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Ernst G. Jung z (Hrsg.

)
Kleine Kulturgeschichte der Haut
Ernst G. Jung (Hrsg.)

Kleine Kulturgeschichte
der Haut

Mit 120 überwiegend farbigen Abbildungen


Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Dermatologe
Prof. Emeritus der Universität Heidelberg
Maulbeerweg 20
D-69120 Heidelberg

ISBN-10 3-7985-1757-6 Steinkopff Verlag, Darmstadt


ISBN-13 978-3-7985-1757-8 Steinkopff Verlag, Darmstadt

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Vorwort

Zur Kulturgeschichte gehören auch die Medizingeschichte und


damit diejenige der Haut als einem wesentlichen Organ. Die
Haut prägt mit ihren Anhangsgebilden die äußere Erscheinung
des Menschen, dient der Selbstdarstellung der Person und er-
laubt das individuelle Erkennen. So drängt es sich geradezu
auf, die Haut einmal ins Zentrum kulturgeschichtlicher Be-
trachtungen zu rücken. Dies erstreckt sich auf alle Völker und
Zeiten, auf die Künste und Mythen, auf Psychologie, Soziologie
und natürlich auf die Medizin. Die Dermatologie, mein aka-
demisches und ärztliches Fach, beschäftigt sich mit der kran-
ken Haut, deren Therapie und besonders mit der Gesunderhal-
tung derselben. Sie hat ihre eigene Geschichte [1]. Hautkrank-
heiten, also Dermatologie, findet sich in vielen, vorwiegend
bildhaften Kunstwerken, wozu es vorzügliche Darstellungen gibt
[2]. Dabei kann man sich fragen, ob auf Grund künstlerischer
Darstellungen die Krankheiten diagnostiziert werden können;
eine Absicht, welche der Künstler ursprünglich sicher nicht
hatte [3]. Zudem werden Krankheiten und die wesentlichen
Kernbereiche ärztlichen Wirkens, eingeschlossen das Leiden
und Sterben, von Dichtern und Malern, die gleichzeitig auch
Ärzte waren, zu fesselnden Kunstwerken mit erschütternder In-
tensität gestaltet [4]. Dazu werden hier in einzelnen Apercus,
gleichsam ergänzend, bekannte und auch weniger geläufige
Themenkomplexe aufgegriffen, fortentwickelt und vielfältig in
Beziehung gesetzt. Vollständigkeit ist nicht angestrebt, Ansporn
zum Weiterdenken jedoch wohl. Es handelt sich um Texte, die
in den Jahren 2004–2006 in der dermatologischen Monatszeit-
schrift Aktuelle Dermatologie im Georg Thieme Verlag Stuttgart
vorwiegend in der Rubrik „Kleine Kulturgeschichte der Haut“
erschienen sind und gute Resonanz fanden. Ich bedanke mich
für die Überlassung dieser Texte. Dem Steinkopff Verlag in
Darmstadt danke ich für den Mut und Frau Dr. Gertrud Volkert
besonders für die einfühlsame Professionalität bei der Realisie-
rung des Projekts.
VI z Vorwort

Besonderer Dank gebührt den Mitautoren. Freunde und Kol-


legen haben sich eingebracht mit Anregungen und Themen,
und sie haben geschrieben und Bilder gesucht, wundervoll und
sachkundig; Christina Wietig und Manfred Reitz sogar mehr-
fach.
Die Texte sind entlang eines thematischen Fadens aufgereiht,
wobei der Duktus oft evident ist und gelegentlich dem Leser
Einfühlungsvermögen abverlangt. Klar bleibt jedoch die Ab-
sicht, dem Leser die Verwurzelung unserer Haut mit allen
Aspekten der Kultur, einst und jetzt, offen zu legen und ein-
zuprägen. Möge diese Bemühung, welche in anderer Form und
parallel auch von der Zürcher Dermatologie [5, 6] erbracht
wird, Leserin und Leser erfreuen und zu eigenen Gedanken an-
regen.

Heidelberg, im Januar 2007


Ernst G. Jung

z Literatur
1. Scholz A (1999) Geschichte der Dermatologie in Deutschland. Sprin-
ger Berlin
2. Wagner G, Müller WJ (1970) Dermatologie in der Kunst. Basotherm
GmbH, Biberach a d Riss, 120 S
3. Reitz M (2006) Kunst und ärztliche Diagnose. Expedition in die Wis-
senschaft Bd 1. Wiley-VCH, Weinheim, S 149–169
4. Kulessa H (2005) (Hrsg) Herznaht. Ärzte die Dichter waren – von
Benn bis Schnitzler, mit 33 Gemälden zur Medizin. Europa, Hamburg,
Leipzig, Wien, 224 S
5. Burg G, Geiges ML (2001) Die Haut, in der wir leben. Rüffer & Rub,
Zürich, 269 S
6. Burg G, Geiges ML (2006) Rundum Haut. Rüffer & Rub, Zürich, 238 S
Inhaltsverzeichnis

z Phylogenese als Voraussetzung


für eine kleine Kulturgeschichte der Haut . . . . . . . . . . . . 1
Ernst G. Jung

z Wie der Mensch zu seiner Haut kommt . . . . . . . . . . . . . . 6


Ernst G. Jung

z Die Haut der Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14


Peter Leins

z Haut als Schriftträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20


Ernst G. Jung, Karin Zimmermann

z Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie . . . . 25


Dorothée Mußgnug

z Dermatologische Aspekte in Märchen . . . . . . . . . . . . . . . 32


Ernst G. Jung

z Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen . . . . . 38


Ernst G. Jung

z Tod des Herakles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43


Ernst G. Jung

z Sklerodermien in Sage und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 50


Ernst G. Jung

z Vom Schinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Ernst G. Jung

z Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) –


ein Gott der Azteken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Kurt Wegener
VIII z Inhaltsverzeichnis

z Vom Ursprung des Schindens in Assyrien . . . . . . . . . . . . 67


Ernst G. Jung

z Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze . . 72


Ernst G. Jung

z Hautkrebs bei alten Hochkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 78


Manfred Reitz

z Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde –


Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Hans Meffert, Elisabeth Rowe

z Ein römisches Salbenreibkästchen aus Heidelberg . . . . . . 95


Andreas Hensen

z Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie . . . . 100


Waltrud Wamser-Krasznai

z Zur Genese des modernen Organverständnisses –


Rhinoplastiken und Handtransplantationen
in literarischen Bearbeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Bernhard Kathan

z Sonne und Sonnenkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108


Ernst G. Jung

z Pigment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Ernst G. Jung

z Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut . . . . . . . . . . . . . 120


Christina Wietig, S. Williams, M. Davids,
M. Kerscher

z Blonde Menschen im alten China . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126


Manfred Reitz

z Weiße Indianer in Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135


Manfred Reitz

z Weiße Indianer in Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145


Manfred Reitz

z Die Hautfarbe der alten Ägypter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156


Manfred Reitz
Inhaltsverzeichnis z IX

z Die weiße Dame von Abri Maak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166


Manfred Reitz

z Tätowieren und Tatoo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171


Ernst G. Jung

z Von der Sprache unserer Haut (Afrika) . . . . . . . . . . . . . . 177


Markus Schwarz

z Zum ästhetischen Wertewandel in Kultur und Kosmetik . . 189


Christina Wietig, S. Williams, T. Reuther,
M. Davids, M. Kerscher

z Berührungen, Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196


Uta Gerhardt

z Literarische Narben:
Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur . . 201
Norbert Greiner

z Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut . . . . . . . . . . . . 214


Adalbert Saurma
Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Uta Gerhardt Prof. Dr. Peter Leins


Lehrstuhl für Soziologie II Botaniker
Universität Heidelberg HIP – Biodiversität
Sandgasse 7–9 und Pflanzensystematik
69117 Heidelberg Im Neuenheimer Feld 345
E-mail: uta.gerhardt@urz.uni- 69120 Heidelberg
heidelberg.de
Prof. Dr. med. Hans Meffert
Prof. Dr. Norbert Greiner Hautarztpraxis
Institut für Anglistik und Potsdamer Chaussee 80
Amerikanistik der Universität 14129 Berlin-Nikolassee
Hamburg E-mail: hans.meffert@web.de
Von Melle Park 6
20146 Hamburg Dr. phil. Dorothee Mußgnug
E-mail: Historikerin
norbert.greiner@uni-hamburg.de Keplerstraße 40
69120 Heidelberg
Dr. Andreas Hensen
Kurpfälzisches Museum Dr. Manfred Reitz
Stadt Heidelberg Schillerstraße 7
Archäologische Abteilung 99423 Weimar
Schiffgasse 10 E-mail: mreitz@imb-jena.de
69117 Heidelberg
E-mail: Dr. Adalbert Saurma
andreas.hensen@heidelberg.de Kultursoziologe
Bergstraße 73
Prof. Dr. med. Ernst G. Jung 69121 Heidelberg
Maulbeerweg 20 E-mail: a.saurma@zegk.uni-
69120 Heidelberg heidelberg.de
E-mail: Ernst.G.Jung@t-online.de
Dr. med. Markus Schwarz
Bernhard Kathan Ostseeklinik Dierhagen GmbH
Kulturhistoriker Wiesenweg 1
Grillparzer Straße 6 18347 Ostseebad Dierhagen
6020 Innsbruck, Österreich
E-mail: info@hiddenmuseum.net
XII z Autorenverzeichnis

Dr. med. Dr. phil. Christina Wietig


Waltrud Wamser-Krasznai Universität Hamburg
Fachärztin für Orthopädie Kosmetik und
und Rheumatologie, Sportärztin Körperpflege (FB13)
Kleeberger Straße 10 Papendamm 21
35510 Butzbach 20146 Hamburg
E-mail: Christina.Wietig@uni-
Prof. Dr. Kurt Wegener hamburg.de
Pathologe
Augustinum
Jaspersstraße 2
69126 Heidelberg
E-mail: wegener@netclub.de
Phylogenese als Voraussetzung
für eine kleine Kulturgeschichte der Haut
E. G. Jung

Die Kulturgeschichte der Haut beginnt mit der Entwicklungsgeschichte,


hängt also zusammen mit den Fragen wie, woher, wozu und wieso die
Haut des Menschen, die im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht, ent-
stand und fortentwickelt worden ist. Hier ist die Tatsache von besonderem
Interesse, dass unsere Haut den vielfältigen äußeren und inneren Anforde-
rungen entspricht, die mit wechselnden Schwerpunkten bis in die Gegen-
wart anstehen. Die Haut ist Hülle, Grenzorgan, bietet Schutz und gibt
Form, nimmt am Stoffwechsel regen Anteil (Atmung, Stoffaustausch, Was-
serhaushalt) und steht bei Warmblütlern im Dienste der Wärmeregulation.
Die Haut trägt vielfältige Sinnesorgane und ist ein wichtiger Vermittler von
Beziehungen zur Umwelt, in beiden Richtungen, und sie ist ein eigentliches
Organ der Erscheinung. Sie hat einen bedeutenden Anteil an der gesamten
Gestaltung eines Menschen, seiner Außenwirkung und seines Selbstwertes.
Diese Qualitäten unserer Haut sind in einer langen Geschichte entwickelt
und angepasst worden. Sie werden in der gegenwärtigen Ausformung ge-
braucht und täglich gefordert. Dazu kommen aber auch Belastungen extre-
mer Art, denen Ausnahmecharakter zukommt, also Unfälle, Verletzungen
und weitere so genannte Notfälle. Hierfür trägt die Haut Warnsysteme und
verfügt über vielfältige Reparaturmechanismen. Auch sie sind Endpunkte
einer langen Entwicklungsgeschichte und auch sie sind den aktuellen
Bedürfnissen weitgehend angepasst.
Die Haut ist im Rahmen der Entwicklung der Welt der Wirbeltiere, der
Säugetiere und des Menschen zu betrachten, eben der Phylogenese (auch
Phylogenie, Entwicklungsgeschichte und Stammesgeschichte). Es begann
1859 mit der grundlegenden Arbeit von Charles R. Darwin (1809–1882)
„On the origin of species by means of natural selection, or preservation of
favoured races in the struggle of life“. Die Evolutionstheorie fand, aller-
dings erst nach heftigen Kontroversen, zunehmend Anerkennung.
Als Evolutionsfaktoren gelten: Mutation, Rekombination, Selektion
(natürliche Auslese) und Isolation (Nischen). Zudem haben exogene Ein-
flüsse, wie Erdkatastrophen, maßgeblichen Einfluss.
Darauf basierte Ernst Haeckel (1834–1919). Er griff die Hypothesen von
F. Müller (1864) auf und formulierte 1866 das „Biogenetische Grundgesetz“,
welches besagt, dass die Individualentwicklung (Ontogenese, Embryogene-
se) eines Lebewesens eine verkürzte Rekapitulation der Stammesgeschichte
(Phylogenese) darstellt.
2 z E. G. Jung

Aus der Vielfalt der Entwicklungsentwürfe ist also im Laufe der Phyloge-
nese, gleichsam als optimale Auslese, die Haut des heutigen Menschen mit
ihren Anhangsgebilden entstanden. Die Phylogenese der Haut wird in ihren
Grundzügen also in der Ontogenese des menschlichen Keimlings wieder-
holt und setzt sich in der weiteren Entwicklung der Embryogene fort.
Die Epidermis der Wirbellosen (Invertebraten) ist mit Ausnahme der
Pfeilwürmer einschichtig.
Die Körperdecke aller Wirbeltiere ist stets aus zwei embryonalen
Schichten aufgebaut:

z Ektodermale Zellen bilden die Epidermis (Oberhaut); sie formen auch die
Sinnesorgane der Haut und die Drüsen, auch wenn diese Organe im reifen
Zustand nicht in der Epidermis liegen. Vereinzelte Pigmentzellen aus dem
Neuroektoderm kommen hinzu, sowie periphere Zellen des Immunsystems.
Die Epidermis ist ein mehrschichtiges Epithel (Ausnahme: beim Amphio-
xus ist sie einschichtig), wobei die basale Schicht als Keimschicht die Ver-
mehrungsfähigkeit bewahrt und epidermale Stammzellen enthält (Stratum
germinativum).

z Mesodermale Zellen bilden die Dermis (Cutis, Lederhaut, Unterhaut), sie


stammen aus dem Ektomesoblasten der Neuralleiste. Blutgefäße, Nerven
und gelegentlich auch Muskulatur wachsen sekundär hinein und auch Pig-
mentzellen, die sich am oberen Rand der Dermis, also subepidermal, zur
Chromophorenschicht gruppieren. Sie tragen Melaninpigmente struktur-
gebunden in Melanosomen, welche durch Spreitung oder Ballung innerhalb
der Chromophoren und deren Dendriten kurzfristige Veränderung des Pig-
mentaspektes zustande bringen.
Das subkutane Fettgewebe wird von der lateralen Wand der Ursegmente
geliefert.
Die Sinnesleistungen werden bei allen Wirbeltieren durch freie Nerven-
endigungen in Dermis und Epidermis, sowie durch spezielle, einzelnen af-
ferenten Qualitäten zugeordnete „Sinnesorgane“ gewährleistet.

Die Haut der primären Wirbeltiere ist immer eine Grenzschicht


gegen Wasser
Sie spielt eine wichtige Rolle als Regulator des Wasserhaushaltes, insbeson-
dere bei Süßwasserfischen, deren Salzkonzentration der Körpersäfte von
der des umgebenden Wassers sehr verschieden ist. Die primäre Haut ist
reich an epidermalen Drüsen, die schon bei den Cyclostomaten (z. B. Neun-
auge; Auftreten im Cambrium) sowohl als einzellige Schleimdrüsen und
basalständige, ein- oder zweikernige Kolbenzellen auftreten und sich bis zu
den Knochenfischen (Teleostier; erstes Auftreten im Carbon) halten
(Abb. 1).
Phylogenese als Voraussetzung für eine kleine Kulturgeschichte der Haut z 3

Abb. 1. Vereinfachter Stammbaum der Tiere. 1. Urtiere, 2. Weichtiere, 3. Insekten, 4. Agnathi,


deren degenerierte Nachkommen die Neunaugen sind, 5. Placodermata, 6. Knorpelfische,
7. Cölacanthiden, 8. andere Knochenfische, 9. Amphibien, 10 Reptilien, 11. Vögel, 12. Säugetie-
re, 13. Mensch

Bei den Amphibien treten nach der Metamorphose vielzellige, ekrine


Schleimdrüsen auf, die sekundär in die Dermis versenkt und durch einen
Ausführungsgang mit der Oberfläche verbunden sind.

Die Haut der Landwirbeltiere ist vor allem eine Grenzschicht


gegen Luft

Die Isolation des Körperinneren und der Schutz gegen Verdunstung wird
viel wichtiger als bei den Wassertieren. Diese Rolle wird von einer ausgie-
bigen Hornbildung übernommen. Die Epidermis bildet ein vielschichtiges,
mächtiges Stratum corneum, welches sich kontinuierlich erneuert und
oberflächlich abschuppt. Diese Erneuerung kann durch rhythmische Abfol-
ge des Stratum germinativum mit dazwischen geschalteten, nicht verhor-
nenden Zwischenschichten zum wiederholten Abstoßen kompakter Schich-
ten führen (Abb. 2). So kommt es zu Häutungen bis zum Abstreifen der ge-
samten alten Körperdecke bei den Schlangen.
4 z E. G. Jung

Abb. 2. Schichtung der Epidermis bei sqamanten


Reptilien. Haut einer Blindschleiche mit drei Ge-
nerationen der Epidermis, die kommende Häu-
tungen vorbereiten. A Epidermis, B Cutis
1 Keimschicht (Stratum germinativum)
2 Zwischenschicht (ermöglicht beim Absterben
[2 a, b] die Häutung)
3 Hornschicht im Beginn der Verhornung;
3 a, b stärker verhornt
4 Oberhäutchen

Durch spezielle Differenzierung entstehen bei den Reptilien feste Schup-


pen und Schilder (sehr ausgeprägt bei Krokodil und Schildkröte), Federn
bei den Vögeln und Haare bei den Säugetieren, die ganz bestimmte, hoch
entwickelte Funktionen ermöglichen. Der epidermale Drüsenbesatz ist bei
Reptilien und Vögeln, abgesehen von der paarigen Bürzeldrüse, im Ver-
gleich zu den primären Wirbeltieren gering. Erst bei den Säugetieren fin-
den sich flächig verteilt und den Haarfollikel zugeordnet die Talgdrüsen
zur kontinuierlichen Selbstfettung der Hautoberfläche und des Haarkleides.
Wasserfestigkeit und Wärmekonservierung erweitern den Lebensraum ge-
waltig.
Auch die Unterhaut ist bei den Landwirbeltieren sehr viel derber gebaut
als bei den primären Wasserformen. Sie gliedert sich in ein lockeres, obe-
res Stratum papillare und das kompakte, tiefere Stratum reticulare. Hart-
gebilde wie Knochenplatten oder die verschiedenen Schuppen der Fische
sind dermale Besonderheiten, die beim Menschen, allerdings nur bei
Krankheiten, in Rudimenten wieder auftreten können (Sklerodermie, se-
kundäre Verkalkungen bei Ulcera).
Die Phylogenese zeigt, dass sich die Haut mit ihren Strukturen und
Funktionen in hervorragender Weise den Lebensräumen der Wirbeltiere
anzupassen verstand. Dies zeigt sich beispielhaft beim Übergang der Am-
phibien und Reptilien vom Wasser auf die Landräume.
Die Vielfalt der epidermalen Ausdifferenzierung mit speziellen Formatio-
nen von Keratin ermöglich die Adaptation an die Fortbewegungsarten:
Schwimmen, Kriechen, Gehen, Klettern und Fliegen. Die Spielbreite geht
von der starken Betonung der Schutzfunktion durch Panzerbildung bis zur
extremen Plastizität zugunsten der Beweglichkeit.
Nicht alles was die Entwicklungsgeschichte an Möglichkeiten anbot, hat
sich bewährt. Vieles wurde vom Bedarf überholt und nicht weiterent-
wickelt. Anpassungen an die sich wandelnde Umwelt (Kontinentalverschie-
bung, Eiszeiten, etc.) und deren Ressourcen waren nötig. Ganz besondere
Herausforderungen stellten die globalen Katastrophen dar, von denen zwei
sehr gut dokumentiert sind:
Phylogenese als Voraussetzung für eine kleine Kulturgeschichte der Haut z 5

Die größte globale Erdkatastrophe erfolgte an der Perm-Trias-Grenze vor


251 Millionen Jahren mit der Ausrottung von 95% der damaligen Flora
und Fauna. Es dauerte 100 Millionen Jahre, bis sich Flora und Fauna wie-
der neu entfalteten und die Biodiversität dasselbe Niveau wie vor dem Fau-
nenschnitt erreicht hatte.
An der Kreide-Tertiär-Grenze erfolgte vor 65 Millionen Jahren, mögli-
cherweise durch Meteoriteneinschlag, ein Massensterben in Flora und Fau-
na, an Land und im Wasser, dem die Hälfte aller damaligen Arten und die
Dinosaurier zum Opfer fielen.
Entscheidend war die bedarfskonforme Entwicklung und die Ausbildung
multifunktionaler Strukturen. Diese ermöglichen das Bewältigen von kurz-
fristigen Veränderungen, auch in mehreren Richtungen. Ausdehnung durch
verschiedene Klimazonen, Bestehen der Jahreszeiten, Erkundigung unbe-
kannter, ja extremer Räume wird möglich und eine enorme globale Wan-
derung der Arten ist die Folge.
Dies alles hat der Mensch mitbekommen, eine Ausstattung ohne glei-
chen, bereit Neuland – wahrlich und im übertragenen Sinne – zu bestehen.
Dies bildet unter anderem die Voraussetzung für die Kulturleistungen, wel-
chen wir in den weiteren Beiträgen besondere Aufmerksamkeit schenken
wollen. Den Bezug zu unserer Haut sollen wir dabei nie aus den Augen
verlieren.

Literatur
Moll I (1991) Die Entwicklung der Epidermis vom Fisch zum Menschen. Hautarzt
42:350–355
Portmann A (1959) Einführung in die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere.
Schwabe & Co, Basel, Stuttgart
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt
E. G. Jung

Die Phylogenese zeichnet die Entwicklungsgeschichte der menschlichen


Haut, vergleichend aus der tiefen Welt der Wirbeltiere heraus. Nun aber
wenden wir uns der Individualentwicklung zu. Wie kommt es zu unserer
Haut mit ihrer Vielgestalt und ihren einzigartigen Möglichkeiten, sowohl
traditionelle, zu erwartenden Herausforderungen zu bestehen, als auch sich
gegenüber neuen, unvorhersehbaren Ereignissen zu bewähren. Wir be-
trachten dazu vordringlich die Embryogenese, wenden uns dann der Kon-
stituierung der Haut zu und landen zwangsläufig bei Architektur und To-
pologie. So gelingt es, Struktur und Funktion unserer Haut zu verstehen,
und wir können Qualitäten erkennen, die maßgeblich zur individuellen Er-
scheinung, zum Selbstwert und dessen Einschätzung beitragen, ja solches
eigentlich bedingen und gestalten.

Embryogenese

Die menschliche Individualentwicklung umfasst, nach der Befruchtung der


Eizelle und deren 5-tägigen Wanderung zur Nidation, einer Tragzeit
(Schwangerschaft) von 260 Tagen, also 9 Monate oder 37 Wochen. Diese
Embryogenese (auch Ontogenese) umfasst die eigentliche Embryogenese
des Keimlings, von der Befruchtung bis zur Entwicklung der Organanlagen,
und die Foetalzeit ab dem 5. Schwangerschaftsmonat bis zur Geburt.
Schon sehr früh beginnt der kugelige Zellhaufen (Blastula) sich zu orga-
nisieren. Einerseits bildet sich unter der Einwirkung mütterlicher mRNA
und durch Aktivierung früher Orientierungs- und Entwicklungs-Gene die
definitive anterio-posteriore Ausrichtung, und anderseits die Gliederung in
drei Keimblätter.
Aus dem eingestülpten Entoderm entwickelt sich der axiale Magen-
Darmtrakt mit seinen Drüsenorganen und Anteile der Atmungsorgane so-
wie des Urogenitaltraktes.
Das Neuroektoderm bildet dorsal das axiale Neuralrohr. Aus dem dazwi-
schen gelegenen Mesoderm entwickeln sich segmentäre Somiten, die dorso-
ventral auswachsen. So entstehen Wirbelkörper, Rippen, Muskulatur und
im Zusammenwirken mit dem Entoderm auch Anteile der Lungen, des
Urogenitaltraktes, der Blutbildung und der Immunsysteme. Auch das Herz-
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt z 7

Abb. 1. Schemazeichnung der


embryonalen Hautbildung; seg-
mentäres, dorso-ventrales
Wachstum der Somiten (li)
und axiale Verstreckung durch
starke Volumenzunahme mit
ventraler Krümmung des Keim-
lings (re) nach R. Happle, 1993

Kreislauf-System entsteht aus dem Mesoderm, in segmentalem Überfluss.


Dieser wird durch Wachstum, Regulierung, Schwund (Apoptose) und viel-
fältige Koordinierung mit Faltungen zu einem axialen, asymmetrischen
System verwoben. Solche Vorgänge laufen auch ab zur Organisation des
Kopfes, zur Ausbildung der paarigen Organe (Lungen, Urogenitaltrakt) und
zur Strukturierung des Bewegungsapparates, ebenso wie zur Anpassung
der Arme und Hände an differenzierte mechanische Funktionen.
Das Herz-Kreislauf-System gewinnt im Herzen den zentralen Motor und
versorgt die Peripherie, teilweise noch durch segmentär angeordnete Gefä-
ße und das Nervensystem hat im Gehirn seine zentralen Funktionen zu-
sammengefasst und versorgt die axialen Organe systemorientiert, die Peri-
pherie aber mit streng segmentär zugeordneten Nerven.
Die Kopf-Schwanz-Ausrichtung mit drei großen axialen Systemen ist in
komplexer Weise verwoben mit der segmentalen Gliederung der Somiten.
Diese teils kompetitiven, teils komplementären Abläufe zeichnen in bemer-
kenswerter Art die Vorgänge während der Entwicklungsgeschichte der Wir-
beltiere nach. Man bezeichnet sie deshalb als „phylogenetische Phase“, in
Erinnerung an Ernst Haeckel, der 1866 daraus ein „Biogenetisches Grund-
gesetz“ abzuleiten versuchte.
Unsere Haut wird streng segmentär aus dem Material der Somiten zu-
sammengesetzt, wobei aus dem Mesoderm die Dermis und das Fettgewebe
entsteht, und aus dem Ektoderm die Epidermis und deren Anhangsgebilde.
Die Segmente wachsen dorso-ventral aus und werden im Laufe der Volu-
menzunahme bei der Ventralkrümmung des Keimlings zudem symmetri-
schen, axialen Verziehungen ausgesetzt (Abb. 1). Diese wurden vom Berli-
ner Dermatologen Alfred Blaschko (1858–1922) erkannt und im Jahre 1901
erstmals beschrieben. Solches geschieht in der 2–8 Schwangerschaftswoche,
wobei zunächst und vorwiegend das äußere Keimblatt sich ausbreitet und
Epidermis bildet. Dies ist die sensible Phase des Ektoderms.
8 z E. G. Jung

a b

Abb. 2 a. Verlauf der Hautspaltlinien: Viele Effloreszenzen sind entlang dieser Spaltlinien aus-
gerichtet. b Verlauf der Blaschko-Linien

An den Fehlern erkennt man sie, die Blaschko-Linien! (Abb. 2)

Gemeint sind Naevi, Muttermale, die aufgrund einer postzygotischen


Punktmutation im Ektoderm auftreten. Die Mutation führt zu einer Verän-
derung oder einem Schaden der Epidermis, zu einer klinisch erkennbaren
und meist auch charakteristischen, strukturellen Auffälligkeit, einem Zu-
viel, einem Zuwenig oder eine unübliche Anschuppung eigentlich normaler
Zellelemente der Epidermis. Das frühe Ereignis wird sich durch Vermeh-
rung der mutierten Zelle mit der Epidermis flächig ausdehnen. Wird ein
früher Somit betroffen, kann sich der Nävus auf große, gar sektoriale Orga-
nisationsfelder ausdehnen (Abb. 3). Erfolgt das mutagene Ereignis etwas
später, wird der Nävus sich zunächst segmentär, also dorso-ventral auszie-
hen und, der axialen Verwerfung der Blaschko-Linien folgend, zudem typi-
sche, nach oben gerichtete Spitzen beidseits paravertebral aufweisen. Dies
trifft bei epidermalen Naevi (Abb. 4) zu und bei einem Teil der Fälle von
segmentärer Dyskeratosis follicularis Darier (Typ I nach Happle; Abb. 5).
Segmentäre Naevi sind demnach Ausdruck von somatischen, also nicht
vererbbaren Fehlern der Haut, die aufgrund ihrer Anordnung Einblicke
weit zurück in die Embryogenese erlauben. Frühe somatische Mutationen
vor der 8. SW folgen den Blaschko-Linien. Bei späteren ist es anders.
Dem Auswachsen der ektodermalen Somiten folgt, gleichsam als Un-
terfütterung, das Mesoderm, das die Mächtigkeit der Dermis zwischen der
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt z 9

Abb. 3. Kongenitaler, großer Pigment- Abb. 4. Epidermaler Naevus mit Befall


naevus nach Punktmutation in der Vor- mehrerer Segmente, am Stamm und wir-
phase der Somitenbildung belförmig in der Axilla

8.–16. SW aufbaut, die dermo-epidermale Verzahnung einleitet, mit Blutge-


fäßen und Nerven die Epidermis erreicht und versorgt und so erst die
komplexe Struktur der fertigen, adulten Haut ermöglicht. Dies ist die kon-
stitutive Phase der mesodermalen Dermis.
Treten in diesem Zeitraum, zwischen der 9.–16. SW somatische Mutatio-
nen der Haut auf, so wachsen sie auch aus, aber sie folgen streng zoniform
den Dermatomen, so wie die Dermis und mit ihr die Innervation sich aus-
bildet. Dies ist bei einer zweiten Gruppe von segmentaler Dyskeratosis fol-
licularis Darier (Typ II nach Happle) der Fall und bei den sporadischen
Fällen der segmentalen Neurofibromatosis von Recklinghausen (Typ V
nach Riccardi, Abb. 6). Damit sind wir bei den Dermatomen angelangt,
und stellen fest,
10 z E. G. Jung

Abb. 5. Segmentäre Dyskera-


tosis follicularis Darier in
Blaschko-Linie

Abb. 6. Segmentäre Neurofi-


bromatosis v. Recklinghausen
in einem Dermatom

Dermatome erkennt man durch ihre Krankheiten (Abb. 7)

Vor allem beim Herpes Zoster (Gürtelrose), wobei die Virusinfektion aus
den Spinalganglien entlang der sensiblen Bahnen zentrifugal die Haut be-
fällt und ein oder mehrere Dermatome charakteristisch zeichnet. Dies er-
folgt streng segmental und zeigt nicht die axiale Verziehung der Blaschko-
Linien. Die Dermatome sind also später, eben nach der 8. SW und nicht
mehr unter dem Einfluss der Längsdehnung der Haut des frühen Keim-
lings, mit den einsprossenden Nerven versehen worden.

Konstituierung der Haut

Die Epidermis ektodermaler Herkunft und die Dermis aus dem Mesoderm
werden durch eine hochkomplexe dermo-epidermale Junktionszone funk-
tional und mechanisch verbunden. Diese Strukturen sind im 4. Schwanger-
schaftsmonat schon deutlich ausgeprägt und der pränatalen Diagnostik zu-
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt z 11

V1
V1
C2
V2
V3
C3
C8
Th1 Th1

Th12
L1 C5
L5 C6
S1 L1 Th12
C6
C7 L2 S2
C8
C7 C8 L3

L4

S1 L5
S2
Abb. 7. Schema der segmenta-
len Nervenversorgung (Derma- S1
tome), nach welchem die Aus-
breitung des Herpes zoster er-
folgt

gänglich. Die Epidermis strukturiert sich zudem als mehrschichtiges, ver-


hornendes Plattenepithel zwischen der 8. und 12. Woche. Sie differenziert,
innerhalb der Epidermis, Merkelzellen aus, die Schrittmacherfunktion bei
der Determination der Reteleisten und zur Ausdifferenzierung von Haut-
anhangsgebilden zeigen. Endlich liegen die Merkelzellen einzeln oder in
Gruppen basal in der Epidermis und der äußeren Wurzelscheide der Haar-
follikel und sie zeigen auch synapseähnlich Kontakte zu peripheren Ner-
venendigungen.

Ausbildung der epidermalen Anhangsgebilde


in Bezug zur Schwangerschafts-Woche (SW)

12. SW Haarfollikel und Talgdrüsen (holokrin) (Lanugohaare ab 20. SW)


15. SW Ekrine Schweißdrüsen (Gesicht, Handflächen und Fußsohlen)
16. SW Apokrine Schweißdrüsen (Axillen und Genitale)

z Einwanderung der Melanozyten aus der Neuralleiste in den 8.–12.


Schwangerschaftswochen in die basale Epidermis, wo sie eine epidermale
Melanineinheit von 36 Keratinozyten mit Melaningranula versorgen (Pig-
mentierung, Lichtschutz).
z Einwanderung unreifer dendritischer Zellen aus dem Knochenmark
(myeloische Reihe) in die Epidermis, wo sie suprabasal zu immunkom-
12 z E. G. Jung

petenten Langerhanszellen ausreifen. Sie aktivieren T-Helferzellen und


spielen bei der Antigenpräsentation im Zusammenhang mit der Spättyp-
reaktion eine wesentliche Rolle.
z Einsprossen freier Nervenendigungen in die Dermatome der Haut, bis in
die Epidermis, streng zoniform gemäß der segmentalen Nervenversor-
gung.

Es gibt noch eine dritte Art der Oberflächen-Einteilung unserer Haut, wel-
che das Wechselspiel zwischen Festigkeit und plastischer Verformbarkeit
derselben spiegelt. Es sind dies die nach dem Berliner Dermatologen Erich
Langer (1891–1957) benannten Langer-Spaltlinien der Haut, die sichtbar
sind (Abb. 2 a) und entsprechend besonderer Zug- und Druckverhältnisse
unsere Felderhaut zeichnen. Sie sind durch die dermale Verankerung be-
dingt und sollten bei der operativen Schnittführung tunlichst berücksich-
tigt werden. Viele Effloreszenzen ordnen sich entlang dieser Linien.
Anders als bei der Felderhaut am ganzen Körper, ist die Leistenhaut der
Palmae und Plantae durch besonders straffe Bindegewebssepten mit einge-
schlossenen Fettläppchen auf extreme Druck- und Scherkräfte eingerichtet.
Die eigenartigen Handlinien und deren Faltung zu Furchen reizen die
Cheirologen zum Handlesen und daraus abgeleitet gar zur Zukunftsdeu-
tung. Die Muster der Papillarleisten sind individuell unterschiedlich und
genetisch fixiert. Sie werden von Anthropologen, Kriminologen und Gene-
tikern benützt und neuerdings als „Genetischer Fingerprint“ im Rahmen
biometrischer Charakteristika auch zur Identifikation von Personen herbei-
gezogen.

Architektur und Topografie unserer Haut


Unsere Haut ist keineswegs am ganzen Körper gleich. Sie zeigt vielmehr
ausgesprochen deutliche Unterschiede, die vorzüglich den vielfältigen
Funktionen und den Möglichkeiten der Belastung angepasst sind.
Die Schweißdrüsen sind im Gesicht, an den Händen und Füßen angerei-
chert, um Flüssigkeit und Wärme auszutauschen. Die Talgdrüsen sitzen an
den Haarfollikel zur kontinuierlichen Fettung der Haare und der interfolli-
kulären Epidermis. Und die apokrinen Duftdrüsen markieren die Ge-
schlechtsorgane. Haare finden sich spärlich am Körper und am Kopf dich-
ter und mächtiger. Sie dienen, phylogenetisch betrachtet, nur noch in ge-
ringem Umfang der Wärmeregulierung, gewinnen aber als Mittel der Dar-
stellung und des Ausdrucks gewaltig an Bedeutung. Eine Entwicklung der
Kultur mit eigener Geschichte!
Die Haut ist unterschiedlich dick. Dies betrifft sowohl das dermale Bin-
degewebe als auch die Epidermis mit ihrer Hornschicht. Unterschiede bis
zum Zehnfachen bestehen zwischen der dünnen, sehr flexiblen und emp-
findlichen Haut der Beugestellen und der starken Belastungen ausgesetzten
Wie der Mensch zu seiner Haut kommt z 13

Haut an Rücken, Gesäß und den Streckseiten der Extremitäten. Nicht von
ungefähr verwenden wir die mächtige Rückenhaut für die epikutanen
Läppchentests. Einerseits wird diese Partie wenig bewegt und anderseits
bildet die dicke Hornschicht beste Voraussetzungen zur optimalen Protein-
koppelung der zum Allergietest angesetzten Haptene.
Aber auch das dermale Bindegewebe mit seinen in gotischen Bogenfigu-
ren eingekammerten Fettläppchen, zeigt spezielle Topografie. Beim Mann
finden sich diese Depots vorwiegend tief periumbilikal, bei der Frau aber
um das Becken und die Hüften. Spezialisten meinen, dass damit dem wer-
benden Mann ein gebärfähiges Becken und ausreichende Energiereserven
für Trag- und Stillzeit gemeinsamen Nachwuchs signalisiert würden.
Die „Rubens-Figuren“ als Selektionsvorteil! So könnte es gewesen sein.
Aber neuerdings bleiben 40% der Akademikerinnen ohne Kinder, wissen
also diesen Vorteil gar nicht zu nützen, und Hungersnot besteht auch nicht.
Es bleiben von den Rubens-Figuren nur noch die Nachteile, zumal immer
mehr Haut gezeigt werden will. Also werden die sichtbaren und spürbaren
Oberflächeneffekte der Kammerung als Orangenhaut apostrophiert, negativ
besetzt und verabscheut.

Ein Wertewandel zeichnet sich ab!

Rubens-Figuren sind „out“ und androgyne, große, schlanke Damen sind


in. Die Modeschöpfer und ihre Models geben den Ton an, zeigen die Rich-
tung, und eine ganze Kaskade kultureller Maßnahmen hängt sich daran,
beflissen, aggressiv, verlockend und manchmal sogar invasiv. Die Ziele sind
zuweilen verwirrend, nicht klar erkennbar und ein End- oder Wendepunkt
nicht in Sicht.

Literatur
Blaschko A (1901) Die Nervenverteilung in der Haut in ihrer Beziehung zu den Er-
krankungen der Haut. In: Beilage zu den Verhandlungen der Deutschen Dermatolo-
gischen Gesellschaft: VII Congress zu Breslau, Mai, Vienna, Austria. Braunmüller
Happle R (1993) Mosaicism in Human Skin. Understanding the Pattern and Mecha-
nisms. Arch Dermatol 129:1460–1470
Happle R (1995) What is a Nevus? Dermatology 191:1–5
Jung EG (1988) Segmentale Neurofibromatosis (NF 5). Neurofibromatosis 1:306–311
Jung EG, Ulmschneider H (1996) Das moderne „Happle-Konzept“ der Naevi mit his-
torischen Bezügen. Akt Dermatol 22:129–131
Jung EG (1999) Was ist ein Naevus? Akt Dermatol 25:60–65
Jung EG (2000) Der segmentäre Morbus Darier. Akt Dermatol 26:325–329
Die Haut der Pflanzen
P. Leins

Die Notwendigkeit einer Haut bei den ersten Landpflanzen

Die Entdeckung der ersten Landpflanzen ist eine aufregende Geschichte.


1917 haben Robert Kidston und William Lang [1] Fossilien aus mittel-
devonischen schottischen Hornsteinblöcken als die berühmte Rhynia be-
schrieben, die für das Verständnis der frühen Landpflanzen-Evolution von
größter Wichtigkeit sein sollte. Die Rhynia-Pflanzen waren, wie auch die
später entdeckten, noch älteren Landpflanzenzeugen, z. B. Cooksonia aus
dem oberen Silur (mehr als 400 Millionen Jahre alt), einfach gebaut. Sie be-
standen aus gabelig verzweigten Stengeln, die man Telome nennt. Aus Telo-
men bzw. Telomständen begannen sich schon während dem unteren Devon
die für die Höheren Landpflanzen bekannten drei Grundorgane Wurzel,
Sprossachse und Blatt zu differenzieren. Eine Übergangsform ist Protolepi-
dodendron (Abb. 1).

Abb. 1. Eine der ersten Land-


pflanzen aus dem Unterdevon
des Wahnbachtals bei Bonn,
Protolepidodendron wahnba-
chense, ein Vorläufer der rezen-
ten Bärlappgewächse, bei de-
nen die reduzierten seitlichen
Telome zu kleinen Blättern
wurden; alle oberirdischen
Pflanzenteile besitzen eine Cu-
ticula mit Spaltöffnungen
Die Haut der Pflanzen z 15

Dem hervorragenden Erhaltungszustand mancher Fossilien ist es zu ver-


danken, Beweisstücke zu finden, dass es sich bei den genannten Fossilien
um Landpflanzen handeln muss. Die Pflanzenteile sind nämlich von einem
Abschlussgewebe, der Epidermis, umgeben. Die Epidermis besteht im All-
gemeinen aus einer Zellschicht, und die Außenwände dieser einschichtigen
Haut sind durch Auflagerung von hydrophoben Zellwandschichten, die in
ihrer Gesamtheit die so genannte Cuticula bilden, fast undurchlässig für
Wasser und Luft und verhindern somit ein rasches Welken bzw. Austrock-
nen der in der Atmosphäre befindlichen Pflanzenteile. Die Luftundurchläs-
sigkeit der Cuticula jedoch würde einen Einstrom der Kohlendioxid-Mole-
küle in den Pflanzenkörper, die bei der Photosynthese zum Aufbau der
Kohlenhydrate gebraucht werden, unmöglich machen, wären da nicht Po-
ren in der Haut, die die Zwischenzellräume (Interzellularen) im Gewebe
mit der Außenluft verbinden. Diese Poren sind von zwei so genannten
Schließzellen umgeben und werden Spaltöffnungen genannt (Abb. 2). Viel-
leicht verhielten sich die Schließzellen bereits wie bei den heute lebenden
Landpflanzen. Bei diesen enthalten sie im Gegensatz zu den übrigen Epi-
dermiszellen Chloroplasten, und ihren Namen verdanken sie der Fähigkeit
durch Bewegungen die Poren zu verschließen oder wieder zu öffnen. Das
Öffnen geschieht durch eine Erhöhung des Innendrucks (Turgor) der
Schließzellen. Die Regulation des Öffnungszustands der Poren erfolgt bei
den rezenten Landpflanzen über die Wasserversorgung, die CO2-Konzentra-
tion im Gewebe, das Licht und die Temperatur. Dabei stehen mehrere Re-
gelkreise miteinander in Wechselwirkung und gewährleisten eine „ideale“
Balance zwischen Photosyntheseleistung und Verdunstung. Andererseits
treibt die Verdunstung insbesondere über die Spaltöffnungen (rein physika-
lisch) die Wasserzufuhr aus dem Boden an (Transpirationssog).
Das Vorhandensein von Spaltöffnungen an der Oberfläche fossiler Pflan-
zenreste lässt natürlich den zwingenden Schluss zu, dass wir es mit Land-

Abb. 2. Oberfläche der Blatt-


unterseite des Horn-Veilchens
mit Spaltöffnungen (Raster-
elektronenmikroskopische Auf-
nahme; Photo C. Erbar)
16 z P. Leins

pflanzen zu tun haben. Ein weiteres Indiz bietet die Existenz eines Wasser-
leitgewebes (verbunden mit einem Assimilatleitgewebe), das sich in Form
eines schmalen Stranges in den Telomen zu erkennen gibt und die ober-
irdischen Teile der Pflanze mit Wasser aus dem Boden versorgt. Solche
Leitstränge oder Leitbündel durchziehen später alle drei Grundorgane:
Wurzel, Sprossachse und Blatt.

Einiges über die Chemie und Feinstruktur der Pflanzenhaut


Vor allem ist der Aufbau der Außenwände der Epidermiszellen als unmit-
telbare Grenzschicht zwischen Pflanzenkörper und Umgebung von Wichtig-
keit. Auf eine bereits im Hautbildungsgewebe, dem Dermatogen, das den
meristematischen Sprossscheitel umgibt, vorhandene Primärzellwand wird
während der Entwicklung der Sprossachse und der Blätter die Cuticula auf-
gelagert. Diese schützt die Pflanze nicht nur gegen Verdunstung, sondern
verleiht ihren Organen eine gewisse Stabilität und ist vergleichbar mit dem
Außenskelett eines Insekts. Hauptbestandteil der Cuticula ist das nach ihr
benannte Cutin, ein Polyester mehrfach hydroxylierter Fettsäuren, wobei
die 10,16-Dihydroxystearinsäure und die 9,10,16-Trihydroxystearinsäure ei-
nen hohen Anteil haben. Als Nebenkomponenten kommen Phenolkörper
vor. Das Cutin wird auf die Primärwände in Form dünner oberflächenpa-
ralleler Lamellen aufgetragen. Die Lamellen sind durch dünne Wachsfilme
voneinander getrennt. Häufig finden sich Wachskristalle auch auf der
Oberfläche der Cuticula, die diese unbenetzbar machen. Cutin kann
manchmal auch unter der eigentlichen Cuticula in der Peripherie der Epi-
dermisaußenwände eingelagert sein.

Die zweite und dritte Haut

Eine zweite Haut wird notwendig, wenn eine Sprossachse oder Wurzel durch
sekundäres Dickenwachstum, ausgelöst durch die Tätigkeit eines Meristem-
rings, dem Kambium, ihren Umfang mehr und mehr ausdehnt, wie es bei-
spielsweise bei vielen Zweikeimblättrigen Blütenpflanzen, die sich zu Sträu-
chern oder Bäumen entwickeln, der Fall ist. Diesem Dilatationswachstum
halten die Epidermen nicht stand. Früher oder später zerreißen sie. Bevor
sie zerreißen, muss ein sekundäres Abschlussgewebe gebildet werden. Dieses
entsteht, indem in einer ringförmigen Zone Rindenzellen unter der Epider-
mis teilungsfähig werden und nach außen Korkzellen abgliedern. Chemisch
ist der Kork, das Suberin, strukturell verwandt mit dem Cutin und wird
ebenfalls in Form von Lamellen, zwischen denen sich Wachsfilme befinden,
abgelagert. Da der Kork wieder weitgehend wasser- und luftundurchlässig ist,
muss wiederum für den Gasaustausch durch Poren gesorgt werden. Solche
entstehen, indem lokal die vom Korkbildungsgewebe (Korkkambium) gebil-
Die Haut der Pflanzen z 17

Abb. 3. Abblätternde dünne Borke des Gumbo


Limbo Bursera simarouba aus den Hammocks Flori-
das

deten Korkzellen sich aus dem Verband lösen und locker in einem kleinen
Kanal, umgeben von den Korkschichten, liegen. Diese Öffnungen sind oft
von außen als warzenartige Erhebungen (Lentizellen) zu beobachten. Im Ge-
gensatz zur Epidermis ist das Korkgewebe mehrschichtig und die Zellen ster-
ben, nachdem der Kork gebildet wurde, ab. Die toten Korkzellen sind dann
lufterfüllt und verleihen dadurch dem Korkgewebe seine Leichtigkeit. Nur
in relativ seltenen Fällen bleibt es bei der zweiten Haut, so z. B. bei der Buche,
bei der das Korkbildungsgewebe zeitlebens der Umfangvergrößerung des
Stammes folgt. Bei den meisten anderen Bäumen kommt es früher oder spä-
ter zur Bildung einer dritten Haut. Dabei entstehen unter der zweiten Haut
immer wieder neue Korkkambien, die jedoch nicht ringsum geschlossen
sind, sondern mehr oder weniger oberflächenparallele, konvexe oder konkave
Gewebeflächen darstellen, die nach außen oft vielschichtige dicke Korklagen
bilden. Die Korklagen schließen rings um den Stamm dicht zusammen und
blättern später, wenn unter ihnen wieder neuer Kork entsteht, als Ringel-,
Schuppen- oder Streifenborke ab.
Hautdünne Borken finden sich beispielsweise beim „Tourist Tree“ (auch
Gumbo Limbo [Bantu Name] oder Weißgummibaum genannt, Bursera si-
marouba), bei dem sich die dünnen Hautfetzen (wie bei den vor der Sonne
ungeschützten Touristen) an den Stämmen loslösen (Abb. 3). Eine sehr di-
cke Borke weist dagegen die Korkeiche Quercus suber auf, aus der u. a. die
Flaschenkorken ausgestanzt werden. In den Flaschenkorken müssen natür-
lich die langen Lentizellenkanäle quer orientiert sein, sonst wäre der Fla-
schenverschluss undicht.
18 z P. Leins

Die Vielfalt der Haut als Grenzbereich zwischen Pflanzenkörper


und Umgebung

Es sind vor allem die Blattoberflächen bei den mannigfaltigen Anpassun-


gen an unterschiedliche Pflanzenstandorte betroffen. Eine dicke und dichte
Cuticula wird man natürlich an Blättern von Pflanzen trockener Standorte
vorfinden. Oft sind zusätzlich Wachskristalle unterschiedlichster Form auf
die Cuticula aufgelagert. Die Spaltöffnungen, für gewöhnlich auf der Blatt-
unterseite, münden einzeln oder in Gruppen in Hohlräume, die oft noch
von toten Haaren, welche aus einzelnen Epidermiszellen hervorgegangen
sind, umgeben werden. In diesen Höhlungen ist die Luft fast feuchtigkeits-
gesättigt, was zu einer drastischen Herabsetzung der stomatären Transpira-
tion führt.
Gerade umgekehrt ist es bei Pflanzen feuchter Standorte: Die Cuticula
ist dünn, die Spaltöffnungen befinden sich manchmal am Ende kleiner
Türmchen, und die transpirierende Blattoberfläche wird durch lebende
Haare oder papillenartige Vorwölbungen der Epidermiszellen vergrößert.
Transpiration ist, wie oben schon dargelegt, ebenso wichtig wie der kon-
trollierte Schutz vor Austrocknung. Eine Zufuhr von Wasser und der not-
wendigen darin gelösten Ionen wäre ja ohne Transpirationssog nicht
möglich. Um einen Wassertransport auch bei Wasserdampfsättigung der
Luft aufrecht zu erhalten, scheiden viele Pflanzen (z. B. Gräser, Frauenman-
tel Alchemilla) über so genannte Hydathoden Wasser aktiv aus. Oft werden
die Wassertröpfchen mit Tau verwechselt. Das für die Wasserausscheidung
verantwortliche Gewebe liegt unterhalb einer Spaltöffnung, die jetzt nicht
mehr dem Gasaustausch dient, sondern als so genannte Saftspalte – von
unbeweglichen Chlorophyll-losen „Schließzellen“ umgeben – fungiert.
Der in den letzten Jahren stark beachtete Selbstreinigungseffekt (Lotus-
Effekt) [2] beruht auf dem Vorhandensein zahlreicher, winziger, von
Wachskristallen überzogener Noppen, welche auftreffenden Wassertropfen
eine hohe Oberflächenspannung verleihen. Die abperlenden Tropfen reißen
Schmutzteilchen mit hoher Affinität mit sich. Dies kann von großer
Nützlichkeit sein, wenn dadurch Pathogene (z. B. Sporen gefährlicher Pilz-
krankheiten) entfernt werden. Der Lotus-Effekt gab Anlass zu mannigfa-
chen Versuchen technischer Anwendung.

Bunte Pflanzenhäute

Bunte Epidermen finden sich vornehmlich in den Blüten. Die häufigsten


Farbstoffe sind die wasserlöslichen Flavonoide, von denen die Anthocyane
blau bis rot, die Flavone gelb gefärbt sind. Ausschließlich bei den Nelken-
gewächsen im weiteren Sinne, z. B. bei den Gänsefußgewächsen, den Mit-
tagsblumengewächsen, den Kermesbeerengewächsen und Kakteen, sind es
stickstoffhaltige, ebenfalls wasserlösliche Farbstoffe, die nach der Roten
Die Haut der Pflanzen z 19

Beete Betalaine genannt werden und eine bunte Farbpalette bieten. Wäh-
rend die genannten Farbstoffe in riesigen Epidemisvakuolen gelöst sind,
befinden sich etwa beim Hahnenfuß gelbe Pigmente in Öltropfen, welche
die Epidermiszellen ausfüllen. Die Pigmente gehören zu den Karotinoiden,
die als Karotine orangerot, als Xanthophylle gelb gefärbt sind. Wenngleich
Farbstoffe wie Karotinoide und wohl auch die Flavonoide erdgeschichtlich
sehr alte Pflanzenpigmente darstellen, so begann es auf unserer Erde erst
vor etwa 140 Millionen Jahren so richtig bunt zu werden. Die Anhäufung
der Farbstoffe in den Blüten steht in Zusammenhang mit ihrer Signalisie-
rung für die neuen Überträger der Pollenkörner, die Insekten, die den
Wind als Transportmittel ablösten. Was wir an den bunten Blumen schön
finden, verdanken wir großenteils gefärbten Pflanzenhäuten, und diese sind
von hoher Funktionalität.

Literatur
1. Kidston R, Lang WH (1917) On Old Red Sandstone plants showing structure, from
the Rhynie Chert Bed, Aberdeenshire. Part I. Rhynia Gwynne-Vaughani Kidston &
Lang. Transactions of the Royal Society of Edinburgh 51:761–784
2. Barthlott W, Neinhuis C (1997) Purity of the sacred lotus or escape from contami-
nation in biological surfaces. Planta 202:1–8
Haut als Schriftträger
E. G. Jung, K. Zimmermann

Zwischenmenschliche Informationen, welche Bestand haben, sind seit gut


30 000 Jahren v. Chr. in Höhlen und an Felsen bekannt. Sie bestehen aus
Zeichnungen und Symbolen und sind dort angebracht, wo Menschen sich
zu begegnen pflegten. Im 4. Jahrtausend v. Chr. ist die Notwendigkeit do-
kumentiert, sprachlich getroffene Vereinbarungen in Bild, Schrift und Zah-
len festzuhalten. Diese werden durch Konvention allgemein gültig und ver-
bindlich. Diese Entwicklung lässt sich in verschiedenen Kulturräumen do-
kumentieren, am frühesten wohl in Mesopotamien. Schrift und Bild werden
in Stein gehauen, wo sie Jahrtausende überdauern, und bevorzugt an Hei-
ligtümern, Tempeln, Palästen und Gräbern, in Städten und Marktplätzen
angebracht, eben da wo viele Menschen immer wieder zusammenkommen.
Die Menschen also kamen zur Information. Mit der Ausbreitung von Han-
del und Gewerbe, mit der Eroberung von fremden Gebieten, mit Zöllen
und Tributen löste die Tontafel als Schriftträger das Problem, die Informa-
tion zu den Menschen zu bringen. Diese wurde im 3. Jahrtausend ergänzt
und teilweise ersetzt durch Papyrus als Schriftträger, welches aus Mark
und Stängel der Papyrusstaude in Lagen verlegt und gepresst, ein be-
schreibbares Blatt ergibt, das trocken gehalten lange aufbewahrt werden
kann, gefaltet oder gerollt gut transportiert wird und auch leicht zu kopie-
ren ist. Dies hat sich bewährt, bis im 4. Jahrhundert n. Chr. in der klein-
asiatischen Stadt Pergamon die Technik zur Verwendung von Häuten als
Schriftträger entwickelt wurde. Es geht hier um Tierhäute von Rindern,
Schafen, Ziegen und Eseln. Das Pergament, Papier aus Pergamon, entsteht
durch Entfernen von Haaren, Fleischteilen und Fetten. Die ungegerbten Fel-
le werden dann einige Tage in Ätzkalk gelegt, aufgespannt, nochmals gerei-
nigt und gebleicht. Zuweilen werden sie zur besseren Geschmeidigkeit mit
Ölen behandelt. Pergament ist haltbarer als Papyrus, feuchtigkeitsbeständig
und kann beidseitig, auch farbig beschrieben werden. Es wird in Rollen
oder zu Büchern gebunden transportiert und aufbewahrt. Abgelöst wird
Pergament als Schriftträger im 14. Jahrhundert n. Chr. durch Papier, wel-
ches aus Pflanzenfasern durch Verfilzen, Verleimen und Pressen in vielfälti-
gen Arten und Formen gewonnen wird und sich insbesondere durch den
Buchdruck als Schriftträger durchgesetzt hat. Erst im 20. Jahrhundert er-
hält Papier durch die elektronische Erfassung und Verbreitung von Daten
eine echte Alternative (Tab. 1).
Haut als Schriftträger z 21

Tabelle 1. Die Träger der Schrift


Fels und Stein seit 30 000 Jahre vor Chr.
z Tontafel 4000
z Papyrus 3000
z Pergament 400 Jahre n. Chr
z Papier 1400
z Elektronische Medien 1950

Abb 1. (Cod. Pal. germ. 848, 6recto). Der Abb. 2. (Cod. Pal. germ. 848, 184verso).
Staufer-Kaiser Heinrich VI. (1165– 1197), Über das Leben des ersten großen Dich-
Sohn Friedrichs I. Barbarossa, wurde 1191 ters der hochhöfischen Zeit, Hartmann
in Rom zum Kaiser gekrönt. Seine Verse von Aue, ist wenig bekannt. Um 1160
sind vermutlich in seiner Jugend entstan- geboren, stand er als Ministeriale im
den, zurzeit des Mainzer Hoffestes 1184. Dienst eines Herrn von Aue, wohl bei
Die erste Miniatur der Handschrift ist in Freiburg gelegen. Er nahm 1189 oder
recht schlechtem Zustand, da sie ihrem 1197 an einem Kreuzzug teil und starb
repräsentativen Charakter entsprechend nach 1210. Seine „cristalînen wortelîn“
sicher am häufigsten gezeigt wurde rühmt Gottfried von Straßburg

Pergament, gefertigt aus tierischen Häuten, war also tausend Jahre lang der
hauptsächliche Schriftträger der Menschheit. Eine ganze Reihe von Pracht-
exemplaren menschlicher Kunst und Kultur werden von Pergament dauer-
haft getragen. Hervorragende Beispiele sind der Codex Manesse (Abb. 1 u.
2), ausschließlich auf Pergament gefertigt, und die Gutenbergbibel (Abb.
3), die noch teilweise auf Pergament, größtenteils aber schon auf Papier ge-
druckt wurde.
22 z E. G. Jung, K. Zimmermann

Abb. 3. (Blatt 5recto). Beginn des ersten Buches


Mose, der Genesis: In principio creavit deus celum
et terram . . . Am Textanfang steht eine große, mit
Blattgold verzierte Initiale, in deren Buchstaben-
stamm ornamental herausgearbeitetes Blattwerk zu
sehen ist. Der Schriftspiegel ist an drei Seiten von
einer Ranke mit Blüten und lappigen Blättern ein-
gefasst, die zusammen mit der Initiale nach dem
Druck von einem Illuminator ausgeführt wurde

Codex Manesse
Der „Codex Manesse“, auch die „Große Heidelberger Liederhandschrift“ ge-
nannt, gehört ohne Zweifel zu den berühmtesten Handschriften der Univer-
sitätsbibliothek Heidelberg. Sie besteht aus 426 Pergamentblättern – also 852
Seiten – im Großfolioformat von ca. 25 ´ 35,5 cm. Mit fast 6000 Strophen von
140 Dichtern enthält sie die umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher
Lied- und Spruchdichtung aus der Zeit zwischen 1160/70 und 1330. Seinen
Ruhm als eine der schönsten und wertvollsten Handschriften des europäi-
schen Mittelalters verdankt der Codex Manesse vor allem seinen 137 ganzsei-
tigen „Autorbildern“, die die Liedersammlungen fast jedes der einzelnen Min-
nesänger einleiten (Abb. 1 u. 2). Die Miniaturen gehen auf vier Maler und de-
ren Gehilfen zurück. Der mit 110 Abbildungen größte Teil wurde vom so ge-
nannten Grundstockmaler zwischen ca. 1300 und 1315 erstellt. Seine Bilder
stellen Mode und Rüsttechnik dar, wie sie seit ca. 1230 üblich war und sind
durch eine besondere Einheitlichkeit und die typischen kräftigen, unver-
mischten Farben gekennzeichnet. Die drei ihrem Stil nach „moderneren“
Nachtragsmaler fertigten bis ca. 1330 die restlichen 27 Miniaturen.
Die Handschrift entstand im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts in oder
um Zürich. Ihren Namen „Codex Manesse“ trägt sie nach dem Züricher
Adelsgeschlecht der Manesse, deren Sammlung alter Liedtexte als eine der
Vorlagen verwendet wurde. Auf welchen Wegen die Handschrift in den Be-
sitz der Heidelberger Kurfürsten kam und somit zum Bestandteil der
berühmten „Bibliotheca Palatina“ wurde ist bislang nicht genau geklärt.
Nach 1596 ist sie jedenfalls als Eigentum Kurfürst Friedrichs IV. von der
Pfalz nachweisbar. Von seinem Nachfolger, Kurfürst Friedrich V., wurde der
Haut als Schriftträger z 23

Codex vor der Eroberung der Stadt Heidelberg durch die Truppen der ka-
tholischen Liga unter dem Feldherrn Tilly (1622) in Sicherheit gebracht
und auf der Flucht mitgeführt. Nach Friedrichs Tod im Exil wurde das Ma-
nuskript sehr wahrscheinlich von seiner Witwe in einer finanziellen Notla-
ge verkauft. Seit 1657 war der Codex dann im Besitz der königlichen Bib-
liothek, der späteren Bibliothèque Nationale in Paris, wo sie rund 230 Jahre
verbleiben sollte. 1888 konnte sie durch Vermittlung des Straßburger Buch-
händlers Karl Ignaz Trübner und mit finanziellen Mitteln des deutschen
Kaiserhauses im Rahmen eines komplizierten Ringtausches zurückerwor-
ben werden und kehrte so nach Heidelberg zurück.

Die Gutenbergbibel
Die 42-zeilige Bibel (B 42) gilt als Krönung der Druckkunst Johannes Gu-
tenbergs ({1468). Das zweibändige Werk mit insgesamt 1282 Seiten ent-
stand in der Blüte seines Schaffens unter Mitwirkung von etwa 20 Mit-
arbeitern. Gutenberg, dessen eigentlicher Familienname Gensfleisch zur La-
den lautete, wurde um das Jahr 1400 vermutlich in Mainz geboren. Um
1438 unternahm er in Straßburg, wo sich seine Familie niedergelassen hat-
te und wo er sich als Goldschmied und Spiegelmacher nachweisen lässt,
erste Versuche mit dem Drucken. Zurückgekehrt nach Mainz etablierte er
um 1450 mit finanzieller Hilfe des Kaufmanns Johannes Fust eine Presse,
in der er wenig später mit dem Druck der großen nach ihm benannten la-
teinischen Bibel begann. Fertiggestellt wurde sie zwischen 1452 und 1455.
Gedruckt wurde schon vor Gutenberg und zwar mithilfe des Holzdrucks,
bei dem auf einen mit Farbe versehenen Holzstock Papier gelegt und abge-
rieben wurde. Dieses Verfahren war verhältnismäßig aufwändig; jeder
Druckstock musste neu geschnitzt werden, Korrekturen und Veränderun-
gen der Druckseite waren so gut wie unmöglich. Das Neue an Gutenbergs
Erfindung der beweglichen Lettern war die Zerlegung des Textes in seine
Einzelelemente wie Klein- und Großbuchstaben, Satzzeichen, Ligaturen und
Abkürzungen. Diese einzelnen Teile konnten als seitenverkehrte Lettern
mithilfe eines Handgießinstruments in beliebiger Anzahl gegossen und an-
schließend zu Wörtern, Zeilen und Seiten zusammengefügt werden. Für die
42-zeilige Bibel hatte Gutenberg 290 verschiedene Figuren und Lettern gie-
ßen lassen. Das zum Gießen verwendete Metall bestand aus einer Legie-
rung aus Blei, Zinn und weiteren Beimischungen, die ein schnelles Erkalten
und eine ausreichende Dauerhaftigkeit unter dem hohen Druck der Presse
gewährleistete. Farbige Initialen und Zeichen wurden nach dem eigentli-
chen Druck von einem Illuminator und einem Rubrikator eingefügt.
Von den insgesamt 180 Exemplaren der Gutenbergbibel waren vermut-
lich 150 auf Papier und die restlichen 30 auf Pergament gedruckt. Heute
existieren auf der ganzen Welt nur noch knapp 50, zum Teil unvollständig
erhaltene Stücke. Als im Jahr 1987 eine der noch erhaltenen Bibeln in den
24 z E. G. Jung, K. Zimmermann: Haut als Schriftträger

Handel kam, lag der Kaufpreis bei knapp 10 Millionen DM. Damals der
höchste Preis, der je für ein Druckwerk bezahlt worden war.
Die Gutenbergbibel gehört bis heute zu den schönsten gedruckten Büchern
der Welt. Das Verhältnis von Höhe und Breite der Seiten entspricht dem Gol-
denen Schnitt, der Satzspiegel ist genau so hoch, wie die Buchseite breit ist.
Dadurch entsteht das als sehr harmonisch empfundene Aussehen der einzel-
nen Buchseiten (Abb. 3). Gutenberg hat bewiesen, dass die „Schwarze Kunst“
den Handschriften ästhetisch Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte, seine
Erfindung brachte einen Umbruch in der Welt der Schriftlichkeit. Die hier-
durch beförderte Verbreitung von Wissen und wissenschaftlichen Erkennt-
nissen wurde zu einem Meilenstein in Richtung Neuzeit.
Pergament ist seit fast 600 Jahren als Schriftträger weitgehend durch Pa-
pier und neuerdings durch die elektronischen Medien ersetzt worden. Zu-
weilen wird es noch verwendet für Urkunden, Chroniken und bibliophile
Bucheinbände. Dies soll dem Unterfangen Alter, Tradition, Würde und Be-
stand verleihen.
Um solche Aussage im Falle von grundsätzlichen Regeln und Gesetzen, de-
nen unabhängig von Ort und Zeit ewige und unverrückbare Geltung zu-
kommt, noch zu steigern, hat Dr. Fritz Bauer (1903–1968, hessischer General-
staatsanwalt 1956–1968, verantwortlich für den Auschwitz-Prozess in Frank-
furt a. Main 1963–1965) von menschlichen Grundrechten ausgesagt, „sie sol-
len nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche Menschenhaut geschrie-
ben werden“ [1]. Diese würzige, ja markige Metapher meint im übertragenen
Sinne, besonders bedeutungsträchtiger menschlicher Grundaussage kann
nur die wertvolle und sensible Menschenhaut als Schriftträger gerecht wer-
den. So mag man das hinnehmen. Ernst und wörtlich genommen, wie es ge-
legentlich durch die Historie geistert, würde ein scheußlicher Verrat an den
Menschenrechten erst zu deren Verewigung führen. Es müsste ja der unge-
heuerliche Frevel des Schinden eines Menschen zur Gewinnung seiner Haut
vorweg geschehen. Also eine schreckliche Verhöhnung eben der festzuhalten-
den Menschenrechte. So darf es nicht gehen. Und ebenso gehört der häutige
Schirm der Leselampe als Gräuel der Zeitgeschichte begraben.
Es bleibt dabei, Pergament wird aus tierischen Häuten gefertigt und ist
weitgehend überholt, obschon es in der Redewendung noch anklingt, wenn
von einem Schreiber gemeint wird: „mit seiner Feder zieht er vom Leder“.
Abgelöst wurde Pergament vom Papier, ebenfalls unbelastet, von dem es
heißt: „Papier ist geduldig und nimmt alles an“. Es bleibt dabei, der
Schriftträger kann keine Verantwortung tragen für das, was auf ihm drauf
geschrieben steht. Der Autor ist verantwortlich!

