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ISSN 0007–3121

DER BÜRGER IM STA AT

4–2013

Antisemitismus heute

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DER BÜRGER IM STA AT
INHALT
Armin Pfahl-Traughber 252
Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden
als Juden 252
Kurt Möller 262
Antisemitismus bei Jugendlichen in Deutschland.
Formen, Ausmaße, spezifische Ausprägungen und
Begünstigungsfaktoren 262
Albert Scherr 270
Ausgangsbedingungen und Perspektiven der Bildungsarbeit
gegen Antisemitismus 270
HEFT 4–2013
63. JAHRGANG Peter Steinbach 278
ISSN 0007-3121
Geschichtsunterricht im Spannungsfeld geschichtspolitischer
Debatten – Wissensvermittlung, Handlungsorientierung und
kritische Selbstbefragung 278
„Der Bürger im Staat” wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Tami Ensinger 288
Praktische Ansatzpunkte einer antisemitismuskritischen
DIREKTOR DER LANDESZENTRALE
Lothar Frick Bildungsarbeit 288

REDAKTION
Patrick Siegele 296
Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Chancen und Grenzen historisch-politischer Bildungsarbeit
in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus 296
REDAKTIONSASSISTENZ
Barbara Bollinger, barbara.bollinger@lpb.bwl.de Jochen Müller 303
Zwischen Berlin und Beirut – Antisemitismus bei Jugendlichen
ANSCHRIFT DER REDAKTION
Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart arabischer, türkischer und/oder muslimischer Herkunft 303
Telefon 0711/164099-44, Fax 0711/164099-77
Gabriele Rohmann 311
HERSTELLUNG Die ganze Wahrheit, anders! – Das Projekt New Faces 311
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfi ldern-Ruit Lena Gorelik 316
Telefon 0711/4406-0, Fax 0711/442349 Gegen alle üblichen Klischees … 316
GESTALTUNG TITEL
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
Buchbesprechungen 320
GESTALTUNG INNENTEIL
Ingrid Gerlach, Schwabenverlag Media
der Schwabenverlag AG

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Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
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Antisemitismus heute
Antisemitismus ist in Deutschland bis chen antisemitische Einstellungen aus- die alltags- und regionalgeschichtliche
heute weit verbreitet. Extremistische zumachen. In einem dritten Schritt rich- Sicht bietet neben der Vermittlung zeit-
Gruppierungen zeigen öffentlich Hass tet sich das Augenmerk auf Ursachen geschichtlichen Wissens Gelegenheit
und bedienen Vorurteile. Aber auch in und begünstigende Faktoren, die hinter zur kritischen Selbstbefragung. Eine sol-
der Mitte der Gesellschaft werden Kli- diesem „alltäglichen Antisemitismus“ che Perspektive ermöglicht einen Brü-
schees und Ressentiments gepflegt. bei Jugendlichen stehen. Die Kenntnis ckenschlag zwischen der „großen Ge-
Heute tritt Antisemitismus in altbekann- dieser Ursachen und Begünstigungs- schichte“ und den lebensweltlichen
ten und zugleich in neuen Ausprägun- faktoren erlaubt abschließend die For- Erfah rungen. Diese selbstreflexive Di-
gen auf. Diese haben sich angesichts mulierung pädagogischer Grundlinien, mension eröffnet die Möglichkeit, indi-
des Nahostkonflikts, im Zuge der Fi- an denen sich ein angemessener päda- viduelle Einstellungen, Werte und All-
nanzkrise und der Globalisierungskritik gogischer Umgang mit der Problematik tagspraktiken zu reflektieren.
und auch als Reaktion auf die Auseinan- zu orientieren vermag.
dersetzung mit dem Holocaust und der Eine antisemitismuskritische Bildungsar-
nationalsozialistischen Vergangenheit Politische Bekämpfung, rechtliche Sank- beit setzt geschützte Lernräume voraus,
herausgebildet. Wie sind die Entwick- tionierung und moralische Ahndung die eine Auseinandersetzung mit den
lungen einzuordnen? Woran kann man sind legitime Strategien gegen Antise- Erscheinungsformen, Merkmalen und
sie im Alltag erkennen? Und was lässt mitismus, bieten aber keine hinreichen- Funktionen von Antisemitismus ermögli-
sich dem Antisemitismus im alten und de Grundlage für die schulische und au- chen. Eine weitere Voraussetzung für
neuen Gewand entgegensetzen? ßerschulische Bildungsarbeit. Diese das Gelingen sind Pädagoginnen und
Strategien können sich gar als kontra- Pädagogen, die einen wertschätzen-
Aktuelle Forschungen belegen ein ho- produktiv erweisen. Eine subjektorien- den Umgang mit den Teilnehmenden
hes Potenzial judenfeindlicher Ressenti- tierte, dialogische und akzeptierende pflegen und eine angstfreie Auseinan-
ments in der bundesdeutschen Bevölke- Bildungsarbeit setzt vielmehr an den dersetzung mit antisemitischen Argu-
rung. Trotz beständiger Auseinander- Adressaten, ihren Denkweisen und Wis- mentationsmustern anregen. Auf der
setzung mit der nationalsozialistischen sensbeständen an. Nicht Moralisierung inhalt lichen Ebene ist hierbei eine anti-
Vergangenheit sind antisemitische Ein- und Belehrung, sondern die argumenta- semitismuskritische Perspektive notwen-
stellungen in der Mitte der Gesellschaft tive Auseinandersetzung mit antisemiti- dig, die von Pädagogen und Pädago-
weiterhin präsent. Außerdem lassen schen Stereotypen und Fragmenten ist ginnen eine vorgängige Selbstreflexion
sich bei der negativen Kommentierung ein wesentlicher Ansatzpunkt anti-anti- abverlangt. Auf diesem Grundverständ-
von Israels Politik im Nahen Osten gele- semitischer Bildungsarbeit. Dies setzt – nis aufbauend formuliert Tami Ensinger
gentlich antijüdische Ressentiments so Albert Scherr – einen sanktionsfreien mehrere Standards für eine Pädagogik
ausmachen. Will man antisemitische Rahmen voraus, in dem Jugendliche ihre gegen Antisemitismus: (1) Von Antisemi-
Auffassungen und Handlungen analy- Vorurteile äußern und benennen dür- tismus Betroffene müssen im Rahmen
tisch erfassen und ihnen angemessen fen. Darauf aufbauend können sie sich der Bildungsarbeit vor Verletzungen
begegnen, so bedarf es einer klaren sachorientiert mit eben jenen Vorurtei- geschützt werden. (2) Zugleich gilt es,
und trennscharfen Definition. Antisemi- len befassen und dabei durchschauen, anti-antisemitische Argumentationen zu
tismus ist – so Armin Pfahl-Traughber – was an diesen falsch ist, warum sie aber stärken und Antisemitismus stets Einhalt
eine Sammelbezeichnung für die Feind- dennoch weit verbreitet sind. Eine sol- zu gebieten. (3) Im Zentrum der Bil-
schaft gegen Juden als Juden. Diese che Bildungspraxis ist prinzipiell ergeb- dungsarbeit steht die Dekonstruktion
zunächst allgemein gehaltene Definiti- nisoffen. Sie will Prozesse der Selbstver- antisemitischer Stereotype und Vorur-
on birgt verschiedene Spielarten des änderung anregen und diese unterstüt- teile. (4) Angemessene Lernarrange-
Antisemitismus in sich, die jeweils abs- zen, nicht erzwingen. ments, die eine sachlich begründete
trakt und exemplarisch erläutert wer- Auseinandersetzung fokussieren, ver-
den. Die präsentierte Typologie ist ein Die Bedeutung des Unterrichtsfaches zichten auf moralisierende und beleh-
idealtypisches Modell. In der gesell- Geschichte ist geschrumpft. Gleichwohl rende Akzente. Dies produziert bei Ju-
schaftlichen Realität lassen sich nur we- ist in der Öffentlichkeit ein breites histo- gendlichen in aller Regel Abwehr.
nige judenfeindliche Diskurse ausma- risches Interesse festzustellen. Histori-
chen, welche nur einer der definierten sche Romane, Ausstellungen, Museen, Wie kann historisch-politische Bil-
Formen von Antisemitismus zugeordnet Spielfilme und Dokumentationen trans- dungsarbeit antisemitischen Einstellun-
werden können. portieren und produzieren unablässig gen wirksam begegnen? Solides histo-
Geschichtsbilder. Diese Vorstellungen risches Wissen ist hierfür durchaus not-
Antisemitismus ist beileibe keine Proble- und Deutungen der Vergangenheit be- wendig, reicht allein aber für die Ausei-
matik von gestern! Kurt Möller definiert einflussen unser Gegenwartsverständ- nandersetzung mit Antisemitismus nicht
in seinem Beitrag eingangs verschiede- nis und ermöglichen die Selbstveror- aus. Moralisierender und bloß beleh-
ne Formen von Antisemitismus. Diese tung im Geschichtsprozess. Am Beispiel render Unterricht ebenso wenig. Will
präzise Beschreibung ermöglicht in Ab- der Finkelstein-Debatte, die latente an- man bei Schülerinnen und Schülern den
grenzung zu alltagssprachlichen Kon- tisemitische Stimmungen bediente und Aufbau einer eigenen historisch-politi-
notationen eine differenzierte Erfas- revisionistische Ansichten salonfähig schen Urteilskompetenz fördern, ist eine
sung antisemitischer Einstellungen. Auf machte, zeigt Peter Steinbach, dass der angemessene didaktische Perspektive
dieser Grundlage werden Verbreitung, Geschichtsunterricht den Umgang mit und Analyse dessen, was schulische
Ausmaße und Ausprägungen in ver- der Vergangenheit bzw. die Genese und außerschulische Bildung bewirken
schiedenen gesellschaftlichen Grup- von Geschichtsbildern und deren (ma- soll, notwendig. Dies schließt notwen-
pierungen skizziert. Obwohl Jugendli- nipulierende) Wirkung thematisieren dig das Nachdenken über didaktisch-
che im Vergleich zur bundesdeutschen und bewusst machen muss. Darüber hi- methodische Zugänge mit ein. Patrick
Gesamtbevölkerung deutlich besser naus sind im Geschichtsunterricht le- Siegele plädiert für multiperspektivi-
abschneiden, sind auch bei Jugendli- bensweltliche Zugänge gefragt. Denn sche Herangehensweisen, die einer

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eindimensionalen Sicht entgegenwir- Gabriele Rohmann beschreibt das Mo- waren die Fachbereiche Gedenkstät-
ken. Die jüdische Geschichte ist mehr dellprojekt New Faces, das Antworten tenarbeit, das Projekt Extremismusprä-
als eine Verfolgungsgeschichte. Es gibt auf eben diese Fragen sucht. New Faces vention sowie die Redaktionen der Zeit-
zahlreiche Beispiele einer friedlichen beschreitet einen neuen Weg, indem es schriften „Der Bürger im Staat“ und „Po-
Koexistenz von Juden und Nicht-Juden, sich an jugendkulturellen Lifestyles ori- litik & Unterricht“. Unterstützt wurde die
die es auch im Unterricht darzustellen entiert. Es setzt bei dem an, was junge Tagung zudem von der Baden-Würt-
gilt. Zudem darf sich außerschulische Menschen interessiert: bei Musik, Me- temberg Stiftung.
und schulische Bildungsarbeit nicht da- dien, Freizeit, Mode. Diese jugend- und
rauf beschränken, nur die jüdische Op- subkulturellen Lifestyles bieten vielfälti- Zwei zentrale Ergebnisse dieser Tagung
ferrolle zu thematisieren. Eine multipers- ge Möglichkeiten, sich mit Vielfalt und spiegeln sich auch in den Beiträgen des
pektivische Herangehensweise an die Respekt, aber auch mit Ausgrenzung Heftes wider: (1) Die schulische und au-
Geschichte der Shoah verlangt auch und Diskriminierung auseinanderzuset- ßerschulische politische Bildung orien-
die Beschäftigung mit Tätern, Helfern zen. Um der Spielart des sekundären tiert sich noch immer zu sehr am „Dritten
und Zuschauern. Eine wesentliche Moti- Antisemitismus wirksam begegnen zu Reich“ und am Holocaust. Damit findet
vation erwächst zudem aus lebenswelt- können, arbeitet New Faces mit deutsch- eine Fixierung auf besonders stark aus-
orientierten, biografischen und lokal- israelischen Teams. Die geschilderten geprägte und folgenreiche Formen des
geschichtlichen Ansätzen, die einen Erfahrungen und Ergebnisse sind ein Antisemitismus statt. Stattdessen sollten
Brückenschlag zwischen der abstrakt Beleg für kreative Wege, antisemiti- sowohl eine historische Betrachtung be-
anmutenden Geschichte und der kon- schen Vorurteilen und Klischees wirk- zogen auf die ideengeschichtlichen
kreten Lebenswelt Jugendlicher ermög- sam begegnen zu können. Kontinuitäten wie eine gegenwartsbe-
lichen. zogene Orientierung hinsichtlich der
Literarische Texte sind in unserer Zeit- aktuellen Formen des Antisemitismus ei-
In dem Beitrag von Jochen Müller ste- schrift „Der Bürger im Staat“ eher die nen stärkeren Stellenwert einnehmen.
hen Erscheinungsformen und Motive Ausnahme. Manchmal können literari- Es empfiehlt sich eine Art kritische Re-
von Antisemitismus und antisemitischen sche Texte allerdings mehr Schranken konstruktion von antisemitischen Diskur-
Positionen im Mittelpunkt, die unter Ju- einreißen als jeder noch so gut gemein- sen, wobei Denkfehler und Manipula-
gendlichen und jungen Erwachsenen te fachwissenschaftliche (oder didakti- tionstechniken aufgearbeitet werden
arabischer, türkischer und/oder musli- sche) Impuls. Die Schriftstellerin Lena können. Entsprechende Einsichten ma-
mischer Herkunft anzutreffen sind. Ein- Gorelik, die 1992 mit ihrer russisch-jüdi- chen auch immun gegenüber Vorurtei-
gangs werden einige Aspekte skizziert, schen Familie als „Kontingentflüchtling“ len anderer Art und fördern ganz allge-
die in den aktuellen öffentlichen Diskus- nach Deutschland kam, erzählt, wie sie mein Methoden vernünftigen Argumen-
sionen über den Antisemitismus zuletzt entspannt mit antisemitischen Klischees tierens. (2) Bislang fand in Deutschland
eine Rolle gespielt haben. Diese Aspek- umgeht. Sie gehört der neuen Generati- die antisemitische Orientierung von
te bieten den Hintergrund für die Ausei- on von Juden in Deutschland an, die Migranten weniger Aufmerksamkeit,
nandersetzung mit der Frage, welche sich über ihre Zukunft, nicht über ihre welche nach Studien – bezogen auf die
Funktion antisemitische Behauptungen Vergangenheit definieren wollen. Für antizionistische Variante – noch bedeu-
und Ressentiments für deutsche (bzw. in diese Generation ist die jüdische Identi- tend höher als bei der deutschen Bevöl-
Deutschland lebende) Jugendliche und tät längst nicht mehr nur an den Holo- kerung ist. Gleichzeitig dient diese Er-
junge Erwachsene mit (muslimischem) caust gekoppelt. Scherzhaft und nach- kenntnis auch zu anti-muslimischer Agi-
Migrationshintergrund haben können – denklich führt sie antisemitische Kli- tation. Insofern bedarf es hier einer dif-
und für einige Optionen, wie ihnen pä- schees ad absurdum. In dem Teilkapitel ferenzierten Erforschung und Bewertung
dagogisch begegnet werden kann. Da- „Auf der Suche nach Antisemiten“ zeigt dieser Potenziale. Mit Blick auf eine be-
bei spielt der Nahostkonflikt bzw. des- sie antisemitische „Fettnäpfchen“ auf stimmte soziale Gruppe entsteht damit
sen Rezeption oftmals eine zentrale Rol- und plädiert dabei ironisch – zwischen eine neue Herausforderung für die poli-
le – ihm kommt daher in dem Beitrag den Zeilen jedoch überaus konstruktiv – tische Bildung.
eine besondere Gewichtung zu. für einen entkrampften deutsch-jüdi-
schen Dialog. Allen Autorinnen und Autoren sei an
Antisemitismus zeigt sich in all seinen dieser Stelle herzlich gedankt. Ein be-
Spielarten in allen gesellschaftlichen Das vorliegende Heft dokumentiert die sonderer Dank geht an Sarah Klemm,
Milieus. Für die schulische und außer- Beiträge der Fachtagung „Antisemitis- die mit der notwendigen wissenschaftli-
schulische (politische) Bildung stellt sich mus heute. Vorurteile im alten und neu- chen Genauigkeit und mit großer Um-
die Frage, wie junge Menschen für anti- en Gewand – was tun?“. Die Fachta- sicht die Texte redigiert hat. Dank ge-
semitische Vorurteile sensibilisiert wer- gung wurde von mehreren Fachberei- bührt nicht zuletzt dem Schwabenver-
den können. Mehr noch: Wie ist in einer chen der Landeszentrale für politische lag und Ingrid Gerlach in der Druckvor-
multiethnischen Gesellschaft Bildungs- Bildung Baden-Württemberg (LpB) ge- stufe für die stets gute und effiziente
arbeit mit Jugendlichen machbar, die meinsam konzipiert und durchgeführt, Zusammenarbeit.
selbst diskriminiert werden oder mittel- um das Thema aus einer interdisziplinä-
bar vom Nahostkonflikt betroffen sind? ren Perspektive zu beleuchten. Beteiligt Siegfried Frech

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IDEOLOGIEFORMEN, DEFINITIONEN UND FALLBEISPIELE

Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden


als Juden
Armin Pfahl-Traughber

dient er mitunter zur Diskreditierung der rauf sich der Blick in der folgenden Erör-
Aktuelle Forschungen belegen ein ho- Kritik an der israelischen Politik im Na- terung ausführlicher richten wird. Bilan-
hes Ausmaß judenfeindlicher Ressen- hen Osten. Gleichzeitig nutzen Antise- zierend könnte man bezogen auf den
timents in der bundesdeutschen Be- miten dieses Themenfeld, wenn sie ihre Sammelbegriff auch sagen: Antisemitis-
völkerung. Trotz einer beständigen Judenfeindschaft im Gewand der Soli- mus ist Feindschaft gegen Juden als Ju-
Auseinandersetzung mit der national- darität mit den Palästinensern artikulie- den, also aufgrund der angeblichen
sozialistischen Vergangenheit und einer ren. oder tatsächlichen Zugehörigkeit der
weitgehenden Tabuisierung sind antise- Daher bedarf es einer klaren und trenn- gemeinten Menschen (vgl. Klug 2004:
mitische Einstellungen in der Mitte der scharfen Definition von „Antisemitis- 224).
Gesellschaft präsent. Außerdem lassen mus“, um die jeweiligen Auffassungen Doch handelt es sich hier um eine dafür
sich bei der negativen Kommentierung und Handlungen analytisch erfassen zu inhaltlich angemessene Bezeichnung?
von Israels Politik im Nahen Osten ge- können. Die vorliegende Abhandlung Eigentlich meint die Formulierung „Se-
legentlich antisemitische Ressentiments will dazu einen Beitrag leisten: Zu- miten“ eine Sprachfamilie (Akkadisch,
ausmachen. Will man antisemitische nächst geht es um eine Definition von Arabisch, Aramäisch, Kanaanäisch,
Auffassungen und Handlungen analy- „Antisemitismus“ als Sammelbezeich- Südarabisch-Abessinisch etc.). Insofern
tisch erfassen und ihnen angemessen nung für eine Feindschaft gegen Juden war und ist der Begriff für das konkret
begegnen, so bedarf es einer klaren als Juden und um die Erscheinungsfor- Gemeinte, die Feindschaft gegenüber
und trennscharfen Definition. Antisemi- men in Einstellungen und Praktiken in Juden, inhaltlich falsch oder zumindest
tismus ist – so Armin Pfahl-Traughber – der Gesellschaft. Dem folgen zunächst ungenau. „Antisemitismus“ kam Ende
eine Sammelbezeichnung für die Feind- allgemeine Aussagen zu den Ideologie- der 1870er Jahre als Selbstbezeich-
schaft gegen Juden als Juden. Diese formen des Antisemitismus in idealtypi- nung von einschlägig eingestellten
zunächst allgemein gehaltene Definiti- scher Sicht, wonach der religiöse, sozi- Gruppen und Publizisten auf, welche
on birgt verschiedene Spielarten des ale, politische, kulturelle, nationalisti- damit ihren Ressentiments gegenüber
Antisemitismus in sich, die jeweils abs- sche, rassistische, sekundäre sowie der den Juden aus propagandistischen
trakt und exemplarisch erläutert wer- antizionistische Antisemitismus jeweils Gründen einen wissenschaftlichen
den. Die präsentierte Typologie ist ein abstrakt definiert und exemplarisch er- Charakter geben wollten (vgl. Nipper-
idealtypisches Modell. In der gesell- läutert werden. Abschließend finden dey/Rürup 1975). Insofern sprechen ei-
schaftlichen Realität lassen sich nur we- sich Ausführungen zu der Überflüssig- gentlich gute Gründe für den Verzicht
nige judenfeindliche Diskurse ausma- keit der Rede vom „Neuen Antisemitis- auf den Begriff „Antisemitismus“.
chen, welche nur einer der definierten mus“, zur Notwendigkeit einer Ausdiffe-
Formen von Antisemitismus zugeordnet renzierung der Ideologieformen, zum
werden können. I Verhältnis der Ideologieformen zuein-
ander und zu den Funktionen des Anti-
semitismus.

Einleitung und Fragestellung


Definition von „Antisemitismus“
Antisemitismus ist nicht nur aus histori- als Sammelbezeichnung
schen Gründen von Bedeutung: For-
schungen zu Einstellungen in der Bevöl- „Antisemitismus soll (…) verstanden
kerung der Bundesrepublik belegen ein werden als Sammelbezeichnung für alle
relativ hohes Potenzial judenfeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen,
Ressentiments; kursierende Anspielun- die den als Juden geltenden Einzelper-
gen und Sprüche im Alltagsleben ste- sonen oder Gruppen aufgrund dieser Grabschändun-
hen für die Fortexistenz einschlägiger Zugehörigkeit (…) negative Eigenschaf- gen sind eine
Vorurteile; Skandale um Aussagen be- ten unterstellen, um damit eine Abwer- Form von gewalt-
kannter Personen des öffentlichen Le- tung, Benachteiligung, Verfolgung oder tätigem Antisemi-
bens machen einen latenten Antisemi- Vernichtung ideologisch zu rechtferti- tismus. Extremisti-
tismus deutlich; und für Beleidigungen gen“ (Pfahl-Traughber 2002: 9). „Sam- sche Gruppierun-
von Juden und Nicht-Juden mit stereo- melbezeichnung“ meint, dass mit dem gen demonstrie-
typen Schimpfworten gilt dies eben- Begriff unterschiedliche Einstellungen ren damit öffent-
falls. Bei den jeweiligen Akteuren han- und Handlungen analytisch erfasst lich Hass. Aber
delt es sich nicht nur um Extremisten, werden können und sollen. Es geht hier- auch in der Mitte
sondern auch um Normalbürger. Anti- bei keineswegs um eine einfache der Gesellschaft
semitismus ist demnach ein gesamtge- Gleichsetzung des damit jeweils inhalt- werden antisemiti-
sellschaftlich relevantes Thema (vgl. lich Gemeinten und um eine Ignoranz sche Klischees und
BMI 2011). Es lässt sich aber auch eine gegenüber den konkreten Folgen. Zur Ressentiments
politische Instrumentalisierung des An- Erfassung dieser Besonderheiten die- gepflegt.
tisemitismus-Vorwurfs ausmachen. So nen dann noch spezielle Kriterien, wo- picture alliance/dpa

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Gleichwohl findet die mittlerweile ein- in einer breiten und umfassenden Welt- ANTISEMITISMUS ALS FEINDSCHAFT
gebürgerte Bezeichnung als Terminus anschauung des Antisemitismus. GEGEN JUDEN ALS JUDEN
für „Judenfeindschaft“ weltweit Ver- Derartige Einstellungen können, müs-
wendung. Im Sinne der präsentierten sen aber keine Folgen in Form von
Definition können demnach auch Ange- Handlungen haben. Indessen führt be-
hörige der semitischen Sprachfamilie reits die Artikulation von Mentalitäten aber nicht in inhaltlich gleicher Art und
wie etwa Araber sehr wohl auch Antise- und Orientierungen etwa in Gestalt von Weise. Im Laufe der ideengeschichtli-
miten im Sinne von Judenfeinden sein. Anspielungen oder Witzen zur Absiche- chen Entwicklung der Judenfeindschaft
rung und Stärkung eines entsprechen- bildeten sich unterschiedliche Behaup-
den sozialen Klimas. Eine nächste Stufe tungen, Stereotype und Vorurteile her-
Erscheinungsformen von der öffentlich verbalisierten Aversion aus. Dabei nahmen sie mitunter Bezug
Antisemitismus in der Gesellschaft gegen Juden liefe auf die soziale Ab- auf spezifische Merkmale, welche den
wertung hinaus, stellt doch ein entspre- Juden aufgrund ihrer besonderen sozi-
Bezogen auf die Erscheinungsformen chendes Negativbild von den Angehö- alen Situation in der Gesellschaft eigen
des Antisemitismus in der Gesellschaft rigen einer bestimmten Menschengrup- waren. Hierzu gehörten etwa Aspekte
kann die Ebene der Einstellungen von pe eine notwendige Folge der verbali- wie die Schwerpunkte der Berufswahl,
der Ebene der Handlungen unterschie- sierten Diskriminierung dar. Sie kann das Selbstverständnis der Religion, der
den werden. Erstere meint die Auffas- sich auch in der direkten Forderung Status als Minderheit oder die Verbrei-
sungen und Bilder, die bei den Men- nach einer Benachteiligung von Juden tung in der Welt. Einzelne Beobachtun-
schen, hier den Antisemiten, über ande- äußern, so etwa wenn ihre Bürger- oder gen oder Eigenschaften nahmen über
re Menschen, hier die Juden, bestehen. Menschenrechte durch einschlägige eine Negativwertung und Pauschalisie-
Dabei lässt sich nach dem Grad von Parolen in Abrede gestellt werden. Ge- rung die Form von Hassbildern an. Inso-
Bewusstheit und Systematik differenzie- hen solche Auffassungen dann in kon- fern steht der Antisemitismus für eine
ren: Es gibt diffuse Aversionen, Ressenti- krete Handlungen über, hat man es mit ideologische Verzerrung sozialer Reali-
ments und Vorbehalte gegenüber den Formen des gewalttätigen Antisemitis- tät. Nur so lässt sich erklären, warum
Juden als Angehörigen einer sozialen mus zu tun. Sie können aus Angriffen auf die Judenfeindschaft in unterschiedli-
Gruppe, welche den gemeinten Indivi- Einrichtungen und Personen bestehen chen Gesellschaften zu verschiedenen
duen mitunter subjektiv selbst gar nicht und bis hin zur systematischen Vernich- Zeiten eine mehr oder minder starke
bewusst sein müssen und sich nur an- tung von Juden wie während der Shoah Breitenwirkung entfalten konnte.
lassbezogen artikulieren. Diese laten- reichen. Im Folgenden sollen die jahrhunderte-
ten Einstellungen unterscheiden sich lang kursierenden Auffassungen einzel-
von manifesten Einstellungen. Sie äu- nen Ideologieformen zugeordnet wer-
ßern sich auf Basis einer bewussten Ideologieformen des Antisemitismus den. Hierbei bilden jeweils die Aussa-
Grundauffassung des jeweiligen Indivi- in idealtypischer Sicht gen in den Feindbildern – in Gestalt der
duums vom privaten Gespräch bis hin gesellschaftlichen Bereiche oder inhalt-
zur öffentlichen Positionierung deutlich. Antisemitismus artikuliert sich zwar als lichen Ebenen – die Kriterien. Es handelt
Stehen einschlägige Aversionen und Feindschaft gegen Juden immer in Rich- sich somit um eine abstrakte und theore-
Feindbilder gegen Juden für eine entwi- tung der Angehörigen dieser sozialen tische Analyse, welche nach Gemein-
ckelte Ideologie, so verdichten sie sich Gruppe. Dies geschah und geschieht samkeiten in der Ausrichtung der Feind-
bilder gegen Juden fragt und daraus
verschiedene Typen zu deren Unter-
scheidung entwickelt. Damit soll ein Ins-
trument zur Erkenntnis der jeweiligen
Besonderheiten antisemitischer Aussa-
gen präsentiert werden. Das damit ein-
hergehende Konzept „Ideologiefor-
men“ behauptet aber nicht, dass sich
Judenfeindlichkeit nur in Gestalt von ei-
ner der jeweils genannten Typen artiku-
liert. Meist hat man es mit einer Mi-
schung verschiedener Stereotype und
Vorurteile zu tun. Hierbei erlaubt die
Analyse der Ideologieformen dann
auch, eine differenzierte Unterschei-
dung der primären und sekundären Be-
standteile in der konkreten Bekundung
vorzunehmen.

