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)
Kleine Kulturgeschichte der Haut
Ernst G. Jung (Hrsg.)
Kleine Kulturgeschichte
der Haut
z Literatur
1. Scholz A (1999) Geschichte der Dermatologie in Deutschland. Sprin-
ger Berlin
2. Wagner G, Müller WJ (1970) Dermatologie in der Kunst. Basotherm
GmbH, Biberach a d Riss, 120 S
3. Reitz M (2006) Kunst und ärztliche Diagnose. Expedition in die Wis-
senschaft Bd 1. Wiley-VCH, Weinheim, S 149–169
4. Kulessa H (2005) (Hrsg) Herznaht. Ärzte die Dichter waren – von
Benn bis Schnitzler, mit 33 Gemälden zur Medizin. Europa, Hamburg,
Leipzig, Wien, 224 S
5. Burg G, Geiges ML (2001) Die Haut, in der wir leben. Rüffer & Rub,
Zürich, 269 S
6. Burg G, Geiges ML (2006) Rundum Haut. Rüffer & Rub, Zürich, 238 S
Inhaltsverzeichnis
z Vom Schinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Ernst G. Jung
z Pigment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Ernst G. Jung
z Literarische Narben:
Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur . . 201
Norbert Greiner
Aus der Vielfalt der Entwicklungsentwürfe ist also im Laufe der Phyloge-
nese, gleichsam als optimale Auslese, die Haut des heutigen Menschen mit
ihren Anhangsgebilden entstanden. Die Phylogenese der Haut wird in ihren
Grundzügen also in der Ontogenese des menschlichen Keimlings wieder-
holt und setzt sich in der weiteren Entwicklung der Embryogene fort.
Die Epidermis der Wirbellosen (Invertebraten) ist mit Ausnahme der
Pfeilwürmer einschichtig.
Die Körperdecke aller Wirbeltiere ist stets aus zwei embryonalen
Schichten aufgebaut:
z Ektodermale Zellen bilden die Epidermis (Oberhaut); sie formen auch die
Sinnesorgane der Haut und die Drüsen, auch wenn diese Organe im reifen
Zustand nicht in der Epidermis liegen. Vereinzelte Pigmentzellen aus dem
Neuroektoderm kommen hinzu, sowie periphere Zellen des Immunsystems.
Die Epidermis ist ein mehrschichtiges Epithel (Ausnahme: beim Amphio-
xus ist sie einschichtig), wobei die basale Schicht als Keimschicht die Ver-
mehrungsfähigkeit bewahrt und epidermale Stammzellen enthält (Stratum
germinativum).
Die Isolation des Körperinneren und der Schutz gegen Verdunstung wird
viel wichtiger als bei den Wassertieren. Diese Rolle wird von einer ausgie-
bigen Hornbildung übernommen. Die Epidermis bildet ein vielschichtiges,
mächtiges Stratum corneum, welches sich kontinuierlich erneuert und
oberflächlich abschuppt. Diese Erneuerung kann durch rhythmische Abfol-
ge des Stratum germinativum mit dazwischen geschalteten, nicht verhor-
nenden Zwischenschichten zum wiederholten Abstoßen kompakter Schich-
ten führen (Abb. 2). So kommt es zu Häutungen bis zum Abstreifen der ge-
samten alten Körperdecke bei den Schlangen.
4 z E. G. Jung
Literatur
Moll I (1991) Die Entwicklung der Epidermis vom Fisch zum Menschen. Hautarzt
42:350–355
Portmann A (1959) Einführung in die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere.
Schwabe & Co, Basel, Stuttgart
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt
E. G. Jung
Embryogenese
a b
Abb. 2 a. Verlauf der Hautspaltlinien: Viele Effloreszenzen sind entlang dieser Spaltlinien aus-
gerichtet. b Verlauf der Blaschko-Linien
Vor allem beim Herpes Zoster (Gürtelrose), wobei die Virusinfektion aus
den Spinalganglien entlang der sensiblen Bahnen zentrifugal die Haut be-
fällt und ein oder mehrere Dermatome charakteristisch zeichnet. Dies er-
folgt streng segmental und zeigt nicht die axiale Verziehung der Blaschko-
Linien. Die Dermatome sind also später, eben nach der 8. SW und nicht
mehr unter dem Einfluss der Längsdehnung der Haut des frühen Keim-
lings, mit den einsprossenden Nerven versehen worden.
Die Epidermis ektodermaler Herkunft und die Dermis aus dem Mesoderm
werden durch eine hochkomplexe dermo-epidermale Junktionszone funk-
tional und mechanisch verbunden. Diese Strukturen sind im 4. Schwanger-
schaftsmonat schon deutlich ausgeprägt und der pränatalen Diagnostik zu-
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt z 11
V1
V1
C2
V2
V3
C3
C8
Th1 Th1
Th12
L1 C5
L5 C6
S1 L1 Th12
C6
C7 L2 S2
C8
C7 C8 L3
L4
S1 L5
S2
Abb. 7. Schema der segmenta-
len Nervenversorgung (Derma- S1
tome), nach welchem die Aus-
breitung des Herpes zoster er-
folgt
Es gibt noch eine dritte Art der Oberflächen-Einteilung unserer Haut, wel-
che das Wechselspiel zwischen Festigkeit und plastischer Verformbarkeit
derselben spiegelt. Es sind dies die nach dem Berliner Dermatologen Erich
Langer (1891–1957) benannten Langer-Spaltlinien der Haut, die sichtbar
sind (Abb. 2 a) und entsprechend besonderer Zug- und Druckverhältnisse
unsere Felderhaut zeichnen. Sie sind durch die dermale Verankerung be-
dingt und sollten bei der operativen Schnittführung tunlichst berücksich-
tigt werden. Viele Effloreszenzen ordnen sich entlang dieser Linien.
Anders als bei der Felderhaut am ganzen Körper, ist die Leistenhaut der
Palmae und Plantae durch besonders straffe Bindegewebssepten mit einge-
schlossenen Fettläppchen auf extreme Druck- und Scherkräfte eingerichtet.
Die eigenartigen Handlinien und deren Faltung zu Furchen reizen die
Cheirologen zum Handlesen und daraus abgeleitet gar zur Zukunftsdeu-
tung. Die Muster der Papillarleisten sind individuell unterschiedlich und
genetisch fixiert. Sie werden von Anthropologen, Kriminologen und Gene-
tikern benützt und neuerdings als „Genetischer Fingerprint“ im Rahmen
biometrischer Charakteristika auch zur Identifikation von Personen herbei-
gezogen.
Haut an Rücken, Gesäß und den Streckseiten der Extremitäten. Nicht von
ungefähr verwenden wir die mächtige Rückenhaut für die epikutanen
Läppchentests. Einerseits wird diese Partie wenig bewegt und anderseits
bildet die dicke Hornschicht beste Voraussetzungen zur optimalen Protein-
koppelung der zum Allergietest angesetzten Haptene.
Aber auch das dermale Bindegewebe mit seinen in gotischen Bogenfigu-
ren eingekammerten Fettläppchen, zeigt spezielle Topografie. Beim Mann
finden sich diese Depots vorwiegend tief periumbilikal, bei der Frau aber
um das Becken und die Hüften. Spezialisten meinen, dass damit dem wer-
benden Mann ein gebärfähiges Becken und ausreichende Energiereserven
für Trag- und Stillzeit gemeinsamen Nachwuchs signalisiert würden.
Die „Rubens-Figuren“ als Selektionsvorteil! So könnte es gewesen sein.
Aber neuerdings bleiben 40% der Akademikerinnen ohne Kinder, wissen
also diesen Vorteil gar nicht zu nützen, und Hungersnot besteht auch nicht.
Es bleiben von den Rubens-Figuren nur noch die Nachteile, zumal immer
mehr Haut gezeigt werden will. Also werden die sichtbaren und spürbaren
Oberflächeneffekte der Kammerung als Orangenhaut apostrophiert, negativ
besetzt und verabscheut.
Literatur
Blaschko A (1901) Die Nervenverteilung in der Haut in ihrer Beziehung zu den Er-
krankungen der Haut. In: Beilage zu den Verhandlungen der Deutschen Dermatolo-
gischen Gesellschaft: VII Congress zu Breslau, Mai, Vienna, Austria. Braunmüller
Happle R (1993) Mosaicism in Human Skin. Understanding the Pattern and Mecha-
nisms. Arch Dermatol 129:1460–1470
Happle R (1995) What is a Nevus? Dermatology 191:1–5
Jung EG (1988) Segmentale Neurofibromatosis (NF 5). Neurofibromatosis 1:306–311
Jung EG, Ulmschneider H (1996) Das moderne „Happle-Konzept“ der Naevi mit his-
torischen Bezügen. Akt Dermatol 22:129–131
Jung EG (1999) Was ist ein Naevus? Akt Dermatol 25:60–65
Jung EG (2000) Der segmentäre Morbus Darier. Akt Dermatol 26:325–329
Die Haut der Pflanzen
P. Leins
pflanzen zu tun haben. Ein weiteres Indiz bietet die Existenz eines Wasser-
leitgewebes (verbunden mit einem Assimilatleitgewebe), das sich in Form
eines schmalen Stranges in den Telomen zu erkennen gibt und die ober-
irdischen Teile der Pflanze mit Wasser aus dem Boden versorgt. Solche
Leitstränge oder Leitbündel durchziehen später alle drei Grundorgane:
Wurzel, Sprossachse und Blatt.
Eine zweite Haut wird notwendig, wenn eine Sprossachse oder Wurzel durch
sekundäres Dickenwachstum, ausgelöst durch die Tätigkeit eines Meristem-
rings, dem Kambium, ihren Umfang mehr und mehr ausdehnt, wie es bei-
spielsweise bei vielen Zweikeimblättrigen Blütenpflanzen, die sich zu Sträu-
chern oder Bäumen entwickeln, der Fall ist. Diesem Dilatationswachstum
halten die Epidermen nicht stand. Früher oder später zerreißen sie. Bevor
sie zerreißen, muss ein sekundäres Abschlussgewebe gebildet werden. Dieses
entsteht, indem in einer ringförmigen Zone Rindenzellen unter der Epider-
mis teilungsfähig werden und nach außen Korkzellen abgliedern. Chemisch
ist der Kork, das Suberin, strukturell verwandt mit dem Cutin und wird
ebenfalls in Form von Lamellen, zwischen denen sich Wachsfilme befinden,
abgelagert. Da der Kork wieder weitgehend wasser- und luftundurchlässig ist,
muss wiederum für den Gasaustausch durch Poren gesorgt werden. Solche
entstehen, indem lokal die vom Korkbildungsgewebe (Korkkambium) gebil-
Die Haut der Pflanzen z 17
deten Korkzellen sich aus dem Verband lösen und locker in einem kleinen
Kanal, umgeben von den Korkschichten, liegen. Diese Öffnungen sind oft
von außen als warzenartige Erhebungen (Lentizellen) zu beobachten. Im Ge-
gensatz zur Epidermis ist das Korkgewebe mehrschichtig und die Zellen ster-
ben, nachdem der Kork gebildet wurde, ab. Die toten Korkzellen sind dann
lufterfüllt und verleihen dadurch dem Korkgewebe seine Leichtigkeit. Nur
in relativ seltenen Fällen bleibt es bei der zweiten Haut, so z. B. bei der Buche,
bei der das Korkbildungsgewebe zeitlebens der Umfangvergrößerung des
Stammes folgt. Bei den meisten anderen Bäumen kommt es früher oder spä-
ter zur Bildung einer dritten Haut. Dabei entstehen unter der zweiten Haut
immer wieder neue Korkkambien, die jedoch nicht ringsum geschlossen
sind, sondern mehr oder weniger oberflächenparallele, konvexe oder konkave
Gewebeflächen darstellen, die nach außen oft vielschichtige dicke Korklagen
bilden. Die Korklagen schließen rings um den Stamm dicht zusammen und
blättern später, wenn unter ihnen wieder neuer Kork entsteht, als Ringel-,
Schuppen- oder Streifenborke ab.
Hautdünne Borken finden sich beispielsweise beim „Tourist Tree“ (auch
Gumbo Limbo [Bantu Name] oder Weißgummibaum genannt, Bursera si-
marouba), bei dem sich die dünnen Hautfetzen (wie bei den vor der Sonne
ungeschützten Touristen) an den Stämmen loslösen (Abb. 3). Eine sehr di-
cke Borke weist dagegen die Korkeiche Quercus suber auf, aus der u. a. die
Flaschenkorken ausgestanzt werden. In den Flaschenkorken müssen natür-
lich die langen Lentizellenkanäle quer orientiert sein, sonst wäre der Fla-
schenverschluss undicht.
18 z P. Leins
Bunte Pflanzenhäute
Beete Betalaine genannt werden und eine bunte Farbpalette bieten. Wäh-
rend die genannten Farbstoffe in riesigen Epidemisvakuolen gelöst sind,
befinden sich etwa beim Hahnenfuß gelbe Pigmente in Öltropfen, welche
die Epidermiszellen ausfüllen. Die Pigmente gehören zu den Karotinoiden,
die als Karotine orangerot, als Xanthophylle gelb gefärbt sind. Wenngleich
Farbstoffe wie Karotinoide und wohl auch die Flavonoide erdgeschichtlich
sehr alte Pflanzenpigmente darstellen, so begann es auf unserer Erde erst
vor etwa 140 Millionen Jahren so richtig bunt zu werden. Die Anhäufung
der Farbstoffe in den Blüten steht in Zusammenhang mit ihrer Signalisie-
rung für die neuen Überträger der Pollenkörner, die Insekten, die den
Wind als Transportmittel ablösten. Was wir an den bunten Blumen schön
finden, verdanken wir großenteils gefärbten Pflanzenhäuten, und diese sind
von hoher Funktionalität.
Literatur
1. Kidston R, Lang WH (1917) On Old Red Sandstone plants showing structure, from
the Rhynie Chert Bed, Aberdeenshire. Part I. Rhynia Gwynne-Vaughani Kidston &
Lang. Transactions of the Royal Society of Edinburgh 51:761–784
2. Barthlott W, Neinhuis C (1997) Purity of the sacred lotus or escape from contami-
nation in biological surfaces. Planta 202:1–8
Haut als Schriftträger
E. G. Jung, K. Zimmermann
Abb 1. (Cod. Pal. germ. 848, 6recto). Der Abb. 2. (Cod. Pal. germ. 848, 184verso).
Staufer-Kaiser Heinrich VI. (1165– 1197), Über das Leben des ersten großen Dich-
Sohn Friedrichs I. Barbarossa, wurde 1191 ters der hochhöfischen Zeit, Hartmann
in Rom zum Kaiser gekrönt. Seine Verse von Aue, ist wenig bekannt. Um 1160
sind vermutlich in seiner Jugend entstan- geboren, stand er als Ministeriale im
den, zurzeit des Mainzer Hoffestes 1184. Dienst eines Herrn von Aue, wohl bei
Die erste Miniatur der Handschrift ist in Freiburg gelegen. Er nahm 1189 oder
recht schlechtem Zustand, da sie ihrem 1197 an einem Kreuzzug teil und starb
repräsentativen Charakter entsprechend nach 1210. Seine „cristalînen wortelîn“
sicher am häufigsten gezeigt wurde rühmt Gottfried von Straßburg
Pergament, gefertigt aus tierischen Häuten, war also tausend Jahre lang der
hauptsächliche Schriftträger der Menschheit. Eine ganze Reihe von Pracht-
exemplaren menschlicher Kunst und Kultur werden von Pergament dauer-
haft getragen. Hervorragende Beispiele sind der Codex Manesse (Abb. 1 u.
2), ausschließlich auf Pergament gefertigt, und die Gutenbergbibel (Abb.
3), die noch teilweise auf Pergament, größtenteils aber schon auf Papier ge-
druckt wurde.
22 z E. G. Jung, K. Zimmermann
Codex Manesse
Der „Codex Manesse“, auch die „Große Heidelberger Liederhandschrift“ ge-
nannt, gehört ohne Zweifel zu den berühmtesten Handschriften der Univer-
sitätsbibliothek Heidelberg. Sie besteht aus 426 Pergamentblättern – also 852
Seiten – im Großfolioformat von ca. 25 ´ 35,5 cm. Mit fast 6000 Strophen von
140 Dichtern enthält sie die umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher
Lied- und Spruchdichtung aus der Zeit zwischen 1160/70 und 1330. Seinen
Ruhm als eine der schönsten und wertvollsten Handschriften des europäi-
schen Mittelalters verdankt der Codex Manesse vor allem seinen 137 ganzsei-
tigen „Autorbildern“, die die Liedersammlungen fast jedes der einzelnen Min-
nesänger einleiten (Abb. 1 u. 2). Die Miniaturen gehen auf vier Maler und de-
ren Gehilfen zurück. Der mit 110 Abbildungen größte Teil wurde vom so ge-
nannten Grundstockmaler zwischen ca. 1300 und 1315 erstellt. Seine Bilder
stellen Mode und Rüsttechnik dar, wie sie seit ca. 1230 üblich war und sind
durch eine besondere Einheitlichkeit und die typischen kräftigen, unver-
mischten Farben gekennzeichnet. Die drei ihrem Stil nach „moderneren“
Nachtragsmaler fertigten bis ca. 1330 die restlichen 27 Miniaturen.
Die Handschrift entstand im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts in oder
um Zürich. Ihren Namen „Codex Manesse“ trägt sie nach dem Züricher
Adelsgeschlecht der Manesse, deren Sammlung alter Liedtexte als eine der
Vorlagen verwendet wurde. Auf welchen Wegen die Handschrift in den Be-
sitz der Heidelberger Kurfürsten kam und somit zum Bestandteil der
berühmten „Bibliotheca Palatina“ wurde ist bislang nicht genau geklärt.
Nach 1596 ist sie jedenfalls als Eigentum Kurfürst Friedrichs IV. von der
Pfalz nachweisbar. Von seinem Nachfolger, Kurfürst Friedrich V., wurde der
Haut als Schriftträger z 23
Codex vor der Eroberung der Stadt Heidelberg durch die Truppen der ka-
tholischen Liga unter dem Feldherrn Tilly (1622) in Sicherheit gebracht
und auf der Flucht mitgeführt. Nach Friedrichs Tod im Exil wurde das Ma-
nuskript sehr wahrscheinlich von seiner Witwe in einer finanziellen Notla-
ge verkauft. Seit 1657 war der Codex dann im Besitz der königlichen Bib-
liothek, der späteren Bibliothèque Nationale in Paris, wo sie rund 230 Jahre
verbleiben sollte. 1888 konnte sie durch Vermittlung des Straßburger Buch-
händlers Karl Ignaz Trübner und mit finanziellen Mitteln des deutschen
Kaiserhauses im Rahmen eines komplizierten Ringtausches zurückerwor-
ben werden und kehrte so nach Heidelberg zurück.
Die Gutenbergbibel
Die 42-zeilige Bibel (B 42) gilt als Krönung der Druckkunst Johannes Gu-
tenbergs ({1468). Das zweibändige Werk mit insgesamt 1282 Seiten ent-
stand in der Blüte seines Schaffens unter Mitwirkung von etwa 20 Mit-
arbeitern. Gutenberg, dessen eigentlicher Familienname Gensfleisch zur La-
den lautete, wurde um das Jahr 1400 vermutlich in Mainz geboren. Um
1438 unternahm er in Straßburg, wo sich seine Familie niedergelassen hat-
te und wo er sich als Goldschmied und Spiegelmacher nachweisen lässt,
erste Versuche mit dem Drucken. Zurückgekehrt nach Mainz etablierte er
um 1450 mit finanzieller Hilfe des Kaufmanns Johannes Fust eine Presse,
in der er wenig später mit dem Druck der großen nach ihm benannten la-
teinischen Bibel begann. Fertiggestellt wurde sie zwischen 1452 und 1455.
Gedruckt wurde schon vor Gutenberg und zwar mithilfe des Holzdrucks,
bei dem auf einen mit Farbe versehenen Holzstock Papier gelegt und abge-
rieben wurde. Dieses Verfahren war verhältnismäßig aufwändig; jeder
Druckstock musste neu geschnitzt werden, Korrekturen und Veränderun-
gen der Druckseite waren so gut wie unmöglich. Das Neue an Gutenbergs
Erfindung der beweglichen Lettern war die Zerlegung des Textes in seine
Einzelelemente wie Klein- und Großbuchstaben, Satzzeichen, Ligaturen und
Abkürzungen. Diese einzelnen Teile konnten als seitenverkehrte Lettern
mithilfe eines Handgießinstruments in beliebiger Anzahl gegossen und an-
schließend zu Wörtern, Zeilen und Seiten zusammengefügt werden. Für die
42-zeilige Bibel hatte Gutenberg 290 verschiedene Figuren und Lettern gie-
ßen lassen. Das zum Gießen verwendete Metall bestand aus einer Legie-
rung aus Blei, Zinn und weiteren Beimischungen, die ein schnelles Erkalten
und eine ausreichende Dauerhaftigkeit unter dem hohen Druck der Presse
gewährleistete. Farbige Initialen und Zeichen wurden nach dem eigentli-
chen Druck von einem Illuminator und einem Rubrikator eingefügt.
Von den insgesamt 180 Exemplaren der Gutenbergbibel waren vermut-
lich 150 auf Papier und die restlichen 30 auf Pergament gedruckt. Heute
existieren auf der ganzen Welt nur noch knapp 50, zum Teil unvollständig
erhaltene Stücke. Als im Jahr 1987 eine der noch erhaltenen Bibeln in den
24 z E. G. Jung, K. Zimmermann: Haut als Schriftträger
Handel kam, lag der Kaufpreis bei knapp 10 Millionen DM. Damals der
höchste Preis, der je für ein Druckwerk bezahlt worden war.
Die Gutenbergbibel gehört bis heute zu den schönsten gedruckten Büchern
der Welt. Das Verhältnis von Höhe und Breite der Seiten entspricht dem Gol-
denen Schnitt, der Satzspiegel ist genau so hoch, wie die Buchseite breit ist.
Dadurch entsteht das als sehr harmonisch empfundene Aussehen der einzel-
nen Buchseiten (Abb. 3). Gutenberg hat bewiesen, dass die „Schwarze Kunst“
den Handschriften ästhetisch Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte, seine
Erfindung brachte einen Umbruch in der Welt der Schriftlichkeit. Die hier-
durch beförderte Verbreitung von Wissen und wissenschaftlichen Erkennt-
nissen wurde zu einem Meilenstein in Richtung Neuzeit.
Pergament ist seit fast 600 Jahren als Schriftträger weitgehend durch Pa-
pier und neuerdings durch die elektronischen Medien ersetzt worden. Zu-
weilen wird es noch verwendet für Urkunden, Chroniken und bibliophile
Bucheinbände. Dies soll dem Unterfangen Alter, Tradition, Würde und Be-
stand verleihen.
Um solche Aussage im Falle von grundsätzlichen Regeln und Gesetzen, de-
nen unabhängig von Ort und Zeit ewige und unverrückbare Geltung zu-
kommt, noch zu steigern, hat Dr. Fritz Bauer (1903–1968, hessischer General-
staatsanwalt 1956–1968, verantwortlich für den Auschwitz-Prozess in Frank-
furt a. Main 1963–1965) von menschlichen Grundrechten ausgesagt, „sie sol-
len nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche Menschenhaut geschrie-
ben werden“ [1]. Diese würzige, ja markige Metapher meint im übertragenen
Sinne, besonders bedeutungsträchtiger menschlicher Grundaussage kann
nur die wertvolle und sensible Menschenhaut als Schriftträger gerecht wer-
den. So mag man das hinnehmen. Ernst und wörtlich genommen, wie es ge-
legentlich durch die Historie geistert, würde ein scheußlicher Verrat an den
Menschenrechten erst zu deren Verewigung führen. Es müsste ja der unge-
heuerliche Frevel des Schinden eines Menschen zur Gewinnung seiner Haut
vorweg geschehen. Also eine schreckliche Verhöhnung eben der festzuhalten-
den Menschenrechte. So darf es nicht gehen. Und ebenso gehört der häutige
Schirm der Leselampe als Gräuel der Zeitgeschichte begraben.
Es bleibt dabei, Pergament wird aus tierischen Häuten gefertigt und ist
weitgehend überholt, obschon es in der Redewendung noch anklingt, wenn
von einem Schreiber gemeint wird: „mit seiner Feder zieht er vom Leder“.
Abgelöst wurde Pergament vom Papier, ebenfalls unbelastet, von dem es
heißt: „Papier ist geduldig und nimmt alles an“. Es bleibt dabei, der
Schriftträger kann keine Verantwortung tragen für das, was auf ihm drauf
geschrieben steht. Der Autor ist verantwortlich!
Literatur
1. Bauer F (1998) Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. In: Pereis
J, Wojak I (Hrsg) Campus, Frankfurt
Nothelfer der Haut
in der christlichen Ikonographie
D. Mußgnug
1
Vgl. 3. Mose 13, 1–46 und 14, 1–20: Beschreibung des Aussatzes bei Menschen und
Reinigungsvorschriften.
26 z D. Mußgnug
mit Wasser gemengt und dies (hier von Christus) dem Kranken aufgetra-
gen. Ein Vogel fliegt mit den Lepra-Flecken davon (Abb. 2 a, b).
Im Pisaner Campo Santo findet sich eine der ersten realistischen Dar-
stellungen eines Lepra-Kranken. Auf den großen Wänden des Innenhofs
waren neben Darstellungen zum „Jüngsten Gericht“ und der „Hölle“ auch
ein sehr großes Fresko „Triumph des Todes“ zu Beginn des 14. Jahrhun-
derts in Auftrag gegeben worden, also zu einer Zeit, als die ersten großen
Pestepidemien in Italien um sich griffen. Dieses Fresko läßt sich, so Bel-
ting2, als Darstellung der Todesmacht beschreiben, die alle weltliche Hoff-
nung zunichte macht. Das wird besonders in dem hier gezeigten Bildaus-
schnitt deutlich: der Lahme, der Bettler und der verkrüppelte Lepra-Kranke
flehen vergebens den Tod um Erlösung an (Abb. 3).
Die Zahl der Heiligen, die bei Hautkrankheiten – sofern man darunter
so unspezifisch wie möglich alle Arten von sichtbaren Hautleiden versteht
– angerufen werden können, ist sehr groß. Mehr als vierzig Heiligen wird
ein Patronat bei der Pest zugeschrieben, eine Zahl, die um Lokalheilige
noch erheblich zu vermehren wäre.
Zu den früh verehrten Märtyrern gehört Sebastian, der wahrscheinlich
um 288 in Rom starb. Da er an seinem Glauben festhielt, ließ ihn (nach
der Legenda Aurea3) Kaiser Diokletian an einen Baum binden und durch
Bogenschützen erschießen. Solche Pfeile als „Pestpfeile“ zu deuten, ent-
sprach alter Tradition. Homer beginnt die Ilias mit der Erzählung, dass
Apollo seinen von den Griechen nicht geachteten Priester rächt: Er be-
schießt mit seinen Pfeilen zunächst das Vieh, dann die Griechen selbst,
2
Hans Belting, The new Role of Narrative in Public Painting of the Trecento: Historia
and Allegory, in: Studies in the History of Art 16, 1955, S. 162. Das Fresko wurde ur-
sprünglich Fr. Traini zugeschrieben, jetzt Buonamico Buffalmacco (tätig 1315–1336,
nach Vasari 1340 gestorben) zugeordnet. Vielfach diskutiert wird der Einfluss Dan-
tes auf solche und ähnliche Malereien und Themenstellungen.
3
Die Legenda Aurea verfasste Jacobus de Voragine etwa 1263/1273, deutsche Überset-
zung von Richard Benz, Heidelberg 1979.
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 27
worauf ein großes Peststerben bei ihnen beginnt.4 Sebastian wurde bereits
in der „Depositio martyrum“, einem „Heiligenkalender“ des Jahres 354, ge-
nannt. Die in Rom und Pavia 680 ausgebrochene Pest („ein großes Ster-
ben“) erlosch erst, nachdem „einem guten Menschen von Gott kund getan“
worden war, dass die Reliquien des heiligen Sebastian von Rom nach Pavia
zu überführen seien und ihm dort eine Kirche gewidmet werden sollte.
Zahlreiche Legenden sind zum Leben des Bischofs Silvester überliefert
(gest. 31. Dezember 335). Noch unter Diokletian zum Priester geweiht
(284) wurde er ein Jahr, nachdem Kaiser Konstantin das Christentum zur
Staatsreligion erklärt hatte, Bischof von Rom. Die „Konstantinische Schen-
4
Im griechischen Originaltext spricht Achill von „loimos“ - tödlicher Pest, etymolo-
gisch „limos“ – „Hungersnot“ – nahe verwandt; Hinweis von Prof. Dr. N. Knauer.
28 z D. Mußgnug
kung“ ist mit seinem Namen verknüpft. Einer späten Legende nach soll er
Kaiser Konstantin vom Aussatz geheilt haben – „Aussätzige“ erflehten des-
halb Hilfe von ihm.
Beim Auftreten von Hautkrankheiten aller Art, Lepra, Pest, Syphilis,
Tierseuchen u. a. m., wurde der in Ägypten lebende Antonius d. Gr. (geb.
um 250, gest. um 356) angerufen. Als junger Mann hatte er seinen Besitz
verkauft und zog sich in die Einöde zurück. Es erschienen ihm böse Geis-
ter und „mancherlei greulicher Tiere Gestalt und zerzerrten ihn ... mit ih-
ren Hörnern und Zähnen und Krallen gar jämmerlich“ (Legenda Aurea).
Doch er widerstand allen Versuchungen und Plagen. Obgleich Antonius
sich immer wieder in die Einsamkeit zurückzog, besaß er bereits zu Leb-
zeiten einen großen Einfluss. Er wurde früh verehrt, im Osten als vorbild-
licher Eremit, im Westen als „Wundertäter und Krankheitspatron“. Hier sei
verwiesen auf Boschs Gemälde (Lissabon) und Grunewalds Isenheimer Al-
tar, beides Belege für die häufige Darstellung des heiligen Antonius im
16./17. Jahrhundert.
Vor allem in Frankreich wurde Markulf (Marcon) von Nauteuil (geb. 490
in Bayeux, gest. 1. Mai 558 in Nanteuil) verehrt. Beim Einfall der Norman-
nen 906 wurden seine Reliquien in die Nähe von Reims (Corbény)
überführt. Diesen Ort suchten die französischen Könige nach ihrer
Krönung auf und wurden dabei durch Marculf mit der Gnade ausgestattet,
selbst Skrofulöse zu heilen (Abb. 4). Sigmund Freud berichtet spöttisch
über ähnliche Heilungen der englischen Könige Karl I. (1625–1648) und
Karl II. (1660–1685).5
Über das Leben des heiligen Fiakrius (geb. um 610 in Irland, gest. am
18. August 670 in Meaux, Frkr.) ist sehr wenig bekannt. Er musste aus Ir-
land fliehen, lebte als Einsiedler in Frankreich und legte um seine Behau-
sung einen Garten mit sehr vielen Heilpflanzen an. Erst um 1170 erscheint
sein Namen in irischen Martyrologien, etwa seit 1500 wird er im Elsaß ver-
5
Sigmund Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke Bd. 9, London 1948, S. 54.
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 29
Abb. 6. Quinten Massys (1465/66 – 1530), Flügelaltar. Alte Pinakothek München, Erläuterun-
gen zu den ausgestellten Werken, München 1983, S. 311
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 31
lich. Er starb wahrscheinlich an der Pest. 28 Jahre nach seinem Tod wurde
er selig, 1610 von Papst Paul V. heilig gesprochen.
Eine ähnliche vita ist von seinem Schüler Aloisius (Luigi) von Gonzaga
(geb. am 9. März 1568 in Mantua, gest. am 21. Juni 1591 in Rom) überlie-
fert. Als Erbprinz geboren trat er gegen den Willen seines Vaters in den Je-
suitenorden ein. Er widmete sich in Rom theologischen Studien, vor allem
aber setzte er sich für die Pflege Pestkranker ein. Auch er steckte sich an
und starb. Paul V. sprach ihn ebenfalls selig, 1726 wurde er heilig gespro-
chen.