Literatur
1. Bauer F (1998) Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. In: Pereis
J, Wojak I (Hrsg) Campus, Frankfurt
Nothelfer der Haut
in der christlichen Ikonographie
D. Mußgnug

Um es vorwegzunehmen, es sind mehr als 14 Nothelfer, die von denen um


Hilfe angerufen werden können, die an einer Hauterkrankung, genauer: an
einer auf der Haut sichtbaren Erkrankung, leiden. Unter den populären
Heiligen, die in Vierzehnheiligen verehrt werden (der Bau von Balthasar
Neumann wurde 1772 geweiht), ist jedoch keiner, der sich ganz besonders
der Hautkranken annimmt.
Die Hauterkrankung, die eine der ältesten Darstellungen in der kunst-
geschichtlichen Überlieferung gefunden hat, ist Lepra und, in diesem Zu-
sammenhang ebenfalls zu nennen, die Pest. Sichtbare Unterschiede zwi-
schen den Krankheitsbildern sind nicht nur in den frühen Darstellungen
nicht auszumachen. „Aussatz“ ist die umfassende Bezeichnung, was immer
im Einzelnen darunter verstanden wurde. Mit dieser Wortwahl ist aller-
dings nicht nur die Krankheit, sondern auch die soziale Ausgrenzung um-
schrieben. Hiob, das alttestamentarische Sinnbild allen Elends und aller
Aussätzigen, sagt von sich (Hiob 30, 28–30, zitiert nach der lutherischen
Übersetzung): „Ich gehe schwarz einher, und brennt mich doch die Sonne
nicht . . . Ich bin ein Bruder der Schakale und ein Geselle der Strauße. Mei-
ne Haut über mir ist schwarz geworden“.1
In der frühchristlichen Zeit wurden jedoch öfter Berichte des Neuen als
des Alten Testaments dargestellt. Die Wunder Jesu gehörten zu den aus-
gesuchten Themen, insbesondere die Heilung der Blinden und der Lahmen.
Die Heilung vom Aussatz fand seltener eine Darstellung. Immerhin taucht
sie einmal in der unter strenger theologischer Kontrolle stehenden Kata-
kombenmalerei (Nunziatella-Katakombe) auf, ist aber in einem recht
schlechten Zustand erhalten.
Die unheilbare Krankheit blieb in Darstellungen aller Jahrhunderte in al-
len Medien präsent, ob in der Buchmalerei oder im Kunstgewerbe. Auf ei-
nem Elfenbeindiptychon versucht der Künstler, die Krankheit „genauer“
darzustellen und stanzt dazu die Aussatz/Lepra-Flecken aus der Elfenbein-
tafel heraus (Abb. 1).
Das verblüffende Wunder der Heilung ist in der Buchmalerei des 1185
vollendeten „Hortus deliciarum“ (als Autorin gilt Herrad von Landsberg)
dargestellt: Wie in 3. Mose 14 gefordert wird ein Vogel geopfert, sein Blut

1
Vgl. 3. Mose 13, 1–46 und 14, 1–20: Beschreibung des Aussatzes bei Menschen und
Reinigungsvorschriften.
26 z D. Mußgnug

Abb. 1. Elfenbeinrelief, 9. Jh. (?); Schiller, Bd. 1,


Abb. 531

mit Wasser gemengt und dies (hier von Christus) dem Kranken aufgetra-
gen. Ein Vogel fliegt mit den Lepra-Flecken davon (Abb. 2 a, b).
Im Pisaner Campo Santo findet sich eine der ersten realistischen Dar-
stellungen eines Lepra-Kranken. Auf den großen Wänden des Innenhofs
waren neben Darstellungen zum „Jüngsten Gericht“ und der „Hölle“ auch
ein sehr großes Fresko „Triumph des Todes“ zu Beginn des 14. Jahrhun-
derts in Auftrag gegeben worden, also zu einer Zeit, als die ersten großen
Pestepidemien in Italien um sich griffen. Dieses Fresko läßt sich, so Bel-
ting2, als Darstellung der Todesmacht beschreiben, die alle weltliche Hoff-
nung zunichte macht. Das wird besonders in dem hier gezeigten Bildaus-
schnitt deutlich: der Lahme, der Bettler und der verkrüppelte Lepra-Kranke
flehen vergebens den Tod um Erlösung an (Abb. 3).
Die Zahl der Heiligen, die bei Hautkrankheiten – sofern man darunter
so unspezifisch wie möglich alle Arten von sichtbaren Hautleiden versteht
– angerufen werden können, ist sehr groß. Mehr als vierzig Heiligen wird
ein Patronat bei der Pest zugeschrieben, eine Zahl, die um Lokalheilige
noch erheblich zu vermehren wäre.
Zu den früh verehrten Märtyrern gehört Sebastian, der wahrscheinlich
um 288 in Rom starb. Da er an seinem Glauben festhielt, ließ ihn (nach
der Legenda Aurea3) Kaiser Diokletian an einen Baum binden und durch
Bogenschützen erschießen. Solche Pfeile als „Pestpfeile“ zu deuten, ent-
sprach alter Tradition. Homer beginnt die Ilias mit der Erzählung, dass
Apollo seinen von den Griechen nicht geachteten Priester rächt: Er be-
schießt mit seinen Pfeilen zunächst das Vieh, dann die Griechen selbst,

2
Hans Belting, The new Role of Narrative in Public Painting of the Trecento: Historia
and Allegory, in: Studies in the History of Art 16, 1955, S. 162. Das Fresko wurde ur-
sprünglich Fr. Traini zugeschrieben, jetzt Buonamico Buffalmacco (tätig 1315–1336,
nach Vasari 1340 gestorben) zugeordnet. Vielfach diskutiert wird der Einfluss Dan-
tes auf solche und ähnliche Malereien und Themenstellungen.
3
Die Legenda Aurea verfasste Jacobus de Voragine etwa 1263/1273, deutsche Überset-
zung von Richard Benz, Heidelberg 1979.
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 27

Abb. 2 a, b. Rosalie Green


(Hrsg), Herrad of Hohenbourg,
Hortus Deliciarum, London
Warburg Institute 1979, Bd. 2,
S. 403

worauf ein großes Peststerben bei ihnen beginnt.4 Sebastian wurde bereits
in der „Depositio martyrum“, einem „Heiligenkalender“ des Jahres 354, ge-
nannt. Die in Rom und Pavia 680 ausgebrochene Pest („ein großes Ster-
ben“) erlosch erst, nachdem „einem guten Menschen von Gott kund getan“
worden war, dass die Reliquien des heiligen Sebastian von Rom nach Pavia
zu überführen seien und ihm dort eine Kirche gewidmet werden sollte.
Zahlreiche Legenden sind zum Leben des Bischofs Silvester überliefert
(gest. 31. Dezember 335). Noch unter Diokletian zum Priester geweiht
(284) wurde er ein Jahr, nachdem Kaiser Konstantin das Christentum zur
Staatsreligion erklärt hatte, Bischof von Rom. Die „Konstantinische Schen-

4
Im griechischen Originaltext spricht Achill von „loimos“ - tödlicher Pest, etymolo-
gisch „limos“ – „Hungersnot“ – nahe verwandt; Hinweis von Prof. Dr. N. Knauer.
28 z D. Mußgnug

Abb. 3. Meiss, Millard. An Illu-


minated Inferno and Trecent
Painting in Pisa, in: Art Bulle-
tin 47, 1965, S. 31

kung“ ist mit seinem Namen verknüpft. Einer späten Legende nach soll er
Kaiser Konstantin vom Aussatz geheilt haben – „Aussätzige“ erflehten des-
halb Hilfe von ihm.
Beim Auftreten von Hautkrankheiten aller Art, Lepra, Pest, Syphilis,
Tierseuchen u. a. m., wurde der in Ägypten lebende Antonius d. Gr. (geb.
um 250, gest. um 356) angerufen. Als junger Mann hatte er seinen Besitz
verkauft und zog sich in die Einöde zurück. Es erschienen ihm böse Geis-
ter und „mancherlei greulicher Tiere Gestalt und zerzerrten ihn ... mit ih-
ren Hörnern und Zähnen und Krallen gar jämmerlich“ (Legenda Aurea).
Doch er widerstand allen Versuchungen und Plagen. Obgleich Antonius
sich immer wieder in die Einsamkeit zurückzog, besaß er bereits zu Leb-
zeiten einen großen Einfluss. Er wurde früh verehrt, im Osten als vorbild-
licher Eremit, im Westen als „Wundertäter und Krankheitspatron“. Hier sei
verwiesen auf Boschs Gemälde (Lissabon) und Grunewalds Isenheimer Al-
tar, beides Belege für die häufige Darstellung des heiligen Antonius im
16./17. Jahrhundert.
Vor allem in Frankreich wurde Markulf (Marcon) von Nauteuil (geb. 490
in Bayeux, gest. 1. Mai 558 in Nanteuil) verehrt. Beim Einfall der Norman-
nen 906 wurden seine Reliquien in die Nähe von Reims (Corbény)
überführt. Diesen Ort suchten die französischen Könige nach ihrer
Krönung auf und wurden dabei durch Marculf mit der Gnade ausgestattet,
selbst Skrofulöse zu heilen (Abb. 4). Sigmund Freud berichtet spöttisch
über ähnliche Heilungen der englischen Könige Karl I. (1625–1648) und
Karl II. (1660–1685).5
Über das Leben des heiligen Fiakrius (geb. um 610 in Irland, gest. am
18. August 670 in Meaux, Frkr.) ist sehr wenig bekannt. Er musste aus Ir-
land fliehen, lebte als Einsiedler in Frankreich und legte um seine Behau-
sung einen Garten mit sehr vielen Heilpflanzen an. Erst um 1170 erscheint
sein Namen in irischen Martyrologien, etwa seit 1500 wird er im Elsaß ver-
5
Sigmund Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke Bd. 9, London 1948, S. 54.
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 29

Abb. 4. Michel Bouillon, Der heilige Markulf und


ein französischer König (2. Hälfte 17. Jht, Église
Saint-Brise, Tournai), in: Marc Bloch, Les Rois
Thaumaturges, Straßburg 1924, S. 287

ehrt. Ihm sind verschiedenste Patronate zugeschrieben: Gärtner, Blumen-


händler, Notare und Hautkranke. Sebastian Brant empfahl ihn in seinem
„Heiligenleben“: den, „der in eret jnniclich“, er „wöl behüten vor der
schweren kranckheit der blatern und wartzen, die leider zu dieser Zeit fast
regierent“ (Abb. 5). Genauso wie er im 16. Jahrhundert um Hilfe bei der
um sich greifenden neuen Krankheit Syphilis angerufen wurde, so sollen
sich nun die von AIDS Betroffenen an ihn wenden.
Schon durch seinen Lebenslauf ist Rochus von Montpellier (geb. um
1295 in Montpellier, dort auch am 16. August 1327 gestorben) für ein Pa-
tronat prädestiniert. Der Legende nach unternahm er eine Pilgerfahrt nach
Rom. Unterwegs half er Pestkranken und wurde auf der Rückreise selbst
krank. Da er wegen seiner Armut keine Unterkunft fand, zog er sich in die
Einsamkeit zurück, nur ein Hund brachte ihm Brot. Durch ein Wunder
wurde er geheilt. Auf Gemälden wird er oft mit einem Pestausschlag dar-
gestellt. Seuchen, Cholera und natürlich Pest fallen unter sein Patronat.
Wiederholt wird er zusammen mit Sebastian dargestellt (Abb. 6).
In dieser kurzen Übersicht soll noch auf zwei später lebende, heilig ge-
sprochene Männer verwiesen werden:
Als in Mailand 1576/1578 wiederum die Pest ausbrach, setzte sich Karl
(Carlo) Borromäus (geb. 2. Oktober 1538 in Arona, gest. 3. November 1584
in Mailand) tatkäftig für die Kranken seiner Diözese ein. Als Sohn einer
hochadeligen Familie studierte er zunächst Jura (in Pavia), bis ihn sein On-
kel Papst Pius IV. nach Rom rief. Dort begann er mit dem Theologiestudi-
um, wurde Erzbischof von Mailand und Kardinal. Seine familiären Bezie-
hungen nutzte er zu Kirchenreformen, sein Lebenswandel galt als vorbild-
30 z D. Mußgnug

Abb. 5. Holzskulptur des heiligen Fiakrius (Württembergisches Landes-


museum), John L. Flood, S. 199.

Abb. 6. Quinten Massys (1465/66 – 1530), Flügelaltar. Alte Pinakothek München, Erläuterun-
gen zu den ausgestellten Werken, München 1983, S. 311
Nothelfer der Haut in der christlichen Ikonographie z 31

lich. Er starb wahrscheinlich an der Pest. 28 Jahre nach seinem Tod wurde
er selig, 1610 von Papst Paul V. heilig gesprochen.
Eine ähnliche vita ist von seinem Schüler Aloisius (Luigi) von Gonzaga
(geb. am 9. März 1568 in Mantua, gest. am 21. Juni 1591 in Rom) überlie-
fert. Als Erbprinz geboren trat er gegen den Willen seines Vaters in den Je-
suitenorden ein. Er widmete sich in Rom theologischen Studien, vor allem
aber setzte er sich für die Pflege Pestkranker ein. Auch er steckte sich an
und starb. Paul V. sprach ihn ebenfalls selig, 1726 wurde er heilig gespro-
chen.
Borromäus und Aloisius von Gonzaga sind oft zusammen dargestellt. Sie
gelten als Schutzheilige für Pestkranke, der als überaus keusch beschriebe-
ne Aloisius auch als Patron der studierenden Jugend. Neuerdings wird bei-
den ein Patronat für AIDS-Kranke zugeschrieben.6

Literatur
1. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1975 ff) Friedrich Wilhelm Bautz
und Traugott Bautz (Hrsg) Bautz, Hamm, Herzberg, bislang 23 Bde
2. Flood JL (1996) Alte Heilige, neue Krankheiten. Wechselbeziehung zwischen Heili-
genverehrung und Heilkunde um 1500. In: Jackson TR, Palmer NF, Suerbaum A:
Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Niemeyer, Tübingen,
pp 197–213
3. Klingmüller V (1930) Die Lepra. In: Jadassohn J (Hrsg) Handbuch der Haut- und
Geschlechtskrankheiten, Bd 10, 2. Teil. Springer, Berlin, pp 1–805
4. Grön K (1930) Lepra in Literatur und Kunst. In: Jadassohn J (Hrsg) Handbuch der
Haut- und Geschlechtskrankheiten, Bd 10, 2. Teil. Springer, Berlin, pp 806–842
5. Kaiser-Minn H (1983) Die Entwicklung der frühchristlichen Sarkophagplastik bis
zum Ende des 4. Jahrhunderts. In: Stutzinger D: Spätantike und frühes Christen-
tum. Ausstellung im Liebighaus. Liebig Haus, Frankfurt, pp 318–338
6. Braunfels W (Hrsg) (1968–1976) Lexikon der Christlichen Ikonographie, 8 Bde.
Herder, Freiburg
7. Ökumenisches Heiligenlexikon: www.heiligenlexikon.de
8. Schiller G (1966–1980) Ikonographie der christlichen Kunst. Bd 1–4,2. Gütersloher
Verlagshaus, Gerd Mohn, Gütersloh

6
Darstellung im Ökumenischen Heiligenlexikon, Stichwort Aloisius (Luigi) von Gon-
zaga; Digital- Edition. Zur Heiligenverehrung äußerte sich Papst Johannes Paul II.
in seinem Apostolischen Schreiben Motu Proprio“ (1. 10. 1999): „. . . Darum hat das
Volk Gottes seit ältesten Zeiten die Heiligen als Beschützer angesehen . . . Manchmal
geschah es auf Drängen der Gläubigen, dem die Bischöfe nachgaben, dann wieder
auf Initiative der Bischöfe selbst“; Apostolisches Schreiben 140, hg. von der Deut-
schen Bischofskonferenz. Einen verbindlichen Rechtstext zur Zuschreibung der Pa-
tronate gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Für Hinweise danke ich Prof. Dr. Georg
Bier, Freiburg.
Dermatologische Aspekte in Märchen
E. G. Jung

Märchen sind Teil der Kulturgeschichte. Es gibt sie in allen Kulturkreisen,


sie wandern und werden dabei verändert und doch bewahren sie in der
Regel die wesentlichen Teile ihrer Aussage. Zuweilen kommen Elemente da-
zu, andere werden verändert oder gehen verloren, wohl unter dem Einfluss
regionaler Eigenheiten oder „neuer Zeiten“.
Märchen sind in den neueren Werken zur Kulturgeschichte der Haut er-
staunlich gering oder nicht vertreten [1–5], obschon Bezüge zur Haut
mehrfach vorkommen. Diese sind, neben Phänomenen der Transplantation
und Verhinderung von Abstoßung [6], zumeist mit wundersamen Wund-
heilungen bis hin zur Wiedererweckung Verstorbener verknüpft. Einige sol-
len hier zur Sprache kommen.
In den Kinder- und Hausmärchen, im hessischen Raume gesammelt
durch die Gebrüder Grimm in den Jahren 1812–1818 [7], finden wir einige
direkte Bezüge:

Rapunzel Nr. 12 (Bd. 1, 97–102)


Als der Königssohn wieder einmal Rapunzel im Turm zurief, lass dein
Haar herunter, erwartete ihn die böse Hexe, die ihn verwünschte und he-
runterstieß. Er fiel in Dornen, die ihm beide Augen blendeten. Jahrelang
irrte er im Wald herum, bis er Rapunzel mit ihren Zwillingen antraf, die
seine Stimme erkannte. Weinend umarmte sie ihn und zwei Tränen benetz-
ten die blinden Augen, welche daraufhin wieder klar wurden. Wieder se-
hend führte er sie in sein Reich und sie lebten noch lange und glücklich.
Mitleidige Tränen vermögen verletzungsbedingt blinde Augen wieder se-
hend zu machen. Tränen zur funktionellen Restitution von Narben.

Der treue Johannes Nr. 6 (Bd. 1, 64–72)


Ein König ließ seinen treuen Diener Johannes zu Unrecht zum Tode ver-
urteilen. Dieser fiel, nachdem er dem König seine Treue bezeugt, vor dem
Galgen um und ward zu Stein. Dem reuigen König wurde die Wiedererwe-
ckung des unschuldigen Johannes geboten, wenn er die Köpfe seiner bei-
den Söhne eigenhändig abschlage und den steinernen Johannes mit deren
Blut bestrich. Der wiedererweckte Johannes belohnte nun seinerseits den
König, setzte die Köpfe der Kinder auf den Hals und bestrich die Wunden
mit ihrem Blut. Diese wurden narbenfrei heil, sie spielten und sprangen he-
rum, als wäre nichts geschehen.
Dermatologische Aspekte in Märchen z 33

Das eigene Blut von unschuldig getöteten und geköpften Menschen ver-
mag Köpfe wieder anwachsen zu lassen und Leben zu geben. Blut zur
Wundheilung und als Lebenselexier.

Die drei Schlangenblätter Nr. 16 (Bd. 1, 121–126)


Ein junger König wurde mit seiner früh verstorbenen Gattin im Grab-
gewölbe eingemauert. Er zerteilte mit seinem Schwert eine nahende Schlan-
ge. Eine zweite Schlange kam, versehen mit drei grünen Blättern. Sie legte
auf jede Schnittstelle ein Blatt und die wieder heile Schlange entfernte sich,
narbenfrei zusammengefügt, mit der zweiten. Die drei Blätter blieben
zurück. Der König versuchte nun seinerseits deren Anwendung und legte je
ein Blatt seiner verstorbenen Gattin auf die Augen und den Mund. Sie kam
wieder zum Leben und beide wurden gesund aus der Grabkammer befreit.
Der König gab die drei wundersamen Schlangenblätter seinem treuen Die-
ner zur Verwahrung. Die Königin aber veränderte sich und alle Liebe zu
ihrem Mann wich ihr aus dem Herzen. Bei einer Seefahrt zum Besuch des
alten Königs erfasste sie eine böse Neigung zum Schiffer. Zusammen war-
fen sie den schlafenden König ins Wasser, wo er ertrank. Der treue Diener
aber folgte in einem kleinen Kahn, fischte den leblosen König aus dem
Wasser und brachte ihn mit Hilfe der drei Schlangenblätter, den Augen
und dem Mund aufgelegt, wieder zum Leben. Beim alten König wurde die
Schandtat bekannt und die Mörder erfuhren gerechte Strafe.
Drei von Schlangen beigebrachte grüne Blätter vermögen zerteilte Schlan-
gen zu restituieren und, Mund und Augen aufgelegt, unschuldig Getötete wie-
der zum Leben zu erwecken. Blätter zur Wundheilung und als Lebenselixier.

Eine gewisse Analogie zeigt sich im Märchen Gevatter Tod aus der Mär-
chensammlung aus dem Thüringerland von Ludwig Bechstein [8], zusam-
mengetragen 1835–1888, in welchem auch ein Lebenselixier vorkommt; ein
sehr armer Mann suchte für sein jüngstes, das 13. Kind, einen Paten. Den
lieben Gott schlug er, ebenso wie den Teufel, aus und akzeptierte schließ-
lich Gevatter Tod als Taufpaten. Dieser schenkte dem Heranwachsenden als
Patengeschenk das „rechte wahre Heilkraut“, er soll ein Doktor über allen
Doktoren werden. Dazu sprach er: „Verwende es, wenn du zu einem Kran-
ken gerufen wirst, nur dann zur Heilung, wenn du mich zu Häupten des
Kranken siehst. Siehst du mich zu Füßen, so ist ihm nicht zu helfen und
du sollst ihm nicht vom Kraut geben. Brauchst du das Heilkraut aber gegen
meinen Willen, so wird es dir übel ergehen.“ Der Jüngling ging in die Welt
und verfuhr wie geheißen, er wurde weit herum berühmt als Arzt. Ein tod-
kranker König rief ihn und versprach ihm hohen Lohn für Heilung. Er sah
die reizende Königstochter zu Häupten, den Tod aber zu Füßen stehen.
Flugs ließ er den König umdrehen, verabreichte ihm Tropfen vom Heilkraut
und der König wurde gerettet. Der betrogene Tod aber wich und drohte
seinem Patensohn. Dieser aber entbrannte in Liebe zur Königtochter, die
bald darauf selber schwer erkrankte. Herbeigerufen fand er den Tod wiede-
rum zu Füßen stehen und verzweifelte, zumal der Tod sich nicht erweichen
34 z E. G. Jung

ließ. Erneut ergriff er seine List; ließ das Lager der Königtochter umdre-
hen, gab ihr vom Heilkraut und sie genas. Der Tod aber ließ sich nicht
zweimal hintergehen, nahm den Patensohn mit eiskalter Hand mit in seine
Höhle, wo für jeden Menschen eine Kerze als Lebenslicht brannte. Er krieg-
te sein eigenes gezeigt, das beinahe zu erlöschen drohte, und bat um Ver-
längerung durch Aufstecken einer neuen Kerze. Der Tod aber löschte mit
der neuen Kerze die alte, worauf der Patensohn tot hinsank.
Ein Heilkraut als Lebenselixier, aber nur anzuwenden nach Maßgabe von
Gevatter Tod. Missbrauch wird grimmig bestraft. „Wider den Tod kein
Kraut gewachsen ist“ endet das Märchen.

Die drei Feldscherer Nr. 118 ( Bd. 2, 272–276)


Nachdem einer der drei herumziehenden Feldscherer seine rechte Hand als
Pfand gab und diese von der Katze gefressen wurde, war ihm die rechte
Hand eines gehängten Diebes, bestrichen mit einer heilenden Salbe, alsbald
wieder angewachsen. Der mit der Diebshand aber verspürte fortan immer,
wenn er Geld sah, in der rechten Hand ein Zucken, und einmal wurde er
auch beim Zugreifen erwischt. Da ein Rücktausch nicht möglich war, gin-
gen die drei Feldscherer so tauschbelastet in die weite Welt.
Die geheimnisvolle Salbe stimuliert das Anwachsen und verhindert die
Abstoßung [6].

Der Geist im Glas Nr. 99 (Bd. 2, 183–189)


Der eifrige Sohn eines armen Holzarbeiters wird beim Durchstreifen des
Waldes von einer Stimme am Fuße einer mächtigen Eiche angerufen. Er
findet eine Glasflasche mit einem froschartigen Wesen, das ihn um Befrei-
ung bittet. Er öffnet den Pfropfen und ein entsetzlicher Geist entsteigt der
Flasche und wird riesengroß. Er droht den Jüngling zu erdrosseln. Dieser
aber verlangt den Beweis, dass der Geist wirklich der kleinen Flasche ent-
sprang. Nichts leichter als das, bemerkte dieser und versenkte sich wieder
gänzlich darin. Schnell verschloss der Junge die Flasche und stellte diese
wieder unter die Eiche. Nun jammerte der Geist und versprach neben Ver-
schonen auch reichliche Belohnung. Der mutige Junge öffnete erneut die
Flasche und der befreite Geist zeigte sich nun erkenntlich. Er reichte dem
Schüler einen kleinen Lappen, ganz wie ein Pflaster, dessen eine Seite
Wunden heilt und die andere Eisen in Silber zu verwandeln vermag.
Geprüft und gut befunden, kehrte er zum Vater zurück, beglich dessen
Schulden und setzte auf der hohen Schule seine Studien fort. Nicht zuletzt
dank dem Heilpflaster, das alle Wunden heilen konnte, wurde er ein
berühmter Doktor.
Heilpflaster zur Wundheilung und dessen „medizinische“ Anwendung.

Das Märchen erinnert sehr an dasjenige aus „Tausendundeine Nacht“ [9]:

Der Fischer, der Dämon und der versteinerte Prinz, oder in anderer Über-
setzung „Der Fischer und der Geist“. Ein armer Fischer fängt im Netz eine
Dermatologische Aspekte in Märchen z 35

Abb. 1. Geist aus der Flasche


(Quelle: Isabelle Berndt, Thieme Verlag, Stuttgart)

Flasche mit dem Siegel des biblischen König Salomon, welcher nach Eröff-
nung Ifrit, ein mächtiger und drohender Geist, entsteigt (Abb. 1). Dieser
erzählt dem Fischer, dass er vor 1800 Jahren von König Salomon, dem
Sohn Davids, wegen Weigerung eines Bekenntnisses zum rechten Glauben
zur Strafe in die Flasche gebannt wurde. Jetzt endlich befreit, sagte er dem
Fischer den Tod an. Den ungläubigen Fischer zu überzeugen, zeigte der
Geist, dass er wirklich aus der Flasche kam, und wurde vom Fischer flugs
wieder dort gefangen. Auch hier bat er um eine zweite Chance, bekam die-
se und versprach, den Fischer reich zu belohnen. Er kündigt ihm beim
nächsten Fischzug zwei wundersame Fische an und bot jederzeit Hilfe für
den Notfall.
Zwei sprechende Wunderfische fing er und brachte diese seinem König.
Sie erzählten von einem festsitzenden, sehr traurigen Prinzen, den nun
König und Fischer zu suchen sich aufmachten. Sie fanden ihn in einem
isolierten Schloss, den Unterleib zu Marmor erstarrt (eher ein Aussätziger
in anderer Version), die Stadt zum See und die Bewohner in Fische ver-
wandelt. Der herbeigerufene Flaschengeist befreite Prinz, Stadt und Men-
schen, allerdings ohne ein handgreifliches Hilfsmittel, welches auch ander-
weitig angewendet werden könnte. Der teilversteinerte Prinz wird durch
die Lösung vom Bann wieder gesund.
Entfernt kann man an die Wunderheilung einer Sklerodermie oder einer
anderen Sklerose der unteren Körperhälfte (Werner-Syndrom?) denken. Die
beiden Märchen passen zusammen, haben aber unterschiedliche, regional
geprägte äußere Umstände; Eiche da und Fischzug dort. Während der Geist
in der orientalischen Version eine einmalige Wunderheilung bewirkt, spen-
det er in der deutschen Erzählung ein Wundheilpflaster zur wiederholten
36 z E. G. Jung

Anwendung, vielen Menschen zum Nutzen und dem gelehrigen Schüler zu


Ehre und medizinischem Ansehen.

Die in der Sammlung „Tausendundeine Nacht“ gefassten Erzählungen von


Scheherazade [9] umfassen Geschichten und Märchen aus dem arabisch-
persischen Raum, mit Wurzeln in Indien. Sie stammen teilweise aus dem 8.
Jh. n. Chr. und erfuhren erst im 16. Jh. ihre endgültige Fassung. Schon ab
dem 14. Jh. kamen einzelne Geschichten nach Italien, Frankreich (erste
Sammlungen im 18. Jh.) und weiter bis Deutschland. Dort erfuhren sie of-
fenbar regionale Anpassung und Modifikation, um in der Erzählsammlung
(1812–1815) der Gebrüder Grimm aus dem hessischen Raume zu erschei-
nen.
In dieser Phase der mündlichen Tradierung erst ist im „Geist im Glas“
das Wundheilpflaster zum wiederholten medizinischen Gebrauch hin-
zugekommen. Möglicherweise kann dies als Respektszeugnis an die auch
in Europa bekannten und hochgeschätzten arabischen Universalgelehrten
wie Avicenna, Ibn Chaldun oder Maimonides gedeutet werden.
Märchen zeigen eine besonders drastische Gegenüberstellung von Gut
und Böse sowie eine eigene Darstellung erotischer Geschehen.

Gut und Böse werden extrem polar dargestellt, scharf und apodiktisch ge-
trennt. Die Guten werden belohnt durch langes und glückliches Leben so-
wie den sozialen Aufstieg; Verheiratung mit der Prinzessin oder Hochzeit
mit dem bewährt guten Helden. Die Bösen werden bestraft, Gefangenschaft,
Verbannung und Verwandlung sind die reversiblen Strafen, meist aber wird
das Leben verwirkt, und das ist irreversibel. Da es aber auch ungerecht,
falsch oder zu hart Bestrafte gibt, wird für deren Reversibilität ein zusätz-
liches Element eingebracht, das wunderbare Heilkraut, das Wunden heilt,
Körperteile wieder anwachsen lässt und als Lebenselixier zum Leben wie-
der erweckt. Dieses wundersame Heilkraut entstammt der pflanzlichen Na-
tur, Phytomedizin also, ist den Menschen nicht zugänglich und wird von
einer übernatürlichen Gewalt verliehen, mit Auflagen belegt und kontrol-
liert. Missbrauch wird vom Gevatter Tod nach einmaliger Mahnung mit
dem Tod bestraft, das Heilkraut verfällt und kann nicht weiter wirken. In
den drei „Schlangenblättern“ steht es dem König und dessen auf Leben
und Gedeih ergebenen Diener je einmalig zur Verfügung. Eine weitere Ver-
wertung gibt es nicht. Dies aber ist der Fall in der hessischen Version vom
„Geist im Glase“, wo dem braven Schüler das Heilkraut zur segensreichen
Anwendung der Wundheilung an die Hand gegeben wird. Auch hier er-
lischt das Kraut mit dem Ableben des Trägers, eine Weitergabe entfällt und
eine „Medizinschule“ erwächst daraus nicht.
Es sind also die wundersamen Ziele künftiger Wundbehandlung ange-
sprochen, die Wege dazu aber mit keinem Gedanken erwähnt. Märchen zei-
gen weniger Wege in die Zukunft als solche „nach innen“, Entwicklungen
der Seele, Ausprägung von Eigenschaften, Findung seiner selbst etc. Fund-
gruben der Psychologie.
Dermatologische Aspekte in Märchen z 37

Damit stehen die Märchen im Gegensatz zu den antiken Sagen, die so-
wohl Wege als auch Ziele ansprechen. So im Gilgamesch-Epos, wo dem
Helden die Gottgleichheit und das ewige Leben zwar versagt, wohl aber die
bleibende Wirkung und Erinnerung seiner Werke und Taten angekündigt
wird (Nachhaltigkeit). Bei den Griechen bringt Prometheus das göttliche
Feuer zu den Menschen. Er wird dafür bestraft, die Menschen aber wah-
ren, nützen, pflegen und wenden das Feuer an, zu Nutzen und zu Schaden.

Erotische Geschehen sind nur knapp angesprochen und sie werden ver-
niedlicht. Dies mag dem Sprachgebrauch und den Tabus der romantischen
Zeit der Aufzeichnung entsprechen. Auffällig ist die große Zahl vorehe-
licher Schwangerschaften bei den Prinzessinnen und den Gefährtinnen der
erfolgreichen und bescheidenen Helden. Dies beschäftigt die Psychologie
seit hundert Jahren.

Im 19. Jahrhundert hat die naturwissenschaftlich basierte Medizin die in


den Märchen verankerten Ziele wieder aufgenommen. Forschung und Ent-
wicklung sind auf dem Weg zur Realisierung derselben schon weit voran-
gekommen. Die Dermatologie hat dazu Wesentliches beigetragen und steht
weiterhin, ihren Part vertretend, an der Front, ausgerichtet auf Wundheilung,
Organersatz in allen Formen, Lebenserhaltung durch Substitution oder
Transplantation, Regelung der Immunkontrolle und Toleranz, Krebsbehand-
lung und Prävention. Zurückgegriffen wird auch in großem Umfang auf die
Phytopharmakologie und deren Schatz an wunderbaren Heilkräutern.
Forschungserfolge verzeichnen natürlich alle naturwissenschaftlichen
und medizinischen Gebiete, so auch die Frauenheilkunde, wo medizinische
und pharmakologische Fortschritte, gemeinsam mit gesellschaftlichem
Wandel, dazu geführt haben, dass der antike Eros sich heute kaum mehr
zurechtfände.

Literatur
1. Anzieu D (1991) Das Haut-Ich. Suhrkamp, Frankfurt aM
2. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. 2.
Aufl. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbeck bei Hamburg
3. Condrau G, Schipperges H (1994) Unsere Haut. Kreuz-Verlag, Zürich
4. Mittag H (2001) Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext.
Universitätsbibliothek Marburg
5. Schipperges H (1968) Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola 20:3–10
6. Kathan B (2004) Zur Genese des modernen Organverständnisses – Rhinoplastiken
und Handtransplantationen in literarischen Bearbeitungen. Akt Dermatol 30:226–
228
7. Kinder- und Hausmärchen (1984) gesammelt durch die Gebrüder Grimm, in 3 Bän-
den. Insel Taschenbuch (it 829)
8. Bechstein L (1992) Märchen. Thienemanns, Stuttgart Wien
9. Tausendundeine Nacht (2004) Übersetzung von Claudia Ott. Beck, München
Tiergestaltige Veränderungen der Haut
in Märchen
E. G. Jung

Märchen sind traditionelle Bestandteile aller Kulturkreise mit hoher Be-


wahrungskraft verdeckter Aussagen. Dermatologische Aspekte und Bezüge
zur Haut sind in der Märchensammlung der Gebrüder Grimm [1] kaum
oder nur spärlich zu finden. In einigen kommen Geschehnisse vor, die
deutliche Bezüge haben zu Wundheilung, Wiedererweckung und der mo-
dernen Transplantationsmedizin [2].
Eine weitere kleine Gruppe von Märchen ist gekennzeichnet durch Men-
schenkinder, durchwegs Knaben, mit großflächigen, tierähnlichen Verän-
derungen der Haut, die in extremen Fällen bis zur vollen Tiergestalt sich
ausweiten. Solche sollen hier zur Sprache kommen. Sie werden zunächst
auszugsweise vorgestellt.

Hans mein Igel (1, Bd. 2, 228–235)


Ein lange kinderloses Bauernpaar wünschte sich dringend ein Kind, „und
sei es ein Igel“.
So kam es, die Frau gebar einen Sohn, oben ein Igel mit Stachelkleid,
und unten ein Mensch. „Hans mein Igel“ wurde er genannt. Er zog auf ei-
nem Hahn fliegend als erfolgreicher Schweinehirt in den Wald, zeigte zwei-
mal einem verirrten König den Weg nach Hause und bekam als Lohn das,
was dem König zu Hause als erstes begegnete. Es war jeweils die Königs-
tochter. Als er die Zusage einlösen wollte, wurde er beim ersten König ver-
jagt, beim zweiten aber mit der Königstochter vermählt.
In der Brautnacht legte er sein „Igelkleid“ neben das Lager. Dieses wur-
de auf sein Geheiß hin von den Knechten verbrannt und so blieb er frei, je-
doch mit schwarzer Haut. Der Leibarzt behandelte ihn mit Salben und Bal-
samen, bis er ein weißer und schmucker Jüngling war und glücklich das
Königreich bekam. Von Kindern ist nicht die Rede.

z Deutung: Ein spätes Einzelkind wurde mit einem Stachelkleid der beiden
oberen Quadranten geboren. Dies erinnert an einen „hystrix-artigen“ Halb-
körper-Nävus (Abb. 1), der im Erwachsenenalter sich auswächst resp. ab-
heilt. In diesem Fall durch Glück und Ehe und unter der lokalen Bleichbe-
handlung des Arztes. Von Erblichkeit ist nicht die Rede.
Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen z 39

Das Eselein (1, Bd. 3, 53–58)

Ein kinderloses Königspaar bekam endlich einen Sohn, der aber nicht wie
ein Menschenkind aussah, er war ein junges Eselein. Er wurde als fröhli-
ches Königskind aufgezogen, fand Freude an der Musik und erlernte von
einem Spielmann die Laute zu schlagen. Als er sich im Spiegel eines Brun-
nens sah, erschrak er und ging auf Wanderschaft. An einem anderen
Könighof wurde er ob seines trefflichen Spiels zugelassen und zu den
Knechten gesetzt. Dem widersprach er und gelangte an die Königstafel, ne-
ben die Königstochter. Sie gefiel ihm gut und beide wurden vermählt.
In der Brautnacht warf er die Eselshaut ab, die Ehe wurde fröhlich voll-
zogen und am Morgen trug er wieder die Tierhaut. Diener hinterbrachten
die Geschichte dem König, der in der folgenden Nacht das wieder ausgezo-
gene Eselskleid wegnahm und verbrennen ließ. Erschrocken aufgewacht,
empfing ihn der König, bat ihn zu bleiben, kleidete ihn mit dem König-
mantel und machte ihn zum Thronfolger. Von Kindern ist nicht die Rede.

z Deutung: Ein spätes Einzelkind im Königshaus wurde mit Tierhaut und


in Eselsgestalt geboren. Dennoch hatte er menschliche Fähigkeiten und er-
lernte das Lautenspiel. Erwachsen konnte er nachts wiederholt die Tierhaut
ablegen und erschien dann in Menschengestalt. Durch Verbrennen der
Tierhaut ist die Menschengestalt bleibend. Mit der äußeren Erscheinung
(Tierhaut) ist der ganze Organismus (Eselein) gekoppelt, obschon Lernfä-
higkeit und Verhalten immer menschlich blieben. Hoher Symbolgehalt mit
nur bedingtem Bezug zur Haut.

Die Gänsehirtin am Brunnen (1, Bd. 3, 156–167)


Eine verstoßene Königstochter wurde von einem steinalten Mütterchen tief
im Wald drei Jahre wie eine Tochter aufgenommen, musste schwer arbeiten
und wirkte alt und verbraucht. Als die Zeit abgelaufen war, schickte sie die
Tochter an den Brunnen, wo sie die Haut über dem Gesicht wie eine Maske
abzog und sich ausgiebig wusch. Als der graue Zopf fiel, quollen die golde-
nen Haare wie Sonnenschein hervor, die Augen leuchteten und sie war
wunderschön. Da erschien, geführt durch einen jungen Grafen, der ver-
steckt am Brunnen die Verwandlung schaute, das ihr Kind suchende
Königspaar. Sie erkannten voller Freude die Tochter wieder. Als Gabe des
Mütterlein wandelten sich die Freudentränen der Königstochter in Perlen.
Und sie gingen zurück aufs Schloss und die Geschichte nahm den erfreuli-
chen Weg.

z Deutung: Harte Arbeit auf dem Land und im Wald bewirkt vorzeitige Al-
terung, die durch Glück und Fügung rückgängig gemacht werden kann.
Perfektes Anti-Aging-Programm!
40 z E. G. Jung

In Anlehnung an „Hans mein Igel“ und an „Das Eselein“ ist das Tiroler
Märchen „Vom Kalberlkönig“ zu sehen.
Ein kinderloses Königspaar bekam noch einen späten Sohn, aber er war
ein Kalberl. Er ging dennoch zur Schule, ja zur Universität; er wurde gar
Ritter und zog ins Land. Die jüngste Königstochter heiratete ihn. In der
Nacht zog er jeweils die Tierhaut aus und war ein wunderschöner Jüngling.
Sie wussten das Geheimnis zu hüten, bis die Gattin, der steten Fragen
überdrüssig, die Tierhaut in der Nacht verbrannte. Er wanderte weg und
die junge Königin suchte ihn bis ans Ende der Welt, wo sie ihn aus Haus
und Bann einer Hexe befreien musste. Jetzt erst lebten sie glücklich bis an
ihr Ende.

Ähnlich auch das rumänische Märchen von „Mirko, dem Borstenkind“, wo


ein Prinz in der Haut eines Schweinchens von Waldleuten aufgezogen wird.
Wider Erwarten löste er drei Aufgaben und gewann die Prinzessin zur Frau.
Die Neugier der Königin, welche das Borstenkleid, das Mirko nachts auszog,
verbrannte, bewirkte seine Verbannung ans Ende der Welt. Die treue Prinzes-
sin zieht aus, sucht und findet ihn und dem Glück steht nichts mehr im Weg.

Einige Gemeinsamkeiten fallen auf. So sind alle diese Märchenfiguren


(Ausnahme: die Gänsehirtin) männliche Einzelkinder, spät geboren von
überalten Eltern und, mit Ausnahme von „Hans dem Igel“, königlichen
Geblüts. Die Märchen gehen gut aus, drücken Hoffnung aus und geben Zu-
versicht für die Träger eines schwerwiegenden, einsehbaren Makels mit tie-
rischen Attributen. Nach einer Bewährungszeit mit nicht standesgemäßer
Tätigkeit kann der Makel abgelegt werden und die ursprünglichen Qualitä-
ten treten unbeschädigt hervor. Dies spricht alles nicht im Sinne einer erb-
lichen Komponente, sondern eher für frühe somatische Mutationen.

Bei „Hans dem Igel“ betrifft die somatische Mutation die beiden oberen
Quadranten. Als er aus Dankbarkeit für geleistete Hilfe der Königstochter
anvermählt wurde, vermag er in der Brautnacht das tierähnliche „Igelkleid“
wegzulegen, welches zur Verhinderung der Wiederkehr gleich verbrannt
wurde. Die verbleibende Dunkelpigmentierung konnte vom Arzt durch lo-
kale Anwendungen gebleicht werden, sodass „Hans der Igel“ nicht nur sei-
nen Makel ablegte, sondern auch als Schwiegersohn des Königs adäquat
und glücklich weiter lebte.
Man denkt am ehesten an einen hystrix-artigen oder einen dyskeratoti-
schen (Abb. 1) Teilkörpernävus [3] oder einen großflächigen Tierfellnävus
mit wulstiger Oberfläche und borstigem Haarbesatz (Abb. 2). Solche ange-
borene Nävi können in der Tat in der Jugend teilweise auswachsen und ab-
blassen. Dieses scheint hier als Ziel vorzuschweben und ebenfalls die
Wunschvorstellung, pigmentierte, ja schwarze Haut durch äußere Behand-
lung aufzuhellen. Ein Traum ganzer Völker und Rassen, wie er immer wie-
der erinnert wird durch Personen öffentlichen Interesses, z. B. durch Mi-
chael Jackson.
Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen z 41

Abb. 1. Dyskeratosis Darier Abb. 2. Großer Tierfellnävus, fast den


halben Körper bedeckend, hier die unte-
re Hälfte

Anders gelagert ist die Situation bei der „Gänsehirtin am Brunnen“, die in
drei Jahren schwerer Arbeit in Hof und Feld, offenbar teils im Waldesdun-
keln, teils in der Sonne, eine verbrauchte Altershaut bekam mit graufader
Kopfbehaarung. Nach Ablauf der zugedachten Zeit vermochte sie am „Jung-
brunnen“ sowohl die vorgealterte Haut als auch die angegrauten Haare und
die drückende Erinnerung an die schwere Zeit spurlos abzulegen. Als Königs-
tochter wurde sie wiedererkannt, belohnt und glücklich vermählt.
Hier ist weder eine Erblichkeit noch die Vorstellung eines Nävus zu stra-
pazieren. Viel eher handelt es sich um die Vergegenwärtigung des Traumes
des modernen Menschen von der idealen, effektiven und unschädlichen
Anti-Aging-Behandlung.

Ganz anders muss man den Symbolgehalt der Tierhaut bei Menschenkin-
dern im Märchen „Das Eselein“ betrachten. Die Haut steht für ein zusam-
mengesetztes Konstrukt eines Menschen, mit menschlicher Lernfähigkeit,
besonders guter und erfolgreicher sogar, und tierhaftem Aspekt. Das Motiv
wird im Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig“ und im rumänischen „Mirko,
dem Borstenkind“ aufgenommen. Immer sind es Königskinder, Prinzen, als
spät geborene Einzelkinder, die als Eselein, Kalb oder Ferkel zur Welt kom-
men. Ihre Lernfähigkeit und auch ihr Verhalten aber zeigen, dass es sich
um wertvolle Menschenkinder handelt, denen ein tierhaftes Äußeres ange-
boren ist. Dies wird durch die Tierhaut ausgedrückt. Es scheint eine
42 z E. G. Jung: Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen

Prüfung der Eltern und deren Kinderwunsch zu sein, kann aber von den
Eltern selber nicht gelöst werden. Nur durch eigene Bewährung als wert-
volle Menschen im Zusammenwirken mit der liebevollen Aufnahme in die
oberste Gesellschaft, die Vermählung mit einer Prinzessin, wird gezeigt,
dass die Tiergestalt durch nächtliches Weglegen der Tierhaut reversibel ist.
Entschlossenes Handeln durch Verbrennen der abgelegten Tierhaut gehört
dazu. Es braucht also die innere Größe, Sicherheit und Reife des tiergestal-
tigen Prinzen und eine Prinzessin dazu, die seine inneren Werte erkennt
und trotz der Tiergestalt schätzt. Damit kann diese verworfen werden und
der bisher „verschleierte Prinz“ tritt hervor und bleibt ganz Mensch. Aller-
dings ist in keiner Version die Rede von Kindern. Eine gewisse Analogie
zum Märchen „Der Froschkönig“ ist unverkennbar.
Hier wird ein wertvolles Menschenkind in eine Tiergestalt verpackt, die
als minderwertig gilt und im Volksmund auch als Schimpfwort Verwen-
dung findet. Die Tiergestalt kann in der Nacht vorübergehend durch Bei-
seitelegen der Tierhaut gelöst und durch verbundene Leistung von „innen
und außen“ endgültig abgelegt werden. Solche Bestückungen von mensch-
lichen Führungspersonen mit Tierhäuten zu kombinierten Tier-Mensch-
gestalten gibt es in vielen Religionen und Kulturen. Während bei den Ken-
tauren die physischen Qualitäten von Mensch und Pferd kombiniert er-
scheint, ist es bei den tierköpfigen Gottheiten der Ägypter eher eine Beto-
nung und symbolische Einverleibung von besonderen Qualitäten. Schama-
nen, die Tierköpfe für kultische Handlungen zu tragen pflegen, stülpen sich
symbolisch besondere Kräfte und Qualitäten dieser Tiere gleichsam über.
Besondere Kräfte der Bären, Löwen etc. bestärken die Macht über Men-
schen, und Adler, Geier oder Fische bezeugen den Zugang des Schamanen
zum Meer und in die Luft, also überall hin, auch bis zu den Göttern. Damit
ist die Verbindungsfunktion des Schamanen als Vermittler zu den Göttern
aufgebaut, der Weg begehbar und die Stellung gesichert. Er braucht dazu
keine „Jakobsleiter“. Tierhäute zur Kleidung besonderer Menschen und
Funktionen aber sind bis heute weiter entwickelt, verfeinert und in den so-
ziokulturellen Kontext aufgenommen worden. Gekrönte Häupter und viele
Leitungspersonen tragen im Ornat noch tierische Attribute, die besonders
auszeichnen und daran erinnern, dass Tierhäute seit jeher dem Menschen
besondere Qualitäten zuordnen.

z Danksagung: Dank gebührt Frau Madeleine Devrient aus Basel für die
Unterstützung bei der Quellensuche.

Literatur
1. Gebrüder Grimm (1974) Kinder- und Hausmärchen in 3 Bd. Taschenbuch Nr. 829.
Insel, Frankfurt
2. Jung EG (2005) Dermatologische Aspekte in Märchen. Akt Dermatol 31:344–347
3. Jung EG (2000) Der segmentäre Morbus Darier. Akt Dermatol 26:325–329
Tod des Herakles
E. G. Jung

Helden braucht die Menschheit und so zieren Helden schon die frühesten
Erzählungen und Kulturdokumente. Sie sind vor den Menschen ausgezeich-
net durch Mut, Tapferkeit, Erfolg und besondere Kraft. Manchmal auch,
aber bei weitem nicht immer, durch Schlauheit. Gottähnlich ist zuweilen
die Unverwundbarkeit, obschon auch diese einen kleinen Fehler aufweist,
der sich irgendwann deletär auswirkt. Dahinter steht die Vorstellung, dass
Helden aus der Verbindung eines Gottes mit einer Menschenfrau hervor-
gehen, vom väterlichen Gott zwar oft geholfen bekommen, ganz selten aber
in den göttlichen Bereich entrückt werden. Immer unterscheiden sie sich
von den unsterblichen Göttern durch ihre Sterblichkeit. Dieses menschliche
Kriterium der Endlichkeit ihres Wirkens und Daseins bedingt eine Ent-
wicklung, ein Streben und jedem Helden seine eigene, individuelle Ge-
schichte. Oft endet diese vorzeitig und tragisch. Helden sterben jung, in
der Blüte ihres Lebens. Entweder weil sie Ihren Auftrag erfüllt hatten oder
aber verfehlten, weil sie vermessen nach Gütern oder Erfolgen drängten,
die den Göttern vorbehalten blieben, oder weil feindliche Götter aktiv ihre
Vernichtung betrieben.
Schon die frühesten Heldengeschichten grenzen die sterblichen, sich ent-
wickelnden Helden von den unsterblichen, immer gleich bleibenden Göttern
ab. Gilgamesch [1] musste erkennen, dass die Unsterblichkeit ihm versagt
blieb, auch wenn er auf der Suche einen Moment lang wähnte, diese zu erlan-
gen. Fortleben in der Erinnerung seiner Nachfahren kann er nur durch sein
Wirken und seine Taten. Und so blieb es bisan mit unseren Helden.
Helden sind Frühvollendete, sie sterben früh oder werden „gnädig ent-
rückt“; von einer Gottheit gleichsam „aus dem Verkehr gezogen“. Der Hel-
dentod ist denn auch ein besonderer Tod mit symbolischer Beziehung zum
Helden und zu seinen, den Tod argumentierenden Verfehlungen. So werden
sowohl Achilles als auch Siegfried [2], mit unverwundbarer Haut ausge-
rüstet, ausgerechnet durch die einzige und kleine Lücke in diesem Panzer
zu Tode gebracht. Achilles stirbt durch den von Apollo gelenkten Giftpfeil
des Paris, Siegfried meuchlings durch den Speer von Hagen.
Anders Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene; er stirbt nach einem
exemplarischen Heldenleben nicht durch die Haut, respektive eine Lücke in
derselben, sondern an seiner Haut. Auch der Tod des Herakles ist, wie sein
Leben und seine Taten, ein besonderer und er ist für uns Dermatologen
von speziellem Interesse.
44 z E. G. Jung

Nach vielen Heldentaten heiratete Herakles die schöne Königstochter


Deianeira. Auf einer gemeinsamen Reise durch Theben mussten sie den
Fluss Eunenos überqueren. Dort hauste der Kentauer Nessos. Herakles setz-
te als erster hinüber, dann folgte Deianeira, getragen von Nessos, der sich
in der Flussmitte an ihr vergehen wollte. Auf die Hilfeschreie seiner Frau
verwundete Herakles den Nessos mit einem vergifteten Pfeil tödlich. Noch
im Sterben sann Nessos auf Rache und flüsterte Deianeira zu: „Fang mein
Blut auf. Wenn du das Gewand deines Gemahls darin tränkst, so wirst du
dir ewig seiner Treue sicher sein können!“ Dann verschied er.
Einige Zeit später hatte Herakles nach einem Sieg die Königstochter Iole
gefangen genommen. Deianeira war eifersüchtig auf die schöne Jungfrau.
Als nun Herakles zum Dankopfer an Zeus nach reiner Kleidung schickte,
tränkte Deianeira das Gewand in Nessos Blut und gab es dem Boten mit.
Herakles legte das Gewand um und begann die Opferzeremonie. Das giftige
Blut brannte sich wie Feuer in die Haut des Herakles. Wir lesen bei Ovid
[3]:

„Da erwärmt sich des Giftes Gewalt, und gelöst


durch die Flammen,
Dringt es in Herkules Leib und verbreitet sich weit
durch die Glieder.
Stark, wie gewohnt, unterdrückt er das Stöhnen,
solang es ihm möglich;
Doch, als von Schmerzen besiegt die Geduld ihm schwindet,
da stößt er
Weg den Altar und erfüllt mit Geschrei die bewaldete Oeta.
Alsbald schickt er sich an, das tödliche Kleid zu zerreißen,
Doch wo er’s zerrt, da zerrt es die Haut mit und
hängt dann entweder
– Widerlich klingt’s! – an den Gliedern, umsonst der Versuch
es zu lösen,
Oder enthüllt die zerfressnen Gelenke und riesige Knochen.
Gleich wie wenn man glühendes Blech in eisiges Wasser
Taucht, so zischt sein Blut und kocht in dem brennenden Gifte.
Doch nicht genug: es schlürften die gierigen Flammen die Därme;
Ganz überströmt von bläulichem Schweiß ist der Körper,
die Sehnen
Knistern, versengt vom Brand, das Mark in den Knochen
wird flüssig
Von dem verborgenen Schleim, und die Hände zum Himmel
erhebend.“
So klagt er den Göttern:
„Oft noch versucht er von neuem sich ganz das Gewand
zu zerreißen.“
Tod des Herakles z 45

Abb. 1. „Tod des Hercules“ Öl-


gemälde 1634 des Spanischen
Malers Francisco de Zubarán
(1598–1664), Museo national
del Prado in Madrid

Endlich verzweifelt und gequält, schichtet er den Scheiterhaufen, legt sich


drauf und Zeus entzündet diesen mit seinem Blitz. Er ist der einzige Held,
der von den Göttern im Olymp aufgenommen wurde. Dort wurde er mit
frischer, jugendlicher Haut versehen und erlangte Unsterblichkeit.
Bemerkenswert ist noch eine Episode früher im Leben von Herakles, als
er vom Fieberwahn getrieben den Iphitus tötete und solange randalierte,
bis die Götter ihn trennten. Seither wurde er von den Kerkopen Melampy-
gos (Schwarzhintern) genannt. Drei Jahre lang musste er als Sklave in Ly-
dien büßen [3].
Zur Wirkungsgeschichte: Während die Jugend des Herakles und seine 12
Taten wohl bekannt und weit verbreitet sind, ist der Tod des Herkules in
Literatur und Musik kaum reflektiert.
In der Malerei allerdings existiert ein Gemälde von Francisco de Zur-
barán 1634 (Madrid, Museo del Prado, Abb. 1), welches den verzweifelten
Held zeigt, wie er sich das von Flammen gezeichnete Kleid von der Haut
zu zerren versucht.
In der Botanik ist die Herkulesstaude (Heracleum mantegazzianum, Rie-
senbärenklau) wohlbekannt (Abb. 2). Ihr Saft verursacht zusammen mit
Sonnenlicht auf der Haut Blasen ziehende Entzündungen (Wiesengräserder-
matitis), die zwar nicht großflächig erscheinen, sondern streifenförmig die
Blattkontakte nachzeichnen. Solches war sicher nicht verantwortlich für
den Tod des Herkules, wie auch eine Milzbrandinfektion unwahrscheinlich
erscheint.
Da ist aber noch eine Geschichte, eine Episode aus der Argonautensage.
Jason zieht mit seinen Gefährten nach Kolchis am schwarzen Meer, um mit
Hilfe der zauberkräftigen Königtochter Medea das „Goldene Vlies“ zu er-
ringen. Auf Umwegen landeten sie in Korinth, wo sich Jason in die Königs-
tochter Glauke (auch Kreusa) verliebte. Medea scheint einzulenken und
schenkte Jason als Brautgeschenk ein kostbares Kleid. Dieses hatte sie je-
46 z E. G. Jung

Abb. 2. Heracleum mantegazzianum, sog. Herkules-


kraut oder Riesenbärenklau, dessen Schnittflächen
phototoxische Furocumarine freisetzen

doch mit Gift getränkt und als Glauke das Gewand anzog, brannte es ihre
Haut weg und sie starb einen fürchterlichen Tod. Ovid schreibt „ist die
neue Vermählte mit kolchischen Giften verbrannt“ [3]. Auch hier also wird
durch ein vergiftetes Gewand die Haut verbrannt (Fieber und brennende
Schmerzen) und „abgebrannt“, also entfernt oder abgefetzt. Daran kam sie
zu Tode.
Die Argonauten und speziell die Person der Medea sind mehrfach
künstlerisch dargestellt worden, so durch Euripides, Seneca, Corneille,
Grillparzer, Anouilh und Christa Wolf. Allerdings ist der Giftmord an Glau-
ke jeweils nicht im Zentrum der Darstellung.

Nun Einiges zur Deutung

Zweimal werden unliebsame Personen durch ein vergiftetes Kleid getötet.


Fieberhitze, ja Fieberwahn, und das Ablösen der Haut „wie ein Kleid“ oder
fest verklebt „mit dem Giftkleid“ führen zu fürchterlichen Schmerzen, zur
Verzweiflung und zum „Flammentod“. Die Psychologen deuten dies als ei-
nen Angriff auf den Behälter, die Hülle, die Oberfläche einer Person, die
anstelle des Inhaltes des Körpers zerstört wird, also eine Umkehr eigent-
lich, die allerdings den Tod des Körpers auch zur Folge hat. Zerstört wer-
den vordringlich das Haut-Ich [4], die Erscheinung, die Darstellung und
auch der Eindruck auf die Umwelt. Vernichtet werden soll also auch die
bildhafte Erinnerung an die Person durch das Wegbrennen der Haut. Beim
Tod des Herakles z 47

Schinden erfolgt solches durch Abziehen der Haut und mit demselben
symbolischen Ziel und tatsächlichem Effekt.
Zur weiteren und vertieften Deutung wenden wir uns nun dermatologi-
schen Überlegungen zu und fragen, welche schon damals zu beobachtende
Krankheiten dem ins mytische gesteigerten Geschehen zugrunde liegen
könnte.
Zunächst zur Medea, die Glauke ein vergiftetes Kleid sandte, das der
Trägerin auf die beschriebene Weise den Tod brachte. Zwei Deutungen lie-
gen auf der Hand:
Eine generalisierte phototoxische Dermatitis (Wiesengräserdermatitis),
die mit einer großflächigen blasigen Ablösung der Haut und starken Fie-
berschüben einhergeht und im Extremfall zum Tode führt. Herkuleskraut
stammt aus dem Kaukasus und Ammi Majus aus Ägypten, beide waren im
Altertum bekannt und die furokumarinhaltigen Säfte wurden zusammen
mit Sonne zur Behandlung der Vitiligo (Weissfleckenkrankheit) und zur
Abgrenzung von Lepra angewandt. Dieses Therapieverfahren wird seit 40
Jahren als Photochemotherapie (PUVA) zur Behandlung der Psoriasis und
anderer Hautkrankheiten erfolgreich eingesetzt. Ein mit Furokumarin ge-
tränktes Gewand, wegen der Sonnendurchlässigkeit wohl eher ein Schleier,
könnte es damals gewesen sein, und Todesfälle nach übermäßiger, selbst
gewählter PUVA-Anwendung zur Pigmentstimulation sind vor Jahren be-
kannt geworden [5].
Als andere Deutung kommt eine staphylogene toxische epidermale Nek-
rolyse (TEN, Lyell-Syndrom, Abb. 3) in Frage, die ebenfalls mit hohem Fie-
ber, großen Schmerzen, akutem Exanthem und mit großflächigen, schlaffen
Blasen einhergeht, welche schnell zerreißen und „wie verbrühte oder ver-

Abb. 3. Lyell-Syndrom mit großflächiger Ablösung


der Haut am Rücken, verbrannt wie „angeklatschtes
Tuch“
48 z E. G. Jung

Abb. 4. Purpura fulminans mit


hämorrhagischen Blasen und
tiefen Nekrosen

brannte Haut“ aufliegen. Todesfolge ist nicht selten. Dieses Syndrom [6]
wird durch die massive Ausschüttung und hämatogener Verbreitung von
Exfoliatin ausgelöst und Staphylokokkus aureus war auch in der Antike ein
allgegenwärtiger Keim auf allen Wunden und Bagatellverletzungen. Glauke
hätte also ihre akute und tödliche Erkrankung infolge einer eigenen Infek-
tion erlitten, ohne direkten Zusammenhang mit dem Brautkleid, das man
sich schlecht als „Eiter vergiftetes Gewand“ vorstellen kann.
Und nun zu Herakles, der nachdem er das vergiftete Weihegewand über-
zog, akut fiebrige Wahnanfälle, enorme Schmerzen, brennende Därme (ein-
geblutet dort auch) und verbrannte Haut erlitt und das Kleid nicht mehr
von dieser abziehen konnte. Solche Versuche rissen ihm die ganze Haut
und mit dieser auch das darunter liegende Fleisch, bis auf Sehnen und
Knochen vom Leib. Er ergab sich dem Sterben. Dieses Geschehen ist kaum
mit einem vergifteten Kleid zu erklären und einem Lyell-Syndrom ent-
spricht es auch nicht. Ein hochfiebriges Geschehen mit Ablösung der Haut
und tiefen, zerfallenden Nekrosen spricht für eine postinfektiöse, nekroti-

Abb. 5. Purpura fulminans an


der Prädilaktionsstelle Gesäß,
sog. „Schwarzhintern“
Tod des Herakles z 49

sierende Vaskulitis (Abb. 4) mit massiven Einblutungen (Purpura fulmi-


nans, mit Verbrauchskoagulopathie), die sowohl oberflächliche wie auch
tiefe Gefäßabschnitte befällt. Es handelt sich dabei um eine durch Immun-
komplexe getragene Typ-III-Allergie mit bakteriellen (Streptokokken) Anti-
genen [6], die mehrfach auftreten kann, immer stärker und bis zum Tod.
Dabei sei daran erinnert, dass Herkules Jahre vor seinem Tod schon einen
Fieberanfall hatte, wovon ein schwarzer Hintern (Melampygos, Abb. 5)
zurückblieb. Dies mögen Rest einer hämorrhagischen Vaskulitis mit blei-
benden Ablagerungen von Haemosiderin gewesen sein, übrigens an einer
Prädilektionsstelle der Vaskulitis. Streptokokken sind und waren damals
schon allgegenwärtige Wundkeime, welchen Herakles wohl öfters ausgesetzt
war. Die zweite Episode war dann, infolge der vorgehenden Sensibilisie-
rung, massiver, generalisiert und tödlich.

Literatur
1. Maul SM (2005) Das Gilgamesch-Epos. Beck, München
2. Jung EG (2005) Sklerodermie in Sage und Gegenwart. Akt Dermatol 31:573–575
3. Ovid (Publius Ovidius Naso) (1971) Metamorphosen 9. Philipp Reclam jun, Stutt-
gart, pp 158–175
4. Anzieu D (1991) Das Haut-Ich. Suhrkamp, Frankfurt
5. Jung EG (1986) Schwere Zwischenfälle mit SUP und PUVA. Kongressband Herfor-
der SUP-Symposium
6. Moll I (2005) Dermatologie, Duale Reihe. Thieme, Stuttgart
Sklerodermien in Sage und Gegenwart
E. G. Jung

Die Sklerodermie (Abb. 1 a, b) fasziniert die Menschen seit jeher und stellt
etwas Besonderes, Mythisches dar. Verhärtung und Verdickung der Haut
als „Panzerhaut“ ist Ausdruck von Unverletzlichkeit und gleichzeitig Abge-
schlossenheit. Ersteres wurde in der Antike mit Unsterblichkeit gleichge-
setzt, was allein den Göttern vorbehalten blieb, und auch die Abgrenzung
zur Umwelt ist eine Eigenschaft der Götter. Das Bild der Sklerodermie mit
Anspielung auf „Göttlichkeit“ bleibt unvollständig, wird es doch in der My-
thologie mit einer kleinen aber wesentlichen Einschränkung versehen. Eine
kleine Stelle bleibt von der Härtung ausgespart, bleibt verletzlich und, die
Sage will es so, wird zur Eintrittsstelle der feindlichen Waffe beim tödli-
chen Stoß. Hier an der „undichten Stelle“ bricht auch die Hülle auf, worauf
die „Lebensgeister“ entweichen [1, 2].
In den alten Sagen erscheinen zwei herausragende Helden, die beide eine
unverwundbare Haut trugen, welche sie durch ein spezielles Verfahren er-
warben. Beide hatten aber eine einzige Stelle, die verwundbar blieb und
die ihnen im jungen Heldenleben schon zum Verhängnis wurden. Im grie-
chischen Sagenkreis war dies Achilles, der Pelide, und im germanischen
war es Siegfried von Xanten. So unterschiedlich die Geschichten sind, so
ist beiden eine harte und feste, eben unverwundbare Haut eigen, die in
manchen Aspekten an eine generalisierte Sklerodermie denken lassen.

Achilles, Sohn des Peleus und der Nereide Thetis wurde vom heilkundigen
Kentauern Chiron erzogen. Seine Mutter Thetis wollte den jungen Helden
unverwundbar machen und härtete seine Haut, indem sie ihn abwechselnd
nachts über das Feuer hielt und tags im Wasser des Styx abkühlte. Dies ge-
schah in Analogie zum Härten des Stahles in der Schmiede bei der Herstel-
lung hochwertiger Schwerter. Die Härtung gelang bis auf eine kleine Stelle,
bis auf die kleine Stelle an der Ferse, eben der Achillesferse, da wo ihn die
Mutter festhielt bei der Prozedur.
Im trojanischen Krieg war Achilles der herausragend Held auf griechischer
Seite. Die Achillesferse wurde ihm schließlich zum Verhängnis, als der vergif-
tete Pfeil von Paris, gelenkt vom Gott Apollon, ihn ebendort tödlich verletzte.

Siegfried von Xanten, Leuchtfigur der Nibelungensage, war der Sohn aus
einer Geschwisterehe. Er wurde vom Schmied Mime aufgezogen und er-
schlug den Drachen Fafnir. Beim Bade in dessen Blut „härtete“ sich seine
Sklerodermien in Sage und Gegenwart z 51

a b
Abb. 1. a Generalisierte Sklerodermie mit straffer Haut. b Sklerodermie der Hände, Panzerhaut
und gleichzeitig Handschuhartige Einmauerung

Haut und wurde unverwundbar, bis auf eine kleine Stelle am Rücken, die
von einem Lindenblatt abgedeckt war. Diese verwundbar gebliebene Stelle
wurde ihm zum Verhängnis, als Hagen von Tronier auf der Jagd den wehr-
losen Siegfried von hinten mit dem Speer durchbohrte. Der Tronnier kann-
te durch Krimhilde’s Indiskretion die einzige verletzliche Stelle.
Es wurde spekuliert, dass Siegfried an einer erblichen oder erworbenen
Hautkrankheit gelitten habe, die der Haut panzerartige Eigenschaften ver-
leiht und „Unverletzlichkeit“ brächte. So ist vorgeschlagen worden, es habe
sich um eine X-chromosomal rezessive Ichthyosis gehandelt, die wegen der
Geschwisterehe manifest geworden sei. Ein Exempel zur Verbot von Ehen
naher Verwandter wurde daraus abgeleitet. Doch diese Ichthyosis trägt eine
stinkende, raue und schuppende Haut wie „Borstenvieh“ und ist leicht ver-
letzlich. Diese Eigenschaften passen nicht zur Lichtgestalt des Helden und
Lieblings der Frauen seines Kulturkreises. Diese Hypothese gehört verwor-
fen.
Eine etwas besser passende Deutung unterstellt Siegfried eine erworbene
diffuse Sklerodermie, die keine Erbkrankheit darstellt, sondern eine erwor-
bene „Kollagenose“. Sie beginnt zunächst mit einer flächigen Verhärtung
und Verdickung der Haut, die straff aufsitzt, und einen glänzenden Aspekt
vermittelt. Solches entspricht dem, was in der Sage als der „Hörnen Sieg-
52 z Sklerodermien in Sage und Gegenwart

fried“ mit „vester hute“ benannt ist. Diese Haut riecht nicht und sie ist
deutlich fester gegenüber Verletzungen. Allerdings handelt es sich um eine
zunehmend konsumierende Systemkrankheit mit autoimmuner Pathogene-
se, die zu Schwäche und Zerfall führt. Aber Siegfried hat womöglich diese
Stadien wegen des frühen Todes nicht erlebt. Diese Hypothese, dass sich in
der Siegfriedsage eine generalisierte Sklerodermie verstecken könnte, ist
glaubwürdiger als die anderen Deutungen.
Siegfried und Achilles gelten als groß gewachsene, besonders starke und
erfolgreiche Heldenfiguren, die wohlgestaltet, sieggewohnt, angesehen und
deshalb bei den Damen begehrt waren. Die feste und harte Sklerodermie-
haut passt zur Mähr der Unverwundbarkeit. Allerdings ist diese Haut das
Leitsymptom der zehrenden Autoimmunerkrankung „Sklerodermie“. Und
von Schwäche oder anderen Zeichen dieser Systemkrankheit wird in den
Sagen nichts berichtet. Aber eben, beide Helden sind früh, beide infolge
von Intrige, durch einen Speer Siegfried, und durch einen vergifteten Pfeil
Achilles, ausgerechnet an ihrer einzigen verwundbaren Stelle getötet wor-
den. Beide haben sie die Beschwernisse der konsumierenden Krankheit
nicht mehr erleben können oder erdulden müssen.
Fazit: Auch heldenhafte Menschen mit beinahe göttlichen Attributen ver-
sehen, sind verletzlich und sterblich. Das bringt uns das Bild der Sklero-
dermie in der Sage nahe.

Im Gegensatz dazu oder gleichsam als Komplement zur Antike, hat in der
Gegenwart des 20. Jahrhunderts das Schicksal des weltbekannten Malers
und Graphikers Paul Klee (1879–1940) die Menschen und die Fachleute,
Kunsthistoriker [3, 4] und Mediziner [5], beschäftigt. Er ist 1935 an einer

Abb. 2. Zeichnung „Ecce“ von Paul Klee 1940, als


Selbstbildnis mit der straffen Einmauerung des Ge-
sichtes durch die Panzerhaut vorgestellt [2]
Sklerodermien in Sage und Gegenwart z 53

progressiven Sklerodermie erkrankt, in seinem 56. Lebensjahr also, und


hat in den verbleibenden 5 Jahren mit derselben und dem begleitenden
Systembefall zunehmend Beschwerden erlitten. Organbeschwerden kamen
hinzu und endlich ist er an einer „Myokarditis“ (Entzündung des Herz-
muskels) verstorben. Retrospektiv legt die Analyse der Befunde wohl eine
Mischkollagenose zwischen Sklerodermie und Lupus erythematosus nahe,
also eine „Mixed connective tissue disease“ oder ein „Overlap syndrom“
[5].
Mit Beginn der Erkrankung fiel er in eine Schaffenskrise, um dann in
seinen letzten Jahren nochmals eine schöpferische Phase mit einer Fülle
von künstlerischen Produktionen zu schaffen. Im Jahre 1940 hat er die ei-
gene Sklerodermie in einer Strichzeichnung „Ecce“ festgehalten (Abb. 2),
und dabei seine eigene Einstellung dazu ausgedrückt. Hannelore Mittag [2]
hat es uns jedenfalls in dieser Weise ausgelegt. Klee blieb gefangen in sei-
ner „Panzerhaut“.

Literatur
1. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte-Körperbilder-Grenzdiskurse. Enzyklo-
pädie. 2. Aufl. Rowohlts, Reinbek
2. Mittag H (2001) Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext.
Völker & Ritter, Marburg
3. LeRoy EC, Silver RM (2006) Paul Klee and Scleroderma. Bull Rheum Dis 45:4–6
4. Wolf G (1963) Endure!: how Paul Klee’s illness influenced his art. Lancet
1:353:15516–15518
5. Castenholz G (2005) Der Maler Paul Klee (1879–1940) und seine Krankheit: von
der schwierigen Diagnosestellung einer Mischkollagenose. Schw Ärztezeitung
86:645–647
Vom Schinden
E. G. Jung

Ein Vorspann

In der frühen Zeit der Jäger wurde das erlegte Wild zerteilt. Vom Inners-
ten, den Innereien, erhielten die Götter ein Dankesopfer, woran auch die
Gottesdiener beteiligt waren. Das Fleisch diente den Menschen als Nahrung
und die Haut, das Fell, wurde durch Abhäutung, Schinden eben, entfernt.
Die Haut war nicht für die Götter, sondern diente ebenfalls den Menschen
als Kleidung, zum Wohnkomfort, als Zahlungsmittel und auch als Zeichen
des Wohlstandes.
Mit der Domestizierung der Tiere bildeten Herden die lebende Fleisch-
reserve, sie hielten die kostbaren Proteine vor. Diese, der „Lagerhaltung“
dienenden Herden wurde nomadisch von Weide zu Weide getrieben, oder
bei sesshaften Stämmen aus dem kultivierten Land mit ernährt. Nicht
mehr gejagt, sondern geschlachtet wurden die Tiere. Die Götter erhielten
das Wertvollste, den Lebenssaft, das Blut, das durch Schächtung, dem kul-
tisch überhöhten Ausbluten, zuvorderst abgezweigt und dargebracht wurde.
Das Tier verlor, ohne bedeutende Schmerzen zu erleiden, zuerst seine Kraft
und kam langsam, gleichsam sanft und andächtig zu Tode. Dann wurde es
gehäutet und verwertet.
Beim umgekehrten Vorgang, zunächst die Häutung beim lebenden Tier,
erlitten die Tiere Schmerzen, sie wehrten sich und schrieen, zappelten und
schlugen, sie blieben während des ganzen Vorganges bei Kräften und ka-
men trotzdem langsam aber sicher unter enormen Schmerzen und Qualen
zu Tode.
Solche Opfergewohnheiten wurden auf Menschen übertragen, als Bedro-
hungen und Schicksalsschläge größere Demut gegenüber den Göttern und
demzufolge eine Steigerung der Opfertätigkeit erforderten. Die Steigerung
ging bis zum Menschenopfer. Menschenblut wurde die Opfergabe und der
Tod des Opfers die Folge. Ein ruhiger, gleichsam sanfter Tod und Opferwil-
le, Demut, Weihe und kultische Überhebung der Opfer gehörten dazu.
Diese Wertung blieb erhalten, als nicht mehr das Blutopfer, sondern ein
Blutgericht die Todesstrafe aussprach. Ausbluten war eine würdige, edle Art
des Vollzuges einer Todesstrafe, wie auch der Selbsttötung.
Ganz anders das Schinden! Nie wurde es als Opferung vollzogen, immer
nur als Strafe. Hingezogen wurde der Prozess, und besonders schmerzhaft,
Vom Schinden z 55

bei vollem Bewusstsein mit Schreien und körperlichem Widerstand, unter


Verlust der Würde kamen die so Geschundenen zu Tode. Eine der
schlimmsten Arten der Exekution, die Menschen sich ausdenken konnten!
Das „Häuten“ respektive das Abreißen der Kopfhaut wiederum gilt in
vielen Kulturen, einst und noch bis in die Neuzeit, als Folter und als Tri-
umph über den besiegten Gegner und als individuelle Trophäe im eigenen
Stamm. Es ist schon in der Bibel verbrieft (im zweiten Buch der Makkabäer
7. 1–42) und als „skalpieren“ in den Indianergeschichten aus der neuen
Welt erneut sehr bekannt geworden. Geschunden, aber auch „skalpiert wer-
den“ war und ist ausschließlich den Männern vorbehalten.

