Strafrecht geben. Inwieweit knüpften
die K r i t i k e r der antiliberalen Strafrechtswissenschaft an die Prinzipien
des Rechtsstaates an?
Keinesfalls legten sie das Schwergewicht auf liberale Argumente. I m
Vordergrund standen vielmehr Argumente, die lediglich auf die
Schlüssigkeit der antiliberalen Darlegungen eingingen, sie aber nicht
von einem anderen politischen oder weltanschaulichen Standpunkt aus
i n Frage stellten:
Schwinge/Zimmerl warfen Dahm und Schaffstein vor, daß sie sich
ihre K r i t i k an den herkömmlichen Verbrechenslehren zu einfach mach-
ten, indem sie diese einseitig und überspitzt darstellten und historische
Weiterentwicklungen unberücksichtigt ließen 4 5 5 . So werde bei ihnen die
Rechtsgutslehre verzerrt wiedergegeben. A u f Grund ihrer Entwick-
lung zum methodischen Prinzip könne ihr nicht mehr der Vorwurf
der Hypostasierung gemacht werden 4 5 6 . I n ihrer neueren Form sei sie
durchaus i n der Lage, die Vielzahl der beteiligten Interessen 457 , das
Moment der Pflichtverletzung 458 und ethische Wertungen 4 5 9 i n sich auf-
zunehmen. Unterschlagen werde auch die Entwicklung i n der Tat-
bestandslehre. Dahm polemisiere gegen die Lehre Belings vom wert-
freien Tatbestand und übergehe dabei stillschweigend, daß Mezgers
Lehre vom Tatbestand als dem typisierten Unrecht einen entscheiden-
den Fortschritt gebracht und sich gegenüber Belings Auffassung durch-
gesetzt habe 4 6 0 .
Ubertrieben und einseitig erschienen Schwinge/Zimmerl 4 6 1 und auch
Engisch 462 die Angriffe gegen eine analysierende und abstrakte wissen-
schaftliche Begriffsbildung. Abstraktion und Analyse müßten notwen-
digerweise herangezogen werden, wenn man das Strafrecht nicht als

455 v g l . Wesenschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 86.


456 v g l . ebd., S. 67 f.
457 vgl. ebd., S. 69 f.
458 v g l . ebd., S. 68.
459 v g l . ebd., S. 77.
460
Vgl. ebd., S. 83. Engisch machte i m übrigen gegen Dahm geltend, daß
der V o r w u r f des „Trennungsdenkens" gegenüber Beling fehlgehe. Die
Elemente seines Systems hätten durchaus i n einem sinnvollen Zusammen-
hang gestanden (ArchRSozPh Bd. 30, S. 147).
461 Vgl. Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 28 ff.; vgl. auch
Schwinge, Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 58 ff.
462 v g l . M S c h r K r i m B i o 1938, S. 145 ff.; ArchRSozPh Bd. 30, S. 145 ff.

16 Marxen
242 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

bloße Ansammlung heterogener Verbrechenstypen betrachten wolle.


Eine Aufgliederung des Verbrechens nach allgemeinen Merkmalen folge
natürlicherweise aus der Tatsache, daß das Strafrecht von bestimmten
Grundgedanken beherrscht sei. Von „Trennungsdenken" und un-
natürlichen „Zerreißungen" könne keine Rede sein, wenn man sich der
Sinnzusammenhänge bewußt bleibe. Niemand sei gehindert, die ein-
zelnen Merkmale zusammenzuhalten und ganzheitlich zu betrachten.
Eine weitere Gruppe von Argumenten betraf technische Gründe,
Zweckmäßigkeitsgründe und Gründe aus dem Gesetz. Sie wurden vor
allem für die Beibehaltung der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit
und Schuld ins Feld geführt 4 ® 23 . Die Trennung der beiden Ver-
brechensmerkmale folge „zwangsläufig" aus den unterschiedlichen Funk-
tionen der einzelnen Straf Voraussetzungen 463 . Die Rechtswidrigkeit, ver-
standen als Gemeinschaftswidrigkeit, bestehe i n den meisten Fällen i m
äußeren Geschehen 464 . Ein objektiver Rechtswidrigkeitsbegriff sei auch
erforderlich, um den Bürgern eine allgemeinverbindliche Richtlinie zu
geben 465 . Es entspreche „praktischen Bedürfnissen der Rechtspflege" 466 ,
Unrecht und Schuld zu unterscheiden. Eine gesonderte Behandlung
verlangten auch „Sinn und Zweck" 4 6 7 einiger gesetzlicher Vorschriften
und zahlreicher strafrechtlicher Regelungsbereiche 468 : Eine „sinnvolle
Regelung" 4 6 9 der Teilnahme und der Notwehr lasse sich nur durch-
führen, wenn die Rechtswidrigkeit der Haupttat bzw. des Angriffs
gesondert festgestellt werde. Gleiches gelte für die Rechtswidrigkeit
der Vortat bei der Hehlerei, des drohenden Verbrechens nach § 139 StGB,
der Bedrohung m i t einem Verbrechen oder Vergehen gem. § 241 StGB.
Das Merkmal des „rechtswidrigen Vermögensschadens" stelle eine Ver-
bindung zum Zivilrecht her, das wiederum deutlich zwischen Rechts-
widrigkeit und Schuld unterscheide. Für das Zivilrecht sei diese Unter-
scheidung unentbehrlich, wie die Gefährdungshaftung zeige.
Nach Schwinge/Zimmerl rechtfertigten auch Gründe der Logik die
Unterscheidung: Die Bewertungsnorm gehe logisch der Bestimmungs-

462a Mittasch bediente sich „technischer u n d praktischer Erwägungen" zur


Verteidigung der Rechtsgutslehre, vgl. Wertbeziehendes Denken, S. 102 ff.
463
Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 47,
33.
464 Vgl. ebd., S. 40.
465 v g l . Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 143.
466 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 40,
42.
467 Ebd., S. 50.
468 Vgl. ebd., S. 36 ff. ; vgl. auch Kohlrausch, Vermögensverbrechen u n d
Eigentumsverbrechen, S. 504; Mezger, ZStW 55, S. 13 ff.
469 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 36.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 243

norm voran 4 7 0 . Mezger trat für die Beibehaltung aus „denkökonomi-


schen" Gründen ein 4 7 1 .
A u f derselben Ebene lagen einige Argumente gegen die Aufhebung
der Unterscheidung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Die Tren-
nung sei „technischer N a t u r " 4 7 2 ; die Absonderung von allgemeinen Un-
rechtsausschließungsgründen aus den einzelnen Tatbeständen sei eine
„rein rechtstechnische Frage, die nach den Gesichtspunkten der Zweck-
mäßigkeit und der praktischen Brauchbarkeit entscheiden werden
m u ß " 4 7 3 . Die Unterscheidung sei i m übrigen geeignet, die besondere
Bedeutung des Normativen, das Eigentümliche des Rechtlichen gebüh-
rend zur Geltung zu bringen. Auch aus pädagogischen Gründen
empfehle es sich, daran festzuhalten 474 .
Eine letzte Gruppe von Argumenten enthielt Einwände, die die
Vorwürfe der Antiliberalen gegen die herkömmliche Strafrechtsdog-
matik gegen sie selbst kehrten: Das Denken i n konkreten Ordnungen
hielten Schwinge und Zimmerl für unklar und unbestimmt 4 7 5 . Was
unter „Ordnung" zu verstehen sei, bleibe i n C. Schmitts Lehre unge-
klärt. Seine Ansichten drohten, die deutsche Rechtswissenschaft i n eine
„Gespensterwelt lebensabgezogener Abstraktionen" zu führen 4 7 6 . Sie
seien zudem mit der Gefahr verbunden, daß bei Betonung der vielen
Sonderordnungen das höchste und wichtigste Gut, die deutsche Volks-
gemeinschaft, i n Vergessenheit gerate 477 .
Gegen eine phänomenologische Betrachtungsweise i m Strafrecht
wandte Engisch ein: Sie sei m i t der Gefahr verbunden, daß Begriffe
verabsolutiert würden. Rechtliche Begriffe seien aber einem ständigen
politischen und kulturellen Wandel unterworfen; sie hätten kein reines
„Wesen" 4 7 8 .
Dem Pflichtverletzungsgedanken warfen Schwinge/Zimmerl vor, daß
er sich die Einseitigkeit zuschulden kommen lasse, die er der Rechtsguts-
lehre zu Unrecht anlaste, indem er die Bedeutung des Erfolgs und der
objektiven Gemeinschaftswidrigkeit verkenne 4 7 9 . Der m i t i h m unter-
470 Vgl. ebd., S. 35; auch Mezger, ZStW 55, S. 13, 17 A n m . 2; ähnlich
Mittasch, Wertbeziehendes Denken, S. 104; es sei „teleologisch unmöglich, die
Pflichtverletzung der Rechtsguts Verletzung vorzuordnen".
« ι ZStW 55, S. 14.
47
2 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 85.
4?3 Ebd., S. 80.
474 Vgl. ebd., sowie Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 147 f.
4?5 Vgl. ebd., S. 20 f.
4?6 Ebd., S. 30.
4 7 7 Vgl. ebd., S. 57.
4?8 Vgl. ArchRSozPh Bd. 30, S. 132 ff.
4*79 Vgl. Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 54.

16*
244 5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs

nommene Versuch, Recht und Ethik miteinander zu verbinden, sei nicht


von dem Verdacht frei, individualistisch zu sein 4 8 0 . Der Weg, der zur
Überwindung der Trennung von Recht und Ethik eingeschlagen werde,
eine durchgängige S ubjekti vierung des Strafrechts, verleite dazu, die
individuellen Besonderheiten zu stark zu berücksichtigen. Daran ändere
sich auch nichts, wenn man die i m Volk herrschende Ethik für maßgeb-
lich erkläre; denn diese sei überwiegend Individualethik.
Die Gegner der antiliberalen Strafrechtswissenschaft zogen i n erster
Linie Argumente heran, die nicht m i t dem liberalen Hintergrund der
herkömmlichen Strafrechtsdogmatik zusammenhingen. N u r vereinzelt
und dann vorsichtig und zurückhaltend brachten sie Einwände vor, i n
denen zwar der Begriff „liberal" vermieden wurde, die aber dem
Gedankengut des Liberalismus entstammten. I n Anbetracht der Zeit-
umstände kann es Schwinge und Zimmerl nicht hoch genug angerech-
net werden, daß sie einer völligen Preisgabe des liberalen Rechts-
sicherheitsgedankens entgegentraten :
Schwinge/Zimmerl sahen durch die „Wesensschau" die Gleichheit
und Sicherheit der Rechtspflege gefährdet, da sie sich am „unklaren und
schwankenden Sprachgebrauch des Alltags" orientiere 4 8 1 . Das Denken
i n konkreten Ordnungen ziele auf die „Ablehnung jeder Regel" und auf
eine „schrankenlose Kasuistik" 4 8 1 . Der gesetzliche Tatbestand müsse
„den Grundgedanken des Unrechtstypus klar und unmißverständlich
zum Ausdruck bringen", so daß er dem Richter eine „zweifelsfreie" A n -
wendung gestatte 482 . Daß das künftige Strafrecht den Willen und die
Gesinnung des Täters stärker i n Betracht ziehe, dürfe nicht die „Gleich-
mäßigkeit und Gerechtigkeit der Praxis" i n Frage stellen 4 8 3 . Schwinge/
Zimmerl setzten sich gegen die Verwendung „unklarer und vieldeutiger
Begriffe", wie ζ. B. das „Volksempfinden", zur Wehr 4 8 4 .
Diesen Einzelforderungen lag die Einsicht i n die „Notwendigkeit der
Vermeidung von W i l l k ü r und des Scheines von W i l l k ü r " zugrunde 4 8 5 .
Das Dritte Reich könne i m Interesse des Rechtsfriedens innerhalb der
Gemeinschaft nicht auf dieses Prinzip jeder kulturell hochstehenden
Rechtsordnung verzichten. Den Versuch einer totalen Materialisierung
des Strafrechts wiesen Schwinge/Zimmerl i n seine Schranken; sie

4S0 Vgl. ebd., S. 48 f.


481 Ebd., S. 82; vgl. auch S. 55 sowie Zimmerl, Festschrift für Jung 1937,
S. 216 ff.
482 Ebd., S. 92.
483 Ebd., S. 59.
484 Ebd., S. 94; vgl. auch Zimmerl, Festschrift für Jung 1937, S. 240 f.
485 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 99.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 245

machten darauf aufmerksam, daß die materielle Gerechtigkeit ohne ein


gewisses Maß an Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit unvollkommen
bleibt 4 8 6 .
Auffallend an den „liberalen" Argumenten Schwinges und Zimmerls
war, daß sie i n nur sehr geringem Maße in einen Zusammenhang m i t
den herkömmlichen Methoden und dem Verbrechenssystem gebracht
wurden. Diese wurden, wie dargelegt, überwiegend m i t technischen
Erwägungen gestützt. Die dahinterstehende Denkweise entsprach der-
jenigen, die sich unter dem Einfluß des Neukantianismus i n den
zwanziger Jahren durchgesetzt hatte: Wissenschaftliche Methoden und
Systeme sind neutral und unabhängig vom Wandel der gesellschaft-
lichen und politischen Verhältnisse; nur die Inhalte ändern sich 487 .
Schwinge, Zimmerl und einige andere Strafrechtswissenschaftler traten
i m Glauben an die Ideologiefreiheit der Methode für die Beibehaltung
der herkömmlichen Dogmatik ein, ohne also deren politische Essenz i n
die Waagschale zu werfen 4 8 8 .
Auch bei ihnen zeigte sich, wie wenig diese Haltung geeignet ist,
Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gegenüber politischen Machtan-
sprüchen wirksam zu verteidigen. Sie erklärten die angeblich wert-
neutralen Kategorien der herkömmlichen Dogmatik für durchaus ver-
einbar mit der nationalsozialistischen Weltanschauung 489 . So gelangten
sie auf einem anderen Weg i n vielen Fragen zu denselben Ergebnissen
wie ihre Kontrahenten 4 9 0 : Auch Schwinge und Zimmerl forderten den

«κ Vgl. ebd., S. 98 ff.