Borromäus und Aloisius von Gonzaga sind oft zusammen dargestellt. Sie
gelten als Schutzheilige für Pestkranke, der als überaus keusch beschriebe-
ne Aloisius auch als Patron der studierenden Jugend. Neuerdings wird bei-
den ein Patronat für AIDS-Kranke zugeschrieben.6
Literatur
1. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1975 ff) Friedrich Wilhelm Bautz
und Traugott Bautz (Hrsg) Bautz, Hamm, Herzberg, bislang 23 Bde
2. Flood JL (1996) Alte Heilige, neue Krankheiten. Wechselbeziehung zwischen Heili-
genverehrung und Heilkunde um 1500. In: Jackson TR, Palmer NF, Suerbaum A:
Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Niemeyer, Tübingen,
pp 197–213
3. Klingmüller V (1930) Die Lepra. In: Jadassohn J (Hrsg) Handbuch der Haut- und
Geschlechtskrankheiten, Bd 10, 2. Teil. Springer, Berlin, pp 1–805
4. Grön K (1930) Lepra in Literatur und Kunst. In: Jadassohn J (Hrsg) Handbuch der
Haut- und Geschlechtskrankheiten, Bd 10, 2. Teil. Springer, Berlin, pp 806–842
5. Kaiser-Minn H (1983) Die Entwicklung der frühchristlichen Sarkophagplastik bis
zum Ende des 4. Jahrhunderts. In: Stutzinger D: Spätantike und frühes Christen-
tum. Ausstellung im Liebighaus. Liebig Haus, Frankfurt, pp 318–338
6. Braunfels W (Hrsg) (1968–1976) Lexikon der Christlichen Ikonographie, 8 Bde.
Herder, Freiburg
7. Ökumenisches Heiligenlexikon: www.heiligenlexikon.de
8. Schiller G (1966–1980) Ikonographie der christlichen Kunst. Bd 1–4,2. Gütersloher
Verlagshaus, Gerd Mohn, Gütersloh
6
Darstellung im Ökumenischen Heiligenlexikon, Stichwort Aloisius (Luigi) von Gon-
zaga; Digital- Edition. Zur Heiligenverehrung äußerte sich Papst Johannes Paul II.
in seinem Apostolischen Schreiben Motu Proprio“ (1. 10. 1999): „. . . Darum hat das
Volk Gottes seit ältesten Zeiten die Heiligen als Beschützer angesehen . . . Manchmal
geschah es auf Drängen der Gläubigen, dem die Bischöfe nachgaben, dann wieder
auf Initiative der Bischöfe selbst“; Apostolisches Schreiben 140, hg. von der Deut-
schen Bischofskonferenz. Einen verbindlichen Rechtstext zur Zuschreibung der Pa-
tronate gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Für Hinweise danke ich Prof. Dr. Georg
Bier, Freiburg.
Dermatologische Aspekte in Märchen
E. G. Jung
Das eigene Blut von unschuldig getöteten und geköpften Menschen ver-
mag Köpfe wieder anwachsen zu lassen und Leben zu geben. Blut zur
Wundheilung und als Lebenselexier.
Eine gewisse Analogie zeigt sich im Märchen Gevatter Tod aus der Mär-
chensammlung aus dem Thüringerland von Ludwig Bechstein [8], zusam-
mengetragen 1835–1888, in welchem auch ein Lebenselixier vorkommt; ein
sehr armer Mann suchte für sein jüngstes, das 13. Kind, einen Paten. Den
lieben Gott schlug er, ebenso wie den Teufel, aus und akzeptierte schließ-
lich Gevatter Tod als Taufpaten. Dieser schenkte dem Heranwachsenden als
Patengeschenk das „rechte wahre Heilkraut“, er soll ein Doktor über allen
Doktoren werden. Dazu sprach er: „Verwende es, wenn du zu einem Kran-
ken gerufen wirst, nur dann zur Heilung, wenn du mich zu Häupten des
Kranken siehst. Siehst du mich zu Füßen, so ist ihm nicht zu helfen und
du sollst ihm nicht vom Kraut geben. Brauchst du das Heilkraut aber gegen
meinen Willen, so wird es dir übel ergehen.“ Der Jüngling ging in die Welt
und verfuhr wie geheißen, er wurde weit herum berühmt als Arzt. Ein tod-
kranker König rief ihn und versprach ihm hohen Lohn für Heilung. Er sah
die reizende Königstochter zu Häupten, den Tod aber zu Füßen stehen.
Flugs ließ er den König umdrehen, verabreichte ihm Tropfen vom Heilkraut
und der König wurde gerettet. Der betrogene Tod aber wich und drohte
seinem Patensohn. Dieser aber entbrannte in Liebe zur Königtochter, die
bald darauf selber schwer erkrankte. Herbeigerufen fand er den Tod wiede-
rum zu Füßen stehen und verzweifelte, zumal der Tod sich nicht erweichen
34 z E. G. Jung
ließ. Erneut ergriff er seine List; ließ das Lager der Königtochter umdre-
hen, gab ihr vom Heilkraut und sie genas. Der Tod aber ließ sich nicht
zweimal hintergehen, nahm den Patensohn mit eiskalter Hand mit in seine
Höhle, wo für jeden Menschen eine Kerze als Lebenslicht brannte. Er krieg-
te sein eigenes gezeigt, das beinahe zu erlöschen drohte, und bat um Ver-
längerung durch Aufstecken einer neuen Kerze. Der Tod aber löschte mit
der neuen Kerze die alte, worauf der Patensohn tot hinsank.
Ein Heilkraut als Lebenselixier, aber nur anzuwenden nach Maßgabe von
Gevatter Tod. Missbrauch wird grimmig bestraft. „Wider den Tod kein
Kraut gewachsen ist“ endet das Märchen.
Der Fischer, der Dämon und der versteinerte Prinz, oder in anderer Über-
setzung „Der Fischer und der Geist“. Ein armer Fischer fängt im Netz eine
Dermatologische Aspekte in Märchen z 35
Flasche mit dem Siegel des biblischen König Salomon, welcher nach Eröff-
nung Ifrit, ein mächtiger und drohender Geist, entsteigt (Abb. 1). Dieser
erzählt dem Fischer, dass er vor 1800 Jahren von König Salomon, dem
Sohn Davids, wegen Weigerung eines Bekenntnisses zum rechten Glauben
zur Strafe in die Flasche gebannt wurde. Jetzt endlich befreit, sagte er dem
Fischer den Tod an. Den ungläubigen Fischer zu überzeugen, zeigte der
Geist, dass er wirklich aus der Flasche kam, und wurde vom Fischer flugs
wieder dort gefangen. Auch hier bat er um eine zweite Chance, bekam die-
se und versprach, den Fischer reich zu belohnen. Er kündigt ihm beim
nächsten Fischzug zwei wundersame Fische an und bot jederzeit Hilfe für
den Notfall.
Zwei sprechende Wunderfische fing er und brachte diese seinem König.
Sie erzählten von einem festsitzenden, sehr traurigen Prinzen, den nun
König und Fischer zu suchen sich aufmachten. Sie fanden ihn in einem
isolierten Schloss, den Unterleib zu Marmor erstarrt (eher ein Aussätziger
in anderer Version), die Stadt zum See und die Bewohner in Fische ver-
wandelt. Der herbeigerufene Flaschengeist befreite Prinz, Stadt und Men-
schen, allerdings ohne ein handgreifliches Hilfsmittel, welches auch ander-
weitig angewendet werden könnte. Der teilversteinerte Prinz wird durch
die Lösung vom Bann wieder gesund.
Entfernt kann man an die Wunderheilung einer Sklerodermie oder einer
anderen Sklerose der unteren Körperhälfte (Werner-Syndrom?) denken. Die
beiden Märchen passen zusammen, haben aber unterschiedliche, regional
geprägte äußere Umstände; Eiche da und Fischzug dort. Während der Geist
in der orientalischen Version eine einmalige Wunderheilung bewirkt, spen-
det er in der deutschen Erzählung ein Wundheilpflaster zur wiederholten
36 z E. G. Jung
Gut und Böse werden extrem polar dargestellt, scharf und apodiktisch ge-
trennt. Die Guten werden belohnt durch langes und glückliches Leben so-
wie den sozialen Aufstieg; Verheiratung mit der Prinzessin oder Hochzeit
mit dem bewährt guten Helden. Die Bösen werden bestraft, Gefangenschaft,
Verbannung und Verwandlung sind die reversiblen Strafen, meist aber wird
das Leben verwirkt, und das ist irreversibel. Da es aber auch ungerecht,
falsch oder zu hart Bestrafte gibt, wird für deren Reversibilität ein zusätz-
liches Element eingebracht, das wunderbare Heilkraut, das Wunden heilt,
Körperteile wieder anwachsen lässt und als Lebenselixier zum Leben wie-
der erweckt. Dieses wundersame Heilkraut entstammt der pflanzlichen Na-
tur, Phytomedizin also, ist den Menschen nicht zugänglich und wird von
einer übernatürlichen Gewalt verliehen, mit Auflagen belegt und kontrol-
liert. Missbrauch wird vom Gevatter Tod nach einmaliger Mahnung mit
dem Tod bestraft, das Heilkraut verfällt und kann nicht weiter wirken. In
den drei „Schlangenblättern“ steht es dem König und dessen auf Leben
und Gedeih ergebenen Diener je einmalig zur Verfügung. Eine weitere Ver-
wertung gibt es nicht. Dies aber ist der Fall in der hessischen Version vom
„Geist im Glase“, wo dem braven Schüler das Heilkraut zur segensreichen
Anwendung der Wundheilung an die Hand gegeben wird. Auch hier er-
lischt das Kraut mit dem Ableben des Trägers, eine Weitergabe entfällt und
eine „Medizinschule“ erwächst daraus nicht.
Es sind also die wundersamen Ziele künftiger Wundbehandlung ange-
sprochen, die Wege dazu aber mit keinem Gedanken erwähnt. Märchen zei-
gen weniger Wege in die Zukunft als solche „nach innen“, Entwicklungen
der Seele, Ausprägung von Eigenschaften, Findung seiner selbst etc. Fund-
gruben der Psychologie.
Dermatologische Aspekte in Märchen z 37
Damit stehen die Märchen im Gegensatz zu den antiken Sagen, die so-
wohl Wege als auch Ziele ansprechen. So im Gilgamesch-Epos, wo dem
Helden die Gottgleichheit und das ewige Leben zwar versagt, wohl aber die
bleibende Wirkung und Erinnerung seiner Werke und Taten angekündigt
wird (Nachhaltigkeit). Bei den Griechen bringt Prometheus das göttliche
Feuer zu den Menschen. Er wird dafür bestraft, die Menschen aber wah-
ren, nützen, pflegen und wenden das Feuer an, zu Nutzen und zu Schaden.
Erotische Geschehen sind nur knapp angesprochen und sie werden ver-
niedlicht. Dies mag dem Sprachgebrauch und den Tabus der romantischen
Zeit der Aufzeichnung entsprechen. Auffällig ist die große Zahl vorehe-
licher Schwangerschaften bei den Prinzessinnen und den Gefährtinnen der
erfolgreichen und bescheidenen Helden. Dies beschäftigt die Psychologie
seit hundert Jahren.
Literatur
1. Anzieu D (1991) Das Haut-Ich. Suhrkamp, Frankfurt aM
2. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. 2.
Aufl. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbeck bei Hamburg
3. Condrau G, Schipperges H (1994) Unsere Haut. Kreuz-Verlag, Zürich
4. Mittag H (2001) Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext.
Universitätsbibliothek Marburg
5. Schipperges H (1968) Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola 20:3–10
6. Kathan B (2004) Zur Genese des modernen Organverständnisses – Rhinoplastiken
und Handtransplantationen in literarischen Bearbeitungen. Akt Dermatol 30:226–
228
7. Kinder- und Hausmärchen (1984) gesammelt durch die Gebrüder Grimm, in 3 Bän-
den. Insel Taschenbuch (it 829)
8. Bechstein L (1992) Märchen. Thienemanns, Stuttgart Wien
9. Tausendundeine Nacht (2004) Übersetzung von Claudia Ott. Beck, München
Tiergestaltige Veränderungen der Haut
in Märchen
E. G. Jung
z Deutung: Ein spätes Einzelkind wurde mit einem Stachelkleid der beiden
oberen Quadranten geboren. Dies erinnert an einen „hystrix-artigen“ Halb-
körper-Nävus (Abb. 1), der im Erwachsenenalter sich auswächst resp. ab-
heilt. In diesem Fall durch Glück und Ehe und unter der lokalen Bleichbe-
handlung des Arztes. Von Erblichkeit ist nicht die Rede.
Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen z 39
Ein kinderloses Königspaar bekam endlich einen Sohn, der aber nicht wie
ein Menschenkind aussah, er war ein junges Eselein. Er wurde als fröhli-
ches Königskind aufgezogen, fand Freude an der Musik und erlernte von
einem Spielmann die Laute zu schlagen. Als er sich im Spiegel eines Brun-
nens sah, erschrak er und ging auf Wanderschaft. An einem anderen
Könighof wurde er ob seines trefflichen Spiels zugelassen und zu den
Knechten gesetzt. Dem widersprach er und gelangte an die Königstafel, ne-
ben die Königstochter. Sie gefiel ihm gut und beide wurden vermählt.
In der Brautnacht warf er die Eselshaut ab, die Ehe wurde fröhlich voll-
zogen und am Morgen trug er wieder die Tierhaut. Diener hinterbrachten
die Geschichte dem König, der in der folgenden Nacht das wieder ausgezo-
gene Eselskleid wegnahm und verbrennen ließ. Erschrocken aufgewacht,
empfing ihn der König, bat ihn zu bleiben, kleidete ihn mit dem König-
mantel und machte ihn zum Thronfolger. Von Kindern ist nicht die Rede.
z Deutung: Harte Arbeit auf dem Land und im Wald bewirkt vorzeitige Al-
terung, die durch Glück und Fügung rückgängig gemacht werden kann.
Perfektes Anti-Aging-Programm!
40 z E. G. Jung
In Anlehnung an „Hans mein Igel“ und an „Das Eselein“ ist das Tiroler
Märchen „Vom Kalberlkönig“ zu sehen.
Ein kinderloses Königspaar bekam noch einen späten Sohn, aber er war
ein Kalberl. Er ging dennoch zur Schule, ja zur Universität; er wurde gar
Ritter und zog ins Land. Die jüngste Königstochter heiratete ihn. In der
Nacht zog er jeweils die Tierhaut aus und war ein wunderschöner Jüngling.
Sie wussten das Geheimnis zu hüten, bis die Gattin, der steten Fragen
überdrüssig, die Tierhaut in der Nacht verbrannte. Er wanderte weg und
die junge Königin suchte ihn bis ans Ende der Welt, wo sie ihn aus Haus
und Bann einer Hexe befreien musste. Jetzt erst lebten sie glücklich bis an
ihr Ende.
Bei „Hans dem Igel“ betrifft die somatische Mutation die beiden oberen
Quadranten. Als er aus Dankbarkeit für geleistete Hilfe der Königstochter
anvermählt wurde, vermag er in der Brautnacht das tierähnliche „Igelkleid“
wegzulegen, welches zur Verhinderung der Wiederkehr gleich verbrannt
wurde. Die verbleibende Dunkelpigmentierung konnte vom Arzt durch lo-
kale Anwendungen gebleicht werden, sodass „Hans der Igel“ nicht nur sei-
nen Makel ablegte, sondern auch als Schwiegersohn des Königs adäquat
und glücklich weiter lebte.
Man denkt am ehesten an einen hystrix-artigen oder einen dyskeratoti-
schen (Abb. 1) Teilkörpernävus [3] oder einen großflächigen Tierfellnävus
mit wulstiger Oberfläche und borstigem Haarbesatz (Abb. 2). Solche ange-
borene Nävi können in der Tat in der Jugend teilweise auswachsen und ab-
blassen. Dieses scheint hier als Ziel vorzuschweben und ebenfalls die
Wunschvorstellung, pigmentierte, ja schwarze Haut durch äußere Behand-
lung aufzuhellen. Ein Traum ganzer Völker und Rassen, wie er immer wie-
der erinnert wird durch Personen öffentlichen Interesses, z. B. durch Mi-
chael Jackson.
Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen z 41
Anders gelagert ist die Situation bei der „Gänsehirtin am Brunnen“, die in
drei Jahren schwerer Arbeit in Hof und Feld, offenbar teils im Waldesdun-
keln, teils in der Sonne, eine verbrauchte Altershaut bekam mit graufader
Kopfbehaarung. Nach Ablauf der zugedachten Zeit vermochte sie am „Jung-
brunnen“ sowohl die vorgealterte Haut als auch die angegrauten Haare und
die drückende Erinnerung an die schwere Zeit spurlos abzulegen. Als Königs-
tochter wurde sie wiedererkannt, belohnt und glücklich vermählt.
Hier ist weder eine Erblichkeit noch die Vorstellung eines Nävus zu stra-
pazieren. Viel eher handelt es sich um die Vergegenwärtigung des Traumes
des modernen Menschen von der idealen, effektiven und unschädlichen
Anti-Aging-Behandlung.
Ganz anders muss man den Symbolgehalt der Tierhaut bei Menschenkin-
dern im Märchen „Das Eselein“ betrachten. Die Haut steht für ein zusam-
mengesetztes Konstrukt eines Menschen, mit menschlicher Lernfähigkeit,
besonders guter und erfolgreicher sogar, und tierhaftem Aspekt. Das Motiv
wird im Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig“ und im rumänischen „Mirko,
dem Borstenkind“ aufgenommen. Immer sind es Königskinder, Prinzen, als
spät geborene Einzelkinder, die als Eselein, Kalb oder Ferkel zur Welt kom-
men. Ihre Lernfähigkeit und auch ihr Verhalten aber zeigen, dass es sich
um wertvolle Menschenkinder handelt, denen ein tierhaftes Äußeres ange-
boren ist. Dies wird durch die Tierhaut ausgedrückt. Es scheint eine
42 z E. G. Jung: Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen
Prüfung der Eltern und deren Kinderwunsch zu sein, kann aber von den
Eltern selber nicht gelöst werden. Nur durch eigene Bewährung als wert-
volle Menschen im Zusammenwirken mit der liebevollen Aufnahme in die
oberste Gesellschaft, die Vermählung mit einer Prinzessin, wird gezeigt,
dass die Tiergestalt durch nächtliches Weglegen der Tierhaut reversibel ist.
Entschlossenes Handeln durch Verbrennen der abgelegten Tierhaut gehört
dazu. Es braucht also die innere Größe, Sicherheit und Reife des tiergestal-
tigen Prinzen und eine Prinzessin dazu, die seine inneren Werte erkennt
und trotz der Tiergestalt schätzt. Damit kann diese verworfen werden und
der bisher „verschleierte Prinz“ tritt hervor und bleibt ganz Mensch. Aller-
dings ist in keiner Version die Rede von Kindern. Eine gewisse Analogie
zum Märchen „Der Froschkönig“ ist unverkennbar.
Hier wird ein wertvolles Menschenkind in eine Tiergestalt verpackt, die
als minderwertig gilt und im Volksmund auch als Schimpfwort Verwen-
dung findet. Die Tiergestalt kann in der Nacht vorübergehend durch Bei-
seitelegen der Tierhaut gelöst und durch verbundene Leistung von „innen
und außen“ endgültig abgelegt werden. Solche Bestückungen von mensch-
lichen Führungspersonen mit Tierhäuten zu kombinierten Tier-Mensch-
gestalten gibt es in vielen Religionen und Kulturen. Während bei den Ken-
tauren die physischen Qualitäten von Mensch und Pferd kombiniert er-
scheint, ist es bei den tierköpfigen Gottheiten der Ägypter eher eine Beto-
nung und symbolische Einverleibung von besonderen Qualitäten. Schama-
nen, die Tierköpfe für kultische Handlungen zu tragen pflegen, stülpen sich
symbolisch besondere Kräfte und Qualitäten dieser Tiere gleichsam über.
Besondere Kräfte der Bären, Löwen etc. bestärken die Macht über Men-
schen, und Adler, Geier oder Fische bezeugen den Zugang des Schamanen
zum Meer und in die Luft, also überall hin, auch bis zu den Göttern. Damit
ist die Verbindungsfunktion des Schamanen als Vermittler zu den Göttern
aufgebaut, der Weg begehbar und die Stellung gesichert. Er braucht dazu
keine „Jakobsleiter“. Tierhäute zur Kleidung besonderer Menschen und
Funktionen aber sind bis heute weiter entwickelt, verfeinert und in den so-
ziokulturellen Kontext aufgenommen worden. Gekrönte Häupter und viele
Leitungspersonen tragen im Ornat noch tierische Attribute, die besonders
auszeichnen und daran erinnern, dass Tierhäute seit jeher dem Menschen
besondere Qualitäten zuordnen.
z Danksagung: Dank gebührt Frau Madeleine Devrient aus Basel für die
Unterstützung bei der Quellensuche.
Literatur
1. Gebrüder Grimm (1974) Kinder- und Hausmärchen in 3 Bd. Taschenbuch Nr. 829.
Insel, Frankfurt
2. Jung EG (2005) Dermatologische Aspekte in Märchen. Akt Dermatol 31:344–347
3. Jung EG (2000) Der segmentäre Morbus Darier. Akt Dermatol 26:325–329
Tod des Herakles
E. G. Jung
Helden braucht die Menschheit und so zieren Helden schon die frühesten
Erzählungen und Kulturdokumente. Sie sind vor den Menschen ausgezeich-
net durch Mut, Tapferkeit, Erfolg und besondere Kraft. Manchmal auch,
aber bei weitem nicht immer, durch Schlauheit. Gottähnlich ist zuweilen
die Unverwundbarkeit, obschon auch diese einen kleinen Fehler aufweist,
der sich irgendwann deletär auswirkt. Dahinter steht die Vorstellung, dass
Helden aus der Verbindung eines Gottes mit einer Menschenfrau hervor-
gehen, vom väterlichen Gott zwar oft geholfen bekommen, ganz selten aber
in den göttlichen Bereich entrückt werden. Immer unterscheiden sie sich
von den unsterblichen Göttern durch ihre Sterblichkeit. Dieses menschliche
Kriterium der Endlichkeit ihres Wirkens und Daseins bedingt eine Ent-
wicklung, ein Streben und jedem Helden seine eigene, individuelle Ge-
schichte. Oft endet diese vorzeitig und tragisch. Helden sterben jung, in
der Blüte ihres Lebens. Entweder weil sie Ihren Auftrag erfüllt hatten oder
aber verfehlten, weil sie vermessen nach Gütern oder Erfolgen drängten,
die den Göttern vorbehalten blieben, oder weil feindliche Götter aktiv ihre
Vernichtung betrieben.
Schon die frühesten Heldengeschichten grenzen die sterblichen, sich ent-
wickelnden Helden von den unsterblichen, immer gleich bleibenden Göttern
ab. Gilgamesch [1] musste erkennen, dass die Unsterblichkeit ihm versagt
blieb, auch wenn er auf der Suche einen Moment lang wähnte, diese zu erlan-
gen. Fortleben in der Erinnerung seiner Nachfahren kann er nur durch sein
Wirken und seine Taten. Und so blieb es bisan mit unseren Helden.
Helden sind Frühvollendete, sie sterben früh oder werden „gnädig ent-
rückt“; von einer Gottheit gleichsam „aus dem Verkehr gezogen“. Der Hel-
dentod ist denn auch ein besonderer Tod mit symbolischer Beziehung zum
Helden und zu seinen, den Tod argumentierenden Verfehlungen. So werden
sowohl Achilles als auch Siegfried [2], mit unverwundbarer Haut ausge-
rüstet, ausgerechnet durch die einzige und kleine Lücke in diesem Panzer
zu Tode gebracht. Achilles stirbt durch den von Apollo gelenkten Giftpfeil
des Paris, Siegfried meuchlings durch den Speer von Hagen.
Anders Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene; er stirbt nach einem
exemplarischen Heldenleben nicht durch die Haut, respektive eine Lücke in
derselben, sondern an seiner Haut. Auch der Tod des Herakles ist, wie sein
Leben und seine Taten, ein besonderer und er ist für uns Dermatologen
von speziellem Interesse.
44 z E. G. Jung
doch mit Gift getränkt und als Glauke das Gewand anzog, brannte es ihre
Haut weg und sie starb einen fürchterlichen Tod. Ovid schreibt „ist die
neue Vermählte mit kolchischen Giften verbrannt“ [3]. Auch hier also wird
durch ein vergiftetes Gewand die Haut verbrannt (Fieber und brennende
Schmerzen) und „abgebrannt“, also entfernt oder abgefetzt. Daran kam sie
zu Tode.
Die Argonauten und speziell die Person der Medea sind mehrfach
künstlerisch dargestellt worden, so durch Euripides, Seneca, Corneille,
Grillparzer, Anouilh und Christa Wolf. Allerdings ist der Giftmord an Glau-
ke jeweils nicht im Zentrum der Darstellung.
Schinden erfolgt solches durch Abziehen der Haut und mit demselben
symbolischen Ziel und tatsächlichem Effekt.
Zur weiteren und vertieften Deutung wenden wir uns nun dermatologi-
schen Überlegungen zu und fragen, welche schon damals zu beobachtende
Krankheiten dem ins mytische gesteigerten Geschehen zugrunde liegen
könnte.
Zunächst zur Medea, die Glauke ein vergiftetes Kleid sandte, das der
Trägerin auf die beschriebene Weise den Tod brachte. Zwei Deutungen lie-
gen auf der Hand:
Eine generalisierte phototoxische Dermatitis (Wiesengräserdermatitis),
die mit einer großflächigen blasigen Ablösung der Haut und starken Fie-
berschüben einhergeht und im Extremfall zum Tode führt. Herkuleskraut
stammt aus dem Kaukasus und Ammi Majus aus Ägypten, beide waren im
Altertum bekannt und die furokumarinhaltigen Säfte wurden zusammen
mit Sonne zur Behandlung der Vitiligo (Weissfleckenkrankheit) und zur
Abgrenzung von Lepra angewandt. Dieses Therapieverfahren wird seit 40
Jahren als Photochemotherapie (PUVA) zur Behandlung der Psoriasis und
anderer Hautkrankheiten erfolgreich eingesetzt. Ein mit Furokumarin ge-
tränktes Gewand, wegen der Sonnendurchlässigkeit wohl eher ein Schleier,
könnte es damals gewesen sein, und Todesfälle nach übermäßiger, selbst
gewählter PUVA-Anwendung zur Pigmentstimulation sind vor Jahren be-
kannt geworden [5].
Als andere Deutung kommt eine staphylogene toxische epidermale Nek-
rolyse (TEN, Lyell-Syndrom, Abb. 3) in Frage, die ebenfalls mit hohem Fie-
ber, großen Schmerzen, akutem Exanthem und mit großflächigen, schlaffen
Blasen einhergeht, welche schnell zerreißen und „wie verbrühte oder ver-
brannte Haut“ aufliegen. Todesfolge ist nicht selten. Dieses Syndrom [6]
wird durch die massive Ausschüttung und hämatogener Verbreitung von
Exfoliatin ausgelöst und Staphylokokkus aureus war auch in der Antike ein
allgegenwärtiger Keim auf allen Wunden und Bagatellverletzungen. Glauke
hätte also ihre akute und tödliche Erkrankung infolge einer eigenen Infek-
tion erlitten, ohne direkten Zusammenhang mit dem Brautkleid, das man
sich schlecht als „Eiter vergiftetes Gewand“ vorstellen kann.
Und nun zu Herakles, der nachdem er das vergiftete Weihegewand über-
zog, akut fiebrige Wahnanfälle, enorme Schmerzen, brennende Därme (ein-
geblutet dort auch) und verbrannte Haut erlitt und das Kleid nicht mehr
von dieser abziehen konnte. Solche Versuche rissen ihm die ganze Haut
und mit dieser auch das darunter liegende Fleisch, bis auf Sehnen und
Knochen vom Leib. Er ergab sich dem Sterben. Dieses Geschehen ist kaum
mit einem vergifteten Kleid zu erklären und einem Lyell-Syndrom ent-
spricht es auch nicht. Ein hochfiebriges Geschehen mit Ablösung der Haut
und tiefen, zerfallenden Nekrosen spricht für eine postinfektiöse, nekroti-
Literatur
1. Maul SM (2005) Das Gilgamesch-Epos. Beck, München
2. Jung EG (2005) Sklerodermie in Sage und Gegenwart. Akt Dermatol 31:573–575
3. Ovid (Publius Ovidius Naso) (1971) Metamorphosen 9. Philipp Reclam jun, Stutt-
gart, pp 158–175
4. Anzieu D (1991) Das Haut-Ich. Suhrkamp, Frankfurt
5. Jung EG (1986) Schwere Zwischenfälle mit SUP und PUVA. Kongressband Herfor-
der SUP-Symposium
6. Moll I (2005) Dermatologie, Duale Reihe. Thieme, Stuttgart
Sklerodermien in Sage und Gegenwart
E. G. Jung
Die Sklerodermie (Abb. 1 a, b) fasziniert die Menschen seit jeher und stellt
etwas Besonderes, Mythisches dar. Verhärtung und Verdickung der Haut
als „Panzerhaut“ ist Ausdruck von Unverletzlichkeit und gleichzeitig Abge-
schlossenheit. Ersteres wurde in der Antike mit Unsterblichkeit gleichge-
setzt, was allein den Göttern vorbehalten blieb, und auch die Abgrenzung
zur Umwelt ist eine Eigenschaft der Götter. Das Bild der Sklerodermie mit
Anspielung auf „Göttlichkeit“ bleibt unvollständig, wird es doch in der My-
thologie mit einer kleinen aber wesentlichen Einschränkung versehen. Eine
kleine Stelle bleibt von der Härtung ausgespart, bleibt verletzlich und, die
Sage will es so, wird zur Eintrittsstelle der feindlichen Waffe beim tödli-
chen Stoß. Hier an der „undichten Stelle“ bricht auch die Hülle auf, worauf
die „Lebensgeister“ entweichen [1, 2].
In den alten Sagen erscheinen zwei herausragende Helden, die beide eine
unverwundbare Haut trugen, welche sie durch ein spezielles Verfahren er-
warben. Beide hatten aber eine einzige Stelle, die verwundbar blieb und
die ihnen im jungen Heldenleben schon zum Verhängnis wurden. Im grie-
chischen Sagenkreis war dies Achilles, der Pelide, und im germanischen
war es Siegfried von Xanten. So unterschiedlich die Geschichten sind, so
ist beiden eine harte und feste, eben unverwundbare Haut eigen, die in
manchen Aspekten an eine generalisierte Sklerodermie denken lassen.
Achilles, Sohn des Peleus und der Nereide Thetis wurde vom heilkundigen
Kentauern Chiron erzogen. Seine Mutter Thetis wollte den jungen Helden
unverwundbar machen und härtete seine Haut, indem sie ihn abwechselnd
nachts über das Feuer hielt und tags im Wasser des Styx abkühlte. Dies ge-
schah in Analogie zum Härten des Stahles in der Schmiede bei der Herstel-
lung hochwertiger Schwerter. Die Härtung gelang bis auf eine kleine Stelle,
bis auf die kleine Stelle an der Ferse, eben der Achillesferse, da wo ihn die
Mutter festhielt bei der Prozedur.
Im trojanischen Krieg war Achilles der herausragend Held auf griechischer
Seite. Die Achillesferse wurde ihm schließlich zum Verhängnis, als der vergif-
tete Pfeil von Paris, gelenkt vom Gott Apollon, ihn ebendort tödlich verletzte.
Siegfried von Xanten, Leuchtfigur der Nibelungensage, war der Sohn aus
einer Geschwisterehe. Er wurde vom Schmied Mime aufgezogen und er-
schlug den Drachen Fafnir. Beim Bade in dessen Blut „härtete“ sich seine
Sklerodermien in Sage und Gegenwart z 51
a b
Abb. 1. a Generalisierte Sklerodermie mit straffer Haut. b Sklerodermie der Hände, Panzerhaut
und gleichzeitig Handschuhartige Einmauerung
Haut und wurde unverwundbar, bis auf eine kleine Stelle am Rücken, die
von einem Lindenblatt abgedeckt war. Diese verwundbar gebliebene Stelle
wurde ihm zum Verhängnis, als Hagen von Tronier auf der Jagd den wehr-
losen Siegfried von hinten mit dem Speer durchbohrte. Der Tronnier kann-
te durch Krimhilde’s Indiskretion die einzige verletzliche Stelle.
Es wurde spekuliert, dass Siegfried an einer erblichen oder erworbenen
Hautkrankheit gelitten habe, die der Haut panzerartige Eigenschaften ver-
leiht und „Unverletzlichkeit“ brächte. So ist vorgeschlagen worden, es habe
sich um eine X-chromosomal rezessive Ichthyosis gehandelt, die wegen der
Geschwisterehe manifest geworden sei. Ein Exempel zur Verbot von Ehen
naher Verwandter wurde daraus abgeleitet. Doch diese Ichthyosis trägt eine
stinkende, raue und schuppende Haut wie „Borstenvieh“ und ist leicht ver-
letzlich. Diese Eigenschaften passen nicht zur Lichtgestalt des Helden und
Lieblings der Frauen seines Kulturkreises. Diese Hypothese gehört verwor-
fen.
Eine etwas besser passende Deutung unterstellt Siegfried eine erworbene
diffuse Sklerodermie, die keine Erbkrankheit darstellt, sondern eine erwor-
bene „Kollagenose“. Sie beginnt zunächst mit einer flächigen Verhärtung
und Verdickung der Haut, die straff aufsitzt, und einen glänzenden Aspekt
vermittelt. Solches entspricht dem, was in der Sage als der „Hörnen Sieg-
52 z Sklerodermien in Sage und Gegenwart
fried“ mit „vester hute“ benannt ist. Diese Haut riecht nicht und sie ist
deutlich fester gegenüber Verletzungen. Allerdings handelt es sich um eine
zunehmend konsumierende Systemkrankheit mit autoimmuner Pathogene-
se, die zu Schwäche und Zerfall führt. Aber Siegfried hat womöglich diese
Stadien wegen des frühen Todes nicht erlebt. Diese Hypothese, dass sich in
der Siegfriedsage eine generalisierte Sklerodermie verstecken könnte, ist
glaubwürdiger als die anderen Deutungen.