Die Geschichte vom Satyr Marsyas

Es war in der frühen mythologischen Zeit, als griechische Götter Musik-


instrumente erfanden, Apollon die Kithara (Leier) und Athena die Aulos
(Oboe) genannte Doppelflöte. Das Blasen des Aulos entstelle ihr Gesicht, fand
die eitle Athena, und verwarf ihr Instrument, nicht ohne die Verwünschung
auszusprechen, wer immer sie aufhöbe möge schwer bestraft werden. Der
phrygische Satyr Marsyas fand die Flöte, hob diese trotz der Warnung auf,
gelangte auf ihr zur Meisterschaft und forderte den Kithara spielenden Gott
Apollon zum musikalischen Wettstreit. Der Sieger dürfe mit dem Besiegten
verfahren wie ihm beliebe. Auf „Hautabziehen“ bei lebendigem Leibe, hatte
man sich schon vorher geeinigt. Damals kam Wettkampf vor konzertantem
Zusammenspiel. Es kam wie es kommen musste. Der Gott besiegte den Ver-
messenen und strafte ihn fürchterlich. Er hängte ihn an einen Baum und zog
ihm bei lebendigem Leib die ganze Haut ab. „Was willst Du mich selber mir
abziehn? Oh! Ich bereue!“ schrie der verzweifelte Satyr, „es gilt mir die Flöte
nicht so viel!“. Während er schrie, wurde ihm die Haut über die Glieder ge-
rissen, und er war nur eine Wunde, heißt es weiter bei Ovid. Die Geschichte
von Marsyas galt seinerzeit und auch weiterhin als Warnung, die Götter he-
rauszufordern, versehen mit der Androhung grimmiger Strafe für Hybris,
Frevel und Dummheit. Die Schindung des Marsyas wurde mehrfach erzählt
und in drastischer Art künstlerisch festgehalten (Abb. 1–3).

Die Legende vom heiligen Bartholomäus


Bartholomäus, Sohn des Tholmai, war einer der zwölf Jünger Jesu. Er wur-
de als Apostel über Armenien und Mesopotamien bis nach Indien aus-
gesandt. Durch Wunder, Teufelsaustreibungen, Wohltaten und beherzte Re-
de vollbrachte er reiche Bekehrungen. Seine heidnischen Feinde nahmen
ihn darauf gefangen, schlugen ihn mit Knüppeln und zogen ihm die Haut
vom lebendigen Leibe. Er wird als standhafter und starker Missionar mit
Bart und Buch dargestellt und seit dem 13. Jahrhundert, zuerst 1200 am
56 z E. G. Jung

Abb. 1. Apoll schindet Marsy-


as. Kupferstich, gestochen von
Theodor Gelle nach Entwurf
von Jan van der Straet, gen.
Stradanus, Florenz/Antwerpen
um 1580–1600

Dreikönigsschrein im Kölner Dom, als geschundener Märtyrer mit Messer


und abgezogener Haut, als feststehendes Attribut. Es folgten zahlreiche
Darstellungen (Abb. 4). Die eindrücklichste ist sicher diejenige im Jüngsten
Gericht von Michelangelo Buonarroti an der Stirnwand der Cappella Sisti-
na (1536–1541) in Rom. St. Bartholomäus trägt die eigene Haut über dem
linken Arm. Das Antlitz zu dieser Haut gilt als ein Selbstbildnis von Mi-
chelangelo (Abb. 5).

Es endet nicht
Das „Häuten“ als besonders grausame und langsame Todesstrafe, wie sie
im 6. Jahrhundert v. Chr. vom Babylonischen König Kambyses am bestech-
lichen Richter Sisamnes exekutiert wurde (Abb. 6), zieht sich noch durch
das gesamte Mittelalter und „geschunden“ wurde auch, wie die Bezeich-
nung „Schindanger“ als der Ort solchen Treibens noch bezeugt. „Mit der
Haut zahlen“ musste einer, dem die „Haut über die Ohren gezogen“ wurde,
etwas abgemildert wird auch heute noch ein zu strenger Patron als „Schin-
Vom Schinden z 57

Abb. 2. Apoll schindet Marsyas. Abb. 3. Apoll schindet Marsyas. Meister M. F. 1536
Adam Lenckhardt, Elfenbein 1644 (Monogrammist)

der“ verschrien. Schindluder wird weiterhin getrieben und ein geplagtes


Pferd als „Schindmähre“ bezeichnet.
Das Wort taucht beim legendären Räuberhauptmann „Schinderhannes“
wieder auf. Er fing als Johann Bücker (1777–1803) zunächst als Scharfrich-
ter-Gehilfe an und trieb mit einer Bande sein Unwesen im Hunsrück und
im Taunus, bis er endlich gefangen und hingerichtet wurde, allerdings
nicht durch Schinden.
Der Scharfrichter hatte das Monopol auf die Verwendung der Körper der
Hingerichteten. In Riemen geschnittene Menschenhaut war eine begehrte
Handelsware. „Die Haut wurde zu Markte getragen“, entnehmen wir der
heute nur noch metaphorisch verstandenen Redewendung. Damals fanden
solche Riemen vielfältig Verwendung. Hebammen banden sie Gebärenden
zur Erleichterung und gegen Krämpfe um den Leib und in den Apotheken
wurden sie zu zeitgemäßen Heilmittel verarbeitet.
Die in der Antike bereits geübte, im Christentum tabuierte Leichensekti-
on, wurde vom flämischen Anatomen Andreas Vesalius (1514–1564) wieder
aufgenommen. Anatomische Lehrbücher mit Schautafeln in meist sehr le-
bensnahen Positionen wurden angefertigt. Die schichtweise Darstellung, oft
mit theatralischer Präsentation der teilabgelösten Haut, reicht vom „Grauen
des Geschundenen“ bis zu „anatomischen Engeln“. Die Figuren geben ihr
Inneres preis, sie posieren fast ästhetisch. Die Ästethisierung camoufliert
das Schockierende! Gegenwärtig versucht sich die wissenschaftliche Neu-
gier ein weiteres Mal mit ästhetischen Ansprüchen zu paaren, wie dies
58 z E. G. Jung

Abb. 4. Das Martyrium des hl. Bartholomäus von Stefan Abb. 5. Die Haut des hl.
Lochner, Holz Bartholomäus aus dem
jüngsten Gericht in der
Sixtinischen Kapelle (De-
tail) von Michelangelo,
Fresko 1536–1541

Abb. 6. Die Häutung des kor-


rupten Richters aus dem Zyk-
lus Gerechtigkeit des Kambyses
von Gerard David, Holz 1498
Vom Schinden z 59

Abb. 7. Skinman, Ganzkörper-Plastinat von Gun-


ther van Hagens, Institut für Plastination, Heidel-
berg, Ausstellung „Körperwelten“ (www.koerperwel-
ten.com)

Gunter von Hagens durch Präparation und Plastination von Leichen in sei-
nen Schaustellungen „Körperwelten“ bemüht. Das alte Motiv wird im
„Skinman“ (Abb. 7) wieder aufgenommen.

z Danksagung: Herzlicher Dank gebührt Frau Prof. Dr. Liselotte Saurma,


Direktorin Kunsthistorischen Institut der Universität Heidelberg.

Literatur
Baumstark R, Volk P (1995) Apoll schindet Marsyas, über das Schreckliche in der
Kunst. Bayrisches Nationalmuseum München
Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Enzyklopä-
die, 2. Aufl, 317 Seiten. Rowohlts, Reinbek bei Hamburg
Ovid (Publius Ovidius Naso) (1971) Metamorphosen 6:383–400. Philipp Reclam jun,
Stuttgart
Rost GA (1956) Schinden als Todesstrafe. Hautarzt 7:513–516
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr)
– ein Gott der Azteken
K. Wegener

Der Initiator der Rubrik „Kleine Kulturgeschichte der Haut“, der emeritier-
te Mannheimer Dermatologe E. G. Jung, hat die lose Folge der Artikel mit
einer Arbeit „Vom Schinden“ eröffnet [1]. Darin macht er deutlich, dass in
der abendländischen Mythologie und Historie Menschen ausschließlich zur
Strafe und nie als Opfer der Götter geschunden worden seien.
Menschenhäutungen zu Ehren der Götter kannten aber die Kulturen Me-
soamerikas vor Kolumbus’ Entdeckung der Neuen Welt.
Die Spanier, die unter Führung des Hernán Cortés am 8. November 1519
als erste Europäer in Tenochtitlan, der Hauptstadt der Azteken, einzogen,
waren konfrontiert mit ihnen zunächst unvorstellbaren Zahlen von Men-
schenopfern, die dieses Volk seinen Göttern während des Jahres bei den
verschiedensten Festen darbrachte. Nur derartige rituelle Tötungen waren
nach dem Glauben der Azteken geeignet, die gesamte irdische Ordnung
aufrecht zu erhalten, denn ihre Mythen erzählten, das Selbstopfer der
Götter habe die Welt entstehen lassen. Mit dem Opfern von Menschen
dankten die Azteken den höchsten Wesen für ihr Selbstopfer und gaben
gleichzeitig ihrem Glauben Ausdruck, nur durch Tod könne neues Leben
entstehen.
Am eindrücklichsten manifestierte sich diese tiefe Überzeugung in dem
Gott Xipe Totec (= der sich häutet, unser Herr). Er wurde meist als
Mensch dargestellt und trug die abgezogene Haut eines Opfers über seinem
Körper (Abb. 1). Seine Verehrung war in verschiedenen postklassischen
Kulturen Mesoamerikas weit verbreitet, und die Azteken hatten ihn von an-
deren Stämmen im Hochtal von Mexiko in ihr Pantheon übernommen. Wir
sind über das Gottesbild des Xipe Totec bei den Azteken und den Ablauf
des jährlich zu seinen Ehren gefeierten Festes Tlacaxipehuatlikli (Men-
schenhäutung) aus den Codices des Bernardino de Sahagún [2] und des
Diego Durán [3] gut informiert 1. Sahagún schildert das Aussehen des Got-
tes so:

1
Die Schriften Sahagúns und Durans sind mehrfach übersetzt und interpretiert wor-
den. Ich folge in dieser Arbeit den Transkriptionen und Interpretationen von B. Rie-
se u. Mitarb. [4, 7].
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken z 61

Abb. 1. Tonfigur des Gottes Xipe Totec. Der Gott


ist mit der abgezogenen Haut eines Opfers beklei-
det, deren Struktur durch die „Schuppung“ deutlich
wird. Besonders an Armen und Beinen erkennt
man die „zweite Haut“ aufgrund der Schnittränder 2

. . . seine Yopi-Krone mit den gespreizten2


Bändern hat er aufgesetzt.
Eine Menschenhaut,
die Haut eines Gefangenen
hat er angezogen. Er trägt eine Perücke aus
lockeren Federn. Er hat goldene Ohrscheiben.
Er hat einen Tzapote-Rock 3,
Er hat Schellen.
Sein Schild hat rote Kreise.
Den Rasselstab hält er aufrecht in der Hand [4].

Dieser Text ist eine Beschreibung der bildlichen Darstellung des Gottes in
Sahagúns „Primeros Memoriales“ [5] (Abb. 2). Quilter [6] interpretiert die-
sen Hautmantel so: „Wie bei einem Goldüberzug oder dem Spelz eines Sa-
menkorns liegt das wahre, lebendige Wesen des Gottes und seines mensch-
lichen Ausdrucks unter der Oberfläche, bereit, in neues Leben auszuschla-

2
Alle Abbildungen stammen aus dem Bildarchiv von B. Riese, Bonn.
3
Ursprünglich war Xipe Totec eine Gottheit der Zapotec (Tzapotec)- und Yopi-India-
ner, zweier der damals etwa 500 Völker auf dem Gebiet des heutigen Mexiko in den
noch heute existierenden Gebieten Guerrero und Oaxaca.
62 z K. Wegener

Abb. 2. Bild des Gottes Xipe Totec aus den „Prime-


ros Memoriales“ des Bernardino de Sahagún [5].
Zwischen dem Schild mit roten Kreisen und dem
grünen Rock des Gottes sieht man die herabhän-
gende „Hauthand“ des Opfers

gen“. Der Rasselstab (Chicahuaztli), von dem hier geredet wird, ist ein At-
tribut des Gottes, aus dem er Samen verstreut. Xipe Totec verkörperte die
Oberfläche der Erde und deren Kraft zu stetiger Erneuerung und gehörte
mit Wasser, Samen und Sonne zum Kreislauf dieser Erneuerung.
Riese gibt in seinem Text „Aztekische Religion und Kunst“ [7] ein Lied
wieder, das vermutlich am Fest des Gottes gesungen worden ist: Xippe
ycuic, totec (yoallavana) = Gesang für unseren Herren den Geschundenen.
Eine in allen Passagen eindeutige Übersetzung und Interpretation ist sehr
schwierig wenn nicht zur Zeit gar unmöglich. Deutlich aber geht aus den
bisher klar zu entschlüsselnden Textteilen hervor, wie der Gott herbeigeru-
fen und beschworen wird, das Land mit Regen zu tränken, wie nach dem
Regen das Land ergrünt und der Mais reift. Dieses Lied weist Xipe Totec
als Gott der Fruchtbarkeit aus.
Nach der Vorstellung der Azteken erstreckte sich die Welt in vier Grund-
richtungen, die den vier Himmelsrichtungen entsprachen. Xipe Totec, auch
Tlatlauhqui Tezcatlipoca genannt, der rote Tezcatlipoca, beherrschte den
Osten, die Region des Sonnenaufganges, das männliche Viertel des Univer-
sums. Ihm wurden vielfältige Wirkungen und Fähigkeiten zugeschrieben:

er suchte Menschen heim mit verschiedenen Krankheiten


der Haut und der Augen,
er schuf im Frühling neues Leben der Pflanzenwelt,
er war der Gott der Goldschmiede,
und die Azteken hielten ihn für den Erfinder des Krieges.
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken z 63

Abb. 3. „Herzopfer“ aus dem


„Libro de la Vida“ [11]. Vor
dem Eingang zum Tempel liegt
ein Mensch, dem der Priester
mit einem Steinmesser das
Herz aus der Brust geschnitten
hat. Es „schwebt“ in der Luft
über dem Kopf des Opfers. Die
Stufen zum Tempel sind blut-
beschmiert, am Fuß des Tem-
pels liegt ein zweites, totes
Opfer

An seinem Fest Tlacaxipehualitli (Menschenhäutung) wurde ihm eine gro-


ße Zahl Gefangener geopfert. Ein Priester in Gestalt des Gottes – mit einer
Menschenhaut wie ein Kleid über seinen Leib gezogen und somit Stellver-
treter des Gottes – schnitt dem lebenden Opfer das Herz aus der Brust
(Abb. 3). Aus dem momentan vollgebluteten Thorax sog er das Blut in ein
Rohr und hielt Herz und Blut der Sonne entgegen, um sie zu „baden“ und
zu „speisen“. Ein Helfer trug danach auf die Lippen aller Götterbilder im
Tempelbezirk Blut auf, damit diese davon kosteten. Diese Götterspeisung
hatte den Sinn, die Fortsetzung des Lebens auf der Erde sicherzustellen
(s. o.). Die Körper der toten Opfer wurden über die Treppenstufen des Tem-
pels auf dessen Vorterrasse gestürzt. Dort nahmen die Ältesten der Stadt-
bezirke sie in Empfang, brachten sie in das Gemeindehaus, schunden sie
und verteilten das Fleisch zum Verzehr an die Mitglieder der Gemeinde 4.
Die abgezogenen Häute aber legten sich Männer um, die der Gott mit
Hautulzera, Krätze, eiternden Augen, Wucherungen der Hornhaut und an-
deren Leiden geschlagen hatte. Sie eilten durch die Straßen der Stadt, trie-
fend von Fett und besudelt mit Blut. Den Häuten der dem Gott Geopferten
wurde gewissermaßen eine Emanationswirkung und Heilkraft zugespro-
chen. Betrunkene, Possenreißer und alle, die richtige Männer sein wollten,
folgten ihnen. Frauen dagegen, die mit gleichen Leiden behaftet waren,
brachten dem Gott ein Opfer an seinem Festtag. Legten Priester und Kran-
ke die übergestreifte Haut ab, kam darunter der „neue Mensch“ zum Vor-
schein. Opfer und Tod hatten dann zu neuem Leben geführt. Diese Auffas-
sung, dass es ohne Tod kein neues Leben geben könne, spiegelt sich deut-
lich auch im Bilde der sich häutenden Schlange, die den Azteken als Sym-
bol der Wiedergeburt, der Fruchtbarkeit und des Überflusses galt. Ob aus
diesen Vorstellungen die Assoziation des Gottes Xipe Totec mit der „Gefie-
derten Schlange“ (Quetzalcóatl) hervorgegangen ist, ist unklar [8].

4
Kannibalismus war in mehreren Kulturen des alten Mexiko üblich.
64 z K. Wegener

Abb. 4. Skulptur des Xipe Totec, bekleidet mit ei-


ner abgezogenen Haut. Im geöffneten Mund und
am Hals sind die Körperteile des Trägers sichtbar

Archäologen haben vor allem in Mexiko-Stadt Statuen des Gottes oder Ver-
körperungen von ihm (Priester, Krieger, Gefangene) gefunden, die – wie
von Sahagún beschrieben – ein Kleid aus einer zweiten Haut tragen, das
mit Schnüren über dem Kopf und auf dem Rücken zusammengezurrt ist.
Hinter dem geöffneten Mund und den Augenschlitzen werden die entspre-
chenden Körperteile des Trägers sichtbar. Ein horizontaler Saum über dem
Thorax macht die Stelle deutlich, an der das Herz entfernt und die danach
vernäht worden war (Abb. 4).
Um 1900 hat man in der Umgebung des Templo Mayor in Mexiko-Stadt
einen Behälter für abgezogene Häute gefunden. Seine Außenfläche erinnert
mit Aufrauungen an abgezogene Menschenhaut, die Priester und andere Ver-
ehrer des Gottes sich überhängten, um sich der Gottheit anzuverwandeln.
Nach Schilderungen von Sahagún haben sie die Häute im Festmonat 20 (!)
Tage getragen und dann wahrscheinlich in solchen Behältern verwahrt.
Die Religion der Azteken kannte zwei weibliche Pendants zu Xipe Totec:
die Fruchtbarkeitsgöttin Xilonen (wörtlich: Junges Maisrohr) – Göttin der
ersten Maisfrucht der Saison – und Chicome Coatl (wörtlich: Sieben
Schlange) – Göttin des Maissaatgutes. Beim Reinigungsfest Ochpa(na)nitzli
(wörtlich: Fegen des Weges) 5, das zu Ehren mehrerer Gottheiten veranstal-

5
Riese macht in seinem Text zur Altmexikanischen Heilkunde und Gesundheitspflege
[12] darauf aufmerksam, dass häufiges Fegen der gestampften Böden in Haus und
Hof eine zentrale Arbeit im Dienste der häuslichen Hygiene darstellte, dass das Fegen
im Tempeldienst eine religiöse Pflicht mit hohem Symbolgehalt darstellte und das Fest
ochpananitzli (das Fegen des Weges) in diesem Zusammenhang gesehen werden müsse.
Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken z 65

tet wurde, war einer der Höhepunkte die Enthauptung und Häutung einer
Frau durch einen Priester zu Ehren der Göttinnen Xilonen und Chicome
Coatl. Der Priester trug Kleidung und Kopfschmuck einer der beiden
Göttinnen, der er sich somit anverwandelte. Wie beim Fest für Xipe Totec
legten sich die Priester Teile der Haut des Opfers an 6. Der Gott und die
Göttinnen der Fruchtbarkeit machen deutlich, wie wichtig Landwirtschaft,
das Gedeihen der Saaten und die Reifung der Früchte für das tägliche Le-
ben und Überleben in dieser Kultur waren. Diese Gottheiten entschieden in
den Augen der Azteken über reiche Ernten oder Missernten.
Xipe Totec war auch der Gott der Goldschmiede, der angesehensten
Handwerkerzunft in Mesoamerika. Es fehlt in der einschlägigen Literatur
nicht an Interpretationen, Xipe Totecs Wirken als Lebensspender – und die
damit verbundenen Rituale – mit seiner Verehrung durch die Goldschmie-
de in Verbindung zu bringen. So macht Riese [7] auf eine mögliche Asso-
ziation bei den Azteken zwischen der Farbe des Goldes und der der
menschlichen Haut aufmerksam, die Xipe Totec übergestreift wurde. Diese
Interpretation hat viel für sich, wenn man bedenkt, dass die von Priestern
und anderen übergestreiften Häute geschundener Opfer gelb gefärbt waren
und Teocuitlaquemitl (wörtlich: Goldenes Kleid) genannt wurden [9]. Auch
die Formung goldener Hohlfiguren sowie das Überziehen von Schmuck-
stücken mit Goldblech hätten die Azteken möglicherweise analog zum Über-
ziehen der Haut bei dem Gott gesehen.
Eine zweite interessante Interpretation gibt Moctezuma [10]. Er be-
schreibt ausführlich eine Halskette aus dem Templo Mayor in Mexiko-Stadt
und geht auf die Technik des Metallgusses bei den Azteken zur Herstellung
solcher Schmuckstücke ein. Die Azteken kannten das Gießen in verlorener
Form. Bei diesem Verfahren werden mehrere Materialschichten der Form
abgetragen oder ersetzt, und erst ganz zum Schluss wird das fertige
Schmuckstück sichtbar. Diese Technik erinnere – so Moctezuma – an die
Bearbeitung des Bodens in der Landwirtschaft, wo aus den Schichten der
zunächst trockenen und dann bearbeiteten Erde grünes, fruchtbares Land
werde. So nehme es nicht Wunder, dass der Gott der Fruchtbarkeit und
des Ackerbaus – Xipe Totec – auch der Schutzgott der Goldschmiede sei.
Am 13. August 1521 übergab der letzte Aztekenkönig, Cuanktemoc, dem
Spanier Cortés die Hauptstadt Tenochtitlan nach langer und auf beiden
Seiten verlustreicher Belagerung. Die Spanier machten die Stadt dem Erd-
boden gleich. Götterfiguren, Kunstgegenstände, Pyramiden, Paläste wurden
zerstört. Der Wiederaufbau war begleitet von der religiös-geistigen Erobe-
rung des Reiches durch die Franziskaner, Augustiner und Dominikaner.
Den überlebenden Azteken fiel es schwer, sich zu ihren alten Göttern zu
bekennen, waren sie doch in den Kämpfen gegen die Spanier von ihnen

6
Im Codex Borbonicus (Codex Borbonicus, Faksimile, Graz 1974) ist eine Opferszene
dargestellt mit einem Priester im Zentrum, der die Gesichtshaut des Opfers als Mas-
ke trägt [8].
66 z K. Wegener: Xipe Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken

völlig im Stich gelassen worden. Auch wurde religiöser Widerstand gegen


das Christentum von den Eroberern brutal unterdrückt.

z Danksagung: Herrn Prof. Dr. Bertold Riese, Direktor des Instituts für Alt-
amerikanistik und Ethnologie der Universität Bonn, und seinen Mitarbei-
tern danke ich herzlich für Literatur, Bildmaterial, Hinweise und Diskussio-
nen.

Literatur
1. Jung EG (2004) Vom Schinden. Akt Dermatol 30:81–84
2. de Sahagún B (1950–1982) Florentine Codex: A General History of the Things of
New Spain. Books 1–12. Anderson AJO, Dibble CE (Hrsg), Santa Fe
3. Durán D (1967) Historia de las Indias de Nueva Espana e islas de tierra firme.
Garibay AM (Hrsg) 2. Bd, Mexico Stadt
4. Riese B (1996) Aztekische Chrestomathie. Text LXII Xipe Totec, SAH01K18
5. de Sahagún B (1993) Primeros Memoriales (Farbfaksimile der Handschrift). Nor-
man University of Oklahoma Press
6. Quilter J (2003–2004) Kunstschätze. In: Azteken-Ausstellungskatalog der Kunst-
und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
7. Riese B (1993) Aztekische Chrestomathie. Aztekische Religion und Kunst. 9. Stun-
de: Xipe. XIPEV
8. Locke A (2003–2004) Gottheiten des Lebens. In: Azteken-Ausstellungskatalog der
Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
9. Xipe Totec Encyclopaedia Britannica Delux Edition 2004. CD-ROM
10. Moctezuma EM (2003–2004) Templo Mayor, der große Tempel der Azteken. In:
Azteken-Ausstellungskatalog der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn
11. Libro de la Vida (1970) Akad Druck- und Verlagsanstalt, Graz
12. Riese B (1996) Aztekische Chrestomathie, Altmexikanische Heilkunde und Ge-
sundheitspflege. Zeugnisse des 16. Jahrhunderts. A:\AZTGES01\MMTEXT
Vom Ursprung des Schindens in Assyrien
E. G. Jung

Schinden wird in der griechischen Mythologie und der christlichen Legen-


denbildung ausschließlich als Strafe gehandhabt und in der Kunst als etwas
Schreckliches dargestellt [1].
Die Kulturen Mesoamerikas aber kannten auch Menschenhäutungen als
Opfer an die Götter, insbesondere dem Gott Xipe Totec (der sich häutet,
unser Herr), welcher die abgezogene Haut eines Opfers über seinem Körper
trug [2]. Die ältesten Dokumentationen zum Schinden als Strafe stammen
aber aus Mesopotamien mit Ausstrahlung in den persischen Raum, wobei
neben der individuellen Strafe auch Abschreckung, Warnung und zudem
rituelle Effekte zur Vernichtung gegnerischer Gruppen und Ausmerzung
deren Gedankengüter erstrebt werden.
Im ersten Jahrtausend v. Chr. hat sich in Mesopotamien die Verfahrenswei-
se mit Gegnern und Verrätern gegenüber den zwei dokumentierten Jahrtau-
senden zuvor deutlich verschärft. Dies geschah offenbar durch die Assyrer im
Laufe der immer wiederkehrenden Kriege mit wechselndem Kriegsglück. Auf
alle Fälle zeigt die betonte Dokumentation in Bild und Text eine wesentliche
Bedeutungszunahme [3]. Die Todesstrafe wird teilweise protrahiert, es wer-
den Folterungen, Verstümmelungen und Abhäuten durch Schinden voran-
gestellt und rituelle Zerstückelungen der Leichen angeschlossen.
Besonders gut dokumentiert ist dies anhand des berühmten Reliefs der
Schlacht am Ulai-Fluss 653 v. Chr., in welcher der Assyrische König Assur-
panibal (661–631 v. Chr.) die Elamiter schlug, deren König Te-umman ge-
fangen nahm, enthaupten lies und den Kopf im Triumph heim führte. Im
Nord-Palast zu Ninive ist dies drastisch verewigt. Dem Schlachtgetümmel
sind diese Geschehen zugeordnet. Gegner werden abgeschlachtet, Frauen
und Kinder in Gefangenschaft abgeführt, Gefangene werden erschlagen, an-
dere gepfählt. Und es ist durch Inschrift verewigt: „Den Leuten, die sich
schuldig gemacht haben (Abtrünnige und Verräter sind gemeint), legte ich
eine schwere Strafe auf. Ihre Gesichtszüge verstümmelte ich, ihre Häute
zog ich ab, ich zerstückelte ihr Fleisch“ [4]. Und das Abhäuten ist im
Flachrelief dargestellt (Abb. 1): „Ich schnitt ihnen die Zunge heraus (unten
rechts) und zog ihnen die Haut ab.“ Assyrische Soldaten haben zwei Ela-
miter an Händen und Füssen gefesselt, gestreckt und sie lösen mit Messern
die Haut ab. Der eine beginnt an den Beinen, wo die schon gelöste Haut
„wie aufgeschnittene Stiefel“ abhängt, und der andere beginnt sein Werk
am Rumpf. Vorgegangen wird also ähnlich wie beim Abbalgen der Tiere.
68 z E. G. Jung

Abb. 1. Assyrische Soldaten


schinden zwei Elamiter und
rechts unten wird einem sol-
chen die Zunge heraus-
geschnitten. Detail aus der
Darstellung der Schlacht am
Ulai-Fluss 653 v. Chr. im könig-
lichen Nord-Palast zu Ninive,
Aufnahme Nr. 152 aus [4]

Abb. 2. Assyrische Soldaten


beginnen an den Unterschen-
keln mit der Häutung von zwei
gestreckt gefesselten hebräi-
schen Abgesandten. Detail aus
der Darstellung im königlichen
Südwest-Palast zu Ninive, Auf-
nahme Nr. 81 aus [4]

Es gibt aber auch frühere Dokumente. Im Südwest-Palast zu Ninive wer-


den Taten von König Sanherib (704–681 v. Chr., auch Sennacherib), dem
Großvater von Asurpanibal, dargestellt, insbesondere die Belagerung und
Eroberung der Stadt Lachisch. Auch hier gepfählte Gefangene und Abge-
sandte des König Hiskia von Juda als Bittsteller und andere gefesselt [4].
Auch hier sind sie an Händen und Füßen angebunden, gestreckt und assy-
rische Soldaten beginnen mit der Abhäutung an den Unterschenkeln
Vom Ursprung des Schindens in Assyrien z 69

(Abb. 2). Die Deutung des Geschehens als Auspeitschung ist weniger wahr-
scheinlich. Diese Kriege finden sich auch in der Bibel dargestellt, wobei ei-
ne glückliche Kriegswendung vor Jerusalem infolge Dezimierung der assy-
rischen Belagerungsarmee durch Engelshand (wahrscheinlich eine Seuche)
auf Fürbitte des Propheten Jesaia im Zentrum steht (2. Chr, 32 : 20–22, 2.
Kön. 18 : 13–20 und Jesaia 36–39). Ähnliche Formulierungen erscheinen
auch im Deuteronomium der Bibel in den Gesetzen über den Gottesdienst
und den Kriegsgesetzen (5. Mos. 12.2 f; 13.6–11; 20. 16 f).
Aber schon das Corpus der Inschriften von König Assurnasirpal II
(883–859 v. Chr.) enthält in beängstigender Häufung scheußliche Strafge-
richte: Abschlagen von Gliedmaßen, Ohren und Nasen, und auch Blenden.
Gefangene werden gepfählt oder verbrannt. Dazu kommt das Schinden der
Gegner, deren Häute auf Pfählen oder über die Stadtmauer und deren Tore
gebreitet, zur Abschreckung und Warnung an Einwohner wie Besucher die-
nen. Denn es steht geschrieben [5, 6]: „Ich habe eine Säule errichtet ge-
genüber dem Stadttor und alle revoltierende Anführer geschunden (kasu,
abgehäutet, to flay), die Häute habe ich um die Säule gewunden und auf
Pfähle gespießt. Solche stellte ich in großer Zahl bis an die Grenzen meines
Landes auf. Den abtrünnigen königlichen Offizieren ließ ich die Gliedma-
ßen abtrennen, ich ließ sie schinden und spannte die Häute an die Stadt-
mauer. Den Anführer fing ich lebend, brachte ihn nach Ninive, ließ ihn
dort schinden und seine Haut an unsere Stadtmauer spannen. Die
Anführer der eroberten Städte ließ ich schinden und ihre Häute an die
Mauern spannen, die Gefangenen wurden mit dem Schwert getötet und zu
Haufen geschichtet, die Knaben und Mädchen wurden verbrannt“ [7]. Und
so geht es weiter, immer weiter.

Komplexe Bedeutung
Der Vorgang des Schindens eines Menschen dauerte wahrscheinlich gut ei-
ne Stunde, er ist äußerst schmerzhaft, sodass die Opfer wohl wiederholt in
Ohnmacht fielen und auch, gerade ob der Schmerzen, daraus wieder auf-
geschreckt wurden. Sie sterben am Schock, durch Blut- und Flüssigkeits-
verluste, Unterkühlung und Infektionen in Stunden bis Tagen. Schinden ist
eine Todesstrafe mit protrahiertem Vollzug. Vorgeschaltet ist eine äußerst
qualvolle Folterung, welche das Opfer nicht nur erdulden, sondern gleich-
sam „erleben“ muss. Damit war es aber nicht genug, damals. Noch weiter
vorgeschaltet erfolgten Entstellungen des Gesichtes, Verstümmelungen
durch Abtrennen von Gliedmaßen, Nase oder Zunge oder auch Blendung.
Dem Opfer wurde also seine Erscheinung verstümmelt und dadurch seine
Würde und auch die Organe differenzierter menschlicher Kontakte genom-
men. Und er musste dies noch miterleben. Geschunden, mit oder ohne
Verstümmelung vorher, wurden vornehmlich die Anführer. Ihre abgetrenn-
ten Häute wurden öffentlich ausgestellt, als Abschreckung und Warnung
70 z E. G. Jung

und zum eigenen Triumph des Siegers. Dies erfolgte in der Hauptstadt, an
den Grenzen des Landes und in eroberten Städten, ebenfalls zur Warnung.
Zudem wurde das Schinden der Abtrünnigen im Königspalast zu Ninive in
Schrift und im Reliefbild (Abb. 1) dargestellt, zur Warnung aller Besucher
und zu allen Zeiten.
Besonders gefährlichen Abtrünnigen oder Widersachern wurde durch
Verstümmelung zunächst Würde und Ansehen genommen, dann durch das
tödliche Schinden der Haut, die Hülle, die Form und damit die persönliche
Erscheinung entfernt. Die abgetrennte Haut wird als Warnung nach innen
und außen öffentlich zur Schau gestellt. Zudem wurden die Sippen, die Ge-
folgschaften, ja ganze Völker der so ausgemerzten Führer zu Tode gebracht,
um ein Wiederaufflammen der politischen, militärischen oder religiösen
Opposition zu verhindern. In besonderen Fällen wurden die Körper, nach-
dem sie geschunden wurden, noch in Stücke zerteilt oder verbrannt. Da-
durch, so ging damals und geht der Gedanke zuweilen bis in unsere Zeit,
können Wiederkehr, Wiedergeburt und Auferstehung der verhassten Feinde
und deren Gedankengut verhindert werden. Ein mehrschrittiges Unterfan-
gen mit komplexer Intention. Dabei kommt dem Schinden eine besondere,
auch rituelle Bedeutung zu.
Die Häufung solcher Schilderungen führen zur Annahme, dass die Assy-
rer nicht nur ein auffallend kriegerisches Volk waren, sondern auch ein
grausames und brutales. Nicht von ungefähr wird der König Assurnasirpal
II (883–859 v. Chr.) auch als Schlächter oder Sadist [3] apostrophiert. Der-
artig grausame Verfahren zur Konfliktbewältigung sind nicht auf Mesopo-
tamien begrenzt geblieben. Beispiele sind aus dem benachbarten per-
sischen Raum dokumentiert.
So hat im 6. Jahrhundert v. Chr. der persische König Kambyses in Baby-
lon am bestechlichen Richter Sisamnes die Todesstrafe durch Abhäuten
exekutiert [1]. Aus der Haut des Opfers wurde der neue Richterstuhl gefer-
tigt, auf dem die nachfolgenden Richter, als erster der Sohn von Sisamnes,
gleichsam auf der Strafdrohung thronend, ihr Amt redlich auszuführen
hatten.
Und Jahrhunderte später erfuhr der babylonische Religionsstifter ira-
nischer Herkunft Mani (216–277 n. Chr.) aus Glaubensgründen in Gun-
dischapur (Persien) das Schicksal der Hinrichtung durch Schinden. Und
auch seine Haut wurde zur Abschreckung an der Stadtmauer öffentlich zur
Schau gestellt [8]. Mani hatte, durch Offenbarung veranlasst, in Babylon
die erst im 14. Jahrhundert ausgestorbene Weltreligion des Manichäismus
gegründet. An derartig grausame Verfahren erinnern zudem Geschehnisse
bei der Verfolgung von Ketzern und von Hexen, aber auch bei Genoziden
und im Holocaust.

z Danksagung: Herzlicher Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Stefan M. Maul,


Ordentlicher Professor für Assyriologie an der Universität Heidelberg.
Vom Ursprung des Schindens in Assyrien z 71

Literatur
1. Jung EG (2004) Vom Schinden. Akt Dermatol 30:81–84
2. Wegener K (2004) Xipo Totec (. . . der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azte-
ken. Akt Dermatol 30:510–514
3. Edzard DO (2004) Geschichte Mesopotamiens. Beck, München
4. Barnett RD (1975) Assyrische Skulpturen im Britischen Museum. Bongers, Reck-
linghausen
5. The Assyrian Dictionary (1971) Vol, Glückstadt
6. Borger R (1996) Beiträge zum Inschriftenwerk Assurpanibals. Harrassowitz, Wies-
baden
7. King LW (1902) The Annals of the Kings of Assyria, London
8. Schipperges H (1968) Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola 20:3–10
Skabies in der Geschichte
und Geschichten über Krätze
E. G. Jung

Es war zu Beginn des Holozän vor gut 10 000 Jahren, als die Menschen von
den Bergen herunter, aus ihren Höhlen in die weiten, von der letzten Eis-
zeit gut geschwemmten und warmen Flusstäler sich ausbreiteten. Nahrung
war reichlich vorhanden und es entstanden Siedlungen. Das Haarkleid
nahm ab und die Wärmeregulierung wurde durch Kleidung verfeinert und
verbessert. Kurzfristig konnte man sich den Umständen und den Jahreszei-
ten besser anpassen.
Die Ektoparasiten des Haarkleides (Fellparasiten) spezialisierten sich,
die Kopfläuse auf die Kopfbehaarung, die Filzläuse auf die sekundären Ge-
schlechtshaare und die Kleiderläuse, wohl erst zuletzt, auf die Kleidung als
Lebensraum und für ihre Eiablage.
Die Krätze (Skabies, Räude) aber nahm überhand durch ungehinderte
Besiedelung der interfollikulären Epidermis und weniger gestört durch den
gelockerten Haarbesatz.
Während der Entwicklung der Primaten tat dies auch die Skabies und
bildete ihrerseits eine hoch differenzierte und wirtsspezifische Artenvielfalt

Abb. 1. Skabiesmilbe „Sarcoptes skabiei variatio


hominis“ mit ihrem Ei im gefärbten Vitalpräparat
aus einem Gang an der Hand
Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze z 73

aus. Dem heutigen Menschen hat sich im Holozän eine eigene, spezifische
Skabies als Koparasiten mitentwickelt und zugesellt, eben „Sarcoptes sca-
biei variatio hominis“ (Abb. 1), der denn auch verschmäht, auf Affenhaut
zu gedeihen.
Als gezielte Antwort auf diese spezifische, großflächige und weit verbrei-
tete Ektoparasitose durch die Krätzemilbe entwickelte sich das T-Zell-ver-
mittelte, periphere Immunsystem der Haut in besonderem Masse. Die den-
dritischen Langerhanszellen bilden in der Epidermis ein dichtes Netz zur
Früherkennung, Aufbereitung und Vermittlung dieser Fremdantigene. Die
Immunabwehr vom Spättyp kommt früh und rasant in Gang. Entzündung,
Juckreiz, Kratzen aufs Blut und bis zu Verletzungen sind die Folge und eine
Vielzahl von Eintrittspforten für bakterielle und mykotische Infektionen
wird bereitet. Gestörter Schlaf, immer währende Unruhe, Krankheitsgefühl,
Leistungsminderung und soziale Ausgrenzung sind die Kette schwerwie-
gender Konsequenzen. Der endemische Befall von Groß und Klein er-
schwert es, den Infektionscharakter und die Übertragungswege zu erfassen
und zu verstehen.
Solches Leiden mit zunehmender Beeinträchtigung muss als Strafe der
Götter aufgefasst werden, welche dem Menschen wegen eigener Verfehlun-
gen und Unterlassungen oder solchen in der Familie oder durch Vorfahren
widerfährt. Die Götter entziehen mit einem Bannspruch den Schutz und
überlassen den Menschen der Krankheit, also in diesem Fall den Milben.
Dem zu begegnen, also den „Bann zu lösen“, bedarf es einer fein entwickel-
ten Folge kultischer und ritueller Handlungen, in welche zunehmend auch
therapeutische Maßnahmen Aufnahme finden. Letztere entspringen den gut
beobachteten Erfahrungen der „natürlichen Medizin“ und werden durch

Abb. 2. „Der Mensch erscheint im Holozän“ betitelt


Max Frisch seinen Roman von 1979 und meint die
Ausbildung von dokumentierten Kulturleistungen,
welche der Mensch infolge der Ausbreitung in die
von der letzten Eiszeit fruchtbar aufgeschwemmten
Flusstäler erbringen konnte
74 z E. G. Jung

die Gottesdiener oder auf deren Anweisung hin durchgeführt. Priester sind
auch die Heiler.
Zwei solche gute und bewährte Verfahren sind darzustellen:
Mit der Besiedelung der Flusstäler, der Haltung von Herden, dem Acker-
bau und den umfassenden Arbeiten an den Bewässerungssystemen halten
sich viele Menschen den Tag über im Freien auf, an der Sonne. Der Wärme
und der Anstrengung wird die Kleidung angepasst, resp. sie wird reduziert
(Abb. 2).
Die Haut, jetzt mit kargem Haarbesatz, wird großflächig und stunden-
lang der Sonne ausgesetzt. Sonnenbrand ist die Folge, unabdingbar! Der
schmerzhaften Rötung und ebenfalls der Verbrennung 2. Grades mit Bla-
senbildung folgt eine Schälung mit Häutung der Oberhaut (Epidermis) in
Fetzen. Nach 1–2 Wochen ist der Sonnenbrand ausgeheilt und die neue, fri-
sche Epidermis nach 3–4 Wochen restituiert. Mit der Oberhaut werden
aber auch bis zu 90% der Krätzemilben, der Larven und die ganzen Gänge
entfernt. Vorerst entfallen der Juckreiz und alle Nachfolgemalaisen nach ei-
nem Sonnenbrand und der ungetrübte Zustand mit gesunder Haut dauert
3–4 Generationen der Krätzemilbe zu je 3 Wochen, also bis zu 3 Monate,
bis die Milben-Population sich wieder restituiert und großflächig aus-
gedehnt hat.
Zudem weiß man seit einigen Jahrzehnten erst, dass eine UV-Belastung
der Haut zu einer vorübergehenden Immunmodulation (Toleranz) führt,
welche vorwiegend die T-Zell-vermittelten Reaktionen betrifft.
Es muss eine unglaubliche Befreiung gewesen sein, wenn nach einem
Sonnenbrand von 3–5 Tagen, eine juckreizfreie, gesunde Periode anhebt,
die monatelang dauert. Ein weiterer Sonnenbrand ist durchaus erstrebens-

Abb. 3. Im Ägypten der Amarna-Zeit (1364–1348


v. Chr.) erbittet und empfängt der Priesterkönig
Echnaton mit seiner Familie die Sonnenstrahlen für
sein Volk
Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze z 75

wert und mit angemessener Sonnenexposition produzierbar. Dem Rat der


Priester und dem geeigneten Sonnenverhalten unterliegt eine effektive,
wenn auch nur vorübergehende Therapie. Eine wunderbare Erkenntnis.
Der Sonne wird verständlicherweise dafür gedankt, und ihren Priestern
auch. Die heilende Kraft der Sonne, welche den „Bann der Krätze“ löst,
trägt wesentlich zum Ansehen und zur besonderen Erhebung des Sonnen-
gottes bei. Die herausragende Stellung der Sonne kulminiert im Ägypten
der Amarna-Zeit (1364–1348 v. Chr.) und nimmt mit dem alleinigen Son-
nengott Aton (Lichtberg) monotheistische Züge an (Abb. 3).
Nun blicken wir gezielt nach Mesopotamien. Im Jahre 614 v. Chr. zer-
störten die Meder die Stadt Assur. 1908 fand man in dem so genannten
„Haus des Beschwörungspriester“, die Reste einer Gelehrtenbibliothek aus
der Zeit des letzten großen assyrischen Herrschers Assurpanipal (669–627
v. Chr.). Dieser Textkorpus (Abb. 4) gibt Auskunft über die Tätigkeit eines
Beschwörers (akkadisch: aschipu) und ermöglicht grundlegende Einblicke

Abb. 4. Zeichnung einer aus neun Fragmenten zu-


sammengesetzten Tontafel aus Assur (7. Jh. v. Chr.),
in der eine Heilbehandlung mit Schälkur beschrieben
wird
76 z E. G. Jung

in die altorientalische Konzeption von Krankheit und Heilkunst [1]. Darin


ist eine externe, großflächige Behandlung der Haut überliefert, die als
Schälkur eigentlich nur eine Krätzebehandlung sein kann. So wird der
kranke und dadurch leistungsgeschwächte, untüchtige und nicht mehr er-
folgreiche Mensch mit einer Kaskade kultischer Handlungen und Opfer zur
Beirufung des Sonnengottes sowie, daran anknüpfend, mit einer Ganz-
körper-Schälbehandlung vom „Bann der Götter“ befreit und der Heilung
entgegengeführt. Grob zerkleinerte (geschrotete) Getreidekörnern und
Mehle werden mit Flüssigkeit, und möglicherweise auch mit sauren Ton-
erden, vermischt zu Teigklümpchen geformt und mit sakralem Segen ver-
sehen. Mit diesen verquollenen Teigbatzen wird der Körper des Erkrankten
großflächig abgerieben, um „Schäden auf und in der Haut abzuschälen, da-
mit Schäden (Intoxikationen oder Infekte?) nicht ins Körperinnere weiter
eindringen“. Die Teigklümpchen werden dann eingesammelt und teils ver-
brannt, teils Tieren verfüttert. Damit kann eine Befreiung von der Krätze,
vom Juckreiz und den Entzündungen erreicht werden, die bis zu 3 Monate
andauert.
In der Fruchtwand von Getreidekörnern finden sich pflanzeneigene Fun-
gizide brauner Eigenfarbe, die im Wesentlichen Gerbsäuren (Tannine) mit
Phenolkörpern enthalten. Solche werden durch die Schrotung freigesetzt,
wirken Eiweiß fällend und denaturieren die Keratine der oberen Epidermis.
Diese werden daraufhin mitsamt der Milben und Gänge abgeschält. Neuer-
dings werden ähnliche „Soft-Peelings“ durch geschrotete und verquollene
Traubenkerne als „Anti-Aging“-Masken propagiert.
Auch eine solche „pflanzenchemische“ Schälkur kann wiederholt werden
und sie ist nicht mehr abhängig von der Sonnenexposition. Sie ist allein
dem freien Rat und Willen der Priester und dem Handeln der Heiler unter-
worfen.
Krätzebehandlung also jetzt schon ohne direkte Mitwirkung des Sonnen-
gottes, allein durch priesterliches Vermögen und heilende Handlung. Eine
„Machtübertragung“ vom Sonnengott auf seine Priester!

Abb. 5. Skabies mit entzünd-


lichen Papeln und Schuppung
aufgereiht entlang der Gänge
bereichert durch Kratzeffekte
an den Fingern und deren
Zwischenräumen
Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze z 77

Die Krätze blieb dennoch weit verbreitet als ständiges Problem, im Alter-
tum, im Mittelalter und bis in die Neuzeit (Abb. 5), sie wurde gängig in
der Literatur und erst jetzt, dank der Verbesserung der hygienischen Um-
stände und Optimierung der Therapie, scheint sie im Rückgang. Neuer-
dings entwickeln sich in Pflegeeinrichtungen Nischen hartnäckiger Klein-
epidemien. Und nun steht das periphere Immunsystem der Haut, scheinbar
entbehrlich, bereit und hat nichts zu tun. Also erkennt es kleine, harmlose
Moleküle als Haptene, bindet sie an Proteine und präsentiert diese Komple-
xe dem Immunsystem als wären sie Antigene der Milben. Kontaktekzeme
sind die Folge, und diese haben enorm zugenommen. Chrom ist das Hap-
ten des Zementekzems, das einst wegen der ähnlichen Symptome „Zement-
krätze“ genannt wurde, und Nickel ein Hapten an Kleidung und im Mode-
schmuck, wodurch ein Drittel aller Jugendlicher Nickelallergien hat und
darunter schwer leidet. Nickelhaltiger Modeschmuck wird also verboten.
Skabies in der Geschichte und Geschichten über Krätze ohne Ende! Ge-
genwärtig sind immer noch mehr als 300 Millionen Menschen von Skabies
befallen, leiden also an Krätze.

z Danksagung: Herzlicher Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Stefan M. Maul,


Ordentlicher Professor für Assyriologie an der Universität Heidelberg

Literatur
1. Maul SM (2004) Die „Lösung vom Bann“, Überlegungen zur altorientalischen Kon-
zeption von Krankheit und Heilkunst
2. Stol M (1991–1992) Diagnosis and Therapy in Babylonian Medicine. JEOL 32:42–65
Hautkrebs bei alten Hochkulturen
M. Reitz

Krebs ist eine uralte Erkrankung, von der nicht nur Menschen, sondern
auch Tiere und Pflanzen befallen werden. Praktisch alle hoch entwickelten
vielzelligen Organismen mit differenzierten Zellen können von einer Krebs-
erkrankung betroffen sein. Die ältesten Hinweise auf Krebserkrankungen
stammen von fossilen Saurierknochen. Auch bei den Vorläuferformen des
Menschen kam Krebs vor. In Kenia wurden 1932 Teile des Skelettes eines
Australopithecus gefunden. Zum Skelett gehörte auch ein fossiler Kiefer-
knochen, bei dem Ärzte die Spuren eines Burkitt-Lymphoms vermuten. Es
kann angenommen werden, dass Krebserkrankungen die gesamte mensch-
liche Evolution begleitet haben [1].

Hautkrebs bei den ersten Schmieden?

Beim modernen Homo sapiens können Krebserkrankungen bis in die vor-


historische Zeit zurückverfolgt werden. Der Nachweis gelingt dabei einer-
seits über einen direkten Weg, bei dem Knochen- und Mumienfunde ana-
lysiert oder uralte ärztliche Dokumente ausgewertet werden. Andererseits
gibt es aber auch einen indirekten Weg, um auf mögliche frühe Krebs-
erkrankungen zu schließen. Die ersten Schmiede arbeiteten mit Arsenbron-
zen und kannten noch keine Zinn- oder Bleibronzen. Es ist wahrscheinlich,
dass der Kontakt mit Arsen neben anderen Erkrankungen auch Hautkrebs
auslöste. Der Gott der Schmiede trägt zum Beispiel viele Namen; bei den
Griechen heißt er Hephaistos, bei den Römern Vulkan und bei den Germa-
nen Wieland (Abb. 1). Wenn auch die Namen verschieden sind, die Person
des Gottes ist in allen frühen Kulturen nahezu identisch. Der Gott der
Schmiede hinkt in den Beschreibungen oder fällt durch Lähmungen in ver-
schiedenen Körperbereichen auf. Da die frühen Hochkulturen in ihren
Schmelzöfen für Metalle noch keine hohen Temperaturen erreichen konn-
ten, wurde der halb geschmolzene Kupfer- und Arsenanteil zunächst zur
echten Bronze verhämmert und eignete sich erst anschließend für einen
Gebrauch. Unter Lufteinfluss oxidiert Arsen allerdings sehr rasch und geht
direkt vom festen in einen gasförmigen Zustand über. Die frühen Schmiede
arbeiteten deshalb in einer Giftwolke aus Arsen und ruinierten ihre Ge-
sundheit. Die Vorbilder zum Gott der Schmiede waren sicherlich frühe
Hautkrebs bei alten Hochkulturen z 79

Abb. 1. Hephaistos, der griechische Gott der


Schmiede, hatte lahme Beine und konnte nur im
Sitzen seiner schweren Arbeit nachgehen. Dar-
gestellt ist eine griechische Trinkschale aus dem 5.
Jahrhundert v. Chr.

Meisterschmiede, und diese Männer waren häufig krank. Die Mythen be-
schreiben bei ihnen zwar nur Lähmungen, doch wahrscheinlich litten sie
auch an durch Arsen ausgelöste Hautkrebserkrankungen. Es fällt auf, dass
ab dem 3. Jahrtausend vor Christus die Arsenbronzen langsam verschwan-
den und nach und nach durch Zinn- und Bleibronzen abgelöst wurden [2].

Melanomerkrankungen der ersten Inka

In manchen frühen Knochenfunden können Metastasen eines Melanoms


nachgewiesen werden (Abb. 2). Dabei lassen sich über die Häufigkeit von
Melanommetastasen in Knochen genetische Anpassungen an ein Leben un-
ter hoher Belastung durch UV-Strahlungen nachweisen. Bei der Entwick-
lung eines Melanoms gibt es eine starke genetische Komponente. Hellhäuti-
ge und blonde Menschen erkranken schneller und häufiger als dunkelhäu-

Abb. 2. Schädel aus der frühen Inka-Zeit, gefunden


in Peru. Im Schädelknochen sind die Metastasen ei-
nes Melanoms zu erkennen (aus: Cancer 19:609
[1966]).
80 z M. Reitz

tige und dunkelhaarige. In Australien sind zum Beispiel die europäischen


Einwanderer und ihre Nachkommen viel häufiger von einem Melanom be-
troffen als die Ureinwohner. Bei den heutigen Nachfahren der Inka in Peru
ist ein Melanom recht selten. Die Menschen der Hochanden sind genetisch
an die intensive UV-Bestrahlung der Sonne angepasst und erkranken weni-
ger oft als Europäer an Hautkrebs. In uralten Knochenfunden aus der
frühen vorkolumbianischen Inka-Zeit lassen sich jedoch häufiger als bei
den gegenwärtigen Nachkommen der Inka die Folgen von Melanommetas-
tasen am Schädelknochen nachweisen. Durch Altersbestimmungen der
Knochenfunde wird vermutet, dass die Vorfahren der heutigen Bewohner
erst vor rund 3000 Jahren in den Hochanden einwanderten. Diese Men-
schen waren genetisch noch nicht an eine hohe UV-Bestrahlung angepasst
und erkrankten wesentlich häufiger an einem Melanom als ihre heutigen
Nachkommen. Durch diese Anpassung konnte der Mensch dauerhaft die
Anden besiedeln und sogar eine Hochkultur erschaffen [1].
Vor den Inka lebte in Peru das Volk der Mochica, die sehr geschätzte Ke-
ramikarbeiten hinterließen. Viele Gefäße haben die Form von Menschen
und Menschenköpfen, wobei die Künstler großen Wert auf realistische Dar-
stellungen legten. Dabei wurden auch kranke Menschen abgebildet. Es gibt
unter den Keramiken Menschen mit Hasenscharten oder einem Sarkom im
Gesicht. Manche im Ton dargestellte Hautveränderungen lassen auf unter-
schiedliche Hauterkrankungen schließen, zu denen möglicherweise auch
Hautkrebs gehören könnte. Bei einer Figur glauben Fachleute sogar die
Spuren einer Syphilis-Infektion zu erkennen. Diese Figur wäre damit ein
denkbarer Beleg, dass sich die Syphilis, wie häufig angenommen, in Ame-
rika entwickelt hat und nach der Entdeckung Amerikas in Europa einge-
schleppt wurde [4].

Hautkrebs im alten Ägypten

In der frühen Antike wurden Krankheiten als eine Strafe der Götter oder
als ein göttliches Zeichen gewertet. In Erzählungen der altägyptischen Lite-
ratur hadern viele Patienten mit ihren Göttern und beklagen, warum gera-
de sie so schwer erkrankt sind. Behandelt wurde mit Magie und Zauberei,
aber es gab auch erste wissenschaftliche Ansätze. Manche Arzneimittel ver-
blüffen sogar noch heute. Für Reisende durch Wüstengebiete wurde die
Krautwurzel „Ami-Majos“ empfohlen. In diesem Kraut isolierten später
Chemiker den Wirkstoff 8-Methoxypsoraten, der vor einem Sonnenbrand
schützt. Gut erreichbare Krebserkrankungen wurden entweder heraus-
geschnitten oder ausgebrannt. Es ist wahrscheinlich, dass solche Therapie-
maßnahmen auch beim Hautkrebs angewendet wurden [3].
An uralten Mumien können noch heute manchmal Krebserkrankungen
diagnostiziert werden, die mit Knochen nicht in Verbindung stehen. Gera-
de altägyptische Mumien bilden hier ein breites Untersuchungsfeld
Hautkrebs bei alten Hochkulturen z 81

Abb. 3. Kopf der Mumie von


Pharao Ramses II. (ca.
1280–1210 v. Chr.). Der Pharao
hatte rote Haare, die im Alter
mit Henna nachgefärbt wur-
den. Er litt an Arthrose und
Arterienverkalkung, daneben
hatte er Zahnprobleme (Ägyp-
tisches Nationalmuseum, Kairo)

(Abb. 3). An diesen oft rund 5000 Jahre alten Toten tauchen sogar Raritä-
ten auf. An zwei altägyptischen Mumien wurden beispielsweise Deforma-
tionen gefunden, die auf ein 1960 erstmals beschriebenes Gorlin-Syndrom
hinweisen. Bei diesem Syndrom können multiple Hauttumoren auftreten,
so dass die Erkrankung auch Basalzellnävoidsyndrom heißt. Beide männ-
liche Mumien sind wahrscheinlich Brüder gewesen, denn die Erkrankung
besitzt eine genetische Komponente und tritt mit einer Häufigkeit von
1 : 50 000 sehr selten auf [1].

Der Tumor des Gottes Xensu

Nach der Erfindung der Schrift wurden zahlreiche Dokumente überliefert,


die ebenfalls auf frühe Krebserkrankungen hinweisen. Sie bieten gute Ergän-
zungen zu den direkten Analysen von Mumien und Knochenfunden. Die äl-
testen Hinweise stammen von Ärzten aus Ägypten und Mesopotamien. Im al-
tägyptischen Papyrus Ebers wird bereits zwischen verschiedenen Krebs-
erkrankungen unterschieden, und im Papyrus Edwin Smith werden sogar
Operationstechniken zur Behandlung von Krebspatienten erwähnt (Abb. 4).
Der Papyrus Kahoun beschreibt schließlich genau die Symptome eines Ge-
bärmutterkrebses der Frau. Altägyptische Ärzte wussten auch, dass unbehan-
delte Tumoren dem Patienten manchmal eine längere Lebenserwartung si-
chern konnten als eine ausgiebige medizinische Behandlung wie etwa das
Ausschneiden und Ausbrennen oder das Auftragen von bestimmten Salben,
die akut gefährlicher sein konnten als die Krebserkrankung selbst. Der Papy-
rus Ebers [3] schreibt: „ . . . Es ist ein Tumor des Gottes Xensu. Lege nicht
Hand gegen ihn an . . . “ Heute vermuten Ärzte im gut beschriebenen „Tumor
des Gottes Xensu“ ein Kaposi-Sarkom. Hier wussten die Ärzte der Pharao-
nenzeit, dass sie mit ihrer Kunst am Ende waren (Abb. 5).
Insbesondere für die Behandlung von Hautkrebs wurden im alten Ägyp-
ten und Mesopotamien giftige Kräuterpasten mit manchmal beigemischten
82 z M. Reitz

Abb. 4. Geräteschrank eines ägypti- Abb. 5. Ausschnitt aus dem Papyrus Ebers (um 1600
schen Arztes aus der Antike, Darstel- v. Chr.). Der Papyrus beschreibt bereits unterschiedliche
lung an einer Tempelmauer. Manche Krebserkrankungen und gibt auch Anweisungen für et-
Geräte wie Zangen oder Haken wir- wa 900 Medikamente auf der Grundlage von Pflanzen
ken erstaunlich modern (Tempel von und Mineralien. Er ist in hieratischer Schrift verfasst.
Kom Ombo) Hieroglyphen stellten eine amtliche Dokumentenschrift
dar und wurden im Alltag selten verwendet (Univer-
sitätsbibliothek, Leipzig)

Teer- und Arsenzusätzen entwickelt, um das Operationsfeld zu bestreichen.


Im alten Indien gab es eine Creme auf der ausschließlichen Grundlage von
Arsen, und altchinesische Mediziner behandelten Geschwülste mit Queck-
silber. Früh war bekannt, dass Hautkrebs stets großzügig operiert werden
musste und es notwendig war, auch das auf den ersten Blick noch gesunde
Nachbargewebe zu entfernen. Aufgrund seiner großen Erfahrungen schrieb
der Grieche Hippokrates, einer der Väter der modernen Medizin: „ . . . Es ist
besser, den verborgen liegenden Tumor nicht zu behandeln; denn werden
sie behandelt, sterben die Patienten sehr bald, bleiben sie jedoch unbehan-
delt, so leben sie noch eine lange Zeit“ (Aphorismus Nr. 38). Die heute
übliche Bezeichnung „Krebs“ stammt von dem Römer Galen, der in seinen
bis in das Mittelalter gültigen Schriften bereits zwischen 60 verschiedenen
Krebserkrankungen unterschied. Galen hatte beobachtet, dass beim fort-
geschrittenen Brustkrebs das krankhafte Gewebe oft wie der Körper eines
Krebses aussah und die Blutgefäße zur Versorgung des krankhaften Gewe-
bes an die Beine eines Krebses erinnerten [4].
Hautkrebs bei alten Hochkulturen z 83

Kosmetika und Hautkrebs

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die in den alten Hochkulturen üblichen


Kosmetika die Entwicklung von Hautkrebs gefördert haben. Die schwarze
Schminke der Ägypterin wurde aus Bleiglanz hergestellt. Heute ist bekannt,
dass Blei krebserregend sein kann. Für ihre Kosmetika und Salben er-
schlossen die Ägypter sogar weite Handelswege. Manche ihrer Salben ent-
hielten beispielsweise Antimon, das in der Antike fast nur am Fluss Sam-
besi tief im Inneren von Afrika gefunden wurde. Andere Zutaten wie etwa
die Rinde des Zimtbaumes oder Pfefferkörner kamen über Zwischenhänd-
ler vermutlich aus Indien oder China. Im alten Indien hellten Frauen der
Oberschicht ihre Haut mit einer Creme aus Bleiweiß (Bleioxid) auf. Sie
stellten damit ihren Reichtum zur Schau und demonstrierten, dass sie es
nicht notwendig hatten, im Freien zu arbeiten. Im römischen Reich spitz-
ten Frauen der Oberschicht schließlich den Kosmetikkult mit damals noch
unbekannten giftigen Inhaltsstoffen noch weiter zu. Poppaea, die Ehefrau
von Kaiser Nero, benutzte Bleiweiß zum Aufhellen der Haut nahezu täglich.
In der Nacht trug sie eine Gesichtsmaske aus Bohnenbrei, der am Morgen
durch ein Bad in Eselsmilch wieder entfernt wurde. Danach ließ sie sich
den Körper mit weißem Kalk pudern und das Gesicht mit Bleiweiß salben.
Wangen und Lippen wurden zuletzt mit einem grellen Rot überdeckt. Da
die Kaiserin für reiche Römer ein Vorbild war, haben sicherlich viele Frau-
en ihre Gesichtshaut regelmäßig mit Bleiweiß strapaziert und damit man-
che Krebserkrankung ausgelöst [2].

Literatur
1. Greaves M (2003) Krebs – der blinde Passagier der Evolution. Springer, Berlin
2. Reitz M (2003) Auf der Fährte der Zeit. Wiley-VCH, Weinheim
3. Thorwald J (1962) Macht und Geheimnis der frühen Ärzte. Droemer Knaur,
München
4. Toellner R (2000) Illustrierte Geschichte der Medizin. Bechtermünz, Augsburg
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode –
Krankheitsbürde – Lebensqualität
oder: Was uns die Schuppenflechte Prominenter lehrt
H. Meffert, E. Rowe

Einleitung

Winston Churchill (1874–1965), der Einsiedler Elias (um 1230 bei Eise-
nach), Art Garfunkel (geb. 1941), Karin Holstein (Geburtsjahr unbekannt),
Zarah Leander (1907–1981), Jean Paul Marat (1743–1793), Vladimir Nabo-
kov (1899–1977), der Feldhauptmann Naaman (Altes Testament, 2 Könige
5, 1–14), Dennis Potter (1934–1995), Romy Schneider (1938–1982), Jossif
Wissarionowitsch Stalin (1879–1953), August Strindberg (1840–1912), John
Updike (geb. 1932) und viele weitere Berühmtheiten sollen an Psoriasis ge-
litten haben. Die Schuppenflechte ist eine weit verbreitete Krankheit. Des-
halb ist es keineswegs verwunderlich, wenn auch besonders Schöne, Reiche,
Kluge, Berühmte, Boshafte oder Einflussreiche von ihr nicht verschont blei-
ben.
Doch was kümmert den gewöhnlichen Sterblichen – ob an Psoriasis er-
krankt oder nicht – die Schuppenflechte Prominenter? Er sollte sich dafür
interessieren. Dann wird er staunend erkennen, dass man es trotz und viel-
leicht auch gerade wegen Psoriasis beispielsweise bis zum Idol bringen
kann. Auf welche Art und Weise kommt eine solche unerwartete Karriere
zustande? Glücklicherweise sind nicht wenige Prominente extrovertiert.
Frank und frei plaudern sie über ihre Erfahrungen mit der Krankheit. An-
dere sind zudem noch sensibel. Von ihnen kann man Unerwartetes, gar Er-
staunliches über Schaden und Nutzen (!) der Krankheit hören. Das geht so
weit, dass einige davon überzeugt sind, es ohne Psoriasis nie so weit ge-
bracht zu haben.
Niemand kann den Eindruck, den der Arzt und seine Mitarbeiter auf
den Betroffenen machen, so gut formulieren wie ein wortgewaltiger
Künstler. Nebenbei bemerkt ist der Zorn der freien Rede zudem für den
Redner heilsam und deshalb in solchen Fällen erwünscht. Kommt dann
noch ein bei Prominenten gar nicht so seltener Mangel an Zurückhaltung
hinzu, so können gerade wir Hautärzte aus derartigen Schilderungen erfah-
ren, wie wir gar nicht so selten gesehen werden. Das wiederum ist lehr-
reich und nützlich.
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 85

Jahrtausendelang verkannt und verwechselt

Im Altgriechischen bedeutet Psora soviel wie Jucken, Krätze oder auch


Räude. Die Bezeichnung wurde zeitweilig für Hautkrankheiten wie Skabies,
Impetigo, Tinea oder Lepra verwandt. Noch heute kommt es vor, dass Pso-
riasis mit Lepra verwechselt wird. Dieser Irrtum hat Lebensläufe drama-
tisch verändert. Erst Robert Willan (1757–1812) und Ferdinand von Hebra
(1816–1880) grenzten die Psoriasis vulgaris von der Lepra ab und definier-
ten sie im heutigen Sinne. Willan bezeichnete einzelne, großflächige Herde
noch als Lepra Graecorum, konfluierende Herde als Psora leprosa [1].
Leitlinien der Lepra-Diagnostik und die Beschreibung sozialer Kon-
sequenzen der Erkrankung finden sich bereits im Alten Testament. Entsteht
aber auf der Glatze des Hinterkopfes oder über der Stirn ein hellroter Fleck,
so ist es Aussatz . . . Der Priester muss ihn für unrein erklären; er ist an sei-
nem Kopf von Aussatz befallen. Der Aussätzige . . . soll eingerissene Kleider
tragen und das Kopfhaar ungepflegt lassen; er soll den Schnurrbart verhül-
len und ausrufen: Unrein! Unrein! . . . Er soll abgesondert wohnen, außerhalb
des Lagers soll er sich aufhalten [2].
Es muss auch angenommen werden, dass nicht wenige als aussätzig fehl-
diagnostizierte Psoriatiker in der Notgemeinschaft der Leprakranken tat-
sächlich an Lepra erkrankten und daran verstarben.
Ein Wunder trug sich zu bei einem prominenten Kranken. Naaman, der
Feldherr des Königs von Aram, . . . war tapfer aber an Aussatz erkrankt. Eli-
scha ;. . . ließ ihm sagen: Geh und wasche dich siebenmal im Jordan! Dann
wird dein Leib wieder gesund, du wirst rein . . . So ging er also zum Jordan
hinab und tauchte siebenmal unter . . . Da wurde sein Leib gesund wie der
Leib eines Kindes und er war rein [3]. Das siebenmalige Bad im Jordan

Abb. 1. Die sieben Werke der Barmherzigkeit der


Heiligen Elisabeth. Wandgemälde auf der Wartburg
von Moritz von Schwind. In: Kunstgaben für Schule
und Haus. Herausgegeben von W. Günther (Ham-
burg), Heft 14. Verlag von Georg Wigand, Leipzig
1911
86 z H. Meffert, E. Rowe

war eine kurmäßige Anwendung, die mit aller Wahrscheinlichkeit tagsüber


am sonnigen Ufer des Flusses stattfand. Vielleicht handelt es sich hier so-
gar um die Erstbeschreibung der Balneophototherapie der Psoriasis. Denn
damals war Lepra eine progrediente, unheilbare Krankheit. Der Feldhaupt-
mann Naaman aber genas. Das hatte er mit dem Einsiedler Elias, genannt
der arme Eli, gemein [4]. Dessen wundersame Heilung vom angeblichen
Aussatz wurde allerdings nicht der Heilkraft eines besonderen Bades zuge-
schrieben, sondern aufopfernder Pflege und Salbenbehandlung, die ihn bis
ins Bett der Elisabeth von Thüringen gelangen ließ (Abb. 1).

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel

In der Regel bricht die Schuppenflechte erstmals im frühen Erwachsenen-


alter aus. Dann schlägt sie ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Dem Be-
troffenen wird klar, dass ab sofort ein wesentlicher Part in seinem Leben
von einer unerwarteten Größe übernommen wurde – von seiner Psoriasis.
Die Auseinandersetzung mit der Krankheit beginnt oft heftig, gefolgt von
depressiver Verstimmung, begleitet von immer wieder aufkeimender Hoff-
nung und zeitweiliger Resignation. Die Reaktion der Umgebung wie auch
therapeutische Erfolge und Misserfolge modifizieren den langwierigen Vor-
gang, der als Krankheitsverarbeitung bezeichnet wird. Die Mehrzahl der
behandelnden Ärzte geht davon aus, dass aktive Auseinandersetzung be-
sonders günstig ist. Der Erkrankte soll zum gelernten Psoriatiker (Otto
Braun-Falco) werden, indem er sich umfassend informiert über das Wesen
der Erkrankung, über Remission und Rezidiv, Therapie, auslösende Fak-
toren, über vorteilhaftes Verhalten in Alltag, Beruf, Freizeit und Urlaub.
Aus freimütigen Schilderungen Prominenter lässt sich hierzu Wesentliches
erfahren. Das betrifft vor allem die Formen der Auseinandersetzung mit
der Krankheit und mit den veränderten Lebensbedingungen inklusive The-
rapie und Therapeut. Es betrifft auch die Frage, ob und wie die Schuppen-
flechte Einfluss auf den weiteren Lebensweg und wesentliche Aktivitäten
und Entscheidungen nehmen kann.