487
So ganz deutlich Engisch, ArchRSozPh Bd. 30, S. 149.
488
Es könnte eingewandt werden, daß diese Darstellung den genannten
Strafrechtswissenschaftlern nicht gerecht werde, w e i l eine Verteidigung der
herkömmlichen Dogmatik unter Hinweis auf deren politischen Gehalt i m
nationalsozialistischen Staat nicht veröffentlicht worden wäre. Daran ist
richtig: Die Bedeutung des äußeren politischen Drucks f ü r die wissenschaft-
liche Diskussion i m D r i t t e n Reich u n d insbesondere für die Argumentations-
weisen sollte nicht unterschätzt werden. I m vorliegenden F a l l dürfte dieser
Druck aber nicht ausschlaggebend gewesen sein; denn die grundsätzliche
Einstellung dieser Strafrechtswissenschaftler i n methodischen Fragen, die
sie i n der M i t t e u n d gegen Ende der dreißiger Jahre vertraten, läßt sich
bis i n die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zurückver-
folgen. So ganz deutlich bei Schwinge; vgl. „Teleologische Begriffsbildung"
(1930) u n d „Methodenstreit" (1930); gleiches g i l t f ü r Zimmerl u n d seine
streng systematische Methode, die er seinem „ A u f b a u des Strafrechtssy stems"
(1930) zugrundelegt.
489
So ζ. B. die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit als Sozial-
schädlichkeit (Schwing e /Zimmer, Wesensschau u n d konkretes Ordnungs-
denken, S. 58); die Rechtsgutslehre (ebd., S. 64 f., 72 f.); den Nominalismus
(Engisch, ArchRSozPh Bd. 30, S. 136 f.).
4
9° Das gilt auch für Mittasch, der die Rechtsgutslehre verteidigte, sie
dabei aber gleichzeitig für die herrschende Staatsidee verwendbar machte.
Vgl. Wertbeziehendes Denken, S. 99 ff.
246 5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs

Übergang vom Formalismus zur „Rechtsinhaltsbetrachtung" 491 , die von


der „inhaltserfüllten Idee der Blutgemeinschaft des deutschen Volkes" 4 9 2
ausgehen sollte. Was Recht und was Unrecht sei, sei gemäß dem Wohl
des deutschen Volkes zu entscheiden. Zur Konkretisierung des Maß-
stabes sei die nationalsozialistische Weltanschauung heranzuziehen, „so
wie sie i n großen Zügen i m Parteiprogramm und i n den Reden und
Schriften des Führers zum Ausdruck k o m m t " 4 9 3 . Wie ihre Kieler Gegner
verlangten Schwinge und Zimmerl eine stärkere Berücksichtigung der
Gesinnung des Täters 4 9 4 . I m Bereich der Schuld sollte nach ihrer Auf-
fassung der individualethische Maßstab durch eine „Sozialethik" er-
setzt werden 4 9 5 . Die Gesetzesauslegung machten sie davon abhängig,
ob es sich u m ein vornationalsozialistisches oder ein nationalsozialisti-
sches Gesetz handelt. Nur i m ersten Fall hielten sie ein Abweichen von
den Vorstellungen des Gesetzgebers für zulässig. I m anderen Fall
fordere das „Primat der politischen Führung" eine streng subjektive
Auslegung 4 9 6 .

491
Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 92.
492 Ebd., S. 92; vgl. auch S. 58.
493 Ebd., S. 58.
494 v g l . ebd., S. 59.
495 Ebd., S. 58.
496 Ebd., S. 75 f.; vgl. auch Zimmerl, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 174:
„Der Gesetzgeber hat dem Richter gegenüber die Stellung eines Ober-
führers."
6. Kapitel

Schlußbetrachtung

I . Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase

1. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft als Teil


der strafrechtswissenschaftlichen Gesamtentwicklung

Ziel der antiliberalen Bewegung i n der Strafrechtswissenschaft der


dreißiger Jahre war es, die Ideen einer „Konservativen Revolution"
aus dem politischen Bereich auf das Strafrecht zu übertragen. Dieses
solchermaßen „revolutionäre" Denken führte aber nicht zu einem
völligen Bruch i n der Entwicklung der strafrechtlichen Lehren und der
Kriminalpolitik, sondern nur zu einer Fortführung und Steigerung
bereits vorhandener Denkansätze.
Zunächst wurde der Kampf gegen den Liberalismus vorwiegend auf
dem Feld der Kriminalpolitik ausgetragen. Die Konzeptionen eines
„autoritären" Straf rechts standen i n einer Linie m i t Verschärfungs-
tendenzen i n der Rechtsprechung und der strafrechtlichen Gesetzgebung,
die am deutlichsten i m Strafrecht der Notverordnungen zum Ausdruck
kamen 1 . Die ablehnende Haltung der antiliberalen Strafrechtler gegen-
über dem liberalen System des Weimarer Staates war eine Steigerung
des Mißtrauens, das weite Kreise in der Rechtsprechung der Republik
entgegenbrachten 2 .
Übereinstimmungen ihrer kriminalpolitischen Forderungen m i t dem
Gedankengut der klassischen Schule rührten aus der gemeinsamen
Gegnerschaft zu den Reformvorschlägen der modernen Schule. Sie
bestanden zur Hauptsache i n einer gleichgelagerten Grundhaltung: Das
Strafrecht müsse die Überlegenheit des Staates gegenüber dem einzelnen
deutlich machen.
Insgesamt konnten die jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaft-
ler jedoch nicht auf einen Nenner mit der klassischen Schule kommen.
Diese war von jeher für die Prinzipien des Rechtsstaates eingetreten,
die dem Individuum einen gesicherten Raum zu freier Betätigung ge-

1 Vgl. oben 4. Kap. I I . 3. b).


2
Vgl. dazu vor allem die Rechtsprechimg i n politischen Strafsachen;
Hannover, Politische Justiz 1918 - 1933.
248 6. Kap.: Schlußbetrachtung

währen. Zwar setzte sich eine autoritäre neuklassische Richtung für eine
Ausdehnung der staatlichen Macht zuungunsten der individuellen Frei-
heitssphäre ein; am Prinzip der Gegenüberstellung und Abgrenzung des
staatlichen und individuellen Bezirks hielt sie jedoch fest 3 . Gerade die-
sem Prinzip galt aber der Kampf der antiliberalen Richtung, die sich
zum totalen Staat bekannte.
I n ihren kriminalpolitischen Vorschlägen war auch einiges aus dem
Ideengut der modernen Schule enthalten. Ein unmittelbarer Zusammen-
hang läßt sich zwar nicht herstellen; waren doch die Reformbestrebun-
gen der modernen Schule das Hauptangriffsziel der antiliberalen Straf-
rechtswissenschaft i n ihrer Anfangsphase. Es kann jedoch nicht be-
deutungslos gewesen sein, daß der Widerspruch gegen die „liberale"
Reform und das Verlangen nach einem „autoritären" Straf recht zuerst
auf einer Sitzung der deutschen Landesgruppe der I K V , einer Organisa-
tionsform der modernen Schule, öffentlich vorgetragen wurden. Be-
merkenswert ist auch die Annäherung führender Vertreter der moder-
nen Schule an das autoritäre Strafrecht, die sie vollziehen konnten, ohne
ihren bisherigen Standpunkt völlig aufzugeben 4 . Das war nur möglich,
weil ihr Konzept einer Besserungs- und Sicherungsstrafe i m Keim
illiberales, rechtsstaatsgefährdendes Gedankengut enthielt. Zu voller
Entfaltung konnte es bei einer Änderung des angestrebten Endzieles
gelangen, wenn es nicht mehr um die Sicherung der als politisch neutral
gedachten Gesellschaft ging, sondern um die Durchsetzung der totalen
Politisierung.
Der konservative Antiliberalismus übernahm die Forderung nach
einschneidenden Maßnahmen gegen Berufs- und Gewohnheitsver-
brecher 5 , er erweiterte den Erziehungsgedanken, indem er als Er-
ziehungsziel den opferbereiten „politischen Soldaten" setzte6, und über-
steigerte den Determinismus der modernen Schule, indem er verbreche-
risches Verhalten als blutmäßig bedingte Entartung kennzeichnete 7 .
I n der Mitte der dreißiger Jahre verlagerte sich der Kampf gegen den
Liberalismus i m Strafrecht auf den Bereich der Dogmatik. Auch hier
knüpfte die antiliberale Bewegung an voraufgegangene Entwicklungen
an, wenngleich sie deren Resultate i n vielen Punkten ablehnte.

3 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. a).


4 Vgl. oben 4. Kap. I V . 2.
5 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c).
6
Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c) ; vgl. zum Menschenbild des „politischen
Soldaten" i m totalen Staat Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung,
S. 130 f., u n d Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
7 I n letzter Konsequenz bei Nicolai, vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. d). Ansätze
auch bei Dahm u n d Schaffstein, vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c).
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase 249

A m Ende des 19. und i m ersten D r i t t e l des 20. Jahrhunderts hatte sich
i n der Strafrechtswissenschaft ein Wandel von einer kategorialen Denk-
weise zu einer teleologischen vollzogen 8 . Die Grenzen positivistischer
Gesetzesgebundenheit, schematischer, logischer Begriffs ableitungen,
rein objektiver, wertfreier juristischer Betrachtungsweise waren er-
kannt und überschritten worden. Es hatte sich die Einsicht durchgesetzt,
daß juristisches Erkennen und Entscheiden wertbezogen ist. I m Zuge
dieser Entwicklung entstand die teleologische Auslegungsmethode; das
herkömmliche formelle Verbrechenssystem wurde durch die Formulie-
rung materieller Rechtswidrigkeits- und Schuldbegriffe modifiziert.
Die Dogmatik vom teleologischen Standpunkt aus zielte jedoch nicht
auf einen Bruch m i t der liberal-rechtsstaatlichen Tradition, die die
strafrechtliche Methode und das Verbrechenssystem entscheidend ge-
prägt hatte. Sie sollte lediglich das formelle System verfeinern. Daß sie
stattdessen seine politische Grundlage aufweichte, war ihren Ver-
tretern nicht bewußt. Die Diskrepanz zwischen Absicht und Erfolg
erklärt sich aus dem Abstand, den sie zum liberal-rechtsstaatlichen Hin-
tergrund des Verbrechenssystems hatten. Sie behandelten es als eine
rein wissenschaftliche, unpolitische Konstruktion. Die Teleologisierung
der Verbrechenselemente leiteten sie aus einer philosophischen Konzep-
tion ab (zumeist der des Neukantianismus der südwestdeutschen Rich-
tung), die sie wiederum für unpolitisch hielten 9 .
Diese Evolutionierung des Verbrechensbegriffs blieb jedoch i n Gren-
zen. Die Lockerung der gesetzlichen Bindung durch den materiellen
Verbrechensbegriff wurde auf die Fälle beschränkt, i n denen sie dem
Angeklagten zugutekam (übergesetzlicher Notstand, Zumutbarkeit). Die
verhältnismäßig geringen Auswirkungen der teleologischen Betrach-
tungsweise waren außerdem eine Folge der Zurückhaltung und Unent-
schlossenheit bei der Bestimmung maßgebender Werte. Soweit möglich,
bezog man sich auf die Wertentscheidungen des Gesetzgebers. I m
übrigen gelangte man nicht über einen relativistischen Standpunkt
hinaus 10 .
Hier setzten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler an. Für sie
hatte der Relativismus als Erscheinung des demokratischen Liberalis-
mus mit dem Zusammenbruch des liberalen Systems seine Existenz-

8
Vgl. dazu u n d zum folgenden: Grünhut u n d Radbruch i n Festgabe für
Frank 1930, Bd. 1, S. 1 ff. bzw. S. 158 ff.; Mittasch, Die Auswirkungen des
wertbeziehenden Denkens i n der Strafrechtsdogmatik; Gallas, ZStW 67,
S. I f f . ; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, S. 156 ff.; Schmidhäuser, Ge-
dächtnisschrift für Radbruch 1968, S. 268 ff.
9
Vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 114 f.
10
Vgl. das Bekenntnis zum Relativismus bei Radbruch, Rechtsphilosophie
(1932), S . V I I I .
250 6. Kap.: Schlußbetrachtung

berechtigung verloren. Ihre eigenen strafrechtlichen Lehren gründeten


sie auf eine bewußte und eindeutige politische Wertentscheidung. Das
Wohl der Volksgemeinschaft, die i m nationalsozialistischen Staat ihre
angemessene Form gefunden habe, erklärten sie zum obersten Wert.
Daraus leiteten sie eine materielle Bestimmung des Rechts ab, die ihre
Auslegungsmethode und ihren systematischen Anschauungen das Ge-
präge gab. Unter Führung der Kieler Professoren Dahm und Schaffstein
beschränkten sie sich nicht auf eine neue Inhaltsbestimmung alter
Formen, sondern lösten diese Formen auf. Sie verneinten die Frage, ob
die herkömmliche Methode und das formelle Verbrechenssystem i m
nationalsozialistischen Staat noch Gültigkeit haben könnten. Die ratio-
nale, logische Denkweise erklärten sie für weithin unbrauchbar i n der
Jurisprudenz.
Das Hauptgewicht ihrer Arbeit lag auf dem Bemühen, das Verbrechen
materiell zu bestimmen. Dabei trat die Hauptfrage der Strafrechts-
wissenschaft, das „Grenzproblem" 1 1 , i n den Hintergrund.
Die Auflösung formaler Prinzipien kam dem Machtstreben des
nationalsozialistischen Staates entgegen. Wo der gesetzliche Tatbestand
nur noch die Funktion einer ungefähren Leitlinie hat, kann sich
W i l l k ü r ungehindert entfalten und das Strafrecht zur politischen Macht-
ausübung mißbrauchen.
Der offene Mißbrauch durch die nationalsozialistischen Machthaber
brachte schließlich auch einige antiliberale Strafrechtswissenschaftler zu
der Einsicht, daß der Bereich des Strafbaren eingeengt werden müsse.
I n den letzten Jahren des Dritten Reiches versuchten sie mit der Lehre
von der materiellen, typmäßigen Erfassung des Täters eine Ein-
schränkung der kriegsrechtlichen Strafbarkeit zu bewirken. Diese Ver-
suche waren nicht geeignet, die über das Straf recht hereingebrochene
Flut einzudämmen, zumal sie nur mit halbem Herzen unternommen
wurden.
Das „politische Prinzip" 1 2 wurde auch von einer traditionsgebundene-
ren Richtung akzeptiert, an deren Spitze die Marburger Professoren
Schwinge und Zimmerl standen. Seine Anwendung beschränkte sich bei
ihnen jedoch darauf, daß die herkömmliche Methode und das formelle
Verbrechenssystem mit neuem Inhalt, m i t der nationalsozialistischen
Weltanschauung als oberstem Wert, angefüllt wurden. Obgleich diese
Richtung für die Beibehaltung bisheriger dogmatischer Lehren vorwie-
gend technische Gründe anführte, erkannte sie aber auch der formalen
Rechtssicherheit eine gewisse Bedeutung zu. Sie teilte nicht die ver-

11 H. Mayer, DStR 1938, S. 74.


12 S chaff stein, Pol. Straf rechts Wissenschaft, S. 23.
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase 251

breitete Geringschätzung rechtsstaatlicher Grundsätze, sondern hielt an


formalen Prinzipien des Rechtsstaates fest und setzte sich für eine
rationale wissenschaftliche Denkweise ein. Die praktische Bedeutung
mag gering gewesen sein; denn das formelle System wurde von innen
her weitgehend ausgehöhlt: Die nationalsozialistische Weltanschauung
als oberster Wert beraubte die Form weitgehend ihrer Garantie-
funktion. Diese Strafrechtswissenschaftler machten die Strafrechts-
dogmatik aber nicht vollständig nationalsozialistischer Herrschaft
dienstbar. Als letzte Barriere blieb bei ihnen ein Restbestand an for-
maler Rechtsstaatlichkeit erhalten.