Siegfried und Achilles gelten als groß gewachsene, besonders starke und
erfolgreiche Heldenfiguren, die wohlgestaltet, sieggewohnt, angesehen und
deshalb bei den Damen begehrt waren. Die feste und harte Sklerodermie-
haut passt zur Mähr der Unverwundbarkeit. Allerdings ist diese Haut das
Leitsymptom der zehrenden Autoimmunerkrankung „Sklerodermie“. Und
von Schwäche oder anderen Zeichen dieser Systemkrankheit wird in den
Sagen nichts berichtet. Aber eben, beide Helden sind früh, beide infolge
von Intrige, durch einen Speer Siegfried, und durch einen vergifteten Pfeil
Achilles, ausgerechnet an ihrer einzigen verwundbaren Stelle getötet wor-
den. Beide haben sie die Beschwernisse der konsumierenden Krankheit
nicht mehr erleben können oder erdulden müssen.
Fazit: Auch heldenhafte Menschen mit beinahe göttlichen Attributen ver-
sehen, sind verletzlich und sterblich. Das bringt uns das Bild der Sklero-
dermie in der Sage nahe.
Im Gegensatz dazu oder gleichsam als Komplement zur Antike, hat in der
Gegenwart des 20. Jahrhunderts das Schicksal des weltbekannten Malers
und Graphikers Paul Klee (1879–1940) die Menschen und die Fachleute,
Kunsthistoriker [3, 4] und Mediziner [5], beschäftigt. Er ist 1935 an einer
Literatur
1. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte-Körperbilder-Grenzdiskurse. Enzyklo-
pädie. 2. Aufl. Rowohlts, Reinbek
2. Mittag H (2001) Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext.
Völker & Ritter, Marburg
3. LeRoy EC, Silver RM (2006) Paul Klee and Scleroderma. Bull Rheum Dis 45:4–6
4. Wolf G (1963) Endure!: how Paul Klee’s illness influenced his art. Lancet
1:353:15516–15518
5. Castenholz G (2005) Der Maler Paul Klee (1879–1940) und seine Krankheit: von
der schwierigen Diagnosestellung einer Mischkollagenose. Schw Ärztezeitung
86:645–647
Vom Schinden
E. G. Jung
Ein Vorspann
In der frühen Zeit der Jäger wurde das erlegte Wild zerteilt. Vom Inners-
ten, den Innereien, erhielten die Götter ein Dankesopfer, woran auch die
Gottesdiener beteiligt waren. Das Fleisch diente den Menschen als Nahrung
und die Haut, das Fell, wurde durch Abhäutung, Schinden eben, entfernt.
Die Haut war nicht für die Götter, sondern diente ebenfalls den Menschen
als Kleidung, zum Wohnkomfort, als Zahlungsmittel und auch als Zeichen
des Wohlstandes.
Mit der Domestizierung der Tiere bildeten Herden die lebende Fleisch-
reserve, sie hielten die kostbaren Proteine vor. Diese, der „Lagerhaltung“
dienenden Herden wurde nomadisch von Weide zu Weide getrieben, oder
bei sesshaften Stämmen aus dem kultivierten Land mit ernährt. Nicht
mehr gejagt, sondern geschlachtet wurden die Tiere. Die Götter erhielten
das Wertvollste, den Lebenssaft, das Blut, das durch Schächtung, dem kul-
tisch überhöhten Ausbluten, zuvorderst abgezweigt und dargebracht wurde.
Das Tier verlor, ohne bedeutende Schmerzen zu erleiden, zuerst seine Kraft
und kam langsam, gleichsam sanft und andächtig zu Tode. Dann wurde es
gehäutet und verwertet.
Beim umgekehrten Vorgang, zunächst die Häutung beim lebenden Tier,
erlitten die Tiere Schmerzen, sie wehrten sich und schrieen, zappelten und
schlugen, sie blieben während des ganzen Vorganges bei Kräften und ka-
men trotzdem langsam aber sicher unter enormen Schmerzen und Qualen
zu Tode.
Solche Opfergewohnheiten wurden auf Menschen übertragen, als Bedro-
hungen und Schicksalsschläge größere Demut gegenüber den Göttern und
demzufolge eine Steigerung der Opfertätigkeit erforderten. Die Steigerung
ging bis zum Menschenopfer. Menschenblut wurde die Opfergabe und der
Tod des Opfers die Folge. Ein ruhiger, gleichsam sanfter Tod und Opferwil-
le, Demut, Weihe und kultische Überhebung der Opfer gehörten dazu.
Diese Wertung blieb erhalten, als nicht mehr das Blutopfer, sondern ein
Blutgericht die Todesstrafe aussprach. Ausbluten war eine würdige, edle Art
des Vollzuges einer Todesstrafe, wie auch der Selbsttötung.
Ganz anders das Schinden! Nie wurde es als Opferung vollzogen, immer
nur als Strafe. Hingezogen wurde der Prozess, und besonders schmerzhaft,
Vom Schinden z 55
Es endet nicht
Das „Häuten“ als besonders grausame und langsame Todesstrafe, wie sie
im 6. Jahrhundert v. Chr. vom Babylonischen König Kambyses am bestech-
lichen Richter Sisamnes exekutiert wurde (Abb. 6), zieht sich noch durch
das gesamte Mittelalter und „geschunden“ wurde auch, wie die Bezeich-
nung „Schindanger“ als der Ort solchen Treibens noch bezeugt. „Mit der
Haut zahlen“ musste einer, dem die „Haut über die Ohren gezogen“ wurde,
etwas abgemildert wird auch heute noch ein zu strenger Patron als „Schin-
Vom Schinden z 57
Abb. 2. Apoll schindet Marsyas. Abb. 3. Apoll schindet Marsyas. Meister M. F. 1536
Adam Lenckhardt, Elfenbein 1644 (Monogrammist)
Abb. 4. Das Martyrium des hl. Bartholomäus von Stefan Abb. 5. Die Haut des hl.
Lochner, Holz Bartholomäus aus dem
jüngsten Gericht in der
Sixtinischen Kapelle (De-
tail) von Michelangelo,
Fresko 1536–1541
Gunter von Hagens durch Präparation und Plastination von Leichen in sei-
nen Schaustellungen „Körperwelten“ bemüht. Das alte Motiv wird im
„Skinman“ (Abb. 7) wieder aufgenommen.
Literatur
Baumstark R, Volk P (1995) Apoll schindet Marsyas, über das Schreckliche in der
Kunst. Bayrisches Nationalmuseum München
Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Enzyklopä-
die, 2. Aufl, 317 Seiten. Rowohlts, Reinbek bei Hamburg
Ovid (Publius Ovidius Naso) (1971) Metamorphosen 6:383–400. Philipp Reclam jun,
Stuttgart
Rost GA (1956) Schinden als Todesstrafe. Hautarzt 7:513–516
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr)
– ein Gott der Azteken
K. Wegener
Der Initiator der Rubrik „Kleine Kulturgeschichte der Haut“, der emeritier-
te Mannheimer Dermatologe E. G. Jung, hat die lose Folge der Artikel mit
einer Arbeit „Vom Schinden“ eröffnet [1]. Darin macht er deutlich, dass in
der abendländischen Mythologie und Historie Menschen ausschließlich zur
Strafe und nie als Opfer der Götter geschunden worden seien.
Menschenhäutungen zu Ehren der Götter kannten aber die Kulturen Me-
soamerikas vor Kolumbus’ Entdeckung der Neuen Welt.
Die Spanier, die unter Führung des Hernán Cortés am 8. November 1519
als erste Europäer in Tenochtitlan, der Hauptstadt der Azteken, einzogen,
waren konfrontiert mit ihnen zunächst unvorstellbaren Zahlen von Men-
schenopfern, die dieses Volk seinen Göttern während des Jahres bei den
verschiedensten Festen darbrachte. Nur derartige rituelle Tötungen waren
nach dem Glauben der Azteken geeignet, die gesamte irdische Ordnung
aufrecht zu erhalten, denn ihre Mythen erzählten, das Selbstopfer der
Götter habe die Welt entstehen lassen. Mit dem Opfern von Menschen
dankten die Azteken den höchsten Wesen für ihr Selbstopfer und gaben
gleichzeitig ihrem Glauben Ausdruck, nur durch Tod könne neues Leben
entstehen.
Am eindrücklichsten manifestierte sich diese tiefe Überzeugung in dem
Gott Xipe Totec (= der sich häutet, unser Herr). Er wurde meist als
Mensch dargestellt und trug die abgezogene Haut eines Opfers über seinem
Körper (Abb. 1). Seine Verehrung war in verschiedenen postklassischen
Kulturen Mesoamerikas weit verbreitet, und die Azteken hatten ihn von an-
deren Stämmen im Hochtal von Mexiko in ihr Pantheon übernommen. Wir
sind über das Gottesbild des Xipe Totec bei den Azteken und den Ablauf
des jährlich zu seinen Ehren gefeierten Festes Tlacaxipehuatlikli (Men-
schenhäutung) aus den Codices des Bernardino de Sahagún [2] und des
Diego Durán [3] gut informiert 1. Sahagún schildert das Aussehen des Got-
tes so:
1
Die Schriften Sahagúns und Durans sind mehrfach übersetzt und interpretiert wor-
den. Ich folge in dieser Arbeit den Transkriptionen und Interpretationen von B. Rie-
se u. Mitarb. [4, 7].
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken z 61
Dieser Text ist eine Beschreibung der bildlichen Darstellung des Gottes in
Sahagúns „Primeros Memoriales“ [5] (Abb. 2). Quilter [6] interpretiert die-
sen Hautmantel so: „Wie bei einem Goldüberzug oder dem Spelz eines Sa-
menkorns liegt das wahre, lebendige Wesen des Gottes und seines mensch-
lichen Ausdrucks unter der Oberfläche, bereit, in neues Leben auszuschla-
2
Alle Abbildungen stammen aus dem Bildarchiv von B. Riese, Bonn.
3
Ursprünglich war Xipe Totec eine Gottheit der Zapotec (Tzapotec)- und Yopi-India-
ner, zweier der damals etwa 500 Völker auf dem Gebiet des heutigen Mexiko in den
noch heute existierenden Gebieten Guerrero und Oaxaca.
62 z K. Wegener
gen“. Der Rasselstab (Chicahuaztli), von dem hier geredet wird, ist ein At-
tribut des Gottes, aus dem er Samen verstreut. Xipe Totec verkörperte die
Oberfläche der Erde und deren Kraft zu stetiger Erneuerung und gehörte
mit Wasser, Samen und Sonne zum Kreislauf dieser Erneuerung.
Riese gibt in seinem Text „Aztekische Religion und Kunst“ [7] ein Lied
wieder, das vermutlich am Fest des Gottes gesungen worden ist: Xippe
ycuic, totec (yoallavana) = Gesang für unseren Herren den Geschundenen.
Eine in allen Passagen eindeutige Übersetzung und Interpretation ist sehr
schwierig wenn nicht zur Zeit gar unmöglich. Deutlich aber geht aus den
bisher klar zu entschlüsselnden Textteilen hervor, wie der Gott herbeigeru-
fen und beschworen wird, das Land mit Regen zu tränken, wie nach dem
Regen das Land ergrünt und der Mais reift. Dieses Lied weist Xipe Totec
als Gott der Fruchtbarkeit aus.
Nach der Vorstellung der Azteken erstreckte sich die Welt in vier Grund-
richtungen, die den vier Himmelsrichtungen entsprachen. Xipe Totec, auch
Tlatlauhqui Tezcatlipoca genannt, der rote Tezcatlipoca, beherrschte den
Osten, die Region des Sonnenaufganges, das männliche Viertel des Univer-
sums. Ihm wurden vielfältige Wirkungen und Fähigkeiten zugeschrieben:
4
Kannibalismus war in mehreren Kulturen des alten Mexiko üblich.
64 z K. Wegener
Archäologen haben vor allem in Mexiko-Stadt Statuen des Gottes oder Ver-
körperungen von ihm (Priester, Krieger, Gefangene) gefunden, die – wie
von Sahagún beschrieben – ein Kleid aus einer zweiten Haut tragen, das
mit Schnüren über dem Kopf und auf dem Rücken zusammengezurrt ist.
Hinter dem geöffneten Mund und den Augenschlitzen werden die entspre-
chenden Körperteile des Trägers sichtbar. Ein horizontaler Saum über dem
Thorax macht die Stelle deutlich, an der das Herz entfernt und die danach
vernäht worden war (Abb. 4).
Um 1900 hat man in der Umgebung des Templo Mayor in Mexiko-Stadt
einen Behälter für abgezogene Häute gefunden. Seine Außenfläche erinnert
mit Aufrauungen an abgezogene Menschenhaut, die Priester und andere Ver-
ehrer des Gottes sich überhängten, um sich der Gottheit anzuverwandeln.
Nach Schilderungen von Sahagún haben sie die Häute im Festmonat 20 (!)
Tage getragen und dann wahrscheinlich in solchen Behältern verwahrt.
Die Religion der Azteken kannte zwei weibliche Pendants zu Xipe Totec:
die Fruchtbarkeitsgöttin Xilonen (wörtlich: Junges Maisrohr) – Göttin der
ersten Maisfrucht der Saison – und Chicome Coatl (wörtlich: Sieben
Schlange) – Göttin des Maissaatgutes. Beim Reinigungsfest Ochpa(na)nitzli
(wörtlich: Fegen des Weges) 5, das zu Ehren mehrerer Gottheiten veranstal-
5
Riese macht in seinem Text zur Altmexikanischen Heilkunde und Gesundheitspflege
[12] darauf aufmerksam, dass häufiges Fegen der gestampften Böden in Haus und
Hof eine zentrale Arbeit im Dienste der häuslichen Hygiene darstellte, dass das Fegen
im Tempeldienst eine religiöse Pflicht mit hohem Symbolgehalt darstellte und das Fest
ochpananitzli (das Fegen des Weges) in diesem Zusammenhang gesehen werden müsse.
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken z 65
tet wurde, war einer der Höhepunkte die Enthauptung und Häutung einer
Frau durch einen Priester zu Ehren der Göttinnen Xilonen und Chicome
Coatl. Der Priester trug Kleidung und Kopfschmuck einer der beiden
Göttinnen, der er sich somit anverwandelte. Wie beim Fest für Xipe Totec
legten sich die Priester Teile der Haut des Opfers an 6. Der Gott und die
Göttinnen der Fruchtbarkeit machen deutlich, wie wichtig Landwirtschaft,
das Gedeihen der Saaten und die Reifung der Früchte für das tägliche Le-
ben und Überleben in dieser Kultur waren. Diese Gottheiten entschieden in
den Augen der Azteken über reiche Ernten oder Missernten.
Xipe Totec war auch der Gott der Goldschmiede, der angesehensten
Handwerkerzunft in Mesoamerika. Es fehlt in der einschlägigen Literatur
nicht an Interpretationen, Xipe Totecs Wirken als Lebensspender – und die
damit verbundenen Rituale – mit seiner Verehrung durch die Goldschmie-
de in Verbindung zu bringen. So macht Riese [7] auf eine mögliche Asso-
ziation bei den Azteken zwischen der Farbe des Goldes und der der
menschlichen Haut aufmerksam, die Xipe Totec übergestreift wurde. Diese
Interpretation hat viel für sich, wenn man bedenkt, dass die von Priestern
und anderen übergestreiften Häute geschundener Opfer gelb gefärbt waren
und Teocuitlaquemitl (wörtlich: Goldenes Kleid) genannt wurden [9]. Auch
die Formung goldener Hohlfiguren sowie das Überziehen von Schmuck-
stücken mit Goldblech hätten die Azteken möglicherweise analog zum Über-
ziehen der Haut bei dem Gott gesehen.
Eine zweite interessante Interpretation gibt Moctezuma [10]. Er be-
schreibt ausführlich eine Halskette aus dem Templo Mayor in Mexiko-Stadt
und geht auf die Technik des Metallgusses bei den Azteken zur Herstellung
solcher Schmuckstücke ein. Die Azteken kannten das Gießen in verlorener
Form. Bei diesem Verfahren werden mehrere Materialschichten der Form
abgetragen oder ersetzt, und erst ganz zum Schluss wird das fertige
Schmuckstück sichtbar. Diese Technik erinnere – so Moctezuma – an die
Bearbeitung des Bodens in der Landwirtschaft, wo aus den Schichten der
zunächst trockenen und dann bearbeiteten Erde grünes, fruchtbares Land
werde. So nehme es nicht Wunder, dass der Gott der Fruchtbarkeit und
des Ackerbaus – Xipe Totec – auch der Schutzgott der Goldschmiede sei.
Am 13. August 1521 übergab der letzte Aztekenkönig, Cuanktemoc, dem
Spanier Cortés die Hauptstadt Tenochtitlan nach langer und auf beiden
Seiten verlustreicher Belagerung. Die Spanier machten die Stadt dem Erd-
boden gleich. Götterfiguren, Kunstgegenstände, Pyramiden, Paläste wurden
zerstört. Der Wiederaufbau war begleitet von der religiös-geistigen Erobe-
rung des Reiches durch die Franziskaner, Augustiner und Dominikaner.
Den überlebenden Azteken fiel es schwer, sich zu ihren alten Göttern zu
bekennen, waren sie doch in den Kämpfen gegen die Spanier von ihnen
6
Im Codex Borbonicus (Codex Borbonicus, Faksimile, Graz 1974) ist eine Opferszene
dargestellt mit einem Priester im Zentrum, der die Gesichtshaut des Opfers als Mas-
ke trägt [8].
66 z K. Wegener: Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken
z Danksagung: Herrn Prof. Dr. Bertold Riese, Direktor des Instituts für Alt-
amerikanistik und Ethnologie der Universität Bonn, und seinen Mitarbei-
tern danke ich herzlich für Literatur, Bildmaterial, Hinweise und Diskussio-
nen.
Literatur
1. Jung EG (2004) Vom Schinden. Akt Dermatol 30:81–84
2. de Sahagún B (1950–1982) Florentine Codex: A General History of the Things of
New Spain. Books 1–12. Anderson AJO, Dibble CE (Hrsg), Santa Fe
3. Durán D (1967) Historia de las Indias de Nueva Espana e islas de tierra firme.
Garibay AM (Hrsg) 2. Bd, Mexico Stadt
4. Riese B (1996) Aztekische Chrestomathie. Text LXII Xipe Totec, SAH01K18
5. de Sahagún B (1993) Primeros Memoriales (Farbfaksimile der Handschrift). Nor-
man University of Oklahoma Press
6. Quilter J (2003–2004) Kunstschätze. In: Azteken-Ausstellungskatalog der Kunst-
und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
7. Riese B (1993) Aztekische Chrestomathie. Aztekische Religion und Kunst. 9. Stun-
de: Xipe. XIPEV
8. Locke A (2003–2004) Gottheiten des Lebens. In: Azteken-Ausstellungskatalog der
Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
9. Xipe Totec Encyclopaedia Britannica Delux Edition 2004. CD-ROM
10. Moctezuma EM (2003–2004) Templo Mayor, der große Tempel der Azteken. In:
Azteken-Ausstellungskatalog der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
11. Libro de la Vida (1970) Akad Druck- und Verlagsanstalt, Graz
12. Riese B (1996) Aztekische Chrestomathie, Altmexikanische Heilkunde und Ge-
sundheitspflege. Zeugnisse des 16. Jahrhunderts. A:\AZTGES01\MMTEXT
Vom Ursprung des Schindens in Assyrien
E. G. Jung
(Abb. 2). Die Deutung des Geschehens als Auspeitschung ist weniger wahr-
scheinlich. Diese Kriege finden sich auch in der Bibel dargestellt, wobei ei-
ne glückliche Kriegswendung vor Jerusalem infolge Dezimierung der assy-
rischen Belagerungsarmee durch Engelshand (wahrscheinlich eine Seuche)
auf Fürbitte des Propheten Jesaia im Zentrum steht (2. Chr, 32 : 20–22, 2.
Kön. 18 : 13–20 und Jesaia 36–39). Ähnliche Formulierungen erscheinen
auch im Deuteronomium der Bibel in den Gesetzen über den Gottesdienst
und den Kriegsgesetzen (5. Mos. 12.2 f; 13.6–11; 20. 16 f).
Aber schon das Corpus der Inschriften von König Assurnasirpal II
(883–859 v. Chr.) enthält in beängstigender Häufung scheußliche Strafge-
richte: Abschlagen von Gliedmaßen, Ohren und Nasen, und auch Blenden.
Gefangene werden gepfählt oder verbrannt. Dazu kommt das Schinden der
Gegner, deren Häute auf Pfählen oder über die Stadtmauer und deren Tore
gebreitet, zur Abschreckung und Warnung an Einwohner wie Besucher die-
nen. Denn es steht geschrieben [5, 6]: „Ich habe eine Säule errichtet ge-
genüber dem Stadttor und alle revoltierende Anführer geschunden (kasu,
abgehäutet, to flay), die Häute habe ich um die Säule gewunden und auf
Pfähle gespießt. Solche stellte ich in großer Zahl bis an die Grenzen meines
Landes auf. Den abtrünnigen königlichen Offizieren ließ ich die Gliedma-
ßen abtrennen, ich ließ sie schinden und spannte die Häute an die Stadt-
mauer. Den Anführer fing ich lebend, brachte ihn nach Ninive, ließ ihn
dort schinden und seine Haut an unsere Stadtmauer spannen. Die
Anführer der eroberten Städte ließ ich schinden und ihre Häute an die
Mauern spannen, die Gefangenen wurden mit dem Schwert getötet und zu
Haufen geschichtet, die Knaben und Mädchen wurden verbrannt“ [7]. Und
so geht es weiter, immer weiter.
Komplexe Bedeutung
Der Vorgang des Schindens eines Menschen dauerte wahrscheinlich gut ei-
ne Stunde, er ist äußerst schmerzhaft, sodass die Opfer wohl wiederholt in
Ohnmacht fielen und auch, gerade ob der Schmerzen, daraus wieder auf-
geschreckt wurden. Sie sterben am Schock, durch Blut- und Flüssigkeits-
verluste, Unterkühlung und Infektionen in Stunden bis Tagen. Schinden ist
eine Todesstrafe mit protrahiertem Vollzug. Vorgeschaltet ist eine äußerst
qualvolle Folterung, welche das Opfer nicht nur erdulden, sondern gleich-
sam „erleben“ muss. Damit war es aber nicht genug, damals. Noch weiter
vorgeschaltet erfolgten Entstellungen des Gesichtes, Verstümmelungen
durch Abtrennen von Gliedmaßen, Nase oder Zunge oder auch Blendung.
Dem Opfer wurde also seine Erscheinung verstümmelt und dadurch seine
Würde und auch die Organe differenzierter menschlicher Kontakte genom-
men. Und er musste dies noch miterleben. Geschunden, mit oder ohne
Verstümmelung vorher, wurden vornehmlich die Anführer. Ihre abgetrenn-
ten Häute wurden öffentlich ausgestellt, als Abschreckung und Warnung
70 z E. G. Jung
und zum eigenen Triumph des Siegers. Dies erfolgte in der Hauptstadt, an
den Grenzen des Landes und in eroberten Städten, ebenfalls zur Warnung.
Zudem wurde das Schinden der Abtrünnigen im Königspalast zu Ninive in
Schrift und im Reliefbild (Abb. 1) dargestellt, zur Warnung aller Besucher
und zu allen Zeiten.
Besonders gefährlichen Abtrünnigen oder Widersachern wurde durch
Verstümmelung zunächst Würde und Ansehen genommen, dann durch das
tödliche Schinden der Haut, die Hülle, die Form und damit die persönliche
Erscheinung entfernt. Die abgetrennte Haut wird als Warnung nach innen
und außen öffentlich zur Schau gestellt. Zudem wurden die Sippen, die Ge-
folgschaften, ja ganze Völker der so ausgemerzten Führer zu Tode gebracht,
um ein Wiederaufflammen der politischen, militärischen oder religiösen
Opposition zu verhindern. In besonderen Fällen wurden die Körper, nach-
dem sie geschunden wurden, noch in Stücke zerteilt oder verbrannt. Da-
durch, so ging damals und geht der Gedanke zuweilen bis in unsere Zeit,
können Wiederkehr, Wiedergeburt und Auferstehung der verhassten Feinde
und deren Gedankengut verhindert werden. Ein mehrschrittiges Unterfan-
gen mit komplexer Intention. Dabei kommt dem Schinden eine besondere,
auch rituelle Bedeutung zu.
Die Häufung solcher Schilderungen führen zur Annahme, dass die Assy-
rer nicht nur ein auffallend kriegerisches Volk waren, sondern auch ein
grausames und brutales. Nicht von ungefähr wird der König Assurnasirpal
II (883–859 v. Chr.) auch als Schlächter oder Sadist [3] apostrophiert. Der-
artig grausame Verfahren zur Konfliktbewältigung sind nicht auf Mesopo-
tamien begrenzt geblieben. Beispiele sind aus dem benachbarten per-
sischen Raum dokumentiert.
So hat im 6. Jahrhundert v. Chr. der persische König Kambyses in Baby-
lon am bestechlichen Richter Sisamnes die Todesstrafe durch Abhäuten
exekutiert [1]. Aus der Haut des Opfers wurde der neue Richterstuhl gefer-
tigt, auf dem die nachfolgenden Richter, als erster der Sohn von Sisamnes,
gleichsam auf der Strafdrohung thronend, ihr Amt redlich auszuführen
hatten.
Und Jahrhunderte später erfuhr der babylonische Religionsstifter ira-
nischer Herkunft Mani (216–277 n. Chr.) aus Glaubensgründen in Gun-
dischapur (Persien) das Schicksal der Hinrichtung durch Schinden. Und
auch seine Haut wurde zur Abschreckung an der Stadtmauer öffentlich zur
Schau gestellt [8]. Mani hatte, durch Offenbarung veranlasst, in Babylon
die erst im 14. Jahrhundert ausgestorbene Weltreligion des Manichäismus
gegründet. An derartig grausame Verfahren erinnern zudem Geschehnisse
bei der Verfolgung von Ketzern und von Hexen, aber auch bei Genoziden
und im Holocaust.
Literatur
1. Jung EG (2004) Vom Schinden. Akt Dermatol 30:81–84
2. Wegener K (2004) Xipo Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azte-
ken. Akt Dermatol 30:510–514
3. Edzard DO (2004) Geschichte Mesopotamiens. Beck, München
4. Barnett RD (1975) Assyrische Skulpturen im Britischen Museum. Bongers, Reck-
linghausen
5. The Assyrian Dictionary (1971) Vol, Glückstadt
6. Borger R (1996) Beiträge zum Inschriftenwerk Assurpanibals. Harrassowitz, Wies-
baden
7. King LW (1902) The Annals of the Kings of Assyria, London
8. Schipperges H (1968) Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola 20:3–10
Skabies in der Geschichte
und Geschichten über Krätze
E. G. Jung
Es war zu Beginn des Holozän vor gut 10 000 Jahren, als die Menschen von
den Bergen herunter, aus ihren Höhlen in die weiten, von der letzten Eis-
zeit gut geschwemmten und warmen Flusstäler sich ausbreiteten. Nahrung
war reichlich vorhanden und es entstanden Siedlungen. Das Haarkleid
nahm ab und die Wärmeregulierung wurde durch Kleidung verfeinert und
verbessert. Kurzfristig konnte man sich den Umständen und den Jahreszei-
ten besser anpassen.
Die Ektoparasiten des Haarkleides (Fellparasiten) spezialisierten sich,
die Kopfläuse auf die Kopfbehaarung, die Filzläuse auf die sekundären Ge-
schlechtshaare und die Kleiderläuse, wohl erst zuletzt, auf die Kleidung als
Lebensraum und für ihre Eiablage.
Die Krätze (Skabies, Räude) aber nahm überhand durch ungehinderte
Besiedelung der interfollikulären Epidermis und weniger gestört durch den
gelockerten Haarbesatz.
Während der Entwicklung der Primaten tat dies auch die Skabies und
bildete ihrerseits eine hoch differenzierte und wirtsspezifische Artenvielfalt
aus. Dem heutigen Menschen hat sich im Holozän eine eigene, spezifische
Skabies als Koparasiten mitentwickelt und zugesellt, eben „Sarcoptes sca-
biei variatio hominis“ (Abb. 1), der denn auch verschmäht, auf Affenhaut
zu gedeihen.
Als gezielte Antwort auf diese spezifische, großflächige und weit verbrei-
tete Ektoparasitose durch die Krätzemilbe entwickelte sich das T-Zell-ver-
mittelte, periphere Immunsystem der Haut in besonderem Masse. Die den-
dritischen Langerhanszellen bilden in der Epidermis ein dichtes Netz zur
Früherkennung, Aufbereitung und Vermittlung dieser Fremdantigene. Die
Immunabwehr vom Spättyp kommt früh und rasant in Gang. Entzündung,
Juckreiz, Kratzen aufs Blut und bis zu Verletzungen sind die Folge und eine
Vielzahl von Eintrittspforten für bakterielle und mykotische Infektionen
wird bereitet. Gestörter Schlaf, immer währende Unruhe, Krankheitsgefühl,
Leistungsminderung und soziale Ausgrenzung sind die Kette schwerwie-
gender Konsequenzen. Der endemische Befall von Groß und Klein er-
schwert es, den Infektionscharakter und die Übertragungswege zu erfassen
und zu verstehen.
Solches Leiden mit zunehmender Beeinträchtigung muss als Strafe der
Götter aufgefasst werden, welche dem Menschen wegen eigener Verfehlun-
gen und Unterlassungen oder solchen in der Familie oder durch Vorfahren
widerfährt. Die Götter entziehen mit einem Bannspruch den Schutz und
überlassen den Menschen der Krankheit, also in diesem Fall den Milben.
Dem zu begegnen, also den „Bann zu lösen“, bedarf es einer fein entwickel-
ten Folge kultischer und ritueller Handlungen, in welche zunehmend auch
therapeutische Maßnahmen Aufnahme finden. Letztere entspringen den gut
beobachteten Erfahrungen der „natürlichen Medizin“ und werden durch
die Gottesdiener oder auf deren Anweisung hin durchgeführt. Priester sind
auch die Heiler.
Zwei solche gute und bewährte Verfahren sind darzustellen:
Mit der Besiedelung der Flusstäler, der Haltung von Herden, dem Acker-
bau und den umfassenden Arbeiten an den Bewässerungssystemen halten
sich viele Menschen den Tag über im Freien auf, an der Sonne. Der Wärme
und der Anstrengung wird die Kleidung angepasst, resp. sie wird reduziert
(Abb. 2).
Die Haut, jetzt mit kargem Haarbesatz, wird großflächig und stunden-
lang der Sonne ausgesetzt. Sonnenbrand ist die Folge, unabdingbar! Der
schmerzhaften Rötung und ebenfalls der Verbrennung 2. Grades mit Bla-
senbildung folgt eine Schälung mit Häutung der Oberhaut (Epidermis) in
Fetzen. Nach 1–2 Wochen ist der Sonnenbrand ausgeheilt und die neue, fri-
sche Epidermis nach 3–4 Wochen restituiert. Mit der Oberhaut werden
aber auch bis zu 90% der Krätzemilben, der Larven und die ganzen Gänge
entfernt. Vorerst entfallen der Juckreiz und alle Nachfolgemalaisen nach ei-
nem Sonnenbrand und der ungetrübte Zustand mit gesunder Haut dauert
3–4 Generationen der Krätzemilbe zu je 3 Wochen, also bis zu 3 Monate,
bis die Milben-Population sich wieder restituiert und großflächig aus-
gedehnt hat.
Zudem weiß man seit einigen Jahrzehnten erst, dass eine UV-Belastung
der Haut zu einer vorübergehenden Immunmodulation (Toleranz) führt,
welche vorwiegend die T-Zell-vermittelten Reaktionen betrifft.
Es muss eine unglaubliche Befreiung gewesen sein, wenn nach einem
Sonnenbrand von 3–5 Tagen, eine juckreizfreie, gesunde Periode anhebt,
die monatelang dauert. Ein weiterer Sonnenbrand ist durchaus erstrebens-
Die Krätze blieb dennoch weit verbreitet als ständiges Problem, im Alter-
tum, im Mittelalter und bis in die Neuzeit (Abb. 5), sie wurde gängig in
der Literatur und erst jetzt, dank der Verbesserung der hygienischen Um-
stände und Optimierung der Therapie, scheint sie im Rückgang. Neuer-
dings entwickeln sich in Pflegeeinrichtungen Nischen hartnäckiger Klein-
epidemien. Und nun steht das periphere Immunsystem der Haut, scheinbar
entbehrlich, bereit und hat nichts zu tun. Also erkennt es kleine, harmlose
Moleküle als Haptene, bindet sie an Proteine und präsentiert diese Komple-
xe dem Immunsystem als wären sie Antigene der Milben. Kontaktekzeme
sind die Folge, und diese haben enorm zugenommen. Chrom ist das Hap-
ten des Zementekzems, das einst wegen der ähnlichen Symptome „Zement-
krätze“ genannt wurde, und Nickel ein Hapten an Kleidung und im Mode-
schmuck, wodurch ein Drittel aller Jugendlicher Nickelallergien hat und
darunter schwer leidet. Nickelhaltiger Modeschmuck wird also verboten.
Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze ohne Ende! Ge-
genwärtig sind immer noch mehr als 300 Millionen Menschen von Skabies
befallen, leiden also an Krätze.
Literatur
1. Maul SM (2004) Die „Lösung vom Bann“, Überlegungen zur altorientalischen Kon-
zeption von Krankheit und Heilkunst
2. Stol M (1991–1992) Diagnosis and Therapy in Babylonian Medicine. JEOL 32:42–65
Hautkrebs bei alten Hochkulturen
M. Reitz
Krebs ist eine uralte Erkrankung, von der nicht nur Menschen, sondern
auch Tiere und Pflanzen befallen werden. Praktisch alle hoch entwickelten
vielzelligen Organismen mit differenzierten Zellen können von einer Krebs-
erkrankung betroffen sein. Die ältesten Hinweise auf Krebserkrankungen
stammen von fossilen Saurierknochen. Auch bei den Vorläuferformen des
Menschen kam Krebs vor. In Kenia wurden 1932 Teile des Skelettes eines
Australopithecus gefunden. Zum Skelett gehörte auch ein fossiler Kiefer-
knochen, bei dem Ärzte die Spuren eines Burkitt-Lymphoms vermuten. Es
kann angenommen werden, dass Krebserkrankungen die gesamte mensch-
liche Evolution begleitet haben [1].
Meisterschmiede, und diese Männer waren häufig krank. Die Mythen be-
schreiben bei ihnen zwar nur Lähmungen, doch wahrscheinlich litten sie
auch an durch Arsen ausgelöste Hautkrebserkrankungen. Es fällt auf, dass
ab dem 3. Jahrtausend vor Christus die Arsenbronzen langsam verschwan-
den und nach und nach durch Zinn- und Bleibronzen abgelöst wurden [2].
In der frühen Antike wurden Krankheiten als eine Strafe der Götter oder
als ein göttliches Zeichen gewertet. In Erzählungen der altägyptischen Lite-
ratur hadern viele Patienten mit ihren Göttern und beklagen, warum gera-
de sie so schwer erkrankt sind. Behandelt wurde mit Magie und Zauberei,
aber es gab auch erste wissenschaftliche Ansätze. Manche Arzneimittel ver-
blüffen sogar noch heute. Für Reisende durch Wüstengebiete wurde die
Krautwurzel „Ami-Majos“ empfohlen. In diesem Kraut isolierten später
Chemiker den Wirkstoff 8-Methoxypsoraten, der vor einem Sonnenbrand
schützt. Gut erreichbare Krebserkrankungen wurden entweder heraus-
geschnitten oder ausgebrannt. Es ist wahrscheinlich, dass solche Therapie-
maßnahmen auch beim Hautkrebs angewendet wurden [3].
An uralten Mumien können noch heute manchmal Krebserkrankungen
diagnostiziert werden, die mit Knochen nicht in Verbindung stehen. Gera-
de altägyptische Mumien bilden hier ein breites Untersuchungsfeld
Hautkrebs bei alten Hochkulturen z 81
(Abb. 3). An diesen oft rund 5000 Jahre alten Toten tauchen sogar Raritä-
ten auf. An zwei altägyptischen Mumien wurden beispielsweise Deforma-
tionen gefunden, die auf ein 1960 erstmals beschriebenes Gorlin-Syndrom
hinweisen. Bei diesem Syndrom können multiple Hauttumoren auftreten,
so dass die Erkrankung auch Basalzellnävoidsyndrom heißt. Beide männ-
liche Mumien sind wahrscheinlich Brüder gewesen, denn die Erkrankung
besitzt eine genetische Komponente und tritt mit einer Häufigkeit von
1 : 50 000 sehr selten auf [1].
Abb. 4. Geräteschrank eines ägypti- Abb. 5. Ausschnitt aus dem Papyrus Ebers (um 1600
schen Arztes aus der Antike, Darstel- v. Chr.). Der Papyrus beschreibt bereits unterschiedliche
lung an einer Tempelmauer. Manche Krebserkrankungen und gibt auch Anweisungen für et-
Geräte wie Zangen oder Haken wir- wa 900 Medikamente auf der Grundlage von Pflanzen
ken erstaunlich modern (Tempel von und Mineralien. Er ist in hieratischer Schrift verfasst.
Kom Ombo) Hieroglyphen stellten eine amtliche Dokumentenschrift
dar und wurden im Alltag selten verwendet (Univer-
sitätsbibliothek, Leipzig)
Literatur
1. Greaves M (2003) Krebs – der blinde Passagier der Evolution. Springer, Berlin
2. Reitz M (2003) Auf der Fährte der Zeit. Wiley-VCH, Weinheim
3. Thorwald J (1962) Macht und Geheimnis der frühen Ärzte. Droemer Knaur,
München
4. Toellner R (2000) Illustrierte Geschichte der Medizin. Bechtermünz, Augsburg
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode –
Krankheitsbürde – Lebensqualität
oder: Was uns die Schuppenflechte Prominenter lehrt
H. Meffert, E. Rowe
Einleitung
Winston Churchill (1874–1965), der Einsiedler Elias (um 1230 bei Eise-
nach), Art Garfunkel (geb. 1941), Karin Holstein (Geburtsjahr unbekannt),
Zarah Leander (1907–1981), Jean Paul Marat (1743–1793), Vladimir Nabo-
kov (1899–1977), der Feldhauptmann Naaman (Altes Testament, 2 Könige
5, 1–14), Dennis Potter (1934–1995), Romy Schneider (1938–1982), Jossif
Wissarionowitsch Stalin (1879–1953), August Strindberg (1840–1912), John
Updike (geb. 1932) und viele weitere Berühmtheiten sollen an Psoriasis ge-
litten haben. Die Schuppenflechte ist eine weit verbreitete Krankheit. Des-
halb ist es keineswegs verwunderlich, wenn auch besonders Schöne, Reiche,
Kluge, Berühmte, Boshafte oder Einflussreiche von ihr nicht verschont blei-
ben.
Doch was kümmert den gewöhnlichen Sterblichen – ob an Psoriasis er-
krankt oder nicht – die Schuppenflechte Prominenter? Er sollte sich dafür
interessieren. Dann wird er staunend erkennen, dass man es trotz und viel-
leicht auch gerade wegen Psoriasis beispielsweise bis zum Idol bringen
kann. Auf welche Art und Weise kommt eine solche unerwartete Karriere
zustande? Glücklicherweise sind nicht wenige Prominente extrovertiert.
Frank und frei plaudern sie über ihre Erfahrungen mit der Krankheit. An-
dere sind zudem noch sensibel. Von ihnen kann man Unerwartetes, gar Er-
staunliches über Schaden und Nutzen (!) der Krankheit hören. Das geht so
weit, dass einige davon überzeugt sind, es ohne Psoriasis nie so weit ge-
bracht zu haben.
Niemand kann den Eindruck, den der Arzt und seine Mitarbeiter auf
den Betroffenen machen, so gut formulieren wie ein wortgewaltiger
Künstler. Nebenbei bemerkt ist der Zorn der freien Rede zudem für den
Redner heilsam und deshalb in solchen Fällen erwünscht. Kommt dann
noch ein bei Prominenten gar nicht so seltener Mangel an Zurückhaltung
hinzu, so können gerade wir Hautärzte aus derartigen Schilderungen erfah-
ren, wie wir gar nicht so selten gesehen werden. Das wiederum ist lehr-
reich und nützlich.
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 85
Die Schriftsteller
Im Kapitel „Aus dem Tagebuch eines Aussätzigen“ schildert John Updike
seine Psoriasis [5]. Der Verlauf der Krankheit ist wie folgt: Flecken, Placken
und Lawinen überschüssiger Haut, die von der Derma dank eines unbedeu-
tenden aber beharrlichen Fehlers in ihrem metabolischen Code produziert
werden, dehnen sich aus und wandern langsam über den Körper wie Flech-
ten auf einem Grabstein. Ich bin silbern, schuppig. Lachen abgeblätterter
Schuppen bilden sich, wo immer ich mich zur Ruhe lege. Jeden Morgen sau-
ge ich im Bett Staub. Meine Qual ist hauttief: keine Schmerzen, nicht mal
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 87
ein Jucken. Wir Aussätzigen leben lange und sind ironischerweise in anderer
Hinsicht gesund. Im Schub dominiert die Schuppenflechte nahezu alles, so
auch die Beschreibung des Hautarztes. Seine eigene Haut trägt die staubig
rosigen Reste von Sommersonnenbräune. Sein Kopf ist makellos kahl und
traumhaft glatt. Ich frage mich, welche Perversität ihn in die Dermatologie
getrieben hat. Die PUVA-Therapie löst ungewöhnliche Empfindungen aus.
Die Lichtbox hat sechs Seiten, die mit vertikalen Röhren bestückt sind. ...
Ein Röhren wenn es losgeht, so dass man astronautische Anwandlungen hat,
ebenso Anwandlungen von Absurdität, ein stehender Nackter wie in einem
„gewagten“ Stück, wo die Bühnenlichter die Zuschauer verschluckt haben. ...
Der Tanz ist kurz; die erste Dosis beträgt nur eine Minute. Die Box gibt ein
böses, tadelndes Schnurren von sich, wenn sie sich abstellt. Stets und ständig
versucht der Betroffene, die kranke Haut zu verbergen. Meine Hände
würden mich verraten, aber während des Essens bewege ich sie ständig, um
ihr Aussehen zu verwischen. Auch als sich die Haut unter PUVA-Therapie
zu bessern beginnt, bleibt die tief sitzende Furcht. Ich schildere meine Emp-
findung, dass der von meiner Haut verjagte Aussatz in tiefere Gewebe flieht
und dort nur darauf wartet, in noch ekelhafterer und teuflischerer Form
wiederaufzuerstehen. Gut eine Woche später ist die Haut glatt. Ich bin
schön. Ich ziehe mich dauernd wieder aus, um sicher zu sein. Sogar auf den
Schienbeinen ist der Aussatz verschwunden, ein feines Krakelee trockener
Haut hinterlassend, wie bei Tang-Porzellan, das Badeöl bessern wird.
Während John Updike seine Psoriasis ausführlich beschrieb, widmete
ihr Vladimir Nabokov in seinem Roman „Ada“ nur weniger als eine Seite
[6]. Dort geben sich zwei Psoriasiskranke Tipps: Quecksilber! Höhensonne
wirkt Wunder. Ansonsten werden noch heiße Bäder empfohlen, zweimal
monatlich oder des öfteren, und das Meiden von Gewürzen.
Ein Allgemeinmediziner sah die Psoriasis sogar als eine Metapher für
den kreativen Prozess an. Sie sei das Ergebnis der Implosion des Künstlers,
und die Romane über Psoriasis würden die Idee kultivieren, dass der pso-
riatische Plaque die Achillesferse des introvertierten Individualisten sei, ei-
nes Künstlers, der die Welt vom Elfenbeinturm seiner Psoriasis aus be-
trachtet [7].
Der Revolutionär
Der Arzt, Naturforscher, Verleger, Journalist und Berufsrevolutionär Jean-
Paul Marat und dessen Hautkrankheit wurden der Öffentlichkeit durch das
im Jahre 1964 in Berlin uraufgeführte Drama von Peter Weiss [10] wieder
ins Gedächtnis gerufen. Der gebürtige Schweizer Marat hatte in Paris Medi-
zin studiert und war dann zehn Jahre nach England und Wales gegangen,
wo er promovierte, zum Modearzt avancierte und auch über Optik und
Elektrizität publizierte. 1790–1792 verbarg er sich als Herausgeber einer ra-
dikal revolutionären Zeitschrift bis zum Sturz der Monarchie auch wörtlich
88 z H. Meffert, E. Rowe
Der Politiker
se. 1953 erlitt er einen Schlaganfall, den seine Tochter Swetlana und sein
Nachfolger N. S. Chruschtschow dokumentierten. Es wird angenommen,
dass Stalins Tod durch Vergiftung herbeigeführt wurde.
Im Jahre 1990 gab der langjährige sowjetische Gesundheitsminister B.
Petrowski der Zeitschrift „Ogonjok“ ein Interview, in dem er aussagte, dass
Stalin seit früher Jugend an Schuppenflechte litt. Stalins Sekretär und Dol-
metscher von 1942 bis 1954, V. Bereskow, hatte „weißliche, hautartige
Stücke an den Schultern und verfärbte Flecken an den Händen“ beobachtet.
Der Dichter Osip Mandelstam schrieb 1934 von den „feisten, wurmartigen
Fingern des Kreml-Bewohners“. Stalin reagierte äußerst wütend und ließ
Mandelstam nach Sibirien verbannen, wo dieser verstarb.
In den dreißiger Jahren wurde Stalins Psoriasis erstmals mit „Lysaten“
behandelt. Das sind Produkte aus verschiedenen Organen, die im sauren
Milieu unter hohem Druck durch Einwirkung proteolytischer Enzyme ent-
stehen. Es wurde behauptet, dass Lysate die Funktionen ihres Ursprungsor-
gans spezifisch stimulieren könnten. So sollten z. B. Hühner durch Lysate
aus Eierstöcken zum Legen von mehr Eiern veranlasst werden und Kühe
durch Lysate aus Brustdrüsen mehr Milch produzieren. Es ist nicht be-
kannt, ob die therapeutisch eingesetzten Lysate tierischen oder mensch-
lichen Ursprungs waren.
Hergestellt wurden solche Lysate im Institut des Allgemeinarztes I. N.
Kasakow. Den Worten eines seiner Mitarbeiter zufolge war dieser „ein
Quacksalber, für den es unheilbare Krankheiten nicht gibt.“ Nach der Re-
mission der Stalin’schen Schuppenflechte wurde das Moskauer Staatliche
Institut für Haut- und Geschlechtskrankheiten flugs in ein so genanntes
Stoffwechsel-Institut umgewandelt und an Kasakow übergeben. Bald rezidi-
vierte Stalins Schuppenflechte. Neuerliche Behandlungsversuche mit Lysa-
ten schlugen fehl. Kasakow fiel in Ungnade und geriet mit anderen russi-
schen Prominentenärzten in den Strudel der „Großen Prozesse“. Damals
stabilisierte Stalin seine Macht, indem er sich echter und vermeintlicher
Feinde in Schauprozessen entledigte. Wie die anderen angeklagten Ärzte
90 z H. Meffert, E. Rowe
Die Sängerin
Es gibt Melodien, Ohrwürmer, denen man sich einfach nicht entziehen kann.
Auch dann nicht, wenn man mit dem Verständnis des zugehörigen Textes so
seine Schwierigkeiten hat. Immer wieder widmen die Medien ihre Aufmerk-
samkeit Zarah Leander, der Schwedin mit der sonoren, wodka-, später whis-
ky-geschwängerten Stimme. Das liegt wohl einerseits an den nach wie vor
verführerischen Melodien, die zumeist von Michael Jary komponiert worden
waren und später auch von Udo Lindenberg, Nina Hagen, Erika Pluhar, Mil-
wa, Romy Haag und André Heller gesungen wurden. Andererseits geht es um
Vergangenheitsbewältigung. Es hieß, Zarah Leander sei eine Diseuse von
Goebbels Gnaden gewesen. Möglicherweise hatte der Reichspropagandami-
nister die beliebte UFA-Schauspielerin auserkoren, um Hollywood-Stars wie
Greta Garbo und Marlene Dietrich vergessen zu machen.
Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n. Nach der Lektüre des Buchs
der Tochter Michael Jarys [12] erscheint es plausibel, dass das erwartete
Wunder mit der gleichermaßen unerschöpflichen wie unerfüllten Liebe zu
Michael Jary zu tun haben sollte. Davon geht die Welt nicht unter, sieht
man sie auch manchmal grau. Diese Zeile aus einem weiteren Erfolgstitel
der Leander passt recht gut zu einem Menschen, der sich unverzagt mit ei-
ner hartnäckigen Krankheit auseinandersetzt. Vor nahezu 30 Jahren hatte
Heinz-Egon Kleine-Natrop, Hautarzt in Dresden, die Schuppenflechte der
Leander erwähnt [13]. Auf einem Schwarzweißfoto der 49-jährigen finden
sich besonders auf der Stirn zahlreiche, an Sommersprossen erinnernde
Flecke (Abb. 4). Einige davon sind deutlich größer, bizarr begrenzt und un-
terschiedlich pigmentiert. Diese so genannten PUVA-Sommersprossen sind
die Folge übermäßiger UV-Einwirkung, beispielsweise nach jahrelanger
UV-Therapie.
Den Kinogängern wie den Leander-Biographen blieb diese Seite ihres
Idols verborgen. Doch in den Memoiren der Diva kommt das Wort „Pso-
riasis“ vor, wenn auch nur ein einziges Mal: Da leide ich zeitweise an Pso-
riasis, einer zwar nicht lebensgefährdenden Krankheit, die aber einen stän-
digen Juckreiz hervorruft [14]. Sie dissimuliert. Zeitweise bedeutet rezidivie-
rend, und ständiger Juckreiz spricht für eine aktive Phase der Erkrankung.
In den letzten Lebensjahren machte ihr Arthritis (psoriatica?) zu schaffen.
Obwohl sie ihre Psoriasis verbarg und als eher unwesentlich herunterspiel-
te, hatte sie sich offensiv mit ihr auseinander gesetzt.
Das Fotomodell
Ihr Leben mit der Schuppenflechte schildert Karin Holstein in „Cover Girl
Uncovered – A Woman’s Journey“ [15]. Schon im Alter von sechs Jahren
war das Kind wohlhabender Eltern im Westdeutschland der Nachkriegszeit
an Psoriasis erkrankt. Seitdem war das Verbergen befallener Haut eine im-
mer wiederkehrende, qualvolle und perfektionierte Übung im erfolgreichen
wie glamourösen Leben des prominenten Fotomodells. Die Behandlung
dieser Schuppenflechte kann zunächst mit „Meer und Sonne“ beschrieben
werden. Darüber hinaus blieben ihr unangenehme Erinnerungen an eine
misslungene Teerbehandlung in der Kindheit. Als Schülerin in Paris über-
zeugte sie ein befreundeter plastischer Chirurg davon, dass sie die Schup-
penflechte mit den Lieblingsspeisen Käsekuchen und Schokolade nie los-
werden würde. Stattdessen solle sie Früchte, Gemüse, Körner, Fisch, wenig
rotes Fleisch und keine Süßigkeiten essen. Der Wechsel im Speiseplan und
viel Bewegung wirkten wunderbar. Begriffe wie „Therapie“ oder „Dermato-
loge“ kommen im Buch der Enkelin eines Arztes nicht vor.
Es blieb die Furcht vor dem Entblößen des sorgsam Verdeckten. Erst das
gefragte Fotomodell erlebte die Befreiung von dieser Furcht. Das geschah
unerwartet. Sie war dem Meer und der Sonne mehr als drei Monate fern
92 z H. Meffert, E. Rowe
geblieben und ihre Hände stark von Psoriasis gezeichnet. In dieser Situati-
on hatte ein besonders reputierter Juwelier ein Werbephoto gewünscht, auf
dem das Fotomodell mit einem Ring und passenden Ohrringen nebst Kette
zu sehen sein sollte. Verzweifelt lehnte sie ab. Sehen Sie sich meine Hände
an! Den Juwelier beeindruckte das nicht. Ist das alles? Kein Problem. Wir
lieben Ihr wunderbares Gesicht. Wen interessieren schon Ihre Hände! Wir
werden ein Hand-Modell heranholen. Mit diesen wenigen Sätzen war jahre-
langer Kummer hinweg gefegt. All’ die Beleidigungen und die als junges
Mädchen erduldeten Hänseleien verschwanden in diesem Moment.
Es bleibt eine Frage. Wurden Dithranol, Jadassohn’sche Kopfsalbe, Korti-
kosteroide, Etretin, UVB und PUVA nicht erwähnt, weil alle diese komplett
versagt hatten? Oder war die intelligente, zielstrebige, energische und wohl-
habende Frau jahrzehntelang ausschließlich von Ärzten behandelt worden,
deren Spezialkenntnisse Psoriasis nicht betrafen? Prominente scheinen ge-
legentlich prädestiniert zu sein, von wohlmeinenden, befreundeten oder
verwandten, leider aber auch inkompetenten Ärzten abgeschirmt zu wer-
den.
Hier sollen vor allem Strategie und Taktik des Lebens mit der Krankheit
besprochen werden. Sollte man die offensive Auseinandersetzung suchen
und als bekennender Psoriatiker auftreten? Oder ist es besser, die kranken
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 93
Literatur
1. Willan R. Descriptio and Treatment of Cutaneous Diseases, London:1798–1807
2. Die Bibel (1980) Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Der Aussatz an
Menschen. Levitikus 13, 42–46. Herder, Freiburg, Basel, Wien
3. Die Bibel (1980) Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Die Heilung
des Aramäres Naaman. 2 Könige 5, 1–14. Herder, Freiburg, Basel, Wien
4. Bechstein L. Von dem armen Eli. Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thü-
ringerlandes. Kesselring, Hildburghausen:1835–1838
5. Updike J (1989) Wie man Amerika gleichzeitig liebt und verlässt. Verlag Volk und
Welt, Berlin
6. Nabokov V (1971) Ada or Ardor: a family chronicle. Penguin Books, London
7. Meulenberg F (1997) The hidden delight of psorisasis. Brit Med J 315:1709–1711
8. Vaughan W, Weston H (2000) Jacques-Louis David’s Marat. Cambridge University
Press, Cambridge
9. Dotz W (1979) Jean Paul Marat. His life, cutaneous disease, death, and depiction
of Jacques Louis David. Am J Dermatopathol 1:247–256
10. Beise A, Breuer I (1995) Erläuterungen und Dokumente. Die Verfolgung und Er-
mordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes
zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Philip Reclam jun, Stuttgart
11. Bos WH, Farber EM (1997) Joseph Stalin’s psoriasis: its treatment and the conse-
quences. Cutis 59:197–199
12. Jary M (1976) Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n. Die große Liebe
der Zarah Leander. Edition q, Berlin
13. Kleine-Natrop H-E (1976) Psoriasisbehandlung: Ultraviolett, A bis Leander, Z Der-
matol Monatsschr 162:633–634
14. Leander Z (2001) Es war so wunderbar. Mein Leben. Hoffmann und Campe, Ham-
burg
15. Holstein K (2001) Cover Girl Uncovered – A Woman’s Journey. Winepress Publi-
shing, Washington
16. Meffert H (1994) Schuppenflechte. Ursachen, Erscheinungen, Behandlung, Bewäl-
tigung. Ullstein, Frankfurt a M, Berlin
17. Strindberg JA (1920) Lebensgeschichte. Inferno – Legenden. Georg Müller,
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18. Sampogna F, Sera F, Abeni D (2004) Measures of clinical severity, quality of life,
and psychological distress in patients with psoriasis: a cluster analysis. J Invest
Dermatol 122:602–607
19. Stern RS, Nijsten T, Feldman SR, Margolis DJ, Rolstad T (2004) Psoriasis is com-
mon, carries a substantial burden even when not extensive, and is associated with
widespread treatment dissatisfaction. J Invest Dermatol Symp Proc 9:136–139
20. Redaktionelle Mitteilung (2004) Lebensqualität bei Psoriasis. Aktuelle Dermatolo-
gie 30:189–190
Ein römisches Salbenreibkästchen
aus Heidelberg
A. Hensen
Bemerkenswert ist das Motiv auf dem Zierblech (Abb. 3): Es zeigt einen
stilisierten Tempel, dessen Fries beiderseits von Reiterfiguren flankiert
wird. Zweifellos handelt es sich um Castor und Pollux, das göttliche Zwil-
lingspaar. Im Tempel steht das Kultbild des gerüsteten und bewaffneten
Kriegsgottes Mars. Neben ihm ist ein Fabelwesen – vielleicht ein „Seeleo-
pard“ – dargestellt, und vor dem Sockel des Götterbildes ist eine Gans mit
emporgerecktem Hals zu erkennen. Nahe dem linken Rand des Blechs hat
sich der Hersteller „Strabo“ namentlich verewigt.
Nur selten wird die Gans als Begleittier des Mars abgebildet. Außer dem
Heidelberger Beispiel sind bislang 27 weitere Darstellungen bekannt [11].
Die Funde stammen aus den nördlichen Provinzen und verteilen sich auf
ein Gebiet, das vom Hadrianswall in Britannien bis zur Provinz Dacia
(heute Rumänien) reicht. Offensichtlich wird in diesen Fällen der Kriegs-
gott in der so genannte „Interpretatio Romana“ mit einer keltischen oder
germanischen Gottheit gleichgesetzt, deren Attribut die Gans war. Immer-
hin stammen allein zehn Bilder ebenfalls von Deckeln medizinischer Käst-
chen! Andere Arzneimittelbehälter werden vom Bild des Heilgottes Askle-
pios geziert [12]. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass die unbekannte,
mit Mars verbundene Gottheit mit den Inhalten der Kästchen und der An-
wendung der Medikamente in Zusammenhang steht.
Ein römisches Salbenreibkästchen aus Heidelberg z 99
z Anmerkung: Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau Dr. Kris-
tina Hoge, Heidelberg.
Literatur
1. Eckart WU (2005) Geschichte der Medizin. 5. Aufl. Springer, Heidelberg, pp 4–38
2. Krug A (1993) Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike. 2. Aufl. Beck,
München, pp 103–111
3. Schulze C (2001) Celsus. Georg Olms, Hildesheim, pp 51–52
4. Voinot J (1999) Les cachets à collyres dans le monde romain. Monographies in-
strumentum 7. Editions Monique Mergoil, Montagnac
5. Künzl E (2002] Medizin in der Antike. Theiss, Stuttgart, pp 84–91
6. Künzl E (1982) Medizinische Instrumente aus Sepulkralfunden der römischen
Kaiserzeit. Bonner Jahrbücher 182:1–131
7. Hensen A, Ludwig R (2005) Straße ins Jenseits. Die römischen Gräberfelder von
Heidelberg. BAG, Remshalden, pp 21–56
8. Hensen A, Wahl J, Stephan E, Berszin C (2004) Eine römische Ärztin aus Heidel-
berg. Archäolog Korrespondenzblatt 34:81–100
9. Hensen A (2004) Der Kriegsgott auf der Taschenapotheke. Handschuhsheimer
Jahrb, pp 91–94
10. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:122; 136–138
11. Mattern M (1993) Die Gans auf den Denkmälern des Mars. Bulletin des Anti-
quités Luxemburgeoises 22:93–120
12. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:125–126
13. Künzl E (1982) Medizinische Instrumente aus Sepulkralfunden der römischen
Kaiserzeit. Bonner Jahrbücher 182:5; 86
14. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:122; 126
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt
der Andrologie
W. Wamser-Krasznai
Wer mit wachen Sinnen eine Wallfahrtskirche betritt, wird die Devotiona-
lien in Form von Teilen des menschlichen Körpers gewiss nicht übersehen.
Vor allem Augen und Ohren, Arme, Beine oder Herzen schmücken, aus
Holz und Wachs, Kunststoff oder dünnem Blech geformt, die Altäre und
Bilder wundertätiger Heiliger.
Körperteile nachzubilden und denjenigen höheren Wesen zu weihen, de-
nen besondere Kräfte und Fähigkeiten gegen Not und Krankheit zugeschrie-
ben werden, ist ein uralter Brauch. Schon in prähistorischer Zeit unterstreicht
der Besucher eines Heiligtums seine Bitte um Linderung in Schmerz und Leid
durch die Dedikation anatomischer Votive. So begegnen uns im Museum von
Iraklion auf Kreta Gliedmaßen und andere Teile des menschlichen Körpers
aus Terrakotta, die nachweislich bereits im 2. Jahrtausend vor Christus ge-
weiht worden sind 1. Etwas später formte man sie auch aus edlem Metall oder
aus Marmor 2 und stellte somit das verbal vorgetragene Flehen bzw. den Dank
für erfahrene Hilfe auf eine anspruchsvolle, greifbare Basis.
Manchem Körperteil kommen darüber hinaus noch andere Funktionen
zu. Ein Fuß z. B. dokumentiert die Anwesenheit des Adoranten im Heilig-
tum; er vertritt gleichsam den Weihenden selbst. Ähnliches gilt für die
häufigen Nachbildungen der Hand, die auch unter dem Aspekt der Be-
schwörung und des Bannens zu sehen sind. Man denke an die Fluchtafeln
mit den stets gegen den Betrachter geöffneten Händen, die geeignet waren,
den Zorn der Götter auf einen Übeltäter herab zu rufen 3. In ähnlichem Sinne
,doppelt‘ sind auch die Augendarstellungen zu sehen: einerseits als leidens-
fähiges Organ, andererseits als magischer Gegenstand. Ohrvotive dagegen
appellieren immer auch an die Gottheit als an die „gnädig Erhörende“ 4; das
häufig auf Weihinschriften erscheinende Beiwort „epekoos“ = erhörend
macht dies deutlich.
1
J. L. Myres, Excavations at Palaikastro II. The Sanctuary-Site of Petsofà, The Annual
of the British School at Athens 9, London 1902/03, 356 ff. Taf. 12.
2
D. G. Hogarth, Excavations at Ephesus. The Archaic Artemisia, London 1908, Taf. 7;
J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen, Tübingen 1971, 78, Abb.
101; 569–572, Abb. 716–718.
3
A. Wilhelm, Zwei Fluchinschriften, Jahreshefte des oesterreichischen archäologi-
schen Institutes, Band 4, Wien 1901, 10 ff., Abb. 3.
4
O. Weinreich, Theoi epèkooi, Mitteilungen des Athenischen Instituts 37, Athen 1912,
1 ff., vor allem 5 ff.
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie z 101
Abb. 1
Abb. 2
Nun stellte man in der Antike aber auch solche Körperteile dar, die dem
frommen Pilger in Alt-Ötting nicht begegnen. Beim Betrachten eines Terra-
kottatäfelchens aus dem Asklepieion von Korinth erkennen wir in dem
plastisch angegebenen Ohrenpaar ebenfalls einen Appell an den gnädig
hörenden Gott. Nur nehmen diese Ohren hier ein männliches Geschlechts-
organ in die Mitte 5. Dass ein solches Weihtäfelchen als Sinnbild dreier von
einer Krankheit befallener Körperteile zu deuten wäre, ist wohl aus-
zuschließen. Vielmehr dürfte sich der Adorant mit seinen Sorgen um die
Funktionsfähigkeit des zentralen Organs an den Gott gewandt haben, und
zwar, wie die flankierenden Ohren zeigen, an den „gnädig Erhörenden“.
Antike Genitalvotive (männliche und weibliche) sind rings um das Mit-
telmeer gefunden worden, in Heiligtümern, aber vor allem auch in Votivde-
pots, wo man die Weihgaben rituell niederlegte, um Platz für neue zu
schaffen und die alten einem etwaigen profanen Gebrauch zu entziehen.
Wie das hier abgebildete männliche Geschlechtsorgan aus Veji, Südetru-
rien 6, waren die Adressaten meist Vegetationsgottheiten in ländlichen Hei-
5
C. Roebuck, The Asklepieion and Lerna. Corinth XIV, The American School of Clas-
sical Studies at Athens Princeton, New Jersey 1951 120, Taf. 33, 10. Das männliche
Organ ist nur noch als Abdruck vorhanden, der jedoch keinen Zweifel an der Natur
des Gegenstandes lässt.
6
L. Stieda, Anatomisches über alt-italische Weihgeschenke. (Donaria) in: Anatomisch-
archäologische Studien, Band 16, Wiesbaden 1901, 104 f. Taf. 4, 23. W. Wamser-
Krasznai, Die italischen Terrakotten der Antikensammlung der Justus-Liebig-Univer-
sität Gießen, nicht publizierte Magisterarbeit Gießen 1996, 40 ff. Für die Abbildungs-
erlaubnis danke ich den Herren Prof. Dr. Wolfram Martini und Dr. Matthias Recke,
Institut für Altertumswissenschaften der Universität Gießen.
102 z W. Wamser-Krasznai
Literatur
Fenelli M (1975) I votivi anatomici di Lavinio. Archeologia Classica 27. L’ERMA di
Bretschneider, Rom
Flourentzos P (2003) I Erotici zoi stin archaia techni tis. Kyprou. LTD, Leukosia
Hogarth DG (1908) Excavations at Ephesus. The Archaic Artemisia. Clowes and Sons,
London
Holländer E (1912) Plastik und Medizin. Enke, Stuttgart
Kasas S (1978) Medizinisches in Alt-Korinth. Materia Medica Nordmark 30. Schleu-
nung, Marktheidenfeld/Main
7
L. Stieda a. O. 104 f.
8
S. Kasas, Medizinisches in Alt-Korinth, Materia Medica Nordmark 30, Marktheiden-
feld 1978, 324 f; M. Fenelli, I votivi anatomici di Lavinio, Archeologia Classica 27,
Rom 1975, 217.
9
E. Holländer, Plastik und Medizin, Stuttgart 1912, 312.
10
L. Stieda, Die Infibulation bei Griechen und Römern, Anatomisch-Archäologische
Studien III Wiesbaden 1902, 29 ff. Abb. 11 – 16.