Die Schriftsteller
Im Kapitel „Aus dem Tagebuch eines Aussätzigen“ schildert John Updike
seine Psoriasis [5]. Der Verlauf der Krankheit ist wie folgt: Flecken, Placken
und Lawinen überschüssiger Haut, die von der Derma dank eines unbedeu-
tenden aber beharrlichen Fehlers in ihrem metabolischen Code produziert
werden, dehnen sich aus und wandern langsam über den Körper wie Flech-
ten auf einem Grabstein. Ich bin silbern, schuppig. Lachen abgeblätterter
Schuppen bilden sich, wo immer ich mich zur Ruhe lege. Jeden Morgen sau-
ge ich im Bett Staub. Meine Qual ist hauttief: keine Schmerzen, nicht mal
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 87

ein Jucken. Wir Aussätzigen leben lange und sind ironischerweise in anderer
Hinsicht gesund. Im Schub dominiert die Schuppenflechte nahezu alles, so
auch die Beschreibung des Hautarztes. Seine eigene Haut trägt die staubig
rosigen Reste von Sommersonnenbräune. Sein Kopf ist makellos kahl und
traumhaft glatt. Ich frage mich, welche Perversität ihn in die Dermatologie
getrieben hat. Die PUVA-Therapie löst ungewöhnliche Empfindungen aus.
Die Lichtbox hat sechs Seiten, die mit vertikalen Röhren bestückt sind. ...
Ein Röhren wenn es losgeht, so dass man astronautische Anwandlungen hat,
ebenso Anwandlungen von Absurdität, ein stehender Nackter wie in einem
„gewagten“ Stück, wo die Bühnenlichter die Zuschauer verschluckt haben. ...
Der Tanz ist kurz; die erste Dosis beträgt nur eine Minute. Die Box gibt ein
böses, tadelndes Schnurren von sich, wenn sie sich abstellt. Stets und ständig
versucht der Betroffene, die kranke Haut zu verbergen. Meine Hände
würden mich verraten, aber während des Essens bewege ich sie ständig, um
ihr Aussehen zu verwischen. Auch als sich die Haut unter PUVA-Therapie
zu bessern beginnt, bleibt die tief sitzende Furcht. Ich schildere meine Emp-
findung, dass der von meiner Haut verjagte Aussatz in tiefere Gewebe flieht
und dort nur darauf wartet, in noch ekelhafterer und teuflischerer Form
wiederaufzuerstehen. Gut eine Woche später ist die Haut glatt. Ich bin
schön. Ich ziehe mich dauernd wieder aus, um sicher zu sein. Sogar auf den
Schienbeinen ist der Aussatz verschwunden, ein feines Krakelee trockener
Haut hinterlassend, wie bei Tang-Porzellan, das Badeöl bessern wird.
Während John Updike seine Psoriasis ausführlich beschrieb, widmete
ihr Vladimir Nabokov in seinem Roman „Ada“ nur weniger als eine Seite
[6]. Dort geben sich zwei Psoriasiskranke Tipps: Quecksilber! Höhensonne
wirkt Wunder. Ansonsten werden noch heiße Bäder empfohlen, zweimal
monatlich oder des öfteren, und das Meiden von Gewürzen.
Ein Allgemeinmediziner sah die Psoriasis sogar als eine Metapher für
den kreativen Prozess an. Sie sei das Ergebnis der Implosion des Künstlers,
und die Romane über Psoriasis würden die Idee kultivieren, dass der pso-
riatische Plaque die Achillesferse des introvertierten Individualisten sei, ei-
nes Künstlers, der die Welt vom Elfenbeinturm seiner Psoriasis aus be-
trachtet [7].

Der Revolutionär
Der Arzt, Naturforscher, Verleger, Journalist und Berufsrevolutionär Jean-
Paul Marat und dessen Hautkrankheit wurden der Öffentlichkeit durch das
im Jahre 1964 in Berlin uraufgeführte Drama von Peter Weiss [10] wieder
ins Gedächtnis gerufen. Der gebürtige Schweizer Marat hatte in Paris Medi-
zin studiert und war dann zehn Jahre nach England und Wales gegangen,
wo er promovierte, zum Modearzt avancierte und auch über Optik und
Elektrizität publizierte. 1790–1792 verbarg er sich als Herausgeber einer ra-
dikal revolutionären Zeitschrift bis zum Sturz der Monarchie auch wörtlich
88 z H. Meffert, E. Rowe

Abb. 2. Die Ermordung des


Marat. Illustration aus [10]

im Untergrund von Paris. In dieser Zeit begannen seine Hautprobleme, bei


denen es sich am ehesten um Psoriasis, später Erythrodermia psoriatica,
gehandelt hat [8, 9]. Noch heute scheiden sich die Geister an der Frage ob
Marat ein Märtyrer oder Monster war. Seit 1774 verschlechterte sich der
Hautzustand rapide. Im Drama von Peter Weiss heißt es dazu:

Seine Haut ist flammig und gelb


weil von einem Ausschlag entstellt
Das kühle Wasser in dem er sitzt
lindert das Fieber das ihn erhitzt.

Entzündung und Juckreiz hatten zugenommen, Fieber war hinzugekom-


men. Um seine brennende Stirn zu kühlen, benutzte er ständig mit Essig-
wasser getränkte Binden. Die ebenfalls ständig gebrauchten Bäder sorgten
für Linderung des Juckreizes und senkten das Fieber. Daher verließ er die
von einem Tuch bedeckte Sitzbadewanne nur selten [10]. Es ist nicht be-
kannt, ob das Badewasser Zusätze enthielt. Marat wurde in seiner Bade-
wanne am 13. Juli 1793 von der Girondistin Charlotte Corday erstochen
(Abb. 2).

Der Politiker

Zeitlebens wurde Jossif Wissarionowitsch Stalin (Abb. 3) von Krankheiten


geplagt [11]. Mit sieben Jahren erkrankte er schwer an Windpocken, die
im Gesicht viele auffällige Narben hinterließen. Drei Jahre später wurde er
von einem Pferdewagen überfahren. Der linke Arm brach mehrfach. Nach
einer Osteomyelitis wuchs der Arm verkürzt und verkrümmt zusammen.
In den frühen zwanziger Jahren erkrankte Stalin vermutlich an Tuberkulo-
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 89

Abb. 3. Stalin, Churchill und


Roosevelt. Drei Männer, die die
Welt veränderten. Zwei davon
hatten Schuppenflechte. In:
Adatto M. Lebendige Haut.
Schmucktätowierungen und
Dermatologie. Editiones Roche,
Basel 1993.

se. 1953 erlitt er einen Schlaganfall, den seine Tochter Swetlana und sein
Nachfolger N. S. Chruschtschow dokumentierten. Es wird angenommen,
dass Stalins Tod durch Vergiftung herbeigeführt wurde.
Im Jahre 1990 gab der langjährige sowjetische Gesundheitsminister B.
Petrowski der Zeitschrift „Ogonjok“ ein Interview, in dem er aussagte, dass
Stalin seit früher Jugend an Schuppenflechte litt. Stalins Sekretär und Dol-
metscher von 1942 bis 1954, V. Bereskow, hatte „weißliche, hautartige
Stücke an den Schultern und verfärbte Flecken an den Händen“ beobachtet.
Der Dichter Osip Mandelstam schrieb 1934 von den „feisten, wurmartigen
Fingern des Kreml-Bewohners“. Stalin reagierte äußerst wütend und ließ
Mandelstam nach Sibirien verbannen, wo dieser verstarb.
In den dreißiger Jahren wurde Stalins Psoriasis erstmals mit „Lysaten“
behandelt. Das sind Produkte aus verschiedenen Organen, die im sauren
Milieu unter hohem Druck durch Einwirkung proteolytischer Enzyme ent-
stehen. Es wurde behauptet, dass Lysate die Funktionen ihres Ursprungsor-
gans spezifisch stimulieren könnten. So sollten z. B. Hühner durch Lysate
aus Eierstöcken zum Legen von mehr Eiern veranlasst werden und Kühe
durch Lysate aus Brustdrüsen mehr Milch produzieren. Es ist nicht be-
kannt, ob die therapeutisch eingesetzten Lysate tierischen oder mensch-
lichen Ursprungs waren.
Hergestellt wurden solche Lysate im Institut des Allgemeinarztes I. N.
Kasakow. Den Worten eines seiner Mitarbeiter zufolge war dieser „ein
Quacksalber, für den es unheilbare Krankheiten nicht gibt.“ Nach der Re-
mission der Stalin’schen Schuppenflechte wurde das Moskauer Staatliche
Institut für Haut- und Geschlechtskrankheiten flugs in ein so genanntes
Stoffwechsel-Institut umgewandelt und an Kasakow übergeben. Bald rezidi-
vierte Stalins Schuppenflechte. Neuerliche Behandlungsversuche mit Lysa-
ten schlugen fehl. Kasakow fiel in Ungnade und geriet mit anderen russi-
schen Prominentenärzten in den Strudel der „Großen Prozesse“. Damals
stabilisierte Stalin seine Macht, indem er sich echter und vermeintlicher
Feinde in Schauprozessen entledigte. Wie die anderen angeklagten Ärzte
90 z H. Meffert, E. Rowe

wurde Kasakow unmittelbar nach dem Schuldspruch „wegen Mordes“ hin-


gerichtet.
Es drängt sich die Frage auf, ob Stalins ungeheuerliche Aktivitäten in ur-
sächlichem Zusammenhang mit seiner Schuppenflechte gesehen werden
dürfen. Wohl nicht. Aber das pockennarbige Gesicht und der verunstaltete
Arm mögen negative psychische Auswirkungen gehabt haben, die sein pa-
ranoisches Verhalten gegenüber den Ärzten und seine Furcht vor der Medi-
zin erklären könnten. Übrigens steht in den Krankenakten auch, dass Stalin
1,62 m groß war und kurze, krumme Beine hatte.

Die Sängerin

Es gibt Melodien, Ohrwürmer, denen man sich einfach nicht entziehen kann.
Auch dann nicht, wenn man mit dem Verständnis des zugehörigen Textes so
seine Schwierigkeiten hat. Immer wieder widmen die Medien ihre Aufmerk-
samkeit Zarah Leander, der Schwedin mit der sonoren, wodka-, später whis-
ky-geschwängerten Stimme. Das liegt wohl einerseits an den nach wie vor
verführerischen Melodien, die zumeist von Michael Jary komponiert worden
waren und später auch von Udo Lindenberg, Nina Hagen, Erika Pluhar, Mil-
wa, Romy Haag und André Heller gesungen wurden. Andererseits geht es um
Vergangenheitsbewältigung. Es hieß, Zarah Leander sei eine Diseuse von
Goebbels Gnaden gewesen. Möglicherweise hatte der Reichspropagandami-
nister die beliebte UFA-Schauspielerin auserkoren, um Hollywood-Stars wie
Greta Garbo und Marlene Dietrich vergessen zu machen.

Abb. 4. Zarah Leander im Alter von 49 Jahren. In:


Seiler P. Ein Mythos lebt. Zarah Leander. Verlag
Druckpunkt, Berlin 1991
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 91

Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n. Nach der Lektüre des Buchs
der Tochter Michael Jarys [12] erscheint es plausibel, dass das erwartete
Wunder mit der gleichermaßen unerschöpflichen wie unerfüllten Liebe zu
Michael Jary zu tun haben sollte. Davon geht die Welt nicht unter, sieht
man sie auch manchmal grau. Diese Zeile aus einem weiteren Erfolgstitel
der Leander passt recht gut zu einem Menschen, der sich unverzagt mit ei-
ner hartnäckigen Krankheit auseinandersetzt. Vor nahezu 30 Jahren hatte
Heinz-Egon Kleine-Natrop, Hautarzt in Dresden, die Schuppenflechte der
Leander erwähnt [13]. Auf einem Schwarzweißfoto der 49-jährigen finden
sich besonders auf der Stirn zahlreiche, an Sommersprossen erinnernde
Flecke (Abb. 4). Einige davon sind deutlich größer, bizarr begrenzt und un-
terschiedlich pigmentiert. Diese so genannten PUVA-Sommersprossen sind
die Folge übermäßiger UV-Einwirkung, beispielsweise nach jahrelanger
UV-Therapie.
Den Kinogängern wie den Leander-Biographen blieb diese Seite ihres
Idols verborgen. Doch in den Memoiren der Diva kommt das Wort „Pso-
riasis“ vor, wenn auch nur ein einziges Mal: Da leide ich zeitweise an Pso-
riasis, einer zwar nicht lebensgefährdenden Krankheit, die aber einen stän-
digen Juckreiz hervorruft [14]. Sie dissimuliert. Zeitweise bedeutet rezidivie-
rend, und ständiger Juckreiz spricht für eine aktive Phase der Erkrankung.
In den letzten Lebensjahren machte ihr Arthritis (psoriatica?) zu schaffen.
Obwohl sie ihre Psoriasis verbarg und als eher unwesentlich herunterspiel-
te, hatte sie sich offensiv mit ihr auseinander gesetzt.

Das Fotomodell

Ihr Leben mit der Schuppenflechte schildert Karin Holstein in „Cover Girl
Uncovered – A Woman’s Journey“ [15]. Schon im Alter von sechs Jahren
war das Kind wohlhabender Eltern im Westdeutschland der Nachkriegszeit
an Psoriasis erkrankt. Seitdem war das Verbergen befallener Haut eine im-
mer wiederkehrende, qualvolle und perfektionierte Übung im erfolgreichen
wie glamourösen Leben des prominenten Fotomodells. Die Behandlung
dieser Schuppenflechte kann zunächst mit „Meer und Sonne“ beschrieben
werden. Darüber hinaus blieben ihr unangenehme Erinnerungen an eine
misslungene Teerbehandlung in der Kindheit. Als Schülerin in Paris über-
zeugte sie ein befreundeter plastischer Chirurg davon, dass sie die Schup-
penflechte mit den Lieblingsspeisen Käsekuchen und Schokolade nie los-
werden würde. Stattdessen solle sie Früchte, Gemüse, Körner, Fisch, wenig
rotes Fleisch und keine Süßigkeiten essen. Der Wechsel im Speiseplan und
viel Bewegung wirkten wunderbar. Begriffe wie „Therapie“ oder „Dermato-
loge“ kommen im Buch der Enkelin eines Arztes nicht vor.
Es blieb die Furcht vor dem Entblößen des sorgsam Verdeckten. Erst das
gefragte Fotomodell erlebte die Befreiung von dieser Furcht. Das geschah
unerwartet. Sie war dem Meer und der Sonne mehr als drei Monate fern
92 z H. Meffert, E. Rowe

geblieben und ihre Hände stark von Psoriasis gezeichnet. In dieser Situati-
on hatte ein besonders reputierter Juwelier ein Werbephoto gewünscht, auf
dem das Fotomodell mit einem Ring und passenden Ohrringen nebst Kette
zu sehen sein sollte. Verzweifelt lehnte sie ab. Sehen Sie sich meine Hände
an! Den Juwelier beeindruckte das nicht. Ist das alles? Kein Problem. Wir
lieben Ihr wunderbares Gesicht. Wen interessieren schon Ihre Hände! Wir
werden ein Hand-Modell heranholen. Mit diesen wenigen Sätzen war jahre-
langer Kummer hinweg gefegt. All’ die Beleidigungen und die als junges
Mädchen erduldeten Hänseleien verschwanden in diesem Moment.
Es bleibt eine Frage. Wurden Dithranol, Jadassohn’sche Kopfsalbe, Korti-
kosteroide, Etretin, UVB und PUVA nicht erwähnt, weil alle diese komplett
versagt hatten? Oder war die intelligente, zielstrebige, energische und wohl-
habende Frau jahrzehntelang ausschließlich von Ärzten behandelt worden,
deren Spezialkenntnisse Psoriasis nicht betrafen? Prominente scheinen ge-
legentlich prädestiniert zu sein, von wohlmeinenden, befreundeten oder
verwandten, leider aber auch inkompetenten Ärzten abgeschirmt zu wer-
den.

Krankheitsbürde und Lebensqualität


Erfreulicherweise nimmt das öffentliche Interesse an der Last, die dem Be-
troffenen und der Gesellschaft von der Psoriasis aufgebürdet wird, zu. In
letzter Zeit wurden mehrere Analysen zum Thema Krankheitslast und Le-
bensqualität zugänglich. Bei deren Bewertung sollte man die Interessenlage
und den Blickwinkel der Untersucher bzw. deren Auftraggeber nicht außer
Acht lassen. So interessieren
z die Betroffenen vor allem die krankheitsbedingten Belastungen in Beruf
und Privatleben, die sie selbst auch am besten beurteilen können. So
kommentiert PSOaktuell – der Ratgeber bei Schuppenflechte – auf Seite
9 in Heft 2/2004 die Aussetzung der Haftstrafe für den Psoriasiskranken
und einstigen Firmenchef des Ölkonzerns Elf, Loik Le Floch-Progent:
Und das kann ehrlichen Leidensgefährten des Wirtschaftskriminellen in
sofern Recht sein, als damit auch juristisch anerkannt wird, dass Schup-
penflechte ohne Verschulden schon Strafe genug sein kann
z viele Politiker und diejenigen, die über die Verwendung des bei den
Krankenkassen abgelieferten Geldes entscheiden, insbesondere Einspa-
rungsmöglichkeiten
z die Hersteller und Vertreiber von Medikamenten insbesondere die mit
maximalem Gewinn medikamentös zu behandelnden Fälle. Und so wei-
ter und so fort.

Hier sollen vor allem Strategie und Taktik des Lebens mit der Krankheit
besprochen werden. Sollte man die offensive Auseinandersetzung suchen
und als bekennender Psoriatiker auftreten? Oder ist es besser, die kranken
Psoriasis – Politik – Kunst – Mode – Krankheitsbürde – Lebensqualität z 93

Stellen zu verbergen und alle Gedanken an die Krankheit zu verdrängen?


Denn auch Gedanken können kränken. Psoriasis ist vielgesichtig [16]. Ihr
Spektrum reicht vom nicht diagnostizierten Plaque am Ellenbogen bis zur
Erythrodermie mit Arthritis psoriatica. Einige der hier genannten Pro-
minenten litten so stark, dass sie das der Öffentlichkeit mitteilten.
Subjektiv wird auch die schwer verlaufende Psoriasis unterschiedlich be-
wertet, von davon geht die Welt nicht unter [14] bis zu Inferno [17]. Nicht
der objektive Befund ist ausschlaggebend sondern die Krankheitsbürde.
Es fehlt nicht an Versuchen zur Etablierung verlässlicher Maßstäbe, um
die Gesamtbelastung durch Psoriasis in Zahlen umsetzen zu können. Das
versprechen Verfahren, die eine Gesamtschau über klinischen Schweregrad,
Lebensqualität und Dysstress ermöglichen sollen. Die nach wie vor auffäl-
ligen Unterschiede zwischen den Ergebnissen der Bestimmung klinischer
Schweregrade und denen der überwiegend psychologisch-soziologisch ori-
entierten Methoden wurden als Hinweis auf die Notwendigkeit einer noch
umfassenderen Bewertung der Psoriasis interpretiert [18]. Auch das sinn-
volle Wichten der Faktoren dürfte eine wahre Kunst sein.
Erhebliche Unterschiede zwischen der messbaren Ausprägung der Er-
krankung und der Krankheitsbürde können bereits anhand statistischer
Daten definiert werden. Von den 4,5 Millionen Psoriasiskranken in den
USA sind mehr als 1 Million mit ihrer gegenwärtigen Behandlung zutiefst
unzufrieden; doch nur bei 5% von letzteren war die Haut großflächig
(mehr als drei Handteller) befallen [19]. Die 3753 befragten, meist leicht
bis mittelschwer erkrankten Mitglieder des Deutschen Psoriasisbundes
empfanden die Einschränkung ihrer Lebensqualität zu 25% als geringgra-
dig, zu 60% als problematisch und zu 15% als stark [20].
Die besprochenen Biographien Prominenter zeigen, dass diese – soweit
bekannt – mit ihrer Schuppenflechte um so besser zurecht kamen je früher
und intensiver sie sich mit ihr auseinander setzten. Andere verbargen die
Schuppenflechte aus Scham oder Karrieregründen und litten deshalb – so-
weit bekannt – unnötig und übermäßig. Es ist schon erstaunlich, wie wenig
auch manche ausgesprochen intelligenten, zielstrebigen und wohlhabenden
Personen über ihre Psoriasis wissen.
Dagegen kennt und vermeidet der informierte Psoriasiskranke auslösen-
de Faktoren und weiß um den chronisch-rezidivierenden Verlauf. Er kennt
auch zumindest diejenigen therapeutischen Maßnahmen, die ihm beson-
ders gut oder schlecht bekommen. Er hat bessere Chancen, einen speziali-
sierten Therapeuten zu finden, wie auch therapeutische Handlungen sach-
kundig vorzunehmen. Therapie-Erfolge geben Lebenskraft. Auch vermeidet
der informierte Kranke Enttäuschung infolge unerfüllbarer Erwartungen.
Die zitierte [17], tiefe Unzufriedenheit von Kranken mit nur kleinflächigem
Befall der Haut reflektiert ein Missverhältnis von Erwartung und Möglich-
keit.
94 z H. Meffert, E. Rowe: Psoriasis / Politik / Kunst / Mode / Krankheitsbürde / Lebensqualität

Summa summarum sprechen die hier angeführten Biographien dafür, den


mühsamen Weg zum informierten Betroffenen um so früher und kon-
sequenter einzuschlagen, je stärker die Krankheitsbürde drückt. Der infor-
mierte Psoriatiker kennt seine Krankheit, kann mit ihr und ihrer Behand-
lung gut umgehen und kämpft erfolgreich um seinen beruflichen und so-
zialen Status.

Literatur
1. Willan R. Descriptio and Treatment of Cutaneous Diseases, London:1798–1807
2. Die Bibel (1980) Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Der Aussatz an
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3. Die Bibel (1980) Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Die Heilung
des Aramäres Naaman. 2 Könige 5, 1–14. Herder, Freiburg, Basel, Wien
4. Bechstein L. Von dem armen Eli. Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thü-
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7. Meulenberg F (1997) The hidden delight of psorisasis. Brit Med J 315:1709–1711
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11. Bos WH, Farber EM (1997) Joseph Stalin’s psoriasis: its treatment and the conse-
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der Zarah Leander. Edition q, Berlin
13. Kleine-Natrop H-E (1976) Psoriasisbehandlung: Ultraviolett, A bis Leander, Z Der-
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15. Holstein K (2001) Cover Girl Uncovered – A Woman’s Journey. Winepress Publi-
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tigung. Ullstein, Frankfurt a M, Berlin
17. Strindberg JA (1920) Lebensgeschichte. Inferno – Legenden. Georg Müller,
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and psychological distress in patients with psoriasis: a cluster analysis. J Invest
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19. Stern RS, Nijsten T, Feldman SR, Margolis DJ, Rolstad T (2004) Psoriasis is com-
mon, carries a substantial burden even when not extensive, and is associated with
widespread treatment dissatisfaction. J Invest Dermatol Symp Proc 9:136–139
20. Redaktionelle Mitteilung (2004) Lebensqualität bei Psoriasis. Aktuelle Dermatolo-
gie 30:189–190
Ein römisches Salbenreibkästchen
aus Heidelberg
A. Hensen

Salben in der antiken Pharmakologie

In der griechischen und römischen Heilkunde spielen Salben zur Behand-


lung von Verletzungen und Krankheiten eine wichtige Rolle. Zahlreiche Re-
zepte für Medikamente (pharmaka) und detaillierte Therapieanweisungen
sind durch die Schriften von Ärzten und Enzyklopädisten überliefert [1, 2].
Als Beispiel seien hier die „Acht Bücher über die Heilkunst“ genannt, die
Aulus Cornelius Celsus in der Zeit des Kaisers Tiberius (14 bis 37 n. Chr.)
verfasste. Im pharmazeutischen Teil (Bücher 5 und 6) wird u. a. über die
Behandlung von Wunden und Geschwüren sowie über Anwendungen zur
Hautreinigung informiert [3].
Unter der Vielzahl empfohlener Heilmittel bilden Salben, Pasten und
Zäpfchen, die ihrer länglichen Form wegen als „Kollyria“ („Brötchen“) be-
zeichnet werden, eine eigene Gruppe [4]. Wie Markenartikel tragen sie oft
einen Stempel, der den Pharmazeuten, das Medikament und die Indikation
nennt. Daraus geht hervor, dass die meisten dieser Präparate gegen Augen-
leiden angewendet wurden. Die getrockneten Arzneien, die vor dem Ge-
brauch mit Lösungsmitteln aufzubereiten waren, wurden von „unguentarii“
(Salbenhändlern) feilgeboten. Plinius der Ältere warnte, dass diese Präpara-
te oft von minderer Qualität seien (Naturalis Historia 34, 25, 108). Ein gu-
ter Arzt vertraue deshalb nicht auf Fertigprodukte, sondern stelle seine Me-
dikamente selbst her.

Gräber als Quellen der Medizingeschichte

Kollyrien und insbesondere die plättchenförmigen Stempel, mit denen sie


gekennzeichnet wurden, sind bemerkenswert häufig erhalten geblieben –
und dies gilt nicht allein für diese besondere Objektgattung, sondern gene-
rell für medizinische Instrumente [5]. Grund dafür ist der Umstand, dass
diese Gegenstände gelegentlich als Beigaben in Gräber gelangten. Nun wa-
ren die römischen Bräuche zwar äußerst zurückhaltend, was die Ausstat-
tung Verstorbener mit persönlichen Dingen oder mit Berufswerkzeug be-
trifft. Zu den wenigen Ausnahmen gehörten medizinische Instrumente, die
insbesondere in den Provinzen die Arztgräber kennzeichnen [6]. Funde
96 z A. Hensen

aus Gräbern bieten der Forschung meist günstige Voraussetzungen: Durch


die Lage in einer tiefen Grube sind die Gegenstände nicht nur besonders
geschützt, sie lassen sich im Kontext der Beigaben auch leichter interpretie-
ren und datieren.

Die römische Nekropole von Heidelberg-Neuenheim

Dieses Phänomen lässt sich am Beispiel des Gräberfeldes von Heidelberg-


Neuenheim gut verdeutlichen. Der Bestattungsplatz an der Straße nach Lo-
podunum (Ladenburg a. N.) wurde in der Zeit von ca. 80 bis 190 n. Chr.
von den Soldaten des nahegelegenen Kastells und den Bewohnern der zu-
gehörigen Zivilsiedlung (Vicus) genutzt. Über 1400 Gräber wurden in den
Jahren von 1951 bis 1970 unter der Leitung des Archäologen Berndmark
Heukemes freigelegt [7]. Im Rahmen der wissenschaftlichen Bearbeitung,
die derzeit durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ermöglicht wird, konnte unlängst das Grab einer etwa dreißigjährigen Ärz-
tin identifiziert werden: Die Frau war mit zwei bronzenen Schröpfköpfen
beigesetzt worden, die in der Antike als Emblem des Ärztestandes galten
[8].

Eine „Taschenapotheke“ als Grabbeigabe

Eine andere, ebenso seltene Beigabe soll im Folgenden vorgestellt werden.


In einer kastenförmig (80 ´ 40 ´ 57 cm) in den Lößlehm geschnittenen Gru-
be war ein Topf abgestellt worden, der als Urne für den aus dem Scheiter-
haufen ausgelesenen Leichenbrand diente. Das Beigabenensemble aus der
Zeit um 100 n. Chr. umfasste zahlreiche verbrannte Objekte, wie z. B. einen
aus Südgallien importierten Tafelgeschirrsatz aus rotglänzendem Ton (Terra
Sigillata). Vor dem Verfüllen der Grabgrube hatten die Angehörigen unver-
sehrte Gegenstände dazugestellt. Hervorzuheben sind ein Handspiegel aus
versilberter Bronze, eine kunstvoll dekorierte Bronzeschüssel sowie Be-
schläge und Griffe einer Schatulle. Unter den unverbrannten Beigaben be-
fand sich auch ein stark beschädigtes Objekt aus Bronzeblech. In der Ar-
chäologischen Abteilung des Kurpfälzischen Museums wurden die Frag-
mente von Restaurator Folkwin Vogelsang gereinigt und zusammengesetzt.
Der Fund entpuppte sich als ein komplexes Gerät, das nur wenige Paral-
lelen von anderen Fundorten besitzt [9]. Das so genannte „kombinierte Sal-
benreibkästchen“ besteht aus einer rechteckigen Platte (11,5 ´ 7,5 cm), an
deren einem Ende ein halbkugelförmiger Napf eingelassen ist (Abb. 1 u. 2).
Dahinter ist ein quadratisches Kästchen aufgelötet, das durch einen Steg in
zwei Fächer unterteilt und durch einen Schiebedeckel verschlossen wird.
Seitlich ist eine zylindrische Hülse an die Platte angelötet. Die Kanten der
Längsseiten sind nach unten umgebogen und bilden so Falze, in die ein
Ein römisches Salbenreibkästchen aus Heidelberg z 97

Abb. 1. Restauriertes Salbenreibkästchen mit Abb. 2. Rückseite des Salbenreibkästchens


halb herausgezogener Reibpalette aus Schie- mit napfförmiger Vertiefung. Foto: Kurpfäl-
fer. Foto: Kurpfälzisches Museum (VE.DO/R. zisches Museum (VE.DO/R. Ajtai)
Ajtai)

steinernes Täfelchen mit abgeschrägten Kanten eingehängt ist. Von dieser


so genannte Reibpalette, die sich entlang der Schiene verschieben lässt,
sind zwei Fragmente erhalten geblieben. Auf dem Schiebedeckel ist mit
Klebstoff ein rechteckiges Plättchen fixiert worden: In das dünne Blech
(0,02 cm) wurde mit feinen Punzen ein Bild eingedrückt.
Das „multifunktionale“ Gerät diente sowohl zur Herstellung von Salben
als auch zur Aufbewahrung der dafür nötigen trockenen Substanzen [10].
Diese wurden auf der Palette mit Wasser, Öl oder Fett verrührt. Dafür ver-
wendete man langstielige Spatel, die in der Hülse aufbewahrt werden konn-
ten. Die Funktion des Napfes ist bislang ungeklärt. Vielleicht mischte und
erwärmte man darin die Salben. Denkbar ist auch, dass die Vertiefung der
Aufbewahrung von Wachs, Fett oder Textilstücken für die Wundabdeckung
diente. Die praktische „Taschenapotheke“ wurde von Ärzten – die immer
auch Pharmazeuten waren – auf Krankenvisite mitgeführt.
98 z A. Hensen

Abb. 3. Das Miniaturblech des Strabo vom Schie-


bedeckel bildet einen Tempel des Mars ab. Foto:
Kurpfälzisches Museum (VE.DO/R. Ajtai)

Mars mit Gans

Bemerkenswert ist das Motiv auf dem Zierblech (Abb. 3): Es zeigt einen
stilisierten Tempel, dessen Fries beiderseits von Reiterfiguren flankiert
wird. Zweifellos handelt es sich um Castor und Pollux, das göttliche Zwil-
lingspaar. Im Tempel steht das Kultbild des gerüsteten und bewaffneten
Kriegsgottes Mars. Neben ihm ist ein Fabelwesen – vielleicht ein „Seeleo-
pard“ – dargestellt, und vor dem Sockel des Götterbildes ist eine Gans mit
emporgerecktem Hals zu erkennen. Nahe dem linken Rand des Blechs hat
sich der Hersteller „Strabo“ namentlich verewigt.
Nur selten wird die Gans als Begleittier des Mars abgebildet. Außer dem
Heidelberger Beispiel sind bislang 27 weitere Darstellungen bekannt [11].
Die Funde stammen aus den nördlichen Provinzen und verteilen sich auf
ein Gebiet, das vom Hadrianswall in Britannien bis zur Provinz Dacia
(heute Rumänien) reicht. Offensichtlich wird in diesen Fällen der Kriegs-
gott in der so genannte „Interpretatio Romana“ mit einer keltischen oder
germanischen Gottheit gleichgesetzt, deren Attribut die Gans war. Immer-
hin stammen allein zehn Bilder ebenfalls von Deckeln medizinischer Käst-
chen! Andere Arzneimittelbehälter werden vom Bild des Heilgottes Askle-
pios geziert [12]. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass die unbekannte,
mit Mars verbundene Gottheit mit den Inhalten der Kästchen und der An-
wendung der Medikamente in Zusammenhang steht.
Ein römisches Salbenreibkästchen aus Heidelberg z 99

Medizinisches Gerät oder kosmetisches Utensil?

Die praktischen Kästchen wurden allerdings nicht nur zu pharmazeuti-


schen Zwecken verwendet. Aus verschiedenen Fundzusammenhängen geht
hervor, dass die Behälter auch zur Aufbewahrung und Aufbereitung von
Schminksubstanzen genutzt wurden [13, 14]. Wahrscheinlich ist auch das
Heidelberger Exemplar zuletzt für kosmetische Zwecke genutzt worden.
Diese Deutung legt die Beigabe des Handspiegels nahe. Eine anthropologi-
sche Geschlechtsbestimmung war aufgrund der geringen Menge des erhal-
tenen Leichenbrandes nicht möglich. Allerdings lässt das Vorkommen eines
Spinnwirtels, der als geschlechtsspezifische Beigabe gilt, auf eine Dame
schließen, die auch in der Provinz nicht auf gehobene Kosmetikstandards
verzichten mochte.

z Anmerkung: Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau Dr. Kris-
tina Hoge, Heidelberg.

Literatur
1. Eckart WU (2005) Geschichte der Medizin. 5. Aufl. Springer, Heidelberg, pp 4–38
2. Krug A (1993) Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike. 2. Aufl. Beck,
München, pp 103–111
3. Schulze C (2001) Celsus. Georg Olms, Hildesheim, pp 51–52
4. Voinot J (1999) Les cachets à collyres dans le monde romain. Monographies in-
strumentum 7. Editions Monique Mergoil, Montagnac
5. Künzl E (2002] Medizin in der Antike. Theiss, Stuttgart, pp 84–91
6. Künzl E (1982) Medizinische Instrumente aus Sepulkralfunden der römischen
Kaiserzeit. Bonner Jahrbücher 182:1–131
7. Hensen A, Ludwig R (2005) Straße ins Jenseits. Die römischen Gräberfelder von
Heidelberg. BAG, Remshalden, pp 21–56
8. Hensen A, Wahl J, Stephan E, Berszin C (2004) Eine römische Ärztin aus Heidel-
berg. Archäolog Korrespondenzblatt 34:81–100
9. Hensen A (2004) Der Kriegsgott auf der Taschenapotheke. Handschuhsheimer
Jahrb, pp 91–94
10. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:122; 136–138
11. Mattern M (1993) Die Gans auf den Denkmälern des Mars. Bulletin des Anti-
quités Luxemburgeoises 22:93–120
12. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:125–126
13. Künzl E (1982) Medizinische Instrumente aus Sepulkralfunden der römischen
Kaiserzeit. Bonner Jahrbücher 182:5; 86
14. Sobel H (1991) Römische Arzneikästchen. Saalburg-Jahrbuch 46:122; 126
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt
der Andrologie
W. Wamser-Krasznai

Wer mit wachen Sinnen eine Wallfahrtskirche betritt, wird die Devotiona-
lien in Form von Teilen des menschlichen Körpers gewiss nicht übersehen.
Vor allem Augen und Ohren, Arme, Beine oder Herzen schmücken, aus
Holz und Wachs, Kunststoff oder dünnem Blech geformt, die Altäre und
Bilder wundertätiger Heiliger.
Körperteile nachzubilden und denjenigen höheren Wesen zu weihen, de-
nen besondere Kräfte und Fähigkeiten gegen Not und Krankheit zugeschrie-
ben werden, ist ein uralter Brauch. Schon in prähistorischer Zeit unterstreicht
der Besucher eines Heiligtums seine Bitte um Linderung in Schmerz und Leid
durch die Dedikation anatomischer Votive. So begegnen uns im Museum von
Iraklion auf Kreta Gliedmaßen und andere Teile des menschlichen Körpers
aus Terrakotta, die nachweislich bereits im 2. Jahrtausend vor Christus ge-
weiht worden sind 1. Etwas später formte man sie auch aus edlem Metall oder
aus Marmor 2 und stellte somit das verbal vorgetragene Flehen bzw. den Dank
für erfahrene Hilfe auf eine anspruchsvolle, greifbare Basis.
Manchem Körperteil kommen darüber hinaus noch andere Funktionen
zu. Ein Fuß z. B. dokumentiert die Anwesenheit des Adoranten im Heilig-
tum; er vertritt gleichsam den Weihenden selbst. Ähnliches gilt für die
häufigen Nachbildungen der Hand, die auch unter dem Aspekt der Be-
schwörung und des Bannens zu sehen sind. Man denke an die Fluchtafeln
mit den stets gegen den Betrachter geöffneten Händen, die geeignet waren,
den Zorn der Götter auf einen Übeltäter herab zu rufen 3. In ähnlichem Sinne
,doppelt‘ sind auch die Augendarstellungen zu sehen: einerseits als leidens-
fähiges Organ, andererseits als magischer Gegenstand. Ohrvotive dagegen
appellieren immer auch an die Gottheit als an die „gnädig Erhörende“ 4; das
häufig auf Weihinschriften erscheinende Beiwort „epekoos“ = erhörend
macht dies deutlich.
1
J. L. Myres, Excavations at Palaikastro II. The Sanctuary-Site of Petsofà, The Annual
of the British School at Athens 9, London 1902/03, 356 ff. Taf. 12.
2
D. G. Hogarth, Excavations at Ephesus. The Archaic Artemisia, London 1908, Taf. 7;
J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen, Tübingen 1971, 78, Abb.
101; 569–572, Abb. 716–718.
3
A. Wilhelm, Zwei Fluchinschriften, Jahreshefte des oesterreichischen archäologi-
schen Institutes, Band 4, Wien 1901, 10 ff., Abb. 3.
4
O. Weinreich, Theoi epèkooi, Mitteilungen des Athenischen Instituts 37, Athen 1912,
1 ff., vor allem 5 ff.
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie z 101

Abb. 1

Abb. 2

Nun stellte man in der Antike aber auch solche Körperteile dar, die dem
frommen Pilger in Alt-Ötting nicht begegnen. Beim Betrachten eines Terra-
kottatäfelchens aus dem Asklepieion von Korinth erkennen wir in dem
plastisch angegebenen Ohrenpaar ebenfalls einen Appell an den gnädig
hörenden Gott. Nur nehmen diese Ohren hier ein männliches Geschlechts-
organ in die Mitte 5. Dass ein solches Weihtäfelchen als Sinnbild dreier von
einer Krankheit befallener Körperteile zu deuten wäre, ist wohl aus-
zuschließen. Vielmehr dürfte sich der Adorant mit seinen Sorgen um die
Funktionsfähigkeit des zentralen Organs an den Gott gewandt haben, und
zwar, wie die flankierenden Ohren zeigen, an den „gnädig Erhörenden“.
Antike Genitalvotive (männliche und weibliche) sind rings um das Mit-
telmeer gefunden worden, in Heiligtümern, aber vor allem auch in Votivde-
pots, wo man die Weihgaben rituell niederlegte, um Platz für neue zu
schaffen und die alten einem etwaigen profanen Gebrauch zu entziehen.
Wie das hier abgebildete männliche Geschlechtsorgan aus Veji, Südetru-
rien 6, waren die Adressaten meist Vegetationsgottheiten in ländlichen Hei-

5
C. Roebuck, The Asklepieion and Lerna. Corinth XIV, The American School of Clas-
sical Studies at Athens Princeton, New Jersey 1951 120, Taf. 33, 10. Das männliche
Organ ist nur noch als Abdruck vorhanden, der jedoch keinen Zweifel an der Natur
des Gegenstandes lässt.
6
L. Stieda, Anatomisches über alt-italische Weihgeschenke. (Donaria) in: Anatomisch-
archäologische Studien, Band 16, Wiesbaden 1901, 104 f. Taf. 4, 23. W. Wamser-
Krasznai, Die italischen Terrakotten der Antikensammlung der Justus-Liebig-Univer-
sität Gießen, nicht publizierte Magisterarbeit Gießen 1996, 40 ff. Für die Abbildungs-
erlaubnis danke ich den Herren Prof. Dr. Wolfram Martini und Dr. Matthias Recke,
Institut für Altertumswissenschaften der Universität Gießen.
102 z W. Wamser-Krasznai

ligtümern, die unter verschiedenen Aspekten verehrt wurden. Die Bedeu-


tung solcher Votive ging denn vermutlich auch weit über nahe liegende
Aspekte wie die Sorge um Potentia coeundi und andere organspezifische
Störungen hinaus. Wir werden hinter diesen Weihungen den Wunsch nach
Fruchtbarkeit und Wachstum ganz allgemein sehen dürfen. Sie gelten der
Fortpflanzung im weitesten Sinne, dem Schutz und Gedeihen der Nach-
kommenschaft des Menschen, aber auch der Tier- und Pflanzenwelt, die
ihn ernähren.
Unser etruskisch-italisches Votiv zeigt einen halb erigierten, vom Präpu-
tium vollständig bedeckten Penis. Einige gelockte Strähnen bezeichnen das
Schamhaar. Die Hoden sind sorgfältig modelliert; der linke steht etwas tie-
fer und ist leicht zurückgesetzt. Rechts sind die Skrotalfalten mit einem fla-
chen Instrument nachgearbeitet.
Die Vorhaut ragt „rüsselartig vor“; „an diesem vorderen Abschnitt ganz
leichte zirkuläre Furchen“ sind von Stieda als Abdruck der Kynodesme, ei-
nes das Präputium abschnürenden Bandes, interpretiert worden 7. Die phi-
mosenartig bedeckte Eichel hatte auch an eine Darstellung der pathologi-
schen Vorhautverengung denken lassen8. Nun sind aber Weihungen krank-
haft veränderter Körperteile extrem selten. Wahrscheinlich also folgten die
Etrusker dem Schönheitsideal der Hellenen9. Zahlreiche Darstellungen auf
Vasen zeigen, dass sich der nackt in der Palaistra übende griechische
Sportler (gymnos) der Infibulation10 bediente und die Glans penis mit dem
vorgezogenen Präputium „verhüllte“. Dieser Sitte entsprechend sind auch
die Genitalvotive der Griechen und Etrusker gebildet, während man auf Zy-
pern und in römischer Zeit die Wiedergabe des membrum virile in voll-
ständig erigierter Form und mit „entblößter“ Eichel bevorzugt11.

Literatur
Fenelli M (1975) I votivi anatomici di Lavinio. Archeologia Classica 27. L’ERMA di
Bretschneider, Rom
Flourentzos P (2003) I Erotici zoi stin archaia techni tis. Kyprou. LTD, Leukosia
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Kasas S (1978) Medizinisches in Alt-Korinth. Materia Medica Nordmark 30. Schleu-
nung, Marktheidenfeld/Main
7
L. Stieda a. O. 104 f.
8
S. Kasas, Medizinisches in Alt-Korinth, Materia Medica Nordmark 30, Marktheiden-
feld 1978, 324 f; M. Fenelli, I votivi anatomici di Lavinio, Archeologia Classica 27,
Rom 1975, 217.
9
E. Holländer, Plastik und Medizin, Stuttgart 1912, 312.
10
L. Stieda, Die Infibulation bei Griechen und Römern, Anatomisch-Archäologische
Studien III Wiesbaden 1902, 29 ff. Abb. 11 – 16.
11
P. Flourentzos, Erotiki zoi stin archaia techni tis Kyprou, Leukosia 2003, 47, Nr.
42–44.
Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie z 103

Myres JL (1902/03) Excavations at Palaikastro II. The Sanctuary-Site of Petsofà. The


Annual British School at Athens 9. Macmillan, London
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Wamser-Krasznai W (1996) Die italischen Terrakotten der Antikensammlung der Jus-
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Weinreich O (1912) Theoi epèkooi. Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen Archäologi-
schen Instituts. Athenische Abteilung Band 37. Eleutheroudakis und Barth, Athen
Wilhelm A (1901) Zwei Fluchinschriften. Jahreshefte des oesterreichischen archäologi-
schen Institutes, Band 4. Hölder, Wien
Zur Genese des modernen
Organverständnisses –
Rhinoplastiken und Handtransplantationen
in literarischen Bearbeitungen
B. Kathan

Die Literaturgeschichte kennt überraschend viele Bearbeitungen von Or-


ganverpflanzungen. Überblickt man das Material, so ist man mit höchst
unterschiedlichen Motiven konfrontiert, die allerdings mehr von kultur- als
von medizinhistorischer Bedeutung sind. Die meisten literarischen Bear-
beitungen von Organverpflanzungen fallen in die Zeit zwischen 1890 und
1935. Ordnet man insgesamt die literarischen Bearbeitungen einzelnen Or-
ganen zu, dann fällt auf, dass manche von ihnen im Widerspruch zur me-
dizinischen Praxis überrepräsentiert sind, während andere weitgehend feh-
len. So finden sich etwa erstaunlich viele Bearbeitungen von Rhinoplas-
tiken, obwohl sie in der beschriebenen Form wohl nie durchgeführt wur-
den. Die Niere zählt zu den häufigst transplantierten Organen. In literari-
schen Bearbeitungen ist sie dagegen vollkommen unterrepräsentiert. Sie
findet sich meist nur in autobiografischen Berichten, in Romanen, die von
gewaltsamer Organbeschaffung, Organhandel oder ähnlichem handeln. Un-
ter den Organen ist das Gehirn besonders prominent vertreten. Lebende
Köpfe und Gehirne, die in Nährflüssigkeiten liegen oder verpflanzt werden,
bieten sich für literarische Bearbeitungen geradezu an. Dies verdankt sich
vor allem dem Umstand, dass Literatur, will sie erfolgreich sein, Stoffe mit
hohem Identifikationswert benötigt. Die meisten der Beispiele kennen ei-
nen grundlegenden Widerspruch. Während sich in der Literatur Eingriffe
beschreiben lassen, die zu diesem Zeitpunkt nicht möglich oder überhaupt
nicht denkbar sind, hinken die darin behandelten Phantasmen den prakti-
schen Erfahrungen der Medizin in der Regel nach.
Die Haut zählt in diesen Bearbeitungen zu den am wenigsten behandel-
ten Organen. Abgesehen etwa von einem Briefentwurf aus dem Jahr 1908,
in dem Robert Musil von einer gegenseitigen Hautverpflanzung phantasiert
[1], wird sie fast ausschließlich in Verbindungen mit frühen Rhinoplastiken
oder Handtransplantationen erwähnt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet
Jean Redons Horrorgeschichte Les Yeux sans visage aus dem Jahr 1959, die
von Georges Franju verfilmt wurde. Ein Arzt versucht, das Gesicht seiner
Tochter, welches bei einem von ihm verschuldeten Unfall entstellt wurde,
durch die Transplantation eines Gesichts wieder herzustellen. Seine Bemü-
hungen bezahlen mehrere junge Frauen mit ihrem Leben. Abgesehen von
den offenkundigen Problemen einer Hauttransplantation hat der Horror-
klassiker jedoch mehr den im Genre oft zitierten verbrecherischen Arzt
oder größenwahnsinnigen Wissenschaftler zum Gegenstand.
Zur Genese des modernen Organverständnisses z 105

1862 erschien die wohl dichteste literarische Bearbeitung einer Rhino-


plastik, nämlich Edmond Abouts satirische Erzählung Die Nase des Herrn
Notar, 1920 Maurice Renards Roman Orlacs Hände, die erste prominente
Bearbeitung einer Handtransplantation. Die beiden Daten decken sich na-
hezu mit Beginn und Ende der Frühphase der Transplantationsmedizin, die
1883 mit der Verpflanzung einer Schilddrüse begann und in den zwanziger
Jahren des letzten Jahrhunderts nach einer kurzen euphorischen Phase
(insbesondere was die Verpflanzung von Hodengewebe betrifft) ernüch-
ternd endete [2].
Die beiden Romane sind medizinhistorisch nicht allein deshalb von Inte-
resse, weil beide Autoren, wenn auch in spekulativer Weise, medizinische
Literatur verarbeiteten, sondern weil sie die grundlegenden Verschiebungen
von Körper- und Krankheitsvorstellungen belegen.
In Edmond Abouts Erzählung verliert ein Notar bei einem Duell seine
Nase. Erst als der Arzt eintrifft, beginnt die Suche nach dem verlorenen Or-
gan. Die Nase wurde, wie sich bald herausstellt, von einer Katze gefressen.
Der Arzt nennt dem Patienten die im neunzehnten Jahrhundert bekannten
Möglichkeiten des Nasenersatzes, neben einer aus Silber gefertigten und
ähnlich einer Augenklappe am Kopf befestigten Nasenattrappe die chirurgi-
sche Behandlungsform einer Rhinoplastik. Da der Notar nicht auch noch
am Arm verstümmelt werden will, wird ein Spender gesucht, der bereit ist,
gegen entsprechende Bezahlung einen Hautlappen seines Arms abzutreten.
Der Eingriff gelingt, doch schon bald zeigen sich die ersten Komplikatio-
nen. Die Nase des Notars verfärbt sich rot, da der „Spender“ jenes Geld,
welches er für das Stückchen Haut und die erlebten Strapazen erhielt, ver-
trinkt. Eine Behandlung dieses Übels kann deshalb nur bedeuten, den
Spender selbst zu behandeln, diesem Diäten zu verschreiben und ihn zu ei-
nem disziplinierten Lebenswandel zu führen. Als dessen Arm schlussend-
lich von Zahnrädern zerquetscht wird, fällt die Nase des Notars ab. Die ver-
wendete Haut stammt wie in den meisten anderen Bearbeitungen nicht
von einem der eigenen Arme, sondern vom Arm eines Wasserträgers. Auch
wenn es Tagliacozza für denkbar hielt, die Haut eines anderen zu verwen-
den, so sah er zu große Schwierigkeiten darin, zwei Menschen etwa zwan-
zig Tage fest aneinanderzuschnüren [3].
Auch in Maurice Renards Roman klingen noch sympathetische Vorstel-
lungen an. Dem bei einem Eisenbahnunglück verletzten Pianisten Stephen
Orlac werden die Hände des Mörders Vasseur transplantiert. Stephen Orlac
glaubt, die Hände eines Mörders würden ihn zu einem Mörder machen.
Misstrauisch beobachtet er alle Zeichen, welche dies zu bestätigen schei-
nen. Sie werden bearbeitet und überarbeitet. Oberflächenbehandlung: Sal-
ben, Tinkturen, Färbemittel. Technisches Gerät: das stumme Klavier, Mas-
sageinstrumente, Fingerkuppen aus Blei, Elektrisiermaschinen, Zitterappa-
rate. Belebung: Massage, sanftes Streichen, Beklopfen, Kitzeln. Zusätzlich
ist eine strenge Diät einzuhalten. Trotz aller haarzerstörenden Pasten wach-
sen blonde Haare und erinnern daran, die Hände eines anderen zu haben.
Sie bleiben fremd, die Hände eines Mörders. Maurice Renard bemühte
106 z B. Kathan

zwar noch das Motiv von den Mörderhänden, auch jenes vom Toten, der
zurückkehrt, um sich das geraubte Organ zu holen, nicht ohne all dies in
den Bereich des Aberglaubens und des Schwindels zu verweisen. Am Ende
des Romans kann sich der Empfänger mit den fremden Händen versöhnen,
allerdings erst als sich herausstellt, dass er Opfer eines geschickt inszenier-
ten Erpressungsversuches wurde, der sich diesbezügliche Vorstellungen zu
Nutze machte. Interessanterweise assoziiert der Betrogene den Gebrauch
der transplantierten Hände selbst mit einem möglichen Betrug: „Das Übel
ist geschehen! Es kommt von meinem Schweigen, ich hätte dir von Anfang
an sagen müssen – aber ich fürchtete diese Hässlichkeit – sagen müssen:
,Ich hab’ Mörderhände!‘ . . . Ich wagte nicht mehr, dich anzurühren . . . Ich
hätte dabei an irgend einen schamlosen Betrug gedacht! Diese Hände ha-
ben mich von dir entfernt! Es schien mir, als ob ihr Fleisch das meinige
beschmutzte und mein Blut in ihren Gefäßen den Sinn nach dem Morden
annahm!“
Bei About wird vor allem noch zugeführt und abgeleitet. Das Inventar
reicht dabei von zugeführter Wärme, stärkenden Suppen und Brühen, in
welche die geschwollene und entzündete Nase getaucht wird bis hin zu ab-
leitenden Maßnahmen, etwa Blutegeln. Auch wenn sich die Nase als Organ
nur bedingt mit der Hand gleichsetzen lässt, so fällt doch auf, dass all die-
se Praktiken in Renards Roman weitgehend verschwunden sind. Die von
Renard angeführten Praktiken sind nicht weit entfernt von heutigen phy-
siotherapeutischen Behandlungsformen. Während bei About das Fremd-
organ noch zwingend in der Abhängigkeit vom Spender gedacht wird, deu-
tet sich bei Renard eine zentrale Verschiebung an. Fortan liegt es am Emp-
fänger, das fremde Organ als eigenes zu akzeptieren.
1998 wurde Clint Hallam von einem Lyoner Chirurgenteam als erstem
Menschen eine Hand transplantiert. Er hatte sie durch einen Unfall ver-
loren. Die aufwändige Operation gelang. In den zunächst tauben Fingern
entwickelte sich Gefühl. Unterstützt durch intensive Handgymnastik ver-
mochte Hallam die transplantierte Hand zunehmend wieder zu bewegen.
Schon nach erstaunlich kurzer Zeit war er in der Lage, ein Messer zu hal-
ten, verfügte aber noch nicht über genügend Kraft, um damit Fleisch zu
schneiden, wie es der behandelnde Arzt formulierte. Kurz nach dem sensa-
tionellen Eingriff wurde erstmals eine beidseitige Handverpflanzung mit
Erfolg durchgeführt. Hallam ließ sich die fremde Hand wieder amputieren.
Schon davor wurde berichtet, der Patient erscheine nicht so häufig zu den
Untersuchungen wie dies nötig sei. Auch war zu lesen, es handle sich bei
ihm um einen Betrüger. Seine Hand habe er in einem Gefängnis bei der
Arbeit an einer Kreissäge verloren. In einer österreichischen Boulevardzei-
tung war neben einem Bericht über diese Amputation ein Nacktfoto eines
Models zu sehen. Darunter stand zu lesen: „Männer mit schmutzigen Fin-
gernägeln kann Judit nicht ausstehen. Unser Tipp für Verehrer der feschen
Ungarin lautet daher: Die Hände immer schön sauber halten“ [5]. Offen-
sichtlich ein Kommentar der Handgeschichte. Die „schmutzigen Finger“
meinen nicht nur den Dieb, sondern stellen die Hand in den Kontext der
Zur Genese des modernen Organverständnisses z 107

Abb. 1. Die drei Feldscherer, Märchen Nr. 118 der Gebrüder Grimm. Nachdem der eine seine
rechte Hand als Pfand gab und diese von der Katze gefressen wurde, war ihm die rechte Hand
eines gehängten Diebes, bestrichen mit einer heilenden Salbe, alsbald wieder angewachsen.
Der mit der Diebshand aber verspürte fortan immer wenn er Geld sah in der rechten Hand ein
Zucken und einmal wurde er auch beim Zugreifen erwischt. Da ein Rücktausch nicht mehr
möglich war, gingen die drei Feldscherer so tauschbelastet in die weite Welt. Der mit der
Diebshand ist der links im Bilde. Die geheimnisvolle Salbe stimulierte das Anwachsen und ver-
hinderte die Abstoßung, was den Dermatologen bis heute immer noch als Traum vorschwebt

Sexualität. Während im Grimmschen Märchen Die drei Feldscherer (Abb. 1)


die Hand des gehenkten Diebs den „Empfänger“ zu einem Dieb macht,
wurde sie bei Clint Hallam als sauber behauptet und er selbst als Dieb ent-
larvt.

Literatur
1. Robert Musil (1901–1942) Briefe. In: Frisé A (Hrg) Rowohlt, Reinbek, pp 98–155
2. Schlich T (1998) Die Erfindung der Organtransplantation. Erfolg und Scheitern des
chirurgischen Organersatzes (1880–1930). Campus, Frankfurt/M
3. Zeis E (1862–1864) Geschichte der plastischen Chirurgie (nebst Nachträge und An-
hang). Engelmann, Leipzig, p 199
4. Kathan B (2004) Wessen Organ? NZZ1.3 50:17
5. Krone 4. 2. 2001:7
Sonne und Sonnenkult
E. G. Jung

Die Sonne spendet Licht und Wärme und sie ist die wesentliche Energie-
quelle für die Biosphäre unserer Erde. Dies wurde in allen Kulturen und
antiken Religionen erfasst. Ihr kommt auch ein gewichtiger Symbolwert zu.
Neben dem Symbol des Lebens an sich, ist sie auch ein ganz frühes Sym-
bol für Richtung, für die Ausrichtung in der geordneten Welt, denn sie
geht im Osten auf und im Westen unter. „Wegweiser“ wurde sie genannt.
Die Sonne ist aber auch ein Symbol des Rhythmus, da sie den Takt von
Tag und Nacht angibt als „Teiler der Zeit“.
Die Sonne ist ein männliches Symbol und wird verkörpert, als ein Held,
der unermüdlich und immer wieder gegen die Finsternis ankämpft. In den
frühen polytheistischen Religionen mit Naturgöttern nimmt sie als Ober-
gottheit eine besondere Stellung ein und stellt ein Leitsymbol patriarcha-
lischer Religionsphasen dar. Diese entsprachen den Sozialstrukturen der
sesshaften Siedler, die als Pflanzer, Sammler und Jäger zwar ausziehen, im-
mer aber wieder an ihren Stammplatz zurückkehren [1].
Die Sonnenreligionen haben die noch älteren Religionen matriarchalischer
Ausrichtung mit der Muttergöttin Erde oder der ebenfalls weiblichen Mond-
göttin abgelöst. Und sie sind wiederum abgelöst worden von Religionen mit
einer Vielzahl von Göttern mit teils menschlichen, teils idealisierten Eigen-
schaften, wie die olympische Götterwelt Griechenlands oder diejenige im al-
ten Rom. So ist Helios als Sohn des Titanen Hyperion nicht von Zeus’ Ge-
schlecht, welches dasjenige der Titanen beherrschte und ablöste.
Die Sonne ist ein Symbol des aktiven, gegen die Finsternis kämpfenden
Menschen, der im Gegensatz zu den Nomaden, an seinen Sitz zurückkehrt.
Sie verkörpert das Besondere der Wiederkehr, welche die Sesshaftigkeit der
Völker und ihrer Götter ausmacht. Am Morgen geht die Sonne im Osten auf,
eine Geburt symbolisierend, und sie wandert ständig kämpfend über das Fir-
mament, wird von Tieren auf einem Wagen gezogen, um am Abend im Wes-
ten unterzugehen. Damit wird Vergänglichkeit und Tod symbolisiert. In vie-
len Religionen wird die Sonne am Abend im Westen von einem großen Tier
gefressen. Sie durchwandert während der Nacht die Unterwelt, das Jenseits
oder ein Schattenreich, um am Morgen im Osten angelangt wieder aufzuge-
hen. Dies bedeute Wiedergeburt, Neugeburt oder „Auferstehung“. Der rhyth-
mische Sonnenlauf über den Tag und die Nacht wird in allen Religionen ähn-
lich geschildert und erscheint auch im Alten Testament der Bibel, wenn David
im Psalm 19 singt: „Dort hat er der Sonne ein Zelt gesetzt, und sie, wie ein
Sonne und Sonnenkult z 109

Bräutigam geht sie hervor aus ihrer Kammer, läuft freudig wie ein Held die
Bahn. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und geht um bis wieder an
das Ende, nichts bleibt vor ihrer Glut verschont“ [2].
Der Sonnenlauf hat aber noch andere Besonderheiten von großer Symbol-
kraft und Bedeutung: die Finsternisse. Die Sonnenreligionen haben in diesen
die Begegnung von Sonne und Mond, also das Aufeinanderprallen des patri-
archalischen mit dem matriarchalischen Prinzip gesehen. Dies kann einer-
seits eine fruchtbare Begegnung sein und die Befruchtung oder die Begattung
symbolisieren, andererseits aber auch die Dominanz der Sonnenreligionen
darstellen. Es kommt zur Verschmelzung oder Beherrschung der früheren
matriarchalischen Religionen, was für Letztere das Beherrschtwerden, das
Aufgefressenwerden und somit eine Katastrophe bedeutet.
Nur einmal ist es im alten Ägypten von 1364–1348 v. Chr. zur kurzen
Phase einer monotheistischen Sonnenreligion gekommen. Der frühere Son-
nengott Rè, einer von vielen Göttern, ist wie alle anderen abgelöst worden
durch den alleinigen und einzigen Sonnengott Aton (Lichtberg), der von
seinem Priesterkönig Echnaton (Sohn des Aton) verkündet und verehrt
wurde (Abb. 1). Ruinen, Symbole und Darstellungen sind in der Amarna-
Kultur überliefert.
In den monotheistischen Erlöserreligionen, im Judentum und besonders
im Christentum, ist die Sonne als Besonderheit nicht verloren gegangen.
Sie stellt keinen eigenständigen Gott mehr dar. Vielmehr wird sie von dem
unpersönlichen, nicht sichtbaren und zeitlosen Gott abgelöst und sie ist,
wie fast alles, was das Christentum von früheren Religionen übernommen
hat, in seinen Dienst genommen und zum Lobe Gottes eingesetzt worden.

Abb. 1. Amarna-Kultur in Ägypten (1364–1348 v.


Chr.). Menschen und Pflanzen empfangen die Le-
ben spendenden Sonnenstrahlen und der Priester-
König Echnaton huldigt dem allein herrschenden
Sonnengott Aton
110 z E. G. Jung

Im Jahre 311 n. Chr. wurde das Christentum von Kaiser Konstantin I d. Gr.
(280–337 n. Chr.), der wohl unter dem Einfluss des väterlichen Sonnenkul-
tes im Jahre 310 eine „Sol-Apollo-Vision“ hatte, toleriert und am Konzil
von Nizäa 325 als Staatsreligion im römischen Reich eingesetzt. Die „allein
selig machende“ christliche Kirche etabliert sich mit dem Papst in der
Nachfolge Petri in Rom und strebt, getragen vom Missionsauftrag, nach
globaler Dominanz. Damit wird die Erde zum „auserwählten“ Planeten,
zum Mittelpunkt der damaligen Welt, um welchen sich die Gestirne und
auch die Sonne (geozentrisches System), zu drehen haben.
Die Sonne wird denn auch im Mittelalter wiederholt in den Dienst der
Lobpreisung Gottes gestellt. Franziskus von Assisi, der Gründer des Fran-
ziskaner-Ordens, besingt 1224 in seinem Sonnengesang (Cantioco di Frate
Sole) den Bruder Sonne und die Schwester Mond und beschwört beide, ihn
in der Lobpreisung Gottes zu unterstützen. Ähnliches hat der Dominikaner-
Mönch Tommaso Campanella 1602 ausgedrückt, als er im Gefängnis seinen
utopischen Roman „Cittá del Sole“ schrieb und einen idealisierten Sonnen-
staat beschrieb.
Im seinem Todesjahr veröffentlicht Nikolaus Kopernikus (1473–1543) auf
Grund von Beobachtungen und Messungen ein „heliozentrisches“ Weltsys-
tem, welches das geozentrische ptolemäische System ablöste (Kopernikani-
sche Wende). Allerdings wurde die Arbeit zunächst als Denkmodell abge-
tan, bis 1632 Galileo Galilei (1564–1642) in seiner berühmten Schrift „Dia-
log über die beiden Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische“
der heliozentrischen Ansicht zum Durchbruch verhalf. Ursprünglich geneh-
migt, wurde das Werk noch im selben Jahr von der katholischen Kirche
wieder verboten und Galilei von der Inquisition 1633 zum Widerruf ge-
zwungen. Doch war die Astronomie und die Erforschung des Sonnensys-
tems nicht mehr aufzuhalten, obschon die katholische Kirche noch bis zum
ersten Drittel des 18. Jahrhunderts brauchte, um die naturwissenschaftli-
chen Tatsachen zu akzeptieren.
Am Übergang zur Neuzeit dient die Sonne noch als Symbol des Absolu-
tismus zur Rechtfertigung der Herrscher (Ludwig XIV als Sonnenkönig)
und dieselbe Sonne wird von der Internationalen Arbeiterbewegung als
Leitbild und Symbol bemüht, wenn gesungen wird: „Brüder, zur Sonne, zur
Freiheit, Brüder, zum Lichte empor.“ Noch immer aber spendet die Sonne
Licht und Wärme und ist die wesentliche Energiequelle für unsere Erde.
Die moderne Wissenschaft bringt es an den Tag. Das Universum ent-
stand vor 15 Milliarden Jahren, das Sonnensystem vor 5 Milliarden und un-
sere Erde dann vor 4,5 Milliarden Jahren. Erste Lebensformen darauf ent-
standen vor 3,5 Milliarden Jahren und die Darwinsche Evolution hatte die-
se ganze Zeitspanne zur Verfügung zur Artenentwicklung mit der enormen
Vielfalt und hin bis zum Menschen, dem Homo sapiens sapiens, wie wir
uns selbstbewusst nennen. Und nun geht es wieder los, in den USA, spe-
ziell in Pennsylvania, wo christliche Fundamentalisten gegen die Evoluti-
onstheorie Sturm laufen und für eine wörtliche Auslegung der biblischen
Schöpfungsgeschichte plädieren, die vor gerade mal 6000 Jahre ihren An-
Sonne und Sonnenkult z 111

fang genommen habe. Der Versuch einer gerichtlichen Klärung erinnert in


fataler Weise an die Inquisitionsbemühung zu Galilei’s Zeiten [3]. „Und sie
bewegt sich doch!“, legen die Literaten ihm in den Mund, und sie strahlt
schon 5 Milliarden Jahre, unsere Sonne, sei angefügt.
Eine neue Bedeutung erfährt die Sonne seit 150 Jahren. Befreit von religiö-
sen Inhalten und ritueller Symbolik steht der Sonnengenuss für eine indivi-
duelle, selbst bestimmte Lebensgestaltung die zuweilen kultischen, ja revolu-
tionären Charakter annimmt. Der Aufenthalt in frischer Luft und an der Son-
ne, Sonnenexposition und Sonnengenuss, werden Ausdruck von Selbst-
bestimmung, von Gesundheit und Schönheit, und stehen auch für persönliche
Dynamik und Freizeit. Sonnenbaden und gebräunte Haut sind wieder in!
Sonnenfanatiker beschreiben besondere Formen von Sonnenkult. So Ar-
nold Rikli (1823–1906), der im Jahre 1855 im damaligen Veldes im öster-
reichischen Oberkrain (jetzt Bled in Slowenien) ein Sanatorium für kom-
binierte Sonnen- und Dampfbad-Therapie einrichtete. Biologen und Ärzte
entdeckten die Effekte der Sonne zur Gesunderhaltung und zur Therapie
von Hautkrankheiten, zur Prophylaxe der Rachitis sowie zur Unterstützung
bei chronischen Infektionen. Die Heliotherapie wurde als Teil der Klimabe-
handlung im Hochgebirge und auf den küstennahen Inseln etabliert. 1903
erhielt der dänische Arzt Nils Riedberg Finsen (1860–1904) für die Licht-
behandlung der Hauttuberkulose (Lupus vulgaris) den Nobelpreis für Me-
dizin. Die Photodermatologie entwickelt sich aus der Lichtbiologie heraus.
Die natürliche Globalstrahlung und deren Imitation durch künstliche Licht-
quellen sowie die Selektion besonders wirksamer Spektralbereiche und de-
ren Kombination mit anderen Therapien und Verfahren führen zur derma-
tologischen Phototherapie und ihren gewaltigen Erfolgen [4].
Der unkontrollierte und unmäßige Sonnengenuss erfolgt seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts in der gewonnenen Freizeit und Freizügigkeit, mäch-
tig gedrängt im Urlaub, und ergreift fast suchtartig große Teile der hell-
häutigen Bevölkerung. Das „Alarmsignal“ des Sonnenbrandes wird erstaun-
lich gering eingeschätzt und nur ungenügend berücksichtigt (Abb. 2). Und
mit Latenzzeiten von ein bis zwei Jahrzehnten haben wir die Bescherung:
Der moderne fast fanatische Sonnenkult führt zur enormen Zunahme von
lichtinduzierten Hautkarzinomen und zur vorzeitigen Hautalterung.
Die allermeisten Hautkarzinome erweisen sich als teilweise oder massiv
Licht induziert und ihre Inzidenz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten
jeweils verdoppelt. Gegenwärtig werden jährlich an die 200 Patienten mit
neu auftretenden Basaliomen und 30 mit neuen Spinaliomen pro 100 000
Menschen gefunden und zudem jährlich 10–20 neue Melanome. Und ein
Ende dieser Explosion ist noch keineswegs abzusehen. Therapie, Früherfas-
sung und Prophylaxe sind vordringliche Programme, doch ist es sehr
schwierig, den Sonnenhunger zu dämpfen und ein vernünftiges, also scha-
densarmes Sonnenverhalten der Bevölkerung zu erwirken.
Und die vorzeitige Hautalterung ist sichtbar und beeinträchtigt das
Schönheitsbewusstsein massiv. Vergröberung der Hautstruktur, Fältchen
und grobe Falten, plumpe Mimik sowie Verfärbungen und trockene Schup-
112 z E. G. Jung: Sonne und Sonnenkult

Abb. 2. Generalisierter Son-


nenbrand (Lichtentzündung)
24 h nach übermäßiger Son-
nenexposition. Ein oft nicht
verstandenes Warnzeichen für
die Überdosierung

Abb. 3. Vorzeitige und licht-


bedingte, bizarre Alterung der
Haut: grobe Faltung am
Handrücken und Fleckung des
2 3 Unterarms

pung sind unverkennbar, auffällig und werden als hässlich, ja diskriminie-


rend empfunden (Abb. 3). Dies schreckt erstaunlicherweise kaum vor Son-
nengenuss ab, induziert aber eine Fülle von kosmetischen und invasiven
Maßnahmen mit dem Ziel der Behandlung oder mindestens der Eindäm-
mung der vorgezogenen und bizarr gestalteten Alterung der Haut. Anti-
Aging ist das Schlagwort und betrifft auch alle anderen Organe des
Körpers, auch das zentrale Nervensystem. Nun aber gehen die lichtbedingte
Alterung der Haut, die schadensbedingte Abnützung der Organe und auch
die neurodegenerativen Vorgänge alle mit entzündlichen Reaktionen einher
und führen, teilweise wenigstens, zu vermehrt und vorzeitig auftretenden
Tumoren. Es ist nicht unerwartet, dass moderne antientzündliche Wirkstof-
fe (Prostaglandin-Antagonisten vom Typ der magenfreundlichen COX-
2-Hemmer) sog. Anti-aging-Effekte aufweisen oder wenigstens prophylakti-
sche Wirkung zugesprochen bekommen. Allerdings ist der aufkommende
Enthusiasmus, solche Stoffe bald als Medikamente einführen zu können,
durch das gehäufte Auftreten von kardiovaskulären Zwischenfällen während
der ausgedehnten klinischen Prüfungen kräftig gedämpft worden. Die Bäu-
me wachsen nicht in den Himmel, oder wenigstens zur Zeit noch nicht.
Nach wie vor gilt die Schadensmeidung, also kontrolliertes, gedrosseltes
Sonnenverhalten, gesunde Kost, vernünftige Lebensführung als effektives
und schadensfreies „Anti-Aging“. Und Gedächtnis-Training zur Alzheimer-
Prophylaxe ist auch Anti-Aging.

