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5 Die Historizität von Sprache

Mit der Erforschung der Entstehung und Entwicklung einer Sprache beschäftigt sich u. a. die Sprachgeschichte.
Sie umfasst die historische Lautlehre, die historische Grammatik und die Wortforschung. Sie versucht,
sprachliche Veränderungen aufgrund inner- und außersprachlicher Ursachen zu erklären. Da sich Sprache nur
in Verbindung mit den Sprachträgern entwickelt, muss Sprachgeschichte die Geschichte des jeweiligen Volkes
(der Sprachgemeinschaft) und die räumlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zu anderssprachigen
Völkern berücksichtigen, um so Beeinflussungen durch andere Sprachen und daraus resultierende
Veränderungen festzustellen.
Eine solche Untersuchung unterscheidet sich eigentlich nicht von der Forschung zur Gegenwartssprache. Bei
der Untersuchung der Sprache vergangener Epochen hat man jedoch mit dem Problem der Daten zu tun. Aber
eine Rekonstruktion historischer, vergangener Sprachstufen ist nichts anderes als eine Beschreibung von
Sprachzuständen, also eine synchrone Forschung. Diachron wird eine Sprachbetrachtung erst dann, wenn sie
ihren Blick auf das richtet, was zwischen synchronen Zeitschnitten liegt, auf den Wandel der Sprache.
Die Tatsache, dass Sprachen sich verändern, kann nach verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden:
1. Was wandelt sich in einer Sprache?
Wenn man sagt, die Sprache hat sich gewandelt, muss man bedenken, dass wir niemals einfach eine ganz
andere Sprache haben. Es verändern sich nur gewisse Einheiten und Regeln in bestimmten Bereichen. Vieles
bleibt jedoch unverändert.
Man fasst eine Sprache als einen Komplex von Teilsystemen von Einheiten und Regeln auf. In jeder Sprache
werden unterschieden:
 lexikalische Teilsysteme
 Teilsysteme von Einheiten und Regeln für die grammatische Korrektheit von sprachlichen Ausdrücken
(phonologische, morphologische, syntaktische Regeln)
 Teilsysteme von Regeln der pragmatischen Angemessenheit (angemessene Verwendung von Ausdrücken
in bestimmten Textsorten, Situationen usw.)
Nicht alles verändert sich mit gleichem Tempo und nicht alles auf einmal. Eine historische Einzelsprache ist zu
einem bestimmten historischen Zeitpunkt immer ein Nebeneinander von Ungleichzeitigem:
 von Varietäten, die schon den Geruch des Vergangenen an sich haben;
 von Varietäten, die als neu und damit provokativ betrachtet werden;
 von Varietäten dessen, was die Regel ist, anders: von Varietäten der Macht.
2. In welcher Geschwindigkeit und innerhalb welcher Grenzen wandeln sich Sprachen?
Sprachwandel ist partieller Einheiten- und Regelwandel. Ein starker Wandel wäre ein Wandel vieler Einheiten
und Regeln, ein schwacher Wandel ein Wandel weniger Einheiten und Regeln. Eine Sprache wandelt sich also
schnell, wenn sich viele Einheiten und Regeln pro Zeiteinheit verändern, und langsam, wenn es wenige sind.
Wenn wir von heute aus in die Sprachgeschichte zurückblicken, haben wir einerseits den Eindruck einer
kontinuierlichen Abstandsvergrößerung: auf der Zeitachse rückwärts erweisen sich immer mehr Einheiten und
Regeln anders als die heutigen. Andererseits wird dieses Bild der prinzipiellen Kontinuität der Vergrößerung
des Abstands immer wieder von wahren Brüchen gestört: In kurzer Zeit wandeln sich viele Einheiten und
Regeln. Das ist eine Art von Sprachrevolutionen. Ein Beispiel ist der Wandel im Deutschen im Spätmittelalter.