11
P. Flourentzos, Erotiki zoi stin archaia techni tis Kyprou, Leukosia 2003, 47, Nr.
42–44.
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie z 103
zwar noch das Motiv von den Mörderhänden, auch jenes vom Toten, der
zurückkehrt, um sich das geraubte Organ zu holen, nicht ohne all dies in
den Bereich des Aberglaubens und des Schwindels zu verweisen. Am Ende
des Romans kann sich der Empfänger mit den fremden Händen versöhnen,
allerdings erst als sich herausstellt, dass er Opfer eines geschickt inszenier-
ten Erpressungsversuches wurde, der sich diesbezügliche Vorstellungen zu
Nutze machte. Interessanterweise assoziiert der Betrogene den Gebrauch
der transplantierten Hände selbst mit einem möglichen Betrug: „Das Übel
ist geschehen! Es kommt von meinem Schweigen, ich hätte dir von Anfang
an sagen müssen – aber ich fürchtete diese Hässlichkeit – sagen müssen:
,Ich hab’ Mörderhände!‘ . . . Ich wagte nicht mehr, dich anzurühren . . . Ich
hätte dabei an irgend einen schamlosen Betrug gedacht! Diese Hände ha-
ben mich von dir entfernt! Es schien mir, als ob ihr Fleisch das meinige
beschmutzte und mein Blut in ihren Gefäßen den Sinn nach dem Morden
annahm!“
Bei About wird vor allem noch zugeführt und abgeleitet. Das Inventar
reicht dabei von zugeführter Wärme, stärkenden Suppen und Brühen, in
welche die geschwollene und entzündete Nase getaucht wird bis hin zu ab-
leitenden Maßnahmen, etwa Blutegeln. Auch wenn sich die Nase als Organ
nur bedingt mit der Hand gleichsetzen lässt, so fällt doch auf, dass all die-
se Praktiken in Renards Roman weitgehend verschwunden sind. Die von
Renard angeführten Praktiken sind nicht weit entfernt von heutigen phy-
siotherapeutischen Behandlungsformen. Während bei About das Fremd-
organ noch zwingend in der Abhängigkeit vom Spender gedacht wird, deu-
tet sich bei Renard eine zentrale Verschiebung an. Fortan liegt es am Emp-
fänger, das fremde Organ als eigenes zu akzeptieren.
1998 wurde Clint Hallam von einem Lyoner Chirurgenteam als erstem
Menschen eine Hand transplantiert. Er hatte sie durch einen Unfall ver-
loren. Die aufwändige Operation gelang. In den zunächst tauben Fingern
entwickelte sich Gefühl. Unterstützt durch intensive Handgymnastik ver-
mochte Hallam die transplantierte Hand zunehmend wieder zu bewegen.
Schon nach erstaunlich kurzer Zeit war er in der Lage, ein Messer zu hal-
ten, verfügte aber noch nicht über genügend Kraft, um damit Fleisch zu
schneiden, wie es der behandelnde Arzt formulierte. Kurz nach dem sensa-
tionellen Eingriff wurde erstmals eine beidseitige Handverpflanzung mit
Erfolg durchgeführt. Hallam ließ sich die fremde Hand wieder amputieren.
Schon davor wurde berichtet, der Patient erscheine nicht so häufig zu den
Untersuchungen wie dies nötig sei. Auch war zu lesen, es handle sich bei
ihm um einen Betrüger. Seine Hand habe er in einem Gefängnis bei der
Arbeit an einer Kreissäge verloren. In einer österreichischen Boulevardzei-
tung war neben einem Bericht über diese Amputation ein Nacktfoto eines
Models zu sehen. Darunter stand zu lesen: „Männer mit schmutzigen Fin-
gernägeln kann Judit nicht ausstehen. Unser Tipp für Verehrer der feschen
Ungarin lautet daher: Die Hände immer schön sauber halten“ [5]. Offen-
sichtlich ein Kommentar der Handgeschichte. Die „schmutzigen Finger“
meinen nicht nur den Dieb, sondern stellen die Hand in den Kontext der
Zur Genese des modernen Organverständnisses z 107
Abb. 1. Die drei Feldscherer, Märchen Nr. 118 der Gebrüder Grimm. Nachdem der eine seine
rechte Hand als Pfand gab und diese von der Katze gefressen wurde, war ihm die rechte Hand
eines gehängten Diebes, bestrichen mit einer heilenden Salbe, alsbald wieder angewachsen.
Der mit der Diebshand aber verspürte fortan immer wenn er Geld sah in der rechten Hand ein
Zucken und einmal wurde er auch beim Zugreifen erwischt. Da ein Rücktausch nicht mehr
möglich war, gingen die drei Feldscherer so tauschbelastet in die weite Welt. Der mit der
Diebshand ist der links im Bilde. Die geheimnisvolle Salbe stimulierte das Anwachsen und ver-
hinderte die Abstoßung, was den Dermatologen bis heute immer noch als Traum vorschwebt
Literatur
1. Robert Musil (1901–1942) Briefe. In: Frisé A (Hrg) Rowohlt, Reinbek, pp 98–155
2. Schlich T (1998) Die Erfindung der Organtransplantation. Erfolg und Scheitern des
chirurgischen Organersatzes (1880–1930). Campus, Frankfurt/M
3. Zeis E (1862–1864) Geschichte der plastischen Chirurgie (nebst Nachträge und An-
hang). Engelmann, Leipzig, p 199
4. Kathan B (2004) Wessen Organ? NZZ1.3 50:17
5. Krone 4. 2. 2001:7
Sonne und Sonnenkult
E. G. Jung
Die Sonne spendet Licht und Wärme und sie ist die wesentliche Energie-
quelle für die Biosphäre unserer Erde. Dies wurde in allen Kulturen und
antiken Religionen erfasst. Ihr kommt auch ein gewichtiger Symbolwert zu.
Neben dem Symbol des Lebens an sich, ist sie auch ein ganz frühes Sym-
bol für Richtung, für die Ausrichtung in der geordneten Welt, denn sie
geht im Osten auf und im Westen unter. „Wegweiser“ wurde sie genannt.
Die Sonne ist aber auch ein Symbol des Rhythmus, da sie den Takt von
Tag und Nacht angibt als „Teiler der Zeit“.
Die Sonne ist ein männliches Symbol und wird verkörpert, als ein Held,
der unermüdlich und immer wieder gegen die Finsternis ankämpft. In den
frühen polytheistischen Religionen mit Naturgöttern nimmt sie als Ober-
gottheit eine besondere Stellung ein und stellt ein Leitsymbol patriarcha-
lischer Religionsphasen dar. Diese entsprachen den Sozialstrukturen der
sesshaften Siedler, die als Pflanzer, Sammler und Jäger zwar ausziehen, im-
mer aber wieder an ihren Stammplatz zurückkehren [1].
Die Sonnenreligionen haben die noch älteren Religionen matriarchalischer
Ausrichtung mit der Muttergöttin Erde oder der ebenfalls weiblichen Mond-
göttin abgelöst. Und sie sind wiederum abgelöst worden von Religionen mit
einer Vielzahl von Göttern mit teils menschlichen, teils idealisierten Eigen-
schaften, wie die olympische Götterwelt Griechenlands oder diejenige im al-
ten Rom. So ist Helios als Sohn des Titanen Hyperion nicht von Zeus’ Ge-
schlecht, welches dasjenige der Titanen beherrschte und ablöste.
Die Sonne ist ein Symbol des aktiven, gegen die Finsternis kämpfenden
Menschen, der im Gegensatz zu den Nomaden, an seinen Sitz zurückkehrt.
Sie verkörpert das Besondere der Wiederkehr, welche die Sesshaftigkeit der
Völker und ihrer Götter ausmacht. Am Morgen geht die Sonne im Osten auf,
eine Geburt symbolisierend, und sie wandert ständig kämpfend über das Fir-
mament, wird von Tieren auf einem Wagen gezogen, um am Abend im Wes-
ten unterzugehen. Damit wird Vergänglichkeit und Tod symbolisiert. In vie-
len Religionen wird die Sonne am Abend im Westen von einem großen Tier
gefressen. Sie durchwandert während der Nacht die Unterwelt, das Jenseits
oder ein Schattenreich, um am Morgen im Osten angelangt wieder aufzuge-
hen. Dies bedeute Wiedergeburt, Neugeburt oder „Auferstehung“. Der rhyth-
mische Sonnenlauf über den Tag und die Nacht wird in allen Religionen ähn-
lich geschildert und erscheint auch im Alten Testament der Bibel, wenn David
im Psalm 19 singt: „Dort hat er der Sonne ein Zelt gesetzt, und sie, wie ein
Sonne und Sonnenkult z 109
Bräutigam geht sie hervor aus ihrer Kammer, läuft freudig wie ein Held die
Bahn. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und geht um bis wieder an
das Ende, nichts bleibt vor ihrer Glut verschont“ [2].
Der Sonnenlauf hat aber noch andere Besonderheiten von großer Symbol-
kraft und Bedeutung: die Finsternisse. Die Sonnenreligionen haben in diesen
die Begegnung von Sonne und Mond, also das Aufeinanderprallen des patri-
archalischen mit dem matriarchalischen Prinzip gesehen. Dies kann einer-
seits eine fruchtbare Begegnung sein und die Befruchtung oder die Begattung
symbolisieren, andererseits aber auch die Dominanz der Sonnenreligionen
darstellen. Es kommt zur Verschmelzung oder Beherrschung der früheren
matriarchalischen Religionen, was für Letztere das Beherrschtwerden, das
Aufgefressenwerden und somit eine Katastrophe bedeutet.
Nur einmal ist es im alten Ägypten von 1364–1348 v. Chr. zur kurzen
Phase einer monotheistischen Sonnenreligion gekommen. Der frühere Son-
nengott Rè, einer von vielen Göttern, ist wie alle anderen abgelöst worden
durch den alleinigen und einzigen Sonnengott Aton (Lichtberg), der von
seinem Priesterkönig Echnaton (Sohn des Aton) verkündet und verehrt
wurde (Abb. 1). Ruinen, Symbole und Darstellungen sind in der Amarna-
Kultur überliefert.
In den monotheistischen Erlöserreligionen, im Judentum und besonders
im Christentum, ist die Sonne als Besonderheit nicht verloren gegangen.
Sie stellt keinen eigenständigen Gott mehr dar. Vielmehr wird sie von dem
unpersönlichen, nicht sichtbaren und zeitlosen Gott abgelöst und sie ist,
wie fast alles, was das Christentum von früheren Religionen übernommen
hat, in seinen Dienst genommen und zum Lobe Gottes eingesetzt worden.
Im Jahre 311 n. Chr. wurde das Christentum von Kaiser Konstantin I d. Gr.
(280–337 n. Chr.), der wohl unter dem Einfluss des väterlichen Sonnenkul-
tes im Jahre 310 eine „Sol-Apollo-Vision“ hatte, toleriert und am Konzil
von Nizäa 325 als Staatsreligion im römischen Reich eingesetzt. Die „allein
selig machende“ christliche Kirche etabliert sich mit dem Papst in der
Nachfolge Petri in Rom und strebt, getragen vom Missionsauftrag, nach
globaler Dominanz. Damit wird die Erde zum „auserwählten“ Planeten,
zum Mittelpunkt der damaligen Welt, um welchen sich die Gestirne und
auch die Sonne (geozentrisches System), zu drehen haben.
Die Sonne wird denn auch im Mittelalter wiederholt in den Dienst der
Lobpreisung Gottes gestellt. Franziskus von Assisi, der Gründer des Fran-
ziskaner-Ordens, besingt 1224 in seinem Sonnengesang (Cantioco di Frate
Sole) den Bruder Sonne und die Schwester Mond und beschwört beide, ihn
in der Lobpreisung Gottes zu unterstützen. Ähnliches hat der Dominikaner-
Mönch Tommaso Campanella 1602 ausgedrückt, als er im Gefängnis seinen
utopischen Roman „Cittá del Sole“ schrieb und einen idealisierten Sonnen-
staat beschrieb.
Im seinem Todesjahr veröffentlicht Nikolaus Kopernikus (1473–1543) auf
Grund von Beobachtungen und Messungen ein „heliozentrisches“ Weltsys-
tem, welches das geozentrische ptolemäische System ablöste (Kopernikani-
sche Wende). Allerdings wurde die Arbeit zunächst als Denkmodell abge-
tan, bis 1632 Galileo Galilei (1564–1642) in seiner berühmten Schrift „Dia-
log über die beiden Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische“
der heliozentrischen Ansicht zum Durchbruch verhalf. Ursprünglich geneh-
migt, wurde das Werk noch im selben Jahr von der katholischen Kirche
wieder verboten und Galilei von der Inquisition 1633 zum Widerruf ge-
zwungen. Doch war die Astronomie und die Erforschung des Sonnensys-
tems nicht mehr aufzuhalten, obschon die katholische Kirche noch bis zum
ersten Drittel des 18. Jahrhunderts brauchte, um die naturwissenschaftli-
chen Tatsachen zu akzeptieren.
Am Übergang zur Neuzeit dient die Sonne noch als Symbol des Absolu-
tismus zur Rechtfertigung der Herrscher (Ludwig XIV als Sonnenkönig)
und dieselbe Sonne wird von der Internationalen Arbeiterbewegung als
Leitbild und Symbol bemüht, wenn gesungen wird: „Brüder, zur Sonne, zur
Freiheit, Brüder, zum Lichte empor.“ Noch immer aber spendet die Sonne
Licht und Wärme und ist die wesentliche Energiequelle für unsere Erde.
Die moderne Wissenschaft bringt es an den Tag. Das Universum ent-
stand vor 15 Milliarden Jahren, das Sonnensystem vor 5 Milliarden und un-
sere Erde dann vor 4,5 Milliarden Jahren. Erste Lebensformen darauf ent-
standen vor 3,5 Milliarden Jahren und die Darwinsche Evolution hatte die-
se ganze Zeitspanne zur Verfügung zur Artenentwicklung mit der enormen
Vielfalt und hin bis zum Menschen, dem Homo sapiens sapiens, wie wir
uns selbstbewusst nennen. Und nun geht es wieder los, in den USA, spe-
ziell in Pennsylvania, wo christliche Fundamentalisten gegen die Evoluti-
onstheorie Sturm laufen und für eine wörtliche Auslegung der biblischen
Schöpfungsgeschichte plädieren, die vor gerade mal 6000 Jahre ihren An-
Sonne und Sonnenkult z 111
Literatur
1. Jung EG (1989) Sonnenkultur und Sonnenkult. Ärztliche Kosmetologie 19:114–116
2. Bibel, AT: Psalm 19, 5–7
3. Köhler A (2005) Gott und Darwin vor Gericht. NZZ Nr 271, 19./20. 11. 2005
4. Jung EG (2003) 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Lichtforschung. Akt Dermatol
29:252–260
Pigment
E. G. Jung
* Abb. C-21.1 aus Dermatologie von I. Moll, 6. Aufl. Duale Reihe 2005, Seite 534.
Auch innerhalb der weißen Rasse gibt es markante Unterschiede, die so-
wohl die Basispigmentierung als auch deren Stimulierbarkeit betrifft. Sie
basieren auf dem genetisch determinierten Verhältnis von schwarzbraunem
Eumelanin und dem rotgelben Phäomelanin. Ein brauchbares Schema zur
Einteilung stammt von Thomas Fitzpatrick (Tab. 1 und Abb. 2).
116 z E. G. Jung
Nach der Entstehung der Hominiden in Afrika vor 2,5 Mio. Jahren kam es
zur Ausbreitung in drei Wellen, Out-of-Afrika nach Europa und Asien, im-
mer über die Landbrücke des vorderen Orients. Mit der zweiten Welle vor
0,8 Mio. Jahren kam der Homo Heidelbergensis und daraus der Neander-
taler (vor 300 000–35 000 Jahren) nach Europa. In der dritten Welle kam
vor 150 000 Jahren der Homo sapiens, der heutige Mensch, nach Europa
und besiedelte zunächst die südlichen Regionen, um dann später auch weit
nach Norden vorzudringen. Frühe Siedelungen sind nachzuweisen und seit
60 000 Jahren auch Kulturdokumente.
Eine rassische Segregation erfolgte, als die Bevölkerungszunahme zu Be-
gegnungen der Völker und zur Konkurrenz um Land, Wasser und Ressour-
cen führten. Dabei spielte die Pigmentierung, dunkel im Süden und hell-
häutig im Norden, eine entscheidende Rolle im Wechselspiel des Pigment-
schutzes gegen übermäßige Sonnenexposition und der Möglichkeit der
Photosynthese von Vitamin D in der Haut durch Sonneneinstrahlung.
Mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 14 000 Jahren beginnt die massive
Besiedelung der fruchtbaren Flusstäler. Siedelungen und Städte entstehen,
die Bevölkerung nimmt zu und die ersten Hochkulturen entstehen. Erneut
entbrennt der Kampf um Land, Wasser, Ressourcen und Handelswege. Poli-
tische und militärische Macht wird entfaltet und religiös unterlegt. Dies
führt wiederum zu Verschiebungen von Völkern oder Teilen derselben, ak-
tiv oder passiv. Eroberung oder Vertreibung, Aufstieg und Fall bestimmen
die Weltgeschichte, ohne dass die Klimaverträglichkeit der Menschen am
neuen Standort berücksichtigt wird. Dies setzt sich fort in den Völkerwan-
derungen, in der Entdeckung neuer Kontinente, in der Kolonialisierung ei-
nerseits und der Versklavung anderseits.
Und auch die moderne Globalisierung führt dazu, dass viele Menschen
mit der ihnen eigenen Pigmentierung nicht in das zugewiesene Klima pas-
sen, resp. zum Bestehen des Strahlungsklimas weder gerüstet noch geschult
sind. Die einstmalige rassische Segregation ist massiv durcheinander ge-
kommen.
In Europa und dem vorderen Orient wird den hellhäutigen Rassen, wohl
egozentrisch, eine Dominanz zugeordnet, die auch in Kulturdokumenten
festgehalten wird. Aber auch innerhalb der hellhäutigen Völker wird blasse
Haut als vornehm herausgestellt und die Bräunung als Zeichen der Feld-
arbeit geschmälert. Dagegen erhebt sich verständlicherweise Widerstand.
Es fängt schon früh an, beginnt doch das Mädchen den Wechselgesang
im Hohen Lied [4] von König Salomo (965–926 v. Chr.) mit dem berühm-
ten „ Nigra sum, sed formosa“:
Sie gefällt sich, obschon sie sonnengebräunt ist von der Arbeit im Wein-
berg, die sie unter Vernachlässigung der eigenen Blässe für die Brüder tat,
braun wie die dunklen Zelte der Nomadenstämme von Kedar oder wie das
Lager von König Salomo selbst, das er mit der schwarzen Königin von Saba
teilte. Sie erachtet sich den blassen Töchtern Jerusalems als gleichwertig.
Erst im 9. Jahrhundert nach Christi Geburt wurde der jüngste der drei
Könige, die dem Christkind an der Krippe zu Bethlehem huldigten, als
Caspar der Mohr mit schwarzer Hautfarbe dargestellt. Das Christentum ist
für alle Menschen da, so sei es ausgedrückt, und mache keine Rassenunter-
schiede.
Und in der Zeit der Kreuzzüge finden Begegnungen aller Art mit den
Sarazenen oder Mauren statt, welche deren Gleichwertigkeit mit den Kreuz-
rittern offen legen, zunächst im Kampf, dann aber auch im höfischen Le-
ben. Wolfram von Eschenbach hat dem Helden Parzival einen Halbbruder,
den Mischling Feirefiz gegenübergestellt, der im Duell und am Hofe als
Liebling der Damen durchaus gleichwertig auftritt [5]. Und im Mittelalter
führt die Begegnung und die Konfrontation das alten Kontinents mit Afrika
und Asien zur Auseinandersetzung mit den Menschen schwarzer Haut [6]
und den Asiaten mit gelber Haut hauptsächlich zur Rassendiskriminie-
rung. Die Entdeckungen von Nord- und Südamerika, von Australien und
den Pazifischen Inselgruppen lassen die ganze Vielfalt menschlicher Rassen
und insbesondere deren Pigmentierung klar werden. Kolonialisierung und
Versklavung sind Folgen davon und führen zur problemgeladenen Bewälti-
gung von Rassentrennung und Apartheid im vergangenen Jahrhundert.
Und auch die Bibel ist nicht ganz frei davon. Ham, der älteste Sohn No-
ahs, sah diesen nackt und betrunken im Zelt liegen und wurde deshalb
vom Vater verflucht [7]. Er und seine Nachkommen sollen seinen Brüdern
als „Knecht der Knechte“ dienen und Hams Sohn Kusch trug als Zeichen
des Fluchs schwarze Haut. Er gilt als Stammvater der Äthiopier und der
Schwarzafrikaner. Diese Auslegung diente zeitweise zur Argumentierung
des Sklavenhandels [8] und wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts aufgege-
ben.
Seit gut hundert Jahren zeigt sich unter den hellhäutigen Menschen eine
neue Entwicklung. Die weiße Haut als Zeichen des Wohlstandes ohne Feld-
arbeit kommt außer Mode. Die Naturalisten und verwandte Bewegungen
implizieren die natürliche Bräunung durch die Sonne infolge ausgedehnten
118 z E. G. Jung
métis (Mischling, eigentlich falsch gewoben; Mulatte). „Le look métis“ gilt
als Maß der Dinge und die Haare sowie die Körperformung werden zu-
recht gepasst [9].
Die gesuchte Bräunung der weißen und die Bleichung der schwarzen
Haut scheinen ja zu konvergieren. Sollte eine Einheitsfärbung in Hellbraun
das Resultat der Bemühungen sein, so müsste ja die Kreuzung der Rassen
zum Ziel führen. Doch damit würde die Hautfarbe zur Prägung der Indivi-
dualität entfallen und müsste ersetzt werden durch andere, gemalte (Body
painting) oder „gestylte“ Eigenheiten, wie es mit permanenter Kosmetik,
mit Tattoo und kosmetischen Operationen schon in bunter Vielfalt angeht.
Literatur
1. Christophers E (2004) Psoriasis – Epitheliale Abwehr und die Entwicklung des Me-
tabolischen (Insulin-Resistenz-) Syndroms. Akt Dermatol 30:289–292
2. Bloch B (1916) Chemische Untersuchungen über das spezifische pigmentbildende
Ferment der Haut, die Dopaoxydase. Zschr F Physiol Chem 98:226–254
3. Moll I (Hrsg) (2005) Dermatologie. Lehrbuch Duale Reihe. Thieme, Stuttgart
4. Bibel, A.T.: H.L. 1, 5–6
5. Jung EG, Ulmschneider H (1996) Das moderne „Happle-Konzept“ der Naevi mit
historischen Bezügen. Akt Dermatol 22:129–131
6. Paravicini Bagliani A (Hrsg) (2005) La Pelle Umana (The Human Skin). Micrologus
XIII. Sismel Ed. del Galluzzo, Firenze
7. Bibel A.T., 1. Mos. (Genesis) 9, 20–27
8. Hayner StR (2002) Noahs Curse: The Biblical Justification of American Slavery. Ox-
ford Univ Press, Oxford
9. Scheen T (2005) Haut light. Afrikanerinnen unterwerfen sich westlichen Schön-
heitsidealen. FAZ Nr 45 vom 13. 11. 2005
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut
C. Wietig, S. Williams, M. Davids, M. Kerscher
keln kann (zum Beispiel Linea nigra), versinnbildlichte helle Haut die Jung-
fräulichkeit und machte besonders begehrenswert. In der Kunst wird helle
Haut geschlechtsspezifisch zwischen Männern und Frauen nuanciert unter-
schiedlich dargestellt. So wurde das Inkarnat, der Fleischton der Körper-
haut, von Frauen immer etwas heller als das der Männer gewählt.
Das „Ideal“ der hellen Haut war jedoch stets mit dem Streben nach rei-
ner, makelloser Haut ohne sichtbare Läsionen und Alterserscheinungen ver-
bunden. Im Papyros Ebers, einer ägyptischen medizinischen Textsammlung
aus dem Jahre 1552 v. Chr., berühren folgende Kapitel der Rezepturvor-
schriften zur Wiedererlangung der Gesundheit die Hautverschönerung und
deren Jungerhaltung (Abb. 1):
„87, 3–4. Desgl. um die Hautfarbe zu ändern, 6–8. Desgl. zur Vertrei-
bung der Gesichtspickel, 8–15. Desgl. um dem Gesichte ein glattes Ansehen
zu geben, 15–17. Desgl. um die Falten im Gesicht zu vertreiben“ [1].
Bei den antiken Griechen wird das Bemühen um Schönheit unter dem
Begriff Kalokagathia ausgedrückt, der als altgriechisches Bildungsziel
Schön- wie auch Gutsein umfasst und dem ästhetischen sowie ethischen
Ideal der Vollkommenheit entsprach. Der Philosoph Demokritos (um
460–371 v. Chr.) und der Schriftsteller Athenaios (um 200 n. Chr.) empfah-
len, die Haut nach der Reinigung mit Fetten zu salben, um deren Glätte zu
erhalten [2]. Bereits die antiken Griechinnen verwendeten Bleiweiß, um ih-
ren Teint aufzuhellen.
Aphrodite, die griechische Göttin der Liebe und Schönheit, die spätere
römische Venus, entstammt den göttlichen Gefilden des Olymp. Ihre An-
mut, ihre helle Haut, ihr blondes Haar und ihre „beglückende Lichtfülle“
stellten für die alten Griechen wichtige Merkmale ihrer göttlichen Aus-
strahlung dar. Der auf der Erde am hellsten erscheinende Planet, der Mor-
gen- und Abendstern, wurde als Venus, der Stern der Liebesgöttin, bezeich-
122 z C. Wietig et al.
„Lernt jetzt, wie das Gesicht, wenn der Schlaf euch befreit die zarten
Glieder, sich glänzend schmücke mit strahlendem Weiß. . . . Thu zwei
Unzen dazu von Tustischen Körnern und Gummi, und neunmal so viel
Honig noch gieße darein. Wenn du dir dann das Gesicht einreibst mit
der obigen Mischung, wird es glänzend, dass selbst heller dein Spiegel
nicht strahlt“ [5].
„1) Abrahamisches Gehab dich wohl . . . : ihre Falten überschmiert sie mit
Curnisoll, Bleyweiß und anderer Schminke, hat beynebens etliche helf-
fenbeinerne Zähn im Maul, welche ihr der Artzt eingesetzet“ [7].
124 z C. Wietig et al.
„Schädliche Schönheitsmittel
Es gibt bekanntlich rothe und weiße Schminke. Die gewöhnlichsten weiß-
färbenden Mittel sind: Der Sublimat, weißer Vitriol, Perlen, Benzoe, Wis-
muth, Bleiweiß, und hiervon vorzüglich das Kremserweis, Koboldpräcipi-
tat, Alabaster und weißer Puder. Roth färbt Karmin, Zinnober, Kugellack,
die mit Zinnober gemachte Seife, Talch (ein venetianischer kalkartiger
Stein) mit Saflor gefärbt, und die Blume der Amaranthe. Brandwein
macht auch auf eine kurze Zeit die Haut roth, wegen seiner erwärmenden
und zusammenziehenden Kräfte“ [8].
Erst im Blick anderer nimmt der eigene Körper Kontur einer Ethnie an.
Wir sind gewohnt, Zeichen des Körpers geografisch, national und kulturell
zu deuten. Durch die binären Denkstrukturen des christlichen Abendlan-
des wurden physische Merkmale wie Konstitution und Hautfarbe in der
Ethnologie und Anthropologie oft dual mit positiven und negativen Eigen-
schaften besetzt. Dies geschieht am folgenschwersten in rassentheoretischen
Diskursen. Für den Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816–1882)
zum Beispiel war die Hautfarbe ein zentrales Kriterium [9].
Weil dunkle Haut sich weniger sichtbar verändert, galt sie bei einigen
Menschen als undurchdringlicher und verhüllend (englisch für hide). Auch
die Etymologie von Color verweist auf celare (lat. für verstecken). Danach
haben Farbpigmente zugleich bergenden bzw. verbergenden Charakter. In
den USA steht Color synonym für Race. Durch die in vielen Ländern wie
auch den USA gängige Unterscheidung in white und colored (als degradie-
rende Subsummierung aller „nicht-weißen“ Menschen) wird die anthro-
pologische und ideologische Frage von Farbigkeit und Farblosigkeit auf-
geworfen, die die binäre Struktur des Denkens mit den Konstrukten von
Farbig und Weiß der folgenschweren „Epidermical hierarchy“ begründet.
Jedoch gibt es auch gegenüber bestimmten Aspekten heller Haut Vor-
behalte. So wird seit Beginn des Jetset-Zeitalters helle Haut oftmals mit
Blässe und Krankheit assoziiert, während sonnengebräunte Haut als „ge-
sunde Hautfarbe“ bezeichnet wird. Ausgeprägte Vorbehalte zeigten sich
von jeher gegenüber der Pigmentlosigkeit des Albinismus. In der Literatur
wird die Perzeption pigmentfreier Haut von Franz Kafka (1883–1924) und
den zeitgenössischen Schriftstellern Plath und John Edgar Wideman als
mangelhafte, formlose, kranke und leblose Hülle vorgestellt. Wideman be-
schreibt in seinem Roman „Sent for You Yesterday“ (1983) den Albino
Brother Tate als „dead in bag of white skin“ [10]. Menschen mit Albinis-
mus wurden auch in vielen Religionen als „un-menschlich“ angesehen, für
die normale soziale Regeln nicht galten. Darum begegnete man ihnen mit
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut z 125
Scham, Tötung oder – weil man glaubte, sie seien auferstandene Tote – mit
Apotheose, die sie schützte. Erst im Zeitalter der Aufklärung wird nach
dem Werk Georges Louis Leclerc Buffons (1707–1788) „Histoire naturelle“
(1777) der Albinismus als eine individuelle Variante innerhalb der Spezies
entmystifiziert.
Das „ideale“ Körperbild, ursprünglich den Göttern und höheren Ständen
vorbehalten, wird seit der Antike bis heute als Statussymbol der sozialen
Macht angestrebt. Das über Jahrhunderte fest verankerte „Ideal“ der hellen
Haut wurde Ende des 20. Jahrhunderts aufgeweicht, unter anderem durch
das Reisen in ferne Länder als Symbol für materielle Unabhängigkeit. Trotz
Eiferns nach sonnengebräunter Haut blieb jedoch in den westlichen Gesell-
schaften weiterhin das „Idealbild“ des hellen Hautphänotyps bestehen. Das
Streben nach stark sonnengebräunter Haut durch intensives Sonnenbaden,
das vor 10 bis 30 Jahren seinen Höhepunkt hatte, wurde durch Aufklä-
rungskampagnen über die schädlichen Wirkungen des ultravioletten Lich-
tes relativiert, jedoch nicht vollständig aufgehoben. Auch heute noch gilt
ein leicht gebräunter Teint als erstrebenswert, wenn auch nicht um jeden
Preis. Davon zeugt zum Beispiel der derzeit zu beobachtende Boom Dihy-
droaceton-haltiger „Selbstbräuner“.
Literatur
1. Papyros Ebers (1987) Das hermetische Buch über die Arzneimittel der Alten
Ägypter in hieratischer Schrift, Leipzig 1875. Biblio, Osnabrück
2. Sigismund R (1884) Die Aromata in ihrer Bedeutung für Religion, Sitten, Gebräu-
che, Handel und Geographie des Alterthums bis zu den ersten Jahrhunderten un-
serer Zeitrechnung. Winter’sche Verlagshandlung, Leipzig
3. Ströter-Bender J (1994) Liebesgöttinnen. Von der Großen Mutter zum Hollywood-
star. Dumont, Köln
4. Ovidi Nasonis P (1989) Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Re-
media Amoris, Editit, Brevique Adnotatione Critica. Kenney EJ (Hrsg) Oxford
University Press, Oxford
5. Rimmel E (1985) Das Buch des Parfums, Die klassische Geschichte des Parfums
und der Toilette. Hesse & Becker, Dreieich
6. Liggett J (1989) Die Tyrannei der Schönheit. Heyne, München
7. Schultz A (1890) Alltagsleben einer deutschen Frau zu Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts. Hirzel, Leipzig
8. Anmuth und Schönheit aus den Misterien der Natur und Kunst für ledige und
verheirathete Frauenzimmer mit Kupfern, Berlin, 1797 (1978) Reprint der biblio-
philen Taschenbücher. Harenberg Kommunikation, Dortmund
9. Gernig K (2001) Fremde Körper im Visier. In: Randow G (Hrsg) Wie viel Körper
braucht der Mensch. Standpunkte zur Debatte für den Deutschen Studienpreis.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg, pp 119–128
10. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. 2.
Aufl. Rowohlts Enzyklopädie, Hamburg
Blonde Menschen im alten China
M. Reitz
nicht selten sogar blonden Haaren. Heute würde man die Bewohner für eu-
ropäische Touristen halten, doch es waren Einheimische [1, 2].