Ideologieform I:
Religiöser Antisemitismus

Als erste Ideologieform soll der religiöse


Antisemitismus behandelt werden. Hier-
bei bildet die Religion der Juden in In-
halten und Ritualen den jeweiligen Be-
zugspunkt. Der religiöse Antisemitismus
entwickelte sich aus der Absolutsetzung
der eigenen Auffassung von Religion,

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Armin Pfahl-Traughber
die wiederum mit der pauschalisieren- Verkauf von Waren diente, erschien ei- das Wirtschaftsleben“ veröffentlichte.
den Ablehnung und Diffamierung von ne jüdische Präsenz für diejenigen, die Darin heißt es über einschlägige Men-
allen anderen Glaubensformen verbun- es so sehen wollten, als bedeutsam talitäten: „Statten wir nun diesen nüch-
den ist. Hinzu kommt die besonders ne- oder als dominant. Ansätze zum sozia- tern abwägenden, genau rechnenden
gative Hervorhebung von Bestandtei- len Antisemitismus entstanden bereits Menschen noch mit einer starken Dosis
len jüdischer Religion, um eine solche im Mittelalter. Da nach dem kanoni- kombinatorischer Phantasie aus, mit
Diskriminierung von einer allgemeinen schen Zinsverbot den Christen die Zins- der, wie wir sahen, der Jude gut verse-
gegenüber allen anderen Religionsfor- nahme untersagt war und Juden viele hen ist, so steht der perfekte Börsenspe-
men zu unterscheiden. Ansätze zum reli- berufliche Bereiche verwehrt wurden, kulant fertig vor uns.“ Diese Prägung
giösen Antisemitismus finden sich be- wichen sie auf Geldverleih und Handel führte Werner Sombart auf die jüdische
reits im Neuen Testament, wo die Juden aus. In der Wahrnehmung der feindlich Religion zurück: Denn, „ (…) daß das
als „Söhne des Teufels“ bezeichnet und gesinnten Umwelt galten Juden als aus- Geldverleihen von den Juden zu einer
als Verfolger Jesu dargestellt werden. beuterische und unproduktive „Händ- Kunst ausgebildet worden war, daß sie
Insbesondere die Behauptung der ler“ und „Wucherer“. wahrscheinlich die Begründer (sicher
Schuld an dessen Tod in Gestalt des Der damit angesprochene soziale Anti- aber die Verwahrer) einer hochentwi-
Vorwurfs vom „Gottesmord“ sollte sich semitismus (vgl. u. a. Benz 2001; Raphael ckelten Leihtechnik während all der
fortan tief in die Glaubensauffassung 1999) nahm denn auch eine Gleichset- Jahrhunderte sind, das lehrt auf das
der Christen einpflanzen. Im Mittelalter zung von Börse, Finanzkapital und klarste ein Studium der Talmudtraktate,
kamen noch weitere Unterstellungen Geldgier mit dem Judentum vor. Exemp- die von diesen weltlichen Dingen han-
wie etwa die vom „Hostienfrevel“ oder larisch dafür steht hier der bedeutende deln“ (Sombart 1911: 332, 376f.).
„Ritualmord“ hinzu. Ökonom und Soziologe Werner Som-
Bezogen auf den religiösen Antisemitis- bart, der 1911 sein Buch „Die Juden und
mus (vgl. Czermak 1991; Graus 1987)
sollen hier einschlägige Aussagen am
Beispiel von Martin Luther veranschau-
licht werden. Der Reformator hatte zu-
nächst eine eher positive Einstellung zu
den Juden bekundet, hoffte er doch, sie
als Anhänger seiner besonderen Religi-
onsauffassung gewinnen zu können.
Nach dem Scheitern der Missionie-
rungsversuche erschien 1543 Luthers
Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“,
worin gewalttätige Maßnahmen zur
Einschränkung von deren Religionsfrei-
heit gefordert wurden: „Ich will meinen
treuen Rat geben: Erstlich, daß man ihre
Synagogen und Schulen mit Feuer an-
stecke, denn was wir bisher aus Unwis-
senheit geduldet (…) wird uns Gott ver-
zeihen. Zum andern, daß man ihre Häu-
ser desgleichen zerbreche und zerstöre
(…). Zum dritten, daß man ihnen nehme Religiöser Antise-
all Betbüchlein und Talmudisten. (…) mitismus äußert
Zum vierten, daß man ihren Rabbinern sich u. a. in Ritual-
bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu mordbeschuldi-
lehren (…). Zum fünften, daß man den gungen. Christen
Juden das Geleit und Straße ganz und warfen Juden vor,
gar aufhebe“ (zit. nach: Bienert 1982: männliche Kinder
148–150). christlichen Glau-
bens zu rauben,
zu quälen und
Ideologieform II: schließlich zu
Sozialer Antisemitismus ermorden. Das
Blut werde – so
Als zweite Ideologieform sei hier der so- der Aberglaube –
ziale Antisemitismus genannt. Er geht für religiöse und
über übliche Konflikte im Aufeinander- magische Zwecke
treffen verschiedener Gruppen hinaus, verwendet. Der
seien diese kulturell, politisch oder sozi- später kolorierte
al bedingt. Hier wird ein besonderer Kupferstich von
eingebildeter oder tatsächlicher sozia- Matthäus Merian
ler Status von Juden in der Gesellschaft d. Ä. aus dem Jahr
als Motiv des Antisemitismus genannt. 1475 zeigt den
Durch die eingeschränkte Berufswahl angeblichen Ritu-
drängte man in der Vergangenheit viele almord an dem
Juden von der beruflichen Sphäre der Knaben Simon in
Produktion in die des Handels. Da die- Trient.
ser als eine Schnittstelle für den An- und picture alliance/dpa

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Ideologieform III: Wirtschaftskrisen. Erste Ansätze zu ei- ANTISEMITISMUS ALS FEINDSCHAFT
Politischer Antisemitismus ner solchen Form des Antisemitismus bil- GEGEN JUDEN ALS JUDEN
deten bereits die Behauptungen von
Als dritte Ideologieform soll der politi- der „Brunnenvergiftung“ als Ergebnis
sche Antisemitismus thematisiert werden. konspirativen Agierens im Mittelalter.
Hier bestehen inhaltliche Gemeinsam- Später entwickelte sich diese Auffas- zernbegründers Henry Ford erschien.
keiten mit den bereits erwähnten Ver- sung in systematischer Form weiter in Darin heißt es: „Die Judenfrage berührt
weisen auf die soziale und wirtschaftli- der Behauptung einer „jüdischen Welt- nicht nur allgemein bekannte Dinge,
che Bedeutung von Juden. Danach gel- verschwörung“, die „hinter den Kulis- wie Finanz- und Handelsherrschaft, die
ten die als homogenes Kollektiv ge- sen“ wirke. Eroberung der politischen Macht, Mo-
dachten Angehörigen dieser religiösen Im Bereich des politischen Antisemitismus nopolisierung aller Lebensbedarfe und
Gruppe als einflussreiche soziale (vgl. u. a. Cohn 1969; Pfahl-Traughber willkürliche Beeinflussung des amerika-
Macht, die sich in politischer Absicht zu 1993) stellen die gefälschten „Protokol- nischen Pressewesens, sondern sie
gemeinsamem Handeln zusammen- le der Weisen von Zion“, die den Ein- dringt in das Gebiet des Kulturlebens
schlössen. Die erklärte Absicht dabei druck eines dokumentarischen Belegs ein und wird so zur Lebensfrage des
sei die Erlangung der Herrschaft in dem für eine jüdische Konspiration vermitteln Amerikanertums“ (Ford 1923 I: 7). In den
jeweiligen Land oder in der ganzen sollten, die in Bedeutung und Wirkung Juden sah Ford die alles beherrschende
Welt, die durch eine geheime Planung herausragendste Schrift dar. Auf ihr fußt Kraft, sie kontrollierten angeblich den
in Gestalt einer Verschwörung erreicht auch ein anderes Buch mit dem Titel Bolschewismus, das Film-, Finanz- und
werden sollte. Insofern stünden jüdi- „Der internationale Jude“, das 1920 Theaterwesen sowie die Weltpresse.
sche Kräfte auch hinter politischen Um- erstmals unter der Herausgeberschaft
brüchen wie Kriegen, Revolutionen oder des US-amerikanischen Automobilkon-
Ideologieform IV:
Kultureller Antisemitismus

Als vierte Ideologieform sei hier der kul-


turelle Antisemitismus genannt. Er steht
mit der politischen und sozialen Varian-
te in einem engen inhaltlichen Zusam-
menhang und bezieht sich auf die mit
der historischen Entwicklung in beiden
Bereichen verbundenen Wirkungen auf
kultureller Ebene. Sowohl die Folgen
der ökonomischen Durchdringung der
feudalen Gesellschaften durch kapita-
listische Wirtschaftsweisen als auch die
mit Demokratisierungsprozessen ein-
hergehenden Verunsicherungen lösten
bei bestimmten sozialen Gruppen Ori-
entierungslosigkeit sowie Unbehagen
aus. Zugleich machte man Juden auf
kultureller Ebene für die angeblich ver-
derblichen Entwicklungen verantwort-
lich. Irritierende Neuerungen in Archi-
tektur, Kunst, Literatur oder Musik sahen
Antisemiten als Folge des jüdischen Ein-
flusses, der mit der kulturellen Moderne
identifiziert und mit ihr abgelehnt wur-
de. Als heute noch bekanntes histori-
sches Beispiel dafür kann die NS-Pro-
paganda gegen moderne Kunst als an-
geblich dekadente und vermeintlich
„entartete Kunst“ gelten.
Für den kulturellen Antisemitismus (vgl.
u. a. Barron 1992; Zuschlag 1995) soll
hier aber der Komponist Richard Wag-
ner als historisch bedeutsames Beispiel
dienen. Er veröffentlichte 1850 den Auf-
satz „Das Judentum in der Musik“, worin
der behauptete künstlerische Verfall
der Musik auf den Einfluss der Juden zu-
rückgeführt wurde. Darin heißt es: „Wir
haben nicht erst nötig, die Verjüdung
der modernen Kunst zu bestätigen; sie
springt in die Augen (…). Dünkt uns aber
das Notwendigste die Emancipation
von dem Drucke des Judentumes, so
müssen wir es vor allem für wichtig er-
achten, unsere Kräfte zu diesem Befrei-

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Armin Pfahl-Traughber
ungskampfe zu prüfen. Diese Kräfte ge-
winnen wir aber nun nicht aus eine abs-
trakten Definition jener Erscheinung
selbst, sondern aus dem genauen Be-
kanntwerden mit der Natur, der uns in-
newohnenden unwillkürlichen Empfin-
dung, die sich uns als instinktmäßiger
Widerwille gegen das jüdische Wesen
äußert: an ihr, der unbesieglichen, muß
es uns (…) deutlich werden, was wir an
jenem Wesen hassen“ (zit. nach Fischer
2000: 146f.).

Ideologieform V:
Nationalistischer Antisemitismus

Als fünfte Ideologieform soll der natio-


nalistische Antisemitismus behandelt wer-
den. Er sieht in den Juden eine ethnisch,
kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen
Nation gehörende Minderheit, die als
Fremdkörper wahrgenommen und der
Illoyalität gegenüber der Nation be-
schuldigt wird. Zumindest theoretisch
konnte durch Assimilation und Religi-
onsübertritt die Diskriminierung über-
wunden und die Integration in die Ge-
sellschaft erreicht werden, was beim
anschließend noch gesondert darzu-
stellenden rassistischen Antisemitismus
nicht möglich war. Die damit einherge-
hende Besonderheit macht es auch
sinnvoll, von zwei ähnlichen, aber doch
unterschiedlichen Ideologieformen der
Judenfeindschaft zu sprechen. Der nati-
onalistische Antisemitismus hebt darü-
ber hinaus nicht allein auf die angebli-
chen ethnischen Unterschiede ab, er
betont auch behauptete kulturelle Ge-
gensätze oder mangelnde Loyalitäts-
gefühle gegenüber der jeweiligen Nati-
on. Durch eine solche Ausgrenzung
nimmt diese Form der Judenfeindschaft
auch eine fremdenfeindliche Dimension
an.
Für den nationalistischen Antisemitismus
(vgl. u. a. Erb/Bergmann 1989; Holz
2001) sei hier als historisches Beispiel
für den Kontext von Aversionen gegen
die Juden und Überhöhung der eigenen fremden Bestandteilen rein zu erhalten fang der 1870er Jahre die Völkische
Nation Ernst Moritz Arndt genannt. Der wünsche“ (Arndt 1814: 188f.). Gerade Bewe gung, wo biologistische Argumen-
Historiker und Theologe spielte ideen- im letzten Satz offenbart sich bereits ei- tationsmuster mit einer sozialdarwinisti-
geschichtlich eine bedeutende Rolle bei ne rassistische Dimension dieses Den- schen Ideologie verknüpft wurden: So
der Entstehung des deutschen Nationa- kens. bestehe das Gesetz der Geschichte in
lismus, kann er doch zusammen mit an- einem Kampf unterschiedlicher „Ras-
deren Denkern wie Johann Gottlieb sen“ – hier zwischen „Germanen“ und
Fichte oder Friedrich Ludwig Jahn als Ideologieform VI: „Juden“ – um die Vorherrschaft. An sol-
dessen früher theoretischer Begründer Rassistischer Antisemitismus che Einstellungen konnten die Natio-
gelten. In seiner Schrift „Blick aus der nalsozialisten seit Beginn der 1920er
Zeit auf die Zeit“ von 1814 heißt es: „Die Als sechste Ideologieform sei hier der Jahre anknüpfen.
Juden als Juden passen nicht in diese rassistische Antisemitismus genannt. Die So propagierte Hitler bereits in die-
Welt und in diese Staaten hinein, und Besonderheit dieser Form besteht darin, ser Phase, dass die Juden sich als
darum will ich nicht, daß sie auf eine un- dass sie alle Juden von Natur aus als parasitäre Elemente in den Völkern ein-
gebührliche Weise in Deutschland ver- negativ bewertet. Sie können dieser genistet hätten und aus ihnen aus-
mehrt werden. Ich will es aber auch des- Einschätzung weder durch die Abkehr geschieden werden müssten. Die spä-
wegen nicht, weil sie durchaus fremdes von ihrer Religion noch durch die Ände- tere Massenvernichtung war somit
Volk sind und weil ich den germani- rung ihres Verhaltens entgehen. Derar- bereits ideologisch in dieser Form der
schen Stamm so sehr als möglich von tige Auffassungen propagierte seit An- Judenfeindschaft als mögliche Konse-

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ANTISEMITISMUS ALS FEINDSCHAFT
GEGEN JUDEN ALS JUDEN

Auseinandersetzung über die Massen-


vernichtung der Juden während des
Zweiten Weltkriegs, sie diene nur der
Diffamierung der nationalen Identität
der Deutschen, der Gewährung fortge-
setzter Wiedergutmachungszahlungen
an Israel und der Legitimation von de-
ren Politik im Nahen Osten. Hier geht es
also um einen Form der Judenfeind-
schaft „nach Auschwitz“, die aufgrund
des inhaltlichen Kontextes mit der Sho-
ah auch als „Schuldabwehr“-Antisemi-
Die Besonderheit tismus bezeichnet wird. In diesem Zu-
des rassistischen sammenhang bemüht man auch traditi-
Antisemitismus onelle Argumentationsmuster des Anti-
besteht darin, semitismus wie etwa die Auffassung von
dass alle Juden der angeblichen jüdischen Fixierung
von Natur aus auf finanziellen Besitz oder politische
negativ bewertet Macht. Als besondere Variante des se-
werden. Dieser kundären Antisemitismus kann die Holo-
Einschätzung kön- caust-Leugnung gelten. Sie unterstellt,
nen sie weder dass die Massenvernichtung an den Ju-
durch die Abkehr den nicht stattgefunden habe, sondern
von ihrer Religion um der moralischen Demütigung der
noch durch die Deutschen willen erfunden worden sei.
Änderung ihres Die Ideologieform des sekundären Anti-
Verhaltens entge- semitismus (vgl. u. a. Bergmann 2006;
hen. Das Bild zeigt Stern 1991) findet man besonders stark
eine Illustration ausgeprägt im Rechtsextremismus, wo-
aus dem 1936 für hier die Nationaldemokratische Par-
erschienenen anti- tei Deutschlands (NPD) als Beispiel mit
semitischen Kin- besonders scharfen Formulierungen
derbuch „Trau kei- dienen kann. Ihr Amt für Öffentlichkeits-
nem Fuchs auf arbeit publizierte 2005 eine Broschüre,
grüner Heid/Und die mit dem Titel „Argumente für Kandi-
keinem Juden sei- daten & Funktionsträger. Eine Handrei-
nen Eid. Ein Bil- chung für die öffentliche Auseinander-
derbuch für Groß setzung“ den Mitgliedern in Diskussio-
und Klein von nen die aus Sicht der Partei richtigen
Elvira Bauer“ Positionen liefern sollte. Dort heißt es in
(Stürmer-Verlag, einer vorgeschlagenen Antwort auf die
Nürnberg). Frage „Ist die NPD eine ‚antisemitische’
picture alliance/dpa Partei?“: „Antisemitismus meint wohl die
Kritik an Juden? Selbstverständlich darf
man auch Juden kritisieren. Der von jü-
quenz des Handelns inhaltlich ange- greifen. (…) Das Judentum war immer discher Seite seit 60 Jahren betriebene
legt. ein Volk mit bestimmten rassischen Ei- Schuldkult und die ewige jüdische Op-
Da der rassistische Antisemitismus be- genarten und niemals eine Religion (…). fertümelei muss sich kein Deutscher ge-
kanntlich (vgl. 2004; Longerich 1998) im Denn ein rassereines Volk, das sich sei- fallen lassen. (…) Schließlich ist klar,
Nationalsozialismus seinen Höhepunkt nes Blutes bewusst ist, wird vom Juden dass die Holocaust-Industrie mit morali-
fand, soll seine inhaltliche Ausrichtung niemals unterjocht werden können. Er schen Vorwänden die Deutschen immer
hier anhand der Auffassungen von Hit- wird auf dieser Welt ewig nur der Herr nur wieder finanziell auspressen will“
lers Hauptwerk „Mein Kampf“ aufge- von Bastarden sein. So versuchte er (NPD 2005: 10).
zeigt werden. Dort findet man zwar planmäßig, das Rassenniveau durch ei-
noch andere Ideologieformen, domi- ne dauernde Vergiftung des Einzelnen
nierend ist aber der Rassismus gegen zu senken“ (Hitler 1944: 332, 335, 357). Ideologieform VIII:
die Juden. So heißt es in dem Kapitel Antizionistischer Antisemitismus
„Volk und Rasse“: „Den gewaltigsten
Gegensatz zum Arier bildet der Jude. Ideologieform VII: Als achte Ideologieform sei der antizio-
(…) Das Dasein treibt den Juden zur Lü- Sekundärer Antisemitismus nistische Antisemitismus genannt. Die Be-
ge, und zwar zur immerwährenden Lü- zeichnung „Zionismus“ steht seit dem
ge. (…) Er muß, um sein Dasein als Völ- Als siebte Ideologieform soll der sekun- 19. Jahrhundert als Sammelbezeich-
kerparasit führen zu können, zur Ver- däre Antisemitismus behandelt werden. nung für Bestrebungen unter Juden, ei-
leugnung seiner inneren Wesensart Hierbei unterstellt man der öffentlichen nen eigenen Nationalstaat zu gründen.

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Armin Pfahl-Traughber
Mit der Gründung des Staates Israel mit einem bestimmten Thema, zum an- kurs lassen sich judenfeindliche Auffas-
wurde dieses Ziel erreicht. Insofern be- deren mit den konkreten Trägern zu tun sungen als latente Botschaften so prob-
zieht sich aktuell die Formulierung „Anti- zu haben. Der erstgenannte Aspekt lemloser äußern. Es handelt sich hier
zionismus“ auf die Delegitimation von meint den Nahost-Konflikt, artikuliert aber weder für Deutschland noch für
Israel. Antizionistischer Antisemitismus sich doch der Antisemitismus der Ge- andere Länder um ein neues Phänomen.
zeigt sich also in der rigiden Ablehnung genwart mitunter im Kontext der Kritik Dies gilt auch für Antisemitismus unter
der Außen- und Innenpolitik des Staates an der israelischen Außenpolitik. Der Islamisten oder Muslimen, bestand eine
Israel, wobei der konstitutive Grund da- zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf Judenfeindschaft doch ebenso wie in
für in dessen jüdischer Prägung gese- die personellen Akteure, sind dies doch der Frühgeschichte des Christentums in
hen wird. Insofern lässt sich auch bei nicht mehr primär Rechtsextremisten. der Frühgeschichte des Islam (vgl. u. a.
besonders einseitiger oder scharfer Kri- Entweder sieht man in den Muslimen im Lewis 1987; Pfahl-Traughber 2011).
tik an Israel mittels dieses Gesichts- Allgemeinen oder den Islamisten im Be- Demnach kann die Rede vom „Neuen
punktes eine antisemitische von einer sonderen die neuen Träger der Juden- Antisemitismus“ als überflüssig gelten,
nicht-antisemitischen Motivation unter- feindschaft in Europa wie im Nahen Os- da sie inhaltlich diffus ist und nichts
scheiden. Im erstgenannten Fall geht es ten. wirklich Neues meint. Problemlos lassen
um die besondere pauschalisierende Beide Phänomene lassen sich durchaus sich die Phänomene mit der Ideologie-
Diffamierung des Staates Israel, die feststellen, gleichwohl macht dies nicht form „Antizionistischer Antisemitismus“
sich bei der Kommentierung aktueller die Rede von einem „Neuen Antisemitis- begrifflich erfassen.
politischer Geschehnisse traditioneller mus“ notwendig. Spätestens ab Beginn
antisemitischer Auffassungen und prin- der 1970er Jahre kann man auch für
zipiell judenfeindlicher Einstellungen Deutschland konstatieren, dass ein-
bedient. schlägige Ressentiments gegen Juden
Für die Ideologieform des antizionisti- häufig im Gewand des „Antizionismus“
schen Antisemitismus (vgl. u. a. Mertens auftreten. Angesichts der Dominanz des
1995; Pfahl-Traughber 2007a) dient hier Anti-Antisemitismus im öffentlichen Dis-
als Beispiel die islamistische Organisa-
tion „Hamas“, die ihren Kampf gegen
Israel politisch wie terroristisch führt. In
ihrer 1988 erstellten Charta heißt es zu-
nächst, dass „unser Kampf mit den Ju-
den (…) ein sehr großer und schwerer“
sei und „Gottes Banner auf jedem Fuß-
breit Palästinas zu hissen“ sei. Damit
wird indirekt die gewalttätige Auflö-
sung des Staates Israel gefordert. Au-
ßerdem beruft man sich auf eine angeb-
liche Äußerung Mohammeds, der ge-
sagt haben soll: „Die Stunde (…) wird
nicht kommen, bis die Muslime gegen
die Juden kämpfen. Die Muslime wer-
den sie töten, bis sich der Jude hinter
Stein und Baum verbirgt, und Stein und
Baum dann sagen: ‚Oh Muslim, oh Die-
ner Gottes! Da ist ein Jude hinter mir.
Komm und töte ihn’ (…)“ (Hamas 2006:
208, 210f.). Einige Seiten später spricht
die Hamas von einem angeblich ver-
schwörerischen Agieren der Juden und
beruft sich dabei ausdrücklich auf die
gefälschten „Protokolle der Weisen von
Zion“.
Militante Palästi-
nenser verbren-
Die Überflüssigkeit der Rede vom nen in Gaza die
„Neuen Antisemitismus“ Flagge des Staa-
tes Israel. Antizio-
In den letzten Jahren tauchte in der nistischer Antise-
Kommentierung von Auffassungen und mitismus zeigt sich
Ereignissen mit Bezug zum Nahost-Kon- in der rigiden
flikt immer wieder die Rede vom „Neuen Ablehnung der
Antisemitismus“ (vgl. z. B. Chesler 2004; Innen- und
Rabinovici u. a. 2004) auf. Meist man- Außenpolitik des
gelte es dabei aber an einer genauen Staates Israel,
Erläuterung bezüglich des gegenüber wobei der konsti-
dem „Alten“ mit dem „Neuen Antisemi- tutive Grund
tismus“ formal oder inhaltlich Gemein- dafür in dessen
ten. Betrachtet man die Literatur mit ei- jüdischer Prägung
ner solchen Begriffsverwendung, so gesehen wird.
scheint die neue Dimension zum einen picture alliance/dpa

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Die Notwendigkeit einer gen zu den Besonderheiten des rassisti- ANTISEMITISMUS ALS FEINDSCHAFT
starken Ausdifferenzierung schen Antisemitismus zeigt. Darüber hi- GEGEN JUDEN ALS JUDEN
der Ideologieformen naus kann, muss aber mit dieser Ideolo-
gieform nicht bei all ihren Anhängern
In der Fachliteratur findet man bezogen wie etwa in der Völkischen Bewegung
auf den Antisemitismus als Sammelbe- die Forderung nach einem Genozid an gen. Es handelte sich aber weder um
zeichnung auch anderslautende Auf- den Juden verbunden sein. eindeutig rassistisch noch eindeutig re-
fassungen. Ein engeres Verständnis be- Man findet in der Forschung darüber hi- ligiös begründete Feindbilder. Da es
grenzt den Terminus auf seine rassisti- naus auch Eingrenzungen des Antisemi- sich bei beiden Behauptungen aber um
sche Form und unterscheidet ihn damit tismus auf die genannten Formen, dann judenfeindliche Stereotype handelt,
von der als „Antijudaismus“ bezeichne- noch ergänzt um neuere Varianten. So bedarf es einer stärkeren Ausdifferen-
ten religiösen Variante. Hiermit sollen werden etwa ein „religiöser Antijudais- zierung der Ideologieformen. Um sie er-
die Besonderheiten der rassistischen mus, Rassenantisemitismus, sekundäre- fassen zu können, wurde daher auch
Begründung hervorgehoben werden rer Antisemitismus und Antizionismus“ oben für die Erweiterung um die politi-
(vgl. z. B. Heil 1997). Dafür sprechen (Benz 2004: 20) als vier Grundphäno- sche und soziale Variante plädiert.
zwar die historischen Folgen, mündete mene unterschieden. Ihnen können aber
diese Form des Antisemitismus doch in bedeutsame Bestandteile der juden-
der Massenvernichtung der Juden. Eine feindlichen Agitation wie die Rede vom Das Verhältnis der Ideologieformen
solche forderte der religiöse „Antijuda- „jüdischen Finanzkapital“ oder von der des Antisemitismus zueinander
ismus“ in der Tat nicht. Die historische „jüdischen Verschwörung“ nicht zuge-
Singularität der Shoah ignoriert eine ordnet werden. Zwar bedienten sich so- Die präsentierte Typologie von Ideolo-
entwickelte Typologie von Ideologie- wohl die religiös motivierten Antisemi- gieformen des Antisemitismus ist als ein
formen des Antisemitismus aber nicht ten des Mittelalters wie die rassistisch idealtypisches Modell anzusehen. Es
notwendigerweise – wie das oben aus- motivierten Antisemiten des National- lassen sich kaum judenfeindliche Dis-
formulierte Konzept mit den Ausführun- sozialismus einschlägiger Behauptun- kurse ausmachen, welche ausschließ-
lich einer der genannten Varianten zu-
geordnet werden können. In der Reali-
tät hat man es mit einer Kombination
mehrerer der genannten Ideologiefor-
men zu tun. Mitunter kommt es zu abson-
derlichen Kombinationen, wobei die in-
haltliche Widersprüchlichkeit für die
antisemitische Rezeption offenbar kein
Problem darstellt. Hauptsächlich geht
es darum, das gemeinte Feindbild zu
diffamieren. Die formale Stringenz der
Aussagen spielt dabei keine große Rol-
le. So findet zum Beispiel die aus dem
christlich geprägten religiösen Antise-
mitismus des Mittelalters stammende
„Ritual mord“-Legende in der gegen-
wärtigen islamistischen Propaganda
inhaltlich Verbreitung. Gleiches gilt für
die „Protokolle der Weisen von Zion“, ei-
ner antisemitischen Fälschung, die ur-
sprünglich der Diffamierung von Re-
formbestrebungen im zaristischen Russ-
land diente.
Auch die erwähnten „prominenten“ Bei-
spiele von Antisemiten nahmen jeweils
Kombinationen von Ideologieformen
vor: So findet man bei Luther nicht nur
eine religiös begründete Judenfeind-
schaft. Er verknüpfte seine einschlägi-
gen Behauptungen mit Inhalten aus
dem sozialen Antisemitismus wie dem
„Wucherer“-Vorwurf. Die genaue Lektü-
re des oben stehenden Zitates von Som-
bart macht deutlich, dass er ebenfalls
mit der Kombination von „Judentum“
und „Schachergeist“ seinen Antisemitis-
mus artikulierte. Gleichzeitig sah er die
Grundlage für diese angebliche Geis-
teshaltung in der jüdischen Religion.
Demgegenüber distanzierte sich Hitler
zugunsten des rassistischen vom religi-
ösen Antisemitismus. Dies hinderte ihn
aber nicht daran, auch aus diesem Agi-
tationsarsenal zu schöpfen. Gleichwohl

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Armin Pfahl-Traughber
Juden für alle Krisen und Umbrüche ver-
antwortlich gemacht.
Während diese beiden Funktionen die
Akzeptanz des Antisemitismus primär
bei den Anhängern der Judenfeind-
schaft erklärt, spielen für die Protago-
nisten zwei andere Funktionen eine be-
deutende Rolle. Damit gemeint sind die-
jenigen Personen, die mit ihrer Agitation
gegen die Angehörigen der sozialen
Gruppe als politische Akteure in die
Gesellschaft hinein wirken. Drittens
kann insbesondere für sie die Legitimati-
onsfunktion des Antisemitismus genannt
werden, wobei der Hinweis auf das an-
gebliche Wirken der Juden zur Mobili-
sierung wie Rechtfertigung durch die
jeweiligen Propagandisten dient. Damit
einher geht viertens die Manipulations-
funktion, die durch Ablenkung von den
tatsächlichen gesellschaftlichen und
politischen Gegebenheiten die Schul-
digen und Verantwortlichen in den Ju-
den sehen. Und fünftens hat der Antise-
mitismus für Anhänger wie Protagonis-
ten noch die Vorteilsfunktion, wofür die
persönliche Bereicherung nach Enteig-
nungen von Juden oder die berufliche
Karriere nach der Entlassung von Juden
wie im „Dritten Reich“ stehen.