2. Vom Positivismus 13 zum materiellen Verbrechensbegriff und zurück

Das Versagen der Strafrechtspflege gegenüber nationalsozialistischer


W i l l k ü r w i r d häufig als Konsequenz positivistischen Denkens erklärt 1 4 .
Diese These kann hier nicht in vollem Umfang nachgeprüft werden 1 4 *
Für die Strafrechtswissenschaft kann sie jedenfalls i n dieser simplen
Form keine Gültigkeit beanspruchen. Das w i r d i m folgenden darzu-
legen sein. Berücksichtigt man den Zusammenhang zwischen Straf-
rechtswissenschaft und -praxis, so ergeben sich auch für den Bereich
der Strafrechtspraxis Zweifel an der Richtigkeit der These.
Das positivistische Denken erreichte i n der Rechtswissenschaft der
Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit den Arbeiten Kelsens einen Höhe-
punkt. Eine unumschränkte Herrschaft wie etwa zur Wirkungszeit
Labands übte es jedoch zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr aus. Die
Situation war durch einen heftigen Methodenstreit gekennzeichnet 15 .
I n der Strafrechtswissenschaft bewirkte das vor allem von der
modernen Schule vorangetriebene Wert- und Zweckdenken einen all-
mählichen Abbau der Gesetzestreue. Ihre Vertreter erweiterten den
Rahmen der strafrechtswissenschaftlichen Arbeitsweise, indem sie die
gesetzlichen Verbrechensdefinitionen i n einen materiellen Verbrechens-
begriff einbetteten. Die damit verbundenen antiliberalen Konsequenzen
blieben jedoch, wie oben gezeigt, begrenzt.

13
I n der Bedeutung von „Gesetzespositivismus"; vgl. Lüderssen, Einleitung
zu: Theorie der Erfahrung i n der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts,
S. 18 f., der die verschiedenen Erscheinungsformen des Positivismus sorg-
fältig unterscheidet.
14
Vgl. etwa Weinkauff, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus,
S. 182; Schmidhäuser, Straf recht, S. 59; Ostermeyer, Strafunrecht, S. 38.
14a
Vgl. zur Rolle des Positivismus i m totalitären Staat m i t besonderer
Blickrichtung auf das Zivilrecht: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung,
S. 98 f.
is v g l . Schwinge, Methodenstreit (1930).
252 6. Kap. : Schlußbetrachtung

Die autoritäre, später nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft


propagierte und praktizierte dagegen die unumschränkte Priorität ihres
materiellen Verbrechensbegriffs.
Zugleich bereitete sie damit aber auch die Rückkehr zum Positivismus
vor: Inhaltlich bedeutete ihr materieller Verbrechensbegriff trotz
mancher verschleiernder Umschreibungen („Gemeinschaftswidrigkeit" 16 ,
„Angriff gegen die Grundordnung des deutschen Volkes, gegen die
völkische Sittenordnung und das innere Gesetz der Gemeinschaft" 17 ,
„Verstoß gegen die Grundlage des völkischen Lebens" 18 ) i m Endeffekt
nichts anderes als die vollständige Anpassung an den Nationalsozialis-
mus 1 9 . Der materielle Verbrechensbegriff ermöglichte es, daß die
nationalsozialistische Weltanschauung i n das Strafgesetz eindringen und
die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sich seiner bemächtigen
konnte. Die Ausrichtung am Nationalsozialismus hatte auf der Gegen-
seite zur Folge, daß für die Gesetze des nationalsozialistischen Gesetz-
gebers unbedingte Gesetzestreue gefordert wurde. Diesen Formalismus
versuchte man vom Positivismus abzuheben, indem man ihn „materiell"
erklärte 2 0 . Die praktische Bedeutung war jedoch dieselbe; nur galt die
Forderung nach strikter Gesetzesbindung jetzt Gesetzen m i t anderen
Inhalten.

3. Gemeinschaftsdenken und autoritäres Denken —


der Widerspruch im Denken der antiliberalen
Strafrechtswissenschaft

Die Lektüre des antiliberalen strafrechtlichen Schrifttums vermittelt


den Eindruck, daß die Autoren — jedenfalls i n der Anfangsphase ihres
Wirkens — von einem idealistischen, gemeinschaftsbezogenen Willen
beseelt waren. Die Tiefe des Volksbewußtseins erschien ihnen als wahre
Rechtsquelle und Ausgangspunkt für die Lösung aller Rechtsprobleme,
die gegenseitige Durchdringung von Volksgemeinschaft und Staat als
ideale Staatsform. Dieses Denken zeichnete sich durch stark romantische
Züge und eine gewisse Naivität aus: M i t der „nationalen Revolution"
glaubte man ohne weiteres den Wandel von der liberalen Gesellschaft
zur Gemeinschaft vollzogen. Das Gemeinschaftsdenken innerhalb des
Volkes sollte allein die Überwindung der Klassengegensätze bewirken.
Konkrete Schritte, etwa auf ökonomischem Gebiet, erwogen die anti-
liberalen Strafrechtswissenschaftler nicht. Den eigentlichen Ursachen
der Klassenbildung gingen sie nicht nach.

16 Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 33.


17 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14.
is Freisler, zitiert bei Schaff stein, ZStW 55, S. 29 f.
19 Vgl. oben 5. Kap. I I . 3.
20 Vgl. oben 5. Kap. I V . 6.
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase 253

Bei genauer Betrachtung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft


t u t sich auch dort das Dilemma jeder Strafrechtswissenschaft auf, die
die Volksanschauung zum Anfangs- und Endpunkt ihres Denkens
nimmt. Eine bloß passive Hinnahme des i m Volksbewußtsein Gegebenen
führt nicht weit, weil eine einheitliche Volksmeinung nicht existiert und
die zahlenmäßig überwiegende Meinung häufig den Geboten des Ver-
nünftigen, Billigen oder Gerechten offensichtlich widerspricht. Eine am
Volksbewußtsein orientierte Strafrechtswissenschaft ist daher zumeist
m i t einem politischen Gestaltungswillen verbunden: Aus dem Konglo-
merat verschiedener Anschauungen i m Volk w i r d eine als die eigent-
liche, wahre, „gesunde" Volksanschauung herausgehoben; diese w i r d
zum Richtpunkt für die Formung einer „echten" Volksgemeinschaft,
eines monolithischen Blocks, genommen.
Z u Anfang nur vorsichtig, später immer deutlicher sprachen die
Antiliberalen daher von der Notwendigkeit, das Volk aus dem bestehen-
den Zustand i n den Zustand einer echten Gemeinschaft zu führen 2 1 . Die
Rechtsordnung wurde zum „Instrument für die Pflege des Volkes" 2 2 ;
das autoritäre Denken überlagerte das Gemeinschafts denken.
Den Widerspruch zwischen Gemeinschaftsgesinnung und politischem
Gestaltungswillen glaubten die antiliberalen Strafrechtler i n den welt-
anschaulichen Grundlagen des nationalsozialistischen Führerprinzips
überbrückt: Danach ist der Führer aus dem Volk hervorgegangen,
gewissermaßen eine Inkarnation des Volksbewußtseins. Die innere
Bindung an das Volk mache es unmöglich, daß er dem Volksgemäßen
zuwiderhandele. Seine herausragende Stellung beruhe auf der nur i h m
verliehenen Fähigkeit, die wahren Gemeinschaftswerte zu erkennen
und sie aus der Tiefe des Volksgeistes herauszuheben 23 . — A u f diesem
Wege führte das Gemeinschaftsdenken zu einer völligen Unterwerfung
unter die autoritäre nationalsozialistische Herrschaft.

4. Die politische Bedeutung der


antiliberalen Strafrechtswissenschaft

Sontheimer spricht von einer „Steigbügelhalter-Rolle" der Konser-


vativen Revolution für den Nationalsozialismus 24 . Diese Bezeichnung
gilt i n gleicher Weise für den Antiliberalismus i n der Strafrechtswissen-
schaft zu Anfang der dreißiger Jahre, dessen führende Vertreter i n ihren
politischen Grundanschauungen Gedanken der Konservativen Revolu-

21 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c).


a Schaff stein, ZStW 53, S. 614.
23 Vgl. oben 5. Kap. I V . 6.
24 Antidemokratisches Denken, S. 376.
254 6. Kap.: Schlußbetrachtung

tion vertraten 2 5 . Ihr Kampf gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien des


Liberalismus und gegen den Staat von Weimar erleichterte es dem
Nationalsozialismus, seine Willkürherrschaft zu etablieren.
Der Zusammenhang zwischen der konservativen antiliberalen Straf-
rechtswissenschaft und dem Nationalsozialismus wurde nach 1933 be-
sonders deutlich, als ihre führenden Vertreter sich am intensivsten um
eine Durchdringung des Strafrechts mit nationalsozialistischem Geist
bemühten.
Die politische Funktion der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i m
Dritten Reich bestand i n einer völligen Dienstbarmachung des Straf-
rechts für die Zwecke der nationalsozialistischen Herrschaft.
Erst in der Endphase des Dritten Reiches wurden vorsichtige Ver-
suche unternommen, sich von den Auswüchsen der Willkürherrschaft
ζ. B. i m Kriegsstrafrecht abzusetzen. Sie führten aber zu keiner
Revision des Standpunktes.

II. Die Bedeutung des liberalen Strafrechts in


der Strafrechtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit

Die Untersuchung der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und


dreißiger Jahre hat gezeigt: Die radikale Ablehnung des liberalen
Strafrechts und auch das weniger entschiedene, mehr unterschwellige
Abweichen von ihm ebnen einer Politik den Weg, die darauf abzielt,
die Mittel des Strafrechts in den Dienst mißbräuchlicher Machtaus-
übung zu stellen.
Die Beschäftigung m i t diesem Gegenstand läßt i m Betrachter der
Historie die Erwartung entstehen, daß der Zusammenbruch des Dritten
Reichs zu einem grundlegenden Wandel i n der Strafrechtswissenschaft
durch intensive Bemühungen u m eine Theorie des liberalen Strafrechts
als Orientierungspunkt genutzt wurde. Diese Erwartung w i r d ent-
täuscht.
Ein Beispiel mag als Einstieg für einen Nachweis dienen: Die Be-
handlung der unechten Unterlassungsdelikte i n der strafrechtlichen
Dogmatik. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft hatte die unechten
Unterlassungsdelikte zu einem höchst wirkungsvollen Instrument
der „totalen Inpflichtnahme" 2 6 ausgeformt 27 . Die Ausdehnung der
Rechtspflichten zum Tätigwerden auf sittliche Pflichten bewirkte
eine unmäßige Ausweitung strafrechtlicher Gebote; die Täterbe-

25 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 5. b) bb).


26 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42.
27 Vgl. oben 5. Kap. V I . 4.
I I . Das liberale Strafrecht i n der Nachkriegszeit 255

Stimmung unter dem Aspekt, ob eine „wesens "-mäßige Gleichartig-


keit mit dem Täter des Begehungsdelikts vorliege, erhöhte die Un-
sicherheit auf diesem Gebiet, so daß nationalsozialistische W i l l k ü r sich
ungebunden entfalten konnte.
Dem Radikalismus der antiliberalen Strafrechtswissenschaft folgte
kein ebenso radikaler Neubeginn nach dem Zusammenbruch des
Dritten Reichs. Das zeigte sich sehr bald nach dem Kriegsende. Zwar
w i r d man der Strafrechtswissenschaft für die unmittelbare Nach-
kriegszeit eine Phase der Orientierung zugute halten können. Doch
schon i n dieser Zeit zeigte H. Mayer m i t aller wünschenswerten Deutlich-
keit die Konsequenzen einer antiliberalen Strafrechtsdogmatik gerade
für den Bereich der unechten Unterlassungsdelikte und die Notwendig-
keit eines umfassenden Revirements auf. Aus dem Jahre 1947 stammt
seine Feststellung, daß die Lehre von der Begehung durch Unterlassen
zum „Ausgangspunkt ärgster Rechtsunsicherheit" geworden und m i t
den liberalen Grundsätzen des Analogieverbots und der Tatbestands-
bestimmtheit unvereinbar sei 28 . Er hob hervor, daß die Rechtspflichts-
lehren, die Garantenlehre Naglers sowie die Theorien der Pflichtver-
letzung und der Tätertypik ein illiberaler Grundzug verbinde und
folgerte schließlich: „Was w i r brauchen, ist eine ernsthafte Überprüfung
des gesamten deutschen Strafrechts unter dem Gesichtspunkt der indi-
viduellen Freiheit, eine Zurückführung des übermäßigen Strafdruckes
auf ein vernünftiges Maß 2 9 ." Seine Bedenken gegen die i n den zwanziger
und dreißiger Jahren entwickelten allgemeinen Begriffe i n der Dog-
matik der unechten Unterlassungsdelikte wiederholte und präzisierte
H. Mayer noch i n den nachfolgenden Jahren 3 0 .
Die Reaktion i n der Strafrechtswissenschaft läßt i n typischer Weise
ein Aufsatz von Vogt aus dem Jahr 1951 erkennen, der i n breiter Form
die Erörterung der unechten Unterlassungsdelikte in der Nachkriegs-
zeit aufnahm 3 1 . Vogt knüpfte an die Garantenlehre Naglers an. Ganz
eindeutig bewegte er sich i n alten Gedankenbahnen, indem er eine
allgemeine Herleitung der Rechtspflichten zum Handeln aus den „so-
zialen Ordnungen" versuchte. Die von Dahm und Schaffstein betriebene
Dogmatik der unechten Unterlassungdelikte blieb i n seiner Darstellung