Literatur
1. Jung EG (1989) Sonnenkultur und Sonnenkult. Ärztliche Kosmetologie 19:114–116
2. Bibel, AT: Psalm 19, 5–7
3. Köhler A (2005) Gott und Darwin vor Gericht. NZZ Nr 271, 19./20. 11. 2005
4. Jung EG (2003) 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Lichtforschung. Akt Dermatol
29:252–260
Pigment
E. G. Jung

Pigmente gibt es im Pflanzenreich, in der Tierwelt und beim Menschen. Sie


haben eine lange Vorgeschichte. Pflanzenzellen und Einzeller verfügen über
Abwehrmechanismen, welche durch kurzfristige Freisetzung von Phenolen
eingedrungene Mikroorganismen denaturieren und damit ausschalten. Zur
Limitierung der Wirkung werden die Phenolverbindungen durch Polymeri-
sation inaktiviert und an Trägerproteine gebunden. Letztere werden als
große und dadurch farbige Konglomerate intrazellulär abgelagert. Daraus
entwickeln sich im Laufe der Phylogenese bei den Wirbeltieren und den
Menschen eigentliche Organelle mit charakteristischer Struktur, die Mela-
nosomen.
Die Abwehr- und Schutzfunktion kommt abhanden und wird abgelöst
von freigesetzten Abwehrstoffen wie Lysozym in der Tränenflüssigkeit oder
Defensine der Hautoberfläche [1]. Die hoch entwickelten Organismen bil-
den differenzierte und spezifische Abwehrsysteme aus mit Phagozytose der
Fremdstoffe durch Granulozyten, Makrophagen und Killerzellen. Zudem
werden immunologische Verstärkungssysteme entwickelt, bei den Wirbel-
tieren das T-Zell-System mit Prägung im Thymus, und bei den Vögeln das
B-Zell-System mit Prägung in der Bursa Fabricii sowie bei Säugetieren und
Menschen im lymphatischen System.
Die intrazelluläre Fremdstoffabwehr durch phenolische Denaturierung
ist also entwicklungsgeschichtlich obsolet geworden. Der Mechanismus
aber bleibt als Relikt der Phylogenese partiell bestehen und kommt als Pig-
mentwerk in Haut und Auge zu neuer Bedeutung. Die Melanosomen, mit
den hochkomplex polymerisierten Melaninen in ihre Lamellenstruktur ein-
gebunden, finden sich nur noch in den Melanozyten, die im dritten Em-
bryonalmonat aus der Neuralleiste ins Auge und die Haut auswandern.
Dort versorgen sie die Zellen der Aderhaut und der Epidermis, die Kerati-
nozyten eben, mit Melanosomen. Beim Menschen gibt es, genetisch unter-
schieden, das braunschwarze Eumelanin und das rotgelbe Phäomelanin.
Entsprechend der Anteile der beiden Melaninformen stellt sich die Hautfar-
be mit gleitender Skalierung von gelb-rötlich bis dunkelschwarz dar. Durch
Steigerung der Bestückung der Keratinozyten mit Melanosomen, die sich
als Polkappen über die Zellkerne legen, kann die genetisch festgelegte Pig-
mentierung vorübergehend gesteigert werden. Dies kann durch UV-Be-
strahlung und auch auf chemischem Weg stimuliert werden und wird Bräu-
nung genannt. Das Gegenteil, Abblassen der Pigmentierung, erfolgt durch
114 z E. G. Jung

Vermeidung der Stimulierung (Lichtschutz also) oder kann auf che-


mischem Wege versucht werden (Bleichung). Beides, Bräunung und Blei-
chung, sind Probleme und Anliegen, die sich durch die gesamte Kultur-
geschichte der Menschheit ziehen.
Der Pigmentgehalt und damit die Farbe der Haut ist ein wesentlicher Be-
standteil der sichtbaren Ausrüstung des Menschen, eines der rassischen
Merkmale also. Und es gibt Unterschiede, nicht in der Zahl der Melanozy-
ten, aber in deren Leistungen. So sind die Melanosomen der schwarzen
Haut größer und werden einzeln den Keratinozyten transferiert, welchen
sie während der ganzen Differenzierung, bis in die Hornschicht, erhalten
bleiben und so die dunkle Farbe ausmachen. Bei den Weißen, auch Kauka-
sier bezeichnet, sind die Melanosomen kleiner, werden von den Keratinozy-
ten in Gruppen getragen und während der Differenzierung schon in der
Mitte der Epidermis abgebaut. Es resultiert eine hellere, meist nur leicht
braune Pigmentierung.
Den Extremfall mit weißer, gar nicht pigmentierbarer Haut, verbunden
mit Lichtscheu und Nystagmus, stellt der Albinismus dar, eine Mutation
mit Ausfall der Tyrosinase, Schlüsselenzym der Melanogenese. Dieses En-
zym und seine Bedeutung zur Pigmentbildung wurde 1916, also vor 90 Jah-
ren, von Bruno Bloch (1878–1933) entdeckt [2], dem ersten dermatologi-
schen Ordinarius in Basel ab 1908 und dann in Zürich 1916–1933. Im Ge-
gensatz zu diesem „Tyrosinase-negativen Albinismus“ kann man einen „Ty-
rosinase-positiven Albinismus unterscheiden, ein Membrandefekt der Mela-
nosomen, der im Laufe der Zeit eine leichte rotgelbe Pigmentierung erreicht,
ausschließlich durch Phäomelanin und zudem recht spärlich (Abb. 1).

Abb. 1. Trosinase-neg. Albino mit leicht gelblicher


Einfärbung von Haut und Haaren im Alter, sowie
vorzeitige Hautalterung mit multiplen Basaliomen
durch die ungeschützte Sonnenbelastung im Ge-
sicht
Pigment z 115

Tabelle 1. Tabelle der Hauttypen I–VI nach Fitzpatrick *


Hauttyp Hautfarbe Entwicklung
von Sonnenbrand/Sonnenbräune
I sehr helle Haut, Sommersprossen, Verbrennt praktisch immer/bräunt
rote Haare, helle Augen (keltischer Typ) praktisch nie
II helle Haut, blonde Haare, helle Augen Verbrennt leicht/bräunt minimal
(skandinavischer Typ, Kaukasier)
III hellbraune Haut, hellbraune bis dunkel- Verbrennt gelegentlich/bräunt gut
braune Haare, helle oder braune Augen
>IV mittelbraune Haut, dunkle Haare, Verbrennt selten/bräunt sehr gut
dunkle Augen (mediterraner Typ)
V dunkelbraune Haut (asiatischer Typ, Verbrennt sehr selten,
Orientalen, Lateinamerikaner) bräunt sehr gut
VI schwarze Haut Verbrennt extrem selten bis gar nicht/
(Afrikaner, Afroamerikaner) sehr dunkle Pigmentierung

* Abb. C-21.1 aus Dermatologie von I. Moll, 6. Aufl. Duale Reihe 2005, Seite 534.

Abb. 2. Hauttyp I, Gesicht einer jungen Frau mit


rötlichem Haar und fehlender Pigmentierung. Die
Sommersprossen stellen Inseln dar mit geringem,
durch Sonne wenig stimulierbarem Melanozyten-
besatz

Auch innerhalb der weißen Rasse gibt es markante Unterschiede, die so-
wohl die Basispigmentierung als auch deren Stimulierbarkeit betrifft. Sie
basieren auf dem genetisch determinierten Verhältnis von schwarzbraunem
Eumelanin und dem rotgelben Phäomelanin. Ein brauchbares Schema zur
Einteilung stammt von Thomas Fitzpatrick (Tab. 1 und Abb. 2).
116 z E. G. Jung

Zur Kulturgeschichte der Pigmentierung

Nach der Entstehung der Hominiden in Afrika vor 2,5 Mio. Jahren kam es
zur Ausbreitung in drei Wellen, Out-of-Afrika nach Europa und Asien, im-
mer über die Landbrücke des vorderen Orients. Mit der zweiten Welle vor
0,8 Mio. Jahren kam der Homo Heidelbergensis und daraus der Neander-
taler (vor 300 000–35 000 Jahren) nach Europa. In der dritten Welle kam
vor 150 000 Jahren der Homo sapiens, der heutige Mensch, nach Europa
und besiedelte zunächst die südlichen Regionen, um dann später auch weit
nach Norden vorzudringen. Frühe Siedelungen sind nachzuweisen und seit
60 000 Jahren auch Kulturdokumente.
Eine rassische Segregation erfolgte, als die Bevölkerungszunahme zu Be-
gegnungen der Völker und zur Konkurrenz um Land, Wasser und Ressour-
cen führten. Dabei spielte die Pigmentierung, dunkel im Süden und hell-
häutig im Norden, eine entscheidende Rolle im Wechselspiel des Pigment-
schutzes gegen übermäßige Sonnenexposition und der Möglichkeit der
Photosynthese von Vitamin D in der Haut durch Sonneneinstrahlung.
Mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 14 000 Jahren beginnt die massive
Besiedelung der fruchtbaren Flusstäler. Siedelungen und Städte entstehen,
die Bevölkerung nimmt zu und die ersten Hochkulturen entstehen. Erneut
entbrennt der Kampf um Land, Wasser, Ressourcen und Handelswege. Poli-
tische und militärische Macht wird entfaltet und religiös unterlegt. Dies
führt wiederum zu Verschiebungen von Völkern oder Teilen derselben, ak-
tiv oder passiv. Eroberung oder Vertreibung, Aufstieg und Fall bestimmen
die Weltgeschichte, ohne dass die Klimaverträglichkeit der Menschen am
neuen Standort berücksichtigt wird. Dies setzt sich fort in den Völkerwan-
derungen, in der Entdeckung neuer Kontinente, in der Kolonialisierung ei-
nerseits und der Versklavung anderseits.
Und auch die moderne Globalisierung führt dazu, dass viele Menschen
mit der ihnen eigenen Pigmentierung nicht in das zugewiesene Klima pas-
sen, resp. zum Bestehen des Strahlungsklimas weder gerüstet noch geschult
sind. Die einstmalige rassische Segregation ist massiv durcheinander ge-
kommen.
In Europa und dem vorderen Orient wird den hellhäutigen Rassen, wohl
egozentrisch, eine Dominanz zugeordnet, die auch in Kulturdokumenten
festgehalten wird. Aber auch innerhalb der hellhäutigen Völker wird blasse
Haut als vornehm herausgestellt und die Bräunung als Zeichen der Feld-
arbeit geschmälert. Dagegen erhebt sich verständlicherweise Widerstand.
Es fängt schon früh an, beginnt doch das Mädchen den Wechselgesang
im Hohen Lied [4] von König Salomo (965–926 v. Chr.) mit dem berühm-
ten „ Nigra sum, sed formosa“:

„Braun bin ich zwar, doch hübsch,


ihr Töchter Jerusalems
wie die Zelte Kedars,
Pigment z 117

wie die Teppiche Salomos.


Seht mich nicht an,
dass ich so gebräunt bin,
dass mich die Sonne verbrannt hat.
Die Söhne meiner Mutter zürnten mir,
bestellten mich,
die Weinberge zu hüten –
meinen eigenen Weinberg
habe ich nicht gehütet.“

Sie gefällt sich, obschon sie sonnengebräunt ist von der Arbeit im Wein-
berg, die sie unter Vernachlässigung der eigenen Blässe für die Brüder tat,
braun wie die dunklen Zelte der Nomadenstämme von Kedar oder wie das
Lager von König Salomo selbst, das er mit der schwarzen Königin von Saba
teilte. Sie erachtet sich den blassen Töchtern Jerusalems als gleichwertig.
Erst im 9. Jahrhundert nach Christi Geburt wurde der jüngste der drei
Könige, die dem Christkind an der Krippe zu Bethlehem huldigten, als
Caspar der Mohr mit schwarzer Hautfarbe dargestellt. Das Christentum ist
für alle Menschen da, so sei es ausgedrückt, und mache keine Rassenunter-
schiede.
Und in der Zeit der Kreuzzüge finden Begegnungen aller Art mit den
Sarazenen oder Mauren statt, welche deren Gleichwertigkeit mit den Kreuz-
rittern offen legen, zunächst im Kampf, dann aber auch im höfischen Le-
ben. Wolfram von Eschenbach hat dem Helden Parzival einen Halbbruder,
den Mischling Feirefiz gegenübergestellt, der im Duell und am Hofe als
Liebling der Damen durchaus gleichwertig auftritt [5]. Und im Mittelalter
führt die Begegnung und die Konfrontation das alten Kontinents mit Afrika
und Asien zur Auseinandersetzung mit den Menschen schwarzer Haut [6]
und den Asiaten mit gelber Haut hauptsächlich zur Rassendiskriminie-
rung. Die Entdeckungen von Nord- und Südamerika, von Australien und
den Pazifischen Inselgruppen lassen die ganze Vielfalt menschlicher Rassen
und insbesondere deren Pigmentierung klar werden. Kolonialisierung und
Versklavung sind Folgen davon und führen zur problemgeladenen Bewälti-
gung von Rassentrennung und Apartheid im vergangenen Jahrhundert.
Und auch die Bibel ist nicht ganz frei davon. Ham, der älteste Sohn No-
ahs, sah diesen nackt und betrunken im Zelt liegen und wurde deshalb
vom Vater verflucht [7]. Er und seine Nachkommen sollen seinen Brüdern
als „Knecht der Knechte“ dienen und Hams Sohn Kusch trug als Zeichen
des Fluchs schwarze Haut. Er gilt als Stammvater der Äthiopier und der
Schwarzafrikaner. Diese Auslegung diente zeitweise zur Argumentierung
des Sklavenhandels [8] und wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts aufgege-
ben.
Seit gut hundert Jahren zeigt sich unter den hellhäutigen Menschen eine
neue Entwicklung. Die weiße Haut als Zeichen des Wohlstandes ohne Feld-
arbeit kommt außer Mode. Die Naturalisten und verwandte Bewegungen
implizieren die natürliche Bräunung durch die Sonne infolge ausgedehnten
118 z E. G. Jung

Aufenthalts im Freien. Wandern, Baden, Sport, Sonnenbaden etc. werden


propagiert und bewegen die Massen. Gesundheit, Leistungsfähigkeit und
Freiheit sind Argumente und Wohlbefinden, Anmut der Bewegung,
Schönheit und gemeinsame Unternehmungen die Ziele. Gebräunte Haut ist
schön und vermittelt Gesundheit sowie Freiheit. Bräunung wird angestrebt
und, wo sie durch die natürliche Sonne nicht erreicht wird, durch künstli-
che Lichtquellen (Höhensonnen, Solarien etc.) ergänzt. Es entwickelt sich
wahrlich ein Bräunungswahn. Unkontrollierte und wiederholte Überexpo-
sition führt zu Sonnenbrand und zur Induktion der lichtbedingten Hauttu-
moren nach Latenzzeiten von 1–3 Jahrzehnten, zur Photokarzinogenese.
Das vernünftige Sonnenverhalten mit repetierten suberythematösen Dosen
musste erst vermittelt und erlernt werden. Noch ist das Ziel bei weitem
nicht erreicht.
Und die Reaktion der Afrikaner aus Afrika und Amerika war zusammen
mit der „Black Power“-Bewegung selbstbewusst: „Black is beautiful!“ Neu-
erdings aber ist diese Devise nicht mehr konsistent. Die Bleichung der
dunkelschwarzen Haut, die Aufhellung nimmt überhand und dominiert die
Mode der dekorativen Kosmetik. Aber der Bleichungswahn geht noch wei-
ter, permanente Bleichung ist das neue Ziel mit einer Vielzahl von traditio-
nellen Rezepturen, effektiven, schädlichen und nur scheinbar wirksamen.
Viele basieren neben besonderen Kräutern meistens auf Kortikosteroiden
und Hydrochinon und müssen immer wieder aufgetragen werden, auch
wenn Reizungen, Narben und die gefürchtete „Dyschromia in Confetti“
(Abb. 3) drohen. Eine erst später manifeste Karzinogenese ist nicht aus-
geschlossen. „Haut light“ ist das Traumziel vieler junger Frauen, ähnlich
der hellbraunen Pigmentierung der Mischlinge, nach dem französischen

Abb. 3. Dyschromia in Confetti, die missglückte,


nur inselförmige, permanente Depigmentierung an
der Wange durch Anwendung von hydrochinon-
haltiger Bleichcreme bei Chloasma uterinum
Pigment z 119

métis (Mischling, eigentlich falsch gewoben; Mulatte). „Le look métis“ gilt
als Maß der Dinge und die Haare sowie die Körperformung werden zu-
recht gepasst [9].
Die gesuchte Bräunung der weißen und die Bleichung der schwarzen
Haut scheinen ja zu konvergieren. Sollte eine Einheitsfärbung in Hellbraun
das Resultat der Bemühungen sein, so müsste ja die Kreuzung der Rassen
zum Ziel führen. Doch damit würde die Hautfarbe zur Prägung der Indivi-
dualität entfallen und müsste ersetzt werden durch andere, gemalte (Body
painting) oder „gestylte“ Eigenheiten, wie es mit permanenter Kosmetik,
mit Tattoo und kosmetischen Operationen schon in bunter Vielfalt angeht.

Literatur
1. Christophers E (2004) Psoriasis – Epitheliale Abwehr und die Entwicklung des Me-
tabolischen (Insulin-Resistenz-) Syndroms. Akt Dermatol 30:289–292
2. Bloch B (1916) Chemische Untersuchungen über das spezifische pigmentbildende
Ferment der Haut, die Dopaoxydase. Zschr F Physiol Chem 98:226–254
3. Moll I (Hrsg) (2005) Dermatologie. Lehrbuch Duale Reihe. Thieme, Stuttgart
4. Bibel, A.T.: H.L. 1, 5–6
5. Jung EG, Ulmschneider H (1996) Das moderne „Happle-Konzept“ der Naevi mit
historischen Bezügen. Akt Dermatol 22:129–131
6. Paravicini Bagliani A (Hrsg) (2005) La Pelle Umana (The Human Skin). Micrologus
XIII. Sismel Ed. del Galluzzo, Firenze
7. Bibel A.T., 1. Mos. (Genesis) 9, 20–27
8. Hayner StR (2002) Noahs Curse: The Biblical Justification of American Slavery. Ox-
ford Univ Press, Oxford
9. Scheen T (2005) Haut light. Afrikanerinnen unterwerfen sich westlichen Schön-
heitsidealen. FAZ Nr 45 vom 13. 11. 2005
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut
C. Wietig, S. Williams, M. Davids, M. Kerscher

„Helle Haut“ war seit Beginn der Entwicklungsgeschichte des westlichen


Zivilisationsprozesses kein wertfreies Körpermerkmal wie viele andere phä-
notypische Merkmale des Menschen, sondern nahm bezüglich kultur-
geschichtlicher Aspekte oft eine Sonderstellung ein. So blieb die helle Haut
im immerwährenden Wandel der Schönheitsideale durch alle Stilepochen
bis ins 20. Jahrhundert ein unverändertes Statussymbol. Erst im „Jet-
set“-Zeitalter des endenden 20. Jahrhunderts löste die prestigebesetzte
Bräune das „Ideal“ der hellen Haut ab und helle Haut wurde oft mit Blässe
und Krankheit assoziiert. Das Image (von lat. Imago, Bild) der sonnen-
gebräunten Haut wurde jedoch bereits wenige Jahrzehnte später durch
Hautkrebs- und Anti-aging-Kampagnen des Mythos Alterslosigkeit teilwei-
se wieder revidiert, wobei trotz intensiver Aufklärungsmaßnahmen noch
heute eine „gesunde Bräune“ bei vielen Menschen als erstrebenswert gilt.
Der Ursprung des „Ideals“ der hellen Haut, das über die lange Jahrhun-
derte konstant bleiben sollte, geht auf die antiken Ägypter zurück, die sich
gleichermaßen um die Schönerhaltung der Lebenden wie auch die ewige
Schönheit der Toten bemühten. Die täglichen Reinigungs- und Schmink-
prozeduren standen in engem Zusammenhang mit den von Priesterärzten
ausgeführten Mumifizierungstechniken, die die sterbliche Hülle vor dem
Zerfall bewahren sollten. Bei den antiken Ägyptern wurde das Fleisch der
unsterblichen Götter durch Gold symbolisiert, das metaphysisch mit Licht
und der Urenergie der Sonne gleichgesetzt wurde. Dieser strahlende, alles
übertreffende Lichtglanz der Göttlichkeit prägte die spätere kulturelle Prä-
ferenz für helle Haut. Außergewöhnliche natürliche Schönheit wurde da-
rum seit jeher als Gottesgeschenk angesehen und die kosmetisch-tech-
nische Annäherung an das „göttliche Ideal“ wurde in den hierarchischen
Klassengesellschaften nur gesellschaftlich herausragenden Persönlichkeiten
zugestanden. Die helle Haut, die „vornehme Blässe“, visualisierte auch
körperästhetisch die Zugehörigkeit zur Oberschicht, weil eine mögliche
Bräunung durch den Zwang zur Arbeit im Freien vermieden werden konn-
te. Über die Hautfarbe wurden die historischen Machtstrukturen und die
damit verbunden Besitzverhältnisse angezeigt. Weiß wurde somit zur Farbe
der hegemonialen Kultur.
Helle Haut war jedoch nicht nur Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer
höheren Schicht, sondern symbolisierte auch Jugend und Unberührtheit.
Da die Haut bestimmter Lokalisationen in der Schwangerschaft nachdun-
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut z 121

Abb. 1. Beispiel hieratischer


Schrift. Detail des Papyros
Ebers (1552 v. Chr.); aus: Loh-
se-Jasper R. Die Farben der
Schönheit, Eine Kulturgeschich-
te der Schminkkunst. Gersten-
berg Verlag, Hildesheim 2000

keln kann (zum Beispiel Linea nigra), versinnbildlichte helle Haut die Jung-
fräulichkeit und machte besonders begehrenswert. In der Kunst wird helle
Haut geschlechtsspezifisch zwischen Männern und Frauen nuanciert unter-
schiedlich dargestellt. So wurde das Inkarnat, der Fleischton der Körper-
haut, von Frauen immer etwas heller als das der Männer gewählt.
Das „Ideal“ der hellen Haut war jedoch stets mit dem Streben nach rei-
ner, makelloser Haut ohne sichtbare Läsionen und Alterserscheinungen ver-
bunden. Im Papyros Ebers, einer ägyptischen medizinischen Textsammlung
aus dem Jahre 1552 v. Chr., berühren folgende Kapitel der Rezepturvor-
schriften zur Wiedererlangung der Gesundheit die Hautverschönerung und
deren Jungerhaltung (Abb. 1):
„87, 3–4. Desgl. um die Hautfarbe zu ändern, 6–8. Desgl. zur Vertrei-
bung der Gesichtspickel, 8–15. Desgl. um dem Gesichte ein glattes Ansehen
zu geben, 15–17. Desgl. um die Falten im Gesicht zu vertreiben“ [1].
Bei den antiken Griechen wird das Bemühen um Schönheit unter dem
Begriff Kalokagathia ausgedrückt, der als altgriechisches Bildungsziel
Schön- wie auch Gutsein umfasst und dem ästhetischen sowie ethischen
Ideal der Vollkommenheit entsprach. Der Philosoph Demokritos (um
460–371 v. Chr.) und der Schriftsteller Athenaios (um 200 n. Chr.) empfah-
len, die Haut nach der Reinigung mit Fetten zu salben, um deren Glätte zu
erhalten [2]. Bereits die antiken Griechinnen verwendeten Bleiweiß, um ih-
ren Teint aufzuhellen.
Aphrodite, die griechische Göttin der Liebe und Schönheit, die spätere
römische Venus, entstammt den göttlichen Gefilden des Olymp. Ihre An-
mut, ihre helle Haut, ihr blondes Haar und ihre „beglückende Lichtfülle“
stellten für die alten Griechen wichtige Merkmale ihrer göttlichen Aus-
strahlung dar. Der auf der Erde am hellsten erscheinende Planet, der Mor-
gen- und Abendstern, wurde als Venus, der Stern der Liebesgöttin, bezeich-
122 z C. Wietig et al.

Abb. 2. Sandro Botticelli


(1445–1510) „Die Geburt der
Venus“, Uffizien, Florenz, 1486;
aus: Toman R (Hrsg) Die Kunst
der italienischen Renaissance,
Architektur, Skulptur, Malerei,
Zeichnung. Könemann, Köln
1994: 283

net. Er erlangte bereits in der babylonischen Astralmythologie als positives


Sinnbild der Ischtar hohe Bedeutung. Weil dieser Archetyp der Liebes-
göttin auch in den folgenden Jahrhunderten Schönheit, Jugendlichkeit und
Attraktivität symbolisierte, eiferten ihm Frauen aller Epochen nach
(Abb. 2).
Der griechische Begriff Kosmetik (griechisch für Haut- und Schönheits-
pflege) steht etymologisch in Verbindung mit dem Kosmos (griechisch für
Ordnung), der Weltordnung und mit dem Weltall, wobei der Mensch meta-
physisch als Mikrokosmos (griechisch für die kleine Welt) im Makrokos-
mos (griechisch für das Weltall) verstanden wird. Kosmetik betreiben be-
deutet also übertragen, sich in Resonanz und Einklang mit der Harmonie
des Universums und des Göttlichen zu bringen. Das „Ideal“ heller Haut
stand in der Antike nicht nur in Abhängigkeit ihrer Oberflächenbeschaf-
fenheit, sondern auch ihres räumlichen Bezugs. Beispielsweise entsprechen
die Proportionen des Goldenen Schnitts den Zahlenverhältnissen der Um-
laufbahn der Venus zur Sonne und zur Erde. Auch das seit der Antike den
Menschen symbolisierende Pentagramm, das Fünfeck, bildet sich durch die
Positionen der unteren Konjunktion von Sonne und Venus im Tierkreis [3].
Die Proportion des Menschen, die anthropometrische Verhältnismäßigkeit,
bestimmte daher seit der Antike das mikrokosmische Schönheitsideal des
Menschen in Maß und Zahl.
Durch die philosophische Urbild-Abbild-Theorie der Antike, nach der
eine schöne Seele in einem schönen Körper wohne, wurden Schönsein,
Gutsein und Gesundheit gleichgesetzt. In der physiognomischen und litera-
rischen Tradition wurden häufig Analogien zwischen Helligkeit und Trans-
parenz der Haut sowie Empfindsamkeit und einem positiven Durchschei-
nen der Emotionen gezogen. Die Hautpigmentierung wurde daher oft nicht
allein nach „ästhetischen“, sondern auch nach moralischen Werthierarchien
klassifiziert. Die Haut wurde sinnbildlich als Spiegel der Seele und des
körperlichen Wohlbefindens angesehen. Heller Glanz der Haut sollte von
unversehrter Oberfläche und damit Gesundheit zeugen. Diese Emanation
ließ helle Haut erstrebenswerter und attraktiver erscheinen.
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut z 123

Dem „Ideal“ standesabgrenzender schneeweißer Haut wurde über lange


Epochen bis hin zur Renaissance mit abdeckenden, weißen Kosmetika
nachgeholfen. Der römische Dichter Ovid (Publius Ovidius Naso, 43. v.
Chr. bis etwa 17 n. Chr.) beschreibt in einem erhaltenen Fragment über
Kosmetik „Medicamina faciei femineae“ eine Gesichtsmaske für die
Schönerhaltung heller Haut:

„Dic age, cum teneros somnus dimiserit artus,


candida quo possint ora nitere modo. . . .
sextantemque trahat cummi cum semine Tusco;
huc nouies tanto plus tibi mellis eat:
quaecumque afficiet tali medicamine uultum,
fulgebit speculo leuior illa suo.“ [4]

„Lernt jetzt, wie das Gesicht, wenn der Schlaf euch befreit die zarten
Glieder, sich glänzend schmücke mit strahlendem Weiß. . . . Thu zwei
Unzen dazu von Tustischen Körnern und Gummi, und neunmal so viel
Honig noch gieße darein. Wenn du dir dann das Gesicht einreibst mit
der obigen Mischung, wird es glänzend, dass selbst heller dein Spiegel
nicht strahlt“ [5].

Eine berühmte, verschwenderische Anwenderin von Bleiweiß in Zeiten der


Renaissance war die englische Königin Elisabeth I. (1558–1603), die daher
auch als „Elfenbein-Regentin“ in die Geschichte einging. Die Langzeit-
anwendung Blei-haltiger kosmetischer Zubereitungen führte jedoch zu ei-
ner deutlich sichtbaren Hautschädigung. Im Alter ließ Königin Elisabeth I.
daher alle Spiegel in ihrem Palast entfernen, um den Verfall ihres Gesichtes
nicht länger mit ansehen zu müssen [6].
Im kulturell wegweisenden Frankreich der ersten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts galt die künstliche Körpermodifikation als Verfeinerung des Natur-
zustandes, die auch einer Bewahrung der standesabgrenzenden Distinktion
diente. Bleiweißschminken, Perücken, Puder und Parfums der „trockenen
Toilette“ waren daher prestigeverpflichtend. Auch Altersunterschiede zwi-
schen Kindern und Greisen wurden symbolisch durch Bleiweißschminke
aufgehoben und suggerierten Zeitlosigkeit und Unantastbarkeit. Die exzes-
siven Schminktechniken blieben jedoch auch unter Zeitgenossen nicht oh-
ne satirische Kommentare, wie die Kritik des Predigers und Volksschrift-
stellers Abraham a. S. Clara (1644–1709), eigentlich Johann Ulrich Megerle,
am Schminken der Damen belegt:

„1) Abrahamisches Gehab dich wohl . . . : ihre Falten überschmiert sie mit
Curnisoll, Bleyweiß und anderer Schminke, hat beynebens etliche helf-
fenbeinerne Zähn im Maul, welche ihr der Artzt eingesetzet“ [7].
124 z C. Wietig et al.

Im Zeitalter der Aufklärung wird in Ratgebern wie „Anmuth und Schönheit


aus den Misterien der Natur und Kunst für ledige und verheirathete Frau-
enzimmer mit Kupfern, Berlin 1797“ vor den gesundheitsschädlichen
Schminken gewarnt:

„Schädliche Schönheitsmittel
Es gibt bekanntlich rothe und weiße Schminke. Die gewöhnlichsten weiß-
färbenden Mittel sind: Der Sublimat, weißer Vitriol, Perlen, Benzoe, Wis-
muth, Bleiweiß, und hiervon vorzüglich das Kremserweis, Koboldpräcipi-
tat, Alabaster und weißer Puder. Roth färbt Karmin, Zinnober, Kugellack,
die mit Zinnober gemachte Seife, Talch (ein venetianischer kalkartiger
Stein) mit Saflor gefärbt, und die Blume der Amaranthe. Brandwein
macht auch auf eine kurze Zeit die Haut roth, wegen seiner erwärmenden
und zusammenziehenden Kräfte“ [8].

Erst im Blick anderer nimmt der eigene Körper Kontur einer Ethnie an.
Wir sind gewohnt, Zeichen des Körpers geografisch, national und kulturell
zu deuten. Durch die binären Denkstrukturen des christlichen Abendlan-
des wurden physische Merkmale wie Konstitution und Hautfarbe in der
Ethnologie und Anthropologie oft dual mit positiven und negativen Eigen-
schaften besetzt. Dies geschieht am folgenschwersten in rassentheoretischen
Diskursen. Für den Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816–1882)
zum Beispiel war die Hautfarbe ein zentrales Kriterium [9].
Weil dunkle Haut sich weniger sichtbar verändert, galt sie bei einigen
Menschen als undurchdringlicher und verhüllend (englisch für hide). Auch
die Etymologie von Color verweist auf celare (lat. für verstecken). Danach
haben Farbpigmente zugleich bergenden bzw. verbergenden Charakter. In
den USA steht Color synonym für Race. Durch die in vielen Ländern wie
auch den USA gängige Unterscheidung in white und colored (als degradie-
rende Subsummierung aller „nicht-weißen“ Menschen) wird die anthro-
pologische und ideologische Frage von Farbigkeit und Farblosigkeit auf-
geworfen, die die binäre Struktur des Denkens mit den Konstrukten von
Farbig und Weiß der folgenschweren „Epidermical hierarchy“ begründet.
Jedoch gibt es auch gegenüber bestimmten Aspekten heller Haut Vor-
behalte. So wird seit Beginn des Jetset-Zeitalters helle Haut oftmals mit
Blässe und Krankheit assoziiert, während sonnengebräunte Haut als „ge-
sunde Hautfarbe“ bezeichnet wird. Ausgeprägte Vorbehalte zeigten sich
von jeher gegenüber der Pigmentlosigkeit des Albinismus. In der Literatur
wird die Perzeption pigmentfreier Haut von Franz Kafka (1883–1924) und
den zeitgenössischen Schriftstellern Plath und John Edgar Wideman als
mangelhafte, formlose, kranke und leblose Hülle vorgestellt. Wideman be-
schreibt in seinem Roman „Sent for You Yesterday“ (1983) den Albino
Brother Tate als „dead in bag of white skin“ [10]. Menschen mit Albinis-
mus wurden auch in vielen Religionen als „un-menschlich“ angesehen, für
die normale soziale Regeln nicht galten. Darum begegnete man ihnen mit
Kulturgeschichtliche Aspekte heller Haut z 125

Scham, Tötung oder – weil man glaubte, sie seien auferstandene Tote – mit
Apotheose, die sie schützte. Erst im Zeitalter der Aufklärung wird nach
dem Werk Georges Louis Leclerc Buffons (1707–1788) „Histoire naturelle“
(1777) der Albinismus als eine individuelle Variante innerhalb der Spezies
entmystifiziert.
Das „ideale“ Körperbild, ursprünglich den Göttern und höheren Ständen
vorbehalten, wird seit der Antike bis heute als Statussymbol der sozialen
Macht angestrebt. Das über Jahrhunderte fest verankerte „Ideal“ der hellen
Haut wurde Ende des 20. Jahrhunderts aufgeweicht, unter anderem durch
das Reisen in ferne Länder als Symbol für materielle Unabhängigkeit. Trotz
Eiferns nach sonnengebräunter Haut blieb jedoch in den westlichen Gesell-
schaften weiterhin das „Idealbild“ des hellen Hautphänotyps bestehen. Das
Streben nach stark sonnengebräunter Haut durch intensives Sonnenbaden,
das vor 10 bis 30 Jahren seinen Höhepunkt hatte, wurde durch Aufklä-
rungskampagnen über die schädlichen Wirkungen des ultravioletten Lich-
tes relativiert, jedoch nicht vollständig aufgehoben. Auch heute noch gilt
ein leicht gebräunter Teint als erstrebenswert, wenn auch nicht um jeden
Preis. Davon zeugt zum Beispiel der derzeit zu beobachtende Boom Dihy-
droaceton-haltiger „Selbstbräuner“.

Literatur
1. Papyros Ebers (1987) Das hermetische Buch über die Arzneimittel der Alten
Ägypter in hieratischer Schrift, Leipzig 1875. Biblio, Osnabrück
2. Sigismund R (1884) Die Aromata in ihrer Bedeutung für Religion, Sitten, Gebräu-
che, Handel und Geographie des Alterthums bis zu den ersten Jahrhunderten un-
serer Zeitrechnung. Winter’sche Verlagshandlung, Leipzig
3. Ströter-Bender J (1994) Liebesgöttinnen. Von der Großen Mutter zum Hollywood-
star. Dumont, Köln
4. Ovidi Nasonis P (1989) Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Re-
media Amoris, Editit, Brevique Adnotatione Critica. Kenney EJ (Hrsg) Oxford
University Press, Oxford
5. Rimmel E (1985) Das Buch des Parfums, Die klassische Geschichte des Parfums
und der Toilette. Hesse & Becker, Dreieich
6. Liggett J (1989) Die Tyrannei der Schönheit. Heyne, München
7. Schultz A (1890) Alltagsleben einer deutschen Frau zu Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts. Hirzel, Leipzig
8. Anmuth und Schönheit aus den Misterien der Natur und Kunst für ledige und
verheirathete Frauenzimmer mit Kupfern, Berlin, 1797 (1978) Reprint der biblio-
philen Taschenbücher. Harenberg Kommunikation, Dortmund
9. Gernig K (2001) Fremde Körper im Visier. In: Randow G (Hrsg) Wie viel Körper
braucht der Mensch. Standpunkte zur Debatte für den Deutschen Studienpreis.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg, pp 119–128
10. Benthien C (2001) Haut, Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. 2.
Aufl. Rowohlts Enzyklopädie, Hamburg
Blonde Menschen im alten China
M. Reitz

Bei Grabungsarbeiten in den nordwestlichen Steppengebieten von China


werden hauptsächlich im Bereich des Tarimbeckens, aber auch in der Tur-
fan-Senke und in der Gegend von Lopnur immer wieder Hinweise auf
Menschen gefunden, die sich völlig von den heutigen Bewohnern der Ge-
gend unterscheiden. Es handelt sich um Überreste von Menschen mit ei-
nem europäischen Aussehen, die vor Jahrtausenden auf dem Gebiet der
heutigen chinesischen Provinz Xinjiang lebten und als Nomaden umher-
zogen. Mongoloide Menschen gab es während der Bronzezeit im Tarim-
becken vermutlich nur recht selten. Sie besiedelten erst später diese Gegend
und verdrängten die Europiden [1].
Im Tarimbecken ist es trocken und im Winter sehr kalt, so daß Men-
schen, die im Winter versterben auf eine natürliche Weise mumifiziert wer-
den können. Dieses Phänomen traf auch für die frühen Europiden im heu-
tigen China zu. Es können deshalb noch in unserer Zeit oft sehr gut erhal-
tene und viele tausend Jahre alte Mumien gefunden werden, die zu Lebzei-
ten wie die heutigen Bewohner von Mitteleuropa oder von Skandinavien
aussahen (Abb. 1 u. 2). In den westlichen Grenzgebieten des alten Chinas
gab es über Jahrtausende europide Menschen mit einer hellen Haut und

Abb. 1. Männliche Mumie aus


Zaghunluq (China, Provinz:
Xinjiang), etwa 1000 v. Chr.
Der Mann ist eindeutig euro-
pid, auf den Schläfen sind
ockerfarbene Spiralen aufge-
zeichnet
Blonde Menschen im alten China z 127

Abb. 2. Weibliche Mumie aus Zaghunluq (China,


Provinz: Xinjiang), etwa 1000 v. Chr. Die Frau ist
eindeutig europid, sie trägt geflochtene blonde
Haare und auf der Stirn eine Tätowierung

nicht selten sogar blonden Haaren. Heute würde man die Bewohner für eu-
ropäische Touristen halten, doch es waren Einheimische [1, 2].

Es begann mit der Literatur

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als Archäologen entlang der ehema-
ligen Seidenstraße verstärkt mit Grabungsarbeiten begannen, tauchen im
heute chinesischen Teil von Turkestan immer wieder Papierfetzen mit Res-
ten einer Schrift auf, die lange Zeit niemand lesen konnte. Die Sprache die-
ser Schrift war unbekannt, und sie unterschied sich völlig von den heute
dort gesprochenen Sprachen. Papieranalysen zeigten, dass die Funde über-
wiegend aus der Zeit zwischen dem 6. bis 8. Jahrhundert n. Chr. stammten,
manchmal aber auch wesentlich älter waren. Als es Sprachforschern
schließlich gelang, die Schrift zu lesen, war die Sensation perfekt. Die ge-
fundenen Papiere waren in einer uralten indoeuropäischen Sprache be-
schrieben worden, die heute ausgestorben ist und die den Namen „Tocha-
risch“ erhielt (Tab. 1). Nach und nach wurden Reste von Alltagsdokumen-
ten und einer einst reichen tocharischen Literatur gefunden, doch es fehl-
ten lange Zeit Hinweise auf das passende Volk, das früher diese ausgestor-
bene Sprache gesprochen hatte. Erst als insbesondere im Tarimbecken mu-
mifizierte Europide ausgegraben wurden, war der Kreis geschlossen. Mit
großer Wahrscheinlichkeit waren es diese Menschen gewesen, die zu ihren
Lebzeiten Tocharisch sprachen, eine Sprache, die nach Europa, aber nicht
nach China weist [3, 4].
128 z M. Reitz

Tabelle 1. Wortvergleiche zwischen der


deutschen und der tocharischen Sprache
Deutsch Tocharisch
z Vater pacer
z Mutter macer
z Bruder procer
z Schwester ser
z Kuh keu
z Ochs okso
z Tür twere
z neu nuwe

Abb. 3. Fresko mit zwei buddhistischen Mönchen


in Bezäklik (China, Provinz: Xinjiang), etwa 9. Jahr-
hundert n. Chr. Einer der Mönche ist europid und
trägt Bart, der andere ist mongoloid

Die tocharischen Sprachdokumente sind heute lesbar und können nahtlos


in die Fülle der unterschiedlichen indoeuropäischen Sprachen eingereiht
werden. Es handelt sich häufig um Nachdichtungen und Übersetzungen
von Werken der altindischen Literatur und von buddhistischen Texten. Ver-
mutlich war die buddhistische Religion unter den „chinesischen Indoeuro-
päern“ sogar weit verbreitet (Abb. 3). Manche im Original verschollene
Sanskrit-Texte konnten aus tocharischen Übersetzungen rekonstruiert wer-
den. Daneben gibt es aber auch tocharische Schriften über die heute aus-
gestorbene manichäische Religion, die früher einmal eine Weltreligion ge-
wesen war. In der Mehrzahl kamen bei den Funden allerdings triviale Noti-
zen aus Geschäftsbriefen oder Abrechnungen von Händlern zum Vorschein.
Die Übersetzer in die tocharische Sprache waren sich den Schwierigkeiten
ihrer Arbeit bewusst und vermerkten manchmal am Ende ihrer Überset-
zungen, dass sich vielleicht interpretatorische Fehler eingeschlichen haben
könnten, für die sie sich entschuldigten.
An eigenständigen tocharischsprachigen Werken sind nur Fragmente aus
Liebesgedichten sowie aus Dramen und Erzählungen bekannt. Die tochari-
sche Literatur wurde von der chinesischen Literatur nur wenig beeinflußt.
Interessant sind einige tocharische Fabeln: Vier sehr klugen und kunstfer-
tigen Prinzen gelingt es in einer Fabel aus Knochen einen Löwen zusam-
menzusetzen und ihn sogar zum Leben zu erwecken. Sie sind stolz auf ihr
Werk. Doch sie haben vergessen, dass der Löwe ein gefährliches Raubtier
ist, denn er frisst sie anschließend sofort auf.
Blonde Menschen im alten China z 129

Das Tocharisch war eine sehr reiche Sprache gewesen und stand den
westlichen indoeuropäischen Sprachen näher als den ebenfalls indoeuro-
päischen iranischen Sprachen oder dem altindischen Sanskrit. Die tochari-
sche Schrift war eine kursive Schrift gewesen und ging auf das Vorbild von
indischen Schriften zurück. Es gab keine Buchstaben, sondern ausschließ-
lich Silbenzeichen. Worttrennungen waren nicht üblich, und der gesamte
Text wurde in einem Zug durchgeschrieben. Bisher konnten mindestens
zwei Variationen der Sprache sicher identifiziert werden. Tocharisch A ist
im Tarimbecken belegt und war möglicherweise eine feierliche Liturgie-
sprache ähnlich dem Latein in der katholischen Kirche. Tocharisch B war
räumlich weiter verbreitet und auch sprachlich stärker gegliedert. Wahr-
scheinlich handelte es sich um die Umgangssprache der Bevölkerung. Im
Grenzbereich zu Tibet fanden sich auch Hinweise auf ein Tocharisch C [3].
Die Sprache Tocharisch verschwand zusammen mit dem Volk oder den
Völkern, die sie einst sprachen, um das Jahr 1000 n. Chr. Vermutlich hängt
der Untergang mit dem Vordringen der Mongolen zusammen, die unter ih-
rem Herrscher Dschingis Khan höchst grausam ein gewaltiges Reich er-
oberten. Während dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wurden ver-
schiedene kleinere Völker ausgerottet, und es ist wahrscheinlich, dass die
Menschen, die Tocharisch sprachen, dazu gehört hatten. Überlebt haben
bis heute nur Mischvölker zwischen den einstigen reinrassigen europiden
Völkern und anderen Volksgruppen. Insbesondere das chinesische Volk der
Uiguren trägt noch viele genetische Merkmale der Europiden und grenzt
sich bewusst von den dominierenden Chinesen ab [2].

Die große indoeuropäische Völkerwanderung

Die Geschichte der europiden Menschen auf dem Gebiet des heutigen Chi-
na begann mit den großen indoeuropäischen Völkerverschiebungen in der
Zeit zwischen dem 4. und 1. Jahrtausend v. Chr. Wo die indoeuropäische
Urbevölkerung einst lebte, läßt sich nicht mehr sicher rekonstruieren, und
auch das Urvolk selbst ist unbekannt. Häufig wird ein Gebiet rund um das
Schwarze Meer genannt. Die meist als Proto-Indoeuropäisch bezeichnete
Elternsprache wurde vermutlich bereits vor der Zeit um 3000 v. Chr. ge-
sprochen und hat sich anschließend in weitere Sprachen aufgespalten. Die
Sprache der Proto-Indoeuropäer war außergewöhnlich erfolgreich und
durchsetzungsfähig. Heute dominiert die Familie der indoeuropäischen
Sprachen die Welt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung sprechen ge-
genwärtig eine indoeuropäische Sprache.
In zwei Keilen zogen einst die Menschen der indoeuropäischen Ur-
bevölkerung wahrscheinlich von südrussischen Steppengebieten aus sowohl
nach Westen als auch nach Osten. Es waren kampferprobte und sieges-
gewohnte Stämme, die bereits Pferde und Wagen kannten und große Vieh-
herden mit sich führten. Sie setzten sich als vorzüglich bewaffnete Krieger
130 z M. Reitz

zu Pferd gegenüber den Fußsoldaten ihrer Gegner durch und dominierten


schließlich die einheimischen Bevölkerungsgruppen, mit denen sie sich
später vermischten. Im Laufe der Zeit entstanden aus diesen unterschiedli-
chen Vermischungen ungefähr 2000 neue Völker. Bis auf die Sprache der
Basken gingen in Europa und dem Mittelmeerraum alle ursprünglichen
Sprachen unter und wurden durch indoeuropäische Sprachen ersetzt. Auf
einige der untergegangenen Sprachen gibt es sogar noch Hinweise. Sie zei-
gen ebenfalls keine Beziehungen zu heute in Europa gesprochenen Spra-
chen; etwa die ausgestorbene iberische Sprache in Spanien, die etruskische
Sprache in der Toskana sowie die minoische Sprache auf Kreta [4].
Keime für eigenständige Sprachentwicklungen wurden in allen eroberten
Gebieten gepflanzt. Alle germanischen und romanischen Sprachen, das Sla-
wische, das Baltische, das Griechische, das Albanische und auch manche
ausgestorbene Sprache des Orients wie etwa das Hethitische haben einen
indoeuropäischen Ursprung (Abb. 4). Der Bogen der indoeuropäischen
Sprachen reichte zuletzt vom äußeren Rand Westeuropas mit seinen kelti-
schen Sprachen bis hin nach Zentralasien mit der tocharischen Sprache
(Sprachen?). Die Völker im Iran, Afghanistan sowie einiger Nachbargebiete
aber auch in Nord- und Mittelindien sprechen ebenfalls indoeuropäische
Sprachen. Das älteste erhaltene schriftliche Zeugnis einer indoeuropäischen
Sprache stammt aus dem Reich der Mitannier in Kleinasien und wird auf
die Zeit zwischen 1600 und 1400 v. Chr. datiert. Der gemeinsame Ursprung
dieser großen Sprachenfülle war durch sorgfältige Wortvergleiche und die
Entdeckung von bestimmten sprachlichen Gesetzmäßigkeiten möglich.
Trotz einer eigenständigen Entwicklung von inzwischen 6000 Jahren gibt es
zwischen den Sprachen Indiens, des Irans und Europas noch heute nach-
weisbare gemeinsame Wurzeln [4].

Britanisch
Goidelisch Kumbrisch
Schottisch-Gälisch Walisisch Isländisch
Manx Gälisch Kornisch Färöisch Schwedisch
Irisch-Gälisch Bretonisch Norwegisch Dänisch BALTISCH
Lettisch
(Insel-)
Nord- Litauisch BALTO-
KELTISCH SLAWISCH
(Festland-)
GERMANISCH PROTO-
West- Ost-
Keltiberisch Gallisch Galatisch
Englisch
Polnisch SLAWISCH Belorussisch INDOEUROPÄISCH
Friesisch West- Ost-
Flämisch Gotisch Tschechisch Russisch
Deutsch Slawisch Ukrainisch
Niederländisch Süd-
Afrikaans
Jiddisch Sorbisch Bulgarisch TOCHARISCH
Makedonisch
Französisch Rätoromanisch Serbo-Kroatisch
ARMENISCH
Rumänisch
Okzitanisch Slowenisch
Katalanisch ITALISCH ALBANISCH ANATOLISCH
Spanisch (Latein)
Portugiesisch Italienisch GRIECHISCH Ossetisch IRANISCH INDO-IRANISCH
Kurdisch Tadschikisch
Sardisch
Persisch Paschto INDO-
Belutschi
Nordwest- ARISCH Ost-
Panschabi Pahari Assamesisch
(Sanskrit)
Lahnda Dardisch Bengali
Sindhi Oriya
Zentral-
West- und
Rajasthani Behari
Südwest-
Hindi/Urdu
Gujarati
Marathi
Konkai
Maledivisch Singhalesisch

Abb. 4. Stammbaum der indoeuropäischen Sprachfamilie. Tocharisch war eine sehr ursprüngli-
che indoeuropäische Sprache
Blonde Menschen im alten China z 131

Anthropologische und genetische Untersuchungen

Die Mitglieder der ältesten Einzelvölker des indoeuropäischen Sprachstam-


mes waren nach Skelettfunden sowie frühen künstlerischen Darstellungen
sehr groß, kräftig gebaut, besaßen eine helle Haut und zeichneten sich
überwiegend durch blaue Augen sowie oft durch blonde Haare aus. Die
westlichen Indoeuropäer stammten wahrscheinlich von den Völkern der
Kurgankultur ab, die bereits um 2000 v. Chr. im Gebiet der Adria und Do-
nau lebten. Am weitesten nach Osten drangen jene Volksgruppen vor, de-
ren Einflüsse noch heute in China nachgewiesen werden können. Sie wur-
den von Fürsten regiert und von den Chinesen als Barbaren bezeichnet
(Abb. 5). Vermutlich blieben sie Nomaden oder Halbnomaden und wurden
nicht wie ihre Verwandten in den europäischen und westasiatischen Gebie-
ten sesshaft. Die Qualität der Böden war in ihren Wohngebieten wahr-
scheinlich für eine Landwirtschaft nicht gut genug.
DNA-Analysen der Mumien zeigen, dass die Menschen, die vermutlich
einst Tocharisch sprachen, eine etwa 50%ige Übereinstimmung mit der
DNA von modernen Mitteleuropäern besitzen. Genaue Vergleiche von Schä-
delstrukturen verraten, dass die Bewohner der Jungsteinzeit in Ost- und
Südostasien mehr den Menschen der europäischen Jungsteinzeit als den
heutigen Mongoloiden glichen. Möglicherweise war während dieser Zeit
die mongoloide Großrasse noch nicht vollständig ausgeprägt. In Westsibi-
rien lebten noch in der Bronzezeit hauptsächlich europide Menschen, die
nach und nach von mongoloiden Menschen verdrängt und überlagert wur-
den, wobei zahlreiche Mischvölker entstanden. Erst in der Eisenzeit domi-
nierten mongoloide Einflüsse in Westturkestan [1, 5, 6].
Menschliche Zähne bleiben oft sehr lange erhalten und eignen sich gut
für Untersuchungen der mitochondrialen DNA. An archäologischen Fund-
stellen in Kasachstan wurden 36 menschliche Zähne gesammelt und genau
datiert. Immerhin stammten 29 dieser Zähne aus der Zeit zwischen 1500 v.
Chr. und 500 n. Chr. Alle Zahnfunde vor dem 13. Jahrhundert v. Chr.

Abb. 5. „Barbarenfürsten ver-


ehren den Buddha“, Bildrolle
aus der zweiten Hälfte des 10.
Jahrhunderts n. Chr., Zhao Gu-
angfu zugeschrieben. Die Bar-
barenfürsten zeigen unter-
schiedliche Rassenmerkmale,
einer von ihnen trägt sogar
blonde Haare und ist eindeutig
europid. (Palast-Museum, Pe-
king, China)
132 z M. Reitz

konnten einem europiden Gentyp zugeordnet werden und erst später ka-
men in unterschiedlichen Einwanderungswellen mongoloide Gentypen hin-
zu. Es ist anzunehmen, dass die Europiden von Osten nach Westen immer
stärker zurückgedrängt wurden. Heute besitzen die Bewohner von Ka-
sachstan etwa zur Hälfte jeweils europide und mongoloide Genmerkmale
[2].

Tüchtige Handwerker
Grabbeigaben und künstlerische Darstellungen heben immer wieder her-
vor, dass die Menschen, die vermutlich Tocharisch sprachen, tüchtige
Handwerker waren. Wahrscheinlich übernahmen die Chinesen den Wagen-
bau und die Ausstattung der Pferde von benachbarten Nomadenvölkern.
Weber der europiden Bewohner produzierten hervorragende Stoffe. Ins-
besondere nach 1000 v. Chr. war die Kleidung sehr aufwändig (Abb. 6). Es
wurden Kleidungsstücke aus Leder, Lederschuhe, Hemden, Wollhosen und

Abb. 6. Weibliche Mumie aus Subeshi (China, Pro-


vinz: Xinjiang), etwa 500 v. Chr. Die europide Frau
trägt einen Handschuh und Schuhe aus Leder, eine
dunkle Wollbluse, Wollstrümpfe, einen farbig ge-
streiften Wollrock, sowie einen Umhang aus Leder
mit einem Futter aus Schaffellen, dazu noch einen
hohen Lederhut
Blonde Menschen im alten China z 133

Wollröcke sowie Pelze und Umhangtücher getragen, deren bunt karierte


Muster an die Kleidung der keltischen Schotten erinnerten. Große Hüte
und gefederte Hauben waren vermutlich ein Statussymbol, denn in einem
Grab wurde ein Mann mit gleich zehn Hauben gefunden. Tätowierungen
waren weit verbreitet. In der chinesischen Provinz Xinjiang gibt es ver-
schiedene Fresken aus dem 7. Jahrhundert n. Chr., die blonde Männer mit
blauen Augen und einer hellen Haut zeigen. Es wurden vermutlich reiche
Händler dargestellt, die entlang der Seidenstraße ihre Geschäfte machten.
Sie waren in besten Stoffen und sehr modisch gekleidet. Uralte Kleinplas-
tiken aus den chinesisch-mongolischen Grenzgebieten zeigen oft kriegeri-
sche Männer mit vollen und dichten Bärten, die kaum als Angehörige der
mongoloiden Rasse angesehen werden können, denn bei den Mongoloiden
ist der Bartwuchs spärlich und ein Bart bleibt recht dünn. Metallgüsse und
aufwändige Metallverarbeitungen wurden beherrscht. Zar Peter der Große
besaß in seiner Kunstsammlung kleine Goldplatten aus Nordchina, auf de-
nen als Relief europäisch aussehende Jäger abgebildet waren.

Tocharer sprachen kein Tocharisch

Mit dem historisch nachweisbaren Volk der Tocharer stand das untergegan-
gene Volk (oder Völker), das Tocharisch sprach, jedoch in keiner Bezie-
hung. Der Name der Sprache ist somit recht unglücklich gewählt. Die ech-
ten Tocharer waren ein im Aussehen ebenfalls stark europid geprägtes
Volk, aber sie waren nicht blond. Von den Chinesen wurden sie Yuezhi ge-
nannt. Nach ihrer Niederlage gegen die Vorläufervölker der Hunnen im
Jahre 176 v. Chr. mussten sie ihre Wohngebiete verlassen und überrannten
später das noch aus der Zeit von Alexander dem Großen von griechischen
Herrschern regierte Baktrien. Ihr neuer Siedlungsraum erhielt später den
Namen Tocharestan, heute Teile von Usbekistan. Tadschikistan und Afgha-
nistan. Die echten Tocharer sprachen nicht Tocharisch, sondern eine ande-
re indoeuropäische Sprache [4].

Europide in Ostasien

Bei den endlosen Auseinandersetzungen der Chinesen mit den aggressiven


Nomadenvölkern des Nordens spielten europid geprägte Mischvölker eine
große Rolle. Insbesondere als China bis zur Herrschaft der Tang über Jahr-
hunderte in Teilreiche zerfallen war, rannten kriegerische Nomaden regel-
mäßig gegen seine Grenzen an. China konnte trotz starker Übermacht die-
se Nomadenvölker nie völlig besiegen, und die Kaiser bauten deshalb zu-
letzt die berühmte chinesische Mauer. Bei manchen Nomadenvölkern do-
minierten im Aussehen typische europide Merkmale. Die Wusun werden
beispielsweise als Menschen mit blauen Augen und roten Bärten beschrie-
134 z M. Reitz: Blonde Menschen im alten China

ben, und auch die Männer aus dem Volk der Chieh zeichneten sich durch
europide Nasen und vollen Bärten aus. In den Kontaktrassen zwischen eu-
ropid und prämongoloid gab es durch unterschiedliche Vermischungen von
Volk zu Volk ein wechselndes Aussehen. Die Völkergruppe der Hsiung-nu,
die allgemein als die Vorläufer der Hunnen angesehen werden, bieten dazu
ein gutes Beispiel. Die Hsiung-nu bestanden aus etwa 19 Stämmen. Bei ein-
zelnen dieser Stämme waren die Mitglieder häufig stark europid geprägt.
Liu Yüan, ein gefeierter Eroberer der Hsiung-nu, war 1,84 Meter groß und
besaß einen dichten rötlichen Bart. Der Herrscher Ho-lien Po-Po, Be-
gründer einer Dynastie der Hsiung-nu und Zeitgenosse des in Europa
berüchtigten Attila, war 1,95 Meter groß und sah nur sehr wenig mongo-
loid aus. Römische Autoren beschrieben die Hunnen als sehr hässlich und
fremdartig. In den Texten spielte wahrscheinlich die Propaganda eine große
Rolle, denn manche Hunnen unterschieden sich nach anderen Aussagen
optisch kaum von den Europäern. Es gab in der römischen Armee sogar
Reitereinheiten aus übergelaufenen hunnischen Kriegern. Sie waren ver-
mutlich in Nordafrika und Britannien stationiert und galten als hervor-
ragende Elitetruppen. Ein chinesischer Kaiser, dessen Mutter aus einem der
rassisch gemischten Nomadenvölker stammte, soll im 4. Jahrhundert n.
Chr. einen blonden Bart gehabt haben. Sogar im Stamm von Dschingis
Khan, dem bedeutenden Herrscher der Mongolen, soll es Menschen mit
blauen Augen und rotbraunen Haaren gegeben haben. Noch heute werden
in der Mongolei Kinder mit braunen Haaren und fast europiden Nasen ge-
boren [7]. Nach den griechischen Mythen der Antike werden die Kriegerin-
nen der Amazonen häufig als blond beschrieben; sie stammten aus weit
entfernten asiatischen Steppengebieten.

Literatur
1. Mallory JP, Mair VH (2000) The Tarim Mummies: Acient China and the Mystery of
the Earliest Peoples from the West. Thames & Hudson, London New York
2. Olson S (2002) Mapping Human History. Discovering the Past through our Genes.
Houghton Mifflin, Boston, New York
3. Thomas W (1984) Die Tocharische Literatur. In: Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 1,
Essays. Kindler, Zürich
4. Crystal D (1993) Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Campus, Frankfurt
5. Knußmann R (1996) Vergleichende Biologie des Menschen. Fischer, Stuttgart, Jena
6. Schwidetzky I (1974) Grundlagen der Rassensystematik. Bibliograph Institut, Mann-
heim, Wien
7. Maenchen-Helfen OJ (1997) Die Welt der Hunnen. Herkunft-Geschichte-Religion-
Gesellschaft-Kriegsführung-Kunst-Sprache. VMA-Verlag, Wiesbaden
Weiße Indianer in Nordamerika
M. Reitz

Die genaue Herkunft der ersten Amerikaner liegt immer noch in einem
rätselhaften Dunkel. Es gab Hauptwanderwellen aus Asien, aber auch bis-
her ungeklärte kleinere Einwanderungen aus anderen Kontinenten. Gesi-
chert ist allein, dass die große Mehrheit der Vorfahren der amerikanischen
Urbevölkerung einst in mindestens drei großen Wellen über eine Land-
brücke zwischen Sibirien und Alaska in die Neue Welt eingewandert ist.
Diese Landbrücke glich einem kleinen Kontinent, war einige tausend Kilo-
meter breit und wurde Beringia genannt. Sie bildete sich während der Eis-
zeit in den vergangenen 100 000 Jahren mindestens zweimal aus und war
nicht vereist. Vor rund 50 000 bis 40 000 Jahren sowie vor rund 25 000 bis
14 000 Jahren waren so gewaltige Wassermassen im Eis gebunden, dass der
Meeresspiegel um etwa 100 Meter niedriger lag als in der Gegenwart. Da-
mit waren auch die Küstenlinien völlig verändert und große Teile der
Landmassen waren leichter zu erreichen als nach dem Ende der Eiszeit.
Vermutlich kam der moderne Mensch, Homo sapiens, während seiner
Ausbreitung über die Erde erst vor rund 30 000 Jahren in Sibirien an, so
dass Beringia von ihm nur während einer der letzten Trockenphasen
durchschritten werden konnte. Tatsächlich belegen bei Indianern verglei-
chende Analysen des männlichen Y-Chromosoms, dass seit etwa 18 000
Jahren in Nordamerika Menschen leben. Das Y-Chromosom kann zu 95%
mit dem X-Chromosom keine Rekombination eingehen, so dass es über die
Generationen hinweg unverändert bleibt und aufgrund von regelmäßigen
spontanen Veränderungen einem molekularen Kalender gleicht. Außerdem
wurden sowohl in Nord- als auch in Südamerika noch nie menschliche
Fossilien gefunden, die älter als 13 500 Jahre sind. Indirekte Hinweise spre-
chen allerdings dafür, dass es möglicherweise bereits vor rund 30 000 Jah-
ren in Amerika Menschen gegeben haben könnte [1, 2].

Der Kennewick-Mann

Asien gilt als der Ursprungsort der modernen menschlichen Großrassen-


entwicklung. Neben den Mongoloiden haben sich dort wahrscheinlich auch
die Vorformen der Europiden und Negriden gebildet. Später wanderten
diese Vorformen aus. Die frühen Präeuropiden zog es nach dem Westen,
136 z M. Reitz

Abb. 1. Schädel des Kennewick-Mannes und die


Rekonstruktion seines Aussehens mit modernen ge-
richtsmedizinischen Methoden

wo sie in Europa die Cro-Magnon-Menschen verdrängten. Die Ainu in


Nordjapan verfügen noch heute über zahlreiche präeuropide Merkmale
und gelten als Reste einer Mischbevölkerung zwischen den Prämongoloi-
den und den Präeuropiden. Da die Ainu eine hellere Haut als die typischen
Mongoloiden besitzen, kann angenommen werden, dass auch die frühen
Bewohner Sibiriens relativ hellhäutig waren. Insgesamt könnten die Men-
schen der ersten Wanderwellen nach Amerika sowohl von einer prämongo-
loiden als auch von einer präeuropiden Herkunft gewesen sein [3].
Im Jahre 1996 wurden am Ufer des Flusses Columbia in Benton County
im US-Staat Washington Teile eines freigespülten menschlichen Skeletts ge-
funden, das zunächst für einen neuzeitlichen Europiden gehalten wurde.
Die Untersuchung des Skelettes verwies auf einen Mann im Alter zwischen
40 und 45 Jahren und einer Größe von 1,73 Metern. Misstrauisch wurden
die Untersucher durch eine uralte Pfeilspitze in der Hüfte des Mannes. Sie
ließen deshalb das Alter des Skelettes bestimmen und kamen auf 9330 bis
9380 Jahre. Später wurde der Tote als Kennewick-Mann bezeichnet [1, 4].
Er ist einer der ältesten bekannten Amerikaner. Das nach dem Schädel re-
konstruierte Gesicht des Mannes belegte, dass er nicht wie ein typischer
Indianer aussah (Abb. 1).
Weiße Indianer in Nordamerika z 137

Die Rätsel der Clovis-Kultur

In einer größeren Zahl konnten Menschen erst in Nordamerika einwandern,


als sich auf dem Gebiet des heutigen Alaska und Kanada in den riesigen Glet-
schermassen eisfreie Korridore öffneten. Vorher war es nicht möglich, sich
bei dem langen Weg über die Eisflächen durch Jagd sicher zu ernähren.
Nur vereinzelt wagten sich während dieser Frühzeit Menschen entlang der
Küstenlinien mit kleinen Booten von Sibirien nach Amerika. Ein erster eis-
freier Korridor öffnete sich vor rund 14 000 Jahren. Ihn nutzten die asiati-
schen Einwanderer, die in einer der ersten großen Siedlungswellen vor etwa
11 000 bis 12 000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen USA die so genannte
Clovis-Kultur gründeten; die älteste in Nordamerika sicher nachgewiesene
menschliche Kultur. Die Hinterlassenschaften der Clovis-Menschen sind aller-
dings voller Rätsel. Ihre steinernen Pfeil- und Speerspitzen stimmen im Aus-
sehen und der Herstellungstechnik nicht mit vergleichbaren Spitzen der da-
maligen Bewohner von Sibirien überein, sondern verweisen nach Europa. Die
Clovis-Menschen produzierten ihre Spitzen nach der gleichen Technik wie die
Bewohner des Solutréen im heutigen Frankreich und Spanien. Solutréen-Spit-
zen wurden in Europa vor 22 000 bis 16 500 Jahren hergestellt und gelten unter
allen weltweiten Funden als die besten Pfeil- und Speerspitzen der damaligen
Zeit. Es ist wahrscheinlich, dass die Clovis-Menschen die Herstellungstech-
niken von den europäischen Solutréen-Menschen gelernt haben. Sie mußten
deshalb in Nordamerika Menschen aus Europa begegnet sein [1, 4].
Für die Wanderung der europäischen Solutréen-Menschen nach Amerika
sprechen auch genetische Untersuchungen. Bei der Analyse der mitochon-
drialen DNA von nordamerikanischen Indianern können die Haplogruppen
A bis D sowie insbesondere bei den Sioux die Haplogruppe X nachgewie-
sen werden. Alle diese Haplogruppen werden auch bei Indianerskeletten
aus der Zeit vor Kolumbus gefunden, so dass sie tatsächlich die Ureinwoh-
ner kennzeichnen. Die Haplogruppen A bis D treten ebenfalls in Asien auf
und können somit die Herkunft der Indianer aus Asien belegen. Die Haplo-
gruppe X dagegen ist im nördlichen Teil von Asien unbekannt und kommt
in Europa vor. Vergleiche der gegenwärtigen europäischen und amerikani-
schen Haplogruppe X zeigen, dass die amerikanische Haplogruppe X vor
mehr als 15 000 Jahren von Europa nach Nordamerika gelangte [2].
Vermutlich waren die europäischen Solutréen-Menschen mit kleinen Ka-
nus unterwegs. Sie fuhren entlang der Grenze von Meer und Eis über den
Atlantik. Die Nächte verbrachten sie jeweils auf den Eisflächen und ernähr-
ten sich dort von der Jagd nach Seehunden oder fingen Fische. Mitten in
der Eiszeit vollbrachten sie bei einem mörderischen Klima eine gewaltige
Leistung. Nach Schätzungen stammt die Haplogruppe X der Indianer von
etwa 10 Frauen ab. Es gibt in Nordamerika nur wenige Fundorte dieser
Prä-Clovis-Kulturen (etwa Cactus Hill in Virginia). Ihre Pfeilspitzen sind
ungefähr 5000 Jahre älter als die der Clovis-Menschen und entsprechen
exakt den Arbeiten der europäischen Solutréen-Menschen.
138 z M. Reitz

Wikinger, Iren und Waliser

Auch nach der Eiszeit machten sich immer wieder Menschen auf den Weg
von Europa nach Amerika. Während der Antike war das Ziel allerdings we-
niger Nordamerika sondern hauptsächlich Südamerika und die Karibik. Im
Gegensatz zu den Menschen des Solutréen handelte es sich nicht um Ein-
wanderer, sondern mehr um Seefahrer, die vermutlich keine dauerhaften
Siedlungen mit eigenständigen Bevölkerungsgruppen gründeten. Erst die
Wikinger und mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Iren und Waliser lie-
ßen sich dauerhaft in Nordamerika nieder [5, 6]. Ihre Siedlungen gerieten
später in Vergessenheit und alle Verbindungen zur Alten Welt rissen ab, so
dass im Zeitalter der Entdeckungen niemand über „weiße“ Bevölkerungs-
gruppen in Amerika informiert war.
Neben wenigen archäologischen Funden wie beispielsweise Häuserreste
und eine Schmiede nahe dem Ort L’Anse-aux-Meadows auf Neufundland
bestätigen allein überlieferte Sagas, dass die Wikinger um das Jahr 1000 n.
Chr. in Amerika waren und dort Siedlungen gegründet hatten. Der legen-
däre Wikinger Leif Erikson soll mit seinen Männern von Island aus in
Amerika gelandet sein und das neuentdeckte Gebiet nach den wilden wein-
ähnlichen Pflanzen „Vinland“ genannt haben. Sein berühmter Vater, Erik
der Rote, soll vor ihm ebenfalls in Amerika gewesen sein. In der Grönland-
Saga der Wikinger wird ein Land westlich von Grönland beschrieben, und
die Saga des Thorfinn Karlsefni berichtet schließlich, dass er mit seinen
Leuten in Amerika eine Dauersiedlung gründen wollte. Er soll um das Jahr
1005 mit 60 bis 160 Siedlern in Amerika gelandet sein. Wikingergebiete in
Nordamerika sollen neben Vinland noch Markland und Helluland gewesen
sein. Wie tief die Wikinger einst in den nordamerikanischen Kontinent ver-
drangen, ist unbekannt. Im US-Staat Maine wurde einmal eine Silbermünze
des Wikingerkönigs Olaf Kyrri (11. Jahrhundert) gefunden. Umstritten ist
der Stein von Kensington in Minnesota mit einer Runeninschrift. Er be-
richtet über Auseinandersetzungen zwischen Wikingern und Indianern im
Jahre 1362, gilt allerdings für manche Fachleute als Fälschung.
Während des Hochmittelalters war es in Europa wärmer als heute, und
in Grönland lebten etwa 3000 Wikinger überwiegend von der Viehzucht.
Sie trieben Handel mit den amerikanischen Wikingersiedlungen und im-
portierten hauptsächlich Holz. In einer grönländischen Wikingersiedlung
wurde einmal eine typische Pfeilspitze der Indianer aus Labrador-Quarzit
gefunden, die wahrscheinlich ein verwundeter Wikinger bei seiner Rück-
kehr im Körper trug. Der grönländische Bischof der christlichen Wikinger
führte sogar ab 1120 den auf Dokumenten belegten Titel „Bischof von
Grönland und Vinland“. Als sich am Ende des Mittelalters das Klima je-
doch ständig verschlechterte, mussten die grönländischen Wikingersiedlun-
gen aufgegeben werden, und viele Menschen kehrten wegen der Kälte nach
Island zurück. Die grönländische Westsiedlung der Wikinger war beim Be-
such einer bischöflichen Delegation um 1350 menschenleer. Opfer von Aus-
Weiße Indianer in Nordamerika z 139

einandersetzungen mit den Eskimos wurden nicht gefunden. Die Bewohner


waren vermutlich nach Amerika ausgewandert. Auf Neufundland lebte bis
zu seinem Aussterben im Jahre 1829 das hellhäutige Volk der Beothuk, des-
sen Herkunft leider nie untersucht wurde. Wenig erforscht sind auch die
Überlieferungen des Indianervolkes der Micmac, die von weißen Menschen
in Neufundland berichten.
Als die Wikinger um 860 erstmals in Island landeten, lebten dort bereits
irische Mönche. Die Seefahrerkünste der Iren sind zwar nicht so bekannt
wie die der Wikinger, doch sie erreichten vermutlich mit ihren Rundbooten
noch vor den Wikingern Amerika. Der irische Mönch Brendan soll um 531
mit 12 Begleitern in Amerika gewesen sein, das er nach seiner Rückkehr
als das „Gelobte Land“ pries. Es wird vermutet, dass er an der Küste der
heutigen amerikanischen Südstaaten angekommen war. Ob irische Familien
später seinem Beispiel folgten und in Amerika Siedlungen gründeten, ist
umstritten und lässt sich nicht sicher beweisen. Legenden berichteten aller-
dings von einem geheimnisvollen Hvitramannaland, auch Groß-Irland ge-
nannt, an der amerikanischen Ostküste, in dem weiße Menschen leben
würden. Ein Kaufmann aus Island, dessen Schiff abgetrieben war, teilte um
das Jahr 1000 mit, er sei in Hvittramannaland gestrandet und die Men-
schen hätten dort einen alten irischen Dialekt gesprochen.
Unter den Angehörigen des inzwischen ausgestorbenen Volkes der Tus-
carora an der südlichen Ostküste der USA soll es zahlreiche europäisch
aussehende Weiße gegeben haben. Nach einer Legende soll ein Waldläufer
irischer Abstammung einmal von ihnen gefangen genommen worden sein.
Er fürchtete um sein Leben und soll laut ein irisches Gebet gesprochen ha-
ben. Die „Indianer“ hätten ihn verstanden und zu ihrem Dorf gebracht, wo
er freundlich bewirtet wurde.
Der walisische Prinz Madoc war der uneheliche Sohn von König Owain
Gwynedds und musste nach dessen Tod das Erbe mit 19 Brüdern und
Halbbrüdern teilen. Er beschloss auszuwandern, segelte westwärts und lan-
dete angeblich in Amerika. Später kehrte er wieder zurück, stellte eine klei-
ne Flotte zusammen und warb mehr als 120 Siedler mit ihren Familien an.
Sie segelten zusammen um 1170 erneut nach dem Westen und wurden nie
mehr gesehen. Angeblich ließen sie sich zunächst im heutigen US-Staat
Georgia nieder und erschlossen später vermutlich neue Siedlungsgebiete.
In den US-Staaten Alabama, Tennessee und Kentucky gibt es uralte Mauer-
reste, die an Fundamente von Burgen erinnern und die sich völlig von Bau-
ten der Indianer unterscheiden. In einer Legende der Cherokee wurde mit-
geteilt, dass weiße Männer einst über das Meer gekommen waren und eine
große Festung gebaut hätten. Madocs amerikanische Siedlungen waren lan-
ge allgemeines Wissensgut und wurden erst später vergessen. Der englische
Staatsmann John Dee begründete mit der Landnahme von Madoc sogar
den Anspruch von Königin Elisabeth I. auf Amerika [7, 8].
140 z M. Reitz

Abb. 2. Ausschnitt der Vin-


land-Karte. Links oben ist „Vi-
nilanda“ dargestellt, der erste
kartographische Hinweis auf
Amerika, mehr als 50 Jahre
vor Kolumbus (Yale University,
New Haven, USA)

Die Vinland-Karte

Es existiert sogar eine Darstellung von Amerika auf einer rätselhaften


Landkarte, die auf das Jahr 1440 datiert wird. Die Vinland-Karte (Abb. 2)
unterscheidet sich von den üblichen Landkarten ihrer Zeit in einem ent-
scheidenden Punkt. Auf dem linken oberen Rand des Pergamentblattes, al-
so im Westen, ist eine Insel mit dem Namen „Vinilanda“ abgebildet. Somit
wäre die Karte, sollte sie echt sein, ein kartographischer Beleg für die euro-
päische Entdeckung Amerikas vor Kolumbus. Einbuchtungen im Umriss
der Insel werden als Hinweise auf die Hudson Bay und den St. Lorenz
Strom gewertet. Die Karte gehört heute der Yale Universität. Materialana-
lysen der Karte belegen beides: Sie könnte sowohl echt als auch eine Fäl-
schung sein. Das Pergament stammt zweifelsfrei aus der Zeit um 1440. An
einigen Stellen der Zeichnung wurde jedoch Titanweiß gefunden, das es
um 1440 noch nicht gab, so dass die Karte auch gefälscht sein könnte. Viel-
leicht bezieht sich das Titanweiß aber auch auf eine unsachgemäße Restau-
rierung, denn es kommt nicht an allen Stellen der Strichführung vor. An-
dere Forscher sind überzeugt, dass Vorstufen zum Titanweiß bereits den
mittelalterlichen Alchimisten bekannt waren und durchaus um 1440 be-
nutzt werden konnten [9].