Zusammenfassung

Die vorstehenden Ausführungen erläu-


terten die Ideologieformen des Antise-
mitismus meist an eindeutigen und his-
torischen Beispielen. Bis in die Gegen-
wart hinein lassen sich gleichwohl im-
mer wieder einschlägige Einstellungen
ausmachen, wobei angesichts der öf-
fentlichen Sensibilität des Themas meist
Titelblatt der Nazi-Postille „Der Stürmer“ von 1938. Die Ermordung des Botschaftsrats mit Anspielungen und Reizworten gear-
Ernst vom Rath durch den polnischen Juden Herschel Grünspan war für die National- beitet wird: So findet man Kommentare
sozialisten ein willkommener Anlass für die von langer Hand vorbereitete Reichspog- in den Medien, welche die Machtpolitik
romnacht. So absurd der Antisemitismus auch ist, er schafft dennoch eine Identifikati- der israelischen Regierung gegenüber
onsfunktion: erfährt man doch durch die Abgrenzung von den Juden als „Arier“ eine den Palästinensern auf den „Rache-
eigene Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Abwertung der Anderen. picture alliance/dpa geist“ der jüdischen Religion zurückfüh-
ren. Autoren von Büchern in als seriös
geltenden Verlagen behaupten, die An-
bedarf es der eben vorgenommenen hingewiesen werden (vgl. Pfahl-Traugh- schläge vom 11. September 2001 seien
Differenzierung von Ideologieformen ber 2002: 155–159). Es geht dabei um durch das konspirative Agieren des is-
des Antisemitismus, können doch nur so folgende Einsicht: Die Behauptungen raelischen Geheimdienstes Mossad er-
Kontinuitäten und Brüche in der Ent- über die Eigenschaften und Taten der klärbar. Und wiederum andere Stel-
wicklung der Judenfeindschaft analy- Objekte von Vorurteilen mögen noch so lungnahmen verweisen darauf, dass bei
tisch genauer erfasst und zugeordnet absurd und wirklichkeitsfremd sein, sie der Finanz- und Wirtschaftskrise das
werden. finden gleichwohl ihre Akzeptanz auf- Wirken von US-amerikanischen Banken
grund des Nutzens für Anhänger und mit jüdisch klingenden Namen eine be-
Protagonisten des Antisemitismus. Hier- deutende Rolle gespielt habe. Hier arti-
Funktionen des Antisemitismus für zu gehört erstens die Identitätsfunktion, kulieren sich jeweils religiöser, politi-
Anhänger und Protagonisten erfährt man doch durch die negative scher und sozialer Antisemitismus mit
Abgrenzung von den Juden als „Arier“, aktuellen Bezügen.
Für die Deutung des Antisemitismus als „Christ“ oder „Deutscher“ eine eigene Kennt man die historische Entwicklung
gesellschaftlichem Phänomen lassen Zugehörigkeit, verbunden mit einer Auf- der Judenfeindschaft, so lassen sich
sich unterschiedliche Ansätze und Mo- wertung durch die Abwertung der An- einschlägige Behauptungen den ge-
delle benennen. Hier soll auf die funkti- deren. Zweitens dient die Erkenntnisfunk- nannten Ideologieformen zuordnen.
onale Komponente, die als bedeutsa- tion zur scheinbaren Erklärung der Ent- Die erwähnten Beispiele stehen für eine
mer Gesichtspunkt zur Erklärung der wicklung in Gesellschaft und Politik, Fortexistenz des Antisemitismus, der
Akzeptanz der Judenfeindschaft dient, wird doch das angebliche Agieren der laut den Ergebnissen der empirischen

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Bienert, Walther (1982): Martin Luther und die
Sozialforschung in latenter wie mani- ANTISEMITISMUS ALS FEINDSCHAFT
Juden, ein Quellenbuch mit zeitgenössischen
fester Form bei gut 20 Prozent der Bevöl- Illustrationen, mit Einführungen und Erläuterun- GEGEN JUDEN ALS JUDEN
kerung auszumachen ist. Bei Menschen gen. Frankfurt am Main.
mit arabischem Migrationshintergrund Bundesministerium des Innern (BMI) (Hrsg.)
scheinen solche Einstellungen nach den (2011): Antisemitismus in Deutschland. Erschei-
nungsformen, Bedingungen, Präventionsansät- von/Ziege, Eva-Maria (Hrsg.): Das ‘bewegliche
dazu vorliegenden wenigen Studien so- ze. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Vorurteil’. Aspekte des internationalen Antisemi-
gar noch höher ausgeprägt zu sein. An Antisemitismus. Berlin. tismus. Würzburg, S. 221–239.
breiter angelegten Umfragen in diesem Chesler, Phyllis (2004): Der neue Antisemitismus. Lewis, Bernard (1987): „Treibt sie ins Meer“. Die
Die globale Krise seit dem 11. September. Ham- Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt am
Bereich mangelt es indessen noch. Die Main, Berlin.
burg, Berlin.
präsentierte Definition und Typologie Longerich, Peter (1998): Politik der Vernichtung.
Cohn, Norman (1969): Die Protokolle der Wei-
erlaubt auch gegenüber diesen Auffas- sen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialisti-
sungen die Identifizierung von antisemi- Weltverschwörung. Köln, Berlin. schen Judenverfolgung. München.
Mertens, Lothar (1995): Antizionismus: Feind-
tischen Vorurteilen. Gleichzeitig gestat- Czermak, Gerhard (1991): Christen gegen Ju-
den. Geschichte einer Verfolgung. Von der An- schaft gegen Israel als neue Form des Antisemi-
tet die Definition von Antisemitismus als tismus. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Antisemitis-
tike bis zum Holocaust, von 1945 bis heute.
Feindschaft gegen Juden als Juden Frankfurt am Main. mus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorur-
auch eine Unterscheidung von antisemi- Erb, Rainer/Bergmann, Werner (1989): Die teils. München, S. 89–100.
tischer und nicht-antisemitischer Israel- Nachtseite der Judenemanzipation. Der Wi- Nationaldemokratische Partei Deutschlands
derstand gegen die Integration der Juden in (NPD) (Hrsg.) (2005): Argumente für Kandidaten
kritik. Gelegentlich lässt sich doch eine & Funktionsträger. Berlin.
Deutschland 1780–1860. Berlin
Instrumentalisierung von Behauptun- Nipperdey, Thomas/Rürup, Reinhard (1975): An-
Ford, Henry (1923): Der internationale Jude.
gen im erstgenannten Sinne feststellen: Studien zu einem Weltproblem (zwei Bände). tisemitismus – Entstehung, Funktion und Ge-
Hierbei diffamiert man mitunter Einwän- 17. Auflage, Leipzig. schichte eines Begriffs. In: Rürup, Reinhard: Stu-
dien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesell-
de gegen die israelische Palästinenser- Freddy, Raphael (1995): Sechstes Bild: „Der Wu-
cherer“. In: Schoeps, Julius H./Schlör, Joachim schaft. Göttingen, S. 95–114.
und Siedlungspolitik als antisemitisch Pfahl-Traughber, Armin (1993): Der antisemi-
(Hrsg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen.
motiviert. So etwas kann durchaus der München, S. 103–118. tisch-antifreimaurerische Verschwörungsmy-
Fall sein, wie einschlägige Positionen in Geulen, Christian (2004): Wahlverwandte. thos in der Weimarer Republik und im NS-Staat.
der islamistischen oder rechtsextremis- Rassendiskurs und Nationalismus im späten Wien.
19. Jahrhundert. Hamburg. Pfahl-Traughber, Armin (2002): Antisemitismus in
tischen Publizistik deutlich machen. der deutschen Geschichte. Berlin
Graus, Frantisek (1987): Pest – Geissler – Juden-
Gleichwohl besteht ein grundlegender Pfahl-Traughber, Armin (2007): Ideologische Er-
morde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göt-
Unterschied zwischen einer antisemiti- tingen. scheinungsformen des Antisemitismus. In: Aus
schen Grundhaltung und einer men- Hamas (2006): Charta der islamischen Wider- Politik und Zeitgeschichte, Nr. 31/2007, S. 4–11.
Pfahl-Traughber, Armin (2007a): Antisemitische
schenrechtlichen Position. Kommt es standsbewegung Hamas. In: Baumgarten, Hel-
ga: Hamas. Der politische Islam in Palästina. und nicht-antisemitische Israel-Kritik. Eine Aus-
demgegenüber zu einer inflationären einadersetzung mit den Kriterien zur Unterschei-
München, S. 207–226.
Nutzung des Antisemitismusbegriffs Heil, Johannes (1997): „Antijudaimus“ und „An- dung. In: Aufklärung und Kritik, Nr. 1/2007,
auch für nur kritisch gemeinte Einwände tisemitismus“ – Begriffe als Bedeutungsträger. S. 49–58.
gegen die israelische Politik, so hätte In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch für Antise- Pfahl-Traughber, Armin (2011): Antisemitismus im
mitismusforschung 6. Frankfurt am Main, S. 92– Islamismus. Ideengeschichtliche Bedingungs-
dies bezogen auf die Erkenntnisse über faktoren und agitatorische Erscheinungsformen.
114.
und das Wirken gegen den Antisemitis- In: Fünfsinn, Helmut/Pfahl-Traughber, Armin
Hitler, Adolf (1944): Mein Kampf. 937.–941. Auf-
mus fatale Folgen: Wenn allgemein alle lage, München. (Hrsg.): Extremismus und Terrorismus als Heraus-
nur möglichen Einwände als juden- Klug, Brian (2004): The Collective Jew: Israel forderung für Gesellschaft und Justiz. Antisemi-
tismus im Extremismus. Brühl, S. 112–134.
feindlich gelten sollen, dann lassen sich and the new Antisemitism. In: Braun, Christina
Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Na-
tatsächliche judenfeindliche Vorurteile tan (Hrsg.) (2004): Neuer Antisemitismus? Eine
nicht mehr so einfach erkennen. Objek- globale Debatte. Frankfurt am Main.
tiv kommt es dadurch zu deren Aufwer- Sombart, Werner (1911): Die Juden und das
UNSER AUTOR

tung im öffentlichen Diskurs, relativiert Wirtschaftsleben. Leipzig.


Stern, Frank (1991): Im Anfang war Auschwitz.
sich so doch scheinbar deren bedrohli- Antisemitismus und Philosemitismus im deut-
che Dimension. Eine differenzierte und schen Nachkrieg. Gerlingen.
trennscharfe Definition und Typologie Zuschlag, Christoph (1995): „Entartete Kunst“.
kann hier zur Versachlichung beitragen. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland.
Worms.

LITERATUR
Arndt, Ernst Moritz (1814): Blick aus der Zeit auf
die Zeit. Frankfurt am Main.
Barron, Stephanie (Hrsg.) (1992): „Entartete
Kunst“: Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-
Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber ist
Deutschland. München. hauptamtlich Lehrender an der Fach-
Benz, Wolfgang (2001): Das Bild vom mächti- hochschule des Bundes für öffentliche
gen und reichen Juden. In: Benz, Wolfgang: Verwaltung in Brühl, Dozent an der
Bilder von Juden. Studien zum alltäglichen Anti- Schule für Verfassungsschutz in Hei-
semitismus. München, S. 13–26.
Benz, Wolfgang (2004): Feindschaft gegen Ju- mersheim und Lehrbeauftragter an der
den. Annäherung an ein schwieriges Thema. In: Universität Bonn. Armin Pfahl-Traugh-
Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus? Mün- ber hat als Mitglied einer zehnköpfigen
chen, S. 9–26. Expertenkommission an dem Bericht
Bergmann, Wolfgang (2006): „Nicht immer als
Tätervolk dastehen“. Zum Phänomen des
„Antisemitismus in Deutschland – Er-
Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. scheinungsformen, Bedingungen, Prä-
In: Ansorge, Dirk (Hrsg.): Antisemitismus in Euro- ventionsansätze“ mitgewirkt, der im
pa und in der arabischen Welt. Paderborn, Auftrag des Deutschen Bundestags
Frankfurt am Main, S. 81–106. entstand und 2012 veröffentlicht wur-
de.

261

BiS2013_04_umbr.indd 261 19.11.13 13:07


ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN

Antisemitismus bei Jugendlichen


in Deutschland
Formen, Ausmaße, Ausprägungen und Begünstigungsfaktoren
Kurt Möller

sellschaftlich, politisch und auch päda- kenntnisse zu Verbreitung, Ausmaßen


Antisemitismus ist keine Problematik gogisch. und Ausprägungen in unterschiedlichen
von gestern. Kurt Möller definiert ein- Verschaffen wir uns also einen Über- gesellschaftlichen Gruppierungen zu-
gangs verschiedene Formen von Antise- blick über die einschlägigen Phänome- sammenstellen. Ein dritter Schritt kann
mitismus. Diese präzise Beschreibung ne und ihre Hintergründe! Im Bemühen sodann der Frage gelten, welche Ur-
ermöglicht in Abgrenzung zu alltags- darum, diesen Überblick zu erzielen, sachen und Begünstigungsfaktoren hin-
sprachlichen Konnotationen eine diffe- sollten wir uns in einem ersten Schritt ter den verschiedenen antisemitischen
renzierte Erfassung antisemitischer Ein- die Erscheinungsweisen des Antisemi- Phänomenen stehen. Mit einem vierten
stellungen. Auf Grundlage dieser tismus etwas genauer ansehen, um so Schritt ist abschließend ein Fazit zu zie-
Definition werden Verbreitung, Aus- den Gegenstand der Analyse exakter hen und zumindest auf Grundlinien pä-
maße und Ausprägungen in verschiede- und differenzierter erfassen zu können, dagogischer Konsequenzen zu verwei-
nen gesellschaftlichen Gruppierungen als dies alltagssprachlich möglich wä- sen.
skizziert. Obwohl Jugendliche im Ver- re. In einem zweiten Schritt lassen sich
gleich zur bundesdeutschen Gesamtbe- dann auf dieser Basis einige zentrale Er-
völkerung deutlich besser abschneiden,
sind auch bei Jugendlichen antisemiti-
sche Einstellungen auszumachen. In ei-
nem dritten Schritt richtet sich das
Augen merk auf Ursachen und begünsti-
gende Faktoren, die hinter diesem „all-
täglichen Antisemitismus“ bei Jugendli-
chen stehen. Die Kenntnis dieser
Ursachen und Begünstigungsfaktoren
erlaubt die Formulierung pädagogi-
scher Grundlinien, an denen sich ein
angemessener pädagogischer Umgang
mit der Problematik zu orientieren ver-
mag 1. I

Antisemitismus ist keine Problematik


von gestern

Wer die gegenwärtige rechtsextreme


Szene kennt, der weiß: Antisemitismus
ist keine Problematik von gestern und
vorgestern. Mehr noch: Wer auf den
Fußballplatz geht und manche der dort
skandierten Parolen registriert, wer die
gängige Verwendung von Schimpfwör-
tern unter Jugendlichen mithört, wer ei-
ne Weile dem Witze-Diskurs im priva- Ein Hakenkreuz
ten oder öffentlichen Umfeld lauscht und ein durchge-
und wer die Art und Weise verfolgt, wie strichener David-
über die nahöstlichen Konfliktherde stern an einer
rund um Israel diskutiert wird, der er- Gedenkstätte am
kennt: Judenfeindlichkeit ist in Europa – Nordbahnhof in
und speziell auch in Deutschland – nicht Berlin. Rund 90
nur am äußersten rechten Rand des po- Prozent aller anti-
litischen Spektrums verbreitet. Auch fast semitischen Straf-
70 Jahre nach dem Ende des National- und Gewalttaten
sozialismus gibt es mithin hierzulande sind der rechtsext-
genügend Veranlassung, sich weiterhin remen Szene
mit ihr zu beschäftigen – analytisch, ge- zuzuordnen.
picture alliance/dpa

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Antisemitismus – Formen und Verantwortung für die NS-Politik und ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
ihre Definition den Vorwurf an jüdische Menschen, IN DEUTSCHLAND
den Opferstatus aus dem „Dritten
Im Anschluss an die Forschungsgruppe Reich“ zum eigenen individuellen und
um Wilhelm Heitmeyer (vgl. vor allem kollektiven Vorteil auszunutzen.
Heitmeyer 2002–2012 und Mansel/ l Antisemitische Separation: Im Mittel- Verantwortlichmachen von jüdischen
Spaiser 2010) lassen sich idealtypisch punkt steht hier die Unterstellung ei- Menschen für die Politik Israels und
folgende Formen von Antisemitismus un- ner stärkeren Loyalität zu Israel als zu die Begründung der Antipathie ge-
terscheiden 2 : dem Land, in dem Juden und Jüdin- genüber Juden und Jüdinnen mit der
l Klassischer Antisemitismus: Klassi- nen jeweils leben. Kritik an der israelischen Politik zu
scher Antisemitismus ist die offene l NS-vergleichende Israelkritik: Hier- verstehen.
Abwertung und Diskriminierung der bei handelt es sich um die Gleichset-
Juden als Juden und Jüdinnen. Wie zung des staatlichen Handelns Isra-
zum Teil auch andere Formen erfolgt els und der Haltungen jüdischer Antisemitismus – Verbreitung,
die Abwertung auf der Basis einer Menschen mit der nationalsozialisti- Ausmaße und Ausprägungen in
ethnisch-kulturellen Differenzkonst- schen Ausgrenzungs- und Vernich- gesellschaftlichen Gruppierungen
ruktion, negativer und tradierter Ste- tungspolitik im Sinne einer Täter-Op-
reotype, Klischees, Vorurteile, Res- fer-Umkehr. Relevante Hinweise auf die quantitative
sentiments, Aversionen (z. B. Juden l Religiös legitimierter Antisemitismus: gesellschaftliche Bedeutung des Anti-
streben die Weltherrschaft an. Juden Er meint die Ableitung einer Funktion semitismus geben einerseits Daten zur
sind an ihrer Verfolgung selbst der Juden als Unheilsbringer aus den Entwicklung antisemitischer Straf- und
schuld) sowie rassistischer, religiöser religiösen Schriften verschiedener Gewaltdaten und andererseits Befunde
(zum Beispiel christlich-antijudaisti- anderer Religionsgemeinschaften. der Einstellungsforschung (vgl. zum Fol-
scher), politischer, sozialer oder l Israelbezogener Antisemitismus: Im genden detaillierter Heitmeyer 2002–
sonstiger Motive. Gegensatz zu einer die herrschende 2012; Zick/Küpper 2011; zusammenfas-
l Sekundärer Antisemitismus: Diese israelische Politik kritisierenden Posi- send: Bundesministerium des Inneren
Form bezieht sich auf die Abwehr von tionierung ist darunter ein kollektives 2011).
Bezüglich der Straf- und Gewalttaten
lässt sich für die letzten zehn Jahre auf
Basis der Statistiken des Bundeskrimi-
nalamts zum einen ein Auf und Ab der
Höhe der Zahlen festhalten – bei den
Straftaten insgesamt zwischen 1.809
Taten im Jahr 2006 und 1.268 im Jahr
2010, bei den Gewalttaten zwischen 28
in 2001 und 64 im Jahr 2007 (2010: 37
Taten). Zum anderen ist zu registrieren,
dass rund 90 Prozent aller Taten der
rechtsextremen Szene zuzuordnen sind.
Hinsichtlich antisemitischer Einstellun-
gen bzw. Mentalitäten in der Gesamt-
bevölkerung ab 16 Jahren sind Befunde
zu registrieren, die je nach Dimension
des Antisemitismus unterschiedliche Po-
tenziale erkennen lassen: Gegenwärtig
glauben zum Beispiel 13 Prozent, Juden
hätten in Deutschland zu viel Einfluss.
Zehn Prozent halten Juden für mitschul-
dig an ihren Verfolgungen (Items zum
Klassischen Antisemitismus). Aber 38,4
Prozent (2010) meinen: „Bei der Politik,
die Israel macht, kann ich gut verstehen,
dass man etwas gegen die Juden hat“
(Israelbezogener Antisemitismus). Und
39,5 Prozent sind sogar der Ansicht, vie-
le Juden versuchten, aus der Vergan-
genheit des „Dritten Reiches“ heute ih-
ren Vorteil zu ziehen (Sekundärer Anti-
semitismus) (vgl. Heitmeyer 2012: 38;
Bundesministerium 2011: 55).
Im innereuropäischen Vergleich liegt
Deutschland mit diesen Werten – grob
betrachtet – im Mittelfeld, weist aber
dennoch in zahlreichen antisemitischen
Einstellungsdimensionen im Vergleich
mit Ländern wie Großbritannien, Frank-
reich, Italien und den Niederlanden hö-
here Prozentzahlen auf (vgl. genauer
Zick/Küpper 2011). Länder wie Portu-

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BiS2013_04_umbr.indd 263 19.11.13 13:08


Kurt Möller
Tabelle 1: Häufigkeitsverteilungen (in Prozent) der Antisemitismusfacetten bei Jugendlichen in den unterschiedlichen
Gruppierungen (jeweils höchste oder niedrigste Antwortkategorie)
Deut. ehem. Pol. Türk. Arab. Kurd. Süd- musl. sonst.
SU europ. Migr. Migr.
„Stimme Juden haben in der Welt zu viel
3,0 2,6 9,9 24,9 40,4 26,9 4,3 25,5 6,6
Klassischer völlig zu“ Einfluss.
Antisemitis- Durch ihr Verhalten sind die
mus „Stimme
Juden an ihrer Verfolgung mit- 1,8 6,3 5,6 17,1 36,8 16,0 3,4 18,8 4,4
völlig zu“
schuldig.

Religiös „Stimme In meiner Religion wird davor


2,8 2,7 7,1 15,2 18,2 20,8 3,4 21,2 5,3
legitimierter völlig zu“ gewarnt, Juden zu vertrauen.
Antisemitis- „Stimme In meiner Religion sind es Juden,
mus 2,5 2,7 8,7 15,9 25,7 16,7 3,4 20,1 2,9
völlig zu“ die die Welt ins Unheil treiben.
Ich bin es leid, immer von den
„Stimme
Verbrechen an den Juden zu 20,2 18,6 33,8 14,7 26,0 20,8 14,8 21,9 16,8
Sekundärer völlig zu“
hören.
Antisemitis-
mus Viele Juden versuchen, aus der
„Stimme
Vergangenheit heute Vorteile zu 6,6 10,9 7,0 24,9 40,7 24,0 12,0 26,8 9,8
völlig zu“
ziehen.
Die Juden hier interessieren sich
„Stimme
mehr für israelische, als für deut- 5,7 12,4 4,5 21,6 31,3 47,8 11,4 21,7 8,0
völlig zu“
Antisemiti- sche Angelegenheiten.
sche Separa- Die Juden in aller Welt fühlen
tion „Stimme sich stärker zu Israel hingezogen
5,4 11,0 3,1 24,4 38,8 33,3 12,2 24,2 9,3
völlig zu“ als zu dem Land, in dem sie
leben.
Was der Staat Israel mit den
NS-ver- „Stimme Palästinensern macht, ist nichts
9,2 10,1 10,8 33,7 47,2 44,0 19,3 35,6 9,0
gleichender völlig zu“ anderes als das, was die Nazis
Antisemitis- mit den Juden gemacht haben.
mus „Stimme Israel führt einen Vernichtungs-
5,8 5,6 8,6 30,7 51,4 48,0 8,9 32,8 9,0
völlig zu“ krieg gegen die Palästinenser.
Israelbe- Durch die israelische Politik wer-
„Stimme
zogener Anti- den mir die Juden immer unsym- 3,6 3,7 5,7 32,0 47,7 36,0 6,1 29,6 6,3
völlig zu“
semitismus pathischer.
„Stimme Es ist ungerecht, dass Israel den
14,1 10,6 11,4 51,3 69,7 51,9 22,8 57,7 17,5
völlig zu“ Palästinensern Land wegnimmt.
Israelkritik Ich werde wütend, wenn ich
„Stimme
daran denke, wie Israel die 6,4 8,0 7,5 46,9 64,5 46,2 12,1 44,1 10,2
völlig zu“
Palästinenser behandelt.
Ich finde es in Ordnung, dass die
„Stimme Palästinenser in ihrem Kampf
3,5 5,6 7,3 23,2 51,4 26,7 5,6 26,4 3,8
völlig zu“ gegen Israel auch zu Gewalt
Sympathie für greifen.
Palästinenser Die Märtyrer, die sich im Kampf
„Stimme gegen Israel in die Luft gesprengt
1,0 1,7 2,6 8,6 28,7 14,8 4,1 9,9 3,8
völlig zu“ haben, verdienen viel Anerken-
nung.
Israel hat das Recht, sich gegen
„Stimme
die palästinensische Gewalt zu 16,8 25,4 19,5 9,0 6,4 11,5 16,1 15,2 15,3
Sympathie für völlig zu“ wehren.
Israel
„Stimme Die Palästinenser versuchen, den
7,1 15,8 9,6 10,8 15,9 3,8 8,6 13,2 8,9
völlig zu“ Staat Israel zu zerstören.

Abkürzungen: Deut. = Deutsch; ehem. SU = ehemalige Sowjetunion; Pol. = Polen; Türk. = Türken; Arab. = Araber;
Kurd. = Kurden; Südeurop. = Südeuropäer; musl. Migr. = muslimische Migranten; sonst. Migr. = sonstige Migranten.
Quelle: Mansel/Spaiser 2010, Tabellenanhang, S. 6 u. 7.

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gal, Polen und Ungarn sind dagegen auch im Internet, in politischen Grup- ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
meist noch stärker belastet. pierungen sowie in der Moschee; IN DEUTSCHLAND
Im Vergleich zur deutschen Gesamtbe- dabei scheinen Verschwörungstheo-
völkerung schneiden deutsche Jugend- rien hoch im Kurs zu stehen.
liche deutlich besser ab. Allerdings sind l Bei ihnen scheint in besonderem Ma-
in Deutschland lebende Jugendliche ße auch religiöser Fundamentalismus den Palästina-Konflikt eindeutig po-
aus Familien mit Migrationsgeschichte Antisemitismus zu grundieren. sitionieren, einflussreich sein.
im Durchschnitt deutlich stärker antise- l Bei ihnen fällt die Rezeption von l Bei diesen Jugendlichen ist die Sym-
mitisch eingestellt. Verstärkt gilt dies für Webseiten und TV-Nachrichten aus pathie mit Palästinensern und die Kri-
junge Menschen aus muslimischen, vor dem Herkunftsland der Familie ver- tik an ihrer Behandlung durch den is-
allem aber aus arabischen Sozialisati- gleichsweise hoch aus, und dabei raelischen Staat erheblich höher als
onskontexten (vgl. Tabelle 1). Dabei lie- dürften Medien, die sich in Bezug auf bei anderen untersuchten Gruppie-
gen empirisch registrierbare Zusam- rungen von Jugendlichen.
menhänge solcher Haltungen mit ras-
sistischen Auffassungen und anderen
Facetten gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit vor (vgl. dazu näher:
Heitmeyer 2002–2012).
Ganz offensichtlich spielt gerade für
den Antisemitismus Arabischstämmiger
und – abgeschwächt – auch von Musli-
men überhaupt der Israel-Palästina-
Konflikt eine entscheidende Rolle (vgl.
Tabelle 1). In diesem Kontext wirken sich
verschwörungstheoretische Annahmen
aus: Während nur 11,9 Prozent der deut-
schen Jugendlichen aus Nicht-Zuwan-
derungsfamilien „völlig“ der Ansicht
sind, dass für die Anschläge vom
11. September „nicht Al-Kaida verant-
wortlich“ sei, sind dies bei Jugendlichen
aus muslimischen Familien 28,5 Prozent,
aus arabischen Familien gar 43,6 Pro-
zent (vgl. ebd.: 12).