28 SJZ 1947, Sp. 14.


29 Ebd., Sp. 19.
so Vgl. Strafrecht, S. 112 f.; Materialien zur Strafrechtsreform 1. Bd.,
S. 275 f. Ob H.Mayers eigene Lehre i m Ergebnis die Bedenken vermeidet,
die er gegen die h. L. geltend machte, mag zweifelhaft sein (vgl. Kaufmann,
Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 270 f.; Nickel, Die Problematik
der unechten Unterlassungsdelikte, S. 67 ff.). Davon bleibt sein Verdienst
unberührt, das Kernproblem der unechten Unterlassungsdelikte als erster
nach dem K r i e g m i t aller notwendigen Deutlichkeit aufgezeigt zu haben.
31 ZStW 63, S. 381 ff.
256 6. Kap. : Schlußbetrachtung

w e i t g e h e n d ausgeblendet oder w u r d e als e i n ü b e r w u n d e n e s , n i c h t m e h r


d i s k u s s i o n s w ü r d i g e s Ü b e l abgetan 3 -. N i c h t e i n m a l i n A n s ä t z e n k a m es
zu der E r k e n n t n i s , daß diese s t r a f r e c h t l i c h e n L e h r e n n u r e i n e l e t z t e
A u s p r ä g u n g f r ü h e r e r strafrechtswissenschaftlicher T h e o r i e n d a r s t e l l -
ten. M a n n a h m e i n e n F a d e n w i e d e r auf, v o n d e m m a n g l a u b t e , daß er
u n t e r der H e r r s c h a f t des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s gerissen sei. D i e L e h r e n
D a h m s u n d Schaffsteins w u r d e n n i c h t z u m Gegenstand s o r g f ä l t i g e r
historischer A n a l y s e , geschweige d e n n z u m A n l a ß f ü r eine U m k e h r 3 3 .
D i e B l i n d h e i t f ü r die p o l i t i s c h e n I m p l i k a t i o n e n der ü b e r k o m m e n e n
U n t e r l a s s u n g s d o g m a t i k ließ d e n n a i v e n O p t i m i s m u s entstehen, d u r c h
a l l g e m e i n e B e g r i f f e e t w a f ü r das M e r k m a l der Rechtspflicht z u m H a n -
d e l n das Rechtsstaatsprinzip f ü r d e n B e r e i c h der u n e c h t e n U n t e r l a s -
s u n g s d e l i k t e z u v e r w i r k l i c h e n 3 4 . A u c h b e i besserer E i n s i c h t i n die
rechtsstaatliche P r o b l e m a t i k der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e w a r
n i c h t die F o r d e r u n g nach v ö l l i g e r N e u o r i e n t i e r u n g , sondern der V e r -
zicht auf i n t e n s i v e B e m ü h u n g e n u m eine s t r i k t e A n w e n d u n g rechts-
staatlicher G r u n d s ä t z e d i e Regel, w o b e i z u r B e g r ü n d u n g a n g e f ü h r t
w u r d e , daß eine präzise E r f a s s u n g der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e
unmöglich sei35.
32
Z u Dahm u n d Schaff stein äußert Vogt lediglich i n einer A n m e r k u n g :
„ A u f die Lösungsversuche m i t Hilfe eines ,wesenhaften Tätertyps' (Schaff-
stein, Dahm) einzugehen, lohnt nicht mehr. . . . Z u m Glück sind sie über-
wunden" (S. 395 A n m . 39).
33
E i n weiteres Beispiel: E i n Aufsatz von Zimmermann aus dem Jahr 1952
unter der ganz allgemein gehaltenen Uberschrift „ Z u r Problematik der
unechten Unterlassungsdelikte" (NJW 1952, S. 1321 f.) läßt Dahm u n d Schaff-
stein gänzlich unerwähnt, obwohl dem I n h a l t nach eine E r w ä h n u n g unbe-
dingt erforderlich gewesen wäre: „Eine Erfolgsabwendungspflicht k a n n sich,
gleich ob man sie der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswidrigkeit
zurechnet, ergeben aus Gesetz, Gewohnheitsrecht, Vertrag u n d vorange-
gangenem T u n (Schaffung oder Erhöhung der Gefahrenlage). Die Tendenzen
weisen jedoch über diesen allzu formalen Bereich hinaus. Aus konkreten
Gemeinschaftsverhältnissen sind weitere Rechtspflichten abgeleitet u n d
durch die Rechtsprechung gefestigt worden. Das Schrifttum sprach sich für
die Aufnahme bislang bloß moralischer Verpflichtungen i n den Kreis der
Rechtspflichten aus (Niethammer, ZStW 57, S. 438), wies auf die Bedeutung
des tatsächlichen Herrschaftsbereichs h i n u n d lenkte die Aufmerksamkeit
insbesondere auf A m t s - u n d Berufsstellungen, aus denen gesteigerte Pflich-
ten erwüchsen, die über den Bereich des A m t s i m technischen Sinne hinaus-
gingen" (NJW 1952, S. 1321). — Da die Zusammenhänge verdeckt bleiben,
t r i t t die Notwendigkeit einer Neufundierung der Dogmatik i m Bereich der
unechten Unterlassungsdelikte nicht zutage. Statt dessen w i r d unbefangen
formuliert: „Die Dinge sind m i t t e n i m F l u ß " (ebd.). Genauso naiv u n d
unkritisch w i r d die Wendung von der „fortschreitenden Ethisierung des
Straf rechts" benutzt (ebd.).
34
Vgl. Vogt, ZStW 63, S. 396. Auch der E i n w a n d Maurachs, A l l g . Teil,
1. Aufl., S. 237, gegenüber der K r i t i k H. Mayers, daß das Rechtspflichtmerkmal
„nicht zur Erweiterung, sondern n u r zur Präzisierung des Tatbestandes"
diene, läßt sich nicht anders erklären.
^ Vgl. Welzel, N J W 1958, S. 495 A n m . 10; ders., Deutsches Strafrecht,
6. Aufl., S. 179. Die genannte Regel trat i m übrigen zumeist dadurch i n
I I . Das liberale Strafrecht i n der Nachkriegszeit 257

D i e angeschnittene P r o b l e m a t i k der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e
u n d i h r e B e w ä l t i g u n g d u r c h die Strafrechtswissenschaft der N a c h k r i e g s -
zeit müssen als e i n T e i l a s p e k t i n e i n e n g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g e i n -
g e o r d n e t w e r d e n : Das E n d e der a n t i l i b e r a l e n Epoche u n d d a m i t der
m ö g l i c h e A n s a t z f ü r eine energische W e n d u n g i n der gesamten E n t w i c k -
l u n g des Strafrechts w u r d e d u r c h d i e A u f h e b u n g des § 2 S t G B i n der
seit 1935 g e l t e n d e n Fassung, d i e m i t d e m K o n t r o l l r a t s g e s e t z N r . 11 v o m
30.1. 1946 erfolgte, u n d später d u r c h die S c h a f f u n g des A r t . 103 A b s . 2
G G angezeigt. A n diesen äußeren Zeichen m u ß t e sich der E r n e u e r u n g s -
w i l l e der Strafrechtswissenschaft erweisen. Gerade die verfassungs-
rechtliche A b s i c h e r u n g des Satzes „ n u l l u m c r i m e n , n u l l a poena sine
lege" h ä t t e z u r W e n d e m a r k e i n der gesamten s t r a f r e c h t l i c h e n D o g m a t i k
w e r d e n k ö n n e n 3 6 ; sie hätte, w i e H . M a y e r f o r m u l i e r t e , A n l a ß f ü r eine

Erscheinung, daß i n den strafrechtlichen Lehrbüchern die rechtsstaatliche


Problematik der unechten Unterlassungsdelikte übergangen wurde.
se E i n Blick i n die Entstehungsgeschichte von A r t . 103 Abs. 2 GG erweckt
Zweifel, ob der Gesetzgeber der Vorschrift die hier behauptete Bedeutung
beimaß. I n den Verfassungsberatungen hat diese Grundgesetznorm keine
große Rolle gespielt. Der Gesetzgeber scheint lediglich eine Wiederherstellung
alter Grundsätze unter A n k n ü p f u n g an A r t . 116 W R V beabsichtigt zu haben
(vgl. die Darstellungen der Entstehungsgeschichte bei Naucke, Betrug, S. 184;
Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 216; Nickel, Die Proble-
m a t i k der unechten Unterlassungsdelikte, S. 155 ff.). Damit wäre i n der Tat
kein Signal f ü r eine vollständige A b k e h r v o m Antiliberalismus gesetzt
worden; denn weder die i n der Weimarer Zeit zu A r t . 116 W R V vertretenen
Ansichten (vgl. Naucke, Betrug, S. 184; Kohlmann, Der Begriff des Staats-
geheimnisses, S. 204 ff.; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungs-
delikte, S. 156), noch der Zustand von Strafrechtstheorie u n d -praxis i n jener
Zeit können als i m strengen Sinne liberal bezeichnet werden.
Es erscheint jedoch unzulässig, die subjektiv-historische Auslegung auf
diesen T e i l der Entstehungsgeschichte zu beschränken (so aber Nickel, Die
Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 155 ff.). Dadurch werden
wichtige Zusammenhänge außer acht gelassen. A r t . 103 Abs. 2 G G k n ü p f t
unmittelbar an die Proklamation des Kontrollrats Nr. 3 sowie an das
Kontrollratsgesetz Nr. 11 v o m 30.1.1946 an. Wie H. Mayer dargelegt hat,
können diese Vorschriften n u r als Aufforderung zu einer grundsätzlichen
Neuorientierung verstanden werden (SJZ 1947, Sp. 12 ff.). Eine vollständige
Darstellung, die die M i t t e l der historischen Auslegung ausschöpft, muß auch
den T e i l der Entstehungsgeschichte einbeziehen, der die Zeit vor Schaffung
der Weimarer Verfassung betrifft. Naucke hat gezeigt, daß insbesondere § 2
des Preußischen Strafgesetzbuchs wichtige Aufschlüsse über den liberalen
Gehalt des Grundsatzes „ n u l l u m crimen, n u l l a poena sine lege" liefert
(Betrug, S. 184 ff.). Schließlich sollte eine historische Auslegung auch die
gesamtpolitischen Bezüge nicht übersehen, innerhalb derer der Gesetzgeber
tätig geworden ist. Wenn auch die W R V i n vielem als V o r b i l d gedient haben
mag, so waren die Schöpfer des Grundgesetzes doch stets bestrebt, Fehl-
entwicklungen der Weimarer Zeit durch verfassungsrechtliche Sicherungen
zu verhindern (vgl. Fromme, V o n der Weimarer Verfassung z u m Bonner
Grundgesetz). A u f dieser Grundlage r u h t auch A r t . 103 Abs. 2 GG. I n seine
Auslegung ist der strafrechtliche Illiberalismus u n d Antiliberalismus der
zwanziger u n d dreißiger Jahre als Negativbild einzubeziehen.
Das setzt allerdings voraus, daß m a n der historischen Auslegung einen
wesentlichen Einfluß auf die Gesetzesinterpretation einräumt; vgl. etwa

17 Marxen
258 6. Kap. : Schlußbetrachtung

„grundsätzliche Neubesinnung" nach der Phase des Antiliberalismus


geben können 37 .
Die Entwicklung verlief jedoch anders. Uberwiegend wurde A r t . 103
Abs. 2 GG als eine Rückkehr zu den Lehren aufgefaßt, die zu A r t . 116
WRV entwickelt worden waren 3 8 . Die unheilvolle Bedeutung der illibera-
len Tendenzen, die sich i n der Weimarer Zeit herausgebildet hatten
und i m Dritten Reich zu voller Entfaltung gelangt waren, rückte nicht
i n das Bewußtsein der Strafrechtswissenschaft der Nachkriegszeit.
Art. 103 Abs. 2 GG wurde somit i m allgemeinen kein echter Prüfstein
für die strafrechtliche Lehre zum Zeitpunkt ihrer Wiederaufnahme nach
dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Nicht die Absicht, einen völlig
neuen Anfang zu wagen, sondern der Wille, die überkommene straf-
rechtliche Dogmatik fortzuführen, leitete die Strafrechtswissenschaft bei
dem Beginn ihrer Tätigkeit nach dem Krieg. Die nationalsozialistische
Strafrechtsdogmatik wurde dabei entweder ausgeblendet oder — so-
weit sie überhaupt Beschäftigungsgegenstand war — aus ihren poli-
tischen Bezügen herausgelöst. Das zeigt sich an geschichtlichen Rück-
blicken, i n denen die antiliberale strafrechtswissenschaftliche Richtung
entweder gar nicht erwähnt 3 9 oder als eine Stufe i n einer kontinuier-
lichen Entwicklung der Strafrechtswissenschaft bis zur Gegenwart be-
schrieben w i r d 4 0 .