Das Volk der Mandan

Nach der Gründung der Vereinigten Staaten drängten bald viele wagemuti-
ge Pioniere in das Innere des riesigen Landes. Sie wollten dort siedeln und
schnell zu großem Reichtum gelangen. Obwohl es viele überraschende Ent-
Weiße Indianer in Nordamerika z 141

Abb. 3. Schiffe der Mandan.


Sie sind wie keltische Rund-
schiffe konstruiert und unter-
scheiden sich völlig von den
bei Indianern sonst üblichen
Kanus

Abb 4. Tanzszene der Mandan


nach einer Skizze von George
Catlin. Der Tänzer in der Mitte
besitzt blonde Haare. Mit ei-
nem solchen Tanz wurde vor
der Jagd der Geist der Tiere
beruhigt

deckungen gab, wurden die Lebensgrundlagen und die kulturellen Leistun-


gen der Indianer sinnlos zerstört. Frühe Waldläufer, Abenteurer und Pelz-
händler berichteten immer wieder von Stämmen von „weißen Indianern“,
die wie Europäer aussahen. Später konzentrierten sich die Meldungen auf
das kleine Volk der Mandan-Indianer, das bei seiner Entdeckung im Ein-
zugsgebiet des oberen Mississippi und Missouri lebte und aus nur rund
2000 Menschen bestand. Die Mandan waren aus einer unbekannten Gegend
in dieses Gebiet eingewandert und dort sesshaft geworden. Sie betrieben
Landwirtschaft sowie zeitlich begrenzt Jagd und lebten in wohlgeordneten
Dörfern. Ihre Boote waren wie in Irland und Wales rund und nach dem
Prinzip der typischen keltischen Rundboote, der Coracles, gefertigt
(Abb. 3). In ihrer Sprache sollen sie keltische Worte verwendet haben.
Heute werden die Mandan zu den Sioux gezählt, aber sie sahen nicht
wie echte Sioux-Indianer aus. Etwa 20 Prozent von ihnen hatten nach ver-
schiedenen Quellen blaue Augen und eine so helle Haut wie Nordeuropäer.
142 z M. Reitz

Abb 5. Sha-ko-ka, eine junge Frau der Mandan


nach einer Skizze von George Catlin. Die Frau sieht
nicht wie eine typische Indianerin aus, sondern er-
scheint wie eine Europäerin

Ihre Haarfarbe war nicht tiefschwarz wie bei anderen Indianern, sondern
mehr dunkel- und hellbraun oder sogar blond (Abb. 4). Der amerikanische
Maler George Catlin besuchte 1832 die Mandan und lebte einige Monate
bei ihnen, um Zeichnungen und Skizzen anzufertigen. Ihn begeisterten die
jungen Mandan-Frauen, die nach seiner Meinung wie europäische
Schönheiten aussahen (Abb. 5). Catlin war überzeugt, dass die Mandan von
den walisischen Siedlern um Prinz Madoc abstammten. Diese Siedler wur-
den in Wales „Madawgwys“ genannt, was zu dem Namen „Mandan“
geführt haben könnte. In ihren Mythen verehrten die Mandan einen „wei-
ßen Mann“ als Urvater und kannten noch vor der Ankunft von christlichen
Missionaren Relikte von Erzählungen aus der Bibel.
Bevor die großen Siedlungswellen das Gebiet der Mandan erreichten,
waren sie bereits ausgestorben. Um 1838 hatte ein Dampfer aus St. Louis

Abb. 6. Frühe Fotografie von


zwei Mandan-Indianern, die
die Pockenepidemie überlebt
hatten. Der Mann links besitzt
für einen Indianer sehr helle
Haare (aus: Internet, Galerie
der Mandan)
Weiße Indianer in Nordamerika z 143

Abb. 7. Krieger der Osage bei einem Besuch bei


Präsident Jefferson in Washington, Aquarell von
Charles de Saint Memin. Das Profil des Mannes ist
sehr stark europäisch

bei einem Dorf der Mandan angelegt und zwei Besatzungsmitglieder


schleppten die Pocken ein. Die Seuche hatte verheerende Folgen. Noch
nicht einmal 100 Mitglieder des Volkes der Mandan überlebten die Pocken-
erkrankungen (Abb. 6). Dieser kümmerliche Rest vermischte sich später
mit anderen Indianervölkern, so dass es außer wenigen Berichten wie etwa
die des deutschen Prinzen und Forschungsreisenden Maximilian zu Wied
und den Bildern von Catlin heute keine Informationen über das kleine Volk
der Mandan gibt [10].
Indianer mit einem verblüffenden „europäischen Aussehen“ kamen nicht
nur unter den Mandan vor (Abb. 7). Auch bei anderen Indianervölkern gab
es Menschen, die nicht wie typische Indianer aussahen, nur war ihr Anteil
an der Bevölkerung nicht so hoch wie bei den Mandan. Viele Mitglieder
der Dakota hatten beispielsweise bei typisch indianischen Gesichtszügen ei-
ne weiße Haut.

Literatur
1. Scarre C (2005) The Human Past. Thames & Hudson, London
2. Olson S (2002) Mapping Human History. Discovering the Past through our Genes.
Houghton Mifflin, Boston, New York
3. Herrmann J, Ullrich H (Hrsg) (1991) Menschwerdung. Millionen Jahre Mensch-
heitsentwicklung. Akademie Verlag, Berlin
4. Dillehay T (2000) The Settlement of the Americas. Basic Books, New York
5. Stein W (Hrsg) (1992) Kolumbus oder wer entdeckte Amerika? Hirmer, München
6. Morison SE (1971) The European Discovering of America – The Northern Voya-
ges, A.D. 500–1600. Oxford University Press, Oxford
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Weiße Indianer in Südamerika
M. Reitz

Nach der gängigen Lehrmeinung begannen erste größere Besiedlungen von


Amerika vor rund 12 000 bis 13 000 Jahren. Damals waren die Kontinente
Asien und Amerika zwischen Sibirien und Alaska durch eine gewaltige
Landbrücke miteinander verbunden. Diese Landbrücke mit dem Namen
Beringia war sogar während der Höhepunkte der Eiszeit eisfrei und von
Menschen und Tieren besiedelt. Die Vegetation muss recht üppig gewesen
sein, denn es lebten dort Großtiere, zu denen auch gewaltige Elefanten, die
Mammuts, gehörten, die sich von Gras und Laub ernährten. Heute ist der
Pflanzenwuchs in Nordsibirien so karg, dass auf den großen Flächen der
Tundra kein Mammut mehr Nahrung finden könnte.
Der Weg nach Amerika blieb den Menschen jedoch lange verwehrt,
denn auf den heutigen Gebieten von Alaska, Kanada und großen Teilen der
USA lag ein gewaltiger und weit über 1000 Meter hoher undurchdring-
licher Eispanzer. Kein Mensch konnte die riesigen Gletscherflächen über-
winden, denn er wäre auf seinem Weg in den Süden verhungert. Erst als
sich nach und nach eisfreie Korridore öffneten und Pflanzen sowie Tiere
langsam vordrangen, konnte sich auch der Mensch auf den Weg machen.
Die aus Asien kommenden Menschen gründeten deshalb erstmals vor rund
12 000 Jahren in Nordamerika eine Kultur. Es war die Clovis-Kultur, be-
nannt nach einem Ort in Neu-Mexiko, wo zuerst Werkzeuge und Waffen
der Clovis-Menschen gefunden wurden.
„Clovis first“ war für lange Zeit die gesicherte Lehrmeinung zur Besied-
lung von Amerika. Doch moderne Erkenntnisse können dieser These wi-
dersprechen. Der Beginn der menschlichen Besiedlung von Amerika ver-
schiebt sich neuen Forschungsarbeiten zufolge immer weiter nach hinten.
Es gab bereits lange vor der Clovis-Kultur in Amerika an unterschiedlichen
Orten zahlreiche Prä-Clovis-Kulturen. Die wirklich ersten Amerikaner ka-
men wahrscheinlich noch nicht einmal zu Fuß über die Landbrücke von
Beringia, sondern mit kleinen Booten über das Meer. Diskutiert werden
mögliche Routen von Asien nach Amerika entlang der Pazifikküste, aus
dem australischen Raum quer durch den Pazifik bis zur südamerikanischen
Küste und von Europa aus entlang der Eisgrenze über den Atlantik bis
nach Nord- und Mittelamerika (Abb. 1). Insbesondere die Route quer über
den Pazifik muss ein hohes seemännisches Können erfordert haben. Es ist
sogar sehr wahrscheinlich, dass sie gewählt wurde, denn in den 1970er Jah-
ren wurde in Brasilien der Schädel von „Luzia“ gefunden, der etwa zwi-
146 z M. Reitz

Abb. 1. Mögliche Routen zur Erstbesiedlung von Amerika. Die ersten Einwanderer kamen ver-
mutlich mit Schiffen und nicht über Land

schen 11 000 und 11 500 Jahre alt ist. Vergleichende Studien verrieten eine
Überraschung. Der Schädel der jungen Frau war nicht asiatisch, sondern
zeigte aufgrund spezifischer Merkmale in den australisch-melanesischen
Raum. Einen solchen denkbaren Kontakt haben auch die heute ausgestor-
benen Ureinwohner von Feuerland hervorgehoben. Sie zeichneten sich wie
„Luzia“ ebenfalls durch australisch-melanesische Merkmale aus. Wenn auch
die heutigen australischen Aborigines keine Seefahrertradition mehr besit-
zen, ihre fernen Urahnen mussten dennoch recht tüchtige Seefahrer gewe-
sen sein, denn sie konnten Australien nur über das Meer erreicht haben
[1–3].

Südamerikanische Rätsel

Die ältesten sicheren Hinweise auf menschliche Lagerplätze oder Siedlun-


gen stammen nicht aus Nord-, sondern aus Südamerika. Wäre Amerika
ausschließlich über Beringia erschlossen worden, dann müssten Funde in
Nordamerika älter sein als in Südamerika, doch es ist umgekehrt. In Chile
und Brasilien, aber auch anderswo in Südamerika, gibt es Spuren von
menschlichen Lagerplätzen, die rund 35 000 Jahre oder älter sind und be-
reits auf gut organisierte Gruppen hinweisen. Manche Forscher sind sogar
der Meinung, dass es in Südamerika noch weitaus ältere Hinweise auf Men-
schen geben könnte [2–4].
Die frühen Bewohner von Südamerika stammten vermutlich nur zum
Teil aus Sibirien oder Beringia. Nicht nur DNA-Untersuchungen, sondern
auch Zahnanalysen können hier interessante Informationen liefern. Nach
Ankunft des modernen Homo sapiens in Asien entwickelten sich dort auf-
Weiße Indianer in Südamerika z 147

grund von morphologischen Strukturänderungen bald zwei verschiedene


Zahntypen, die es heute erlauben, die betroffenen Menschen in den Typ
Sundadonten und Sinodonten zu unterteilen. Sundadonten lebten in „Sun-
daland“, eine riesige Landmasse, von der gegenwärtig nur noch die Inseln
von Indonesien und den Philippinen sowie die malaiische Halbinsel vor-
handen sind. Während der Eiszeit war der Meeresspiegel rund 100 Meter
niedriger als heute, so dass diese zahlreichen Inseln damals Hochebenen in
einer gewaltigen Landfläche waren. Vermutlich vor rund 20 000 Jahren ent-
standen aus den Sundadonten im heutigen Nordchina und in Ostsibirien
die Sinodonten, deren Zahnstruktur deutlich von der der Sundadonten ab-
weicht. Sinodonten drangen als erste über die Landroute nach Amerika vor,
während die Sundadonten erst Jahrtausende später über die Seeroute eben-
falls die Neue Welt erreichten. Die bisher ältesten Zahnfunde von Sinodon-
ten sind in Südamerika etwa 11 000 Jahre alt und stammen ausgerechnet
aus dem Süden von Chile. Sie sind nur rund 1000 Jahre jünger als die vor-
erst ältesten menschlichen Skelettfunde in Alaska [5].
Da es während der Eiszeit in Nordamerika recht ungemütlich war, hiel-
ten sich wahrscheinlich viele Menschen nicht lange auf und wanderten bald
nach Mittel- und Südamerika weiter. Von welchen Menschen die noch älte-
ren Hinweise auf menschliche Lagerplätze in Südamerika stammen, ist
weitgehend rätselhaft. Wahrscheinlich waren diese Menschen einst über das
Meer gekommen. Sie verdeutlichen, Südamerika war schon früh ein
Schmelztiegel der Rassen, und Zuwanderer über Land sowie über See ver-
mischten sich. Leider wurden an vielen uralten Lagerplätzen bisher noch
keine menschlichen Skelettreste gefunden [2–4].

Auf den Spuren der Phönizier


Aus der Sicht der Menschen endete während der Antike die westliche Welt
an der Straße von Gibraltar. Jenseits dieser Meerenge lauerten nach zahlrei-
chen Mythen und Legenden im tobenden Atlantik nur noch unüberwind-
bare Gefahren. Kaum ein Seefahrer traute sich in der frühen Antike diese
Grenze zu überschreiten, denn er war auf die Propaganda der Phönizier
hereingefallen. Die Phönizier galten noch vor den Griechen als die besten
Seefahrer der Antike. Zusätzlich waren sie tüchtige Kaufleute, die aus
Furcht vor Konkurrenz alle ihre Seewege geheim hielten. Ihre Schiffe waren
stabil und hochseefähig, die Besatzungen hervorragend ausgebildet (Abb.
2). Sie versorgten die Menschen des Mittelmeerraumes mit Metallen aus
England, mit Waren von den Azoren und den Kanarischen Inseln sowie
mit schwarzen Sklaven aus Westafrika. Im Auftrag eines ägyptischen Pha-
raos waren sie sogar einmal um Afrika herumgesegelt. Den Atlantik be-
trachteten sie als ihr Meer und ließen keine fremde Kaufleute die Straße
von Gibraltar passieren.
148 z M. Reitz

Abb. 2. Phönizische Schiffe nach einen Abb. 3. Altamerikanisches Räuchergefäß


Relief aus der Zeit um 700 v. Chr. Die aus der Zeit vor Kolumbus, gefunden in
Schiffe sind hochseefähig und mit Se- Iximche (Guatemala). Der Kopf mit Bart
geln sowie Ruderbänken ausgerüstet. weist auf phönizische Gesichtszüge hin
Kriegsschiffe besitzen einen Rammsporn (Musée de l’homme, Paris)

Da jenseits der Azoren Meeresströmungen direkt nach Mittel- und Süd-


amerika führen, ist es wahrscheinlich, dass phönizische Schiffe zunächst
nach Stürmen zufällig nach Amerika abtrieben und dass die Neue Welt an-
schließend gezielt von den Phöniziern angesteuert wurde. In Brasilien wur-
den phönizische Inschriften und auch Amphoren gefunden, die allerdings
in der Fachwelt umstritten sind. In Kunstwerken der mittelamerikanischen
indianischen Hochkulturen vor Kolumbus werden manchmal Männer mit
Bärten abgebildet, deren Gesichtszüge stark an Phönizier erinnern (Abb.
3). Im Tempel der Krieger von Chichén Itzá in Mittelamerika sind in einer
Kampfszene Menschen unterschiedlicher Rassen dargestellt. Manche Krie-
ger besitzen eine braune Haut wie Indianer, bei anderen Kriegern ist die
Haut weiß und manche von diesen haben sogar lange blonde Haare. Eine
Szene dokumentiert schließlich, wie Indianer einen gefangenen weißen
Krieger ihrem Gott opfern.
Die Phönizier waren Kulturvermittler, denn sie boten in der Antike vie-
len Mächten ihre Dienste an. Sie arbeiteten sowohl für die Herrscher von
Ägypten als auch von Mesopotamien. Die Hochkultur der Olmeken in Mit-
telamerika, die erste aller indianischen Hochkulturen, entstand vor 1000 v.
Chr. wie aus dem „Nichts“. Sie blühte plötzlich mit einem hohen Niveau
auf, wobei zeitliche Parallelen zur vermuteten Ankunft der Phönizier in
Amerika diskutiert werden können. Die Olmeken besaßen eine ausgereifte
Bilderschrift, die Ähnlichkeiten zu den Hieroglyphen im alten Ägypten auf-
Weiße Indianer in Südamerika z 149

Abb. 4. Karte des Piri Reis, ge-


zeichnet um 1513. Die Küste
von Südamerika ist abgebildet.
Die Quellen der Karte sollen
bis in die Antike zurückgehen
(Nationalbibliothek Ankara,
Türkei)

weist, einen komplizierten Kalender und bauten wie in Mesopotamien Stu-


fenpyramiden. In ihrer Kunst schufen sie neben bärtigen Männern aus Ton
auch riesige Köpfe aus Stein mit negroiden Gesichtszügen. Da die Phöni-
zier häufig schwarze Sklaven als Ruderer auf ihren Schiffen mitführten,
könnten diese ein Vorbild für die olmekischen Künstler gewesen sein. Be-
merkenswert sind in diesem Zusammenhang Reste von Stufenpyramiden
auf den Kanarischen Inseln, die angeblich von den Phöniziern gebaut wur-
den und möglicherweise eine Wanderung von Bauideen belegen [2, 4, 6, 7].
Während der Antike wurden die Küsten von Südamerika vermutlich so-
gar kartografiert. Die heute rätselhafte Karte des osmanischen Admirals Pi-
ri Reis wurde um 1513 gezeichnet (Abb. 4) und zeigt deutlich die Küsten-
linie von Südamerika einschließlich einer Landbrücke zur Antarktis, die es
nur während der Eiszeit gab. Als Vorlage dienten dem Admiral nach eige-
nen Aussagen 20 von ihm geheim gehaltene Quellen, die bis in die Zeit
von Alexander dem Großen zurückreichten.
150 z M. Reitz

Das Schicksal der Söldner von Karthago

Die Stadt Karthago im heutigen Tunesien war ursprünglich eine um 814 v.


Chr. gegründete phönizische Kolonie gewesen und sollte den Handel im
westlichen Mittelmeer sichern. Ihre Lage war strategisch sehr günstig, so
dass sie sich bald selbstständig machte und zu einer Großmacht heran-
wuchs. Karthago war lange der gefährlichste Rivale von Rom und sein ge-
nialer Feldherr Hannibal erschütterte das römische Selbstbewusstsein bis
ins Mark. In drei gewaltigen Kriegen ging Karthago schließlich unter, und
die Römer zerstörten jede Erinnerung an die einstige Großmacht. Damit
verschwanden auch alle Staatsarchive und es gab keine Belege mehr, ob
Karthago, wie vermutet, tatsächlich in Übersee Besitzungen unterhalten
hatte. Nach dem 3. Punischen Krieg wurde Karthago zwar dem Erdboden
gleich gemacht, doch große Teile der einst mächtigen Flotte und des Hee-
res waren noch intakt. In diesem Heer hatten einst zahlreiche keltische
Söldner aus Spanien und Frankreich gekämpft, die nicht als römische Skla-
ven enden wollten. Es gibt Vermutungen, dass sich keltische Söldner mit
ihren Familien sowie Angehörige der einstigen Oberschicht von Karthago
mit den Resten der Flotte nach Südamerika abgesetzt haben. Möglicherwei-
se fuhren sie stromaufwärts den Amazonas entlang und gründeten unter-
wegs immer wieder Siedlungen. Viele dieser Kelten waren blond und besa-
ßen eine helle Haut. Sie könnten helfen, das Rätsel der blonden Indianer in
Südamerika zu lösen.
Die ersten Überreste der untergegangenen Kultur der Chachapoya wur-
den 1843 in den östlichen Anden im Einzugsbereich der Amazonasquellen
entdeckt. Die Angehörigen dieses Volkes sollen einst besonders hellhäutig,
groß gewachsen sowie brünett oder blond gewesen sein und nicht wie typi-
sche Indios ausgesehen haben. Sie wohnten wie die Kelten in runden und
nicht wie die indianische Bevölkerung in rechteckigen Häusern. Zu ihren
Schmuckelementen an Häusern gehörten Tiere mit Hörnern, obwohl es in
der vorkolumbianischen Zeit in Südamerika keine Tiere mit Hörnern gab.
Bisher wurden sieben Siedlungen der Chachapoya entdeckt, darunter auch
mächtige Festungen auf Berghöhen. Nach schweren Auseinandersetzungen
sollen sich die kriegerischen Chachapoya erst im 15. Jahrhundert dem
Reich der Inka angeschlossen haben und von diesen als gleichwertig akzep-
tiert worden sein. Bereits im 16. Jahrhundert ging ihre Kultur unter, haupt-
sächlich durch schwere von den Spaniern eingeschleppte Seuchen. Noch
heute leben in ihrem ehemaligen Siedlungsgebiet hellhäutige, blonde und
auch rothaarige Indios, die im Aussehen an Kelten erinnern sollen. Sie
werden oft als Gringos bezeichnet, obwohl sie zu weißen US-Amerikanern
in keiner Beziehung stehen [2–4, 6, 8, 9].
Weiße Indianer in Südamerika z 151

Griechen, Römer und vielleicht auch Wikinger

Viele ehemalige Seefahrervölker traten nach den römischen Eroberungen


ihrer Heimatgebiete in den Dienst des Römischen Reiches. Zu ihnen gehör-
ten überwiegend Phönizier der Levanteküsten sowie Griechen aus den ehe-
maligen hellenistischen Reichen. Sie stellten den Römern fähige Kapitäne
und Schiffsbesatzungen für den Fernhandel zur Verfügung und fuhren bis
nach Sri Lanka sowie nach chinesischen Quellen auch nach China. Ob sie
mit günstigen Meeresströmungen und Winden über den Pazifik bis nach
Amerika reisten oder sogar Siedler beförderten, ist jedoch nicht belegbar.
Das rätselhafte Wissen mancher antiker Historiker geht möglicherweise
ebenfalls auf diese erfahrenen Seeleute zurück. Der griechische Historiker
Diodorus Siculus berichtete einmal, dass die Karthager einst große Lände-
reien weit draußen im Atlantischen Ozean besessen hätten. Von Pausanias
(um 150 n. Chr.) stammte die Behauptung, dass weit entfernt im Atlanti-
schen Ozean auf Inseln Menschen mit roter Haut und Haaren wie schwarze
Pferdeschwänze leben würden. Sogar Cicero war vermutlich informiert, denn
er bemerkte einmal, weit im westlichen Ozean würde es mächtige Reiche,
größer als das Römische Imperium, geben. Bemerkenswert ist schließlich
auch, dass Griechen und Römer einerseits und die Maya anderseits die Farbe
Purpur nach dem jeweils gleichen Rezept aus Schnecken herstellten.
In Calixtlahuaca westlich von Mexiko City wurde einmal in einem nach-
weislich unversehrten Grab aus der Aztekenzeit ein besonderer Fund ge-
macht. Es handelte sich um einen kleinen Keramikkopf, der einen bärtigen
Mann zeigte und stilistisch zweifelsfrei der römischen Kunst zugeordnet

Abb. 5. Vorder- und Seitenansicht des römischen Kopfes von Calixtlahuaca, gefunden in einem
intakten Aztekengrab aus der Zeit vor der Ankunft der Spanier (National-Museum für Anthro-
pologie, Mexico-City, Mexiko)
152 z M. Reitz

werden konnte (Abb. 5). Physikalische Materialanalysen wiesen dem Kopf


ein Alter von mindestens 1800 Jahren zu; er könnte somit in der späten
Antike hergestellt worden sein. Auch wenn er im Aztekenreich produziert
worden wäre, hätte der Künstler vorher genau die römische Kunst studie-
ren müssen, so dass zumindest ein Kulturkontakt belegbar ist. Außerdem
werden in Mittelamerika sowie im Süden von Nordamerika immer wieder
römische Münzen gefunden, in Panama wurde sogar einmal ein original
römisches Tongefäß voller authentischer Münzen [4, 9] entdeckt.
Der französische Forscher Jacques de Mahieu formulierte schließlich die
umstrittene These, dass auch die Wikinger in Südamerika gewesen waren.
Von ihren nordamerikanischen Siedlungen aus wären sie zunächst zur
Halbinsel Yucatan und anschließend nach Brasilien vorgedrungen. Zuletzt
hätten sie sogar Südamerika umrundet und wären in Peru gelandet, wo sie
mit den dortigen Kulturen Kontakte geknüpft und durch Sonnenkulte die
Religionsentwicklung beeinflusst hätten. Angeblich hätte es im heutigen Pa-
raguay vorübergehend sogar ein Wikingerreich gegeben. Zu seinen Bewei-
sen zählte de Mahieu zahlreiche verwitterte Inschriften, die er als Runen
interpretierte sowie Darstellungen von, nach seiner Meinung, Wikinger-
Pferden aus vorspanischer Zeit [9].

Die bärtigen weißen Götter

In den Mythen der altindianischen Hochkulturen von Mexiko bis Peru


wimmelt es nur so von weißen Göttern mit einem europäischen Aussehen,
die einst aus weiter Ferne in das Land kamen. Huehueteotl, der Feuergott
der Azteken und sowohl Vater als auch Mutter aller Götter wird als alter
Mann mit einem Bart dargestellt, obwohl bei Indianern ein ausgeprägter
Bartwuchs unbekannt ist (Abb. 6). Quetzalcoatl, ein Gott der Tolteken und
später auch der Azteken, war nach den Mythen ein weißer, europäisch aus-
sehender Mann, der den Menschen vermutlich um 850 n. Chr. zahlreiche
Fertigkeiten lehrte und ihnen Glück brachte; er wurde als Sohn der Sonne
verehrt und führte wie christliche Bischöfe einen Krummstab mit sich.
Dieser bärtige weiße Gott forderte ein „christliches“ Verhalten und verach-
tete die bei den Azteken üblichen Menschenopfer, stattdessen opferte er
den Göttern Schmetterlinge. Doch Quetzalcoatl musste mit seinen Getreuen
das Land wieder verlassen, versprach jedoch seine spätere Rückkehr. Von
den Maya wurde der weiße und wohltätige Gott Kukulcán verehrt, der ver-
mutlich mit Quetzalcoatl identisch war. Die Chibcha, auch Muisca genannt,
in Kolumbien verdankten nach eigenen Legenden ihr Wissen einem eben-
falls weißen bärtigen Mann mit dem Namen Bochica. Dieser Mann trug ei-
nen Stock, lange weiße Gewänder und am Hals angeblich ein Kreuz. Auch
er verließ das Land und wurde durch einen anderen weißen Mann ersetzt.
Möglicherweise waren bereits im Mittelalter höchstwahrscheinlich iri-
sche Missionare in Amerika unterwegs und verbreiteten christliche Lebens-
Weiße Indianer in Südamerika z 153

Abb. 6. Keramik von Huehueteotl, der Feuergott


der Azteken. Es ist ein alter Mann mit einem Bart
dargestellt, obwohl es Bartwuchs bei Indianern
nicht gibt

formen. Der irische Mönch Brendan war angeblich um das Jahr 531 mit 12
Begleitern in Amerika gewesen. Es ist denkbar, dass er spätere Missionstä-
tigkeiten anregte und neue Mönche schickte. Es soll sogar im Mittelalter in
Amerika irische Siedlungsgebiete gegeben haben und in Florida Missions-
stationen mit einer regen Reisetätigkeit der Mönche. Als der spanische Er-
oberer Cortez erstmals Mexiko betrat, stellten ihm Feinde der Azteken die
Indianerin Malintzin als Dolmetscherin zur Verfügung. Nach ihrer Taufe
wurde diese Indianerin Donna Maria genannt; jedoch ist nicht nachvoll-
ziehbar, auf welcher sprachlichen Grundlange sie sich so gut mit den Spa-
niern verständigen konnte.
Die Inka verehrten schließlich den weißen Heilsbringer Viracocha und
seine Begleiter. Sie sollen am Titicaca-See gelebt und den Menschen ihr
Wissen vermittelt haben. Aus Bewunderung hätten ihnen die Einhei-
mischen große Bauwerke errichtet. Nach Auseinandersetzungen mussten
auch Viracocha und seine Begleiter das Land wieder verlassen. Sie hätten
sich im heutigen Ecuador gesammelt und wären unter Führung von Kon-
Tiki hinaus in den Pazifik gesegelt. Noch heute bauen Indianer am Titica-
ca-See hochseefähige Schiffe aus Schilf, die allerdings nicht für das Meer
bestimmt sind. Der Forscher Thor Heyerdahl unternahm mit solchen
Schiffstypen sogar weite Reisen über das Meer [2–4, 6, 8, 9].
154 z M. Reitz

Abb. 7. Perücke aus natur-


blonden menschlichen Haaren
auf einer Mumie der Inka-Zeit,
gefunden in Paracas/Peru (Na-
tional-Museum für Anthropolo-
gie, Lima, Peru)

Das Rätsel der Inka


Unter der Oberschicht der Inka soll es ungewöhnlich viele hellhäutige Men-
schen mit blauen Augen und manchmal sogar blonden Haaren gegeben ha-
ben. Waren Kinder des Inka-Adels blond, wurden sie „Kinder der Götter“
genannt. Pedro Pizarro, ein Vetter des Eroberers des Inka-Reiches,
schwärmte in seinen Tagebüchern von den blonden und hübschen jungen
Mädchen des Inka-Adels. Er berichtete, Menschen gesehen zu haben, die
„weißer“ waren als die Spanier. Viele Conquistadoren heirateten sogar In-
ka-Prinzessinen, während sie gleichzeitig die einfachen Indiofrauen als
hässlich bezeichneten. Anrührend ist das Schicksal des jungen spanischen
Offiziers Pedro de Barca. Er hatte beim Pokerspiel einen geraubten heiligen
Spiegel der Inka aus purem Gold gewonnen und schenkte ihn umgehend
seiner Freundin, der schönen Inka-Prinzessin Toyllor Tica, die ihn an Inka-
Priester weitergab. Andere Spanier wurden nun sauer und wollten den
Spiegel wieder zurück haben. Sie verfolgten das Paar und töteten es zusam-
men mit den Priestern am Titicaca-See. Die blonden Inka sind keine Le-
gende. Immer wieder werden Mumien aus der Inka-Zeit mit blonden oder
brünetten Haarresten gefunden. Es sind sogar Perücken aus echten natur-
blonden Menschenhaaren bekannt (Abb. 7) [4, 6, 8, 9].

Wanderwege von Kulturpflanzen

Die gewöhnliche Bohne Phaseolus vulgaris war bereits den Griechen und
Römern bekannt und gehörte zur allgemeinen Ernährung der Menschen.
Später wurde beobachtet, dass auch Indianer in Südamerika die gleiche
Bohnenart wie die Europäer kultivierten. Lange Zeit wurde angenommen,
Weiße Indianer in Südamerika z 155

dass die Spanier einst die Bohne in die Neue Welt eingeführt und die In-
dianer sie als Nahrungsmittel übernommen hatten. Doch Grabfunde in Pe-
ru machten diese Vorstellungen zunichte. In einem unversehrten Grab aus
der Zeit vor den Inka fanden Forscher in Mittelperu Bohnen als Totennah-
rung. Sie waren dem Toten als Proviant für das Jenseits mitgegeben worden
und waren mit den Bohnen der Griechen und Römer identisch. Bohnen
wurden zuerst in der Alten Welt kultiviert und in Amerika gibt es keine
Wildformen von ihnen. Ihr Weg in die Neue Welt ist rätselhaft.
Baumwolle birgt als Beleg für frühe weltweite Handelsbeziehungen und
Atlantiküberquerungen ebenfalls noch manches Geheimnis. In Mesopota-
mien und Ägypten wurde schon früh Baumwolle angebaut, deren Zellen 13
große Chromosomen besitzen. In Amerika gibt es eine wild wachsende
Baumwollart mit 13 kleinen Chromosomen, deren Fäden allerdings für eine
Textilproduktion nicht geeignet sind. Dennoch haben Baumwollstoffe in
den altamerikanischen Hochkulturen eine lange Tradition, und die Inka
waren Meister der Webkunst. Von Mexiko bis Peru bauten die Indianer lan-
ge vor Kolumbus eine Baumwollart zur Textilherstellung an, deren Zellen
13 kleine und 13 große Chromosomen enthielten. Es handelte sich um eine
Kreuzung, einen Hybriden, zwischen der kultivierten orientalischen Baum-
wollart und der wilden amerikanischen Baumwollart. Nach Meinung von
Botanikern konnte eine solche Kreuzung nicht zufällig entstanden sein,
sondern wurde von Menschen durchgeführt [6].

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9. Zillmer H-J (2004) Kolumbus kam als Letzter. Langen Müller, München
Die Hautfarbe der alten Ägypter
M. Reitz

Die Wurzeln der abendländischen Kultur gehen bis in die Antike zurück
und wurden entscheidend von den Griechen und Römern geprägt. Beide
Zivilisationen schufen die Grundlagen für eine Kultur, die heute auf vielen
Gebieten weltweit dominierend ist und zahlreichen anderen Kulturen als
Vorbild dient. Griechen und Römer, aber auch andere Völker des Mittel-
meerraumes und des Vorderen Orients, die das Fundament für diese so er-
folgreiche Kultur legten, gehörten der europiden Großrasse an, so dass die
abendländische Kultur heute als ein Werk von unterschiedlichen europiden
Volksgruppen gilt.

Wunschvorstellungen von afroamerikanischen Ideologien

Verschiedene militante Strömungen der „Black power“-Bewegung in den


USA versuchen diese enge Verbindung der auch in Amerika vorherrschen-
den abendländischen Kultur mit „weißen“ Menschen infrage zu stellen.
Von zahlreichen Vertretern der „Black power“-Bewegung wird der prägen-
de Einfluss der griechisch-römischen Zivilisation auf die abendländische
Kultur zwar akzeptiert, gleichzeitig wird aber auch vermerkt, dass Grie-
chen und Römer nicht völlig eigenständig waren, sondern ebenfalls ihre ei-
genen Vorbilder und Wurzeln hatten; diese Vorbilder waren die alten
Ägypter. Tatsächlich übernahmen sowohl Griechen als auch Römer kultu-
relle Eigenschaften und Wissen von den alten Ägyptern (aber auch aus Me-
sopotamien) und entwickelten es fort. Gebildete Griechen und Römer be-
wunderten die Leistungen der Ägypter und das Alter ihrer Kultur. Ohne
das Reich der Pharaonen wäre nach dieser These die abendländische Kul-
tur wahrscheinlich nicht so erfolgreich geworden, wie sie sich in der Ge-
genwart präsentieren kann. Für manche afrozentrisch orientierte Ideologen
sind somit die alten Ägypter die eigentlichen Kulturschöpfer des Abendlan-
des, und diese Schöpfer waren nach ihrer Meinung „schwarz“. Die Be-
gründer der abendländischen Kultur wären somit nicht „weiße“, sondern
„schwarze“ Menschen gewesen. Die uralte Hochkultur der Pharaonen wird
demzufolge ideologisch als eine „schwarzafrikanische“ Zivilisation gewer-
tet, und der Ursprung der abendländischen Kultur würde sich von „weiß“
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 157

in „schwarz“ umkehren [1]. Doch, was spricht für diese These, und waren
die alten Ägypter wirklich schwarz? Die Realität sieht völlig anderes aus
und ist weit davon entfernt, „weiß“ oder „schwarz“ zu sein.

Nicht nur die Negriden sind schwarz


Eine dunkle oder eine helle Hautfarbe ist kein rassenspezifisches Merkmal,
sondern hängt von dem Lebensraum ab, in dem die betroffenen Menschen
leben. Ist der UV-Anteil im Sonnenlicht besonders hoch, dominiert bei den
Menschen völlig unabhängig von der Rasse die dunkle Hautfarbe, denn ein
hoher Melaninanteil in der Haut schützt vor den Schadenswirkungen der
UV-Strahlung. Vergleichbare Beobachtungen gelten auch für die Fellfarbe
von Säugetieren. Je größer die UV-Einstrahlung in einem Biotop, um so in-
tensiver ist die Pigmentierung im Fell der Säugetiere (Glogersche-Regel).
Der Mensch ist hier keine Ausnahme, und Ureinwohner mit einer dunklen
Hautfarbe leben deshalb in allen tropischen Gebieten der Erde. Nicht nur
Angehörige der negriden Großrasse haben eine schwarze Hautfarbe, son-
dern auch die von ihnen genetisch völlig unabhängigen Ureinwohner Aust-
raliens und Neuguineas oder die Ureinwohner der Südsee (Melanesien)
und von Südasien. Die Bewohner von Madagaskar besitzen eine Hautfarbe
wie die Negriden in Afrika, dennoch sind sie in ihrer überwiegenden
Mehrheit keine Negride. Madagaskar wurde vermutlich erstmals um 800 n.
Chr. vom heutigen Indonesien aus besiedelt, denn keine schwarzafrikani-
sche Kultur besaß hochseefähige Schiffe. Die Negritos in Hinterindien se-
hen wie kleine schwarzafrikanische Negride aus, dennoch stehen sie mit
den Negriden Afrikas in keiner genetischen Beziehung, sondern werden als
Relikte von uralten Rassen angesehen [2, 3].

Das Aussehen der alten Ägypter


Wie die alten Ägypter einst aussahen, lässt sich sowohl aus der altägypti-
schen Kunst als auch aus der Analyse einer großen Zahl von Mumien und
anderen Funden ableiten. Alle Untersuchungen zeigen, die alten Ägypter
und insbesondere ihre Oberschicht gehörten nicht der negriden Großrasse
an, sie waren nicht schwarz. Pharao Ramses II. besaß sogar rötliche Haare.
Die altägyptische Kunst, die sich bis heute erhalten hat, ist allerdings
keine Alltagskunst, sondern stammt aus Grabanlagen und Tempeln. Sie
erfüllte dort in einem hohen Maß eine symbolische Funktion, war ideali-
siert und es gab kaum künstlerische Freiheiten. In den Grabanlagen war
die Kunst für das Leben im Jenseits und nicht für eine Verschönerung des
Alltags bestimmt. Menschen wurden nicht nach der Realität, sondern nach
ihrer Bedeutung abgebildet. Männer der Oberschicht zeichneten sich durch
eine dunkle Hautfarbe aus, denn sie gingen im Freien ihren Geschäften
nach. Ihre Frauen dagegen waren die Herrinnen des Hauses und organi-
158 z M. Reitz

Abb. 1. Prinz Rahotep und


seine Ehefrau Nofret (4. Dynas-
tie, um 2500 v. Chr.); Aus-
schnitt aus einer bemalten
Statuengruppe aus Kalkstein,
gefunden in einer Grabanlage
in Medum. Aus symbolischen
Gründen ist die Haut des Man-
nes dunkel und die der Frau
hell. (Ägyptisches Nationalmu-
seum, Kairo)

sierten den Haushalt mit einer großen Dienerschaft. In der altägyptischen


Kunst werden sie mit einer hellen Haut dargestellt (Abb. 1). Im Allgemei-
nen wurden Menschen im Profil abgebildet, wobei das Profil nicht vollstän-
dig ist, denn die Schultern und das Auge sind stets dem Betrachter zuge-
wandt. Nur unbedeutende Menschen der niederen Stände oder Sklaven
wurden in der Kunst in einem exakten Profil oder auch von vorne dem Be-
trachter präsentiert [4].
Die Hochkultur der alten Ägypter dauerte etwa 3000 Jahre. Eine gewalti-
ge Zeitspanne, wenn man zum Beispiel den Beginn des christlichen Abend-
landes auf die Zeit um Christie Geburt festlegt, so dass „erst“ etwa 2000
Jahre abendländischer Kultur vergangen sind. Während ihrer langen Ge-
schichte ruhte die altägyptische Zivilisation weitgehend in sich selbst. Die
Ägypter waren sich der Homogenität ihrer Geschichte bewusst und kon-
zentrierten ihren Lebensalltag auf die eigene Kultur, die nach ihrer Mei-
nung anderen Kulturen überlegen war. In der Kunst wurden Angehörige
von fremden Kulturen gezielt als Fremde dargestellt und unterschieden sich
klar von den Bewohnern des Reiches am Nil (Abb. 2 u. 3). Die Ägypter
selbst zeichneten sich auf Darstellungen durch eine rotbraune Haut aus
und waren nicht schwarz. Schwarze Menschen wurden als Nicht-Einhei-
mische dargestellt; sie überreichten auf Abbildungen dem Pharao entweder
Tribute oder waren Diener, Sklaven und Exoten an den Höfen der Großen
des Reiches. Pepi II., der am Ende des Alten Reiches als Kind bereits Pha-
rao geworden war, schrieb während seiner Kinderzeit einem Gaufürsten ei-
nen Brief und bedankte sich überschwänglich für einen Tanzzwerg (wahr-
scheinlich einen Pygmäen), der zu seinem Vergnügen zu ihm geschickt
worden war. Der Brief trug sogar den Vermerk „vom König selbst gesie-
gelt“. Akzeptiert wurden schwarze Menschen (es handelte sich um Bewoh-
ner aus Nubien/heute Sudan und Äthiopien) auch als Söldner in der ägyp-
tischen Armee. Sie wurden dabei in eigenen Einheiten zusammengefasst
und von ägyptischen Offizieren geführt (Abb. 4 u. 5). Zu den Eliteeinheiten
des Pharao, wie etwa die Besatzungen der Kampfwagen, gehörten dagegen
nur Ägypter. Erst in der Spätzeit der Hochkultur, als das Reich bereits im
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 159

Abb. 2. Fayence-Wandkacheln,
gefunden in Medinet Habu,
Palastruine von Pharao Ramses
III. (1195–1162 v. Chr.), Höhe
25 cm. Dargestellt ist von links
nach rechts ein Nubier, ein Sy-
rer und ein Libyer. (Ägypti-
sches Nationalmuseum, Kairo)

Abb. 3. Griff eines Zeremo-


nienstabes aus dem Grab von
Pharao Tut-anch-Amun, dar-
gestellt ist ein Mensch aus Me-
sopotamien (Asien) und aus
Nubien (Schwarzafrika). (Ägyp-
tisches Nationalmuseum, Kairo)

Niedergang begriffen war, gab es in Ägypten neben persischen und assyri-


schen Herrschern auch einige Herrscher aus Nubien, die schwarz waren.
Nach ihnen geriet Ägypten unter den Einfluss von Alexander dem Großen,
dessen General Ptolemaios eine eigene Dynastie gründete. Von nun an war
das Reich griechisch-hellenistisch orientiert, und der Priester Manetho
schrieb die Geschichte des Reiches mit seinen über 30 Dynastien in grie-
chischer Sprache [4].
160 z M. Reitz

Abb. 4. Kolonne von nubi-


schen Bogenschützen, die als
Söldner in der ägyptischen Ar-
mee dienten, die Soldaten
werden als Schwarze dar-
gestellt. Fund aus einem Grab
des Mesehti (11. Dynastie, um
2000 v. Chr.). (Ägyptisches Na-
tionalmuseum, Kairo)

Abb. 5. Kolonne von ägypti-


schen Fußsoldaten mit Lanze
und Schild, die Soldaten wer-
den als Ägypter dargestellt.
Fund aus dem Grab des Me-
sehti (11. Dynastie). (Ägypti-
sches Nationalmuseum, Kairo)

Die Vorgeschichte der ägyptischen Hochkultur

Um die Herkunft der alten Ägypter und die Diskussionen um ihre Hautfar-
be besser zu verstehen, ist eine Exkursion in die tiefe Vergangenheit von
Nordafrika notwendig. Vor mehr als 10 000 Jahren, als in Europa noch Eis-
zeit herrschte, war die Sahara grün und nicht wie heute eine lebensfeindli-
che Wüste. In den fruchtbaren Steppen- und Savannenlandschaften mit
Flüssen und Seen lebten damals Jäger und Sammler, die später auch zu
Hirten und Viehzüchter wurden. Sie hinterließen wie die steinzeitlichen Be-
wohner von Frankreich und Spanien zahlreiche Felszeichnungen. Nach Ske-
lettfunden handelte es sich bei ihnen häufig um Menschen des Cro-Mag-
non-Types, die während der Steinzeit den Mittelmeerraum bevölkerten und
auch in Westeuropa, insbesondere in Frankreich (Abb. 6), lebten. Zu ihren
Nachkommen gehören in Nordafrika die Berber, die sich noch heute durch
eine relativ helle Haut auszeichnen, teilweise blaue Augen besitzen und wie
Südeuropäer aussehen. Etwa ab dem 7. bis 11. Jahrhundert n. Chr. wurden
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 161

Abb. 6. Künstlerisch anspruchsvolle Steinritzung von zwei menschlichen Figuren aus der Stein-
zeit in Frankreich, gefunden in La Marche. Beide Menschen sind nicht schematisch dargestellt.
Es gibt Ähnlichkeiten mit der altägyptischen Malerei: Kopf im Profil und Auge frontal (nach D.
Vialou und D. Ferembach, 1981)

sie durch eingewanderte Araber immer stärker zurückgedrängt und kom-


men inzwischen nur noch in abgelegenen Gebieten vor. Als mögliche Vor-
fahren eines anderen Saharavolkes, der hoch gewachsenen und ebenfalls
oft hellhäutigen Tuareg, gilt das Volk der Garamanten, die bereits in der
frühen Antike auf dem Gebiet von Lybien ein eigenes Reich gründeten. Mit
hellhäutigen Nachbarn aus dem heutigen Lybien hatten die Ägypter oft
kriegerische Auseinandersetzungen.
Während der Steinzeit verfügten die Bewohner an den nordafrikani-
schen Küsten sogar über hochseefähige Schiffe, denn es gelang ihnen, die
Kanarischen Inseln zu besiedeln. Als die Spanier im 15. Jahrhundert diese
Inselgruppe besetzten, trafen sie dort die Guanchen an. Eine Volksgruppe,
die damals noch deutlich den nordafrikanisch-europäischen Cro-Magnon-
Typ verkörperte und von den ausgewanderten frühen nordafrikanischen
Bevölkerungsgruppen abstammte. Sie waren hoch gewachsen und hatten
eine helle Haut, viele von ihnen waren außerdem blond und besaßen blaue
Augen. Die Fähigkeit ihrer Ahnen zur Hochseeschifffahrt hatten sie aller-
dings verlernt. Bemerkenswert an ihnen war außerdem, dass sie wie die al-
ten Ägypter ihrer Toten mumifizierten. Später wurde die Volksgruppe der
162 z M. Reitz

Guanchen von den Spaniern weitgehend ausgerottet oder verschwand


durch Vermischung mit den Eroberern. Nach Schädelvermessungen kommt
jedoch noch heute, hauptsächlich auf Gomora, unter den Inselbewohnern
der Cro-Magnon-Typ vor.
Etwa ab der Zeit um 6000 v. Chr. begann das Gebiet der heutigen Sahara
immer trockener zu werden. Der Klimawandel wurde schließlich drama-
tisch, so dass die Menschen zusammenrücken mussten. Gleichzeitig wan-
derten auf der Flucht vor der Trockenheit zusätzlich aus dem vorderasiati-
schen Raum noch weitere Gruppen von Menschen ein. Zuletzt strebten alle
zu den Küstengebieten sowie zu den großen Seen und Flüssen, die aller-
dings bald auszutrocknen begannen. Allein der Nil bot eine sichere Was-
serversorgung. Allerdings glich das Niltal in der Steinzeit einem lebens-
feindlichen Sumpfgebiet. Doch die zunehmende Trockenheit erzwang eine
Anpassung. Die talentierten Vorfahren der alten Ägypter gaben das Leben
in kleinen Gruppen auf, organisierten sich zu einem tatkräftigen Volk mit
effektiver Arbeitsteilung und machten die Sümpfe des Nils zu fruchtbarem
Ackerland. In einer gewaltigen Leistung wurde dabei eine der ersten Hoch-
kulturen geboren.
In nur vier Weltgegenden begann sich am Ende der Steinzeit wahr-
scheinlich weitgehend unabhängig voneinander eine Hochkultur abzuzeich-
nen: Tal des Nils sowie des Euphrat und Tigris (etwa 4000 bis 3000 v. Chr.),
Tal des Indus (etwa 2500 v. Chr.) und Tal des Hoangho in China (etwa 2000
v. Chr.) [4–6].

Die Herkunft der negriden Großrasse

Skelettfunde südlich der Sahara belegen, dass es während der Steinzeit im


heutigen Schwarzafrika wahrscheinlich noch keine negride Großrasse gab.
Das südliche Afrika war vor mehr als 10 000 Jahren weitgehend von Men-
schen bevölkert, die dem khoisaniden Rassenkreis zugeordnet werden
können. Sie hatten zwar eine dunkle Hautfarbe, waren allerdings keine
Negride. Dieser Rassenkreis wird als der älteste der Menschheit angesehen
und seine Angehörige sollen direkt auf den noch jungen Homo sapiens
zurückgehen, der sich vor rund 100 000 bis 140 000 Jahren im südöstlichen
Afrika entwickelt hatte. Heute gelten die letzten Reste der Buschmänner als
ihre Nachkommen. Die Vorfahren der Buschmänner fertigten einst sogar
kunstvolle Felsmalereien an, so dass es in der Steinzeit eine Linie von Fels-
malereien gab, die in Südafrika begann, durch die heutige Sahara führte
und in Südeuropa endete. Die gegenwärtigen Buschmänner sind allerdings
kulturell degeneriert und führen keine Felsmalereien mehr durch. Wie weit
die Khoisaniden einst verbreitet waren, können neben Knochenfunden
auch Sprachrelikte belegen. In Tansania, mehr als 1600 Kilometer vom jet-
zigen Gebiet der Buschmänner entfernt, werden auf Sprachinseln noch heu-
te Khoisan-Sprachen gesprochen.
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 163

Die frühen Bewohner des tropischen Regenwaldes waren ebenfalls noch


keine echten Negriden. Aus ihnen entwickelten sich die heutigen Pygmäen,
die zwar optisch den Negriden ähneln, aber nicht direkt von ihnen abstam-
men.
Der genaue Entwicklungsort der negriden Großrasse ist nicht gesichert.
Es wird angenommen, dass ihre Angehörigen von dunkelhäutigen Volks-
gruppen abstammen, die während der Steinzeit vom südwestlichen Asien
aus über das Nadelöhr Niltal nach Afrika eingewandert sind. Diese Wan-
derungen mussten lange vor der Gründung des Reiches der Pharaonen be-
reits abgeschlossen gewesen sein, denn später war Ägypten eine militäri-
sche Großmacht und verhinderte alle Wanderbewegungen durch sein Ge-
biet. In den sonnendurchfluteten afrikanischen Steppengebieten änderte
sich dann die Hautfarbe dieser Volksgruppen in schwarz und die typischen
Merkmale der negriden Großrasse wurden herausgebildet. Von Westafrika
aus besiedelten die Negriden anschließend den afrikanischen Kontinent
südlich der Sahara. Gegenüber der Urbevölkerung konnten sie sich durch-
setzen, da sie schon früh die Landwirtschaft beherrschten, die den Men-
schen des khoisaniden Rassenkreises fremd war. Als die ersten Europäer in
Südafrika landeten, war die Verdrängung des khoisaniden Rassenkreises
durch den negriden Rassenkreis noch voll im Gange.
Jede Rasse ist nur ein Augenblickszustand in der Entwicklung von Popu-
lationen des Homo sapiens. Es ist anzunehmen, dass der frühe Homo sa-
piens aufgrund seines Lebensortes in Südostafrika primär eine dunkelbrau-
ne Hautfarbe hatte, deren Pigmentierung sich in zwei Richtungen entfalten
konnte: Die Pigmentierung ging zurück, und die Menschen wurden weiß;
die Pigmentierung nahm zu, und die Menschen wurden schwarz.
Eine nur geringe Hautpigmentierung verbessert bei einer schwachen
UV-Bestrahlung die Vitamin-D-Produktion im Körper. Sind dunkelhäutige
Menschen in ihrer Umwelt einer zu niedrigen UV-Bestrahlung ausgesetzt,
vermindert sich deshalb bei ihnen die Vitamin-D-Versorgung. Im Körper
löst dieser Mangel Knochenveränderungen aus (bei Kindern Rachitis), die
es Frauen erschweren, Kinder zur Welt zu bringen. In Gebieten mit einer
verminderten Sonnenbestrahlung können deshalb langfristig dunkelhäutige
Menschen aussterben, während hellhäutige überleben. Diese Thesen haben
allerdings Schwächen: Der Lebensraum der schwarzen Pygmäen ist der tro-
pische afrikanische Regenwald. Die UV-Bestrahlung durch die Sonne wird
für sie bereits seit Jahrtausenden durch das Blätterdach der Bäume abge-
schirmt, dennoch bleiben sie schwarz. Die heute ausgestorbene Urbevölke-
rung von Tasmanien war wie die australischen Aborigines schwarz, obwohl
die Tasmanier bereits vor rund 10 000 Jahren von Australien isoliert wur-
den und in einem Gebiet mit verminderter UV-Bestrahlung lebten [5–7].
164 z M. Reitz

Wie afrikanisch sind die Afroamerikaner?

Bei der Urbevölkerung Afrikas sind genetische Variationen besonders groß


und es gibt unterschiedliche Rassenkreise. Auch die negride Großrasse ist
weniger einheitlich als die europide oder die mongoloide. Afrika ist die
Wiege der Menschheit und entsprechend viel Zeit stand dort für die Ent-
wicklung von genetischen Variationen zur Verfügung. Auf allen übrigen
Kontinenten war die Entwicklung der Menschheit kürzer. Letztlich stam-
men alle Menschen der Erde von einer afrikanischen Stammgruppe des
Homo sapiens ab. Nach Analysen der menschlichen Mitochondrien-DNA
entwickelte sich die gesamte Menschheit aus wenigen tausend Individuen,
die erstmals vor 100 000 bis 140 000 Jahren in Ostafrika auftauchten und
sich seitdem über die gesamte Erde verbreitet haben [6].
Afroamerikaner, die sich stolz als Afrikaner bezeichnen, haben häufig
außer der schwarzen Hautfarbe mit den ursprünglichen Negriden nur we-
nig genetische Gemeinsamkeiten. Genetische Analysen des Y-Chromosoms
weisen auf die väterliche Linie der Vorfahren und Analysen der Mitochon-
drien-DNA auf die mütterliche Linie. Afroamerikaner kamen zuerst als
Sklaven, die meist aus Westafrika stammten, nach Amerika. Später zeugten
viele weiße Herrn mit schwarzen Sklavinnen außereheliche Kinder. Bei
Jungen war das Y-Chromosom der Mischlinge deshalb europid. Es blieb
auch bei deren Nachkommen so, und heute besitzen über 30% der männ-
lichen Afroamerikaner trotz der schwarzen Hautfarbe ein europides
Y-Chromosom. Waren Mischlinge zwischen Weißen und Schwarzen sehr
hellhäutig, konnten sie außerdem leicht als „Weiße“ in die amerikanische
Armee eintreten, und sie und ihre Nachkommen blieben dann Weiße [5].
Sogar in heute recht einheitlichen genetischen Populationen kommen
manchmal vor langer Zeit eingestreute fremde genetische Informationen
erneut zum Vorschein. In einigen Gegenden Frankreichs, insbesondere
dort, wo vor Jahrhunderten einmal Auseinandersetzungen mit den Hunnen
stattfanden, werden gehäuft Kinder mit einem so genannten Mongolenfleck
geboren. Zu ihren fernen Vorfahren gehörte möglicherweise einmal ein
Krieger der asiatischen Hunnen, der am Ende der Antike vom Heer des
Hunnenkönigs Attila nach der Niederlage in der Schlacht auf den Katala-
nischen Feldern in Gallien zurückgelassen worden war. Manche eindeutig
europide Menschen besitzen ganz leicht schlitzförmige Augen, die bei Frau-
en oft als besonders attraktiv angesehen werden. Auch hier könnten asiati-
sche Einflüsse eine Rolle gespielt haben.
Die alten Ägypter waren weder weiß noch schwarz, sondern in der
Hautfarbe dem UV-Anteil ihrer Umwelt angepasst. In ihrem Aussehen und
der Statur erschienen sie europid, obwohl sich die europide Großrasse in
ihrer heutigen Form damals noch nicht voll ausgeprägt hatte.
Die Hautfarbe der alten Ägypter z 165

Literatur
1. Diop CA (1974) The African Origin of Civilization. Myth or Reality? Academic
Press, New York
2. Knußmann R (1996) Vergleichende Biologie des Menschen. Fischer, Suttgart, Jena
3. Schwidetzky I (1974) Grundlagen der Rassensystematik. Bibliograph Institut,
Mannheim Wien
4. Reitz M (1999) Alltag im alten Ägypten. Battenberg, Augsburg
5. Olson S (2002) Mapping Human History. Discovering the Past Through Our Genes.
Houghton Mifflin, Boston New York
6. Cavalli-Sforza LL (1999) Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen
unserer Zivilisation. Carl Hanser, München Wien
7. Herrmann J, Ullrich H (1991) Menschwerdung. Millionen Jahre Menschheitsent-
wicklung. Akademie Verlag, Berlin
Die weiße Dame von Abri Maak
M. Reitz

Eine dunkle Haut ist kein rassenspezifisches Merkmal, sondern eine An-
passung an die UV-Bestrahlungsintensität des jeweiligen Lebensraumes. Ei-
nerseits ist der menschliche Organismus auf eine gewisse UV-Bestrahlung
angewiesen, andererseits darf diese UV-Bestrahlung jedoch nicht zu hoch
ausfallen, um keine Schädigungen auszulösen. UV-Strahlen regen zum Bei-
spiel die Synthese von Vitamin D an und sind somit lebenswichtig. Gleich-
zeitig zerstören UV-Strahlen aber auch in den feinen Blutgefäßen der Le-
derhaut die für den Zellstoffwechsel wichtige Folsäure, so dass sich ein Fol-
säuremangel entwickeln kann. An Ratten und Mäusen wurde gezeigt, dass
Folsäuremangel die Fruchtbarkeit beeinträchtigt und sich somit die Über-
lebensrate in einer Population sofort gegen Individuen mit Folsäuremangel
richtet. Da UV-Strahlen außerdem die DNA der Hautzellen schädigen,
fördert eine zu hohe UV-Strahlenbelastung zusätzlich noch die Hautkrebs-
entwicklung. Individuen mit einer für ihre Umwelt falsch angepassten
Hautfarbe sterben deshalb aufgrund der UV-Bestrahlungsfolgen langfristig
aus [1].

Anpassungen der Haut an Bestrahlungsbelastungen


Die menschliche Haut reagiert durch Pigmenteinlagerungen auf die aktuell
vorherrschende UV-Strahlenbelastung und stellt sich auf ein Gleichgewicht
zwischen den jeweiligen Vor- und Nachteilen der allgemeinen Bestrah-
lungsdosis ein. Bei Tieren übernimmt das Fell eine solche Schutzfunktion.
Schimpansen, die genetischen Vettern des Menschen, besitzen unter ihrem
Fell eine helle Haut und sind nur in Körperbereichen ohne Fell dunkel pig-
mentiert. Vermutlich haben deshalb die Vorläuferformen des Menschen erst
nach dem Verlust ihres Fells eine variable Hautpigmentierung entwickelt
und konnten dadurch an ihren afrikanischen Entwicklungsorten überleben.
Als sich der Mensch später über die Erde verteilte, musste er immer wieder
seine Hautfarbe an die vorherrschende UV-Strahlenbelastung seines Le-
bensraumes anpassen. Sind Weltgegenden von der Sonne durchflutet, leben
dort auch in der Gegenwart überwiegend dunkelhäutige Menschen, wäh-
rend Weltgegenden, die von der Sonne wenig verwöhnt sind, meist von
hellhäutigen Menschen besiedelt werden.
Die weiße Dame von Abri Maak z 167

Frühe Wanderbewegungen von Menschen können häufig über die Haut-


farbe der Besiedlungspioniere rekonstruiert werden. Eigentlich besitzen Es-
kimos (Inuit) für den kalten Norden eine viel zu dunkle Hautfarbe. Der
Grund ist einfach: Da sie erst vor weit weniger als 5000 Jahren aus Asien
in den sonnenarmen Norden eingewandert sind, sind sie in ihrer Hautfarbe
noch nicht optimal an ihre Umwelt angepasst. Außerdem ernähren sie sich
praktisch nur von tierischen Materialien und verfügen deshalb über eine
besonders Vitamin-D-reiche Kost, ihre eigene Vitamin-D-Produktion kann
ohne Schädigungen minimal gehalten werden. Sie müssen deshalb nicht
rasch eine helle Hautfarbe annehmen. Im Süden des Sudan ist die Hautfar-
be der einheimischen Bevölkerung besonders dunkel. Auf der in der Son-
nenintensität vergleichbaren südlichen Arabischen Halbinsel ist die Haut-
farbe der einheimischen Bevölkerung dagegen weitaus heller. Diese Men-
schen sind arabischer Abstammung und erst vor etwa 2000 Jahren zuge-
wandert. Anpassungsstrategien könnten bei ihnen noch im Gange sein. Zu-
sätzlich bremsen bei ihnen kulturelle Verhaltensweisen die Anpassung der
Hautfarbe an eine hohe UV-Strahlenbelastung. Araber schützen sich durch
eine dichte Kleidung vor den UV-Strahlen ihrer Umwelt und lebten zumin-
dest früher ständig in schützenden Zelten. Heute leiden in Schottland viele
der erst jüngst eingewanderten, dunkelhäutigen Inder auffallend häufig an
Rachitis und anderen fast vergessenen Vitamin-D-Mangelerkrankungen.
Ihr Organismus kann im Gegensatz zu den hellhäutigen Einheimischen
aufgrund der dunklen Hautfarbe nicht genügend Vitamin D selbst herstel-
len, und sie gleichen möglicherweise durch die Übernahme der Ernäh-
rungsgewohnheiten der Einheimischen ihren Vitaminmangel nicht vollstän-
dig durch geeignete Nahrungsmittel aus. Hellhäutige Europäer erkranken
gegenwärtig in Nordaustralien überdurchschnittlich oft an Hautkrebs, wäh-
rend die gleichen Krebsarten bei den in der Hautfarbe angepassten Abori-
gines relativ selten vorkommen [1].

Frühe hellhäutige Menschen im südlichen Afrika

Prähistorische Bilddarstellungen können in manchen Weltgegenden echte


Überraschungen hervorrufen und zeigen, dass beispielsweise vor mindes-
tens 7000 Jahren hellhäutige Menschen in das südliche Afrika eingewandert
sind und sich dort möglicherweise später in ihrer Hautfarbe genetisch an
ihren neuen Lebensraum angepasst haben. Der deutsche Landvermesser
Reinhard Maak entdeckte 1917 etwa 300 km nordwestlich von Windhuk im
damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) an einem Felsüberhang
höchst merkwürdige Malereien. Der Felsüberhang, auch Abri genannt, er-
hielt später seinen Namen. Dargestellt waren dort hellhäutige und oft rot-
haarige Menschen bei einem feierlichen Umzug. Insbesondere eine „weiße
Dame“ fiel auf, die sich in ihrem Aussehen völlig von typischen Darstellun-
gen afrikanischer Ureinwohner unterschied [2]. Die auf dem Felsen abge-
168 z M. Reitz

Abb. 1. Die „weiße Dame“ von Abri Maak, Fels-


malerei (Namibia), um 5000 v. Chr. Die dargestellte
Person sieht nicht wie eine Negride aus, sie trägt
Schuhe, enge Kleidung und ein Haarnetz

bildete feingliedrige Frau trug Schuhe, ein Haarnetz sowie eng anliegende
Kleidungsstücke (Abb. 1). In einer Hand hielt sie einen Bogen mitsamt
Pfeilen und in der anderen Hand eine Lotosblüte. Stilistisch und in der Ele-
ganz der Bewegung verwies die Malerei in den fernen Mittelmeerraum und
verriet Anklänge an frühe altägyptische Darstellungen. Spätere Datierungen
zeigten, dass die Bilder etwa um 5000 v. Chr. gemalt worden waren.
Über die Herkunft und das weitere Schicksal der hellhäutigen Menschen
im südlichen Afrika wird bis heute gerätselt. Noch am Ende der Steinzeit
war die gegenwärtige Wüste Sahara grün und glich einer fruchtbaren Sa-
vannen- und Steppenlandschaft mit großen Seen, zahlreichen Flüssen sowie
einer reichen Tierwelt. Vor ungefähr 6500 Jahren lag zum Beispiel der Was-
serspiegel des Tschad-Sees rund 40 m höher als in der Gegenwart und äh-
nelte eher einem Binnenmeer als einem See. Beiderseits des Mittelmeeres
lebten während dieser Zeit sowohl auf europäischer als auch auf nordafri-
kanischer Seite Cro-Magnon-Menschen, die sich nach ihren Skelettfunden
von modernen Europiden unterschieden, aber wie diese hellhäutig waren.
Als später die Sahara immer trockener und lebensfeindlicher wurde, muss-
ten ihre Bewohner auswandern und neue Lebensräume erschließen. Einige
machten die Sümpfe des Niltals fruchtbar und gründeten eine der ersten
Hochkulturen. Andere wichen tief in den afrikanischen Süden aus und
schufen dort heute noch weitgehend unerforschte Kulturen. Das weitere
Schicksal dieser hellhäutigen Siedler ist unbekannt. Möglicherweise haben
sie genetisch ihre Hautfarbe an die UV-Strahlenbelastung ihrer neuen Hei-
mat angepasst und wurden mit der Zeit dunkelhäutig.
Während der Steinzeit gab es nach der Analyse von Skelettfunden in
Afrika noch keine Menschen der negriden Großrasse. Diese frühen Afri-
kaner waren zwar als Reaktion auf die UV-Strahlenbelastung dunkelhäutig
Die weiße Dame von Abri Maak z 169

und stammten direkt von den ersten Vertretern des modernen Homo sa-
piens ab, aber sie waren keine Negride. Im südlichen Afrika lebten wäh-
rend der mittleren Steinzeit mindestens drei unterschiedliche Menschenras-
sen, die außer der Hautfarbe alle nicht typisch negrid aussahen. Aus Varia-
nten dieser Rassen entwickelten sich später die heutigen Khoisaniden, die
Völker der Buschmänner und Hottentotten. Insbesondere in Ostafrika gab
es noch am Ende der Steinzeit hoch gewachsene Menschen, deren Schädel-
form stark dem europäischen Cro-Magnon-Typ entsprach. Die heutigen
Negriden sind im Gegensatz zu ihnen jüngere Anpassungen an ein heißes
und lichtintensives Klima. Sie haben sich vermutlich erst nach der Steinzeit
zuerst in Westafrika entwickelt. Frühe Skelettfunde von Menschen mit typi-
schen negriden Merkmalen tauchten erstmals nach dem Ende der Steinzeit
auf. Die anschließende erfolgreiche Ausbreitung der Negriden in Afrika
setzte erst relativ spät mit der Metallverarbeitung und dem Ausbau der
Landwirtschaft ein [3, 4].
Frühe Jäger- und Sammlerkulturen im südlichen Afrika unterschieden
sich unter anderem auch in der Kleidung der Menschen von den späteren
Kulturen der Negriden. Uralte und schwierig zu datierende Felsmalereien
in Tansania zeigen beispielsweise oft menschliche Gestalten, die den Ein-
druck erwecken, als würden sie Hosen tragen, die ihnen bis an die Knie
reichen (Abb. 2). In späteren Epochen und nach der Ausbreitung der Neg-
riden kamen solche Kleidungsstücke im südlichen Afrika nicht mehr vor
[5].