Antisemitismus – Ursachen und


Begünstigungsfaktoren bei
Jugendlichen mit und ohne
Migrationshintergrund

Im Anschluss an Jürgen Mansel und Vik-


toria Spaiser (2010) sind für eine stärke-
re antisemitische Haltung der mus li mi-
schen und insbesondere der arabischen
Jugendlichen neben Besonderheiten
ihres durchschnittlichen Sozial- und Bil-
dungsstatus, die unabhängig von ethni-
scher bzw. nationaler Zugehörigkeit
statistisch eine höhere Anfälligkeit für
gruppierungsbezogene Ablehnungen
generell mit sich bringen (z. B. ver-
gleichsweise geringes formales Bil-
dungsniveau, sozio-ökonomische Be-
nachteiligung), verschiedene Gründe
zu nennen:
l Diese Jugendlichen erleben – wie
auch andere sogenannte Jugendli-
che mit Migrationshintergrund, die
ebenfalls, wenn auch nicht so stark,
deutlichere antisemitische Haltun-
gen zeigen als Jugendliche mit zwei
deutschen Elternteilen – in stärkerem
Maße eine gesellschaftliche Abwer- Bei muslimischen Jugendlichen und arabischen Jugendlichen sind die Sympathie mit
tung der Eigengruppe. Palästinensern und die Kritik an ihrer Behandlung durch den israelischen Staat erheb-
l Sie fühlen sich in der Schule diskrimi- lich höher als bei anderen Jugendlichen. Das Narrativ, in dem Muslime als weltweit
niert. gedemütigte Opfer konstruiert werden, bietet eine Orientierungsvorlage im Umgang
l Sie führen weitaus häufiger Gesprä- mit der eigenen Lebenslage, in der Diskriminierung und Abwertung erfahren werden.
che im nahen sozialen Umfeld und picture alliance/dpa

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Kurt Möller
Gefolgert wird deshalb: „Das große Geld nach Israel geschickt wird, um Alltagsantisemitismen
Narrativ, in dem Muslime als weltweit Waffen zu kaufen.“
gedemütigte Opfer konstruiert werden, l Bezug nehmend auf den türkisch-kur- „Der Antisemitismus ist das Gerücht
bietet also eine Orientierungsvorlage dischen Konflikt: „…die Juden kont- über die Juden“ – so hat schon Theodor
für muslimische Jugendliche im Umgang rollieren die türkischen Medien.“ W. Adorno (2001/1951: 200) formuliert.
mit der eigenen Lebenslage, in der sie Und der ebenfalls 16-jährige Abbas, Ist da nicht etwas dran? Gibt es nicht
Diskriminierung und Abwertung als der die deutsche und türkische Staats- auch alltagseingelagerte antisemiti-
Muslime erfahren. Juden sind in diesem bürgerschaft besitzt, äußert: „Früher sche Narrative, also entsprechende in-
Narrativ einer der Hauptantagonisten hatt’ ich nicht so was gegen die Juden, tergenerationell tradierte Sinnzuschrei-
der Muslime“ (Mansel/Spaiser 2010: bevor diese ganze Kriegsscheiße und bungen und Klassifikationssysteme bei
57). In der Tat lässt sich empirisch zei- so.“ In der „ganzen Fern …, Nachrich- „eingeborenen“ Deutschen? Und gibt
gen, dass sich dieses Antagonismus- tenscheiße“ über „Israel und so“ sei er es sie nicht auch bei sogenannten Men-
Narrativ sehr stark aus israelbezoge- zur Überzeugung gelangt: „Digger, das schen mit Migrationshintergrund, ohne
nem Antisemitismus, Sympathie für Pa- sind echt keine Menschen mehr.“ […] dass dabei der Israel-Palästina-Konflikt
lästinenserinnen und Palästinenser, „Israeler, die Juden […] die töten Kin- im Mittelpunkt stehen müsste?
Anti amerikanismus und Verschwörungs- der, die töten Frauen, schwangere Frau- Wenn wir die Existenz solcher Narrati-
theorien speist und in einem nicht uner- en, alte Frauen, Mädchen, die so klein ve in Gestalt von Alltagsantisemitismus
heblichen Maße auf Diskriminierungs- sind. Töten alles einfach.“ […] „…die untersuchen wollen, dann
erfahrungen, transnationale Medien- Nazis haben früher die in eine Gaskam- l sind sie auch außerhalb extremisti-
nutzung, politische Gespräche in Mo- mer gesteckt oder getötet. Die fanden scher Szenen anzunehmen;
scheen, externe Abwertung der das auch nicht gut und jetzt machen die l sind sie im Kontext alltäglicher Le-
Eigengruppe und darauf folgende Auf- das Gleiche, fast das Gleiche mit den bensführung zu deuten;
wertung der Eigengruppe durch ihre Muslimen.“ […] „…das ist nicht mehr l unterliegen sie aber auch den Kenn-
Mitglieder selbst zurückgeführt werden menschlich. Deswegen auch: Fernhal- zeichen der Alltäglichkeit, die schon
kann (ebd.: 59). ten vom Juden!“ […] „Sonst sind alle
Unser Esslinger Längsschnittprojekt zur Menschen für mich Menschen, so. […]
Entstehung und Entwicklung gruppen- Bin nicht so ein Rassist“. Auch „Religi-
bezogener Menschenfeindlichkeit bei ons-Rassismus“ sei „einfach unmensch-
13- bis 16-jährigen Jugendlichen mit lich“.
und ohne sogenannten ‚Migrationshin- Nachdem die mediale Bezugsquelle
tergrund‘ (zu seiner Anlage vgl. Möller der Informationen angedeutet wird,
2012; zur Kritik der Formulierung „…mit aufgrund derer der Junge die dann fol-
Migrationshintergrund“ s. auch Möller gende politische Überzeugung äußert,
2010) lässt jedoch mindestens noch ei- deutet sich in der Sequenz die Gleich-
nen weiteren, auf NS-vergleichender setzung nicht nur von Staatsangehöri-
Israelkritik fußenden Mechanismus er- gen Israels mit „den Juden“, sondern
kennen. Danach sind die politischen auch spezifischer mit denen, die für
Orientierungsversuche, die in der Ju- Gräueltaten Verantwortung tragen, an.
gendphase als spezifischer Teil der all- Außerdem erfolgt eine weitreichende,
gemeinen Entwicklungsaufgabe, Iden- nur schwach relativierte („fast das Glei-
tität zu bilden, zu verstehen sind, in die- che“) Gleichsetzung mit der Vernich-
sen Fällen als „antirassistisch“ konturier- tungspolitik der Nationalsozialisten,
te „Wir“-“Die“-Konstruktionen angelegt. wobei die heutigen Opfer nicht nur pri-
Sie funktionieren nach dem Muster: Wir mär als Palästinenser gesehen, sondern
als Menschen mit Migrationshinter- dem größer zugeschnittenen, die Iden-
grund, die sich politisch gegen „Nazis“ tifikation mit ihnen erleichternden Kol-
positionieren, sind gleichsam aufgrund lektiv der Muslime zugerechnet werden.
dieser politischen Ausgangsbedingung Die Akteure werden dabei als ent-
so etwas wie „geborene Antirassisten“. menschlicht beschrieben („sind echt kei- Antisemitisches
Folglich müssen wir gegen die „un- ne Menschen mehr“), zumal sie aus der Graffiti auf einem
menschlich“, „wie Nazis“ agierenden, Sicht des Sprechers ein Verhalten Schülertisch. All-
„imperialistischen“ Israelis eingestellt gleichsam wiederholen, das Angehöri- tagsantisemitis-
sein. gen ihres Kollektivs, den Juden nämlich, men sind ein häu-
Verschiedene Beispiele aus Interviews angetan wurde. Daraus wird die Legiti- figer Bestandteil
legen eine solche Deutung nahe. So mation für eine pauschale Distanzie- der Lebensfüh-
meint Diyar, ein 16-jähriger, streng mus- rung gegenüber „dem“ Juden abgelei- rung Jugendlicher.
limischer Deutsch-Kurde: tet, die in eine anscheinend dem histori- Kennzeichnend
l Bezug nehmend auf die israelische schen Nationalsozialismus in Deutsch- für alltägliche
Kriegspolitik: Die Juden seien „fa- land entlehnte Formulierung gegossen Formen von Anti-
schistische Menschen“, die „sich auf wird („Fernhalten vom Juden!“). Dabei semitismus ist oft-
einen Berg stellen und den Krieg mit wird gleichzeitig womöglich aufkom- mals der vor- bzw.
ansehen und sich dabei freuen.“ mender Rassismusverdacht dadurch zu unreflektierte
l NS-vergleichend: „Juden“ würden entkräften versucht, dass eine grund- Gebrauch. Den-
„ihre Rache nehmen“ und „den glei- sätzliche Distanz zu einer solchen Hal- noch dienen sol-
chen Weg gehen“ wie die „Nazis“. tung bekundet wird. che Codes der
l Bezug nehmend auf Juden und Jüdin- ethnisch-kulturel-
nen in Deutschland: Er habe gehört len Differenzkons-
„dass in Lidl und Aldi die Besitzer Ju- truktion.
den sind“, von denen „das ganze picture alliance/dpa

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Alfred Schütz (1932) beschrieb, also stellung und des Erhalts von Orientie- ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
u. a. der Lebensweltbegrenzungen, rungsvermögen und von Handlungs- IN DEUTSCHLAND
der Habitualisierung und Routinebil- bzw. Verhaltensfähigkeit.
dung, Selbstverständlichkeit, Un- Wie stellen sich konstatierbare Facet-
bzw. Vorreflexivität, Pseudo-Konkret- ten von Alltagsantisemitismus vor die-
heit und Funktionalität für die prag- sem Hintergrund dar? Dazu einige Bei- l aktuelle politische Orientierungsfä-
matische Alltagsbewältigung als spiele von Jugendlichen aus dem Esslin- higkeit über die Propagierung NS-
zentralem Orientierungskriterium. ger Forschungsprojekt: distinktiver Handlungsoptionen der
Zentrale Herausforderungen der all- Timo ist ein 15-jähriger Schwabe vom Ausgrenzung: „… wenns jetzt no so
täglichen Lebensführung aber sind u. a. Lande, der sich als Mitglied einer rech- wär, net vergase, sondern oifach in
Orientierungsvermögen („durchblicken, ten Clique versteht und verkündet, seine ihr Land zruckschicke.“
um sich zurecht zu finden“) und Verhal- Schulklasse sei als „Naziklasse“ be- l Verhaltensfähigkeit über Irritations-
tensfähigkeit („wissen, was zu tun ist – rüchtigt. Er zeigt eine resistenz, und Kontinuitätsidealisie-
und dieses auch tun können“) zu erlan- l politisch-soziale Orientierung über rung zeigt sich in dem Satz: „ … mir
gen, zu erfahren und zu demonstrieren. ethnisch-kulturelle Differenzkonst- waret dies Jahr au im KZ Dachau. […]
Gerade in der Jugend, die sich als Pha- ruktion: „Ein Deutscher wird wohl I bin da rausglaufa un war glei wie
se des Aufbaus von eigenständiger kaum Jude sein.“ vorher.“
Identität verstehen lässt (vgl. z. B. Hur- l historische Orientierung über igno- Francesco hat italienische Eltern und
relmann 2009), liegen die Herausforde- rante Positionierung zur Judenverfol- dokumentiert eine Orientierung über
rungen für den Alltag wesentlich in der gung im Nationalsozialismus: „…wä- phänotypische und (konsum-)kulturelle
Bewältigung der lebensphasespezifi- ret se do net in Deutschland bliebe, Distinktion. Im ersten Interviewmit-
schen, ggf. speziell durch milieu- und sondern wäret abgehaue oder wäret schnitt findet sich die folgende Se-
geschlechtsspezifische Faktoren ver- glei gar net herkomma, dann wär des quenz:
schärften Verunsicherungen der Her- vielleicht gar net dazu komma.“.

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Kurt Möller
I.: Hast du mal was von der Judenverfol- I.: Okay. Hast du mal mit welchen gere- Weil man denkt gleich, das ist ir-
gung in Deutschland gehört? det, oder? Was denkst du, wenn du gendwas Schlimmes.
F.: Ja, in Religion. so jemand siehst? Weitere Bespiele lassen noch mehr Fa-
I.: Okay. Was denkst du darüber? Oder F.: Ja, dann laufe ich ganz normal wei- cetten von Alltagsantisemitismus auf-
was weißt du darüber? ter. Ich gucke die auch nicht so an scheinen. So gibt die 16-jährige türkei-
F.: Nicht so viel. Gut, die Juden, manche […]. stämmige Ceyda eine Orientierung
mögen die auch nicht richtig, weil Im Schnitt 2 findet sich eine Orientie- über die Legitimitätsannahme antisemi-
wegen irgendwelchen Gründen. rung über die adaptive Deutung abfälli- tischer Haltungen aufgrund ihres Ver-
I.: Ja und du, wie stehst denn du da da- ger, diffamierender Alltagskommunika- breitungsgrads zu erkennen, wenn sie
zu? tion: bekennt:
F.: Auch nicht gut. Ich mag die auch nicht I.: Kannst du dir vorstellen, mit bestimm- „Ich kenn die Geschichte eigentlich von
so. ten Leuten nicht befreundet zu sein? den Juden nicht, aber ich glaub auch,
I.: Hast du mal schlechte Erfahrungen F.: Zum Beispiel mit Juden nicht. […] dass sie nicht ohne sind […] also Men-
gemacht mit welchen oder …? Weil (längere Pause) … ich mag die schen sind doch nicht eigentlich um-
F.: Nein. einfach nicht. sonst gegen jemanden. Also es müsste
I.: Was sind denn so die Hintergründe? I.: Hast du mal mit einem gesprochen? doch was geben, warum die Menschen
Was denkst du? F.: Nee. Will ich auch nicht. (…) halt gegen die Juden sind.“
F.: Ja, weil die haben so einen langen I.: Was macht die dir so unsympathisch, Der deutschstämmige Gymnasiast Mar-
Bart, in dieser Jahreszeit haben die die Juden? kus benutzt Schimpf- und Drohworte
so Kittel oder was und ich habe in der F.: Ja, ganz genau das Wort. Ja halt „Ju- wie „Du Jude!“, „Du Opfer!“ und „Du Lo-
Stadt mal jemand gesehen, der hat den“. ser!“ gleichsinnig. Er zielt damit offen-
so ein Cape im Winter, so einen Kit- I.: Das Wort? bar auf eine Positionierung der Hand-
tel, langen Bart und dann so […] und F.: Ja. lungsüberlegenheit durch Absprechen
dann so Timberlake-Schuhe und das I.: Was ist da so schlimm dran? von Handlungs- und Erfolgsfähigkeit
sah richtig blöd aus. F.: Weil manche beleidigen zum Bei- der jeweils Beschimpften bzw. Bedroh-
spiel, die sagen „du Jude“ oder so. ten bei fragmentarischer (und vermut-

Ein älterer orthodoxer Jude geht entlang einer Mauer. Das andere Aussehen dient bei Jugendlichen (und auch bei Erwachsenen)
der phänotypischen Distinktion und erlaubt letztlich eine Einteilung in „Wir“ und „die Anderen“.
picture alliance/dpa

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lich unbewusster, nicht intentionaler) tagonistischer Differenzkonstrukti- ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
Nutzung und Reproduktion des antise- on. IN DEUTSCHLAND
mitischen Alltagsdiskurses. l Als alltagskulturelles Orientierungs-
Vor dem Hintergrund dieser Befunde er- angebot stellt Antisemitismus zudem
klärt sich Alltagsantisemitismus als ein einen Fundus an Stereotypen, Kli-
Mechanismus der Demonstration von schees, Vorurteilen, Ressentiments, LITERATUR
(vermeintlicher) Orientierungs- und Ver- tradierten Aversionen und weiteren Adorno, Theodor W. (2001/1951): Minima mo-
haltenskompetenz, insbesondere und Distinktions- und Ablehnungsträgern ralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
u. a. im Sinne seiner Funktionszuwei- dar. Frankfurt am Main.
sung als (1) Ausweis von politischer, his- l Insbesondere bei Verunsicherungen Bundesministerium des Innern (Hrsg.) (2011): An-
tisemitismus in Deutschland. Erscheinungsfor-
torischer und/oder sozialer Identität, (2) der Identität und Identitätsbildung –
men, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht
Schuldzuweisung für erfahrene Kont- wie sie sich häufig vor allem in der des unabhängigen Expertenkreises Antisemitis-
rollmängel (z. B. „zu viel Einfluss“) und Jugendphase ballen – kann ein Rück- mus. Berlin.
(3) Selbstbestätigung durch Überlegen- griff auf den Antisemitismus subjektiv Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2002–2012): Deut-
heitsdemonstration und Distinktion. als funktional für die alltägliche Le- sche Zustände. Folge 1 bis 10. Frankfurt am
Main.
Diese Demonstration ist einerseits den bensführung betrachtet werden. Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene
Herausforderungen der alltäglichen Le- l Funktional sind antisemitische Hal- Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsi-
bensführung, vor allem dem Bewälti- tungen zumindest solange, wie sie cherten Jahrzehnt. In: Ders. (Hrsg.): Deutsche
gungserfordernis von Verunsicherun- als funktional für alltägliche Orien- Zustände. Folge 10. Frankfurt am Main, S. 15–
41.
gen bei der (Re-)Produktion von Orien- tierungs- und Verhaltensgewisshei-
Hurrelmann, Klaus (2009): Lebensphase Ju-
tierungs- und Verhaltensvermögen zu- ten gelten können. gend. 10. Auflage, Weinheim und München.
zuschreiben. Andererseits aber erhält l Wer Antisemitismus abbauen will, Mansel, Jürgen/Spaiser, Viktoria (2010): Sozia-
sie ihre Auftretenschance und -wahr- muss (1) ihn im Kontext anderer Fa- le Beziehungen, Konfliktpotentiale und Vorurtei-
scheinlichkeit dadurch, dass im sozialen cetten gruppenbezogener Men- le im Kontext von Erfahrungen verweigerter
Teilhabe und Anerkennung bei Jugendlichen mit
Umfeld eine Alltags(bewältigungs)funk- schenfeindlichkeit angehen, (2) sei- und ohne Migrationshintergrund. o. O. (Biele-
tionalität von antisemitisch konturierten ne mediale und narrative Deutungs- feld: Universität Bielefeld); URL: http://www.
Interpretationsangeboten, insbesonde- macht zurückdrängen und (3) aktiv vielfalt-tut-gut.de/content/e4458/e8260/Uni_
re hinsichtlich explizit politisch-ideolo- gegen seine Alltagsfunktionalität Bielefeld_ Abschlussbericht_Forschungspro-
jekt.pdf; [16.6.2012].
gischer Orientierungs- und Aktionsan- vorgehen, d. h. dabei helfen, antise-
Möller, Kurt (2010): Hybrid-Kulturen. Wie „Ju-
gebote, einschlägiger Narrative und mitische Orientierungsgewissheiten gendliche mit Migrationshintergrund“ postmig-
Deutungsmuster sowie ressentimentge- durch Orientierungssicherheiten an- rantisch werden. In: Projektgruppe JugendArt:
ladener Termini des Alltagsdiskurses, deren Inhalts zu ersetzen und antise- KanakCultures. Kultur und Kreativität junger
Aversionstradierungen und Gelegen- mitische Verhaltensgewissheiten MigrantInnen. Berlin, S. 9–21.
Möller, Kurt (2012): Gruppenbezogene Men-
heitsstrukturen nahe gelegt wird. durch demokratische Handlungssi- schenfeindlichkeit bei in Deutschland lebenden
cherheiten zu verdrängen (vgl. aus- Jugendlichen mit und ohne Migrationshinter-
führlicher dazu Scherr/Schäuble grund. In: Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel
Fazit 2008). (Hrsg.): Jugend und Differenz. Aktuelle Debat-
ten der Jugendforschung. Wiesbaden.
Scherr, Albrecht/Schäuble, Barbara (2008):
Die dargestellten Erkenntnisse und die „Ich habe nichts gegen Juden, aber …“ – Aus-
bis hierhin angestellten Überlegungen gangsbedingungen und Ansatzpunkte gesell-
zu ihrer Deutung können als Grundlage schaftspolitischer Bildungsarbeit zur Auseinan-
für einen aussichtsreichen pädagogi- dersetzung mit Antisemitismen. Berlin (Amadeu
Antonio Stiftung). (Erweitere Fassung [2008]
schen Umgang mit der Problematik in online unter: http://www.amadeu-antonio-stif-
neun Punkten zusammengefasst wer- tung.de/materialien).
den: Zick, Andreas/Küpper, Beate (2011): Antisemiti-
UNSER AUTOR

l Antisemitismus ist eine Variante grup- sche Mentalitäten. Bericht über Ergebnisse des
Forschungsprojektes Gruppenbezogene Men-
pierungsbezogener Ablehnung, die
schenfeindlichkeit in Deutschland und Europa.
nach wie vor in Deutschland und in- Expertise für den Expertenkreis Antisemitismus,
ternational ein bedeutendes gesell- Bielefeld (Universität Bielefeld); URL: http://
schaftliches Problem bildet – auch www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/
unter Jugendlichen. DE/Themen/Politik_Gesellschaft/EXperten-
kreis_ Antisemitismus/kuepper.pdf?_ _
l Antisemitismus hat in verschiedenen blob=publicationFile [16.6.2012].
gesellschaftlichen Gruppierungen
unterschiedliche Formen und unter-
schiedliche Ausmaße der Verbrei-
tung. ANMERKUNGEN
l Inhaltliche Ausprägungen, subjekti- Prof. Dr. Kurt Möller ist Professor für So- 1 Dieser Beitrag wurde erstmalig in der Zeit-
ve Begründungen und Anfälligkeits- ziale Arbeit an der Hochschule schrift „deutsche jugend“ (Heft 12/2012, S. 519–
konstellationen differieren zwischen Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Ge- 526) veröffentlicht.
Individuen und gesellschaftlichen sundheit und Pflege und Privatdozent 2 In der Fachliteratur sind zum Teil auch ande-
re plausible Zuordnungen in Gebrauch. Die hier
Gruppierungen. an der Universität Bielefeld, Fakultät für benutzten Differenzierungen haben ihnen ge-
l Antisemitismus ist verstehbar als eine Pädagogik. Er ist Mitherausgeber der genüber den entscheidenden Vorteil, aktuell
Form der Verarbeitung von individu- Reihe „Konflikt- und Gewaltforschung“ empirisch vermessen worden zu sein (vgl. dazu
eller und fraternaler, also Personen im Juventa-Verlag. Seine Arbeits- und den Abschnitt „Antisemitismus – Verbreitung,
Ausmaße und Ausprägungen in unterschiedli-
aus der wie auch immer definierten Forschungsschwerpunkte sind Jugend-
chen gesellschaftlichen Gruppierungen“). Eine
Eigengruppe treffender Ablehnung, forschung und Jugendarbeit, Soziale weitere Zuordnung findet sich in dem Beitrag
Abwertung und Diskriminierung. Arbeit und (Rechts-)Extremismus, Ge- von Armin Pfahl-Traughber in diesem Heft.
l Er wird begünstigt durch mediale und walt sowie Menschenfeindlichkeit.
narrative Angebote antijüdischer an-

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POLITISCHE BEK ÄMPFUNG, MOR ALISCHE BELEHRUNG ODER BILDUNG?

Ausgangsbedingungen und Perspektiven


der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus
Albert Scherr

rung sowie (2.) der moralischen Beleh- Die Schwierigkeit, Antisemitismen


Politische Bekämpfung, rechtliche Sank- rung: Im ersten Fall geht es dann darum, zu verstehen
tionierung und moralische Ahndung die Möglichkeiten zur öffentlichen Arti-
sind legitime Strategien gegen Antise- kulation und politischen Repräsentation Pädagogische Interventionen (Erzie-
mitismus, bieten aber keine hinreichen- derjenigen, die als Antisemiten erkenn- hung, Beratung, Bildung) zielen darauf,
de Grundlage für die schulische und bar sind, maximal einzuschränken und Lernprozesse anzustoßen und sind stets
außerschulische Bildungsarbeit. Diese sie als Personen kenntlich zu machen, mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass
Strategien können sich gar als kontra- deren legitime Teilnahme am politi- Veränderungen von Meinungen und
produktiv erweisen. Eine subjektorien- schen Diskurs bestritten werden kann. Überzeugungen ebenso wenig erzwun-
tierte, dialogische und ak zeptierende Antisemiten sollen mithin daran gehin-
Bildungsarbeit setzt vielmehr an den dert werden, ihre Ideologien zu verbrei-
Adressaten, ihren Denk weisen und Wis- ten und Anhängerschaft zu gewinnen.
sensbeständen an. Nicht Moralisierung Dem korrespondieren auf Tabuisierung
und Belehrung, sondern die argumenta- und rechtliche Sanktionierung ausge-
tive Auseinandersetzung mit antisemiti- richtete Vorgehensweisen.
schen Stereotypen und Fragmenten ist Im zweiten Fall sind mediale, politische
ein wesentlicher Ansatzpunkt anti-anti- und pädagogische Kommunikation dar-
semitischer Bildungsarbeit. Dies setzt – auf ausgerichtet, antisemitische Äuße-
so Albert Scherr – einen sanktionsfreien rungen und die diesen zu Grunde lie-
Rahmen voraus, in dem Jugendliche ihre genden Überzeugungen als moralisch
Vorurteile äußern und benennen dür- verwerflich zu kennzeichnen; dies
fen. Darauf aufbauend können sie sich schließt eine mehr oder weniger deutli-
sachorientiert mit eben jenen Vorurtei- che moralische Be- und Verurteilung
len befassen und dabei durchschauen, derjenigen ein, die als Antisemiten
was an diesen falsch ist, warum sie aber wahrgenommen werden.
dennoch weit verbreitet sind. Diese di- Sowohl Bekämpfung als auch Morali-
alogische Bildungspraxis ist prinzipiell sierung sind zweifellos erforderliche
ergebnisoffen. Sie kann Prozesse der und legitime Bestandteile von gesell-
Selbstveränderung anregen und diese schafts politischen Strategien gegen
unterstützen, nicht erzwingen. I Antisemitismus. Es ist jedoch erforder-
lich, solche Konzepte klar von den Erfor-
dernissen und Möglichkeiten der Bil-
dungsarbeit gegen Antisemitismus zu
Vorbemerkungen unterscheiden. Denn eine Bildungsar-
beit gegen Antisemitismus, die sich an
In seiner Streitschrift „Inszenierter Anti- der Logik der politischen Bekämpfung
semitismus“ deklariert Wolfgang Frind- und/oder der moralischen Belehrung
te (2006) am Ende jedes Kapitels den orientiert, verkennt die spezifischen Be-
Satz „Ceterum censeo [Im Übrigen bin dingungen und Möglichkeiten von Bil-
ich der Meinung]: Der Antisemitismus dungsprozessen, und sie erzeugt mit ho-
muss vernichtet werden“. Damit bringt er her Wahrscheinlichkeit kontraprodukti- Jugendliche besu-
in der Form einer absichtsvoll provokati- ve Effekte.1 chen das ehema-
ven Formulierung die Haltung einer ein- Diese These wird im Weiteren näher er- lige Konzentrati-
deutigen und entschiedenen Gegner- läutert und es sollen empirische Aus- onslager Sachsen-
schaft zum Ausdruck, die allen Formen gangsbedingungen und daraus resul- hausen in Orani-
des Antisemitismus jede Rechtfertigbar- tierte Ansatzpunkte anti-antisemitischer enburg. Die
keit und jede Legitimität verweigert. Ei- Bildungsarbeit aufgezeigt werden. gewöhnlichen
ne solche Haltung kann als Konsens Grundlage hierfür sind die Ergebnisse Adressaten politi-
derjenigen unterstellt werden, die sich einer qualitativ-empirischen Studie zu scher Bildungsar-
mit der Frage der Ursachen und der ak- Formen des Antisemitismus unter gegen- beit sind Jugendli-
tuellen Erscheinungsformen sowie mit wärtigen Jugendlichen sowie darin be- che und Erwach-
erforderlichen Strategien und Interven- gründete konzeptionelle Überlegun- sene, bei denen
tionen gegen Antisemitismus befassen. gen. 2 antisemitische Ste-
Daraus resultiert jedoch eine spezifi- reotype und
sche Schwierigkeit für die Bildungsar- Argumente nicht
beit: Die Haltung einer eindeutigen Teil einer
Gegnerschaft hat ersichtlich eine Affini- geschlossenen
tät zu Strategien (1.) der politischen Be- Ideologie sind.
kämpfung und rechtlichen Sanktionie- picture alliance/dpa

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gen werden können, wie eine subjektive ressaten angeknüpft werden kann, wie AUSGANGSBEDINGUNGEN UND
Aneignung von Wissen, die zu einer In- eine produktive Kommunikation in Gang PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSARBEIT
fragestellung der eigenen Stereotype, gesetzt werden kann, aber auch welche GEGEN ANTISEMITISMUS
Vorurteile und Gewissheiten führt. Bil- Abwehrhaltungen und Blockaden zu er-
dungsprozesse sind Prozesse der warten sind. Es ist im Fall der Bildungs-
Selbstveränderung, die angeregt und arbeit gegen Antisemitismus unverzicht- Äußerungen für gerechtfertigt halten.
unterstützt, aber nicht erzwungen wer- bar, diese – eigentlich triviale – päda- Das aber widerspricht der eigenen in-
den können. Deshalb ist Bildungsarbeit gogische Grundeinsicht zu betonen, neren Abwehr gegenüber jeder Form
in besonderer Weise darauf angewie- denn sie impliziert hier eine durchaus von Antisemitismus.
sen, die Ausgangsbedingungen zu ver- schwierige Herausforderung: die Her- Die Schwierigkeit, sich verstehend auf
stehen, auf die sie im je konkreten Fall – ausforderung, sich auf einen verstehen- Antisemitismus einzulassen, wurde uns
bei den jeweiligen Adressaten und im den Zugang zu Antisemitismen und da- exemplarisch in der Anfangsphase des
Hinblick auf eine Thematik – bezogen mit zu einer Ideologie bzw. ihren Vorfor- erwähnten Forschungsprojekts als eine
ist. Es ist erforderlich, die Denkweisen, men einzulassen, die eigene Ableh- zunächst schwer zu überwindende Er-
die Wissensbestände, die alltagsmora- nung, Abwehr und Abscheu aufruft. kenntnisblockade deutlich: Wir waren,
lischen Haltungen usw. derjenigen zu Denn Antisemitismus verstehen setzt vo- wie dies im politischen Diskurs und der
kennen, die beeinflusst werden sollen. raus, dass diejenigen, die sich antisemi- Antisemitismusforschung gängig ist, da-
Denn nur dann kann eingeschätzt wer- tisch äußern, Motive und subjektiv gute von ausgegangen, dass Antisemitismus
den, an welche Lerninteressen der Ad- Gründe haben, dies zu tun und diese als Vorurteil und Ideologie bestimmt

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Albert Scherr
werden kann (s. dazu den Beitrag von Moralisierung und Belehrung gendlichen und Erwachsenen vorzufin-
Armin Pfahl-Traughber in diesem Heft). provozieren Abwehr den sind.
Eine weitere Annahme war, dass Ju- Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil
gendliche und Erwachsene eindeutig Die Beobachtung solcher komplexer pädagogische Arrangements zu Kom-
danach unterschieden werden können, und uneindeutiger Verschränkungen munikationsblockaden und Abwehrre-
ob sie antisemitischen Äußerungen ent- von nicht-antisemitischen und antisemi- aktionen führen können, wenn sie die
weder zustimmen oder diese ablehnen. tischen Äußerungen steht im Gegensatz problematischen Äußerungen ihrer Ad-
Folgt man dieser Vorgabe, dann inter- zu den Vorgaben politischer, medialer ressaten als Indizien für einen zu Grun-
pretiert man jede Äußerung eines anti- und auch wissenschaftlicher Diskurse, de liegenden Antisemitismus interpre-
semitischen Stereotyps als Indiz für eine die – mit guten Gründen – Eindeutigkeit tieren und Bildungsteilnehmer dann als
zu Grunde liegende antisemitische Hal- in der Bestimmung und Ablehnung von Antisemiten ansprechen, denen ihr ei-
tung, betrachtet denjenigen, der sie äu- Antisemitismus einfordern. Denn zwei- gener Antisemitismus und/oder denen
ßert, als Antisemiten. Dies schafft Ein- fellos ist es riskant und kann zu einer die moralische Verwerflichkeit ihrer
deutigkeit, ist aber für das angemesse- Verharmlosung führen, wenn auch Äu- Überzeugungen nicht bewusst ist:
ne Verstehen von Antisemitismus eben- ßerungen als politisch und moralisch l Dies ist zum einen dann der Fall,
so hinderlich wie für die pädagogische zulässig betrachtet werden, in denen wenn die pädagogische Mitteilung
Praxis (s. unten). sich „Feindseligkeit gegen Juden als Ju- erfolgt, dass jede Äußerung, die tat-
Bei der Arbeit an dem von uns erhobe- den“ (Klug 2003) zwar nicht offen, aber sächlich oder potenziell antisemi-
nen Material – mit Jugendlichen in latent und verdeckt äußert, z. B. in der tisch ist, moralisch verwerflich ist und
Schulen und Jugendzentren durchge- Form einer antisemitischen Israelkritik. denjenigen aus dem Kreis der acht-
führte Gruppeninterviews – zeigte sich Für die Bildungsarbeit ist es gleichwohl baren, anständigen Menschen aus-
dagegen, dass die Frage, ob die jewei- unverzichtbar, sich verstehend auf die schließt, der sich entsprechend äu-
lige Person oder eine Gruppe antisemi- uneindeutigen Verschränkungen einzu- ßert. Denn dann wird, wie Wolfgang
tisch ist oder nicht, vielfach gerade nicht lassen, die unter gegenwärtigen Ju- Meseth, Matthias Proske und Frank-
eindeutig zu beantworten ist und keine Olaf Radtke gezeigt haben, die Kom-
angemessene Interpretation der Inter-
viewprotokolle ermöglicht. Denn wir
waren wiederkehrend mit einer Kommu-
nikation konfrontiert, die weder für die
jeweilige Gruppe, noch für einzelne
Sprecherinnen bzw. Sprecher eine In-
terpretation zuließen, die zu einer ein-
deutigen Zuordnung führte. Dies er-
zeugte eine Irritation, die erst auflösbar
war, nachdem wir die Prämisse der ein-
deutigen Unterscheidbarkeit antisemiti-
scher und nicht-antisemitischer Jugend-
licher selbst in Frage stellten und in der
Folge zu einer anderen Beschreibung
gegenwärtiger Ausprägungen antise-
mitischer Diskurse und Kommunikation
gelangten. 3 Darauf wird im Weiteren
noch eingegangen (s. Scherr/Schäuble
2008a). Entscheidend ist hier zunächst
aber, dass es eine erhebliche intellektu-
elle, soziale und emotionale Herausfor-
derung war, sich auf den aufgrund des
empirischen Materials eigentlich nahe
liegenden Gedanken uneindeutiger
Verschränkungen von antisemitischen
Wissensbeständen 4 , von Gleichgültig-
keit und deklariertem Desinteresse so-
wie der Ablehnung von Antisemitismus
einzulassen. Zudem wurde deutlich,
dass Antisemitismus keineswegs immer
nur in der Form eines geschlossenen
Weltbilds oder einer ausgearbeiteten
Ideologie auftritt, die auf eine verfesti-
ge politische Haltung verweist, die
durch Bildung kaum noch zu irritieren
ist. Typischer sind, jedenfalls bei gegen-
wärtigen Jugendlichen in Deutschland,
antisemitische Fragmente, die in der All-
tagskommunikation verwendet werden,
ohne dass diese auf eine gefestigte
Ideologie verweisen (s. Scherr/Schäub-
le 2008a; Stender 2011).