Naucke, Betrug, S. 182 ff.; ders., Festschrift f ü r Engisch, S. 274 ff. Gerade
Naucke hat aber zahlreiche Gegner gefunden; vgl. u. a. Schänke - Schröder,
StGB, §263 A n m . 1 a; Cramer , Vermögensbegriff u n d Vermögensschaden i m
Strafrecht, S. 31 f.; Lüderssen, JuS 1974, S. 132 f.; Otto Die S t r u k t u r des straf-
rechtlichen Vermögensschutzes, S. 17 ff.
37 SJZ 1947, Sp. 12; ferner ders., Straf recht, S. 85; Buchwald, Gerechtes
Recht, S. 85 f.
38 Vgl. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, S. 547; ferner Schänke, StGB,
5. Aufl., S. 31 ff: Die Kommentierung von §2 läßt i n keiner Weise erkennen,
daß diese Vorschrift eine Wendemarke bedeuten könnte. Die Überlegungen
zum Fragenkomplex Auslegung/Analogie, w i e sie etwa Schwinge i n der V o r -
kriegszeit angestellt hat, werden ohne besondere Begründung u n d ohne
grundsätzliches Eingehen auf die Zwischenzeit fortgeführt.
Daß A r t . 103 Abs. 2 GG keine praktische Bedeutung beigemessen wurde,
läßt der Aufsatz von Schwarz „Das Grundgesetz i n der strafrechtlichen
Praxis" (NJW 1950, S. 124 ff.) erkennen. Die Vorschrift w i r d dort nicht
behandelt.
39 Vgl. Welzels Uberblick über die strafrechtliche Dogmatik der letzten
100 Jahre u n d i h r Verhältnis zur finalen Handlungslehre i n JuS 1966,
S. 421 ff.
40 Vgl. Würtenberger, Die geistige Situation, S. 48 f.; Gallas, ZStW 67, S. 4;
Engisch, ZStW 66, S. 341.
I I I . Das liberale Strafrecht i n der Gegenwart 259

I I I . Die Bedeutung des liberalen Strafrechts


in der Gegenwart

Der Eindruck von den Gefahren eines strafrechtlichen Illiberalismus


und Antiliberalismus, den die Beschäftigung m i t der strafrechtlichen
Theorie und Praxis der zwanziger und dreißiger Jahre hervorruft, ist
so nachhaltig, daß man auch der heutigen Strafrechtswissenschaft drin-
gend anraten möchte, sich intensiv m i t Fragen des liberalen Straf rechts
zu befassen. Angesichts des zeitlichen Abstandes vom Kriegsende und
der seither eingetretenen Entwicklung kann eine solche Empfehlung
aber wohl vernünftigerweise nur gegeben werden, wenn sie von einer
Begründung begleitet ist, die auf die gegenwärtige strafrechtliche Theo-
rie und Praxis eingeht, und wenn aufgezeigt wird, i n welcher Form
und i n welchem Zusammenhang heute Bemühungen u m eine Theorie
des liberalen Straf rechts ihre Berechtigung haben. Die folgenden Aus-
führungen stellen somit den Versuch dar, den Befund hinsichtlich der
Bedeutung des liberalen Strafrechts i n der unmittelbaren Nachkriegs-
zeit für die Gegenwart zu ergänzen und das Ergebnis verwertbar zu
machen, d. h. Bewertungskriterien und methodische Ansatzpunkte für
eine erneute Diskussion über das liberale Strafrecht zu entwickeln.

Erweitern w i r zunächst den oben für die unmittelbare Nachkriegszeit


festgestellten Befund: Der von H. Mayer geforderte Neuaufbau des
Strafrechts unter völliger Abkehr von der antiliberalen Phase ist auch
i n der seither verstrichenen Zeit nicht vollzogen worden. Das w i r d
wiederum am Beispiel der Dogmatik der unechten Unterlassungs-
delikte sehr deutlich: Neuere methodologische Versuche zur Lösung etwa
des Problems der Handlungspflichten, die die überwiegende Ansicht des
strafrechtlichen Schrifttums repräsentieren, lassen keinen prinzipiellen
Unterschied zu entsprechenden Versuchen der zwanziger und dreißiger
Jahre erkennen. Die begriffliche Erfassung erfolgt durch ein „wert-
ermittelndes und wertbeziehendes Verfahren" 4 1 , ergänzt durch eine
41
Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik, S. 92. Derselben M i t t e l be-
dient sich Bärwinkel, der seinen methodischen Weg ausführlich beschreibt
(Zur S t r u k t u r der Garantieverhältnisse, S. 125 f.) : Zunächst soll das Rechts-
gut des i n Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestandes „ i n einer teleolo-
gisch-wertenden Betrachtung, die a m obersten Rechtswert ausgerichtet ist",
bestimmt werden. Dann ist die „soziale Rolle" des Unterlassungstäters zu
untersuchen, auf Grund der er m i t dem Rechtsgut i n Berührung gekommen
ist. Relevant sind n u r diejenigen Rollen, die eine essentielle T e i l f u n k t i o n
innerhalb einer solchen Gruppe innehaben, die „nach ihrer Aufgabenstellung
bzw. Sinnorientierung notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben i n der
Gesellschaft ist". Diese Rollen sind „ i n werthafter Betrachtung" unter dem
Aspekt zu „beschreiben", inwieweit sie auf den Schutz des verletzten Rechts-
guts gerichtet sind. Die so ermittelten „sozial-ethischen Pflichten" sind
daraufhin zu überprüfen, ob sie „Rechtspflichten" sind, d. h., ob sie dem
„obersten Rechtswert der Notwendigkeit f ü r ein gedeihliches Zusammen-
leben" dienen.

17*
260 6. Kap.: Schlußbetrachtung

„auf Sinnerfassung gerichtete Betrachtung" 4 1 . Die gesetzliche Straf-


rechtsordnung w i r d zwar als Grundlage für die Festlegung der Wert-
maßstäbe benannt 4 2 ; es ist jedoch ohne weiteres ersichtlich, daß auf
diesem Wege einer Beschreibung der Handlungspflichten durch all-
gemeine Begriffe das Strafgesetz keine Begrenzungsfunktion mehr
hat 4 3 : „Die i m Geist der Gemeinschaft lebendige, besondere Verantwort-
lichkeit des Bruders für seine Schwester macht auf sein Unterlassen
die strafrechtliche Norm, die die fahrlässige Tötung betrifft, anwend-
bar 4 4 ." Es ist daher völlig berechtigt, wenn dem deutschen Straf recht
eine „Ausuferungstendenz i n der Anerkennung von Rechtspflichten,
deren Verletzung als Unterlassungsdelikt bestraft w i r d " , bescheinigt
w i r d 4 5 . Die Ausweglosigkeit der vom überwiegenden Teil des straf-
rechtswissenschaftlichen Schrifttums unternommenen Bestimmungs-
versuche gibt § 13 des 2. StrRG angemessen wieder. Wenn dort als
Voraussetzung für die Strafbarkeit des unechten Unterlassens ganz all-
gemein formuliert wird, daß der Unterlassende rechtlich für den Nicht-
eintritt des Erfolges einzustehen habe und daß das Unterlassen dem
T u n „entspreche", so läßt sich ein geeigneterer Ansatz für eine ganz-
heitliche, wesenhafte und damit verschwommene Bestimmung der
Handlungspflichten und des Täterkreises kaum denken.
Greifen w i r wiederum auf den Hintergrund dieses Befundes zurück:
Die vorherrschende Auffassung zu A r t . 103 Abs. 2 GG. Zwar w i r d die
Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen A r t . 103 Abs. 2 GG und der h. L.
i n der Dogmatik der Unterlassungsdelikte nicht geleugnet 46 . Die Erörte-
rung dieses Problems beinhaltet jedoch i n der Regel keine erschöpfende
und konsequente Erörterung des liberalen Strafrechts. Die entscheiden-
den Kriterien für die Behandlung des Problems durch die h. L. sind:
— Das Fehlen der historischen Dimension; das bedeutet, daß die Erfah-
rungen aus der Phase des Antiliberalismus ungenutzt bleiben 4 7 ;
42
Vgl. Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik, S. 91; Bärwinkel, Zur
S t r u k t u r der Garantieverhältnisse, S. 125; Herzberg, Die Unterlassung i m
Strafrecht, S. 216.
43
Rudolphi bewertet es als Vorteil des auf seinem methodischen Weg
gefundenen allgemeinen Begriffs, daß er „offen" ist „ f ü r zukünftige soziale
Entwicklungen u n d Veränderungen i n der Regelungsmaterie" (Die Gleich-
stellungsproblematik, S. 92).
44
Herzberg, Die Unterlassung i m Strafrecht, S. 215.
4
* Jescheck-Goldmann, ZStW 77, S. 133.
46
Einen umfassenden Uberblick über den Stand der Diskussion gibt
Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte i m Hinblick auf
den Grundsatz „ n u l l u m crimen sine lege" (Art. 103 Abs. 2 GG).
47
Bezeichnend ist, daß i n der Abhandlung Nickels, die als erschöpfende
Darstellung konzipiert ist, die Autoren Dahm u n d Schaffstein fehlen. Den
Nachweis dafür, daß die h. L. A r t . 103 Abs. 2 G G eine Bedeutung beilegt, die
den historischen Sinn außer Betracht läßt, hat Naucke, Betrug, S. 191 ff.,
geführt.
I I . Das liberale Strafrecht i n der e g e t 261

— D i e „ H a r m o n i s i e r u n g s t e n d e n z " 4 8 ; das bedeutet, daß A r t . 103 A b s . 2


G G n i c h t als strenger M a ß s t a b f ü r die A n f o r d e r u n g e n des Rechts-
staatsprinzips angelegt w i r d . V i e l m e h r d i e n t die B e s c h ä f t i g u n g m i t
der V o r s c h r i f t d e m Z i e l , e i n s t r e n g l i b e r a l e s S t r a f recht als u n p r a k -
t i k a b e l d a r z u s t e l l e n u n d die G r u n d g e s e t z n o r m i m W e g e o b j e k t i v -
teleologischer A u s l e g u n g f ü r die herrschende S t r a f r e c h t s l e h r e u n d
- p r a x i s v e r w e n d b a r zu m a c h e n 4 9 .
A r t . 103 A b s . 2 G G h a t s o m i t n i c h t d i e B e d e u t u n g e i n e r E x i s t e n z f r a g e
f ü r die S t r a f r e c h t s l e h r e e r l a n g t .
M i t diesem B i l d der Strafrechtswissenschaft s t i m m e n E r s c h e i n u n g e n
i n der Strafrechtspflege ü b e r e i n , d i e e i n d e u t i g d e n G r u n d p r i n z i p i e n eines
l i b e r a l e n Strafrechts z u w i d e r l a u f e n . A l s herausragendes B e i s p i e l sei

48 Jescheck-Goldmann, ZStW 77, S. 128.


49
Auch hierfür ist der Nachweis durch Naucke, Betrug, S. 191 ff., erbracht.
Die folgenden neueren Zitate ergänzen lediglich sein Untersuchungsergebnis:
Herzberg, Die Unterlassung i m Straf recht, S. 253 ff., verneint einen Verstoß
der Unterlassungsdogmatik gegen das Bestimmtheitsgebot, indem er auf
andere Unbestimmtheiten hinweist (Täterlehre, objektives Fahrlässigkeits-
moment), die unbesorgt hingenommen würden. Wenn der Gesetzgeber von
der Regelung allgemeiner Fragen absehe, so müsse er dafür ja w o h l immer
gute Gründe haben. I m übrigen sei es nicht realistisch, die Vorschrift als
strengen Maßstab zu handhaben. Die Forderung nach präziser gesetzlicher
Regelung der Garantenstellungen verlange v o m Gesetzgeber Unmögliches.
Herzbergs Überlegungen münden i n den allgemeinen Satz: „Strafbarkeits-
voraussetzungen, die für viele Tatbestände gelten u n d die daher innerhalb
des Allgemeinen Teils zu behandeln sind, unterliegen nicht oder n u r sehr
beschränkt den Bestimmtheitsanforderungen des Artikels 103 Abs. 2 GG."
Das Argument, m a n dürfe v o m Gesetzgeber nichts Unmögliches verlan-
gen, findet sich auch bei Lenckner, JuS 1968, S. 257. Eine Abschwächung des
ursprünglichen Sinns des Grundsatzes ,nullum crimen, nulla poena sine lege'
erreicht Lenckner ferner durch die Einführung seines Rechtsstaatsverständ-
nisses i n die Auslegung von A r t . 103 Abs. 2 GG (vgl. JuS 1968, S. 3041): Die
Rechtsstaatlichkeit enthalte eine formelle Komponente der Rechtssicherheit
u n d eine materielle Komponente der Gerechtigkeit, die durch eine gewisse
„Elastizität" der Rechtsbegriffe v e r w i r k l i c h t werde. Der Konflikt könne n u r
durch einen Kompromiß gelöst werden, dessen I n h a l t die Forderung wieder-
gebe: „Soviel Rechtssicherheit u n d soviel materielle Gerechtigkeit w i e mög-
lich!"
I n gleicher oder ähnlicher Weise argumentieren Thelen, Das Tatbestands-
ermessen des Strafrichters, S. 154, 156, Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeits-
voraussetzungen, S. 166 f., S eel, Unbestimmte u n d normative Tatbestands-
merkmale, S. 107, 111, u n d Nickel, Die Problematik der unechten Unter-
lassungsdelikte, S. 177 f. Die beiden zuletzt genannten Autoren stützen ihre
Auslegung auch auf den „ K o n t e x t der Verfassung". Die dahinterstehende
Absicht einer Harmonisierung läßt eine Äußerung von Seel, S. 107, m i t be-
sonderer Deutlichkeit hervortreten: Das Ergebnis der Verfassungswidrigkeit
unbestimmter Tatbestände w ü r d e nach seiner Auffassung „angesichts der
herrschenden Tendenz zur Vermehrung solcher Tatbestände offenbar nicht
befriedigen". Seel hält es n u n f ü r seine Aufgabe, zu untersuchen, „ob der
Satz n u l l u m crimen sine lege seit Inkrafttreten des Grundgesetzes überhaupt
noch i m herkömmlichen Sinn verstanden werden k a n n oder ob er durch
seine Aufnahme i n das Grundgesetz eine Veränderung i n I n h a l t u n d Aus-
sage erfahren hat".
262 6. Kap.: Schlußbetrachtung

hier die erhebliche Zunahme von Generalklauseln genannt 50 . Ferner


könnte auf die Vielzahl von richterlichen Ermessensentscheidungen im
Bereich der Strafzumessung verwiesen werden, die durch die Reform-
gesetzgebung keineswegs verringert wurde 5 1 . Auf derselben Linie liegt
etwa der Abbau des Legalitätsprinzips 52 oder die erhebliche Auswei-
tung einer privaten Justiz mit dem Charakter einer Strafgerichtsbar-
keit 5 3 .
Das Ganze fügt sich nahtlos in eine soziologisch-politische Gegen-
wartsbeschreibung unter dem Stichwort „nachliberales Zeitalter" 5 4 ein.
Wer heute die Beschäftigung m i t dem liberalen Strafrecht für notwendig
erachtet und die Forderung nach einer strafrechtlichen Liberalismus-
diskussion erhebt, muß diese Analyse des gegenwärtigen Zeitalters in
seine Überlegungen einbeziehen, wenn er nicht i n die Position des w i r k -
lichkeitsfremden Außenseiters geraten w i l l . Es muß mitgeteilt werden,
in welchem Rahmen eine Liberalismusdiskussion möglich und denkbar
erscheint und welche Ergebnisse erwartet werden könnten.
Zu dem Begriff „nachliberales Zeitalter" gelangt der Soziologe
Hildebrandt über die Feststellung: „Die großartige und umfassende Ent-
faltung des Individualismus, die w i r bis i n unsere Tage hinein beobach-
ten können, hat als Folge ihrer rigoristischen Radikalität auf ihrer Rück-
seite eine A r t chronische gesellschaftliche Unterernährung, soziale
Defizite der mannigfaltigsten Form, aufkommen lassen 55 ." Daraus habe
sich ein Bedürfnis und ein Zwang ergeben, den „Mangel an sozialer
Dimensionierung des einzelnen wie der Summe aller" 5 5 zu beseitigen.
Die Kennzeichen der Zeit sieht Hildebrandt in drei Tendenzen: „Die
nahezu alles erfassende Nivellierungstendenz i m Sinne des Abbaues
alter Strukturen oder der Angleichung ihrer Profile . . . die immer
großräumigere, intensivere und effektivere Organisiertheit unseres
Lebens . . . das üppige Koalieren von Ideologien, Weltanschauungen
und irrationalen Handlungsmustern m i t modernen Organisationstech-