Abb. 2. Felszeichnung in Tansania (Munenia, Maasai Escarp-


ment). Die Gestalt mit dem runden Kopf erweckt den Eindruck,
als würde sie knielange Hosen tragen
170 z M. Reitz: Die weiße Dame von Abri Maak

Weitreichende frühe Kulturkontakte?

Felsmalereien in Höhlen und an Felsüberhängen reichen in einem gewalti-


gen Bogen vom südlichen Afrika durch die ehemals grüne Sahara bis nach
Westeuropa. Im südlichen Afrika wird das Alter mancher Malereien auf
rund 26 000 Jahre geschätzt. Einige Forscher vermuten sogar, dass sich
trotz der großen Entfernungen diese Malereien und Reliefdarstellungen von
Europa bis nach Afrika gegenseitig beeinflusst haben, und die Menschen
untereinander in lockeren kulturellen Kontakten gestanden hatten. Für
manche Stilrichtungen gibt es vor Ort keine nachweisbaren Entwicklungs-
wege und sie erscheinen wie aus dem Nichts plötzlich auf einem hohen
künstlerischen Niveau. Die Tierdarstellungen in der Höhle von Lascaux in
Frankreich werden wegen ihrer Qualitäten als die „Sixtinische Kapelle der
Eiszeit“ bezeichnet. Picasso soll nach einer Besichtigung tief beeindruckt
berichtet haben: „Nichts haben wir erfunden, nichts!“ Der kulturelle Stan-
dard der Steinzeit war vermutlich weltweit weitaus höher entwickelt als all-
gemein angenommen. Da es sich um schriftlose Kulturen handelt, fehlen
allerdings heute die Dokumente und es sind bei einem sehr lückenhaften
Beweismaterial nur indirekte Rückschlüsse möglich [2, 4–6].

Literatur
1. Jablonski NG, Chaplin G (2003) Die Evolution der Hautfarbe. Spektrum der Wis-
senschaft, pp 38–44
2. Wendt H (1966) Ich suchte Adam. Die Entdeckung des Menschen. Rowohlt, Ham-
burg
3. Knußmann R (1996) Vergleichende Biologie des Menschen. Fischer, Stuttgart, Jena
4. Connah G (2006) Unbekanntes Afrika. Archäologische Entdeckungen auf dem
Schwarzen Kontinent. Theiss, Stuttgart
5. Anati E (1997) Höhlenmalerei. Die Bilderwelt der prähistorischen Felskunst. Ben-
zinger, Zürich, Düsseldorf
6. Scarre C (ed) (2005) The Human Past. Thames & Hudson, London
Tätowieren und Tattoo
E. G. Jung

Tätowierungen sind Farbeinsprengungen in die Haut, wobei solche in die


Epidermis und Einfärbungen der Hornschicht mit dem epidermalen Um-
satz (turnover) in Tagen bis Wochen auswachsen, und als vorübergehende
Tätowierungen neuerdings als eine Form des „body painting“ verstanden
werden. Werden unlösliche Farbpartikel in die Dermis (Corium) eingeritzt
oder gestochen, so bleiben diese im Corium liegen und die Tätowierung ist
permanent, sie bleibt lebenslang bestehen und sichtbar. Eine Entfernung ist
meist wesentlich aufwändiger und kostspieliger als das Anbringen von Tä-
towierungen. Oft ist eine solche weder vollständig noch narbenfrei zu er-
reichen, auch wenn die moderne und differenzierte Lasertechnik erfreuli-
cherweise gewaltige Fortschritte gemacht hat.
Zur permanenten Tätowierung dienen natürliche Pigmente minerali-
schen und pflanzlichen Ursprungs sowie unlösliche und innerte Farbstoffe
chemischer Art [1]. An unerwünschten Nebenwirkungen, außer dass die
ganze Tätowierung wegen ihres Sujet oft nur kurze Zeit aktuell ist und er-
wünscht bleibt, kommen Kontaktallergien auf Farbbestandteile, Fremdkör-
per-Granulome, Narbenkeloide und Infektionen vor, die zumeist ein thera-
peutisches Eingreifen bedingen.

Einige Bemerkungen zur Geschichte

Tätowierungen kommen offenbar in allen Kulturen vor und sind in den


frühesten Funden konservierter Haut aufzufinden. Dies gilt auch für die
Bewohner Europas in der Steinzeit. So weist die 1991 im Ötztal gefundenen
Gletscherleiche „Ötzi“ 50 Tätowierungen in 15 Gruppen auf: parallele Lini-
en über der unteren Wirbelsäule, Streifen um den rechten Fußknöchel und
eine Kreuzform in der rechten Kniekehle. Aber auch in den „jung gebliebe-
nen“ Kulturen in Polynesien und Afrika finden sich viele und reichhaltige
Tätowierungen, oft in Kombination mit Narben und eingestochenen Gegen-
ständen (Piercing). Das Wort selbst ist aus dem polynesischen „tatau“ ent-
standen und meint „Zeichen“, oder ta-tatau für „kunstgerecht hämmern“.
Tätowierungen gehören, so meint eine Kulturhypothese, in alle frühen,
größtenteils überwundene Zivilisationsstufen. Sie sind womöglich mit oder
gar vor der Schrift aufgetreten und vielfältig angewandt worden. Der Papua
172 z E. G. Jung

tätowiert sich selber, sein Boot, seine Instrumente und Gerätschaften, kurz
alles was ihm gehört. Besitz wird gekennzeichnet und festgehalten. Daraus
konnten sich kunstvolle Gestaltungen (Ornament) entwickeln und persön-
licher Schmuck. Dies führt weiter zur individuellen Darstellung der eigenen
Person, zu Selbstbewusstsein also. Gleichzeitig entwickelten sich besondere
Tätowierungen zur Kennzeichnung von Familie, Sippe und Stamm, von po-
litischer und religiöser Zuordnung und der hierarchischen Einordnung in
dieselben (Rangabzeichen). Einschluss, Funktion und Verantwortung in ei-
ner Gemeinschaft wurden bleibend in der Haut festgehalten. Dies diente
nicht nur der Abgrenzung, sondern auch zum Ausschluss aus anderen Ge-
meinschaften. „Einschluss per Ausschluss“ lautet das Stichwort, es war so
bei den Urchristen und gilt auch heute noch. Bei den Kreuzfahrern allerdings
war die Jerusalem-Tätowierung Auszeichnung und Ehrenmal einer Elite.
Im 18. Jahrhundert brachten die Seefahrer die Tätowierungsmode nach
Europa, wo sie nicht nur den Adel und die Bürgerschaft ergriff, sondern ganz
besonders die Unterschichten, die Soldaten (manche Regimenter hatten eige-
ne Tätowierer), die Matrosen, die Strafgefangenen, aber auch das Jahrmarkts-
volk und Schauspielgruppen. Eine regelrechte Tätowierlust und ein Boom der
Tätowierkunst hielten sich bis zum ersten Weltkrieg 1914. Obschon die
christliche Kirche und deren Missionen das Tätowieren als heidnisches Relikt
aus dem „Kindheitsstadium der Menschheit“ verteufelten, blieb es als Faszi-
nosum, Schmuck und Charakteristikum der Randgruppen auch weiterhin er-
halten und wurde in einer Art Subkultur fortentwickelt. Walther Schönfeld
hat dies gesammelt, zusammengestellt und 1960 publiziert [2], und Stephan
Oettermann hat diese Entwicklung im Laufe der Zeit dargestellt [3].
Bezeichnend ist die besondere Bedeutung von Tätowierungen im Roman
„Moby Dick“ von Hermann Melville, der 1851 erschienen ist. Dort wird
der Schiffszimmermann Queequeg mit ausgedehnten und geheimnisvollen
Tätowierungen geschildert, die sein Leben und seine Stammesherkunft in
verschlüsselter Form vermitteln würden. Des Weiteren wird der ominöse
weiße Pottwal als mit Narben und Wunden überzogen geschildert; gleich-
sam durch die Spuren erfolgloser Walfänger tätowiert und zusätzlich mit
Stricken und Harpunenresten zum Jagdobjekt installiert. Das ist nicht Aus-
druck künstlerischer Phantasie, sondern wird als Wiederaufnehmen von
frühgeschichtlichen, primitiven Ritualmarkierungen [4] gedeutet.
Einiges hat sich bis heute, wenn auch in geringerem Umfang, gehalten,
wie die Markierung einer Schiffscrew (Äquatortaufe), die Mitgliedschaft in
der Fremdenlegion oder diejenige einer besonderen Spezialeinheit. Dies be-
stätigt sich auch in einer bemerkenswerten Sammlung von Tätowierungen
russischer Strafgefangenen, die 2005 in Deutsch herauskam [4] und zeigt,
dass Verbrecher in Russland nach wie vor Gesellschaft und Familie auf im-
mer verlassen und in eine besondere Identität des Kriminellen eintreten.
Sie haben eine geheime Sprache und eine spezifische Fixierung derselben
auf der Haut des Gefangenen als Tätowierung. Die Existenz und die Biogra-
phie des Verbrechers werden damit für ihn und andere lesbar. Die Bilder-
sprache ist komplex; Nazisymbolik, KBG-Insignien, religiöse, frauenfeindli-
Tätowieren und Tattoo z 173

che und antisemitische Inhalte kommen gehäuft vor. Der Rang des Häft-
lings wird eingetragen und oft sogar eine Botschaft an Mitgefangene. Aus-
grenzung durch Eingrenzung! Persistenz also der Tätowierhandhabe in ei-
ner extremen Randgruppe.

Das 20. Jahrhundert


Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Tätowierungen und die Tätowierkunst verdrängt, ja abgelehnt und mit
Gleichgültigkeit belegt wurden. Tätowieren war out, wieder einmal!
Und dann zeichnet sich eine drastische Wende ab, die von der Architek-
tur (Le Corbusier) und der dekorativen Kunst ausging. Die Oberfläche und
deren Gestaltung, Dekoration und Ornament wurden bedeutsam und stan-
den fast vor der Struktur, ja sie wurden integraler Teil von Bauwerken aller
Art. Die Kunsttheorie trieb Blüten und wurde von der „Haut der Gebäude“
auf den Menschen und dessen Haut übertragen und wieder betont [4].
Doch der künstlerische Enthusiasmus der Architekten und Gestalter wurde
von den Tätowierern weiter getragen. Weiter in den Dienst der Individual-
darstellung, der psychologischen Bekenntnisse (outing) und letztlich bis in
eine dramatische Kommerzialisierung. Dieser bemerkenswerten, dreistufi-
gen Entwicklung gilt nun unser Augenmerk.
Der Enthusiasmus führt seit einigen Jahrzehnten zu einem explosions-
artigen Boom, der aus USA und Asien nach Europa kam. Und damit kam
auch der neue, universale Name Tattoo.
In Amerika sollen schon mehr als 50 Millionen Menschen ein Tattoo tra-
gen, oder mehrere. Es wird geschätzt, dass schon 10% der Deutschen Tat-
too-Träger sind und unter den Jugendlichen mögen es schon 25% sein.
Und Tattoos nehmen weiter zu, an Zahl und an Vielfalt.
Zunächst sind es in einer fast scheuen ersten Phase zumeist kleine Mar-
ken, schöne Zeichnungen oder Ornamente, oft farbig, auf Schulterblättern,
Oberarmen, Lendenwirbelsäule oder Knöchel. Es sind stolz getragene Be-
weise, etwas Eigenes, Besonderes zu sein und, einsichtig zumeist, dies zu
bekennen. Ausdruck von Mut und gelegentlich auch Bekenntnis zu einem
Partner spielen mit.
Mit fließendem Übergang schließt sich eine zweite Phase an, nun mit
massiven Tattoos. Es finden sich neue Formen der Körperverzierung, sie
wachsen aus dem Kragen, aus dem Dekolleté heraus, erfüllen Arme und
Beine, zieren den Nabel und quellen an der Lende aus der tief sitzenden
Hose. Der Sujets sind viele und Phantasie kommt zum Ausdruck. Oft wer-
den Kunstelemente aus vergangenen Kulturen und Traditionen (tribal tat-
too) aufgenommen. Andere orientieren sich an Science fiction – Motiven
aus Literatur, Film oder Comics. Tiere (Abb. 1), Fabelwesen, religiöse Sym-
bole und erotische Anspielungen finden sich ebenso wie vielgestaltige Kal-
ligraphien mit Glücks- und Heilsbotschaften ferner Religionen, allgemeiner
Spiritualität oder Protest (Abb. 2).
174 z E. G. Jung

Abb. 1. Kleinformatiges Skorpionmuster

Abb. 2. Che Guevara als Symbol von Revolution


und Befreiung

Im Gegensatz zum „permanent make-up“ (Augenbrauen, Lippenkon-


turen), welches etwas Gegebenes verschönert, soll mit dem Tattoo durch ei-
ne eigene ästhetische Maßnahme etwas Neues, Persönliches dargestellt wer-
den, welches vom Körper selbst niemals hervorgebracht würde. Es soll eine
eigene Qualität zur Darstellung kommen, manchmal handgreiflich aggres-
siv und zuweilen als verschlüsselte Bildergeschichte. Der Selbstwert wird
auf urtümliche Weise dargestellt. Man fühlt sich frei, wild, ungestüm und
erotisch, was bekannt gemacht und öffentlich gezeigt werden will. Expo-
nenten sind Prominente aus Kultur, Sport und Entertainment, denen nach-
geeifert wird. Bisweilen kommt es zu bizarren Exzessen, wenn eine Schau-
spielerin sich den Namen ihres Partners zwischen die Beine tätowieren
Tätowieren und Tattoo z 175

Abb. 3. Großflächiges farbiges Phantasietattoo am


Oberkörper einer jungen Dame

lässt. Ein Partnerwechsel geht dann nur noch mithilfe eines Laser-erfahre-
nen Dermatologen über die Bühne.
Als dritte Phase muss die neueste Entwicklung verstanden werden. Die
Tattoos bedecken annähernd den ganzen Körper. Dieser wird zur Skulptur,
zum eigens installierten Werk der Selbstgestaltung (Abb. 3). Der Träger hat
also zwei Leiber, den einen vorgegebenen natürlichen, und den willkürli-
chen, den durch Bildersprache und Körperbeschriftung vom Tätowierer ge-
schaffenen [6]. Und der willkürliche bewegt sich durch den unterlegten,
natürlichen Leib und beginnt gleichsam ein eigenständiges Dasein.
Eine solche Ganzkörper-Installation eines Trägers muss mit dem Täto-
wierer zusammen geplant werden als ein integrales Kunstprodukt. Struktur
und Ornament werden vereinigt, um die ursprüngliche künstlerische Phan-
tasie zu verwirklichen. Dies ist ein großes Anliegen und bedingt einen
Rahmenplan, der Schmerz, Zeit und Kosten respektiert. Der Tätowierer
gehört dazu, der Creator, und der Tätowierte als Träger. Wer ist Besitzer
und hält Anrechte?
Ziel solcher Ganzkörper-Tattoos ist nicht allein die künstlerische Instal-
lation als Schmuck und Ausdruck der Phantasie, oder als Ausdruck der ge-
stalteten Selbstfindung. Ziel ist auch die Schaffung eines vitalen Kunstwer-
kes, verglichen mit einer Skulptur, das Eigenbedeutung bekommt und ei-
nen kommerziellen, veräußerbaren Wert findet. Neben der Selbstwerbung
werden solche „Werke“ auch für Fremdwerbung interessant.
Solches ist im Schauspiel Tattoo von R. Desvignes und I. Baudesima [7]
in extrem gezeichneter Form dargestellt und am 1. 6. 2002 im Düsseldorfer
Schauspielhaus uraufgeführt worden. Eine knappe Zusammenfassung möge
dies illustrieren:
Im Zentrum steht ein Liebespaar Fred und Lea, er ein erfolgloser Schrift-
steller und sie eine Schauspielerin. Tiger taucht auf, Leas alter Freund, ein ab-
solut trendgerechter Künstler mit steiler Karriere. Er ist selbst das reinste
176 z E. G. Jung: Tätowieren und Tattoo

Kunstwerk, sein Körper ist über und über mit Tätowierungen geschmückt.
Betrunken verspricht Lea, im Falle seines Todes, den kostbaren mumifizier-
ten Body von Tiger an sich zu nehmen und zu pflegen.
Kurz darauf kommt Tiger bei einer Kunstauktion ums Leben und seine
plastifizierte Tattoo-Leiche kommt zu Lea. Deren böse Halbschwester Nao-
mi, Galeristin von Tiger und seine Gelegenheitsgeliebte, taucht auf, nimmt
die Tattoo-Leiche an sich und versucht, diese in USA zu verscherbeln. Der
hohe Preis macht Lea unsicher und man plant, den Gewinn zu teilen. Da
taucht Tiger, mit Assistent Alex, lebend wieder auf. Der Unfall war ein auf
Video gebannter Fake, die falsche Leiche mit Kamera und Aufnahmegerät
bestückt, und sämtliche Aufnahmen ums Leben mit dem Toten sind doku-
mentiert. Sie sollen auf der nächsten Art Fair in New York zusammen mit
dem Vitrinentoten als Installation Tigers Ruhm ins Unermessliche steigern.
Da erschlägt Alex den Tiger. Die Geschichte erweist sich als Fiktion von
Fred und soll als Metapher für das „Ende der Moderne“ stehen. Zurück bleibt
das Liebespaar Fred und Lea und wieder kommt ein alter Freund zu Besuch.
Damit ist die Tattoo-Euphorie in ihrer dritten Phase bei einem extremen
Punkt angelangt und man kann gespannt sein, wohin die weitere Entwick-
lung gehen könnte.
Gleichsam als Steigerung einer Tätowierung, was die Tiefe der Verlet-
zung anbelangt, kann die Brandmarkung [2, 3] betrachtet werden, wobei
Zugehörigkeit als lebenslanger Besitz eingebrannt wurde (Rinderherden,
Sklaven, SS-Runen etc.) oder die unwiderrufliche Ausstoßung aus der ge-
setzlich geregelten Gesellschaft als „vogelfrei“ mit der eingebrannten „Fleur
de Lys“. Daraus entwickelte sich neuerdings das „Branding“, wobei mit hei-
ßem Eisen Körperschmuck in die Haut eingebrannt wird, wohl auch als
Mutprobe. Die zurückbleibenden Narben haben bei manchen Menschen,
ähnlich eben wie Tattoo und Piercing, den Stellenwert von Körperschmuck.

Literatur
1. Schmitz I, Kovalchuk A, Müller K-M, Epple M (2005) Charakterisierung von Pig-
mentierungsfarbstoffen. Akt Dermatologie 31:514–518
2. Schönfeld W (1960) Körperbemalen: Brandmarken und Tätowieren. Hüthig, Heidel-
berg
3. Oettermann S (1979) Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Eu-
ropa. Syndicat, Frankfurt a M
4. Arberg von H-G (2003) Archäodermatologie der Tätowierung in der Architektur
und Literatur zwischen 1830 und 1930. Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte 77:407–445
5. Baldajew D (2005) Russian Criminal Tattoo. Encyclopaedia. Deutsche Ausgabe.
Steidl, Göttingen
6. Kaube J (2003) Tattoo or not to be? Der Körper als Schautafel. FAZ, Sonntagszei-
tung 9. 11. 2003
7. Desvignes R, Baudesima I (2003) Tattoo, Schauspiel. In: Baudesima I: Norway
Today. Fischer, Frankfurt a M
Von der Sprache unserer Haut (Afrika)
M. Schwarz

Ob in Afrika, in Asien, Australien oder Europa – ob in der Vergangenheit,


der Gegenwart oder der Zukunft – ob in einer „weniger entwickelten“, ob
in einer „entwickelteren“ Gesellschaft – die gering behaarte Haut des
menschlichen Organismus ist besonders dafür geeignet, als „Schreibgegen-
stand“ zu dienen und damit den Angehörigen einer Sippe oder Gesellschaft
Informationen zu übermitteln.
Die Möglichkeit, großflächige Gemälde mit teilweise dreidimensionalem
Aspekt, Tätowierungen und andere Zeichen auf der Haut zu arrangieren,
schafft einen Informationsträger, der mit vergänglichen oder unvergäng-
lichen Zeichen Aspekte von symbolischer, religiöser, heilender oder sozialer
Bedeutung zum Ausdruck zu bringen vermag.

Das Hautorgan hat sicherlich eine besondere Bedeutung, ist es doch die
„letzte Schicht“ zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Es bietet
sich also an, durch Modifizierungen der Haut bestimmte Informationen –
nonverbal – an die Umwelt, an die Mitglieder der menschlichen Gemein-
schaft weiterzugeben. Menschen aller Völker haben die Haut als eine Fläche
betrachtet, auf der es sich leicht einrichten lässt, vieldeutige, zuweilen an
Verzierungen reiche und – ebenso häufig – künstlerisch wertvolle Aus-
drucksformen zu schaffen. Sie bietet ein weites Feld für kreative Tätigkeit.
Unabhängig vom jeweiligen kontinentalen Bezug, sind die Informationen
vermittels des Hautschmuckes vielfältig. Die Verzierung der Haut in Afrika
dokumentiert dabei oftmals den individuellen Lebenszyklus des Trägers,
seine soziale Stellung, zuweilen den beruflichen und wirtschaftlichen Er-
folg, bestimmte religiöse oder jahreszeitliche Bezugspunkte, oftmals aller-
dings auch „nur“ einen kosmetischen Aspekt. Durch den afrikanischen
Haut- und Körperschmuck werden auch individuelle Vorstellungen einer
gegebenen gesellschaftlichen Ordnung und Hierarchie dargestellt, legiti-
miert und bestätigt. Viele Aspekte sind dabei zu berücksichtigen: Wird ei-
ne zeitweilige (Farbe) oder dauerhafte (Narbe) Veränderung am Hautorgan
vorgenommen? Erfolgt die Kennzeichnung des Hautorgans aus sozialem,
religiösem, kosmetischem oder medizinischem Aspekt? Wie alt ist der Trä-
ger der artefiziellen Hautveränderung, ist er weiblich oder männlich? Wel-
che Ornamentik, welche Farben und welche Lokalisationen werden für den
Hautschmuck gewählt? Wer hat ihn (freiwillig/unfreiwillig) angefertigt? Wie
teuer war er? Ist ein Sinnzusammenhang innerhalb der verschiedenen Or-
178 z M. Schwarz

namente des Körperschmucks überhaupt gewollt? Oder erfolgt er heutzuta-


ge nur aus touristischer Intention? In vielen Gesellschaften Afrikas ist die
Malerei am Körper in der Defensive, gelegentlich verkommt sie tatsächlich
zum Touristenspektakel.

„Dieses Leit-Zeichen,
das ich in dein Fleisch einzeichne,
macht dich in Zukunft
als mein Kind kenntlich.“

Mit diesen Worten wendet sich die höchste Kreatur an ihre Abkömmlinge.
In den Augen der Gbaya (Volksstamm in Südkamerun, im Südsudan) trägt
jeder belebte Gegenstand eine Markierung. Der Volksstamm unterscheidet
z. B. zwischen „Zeichen Gottes“ (Dap so), Hautveränderungen, die ohnehin
vorhanden sind (z. B. auch Naevuszellnaevi, Missbildungen u. a.) und „Zei-
chen von menschlicher Hand“ (Dap gon ne er bii). Diese aber sind Tätowie-
rungen, Narben von Unfällen und Verletzungen, aber auch Bemalungen,
Schmucknarben u. a. [3].
Das Regelwerk mit Art und Weise, Ästhetik, künstlerischer Gestaltung
von Bemalungen, Narbenzeichnungen und Tätowierungen wird von der je-
weiligen Gemeinschaft aufgestellt und weitervererbt. Das Individuum mit
der so veränderten Haut wird zur lebenden Skulptur, zum Kunstwerk erho-
ben, das durch die bewusste Gestaltung zum Ausdruck menschlicher Kultur
wird, die andererseits von der Kunst der nicht beeinflussten umgebenen
Natur deutlich abgegrenzt erscheint.
„Zeige mir deine Haut, zeige mir dein Gesicht, und ich sage dir, wer du
bist.“ Diese Aussage scheint in ihrer Gültigkeit besonders für die ge-
schmückte Haut auf dem afrikanischen Kontinent zu gelten.
Die Veränderungen am Hautorgan durch die Beibringung von Schmuck-
narben, Tätowierungen, die Verwendung von Schminke bei Bemalungen,
aber auch das Nutzen von Masken und Gewändern stellt eine Symbolik dar.
Bei entsprechender Übung und Erfahrung kann man darin lesen. Ohne An-
spruch auf Vollständigkeit können die Veränderungen am Hautorgan in einen
z sozialen Hintergrund,
z medizinischen Hintergrund,
z religiös-mythischen Hintergrund und
z künstlerisch-kosmetischen Hintergrund

eingeteilt werden [4, 7, 8]. Zweifelsohne am umfangreichsten sind die so-


zialen Hintergründe der dem Hautorgan beigebrachten Veränderungen. Da-
zu können gezählt werden:
z Stammeszugehörigkeit
z Alter und Geschlecht
z Reifungs-/Erfahrungszyklus
z gesellschaftliche Stellung
z besondere Qualitäten, wie z. B. Tapferkeit des Symbolträgers.
Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 179

Von dem sozialen Hintergrund der am Hautorgan vorhandenen Verän-


derungen in Form von Schmucktätowierungen oder Narben kann der me-
dizinische Aspekt deutlich abgegrenzt werden [1, 6, 8].

Dazu zählen:
z Einbringung von heilkräftigen und schadensabwehrenden Substanzen in
die Haut
z Schadensabweisende Narbenstrukturen und Bemalungen
z Narben durch Aderlässe
z Narben aufgrund einer symptomatischen Behandlung (z. B. zur Verbes-
serung des Visus: Narben über dem Auge, zur Besserung von Schläfen-
kopfschmerzen: Narben im Schläfenbereich).

Weiterhin abgegrenzt werden kann ein religiös-mythischer Hintergrund der


Veränderung am menschlichen Hautorgan; Bemalungen und Narben kön-
nen hier als Ausdruck einer bestimmten religiös-mythischen Verehrung ge-
deutet werden. Die individuelle Symbolik kann aber auch als Mahnung
und Erfüllung an bzw. von göttlichen Aufträgen verstanden werden. Letzt-
lich abgegrenzt werden muss der kosmetische Aspekt, hier haben Schmuck-
narben, die Verwendung von Schminke und Tätowierungen lediglich die
Funktion einer Verzierung, sie können als kommunikatives Element mit zu-
weilen deutlich erotischem Aspekt angesehen werden.

Sozialer Hintergrund

Es gibt Stämme in Afrika, welche die Zugehörigkeiten zu ihrer Sippe kenn-


zeichnen. Intention ist dabei nicht allein die Markierung des Individuums
als zugehörig zu einer bestimmten Gemeinschaft. Ziel ist es auch, das Indi-
viduum vor dem Verlust zu schützen, es wiedererkennbar zu machen und
zu zeigen, woher es kommt.
Die Shilluk – Rinderhirten im Südsudan – verehren einen König, der
vornehmlich rituelle Aufgaben besitzt. Angehörige dieses Volksstammes
sind durch einen halbkreisförmigen Narbenbesatz im unteren Stirnbereich
(bis zum Antitragus reichend) gekennzeichnet. Diese Skarifizierung wird
in der Kindheit durchgeführt, wobei die Haut an einem Angelhaken hoch-
gezogen und dann mit einem Messer kreisförmig entfernt wird [4] (Abb. 1).
Andere Stämme, wie die Yaelima im Kongo, kennzeichnen die Stammes-
zugehörigkeit durch konzentrische Kreise im Schläfenbereich. Diese Kreise
allerdings haben eine vielfältige Bedeutung, u. a. werden sie als Zeichen an-
gesehen, mit dem der so „Markierte“ zum Licht des Wissens gelangt. Die
konzentrischen Kreise können zur Stammeskennzeichnung allerdings auch
an anderen Stellen des Körpers gefertigt werden [3].
Alter und Geschlecht als Ursache für die Symbolik auf der Haut bieten
sicherlich in Afrika den vielfältigsten Variantenreichtum.
180 z M. Schwarz

Abb. 1. Halbkreisförmiger Narbenbesatz Abb. 2. Samburu-Krieger


der Stirn als Charakteristikum der Shilluk,
Südsudan (Quelle: Bert Leidmann)

Die im zentralen Hochland von Kenia lebenden Kikuyu, auch die Sam-
buru, zeigen innerhalb ihrer zahlenmäßig reichen gesellschaftlichen For-
mierung ein ausgeprägtes Altersklassensystem. Besonders auffällige Formen
des Körperschmuckes tragen die jungen, unabhängigen (kriegerischen)
Männer. Kikuyu-Tänzer können Körperbemalungen aus einer Mischung
aus Kreide und Fett zeigen, während Samburu-Angehörige der Kriegerkaste
sich besonders prächtig mit einer Ockerbemalung im Gesicht- und Hals-
bereich darstellen (Abb. 2). Gesellschaftlichen Einfluss, wenn es um die Ge-
staltung der Geschicke der Sippe geht, haben allerdings nur die unschein-
bar agierenden Ältesten der Gesellschaft. Wie in anderen Stämmen Afrikas
auch, haben in Kenia die gesellschaftlichen Veränderungen dazu geführt,
dass körperbemalte Kikuyu oder Samburu nur noch selten anzutreffen
sind. Das gilt natürlich nicht für entsprechende Touristenresorts an den
Stränden der kenianischen Küste.
Bei den Nuba, bäuerlichen Stämmen im südlichen Sudan, haben verwen-
dete Körperfarben und die Art und Weise, die Haare zu frisieren, einen
strengen Altersbezug. Weiß und Rot sind die allerersten Farben, die Jungen
im Alter von etwa 8 Jahren benutzen dürfen. Sobald sie zu den jungen
Männern gehören, darf die Farbe Gelb verwendet werden. Schwarze Bema-
lungen allerdings sind erst erlaubt, wenn der Aspirant nach einiger Zeit of-
fiziell in den entsprechenden neuen Altersgrad aufgenommen wird. Sehr
genau achten die Nuba darauf, dass diese Tradition eingehalten wird. Hin-
gegen werden bei der Körperbemalung im Gesicht und am übrigen Körper
Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 181

Abb. 3. Junger Nuba-Mann mit gemalter Gesichts-


maske (Leni Riefenstahl Produktion)

Tiere dargestellt, die, angepasst an die menschliche Anatomie, symbolisch


verfremdet werden. Eine sehr große Bedeutung bei den Nuba findet auch
die Gestaltung des Kopfhaares. Jungen im frühen Altersgrad haben eine
sehr kleine Haarkappe, bei älteren Jugendlichen wird die Haarkappe
größer, sie kann in einzelne Sektionen geteilt werden. Eine durchgehende
Haarkappe kann sich in Form eines Bandes von der Stirn bis zum Nacken
gestalten. Um die kunstvoll gestalteten Frisuren nicht zu zerstören, wird
des Nachts nicht selten auf Nackenstützen geschlafen [4] (Abb. 3). Alte
Männer dagegen scheren sich das Haupthaar.
In anderen Gebieten Afrikas, z. B. bei den Berbern im Antiatlasgebiet
Marokkos und Algeriens, schützen sich die Frauen vor den negativen Kräf-
ten des „Bösen Blicks“. Abgewehrt werden sollen dadurch Krankheit und
Tod. Besonders können die negativen Kräfte des „Bösen Blicks“ durch die
Körperöffnungen in die Menschen eindringen. Deshalb müssen entspre-
chende Tätowierungen, Bemalungen, besonders in den Arealen der Körper-
öffnungen (Mund, Augen), lokalisiert sein. Schutz vor dem „Bösen Blicks“
findet man aber nicht nur bei den Berbern, sondern z. B. auch bei den Bo-
roro, nomadischen Hirtenfrauen in der Republik Niger [4].
Reifungs- und Erfahrungszyklus eines Individuums auf dem afrikani-
schen Kontinent können ebenso – eng an spezifische Körperverzierungen,
die mit dem Alter und Geschlecht verbunden sind, angelehnt – Ursache für
eine große Vielfalt sein.
Erste Narben bekommen Kinder bereits unmittelbar nach der Geburt,
weitere Skarifizierungen können folgen, bei den Frauen nach der ersten
Menstruation, nach der Geburt des ersten Kindes oder nach dessen Abstil-
len. Oftmals wird erst durch das Tragen von Narben anerkannt, dass es
sich um einen „echten“ Mann oder eine „echte“ Frau handelt. Bei anderen
afrikanischen Stämmen, wie bei den Ga’anda in Nigeria müssen die Frauen
182 z M. Schwarz

bis zum Erwachsenwerden, förmlich zum Aufzeigen ihrer Heiratsfähigkeit,


eine mehrjährige Körpergestaltung über sich ergehen lassen, die den ge-
samten Rumpf und die Oberschenkel in einer genau festgelegten überliefer-
ten Ordnung mit Narben verziert. Bei wieder anderen Stämmen hingegen
hat sich dieser Ritus nicht durchgesetzt, hier erfolgt eine umfangreiche
Skarifizierung z. B. erst nach der Geburt des ersten Kindes (z. B. bei den
Nuba-Frauen im Südsudan). Bei ihnen werden die Narben in einer festen
Ordnung von drei Phasen angelegt. Im Alter von ungefähr 10 Jahren finden
sich erste am Rumpf, kurz nach der ersten Menstruation unter dem Brust-
bereich. Vervollständigt werden die Skarifizierungen nach dem Abstillen
des ersten Kindes auf dem Rücken, den Armen und den Beinen. Die deko-
rative Deutung lässt sich allerdings nicht nur mittels der Narben aus-
machen. Nur diejenigen Mädchen, die noch nie schwanger waren, bestrei-
chen den gesamten Körper mit einer Mischung aus Öl und Ocker; diese ist
in ihrem Farbton als Spezifikum für den Vaterklan des Mädchens anzuse-
hen [4, 8]. Zu Beginn der ersten Schwangerschaft werden die Haare der
Frauen rasiert, erst nach der Geburt des Kindes dürfen sie wieder wachsen.
Außerdem wird durch die Farbe des Rockes gekennzeichnet, ob die Meno-
pause erreicht, ob gerade abgestillt wurde oder das erste Kind erwartet
wird. Während der umfangreichen Skarifizierungen wird versucht, die au-
ßerordentlich schmerzhafte Prozedur durch diverse Heilkräuter zu lindern.
Im individuellen Erfahrungs- und Reifungszyklus allerdings werden
auch Familienangehörige adjustiert. So müssen z. B. die Massai-Mädchen
kurz nach der Initiation und Beschneidung heiraten; dabei haben sich
Brautführer und die Familie der Braut im Gesicht und am Hals ocker zu
schminken. So unterschiedlich die Farbe Weiß in der Verwendung für die
einzelnen Regionen und Stämme Afrikas different zu betrachten ist, findet
man sie andererseits relativ häufig als Bemalungsfarbe für die Initiations-
riten bei Jungen und Mädchen. Die Feiern der Reife sind im Leben von Ju-
gendlichen als wesentliches Ereignis anzusehen, werden sie doch durch
den Ritus in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Jugendliche
werden dabei bestäubt oder bemalt, oftmals von Kopf bis Fuß. Weiß soll
dabei das Zeichen der Reinheit und Versinnbildlichung des Übergangs-
zustandes sein. Der Farbe Weiß wird außerdem dabei eine reinigende, hei-
lende Wirkung zugesprochen. Der Farbstoff wird aus Kaolin, hellem Lehm,
Mehl oder zermahlenen Muscheln hergestellt. Bei den Stämmen der Lobi
in Burkina Faso werden die jungen Mädchen bei den Initiationsfeiern mit
einem Skelettmuster aus weißer Farbe von Kopf bis Fuß gekennzeichnet.
Die Ahnen werden hierdurch wieder lebendig. Viele tausende Kilometer
entfernt, bei den Xhosa in Südafrika, müssen sich die jungen Erwachsenen
in den Zeiten der Initiation mehrere Monate außerhalb ihrer Gesellschaft
aufhalten. Auch sie sind weiß bemalt, zeigen sie doch dadurch den beson-
deren Übergangszustand deutlich auf. Bei den Fingo, in der Nähe von
Zwasiland lebend, stellt die Farbe Weiß periorbital benutzt, die Hoffnung
dar, eine baldige Mutterschaft zu erreichen [3, 4, 8].
Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 183

Nicht vergessen werden darf, dass bestimmte Skarifizierungen, Kunst-


narben, aber auch Körpermalereien Auskunft über die gesellschaftliche
Stellung einer Person geben können. Oftmals sind die Kosten zur Finanzie-
rung der Spezialisten so hoch, dass sie nicht von jedem Stammesmitglied
aufgebracht werden können. Andererseits sind, wie bei den Mangbetu-
Frauen (Nordost-Kongo), bestimmte Tätowierungen und Narbenverzierun-
gen ohnehin nur als Zeichen sozialer Abgrenzung für eine bestimmte ge-
sellschaftliche Elite vorgesehen. Die dabei verwendeten Muster sind auf
Holzfiguren, die für diesen lokalen Adel vorgesehen waren, verewigt [8, 10].
Innerhalb des sozialen Kontextes sind es auch oftmals ganz individuelle
Qualitäten wie Tapferkeit, Attribute der Anerkennung und Auszeichnung,
die mittels einer Veränderung der gegebenen Hautstruktur zum Ausdruck
gebracht werden können. Die im Omo-Tal (Südwestäthiopien) lebenden
Angehörigen bäuerlicher Gesellschaften besitzen auffallend vielfältige
Schmucknarben, die auch persönliche Leistungen/kleinere Heldentaten, Ge-
schick bei der Jagd darstellen. Auch die Nuba-Männer des Südsudans besit-
zen Narben, die sowohl überstandene Krankheiten als auch außergewöhn-
liche persönliche Leistungen dokumentieren [4, 8, 9].

Medizinischer Hintergrund
Auf den ersten Blick schwer zuzuordnen sind sicherlich auch die Bemalun-
gen und Narbenbildungen mit medizinischem Hintergrund. Wie bereits an-
gedeutet, können dabei die Gesundheit kräftigende bzw. den Schaden ab-
weisende Substanzen in die Haut eingebracht werden. Sie bilden dann ei-
gentlich auch sehr individuelle Kennzeichen, an denen man Menschen wie-
dererkennt. Die wie Schmucknarben aussehenden Veränderungen perium-
bilikal bei den Dagara-Kindern (Burkina Faso) sind in erster Linie kurz
nach der Geburt angelegt worden, um Infektionen abzuweisen, die aus ei-
ner unsauberen Abtrennung der Nabelschnur resultieren. Dagegen weisen
Narben in der Nabelgegend bei den Luluwa-Frauen (Katanga-Becken, Kon-
go) auf die enge Beziehung zu den Ahnen und auf die Kontinuität der Ge-
nerationen hin. Der überwiegende Teil der aus medizinischen Gründen ein-
gebrachten Narben lässt allerdings eine symbolische Interpretation kaum
zu [1, 3, 8].

Religiös-mythischer Hintergrund

Ebenso vielfältig sind Narben und andere Schmuckelemente am Hautorgan


aus religiös und religiös-mythischen Gründen. Hier scheint es eine unend-
liche Symbolvielfalt zu geben, stellen die Zeichen auch Andenken zur Mah-
nung bzw. zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Norm dar.
So ist es nicht selten, dass ausgewählte Farben, sowohl im Bereich des
Gesichtes aufgetragen als auch am übrigen Rumpf, bestimmten Göttern
184 z M. Schwarz

oder anderen übersinnlichen Wesen zugeordnet werden. Eine rote Maske


bei den Nkanu im Kongo symbolisiert den Geist Kakunga, der Unheil –
wie Krankheit und Naturkatastrophen – von der menschlichen Gemein-
schaft fernhält. Die Farbe Rot wird durchaus häufig mit menschlichem Blut
in Beziehung gebracht, so kann Rot als Farbe des Lebens betrachtet wer-
den, anderenorts sind allerdings mit der Farbe Rot Tod und Vergänglich-
keit verbunden. Allenthalben finden sich auf dem afrikanischen Kontinent
zudem unterschiedliche Rotschattierungen, für die es im europäischen
Sprachgebrauch keine Entsprechung gibt, so dass eine Zuordnung biswei-
len unmöglich ist [4, 8].
Bestimmte Narbenzeichen verkörpern Vielfachbedeutungen aus dem My-
thos des Stammes, Mahnung und Lebensregel. Einige Stämme besitzen ein
ganzes System für im Laufe des Lebens an bestimmten Stellen des Körpers
zu applizierende Narbenmuster, die über Generationen hinweg weiterge-
geben wurden: Bei den Ohendo-Frauen werden 1. „Zeichen der Ordnung“
(Tondongo) von 2. „Zeichen des Mondes“ (Angondo) und 3. Nkombe (Sym-
bole der Dankbarkeit und des Wunsches nach Langlebigkeit) unterschieden
[3] (Abb. 4). Das Neumondzeichen (Lowawale) aus dem Zyklus der „ord-
nungbringenden Narben“ (Tondongo) stellt sich als mit den Spitzen nach
oben gezeichnete Mondsichel dar, die mit einer senkrechten Linie gestützt
wird, wobei die Mondsichel zwischen den Brüsten angelegt wird und die
senkrechte Stützung kurz vor dem Nabel endet. Symbolisch lässt sich die-
ses Neumondzeichen dem Schöpfungsmythos der Ohendo zuordnen, nach
deren Vorstellungen auf dem Mond ein Geist wohnte, der in Absprache mit
den Ahnen und Naturgeistern über das Schicksal der entsprechenden Frau
in dem beginnenden Neumond entscheidet. Der Mondgeist entscheidet über

Abb. 4. Topographie der Zeichen der Ohendo (aus [3])


Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 185

Fruchtbarkeit (oder Unfruchtbarkeit) der Frau, besitzt damit deutlichen


Einfluss auf das Schicksal der schutzbefohlenen Person. Er mahnt die junge
Frau auch, einen untadeligen Lebenswandel aufzuzeigen, um die Gunst des
Geistes zu erhalten. Ein anderes Zeichen aus der Gruppe der „ordnungbrin-
genden Narben“ (Tondongo) sind die beiden doppelten Rauten, die sich an
ihren seitlichen Ecken berühren und in der Regel oberhalb der Hüften
(beidseits) eingeritzt werden (Longéngéndé). Dieses Zeichen steht für die
Vereinigung des Mannes mit der Frau, in seiner zweiten Bedeutung ist die-
ses Symbol allerdings auch – gemäß des Mythos der Ohende – als Zeichen
der Vereinigung der Frau mit dem Mondgeist anzusehen. Die Ohendo glau-
ben, dass jede Frau zwei Gatten besäße, einen menschlichen und einen geis-
tigen. Der geistige Gatte lebe tagsüber in ständiger Verbindung mit der
Frau, er verlässt des Nachts seinen Platz, um dem menschlichen Gatten
„Freizügigkeit“ zu erlauben. Demgemäß muss es den Ohendo-Männern ver-
boten sein, während des Tages Geschlechtsverkehr mit ihren Frauen zu ha-
ben. Halten sie sich an diese Regel nicht, gehen sie Gefahr, von einem eifer-
süchtigen Geistgatten umgebracht zu werden.
Ein anderes Zeichen, diesmal aus der Gruppe der „Monde“ (Angondo)
stellen kleine Mondsicheln dar, die die Form zweier Schildkröten anneh-
men, die in entgegengesetzte Richtung schauen. Schildkröten sind Kreatu-
ren mit Intelligenz; diese Schildkrötenmuster werden in der Regel in Berei-
che des Oberschenkels skarifiziert, gleichzeitig wird mit dem Symbol der
auseinanderlaufenden Schildkröten auf die Bigamie hingewiesen. Mit die-
sem Zeichen wird die junge Frau ermahnt, dass, falls der Ehemann eine
zweite Frau mit nach Hause bringt, sie selbst nie das Gleiche wie die ande-
re, neue Frau tun darf. Die neu ins Haus gebrachte Frau muss als Feindin
angesehen werden, man soll sich hüten.
Der gesamte Narbenzyklus der Ohendo kann als Mahnung, als Anleitung
für einen ausgewogenen Lebenslauf, für Kinderreichtum, Glück in der Ehe
u. a. angesehen werden. Offenkundig werden ganz praktische Ratschläge er-
teilt [3].
Die Schmucknarben auf den Wangen der Dagara in Burkina Faso wer-
den nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus mythischen Gründen
angebracht, stellen sie doch das „Zeichen der Schlange“ (Python) dar. Die-
se mythische Schlange soll die Kinder – bei hoher Kindersterblichkeit in
Burkina Faso – auf ihrem Weg zwischen den lebenden und den toten Wel-
ten begleiten. Falls ein Kind stirbt, soll es doch bei der Wiedergeburt wie-
dererkannt werden [3].

Künstlerisch-kosmetischer Hintergrund

Wieder andere Bemalungen und Skarifizierungen haben einen rein kosme-


tischen Aspekt mit deutlich erotischer Funktion. Sie können auch als kom-
munikatives Element verstanden werden. Finden sich beispielsweise bei
186 z M. Schwarz

den Baluba (Kongo) rautenförmige Muster im Bereiche des Bauches oder


auf den Hüften, so werden diese Narben als jene, „die den Augen der Män-
ner schmeicheln“ betrachtet. Der wichtigste Zweck dieser Narben besteht
darin, das männliche Verlangen zu wecken und die Aufmerksamkeit auf
die eigene Person zu lenken [4].
Unbedingt vom kosmetisch-kommunikativen Aspekt in die Betrachtung
einzubeziehen ist der Haarschmuck. Auch hierbei muss der soziale Hinter-
grund bei den jeweiligen Stämmen mit ihren zuweilen typischen Haar-
trachten berücksichtigt werden. So kann der bereits durch seine auffällige
Narbenzeichnung im Stirnbereich erwähnte Shilluk-Mann als Krieger seine
Haare in Form eines Hahnenkammes, unterstützt durch kleine eingebrachte
Lehmkügelchen für den Zopfbereich, gestalten [2] (Abb. 5).
Bei der Haartracht der Bidyogo-Frauen (oberer Nilbereich/Sudan) wer-
den Palmöl, Ocker und Kügelchen aus rotem Lehm in die Haarmasse ein-
geknetet, erwünschter Nebeneffekt ist die Glättung des krausen Haares. An-
dere Rezepturen geben Kuhmist, Lehm und Kuhurin an, um daraus einen
Brei zu mischen, der als Masse auf den behaarten Kopf aufgetragen wird,
sich relativ schnell erhärtet und unter gelegentlicher Benetzung mit fri-
schem Kuhurin zur letztlichen „Reifung“ gelangt (Abb. 6). Nach einigen Ta-
gen kann die hart gewordene Masse abgeklopft werden. Durch diese Pro-
zedur entfetten die Haare völlig, können nun mit Rinderfett eingeschmiert
werden und prangen danach rotgefärbt und strähnig im Glanz der Sonne.

Abb. 5. Frisur eines Shilluk – Kriegers, Abb. 6. Haartracht einer Bidyogo-Frau:


die Zöpfe und Lehmknötchen sind in die Haare sind mit Palmöl und Ocker
Form eines Hahnenkammes geflochten dick eingebunden, darin eingeknetete
(aus [2]) Kügelchen aus rotem Lehm (aus [2])
Von der Sprache unserer Haut (Afrika) z 187

Die rote Farbe entsteht durch das im Kuhurin enthaltene Ammoniak, es


kann dabei auch noch eine Abstimmung mit dem übrigen Ocker, das am
Hautorgan verwendet wurde, angestrebt werden.
Im Rahmen eines Überblicks können nur ausgewählte Beispiele punk-
tuell betrachtet werden. Es wird deutlich, dass Bemalungen und Skarifizie-
rungen, Narben, häufig einen Komplex an Interpretationen mit sozialen,
medizinischen, religiös-mythischen, kosmetischen Aspekten besitzen. Viele
Zeichen an der Haut sind nur in der gegebenen Ethnie, in dem jeweiligen
Stamm, einer Interpretation zugänglich. Die Interpretationen müssen sich
von Stamm zu Stamm zuweilen deutlich unterscheiden. Berücksichtigt wer-
den muss zudem, dass viele afrikanische Staaten ausgeprägte Skarifizierun-
gen seit einiger Zeit gesetzlich verboten haben.
Den deutschen Dermatologen, die im Rahmen von Wochen-/Monatsein-
sätzen bzw. einige wenige auch über Jahre hinweg für eine Hilfsorganisati-
on in afrikanischen Ländern wie Kenia, Malawi, Uganda und Tansania (um
nur einige Beispiele zu nennen) tätig sind, begegnen allerdings nur selten
Menschen mit so veränderten Hautstrukturen in ihrer täglichen Arbeit. Al-
lenfalls Narben, Tätowierungen oder Bemalungen des Hautorgans bei be-
stehenden Krankheiten, in der Regel durch Naturheiler beigebracht, werden
gelegentlich wahrgenommen. Hinzu kommt, dass durch die auch auf dem
afrikanischen Kontinent zu beobachtende Urbanisierung, das Entstehen
von riesigen Slumgürteln um die Großstädte wie Addis Abeba, Nairobi, La-
gos oder Johannisburg, die natürlichen Bedingungen für das Entstehen von
Zeichnungen an der Haut mit sozialem Hintergrund, religiös-mythischem
Hintergrund oder Gründen der ausschließlichen Verzierung bzw. Kosmetik
immer mehr verschwinden. Bevölkerungswachstum, Verarmung und Land-
flucht führen auch hier zur Zerstörung des gesellschaftlichen Rahmens für
das Fortführen der teilweise jahrhundertealten Tradition. Die Zerstörung
der Familienbande, das Zerreißen der Sozialgefüge von Dorfgemeinschaften
und der zunehmend nackte Existenzkampf ums Überleben sind auf dem
„Schwarzen Kontinent“ ebenso Folge der Materialisierung wie der Globali-
sierung des alltäglichen Lebens [5].
Die „Sprache an der Haut“ zu entdecken, gelingt offenkundig immer
häufiger nur noch in abgeschiedenen ländlichen Regionen, wie sie z. B. im
südwestlichen Äthiopien, im südlichen und östlichen Kongo, in Zentral-
kenia, im nördlichen Nigeria und Kamerun existieren. Wir können nur ah-
nen, welche Auswirkungen der Kampf ums Erdöl im Südsudan, Nigeria
und in Gabun haben wird.
Irgendwie „domestiziert“ gibt es jedoch die Sprache auf der Haut selbst
im so zivilisiert erscheinenden Europa: während des Karnevals, auf Fuß-
ballspielen, im Punk-Milieu, in den Tattoo- und Piercing-Studios, im Thea-
ter, im Fernsehen, im Zirkus und tagtäglich anderswo.

z Danksagung: Für die Bereitstellung der Fotografien danke ich Herrn Bert
Leidmann (Abb. 1), der Leni Riefenstahl Produktion (Abb. 3) sowie dem
Albatros-Verlag (Abb. 4).
188 z M. Schwarz: Von der Sprache unserer Haut (Afrika)

Literatur
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Zum ästhetischen Wertewandel
in Kultur und Kosmetik
C. Wietig, S. Williams, T. Reuther, M. Davids, M. Kerscher

Die Haut des Menschen als originäre, schützende Hülle des Ichs wird seit
Menschengedenken dem jeweiligen Kulturkreis entsprechend modifiziert
und den derzeit herrschenden Schönheitsidealen mit dem Ziel sozialer Auf-
wertung angepasst [3, 5, 13, 22, 25, 32]. Das perfekte Körperbild wird seit
der Antike von vielen Menschen angestrebt, nicht zuletzt da die
„Schönheit“ auch soziale Macht beinhaltet. Schon vor Jahrhunderten wurde
ein „strahlender“ Teint durch diverse pflegerische, dekorative und thera-
peutische Maßnahmen angestrebt. Eine glatte Oberfläche reflektiert physi-
kalisch mehr Licht, so dass die Haut zart glänzt und damit Makellosigkeit,
die mit göttlicher Ausstrahlung gleichgesetzt wurde, symbolisierte [10]. Re-
ligions-, philosophie-, literatur- und kunstgeschichtliche Annäherungen an
das „Unbenennbare des ewigen Schönen“, das universell Anerkannte, dem
die Unsterblichkeit immanent ist, berühren die Ebene des Sakralen und
Unantastbaren [1, 17, 31, 35]. Schönheitspflege und Mythos Alterslosigkeit
sind daher untrennbar, womit sich der Schönheitskult auf Gesunderhaltung
und dekorativer Schönerhaltung gründet [37]. Der immerwährende Mode-
wandel der Schönheitsideale zeugt vom ästhetischen Wertewandel der
Körperbildästhetik in Kultur und Kosmetik.
Die Dermatokosmetik dokumentiert entwicklungsgeschichtlich auch den
kulturellen Prozess von magischen zu naturwissenschaftlichen Behand-
lungstechniken [30, 40]. In bestimmten Aspekten greift die moderne ästhe-
tisch-kosmetische Medizin eine bereits in der Antike praktizierte Kombina-
tion von medizinischen und kosmetischen Behandlungsverfahren wieder
auf, heute jedoch mit evidenzbasierten Methoden und High-tech-Verfahren.
Moderne dermatokosmetische Behandlungsverfahren und ästhetisch-chi-
rurgische Korrekturen vermögen den bisher mehr oder minder schicksal-
haft verlaufenden, sichtbaren Alterungsprozess aufzuhalten bzw. zu verzö-
gern [33]. Eine Annäherung an das ideale Körperbild ist daher im Compu-
terzeitalter der Life-Sciences zu gewissen Teilen konstruierbar und kann als
Ware erworben werden. Unser Aussehen wird zukünftig zunehmend tech-
nisch-prothetisch, biotechnologisch oder vielleicht sogar gentechnisch ver-
ändert, verbessert und „designed“ werden können. Der Begriff „Schönheit“
als Kompositum aus Gesundheit, Jugendlichkeit und sexueller Attraktivität
gewinnt auch in der evidenzbasierten kosmetischen Dermatologie, der auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden kosmetischen Dermatologie,
zunehmend an Bedeutung. Aktuelle Entwicklungen in der Dermatologie
190 z C. Wietig et al.

Abb. 1. Publikationen zum Einsatz von Botulinumtoxin in der ästhetischen Dermatologie

tragen dem stetig größer werdenden Bedürfnis nach präventiven wie auch
therapeutischen Maßnahmen für ein jüngeres, attraktiveres und gesünderes
Aussehen Rechnung. Dies zeigt sich zum Beispiel eindrucksvoll an der na-
hezu exponentiell steigenden Anzahl an Publikationen zum Einsatz von Bo-
tulinumtoxin in der ästhetischen Dermatologie (Abb. 1).
Körpergefühl, Sauberkeitsbedürfnisse und Schönheitsempfinden gehören
zum einen in den Bereich des individuellen Erlebens, repräsentieren auf
der anderen Seite jedoch auch einen gesellschaftlichen Code. So fungiert
der Körper als Kulturträger und ästhetischer Ort der Erfahrung seiner je-
weiligen Zeit und drückt Fixierungen der jeweils technisch-realisierbaren
Ästhetik aus. Davon zeugen zum Beispiel Ansätze kosmetischer Körperkul-
tur wie auch das Spektrum der Hygienegeschichte durch die Jahrhunderte
bis hin zur abendländischen Reinlichkeitskultur [1, 18, 26, 28, 38, 40, 41].
Nachfolgend soll ein kleiner Überblick in Aspekte ausgewählter Epochen
bis hin zur Gegenwart den Stellenwert kosmetischer Behandlungen bei-
spielhaft dokumentieren (Abb. 2).
Die antiken Ägypter suchten nach ewiger Schönheit und Vollkommenheit
für Lebende wie auch Tote [11]. Die Technik der Mumifizierung steht in di-
rekter Wechselbeziehung mit der Verschönerung der Lebenden und trug auch
zur Wissensvermehrung auf dem medizinischen Sektor bei [7]. Bereits hier
werden die Anfänge des Mythos Alterslosigkeit gelegt [40]. Der lebende
wie auch der tote Körper wurde mit den Schminken der antiken Ägypter ver-
schönert und geschützt. Die Schminken dienten auch als Grabbeigaben und
gehörten beim Bau eines Tempels – neben anderen Opfergaben – als rituelle
Grundsteinbeigaben unter die Ecken der Außenmauern oder den Eingang
[30]. Im Papyros Ebers, einer vollständig erhaltenen medizinischen Text-
sammlung der antiken Ägypter aus dem Jahr 1552 v. Chr., stehen zahlreiche
medizinische und kosmetische Rezepturen gleichberechtigt nebeneinander
[29]. Eine Trennung von kosmetischen und medizinisch-dermatologischen
Maßnahmen gab es unter diesem synkretistischen Ansatz nicht.
Im scholastischen Weltbild wurde die Schönerhaltung des Körpers unter
dem Vanitasaspekt idealisiert und in eine Erhöhung der „schönen Seele“
Zum ästhetischen Wertewandel in Kultur und Kosmetik z 191

Abb. 2. Entwicklungsgeschichte der Kosmetik

transzendiert [6]. Das Geistige überdeckte in dieser Zeit das Weltliche, und
der Begriff des „Fleisches“ erfuhr eine Abwertung durch das Christentum,
weil es mit niedriger, sündiger Triebhaftigkeit besetzt wurde [34]. Dies
blieb nicht ohne Folgen auf den Bereich der Körperpflege, die nunmehr
fast ausschließlich auf Reinlichkeit und Sauberkeit zielte und symbolisch
auch einer Reinwaschung der Seele diente. Die Anwendung pflegender Ex-
terna geriet unter den Verdacht der „Teufelsbuhlschaft“ um der Eitelkeit
willen. Dekorative Kosmetik bedeutete aus orthodoxer Sicht eine weitere
Verleugnung. „Eitle“, die zum Beispiel das Übel des Haarausfalles dennoch
nicht ertragen wollten, konnten jedoch auf diverse alchemistisch anmuten-
de kosmetische Mittel, etwa zur Haarwuchsförderung, zurückgreifen [20].
Die Körperpflegekultur des Mittelalters basierte auf den balneologischen
Erfahrungen der Antike, der Humoralpathologie sowie dem „Analogiezau-
bern“, deren Wurzeln auch in der christlich-ideologischen Reinwaschung
liegen. Schwitzbäder, Aderlass und die Reinigung der Haut dienten der Ge-
sunderhaltung [23]. Bademägde, Bader und Barbierchirurgen übten auch
eine soziale Kontrolle über das Hauterscheinungsbild aus. Der Tätigkeits-
bereich der Barbierchirurgen verdeutlicht zudem, dass in dieser Zeit noch
keine klare Trennung zwischen medizinischer und kosmetischer Versor-
gung bestand. So führten die Barbierchirurgen neben Haarschneiden und
Rasieren auch die niedere Wundmedizin aus [38].
192 z C. Wietig et al.

Zu einem ästhetischen Wertewandel kam es durch den kulturellen Aus-


tausch mit dem Orient durch die Kreuzzüge vom Ende des 11. bis Ende
des 13. Jahrhunderts. Dieser kulturelle Austausch trug in Europa zu einer
wieder mehr sinnenfreudigen Diesseitigkeit bei. Er kultivierte auch die eu-
ropäische Ritterschaft und verfeinerte die Sitten [16]. Eine herausragende
Persönlichkeit des Mittelalters war der französische Hofchirurg Henri de
Mondeville (1260–1320), der als einer der ersten Ärzte gilt, der zwischen
medizinischen Maßnahmen auf der einen Seite und kosmetischen Maßnah-
men zur Verbesserung des Äußeren auf der anderen Seite unterschied [39].
Er führte 1315 auch erstmalig Sektionen an Frauen aus.
Die auf antiken Schönheitsidealen basierende Körperbildästhetik des Hu-
manismus förderte die Neubewertung subjektiver Körperpflegemaßnahmen
des Individuums. Der Körper fungierte als Medium, sowohl als Ort ästheti-
scher Erfahrungen wie auch gesellschaftlicher Stellung [4, 8, 14]. So bezo-
gen sozial hoch gestellte Damen ihre Kosmetikprodukte bevorzugt aus Ve-
nedig und experimentierten mit ihren persönlichen Mixturen, Cremes, Sei-
fen und Parfums. Caterina Sforza (1462–1509) zum Beispiel hat in ihren
Experimenti auch Rezepturen zum Bleichen der Haare hinterlassen [20, 31].
Die bekannte Gesundheitsschädlichkeit der dekorativen Schminken wurde
für die standesabgrenzende Distinktion in Kauf genommen. So wurde zum
Beispiel in der Renaissance dem Ideal einer strahlend weißen Haut mit
reichlich arsen- oder quecksilberhaltigem Bleiweiß nachgeholfen, obschon
die verheerende hautschädigende Wirkung bis hin zur letalen Intoxikation
leidvoll erfahren wurde [27].
Die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Körper be-
gründete das 1543 veröffentliche Werk De Humani Corporis Fabrica Libri
Septem des flämischen Arztes Andreas Vesalius (1514–1564). Obschon es je-
doch eine medizinisch-naturwissenschaftliche Sichtweise förderte, verhafte-
ten die Rezepturen für die kosmetische Schönerhaltung des Körpers
größtenteils noch in der Magie der Analogzauber.
Im Zeitalter der „trockenen Toilette“ des Barock wurden in der höfi-
schen Gesellschaft geschlechter- und altersübergreifend Puder, Pomaden,
Schminken, stark duftende Parfums, Abreibungen mit Wein oder Essig und
häufiger Wäschewechsel dem Waschen mit Wasser vorgezogen. Wasser
wurde nur sparsam, etwa für die Reinigung der Leibwäsche, verwendet.
Dies war in der Zeit der Fäkalgruben – vor der Schwemmkanalisation – ei-
ne sinnvolle Vorsichtsmaßnahme [12, 41]. Ebenso wurde die „vornehme
Blässe“ der Renaissance tradiert und kosmetische Maßnahmen als Zeichen
der Distinktion politisch instrumentalisiert und weiter aufgewertet [9]. Die
Überformung der Natürlichkeit durch Künstlichkeit entsprach dem carte-
sianischen Zeitgeist und symbolisierte Überhöhung [15]. Die kosmetischen
Maßnahmen der höfischen Gesellschaft, die vor der Demokratisierung der
Mode Vorbildcharakter hatten, erreichten im Barock und Rokoko ihren
Höhepunkt [9, 36].
Im Zeitalter der Aufklärung erlangte die Schädlichkeit der aristokrati-
schen Schminken durch Kritik von Medizinern zunehmende Aufmerksam-
Zum ästhetischen Wertewandel in Kultur und Kosmetik z 193

keit [21]. Ratgeber ihrer Zeit empfahlen, natürliche Schönheit zu unter-


stützen, und stärkten so auch die Wertvorstellungen des erstarkenden
Bürgertums [2]. Sauberkeit und Anstand begründeten das neue Hygiene-
verständnis im 19. Jahrhundert, das didaktisch zur Bürgerpflicht erhoben
wurde [26]. Die Qualität der verwendeten Kosmetikgüter unterschied die
sozialen Klassen [19]. Die aufkommende Sportbewegung sowie der Körper-
und Lichtkult setzten zum Ende des 19. Jahrhunderts neue Akzente.
Im Jahre 1912 eröffnete Helena Rubinstein ihren ersten Schönheitssalon
in Paris. Sie übernahm für ihre kosmetischen Entwicklungen als Erste die
wissenschaftliche Terminologie und bildete damit bereits eine Brücke zur
modernen kosmetischen Medizin. In den folgenden Jahrzehnten hielten La-
borentwicklungen, die Entstehung von Schönheitsinstituten, eine sich ver-
mehrt durchsetzende plastische Chirurgie, Augmentationstechniken, etwa
die Injektion von Paraffin in die Wangen sowie die ersten Antifalten-
Cremes, etwa die 1969 aufkommenden, Kollagen enthaltenden Kosmetika,
den Wettstreit der Forschung im Fluss und bereiteten somit den Boden für
die moderne kosmetische Dermatologie [32]. Nachdem zunächst vor allem
Frauen Marketingziel der großen Kosmetikfirmen waren, wurden in den
80er-Jahren auch Männer für den Kosmetikmarkt entdeckt und seither zu-
nehmend angesprochen. Heute wird eine Annäherung an individuelle und
gesellschaftlich geprägte Körperideale durch innovative dermatokosmeti-
sche Zubereitungen und Verfahren, plastische Chirurgie und medizinisch-
kontrollierte Gewichtsreduktion vermehrt machbar. Der ästhetische Werte-
wandel in Kultur und Dermatokosmetik bewirkt heute auch eine veränder-
te Bewertung zeitimmanenter Technologien, etwa moderner Lasergeräte,
die nicht nur der medizinischen Behandlung, sondern auch einer Schöner-
haltung des Körpers dienen können. Nach aktuellen Erkenntnissen folgt
dem Bedürfnis nach einem gesunden Hautorgan unmittelbar der Wunsch
nach einer schönen Haut mit jugendlichem Erscheinungsbild. In unserer
modernen Signalkultur verspricht das steigende Bedürfnis nach Umgestal-
tung der Haut der kosmetischen Industrie wie auch der kosmetischen Me-
dizin erfolgreiche Entwicklungsmöglichkeiten. Zusammenfassend stellt die
evidenzbasierte kosmetische Dermatologie eine Erweiterung des mehr auf
dekorativen Aspekten beschränkten traditionellen Begriffs der Kosmetik
dar.

Literatur
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39. Toellner R (1986) Illustrierte Geschichte der Medizin. Andreas & Andreas Verlags-
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41. Vigarello G (1992) Wasser und Seife, Puder und Parfüm, Geschichte der Körper-
hygiene seit dem Mittelalter. Campus, Frankfurt aM New York
Berührungen, Beziehungen
U. Gerhardt

Die Kultur des Menschen reicht bis in psychische und gesellschaftliche Zu-
sammenhänge hinein. In die Kulturgeschichte der Haut gehören nicht nur
Gebräuche der Vergangenheit, sondern auch Gegebenheiten der Gegenwart.
Dabei können psychologische und soziologische Überlegungen eine Brücke
bilden zum Verständnis sowohl körperlicher Zustände als auch kultureller
Erscheinungen.

Die Welt der ersten Lebensmonate

Der aus Deutschland vertriebene Kinderarzt René Spitz, dessen klinische


Beobachtungen an Kleinstkindern weltberühmt wurden, machte in den
vierziger Jahren eine Entdeckung, die wohl bis heute gilt: Babys mit Ekze-
men, so fand Spitz, hatten meistens Mütter, die es möglichst vermieden, ih-
re Kinder zu berühren. Diese Mütter scheuten sich also, ihre Babys anzu-
fassen bzw. mit ihnen Hautkontakt zu haben. Spitz interpretierte den Be-
fund psychologisch – und zwar aus der Warte des Säuglings. Die Babys, so
seine These, vermissten den Hautkontakt mit ihrer Mutter derart, dass sie
durch die dermatologische Erkrankung gewissermaßen einen Anreiz für
die Mutter bilden mochten, sich der Haut ihres Kindes zuzuwenden. Da
die Mutter einen Arzt aufsuchte, kann man sicherlich sagen, dass die „List“
des Kindes (im vorsprachlichen Alter), seine Mutter auf seine Haut auf-
merksam zu machen, durchaus erfolgreich zu nennen war, wenn die Mutter
das Ekzem nach Anweisung des Arztes pflegte und dabei mit Cremes und
Salben die Haut des Säuglings behandelte. Die Mütter, denen dieser Arzt
den Zusammenhang zwischen dem Hautkontakt und dem dermatologi-
schen Befund erläuterte, wandten sich jedenfalls offenbar ihren Babys mit
nunmehr wissentlicher „Kontaktfreude“ zu – denn, wie Spitz akribisch no-
tierte, die Ekzeme dieser Säuglinge verschwanden und traten auch später-
hin nicht wieder auf.
Das Taktile, so folgerte Spitz aus diesen und anderen Beobachtungen,
die er kinderpsychologisch interpretierte, hat einen hervorragenden Stel-
lenwert für die Frühphase des Lebens. Die daraus hergeleitete These: In
den ersten drei Lebensmonaten wird der Mensch durch zwei Arten von
Sinneswahrnehmungen hauptsächlich geprägt. Das eine zentrale Sinnes-
organ dieser Lebensphase ist der Tastsinn, also das Taktile, und das andere
Berührungen, Beziehungen z 197

ist das Gehör, also der akustische Reiz. Niemals später im Leben habe das
Taktile eine derart überwältigende Bedeutung für die Welterfahrung wie in
den ersten Lebensmonaten [1]. Das Streicheln, Schmusen, Knuddeln, Lieb-
kosen – wofür es Ausdrücke in allen Sprachen gibt – wird in den ersten
drei Lebensmonaten sozusagen Lebensnerv und Tor zur Welt. Beziehungs-
weise: Der Hautkontakt ist eine hauptsächliche Quelle der Lust des Seins in
den ersten Monaten nach der Geburt.
Die kinderpsychologische These entspricht den durch Forschung unter-
mauerten klinischen Erkenntnissen. Hirnphysiologisch lassen sich die Zu-
sammenhänge zwischen frühkindlicher Entwicklung und der Haut als
Schlüsselorgan plausibel explizieren. Die Beobachtungen und Thesen aus
kinderpsychologischer Perspektive widersprechen den klinischen Tatsachen
nicht.
Die Zeit der ersten Lebensmonate, so argumentierte Sigmund Freud vor
genau einem Jahrhundert im Jahr 1906, ist eine Phase ungeteilt erotischer
Lebenserfahrung. Erotik – Freud spricht hier von Sexualität in einem ganz
anderen Sinn als im normalen Sprachgebrauch – ist im ersten Lebens-
abschnitt eine in die Welt hinein zerfließende Erfahrung des Verschmelzens
und Einsseins. Im frühesten Lebensabschnitt, wo das Taktile – Berührung
durch Hautkontakt – ein Lebenselixier ist, herrscht im Kleinstkind, so
Freud, ein „ozeanisches Gefühl“ unendlicher Lustempfindung. Darin liege
die Kraft des Lebenstriebes – dies ist der Sexualtrieb in seiner ursprüngli-
chen Gestalt. Die Grunderfahrung des Menschen nach seiner Geburt ist
Einssein, worin Freud die Urform des Sexuellen sieht. Erst im Laufe des
weiteren Lebens – beginnend später im Säuglingsalter – werden die Lust-
empfindungen auf das Berühren besonderer Körperzonen konzentriert –
und die so genannten erogenen Zonen sind ganz andere beim Kind als
später bei Erwachsenen [2]. Das Taktile spielt allerdings nicht nur beim Säug-
ling eine Hauptrolle. Das Kind im so genannten ödipalen Alter in einer
schwärmerischen Liebe für den andersgeschlechtlichen Elternteil, der oder
die Heranwachsende in der Pubertät und schließlich der oder die Erwachsene
in ihrer Liebe (wofür Freud den Begriff Genitalität, nicht Sexualität, wählt)
erleben jeweils anders und typisch für die verschiedenen Lebensphasen ihre
eigene Lust an der Berührung. Jedenfalls ist die Haut allemal das Organ, das
für Zärtlichkeit eine ganz besondere Empfänglichkeit hat.