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als Archäologen entlang der ehema-
ligen Seidenstraße verstärkt mit Grabungsarbeiten begannen, tauchen im
heute chinesischen Teil von Turkestan immer wieder Papierfetzen mit Res-
ten einer Schrift auf, die lange Zeit niemand lesen konnte. Die Sprache die-
ser Schrift war unbekannt, und sie unterschied sich völlig von den heute
dort gesprochenen Sprachen. Papieranalysen zeigten, dass die Funde über-
wiegend aus der Zeit zwischen dem 6. bis 8. Jahrhundert n. Chr. stammten,
manchmal aber auch wesentlich älter waren. Als es Sprachforschern
schließlich gelang, die Schrift zu lesen, war die Sensation perfekt. Die ge-
fundenen Papiere waren in einer uralten indoeuropäischen Sprache be-
schrieben worden, die heute ausgestorben ist und die den Namen „Tocha-
risch“ erhielt (Tab. 1). Nach und nach wurden Reste von Alltagsdokumen-
ten und einer einst reichen tocharischen Literatur gefunden, doch es fehl-
ten lange Zeit Hinweise auf das passende Volk, das früher diese ausgestor-
bene Sprache gesprochen hatte. Erst als insbesondere im Tarimbecken mu-
mifizierte Europide ausgegraben wurden, war der Kreis geschlossen. Mit
großer Wahrscheinlichkeit waren es diese Menschen gewesen, die zu ihren
Lebzeiten Tocharisch sprachen, eine Sprache, die nach Europa, aber nicht
nach China weist [3, 4].
128 z M. Reitz
Das Tocharisch war eine sehr reiche Sprache gewesen und stand den
westlichen indoeuropäischen Sprachen näher als den ebenfalls indoeuro-
päischen iranischen Sprachen oder dem altindischen Sanskrit. Die tochari-
sche Schrift war eine kursive Schrift gewesen und ging auf das Vorbild von
indischen Schriften zurück. Es gab keine Buchstaben, sondern ausschließ-
lich Silbenzeichen. Worttrennungen waren nicht üblich, und der gesamte
Text wurde in einem Zug durchgeschrieben. Bisher konnten mindestens
zwei Variationen der Sprache sicher identifiziert werden. Tocharisch A ist
im Tarimbecken belegt und war möglicherweise eine feierliche Liturgie-
sprache ähnlich dem Latein in der katholischen Kirche. Tocharisch B war
räumlich weiter verbreitet und auch sprachlich stärker gegliedert. Wahr-
scheinlich handelte es sich um die Umgangssprache der Bevölkerung. Im
Grenzbereich zu Tibet fanden sich auch Hinweise auf ein Tocharisch C [3].
Die Sprache Tocharisch verschwand zusammen mit dem Volk oder den
Völkern, die sie einst sprachen, um das Jahr 1000 n. Chr. Vermutlich hängt
der Untergang mit dem Vordringen der Mongolen zusammen, die unter ih-
rem Herrscher Dschingis Khan höchst grausam ein gewaltiges Reich er-
oberten. Während dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wurden ver-
schiedene kleinere Völker ausgerottet, und es ist wahrscheinlich, dass die
Menschen, die Tocharisch sprachen, dazu gehört hatten. Überlebt haben
bis heute nur Mischvölker zwischen den einstigen reinrassigen europiden
Völkern und anderen Volksgruppen. Insbesondere das chinesische Volk der
Uiguren trägt noch viele genetische Merkmale der Europiden und grenzt
sich bewusst von den dominierenden Chinesen ab [2].
Die Geschichte der europiden Menschen auf dem Gebiet des heutigen Chi-
na begann mit den großen indoeuropäischen Völkerverschiebungen in der
Zeit zwischen dem 4. und 1. Jahrtausend v. Chr. Wo die indoeuropäische
Urbevölkerung einst lebte, läßt sich nicht mehr sicher rekonstruieren, und
auch das Urvolk selbst ist unbekannt. Häufig wird ein Gebiet rund um das
Schwarze Meer genannt. Die meist als Proto-Indoeuropäisch bezeichnete
Elternsprache wurde vermutlich bereits vor der Zeit um 3000 v. Chr. ge-
sprochen und hat sich anschließend in weitere Sprachen aufgespalten. Die
Sprache der Proto-Indoeuropäer war außergewöhnlich erfolgreich und
durchsetzungsfähig. Heute dominiert die Familie der indoeuropäischen
Sprachen die Welt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung sprechen ge-
genwärtig eine indoeuropäische Sprache.
In zwei Keilen zogen einst die Menschen der indoeuropäischen Ur-
bevölkerung wahrscheinlich von südrussischen Steppengebieten aus sowohl
nach Westen als auch nach Osten. Es waren kampferprobte und sieges-
gewohnte Stämme, die bereits Pferde und Wagen kannten und große Vieh-
herden mit sich führten. Sie setzten sich als vorzüglich bewaffnete Krieger
130 z M. Reitz
Britanisch
Goidelisch Kumbrisch
Schottisch-Gälisch Walisisch Isländisch
Manx Gälisch Kornisch Färöisch Schwedisch
Irisch-Gälisch Bretonisch Norwegisch Dänisch BALTISCH
Lettisch
(Insel-)
Nord- Litauisch BALTO-
KELTISCH SLAWISCH
(Festland-)
GERMANISCH PROTO-
West- Ost-
Keltiberisch Gallisch Galatisch
Englisch
Polnisch SLAWISCH Belorussisch INDOEUROPÄISCH
Friesisch West- Ost-
Flämisch Gotisch Tschechisch Russisch
Deutsch Slawisch Ukrainisch
Niederländisch Süd-
Afrikaans
Jiddisch Sorbisch Bulgarisch TOCHARISCH
Makedonisch
Französisch Rätoromanisch Serbo-Kroatisch
ARMENISCH
Rumänisch
Okzitanisch Slowenisch
Katalanisch ITALISCH ALBANISCH ANATOLISCH
Spanisch (Latein)
Portugiesisch Italienisch GRIECHISCH Ossetisch IRANISCH INDO-IRANISCH
Kurdisch Tadschikisch
Sardisch
Persisch Paschto INDO-
Belutschi
Nordwest- ARISCH Ost-
Panschabi Pahari Assamesisch
(Sanskrit)
Lahnda Dardisch Bengali
Sindhi Oriya
Zentral-
West- und
Rajasthani Behari
Südwest-
Hindi/Urdu
Gujarati
Marathi
Konkai
Maledivisch Singhalesisch
Abb. 4. Stammbaum der indoeuropäischen Sprachfamilie. Tocharisch war eine sehr ursprüngli-
che indoeuropäische Sprache
Blonde Menschen im alten China z 131
konnten einem europiden Gentyp zugeordnet werden und erst später ka-
men in unterschiedlichen Einwanderungswellen mongoloide Gentypen hin-
zu. Es ist anzunehmen, dass die Europiden von Osten nach Westen immer
stärker zurückgedrängt wurden. Heute besitzen die Bewohner von Ka-
sachstan etwa zur Hälfte jeweils europide und mongoloide Genmerkmale
[2].
Tüchtige Handwerker
Grabbeigaben und künstlerische Darstellungen heben immer wieder her-
vor, dass die Menschen, die vermutlich Tocharisch sprachen, tüchtige
Handwerker waren. Wahrscheinlich übernahmen die Chinesen den Wagen-
bau und die Ausstattung der Pferde von benachbarten Nomadenvölkern.
Weber der europiden Bewohner produzierten hervorragende Stoffe. Ins-
besondere nach 1000 v. Chr. war die Kleidung sehr aufwändig (Abb. 6). Es
wurden Kleidungsstücke aus Leder, Lederschuhe, Hemden, Wollhosen und
Mit dem historisch nachweisbaren Volk der Tocharer stand das untergegan-
gene Volk (oder Völker), das Tocharisch sprach, jedoch in keiner Bezie-
hung. Der Name der Sprache ist somit recht unglücklich gewählt. Die ech-
ten Tocharer waren ein im Aussehen ebenfalls stark europid geprägtes
Volk, aber sie waren nicht blond. Von den Chinesen wurden sie Yuezhi ge-
nannt. Nach ihrer Niederlage gegen die Vorläufervölker der Hunnen im
Jahre 176 v. Chr. mussten sie ihre Wohngebiete verlassen und überrannten
später das noch aus der Zeit von Alexander dem Großen von griechischen
Herrschern regierte Baktrien. Ihr neuer Siedlungsraum erhielt später den
Namen Tocharestan, heute Teile von Usbekistan. Tadschikistan und Afgha-
nistan. Die echten Tocharer sprachen nicht Tocharisch, sondern eine ande-
re indoeuropäische Sprache [4].
Europide in Ostasien
ben, und auch die Männer aus dem Volk der Chieh zeichneten sich durch
europide Nasen und vollen Bärten aus. In den Kontaktrassen zwischen eu-
ropid und prämongoloid gab es durch unterschiedliche Vermischungen von
Volk zu Volk ein wechselndes Aussehen. Die Völkergruppe der Hsiung-nu,
die allgemein als die Vorläufer der Hunnen angesehen werden, bieten dazu
ein gutes Beispiel. Die Hsiung-nu bestanden aus etwa 19 Stämmen. Bei ein-
zelnen dieser Stämme waren die Mitglieder häufig stark europid geprägt.
Liu Yüan, ein gefeierter Eroberer der Hsiung-nu, war 1,84 Meter groß und
besaß einen dichten rötlichen Bart. Der Herrscher Ho-lien Po-Po, Be-
gründer einer Dynastie der Hsiung-nu und Zeitgenosse des in Europa
berüchtigten Attila, war 1,95 Meter groß und sah nur sehr wenig mongo-
loid aus. Römische Autoren beschrieben die Hunnen als sehr hässlich und
fremdartig. In den Texten spielte wahrscheinlich die Propaganda eine große
Rolle, denn manche Hunnen unterschieden sich nach anderen Aussagen
optisch kaum von den Europäern. Es gab in der römischen Armee sogar
Reitereinheiten aus übergelaufenen hunnischen Kriegern. Sie waren ver-
mutlich in Nordafrika und Britannien stationiert und galten als hervor-
ragende Elitetruppen. Ein chinesischer Kaiser, dessen Mutter aus einem der
rassisch gemischten Nomadenvölker stammte, soll im 4. Jahrhundert n.
Chr. einen blonden Bart gehabt haben. Sogar im Stamm von Dschingis
Khan, dem bedeutenden Herrscher der Mongolen, soll es Menschen mit
blauen Augen und rotbraunen Haaren gegeben haben. Noch heute werden
in der Mongolei Kinder mit braunen Haaren und fast europiden Nasen ge-
boren [7]. Nach den griechischen Mythen der Antike werden die Kriegerin-
nen der Amazonen häufig als blond beschrieben; sie stammten aus weit
entfernten asiatischen Steppengebieten.
Literatur
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7. Maenchen-Helfen OJ (1997) Die Welt der Hunnen. Herkunft-Geschichte-Religion-
Gesellschaft-Kriegsführung-Kunst-Sprache. VMA-Verlag, Wiesbaden
Weiße Indianer in Nordamerika
M. Reitz
Die genaue Herkunft der ersten Amerikaner liegt immer noch in einem
rätselhaften Dunkel. Es gab Hauptwanderwellen aus Asien, aber auch bis-
her ungeklärte kleinere Einwanderungen aus anderen Kontinenten. Gesi-
chert ist allein, dass die große Mehrheit der Vorfahren der amerikanischen
Urbevölkerung einst in mindestens drei großen Wellen über eine Land-
brücke zwischen Sibirien und Alaska in die Neue Welt eingewandert ist.
Diese Landbrücke glich einem kleinen Kontinent, war einige tausend Kilo-
meter breit und wurde Beringia genannt. Sie bildete sich während der Eis-
zeit in den vergangenen 100 000 Jahren mindestens zweimal aus und war
nicht vereist. Vor rund 50 000 bis 40 000 Jahren sowie vor rund 25 000 bis
14 000 Jahren waren so gewaltige Wassermassen im Eis gebunden, dass der
Meeresspiegel um etwa 100 Meter niedriger lag als in der Gegenwart. Da-
mit waren auch die Küstenlinien völlig verändert und große Teile der
Landmassen waren leichter zu erreichen als nach dem Ende der Eiszeit.
Vermutlich kam der moderne Mensch, Homo sapiens, während seiner
Ausbreitung über die Erde erst vor rund 30 000 Jahren in Sibirien an, so
dass Beringia von ihm nur während einer der letzten Trockenphasen
durchschritten werden konnte. Tatsächlich belegen bei Indianern verglei-
chende Analysen des männlichen Y-Chromosoms, dass seit etwa 18 000
Jahren in Nordamerika Menschen leben. Das Y-Chromosom kann zu 95%
mit dem X-Chromosom keine Rekombination eingehen, so dass es über die
Generationen hinweg unverändert bleibt und aufgrund von regelmäßigen
spontanen Veränderungen einem molekularen Kalender gleicht. Außerdem
wurden sowohl in Nord- als auch in Südamerika noch nie menschliche
Fossilien gefunden, die älter als 13 500 Jahre sind. Indirekte Hinweise spre-
chen allerdings dafür, dass es möglicherweise bereits vor rund 30 000 Jah-
ren in Amerika Menschen gegeben haben könnte [1, 2].
Der Kennewick-Mann
Auch nach der Eiszeit machten sich immer wieder Menschen auf den Weg
von Europa nach Amerika. Während der Antike war das Ziel allerdings we-
niger Nordamerika sondern hauptsächlich Südamerika und die Karibik. Im
Gegensatz zu den Menschen des Solutréen handelte es sich nicht um Ein-
wanderer, sondern mehr um Seefahrer, die vermutlich keine dauerhaften
Siedlungen mit eigenständigen Bevölkerungsgruppen gründeten. Erst die
Wikinger und mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Iren und Waliser lie-
ßen sich dauerhaft in Nordamerika nieder [5, 6]. Ihre Siedlungen gerieten
später in Vergessenheit und alle Verbindungen zur Alten Welt rissen ab, so
dass im Zeitalter der Entdeckungen niemand über „weiße“ Bevölkerungs-
gruppen in Amerika informiert war.
Neben wenigen archäologischen Funden wie beispielsweise Häuserreste
und eine Schmiede nahe dem Ort L’Anse-aux-Meadows auf Neufundland
bestätigen allein überlieferte Sagas, dass die Wikinger um das Jahr 1000 n.
Chr. in Amerika waren und dort Siedlungen gegründet hatten. Der legen-
däre Wikinger Leif Erikson soll mit seinen Männern von Island aus in
Amerika gelandet sein und das neuentdeckte Gebiet nach den wilden wein-
ähnlichen Pflanzen „Vinland“ genannt haben. Sein berühmter Vater, Erik
der Rote, soll vor ihm ebenfalls in Amerika gewesen sein. In der Grönland-
Saga der Wikinger wird ein Land westlich von Grönland beschrieben, und
die Saga des Thorfinn Karlsefni berichtet schließlich, dass er mit seinen
Leuten in Amerika eine Dauersiedlung gründen wollte. Er soll um das Jahr
1005 mit 60 bis 160 Siedlern in Amerika gelandet sein. Wikingergebiete in
Nordamerika sollen neben Vinland noch Markland und Helluland gewesen
sein. Wie tief die Wikinger einst in den nordamerikanischen Kontinent ver-
drangen, ist unbekannt. Im US-Staat Maine wurde einmal eine Silbermünze
des Wikingerkönigs Olaf Kyrri (11. Jahrhundert) gefunden. Umstritten ist
der Stein von Kensington in Minnesota mit einer Runeninschrift. Er be-
richtet über Auseinandersetzungen zwischen Wikingern und Indianern im
Jahre 1362, gilt allerdings für manche Fachleute als Fälschung.
Während des Hochmittelalters war es in Europa wärmer als heute, und
in Grönland lebten etwa 3000 Wikinger überwiegend von der Viehzucht.
Sie trieben Handel mit den amerikanischen Wikingersiedlungen und im-
portierten hauptsächlich Holz. In einer grönländischen Wikingersiedlung
wurde einmal eine typische Pfeilspitze der Indianer aus Labrador-Quarzit
gefunden, die wahrscheinlich ein verwundeter Wikinger bei seiner Rück-
kehr im Körper trug. Der grönländische Bischof der christlichen Wikinger
führte sogar ab 1120 den auf Dokumenten belegten Titel „Bischof von
Grönland und Vinland“. Als sich am Ende des Mittelalters das Klima je-
doch ständig verschlechterte, mussten die grönländischen Wikingersiedlun-
gen aufgegeben werden, und viele Menschen kehrten wegen der Kälte nach
Island zurück. Die grönländische Westsiedlung der Wikinger war beim Be-
such einer bischöflichen Delegation um 1350 menschenleer. Opfer von Aus-
Weiße Indianer in Nordamerika z 139
Die Vinland-Karte
Nach der Gründung der Vereinigten Staaten drängten bald viele wagemuti-
ge Pioniere in das Innere des riesigen Landes. Sie wollten dort siedeln und
schnell zu großem Reichtum gelangen. Obwohl es viele überraschende Ent-
Weiße Indianer in Nordamerika z 141
Ihre Haarfarbe war nicht tiefschwarz wie bei anderen Indianern, sondern
mehr dunkel- und hellbraun oder sogar blond (Abb. 4). Der amerikanische
Maler George Catlin besuchte 1832 die Mandan und lebte einige Monate
bei ihnen, um Zeichnungen und Skizzen anzufertigen. Ihn begeisterten die
jungen Mandan-Frauen, die nach seiner Meinung wie europäische
Schönheiten aussahen (Abb. 5). Catlin war überzeugt, dass die Mandan von
den walisischen Siedlern um Prinz Madoc abstammten. Diese Siedler wur-
den in Wales „Madawgwys“ genannt, was zu dem Namen „Mandan“
geführt haben könnte. In ihren Mythen verehrten die Mandan einen „wei-
ßen Mann“ als Urvater und kannten noch vor der Ankunft von christlichen
Missionaren Relikte von Erzählungen aus der Bibel.
Bevor die großen Siedlungswellen das Gebiet der Mandan erreichten,
waren sie bereits ausgestorben. Um 1838 hatte ein Dampfer aus St. Louis
Literatur
1. Scarre C (2005) The Human Past. Thames & Hudson, London
2. Olson S (2002) Mapping Human History. Discovering the Past through our Genes.
Houghton Mifflin, Boston, New York
3. Herrmann J, Ullrich H (Hrsg) (1991) Menschwerdung. Millionen Jahre Mensch-
heitsentwicklung. Akademie Verlag, Berlin
4. Dillehay T (2000) The Settlement of the Americas. Basic Books, New York
5. Stein W (Hrsg) (1992) Kolumbus oder wer entdeckte Amerika? Hirmer, München
6. Morison SE (1971) The European Discovering of America – The Northern Voya-
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York
8. Hermann P (1952) 7 vorbei und 8 verweht. Die Abenteuer der frühen Entdeckun-
gen. Hofmann und Campe, Hamburg
9. Reitz M (2003) Auf der Fährte der Zeit. Mit naturwissenschaftlichen Methoden
vergangene Rätsel entschlüsseln. Wiley-VCH, Weinheim
10. Schmitz H-P (2001) Mandan/Madoc/Madawgwys. Die Suche nach den Wurzeln
des Mandan-Volks. Magazin für Amerikanistik, Heft 1
Weiße Indianer in Südamerika
M. Reitz
Abb. 1. Mögliche Routen zur Erstbesiedlung von Amerika. Die ersten Einwanderer kamen ver-
mutlich mit Schiffen und nicht über Land
schen 11 000 und 11 500 Jahre alt ist. Vergleichende Studien verrieten eine
Überraschung. Der Schädel der jungen Frau war nicht asiatisch, sondern
zeigte aufgrund spezifischer Merkmale in den australisch-melanesischen
Raum. Einen solchen denkbaren Kontakt haben auch die heute ausgestor-
benen Ureinwohner von Feuerland hervorgehoben. Sie zeichneten sich wie
„Luzia“ ebenfalls durch australisch-melanesische Merkmale aus. Wenn auch
die heutigen australischen Aborigines keine Seefahrertradition mehr besit-
zen, ihre fernen Urahnen mussten dennoch recht tüchtige Seefahrer gewe-
sen sein, denn sie konnten Australien nur über das Meer erreicht haben
[1–3].
Südamerikanische Rätsel
Abb. 5. Vorder- und Seitenansicht des römischen Kopfes von Calixtlahuaca, gefunden in einem
intakten Aztekengrab aus der Zeit vor der Ankunft der Spanier (National-Museum für Anthro-
pologie, Mexico-City, Mexiko)
152 z M. Reitz
formen. Der irische Mönch Brendan war angeblich um das Jahr 531 mit 12
Begleitern in Amerika gewesen. Es ist denkbar, dass er spätere Missionstä-
tigkeiten anregte und neue Mönche schickte. Es soll sogar im Mittelalter in
Amerika irische Siedlungsgebiete gegeben haben und in Florida Missions-
stationen mit einer regen Reisetätigkeit der Mönche. Als der spanische Er-
oberer Cortez erstmals Mexiko betrat, stellten ihm Feinde der Azteken die
Indianerin Malintzin als Dolmetscherin zur Verfügung. Nach ihrer Taufe
wurde diese Indianerin Donna Maria genannt; jedoch ist nicht nachvoll-
ziehbar, auf welcher sprachlichen Grundlange sie sich so gut mit den Spa-
niern verständigen konnte.
Die Inka verehrten schließlich den weißen Heilsbringer Viracocha und
seine Begleiter. Sie sollen am Titicaca-See gelebt und den Menschen ihr
Wissen vermittelt haben. Aus Bewunderung hätten ihnen die Einhei-
mischen große Bauwerke errichtet. Nach Auseinandersetzungen mussten
auch Viracocha und seine Begleiter das Land wieder verlassen. Sie hätten
sich im heutigen Ecuador gesammelt und wären unter Führung von Kon-
Tiki hinaus in den Pazifik gesegelt. Noch heute bauen Indianer am Titica-
ca-See hochseefähige Schiffe aus Schilf, die allerdings nicht für das Meer
bestimmt sind. Der Forscher Thor Heyerdahl unternahm mit solchen
Schiffstypen sogar weite Reisen über das Meer [2–4, 6, 8, 9].
154 z M. Reitz
Die gewöhnliche Bohne Phaseolus vulgaris war bereits den Griechen und
Römern bekannt und gehörte zur allgemeinen Ernährung der Menschen.
Später wurde beobachtet, dass auch Indianer in Südamerika die gleiche
Bohnenart wie die Europäer kultivierten. Lange Zeit wurde angenommen,
Weiße Indianer in Südamerika z 155
dass die Spanier einst die Bohne in die Neue Welt eingeführt und die In-
dianer sie als Nahrungsmittel übernommen hatten. Doch Grabfunde in Pe-
ru machten diese Vorstellungen zunichte. In einem unversehrten Grab aus
der Zeit vor den Inka fanden Forscher in Mittelperu Bohnen als Totennah-
rung. Sie waren dem Toten als Proviant für das Jenseits mitgegeben worden
und waren mit den Bohnen der Griechen und Römer identisch. Bohnen
wurden zuerst in der Alten Welt kultiviert und in Amerika gibt es keine
Wildformen von ihnen. Ihr Weg in die Neue Welt ist rätselhaft.
Baumwolle birgt als Beleg für frühe weltweite Handelsbeziehungen und
Atlantiküberquerungen ebenfalls noch manches Geheimnis. In Mesopota-
mien und Ägypten wurde schon früh Baumwolle angebaut, deren Zellen 13
große Chromosomen besitzen. In Amerika gibt es eine wild wachsende
Baumwollart mit 13 kleinen Chromosomen, deren Fäden allerdings für eine
Textilproduktion nicht geeignet sind. Dennoch haben Baumwollstoffe in
den altamerikanischen Hochkulturen eine lange Tradition, und die Inka
waren Meister der Webkunst. Von Mexiko bis Peru bauten die Indianer lan-
ge vor Kolumbus eine Baumwollart zur Textilherstellung an, deren Zellen
13 kleine und 13 große Chromosomen enthielten. Es handelte sich um eine
Kreuzung, einen Hybriden, zwischen der kultivierten orientalischen Baum-
wollart und der wilden amerikanischen Baumwollart. Nach Meinung von
Botanikern konnte eine solche Kreuzung nicht zufällig entstanden sein,
sondern wurde von Menschen durchgeführt [6].
Literatur
1. Scarre C (ed) (2005) The Human Past. Thames & Hudson, London, New York
2. Lavallée D (2000) The First South Americans: The Peopling of a Continent from
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mes & Hudson, London New York
9. Zillmer H-J (2004) Kolumbus kam als Letzter. Langen Müller, München
Die Hautfarbe der alten Ägypter
M. Reitz
Die Wurzeln der abendländischen Kultur gehen bis in die Antike zurück
und wurden entscheidend von den Griechen und Römern geprägt. Beide
Zivilisationen schufen die Grundlagen für eine Kultur, die heute auf vielen
Gebieten weltweit dominierend ist und zahlreichen anderen Kulturen als
Vorbild dient. Griechen und Römer, aber auch andere Völker des Mittel-
meerraumes und des Vorderen Orients, die das Fundament für diese so er-
folgreiche Kultur legten, gehörten der europiden Großrasse an, so dass die
abendländische Kultur heute als ein Werk von unterschiedlichen europiden
Volksgruppen gilt.
in „schwarz“ umkehren [1]. Doch, was spricht für diese These, und waren
die alten Ägypter wirklich schwarz? Die Realität sieht völlig anderes aus
und ist weit davon entfernt, „weiß“ oder „schwarz“ zu sein.
Abb. 2. Fayence-Wandkacheln,
gefunden in Medinet Habu,
Palastruine von Pharao Ramses
III. (1195–1162 v. Chr.), Höhe
25 cm. Dargestellt ist von links
nach rechts ein Nubier, ein Sy-
rer und ein Libyer. (Ägypti-
sches Nationalmuseum, Kairo)
Um die Herkunft der alten Ägypter und die Diskussionen um ihre Hautfar-
be besser zu verstehen, ist eine Exkursion in die tiefe Vergangenheit von
Nordafrika notwendig. Vor mehr als 10 000 Jahren, als in Europa noch Eis-
zeit herrschte, war die Sahara grün und nicht wie heute eine lebensfeindli-
che Wüste. In den fruchtbaren Steppen- und Savannenlandschaften mit
Flüssen und Seen lebten damals Jäger und Sammler, die später auch zu
Hirten und Viehzüchter wurden. Sie hinterließen wie die steinzeitlichen Be-
wohner von Frankreich und Spanien zahlreiche Felszeichnungen. Nach Ske-
lettfunden handelte es sich bei ihnen häufig um Menschen des Cro-Mag-
non-Types, die während der Steinzeit den Mittelmeerraum bevölkerten und
auch in Westeuropa, insbesondere in Frankreich (Abb. 6), lebten. Zu ihren
Nachkommen gehören in Nordafrika die Berber, die sich noch heute durch
eine relativ helle Haut auszeichnen, teilweise blaue Augen besitzen und wie
Südeuropäer aussehen. Etwa ab dem 7. bis 11. Jahrhundert n. Chr. wurden
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 161
Abb. 6. Künstlerisch anspruchsvolle Steinritzung von zwei menschlichen Figuren aus der Stein-
zeit in Frankreich, gefunden in La Marche. Beide Menschen sind nicht schematisch dargestellt.
Es gibt Ähnlichkeiten mit der altägyptischen Malerei: Kopf im Profil und Auge frontal (nach D.
Vialou und D. Ferembach, 1981)
Literatur
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Press, New York
2. Knußmann R (1996) Vergleichende Biologie des Menschen. Fischer, Suttgart, Jena
3. Schwidetzky I (1974) Grundlagen der Rassensystematik. Bibliograph Institut,
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4. Reitz M (1999) Alltag im alten Ägypten. Battenberg, Augsburg
5. Olson S (2002) Mapping Human History. Discovering the Past Through Our Genes.
Houghton Mifflin, Boston New York
6. Cavalli-Sforza LL (1999) Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen
unserer Zivilisation. Carl Hanser, München Wien
7. Herrmann J, Ullrich H (1991) Menschwerdung. Millionen Jahre Menschheitsent-
wicklung. Akademie Verlag, Berlin
Die weiße Dame von Abri Maak
M. Reitz
Eine dunkle Haut ist kein rassenspezifisches Merkmal, sondern eine An-
passung an die UV-Bestrahlungsintensität des jeweiligen Lebensraumes. Ei-
nerseits ist der menschliche Organismus auf eine gewisse UV-Bestrahlung
angewiesen, andererseits darf diese UV-Bestrahlung jedoch nicht zu hoch
ausfallen, um keine Schädigungen auszulösen. UV-Strahlen regen zum Bei-
spiel die Synthese von Vitamin D an und sind somit lebenswichtig. Gleich-
zeitig zerstören UV-Strahlen aber auch in den feinen Blutgefäßen der Le-
derhaut die für den Zellstoffwechsel wichtige Folsäure, so dass sich ein Fol-
säuremangel entwickeln kann. An Ratten und Mäusen wurde gezeigt, dass
Folsäuremangel die Fruchtbarkeit beeinträchtigt und sich somit die Über-
lebensrate in einer Population sofort gegen Individuen mit Folsäuremangel
richtet. Da UV-Strahlen außerdem die DNA der Hautzellen schädigen,
fördert eine zu hohe UV-Strahlenbelastung zusätzlich noch die Hautkrebs-
entwicklung. Individuen mit einer für ihre Umwelt falsch angepassten
Hautfarbe sterben deshalb aufgrund der UV-Bestrahlungsfolgen langfristig
aus [1].
bildete feingliedrige Frau trug Schuhe, ein Haarnetz sowie eng anliegende
Kleidungsstücke (Abb. 1). In einer Hand hielt sie einen Bogen mitsamt
Pfeilen und in der anderen Hand eine Lotosblüte. Stilistisch und in der Ele-
ganz der Bewegung verwies die Malerei in den fernen Mittelmeerraum und
verriet Anklänge an frühe altägyptische Darstellungen. Spätere Datierungen
zeigten, dass die Bilder etwa um 5000 v. Chr. gemalt worden waren.
Über die Herkunft und das weitere Schicksal der hellhäutigen Menschen
im südlichen Afrika wird bis heute gerätselt. Noch am Ende der Steinzeit
war die gegenwärtige Wüste Sahara grün und glich einer fruchtbaren Sa-
vannen- und Steppenlandschaft mit großen Seen, zahlreichen Flüssen sowie
einer reichen Tierwelt. Vor ungefähr 6500 Jahren lag zum Beispiel der Was-
serspiegel des Tschad-Sees rund 40 m höher als in der Gegenwart und äh-
nelte eher einem Binnenmeer als einem See. Beiderseits des Mittelmeeres
lebten während dieser Zeit sowohl auf europäischer als auch auf nordafri-
kanischer Seite Cro-Magnon-Menschen, die sich nach ihren Skelettfunden
von modernen Europiden unterschieden, aber wie diese hellhäutig waren.
Als später die Sahara immer trockener und lebensfeindlicher wurde, muss-
ten ihre Bewohner auswandern und neue Lebensräume erschließen. Einige
machten die Sümpfe des Niltals fruchtbar und gründeten eine der ersten
Hochkulturen. Andere wichen tief in den afrikanischen Süden aus und
schufen dort heute noch weitgehend unerforschte Kulturen. Das weitere
Schicksal dieser hellhäutigen Siedler ist unbekannt. Möglicherweise haben
sie genetisch ihre Hautfarbe an die UV-Strahlenbelastung ihrer neuen Hei-
mat angepasst und wurden mit der Zeit dunkelhäutig.
Während der Steinzeit gab es nach der Analyse von Skelettfunden in
Afrika noch keine Menschen der negriden Großrasse. Diese frühen Afri-
kaner waren zwar als Reaktion auf die UV-Strahlenbelastung dunkelhäutig
Die weiße Dame von Abri Maak z 169
und stammten direkt von den ersten Vertretern des modernen Homo sa-
piens ab, aber sie waren keine Negride. Im südlichen Afrika lebten wäh-
rend der mittleren Steinzeit mindestens drei unterschiedliche Menschenras-
sen, die außer der Hautfarbe alle nicht typisch negrid aussahen. Aus Varia-
nten dieser Rassen entwickelten sich später die heutigen Khoisaniden, die
Völker der Buschmänner und Hottentotten. Insbesondere in Ostafrika gab
es noch am Ende der Steinzeit hoch gewachsene Menschen, deren Schädel-
form stark dem europäischen Cro-Magnon-Typ entsprach. Die heutigen
Negriden sind im Gegensatz zu ihnen jüngere Anpassungen an ein heißes
und lichtintensives Klima. Sie haben sich vermutlich erst nach der Steinzeit
zuerst in Westafrika entwickelt. Frühe Skelettfunde von Menschen mit typi-
schen negriden Merkmalen tauchten erstmals nach dem Ende der Steinzeit
auf. Die anschließende erfolgreiche Ausbreitung der Negriden in Afrika
setzte erst relativ spät mit der Metallverarbeitung und dem Ausbau der
Landwirtschaft ein [3, 4].
Frühe Jäger- und Sammlerkulturen im südlichen Afrika unterschieden
sich unter anderem auch in der Kleidung der Menschen von den späteren
Kulturen der Negriden. Uralte und schwierig zu datierende Felsmalereien
in Tansania zeigen beispielsweise oft menschliche Gestalten, die den Ein-
druck erwecken, als würden sie Hosen tragen, die ihnen bis an die Knie
reichen (Abb. 2). In späteren Epochen und nach der Ausbreitung der Neg-
riden kamen solche Kleidungsstücke im südlichen Afrika nicht mehr vor
[5].