Der Blick zurück in die Geschichte einer Sprache zeigt uns nicht nur, dass mit zunehmendem Zeitabstand auch
immer mehr Einheiten und Regeln anders sind, sondern auch, dass gewisse Bereiche viel konstanter sind und
andere einem sehr schnellen Wandel unterworfen sind. Grammatische Regeln (besonders im Bereich der
Morphologie und Syntax) sind viel stabiler als z.B. der Wortschatz, als stilistische Regeln, als Regeln der
Sprachverwendung.
Außerdem verlaufen die Veränderungen selber in bestimmten Schrittfolgen, die nicht beliebig sind: eine
bestimmte Regel wird nicht beliebig durch eine andere Regel abgelöst werden; eine bestimmte Wortbedeutung
kann sich nicht von heute auf morgen in eine beliebige andere Wortbedeutung wandeln. Vielmehr geschieht
wortsemantischer Wandel als Verengung, Erweiterung, Verschiebung. Im Extremfall kann durch einen
metaphorischen Prozess eine sehr starke Bedeutungsveränderung passieren (z.B. Maus für Computermaus)
3. Wie beschreibt man Sprachwandel?
Hier geht es vor allem um die Frage an die Theorie, also: In welcher Gestalt präsentiert sich Sprachwandel in
der Sprachwandelforschung? Das lässt sich z. B. am lexikalischen Bedeutungswandel von geil illustrieren. In
Abhängigkeit von semantischer Theorie stellt sich dieser Bedeutungswandel von geil sehr verschieden dar.
Man kann sagen:
- dass es zur Veränderung der Gebrauchsregeln gekommen ist;
- dass sich die Ausdehnung von geil verengt hat und neuerdings wieder stark ausweitet: bei gleich bleibender
Welt fallen mal mehr, mal weniger Dinge unter diese Bezeichnung;
- dass geil nach dem Mhd. ein Sem (+Sexuell) dazu gewonnen hat und in letzter Zeit dieses Sem und wohl
noch weitere Seme, z.B. (menschlich) oder (Lebewesen) verliert.
4. Warum wandeln sich Sprachen?
Bei der Warum-Frage setzt man voraus, dass das Phänomen nicht Grund-los ist. Das liegt möglicherweise
daran, dass wir uns generell Veränderungen, Vorgänge kaum vorstellen können ohne eine wirkende Kraft, die
dahinter steht, ohne einen Grund. Ob etwas überhaupt einen Grund hat oder nicht vielmehr Grund-los ist, was
ein Grund ist oder sein kann, ist eine philosophische Frage. Was hat die Sprachwandelforschung zu bieten,
wenn es um die Antworten auf die Frage nach dem Grund des Sprachwandels geht. Insgesamt muss festgestellt
werden, dass man wenig sehr überzeugende Antworten antrifft. Die Erklärungen stellen oft bloße
Verschiebungen der Warum-Frage dar, so etwa in der Art: Warum ist die Straße nass? Weil Wasser darauf
gefallen ist. Warum ist Wasser darauf gefallen? Weil es geregnet hat.
Die heute angebotenen Erklärungen von Sprachwandel unterscheiden sich wesentlich. Das ist kein Wunder,
schon wenn man das komplexe Objekt – Sprache – berücksichtigt. Sie ist doch durch Vielgestaltigkeit der
Einheiten und Regeln sowie Regel-Teilsysteme gekennzeichnet. Außerdem hängt die Unterschiedlichkeit der
Erklärung sehr eng mit der Verschiedenheit der zugrunde liegenden allgemeinen Sprachtheorien und mit
Unterschiedlichkeit der Sprachdefinitionen.
Oft unterscheidet man zwischen sog. sprachsystemexternen und sprachsysteminternen Erklärungen.
Sprachsysteminterne Erklärungen beruhen auf einer Bestimmung der Sprache – wenigstens in einigen
Regelbereichen – als ein autonomes System mit eigenen inneren Gesetzen und Kräften. Hier hat der
Strukturalismus einige interessante Beiträge zur Erklärung des Sprachwandels geliefert. So setzte er für jede
Sprache das Prinzip der Ökonomie und das Prinzip der größtmöglichen Differenziertheit an. Es sind Prinzipien,
die im ewigen Widerstreit miteinander liegen: einerseits die Tendenz, Sprachausdrücke so kurz und knapp und
einfach wie möglich zu machen, andererseits die Tendenz, Sprachausdrücke so präzise und differenziert wie
möglich zu machen. Der Kampf dieser Prinzipien treibt die Veränderungen in der Sprache ständig voran.