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munikation still gestellt. Die Teilneh- solchen Bedingungen entstehen AUSGANGSBEDINGUNGEN UND
merinnen bringen dann solche Argu- Kommunikationsdynamiken, die als PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSARBEIT
mente und Einschätzungen, die zum Verweigerungshaltungen und Provo- GEGEN ANTISEMITISMUS
Verdacht ihrer moralischen Verwerf- kationen sichtbar werden, in denen
lichkeit führen können, im pädagogi- Selbstbehauptung, nicht Selbstver-
schen Kontext nicht mehr zu Sprache. änderung in Lern- und Bildungspro- aufgefordert, sich differenziert auf die
Denn sie haben gelernt, was nicht zessen eingeübt wird. Frage einzulassen, was jeweilige Ad-
sanktionsfrei gesagt werden kann. ressaten zu den Themenkomplexen wis-
Was aber im pädagogischen Kon- sen und denken (insbesondere: Natio-
text nicht gesagt wird, kann dort Erste Folgerungen für die nalsozialismus und Holocaust, Juden-
auch nicht aufgegriffen und bearbei- anti-antisemitische Bildungsarbeit tum als Religion, Juden als ethnisch
tet werden. 5 bzw. national konstruiertes Kollektiv,
l Eine etwas anders gelagerte Proble- Aus den bisherigen Überlegungen las- Nahost-Konflikt), in denen antisemiti-
matik resultiert daraus, dass eine Ad- sen sich fünf Folgerungen für die Bil- sche, aber auch anti-antisemitische
ressierung Jugendlicher und Erwach- dungsarbeit gegen Antisemitismus zie- Meinungen und Argumente artikuliert
sener als Personen, deren Überzeu- hen: Die gewöhnlich erreichbaren Ad- werden. Das heißt: Konzepte der Bil-
gungen moralisch verwerflich sind, ressaten politischer Bildungsarbeit sind dungsarbeit gegen Antisemitismus be-
Abwehrhaltungen provozieren kann, erstens Jugendliche und Erwachsene, nötigen eine empirische Fundierung
die sich als Lernwiderstände artiku- bei denen antisemitische Stereotype und sind auf eine genaue Wahrneh-
lieren. 6 Solche Abwehr ist eine Form und Argumente nicht Teil einer ge- mung ihrer jeweiligen Adressaten ver-
der Selbstbehauptung gegen die Zu- schlossenen Ideologie sind. Dies er- wiesen. Drittens ist Bildungsarbeit auf-
mutung, sich von anderen die eige- möglicht eine Bildungsarbeit, die an gefordert, eine Kommunikation zu er-
nen Überzeugungen vorschreiben Ambivalenzen und Widersprüche im möglichen, in der jeweilige Adressaten
und sich moralisch beurteilen zu las- Selbstverständnis anknüpfen kann. 7 Ei- ihre Fragestellungen, Einschätzungen
sen (s. dazu Holzkamp 1994). Unter ne solche Bildungsarbeit ist zweitens und Sichtweisen zur Sprache bringen
können, ohne dass dies dazu führt, dass
sie damit direkte und eindeutige morali-
sche Bewertungen ihrer Person auslö-
sen. Dazu ist es viertens hilfreich, Antise-
mitismus als einen Lerngegenstand zu
fassen, der von persönlichen Überzeu-
gungen unterscheidbar ist (s. dazu
Scherr/Schäuble 2008a: 13ff.; Holz-
kamp 1995). Gegenstände anti-antise-
mitischer Bildungsarbeit sind zunächst
nicht die persönlichen Überzeugungen
der Adressaten, sondern Antisemitismus
und die Gegnerschaft zu Antisemitismus
als eine historische und gegenwärtige
soziale Realität. Der Schritt von einer
Auseinandersetzung mit Antisemitismus
als Lerngegenstand zu einer Themati-
sierung der eigenen persönlichen Über-
zeugungen und ggf. zu kritischer Selbst-
reflexion ist ein weiterer, vorausset-
zungsvoller und methodisch zu kontrol-
lierender Schritt, dessen Bedingungen
und Erfolgsaussichten fallspezifisch zu
klären sind. Fünftens ist zu berücksichti-
Jeder pädago- gen, dass anti-antisemitische Haltun-
gisch gut gen nicht einfach als eigentlich selbst-
gemeinte Versuch, verständliche politisch-moralische Posi-
antisemitische tionen erwartet und eingefordert wer-
Vorurteile durch den können. Vielmehr ist es erforderlich,
Moralisierung und jeweilige Adressaten zu motivieren und
Belehrung wider- zu befähigen, sich mit antisemitischen
legen zu wollen, Diskursen sowie den historischen, den
muss mit Wider- gegenwartsbezogenen und den mora-
ständen – die von lischen Begründungen des Anti-Antise-
demonstrativ mitismus zu befassen und sich diese als
gezeigter Lange- Grundlage für eine Auseinanderset-
weile bis hin zu zung mit eigenen Wissensbeständen
offener Abwehr und Überzeugungen anzueignen. Hier-
reichen – rechnen. für ist es meines Erachtens hilfreich, Bil-
Moralisierung dungsarbeit gegen Antisemitismus mit
grenzt aus und einer subjektorientierten Menschen-
ersetzt argumen- rechtsbildung zu verbinden (s. dazu
tatives Vorgehen. Hormel/Scherr 2004: 131ff.).
picture alliance/dpa

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Albert Scherr
Differenzkonstruktion: gen und sonst ist es halt, man wird an- schaftlich gängige Differenzkonstrukti-
Anders als „Wir“ ders gesehen. (…) Bevor man Deutscher on aufzubrechen, die weitreichende
ist, bevor man sozusagen einer von de- Übereinstimmungen mit ethnisierenden
Die bislang abstrakt gebliebene Be- nen ist, ist man erst mal Jude.“ (Interview Fremdheitskonstruktionen hat. Wie dies
hauptung, dass in der Bildungsarbeit mit einem Frankfurter Jugendlichen jüdi- gelingen kann, wird im folgenden Inter-
von komplexen und uneindeutigen Ver- schen Glaubens) viewauszug mit einer heterogen zusam-
schränkungen von antisemitischen und Wer als Jude wahrgenommen wird, mengesetzten Clique eines Jugendzent-
anti-antisemitischen Annahmen, Argu- dem wird in den unterschiedlichen Vari- rums deutlich:
mentationen und Überzeugungen aus- anten dieser Differenzkonstruktion ein „I 1: Kann sein was er will. Mir ist’s egal,
zugehen ist, soll im Folgenden etwas Master-Status (Everett Hughes) zuge- wir sind alle hier Italiener, Deutsche,
konkretisiert und veranschaulicht wer- schrieben, ein Merkmal, dass als zent- Afghanen, wir kommen alle zusam-
den. Dazu ist als Ausgangspunkt die Be- ral gilt, ihn umfassend definiert. Jüdisch men international, mich interessiert’s
obachtung sinnvoll, dass bei den von sein, das ist dann etwas anderes als nicht, ob jetzt ein Jude oder nicht.
uns befragten Jugendlichen – diesbe- z. B. Katholisch-Sein, nicht ein Merkmal Aber wenn er mit Religion anfängt
züglich liegen keine einschlägigen unter vielen anderen (z. B. nach dem I 2: Ja, mich interessiert nicht mal, ob er
quantitativen Daten vor – durchaus ein Muster: X ist sportlich, er spielt Klavier, Jude is.
moralischer Anti-Antisemitismus vor- ein guter Kumpel und nebenbei auch I 1: „Ich scheiss’ auf Moslems“ und so’n
herrschend ist 8 : Es gilt als unzulässig noch katholisch), sondern das Merkmal, Zeug, dann. Das ist dann was Ande-
und moralisch verwerflich, eine generell das die Fremdwahrnehmung zentral be- res.
ablehnende oder feindselige Haltung stimmt. Ein normaler Umgang mit einer I 3: Das machen ja Juden normaler-
gegen Juden einzunehmen. Hinter- Person, der Jüdisch-Sein als Master- weise nicht.
grund dessen ist vor allem ein – mehr Status zugeschrieben wird, ist dann I 1: Ach, man weiß nie. Ich sag auch:
oder weniges diffuses – Wissen über nicht mehr möglich, da die soziale Be- „Scheiß auf Juden.“
die Ermordung von Juden im National- ziehung durch eine Wahrnehmung I 2: Ja, ich dachte, du schlägst ihn
sozialismus. Diese Haltung eines mora- überformt ist, die auch dann folgenreich nicht, weil er Jude ist, sondern weil er
lischen Anti-Antisemitismus wird in zwei ist, wenn sie nicht mit Ablehnung und sagt „Scheiß Moslem.“
Sonderfällen nicht geteilt bzw. sie wird Feindseligkeit einhergeht. I 3: Eben weil, weil die zum Beispiel an-
in diesen Fällen relativiert: Zum einem fangen oder ich anfang.
von Befragten, die mit neonazistischer I 4: Wenn er sagen würde „Scheiß Af-
Ideologie sympathisieren, zum anderen Die Schwierigkeit, Differenz- ghanen“, dann würd’ ich ihn schla-
vor dem Hintergrund eines politisierten konstruktionen aufzubrechen gen.
Islamismus (s. Schäuble 2012: 247ff.; I 2: Wir alle sind Menschen. Egal was
Gebhardt/Klein/Meier 2012). Klam- Es stellt eine schwierige Leistung von is.“
mert man diese Sonderfälle aus (s. auch Bildungsprozessen dar, die gesell-
Anmerkung 8), lässt sich gleichwohl
feststellen, dass auch unter „ganz nor-
malen“ Jugendlichen, die der eigenen
Überzeugung nach keine Antisemiten
sind und keine Antisemiten sein wollen,
durchaus problematische Haltungen
vorzufinden sind. Von zentraler Bedeu-
tung ist eine Differenzkonstruktion, d. h.
die Annahme, dass die eigene Zugehö-
rigkeit, das jeweilige „Wir“ – wir Deut-
sche, wir Christen, wir Jugendliche aus
der Stadt X – Juden ausschließt, die als
„Andere“, nicht zu „uns“ Gehörende Eine Muslimin und
wahrgenommen werden. Im Rahmen eine junge Frau
unseres Forschungsprojekts wurde die- mit Kippa beim
se grundlegende Annahme nicht nur in sogenannten
den Gesprächen mit nicht-jüdischen Ju- Kippa-Spazier-
gendlichen deutlich. Sie ist dort eine un- gang in Berlin
ausgesprochene, eine selbstverständli- (15.9.2012). Der
che Voraussetzung ihres Redens über Kippa-Spazier-
„die Juden“. Auch jüdische Jugendliche gang sollte ein
in Deutschland erleben, dass sie als Zeichen gegen
Nicht-Zugehörige, als Juden in Deutsch- Antisemitismus
land, aber eben nicht als „ganz normale setzen. Trotz aller
Deutsche“, wahrgenommen werden: symbolischen Poli-
„Vom durchschnittlichen Deutschen, tik können anti-
egal wo er jetzt herkommt, Spanien, Al- antisemitische
banien oder die Türkei, wird man ein- Haltungen nicht
fach sofort anders gesehen, einfach ob- einfach als selbst-
wohl man wie gesagt perfekt deutsch verständliche poli-
spricht, äußerlich nicht groß anders tisch-moralische
aussieht, ’nen deutschen Pass hat. Dann Positionen erwar-
ist man halt jüdisch, da ist man sofort ’ne tet oder eingefor-
ganz andere Person. In manchen Fällen dert werden.
kommt einem ein richtiger Hass entge- picture alliance/dpa

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Hier zeigt sich exemplarisch – in der l Juden sind reich. AUSGANGSBEDINGUNGEN UND
Form einer Gruppendiskussion unter so- l Die jüdische Lobby in Amerika hat PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSARBEIT
genannten bildungsfernen Jugendli- sehr große Macht. GEGEN ANTISEMITISMUS
chen – ein Prozess, in dem das Wissen l Juden sind intelligent.
um die eigene Differenz zu der univer- l Juden sind geheimnistuerisch, sie
salistischen Folgerung führt, dass Diffe- verbergen ihre wahren Absichten Bildungsarbeit als riskante Praxis
renzen in Bezug auf Herkunft oder Reli- und ihr Jüdisch-Sein.
gion zweitrangig sind, keine primären l Juden sind rachsüchtig und gefähr- Notwendiger Ausgangspunkt der Bil-
und zentralen Unterscheidungen be- lich. dungsarbeit gegen Antisemitismus sind
gründen. Für die politische Bildung ge- l Juden sind Kosmopoliten, keine Deut- die Prozesse, in denen Jugendliche sich
gen Antisemitismus stellt es eine wichti- schen. – in Auseinandersetzung mit ihren sozi-
ge Herausforderung dar, solche Prozes- l Juden stehen auf der Seite des Staa- alen Milieus, mit in Gleichaltrigengrup-
se anzustoßen, statt Differenzannah- tes Israel. pen, in den Massenmedien und in Schu-
men durch problematische Konzepte l Der jüdische Staat unterdrückt die len vorfindbaren Annahmen und Deu-
der interkulturellen Pädagogik festzu- Palästinenser. tungsangeboten – plausibel erschei-
schreiben (s. dazu Hormel/Scherr 2004: Diese und andere Argumentationsele- nende Sichtweisen angeeignet haben,
203ff.). mente sind auch unter Jugendlichen d. h. ein mehr oder weniger fundiertes,
vorzufinden, die sich selbst nicht als An- mehr oder weniger problematisches
tisemiten sehen. In diesen Fällen besteht Wissen, das ihren Haltungen gegen-
Juden als Fremde und moralischer ein eigentümliches Spannungsverhält- über Juden, ihrer Argumentation und In-
Anti-Antisemitismus nis zwischen dem moralisch grundier- terpretation zu Grunde liegt. Dabei re-
ten Anspruch, selbst nicht antisemitisch agieren sie auf den Erklärungsbedarf,
Die Differenzkonstruktion „Wir“ und zu sein und sein zu wollen, und einer Un- der entsteht, wenn sie mit Aussagen
„die Juden“ verbindet sich nicht notwen- sicherheit im Umgang mit der Irritation, über die Geschichte des Antisemitis-
dig mit negativen Stereotypen. Sie ist die daraus resultiert, dass Juden als „ir- mus, den Holocaust sowie aktuelle The-
jedoch anschlussfähig für Zuschreibun- gendwie anders“ wahrgenommen wer- men wie den Nahost-Konflikt konfron-
gen, die dem Repertoire antisemitischer den. Dies geht wiederkehrend auch mit tiert werden. Antisemitische Stereotype
Diskurse entnommen sind. Vorzufinden einer Unsicherheit in Hinblick auf die und Vorurteile sind diesbezüglich funk-
sind in den von uns geführten Interviews Frage einher, was wirklich stimmt und tional, denn sie ermöglichen es, die
u. a. folgende Stereotypen: was ein Vorurteil ist. Sachverhalte zu deuten, die über jüdi-
l Juden sind parasitär und nutzen uns Dies ist auch darauf zurückzuführen, sche Geschichte und Juden in der Ge-
aus. dass Vorurteile in der Alltagskommuni- genwart kommuniziert werden. Diesen
l Juden sind Feinde der Christen bzw. kation, in den Medien, aber auch in Deutungsbedarf bringt eine moralische
der Muslime. schulischen Kontexten tradiert werden. Problematisierung von Antisemitismus
Dies betrifft eine mediale Aufklärung nicht zum Verschwinden.
sowie eine Pädagogik, die in guter Ab- Zentrales Ziel anti-antisemitischer Bil-
sicht das Repertoire der Vorurteile des dungsarbeit muss deshalb die Befähi-
Antisemitismus darstellen und damit ein gung zu solchen Deutungen sein, in de-
Wissen über mögliche Vorurteile ver- nen antisemitische Stereotype, Vorur-
breiten will, ohne dies in Formen zu tun, teile und Ideologien verzichtbar und
die zugleich zu einem Verständnis der überflüssig sind. Dabei kann vielfach an
Genese und der Funktion dieser Vorur- das Interesse Jugendlicher, nicht antise-
teile befähigen. Denn wenn Vorurteile mitisch sein zu wollen, angeknüpft wer-
– und dies ggf. unter Verwendung origi- den. Dies ermöglicht eine Rahmung von
närer Texte und Bilder der NS-Propa- Bildungsangeboten, die an die Lernin-
ganda – dargestellt werden, um sie zu teressen Jugendlicher anknüpfen und
kritisieren, ist nicht auszuschließen, ihnen Möglichkeiten der Auseinander-
dass diese in einer Weise gelernt wer- setzung mit Antisemitismus anbieten.
den, bei der die Problematik des je kon- Zudem ist es anzustreben, Antisemitis-
kreten Vorurteils nicht zureichend ver- mus als Ideologie begreifbar werden zu
ständlich wird. Dies führt dann dazu, lassen, die eigene Denk-, Erfahrungs-
dass ein antisemitisches Vorurteil als und Handlungsmöglichkeiten blockiert:
weit verbreitete sowie „irgendwie zu- Antisemitische Deutungen behindern
treffende“ und „irgendwie plausible“ Möglichkeiten der Kommunikation mit
Sichtweise angeeignet wird. und Beziehungen zu Juden, sie verhin-
Politische Bildung ist aufgefordert, anti- dern die Entwicklung rational begründ-
semitische Vorurteile nicht nur als sol- barer und moralisch vertretbarer Positi-
che zu benennen, sondern ihre Adres- onen und sie führen zur Verstrickung in
saten zu befähigen, sich sachhaltig mit ideologische Sichtweisen gesellschaft-
den Vorurteilen zu befassen und zu licher Probleme.
durchschauen, was an diesen falsch ist, Diesen Zielsetzungen ist eine subjekto-
warum sie aber gleichwohl verbreitet rientierte und dialogische Bildungspra-
sind. Dies stellt – insbesondere in Bezug xis angemessen, die sich an den Frage-
auf antisemitische Deutungen des Nah- stellungen, Wissensbeständen und den
ost-Konflikts – eine anspruchsvolle Auf- Lerninteressen ihrer Adressaten orien-
gabe dar, die nicht durch eine morali- tiert. Wenn Adressaten von Bildungsan-
sche Tabuisierung antisemitischer Aus- geboten also z. B. annehmen, dass es
sagen ersetzt werden kann. tatsächlich bedeutsame Unterschiede
zwischen Juden und Nicht-Juden oder

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Albert Scherr

Das anlässlich
einer Ausstellung
im Haus der
Geschichte in
Stuttgart gezeigte
Plakat zum NS-
Propagandafilm
„Jud Süß“: Wenn
antisemitische
Vorurteile – und
dies unter Ver-
wendung originä-
rer Texte und Bil-
der der NS-Pro-
paganda – dar-
gestellt werden,
um sie zu dekonst-
ruieren, ist nicht
auszuschließen,
dass die Proble-
matik des je kon-
kreten Vorurteils
nicht zureichend
verständlich wird.
picture alliance/dpa

gute Gründe für Feindseligkeit gegen- Sichtweisen ist und was an ihre Stelle kann jedoch nicht dadurch erreicht wer-
über Juden bzw. Israel gibt, ist es sinn- treten kann. den, dass problematische Äußerungen
voll, diese subjektiven Überzeugungen Bildungsprozesse sind prinzipiell er- und Überzeugungen von vornherein mit
im Rahmen von Bildungsprozessen nicht gebnisoffen. Ein Verständnis politischer dem Hinweis auf Recht und Moral von
von vornherein zu indiskutablen Vorur- Bildung als offener und dialogischer weiterer Bearbeitung ausgeschlossen
teilen zu erklären, sondern in eine Aus- Prozess kann im Fall von Antisemitismus werden und dass diejenigen diskredi-
einandersetzung mit ihnen einzutreten, jedoch nicht dazu führen, dass auf eine tiert werden, die sie äußern. Denn dies
die zunächst die Möglichkeit gibt, sol- Markierung der Grenzen des legitim verschließt jede Möglichkeit eines wei-
che Sichtweisen und ihre Begründun- Sagbaren verzichtet wird. Und die Er- teren Dialogs mit denjenigen, deren
gen zur Sprache zu bringen. Denn die wartung, dass Bildungsprozesse zu ei- Überzeugungen verändert werden sol-
Möglichkeit, eigene Annahmen und Be- ner Distanzierung und Kritik von Antise- len, wäre also kontraproduktiv. Gleich-
wertungen zu formulieren, ist eine Vor- mitismus führen sollen, ist für Bildungs- wohl bleibt Bildungsarbeit gegen Anti-
aussetzung für daran anschließende arbeit gegen Antisemitismus konstitutiv; semitismus riskant. Sie ist deshalb dar-
Prozesse, in denen erarbeitet werden sie schließt insofern einen normativ de- auf verwiesen, zu beobachten und zu
kann, was die Problematik jeweiliger finierten Erziehungsauftrag ein. Dieser analysieren, bei wem sie unter welchen

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Bildung: Wege zum Subjekt. Hohengehren,
Bedingungen und wodurch welche AUSGANGSBEDINGUNGEN UND
S. 85–93.
Lernprozesse in Gang setzt. Insofern Scherr, Albert (2004): Subjektbildung. In: Otto, PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSARBEIT
sind Evaluation und Selbstreflexion un- Hans-Uwe/Coelen, Thomas (Hrsg.): Grundbe- GEGEN ANTISEMITISMUS
verzichtbare Bestandteile ihrer Prozess- griffe zur Ganztagsbildung. Beiträge zu einem
qualität. neuen Bildungsverständnis in der Wissensge-
sellschaft. Wiesbaden, S. 85–98. Stender, Wolfgang (2011): Antisemitismuskriti-
Bildungsarbeit ist auf entgegenkom- Scherr, Albert (2009): Subjekt- und Identitätsbil- sche Bildungsarbeit. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.):
mendes Interesse ihrer Adressaten an- dung. In: Otto, Hans-Uwe/Coelen, Thomas Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin,
gewiesen. Im Fall der Bildungsarbeit (Hrsg.): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. S. 36–54.
gegen Antisemitismus heißt dies insbe- Beiträge zu einem neuen Bildungsverständnis in
der Wissensgesellschaft. Wiesbaden, S. 137–
sondere, dass sie nur diejenigen errei-
145.
chen kann, die bereit sind, sich kritisch Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2008a): „Ich ANMERKUNGEN
mit gesellschaftlich verbreiteten Formen habe nichts gegen Juden, aber …“. Ausgangs-
von Antisemitismus und ggf. auch mit ei- bedingungen und Perspektiven gesellschafts- 1 Vgl. dazu den instruktiven Text von Michael
politischer Bildungsarbeit gegen Antisemitis- Kohlstruck (2011).
genen Vorurteilen und Wissensdefizi- 2 Die erwähnte Studie wurde unter meiner
mus. Berlin (Amadeu Antonio-Stiftung) (Erweite-
ten auseinander zu setzen. Daraus re- re Fassung online unter: http://www.amadeu- Leitung im Auftrag der Amadeu Antonio-Stiftung
sultieren Grenzen der Möglichkeiten, antonio-stiftung.de/materialien). durchgeführt (s. Scherr/Schäuble 2008a) und
durch Bildungsarbeit gegen Antisemi- Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2008b): war Grundlage der Dissertation von Barbara
„Wir“ und „die Juden“. Gegenwärtiger Antise- Schäuble (2012); eine differenzierte Einordnung
tismus wirksam zu werden. Versuche, in den Kontext der Pädagogik gegen Antisemi-
mitismus als Differenzkonstruktion. In: Berliner
diese unter den Bedingungen der Schul- tismus hat Wolfgang Stender (2011) vorgenom-
Debatte Initial, Heft 1–2/2008, S. 3–14.
pflicht zu ignorieren oder zu überschrei- Scherr, Albert (2012): Aufgabenstellungen, men. Die zu Grunde liegenden bildungstheore-
ten, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsarbeit tischen Grundannahmen sind u. a. in Scherr
kontraproduktiv. Die genuine Chance gegen Antisemitismus in der Einwanderungsge- (2003; 2004; 2009) dargestellt.
sellschaft. In: Gebhardt, Richard/Klein, Anne/ 3 In unserer Analyse präferieren wir ein sozi-
der Bildungsarbeit gegen Antisemitis- alwissenschaftliches Verständnis von Antisemi-
Meier, Marcus (Hrsg.): Antisemitismus in der
mus liegt deshalb in der Qualifizierung Einwanderungsgesellschaft. Weinheim und Ba- tismus als Semantik gegenüber einem psycholo-
und im Empowerment derjenigen, die sel, S. 15–28. gischen Verständnis von Antisemitismus als Vor-
mehr oder weniger starke Motive ha- urteil. Denn es ist riskant, aus Äußerungen – sei
es in Interviews oder in Fragebögen – auf stabi-
ben, keine Antisemiten sein zu wollen. le Persönlichkeitsmerkmale zu schließen (vgl.
dazu Holzkamp 2004).

UNSER AUTOR
4 Wenn hier und im Folgenden von „Wissen“
die Rede ist, dann wird damit nicht zwischen
LITERATUR richtigen und falschen Annahmen unterschie-
den, sondern das bezeichnet, was jeweilige
Frindte, Wolfgang (2006): Inszenierter Antise-
Sprecherinnen bzw. Sprecher als zutreffend be-
mitismus. Wiesbaden.
trachten.
Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Meier, Marcus
5 Eine Folge davon ist auch, wie in unserem
(Hrsg.): Antisemitismus in der Einwanderungsge-
Forschungsprojekt deutlich wurde, dass Lehre-
sellschaft. Weinheim und Basel.
rinnen und Lehrer sowie Sozialpädagoginnen
Holzkamp, Klaus (1994): Antirassistische Erzie-
und Sozialpädagogen oft nicht wissen, wie ihre
hung als Änderung rassistischer „Einstellun-
Jugendlichen außerhalb pädagogischer Kon-
gen“? – Funktionskritik und subjektwissenschaft-
texte denken und reden und entsprechend von
liche Alternative. In: Jäger, Siegfried (Hrsg.):
unseren Einschätzungen „ihrer“ Jugendlichen
Anti-rassistische Praxen. Duisburg, S. 8–29.
Prof. Dr. Albert Scherr leitet das Institut überrascht waren.
Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für
6 Zum Beispiel in Form der Aussage, dass die-
die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden. für Soziologie an der Pädagogischen ses Thema ja nun doch schon allzu oft Gegen-
Klug, Brian (2003): Die Sicht auf Israel als ‘Jude Hochschule Freiburg. Er studierte So- stand gewesen sei, als dezidiertes Beharren auf
der Welt’. In: Bunzl, John/Senfft, Alexandra
(Hrsg.): Zwischen Antisemitismus und Islamo-
ziologie an der Universität Frankfurt der eigenen Position, als offenkundige Provoka-
und promovierte dort im Jahr 1985. tion oder als trotziges Schweigen.
phobie. Hamburg, S. 75–87.
7 Auf den schwierigen Sonderfall der Bil-
Kohlstruck, Michael (2011): Bildung „gegen Von 1981 bis 1983 und von 1985 bis dungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachse-
rechts“. In: Hafeneger, Benno (Hrsg.): Handbuch 1988 war Albert Scherr als Sozialar- nen, bei denen eine geschlossene antisemiti-
Außerschulische Jugendbildung. Schwalbach/ beiter tätig. Anschließend war er wis- sche Ideologie in Verbindung mit neonazisti-
Ts., S. 307–324.
senschaftlicher Mitarbeiter an der Uni- schen oder islamistischen Überzeugungen ge-
Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke,
versität Bielefeld und von 1990 bis geben ist, kann hier nicht eingegangen werden.
Frank-Olaf (2004): Nationalsozialismus: An-
Hier scheitern klassische Konzepte der Bil-
spruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. 2001 Professor für Soziologie und Ju- dungsarbeit, erforderlich ist eine Verbindung
Frankfurt am Main. gendarbeit an der Fachhochschule mit sozial- und gruppenpädagogischen Ar-
Schäuble, Barbara (2012): „Anders als Wir“. Dif-
ferenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus
Darmstadt. 1998 habilitierte er sich an beitsweisen.
der Universität Karlsruhe im Fach Sozio- 8 Hingewiesen ist damit auf ein Defizit der
unter Jugendlichen. Berlin.
gängigen Einstellungs- und Vorurteilsforschung:
Scherr, Albert (2003a): Subjektbildung in Aner- logie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten Dort werden Variablen erhoben, die auf antise-
kennungsverhältnissen. In: Hafeneger, Benno/ gehören die Soziologische Theorie, mitische Einstellungen hinweisen; den Befragten
Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Päda-
Theorien der Sozialen Arbeit, Migrati- wird aber keine Möglichkeit gegeben, sich di-
gogik der Anerkennung. Schwalbach/Ts.,
on, Diskriminierung, Rassismus, Rechts- rekt zu der Frage zu äußern, ob sie sich als Anti-
S. 26–44.
extremismus, qualitativ-empirische Bil- semiten verstehen oder nicht und warum dies
Scherr, Albert (2003b): Subjektbildung als Dis-
der Fall ist.
tanzierung. Elemente einer kritischen Bildungs- dungsforschung und Bildungstheorie
theorie in Zeiten der funktionalen Aktivierung sowie Jugendforschung.
des Subjekts. In: Höffer-Mehler, Markus (Hrsg.):

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GESCHICHTSBILDER – WIE MIT DER VERGANGENHEIT UMGEHEN?