Literatur
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6. Scarre C (ed) (2005) The Human Past. Thames & Hudson, London
Tätowieren und Tattoo
E. G. Jung
tätowiert sich selber, sein Boot, seine Instrumente und Gerätschaften, kurz
alles was ihm gehört. Besitz wird gekennzeichnet und festgehalten. Daraus
konnten sich kunstvolle Gestaltungen (Ornament) entwickeln und persön-
licher Schmuck. Dies führt weiter zur individuellen Darstellung der eigenen
Person, zu Selbstbewusstsein also. Gleichzeitig entwickelten sich besondere
Tätowierungen zur Kennzeichnung von Familie, Sippe und Stamm, von po-
litischer und religiöser Zuordnung und der hierarchischen Einordnung in
dieselben (Rangabzeichen). Einschluss, Funktion und Verantwortung in ei-
ner Gemeinschaft wurden bleibend in der Haut festgehalten. Dies diente
nicht nur der Abgrenzung, sondern auch zum Ausschluss aus anderen Ge-
meinschaften. „Einschluss per Ausschluss“ lautet das Stichwort, es war so
bei den Urchristen und gilt auch heute noch. Bei den Kreuzfahrern allerdings
war die Jerusalem-Tätowierung Auszeichnung und Ehrenmal einer Elite.
Im 18. Jahrhundert brachten die Seefahrer die Tätowierungsmode nach
Europa, wo sie nicht nur den Adel und die Bürgerschaft ergriff, sondern ganz
besonders die Unterschichten, die Soldaten (manche Regimenter hatten eige-
ne Tätowierer), die Matrosen, die Strafgefangenen, aber auch das Jahrmarkts-
volk und Schauspielgruppen. Eine regelrechte Tätowierlust und ein Boom der
Tätowierkunst hielten sich bis zum ersten Weltkrieg 1914. Obschon die
christliche Kirche und deren Missionen das Tätowieren als heidnisches Relikt
aus dem „Kindheitsstadium der Menschheit“ verteufelten, blieb es als Faszi-
nosum, Schmuck und Charakteristikum der Randgruppen auch weiterhin er-
halten und wurde in einer Art Subkultur fortentwickelt. Walther Schönfeld
hat dies gesammelt, zusammengestellt und 1960 publiziert [2], und Stephan
Oettermann hat diese Entwicklung im Laufe der Zeit dargestellt [3].
Bezeichnend ist die besondere Bedeutung von Tätowierungen im Roman
„Moby Dick“ von Hermann Melville, der 1851 erschienen ist. Dort wird
der Schiffszimmermann Queequeg mit ausgedehnten und geheimnisvollen
Tätowierungen geschildert, die sein Leben und seine Stammesherkunft in
verschlüsselter Form vermitteln würden. Des Weiteren wird der ominöse
weiße Pottwal als mit Narben und Wunden überzogen geschildert; gleich-
sam durch die Spuren erfolgloser Walfänger tätowiert und zusätzlich mit
Stricken und Harpunenresten zum Jagdobjekt installiert. Das ist nicht Aus-
druck künstlerischer Phantasie, sondern wird als Wiederaufnehmen von
frühgeschichtlichen, primitiven Ritualmarkierungen [4] gedeutet.
Einiges hat sich bis heute, wenn auch in geringerem Umfang, gehalten,
wie die Markierung einer Schiffscrew (Äquatortaufe), die Mitgliedschaft in
der Fremdenlegion oder diejenige einer besonderen Spezialeinheit. Dies be-
stätigt sich auch in einer bemerkenswerten Sammlung von Tätowierungen
russischer Strafgefangenen, die 2005 in Deutsch herauskam [4] und zeigt,
dass Verbrecher in Russland nach wie vor Gesellschaft und Familie auf im-
mer verlassen und in eine besondere Identität des Kriminellen eintreten.
Sie haben eine geheime Sprache und eine spezifische Fixierung derselben
auf der Haut des Gefangenen als Tätowierung. Die Existenz und die Biogra-
phie des Verbrechers werden damit für ihn und andere lesbar. Die Bilder-
sprache ist komplex; Nazisymbolik, KBG-Insignien, religiöse, frauenfeindli-
Tätowieren und Tattoo z 173
che und antisemitische Inhalte kommen gehäuft vor. Der Rang des Häft-
lings wird eingetragen und oft sogar eine Botschaft an Mitgefangene. Aus-
grenzung durch Eingrenzung! Persistenz also der Tätowierhandhabe in ei-
ner extremen Randgruppe.
lässt. Ein Partnerwechsel geht dann nur noch mithilfe eines Laser-erfahre-
nen Dermatologen über die Bühne.
Als dritte Phase muss die neueste Entwicklung verstanden werden. Die
Tattoos bedecken annähernd den ganzen Körper. Dieser wird zur Skulptur,
zum eigens installierten Werk der Selbstgestaltung (Abb. 3). Der Träger hat
also zwei Leiber, den einen vorgegebenen natürlichen, und den willkürli-
chen, den durch Bildersprache und Körperbeschriftung vom Tätowierer ge-
schaffenen [6]. Und der willkürliche bewegt sich durch den unterlegten,
natürlichen Leib und beginnt gleichsam ein eigenständiges Dasein.
Eine solche Ganzkörper-Installation eines Trägers muss mit dem Täto-
wierer zusammen geplant werden als ein integrales Kunstprodukt. Struktur
und Ornament werden vereinigt, um die ursprüngliche künstlerische Phan-
tasie zu verwirklichen. Dies ist ein großes Anliegen und bedingt einen
Rahmenplan, der Schmerz, Zeit und Kosten respektiert. Der Tätowierer
gehört dazu, der Creator, und der Tätowierte als Träger. Wer ist Besitzer
und hält Anrechte?
Ziel solcher Ganzkörper-Tattoos ist nicht allein die künstlerische Instal-
lation als Schmuck und Ausdruck der Phantasie, oder als Ausdruck der ge-
stalteten Selbstfindung. Ziel ist auch die Schaffung eines vitalen Kunstwer-
kes, verglichen mit einer Skulptur, das Eigenbedeutung bekommt und ei-
nen kommerziellen, veräußerbaren Wert findet. Neben der Selbstwerbung
werden solche „Werke“ auch für Fremdwerbung interessant.
Solches ist im Schauspiel Tattoo von R. Desvignes und I. Baudesima [7]
in extrem gezeichneter Form dargestellt und am 1. 6. 2002 im Düsseldorfer
Schauspielhaus uraufgeführt worden. Eine knappe Zusammenfassung möge
dies illustrieren:
Im Zentrum steht ein Liebespaar Fred und Lea, er ein erfolgloser Schrift-
steller und sie eine Schauspielerin. Tiger taucht auf, Leas alter Freund, ein ab-
solut trendgerechter Künstler mit steiler Karriere. Er ist selbst das reinste
176 z E. G. Jung: Tätowieren und Tattoo
Kunstwerk, sein Körper ist über und über mit Tätowierungen geschmückt.
Betrunken verspricht Lea, im Falle seines Todes, den kostbaren mumifizier-
ten Body von Tiger an sich zu nehmen und zu pflegen.
Kurz darauf kommt Tiger bei einer Kunstauktion ums Leben und seine
plastifizierte Tattoo-Leiche kommt zu Lea. Deren böse Halbschwester Nao-
mi, Galeristin von Tiger und seine Gelegenheitsgeliebte, taucht auf, nimmt
die Tattoo-Leiche an sich und versucht, diese in USA zu verscherbeln. Der
hohe Preis macht Lea unsicher und man plant, den Gewinn zu teilen. Da
taucht Tiger, mit Assistent Alex, lebend wieder auf. Der Unfall war ein auf
Video gebannter Fake, die falsche Leiche mit Kamera und Aufnahmegerät
bestückt, und sämtliche Aufnahmen ums Leben mit dem Toten sind doku-
mentiert. Sie sollen auf der nächsten Art Fair in New York zusammen mit
dem Vitrinentoten als Installation Tigers Ruhm ins Unermessliche steigern.
Da erschlägt Alex den Tiger. Die Geschichte erweist sich als Fiktion von
Fred und soll als Metapher für das „Ende der Moderne“ stehen. Zurück bleibt
das Liebespaar Fred und Lea und wieder kommt ein alter Freund zu Besuch.
Damit ist die Tattoo-Euphorie in ihrer dritten Phase bei einem extremen
Punkt angelangt und man kann gespannt sein, wohin die weitere Entwick-
lung gehen könnte.
Gleichsam als Steigerung einer Tätowierung, was die Tiefe der Verlet-
zung anbelangt, kann die Brandmarkung [2, 3] betrachtet werden, wobei
Zugehörigkeit als lebenslanger Besitz eingebrannt wurde (Rinderherden,
Sklaven, SS-Runen etc.) oder die unwiderrufliche Ausstoßung aus der ge-
setzlich geregelten Gesellschaft als „vogelfrei“ mit der eingebrannten „Fleur
de Lys“. Daraus entwickelte sich neuerdings das „Branding“, wobei mit hei-
ßem Eisen Körperschmuck in die Haut eingebrannt wird, wohl auch als
Mutprobe. Die zurückbleibenden Narben haben bei manchen Menschen,
ähnlich eben wie Tattoo und Piercing, den Stellenwert von Körperschmuck.
Literatur
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Von der Sprache unserer Haut (Afrika)
M. Schwarz
Das Hautorgan hat sicherlich eine besondere Bedeutung, ist es doch die
„letzte Schicht“ zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Es bietet
sich also an, durch Modifizierungen der Haut bestimmte Informationen –
nonverbal – an die Umwelt, an die Mitglieder der menschlichen Gemein-
schaft weiterzugeben. Menschen aller Völker haben die Haut als eine Fläche
betrachtet, auf der es sich leicht einrichten lässt, vieldeutige, zuweilen an
Verzierungen reiche und – ebenso häufig – künstlerisch wertvolle Aus-
drucksformen zu schaffen. Sie bietet ein weites Feld für kreative Tätigkeit.
Unabhängig vom jeweiligen kontinentalen Bezug, sind die Informationen
vermittels des Hautschmuckes vielfältig. Die Verzierung der Haut in Afrika
dokumentiert dabei oftmals den individuellen Lebenszyklus des Trägers,
seine soziale Stellung, zuweilen den beruflichen und wirtschaftlichen Er-
folg, bestimmte religiöse oder jahreszeitliche Bezugspunkte, oftmals aller-
dings auch „nur“ einen kosmetischen Aspekt. Durch den afrikanischen
Haut- und Körperschmuck werden auch individuelle Vorstellungen einer
gegebenen gesellschaftlichen Ordnung und Hierarchie dargestellt, legiti-
miert und bestätigt. Viele Aspekte sind dabei zu berücksichtigen: Wird ei-
ne zeitweilige (Farbe) oder dauerhafte (Narbe) Veränderung am Hautorgan
vorgenommen? Erfolgt die Kennzeichnung des Hautorgans aus sozialem,
religiösem, kosmetischem oder medizinischem Aspekt? Wie alt ist der Trä-
ger der artefiziellen Hautveränderung, ist er weiblich oder männlich? Wel-
che Ornamentik, welche Farben und welche Lokalisationen werden für den
Hautschmuck gewählt? Wer hat ihn (freiwillig/unfreiwillig) angefertigt? Wie
teuer war er? Ist ein Sinnzusammenhang innerhalb der verschiedenen Or-
178 z M. Schwarz
„Dieses Leit-Zeichen,
das ich in dein Fleisch einzeichne,
macht dich in Zukunft
als mein Kind kenntlich.“
Mit diesen Worten wendet sich die höchste Kreatur an ihre Abkömmlinge.
In den Augen der Gbaya (Volksstamm in Südkamerun, im Südsudan) trägt
jeder belebte Gegenstand eine Markierung. Der Volksstamm unterscheidet
z. B. zwischen „Zeichen Gottes“ (Dap so), Hautveränderungen, die ohnehin
vorhanden sind (z. B. auch Naevuszellnaevi, Missbildungen u. a.) und „Zei-
chen von menschlicher Hand“ (Dap gon ne er bii). Diese aber sind Tätowie-
rungen, Narben von Unfällen und Verletzungen, aber auch Bemalungen,
Schmucknarben u. a. [3].
Das Regelwerk mit Art und Weise, Ästhetik, künstlerischer Gestaltung
von Bemalungen, Narbenzeichnungen und Tätowierungen wird von der je-
weiligen Gemeinschaft aufgestellt und weitervererbt. Das Individuum mit
der so veränderten Haut wird zur lebenden Skulptur, zum Kunstwerk erho-
ben, das durch die bewusste Gestaltung zum Ausdruck menschlicher Kultur
wird, die andererseits von der Kunst der nicht beeinflussten umgebenen
Natur deutlich abgegrenzt erscheint.
„Zeige mir deine Haut, zeige mir dein Gesicht, und ich sage dir, wer du
bist.“ Diese Aussage scheint in ihrer Gültigkeit besonders für die ge-
schmückte Haut auf dem afrikanischen Kontinent zu gelten.
Die Veränderungen am Hautorgan durch die Beibringung von Schmuck-
narben, Tätowierungen, die Verwendung von Schminke bei Bemalungen,
aber auch das Nutzen von Masken und Gewändern stellt eine Symbolik dar.
Bei entsprechender Übung und Erfahrung kann man darin lesen. Ohne An-
spruch auf Vollständigkeit können die Veränderungen am Hautorgan in einen
z sozialen Hintergrund,
z medizinischen Hintergrund,
z religiös-mythischen Hintergrund und
z künstlerisch-kosmetischen Hintergrund
Dazu zählen:
z Einbringung von heilkräftigen und schadensabwehrenden Substanzen in
die Haut
z Schadensabweisende Narbenstrukturen und Bemalungen
z Narben durch Aderlässe
z Narben aufgrund einer symptomatischen Behandlung (z. B. zur Verbes-
serung des Visus: Narben über dem Auge, zur Besserung von Schläfen-
kopfschmerzen: Narben im Schläfenbereich).
Sozialer Hintergrund
Die im zentralen Hochland von Kenia lebenden Kikuyu, auch die Sam-
buru, zeigen innerhalb ihrer zahlenmäßig reichen gesellschaftlichen For-
mierung ein ausgeprägtes Altersklassensystem. Besonders auffällige Formen
des Körperschmuckes tragen die jungen, unabhängigen (kriegerischen)
Männer. Kikuyu-Tänzer können Körperbemalungen aus einer Mischung
aus Kreide und Fett zeigen, während Samburu-Angehörige der Kriegerkaste
sich besonders prächtig mit einer Ockerbemalung im Gesicht- und Hals-
bereich darstellen (Abb. 2). Gesellschaftlichen Einfluss, wenn es um die Ge-
staltung der Geschicke der Sippe geht, haben allerdings nur die unschein-
bar agierenden Ältesten der Gesellschaft. Wie in anderen Stämmen Afrikas
auch, haben in Kenia die gesellschaftlichen Veränderungen dazu geführt,
dass körperbemalte Kikuyu oder Samburu nur noch selten anzutreffen
sind. Das gilt natürlich nicht für entsprechende Touristenresorts an den
Stränden der kenianischen Küste.
Bei den Nuba, bäuerlichen Stämmen im südlichen Sudan, haben verwen-
dete Körperfarben und die Art und Weise, die Haare zu frisieren, einen
strengen Altersbezug. Weiß und Rot sind die allerersten Farben, die Jungen
im Alter von etwa 8 Jahren benutzen dürfen. Sobald sie zu den jungen
Männern gehören, darf die Farbe Gelb verwendet werden. Schwarze Bema-
lungen allerdings sind erst erlaubt, wenn der Aspirant nach einiger Zeit of-
fiziell in den entsprechenden neuen Altersgrad aufgenommen wird. Sehr
genau achten die Nuba darauf, dass diese Tradition eingehalten wird. Hin-
gegen werden bei der Körperbemalung im Gesicht und am übrigen Körper
Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 181
Medizinischer Hintergrund
Auf den ersten Blick schwer zuzuordnen sind sicherlich auch die Bemalun-
gen und Narbenbildungen mit medizinischem Hintergrund. Wie bereits an-
gedeutet, können dabei die Gesundheit kräftigende bzw. den Schaden ab-
weisende Substanzen in die Haut eingebracht werden. Sie bilden dann ei-
gentlich auch sehr individuelle Kennzeichen, an denen man Menschen wie-
dererkennt. Die wie Schmucknarben aussehenden Veränderungen perium-
bilikal bei den Dagara-Kindern (Burkina Faso) sind in erster Linie kurz
nach der Geburt angelegt worden, um Infektionen abzuweisen, die aus ei-
ner unsauberen Abtrennung der Nabelschnur resultieren. Dagegen weisen
Narben in der Nabelgegend bei den Luluwa-Frauen (Katanga-Becken, Kon-
go) auf die enge Beziehung zu den Ahnen und auf die Kontinuität der Ge-
nerationen hin. Der überwiegende Teil der aus medizinischen Gründen ein-
gebrachten Narben lässt allerdings eine symbolische Interpretation kaum
zu [1, 3, 8].
Religiös-mythischer Hintergrund
Künstlerisch-kosmetischer Hintergrund
z Danksagung: Für die Bereitstellung der Fotografien danke ich Herrn Bert
Leidmann (Abb. 1), der Leni Riefenstahl Produktion (Abb. 3) sowie dem
Albatros-Verlag (Abb. 4).
188 z M. Schwarz: Von der Sprache unserer Haut (Afrika)
Literatur
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Zum ästhetischen Wertewandel
in Kultur und Kosmetik
C. Wietig, S. Williams, T. Reuther, M. Davids, M. Kerscher
Die Haut des Menschen als originäre, schützende Hülle des Ichs wird seit
Menschengedenken dem jeweiligen Kulturkreis entsprechend modifiziert
und den derzeit herrschenden Schönheitsidealen mit dem Ziel sozialer Auf-
wertung angepasst [3, 5, 13, 22, 25, 32]. Das perfekte Körperbild wird seit
der Antike von vielen Menschen angestrebt, nicht zuletzt da die
„Schönheit“ auch soziale Macht beinhaltet. Schon vor Jahrhunderten wurde
ein „strahlender“ Teint durch diverse pflegerische, dekorative und thera-
peutische Maßnahmen angestrebt. Eine glatte Oberfläche reflektiert physi-
kalisch mehr Licht, so dass die Haut zart glänzt und damit Makellosigkeit,
die mit göttlicher Ausstrahlung gleichgesetzt wurde, symbolisierte [10]. Re-
ligions-, philosophie-, literatur- und kunstgeschichtliche Annäherungen an
das „Unbenennbare des ewigen Schönen“, das universell Anerkannte, dem
die Unsterblichkeit immanent ist, berühren die Ebene des Sakralen und
Unantastbaren [1, 17, 31, 35]. Schönheitspflege und Mythos Alterslosigkeit
sind daher untrennbar, womit sich der Schönheitskult auf Gesunderhaltung
und dekorativer Schönerhaltung gründet [37]. Der immerwährende Mode-
wandel der Schönheitsideale zeugt vom ästhetischen Wertewandel der
Körperbildästhetik in Kultur und Kosmetik.
Die Dermatokosmetik dokumentiert entwicklungsgeschichtlich auch den
kulturellen Prozess von magischen zu naturwissenschaftlichen Behand-
lungstechniken [30, 40]. In bestimmten Aspekten greift die moderne ästhe-
tisch-kosmetische Medizin eine bereits in der Antike praktizierte Kombina-
tion von medizinischen und kosmetischen Behandlungsverfahren wieder
auf, heute jedoch mit evidenzbasierten Methoden und High-tech-Verfahren.
Moderne dermatokosmetische Behandlungsverfahren und ästhetisch-chi-
rurgische Korrekturen vermögen den bisher mehr oder minder schicksal-
haft verlaufenden, sichtbaren Alterungsprozess aufzuhalten bzw. zu verzö-
gern [33]. Eine Annäherung an das ideale Körperbild ist daher im Compu-
terzeitalter der Life-Sciences zu gewissen Teilen konstruierbar und kann als
Ware erworben werden. Unser Aussehen wird zukünftig zunehmend tech-
nisch-prothetisch, biotechnologisch oder vielleicht sogar gentechnisch ver-
ändert, verbessert und „designed“ werden können. Der Begriff „Schönheit“
als Kompositum aus Gesundheit, Jugendlichkeit und sexueller Attraktivität
gewinnt auch in der evidenzbasierten kosmetischen Dermatologie, der auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden kosmetischen Dermatologie,
zunehmend an Bedeutung. Aktuelle Entwicklungen in der Dermatologie
190 z C. Wietig et al.
tragen dem stetig größer werdenden Bedürfnis nach präventiven wie auch
therapeutischen Maßnahmen für ein jüngeres, attraktiveres und gesünderes
Aussehen Rechnung. Dies zeigt sich zum Beispiel eindrucksvoll an der na-
hezu exponentiell steigenden Anzahl an Publikationen zum Einsatz von Bo-
tulinumtoxin in der ästhetischen Dermatologie (Abb. 1).
Körpergefühl, Sauberkeitsbedürfnisse und Schönheitsempfinden gehören
zum einen in den Bereich des individuellen Erlebens, repräsentieren auf
der anderen Seite jedoch auch einen gesellschaftlichen Code. So fungiert
der Körper als Kulturträger und ästhetischer Ort der Erfahrung seiner je-
weiligen Zeit und drückt Fixierungen der jeweils technisch-realisierbaren
Ästhetik aus. Davon zeugen zum Beispiel Ansätze kosmetischer Körperkul-
tur wie auch das Spektrum der Hygienegeschichte durch die Jahrhunderte
bis hin zur abendländischen Reinlichkeitskultur [1, 18, 26, 28, 38, 40, 41].
Nachfolgend soll ein kleiner Überblick in Aspekte ausgewählter Epochen
bis hin zur Gegenwart den Stellenwert kosmetischer Behandlungen bei-
spielhaft dokumentieren (Abb. 2).
Die antiken Ägypter suchten nach ewiger Schönheit und Vollkommenheit
für Lebende wie auch Tote [11]. Die Technik der Mumifizierung steht in di-
rekter Wechselbeziehung mit der Verschönerung der Lebenden und trug auch
zur Wissensvermehrung auf dem medizinischen Sektor bei [7]. Bereits hier
werden die Anfänge des Mythos Alterslosigkeit gelegt [40]. Der lebende
wie auch der tote Körper wurde mit den Schminken der antiken Ägypter ver-
schönert und geschützt. Die Schminken dienten auch als Grabbeigaben und
gehörten beim Bau eines Tempels – neben anderen Opfergaben – als rituelle
Grundsteinbeigaben unter die Ecken der Außenmauern oder den Eingang
[30]. Im Papyros Ebers, einer vollständig erhaltenen medizinischen Text-
sammlung der antiken Ägypter aus dem Jahr 1552 v. Chr., stehen zahlreiche
medizinische und kosmetische Rezepturen gleichberechtigt nebeneinander
[29]. Eine Trennung von kosmetischen und medizinisch-dermatologischen
Maßnahmen gab es unter diesem synkretistischen Ansatz nicht.
Im scholastischen Weltbild wurde die Schönerhaltung des Körpers unter
dem Vanitasaspekt idealisiert und in eine Erhöhung der „schönen Seele“
Zum ästhetischen Wertewandel in Kultur und Kosmetik z 191
transzendiert [6]. Das Geistige überdeckte in dieser Zeit das Weltliche, und
der Begriff des „Fleisches“ erfuhr eine Abwertung durch das Christentum,
weil es mit niedriger, sündiger Triebhaftigkeit besetzt wurde [34]. Dies
blieb nicht ohne Folgen auf den Bereich der Körperpflege, die nunmehr
fast ausschließlich auf Reinlichkeit und Sauberkeit zielte und symbolisch
auch einer Reinwaschung der Seele diente. Die Anwendung pflegender Ex-
terna geriet unter den Verdacht der „Teufelsbuhlschaft“ um der Eitelkeit
willen. Dekorative Kosmetik bedeutete aus orthodoxer Sicht eine weitere
Verleugnung. „Eitle“, die zum Beispiel das Übel des Haarausfalles dennoch
nicht ertragen wollten, konnten jedoch auf diverse alchemistisch anmuten-
de kosmetische Mittel, etwa zur Haarwuchsförderung, zurückgreifen [20].
Die Körperpflegekultur des Mittelalters basierte auf den balneologischen
Erfahrungen der Antike, der Humoralpathologie sowie dem „Analogiezau-
bern“, deren Wurzeln auch in der christlich-ideologischen Reinwaschung
liegen. Schwitzbäder, Aderlass und die Reinigung der Haut dienten der Ge-
sunderhaltung [23]. Bademägde, Bader und Barbierchirurgen übten auch
eine soziale Kontrolle über das Hauterscheinungsbild aus. Der Tätigkeits-
bereich der Barbierchirurgen verdeutlicht zudem, dass in dieser Zeit noch
keine klare Trennung zwischen medizinischer und kosmetischer Versor-
gung bestand. So führten die Barbierchirurgen neben Haarschneiden und
Rasieren auch die niedere Wundmedizin aus [38].
192 z C. Wietig et al.
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194 z C. Wietig et al.
Die Kultur des Menschen reicht bis in psychische und gesellschaftliche Zu-
sammenhänge hinein. In die Kulturgeschichte der Haut gehören nicht nur
Gebräuche der Vergangenheit, sondern auch Gegebenheiten der Gegenwart.
Dabei können psychologische und soziologische Überlegungen eine Brücke
bilden zum Verständnis sowohl körperlicher Zustände als auch kultureller
Erscheinungen.
ist das Gehör, also der akustische Reiz. Niemals später im Leben habe das
Taktile eine derart überwältigende Bedeutung für die Welterfahrung wie in
den ersten Lebensmonaten [1]. Das Streicheln, Schmusen, Knuddeln, Lieb-
kosen – wofür es Ausdrücke in allen Sprachen gibt – wird in den ersten
drei Lebensmonaten sozusagen Lebensnerv und Tor zur Welt. Beziehungs-
weise: Der Hautkontakt ist eine hauptsächliche Quelle der Lust des Seins in
den ersten Monaten nach der Geburt.
Die kinderpsychologische These entspricht den durch Forschung unter-
mauerten klinischen Erkenntnissen. Hirnphysiologisch lassen sich die Zu-
sammenhänge zwischen frühkindlicher Entwicklung und der Haut als
Schlüsselorgan plausibel explizieren. Die Beobachtungen und Thesen aus
kinderpsychologischer Perspektive widersprechen den klinischen Tatsachen
nicht.
Die Zeit der ersten Lebensmonate, so argumentierte Sigmund Freud vor
genau einem Jahrhundert im Jahr 1906, ist eine Phase ungeteilt erotischer
Lebenserfahrung. Erotik – Freud spricht hier von Sexualität in einem ganz
anderen Sinn als im normalen Sprachgebrauch – ist im ersten Lebens-
abschnitt eine in die Welt hinein zerfließende Erfahrung des Verschmelzens
und Einsseins. Im frühesten Lebensabschnitt, wo das Taktile – Berührung
durch Hautkontakt – ein Lebenselixier ist, herrscht im Kleinstkind, so
Freud, ein „ozeanisches Gefühl“ unendlicher Lustempfindung. Darin liege
die Kraft des Lebenstriebes – dies ist der Sexualtrieb in seiner ursprüngli-
chen Gestalt. Die Grunderfahrung des Menschen nach seiner Geburt ist
Einssein, worin Freud die Urform des Sexuellen sieht. Erst im Laufe des
weiteren Lebens – beginnend später im Säuglingsalter – werden die Lust-
empfindungen auf das Berühren besonderer Körperzonen konzentriert –
und die so genannten erogenen Zonen sind ganz andere beim Kind als
später bei Erwachsenen [2]. Das Taktile spielt allerdings nicht nur beim Säug-
ling eine Hauptrolle. Das Kind im so genannten ödipalen Alter in einer
schwärmerischen Liebe für den andersgeschlechtlichen Elternteil, der oder
die Heranwachsende in der Pubertät und schließlich der oder die Erwachsene
in ihrer Liebe (wofür Freud den Begriff Genitalität, nicht Sexualität, wählt)
erleben jeweils anders und typisch für die verschiedenen Lebensphasen ihre
eigene Lust an der Berührung. Jedenfalls ist die Haut allemal das Organ, das
für Zärtlichkeit eine ganz besondere Empfänglichkeit hat.
ziplin zu begründen, schrieb über die „höhere Einheit, die man ,Gesell-
schaft‘ nennt“ [3]. Man sehe die „unübersehbar mannigfaltigen Formen
des sozialen Lebens, all das Miteinander, Füreinander, Ineinander, Gegen-
einander, Durcheinander in Staat und Gemeinde, in Kirche und Wirt-
schaftsgenossenschaft, in Familie und Vereinen . . . , all die Vereinigungsfor-
men, durch die aus einer bloßen Anzahl nebeneinander bestehender Wesen
jedes Mal eine ,Gesellschaft‘ wird“.
In seinem zweiten Hauptwerk mit dem Titel Soziologie und dem Untertitel
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung führte Simmel noch
weiter aus, was dabei „Gesellschaft“ heißt [4]. Der andere Mensch, mit dem
man allemal gesellschaftliche und zuweilen auch gesellige Kontakte pflegt
(oder haben könnte), so Simmel, ist nicht schlichtweg ein Mensch als solcher,
sondern, so Simmel im Weltgefühl des wilhelminischen Deutschland: „Der
Bürgerliche, der einen Offizier kennenlernt, kann sich gar nicht davon frei-
machen, dass dieses Individuum ein Offizier ist . . . Und so geht es dem Pro-
testanten gegenüber dem Katholiken, dem Kaufmann gegenüber dem Beam-
ten, dem Laien gegenüber dem Priester usw.“
Bemerkenswert an den sozialen Beziehungen, die die Gesellschaft aus-
machen, ist zweierlei. Zum einen sind soziale Beziehungen immer anders.
Zwischen dem Geschäftsmann und dem Beamten herrschen beispielsweise
ganz andere Verkehrsformen als etwa zwischen einem Gläubigen und ei-
nem Priester oder auch ganz gewiss zwischen Ehegatten, zwischen Eltern
und Kindern und zudem zwischen Bekannten oder Freunden. Soziale Be-
ziehungen enthalten normalerweise eine bestimmte Nähe oder Distanz im
Umgang miteinander – und alle Angehörigen einer Kultur oder Gesell-
schaft sind sich bewusst, dass bestimmte Beziehungen eher unpersönlich
oder eher persönlich sind, also mehr Distanz oder mehr Nähe bedeuten.
Zum anderen sind mit diesem „Füreinander, Ineinander, Gegeneinander“, wie
Simmel es nennt, ganz bestimmte Verhaltensweisen gemeint (Abb. 1). Typi-
scherweise und erlaubtermaßen kann oder darf man bestimmte Dinge tun
oder nicht tun – woraus sich Rückschlüsse auf die entsprechenden Beziehun-
gen ergeben (können). Ein Beispiel: Wenn Eheleute sich allenfalls die Hände
reichen und ansonsten keinen weiteren Körperkontakt haben, wird man da-
raus schließen, dass ihre Ehebeziehung zumindest ungewöhnlich ist; wenn ein
Geschäftsmann und ein Beamter (etwa eines Finanzamts) sich zur Begrüßung
die Hand reichen und keinen weiteren Körperkontakt haben, tun sie, was man
gewöhnlich in einer solchen sozialen Beziehung tut.
Mit anderen Worten: Die „Gesellschaft“, also die gesellschaftliche Welt,
umfasst Regeln über Nähe und Distanz zu den anderen Angehörigen der-
selben Kultur oder Gesellschaft. Dabei ist der Körperkontakt, die körperli-
che Berührung, kulturell normiert. Die Normen, die unsere körperlichen
Berührungen – in der Öffentlichkeit, im Privaten – regeln, können weit ge-
fasst sein und dabei eine gewisse Toleranz für Individualität erlauben. Oder
diese Normen können relativ streng vorgeben, was erlaubt oder verboten
ist. Die Spielbreite und die Strenge der entsprechenden Normen kann sich
zudem im Laufe der Zeit wandeln.
Berührungen, Beziehungen z 199
Literatur
1. Spitz R (1960) Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen (Übersetzung aus dem
Französischen: La première année de la vie de l’enfant, Paris 1945), 2. Aufl. Mit ei-
nem Geleitwort von Anna Freud. Stuttgart
2. Freud S (1942) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (ursprünglich 1906). Gesam-
melte Schriften, Bd. V. London, pp 27–145
3. Simmel G (2001) Soziologie der Geselligkeit (ursprünglich 1911). Georg Simmel
Gesamtausgabe, Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Frankfurt, pp
177–193
4. Simmel G (1992) Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung (ursprünglich 1908). Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11. Frankfurt
5. Klemperer V (1995) Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Band I: Tagebücher
1933–1941, Band II: Tagebücher 1942–1945. 4. Aufl. Berlin
6. Gerhardt U (1991) Gesellschaft und Gesundheit. Begründung der Medizinsoziolo-
gie. Frankfurt
Literarische Narben:
Auf dermatologischer Spurensuche
in der Weltliteratur
N. Greiner
Im 13. Buch der Odyssee erwacht der Held nach nächtlicher Fahrt auf hei-
matlichem Boden. Von Athene erfährt er die näheren Umstände der Bedro-
hung seines Hauses, dem er sich listig in der Gestalt eines Bettlers nähert.