Die gesellschaftlichen Formen


Von diesem Gesichtspunkt aus ist es nicht weit bis zu dem Gedanken, dass
die Haut ein geselliges Organ ist. Das Gesellschaftliche in den Menschen
und eben auch das Gesellschaftliche, das zwischen den Menschen ge-
schieht, ist in vielerlei Weise mit Berührungen verbunden und wird durch
Beziehungen symbolisiert.
Der Philosoph Georg Simmel, der um die vorige Jahrhundertwende un-
ternahm, die Soziologie als eine geistes- und kulturwissenschaftliche Dis-
198 z U. Gerhardt

ziplin zu begründen, schrieb über die „höhere Einheit, die man ,Gesell-
schaft‘ nennt“ [3]. Man sehe die „unübersehbar mannigfaltigen Formen
des sozialen Lebens, all das Miteinander, Füreinander, Ineinander, Gegen-
einander, Durcheinander in Staat und Gemeinde, in Kirche und Wirt-
schaftsgenossenschaft, in Familie und Vereinen . . . , all die Vereinigungsfor-
men, durch die aus einer bloßen Anzahl nebeneinander bestehender Wesen
jedes Mal eine ,Gesellschaft‘ wird“.
In seinem zweiten Hauptwerk mit dem Titel Soziologie und dem Untertitel
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung führte Simmel noch
weiter aus, was dabei „Gesellschaft“ heißt [4]. Der andere Mensch, mit dem
man allemal gesellschaftliche und zuweilen auch gesellige Kontakte pflegt
(oder haben könnte), so Simmel, ist nicht schlichtweg ein Mensch als solcher,
sondern, so Simmel im Weltgefühl des wilhelminischen Deutschland: „Der
Bürgerliche, der einen Offizier kennenlernt, kann sich gar nicht davon frei-
machen, dass dieses Individuum ein Offizier ist . . . Und so geht es dem Pro-
testanten gegenüber dem Katholiken, dem Kaufmann gegenüber dem Beam-
ten, dem Laien gegenüber dem Priester usw.“
Bemerkenswert an den sozialen Beziehungen, die die Gesellschaft aus-
machen, ist zweierlei. Zum einen sind soziale Beziehungen immer anders.
Zwischen dem Geschäftsmann und dem Beamten herrschen beispielsweise
ganz andere Verkehrsformen als etwa zwischen einem Gläubigen und ei-
nem Priester oder auch ganz gewiss zwischen Ehegatten, zwischen Eltern
und Kindern und zudem zwischen Bekannten oder Freunden. Soziale Be-
ziehungen enthalten normalerweise eine bestimmte Nähe oder Distanz im
Umgang miteinander – und alle Angehörigen einer Kultur oder Gesell-
schaft sind sich bewusst, dass bestimmte Beziehungen eher unpersönlich
oder eher persönlich sind, also mehr Distanz oder mehr Nähe bedeuten.
Zum anderen sind mit diesem „Füreinander, Ineinander, Gegeneinander“, wie
Simmel es nennt, ganz bestimmte Verhaltensweisen gemeint (Abb. 1). Typi-
scherweise und erlaubtermaßen kann oder darf man bestimmte Dinge tun
oder nicht tun – woraus sich Rückschlüsse auf die entsprechenden Beziehun-
gen ergeben (können). Ein Beispiel: Wenn Eheleute sich allenfalls die Hände
reichen und ansonsten keinen weiteren Körperkontakt haben, wird man da-
raus schließen, dass ihre Ehebeziehung zumindest ungewöhnlich ist; wenn ein
Geschäftsmann und ein Beamter (etwa eines Finanzamts) sich zur Begrüßung
die Hand reichen und keinen weiteren Körperkontakt haben, tun sie, was man
gewöhnlich in einer solchen sozialen Beziehung tut.
Mit anderen Worten: Die „Gesellschaft“, also die gesellschaftliche Welt,
umfasst Regeln über Nähe und Distanz zu den anderen Angehörigen der-
selben Kultur oder Gesellschaft. Dabei ist der Körperkontakt, die körperli-
che Berührung, kulturell normiert. Die Normen, die unsere körperlichen
Berührungen – in der Öffentlichkeit, im Privaten – regeln, können weit ge-
fasst sein und dabei eine gewisse Toleranz für Individualität erlauben. Oder
diese Normen können relativ streng vorgeben, was erlaubt oder verboten
ist. Die Spielbreite und die Strenge der entsprechenden Normen kann sich
zudem im Laufe der Zeit wandeln.
Berührungen, Beziehungen z 199

Abb. 1. Ein etruskischer Terra-


kottasarkophag aus der Nekro-
pole von Caere (Ende 6. Jh. v.
Chr., Paris, Louvre) versinnbild-
licht die körperliche Vertraut-
heit der Ehepartner

Offenbar enthält das „Füreinander, Ineinander, Gegeneinander“ der Men-


schen in der Gesellschaft – mit Ausnahmen, wofür wiederum Regeln exis-
tieren – auch kulturelle Regelungen des Einander-Berührens. So ist das
Sich-Umarmen oder Händeschütteln oder Handgeben kulturell – mit dabei
durchaus variablen Toleranzspielräumen – per Etikette etc. vorgegeben. Für
unterschiedliche Kulturen gilt dasselbe Verhalten zuweilen anders. Die Be-
grüßung per Handschlag symbolisiert etwas anderes in der angelsächsi-
schen Welt als in Deutschland, und Bruderschaftsküsse zur Begrüßung be-
deuten etwas anderes in Russland oder Frankreich als in Deutschland. Es-
kimos, so sagt man, begrüßen einander, indem sie ihre Nasen aneinander
reiben – was dieselbe Beziehung signalisiert, die in Mitteleuropa vielleicht
ein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter ausdrückt. Und außerdem
gibt es einen gesellschaftlichen Wandel in den Berührungsge- und -ver-
boten einer jeweiligen Gegenwart: Während es zur Nazizeit wohl allenfalls
in einer Privatwohnung unproblematisch war, einen Menschen, der Jude
war, zu umarmen, würde heute niemand an einer Umarmung auf der Stra-
ße Anstoß nehmen (und erst recht nicht die Polizei darüber informieren).
Die Tagebücher des Romanisten Viktor Klemperer, der über die Alltagsdin-
ge im Nationalsozialismus Zeugnis ablegte, das auch die Berührungen und
die Beziehungen der Menschen damals schilderte, sind voller Szenen, die
dies den Heutigen in Erinnerung rufen oder wieder bewusst machen [5].
200 z U. Gerhardt: Berührungen, Beziehungen

Die moderne Alltagskultur

In der heutigen Welt gibt es Berührungen und Beziehungen im Alltag zwi-


schen Personen, die einander nicht kennen und sich nie kennen lernen
werden. Film und Fernsehen, Zeitschriften und Literatur bieten dem mo-
dernen Menschen Erlebnisse, die ihn oder sie in seiner oder ihrer Seele
berühren und doch keine Beziehung zu einem Gegenüber in persona bein-
halten. Die Kunst, der Sport und überhaupt die Welt der Schönen und Rei-
chen schafften Beziehungen zwischen dem Einzelnen – als Kenner, Sport-
fan, Normalbürger, Teenager – und Persönlichkeiten der ganzen Welt.
Berührung und Beziehung werden in dieser Welt der alltäglichen moder-
nen Kultur möglich durch Identifikation mit einem Künstler, Könner oder
Gönner. Berührung und Beziehung kann es sogar mit Kinohelden wie
James Bond oder Bonny and Clyde geben – nicht zu vergessen die Lust am
Berühren, die vielleicht in dem Gruseln mitschwingt, wenn King Kong sich
im Urwald und in New York der schönen ohnmächtigen Blonden widmet.
Indirektes Erleben gehört zur modernen Welt der Gegenwart – mindes-
tens seit dem achtzehnten Jahrhundert, als Goethes Die Leiden des jungen
Werther manche Leser zu Selbstmord verleitete [6]. Ganz sicherlich können
hirnphysiologische Vorgänge erklären, wieso die Berührung, auch wenn
physisch nichts geschieht, erlebt werden kann. Und kognitive Vorgänge
können verständlich machen, dass gesellschaftliche Beziehungen gewisser-
maßen virtuell bestehen können. Jedenfalls lösen sie Begeisterung und
Schmerz, Jubel und Trauer aus – was wohl im Juni dieses Jahres unüber-
sehbar sein wird, wenn die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland (fast)
die ganze Nation mitreißt und Millionen Menschen in allen Teilen der Erde
in ihren Bann zieht.

Literatur
1. Spitz R (1960) Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen (Übersetzung aus dem
Französischen: La première année de la vie de l’enfant, Paris 1945), 2. Aufl. Mit ei-
nem Geleitwort von Anna Freud. Stuttgart
2. Freud S (1942) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (ursprünglich 1906). Gesam-
melte Schriften, Bd. V. London, pp 27–145
3. Simmel G (2001) Soziologie der Geselligkeit (ursprünglich 1911). Georg Simmel
Gesamtausgabe, Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Frankfurt, pp
177–193
4. Simmel G (1992) Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung (ursprünglich 1908). Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11. Frankfurt
5. Klemperer V (1995) Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Band I: Tagebücher
1933–1941, Band II: Tagebücher 1942–1945. 4. Aufl. Berlin
6. Gerhardt U (1991) Gesellschaft und Gesundheit. Begründung der Medizinsoziolo-
gie. Frankfurt
Literarische Narben:
Auf dermatologischer Spurensuche
in der Weltliteratur
N. Greiner

Im 13. Buch der Odyssee erwacht der Held nach nächtlicher Fahrt auf hei-
matlichem Boden. Von Athene erfährt er die näheren Umstände der Bedro-
hung seines Hauses, dem er sich listig in der Gestalt eines Bettlers nähert.
Er bleibt für alle unerkannt. Selbst Penelope erkennt in dem „Bettler“, der
sie auf die Rückkehr des Odysseus vorbereitet, den Gatten nicht wieder.
Nur der Hund Argos spürt hinter der angenommenen Maske die wahre
Identität seines alten Herrn auf. Der „Blick“ des Menschen, auch aus dem
intimsten Familienkreis, trügt und wird von vorgetäuschter Identität in die
Irre geführt. Der Text spitzt damit eine Frage zu, die das Epos in allen sei-
nen Episoden durchgespielt und in den mannigfaltigen Facetten des Prob-
lems ausgelotet hat: Die „Suche“ – symbolisch gestaltet in der Irrfahrt –
nach den Wurzeln des Ich wirft die entscheidende Frage nach dem Wesen
des Selbst und der Anderen, nach dem Ver- und Entbergen von Identität
auf. Im gegenwärtigen wissenschaftlichen Jargon lautet die erste Frage: Wie
kann sich eine Person in der Gemeinschaft anderer inszenieren, wie kann
sie ihrerseits die gesellschaftliche Inszenierung von Wirklichkeit durch-
schauen und beeinflussen, wie kann man sich in der Welt „verorten“.

Der Bezeichnete: Die Narbe des Odysseus


Auf dem Höhepunkt des Spannungsbogens, kurz vor der entscheidenden
Auseinandersetzung mit den Freiern, ist indes ein erstaunliches retardie-
rendes Moment der Handlungsführung eingeschoben (19. Gesang). Seine
alte Amme, die Magd Eurykleia, erkennt, während sie ihm die Füße wäscht,
Odysseus wieder. Sie ertastet die Narbe, die ihm in seiner Jugend während
einer Jagd von einem Eber zugefügt wurde (Abb. 1).

Diese [Narbe] nun fand beim Berühren die Alte; sie hatte die Hände
Auf und ab beim Waschen bewegt. Da stieß sie den Fuß weg,
Daß ohne Stütze die Wade ins eherne Becken zurückfiel.
Dröhnend kippte das Becken – das Wasser rann auf den Boden.
Jubel und Leid miteinander bestürmten ihr Innres, die Augen
Gingen ihr über von Tränen, die frische Stimme versagte.
Doch sie berührte Odysseus am Kinn und sagte: „Odysseus!
202 z N. Greiner

Abb. 1. Die Magd Erykleia erkennt


Odysseus an seiner Narbe an der Wade.
Attischer Skyphos, ca. 450 v. Chr

Ja du bist es, geliebtes Kind, und – ach – ich begriff es


Dann erst, als meinen Herrscher ich ganz und leiblich berührte [1].

Das ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. Die Gattin, die ihren Ehe-
mann seit vielen Jahren vermisst, erkennt diesen nicht wieder und lässt
sich von seinen Täuschungsmanövern leicht beirren. Die Amme ertastet
die Wahrheit – nicht am Aussehen erkennt sie ihn, nicht am Habitus oder
an der Stimme, auch nicht an den Augen, sondern an der Narbe am Schen-
kel. Die Frage nach der Identität des Anderen wird über den Körper ver-
handelt. Die Person präsentiert sich den Anderen im Rahmen einer Selbst-
inszenierung als die persona, als die er sich verstanden wissen will. Das
Wesentliche entbirgt sich nur in der unmittelbaren, der intimen Begeg-
nung. Selbst das Gespräch mit der Gattin vermag diese Bedingung sozialer
Interaktion nicht zu hintergehen. Auch die Amme, solange sie den Bettler
lediglich auf dessen äußere Ähnlichkeit mit Odysseus anspricht, kann noch
getäuscht werden. Die Narbe aber ist der unausweichliche Ausweis seiner
Identität. Deren Ertasten versetzt sie in freudig-erschrecktes Wiedererken-
nen, nur mit schmeichelnd-drohenden Worten kann Odysseus sie davon
abhalten, seine Identität preiszugeben.
Doch damit nicht genug. An eben diesem Punkt wird die Erzählung
durch einen langen Einschub von etwa 70 Versen unterbrochen, in denen
die Entstehung der Narbe geschildert wird: Odysseus weilte als Jüngling
bei seinem Großvater Autolykus, von dem der Leser ausführlich berichtet
bekommt; dort rüstet er nach Empfang, Gastmahl und Schlaf zur Jagd, die
ebenfalls in allen Einzelheiten geschildert wird, ebenso wie die Entstehung
der Wunde, das Verbinden, ihre Heilung, die nacheilende Sorge der Eltern.
Wozu dient dieser ausgreifende, sich scheinbar im Detail verlierende Ex-
kurs? Erich Auerbach, der unsere Aufmerksamkeit auf diese Stelle gelenkt
hat, sieht darin einen Beleg für das homerische Anliegen, die Verhältnisse
des wirklichen Lebens in seiner alltäglichen Detailfülle zur sinnlichen An-
schauung zu bringen [2]. Ob derartige Intentionen tatsächlich ausgerechnet
solch lange Retrospektiven rechtfertigen, sei dahingestellt. In unserem Zu-
sammenhang interessiert uns die weitsichtige Darstellung jener die abend-
ländische Literatur leitmotivisch durchziehenden Frage nach dem Wesen
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 203

des Selbst und seiner Identitätserfahrung. Und in dieser Hinsicht leistet


der Einschub über die Entstehung der Narbe etwas ganz Entscheidendes.
Die Narbe erzählt eine Geschichte, die von der Amme in Worte gefasst
wird. Der Erzähler sieht sich veranlasst, den Leser in aller Ausführlichkeit
damit vertraut zu machen. Die Geschichte der Narbe ist die Biographie des
Odysseus; sie beschreibt wesentliche Stadien seines Reifens, denn bei nähe-
rer Betrachtung ist das Ereignis ja nichts weniger als ein Initiationsritual.
Damit aber ist der scheinbar abschweifende Einschub des Erzählers eng ge-
koppelt an die Frage der Identität nicht nur in einem identifikatorischen,
sondern in einem essentiellen Sinn: Der Ausweis der Einzigartigkeit der
Person durch die Narbe wird zugleich zu einem Zeichen ihres Wesens. Die
Narbe erzählt die Geschichte von Odysseus als gewordener Person. Diese
Geschichte mitsamt ihrem Zeichen erhellt auf eine grundsätzliche Art die
Identitätsproblematik. Personale Identität kann dann als gelungen gelten,
wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen die Rollenzuschrei-
bungen durch andere weitgehend übereinstimmen mit den Rollenerwartun-
gen, die eine Person für sich selbst entwirft, d. h. die eigene Vorstellung
vom Selbst sollte nicht konfligieren mit den Rollenzuschreibungen durch
das soziale Umfeld; und zweitens muss eine historische Konstanz in der
Biographie vorhanden sein – die Person muss für sich selbst erkennbar in
Beziehung stehen zu einer Entwicklung, die sie genommen hat. Das Ver-
hältnis von Person zur sozialen Außenwelt und das Verhältnis zur eigenen
Biographie sind die beiden wirkmächtigen Konstituenten einer gelungenen
Identität [3, 4]. Zur Identität gehört nicht nur die Unverwechselbarkeit der
Physiognomie, sondern der sinnhafte Zusammenhang einer Lebens-
geschichte. Es ist also gewiss kein Zufall, wenn der Erzähler in dem Augen-
blick, in dem die Amme Odysseus an seinem unverwechselbaren Merkmal
identifiziert, sogleich die dazugehörige Geschichte mitsamt einer umfassen-
den Lebensgeschichte, die immerhin von Initiationsriten handelt, ein-
schiebt. Die Narbe als Körperzeichen ist mehr als ein Ikon, sie erzählt viel-
mehr eine Geschichte, die den Träger der Narbe über das unverwechselbare
Zeichen hinaus mit einer Biographie, einem unverwechselbaren Wesen,
ausstattet.

Die Gezeichneten: Brand- und Schandmale


romantischer und bürgerlicher Existenzen
Die Narbe des Odysseus gibt gewissermaßen das Ausgangssignal. Durch-
gehend spielen derartige oder ähnliche Körperzeichen in der Literatur eine
große Rolle, immer sind sie gebunden an identifizierende Funktionen. Die
Narbe gewinnt den Charakter einer Hieroglyphe, die den Körper in den
allgemeinen semiotischen Prozess des Bezeichnens und Verstehens der Welt
als Zeichen und Kommunikationsmedium einbindet.
Vor allem die Epen und Romanzen des Mittelalters und der Folgezeiten,
und von dort ausgehend die zunehmende Unterhaltungsliteratur eines brei-
204 z N. Greiner

teren bürgerlichen Lesepublikums, führen dieses Körperzeichen als Stan-


dardmotiv für Wiedererkennung oder Identifizierung. Ob es Tristans kaum
verheilte Wunde aus dem Kampf gegen Morold ist (die im Übrigen durch
eine Kerbe in seinem Schwert gedoppelt wird) oder die Narben manch ei-
nes ausgesetzten Findelkindes: Auf dem Höhepunkt des Spannungsbogens
erzählt die Narbe die entscheidende Geschichte von deren Identität.
Das Phänomen bleibt allerdings weitgehend auf die Unterhaltungslitera-
tur beschränkt. In den eminenten Werken der Neuzeit tritt die Narbe, so
scheint es zumindest, zunächst zurück. Man könnte darin den Ausdruck je-
nes voranschreitenden Zivilisationsprozesses sehen, den Norbert Elias als
einen Prozess zunehmender Affektkontrolle beschrieben hat, die sich nicht
zuletzt in der Zurückdrängung der Körperlichkeit äußert [5]. Der Körper
verliert in der Aufmerksamkeit der Gesellschaft seine Materialität und da-
mit seine Natürlichkeit. Mit dem Verlust der Unmittelbarkeit verliert der
Körper auch seine unmittelbare Zeichenkraft. Mittelbar indessen gewinnt
das Zeichen an Bedeutung und wird zugleich komplexer und ambivalenter.
Odysseus kann gewissermaßen gar nicht anders, als von der Amme sein
Zeichen „lesen“ zu lassen: Der – waschende – Umgang mit dem Körper
des Anderen ist so natürlich, dass das Zeichen gar nicht verborgen werden
kann (etwa durch die Weigerung, sich waschen zu lassen). In der Neuzeit
aber ist das Zeichen am bedeckten Körper grundsätzlich verborgen, seine
Präsentation also immer kalkuliert und daher von erhöhter Signifikanz.
Die Haltung des Körpers und dessen Gebärden, der Gesichtsausdruck, die
Wahl und Tragweise der Kleidung und anderer Schmuckteile werden zum
Ausdruck des inneren Menschen, oder genauer: dessen, was er von sich
preisgeben möchte. Wir wissen, dass sich mit der zunehmenden Verbürger-
lichung des Alltags eine äußere Gleichschaltung der allgemeinen Lebensfor-
men eingestellt hat, die ein Bedürfnis nach Individualisierung hervorrief,
welche sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der immer größeren Vielfalt
der Vornamen niederschlug [6]. Eine weitere Möglichkeit der Unterschei-
dung bestand in der individuellen Zurichtung des Bekleidungsdetails. Die
individuell geknüpfte Krawatte, der Schnitt eines Kleidungsstücks, augen-
fällige Accessoires werden zum Zeichen der individuellen Identität. In die-
sem neuen – weitgehend bürgerlichen – Zusammenhang erhalten auch die
Narben einen anderen semiotischen Stellenwert.
Honoré de Balzac entwirft im 19. Jahrhundert das vielleicht umfassends-
te Sittenpanorama seiner Zeit. Sein mit La comédie humaine betiteltes er-
zählerisches Gesamtwerk umfasst nahezu alle Berufsstände, soziale Grup-
pen und soziale Rollen. Die Realgeschichte Frankreichs zur Zeit des Em-
pire, der Restauration und der Julimonarchie bietet den Hintergrund für
ein lebendiges Sittenpanorama. In dem Wechselspiel von Umwelt und Cha-
rakter auf der Bühne des gesellschaftlichen Lebens gewinnt das Körperzei-
chen eine besondere Bedeutung. Balzac entwickelt dafür eine eigene Theo-
rie, die er in verschiedenen Essays unter dem Sammeltitel Pathologie de la
vie sociale zusammenfasste. Der zunehmenden Gleichschaltung der Indivi-
duen im bürgerlichen Stadtleben könne der Einzelne, so Balzacs Überzeu-
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 205

gung, nur dadurch begegnen, dass er sich in den Details seiner korporealen
Präsentation von den Anderen abhebe – in Kleidung, Haltung, Auftreten.
Insofern schenkt er diesen „Zeichen“ des Körpers auch erzähltechnisch be-
sondere Aufmerksamkeit. Ein besonders aussagekräftiges, weil dem Körper
durch ein Ereignis eingeschriebenes, Zeichen bleibt jedoch die Narbe, wel-
che, wenn sie zeichenhaft eingesetzt ist, ein besonderes Gewicht bekommt.
Wiederholt führt Balzac seinen Lesern vor, wie der Körper erst gezeich-
net wird, um dann die Verhältnisse, in die er eingebettet ist, zu bezeichnen.
Der Körper wird zum Teil des Erzählens, zum Bedeutungsträger weit über
eine Identitätszuschreibung hinaus. Wir müssen uns mit einem Beispiel be-
gnügen.
Im Mittelpunkt von Glanz und Elend der Kurtisanen steht der Gewalt-
verbrecher Collin, der sich von einer dämonischen Sträflingsgestalt hinter
der Maske eines spanischen Abbés zu einem genialen Menschen mit wilder
Energie wandelt, der in ständiger Revolte gegen eine mittelmäßige und kor-
rumpierte Gesellschaft sich schließlich in den Dienst des Staates stellt und
das Amt des von ihm überführten Chefs der Sicherheitspolizei übernimmt.
Die Wandlung als Höhepunkt der inneren Entwicklung des Protagonisten
setzt ein, wenn er und der von ihm lebenslang protegierte Künstler Julien
eingekerkert werden. Collin bricht zusammen, wenn er vom Selbstmord
des von ihm geliebten Künstlers erfährt, wird aber durch dessen Beispiel
(dieser zieht mit dem Selbstmord die Konsequenzen aus seinem Handeln)
geläutert und bekehrt. Während der weiteren Gefangenschaft in der Con-
ciergerie versucht der Untersuchungsrichter Camusot zunächst vergeblich,
die vermutete Identität des als spanischer Abbé auftretenden Collin zu be-
legen. Wäre der Abbé, so sein Kalkül, in Wahrheit der ehemalige Straf-
gefangene Collin, so müsste dieser auf der Schulter ein Brandmal mit den
Buchstaben TF (für Travaux Forcés, „Zwangsarbeit“) tragen. Sollte er „das
damals durch das Gesetz für bagno-Sträflinge vorgeschriebene Brandmal
erhalten haben, würden die Buchstaben beim Beklopfen der Schulter sofort
sichtbar werden.“ [7]. Es kommt schließlich zur Überprüfung der Identität,
wie der Untersuchungsrichter diesen Vorgang ausdrücklich bezeichnet.
Der Gerichtsdiener kehrte mit dem Ebenholzstäbchen zurück, das seit
undenklichen Zeiten das Kennzeichen ihres Amtes ist und ,Rute‘ genannt
wird. Er schlug damit mehrmals auf die Stelle, auf der der Henker die ver-
hängnisvollen Buchstaben eingebrannt hatte. Darauf kamen in der Haut
siebzehn ungleich verteilte Narbenlöcher zum Vorschein. Doch trotz der
Sorgfalt, mit der der Rücken untersucht wurde, ließen sich keine Buchsta-
ben erkennen. [. . . ] Carlos bat, man möge das gleiche Verfahren auf der
anderen Schulter und der Mitte des Rückens wiederholen. Wie der Arzt auf
Wunsch des Spaniers feststellte, zeigten sich etwa fünfzehn weitere Nar-
benlöcher. Er erklärte, der Rücken sei derart mit Narben übersät, dass das
Brandmal des Henkers, sollte es tatsächlich eingegraben worden sein, nicht
mehr zum Vorschein kommen könne (S. 306–307).
Damit nicht genug. Auch der Chef der Sicherheitspolizei, ein ehemaliger
Verbrecher und Bekannter Collins, soll die Identität des Abbé aufdecken.
206 z N. Greiner

Er kann zunächst „das von Blatternnarben entstellte Gesicht“ nicht wieder


erkennen; schließlich verweist er auf ein scheinbar untrügliches Identitäts-
merkmal: eine „Messerstichnarbe am linken Arm“. Abermals muss Collin
seinen Rock ausziehen, und abermals ist diese Narbe verdeckt durch wei-
tere Narben. Beide Narben, die Stichnarbe am Arm und das Brandmal an
der Schulter, hatte Collin mit neuen Narben überdeckt, die er sich durch
Schusswunden selbst zugefügt hatte. Der Vorgang bietet zwei verschiedene,
aber zusammengehörende Deutungsmöglichkeiten. Die Narbe als untrüg-
liches Körperzeichen der Identität wird als Zeichen unlesbar gemacht, in-
dem es durch andere, gleiche Körperzeichen „überschrieben“ wird. Der in-
telligente Schwerverbrecher weiß um die Aussagekraft des Körperzeichens,
er weiß aber auch, dieses Zeichen durch ein noch komplexeres Zeichensys-
tem unlesbar zu machen. Aus dem Körperzeichen als Identitätsausweis
wird das Körperzeichen als Identitätsverschleierung. In der zweiten Deu-
tungsmöglichkeit dieses Vorgangs könnte man indes eine Art Vorausdeu-
tung auf den Schluss des Romans erblicken. Der Verbrecher, der angesichts
des erlebten Leids eine grundlegende Metamorphose erfährt, löscht nicht
nur materiell, sondern in Vorbereitung auf diese Metamorphose auch sym-
bolisch seine alte Identität aus und schreibt sich in seinen Körper eine
neue, eine vom Leid gezeichnete Identität ein. Wir wissen aus Vater Goriot,
dass Collin tatsächlich derartige Brandmale trug. Dort tauchen die Narben
auch wieder auf, wenn er auf die Schulter geschlagen wird. Hier nun
könnten jene Wunden, mit denen er la marque zu überdecken versuchte,
ein Zeichen von Tod und Wiedergeburt sein (Abb. 2). Die Auslöschung der
alten Narbe und die Neubildung der neuen Narben würden auf diese Weise
die Voraussetzung für Collins endgültige Transformation darstellen, die am
Ende des Romans mehr ist als eine Maskierung, nämlich eine grundlegen-
de Veränderung seines Selbst. Das Zeichen der Identität wird nun zum Zei-
chen der spirituellen Integrität und symbolisch gegen die sozial scheinbar
Integren, gegen die Nicht-Gezeichneten, ausgespielt. Die Narbe, bezie-
hungsweise die Vielzahl der Narben werden hier zur Metapher für eine in-
nere Identität, die als Körpertext lesbar werden kann und die den identifi-
katorischen Höhepunkt des Romans darstellt.

Abb. 2. Flächenförmige Nar-


ben verdecken die normale
Körperstruktur und deren Cha-
rakteristik, ob absichtlich zu-
geführt oder durch Krankheit
(hier Akne conglobata)
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 207

Die Verkomplizierung des Körperzeichens spiegelt die Verkomplizierung


jener gesellschaftlichen Prozesse, innerhalb derer sich Identitätszuweisun-
gen abspielen, Identitätsfindung und Identifizierung des Gegenübers hinter-
fragt und problematisiert werden. Ist bei Homer die Narbe des Odysseus
Kennzeichen einer sich ihrer selbst vergewissernden Humanität, so sind
die Narbenfelder Balzacs möglicherweise Anzeichen einer sich nicht mehr
ihrer selbst gewissen Humanität. Die Ausdifferenzierung einer Gesellschaft
und ihre freiwillige Unterwerfung unter die ökonomischen Zwänge – bei
Balzac ein immer wieder aufgegriffenes Thema – kann an die Stelle von
klaren und lesbaren Identitäten offenbar nur noch Verstellungen, Rollen
und verworrene Identitäten setzen, denen zwar immer noch Läuterung und
Umkehr möglich ist; aber diese Lösungen tragen einen unverkennbaren
melodramatischen Beigeschmack. Die Narbe, ehemals Ausweis für das an
individuelle Identität gebundene Menschliche, wird zum Zeichen für das
Unmenschliche, für die Preisgabe des Menschlichen.
Nirgends wird dies deutlicher als in dem heutzutage durch zahlreiche Li-
teraturverfilmungen ebenfalls einem weiteren Lesepublikum bekannten Ro-
man Frankenstein, or, the Modern Prometheus von Mary Shelley. So wie
Odysseus’ verborgene Narbe dessen positive Identität bezeichnete, kenn-
zeichnen die vielen Narben des von Frankenstein hervorgebrachten Mons-
trums eine andere Form von Identität, nämlich den Menschen als Produkt
nicht eines göttlichen Schöpfungsaktes, sondern einer hybriden Wissen-
schaft. Der moderne, sich seiner ethischen Grenzen nicht mehr vergewis-
sernde Wissenschaftler flickt aus alten Knochen ein riesiges Skelett zusam-
men und verleiht ihm Leben. Als vielnarbiges Monstrum bleibt diesem jed-
wede humane Identität versagt: Auf der Suche nach Liebe erregen seine
Narben und seine Monstrosität nur Abscheu, der künstliche Mensch, das
Abbild einer missratenen, weil menschlichen Schöpfung, mutiert zum Dä-
monen. Wo die eine Narbe als biographisch-historisch gewordenes Zeichen
die Identität ihres Trägers auswies, sind nun die vielen Narben Zeichen ei-
nes misslungenen, aus dem Geist des Maßlosen hervorgebrachten Ver-
suches, die Schöpfung einzuholen und Leben und Identität zu verleihen.
Der Versuch Homers, auf der Suche nach der Identität des Einzelnen das
allgemein Humane zu definieren, schlägt bei Shelley um in die Gefährdung
des Humanen durch den Einzelnen, der die Grenzen des Humanen glaubt
überschreiten zu dürfen. Die zahlreichen Narben erzählen vom künstlichen
Schöpfungsprozess des vom Schöpfer Entstellten. Von nun an ist das litera-
rische Bildprogramm in reo Narbe fast ausschließlich negativ besetzt. Es
kennzeichnet den physisch Entstellten und oft genug – unter Verwendung
vormoderner allegorischer Assoziationsketten – den psychisch und mora-
lisch Entstellten. Das Entstellen wird wörtlich genommen: Der durch die
Narben Entstellte hat seine Stelle in der menschlichen Gemeinschaft ver-
loren, ist entstellt.
In der weiteren Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts erzählen die Nar-
ben der Söldner von dem Leid, das sie erfahren haben, und dem Leid, das
sie anderen gebracht haben. Die Narbengesichter der Schurken und Verbre-
208 z N. Greiner

cher machen deren moralisch-soziale Entstellung sichtbar, weisen Identitä-


ten aus, die als Kehrseite zum Zivilisationsprozess gehören. Al Capone, die
Verbrechergestalt schlechthin, wurde durch Howard Hawks in einem der
bekanntesten Filme des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Scarface ver-
ewigt.
Die Narben des von Frankenstein geschaffenen Monstrums und die Nar-
ben der – aus welchen Gründen auch immer – Gebrandmarkten in den
Welten Balzacs kulminieren schließlich in Franz Kafkas bedrückender Er-
zählung In der Strafkolonie. Darin wird ein Forschungsreisender, der die
Strafkolonie einer europäischen Großmacht besucht, Zeuge einer Todesstra-
fe, die mit einem „eigentümlichen Apparat“ ausgeführt wird: dem zu Tode
Verurteilten, der auf diesen Apparat gefesselt ist, wird mit Hilfe eines kom-
plizierten Mechanismus das übertretene Gebot und die Schuld in den Leib
eingestanzt. Seine Schuld ist „zweifellos“, verteidigen kann er sich nicht,
das Urteil wird gnadenlos ausgeführt. Im Verlauf der Exekution kann der
Verurteilte seinen zunehmend vernarbten Körper entziffern. Er erfährt, als
wen man ihn begreift, und diese letzte Identitätszuschreibung ist identisch
mit dem Vollzug der Hinrichtung, mit der Auslöschung von Identität.
Wenn aufgrund des Einspruchs, den der Besucher der Strafkolonie gegen
die „Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekuti-
on“ [8] erhebt, sich der ausführende Offizier auf das Straflager begibt und
der Maschine anordnet, sie solle ihm das Gebot „Sei gerecht!“ einschrei-
ben, zerstört sie sich selbst und mit ihrer Selbstzerstörung auch den an sie
gebundenen Offizier. Die in dieser Erzählung aufgeworfene kafkaeske Frage
der Daseinsschuld und der vergeblichen Rebellion gegen undurchschaubare
Gesetzesordnungen kann in dem hier zur Verfügung stehenden Raum nicht
näher verfolgt werden. Es mag uns aber als Beispiel für die Versuche auch
der modernen Literatur dienen, Erkenntnisprozesse – wie hier in der Form
des Wiedererkennens oder der Einsicht in tatsächliche oder vermeintliche
Schuldverstrickungen – in Form von Textnarben in Körper einzuschreiben.
Aus der Komplexität und Ambivalenz der Zeichennarben bei Balzac ist die
(fast) endgültige Unlesbarkeit des Narbenzeichens in der Moderne gewor-
den – als Kennzeichnung einer Welt, die sich vollends der Lesbarkeit ent-
zieht, weil der Glauben an die Lesbarkeit der Welt die Existenz von etwas
zu Lesendem voraussetzt. Das zwar noch entzifferbare, aber sich der ein-
deutigen Deutung widersetzende Körperzeichen bezeichnet eine im Grund-
satz verrätselte Welt, die ohne Offenbarung und daher Lesbarkeit aus-
zukommen hat.

Der Aus-Gezeichnete: Ahabs Kampf gegen das Leben

Eine vermittelnde Stellung zwischen der mythisch-heroischen Überhöhung


des Odysseus in der Antike, der Bezeichnung komplexer bürgerlich-alltäg-
licher Lebensformen im Realismus des 19. Jahrhunderts und der epistemo-
logischen Verrätselung der Welt durch den Modernismus nimmt in man-
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 209

cherlei Hinsicht eines der monumentalsten Romanwerke der Weltliteratur


ein: Herman Melvilles Moby-Dick.
„Nennt mich Ismael“, lädt der Ich-Erzähler den Leser eingangs ein und
stilisiert sich damit zu einer erzählenden persona, die sich analog zu sei-
nem alttestamentarischen Prototyp aus dem heilsgeschichtlichen Verspre-
chen des auserwählten Volkes Israel ausgeschlossen sieht: Nur geht die me-
lancholische Weltentsagung von ihm selbst aus, weil er einer dem ökono-
mischen Geist geschuldeten Enge und Korrumpiertheit entfliehen möchte
und auf der Weite der Weltmeere die Freiheit der Kontemplation sucht. Aus
der Perspektive des melancholischen Zivilisationskritikers Ismael begegnen
dem Leser die eigentlichen Antagonisten des Romans, der Weiße Wal und
dessen Jäger, Kapitän Ahab. In geschickter Spannungsführung und im
übrigen eingebettet in eine Fülle des realistischen Details, die an Homer
und an Balzac erinnert (die Techniken des Walfangs und die Realien der
Walfangindustrie sind in langen Passagen geschildert), wird ausführlich
vom Vorhaben, der beginnenden Fahrt und dem in seiner Kajüte einge-
schlossen bleibenden Kapitän erzählt, bevor dieser schließlich, im 28. Kapi-
tel, auf der Szene erscheint:

[. . . ] als ich den Blick nach der Heckreling hob, überlief mich ein ah-
nungsvoller Schauder. Doch mein banges Vorgefühl verblasste vor der
Wirklichkeit: auf dem Achterdeck stand Kapitän Ahab! [. . . ] Er sah aus,
als hätte man ihn vom Scheiterhaufen herabgerissen, nachdem der Feu-
ersturm den ganzen Leib verheert, doch nicht verzehrt und seine von
den Jahren gefestigte Kraft nicht um eines Haares Breite geschmälert
hat. Seine hohe, breitschultrige Gestalt war wie aus schwerer Bronze
und in unwandelbarer Form gebildet, Cellinis erzenem Perseus gleich.
Aus seinem grauen Haar hervor und auf der einen Seite des lohbraun
versengten Angesichts und Halses steil nach unten, bis es im Rock ver-
schwand, drang weißlich, leichenfahl anzusehen, ein gertendünnes Mal.
Es glich der Wunde an dem stolz aufragenden Stamm eines hohen Bau-
mes, wenn der Blitz zerfetzend niederfährt und, ohne einen einzigen
Zweig zu knicken, die Rinde senkrecht vom Wipfel bis zur Wurzel auf-
reißt und höhlt, bevor er in den Boden schlägt: der Baum bleibt noch
voll frischen Lebens, doch er ist gezeichnet. Ob dieses Mal ihm angebo-
ren oder die Narbe einer grässlichen Wunde war, das konnte niemand
mit Gewissheit sagen. (Kap. 28, 154) [9].

Alles konzentriert sich im Folgenden auf Ahab. Wir sehen eine Narbe, die
von einem an sie gebundenen Ereignis erzählt, der Jagd nach dem Weißen
Wal, und wir erleben die Deutungsversuche des Erzählers. Durch dessen
Interpretationsleistung vermittelt erschließt sich dem Leser die möglicher-
weise symbolische Tatsache, dass Ahab den Walfang vierzig Jahre lang be-
trieben hat (Kap. 82), also über jenen Zeitraum hinweg, den das erwählte
Volk Israels nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste umherzog, und er
vergleicht das Gelobte Land der Israeliten mit dem kläglichen Ergebnis der
210 z N. Greiner

lebenslangen manischen Suche Ahabs. Der Leser teilt mit dem Erzähler die
Assoziationskette, die das Symbol des Weißen Wals auslöst, und die mehr
oder weniger bewussten Reflexionen auf die mythisch-archetypischen Di-
mensionen der Figur, der Jagd und des Gejagten.
Dass es sich bei der Narbe um mehr handelt als um eine Verletzung im
Kampf, ergibt sich aus den Mutmaßungen über ihre Genese, aus der Bin-
dung der Narbe an einen rätselhaften und in seiner Besessenheit zugleich
faszinierenden Charakter und wiederum dessen Bindung an, genauer: Fi-
xierung auf den Weißen Wal. Ob es sich beim Wal um ein Symbol sub-
limierter Sexualität oder um ein traditionelleres religiös-mythisches Bild in
der Tradition der Inder oder Hebräer (Jonas und Hiob) handelt, um eine
Analogie zu den Drachen des Perseus und des St. Georg bis zu Hobbes’ Le-
viathan oder das Symbol göttlicher Unbeflecktheit und Macht [10–13],
bleibt in unserem Zusammenhang unerheblich, solange wir im Blick behal-
ten, dass es sich beim Wal nicht um ein arbiträres Alltagszeichen, sondern
um ein universelles Symbol in einer eminenten historischen Tradition han-
delt. Solange er sich nicht auf eine Bedeutung festlegen und einengen lässt,
bietet er eine Projektionsfläche für mancherlei Sinnkonstruktionen, die ei-
ne jede Leserschaft aufs Neue in ihn hineinlesen kann. „Moby Dick bedeu-
tet – das lehren die zahlreichen Aussagen über den Wal im Buch selbst wie
in der Melville-Forschung – alles und nichts. Er symbolisiert das Böse
ebenso wie das Prinzip des Lichts“ ([14], S. 322). Doch selbst einem vo-
raussetzungslosen, naiven Leser erschließt sich die Grundstruktur des Tex-
tes: ein bis zur Selbstaufgabe reichender Kampf eines von der Kampfidee
besessenen Mannes gegen einen übermächtigen Gegner, den er unter Ver-
nachlässigung aller Rücksichten und ohne Hoffnung auf einen Sieg bis in
den eigenen Tod bedingungslos und unter hohen Verlusten verfolgt. Alle
konkreten Ausdeutungen lassen sich letztendlich auf die vorwissenschaftli-
che Formel des Erzählers bringen, mit der er das Meer, dessen Herr der
Wal ist, zu umschreiben sucht: „Das nie zu fassende Trugbild des Lebens“
(Kap. 1, 24).
Was aber symbolisiert dann Ahabs Narbe? Ahab jagt den Herrscher je-
nes „nie zu fassenden Trugbilds des Lebens“ mit dem Ziel, ihn zu vernich-
ten. Das aber ist ein dämonisches, selbstmörderisches Unterfangen, das –
wie der Roman zeigt – zur Selbstverstümmelung führt. Sollte, wie der Er-
zähler als Interpretationsmöglichkeit anbietet, die Narbe den ganzen
Körper hinunter sich fortsetzen, dann wäre sie auch Zeichen der (symboli-
schen) Kastration – die im übrigen wiederholt in Bildern angedeutet ist, et-
wa, wenn der Kapitän sich sein Holzbein in den Leib rammt –, das Schick-
sal dessen, der sich zum erklärten Feind des Lebens macht. Längst ist deut-
lich geworden, dass die Narbe Ahabs nicht nur eine korporeale Ver-
stümmelung ist, sondern geistiger Natur: in allen Deutungsmöglichkeiten
Ausdruck eines von vornherein paradoxen Versuchs, das Leben zu besie-
gen. Ahabs fieberhafte Jagd über die Weltmeere erinnert nicht von unge-
fähr an die „Suchreise“ des Odysseus; er hat die metaphysische Dimension
dieses archetypischen Verhaltens komplett verinnerlicht, deren Ziel seit je-
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 211

her darin liegt, „die Beziehung des Helden zur Gruppe, zum Schicksal und
zu sich selbst auszuloten“ ([14], S. 11). Ahab aber kehrt die Selbstvergewis-
serung fast in ihr Gegenteil. Er rebelliert gegen das Schicksal, das dem
Menschen mit dem Leben, das ihm gegeben wird, auferlegt ist, wie immer
wir es ausdeuten. Seine „quest“ ist Selbstverleugnung.
Daneben ist die Narbe auch das Zeichen einer psychischen Verstümme-
lung. Ahab hat sich mit seiner Fixierung auf den Wal dem Leben verwei-
gert. Von der allmählichen Offenbarung seines Wahns bis zu dem Punkt,
an dem er einem anderen Kapitän aus seinem Heimathafen die Hilfe bei
der Suche nach dessen vermisstem Sohn verweigert, wird deutlich, wie sehr
er sich aus der menschlichen Gemeinschaft entfernt und sein eigenes Schiff
samt Besatzung zu einer in sich geschlossenen Wahnwelt gemacht hat
(Kap. 80). Die Körperzeichnung ist gleichsam das Fanal des outlaws.
Folgen wir der kritischen Vernunft des Erzählers, ist der Weiße Wal das
Symbol einer erhabenen Utopie, in der der „Glanz uranfänglicher Zeiten
neu belebt“ wird, Ausdruck eines Schöpfungszustands vor dem Sündenfall.
Ismael stellt sich der Erhabenheit des Jagdobjekts. Er weiß, dass man das
in diesem Tier Verkörperte niemals überwältigen und schon gar nicht be-
herrschen kann. Er ist der einzige, der überlebt. Wer wie Ahab „das Le-
ben“ besiegen möchte, geht zugrunde. In der Narbe Ahabs und seiner
sonstigen körperlichen Versehrtheit ist dieses Schicksal präfiguriert: denn
sie resultiert realiter aus einem vorausgegangenen Kampf mit dem Wal.
Das Körperzeichen Ahabs entsprang seiner körperlichen Auseinanderset-
zung mit dem Wal und bezeichnet seinen monomanen Bezug auf ihn:
[. . . ] als seine Niederlage ihn dann zur Heimkehr zwang, als Ahab und
seine Pein Tage, Wochen, Monate zusammengeschmiedet in der Hänge-
matte hingestreckt lagen, als er mittwinters das düstere, sturmumheulte
Kap an Patagoniens Küste umsegelte – da geschah es, daß sein zerstörter
Leib und seine klaffende Seele blutend ineinanderströmten, sich ver-
mengten; und das verwirrte seinen Geist. (Kap. 41, 221).

Worin aber liegt die Faszinationskraft, die von dieser Figur ausgeht? Mel-
ville verstand seinen Roman, den C. G. Jung im Übrigen für „den größten
amerikanischen Roman“ [15] hielt, als einen Beitrag zu einer sich vom
englischen Vorbild absetzenden amerikanischen Nationalliteratur. Diese
programmatische Absicht erforderte unter anderem eine neue, der feudalis-
tisch-hierarchischen Gesellschaftsordnung Englands entgegenwirkende
Konzeption des tragischen Helden. In dem vom Leben versehrten, sich
dem Leben hasserfüllt entgegenstemmenden Individuum, das im Wissen
um seinen Wahn diesen bis zum eigenen Untergang weiterverfolgt, ent-
wickelt Melville eine Struktur des unentrinnbaren Widerspruchs, der der
Struktur der tragischen Begebenheit nicht unähnlich, aber in seinen Augen
ungleich moderner ist.
212 z N. Greiner

Literarische Narben im Buch des Lebens

Das Buch, das dem Menschen zum Lesen gegeben ist, als Himmelsbuch,
als Buch der Natur, als Offenbarungsschrift, setzt zwar hermeneutischen
Sachverstand voraus, unterstellt aber zugleich prinzipielle Lesbarkeit. Das
Zeichen und dessen Entzifferung werden zur kulturellen Grunderfahrung
des Menschen. In diesem semiotischen Prozess nimmt die Erfahrbarkeit in-
dividueller Identität, des Selbst und des Anderen, eine besondere Stellung
ein; sie äußert sich in kulturellen Bezeichnungen (Namen, Kennzeichnung
der Zugehörigkeit) und in Körperzeichen („besondere Merkmale“). Auch
in der Welt Homers gelten die Welt und der in ihr behauste Mensch als les-
bar. Diese prinzipielle Daseinsentzifferung offenbart sich nicht zuletzt in
der unmittelbaren Korporealität des Identitätsausweises, an der Narbe, die
ein unverwechselbares, nicht korrigierbares Zeichen von individueller Iden-
tität ist. Allerdings weiß Homer um die trügerische Kraft kultureller Zei-
chen – Habitus, Kleidung und Rede dienen oft genug der Verstellung, Ver-
führung oder Verwechslung, während der Rückgriff auf das unhintergeh-
bare Körperzeichen zu deren Entdeckung führt.
Der Zivilisationsprozess wäre auch zu schreiben als ein Prozess des Ver-
lustes von Lesbarkeit: Nicht nur gestaltet sich in der Neuzeit die Selbst-
erfahrung problematisch, auch die Selbstverrätselung des Individuums als
Teil seiner sozialen und kulturellen Selbstinszenierung gewinnt an Bedeu-
tung. „Nicht mehr die Gottheit verbirgt sich vor ihren Geschöpfen in der
Natur, sondern diese verbergen sich voreinander in ihrer Kultur“ [16]. Die
Meisterschaft der Entzifferung beherrscht Jahrhunderte lang die kulturellen
Diskurse. Das der unmittelbaren Wahrnehmung zugängliche Körperzeichen
verliert zwar seine Eindeutigkeit, bietet sich aber immer noch als iko-
nisches Refugium aus der ausdifferenzierten Welt des Kulturmenschen dar,
der in allen seinen Facetten begriffen wird. Die Narbe als Verweis auf den
„neuen“ tragischen Helden der ebenfalls „Neuen“ Welt vermag schließlich
noch den Helden als solchen zu bezeichnen, doch bleibt dessen Ausdeu-
tung, philosophisch und moralisch, nach allen Seiten hin offen – so als
würde die „Spaltung“ der Person Ahabs durch die Narbe auch die grund-
sätzliche Ambivalenz eines jeden Zeichens symbolisieren. Die Narbe ist das
einfachste und zugleich komplizierteste Zeichen zur Bezeichnung mensch-
licher Identität.
Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur z 213

Literatur
1. Homer (2000) Odyssee. Griechisch und Deutsch. Übertr. von Anton Weiher. 11.
Aufl. Artemis & Winkler, Düsseldorf
2. Auerbach E (1988) Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Li-
teratur (1946). Francke, Bern, p 8
3. Mead GH (1970) In: Morris CW (Hrsg) Mind, Self, and Society: From the Stand-
point of a Social Behaviorist. University of Chicago Press, Chicago
4. Erikson EH (1994) Identity and the Life Cycle. Norton, New York
5. Elias N (1997) Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene-
tische Untersuchungen, Band I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen
Oberschichten des Abendlandes. Suhrkamp, Frankfurt/M, p 198
6. Corbin A (1987) Ariès P, Duby G (Hrsg) Histoire de la vie privée, Bd. 4. Perrot M
(Hrsg) De la Révolution à la Grande Guerre. Editions du Seuil, Paris, pp 419–436
7. de Balzac H (o. J.) Glanz und Elend der Kurtisanen. Vollmer, Wiesbaden, p 302
8. Kafka F (1952) In der Strafkolonie. In: Das Urteil und andere Erzählungen (1935).
Fischer, Frankfurt/M, p 110
9. Melville H (2005) Moby Dick (Übers. Seiffert A u. H). Aufbau Taschenbuch, Ber-
lin
10. Staats A (1972) Melville, Moby-Dick. In: Lang HJ (Hrsg) Der amerikanische Ro-
man. Bagel, Düsseldorf, pp 103–141
11. Olson C (1958) Call Me Ishmael (1947). Grove Press, New York
12. Hoffman D (1965) Myth, Magic, and Metaphor in Moby-Dick. In: Form and Fable
in American Fiction (1961). Norton, New York
13. Brumm U (1963) Die religiöse Typologie im amerikanischen Denken. Brill, Lei-
den
14. Schulz D (1981) Suche und Abenteuer. Die „Quest“ in der englischen und ame-
rikanischen Erzählkunst der Romantik. Winter Universitätsverlag, Heidelberg
15. Jung CG (1930) Psychologie und Dichtung. In: Ermatinger E (Hrsg) Philosophie
der Literaturwissenschaft. Junker und Dünnhaupt, Berlin, p 316
16. Blumenberg H (1983) Die Lesbarkeit der Welt. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/M, p
111 (hier auch weitere Ausführungen zu diesem Gedanken: pp 108–120)
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut
A. Saurma

Einleitung

In der vielgliedrigen Reihe der „Kleinen Kulturgeschichte der Haut“ darf


einmal gleichsam abrundend auch die in jüngster Zeit recht beliebte Nach-
bardisziplin der „cultural studies“ Erwähnung finden, die allerdings ohne
die vorangegangene Grundlagenarbeit der Kulturgeschichte gar keinen Be-
stand hätte.

„Cultural Studies“ – eine Wendung in den Kulturwissenschaften


Allein schon die Übersetzung der angloamerikanischen Bezeichnung berei-
tet Schwierigkeiten: Man kann sich wohl auf „Kulturwissenschaft“ oder
„Kulturologie“ einigen, während die auch denkbare „Kulturistik“ bereits
von der neuen Lehre des Bodybuilding in Beschlag genommen worden ist.
Ironischerweise weist nun gerade Bodybuilding ins Zentrum der kulturwis-
senschaftlichen Beschäftigung mit dem Körper, handelt es sich doch um ei-
nen hybriden Auswuchs des Sports als einer traditionellen „Technik des
Selbst“ (Michel Foucault), verformt in der gleißenden Ästhetik der elektro-
nischen Medien.
Ist es das vorrangige Ziel einer Geschichte der Kultur, die von ihr dar-
gestellten Objekte und gesellschaftlichen Beziehungen in eine Abfolge des
Vorher und Nachher einzuordnen, so haben sich die zunächst im anglo-
amerikanischen Raum verbreiteten „cultural studies“ dem Ausdeuten der

Zu den Begriffen
z Metapher: Uneigentliche sprachliche Übertragung. Das eigentliche Wort wird ersetzt
durch ein anderes mit sprachlicher oder sachlicher Ähnlichkeit
z Metonymie: Namensvertauschung. Ein Begriff wird durch einen solchen ersetzt,
der zu ihm in unmittelbarer Verbindung steht
z Allegorie: Anders gefasste Bezeichnung zur rational fassbaren Darstellung abstrakter Begriffe
z Symbol: Zeichen, Kennzeichen oder Sinnbild, welches zur verabredeten und
verkürzten Bezeichnung eines Begriffes, Objektes oder Verfahrens dient
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut z 215

vor allem von den zumindest häufig zitierten Marx, Nietzsche oder Freud
eröffneten Räumen neuer Erfahrungen gewidmet. In Ablösung früherer
Modefächer wie Soziologie und Kulturanthropologie ist ein neues Fach, ei-
ne neue, wie die Italiener sagen, „Dietrologia“ („Dahinteristik“) entstanden,
die besonders für weibliche Studierende und deren Universitätskarrieren
attraktiv wurde. In kühner Verkürzung gesagt, geht es in dieser neuen
Sicht weniger darum, einen durch die Schichten des Geschehenen hindurch
scheinenden Sinn zu erfassen, sondern eher darum, die Erscheinungen in
ihrem Dahinfließen zu beobachten und gerade auch die je eigene Erfah-
rung in diesem Fluss zu artikulieren.
Da es vor allem die Künste sind, in denen das Erfahrbare nach einem
Ausdruck sucht, gehörten Literatur- und Medienwissenschaft, insbesondere
im globalen Medium des Englischen, zu den ersten Disziplinen, in denen
man sich der neueren Sichtweise öffnete. Die Wende von der Forschung
nach historischen Ursachen und Folgen oder nach soziologisch Typischem
zur kulturwissenschaftlichen Perspektive wird gerne mit dem Schlagwort
eines „turns“ angekündigt: zunächst ein „linguistic turn“, später ein „visual
turn“ oder ein „performative turn“. Unter anderen findet sich auch ein
„bodily turn“, womit wir dem Thema „Haut“ schon näher auf die Pelle
gerückt wären.
Der Enthusiasmus, mit dem hier immer wieder neue, zum Teil exzentri-
sche Forschungsfelder aufgetan werden, und der leider auch viele Resultate
in ein weniger seriöses Licht gerückt hat, kann nicht darüber hinweg täu-
schen, dass diesem Aktionismus auch eine gewisse Verzweiflung zugrunde
liegt. Kaum hatte man beispielsweise in den siebziger Jahren mit der Kul-
turanthropologie die Vielfalt traditioneller Ethnien entdeckt, begann in den
Neunzigern die weltweite Bilderkommunikation ihre vereinheitlichende
Kraft zu entfalten. Hoffte man damals, etwa mit Ideologiekritik oder gar
durch Psychoanalyse mündigere Bürger heranzubilden, so ist man heute
mit Betäubungen durch Drogen, durch Fundamentalismus oder durch
Kaufräusche konfrontiert. Insofern geht es vor allem darum, selbst gewollte
und neue Erfahrungen zu machen und diese dann der Welt mitzuteilen.
Auf der Kehrseite dieser Selbstermächtigung steht jedoch der Wille, die Na-
tur in verbesserter Form nachzubauen, was jedoch einmal zu einer so weit-
gehenden Ummöblierung der Psyche führen könnte, dass der bisher gelten-
den Vergleichbarkeit von Erfahrungen zwischen Generationen, Kulturen
oder Epochen überhaupt die Basis entzogen würde.
Kulturwissenschaftliche Studien haben in zwei Hinsichten zugleich Teil
an der ständigen Entgrenzung, in der sich das moderne Wissen über die
Welt befindet. Sie sind sowohl mit einigen Fragestellungen selber an der
Überwindung etablierter humanwissenschaftlicher Fachschranken beteiligt
als auch an der Findung neuer Sinnbezüge angesichts der Unmenge natur-
wissenschaftlicher Einzelerkenntnisse über den Menschen. „Cultural stu-
dies“ versuchen sich in einer zusätzlichen Entgrenzung, indem sie die
schwindelerregenden Möglichkeiten elektronischer Suche und Präsentation
so einsetzen, dass die traditionelle Trennung zwischen den beiden Interpre-
216 z A. Saurma

tationsindustrien der Wissenschaft und der Kunst verschwimmt. Dies ist


gerade bei der Haut als Thema von großer Bedeutung, eignet sie sich als
bildträchtige Grenze von Innen- und Außenwelt doch besonders gut, neu-
en, oft „postmodern“ genannten Fokussierungen der Identität zum Aus-
druck zu verhelfen.
Wie wohl für alle Lebewesen ist die Grenze auch für den Menschen eine
buchstäblich entscheidende Kategorie, die in Kombination mit einer als
bergend, das heißt, als zusammenhaltend und schützend vorgestellten Flä-
che die Haut zu einer ungewöhnlich reich ausdeutbaren Außenseite macht.
Als solche ist sie sowohl ein durch Versuch und Irrtum für jedermann so-
fort empirisch erspürtes Realissimum als auch ein imaginiertes Medium,
das selektiv bestimmte Einwirkungen von außen dokumentieren und inne-
re Regungen deutlich signalisieren oder aber auch nur vermuten lassen
kann. Gewisse Vorgänge bilden sich auf ihr wie auf einem Bildschirm ab
und erfordern eine Interpretation, was die Haut zur ausgezeichneten Meta-
pher kulturwissenschaftlicher Argumentationen werden lässt.
Als Naturphänomen und als vielen Lebewesen gemeinsamer Überzug
des Körpers eignet sich eine Haut vortrefflich dazu, in Beschreibungen der
Umwelt zunächst als Analogie verwendet zu werden: Etwas ist „wie eine
Haut“. Diese erfüllt hier die Funktion, ein Phänomen der menschlichen Er-
fahrung begreiflich zu machen, es zu anthropomorphisieren. Dabei handelt

Abb. 1. Die Haut als Metapher im Rassendiskurs.


Die seltene Phakomatose „Neurokutane Melanose“
gilt als metaphorischer Ausdruck von „zwei ver-
schiedenen Häuten“, welche ein Mensch zu tragen
hat. Diesen können ganz unterschiedliche Symbol-
werte zukommen
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut z 217

es sich um eine Repräsentation im Sinne eines wiederholten Zeigens. Je-


doch ergibt sich aus dem Problem, ob diese Wiederholung „wirklich“ oder
nur „sozusagen“ das Gleiche zeige, der andere Sinn der Repräsentation als
Vergegenwärtigung, in der das Gleiche – metaphorisch gesagt – auch in ei-
ner gewissen Verkleidung wieder erscheinen kann (Abb. 1). Die Haut als
Metapher steht nun für etwas anderes, sie verschafft nämlich einer beste-
henden Bedeutung einen zusätzlichen Sinn, indem sie diese in eine andere
Umgebung überträgt (meta-phorein). Sie ist einerseits ein sichtbarer mate-
rieller Überzug über ein Wesen, aber andererseits befindet sich darunter
auch das Subjekt, das sich mit einer unauslotbaren, metaphorisch artiku-
lierbaren Tiefe versehen weiß.
Für die Natur- und Lebenswissenschaften ist es nicht unwichtig, die Rol-
le abzuklären, die ein so glitschiges geisteswissenschaftliches Werkzeug wie
die Metapher auch in ihrem Reich der Objektivität spielen darf. Es muss ja
nicht gleich beispielsweise ein „grenzflächenfunktionalisiertes Sensor- und
Aktuatorsystem“ der „mit der Haut sprechenden Seele“ gegenübergestellt
werden, sondern es mag genügen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen,
was gewonnen wird, wenn man etwa eine „Gegend“ eben „mit anderen
Worten“ als eine „Landschaft“ bezeichnet. Beide gehören zum Tegumentum
der Erde, aber „unterschwellig“ möchten wir glauben, eine Landschaft sei
eine Gegend, die uns antworten kann.

Die Haut als „sprechende Landschaft“

Die Art und Weise, mit der man – oder bescheidener gesagt, der Okzident
– sich ein Bild von der Welt macht, scheint in bestimmten Zeitabschnitten
jeweils von dominierenden Modellen geprägt zu werden, die wegen ihrer
Allgemeinheit sehr spekulativ bleiben müssen. Immerhin dürfte dabei der
zunehmende Einfluss technischer Vorstellungen – im Gegensatz etwa zu
„Heil“ oder „Blut“ in anderen Zeiten – unbestritten sein. Hatte sich vor
Jahrzehnten die wissenschaftliche Phantasie noch an schatzgräberischen
Bildern oder an Stein für Stein fortschreitenden Bauten entzündet, so neigt
die Imagination der Forschung heute eher zu pulsierenden Kraft- und In-
formationsströmen, die sich rasch auf Oberflächen bewegen oder in Netzen
verteilen und stellenweise Synergien schaffen sollen. Bedingung dieses Flie-
ßens ist jedoch die vorhergehende Unterteilung in kleinste denkbare Par-
tikel, die anschließend eine Synthese oder Nachschöpfung in beliebiger
Form erlauben. Man mag dabei an Beton oder Plastik-Kunststoff denken,
an die Bildpunkte der Pixel oder an die Konstruktion neuer, dienstbarer
Moleküle. Diese geradezu explosionsartige Entwicklung wird zwar im All-
tag nur eher schleichend wahrgenommen, aber wache Teile des Wissen-
schafts- und Kunstbetriebes bemächtigen sich geradezu inbrünstig des Pro-
blems, wie herkömmlich für fest umrissen gehaltene Einheiten wie der
menschliche Körper oder die ihm einwohnende psychosoziale Identität auf
218 z A. Saurma

die fortschreitende Zerbröselung reagieren können. Auffällig ist dabei, dass


diese Abklärungen das in Hypertexten vernetzte Gewirbel anklickbarer Bil-
der und Zitate schätzen und damit in gewisser Weise noch die Problematik
zuspitzen, über die sie sich Klarheit verschaffen wollten.
Beschreibt man die Haut nicht einfach als Grenze, sondern als Oberflä-
che des Körpers, so könnte man auf die Kinderfrage kommen, was denn
nun die „Unterfläche“ des Körpers sei? Man könnte sich aus der Affäre zu
ziehen versuchen, indem man mit dem Sprachspiel: „ein Körper sein“ –
„einen Körper haben“ behauptet, von „unten“ oder innen stoße der Bereich
an die Haut, in dem man ein Körper sei, während „oben“ oder nach außen
hin manifestiert werde, bis wohin man einen Körper habe (Abb. 2). An
dieser buchstäblichen Sinngrenze und ihren metaphorischen Übersetzun-
gen arbeiten sich fast alle thematischen Unterdisziplinen der „cultural stu-
dies“ ab: ob es geschlechtsspezifische Erfahrungen gäbe („gender studies“)
oder solche der sexuellen Veranlagung, ob die Rasse („social construction
of skin“) oder die Herkunft aus einer ehemaligen Kolonie („postcolonial
studies“) eine Rolle spiele. Ferner werden verschiedene, gleichsam „soziale
Häute“ untersucht, sei es als Mode, als Architektur oder als Stadtkultur
(„urban studies“) und selbstverständlich gilt es, in der sogenannten geho-
benen Kultur ebenso wie in der Popkultur oder der Werbung ideologische
Schleier zu heben und nackte Tatsachen zu gewärtigen.
Verallgemeinernd kann gesagt werden, sobald etwas, z. B. die Haut oder
eine andere Hülle, zum „bloßen“ Vordergrund erklärt wird, auch die Frage
nach ihrem Unter- oder Hintergrund entsteht, dessen Beziehungen zum
Vordergrund nun auf den Grund gegangen werden muss. Da kaum etwas
„an sich“ einfach gegeben ist, vielmehr fast alles immer schon „für uns“,
für den Menschen, in Geschichten oder Bilder verpackt gegeben ist, kommt
der Haut nicht nur als liminaler Fläche, sondern auch allgemein als Hülle
eine fundamentale Bedeutung zu.
Im Zeitalter der durch das Internet zuckenden Suchmaschinen zeigt sich
die überwältigende Vielfalt der Hautmetapher schon bei einer mehrsprachi-
gen Suche mit dem Wortpaar: „Haut als“ und „skin as“, „peau comme“,

Abb. 2. Musikalische Meta-


pher, welche „unter die Haut
geht“ und global verstanden
wird. © 2006 Niclas Bock
Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut z 219

„pelle come“ oder „piel como“. Da allerdings jeder Versuch, die Unmenge
dieser Resultate zu ordnen, vergeblich wäre, muss es, außer für einige der
nachfolgend ausgewählten Beispiele, leider bei diesem Hinweis zum Selbst-
versuch durch den Leser bleiben, wie denn auch zu fast allen hier etwas
hastig aufgezählten Einzelheiten jede Menge weiterführende Angaben im
Internet gefunden werden können.

Utopien des Wissbaren: Was steckt hinter oder unter der Haut?

Immerhin lässt sich im Gewusel der Daten, Meinungen und Bilder zumin-
dest eine Linie erkennen: Durch den zeittypischen Drang zu immer kühne-
ren Ergebnissen und entsprechend schrillen Präsentationen gerät das inter-
ne Spiel der Bedeutungsebenen in der Hautmetapher unter Druck. Indem
man den Dingen restlos konkret auf den Grund gehen möchte, droht die ja
auch für jede „Dietrologia“ immer neu in Gang zu setzende Dramatik zu
erliegen. Die nun sozusagen ausbuchstabierte Haut wird zu einer sehr rea-
len Grenze, die mit technischen Mitteln und sportlichem Elan überwunden
werden kann und muss.
In erster Linie wäre hier an das „Körperwelten“-Spektakel Gunther von Ha-
gens zu erinnern, in der endlich dauerhaft auf die Haut als hinderlicher Vor-
hang vor der allernacktesten Wahrheit verzichtet werden konnte. Eine „Welt“
im Sinne von sich abwechselnden Sinnstiftungen ist dadurch gerade nicht
entstanden. Eine der ähnlichen Ausstellungen in den USA, „Bodies Revealed“,
kann ebenfalls nichts „offenbaren“, gilt aber als „extremely educational“.
Einen umgekehrten Weg ist die österreichische Künstlerin Eva Wohl-
gemuth mit „bodyscan“ gegangen, die 1997 in Kalifornien ihren „Körper in
der Feinheitsstufe von 285 000 Polygonen einscannen“ ließ, der nun „auf
verschiedenen Speichermedien und im Internet aufliegt und dort abrufbar
ist“. Wie die Soziologin Christina Lammer dazu schrieb, hebe sich das so
entstandene, „engmaschige Gewebe als glatte-dreidimensionale Haut vom
Bildschirm ab. Die Puppe in ihrer reinsten Form, leere Statue, begibt sich
auf die Suche nach ihrem Ich-Knoten.“ In elektronisch sublimierter Gewalt-
samkeit soll hier der weibliche Körper von Fleisch und Blut, von seiner Ge-
schlechtlichkeit gelöst werden. Christina Lammer ihrerseits hat das For-
schungsprojekt „Corpo-Realities“ an der Medizinischen Universität Wien
konzipiert, in dem Künstler, Radiologen und Chirurgen (insbesondere die
Frauen unter ihnen) das Innere, so wie es in den Röntgenbildern „unter
der Haut“ erscheint, zu begreifen versuchen.
Es geht also um die Interpretation der Spuren, die physische oder not-
falls virtuelle Versuche hinterlassen haben, die Haut gewaltsam aus dem
Weg zu schaffen, um neue Einsichten zu gewinnen. Ein ultimatives Projekt
könnte so eines Tages die im Jahr 1999 geschätzten 307 Millionen Gewebe-
proben von 178 Millionen Patienten, die an verschiedenen Orten der Ver-
einigten Staaten konserviert wurden, zum Gesamtkunstwerk zu erklären
und ihren kollektiven Erinnerungswert zu erwägen suchen.
220 z A. Saurma: Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut

Eine andere Möglichkeit, die Haut zu einer bestimmten Aussage zu


zwingen, ist die gesteuerte Transformation der an ihr vorgenommenen Ver-
letzungen und chirurgischen Eingriffe. So deklariert die Amerikanerin Ca-
therine Opie nur schon die Fotografie der vernarbten unbeholfenen Ritzun-
gen auf ihrem Rücken zum Kunstwerk, das dieses Jahr im Rahmen der
Ausstellung „Speaking through Skin“ im New Yorker Whitney Museum zu
sehen war. Zu den Pionieren operativer Körper-Umgestaltung als Kunst
gehören die Französin Orlan und der Australier Stelarc, die sich nun mit
einer biotechnologisch arbeitenden Künstlergruppe „Tissue Culture & Art“
in Australien verbündet haben sollen. Hier soll die Haut veranlasst werden,
Transplantate in eine bestimmte Gestalt wachsen zu lassen. Es ist dies für
den Menschen eine logische Fortentwicklung der verbesserten Nach-
schöpfung in einer designierten Form aus zuvor fabrizierten Elementen,
wie sie für Alltagsgegenstände selbstverständlich ist.
Um schließlich aus der äußerst virulenten Mischzone von Wissenschaft,
Technik und Kunst noch eine weitere Manipulationsform der Haut zu er-
wähnen, sei noch die virtuelle Verdopppelung des Körpers und der Haut in
Richtung einer Fusion von Mensch und Maschine genannt, wie sie etwa
der kanadische Multimedia-Künstler und -Theoretiker Brian Massumi be-
treibt. Hier kommt es im Zuge der angedachten „extension of the body
beyond the skin“ gleichzeitig zu einer imaginären Vermenschlichung des
Computers. Es sind dies nur etwas mysteriöse, künstlerische Erweiterungen
einer technisch schon weit vorangetriebenen „Weiterentwicklung“ der Haut
beispielsweise durch Indienstnahme ihrer natürlichen Elektrizität zur Be-
dienung von Geräten oder Sicherung von Identitätsprüfungen („Skinplex“).
Diese sogenannte Mensch-Maschine-Kommunikation über Hautreaktionen
kommt auch bei der zunächst militärisch nutzbaren Forschung zu elektro-
nisch betriebener „intelligenter Kleidung“ zum Einsatz. Einen gewiss vor-
läufigen Schlusspunkt scheint die nanotechnische Erfindung eines bereits
vor 10 Jahren patentierten „programmable subcutaneous visible implant“
zu bilden. Jetzt noch kaum vorstellbare, im Wortsinn „unterschwellig“ an-
gebrachte Displays könnten einmal statt der rückständigen Gänsehaut alar-
mierende Daten über den Blutdruck aufleuchten lassen.

Literatur
1. Benthien C (1999) Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Rowohlt
Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg
2. Ach JS (2006) Pollmann A (Hrsg) No body is perfect. Baumaßnahmen am mensch-
lichen Körper. Transcript, Bielefeld
3. Connor S (2004) The Book of Skin. Ithaca NY. Cornell University Press 2003. Reak-
tion Books, London
4. Wegenstein B (2006) Getting Under the Skin. The Body and Media Theory. MIT
Press, Cambridge MA

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