50 Vgl. Naucke, RuS H. 417; ferner Claß, Festschrift für E.Schmidt 1961,
S. 129; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 232; Lenckner,
JuS 1968. S. 249.
si Vgl. Bruckmann, ZRP 1973, S. 30 ff. Das 2. StrRG operiert gerade i m
Bereich der Strafzumessung i n großem Umfang m i t Generalklauseln; vgl.
Naucke, RuS H. 417, S. 4 f. E i n Begriff w i e „Verteidigung der Rechtsordnung"
(§§ 41, 47, 56 Abs. 3, 59) läßt jede klare Regelung vermissen; vgl. Kieler
Seminar, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 134 ff.
52 Vgl. Wagner, Festschrift f ü r den 45. Deutschen Juristentag 1964, S. 169 ff.;
Baumann, ZRP 1972, S. 274 f.
53 Vgl. zur „Warenhausjustiz" Kramer, ZRP 1974, S. 62 ff.; zur Betriebs-
justiz Metzger - Pregizer, ZRP 1974,S. 167 ff.
54 Vgl. Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter; Kaltenbrunner, Neue
Rundschau 1974, S. 7.
55 Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter, S. 11.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 263

niken 5 6 ." Wenn Hildebrandt zusammenfassend eine „stärkere Vergesell-


schaftung der Menschen i m nachliberalen Zeitalter" feststellt 57 , w i r d
ihm schwerlich widersprochen werden können.
Dem läßt sich als Kehrseite folgendes für die gegenwärtige Bedeu-
tung und Funktion des Liberalismus entnehmen: Wenn er auch viel-
leicht nicht obsolet geworden ist, so hat er jedoch die Rolle als offen-
sive, treibende und prägende eigenständige K r a f t verloren. Seine W i r -
kung besteht nicht mehr i m Gestalten, sondern allenfalls noch i m
kritischen Begleiten.

IV. Überlegungen zu einer Wiederaufnahme


der Liberalismusdiskussion im Strafrecht

Halten w i r zunächst einmal fest: Die Beschreibung der Gegenwart


als „nachliberales Zeitalter" gibt auch den gegenwärtigen Zustand des
Strafrechts angemessen wieder. Eine liberale Strafrechtstheorie, die
weder anachronistisch noch utopisch ist, sollte sich zunächst ganz be-
scheiden darum bemühen, die notwendigen Voraussetzungen für die
Wahrnehmung der Rolle eines kritischen Begleiters zu schaffen. Ein
erster Schritt i n diese Richtung wäre es, wenn die grundlegenden
Elemente eines liberalen Strafrechts aufgezeigt würden. Danach wären
die strukturellen Mängel und offenen Flanken des liberalen Strafrechts
herauszustellen, die Ansatzpunkte für illiberale Abweichung und
antiliberale Gegnerschaft bieten.
Diese ersten Überlegungen hätten zunächst einmal den nicht zu
unterschätzenden Nutzen, daß sie zu einer größeren begrifflichen
Klarheit verhelfen würden. Damit könnte einem Zustand begegnet wer-
den, i n dem sich so unterschiedliche strafrechtliche Konzeptionen wie
der Entwurf 1962 und der Alternativentwurf gleichermaßen als liberal
verstehen 58 . Weiterhin wäre zu erhoffen, daß auf diese Weise ein
gedankliches Instrumentarium geschaffen werden könnte, das eine
inhaltlich klarere Standortbestimmung neuerer strafrechtlicher Lehren
und Praktiken ermöglicht; d. h. es könnte nachgewiesen werden, auf
welchen typischen Wegen das liberale Strafrecht verlassen wird. Ziel
eines solchen Nachweises wäre nicht, Unwerturteile zu fällen und die
Rückkehr zum liberalen Straf recht zu fordern; es ginge zunächst nur
darum, Orientierungshilfen zu geben.
A u f diesem Weg könnten dann i n weiteren Schritten die histo-
rischen Erfahrungen aus der Phase der Bekämpfung des liberalen
56 Ebd., S. 33 f.
57 Ebd., S. 26.
58 Vgl. einerseits E n t w u r f 1962, S. 101, andererseits A l t e r n a t i v e n t w u r f A T ,
S. 29, auch 49.
264 6. Kap.: Schlußbetrachtung

Strafrechts i n der Form verwertet werden, daß herausgearbeitet


würde, wann der strafrechtliche Illiberalismus i n eine unerträgliche
Bedrohung der individuellen Freiheit umschlägt. Als ein fernes, hier
noch nicht zu erörterndes Ergebnis einer erneuten Diskussion um das
liberale Strafrecht wäre zu wünschen, daß der „Wesensgehalt" eines
solchen Strafrechts sichtbar würde, die Minimalanforderungen einer
strafrechtlichen Ausformung des grundgesetzlich verankerten Rechts-
staatsprinzips.
Dieses Vorhaben soll hier ansatzweise nur soweit i n Angriff genom-
men werden, als die Untersuchung der zwanziger und dreißiger Jahre
Anlaß und Rahmen dafür bietet. Anlaß für eine heutige Erörterung
des liberalen Strafrechts gibt die Phase des strafrechtlichen Illiberalis-
mus und Antiliberalismus, weil es sich nicht um eine einmalige Er-
scheinung handelte, sondern um einen Vorgang, der i n idealtypischer
Form die strukturellen Mängel des liberalen Strafrechts und die daraus
resultierenden Ansätze für seine illiberale Auflösung und antiliberale
Bekämpfung erkennbar werden läßt. Die folgende Betrachtung w i r d die
grundsätzliche Bedeutung der damaligen Diskussion hervorkehren.
Dabei soll der i n der vorstehenden Untersuchung abgehandelte
Themenkreis nicht überschritten werden, was nicht zu dem I r r t u m ver-
leiten sollte, daß damit der Gegenstand einer strafrechtlichen Liberalis-
musdiskussion erschöpfend erfaßt wäre. Neben der Theorie wären auch
die praktischen Konsequenzen eines liberalen Strafrechts zu erörtern,
neben dem Allgemeinen Teil wären auch der Besondere Teil sowie das
Prozeßrecht, das Gerichtsverfassungs-, das Vollstreckungs- und Voll-
zugsrecht zu berücksichtigen.

1. Der Kern eines liberalen Strafrechts*0

Schwierigkeiten bereitet die Frage, wo anzuknüpfen ist, wenn es um


die Beschreibung der grundlegenden Elemente eines liberalen Straf-
rechts geht. Es wurde bereits gezeigt, daß i n der Gegenwart das
A t t r i b u t „liberal" für durchaus Verschiedenes, ja Konträres verwandt
wird. Die Kalamität nimmt noch deutlichere Formen an, wenn man sich
den Unterschied vergegenwärtigt zwischen dem i m historischen Sinne

59
Das Schrifttum gibt hierfür wenig Hilfen. Pfenningers Abhandlung über
„Liberalismus u n d Strafrecht" (Festgabe für Fleiner 1937, S. 257 ff.) behandelt
von den hier interessierenden Fragen n u r die des Analogieverbots u n d der
Straftheorie, letztere außerordentlich knapp. Wenig ergiebig ist auch die
kurze allgemeine Betrachtung Dannenbergs über das Verhältnis von L i b e r a -
lismus u n d Strafrecht (Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 5 ff.). Als
typische Kennzeichen eines liberalen Straf rechts f ü h r t er lediglich auf:
Den Grundsatz „ n u l l a poena sine lege", das Prinzip der Vergeltung, den
formellen Schuldbegriff u n d die Möglichkeit einer rechtfertigenden E i n -
w i l l i g u n g des Verletzten.
I V . Zur Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Straf recht 265

liberalen Strafrecht der klassischen Schule und dem Strafrechtspro-


gramm der heutigen liberalen politischen Bewegung, das auf eine
Beseitigung des herkömmlichen Strafgedankens und seine Ersetzung
durch ein reines Besserungs- und Sicherungsrechts abzielt 60 .
Aus folgenden Gründen halten w i r es für möglich und sinnvoll, bei
einer Wiederaufnahme der Diskussion über das liberale Strafrecht auf
den Meinungsstand der zwanziger und dreißiger Jahre zurückzugreifen:
W i l l man eine willkürliche Handhabung des Begriffs „liberales Straf-
recht" vermeiden und eine feste Diskussionsgrundlage schaffen, so
empfiehlt es sich, auf dem aufzubauen, was traditionsgemäß von dem
Begriff erfaßt w i r d 6 1 .
Ein etwaiger Hinweis auf das gewandelte Erscheinungsbild des
Liberalismus läßt die Notwendigkeit unberührt, die historische Erschei-
nung des strafrechtlichen Antiliberalismus für die Gegenwart zu ver-
werten.
Die Spuren dessen, was i n den zwanziger und dreißiger Jahren als
liberales Strafrecht bekämpft wurde, sind i n der heutigen Strafrechts-
wissenschaft noch überall aufzufinden. Man denke nur an die Systematik
des Verbrechensaufbaus, deren Grundmuster seit von Liszt und Beling
unverändert geblieben ist 6 2 .
Das liberale Straf recht des ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts verkörperte eine strafrechtswissenschaftliche Grundhal-
tung, die mehr als nur historisches Interesse verdient 6 3 . Zu einem hohen
Maß an wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit kam eine Einstellung zum
Gesetz, die die häufig dafür verwandten Vokabeln „positivistisch" und
„formalistisch" nur unzureichend beschreiben. Sie erfassen nicht den
Ernst, m i t dem das Gesetz als eine vom Gesetzgeber richtig und gerecht
gemeinte Lösung und daher als eine für die Strafrechtswissenschaft
verbindliche Arbeitsgrundlage aufgefaßt wurde, und nicht die Achtung
vor der Würde des Menschen, auf deren Verwirklichung die Sorge für
eine garantierte Freiheitssphäre des einzelnen zielte.
Der Liberalismus enthält einige Grundelemente, die von Änderun-
gen i n der gesellschaftlichen Situation unberührt bleiben 64 . Z u ihnen
60
Vgl. die liberale Programmschrift von Flach, Noch eine Chance f ü r die
Liberalen, S. 78; ferner Zundel, Die Erben des Liberalismus, S. 94 f.
61
Ä h n l i c h f ü r den Begriff „Rechtsgut": Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 2;
auch Sina, Dogmengeschichte, S. 88.
β2 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Straf rechts, S. 138 ff.; Schmidhäuser, Straf-
recht, S. 128 ff.
63 Vgl. zum folgenden Maurach, Allg. Teil, S. 70; E.Schmidt, Strafrechts-
pflege, S. 303 f., 307.
64 Vgl. Maihof er, Liberale Gesellschaftspolitik, S. 27 ff.; Flach, Noch eine
Chance für die Liberalen, S. 12.
266 6. Kap.: Schlußbetrachtung

zählt das Mißtrauen gegenüber einer unmäßigen Ausdehnung staatlicher


Macht, die den Menschen i n seiner freien Entfaltung behindern könnte.
Diesem liberalen Grundproblem hat das Strafrecht um die Jahrhundert-
wende, das Gegenstand des späteren strafrechtlichen Illiberalismus und
Antiliberalismus war, größte Aufmerksamkeit geschenkt.
Nach der ausführlichen Darstellung des historischen liberalen Straf-
rechts, wie seine Gegner es sahen, zu Beginn dieser Arbeit 6 5 sollen
hier nur seine Grundzüge i n aller Kürze umrissen werden. Vorweg sein
Programmsatz: Das Straf recht muß die Handlungsräume des Bürgers
als Nichtstraftäter und als Straftäter sowie des Staates eindeutig be-
grenzen. Den Zustand klar abgegrenzter Handlungsräume versucht das
liberale Strafrecht durch intensive gedankliche Arbeit i m Bereich der
Straftheorie, des allgemeinen Verbrechensbegriffs und allgemeiner
methodischer Fragen herbeizuführen.