Das sind aber sehr allgemeine, abstrakte Erklärungsversuche. In Wahrheit ist es so, dass nicht die Sprache
solche Tendenzen in sich trägt. Es sind eher die Tendenzen der Sprecher einer Sprache, die mit ihrem
individuellen und kollektiven und eben widersprüchlichen Bestreben die Sprache vorantrieben. Damit hätten
wir aber sprachsystemexterne Wirkungsfaktoren bzw. Erklärungsmöglichkeiten angesprochen: das sind einmal
die Sprechenden selber. Eine Neigung zur Ökonomie oder Differenzierung muss ihnen dabei keineswegs
bewusst sein.
Manche Wissenschaftler (z. B.) Rudi Keller sagten, dass beides ebenso falsch ist: wenn man sagt, die deutsche
Sprache verändert sich wie auch die Deutschen verändern ihre Sprache. Eine Metapher für Sprachwandel ist
für ihn das Phänomen des Staus auf der Autobahn. Wir wissen, wie solche Staus entstehen. Keiner will den
Stau, und er entsteht paradoxerweise aus dem individuellen Wollen vieler einzelner Autofahrer, dann aus ihrem
kollektiven Tun. Es ist also ein Resultat, das nicht das intendierte ist. Es ist also wie ein Prozess, der zwar nicht
ohne Menschen, aber auch nicht einfach in der Kontrolle der Menschen abläuft. (ein anderes Beispiel: Frisör).
Als sprachexterne Faktoren für Sprachwandelerklärung werden auch Sprachkontaktphänomene angesehen: der
Austausch zwischen Sprachen (vor allem im Bereich des Lexikons), aber auch eigentliche Sprachmischungen
bei Bevölkerungen, die aus irgendwelchen Gründen zwei- oder mehrsprachig werden. Weitere Faktoren, die
einen Sprachwandel determinieren, sind Veränderungen der Gesellschaft, der soziologische und kulturellen
Verhältnisse und der kommunikativen Bedürfnisse.
5. Wie wird der Sprachwandel von den Sprachbenutzern wahrgenommen?
Das Phänomen des Sprachwandels kommt nicht nur den Menschen zu Bewusstsein, die sich professionell mit
Sprachzeugnissen älterer Epochen beschäftigen. Es kann durchaus ein Teil einer außerwissenschaftlichen
Erfahrung sein. Dann werden die Fakten aber immer nur lokal, ungenau und entstellt wahrgenommen. Diese
Begrenztheit hat zur Folge, dass der Sprachwandel den Sprachbenutzern kaum je wertneutral bewusst wird. Sie
bewerten ihn, und diese Bewertung fällt in den seltensten Fällen positiv aus. Man klagt fast immer über den
Sprachzerfall, Niedergang der Sprachkultur, den Verlust der Sprache in einer Gesellschaft, deren junge
Generation die Muttersprache nicht mehr ausreichend beherrscht.
6. Haben die Sprachen einen Ursprung? Sterben Sprachen?
Sprache hat einen Anfang oder Ursprung, prinzipiell die menschliche Sprache überhaupt wie auch jede
historische Einzelsprache. Über den Ursprung der menschlichen Sprache überhaupt hat man schon immer
spekuliert und je nach wissenschaftshistorischem Gesamtklima religiöse, philosophische und soziologische
Antworten versucht. Neuerdings ist die Frage neu angeregt worden durch Erkenntnisse der Biologie,
Neurologie, Anthropologie, Paläontologie u. a.
Was irgendwann entstanden ist, kann auch wieder vergehen u. im Organismuskonzept der Sprache ist die
Möglichkeit ihres Todes systematisch angelegt. Einen ‘Tod’ der menschlichen Sprache überhaupt können wir
uns allerdings nur im Zusammenhang mit dem Tod der Menschheit denken. Hingegen spricht man oft von toten
historischen Einzelsprachen wie z.B. Latein.

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