Geschichtsunterricht im Spannungsfeld
geschichtspolitischer Debatten –
Wissensvermittlung, Handlungsorientierung
und kritische Selbstbefragung
Peter Steinbach

Geschichtsunterrichts lassen sich auch sondern bestenfalls ein Lächeln und un-
Die Bedeutung des Unterrichtsfaches nicht, wie im Kaiserreich oder in der er- gläubiges Staunen hervorrufen. Heute
Geschichte ist geschrumpft. Gleichwohl sten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch haben hingegen pragmatische Recht-
ist in der Öffentlichkeit ein breites histo- die nationalpädagogische Identifikati- fertigungsversuche von Fächern und
risches Interesse festzustellen. Histori- on mit der Vergangenheit lösen. Natio- Unterrichtsthemen Konjunktur. „Non
sche Romane, Ausstellungen, Museen, nalbewusstsein durch Geschichtsunter- scholae, sed vitae discimus“ („Nicht für
Spielfilme und Dokumentationen trans- richt schaffen oder festigen zu wollen, die Schule, sondern für das Leben ler-
portieren und produzieren unablässig dies wurde zuletzt in den 1960er Jahren nen wir“) eignet sich allerdings nicht als
Geschichtsbilder, die sich von Genera- gefordert. Diese Absicht würde heute Wahlspruch, um Themen und Unter-
tion zu Generation unterscheiden. Die- nicht einmal mehr lautstarken Protest, richtsfächer pragmatisch, etwa als be-
se Vorstellungen und Deutungen der
Vergangenheit beeinflussen unser Ge-
genwartsverständnis und ermöglichen
die Selbstverortung im Geschichtspro-
zess. Am Beispiel der Finkelstein-De-
batte, die latente antisemitische Stim-
mungen bediente und revisionistische
Ansichten salonfähig machte, zeigt Pe-
ter Steinbach, dass der Geschichts-
unterricht den Umgang mit der Ver-
gangenheit bzw. die Genese von
Geschichtsbildern und deren manipu-
lierende Wirkung thematisieren und
bewusst machen muss. Darüber hinaus
sind im Geschichtsunterricht lebens-
weltliche Zugänge gefragt. Denn die
alltags- und regionalgeschichtliche
Sicht bietet neben der Vermittlung zeit-
geschichtlichen Wissens Gelegenheiten Historische Dra-
zur kritischen Selbstbefragung. Eine men setzen sich
solche Perspektive ermöglicht einen mit Grundsatzfra-
Brückenschlag zwischen der „großen gen auseinander.
Geschichte“ und den lebensweltlichen Das Bild zeigt eine
Erfahrungen unterschiedlicher Genera- Szene aus dem
tionen. Diese selbstreflexive Dimension Stück „Die Ermitt-
eröffnet die Möglichkeit, eigene Einstel- lung“ von Peter
lungen und eigenes Verhalten zu reflek- Weiss in der
tieren. Mithin geht es um die selbstkriti- Volksbühne Berlin
sche Frage nach den eigenen Werten, während der Pre-
Handlungsoptionen, Vorurteilen sowie miere (8.3.1980).
Alltagspraktiken. I In der „Ermittlung“
werden wörtliche
Zitate aus dem
ersten Auschwitz-
„Ist nicht die Zukunft das Kind Prozess aufgegrif-
der Gegenwart?“ fen und drama-
tisch verdichtet. In
„Ohne Vergangenheit keine Zukunft“ – wechselnden Rol-
diese fast regelmäßig zu hörende Fest- len werden
stellung aus gedenkpolitischen Sonn- Anklage, Richter
tagsreden kann den Geschichtsunter- und Zeugen
richt schon seit Langem nicht mehr legi- gespielt.
timieren. Probleme des zeitgemäßen picture alliance/dpa

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rufsvorbereitende oder lebensertüchti- prinzipiell, religiös oder philosophisch GESCHICHTSUNTERRICHT IM
gende Maßnahme, zu begründen. rechtfertigen. Geschichte illustriert SPANNUNGSFELD GESCHICHTS-
Eine Behauptung wie: „Die Zukunft ist dann vor allem die Folgen von Werte- POLITISCHER DEBATTEN
das Kind der Gegenwart“ lässt sich da- verschiebungen und -verlusten für das
bei jedoch allemal nutzen, um berufs- Leben im Gemeinwesen, in Staat, Politik
befähigende Fertigkeiten auch in den und Gesellschaft. wissens- und Erkenntnisfragen in sei-
Unterricht zu implementieren. Welter- Historische Bildung lässt sich überdies nem Stück „Galilei“ verdanken. Es gilt
schließungs- und Reflexionsfächer wie auch andernorts und auf vielfältige auch für Carl Zuckmayers „Des Teufels
Religion, Philosophie oder Geschichte Weise begründen: Historische Romane, General“ oder Rolf Hochhuths „Stellver-
haben es deshalb zuweilen sehr schwer, Ausstellungen, halbdokumentarische treter“, in dem nach Empörungsbereit-
ihren Platz im Kanon der Schulfächer zu Spielfilme, Talkshows oder Dokumenta- schaft und Widerstandswillen gefragt
behaupten, ganz zu schweigen von Fä- tionen tragen dazu bei. Sich damit zu wurde, ganz zu schweigen von dem er-
chern wie Kunst oder Musik, die aller- begnügen, würde allerdings bedeuten, schütternden Oratorium „Die Ermitt-
dings wohl am stärksten lebensprä- die Kenntnisse der englischen Ge- lung“ von Peter Weiss, das mit dem
gend sind. Die Bedeutung des Bildungs- schichte aus Shakespeares Königsdra- Frankfurter Auschwitz-Prozess auch den
fachs Geschichte ist stark geschrumpft. men, der schweizerischen Geschichte Völkermord an den Juden vor das Auge
Dies machen die Kürzungen etwa der aus dem Drama „Wilhelm Tell“ oder des der Nachlebenden rückte.
Mindeststundenzahl im Fach Geschich- Dreißigjährigen Krieges aus Schillers Angesichts der Attraktivität von Ausstel-
te in den Lehrplänen fast aller Länder „Wallenstein“ zu gewinnen. Historische lungen wie „München unter dem Natio-
deutlich. Aber es geht nicht um einen Dramen machen vor allem eines deut- nalsozialismus“, mit der Christof Stölzl
schul- und fächerpolitischen Vertei- lich: Der Nachlebende braucht die Ge- seinen Ruf begründete, der Ausstellung
lungskampf. Natürlich braucht niemand schichte, um sich mit Grundsatzfragen über Hitler im Deutschen Historischen
immer und unbedingt die Vergangen- auseinanderzusetzen. Das gilt sogar Museum Berlin, und der vielschichtigen
heit, um sich in der Gegenwart zu orien- noch für fast zeitgenössische Dichter Berliner Kooperationsausstellung über
tieren, um Werte zu formen und Stand- wie Bert Brecht, dem wir eine grund- die 1933 „Zerstörte Vielfalt“, die hun-
punkte einzunehmen. Werte lassen sich sätzliche Auseinandersetzung mit Ge- derttausende Besucher anzogen und
Spuren im öffentlichen Raum des Stadt-
gefüges hinterließen, angesichts der At-
traktivität von Gedenkstätten, die in
Dachau und Berlin alljährlich jeweils
fast eine Million Besucher nachweisen,
angesichts der Einschaltquoten von
Spielfilmen wie „Die Flucht“ oder „Rom-
mel“ kann nicht von einem allgemeinen
Desinteresse an historischen Stoffen ge-
sprochen werden.
Dennoch steht der Geschichtsunterricht
bei Bildungspolitikern, bei Schülerinnen
und Schülern nicht sehr hoch im Kurs. Es
ist nicht zu bezweifeln, dass vor allem
zeitgeschichtliche Themen wie der Wi-
derstand und die Geschichte des Völ-
kermords an den Juden im zeitgenössi-
schen Geschichtsunterricht zu Ermü-
dungserscheinungen geführt haben.
Die Ursachen sind vielfältig, aber kei-
neswegs eindeutig. Schüler klagen an-
geblich über eine zu intensive Beschäf-
tigung mit der NS-Zeit, dem „Dritten
Reich“, mit nationalsozialistischer Ras-
senpolitik und der Vernichtung der eu-
ropäischen Juden, mit Widerstand. An-
dererseits zeigen die Lehrpläne, dass
die Behauptung von der alleinigen Be-
schäftigung mit der jüngsten Vergan-
genheit in der Schulpraxis keine Bestäti-
gung findet. Zuweilen scheint es, als sei
die oftmals behauptete angebliche
„zeithistorische Übersättigung“ herbei-
geredet, denn die Auswertung von
Gruppenbesichtigungen etwa der Ge-
denkstätten zeigt, dass es Vermittlungs-
formen gibt, die Schülerinnen und Schü-
ler ansprechen und sogar fesseln.
Nicht nur fehlende Kenntnisse zur Ge-
schichte der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts werden beklagt. Eigene Erfah-
rungen machen deutlich, dass sich auch
bei der Frage nach der Geschichte der

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Peter Steinbach
Bundesrepublik ebenfalls Defizite aus-
machen lassen. Medienwirksamer ist es
allerdings, zu beklagen, dass die meis-
ten Schülerinnen und Schüler zu wenig
über die Geschichte der DDR, des „SED-
Staates“, wüssten. Bewiesen wird dies
nicht nur durch Lehrpläne, sondern
durch demoskopische Befragungen, die
in der Regel geschichtspolitische Ziele
verfolgen und deshalb Kontroversen
entfachen. Konsequenz der Defizite
sind dann neue bildungspolitische For-
derungen, die sich an Lehrer und Fächer
richten, aber nicht zu nachhaltigen
Überlegungen über die Funktion und
Wirkung des Geschichtsunterrichts,
über neue Methoden der Vermittlung
oder Unterrichtsinhalte führen. Der amerikanische
Politologe Nor-
man Finkelstein
Eine exemplarische Debatte vor Familienfotos
in seiner Brookly-
Besonders deutlich lässt sich der reflex- ner Wohnung.
haft geforderte Wandel, mit dem die In- Finkelstein löste
stitution Schule konfrontiert wird, in der mit seinem Buch
höchst wechselhaften Zuschreibung „Die Holocaust-
von geschichtspolitischen Zielen am Industrie“ eine
Geschichtsunterricht zeigen. Dabei ge- kontroverse
raten grundsätzliche Dimensionen aus Debatte aus,
dem Blick. Deutlicher wird hingegen die bediente latente
Abhängigkeit der Forderungen von all- antisemitische
gemeinen Meinungsklimata. Stimmungen und
Dies wurde vor einigen Jahren deutlich, verschaffte letzt-
als eine heute fast vergessene Debatte lich in der deut-
über ein Buch ausbrach, das unter dem schen Öffentlich-
Titel „Holocaust-Industrie“1 veröffent- keit rechtsextre-
lich worden war und aus der Feder eines mistischen und
amerikanischen Juden stammte. Der Po- revisionistischen
litikwissenschaftler Norman Finkelstein Ansichten Wider-
warf in seinem Buch US-amerikanischen hall.
jüdischen Organisationen vor, den NS- picture alliance/dpa
Völkermord materiell auszunutzen. Eine
erste Reaktion auf die zu Recht aus dem
Bewusstsein geratene „Finkelstein-De- ierte dieses von Martin Walser ausge- artikulierten ihre geschichtspolitischen
batte“, die dennoch brennspiegelartig sprochene Unbehagen und leitete ei- Vorurteile, und wie im Historikerstreit
viele Vorbehalte verdeutlichte, die den nen argumentativen Dammbruch ein, wurde das Stammtischgerede in die
Geschichtsunterricht belasten, war vor- denn nun konnte ein überwiegend la- Feuilletons und die Leserbriefe hinein-
aussehbar: „Nun streiten sie wieder, die tentes Vorurteil vieler Deutscher artiku- geschwemmt. Denn mehr als die Kontra-
Historiker“, hieß es, wie beim Historiker- liert werden, das sich gegen die materi- henten der erwähnten Debatten be-
streit in der Mitte der 1980er Jahre, wie elle Wiedergutmachung richtete, zu- diente Finkelstein latente antisemitische
in der Goldhagen-Debatte, die etwa gleich aber auf den zeitgeschichtlichen Stimmungen, die sich sonst nur schwer
zehn Jahre später ausbrach, auch wie Unterricht zielte. Dem, das zeigte man- artikulierten, weil ihnen bis dahin die
beim Streit um den Schreiner Johann che Leserbriefkontroverse jener Wo- Resonanz in den Medien verweigert
Georg Elser, der im November 1939 mit chen, standen vor allem Ältere skeptisch wurde. Das Meinungsklima hatte sich
dem Anschlag auf Hitler im Bürgerbräu- gegenüber und hielten ihn im Kern für erstmals mit der Debatte über Walsers
keller dem Ziel denkbar nahe kam, den die Nachwirkung der schuldbeladenen Rede in der Paulskirche vom 11. Oktober
verhassten Diktator auszuschalten. Umerziehungsbemühungen der Sieger- 1998 geändert, zehn Jahre zuvor aber
Die Medien verstärkten damals den mächte nach der Kapitulation der deut- nach der stilistisch ungeschickten Rede
Streit und das Publikum ergriff in der schen Wehrmacht im Mai 1945. Sie des damaligen Bundestagspräsidenten
neuen Kontroverse ebenso Partei wie in warnten schließlich davor, Deutschland Philipp Jenninger noch Bestand gehabt.
der kurz zuvor stattgefundenen Walser- mit Denkmälern und Gedenkstätten zu Erstmals wurde deshalb Finkelstein zum
Debatte, die eigentlich ein Versuch war, überziehen und dehnten den Begriff der Verstärker eines bis dahin weitgehend
durch die Unterstellung, Geschichte „Holocaust-Industrie“ auf die Gedenk- gedeckelten dumpfen Unbehagens und
diene als „Moralkeule“, mit Auschwitz stätten-Industrie aus. verschaffte so in der deutschen Öffent-
klarzukommen, indem diejenigen her- Einige Zeitgenossen wie der Münche- lichkeit rechtsextremistischen und revisi-
ausgefordert worden waren, die an- ner Historiker Michael Brenner warnten onistischen Ansichten Widerhall, die
geblich „Auschwitz“ benutzten, um un- davor, sich in die „Finkelstein-Kontrover- noch Jahre zuvor als geschmacklos ge-
ablässig neue Schulddiskussionen zu se“ einzuschalten (was er mit dieser golten hatten.
entfachen. Norman Finkelstein akzentu- Warnung längst getan hatte), andere

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Vor allem in rechten politischen Kreisen GESCHICHTSUNTERRICHT IM
wurde eine Debatte über die bewusste SPANNUNGSFELD GESCHICHTS-
Verletzung von Normen eröffnet, die als POLITISCHER DEBATTEN
Ausdruck der Political Correctness in das
Zwielicht gerückt wurden. Seit dem His-
torikerstreit, einer 1986 ausgelösten, öf- Gaskammern von Auschwitz geäußert
fentlichen und wissenschaftlichen De- hatte. Leichtfertig über die Zahl der Op-
batte über die Singularität des Holo- fer nationalsozialistischer Gewaltver-
causts, konnten auch angebliche histo- brechen zu diskutieren, dies stellte da-
rische Tabus verletzt werden, ohne zu mals – in den 1980er Jahren vor dem
fragen, ob es diese wirklich gab. Provo- Ausbruch des Historikerstreits – eine
kationen hatten praktische Folgen, wie gesellschaftlich schwer erträgliche Pro-
Brandanschläge auf Notquartiere von vokation dar, welche die Grenzen des
Asylsuchenden, die als „Asylbewerber“ politischen Anstands überschritt.
bezeichnet wurden – im Sprachge- Finkelstein zeigte mit der von ihm ent-
brauch der politischen Rechten wurde fachten Debatte, dass das so oft ausge-
das Wort „Asylant“ diskriminierend ver- rufene Ende der Nachkriegszeit end-
wendet. Die öffentlichen Meinungskli- gültig erreicht war. Damals beriefen
mata wandelten sich, Geschichtslehrer sich zeitgeschichtliche Zweifler auf ihn
waren in der Regel unzureichend dar- und liefen keine Gefahr, die Political
auf vorbereitet worden, weil sie sich auf Correctness zu verletzten, die ja nur von
Fakten und Ereignisse der NS-Zeit kon- denen attackiert wurde, denen die
zentrieren mussten, also „Stoff“ zu be- „ganze Richtung“ nicht passte. Sie be-
wältigen hatten, aber ungenügend auf schworen die Freiheit der Diskussion,
die Anforderungen inhaltlichen Trans- der Meinung und der Gedanken und
fers vorbereitet worden waren. Vor al- machten doch nur deutlich, in welchem
lem im Historikerstreit war die Unver- Maße die Gesellschaft seit den 1970er
gleichbarkeit des Völkermords an den und 1980er Jahren die Grundlagen ei-
Juden betont worden. nes historischen Selbstverständnisses
verlassen hatte, das sich in den 1950er
und 1960er Jahren in Verjährungsde-
Die Gegenwart – batten, in der Konfrontation der deut-
ein Schlüssel zur Vergangenheit? schen Gesellschaft mit den NS-Prozes-
sen und aufrüttelnden Theaterstücken
„Man wird doch fragen dürfen?“, mit festigen konnte.
diesem Satz ließen sich Opferzahlen Zuweilen sind Verletzungen überkom-
und sogar die Realitäten des Massen- mener und nicht in Frage gestellter his-
mords in Vernichtungslagern in Zweifel torischer Erklärungen, wie sie Hochhuth
ziehen, ließ sich gegen die Strafbarkeit mehrfach gelungen waren, wichtig und
der „Auschwitz-Lüge“ zu Felde ziehen richtig. Um eine derartige vorwärtswei-
oder der Alleingänger Elser zum leicht- sende Verletzung ging es aber bei der
fertig handelnden Mörder an Schuldlo- Auseinandersetzung mit den Thesen
sen machen. So wurde in den Debatten Finkelsteins über die angebliche Holo-
Für den Wandel der Stimmung schien es über zeitgeschichtliche Probleme deut- caust Industry nicht. Mit der deutschen
seit den 1990er Jahren durchaus Grün- lich, dass im Geschichtsunterricht auch Übersetzung wurde Finkelsteins Kritik
de zu geben. Israels Palästinapolitik der Umgang mit der Vergangenheit be- am amerikanischen Judentum in einen
wurde zunehmend in der deutschen Öf- handelt werden musste, um die manipu- deutschen Diskussionszusammenhang
fentlichkeit kritisiert und gern mit einer lierende Wirkung historischer Argu- und damit in einen Kontext übertragen,
moralisierenden Frage verknüpft, die mente korrigieren oder zumindest be- der sich völlig von dem unterschied, der
zugleich den Israelis Praktiken unter- wusst machen zu können. jenseits des Atlantiks mit Museen zum
stellte, die bis dahin allein mit dem nati- Geschichtspolitische Auseinanderset- „Holocaust“ und mit Teaching Holocaust
onalsozialistischen Völkermord an den zungen konnten schlagartig deutlich in den Schulen und Universitäten ent-
europäischen Juden verbunden wur- machen, in welchem Maße die Gegen- standen war. Opferverbänden war es
den. Begriffe der NS-Zeit wurden auf wart der Schlüssel zum Verständnis der in den Vereinigten Staaten gelungen,
die Politik Israels übertragen. Vor allem Vergangenheit ist. die Erinnerung an das Verbrechen des
das Verhalten israelischer Soldaten in Der Stimmungswandel war offensicht- Völkermords an den europäischen Ju-
den Libanonkriegen wurde in den medi- lich und auffällig. Man dachte etwa da- den geradezu zum Kern einer neuen Zi-
al vermittelten Debatten erörtert. Mit ran, dass vor einigen Jahren ein bayeri- vilreligion zu machen.
der Ankündigung von Sammelklagen in scher Bundestagsabgeordneter kaum Davon konnte im deutschen Geschichts-
Wiedergutmachungs- und Entschädi- sein starkes Wort überstand, wenn das unterricht aber nicht die Rede sein. Hier
gungsverfahren wurden weiterhin anti- Geld in der Kasse klingle, sei auch der war es um die Singularität der Ereignis-
semitische Stereotype beschworen. Das Jude nicht weit. Man erinnerte sich dar- se, nicht aber um eine Universalisierung
Unbehagen über das geplante Denk- an, dass in Helmstedt ein Realschulleh- der Verbrechen gegangen, die den Zi-
mal zu Erinnerung an die Ausrottung der rer in den 1970er Jahren vorzeitig in den vilisationsbruch verkörperten, der seit
europäischen Juden lenkte den Blick Ruhestand geschickt wurde, weil er sich den 1980er Jahren im Zusammenhang
auf die Gedenkstättenpolitik und schien an der Diskussion über die angeblich mit der Begründung von Gedenkstätten
die These von der Gedenkstättenindus- viel zu überhöhte Zahl der in den Ver- anschaulich gemacht und im Alltag ver-
trie zu illustrieren. nichtungs- und Konzentrationslagern ortet wurde. Gerade dadurch aber wur-
Ermordeten beteiligt und Zweifel an den den Erklärungen der Ereignisse schwie-

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Peter Steinbach
riger, denn nun ging es zunehmend um Geschichte – auch das Bild Wenn wir heute über „Schutzhaft“ spre-
das Verhalten von Großeltern und El- der Vergangenheit im Kopf chen, fällt Jugendlichen nicht sofort die
tern, um die Geschichte der Verfolgung Einweisung in ein KZ ein, sondern sie
im örtlichen Umfeld, damit aber auch Vor 30 Jahren wurde die Beschreibung verweisen auf Guantanamo. Wenn wir
um die Frage nach dem möglichen eige- eines KZ-Wächters, der mit einem Hund über den Verrat von Angriffsplänen
nen Verhalten der Schülerinnen und vor einem Gefangenen stand und die- sprechen, gelingt Schülerinnen und
Schüler, um die Debatte der Vorausset- sen ängstigen wollte, in der öffentlichen Schülern nicht sofort die Verknüpfung
zungen und Folgen von Zivilcourage. Bildsprache und Wahrnehmung mit der mit Regimegegnern aus der NS-Zeit, die
Finkelstein thematisierte keineswegs „blutigen Brigyda“ assoziiert, einer KZ- Kontakte zum Ausland suchten, Informa-
nur heftige Diskussionen, die in den USA Wächterin, die beim von 1975 bis 1981 tionen weitergaben oder sogar An-
seit Langem über die Deutung des Holo- abgehaltenen Majdanek-Prozess an- griffspläne „verrieten“ – sie denken an
caust als Bestandteil einer neuen Zivil- geklagt worden war und die Hunde auf Whistleblower wie Bradley Manning
religion geführt wurden und auf die schwangere KZ-Häftlinge gehetzt hat- und Edward Snowden. Und vollends
Grundlagen politischen und gesell- te. Wenn man heute dieses Bild be- kompliziert gestaltet sich der Zugang
schaftlichen Zusammenlebens zielten. schreibt, denken Schülerinnen und zur deutschen Geschichte in multiethni-
Er trat gegen die sogenannten „Essenti- Schüler vermutlich eher an ein Bild, das scher Perspektive. Was geht uns der Ho-
alisten“ der Deutung des Völkermords nach dem Irak-Krieg entstand und eine locaust an, das mag sich mancher Schü-
an, die bis heute im „Holocaust“ ein sin- amerikanische Soldatin mit einem Hund ler mit Migrationshintergrund denken,
guläres Ereignis sehen. Finkelstein vor einem gefangenen Muslim zeigt. der den Völkermord an den Juden für
selbst könnte hingegen als „Kontextua-
list“ bezeichnet werden, weil er versuch-
te, die Erinnerung an den „Holocaust“ in
allgemeine und prinzipielle Zusammen-
hänge des Erinnerns und Gedenkens zu
rücken. Damit wird die Auseinanderset-
zung mit der Geschichte der NS-Zeit,
gleichsam die „zweite Geschichte des
NS-Staates“, zum Gegenstand des
Nachdenkens über die Vergangenheit.
Die essentialistischen und kontextuellen
Erklärungs- und Deutungsmuster des
Völkermords sind verständlich und legi-
tim. Sie markieren dabei lediglich unter-
schiedliche Zugänge und Funktionen
des Erinnerns und eröffnen deshalb den
Zugang zu einer pluralistischen Deu-
tung der Vergangenheit in einem expli-
zit auf Vielschichtigkeit angelegten Un-
terricht. Denn Bilder der Vergangenheit
befinden sich im Kopf – im Geschichts-
unterricht muss es deshalb auch darum
gehen, ein Gefühl für den Entstehungs-
vorgang von Geschichtsbildern zu ent-
wickeln. Sie schließen sich keineswegs
aus und rechtfertigen deshalb auch
nicht, dass jeweils die eine Denk- und
Deutungsschule die andere Denkschule
verunglimpft.
Finkelstein machte aber nicht nur be-
wusst, dass auch die Erinnerung und die
Auseinandersetzung mit der Vergan-
genheit ihre Geschichte haben, son-
dern auch, dass öffentliches Gedenken
politische Entwicklungen und Ereignisse
reflektiert. Gerade damit ist aber eines
der zentralen Probleme gegenwärtigen
Geschichtsunterrichts verknüpft. Denn
der bereits angesprochene Transfer von
Ereignissen und Bildern auf andere
Epochen und damit auch auf die Ge-
genwart, bedeutet zugleich, dass ge-
genwärtige Erfahrungen und aktuelle
medial vermittelte Bilder die Interpreta-
tion der Vergangenheit und den Zu-
gang zu den in ihr verborgenen grund-
sätzlichen Problemen mitbestimmen.