a) Der Straf begriff

Die Strafe stellt aus liberaler Sicht einen so schwerwiegenden Ein-


griff i n die individuelle Freiheitssphäre dar, daß vom Staat der Nach-
weis einer speziellen Berechtigung für die Verhängung von Strafen
verlangt werden muß. Dieser staatliche Strafanspruch kann allein aus
einem Gesetz hergeleitet werden, das bestimmte, seit seiner Geltung
begangene Handlungen mit Strafe bedroht. Es zieht der staatlichen
Machtausübung Grenzen, die zugleich für den einzelnen eine Garantie
seiner persönlichen Freiheit bedeuten.
Das liberale Strafrecht w i r d vom Prinzip des Maßes beherrscht. Das
bedeutet i m Hinblick auf die Androhung von Strafen: Das Strafgesetz
muß als Rechtsfolge einer bestimmten Handlung zumindest einen Straf-
rahmen benennen. Verhängt werden dürfen nur von vornherein nach
A r t und Umfang begrenzte Strafen. Eine Verurteilung zu unbestimmter
Strafe würde vom liberalen Standpunkt aus den staatlichen Macht-
bereich auf untragbare Weise zuungunsten des persönlichen Freiheits-
raumes erweitern.
Zum Prinzip des Maßes kommt die Forderung nach Angemessenheit
der Strafe. Die strafbare Handlung und insbesondere der Taterfolg
geben die Grundlage für die Feststellung der Verhältnismäßigkeit ab.
Das folgt einmal aus der liberalen Auffassung, daß das Strafrecht
durch den Schutz von Rechtsgütern den individuellen Freiheitsbereich
zu sichern habe 66 . Zum anderen bietet die Tat objektiv präzise feststell-
en Vgl. oben 1. Kap. III.
66
Der liberale Gehalt der Rechtsgutstheorie w i r d ausführlich i n den
Schriften von Amelung, Rechtsgüterschutz (vgl. insbesondere S. 240 ff.), u n d
Sina, Dogmengeschichte, abgehandelt. Daß dieser liberale Gehalt auch Gren-
I V . Zur Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 267

bare Merkmale, die eine genaue Grenzziehung zwischen dem staat-


lichen Recht zum Eingriff und dem persönlichen Anspruch auf freie
Entfaltung ermöglichen. Schließlich gewährleistet die äußere Tat als
Anknüpfungspunkt des Straf Urteils die Gleichbehandlung jeden Täters
einer solchen Tat.
Weitere Voraussetzung für eine Bestrafung ist die Schuld des Täters;
d. h. aus liberaler Sicht: Der äußere Erfolg muß vom Willen des Täters
getragen sein. Das Schuldprinzip folgt aus dem liberalen B i l d vom Men-
schen innerhalb der Rechtsordnung: Diese bildet den Rahmen für seine
freie Entfaltung; für seine willentlichen Handlungen trägt er die volle
Verantwortung. Das subjektive K r i t e r i u m bleibt i n Einklang mit der
Begrenzungsfunktion des liberalen Strafrechts, indem es sich auf die
psychische Beziehung des Täters zu einer bestimmten Normübertretung
beschränkt 67 .
Die Kriterien der Tätergesinnung, der Gefährlichkeit oder der Re-
sozialisierbarkeit des Täters erfüllen die liberalen Anforderungen nicht.
Wegen Verletzung des Proportionalitätsgrundsatzes, wegen der drohen-
den Gefahr einer unkontrollierbaren staatlichen Machtentfaltung und
bevormundender Eingriffe i n die persönliche Sphäre ist der Straf-
zweck der Spezialprävention nicht m i t dem liberalen Strafrecht ver-
einbar 68 .

b) Das Verbrechenssystem

Ein wesentliches Merkmal des liberalen Strafrechts ist, daß es ein


durchgegliedertes Verbrechenssystem kennt. Einer liberalen Einstel-
lung entspricht es, wenn die Systematisierung m i t besonderem Nach-
druck betrieben wird. Der mit dem System verbundene Zwang zu sorg-
fältiger, schrittweiser Prüfung, die einer Nachprüfung zugänglich ist,
dient der Rechtssicherheit und der Rechtsgleichheit.
Die Basis des liberalen Verbrechenssystems bildet ein allgemeiner
Handlungsbegriff, der auf die naturwissenschaftliche Denkkategorie
der Kausalität abstellt, von der erwartet wird, daß sie zu gleich-

zen hat, zeigen Naucke, Betrug, S. 42 f., u n d Amelung, Rechtsgüterschutz,


S. 246 ff. Vgl. auch die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs bei Schwingel
Zimmerl, oben 5. Kap. I X .
67 Vgl. Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 6.
68 a. A. Radbruch, MSchrKrimPsych 1909, S. 1 ff. Nach seiner Ansicht
fordert der Liberalismus i m Strafrecht die Sicherungstheorie. E i n unlösbares
Problem bleibt für Radbruch, wieso Kant sich f ü r den Vergeltungsgedanken
einsetzte (vgl. S. 3 A n m . 1).
Gegen Radbruch m i t überzeugenden Argumenten Dannenberg, L i b . u n d
Straf recht i m 19. Jahrh., S. 6 Anm. 14; R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 191 ff.;
Köhler, Vergeltungsgedanke, S. 277 ff.
268 6. Kap.: Schlußbetrachtung

mäßigen und leicht überprüfbaren Ergebnissen führt, da sie frei von


subjektiven und wertenden Elementen ist.
Zur Sicherung der absoluten Priorität des Gesetzes als der Grenz-
linie zwischen strafbarem und nichtstrafbarem Bereich, zwischen staat-
licher Machtssphäre und individueller Freiheitssphäre dient das Prinzip
der Tatbestandsmäßigkeit. Es verlangt, daß in objektiver, möglichst
wertfreier begrifflicher Prüfung festgestellt wird, ob die Merkmale des
gesetzlichen Tatbestandes i n der Handlung des Täters wiederzufinden
sind. Das Absehen von subjektiven und weitgehend auch von werten-
den Prüfungskriterien soll eine klare Grenzlinie ermöglichen und die
Funktion des Strafgesetzes als „Magna Charta" sowohl des Ver-
brechers als auch des Nichtverbrechers stärken. Eine Ausdehnung des
gesetzlichen Tatbestandes durch analoge Anwendung zuungunsten des
Täters würde der Begrenzungsfunktion des liberalen Strafrechts zu-
widerlaufen.
Die Aufgabe der Wertung erfüllt die Rechtswidrigkeitsprüfung, die
sich i m liberalen Strafrecht an den allgemeinen Wertungen des Ge-
setzes orientiert. Gegenüber einem materiellen Rechtswidrigkeitsbe-
griff w i r d Zurückhaltung geübt, da er die Herrschaft des Gesetzes
untergräbt.
Erst i m Rahmen der Schuldprüfung findet der die äußere Tat be-
gleitende innere Vorgang Beachtung. Geprüft und bewertet w i r d
jedoch nur die unmittelbare psychische Beziehung des Täters zur Tat.
Die Priorität des äußeren Geschehens bleibt gewahrt; die Schuld-
prüfung hat nur korrigierende Funktion. Diese Beschränkung liegt im
Sinne des liberalen Gleichbehandlungspostulats.

c) Die Methode

Große Bedeutung haben i m liberalen Strafrecht die begriffliche Ab-


straktion und die Systematisierung i m Allgemeinen Teil. Sie dienen dem
Zweck, das Strafrecht rational zu durchdringen und den Gleichheits-
gedanken i n das Strafrecht umzusetzen.
Die Auslegung hat sich i m liberalen Strafrecht völlig dem Gesetz
unterzuordnen, das als eine bindende Regelung angesehen wird, die als
richtig hinzunehmen ist. Daraus folgt eine strikte Unterscheidung
zwischen lex lata und lex ferenda. Zwischen Auslegung und Analogie
w i r d ein grundlegender Unterschied gesehen. Das liberale Strafrecht
zieht die historische Auslegung vor; denn diese nimmt das Gesetz als
verbindliche Richtlinie ernst und bietet ein nachprüfbares Verfahren.
Skepsis besteht gegenüber einem materiellen Verbrechensbegriff als
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 269

Hilfsmittel der Auslegung, da er die Position des Gesetzes als Grenz-


linie für den Machtbereich des Staates gefährdet.

2. Ansatzpunkte für liberale und antiliberale Tendenzen

a) Die (kriminal-)politische Zurückhaltung

I m Zentrum des liberalen Strafrechts steht das „Grenzproblem" 6 9 ,


d. h. die Frage nach der Grenze zwischen strafbarem und straflosem
Verhalten. A l l e Bemühungen sind auf das Ziel gerichtet, für jedermann
gleichermaßen den Bezirk abzugrenzen und kenntlich zu machen, i n dem
er sich frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, straffällig zu
werden.
Die Grundlage für die angestrebte exakte und verbindliche Bestim-
mung der Grenzlinie bildet das Gesetz. Das liberale Strafrecht ver-
bietet, kriminalpolitische Ziele zu verfolgen, die sich nicht vollständig
m i t denen des Gesetzgebers decken. Es ist i h m daher eine gewisse
Starrheit und Unbeweglichkeit eigen. Der Strafrechtspflege, die an die
einmal gezogene Grenzlinie gebunden ist, w i r d verwehrt, aktuellen
kriminalpolitischen Bedürfnissen zu entsprechen, auch wenn sie als un-
abweisbar angesehen werden.
Fast zwangsläufig entsteht eine Gegenbewegung vom liberalen Straf-
recht weg, die für eine weniger scharfe Grenzziehung mit dem Argu-
ment plädiert, daß ein Offenhalten der strafrechtlichen Grenzen aus
Gründen kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit erforderlich sei.
Das größte Gewicht legt das liberale Strafrecht auf die Frage, wie
die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten möglichst
eindeutig und präzise gezogen werden kann. Der Rückzug auf das Gesetz
und der defensive Charakter des liberalen Gedankens behindern eine
gesetzeskritische Haltung i n der Frage, wo diese Grenze verlaufen
sollte. Das liberale Strafrecht vermag daher politischen Bewegungen
keinen energischen Widerstand zu leisten, die die Grenze entsprechend
ihren Zielen zuungunsten des einzelnen verschieben.
Das Beispiel der neuklassischen Richtung zu Anfang der dreißiger
Jahre zeigt, daß ein autoritäres Strafrecht auch aus einem liberalen Ur-
sprung hervorgehen kann 7 0 . Erst dann w i r d das liberale Strafrecht i n
seinem Nerv getroffen, wenn eine klare Grenzziehung überhaupt unter-
lassen w i r d und damit die Zusicherung eines noch so kleinen individuel-
len Freiheitsraumes entfällt. Die politische Abstinenz des liberalen

69 H. Mayer, DStR 1938, S. 74.


70 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. a).
270 6. Kap.: Schlußbetrachtung

Strafrechts reicht nicht so weit, daß sich auch der totale Staat liberal
gebärden könnte. Er ist auf die Bekämpfung des liberalen Strafrechts
angewiesen.
Die Reformbewegung der modernen Schule wandte sich gegen die
starre Grenzziehung durch das liberale Straifrecht m i t kriminalpoli-
tischen Argumenten. Ein eigener materieller Verbrechensbegriff er-
möglichte es ihr, die Begrenzungsfunktion des Strafrechts und insbe-
sondere der liberalen strafrechtlichen Dogmatik zu verringern 7 1 .
Weitaus energischer und zielstrebiger ging die antiliberale Richtung
i n der Straf rechtswissenschaft vor. Es waren bei ihr jedoch weniger
kriminalpolitische Erwägungen i m engeren Sinne maßgebend für die
Beseitigung der Begrenzungsfunktion des Straf rechts; vorwiegend ihre
allgemeinpolitische Grundhaltung, das Bekenntnis zum starken Staat
und zur Gemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus, veranlaßte sie,
das Strafrecht zu einem flexiblen Machtmittel des Staates umzuformen.

b) Der formale Gleichheits- und Freiheitsbegriff

Ein beherrschender Zug i m liberalen Strafrecht neben der Priorität


des Grenzproblems ist seine Stellungnahme zur Frage der Gleichheit.
M i t Entschiedenheit und Konsequenz w i r d ein formaler Gleichheits-
begriff vertreten. Der strikten Bindung an das Gesetz und dem Vor-
rang des äußeren Tathergangs liegt eine Vorstellung von Gleichheit
zugrunde, die bewußt die besonderen persönlichen Bedingungen und
Verhältnisse unberücksichtigt läßt. Das liberale Strafrecht verschließt
sich gegenüber Unterschieden auf der Täterseite, soweit sie nicht i n so
enger Beziehung zur Tat stehen, daß diese i n einem anderen Licht
erscheint.
Zu diesem Begriff der Gleichheit gehört eine bestimmte Vorstellung
von der menschlichen Freiheit, die sich bewußt einer Stellungnahme zu
Fragen der materiellen Bedingungen von Freiheit und des rechten
Gebrauchmachens von ihr enthält. Unter Freiheit w i r d ein Freiraum
verstanden, i n dem der Mensch nahezu sämtliche Möglichkeiten der
Selbstverwirklichung hat, i n dem er aber auch die volle Verantwortung
für seine Handlungen trägt. Dieser Standpunkt w i r d sowohl i m Hin-
blick auf die Entstehungsgründe des Verbrechens als auch i m Hinblick
auf die Situation des Deliquenten nach der Strafverbüßung einge-
nommen.
Es liegt nahe, diesen Freiheitsbegriff als „formal" zu bezeichnen;
völlig würde man ihm damit jedoch nicht gerecht; denn er hat ein
lebenserfülltes Menschenbild zum Hintergrund, den aktiven, zu selb-

7i Vgl. dazu Naucke, Betrug, S. 22 ff., 31 ff.


I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Straf recht 271

ständiger Lebensgestaltung fähigen Menschen, der durch die Ver-


folgung seiner Interessen zugleich das Wohl der Gesamtheit fördert.
I h m allein bleibt es vorbehalten, Zwecke zu setzen und sie mit allen
erlaubten Mitteln anzustreben. Der Staat ist lediglich Mittel zum
Zweck, nämlich zu dem Zweck, dem Menschen den individuellen Frei-
heitsraum zu sichern.
Für das liberale Strafrecht folgt daraus, daß es ebenfalls über diesen
Aufgabenbereich nicht hinausgehen darf. Es verschließt sich daher
gegenüber allen weiterreichenden Zwecken und jeder Einflußnahme
auf die individuelle Zwecksetzung.
I n Fragen der Gleichheit, Freiheit und des Zwecks des Strafrechts
muß das liberale Strafrecht dem kritischen Betrachter als kurzsichtig
erscheinen. Nicht i n sein Blickfeld geraten die tatsächlichen, empirisch
feststellbaren äußeren und inneren Bedingungen menschlichen Lebens,
die die postulierte Gleichheit und Freiheit i n Frage stellen. Die ver-
kürzte Sicht des liberalen Strafrechts fordert geradezu eine Gegen-
bewegung heraus, die sich die empirische Erforschung der Verbrechens-
ursachen zur Aufgabe macht und nach den konkreten persönlichen
Bedingungen fragt, die zur Begehung des Verbrechens beitragen.
Die Forderung nach einer entsprechenden Ausdehnung des straf-
rechtswissenschaftlichen Arbeitsbereiches wurde von der modernen
Schule vorgetragen, die i n diesem Punkt den naturwissenschaftlichen
Optimismus des ausgehenden 19. Jahrhundert repräsentierte 72 .
I h r weiterreichendes Ziel war es, die Strafe rational zum Nutzen der
Allgemeinheit einzusetzen. Dem lag der Eindruck zugrunde, daß das
liberale Straf recht „zwecklos" sei, daß es das Verbrechen nicht wirksam
bekämpfe. Das Strafrecht sollte m i t der Aufgabe betraut werden, die
vom Täter ausgehende Gefahr für die Gesellschaft zu beseitigen oder
einzudämmen. Dabei wurde die Vorstellung von der Gefahr zunehmend
verallgemeinert; d. h. sie löste sich vom Gesetz.
Wenngleich der Gesellschaftsschutz letzten Endes dem einzelnen wie-
der zugute kommen sollte, so war damit doch eine entscheidende
Gewichtsverlagerung gegenüber dem liberalen Strafrecht vorgenommen
worden. Die erste Rangstelle wurde einem überindividuellen Kollek-
t i v u m zuerkannt. Der Ruf nach größerer Effektivität des Strafrechts war
mit der Bereitschaft verbunden, dem Staat eine Erweiterung seines
Machtbereichs zuungunsten der individuellen Freiheit zuzugestehen.
Dieser illiberale Denkansatz schlug i n der modernen Schule jedoch
nicht i n einen offenen Antiliberalismus um, weil die zu schützende