Er bleibt für alle unerkannt. Selbst Penelope erkennt in dem „Bettler“, der
sie auf die Rückkehr des Odysseus vorbereitet, den Gatten nicht wieder.
Nur der Hund Argos spürt hinter der angenommenen Maske die wahre
Identität seines alten Herrn auf. Der „Blick“ des Menschen, auch aus dem
intimsten Familienkreis, trügt und wird von vorgetäuschter Identität in die
Irre geführt. Der Text spitzt damit eine Frage zu, die das Epos in allen sei-
nen Episoden durchgespielt und in den mannigfaltigen Facetten des Prob-
lems ausgelotet hat: Die „Suche“ – symbolisch gestaltet in der Irrfahrt –
nach den Wurzeln des Ich wirft die entscheidende Frage nach dem Wesen
des Selbst und der Anderen, nach dem Ver- und Entbergen von Identität
auf. Im gegenwärtigen wissenschaftlichen Jargon lautet die erste Frage: Wie
kann sich eine Person in der Gemeinschaft anderer inszenieren, wie kann
sie ihrerseits die gesellschaftliche Inszenierung von Wirklichkeit durch-
schauen und beeinflussen, wie kann man sich in der Welt „verorten“.
Diese [Narbe] nun fand beim Berühren die Alte; sie hatte die Hände
Auf und ab beim Waschen bewegt. Da stieß sie den Fuß weg,
Daß ohne Stütze die Wade ins eherne Becken zurückfiel.
Dröhnend kippte das Becken – das Wasser rann auf den Boden.
Jubel und Leid miteinander bestürmten ihr Innres, die Augen
Gingen ihr über von Tränen, die frische Stimme versagte.
Doch sie berührte Odysseus am Kinn und sagte: „Odysseus!
202 z N. Greiner
Das ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. Die Gattin, die ihren Ehe-
mann seit vielen Jahren vermisst, erkennt diesen nicht wieder und lässt
sich von seinen Täuschungsmanövern leicht beirren. Die Amme ertastet
die Wahrheit – nicht am Aussehen erkennt sie ihn, nicht am Habitus oder
an der Stimme, auch nicht an den Augen, sondern an der Narbe am Schen-
kel. Die Frage nach der Identität des Anderen wird über den Körper ver-
handelt. Die Person präsentiert sich den Anderen im Rahmen einer Selbst-
inszenierung als die persona, als die er sich verstanden wissen will. Das
Wesentliche entbirgt sich nur in der unmittelbaren, der intimen Begeg-
nung. Selbst das Gespräch mit der Gattin vermag diese Bedingung sozialer
Interaktion nicht zu hintergehen. Auch die Amme, solange sie den Bettler
lediglich auf dessen äußere Ähnlichkeit mit Odysseus anspricht, kann noch
getäuscht werden. Die Narbe aber ist der unausweichliche Ausweis seiner
Identität. Deren Ertasten versetzt sie in freudig-erschrecktes Wiedererken-
nen, nur mit schmeichelnd-drohenden Worten kann Odysseus sie davon
abhalten, seine Identität preiszugeben.
Doch damit nicht genug. An eben diesem Punkt wird die Erzählung
durch einen langen Einschub von etwa 70 Versen unterbrochen, in denen
die Entstehung der Narbe geschildert wird: Odysseus weilte als Jüngling
bei seinem Großvater Autolykus, von dem der Leser ausführlich berichtet
bekommt; dort rüstet er nach Empfang, Gastmahl und Schlaf zur Jagd, die
ebenfalls in allen Einzelheiten geschildert wird, ebenso wie die Entstehung
der Wunde, das Verbinden, ihre Heilung, die nacheilende Sorge der Eltern.
Wozu dient dieser ausgreifende, sich scheinbar im Detail verlierende Ex-
kurs? Erich Auerbach, der unsere Aufmerksamkeit auf diese Stelle gelenkt
hat, sieht darin einen Beleg für das homerische Anliegen, die Verhältnisse
des wirklichen Lebens in seiner alltäglichen Detailfülle zur sinnlichen An-
schauung zu bringen [2]. Ob derartige Intentionen tatsächlich ausgerechnet
solch lange Retrospektiven rechtfertigen, sei dahingestellt. In unserem Zu-
sammenhang interessiert uns die weitsichtige Darstellung jener die abend-
ländische Literatur leitmotivisch durchziehenden Frage nach dem Wesen
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 203
gung, nur dadurch begegnen, dass er sich in den Details seiner korporealen
Präsentation von den Anderen abhebe – in Kleidung, Haltung, Auftreten.
Insofern schenkt er diesen „Zeichen“ des Körpers auch erzähltechnisch be-
sondere Aufmerksamkeit. Ein besonders aussagekräftiges, weil dem Körper
durch ein Ereignis eingeschriebenes, Zeichen bleibt jedoch die Narbe, wel-
che, wenn sie zeichenhaft eingesetzt ist, ein besonderes Gewicht bekommt.
Wiederholt führt Balzac seinen Lesern vor, wie der Körper erst gezeich-
net wird, um dann die Verhältnisse, in die er eingebettet ist, zu bezeichnen.
Der Körper wird zum Teil des Erzählens, zum Bedeutungsträger weit über
eine Identitätszuschreibung hinaus. Wir müssen uns mit einem Beispiel be-
gnügen.
Im Mittelpunkt von Glanz und Elend der Kurtisanen steht der Gewalt-
verbrecher Collin, der sich von einer dämonischen Sträflingsgestalt hinter
der Maske eines spanischen Abbés zu einem genialen Menschen mit wilder
Energie wandelt, der in ständiger Revolte gegen eine mittelmäßige und kor-
rumpierte Gesellschaft sich schließlich in den Dienst des Staates stellt und
das Amt des von ihm überführten Chefs der Sicherheitspolizei übernimmt.
Die Wandlung als Höhepunkt der inneren Entwicklung des Protagonisten
setzt ein, wenn er und der von ihm lebenslang protegierte Künstler Julien
eingekerkert werden. Collin bricht zusammen, wenn er vom Selbstmord
des von ihm geliebten Künstlers erfährt, wird aber durch dessen Beispiel
(dieser zieht mit dem Selbstmord die Konsequenzen aus seinem Handeln)
geläutert und bekehrt. Während der weiteren Gefangenschaft in der Con-
ciergerie versucht der Untersuchungsrichter Camusot zunächst vergeblich,
die vermutete Identität des als spanischer Abbé auftretenden Collin zu be-
legen. Wäre der Abbé, so sein Kalkül, in Wahrheit der ehemalige Straf-
gefangene Collin, so müsste dieser auf der Schulter ein Brandmal mit den
Buchstaben TF (für Travaux Forcés, „Zwangsarbeit“) tragen. Sollte er „das
damals durch das Gesetz für bagno-Sträflinge vorgeschriebene Brandmal
erhalten haben, würden die Buchstaben beim Beklopfen der Schulter sofort
sichtbar werden.“ [7]. Es kommt schließlich zur Überprüfung der Identität,
wie der Untersuchungsrichter diesen Vorgang ausdrücklich bezeichnet.
Der Gerichtsdiener kehrte mit dem Ebenholzstäbchen zurück, das seit
undenklichen Zeiten das Kennzeichen ihres Amtes ist und ,Rute‘ genannt
wird. Er schlug damit mehrmals auf die Stelle, auf der der Henker die ver-
hängnisvollen Buchstaben eingebrannt hatte. Darauf kamen in der Haut
siebzehn ungleich verteilte Narbenlöcher zum Vorschein. Doch trotz der
Sorgfalt, mit der der Rücken untersucht wurde, ließen sich keine Buchsta-
ben erkennen. [. . . ] Carlos bat, man möge das gleiche Verfahren auf der
anderen Schulter und der Mitte des Rückens wiederholen. Wie der Arzt auf
Wunsch des Spaniers feststellte, zeigten sich etwa fünfzehn weitere Nar-
benlöcher. Er erklärte, der Rücken sei derart mit Narben übersät, dass das
Brandmal des Henkers, sollte es tatsächlich eingegraben worden sein, nicht
mehr zum Vorschein kommen könne (S. 306–307).
Damit nicht genug. Auch der Chef der Sicherheitspolizei, ein ehemaliger
Verbrecher und Bekannter Collins, soll die Identität des Abbé aufdecken.
206 z N. Greiner
[. . . ] als ich den Blick nach der Heckreling hob, überlief mich ein ah-
nungsvoller Schauder. Doch mein banges Vorgefühl verblasste vor der
Wirklichkeit: auf dem Achterdeck stand Kapitän Ahab! [. . . ] Er sah aus,
als hätte man ihn vom Scheiterhaufen herabgerissen, nachdem der Feu-
ersturm den ganzen Leib verheert, doch nicht verzehrt und seine von
den Jahren gefestigte Kraft nicht um eines Haares Breite geschmälert
hat. Seine hohe, breitschultrige Gestalt war wie aus schwerer Bronze
und in unwandelbarer Form gebildet, Cellinis erzenem Perseus gleich.
Aus seinem grauen Haar hervor und auf der einen Seite des lohbraun
versengten Angesichts und Halses steil nach unten, bis es im Rock ver-
schwand, drang weißlich, leichenfahl anzusehen, ein gertendünnes Mal.
Es glich der Wunde an dem stolz aufragenden Stamm eines hohen Bau-
mes, wenn der Blitz zerfetzend niederfährt und, ohne einen einzigen
Zweig zu knicken, die Rinde senkrecht vom Wipfel bis zur Wurzel auf-
reißt und höhlt, bevor er in den Boden schlägt: der Baum bleibt noch
voll frischen Lebens, doch er ist gezeichnet. Ob dieses Mal ihm angebo-
ren oder die Narbe einer grässlichen Wunde war, das konnte niemand
mit Gewissheit sagen. (Kap. 28, 154) [9].
Alles konzentriert sich im Folgenden auf Ahab. Wir sehen eine Narbe, die
von einem an sie gebundenen Ereignis erzählt, der Jagd nach dem Weißen
Wal, und wir erleben die Deutungsversuche des Erzählers. Durch dessen
Interpretationsleistung vermittelt erschließt sich dem Leser die möglicher-
weise symbolische Tatsache, dass Ahab den Walfang vierzig Jahre lang be-
trieben hat (Kap. 82), also über jenen Zeitraum hinweg, den das erwählte
Volk Israels nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste umherzog, und er
vergleicht das Gelobte Land der Israeliten mit dem kläglichen Ergebnis der
210 z N. Greiner
lebenslangen manischen Suche Ahabs. Der Leser teilt mit dem Erzähler die
Assoziationskette, die das Symbol des Weißen Wals auslöst, und die mehr
oder weniger bewussten Reflexionen auf die mythisch-archetypischen Di-
mensionen der Figur, der Jagd und des Gejagten.
Dass es sich bei der Narbe um mehr handelt als um eine Verletzung im
Kampf, ergibt sich aus den Mutmaßungen über ihre Genese, aus der Bin-
dung der Narbe an einen rätselhaften und in seiner Besessenheit zugleich
faszinierenden Charakter und wiederum dessen Bindung an, genauer: Fi-
xierung auf den Weißen Wal. Ob es sich beim Wal um ein Symbol sub-
limierter Sexualität oder um ein traditionelleres religiös-mythisches Bild in
der Tradition der Inder oder Hebräer (Jonas und Hiob) handelt, um eine
Analogie zu den Drachen des Perseus und des St. Georg bis zu Hobbes’ Le-
viathan oder das Symbol göttlicher Unbeflecktheit und Macht [10–13],
bleibt in unserem Zusammenhang unerheblich, solange wir im Blick behal-
ten, dass es sich beim Wal nicht um ein arbiträres Alltagszeichen, sondern
um ein universelles Symbol in einer eminenten historischen Tradition han-
delt. Solange er sich nicht auf eine Bedeutung festlegen und einengen lässt,
bietet er eine Projektionsfläche für mancherlei Sinnkonstruktionen, die ei-
ne jede Leserschaft aufs Neue in ihn hineinlesen kann. „Moby Dick bedeu-
tet – das lehren die zahlreichen Aussagen über den Wal im Buch selbst wie
in der Melville-Forschung – alles und nichts. Er symbolisiert das Böse
ebenso wie das Prinzip des Lichts“ ([14], S. 322). Doch selbst einem vo-
raussetzungslosen, naiven Leser erschließt sich die Grundstruktur des Tex-
tes: ein bis zur Selbstaufgabe reichender Kampf eines von der Kampfidee
besessenen Mannes gegen einen übermächtigen Gegner, den er unter Ver-
nachlässigung aller Rücksichten und ohne Hoffnung auf einen Sieg bis in
den eigenen Tod bedingungslos und unter hohen Verlusten verfolgt. Alle
konkreten Ausdeutungen lassen sich letztendlich auf die vorwissenschaftli-
che Formel des Erzählers bringen, mit der er das Meer, dessen Herr der
Wal ist, zu umschreiben sucht: „Das nie zu fassende Trugbild des Lebens“
(Kap. 1, 24).
Was aber symbolisiert dann Ahabs Narbe? Ahab jagt den Herrscher je-
nes „nie zu fassenden Trugbilds des Lebens“ mit dem Ziel, ihn zu vernich-
ten. Das aber ist ein dämonisches, selbstmörderisches Unterfangen, das –
wie der Roman zeigt – zur Selbstverstümmelung führt. Sollte, wie der Er-
zähler als Interpretationsmöglichkeit anbietet, die Narbe den ganzen
Körper hinunter sich fortsetzen, dann wäre sie auch Zeichen der (symboli-
schen) Kastration – die im übrigen wiederholt in Bildern angedeutet ist, et-
wa, wenn der Kapitän sich sein Holzbein in den Leib rammt –, das Schick-
sal dessen, der sich zum erklärten Feind des Lebens macht. Längst ist deut-
lich geworden, dass die Narbe Ahabs nicht nur eine korporeale Ver-
stümmelung ist, sondern geistiger Natur: in allen Deutungsmöglichkeiten
Ausdruck eines von vornherein paradoxen Versuchs, das Leben zu besie-
gen. Ahabs fieberhafte Jagd über die Weltmeere erinnert nicht von unge-
fähr an die „Suchreise“ des Odysseus; er hat die metaphysische Dimension
dieses archetypischen Verhaltens komplett verinnerlicht, deren Ziel seit je-
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 211
her darin liegt, „die Beziehung des Helden zur Gruppe, zum Schicksal und
zu sich selbst auszuloten“ ([14], S. 11). Ahab aber kehrt die Selbstvergewis-
serung fast in ihr Gegenteil. Er rebelliert gegen das Schicksal, das dem
Menschen mit dem Leben, das ihm gegeben wird, auferlegt ist, wie immer
wir es ausdeuten. Seine „quest“ ist Selbstverleugnung.
Daneben ist die Narbe auch das Zeichen einer psychischen Verstümme-
lung. Ahab hat sich mit seiner Fixierung auf den Wal dem Leben verwei-
gert. Von der allmählichen Offenbarung seines Wahns bis zu dem Punkt,
an dem er einem anderen Kapitän aus seinem Heimathafen die Hilfe bei
der Suche nach dessen vermisstem Sohn verweigert, wird deutlich, wie sehr
er sich aus der menschlichen Gemeinschaft entfernt und sein eigenes Schiff
samt Besatzung zu einer in sich geschlossenen Wahnwelt gemacht hat
(Kap. 80). Die Körperzeichnung ist gleichsam das Fanal des outlaws.
Folgen wir der kritischen Vernunft des Erzählers, ist der Weiße Wal das
Symbol einer erhabenen Utopie, in der der „Glanz uranfänglicher Zeiten
neu belebt“ wird, Ausdruck eines Schöpfungszustands vor dem Sündenfall.
Ismael stellt sich der Erhabenheit des Jagdobjekts. Er weiß, dass man das
in diesem Tier Verkörperte niemals überwältigen und schon gar nicht be-
herrschen kann. Er ist der einzige, der überlebt. Wer wie Ahab „das Le-
ben“ besiegen möchte, geht zugrunde. In der Narbe Ahabs und seiner
sonstigen körperlichen Versehrtheit ist dieses Schicksal präfiguriert: denn
sie resultiert realiter aus einem vorausgegangenen Kampf mit dem Wal.
Das Körperzeichen Ahabs entsprang seiner körperlichen Auseinanderset-
zung mit dem Wal und bezeichnet seinen monomanen Bezug auf ihn:
[. . . ] als seine Niederlage ihn dann zur Heimkehr zwang, als Ahab und
seine Pein Tage, Wochen, Monate zusammengeschmiedet in der Hänge-
matte hingestreckt lagen, als er mittwinters das düstere, sturmumheulte
Kap an Patagoniens Küste umsegelte – da geschah es, daß sein zerstörter
Leib und seine klaffende Seele blutend ineinanderströmten, sich ver-
mengten; und das verwirrte seinen Geist. (Kap. 41, 221).
Worin aber liegt die Faszinationskraft, die von dieser Figur ausgeht? Mel-
ville verstand seinen Roman, den C. G. Jung im Übrigen für „den größten
amerikanischen Roman“ [15] hielt, als einen Beitrag zu einer sich vom
englischen Vorbild absetzenden amerikanischen Nationalliteratur. Diese
programmatische Absicht erforderte unter anderem eine neue, der feudalis-
tisch-hierarchischen Gesellschaftsordnung Englands entgegenwirkende
Konzeption des tragischen Helden. In dem vom Leben versehrten, sich
dem Leben hasserfüllt entgegenstemmenden Individuum, das im Wissen
um seinen Wahn diesen bis zum eigenen Untergang weiterverfolgt, ent-
wickelt Melville eine Struktur des unentrinnbaren Widerspruchs, der der
Struktur der tragischen Begebenheit nicht unähnlich, aber in seinen Augen
ungleich moderner ist.
212 z N. Greiner
Das Buch, das dem Menschen zum Lesen gegeben ist, als Himmelsbuch,
als Buch der Natur, als Offenbarungsschrift, setzt zwar hermeneutischen
Sachverstand voraus, unterstellt aber zugleich prinzipielle Lesbarkeit. Das
Zeichen und dessen Entzifferung werden zur kulturellen Grunderfahrung
des Menschen. In diesem semiotischen Prozess nimmt die Erfahrbarkeit in-
dividueller Identität, des Selbst und des Anderen, eine besondere Stellung
ein; sie äußert sich in kulturellen Bezeichnungen (Namen, Kennzeichnung
der Zugehörigkeit) und in Körperzeichen („besondere Merkmale“). Auch
in der Welt Homers gelten die Welt und der in ihr behauste Mensch als les-
bar. Diese prinzipielle Daseinsentzifferung offenbart sich nicht zuletzt in
der unmittelbaren Korporealität des Identitätsausweises, an der Narbe, die
ein unverwechselbares, nicht korrigierbares Zeichen von individueller Iden-
tität ist. Allerdings weiß Homer um die trügerische Kraft kultureller Zei-
chen – Habitus, Kleidung und Rede dienen oft genug der Verstellung, Ver-
führung oder Verwechslung, während der Rückgriff auf das unhintergeh-
bare Körperzeichen zu deren Entdeckung führt.
Der Zivilisationsprozess wäre auch zu schreiben als ein Prozess des Ver-
lustes von Lesbarkeit: Nicht nur gestaltet sich in der Neuzeit die Selbst-
erfahrung problematisch, auch die Selbstverrätselung des Individuums als
Teil seiner sozialen und kulturellen Selbstinszenierung gewinnt an Bedeu-
tung. „Nicht mehr die Gottheit verbirgt sich vor ihren Geschöpfen in der
Natur, sondern diese verbergen sich voreinander in ihrer Kultur“ [16]. Die
Meisterschaft der Entzifferung beherrscht Jahrhunderte lang die kulturellen
Diskurse. Das der unmittelbaren Wahrnehmung zugängliche Körperzeichen
verliert zwar seine Eindeutigkeit, bietet sich aber immer noch als iko-
nisches Refugium aus der ausdifferenzierten Welt des Kulturmenschen dar,
der in allen seinen Facetten begriffen wird. Die Narbe als Verweis auf den
„neuen“ tragischen Helden der ebenfalls „Neuen“ Welt vermag schließlich
noch den Helden als solchen zu bezeichnen, doch bleibt dessen Ausdeu-
tung, philosophisch und moralisch, nach allen Seiten hin offen – so als
würde die „Spaltung“ der Person Ahabs durch die Narbe auch die grund-
sätzliche Ambivalenz eines jeden Zeichens symbolisieren. Die Narbe ist das
einfachste und zugleich komplizierteste Zeichen zur Bezeichnung mensch-
licher Identität.
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 213
Literatur
1. Homer (2000) Odyssee. Griechisch und Deutsch. Übertr. von Anton Weiher. 11.
Aufl. Artemis & Winkler, Düsseldorf
2. Auerbach E (1988) Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Li-
teratur (1946). Francke, Bern, p 8
3. Mead GH (1970) In: Morris CW (Hrsg) Mind, Self, and Society: From the Stand-
point of a Social Behaviorist. University of Chicago Press, Chicago
4. Erikson EH (1994) Identity and the Life Cycle. Norton, New York
5. Elias N (1997) Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene-
tische Untersuchungen, Band I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen
Oberschichten des Abendlandes. Suhrkamp, Frankfurt/M, p 198
6. Corbin A (1987) Ariès P, Duby G (Hrsg) Histoire de la vie privée, Bd. 4. Perrot M
(Hrsg) De la Révolution à la Grande Guerre. Editions du Seuil, Paris, pp 419–436
7. de Balzac H (o. J.) Glanz und Elend der Kurtisanen. Vollmer, Wiesbaden, p 302
8. Kafka F (1952) In der Strafkolonie. In: Das Urteil und andere Erzählungen (1935).
Fischer, Frankfurt/M, p 110
9. Melville H (2005) Moby Dick (Übers. Seiffert A u. H). Aufbau Taschenbuch, Ber-
lin
10. Staats A (1972) Melville, Moby-Dick. In: Lang HJ (Hrsg) Der amerikanische Ro-
man. Bagel, Düsseldorf, pp 103–141
11. Olson C (1958) Call Me Ishmael (1947). Grove Press, New York
12. Hoffman D (1965) Myth, Magic, and Metaphor in Moby-Dick. In: Form and Fable
in American Fiction (1961). Norton, New York
13. Brumm U (1963) Die religiöse Typologie im amerikanischen Denken. Brill, Lei-
den
14. Schulz D (1981) Suche und Abenteuer. Die „Quest“ in der englischen und ame-
rikanischen Erzählkunst der Romantik. Winter Universitätsverlag, Heidelberg
15. Jung CG (1930) Psychologie und Dichtung. In: Ermatinger E (Hrsg) Philosophie
der Literaturwissenschaft. Junker und Dünnhaupt, Berlin, p 316
16. Blumenberg H (1983) Die Lesbarkeit der Welt. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/M, p
111 (hier auch weitere Ausführungen zu diesem Gedanken: pp 108–120)
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut
A. Saurma
Einleitung
Zu den Begriffen
z Metapher: Uneigentliche sprachliche Übertragung. Das eigentliche Wort wird ersetzt
durch ein anderes mit sprachlicher oder sachlicher Ähnlichkeit
z Metonymie: Namensvertauschung. Ein Begriff wird durch einen solchen ersetzt,
der zu ihm in unmittelbarer Verbindung steht
z Allegorie: Anders gefasste Bezeichnung zur rational fassbaren Darstellung abstrakter Begriffe
z Symbol: Zeichen, Kennzeichen oder Sinnbild, welches zur verabredeten und
verkürzten Bezeichnung eines Begriffes, Objektes oder Verfahrens dient
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut z 215
vor allem von den zumindest häufig zitierten Marx, Nietzsche oder Freud
eröffneten Räumen neuer Erfahrungen gewidmet. In Ablösung früherer
Modefächer wie Soziologie und Kulturanthropologie ist ein neues Fach, ei-
ne neue, wie die Italiener sagen, „Dietrologia“ („Dahinteristik“) entstanden,
die besonders für weibliche Studierende und deren Universitätskarrieren
attraktiv wurde. In kühner Verkürzung gesagt, geht es in dieser neuen
Sicht weniger darum, einen durch die Schichten des Geschehenen hindurch
scheinenden Sinn zu erfassen, sondern eher darum, die Erscheinungen in
ihrem Dahinfließen zu beobachten und gerade auch die je eigene Erfah-
rung in diesem Fluss zu artikulieren.
Da es vor allem die Künste sind, in denen das Erfahrbare nach einem
Ausdruck sucht, gehörten Literatur- und Medienwissenschaft, insbesondere
im globalen Medium des Englischen, zu den ersten Disziplinen, in denen
man sich der neueren Sichtweise öffnete. Die Wende von der Forschung
nach historischen Ursachen und Folgen oder nach soziologisch Typischem
zur kulturwissenschaftlichen Perspektive wird gerne mit dem Schlagwort
eines „turns“ angekündigt: zunächst ein „linguistic turn“, später ein „visual
turn“ oder ein „performative turn“. Unter anderen findet sich auch ein
„bodily turn“, womit wir dem Thema „Haut“ schon näher auf die Pelle
gerückt wären.
Der Enthusiasmus, mit dem hier immer wieder neue, zum Teil exzentri-
sche Forschungsfelder aufgetan werden, und der leider auch viele Resultate
in ein weniger seriöses Licht gerückt hat, kann nicht darüber hinweg täu-
schen, dass diesem Aktionismus auch eine gewisse Verzweiflung zugrunde
liegt. Kaum hatte man beispielsweise in den siebziger Jahren mit der Kul-
turanthropologie die Vielfalt traditioneller Ethnien entdeckt, begann in den
Neunzigern die weltweite Bilderkommunikation ihre vereinheitlichende
Kraft zu entfalten. Hoffte man damals, etwa mit Ideologiekritik oder gar
durch Psychoanalyse mündigere Bürger heranzubilden, so ist man heute
mit Betäubungen durch Drogen, durch Fundamentalismus oder durch
Kaufräusche konfrontiert. Insofern geht es vor allem darum, selbst gewollte
und neue Erfahrungen zu machen und diese dann der Welt mitzuteilen.
Auf der Kehrseite dieser Selbstermächtigung steht jedoch der Wille, die Na-
tur in verbesserter Form nachzubauen, was jedoch einmal zu einer so weit-
gehenden Ummöblierung der Psyche führen könnte, dass der bisher gelten-
den Vergleichbarkeit von Erfahrungen zwischen Generationen, Kulturen
oder Epochen überhaupt die Basis entzogen würde.
Kulturwissenschaftliche Studien haben in zwei Hinsichten zugleich Teil
an der ständigen Entgrenzung, in der sich das moderne Wissen über die
Welt befindet. Sie sind sowohl mit einigen Fragestellungen selber an der
Überwindung etablierter humanwissenschaftlicher Fachschranken beteiligt
als auch an der Findung neuer Sinnbezüge angesichts der Unmenge natur-
wissenschaftlicher Einzelerkenntnisse über den Menschen. „Cultural stu-
dies“ versuchen sich in einer zusätzlichen Entgrenzung, indem sie die
schwindelerregenden Möglichkeiten elektronischer Suche und Präsentation
so einsetzen, dass die traditionelle Trennung zwischen den beiden Interpre-
216 z A. Saurma
Die Art und Weise, mit der man – oder bescheidener gesagt, der Okzident
– sich ein Bild von der Welt macht, scheint in bestimmten Zeitabschnitten
jeweils von dominierenden Modellen geprägt zu werden, die wegen ihrer
Allgemeinheit sehr spekulativ bleiben müssen. Immerhin dürfte dabei der
zunehmende Einfluss technischer Vorstellungen – im Gegensatz etwa zu
„Heil“ oder „Blut“ in anderen Zeiten – unbestritten sein. Hatte sich vor
Jahrzehnten die wissenschaftliche Phantasie noch an schatzgräberischen
Bildern oder an Stein für Stein fortschreitenden Bauten entzündet, so neigt
die Imagination der Forschung heute eher zu pulsierenden Kraft- und In-
formationsströmen, die sich rasch auf Oberflächen bewegen oder in Netzen
verteilen und stellenweise Synergien schaffen sollen. Bedingung dieses Flie-
ßens ist jedoch die vorhergehende Unterteilung in kleinste denkbare Par-
tikel, die anschließend eine Synthese oder Nachschöpfung in beliebiger
Form erlauben. Man mag dabei an Beton oder Plastik-Kunststoff denken,
an die Bildpunkte der Pixel oder an die Konstruktion neuer, dienstbarer
Moleküle. Diese geradezu explosionsartige Entwicklung wird zwar im All-
tag nur eher schleichend wahrgenommen, aber wache Teile des Wissen-
schafts- und Kunstbetriebes bemächtigen sich geradezu inbrünstig des Pro-
blems, wie herkömmlich für fest umrissen gehaltene Einheiten wie der
menschliche Körper oder die ihm einwohnende psychosoziale Identität auf
218 z A. Saurma
„pelle come“ oder „piel como“. Da allerdings jeder Versuch, die Unmenge
dieser Resultate zu ordnen, vergeblich wäre, muss es, außer für einige der
nachfolgend ausgewählten Beispiele, leider bei diesem Hinweis zum Selbst-
versuch durch den Leser bleiben, wie denn auch zu fast allen hier etwas
hastig aufgezählten Einzelheiten jede Menge weiterführende Angaben im
Internet gefunden werden können.
Utopien des Wissbaren: Was steckt hinter oder unter der Haut?
Immerhin lässt sich im Gewusel der Daten, Meinungen und Bilder zumin-
dest eine Linie erkennen: Durch den zeittypischen Drang zu immer kühne-
ren Ergebnissen und entsprechend schrillen Präsentationen gerät das inter-
ne Spiel der Bedeutungsebenen in der Hautmetapher unter Druck. Indem
man den Dingen restlos konkret auf den Grund gehen möchte, droht die ja
auch für jede „Dietrologia“ immer neu in Gang zu setzende Dramatik zu
erliegen. Die nun sozusagen ausbuchstabierte Haut wird zu einer sehr rea-
len Grenze, die mit technischen Mitteln und sportlichem Elan überwunden
werden kann und muss.
In erster Linie wäre hier an das „Körperwelten“-Spektakel Gunther von Ha-
gens zu erinnern, in der endlich dauerhaft auf die Haut als hinderlicher Vor-
hang vor der allernacktesten Wahrheit verzichtet werden konnte. Eine „Welt“
im Sinne von sich abwechselnden Sinnstiftungen ist dadurch gerade nicht
entstanden. Eine der ähnlichen Ausstellungen in den USA, „Bodies Revealed“,
kann ebenfalls nichts „offenbaren“, gilt aber als „extremely educational“.
Einen umgekehrten Weg ist die österreichische Künstlerin Eva Wohl-
gemuth mit „bodyscan“ gegangen, die 1997 in Kalifornien ihren „Körper in
der Feinheitsstufe von 285 000 Polygonen einscannen“ ließ, der nun „auf
verschiedenen Speichermedien und im Internet aufliegt und dort abrufbar
ist“. Wie die Soziologin Christina Lammer dazu schrieb, hebe sich das so
entstandene, „engmaschige Gewebe als glatte-dreidimensionale Haut vom
Bildschirm ab. Die Puppe in ihrer reinsten Form, leere Statue, begibt sich
auf die Suche nach ihrem Ich-Knoten.“ In elektronisch sublimierter Gewalt-
samkeit soll hier der weibliche Körper von Fleisch und Blut, von seiner Ge-
schlechtlichkeit gelöst werden. Christina Lammer ihrerseits hat das For-
schungsprojekt „Corpo-Realities“ an der Medizinischen Universität Wien
konzipiert, in dem Künstler, Radiologen und Chirurgen (insbesondere die
Frauen unter ihnen) das Innere, so wie es in den Röntgenbildern „unter
der Haut“ erscheint, zu begreifen versuchen.
Es geht also um die Interpretation der Spuren, die physische oder not-
falls virtuelle Versuche hinterlassen haben, die Haut gewaltsam aus dem
Weg zu schaffen, um neue Einsichten zu gewinnen. Ein ultimatives Projekt
könnte so eines Tages die im Jahr 1999 geschätzten 307 Millionen Gewebe-
proben von 178 Millionen Patienten, die an verschiedenen Orten der Ver-
einigten Staaten konserviert wurden, zum Gesamtkunstwerk zu erklären
und ihren kollektiven Erinnerungswert zu erwägen suchen.
220 z A. Saurma: Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut
Literatur
1. Benthien C (1999) Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Rowohlt
Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg
2. Ach JS (2006) Pollmann A (Hrsg) No body is perfect. Baumaßnahmen am mensch-
lichen Körper. Transcript, Bielefeld
3. Connor S (2004) The Book of Skin. Ithaca NY. Cornell University Press 2003. Reak-
tion Books, London
4. Wegenstein B (2006) Getting Under the Skin. The Body and Media Theory. MIT
Press, Cambridge MA