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ein deutsches oder europäisches Prob- bar an die Epochenbrüche von 1945 GESCHICHTSUNTERRICHT IM
lem halten mag. oder 1989 erinnern. Auch die Anschlä- SPANNUNGSFELD GESCHICHTS-
Diese Frage spiegelt nicht nur Verwei- ge des 11. September 2001 sind nur sel- POLITISCHER DEBATTEN
gerung oder Ablehnung, sondern mar- ten Teil der unmittelbaren Erinnerung.
kiert eine der entscheidenden Heraus- Gerade deshalb ist es wichtig, Zeitge-
forderungen des Geschichtsunterrichts, schichte neu und in einem politisch an- kennt, so wie ein jetzt Lebender den
die sich aus der Verbindung von zeitge- schlussfähigen Kontext zu vermitteln. Ausgang seiner Lebensgeschichte nicht
schichtlicher Erfahrung und Vermittlung Zeitgeschichte lässt sich in diesem Zu- beschreiben kann. Deshalb ist Zeitge-
dieser Erfahrungen an Heranwachsen- sammenhang auf ganz unterschiedliche schichte so nah. Es geht also nicht nur
de ergibt. Im Zuge der Generationen Weise definieren. Bekannt und aner- um brennende und „qualmende“, son-
durch die Zeiten, wie man den zeithisto- kannt ist sie als Geschichte der leben- dern um existentiell herausfordernde
rischen Generationswandel bezeich- den Generationen. Intellektuell heraus- Geschichte – eine Vergangenheit, die
nen könnte, stehen die Geschichtslehrer fordernd ist der Bestimmungsversuch, Menschen betrifft, nicht nur Strukturen,
als wichtige Vermittler der Zeitgeschich- der das Unabgeschlossene betont. Un- keineswegs nur Ereignisse, sondern
te vor immer neuen Herausforderungen, abgeschlossene, also ohne Kenntnis Menschen in ihren Zwängen, Ereignisse
in denen sich die unterschiedlichen Er- der Zukunft wahrgenommene Zeitge- in ihren Auswirkungen für den Zeitge-
fahrungen von Alterskohorten spiegeln. schichte, gab es in diesem Sinne zu al- nossen.
Wer heute mit dem Geschichtsstudium len Zeiten, gleichsam als Geschichte,
beginnt, kann sich nicht mehr unmittel- die ihren eigenen Ausgang noch nicht
Alltagsgeschichte –
ein wichtiger Zugang

Gerade die regionale Zeitgeschichts-


forschung trägt zur Konfrontation des
Menschen mit sich in alltäglichen Situa-
tionen bei und eröffnet vielfältige Deu-
tungsangebote durch Gedenkstätten.
Das macht deren Bedeutung aus. Denn
es geht nicht nur um einen Ort oder um
ein Ereignis, sondern jede Gedenkstät-
te wird zum Exempel für vergangenes
Verhalten, aber auch für die Möglich-
keit, dieses Verhalten in den Mittelpunkt
der zeithistorischen Forschung zu rü-
cken.
In den „Jahrestagen“ von Uwe Johnson,
der gewiss als einer der wenigen wirk-
lich gesamtdeutschen Schriftsteller be-
zeichnet werden muss und gerade des-
halb für viele von uns ebenso fremd wie
befremdlich wirkte, finden wir eine an-
regende Bemerkung zur Beschäftigung
mit der Vergangenheit. Die kleine Ma-
rie, ebenso eigensinnig wie eigenstän-
dig, Tochter der in der Nähe von New
York lebenden Gesine Cresspahl hat
die Geschichte ihrer Vorfahren entdeckt
und lässt sich gern davon erzählen.
„Aber was sie wissen will ist nicht Ver-
gangenheit, nicht einmal ihre. Für sie ist
es eine Vorführung von Möglichkeiten,
Stolpersteine im gegen die sie sich gefeit glaubt, und in
Hamburger Grin- einem anderen Sinn Geschichten.“ 2
delviertel. Das Unbestreitbar böte die Geschichte des
Grindelviertel war Menschen und der Menschheit viele
bis 1933 ein Zen- Möglichkeiten für eine erhebende und
trum der Jüdi- die Herzen bewegende Betrachtung
schen Gemeinden der Vergangenheit, Geschichten der
in Hamburg. Vor Selbstbehauptung, der Selbstfindung,
allem die regio- der Bewährung, also der Geschichte,
nale Zeit- und All- die sogar als Geschichten in ihrer Viel-
tagsgeschichte heit in einem ganz spezifischen Maße
kann zur Konfron- Sinn ergeben. Und zugleich ist sie an-
tation mit alltägli- gefüllt mit Geschichten des individuel-
chen Situationen len, des kollektiven, des unbelehrbaren
beitragen und Versagens. Denn das Jahrhundert, das
Deutungsange- auch nach der Jahrtausendwende noch
bote eröffnen. eine Generation „unser Jahrhundert“ ist
picture alliance/dpa und bleibt, zeigt: In dieser Weise kön-

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Peter Steinbach
nen wir uns nicht immer nähern. Denn und manchmal ein Mensch als Träger Komplex einer „fabrikmäßig betriebe-
Geschichten allein erklären nichts, son- aller dieser Rollen erscheint – vieles nen Tötung“, der untrennbar mit dem als
dern erst Kontexte machen etwas deut- gleichzeitig, nicht selten mit bestem Ge- Rassen- und Weltanschauungskrieg
lich. Sie sind aber sehr schwer zu erfas- wissen. entfesselten Zweiten Weltkrieg zusam-
sen, eigentlich nur zu erzählen, zu deu- menhing. Dieser Begriff sollte deutlich
ten, vielleicht nur anzudeuten. Denn sie machen, in welchem Maße seit Kriegs-
zielen immer in der Vielfalt auf einen Latenter Antisemitismus beginn rassenideologische und -politi-
zeitgeprägten und den Menschen prä- sche Kriegsziele das Handeln der deut-
genden Kern, ein Spezifikum, ein Cha- In der vor mehr als zehn Jahren jäh auf- schen Führung bestimmt hatten. „Indu-
rakteristikum. brausenden und schließlich mit antise- striemäßig betriebener Völkermord“
Was ist aber das Spezifische des Jahr- mitischen Vorbehalten gespickten und galt als singulär und betonte die Einzig-
hunderts, das im zeitgeschichtlich an- politisch geradezu hochkochenden De- artigkeit der nationalsozialistischen
gelegten und zugleich auf universalisie- batte über Finkelsteins Thesen zur „Ho- Makro-Verbrechen. Sie waren möglich,
rende Dimensionen zielenden Zeitge- locaust-Industrie“ spiegelt sich eine weil der Zweite Weltkrieg von der NS-
schichtsunterricht erschlossen werden ganz andere Substanz als in den Kont- Führung von Anbeginn zugleich als Ras-
soll? Es ist sicherlich nicht mehr charak- roversen um die Thesen von Ernst Nolte sen- und Weltanschauungskrieg ge-
terisierbar durch die Überzeugung und über eine von ihm beklagte unvergäng- führt wurde. Finkelstein hingegen be-
den Wunsch des antiken Philosophen, liche Vergangenheit und um Daniel J. nutzte den Begriff „Holocaust-Indust-
die Fragen politischer Existenz in der Si- Goldhagens These von den Deutschen rie“, um eine angebliche gegenwärtige
tuation des einzelnen Menschen aufzu- als „willigen Vollstreckern“ 5 . Ging es bei Bereicherungsstrategie zu beschrei-
spüren. Und es ist ebenso wenig ge- Nolte um Wertungen und Kausalitäten, ben. Ihm ging es nicht um die reale Ge-
prägt durch die Überzeugung, in der nicht zuletzt um Fragen des Vergleichs, schichte, sondern um Wertungsfragen
Befindlichkeit des Menschen die Grund- so handelte es sich bei Goldhagen um und damit um Meinungen.
frage des Politischen aufzeigen zu kön- die politisch-kulturellen Voraussetzun- Bereits Hannah Arendt hatte beobach-
nen. Wir wissen, dass die Einheit zwi- gen der Folgebereitschaft vieler Deut- tet, dass die Deutschen unmittelbar
schen polis und Mensch, zwischen der scher, die Entrechtung und Ausrottung nach dem Krieg dazu geneigt hatten,
politischen Ordnung und dem Individu- angeblich „Minderwertiger“ hinzuneh- bei ihrer erklärenden und sie selbst ent-
um, nicht mehr vorausgesetzt werden men. Bei Nolte ging es um Relativierung lastenden Verarbeitung zeitgeschichtli-
kann, weil sich im Lauf des Menschen der Verantwortung für die deutsche Ge- cher Erfahrungen die Wirklichkeit in
durch die Zeit vielfältigste Differenzie- schichte, bei Goldhagen um den Nach- Meinung aufzulösen. Sie hatte den Be-
rungen ergeben haben. weis eines allgemein verbreiteten „eli- griff der „Derealisierung“ verwendet,
Mensch und Kirche, Mensch und Ge- minatorischen Rassenantisemitismus“ der den Deutschen gestatte, die Rollen
sellschaft, Mensch und Staat – Kirche als Kennzeichen deutscher Allgemein- zu wechseln und Täterverantwortung
und Gesellschaft, Kirche und Staat, befindlichkeit. Keine der Thesen war mit Opfergefühlen zu vermischen. Diese
Staat und Gesellschaft – dies alles in ei- schlüssig und bedurfte gerade deshalb fatale Neigung der „moralisch An-
ner sich rasch erweiternden Welt des nicht nur der Auseinandersetzung mit spruchslosen“ hatte wenig später auch
17., 18. und 19. Jahrhunderts, dies auch ihnen in der Öffentlichkeit, sondern der damalige Bundespräsident Theo-
in einer dann zusammenwachsenden auch im Geschichtsunterricht, der sich dor Heuss bei der Einweihung des
Welt mit Blöcken und Gemeinschaften, dadurch um eine neue Dimension – die Mahnmals in Bergen-Belsen angespro-
Bündnissen. Am Ende dieser Entwick- Auseinandersetzung mit der Entstehung chen. Finkelstein machte deutlich, dass
lung gesellschaftlicher und politischer und Funktion von Geschichtsbildern dieses Diktum nicht nur für die deutsche
Differenzierung und Rationalisierung, und geschichtspolitischen Thesen – er- Seite gilt. Wie weit, so ist nicht erst seit-
Säkularisierung und Individualisierung, weiterte. dem zu fragen, darf der Historiker, der
die Soziologen wie Emile Durkheim, Im Zuge der wenig später beginnenden Publizist und Zeitgenosse bei dieser
Max Weber oder Hannah Arendt auf Diskussionen über die Entschädigung Auflösung der historischen Realität in
den Begriff bringen wollten, stand so ei- von Zwangsarbeitern, die Jahrzehnte Tagesmeinungen gehen?
ne voll ausgebildete totalitäre Antizivil- nach Kriegsende aus einem auch von Die Realität des Völkermords an den Ju-
gesellschaft, die stets als Widerpart der deutschen Wirtschaft gespeisten den, der auch in Deutschland immer
der freiheitlich-verfassungsstaatlich or- Fonds eine geringe Zahlung erhalten häufiger „Holocaust“ oder auch „Sho-
ganisierten Zivilgesellschaft latent war sollten, und der Debatten über das in ah“ genannt wird, war geprägt durch
und realisierte, was Dostojewski in den Schweizer Tresoren deponierte Gold alltägliche Entrechtungen, durch die
„Dämonen“ zunächst nur angedeutet von Juden, die in den Lagern der Natio- Verdrängung der Juden aus dem Wirt-
hatte, als er von dem „neuesten Grund- nalsozialisten ihr Leben gelassen hat- schaftsleben, durch das Novemberpo-
satz der allgemeinen Zerstörung zum ten, richtete sich das Interesse der Öf- grom 1938, durch Enthausung und Ent-
Zwecke der Erreichung guter Endziele“ 3 fentlichkeit zunehmend auf materielle heimatung, durch Gettoisierungen, De-
sprach. Friedrich Nietzsche hatte diese Aspekte der Wiedergutmachung und portationen und Einsatzgruppenmorde,
Empfindung auf seine Weise ausge- nährte so bei manchen, die bis dahin la- durch Techniken der Ausrottung, die
drückt, als er schrieb: „Der Irrsinn ist bei tente antisemitische Vorurteile gepflegt, sich viele bis heute nicht vorstellen mö-
einzelnen etwas Seltenes – aber bei aber nicht offen artikuliert hatten, An- gen und deshalb bezweifeln.
Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die sichten, denen dann Finkelstein, aber Industriemäßig betriebener Völkermord
Regel.“4 auch Walser breitere Resonanz ver- setzte große Fabrikanlagen voraus, die
Vielleicht stehen sich in unserem Jahr- schafft hatten. nur ein Ziel hatten: Menschen zu ermor-
hundert die Menschen deshalb so un- „Holocaust-Industrie“ war für Finkel- den und deren Leichname zu beseiti-
mittelbar, so ungeschützt und ausgelie- stein also etwas ganz anderes als für gen, weil die Nationalsozialisten Men-
fert gegenüber, gleichsam ausgeliefert Adalbert Rückerl, den Leiter der Lud- schen aus rassenideologischen Grün-
einer dem anderen, weil sie ein gutes wigsburger Zentralen Stelle der Lan- den für minderwertig hielten. Vor der
Gewissen haben und deshalb der Mit- desjustizverwaltungen zur Aufklärung Ermordung wurden die Ausgegrenzten
mensch als Gegenmensch, als Täter, als nationalsozialistischer Gewaltverbre- drangsaliert, deportiert, gettoisiert und
Opfer, als Schuldiger, als Unschuldiger, chen. Adalbert Rückerl beschrieb den ausgeplündert, wohlgemerkt auf Befehl

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eines Staates, der sich das Vermögen Schulklasse reichen kann. Damit bietet GESCHICHTSUNTERRICHT IM
der Todgeweihten überdies räuberisch sich die Chance, Erfahrungen unter- SPANNUNGSFELD GESCHICHTS-
aneignete und mit ihnen die Mordaktio- schiedlicher Generationen, von Eltern, POLITISCHER DEBATTEN
nen finanzierte, aber unter Beteiligung Großeltern, Kindern und Enkeln, auf le-
vieler, die versuchten, auch Vorteile aus bensweltliche Erfahrungen zu bezie-
der Entrechtung anderer im Zuge von hen. pekte individuellen Verhaltens, bis hin
Arisierungsmaßnahmen, Versteigerun- Wenn „Geiz geil“ sein kann, wie die zur Problematisierung des Mobbing,
gen und Wohnungsübernahmen zu zie- Werbung verkündet, wenn auf den anzusprechen.
hen. Märkten Vorteile um jeden Preis, auch
Im Alltag wurden die Voraussetzungen des Betrugs, realisiert werden können,
für „Makro-Verbrechen“ gelegt. Darü- dann lässt sich auch über Habgier re- Historikerstreit –
ber zu diskutieren, verschafft dem Ge- den, die sich im Zuge von Arisierungs- ein Deutungsumbruch?
schichtsunterricht eine selbstreflexive maßnahmen Opfer suchte. In diesem
Dimension. Denn nun geht es nicht mehr intergenerationellen Sinn kann Ge- Als Ernst Nolte Mitte der 1980er Jahre
allein um die Verbrechen der führenden schichte dann nicht vergehen, aller- im Zusammenhang mit dem Historiker-
Nationalsozialisten, sondern um alltäg- dings auch nicht mehr zur Anklage im streit hingegen von der nationalsozia-
liches Verhalten, um Vorteilssuche und Generationenkonflikt durch Unterstel- listischen Zeit als einer Vergangenheit
Vorteilsnahme, um Handlungsspielräu- lung des Versagens angesichts vergan- sprach, die nicht vergehen wolle, hatte
me, die genutzt oder zum Nachteil an- gener Ereignisse führen. „Nichts von er den Generationenkonflikt vor Augen,
derer missbraucht werden. Diese kriti- dem, was wir im anderen verachten, ist der sich der Auseinandersetzung mit
sche Reflexion eröffnet die Möglichkeit, uns selbst ganz fremd“, hat Dietrich der Lebensgeschichte der Elterngene-
eigene Vorurteile, Aversionen oder Bonhoeffer 1943 geschrieben. Dieser ration bediente. Darum ging es bei den
Fehlverhalten zu reflektieren, dass bis Satz bietet eine Möglichkeit, im Ge- folgenden Debatten zunehmend weni-
hinein in die Lebenswirklichkeit einer schichtsunterricht grundsätzliche As- ger.

Gedenkinschrift an einer Hausfassade in Leipzig: Die Realität des Völkermords war geprägt durch alltägliche Entrechtungen, durch
die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben, durch das Novemberpogrom 1938, durch Gettoisierungen, Deportationen und durch
industriell betriebenen Völkermord picture alliance/dpa

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Peter Steinbach
Gewiss: Über die Geschichte der NS-
Zeit wurde in der Regel im politischen
Raum gestritten. Debatten über Ausstel-
lungs- und Museumspläne ermöglich-
ten dies ebenso wie die Auseinander-
setzungen um Mahnmale. Dabei ging
es um Konfrontationen und Präsentatio-
nen, um Ästhetik und angebliche Ange-
messenheit. Sie hatten Konjunkturen
und mit diesen nicht nur ihre Zeit, son-
dern auch ihre Chance. Wie allein der
Zeitverlauf, der „Zug der Generationen
durch die Zeit“ wirkte, machen die Fol-
gen der Interessenkonjunkturen im Zu-
sammenhang mit dem Jüdischen Muse-
um von Daniel Liebenskind, dem Mahn-
mal von Peter Eisenman zur Erinnerung
an die Ermordung der europäischen Ju-
den nahe dem Brandenburger Tor oder
die sich fast endlos und quälend hinzie-
hende Debatte über die Neugestaltung
der Topographie des Terrors durch den
Architekten Peter Zumthor deutlich. Im
Kern ging es dabei nicht um eine neue
Gedenkstätte, sondern um die Frage
nach dem Verhältnis von Täter- und Op-
fergeschichte. Diese Differenzierung er-
öffnete dem Geschichtsunterricht neue
wichtige Perspektiven. Denn es ging
nicht mehr um emphatische Betroffen-
heit, sondern um die selbstkritische Fra-
ge nach den eigenen Werten, Hand-
lungsoptionen, Vorurteilen und Alltags-
praktiken.
Im Unterricht, der lebensweltliche As-
pekte erschließt, muss deshalb der Um-
gang mit der Vergangenheit themati-
siert werden. Denn die Art und Weise
der Aufarbeitung der Vergangenheit ist
allein Aufgabe der sich aktuell mit Ge-
schichte Beschäftigenden. In der kriti-
schen Betrachtung der Vergangenheits-
bewältigung wurden immer Handlungs-
optionen deutlich, die gegenwartsori-
entiert sind und deshalb die Sterilität
einer allein retrospektiven Betrachtung
und Bewertung überwinden. Es ist zwar
bemerkenswert, dass sich seit Mitte der Über Ausstellungen und Museumspläne wurde im politischen Raum heftig gestritten.
1980er Jahre alle Auseinandersetzun- So auch über das Mahnmal von Peter Eisenmann zur Erinnerung an die Ermordung
gen um die Zeitgeschichte durch immer der europäischen Juden nahe dem Brandenburger Tor. Das Gelände wird von 2.711
kürzer werdende Halbwertszeiten aus- Betonsteinen bedeckt, die in einem unregelmäßigen Raster angelegt sind und auf die
zeichneten. Ebenso charakteristisch für Besucher wie Wellen wirken. picture alliance/dpa
die Diskussionen ist aber auch, dass das
Interesse an vergangenheitspolitischen
Auseinandersetzungen nicht nachge- die nationalsozialistische Zeit zu über- Ritualisierung von Betroffenheit?
lassen hat. Der Streit um die Vergan- lagern. Die durch verlegerische und pu-
genheit erregt die Deutschen dabei fast blizistisch wirkungsvolle Regie zuge- Geschichte sei das Bild, das sich die
mehr als jede Debatte über Arbeitslo- spitzten Goldhagen- und Walser-Kont- Menschen von der Vergangenheit ma-
senzahlen oder Arbeitsmarktpolitik, roversen ließen den Eindruck entstehen, chen, lautet das Glaubensbekenntnis
über die Krise der Bildung, die Begleit- „Zeitgeschichte“ sei in den Worten von von Konstruktivisten und Dekonstrukti-
umstände der deutschen Vereinigung Hans Rothfels nicht nur die Vergangen- visten. Wenn sich konkrete und reale
oder die Parteifinanzierung. heit der lebenden Generationen, son- Geschichte in Bilder von der Vergan-
Publizisten, die den Umbruch des Jah- dern vor allem ein Politikum und als sol- genheit auflöst, dann ist es für den His-
res 1989 zum „Ende der Nachkriegs- ches bestens geeignet, Menschen emo- toriker, der auch ein politischer Mensch
zeit“ erhoben hatten, mussten sich des- tional zu erregen und politisch zu bewe- ist, nur ein kleiner Schritt zu dem Ver-
halb rasch korrigieren. Zwar schien der gen. Diesen Tendenzen machten die such, die Entstehung dieser Bilder zu be-
politisch instrumentalisierbare Streit um Goldhagen-Debatte und wenig später einflussen. Aus dem Historiker wird bald
die DDR-Geschichte die verbreiteten auch der Streit um die Wehrmachtsaus- der Sinndiskutant und -lieferant, schließ-
zeitgeschichtlichen Kontroversen über stellung ein Ende. lich der Geschichtspolitiker, also ein

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Zeitgenosse, der Geschichte als Argu- torisch beschworenen angeblichen GESCHICHTSUNTERRICHT IM
ment einsetzt, um etwas zu be wegen. Im Sühnebereitschaft der Tätergesell- SPANNUNGSFELD GESCHICHTS-
günstigen Fall begünstigt er Nachdenk- schaften. Die Erinnerungen an die Ver- POLITISCHER DEBATTEN
lichkeit, Reflexionsvermögen, Selbstkri- brechen des Völkermordes verfestigten
tik und beeinflusst so das politische Ver- sich allerdings weniger als Folge kollek-
halten der Einzelnen, die sich der Ge- tiver Erpressungen, sondern stellen sich alisten Unterdrückten. Die Nürnberger
schichte erinnern und daraus Verhal- im Rückblick vor allem als Versuch dar, Prozesse gaben den Mitläufern zwar
tensmaßstäbe zu begründen suchen. Im mit dem Unfassbaren und Unvorstellba- die Chance, sich einzureden, die politi-
ungünstigen Fall wird er zum Lakaien ren irgendwie fertig zu werden. schen und militärischen Führer seien
von Gruppen, Parteien und Politikern, Es dauerte lange, bis man sich einge- verantwortlich. Die Entnazifizierungs-
die an der Vergangenheit vor allem ihre stehen konnte, vieles, sogar sehr vieles verfahren öffneten ebenso die Schleu-
emotionalisierenden Nachwirkungen gesehen, es aber nicht richtig wahrge- sen des Selbstmitleids wie des Entlas-
interessant finden. Dann bedient er Er- nommen zu haben. Was man gesehen tungsgeredes.
wartungen und Empfindungen und ver- hatte, war nicht selten das Ergebnis ei- Das ist das Thema, das die geschichts-
fehlt die Wirklichkeit. ner Konfrontation der Nachlebenden und erinnerungspolitischen Kontrover-
Vor 1933 verwiesen Demagogen auf mit der Vergangenheit. Ihre Wurzeln sen und Bemühungen der 1950er und
die zerstörerische Wirkung der wirt- reichten weit zurück, viel weiter als in 1960er Jahre prägte. Davon können ge-
schaftlichen Macht des Judentums, das Jahr 1968, das eher einen Endpunkt schichtspolitische Rundumschläge nicht
sprachen von Verschwörungen und der Auseinandersetzung mit der Ver- ablenken. Von Kollektivschuld ist schon
wollten die Nichtjuden zu Opfern des gangenheit als ihren Beginn markierte. lange nicht mehr die Rede. Stattdessen
jüdischen Geldstrebens machen. Anti- Die Befreiung der Konzentrationslager rückt die Verantwortung in den Blick,
semiten machten Juden für den Kapita- Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau die jeder Zeitgenosse mitträgt: die Ver-
lismus und den Bolschewismus, für die und Mauthausen konfrontierte die Welt antwortung für das Bild von der Ver-
Freimaurerei und den Liberalismus, für mit dem Leid der von den Nationalsozi- gangenheit, das Ausdruck seiner Bereit-
den Versailler Vertrag und die Novem- schaft ist, die Kraft des Gedankens zu
berrevolution, für Verfall der Sitten und wecken und zu nutzen.
des politischen Stiles verantwortlich.

UNSER AUTOR
Kein politisches Interesse, das sich nicht
mit dem Antisemitismus verbinden ließ.
ANMERKUNGEN
So schien es, als sei der Völkermord an
den Juden eine „putative Abwehrmaß- 1 Norman Finkelstein (2011): Die Holocaustin-
nahme“ und in allen seinen Erscheinun- dustrie: Wie das Leiden der Juden ausgebeutet
wird. München. Das Buch war ein Jahr zuvor in
gen und Konsequenzen im Kern bereits englischer Sprache publiziert worden. Zur De-
im Judenhass, im modernen Antisemitis- batte selbst vgl. Petra Steinberger (Hrsg.) (2001):
mus und in der Machtergreifung ange- Die Finkelstein-Debatte. München und Zürich
legt gewesen. Dies war die eigentliche 2001.
2 Uwe Johnson (1970): Jahrestage: Aus dem
Herausforderung des Historikerstreits.
Leben von Gesine Cresspahl 1. Frankfurt am
Die pädagogische Konsequenz dieser Main, hier zit. nach der Ausgabe der edition
sich zur „Katastrophe von Auschwitz“ Prof. Dr. Peter Steinbach war bis zum suhrkamp NF 500, Frankfurt am Main. 1988,
steigernden Überzeugung war der Sommer 2013 Professor für Neuere und S. 144.
rasch hilflos wirkende Appell „Wehret Neueste Geschichte an der Universität 3 Fjodor Dostojewski (1956): Die Dämonen.
20. Aufl. 1996, S. 127.
den Anfängen!“ oder das Versprechen Mannheim und Leiter der dort angesie- 4 Friedrich Nietzsche (1986): Jenseits von Gut
„Nie wieder!“ Schwüre wurden abge- delten Forschungsstelle „Widerstand und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwi-
geben, Gedenkfeiern wurden veran- gegen den Nationalsozialismus im schenspiele, S. 156.
staltet, Denkmäler errichtet. Dies alles deutschen Südwesten“. Weiterhin ist er 5 Daniel Goldhagen (1996): Hitlers willige
wissenschaftlicher Leiter der Gedenk- Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und
reagierte nicht auf Erwartungen der
der Holocaust. Berlin.
überlebenden Verfolgten und Entrech- stätte Deutscher Widerstand in Berlin.
teten, sondern entsprach der deklama-
IMPRESSUM

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.
Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick
Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77
Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),
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ANTISEMITISMUSKRITISCHE BILDUNGSARBEIT

Praktische Ansatzpunkte einer


antisemitismuskritischen Bildungsarbeit
Tami Ensinger

vollen pädagogischen Umgang mit an- letzungen in alltäglichen pädagogi-


Eine antisemitismuskritische Bildungsar- tisemitischen Äußerungen und Haltun- schen Prozessen erlebt. Wir gehen da-
beit setzt geschützte Lernräume voraus, gen vermitteln sollen. Die auf Anfrage von aus, dass Selbstreflexion und das
die eine Auseinandersetzung mit den durchgeführten Projekttage und Fortbil- Entwickeln persönlicher Zugänge in ei-
Erscheinungsformen, Merkmalen und dungen können verschiedene Themen- nem Klima, das von verletzendem Ver-
Funktionen von Antisemitismus ermögli- schwerpunkte haben und werden im halten geprägt ist, nicht funktionieren.
chen. Eine weitere Voraussetzung für Vorfeld mit den jeweiligen Gruppen ab- Es ist daher unabdingbar, ein wert-
das Gelingen sind Pädagoginnen und gestimmt. Die folgenden Ausführungen schätzendes Klima zu schaffen und kei-
Pädagogen, die einen wertschätzenden beziehen sich nicht nur auf die Arbeit nen Zwang auszuüben. Prengel fordert
Umgang mit den Teilnehmenden pfle- mit Jugendlichen, sondern auch auf die einen gültigen Ethik-Katalog für die pä-
gen und eine angstfreie Auseinander- Bildungsarbeit mit Erwachsenen und mit dagogische Arbeit, der sich an den Ver-
setzung mit antisemitischen Fragmenten Akteurinnen bzw. Akteuren der Bil- pflichtungen der UN-Kinderrechtskon-
und Argumentationsmustern anregen. dungsarbeit. vention orientiert.
Hierzu ist auf der inhaltlichen Ebene ei-
ne antisemitismus- und rassismuskriti-
sche Perspektive notwendig, die von Geschützte Lernräume
Pädagogen und Pädagoginnen eine
vorgängige Selbstreflexion und Positi- Die Bildungsstätte Anne Frank (BAF) ver-
onsbestimmung abverlangt. Auf dieser sucht, die Teilnehmenden der Bildungs-
Grundlage formuliert Tami Ensinger angebote zu einer Auseinandersetzung
mehrere Standards für eine Pädagogik mit den Themen Rechtsextremismus, An-
gegen Antisemitismus: (1) Von Antisemi- tisemitismus und Rassismus anzuregen.
tismus Betroffene müssen im Rahmen Ziel ist es, bei den Teilnehmenden eine
der Bildungsarbeit vor Verletzungen innere Beteiligung anzustoßen. Dies be-
geschützt werden. (2) Zugleich gilt es, inhaltet die Beschäftigung mit den Er-
anti-antisemitische Argumentations- scheinungsformen, den Merkmalen und
muster zu stärken und Antisemitismus Funktionen von Antisemitismen, um die-
stets Einhalt zu gebieten. (3) Im Zentrum se bewusst zu machen und zu dekonst-
der Bildungsarbeit steht die Dekonst- ruieren. Innere Beteiligung bedeutet,
ruktion antisemitischer Stereotype und Denkprozesse anzuregen, in denen sich
Vorurteile. (4) Angemessene Lernarran- die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit
gements, die eine sachlich begründete der Thematik persönlich verknüpfen. Sie
Auseinandersetzung fokussieren, ver- werden dazu angeregt, ihre eigene Per-
zichten auf moralisierende und beleh- spektive im Hinblick auf das Thema zu
rende Ak zente. I reflektieren und andere Perspektiven,
deren Bedeutung, Möglichkeiten und
Einschränkungen kennen zu lernen. Da- Koffer der depor-
bei können sie neue Einsichten entwi- tierten Juden im
Vorbemerkungen ckeln. Museum der
Eine wesentliche Bedingung ist jedoch, Gedenkstätte im
Die in diesem Beitrag beschriebenen diese innere Beteiligung in einem ge- ehemaligen Kon-
pädagogischen Ansätze und Erkennt- schützten Lernraum zu erzeugen, in dem zentrations- und
nisse gründen sich auf Erfahrungen aus die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Vernichtungslager
den pädagogischen Angeboten für Ju- keine Beschämungen erleben müssen. Auschwitz. Mit
gendliche, Lehrerinnen, Lehrer und Mul- Das Erleben von Beschämungen ist, wie jedem Koffer ver-
tiplikatoren sowie Multiplikatorinnen, Annedore Prengel in ihren Untersuchun- bindet sich ein
die in der Frankfurter Bildungsstätte An- gen der Interaktionen zwischen Lehr- menschliches
ne Frank (BAF)1 gesammelt wurden. 2 In kräften und Schülerinnen sowie Schü- Schicksal. Biogra-
Bezug auf die Angebote zu aktuellen lern im Unterricht feststellt, Teil des All- fische Zugänge
Formen von Antisemitismus bietet diese tags in pädagogischen Institutionen. können eine
zum einen Projekttage für Jugendliche Sie spricht dabei von Traumatisierun- innere Beteiligung
an, die für aktuelle Formen des Antise- gen, die stattfinden, wenn Schülerinnen auslösen und so
mitismus sensibilisieren, Auseinander- und Schüler Zeuge „von Szenen wer- zu einer angemes-
setzungen und (Selbst-)Reflexionen an- den, in denen es offensichtlich erlaubt senen pädagogi-
regen und Handlungsperspektiven er- ist, andere zu beschämen. Was Einzel- schen Auseinan-
öffnen sollen. Zum anderen führt die ne als verletzend empfinden, hängt im- dersetzung mit
Bildungsstätte Fortbildungen für Lehre- mer auch von der jeweiligen Situation Antisemitismus
rinnen, Lehrer, Multiplikatorinnen und ab“ (Prengel 2013: 10). Adressaten un- führen.
Multiplikatoren durch, die einen sinn- serer Bildungsarbeit haben häufig Ver- picture alliance/dpa