72 v g l . Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S.22ff.; E.Schmidt,


Strafrechtspfìege, S. 356 f.
272 6. Kap.: Schlußbetrachtung

Gesellschaft als ein nur loser Verbund von Individuen angesehen


wurde, i n dem dem einzelnen eine gewisse Selbständigkeit erhalten
bleiben sollte. Daher suchte von Liszt seine illiberale Kriminalpolitik
zu begrenzen, indem er i m übrigen, d. h. aber: mit einer gewissen In-
konsequenz, am liberalen Strafrecht festhielt 73 .
I n der Frage des grundlegenden Zwecks des Strafrecht s bestand eine
prinzipielle Übereinstimmung zwischen der modernen Schule und der
antiliberalen Richtung. Auch diese bemängelte am liberalen Strafrecht,
daß es sich den Belangen der Gesamtheit versage. Die K r i t i k der anti-
liberalen Richtung galt jedoch nicht primär der mangelnden Effektivität
des liberalen Straf rechts, sondern dem „Eindruck der Schwäche", den es
hervorrufe 7 4 . Die Gefährdung des liberalen Straf rechts ging hier nicht
von einer berechnend — klugen Kriminalpolitik aus, die zur Erreichung
des kriminalpolitischen Optimums zwar die Grenzen des liberalen
Strafrechts überschreitet, wegen ihres rationalen Grundzuges aber nicht
unbedingt zur Unmäßigkeit tendiert; Antriebsfeder war das irrationale
Verlangen, das Strafrecht müsse die Überlegenheit des Staates gegen-
über dem einzelnen machtvoll demonstrieren. Dem Staat wurde damit
ausdrücklich ein Eigenwert zugesprochen.
Eine noch schärfere Wendung gegen das liberale Strafrecht nahm
dieses Denken, indem es den Staat als Ausdruck der Volksgemeinschaft
interpretierte. Die Überspitzung des Gemeinschaftsgedankens beraubte
das liberale Straf recht jeder Existenzmöglichkeit. Eine Freiheit vom
Staat wurde negiert; der rechtlichen, formalen Gleichheit wurde die
Grundlage entzogen durch die Auflösung der Strafbarkeitsgrenzen
und durch die Orientierung an der „konkreten Ordnung".

c) Das starre System, die abstrakte Begriffsbildung

Mittel zum Ausschluß bestimmter Fragestellungen sind i m liberalen


Strafrecht die weitgehende Schematisierung durch ein starres System
und die Verwendung abstrakter Begriffe. Das liberale Strafrecht nähert
sich bei der begrifflichen Bearbeitung dem Einzelfall nur soweit, als die
formale Gleichheit dabei gewahrt bleibt. Unzulänglichkeiten bei der
Erfassung des Rechtsstoffs, Vergröberungen, aber auch übertriebene
Unterscheidungen treten zwangsläufig auf.
Man könnte fast von einer naturnotwendigen Gegenbewegung
sprechen, die bei der Diskrepanz zwischen den allgemeinen Begriffen
und den Besonderheiten des einzelnen Falles ansetzt. Gefahr droht

73 „Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der K r i m i n a l p o l i t i k "


(Aufsätze u n d Vorträge Bd. 2, S. 80). Vgl. auch oben 4. Kap. I V .
74 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Straf recht 273

dem liberalen Strafrecht dort, wo diese Erscheinungen nicht als Konse-


quenz der politischen Basis erkannt, sondern als rein wissenschaftliche
Mängel behandelt werden. Die Beseitigung von „Unstimmigkeiten" i m
System des liberalen Strafrechts kann so zu seiner Aufweichung
führen, ohne daß die Tragweite dieses Vorgangs gewürdigt wird.
Die Bemühungen u m eine Korrektur und Verfeinerung des straf-
rechtlichen Systems i n den zwanziger Jahren i m Zeichen des Neu-
kantianismus gingen von einer derartigen unpolitischen Basis aus 75 .
Richtiger schätzte die antiliberale Strafrechtswissenschaft die Syste-
matik und Begriffsbildung des liberalen Strafrechts als eine sekundäre
Erscheinung ein. Wenngleich i n diesem Bereich heftige Angriffe vorge-
tragen wurden, so wurde hier aber nicht der entscheidende Stoß gegen
das liberale Strafrecht geführt. Den Hebel setzten die Antiliberalen i n
den politischen Grundsatzfragen an. Die Auflösung des Verbrechens-
systems und die Beseitigung abstrakter Begriffe waren bereits der
zweite Schritt. Er setzte die Entscheidung für den totalen Staat i n die
strafrechtliche Dogmatik um.
Das geschah i n der Weise, daß der Kampf gegen die Abstraktion mit
Mitteln geführt wurde, die selbst einer abstrakten Begrifflichkeit ent-
stammten. Die Forderung nach einer konkreten Betrachtungsweise
mündete nicht i n intensive Bemühungen u m eine präzise Erfassung des
Rechtsstoffs. M i t der Beseitigung des Geltungsanspruchs allgemeiner
Begriffe war das Ziel bereits erreicht, ein flexibleres Strafrecht zu schaf-
fen, das rascher und effektiver die kriminalpolitischen Konsequenzen
aus den leitenden politischen Gesichtspunkten ziehen kann. Unter die-
sem Aspekt erscheint selbst die Frage, inwieweit technische Gründe die
Verwendung abstrakter Begriffe erforderlich machen, nicht weiter
diskussionswürdig.

d) Das begrenzte Betätigungsfeld des liberalen Strafrechts

Die historische Entwicklung zum liberalen Strafrecht war i m wesent-


lichen gleichbedeutend m i t der Entwicklung und dem Ausbau des A l l -
gemeinen Teils, wie von den Gegnern des liberalen Straf rechts i n den
zwanziger und dreißiger Jahren zu Recht herausgestellt wurde 7 6 . Der
Schwerpunkt liberaler Strafrechtslehre lag eindeutig auf der Verarbei-
tung des Rechtstoffs durch allgemeine Begriffe und deren systematische
Einordnung. Notwendigerweise trat dadurch eine Verengung des Blick-
feldes ein. Auch darauf haben die Gegner des Liberalismus i n der Zeit

75 Vgl. oben 6. Kap. I. 1.


76 v g l . Schaff stein, DStR 1935, S. 97; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand,
S. 63.

18 Marxen
274 6. Kap.: Schlußbetrachtung

vor dem 2. Weltkrieg hingewiesen 77 . Die Arbeit am Allgemeinen Teil


basierte auf einem verengten B i l d von der Kriminalität, das sich auf
einen Kreis einiger einfach strukturierter Delikte erstreckte, zu denen
vor allem die Vermögensdelikte und die vorsätzliche Tötung zu zählen
sind. Die vom Grundbestand kriminellen Unrechts weiter entfernt lie-
genden Delikte blieben außer Betracht. Man kann wohl allgemein for-
mulieren: Spezielle Fragen des Besonderen Teils hatten in der liberalen
Strafrechtslehre nur eine untergeordnete Bedeutung. Wenig Aufmerk-
samkeit zog auch das Nebenstrafrecht auf sich. Noch geringere Beach-
tung fand der Bereich des Verwaltungsrechts und die Frage seines Ver-
hältnisses zum Strafrecht.
Neben den Gründen, die m i t der Zielrichtung des liberalen Straf-
rechts zusammenhängen, dürften auch äußere Bedingungen maßgeben-
den Einfluß auf diese Entwicklung genommen haben. Die Anfänge
liberalen Strafrechts datierten auf einen Zeitpunkt zurück, i n dem die
Technik der Strafgesetzgebung zu relativ klar umrissenen und inhaltlich
eindeutig bestimmten Tatbeständen führte. Die Tatbestände des Be-
sonderen Teils bildeten einen geschlossenen, i m Vergleich zu späteren
Zeiten engen Kreis. Die Ausuferung des für strafbar erklärten Unrechts
erfolgte erst sehr viel später durch allgemeinere und abstraktere Ge-
setze und durch die Schaffung neuer Tatbestände, insbesondere i m
Nebenstrafrecht 78 . Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein Ver-
trauen i n die Vernunft des Besonderen Teils und i n seine Verwendbar-
keit für Zwecke des liberalen Straf rechts.
Dieses Vertrauen fußte auch auf den relativ stabilen politischen Ver-
hältnissen i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die einen grund-
legenden Wandel i n der Gesetzgebungspolitik nicht befürchten ließen.
I n dieser Phase verschmolz der weitaus überwiegende Teil der poli-
tischen liberalen Bewegung m i t dem Nationalismus 79 . Die Verbindung
verringerte i n erheblichem Maße die kritische Distanz des Liberalismus
zum Staat. Die traditionelle Höherbewertung der Individualinteressen
vor den Staatsinteressen wich zunehmend der Bereitschaft, der Autori-
tät des Staates einen Eigenwert zuzuerkennen.
Infolgedessen zeigte sich das liberale Strafrecht i n der Zeit nach dem
1. Weltkrieg i n keiner Weise gerüstet für eine kritische Uberprüfung
der m i t Macht einsetzenden Ausuferungstendenz i m Besonderen Teil,
i m Nebenstrafrecht und insbesondere i n den Notverordnungen. Dieser

77 v g l . Schaff stein, DStR 1935, S. 103; ders., Das Verbrechen als Pflicht-
verletzung, S. 113; ferner H.Mayer, Strafrecht, S. 184f.
78 Vgl. Naucke, RuS H. 417, S. 11 A n m . 14.
79 Vgl. Zundel, Die Erben des Liberalismus, S. 25 ff.; Molt, Der politische
Liberalismus i n Deutschland, S. 412 ff.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht 275

illiberale Vorgang vollzog sich durch eine enorme Vermehrung von


Strafvorschriften und durch eine unbedenkliche Verwendung von
Generalklauseln 80 . Höhepunkt dieser Entwicklung war das Strafrecht
der Notverordnungen, das i n extremer Weise die Gesetzgebungs-
technik des allgemeinen und unbestimmten Gesetzes verkörperte.
Auf eine Gefährdung von dieser Seite war die liberale Strafrechts-
lehre nicht eingerichtet. Die Illiberalisierung des Strafrechts rückte
nicht i n das Bewußtsein liberaler Strafrechtler. Das Vertrauen i n die
Vernunft des Gesetzgebers erwies sich als blind 8 1 . Bezeichnend ist, daß
die Verschärfungstendenzen i m Strafrecht erst i n der Zeit des A n t i -
liberalismus zur Sprache kamen, und zwar als ein Argument, m i t dem
sich die Vertreter der Reformbewegung gegen den Vorwurf von anti-
liberaler Seite verteidigten, i m Zuge der Reformbestrebungen sei eine
Liberalisierung des Strafrechts eingetreten 82 .
Die liberale Strafrechtslehre wäre auch nicht i n der Lage gewesen,
der Illiberalisierung wirksam zu begegnen; denn sie hatte es versäumt,
die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, wie ein Ge-
setz beschaffen sein muß, damit es liberalen Bestimmungsanforderun-
gen genügt.
Die illiberale Aushöhlung des Strafrechts setzte sich i m Antiliberalis-
mus des Dritten Reichs fort, ohne daß zwischen diesen Phasen ein prin-
zipieller Unterschied bestand. Der Antiliberalismus ging eben nur
offener und brutaler vor und sorgte i n einem erheblich größeren
Umfang für die Beseitigung liberalen Strafrechts. Die von der anti-
liberalen Strafrechtswissenschaft propagierte Hinwendung zu den
Besonderheiten des einzelnen Delikts ließ i m Ergebnis den Abstand zu
den gesetzlichen Straftatbeständen noch größer werden. Der anti-
liberalen Strafrechtswissenschaft war es nicht um eine präzisere be-
griffliche Erfassung des jeweiligen gesetzlichen Tatbestandes zu tun.
Sie bekämpfte m i t Entschiedenheit die Auffassung, daß der gesetzliche
Straftatbestand eine feste Grenze bilde. Die noch verbliebene Bindungs-
w i r k u n g des Allgemeinen Teils wurde weitgehend beseitigt. Die Be-
schäftigung m i t den Tatbeständen des Besonderen Teils beschränkte
sich auf den Appell, durch eine wesenhafte und konkrete Betrachtungs-

80 v g l . H. Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 112; Naucke, RuS


H. 417, S. 11, u n d oben 4. Kap. I I . 3. b) sowie 5. Kap. I I I .
81
Als Ausnahmeerscheinung muß die Entschließung der Deutschen Straf-
rechtlichen Gesellschaft v o m 16.10.1931 (GS 101, S. 128) gelten, die auf
illiberale Tendenzen i n der Strafgesetzgebung aufmerksam machte. Sie blieb
ohne gebührendes Echo (vgl. Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses,
S. 206).
β2 Vgl. oben 4. Kap. I I . 3. b).

18*
276 6. Kap.: Schlußbetrachtung

weise die besonderen Aspekte des jeweiligen Tatbestandes zur Geltung


zu bringen.
Das Spiegelbild dieses theoretischen Konzepts bietet die von der
Gesetzgebung i m Dritten Reich vorgenommene Ausdehnung des Be-
reichs des Strafbaren und die Auflösung seiner Grenzen durch die
Schaffung einer Unmenge neuer Tatbestände und die Verwendung von
Generalklauseln i n weitestem Umfang 8 3 . Ohne jede Bedeutung war die
Diskussion über das liberale Strafrecht für die nationalsozialistische
Polizeipraxis. I m Bereich des Polizeirechts war es nicht erforderlich,
Kautelen eines liberalen Strafrechts zu beseitigen oder zu unterlaufen.
Der Wert des liberalen Strafrechts hängt somit i n entscheidendem
Maße davon, ob es i h m gelingt, die selbstgesteckten Grenzen zu über-
winden und auf dem Gebiet des gesamten Strafrechts der Rolle eines
kritischen Beobachters gerecht zu werden.

83 Vgl. Peters, Die Umgestaltung des Strafgesetzes 1933-1945; Naucke,


RuS H. 417, S. 9 f.
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