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Der geschützte Lernraum hat insbe- nicht abzutrennenden strukturellen, ge- PRAKTISCHE ANSATZPUNKTE
sondere in Bezug auf das Thema Anti- sellschaftlichen Ebene verbinden (vgl. EINER ANTISEMITISMUSKRITISCHEN
semitismus eine große Relevanz. Leah ebd.: 175). Dafür ist eine vertrauensvol- BILDUNGSARBEIT
Carola Czollek beschreibt, dass Päda- le und respektvolle Lernatmosphäre
goginnen und Pädagogen, die sich notwendig, in der keine Schuldzuschrei-
in Hochschulseminaren mit dem The- bungen, sondern ein produktiver Um- Entlarvung von Teilnehmenden zielen,
ma Antisemitismus auseinandersetzen, gang mit Widerständen stattfinden und sondern die produktive Auseinander-
häufig mit Affekten und komplexen Ab- in der das Thema Antisemitismus „nicht setzung mit dem Thema fördern. Solche
wehrmechanismen konfrontiert sind, die durch – sehr oft auch sinnvolle – Forde- Bildungsprozesse sollten positiv am
aus „Angst, Aggression, Ausweichen, rungen der political correctness ein Selbstbild der Jugendlichen ansetzen.
scheinbarem Interesse bis zum Sich-un- Schweigen produziert“ (ebd.: 173). Bar- Jugendliche sollen im geschützten Lern-
sichtbar-Machen, Sich-schuldig-Fühlen bara Schäuble stellt in ihrer qualitativen raum ein Problemverständnis dafür ent-
oder Gar-nichts-Fühlen“ (Czollek 2009: Untersuchung (Schäuble 2012; Schäub- wickeln, dass das eigene Selbstver-
172) bestehen können. Sie plädiert da- le/Scherr 2007) bei sich größtenteils als ständnis und die eigenen Deutungen
für, diese Widerstände bewusst zu ma- anti-antisemitisch wahrnehmenden Ju- widersprüchlich sind und sich damit
chen und „über Selbstreflexion die Ver- gendlichen fest, dass Thematisierungen auseinandersetzen (vgl. ebd.: 410).
hältnisse, Diskurse, Bilder und Gefühle, von Antisemitismus, wenn sie einer Logik
die mit dem Thema Antisemitismus in Zu- des Verdachts folgen, von diesen Ju-
sammenhang stehen, zu thematisieren gendlichen „als Aberkennung ihres Rolle und Aufgabe der Moderation
und so Lernprozesse anzuregen, die Selbstverständnisses gelesen werden
subjektive Empfindungen mit histori- und zu Lernblockaden führen“ können Wesentlich ist, den pädagogischen
schen und sozialen Strukturen des Anti- (Schäuble 2012: 412). Es ist daher eine Raum als „Raum der Ermöglichung“ zu
semitismus verknüpfen“ (ebd.), die also grundlegende Bedingung, Bildungs- betrachten. Insbesondere in der Be-
die individuelle Ebene mit der davon prozesse anzuregen, die nicht auf die trachtung eigener Gefühle und Pers-

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Tami Ensinger
pektiven im Hinblick auf das Thema An-
tisemitismus ist mit Befürchtungen zu
rechnen, etwas Falsches zu sagen und
daraufhin beschuldigt zu werden. Da-
her ist mit Blick auf die Gefühle und Be- Eine Bildungsar-
dürfnisse der Teilnehmerinnen und Teil- beit gegen Antise-
nehmer ein vertraulicher Rahmen not- mitismus kann nur
wendig, in dem eigene Gefühle zwar sinnvoll sein, wenn
reflektiert, aber nicht zwingend offen sie zugleich rassis-
ausgesprochen werden müssen und be- muskritisch ist.
wusst Räume der Auseinandersetzung Eine niedrig-
geschaffen werden, die dies ermögli- schwellige Mög-
chen. lichkeit konkreter
Um die Erfahrungen und Sichtweisen Bildungsarbeit ist
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aktion „Schule
ernst zu nehmen, orientiert sich die Mo- ohne Rassismus,
deration im geschützten Lernraum an Schule mit Cou-
Allparteilichkeit und Bewertungsfrei- rage“. Schulen, die
heit. Czollek begreift die Anerkennung diesen Titel erwer-
des Subjekts als Subjekt als einen zent- ben wollen, müs-
ralen Bestandteil ihrer Hochschulsemi- sen bestimmte
nare. Dabei beinhaltet Anerkennung Voraussetzungen
„einen Kanon von Einstellungen und Fä- erfüllen. Mindes-
higkeiten, mit denen Menschen sich be- tens 70 Prozent
gegnen können, ohne einander abzu- aller, die in der
werten“ (Czollek 2009: 173). Es geht da- Schule lernen, leh-
rum, verschiedene Perspektiven wahr- ren oder arbeiten,
zunehmen, sich miteinander darüber zu verpflichten sich
verständigen, Perspektivwechsel zu mit ihrer Unter-
vollziehen und eigene Sichtweisen und schrift, sich gegen
Erfahrungen zu reflektieren. „Dazu ge- jede Form von
hört auch, den je Anderen als von ‚mir‘ Diskriminierung,
getrennt Seienden wahrzunehmen und Mobbing und
zu erkennen, unabhängig von ‚meinen‘ Gewalt sowie
eigenen Erfahrungen, Perspektiven gegen undemo-
oder Bewertungen. Anerkennung des je kratisches Gedan-
Anderen bedeutet, auf die Wahrheit zu kengut einzuset-
verzichten, d. h. darauf zu verzichten, zen.
als Einzige Recht zu haben. Anerken- picture alliance/dpa
nung meint ferner, Menschen nicht zu
bewerten und zu beurteilen“ (ebd.).
schichte und die gegenwärtigen For- nicht in seiner ganzen Breite als Prob-
men von Antisemitismus involviert zu lem der gesamten Gesellschaft wahr-
Antisemitismuskritische sein, die Teil der Gesellschaft sind, in genommen wird, sondern auch, dass
Perspektiven einnehmen der sie leben“ (Messerschmidt 2010: die „Dichotomisierung von Eigen- und
106). Die Wahrnehmung von antisemiti- Fremdgruppe (…) entlang des Gegen-
Einen geschützten Lernraum zu erzeu- schen Haltungen und Handlungen soll- satzpaars muslimisch und nicht-musli-
gen bedeutet auch, dass die Moderato- te untrennbar mit einer rassismuskriti- misch verläuft“ (ebd.) und sich damit
rinnen und Moderatoren sich als Teil schen Perspektive einhergehen und in rassistische Diskriminierungspraktiken
des Problems begreifen und dies trans- der Problemanzeige bei Antisemitismus vollziehen. Eine Bildungsarbeit gegen
parent machen, da nicht davon ausge- Rassismus nicht reproduzieren. In der Antisemitismus kann nur sinnvoll sein,
gangen werden kann, dass sie frei von Studie „…das kommt jetzt wirklich nur wenn sie zugleich rassismuskritisch ist.
eigenen Vorurteilen, unbewussten Ste- aus der muslimischen Welt“ aus dem Daher ist es sicherlich sinnvoll, auch an-
reotypen oder Verwicklungen in (struk- Jahr 2008 (vgl. Follert u. a. 2010) wird dere Formen der Ungleichbehandlung
turelle) Diskriminierungspraktiken sind. auf die Problematik der Externalisie- und Diskriminierung anzusprechen. Da-
Zu empfehlen ist daher eine rassismus- rung von Antisemitismus hingewiesen bei sollten die Gemeinsamkeiten und
und antisemitismuskritische Perspektive: und festgestellt, dass Lehrerinnen, Leh- Unterschiede deutlich werden. Rassis-
„Anknüpfend an die aus der Reflexion rer, Sozialpädagoginnen und Sozial- mus hat beispielsweise eine ähnliche
und Kritik antirassistischer Bildungsar- pädagogen, die Antisemitismus in ihrer Funktion wie Antisemitismus, unterschei-
beit entwickelte ‚rassismuskritische Per- Einrichtung bemerken, diesen zwar als det sich jedoch in der Konstruktion. Die
spektive‘ (…), bei der die strukturelle gravierendes Problem wahrnehmen, ihn Abwertung des konstruierten Anderen
Eingebundenheit in rassistische Struktu- aber ausschließlich bei „muslimischen“ beinhaltet die Zuschreibung der Unter-
ren sichtbar gemacht wird, kann für die Schülerinnen und Schülern verorten ordnung und Machtlosigkeit. Juden
Auseinandersetzung mit Antisemitismus (vgl. ebd.: 201). Dabei wird eine „Diffe- wird hingegen eine besondere Macht
versucht werden, eine antisemitismus- renzlinie zwischen ‚Wir‘ und ‚Die‘ gezo- und Verschwörung unterstellt. Weitere
kritische Perspektive einzunehmen und gen und der Fokus auf eine bestimmte Unterschiede liegen in der Art der Be-
damit eine Bildungspraxis zu entwi- Gruppe von Schülern gerichtet“ (ebd.: nachteiligung.
ckeln, deren Akteurinnen und Akteure 202). Problematisch ist hier nicht nur die Monique Eckmann stellt in ihren For-
sich bewusst sind, selbst in die Ge- Wahrnehmung, dass Antisemitismus schungen fest, dass Rassismus durch Po-

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PRAKTISCHE ANSATZPUNKTE
EINER ANTISEMITISMUSKRITISCHEN
BILDUNGSARBEIT

distanziert, wenn er als solcher erkenn-


bar wird“ (Schäuble/Scherr 2006: 14).
Dies ist ein zentraler Ansatzpunkt für ei-
ne Pädagogik gegen Antisemitismus.
Die nachfolgend genannten Unter-
scheidungen sind für eine differenzierte
Wahrnehmung von Antisemitismus we-
sentlich: In heterogenen Lernräumen
begegnen wir einerseits Haltungen, die
Antisemitismus mit Hilfe anti-antisemiti-
scher Argumentationen ablehnen und
andererseits Haltungen, die Antisemi-
tismus ablehnen, aber auf unbewusst
antisemitische Argumentationen zu-
rückgreifen. Auch ist zwischen bewusst
antisemitischen Argumentationen in
Form von Fragmenten und einer gefes-
tigten antisemitischen Argumentation
zu unterscheiden. Wie im Weiteren ge-
zeigt wird, folgen je nach Haltung und
Argumentation für den pädagogischen
Raum unterschiedliche Handlungsmög-
lichkeiten. Wesentlich ist dabei, keine
festschreibende bzw. stigmatisierende
Klassifikation der Jugendlichen in „Anti-
semiten“ oder „Nicht-Antisemiten“ zu
vollziehen (vgl. ebd.: 47).

Betroffene vor Verletzungen


durch Antisemitismus schützen
Vielfach wird in pädagogischen Räu-
men noch immer davon ausgegangen,
dass die Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer nicht jüdisch sind, solange durch
Biografien oder Bekenntnisse die jüdi-
sche Identität nicht offenkundig wird. In
sitions- und Machtmissbrauch und insti- Umgang mit Antisemitismus unserer Beratungsarbeit haben wir je-
tutioneller Rassismus viel häufiger statt- im pädagogischen Raum doch schon vielfach die Erfahrung ge-
finden als Antisemitismus in eben diesen macht, dass jüdische Jugendliche ihre
Bereichen. Anders verhält es sich mit in- Die Beeinflussbarkeit antisemitischer Identität mit Absicht nicht zu erkennen
terpersonellen und informellen Formen Ansichten ist von den dahinter liegen- geben, um keine Nachteile, Stigmatisie-
von Rassismus und Antisemitismus; hier den Motivationen und Begründungszu- rungen und Anfeindungen zu erleiden.
lassen sich eher Parallelen finden (vgl. sammenhängen abhängig. Eine gefes- Für die Handlungsstrategien im päda-
Eckmann 2006: 215). tigte Ideologie (wie sie im Umgang mit gogischen Raum gehen wir davon aus,
Im Blick auf die potenziell immer vor- organisierten rechtsextremen Kadern dass der Schutz der von Antisemitismus
handenen eigenen vielfältigen Erfah- festzustellen ist) ist nicht durch rationale Betroffenen, d. h. derer, die Verletzun-
rungen von Diskriminierung unter den Argumentationen zu irritieren. gen durch Antisemitismus erleiden, im-
Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist es Was heißt es aber für den pädagogi- mer Priorität hat. Monique Eckmann ori-
unangemessen, nur bestimmte Formen schen Raum, wenn diese Motivationen entiert sich hierfür auch an der Täter-
von Diskriminierung anzusprechen und hinter einzelnen Äußerungen nicht er- Opfer-Zuschauer-Triade: Es ist in vielen
andere nicht zu beleuchten. Es soll hier kennbar sind? In den meisten Gruppen Fällen nötig „Prioritäten zu setzen und
nicht dafür plädiert werden, die persön- ist ein breites Spektrum an Handlungs- sich zuerst den Opfern zu widmen so-
lichen Erfahrungen der Teilnehmenden möglichkeiten vorhanden. In der Regel wie Bystander zu aktivieren, bevor Täter
zu thematisieren und sich mit diesen ist von heterogenen Lernräumen auszu- anzusprechen sind“ (Eckmann 2006:
auseinandersetzen. Viel eher sollte es gehen, das bedeutet, dass es (1) von An- 220). Gehen wir als Pädagogen davon
ein Ziel sein, die verschiedenen gesell- tisemitismus Betroffene im Raum geben aus, dass in Bildungsangeboten immer
schaftlich vorhandenen Diskriminie- kann, es (2) antisemitismuskritische Teil- Betroffene anwesend sein können, geht
rungspraktiken wie Rassismus, Antisemi- nehmerinnen und Teilnehmer gibt und es dementsprechend auch um unsere ei-
tismus, Antiziganismus und andere (3) antisemitische Haltungen im päda- gene Wahrnehmung und Einschätzung.
gruppenbezogene Menschenfeindlich- gogischen Raum vorhanden sein kön- Verdeckte Codes, Anspielungen und
keiten (GMF) 3 mit ihren Parallelen und nen. Barbara Schäuble und Albert unterschwellige Formen von Antisemitis-
Unterschieden zu thematisieren (vgl. Scherr stellen in ihrer Studie fest, „dass mus sind als solche zu erkennen und
Heitmeyer 2012: 15f.). die weit überwiegende Mehrzahl aller ernst zu nehmen, erst dann können Be-
Jugendlichen sich von Antisemitismus troffene geschützt und Verletzungen

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Tami Ensinger
gestoppt werden. Selbst wenn Betroffe- Wichtig ist darüber hinaus, dass die Ar- Handlungsspielraum gegen Antisemi-
ne nicht im Raum sind oder erkannt wer- gumentationsmuster gegen Antisemitis- tismus. In diesem Fall können anti-anti-
den, bedeutet Bildungsarbeit gegen mus nicht auf bloßer Betroffenheit beru- semitische Argumentationen aktiviert
Antisemitismus, Antisemitismus wahrzu- hen, sondern dass die Menschenrechte werden, Teilnehmerinnen und Teilneh-
nehmen, die Betroffenen zu stärken und Grundlage jeder Argumentation sind. mer zum Widerspruch angeregt und
ein diskriminierungskritisches Klima zu Das Argument gegen Antisemitismus ist bestehende Argumentationen gestärkt
schaffen. Wichtig dabei ist, dass den demnach nicht, dass jemand im Raum werden. Diese Handlungsspielräume
Betroffenen der Subjektstatus nicht ab- betroffen sein könnte oder dass antise- werden in einer sehr stark an den Tätern
erkannt werden darf. Niemand darf ge- mitische Äußerungen aufgrund der Sho- orientierten Reaktion häufig außer Acht
zwungen oder gedrängt werden, über ah problematisch sind, sondern dass gelassen. In der Studie von Schäuble/
eigene Erfahrungen zu sprechen. Viel- antisemitische Äußerungen oder Hand- Scherr wurde jedoch festgestellt, dass
mehr ist die Bereitschaft zur Unterstüt- lungen Menschenrechtsverletzungen anti-antisemitischen Jugendlichen häu-
zung ebenso nötig wie Angebote, von darstellen, die die gesamte Zivilgesell- fig angemessene Argumentationsmus-
denen dann Gebrauch gemacht wer- schaft angreifen. Das pädagogische ter gegen Antisemitismus fehlen (vgl.
den kann. Wann eine Verletzung be- Ziel ist Verantwortlichkeit für das eige- Schäuble/Scherr 2006: 93; Schäuble
ginnt und wie diese empfunden wird, ne Handeln um der Achtung der Men- 2012: 434). Diesen Jugendlichen Argu-
entscheiden die Betroffenen selbst. Es schenrechte und der Menschenwürde mente zu geben und sie zu stärken, kann
wäre jedoch problematisch, Betroffene aller willen. also einen wesentlichen Teil der Bil-
auf einen Opferstatus festzulegen. „Je- dungsarbeit gegen Antisemitismus aus-
de Person hat im Prinzip schon einmal Anti-antisemitische Argumentationen machen. Ausschlaggebend ist dabei
jede dieser drei Rollen (Täter, Opfer, Zu- stärken der Einfluss der Peergruppe (vgl. Bil-
schauer) eingenommen, je nach Kontext Gehen wir von heterogenen Lernräu- dungsstätte Anne Frank 2013: 21), d. h.
und Situation. Es geht also nicht um men aus und von Teilnehmerinnen und der Einfluss aus der Minderheitenpositi-
Identitäten, sondern um erlebte Erfah- Teilnehmern mit anti-antisemitischen on heraus, der durch gleichaltrige Peers
rungen!“ (ebd.: 220). Haltungen, die auch anti-antisemitisch bewirkt wird. Dies können Aktivisten,
argumentieren, erweitert dies unseren Kollegen und Freunde sein: „Insofern

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diese konstant zu ihrer Meinung stehen, von Betroffenen) nicht unbedingt einen PRAKTISCHE ANSATZPUNKTE
Konflikte provozieren und ihnen stand- Einfluss. Bei der Problematisierung von EINER ANTISEMITISMUSKRITISCHEN
halten, bewirken sie latente, aber an- antisemitischer Argumentation ist die BILDUNGSARBEIT
dauernde Einstellungsänderungen. Es eigene Argumentation sehr relevant.
sind gerade ihre Konstanz und ihre Kon- Die Begründung dafür, dass Diskrimi-
fliktfähigkeit, die ihnen zum Erfolg ver- nierungen nicht erwünscht sind, darf den „Antisemiten“, sondern um den An-
helfen“ (Eckmann 2006: 223). nicht fehlen. Diese sollte mit Bezug auf tisemitismus (vgl. Eckmann 2006: 211).
Menschenrechte und Demokratie oder Priorität sollte dennoch auch hier der
Antisemitismus immer stoppen auf die im Lernraum schon erarbeiteten Schutz der Betroffenen haben. Dies be-
In heterogenen Lernräumen sind Päda- Einigungen zu Formen der Zusammen- deutet, immer auf Antisemitismus zu re-
goginnen und Pädagogen jedoch auch arbeit und gegenseitiger Anerkennung agieren, auch wenn dieser nicht be-
mit bewussten oder unbewussten anti- stattfinden. Es empfiehlt sich, als Mode- wusst geäußert wird und antisemitische
semitischen Äußerungen bzw. Handlun- ratorin bzw. Moderator des Lernprozes- Äußerungen zu problematisieren.
gen konfrontiert. Unabhängig davon, ses eine Ich-Botschaft zu senden und Durch die direkte Thematisierung von
ob die dahinterliegenden Haltungen deutlich zu machen, dass die eigene Antisemitismus können auch antisemiti-
anti-antisemitisch oder antisemitisch Aufgabe darin besteht, den Lernraum sche Fragmente irritiert werden. Die
sind, d. h. unabhängig davon, ob hinter zu schützen und darauf zu achten, dass Auseinandersetzung mit Stereotypen,
antisemitischen Handlungen eine anti- Menschenwürde und Menschenrechte mit Codes und Verschwörungstheorien
semitische Absicht steckt, müssen diese nicht verletzt werden (vgl. Bildungsstät- kann antisemitische Argumentationen
immer gestoppt werden. Diskriminie- te Anne Frank 2013: 30). dekonstruieren. Verschwörungstheori-
rungskritische Lernräume müssen jede Das Vorhandensein anti-antisemiti- en sind Konstruktionen der Wirklichkeit,
Form der Diskriminierung problemati- scher Haltungen in Verbindung mit un- bei denen diese dualistisch in „Gut/Bö-
sieren und die Betroffenen vor Diskrimi- bewusst antisemitischen Argumenta- se“, „Täter/Opfer“, „Wir/Sie“ aufgeteilt
nierung schützen. Der Grund für die Dis- tionen eröffnet weitere Handlungs- wird. Diese Mythen reduzieren die Kom-
kriminierung hat auf das tatsächliche möglichkeiten. In ihrer Studie gehen plexität der Welt, die so scheinbar ver-
Erleben von Diskriminierung (aus Sicht Schäuble/Scherr davon aus, dass eine stehbar wird. Sie wirken einleuchtend,
Mehrzahl der Jugendlichen Antisemitis- weil sie gesellschaftliche, politische und
mus ablehnt, wenn er für sie als solcher historische Geschehnisse auf einfache
erkennbar wird (vgl. Schäuble/Scherr Weise erklären. Sie erhalten dadurch
2006: 40). Wesentlich für antisemitis- eine Attraktivität für Jugendliche und für
muskritische Bildungsarbeit ist daher, Erwachsene. Diese einfachen Erklä-
anti-antisemitische Haltungen zu stär- rungsmuster müssen in ihren Mechanis-
ken und eigene Verstrickungen in anti- men entsprechend analysiert und hin-
semitische Argumentationen zu thema- terfragt werden. Formulieren Teilneh-
tisieren (vgl. Messerschmidt 2010. 106). merinnen und Teilnehmer Gleichgültig-
Im Folgenden werden verschiedene keit oder gar Desinteresse am Thema
Möglichkeiten erläutert dies zu tun. Antisemitismus, ist es wichtig, zugleich
die Themen aufzugreifen, „die die Ju-
Thematisierung von Antisemitismus gendlichen explizit als ‚ihre‘ Themen
Anti-antisemitische Haltungen können beschreiben“ (Schäuble 2012: 409). Ist
durch die direkte Thematisierung von in Gruppen keine eigene Lernmotivati-
Antisemitismus gestärkt werden. Bei- on zum Thema Antisemitismus vorhan-
spielsweise kann für die Wahrnehmung den, bergen Angebote zu diesem The-
von unbewussten antisemitischen Ste- ma die Gefahr, „keine Lerninteressen
reotypen sensibilisiert werden. Im Zen- adressieren oder anregen zu können“
trum stehen dabei deren Dekonstrukti- (ebd.: 416).
on und die Berücksichtigung von Ab-
wehrmechanismen (vgl. Bildungsstätte (Indirekte) Thematisierung von
Anne Frank 2013: 26). Hierbei ist eine Antisemitismus im Kontext mit
Grundhaltung auf Seiten der Pädago- anderen Fragen und Gegenständen
ginnen und Pädagogen notwendig, die Antisemitismus kann auch in der Ausein-
Eröffnung der nicht entlarvend, identifizierend oder andersetzung mit anderen Gegenstän-
Ausstellung verdächtigend ist. Zu empfehlen ist ein den oder Fragen thematisiert werden.
„Schicksal (un) offener Umgang mit eigenen Verstri- Da Antisemitismus eine Form der Welt-
bekannt“ über den ckungen in antisemitische Konstruktio- erklärung und der eigenen Verortung
Nazi-Terror in nen. Dies wird der Annahme gerecht, darin ist, liegen genau hier die Ansatz-
Neuhausen. Das dass Antisemitismus nicht leicht zu er- punkte für Bildungskonzepte.
Bild zeigt ein kennen ist und bei der Beschäftigung Pädagogik gegen Antisemitismus kann
deportiertes jüdi- mit dem Thema gelernt werden kann, somit auch bedeuten, Antisemitismus
sches Mädchen. welche Erscheinungsformen er hat. Im nicht direkt zu thematisieren und damit
Personifizierte Gegensatz dazu verhindern Moralisie- einen wesentlichen Beitrag für die Ar-
Zugänge zur rungen und Verdächtigungen, dass Teil- beit gegen Antisemitismus zu leisten. Ei-
Geschichte zei- nehmende sich auf eine Auseinander- ne Funktion von Antisemitismus ist die
gen, wie sich Pro- setzung mit dem Thema einlassen. Sie Welterklärung und Identitätsbildung –
zesse der Abwer- verschließen sich aufgrund der Angst, mit einfachen Schuldzuweisungen und
tung des konstru- die eigenen Äußerungen und Annah- klaren Definitionen von Problemverur-
ierten Anderen men könnten vorschnell als antisemi- sachern, von Gut und Böse. Antisemitis-
vollziehen. tisch verdächtigt und entlarvt werden. 4 mus hält Erklärungsangebote bereit für
picture alliance/dpa Wie oben beschrieben, geht es nicht um die Finanzmarktentwicklung und das

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Tami Ensinger
kapitalistische Wirtschaftssystem, für
Prozesse der Globalisierung, für gegen-
wärtige Krisen, für den Nahost-Konflikt
und für den Umgang mit der NS-Ver-
gangenheit und dem Holocaust. Ange-
bote nicht-antisemitischer Erklärung
von gesellschaftlichen Vorgängen und
Strukturen sind daher ein wesentlicher
Teil antisemitismuskritischer Bildungsar-
beit (vgl. Bildungsstätte Anne Frank
2013: 16).
Wesentlich ist eine Auseinanderset-
zung mit dem Kontext, in dem Antisemi-
tismus auftaucht. „Wenn Antisemitismus
in pädagogischen Settings zum Aus-
druck kommt, so ist das eine Widerspie-
gelung dessen, was gesellschaftlich ge-
rade abläuft“ (Messerschmidt 2010:
104). Eine Befragung in Jugendclubs
und Migranten-Organisationen kommt
zu dem Ergebnis, dass der „Umweg
über die thematischen Kontexte antise-
mitischer Äußerungen vielversprechen-
der ist. So könnte die Auseinanderset-
zung mit Antisemitismus zu einer Quer-
schnittsaufgabe werden: Wenn qualifi-
zierte Pädagoginnen und Pädagogen
bei der Bearbeitung unterschiedlicher
Themen und in unterschiedlichen Berei-
chen überlegen, wie sie – dort, wo es
möglich und sinnvoll ist – das Thema An-
tisemitismus einbinden können“ (amira
2009: 10).

Angemessener Umgang
mit Desinteresse

Will man bei Jugendlichen Antisemitis-


mus, dessen Entstehungsbedingungen Jugendlichen nicht einleuchtet, warum men können sich dann unabhängig vom
und Erscheinungsformen thematisieren, dieser behandelt werden soll. In Bezug Lerngegenstand auch auf die Form der
ist zunächst zu fragen, ob dies tatsäch- auf die Vermittlung der Geschichte des Vermittlung beziehen und die Abwehr
lich die Interessen der Jugendlichen Holocaust und Nationalsozialismus von Lernzwängen beinhalten: „Zugleich
trifft. Für Jugendliche, die ein eigenes wissen Jugendliche häufig nicht, was kann die belehrende Bildungspraxis zu
Interesse an der Thematik formulieren, sie mit dem Lerngegenstand verbindet. einer Vergrößerung einer ohnehin be-
sind diese Angebote sinnvoll. Von die- „Auch die Annahme einer überhistori- stehenden Ablehnung des spezifischen
sem Interesse ist jedoch nicht immer schen moralischen Verpflichtung, Anti- Themas beitragen“ (ebd.: 180). Es wird
auszugehen. Wie Barbara Schäuble in semitismus abzulehnen, begründet für deutlich, dass die Akteurinnen und Ak-
den oben erwähnten Untersuchungen die Jugendlichen nicht automatisch ei- teure der Bildungsarbeit sich mit den
konstatiert, gibt es Gruppen, die eigene nen Auseinandersetzungsbedarf“ Motiven der jeweiligen Jugendlichen
Interessen formulieren, aber auch Grup- (ebd.: 179). auf ernsthafte Weise auseinanderset-
pen, die eher desinteressiert sind, oder Wie ist mit solchen Formulierungen, zen müssen, um angemessene Lernar-
aber Gruppen, die sich kritisch gegen- dem Sichtbarwerden von Desinteresse rangements zu entwerfen, in denen vor
über der Thematisierung von Antisemi- oder gar Ablehnung pädagogisch um- allem „eigenständige, sachlich begrün-
tismus äußern und Gruppen, die Wider- zugehen? Problematisch wäre es, trotz dete“ und nicht moralisch begründete
stände gegen diese Thematisierung dieser Feststellung belehrend zu agie- Positionen entwickelt werden, weil ge-
zeigen. Mehrheitlich ist – so Schäuble ren und auf Einstellungsveränderungen gen Antisemitismus gerichtete Jugendli-
– sogar „zu erwarten, dass Jugendliche abzuzielen. Jugendliche sollten nicht che „oft nicht in der Lage sind, eigene
sich eher desinteressiert und/oder ab- auf diese Weise zu Objekten pädago- Ansichten kritisch zu reflektieren und
lehnend gegenüber Bildungsangebo- gischen Handelns werden. Jugendliche antisemitische Aussagen anderer Ju-
ten zeigen, die Antisemitismus zum The- würden dann – so Schäuble – eher „de- gendlicher argumentativ zu entkräften“
ma machen“ (Schäuble 2012: 178). Dies fensiv begründet lernen“ (ebd.) und sich (ebd.: 181).
kann unterschiedliche Gründe haben. bei ihren Äußerungen überlegen, wel-
Es können unter anderem Befürchtun- che Überzeugungen sie für sich behal-
gen vor einer moralisierenden, die eige- ten und welche nicht. Dies führt dazu,
LITERATUR
nen Denkweisen angreifenden Lernat- dass gelernt wird, sozial Erwünschtes zu
mosphäre vorhanden sein oder grund- äußern. Auswirkungen auf die tatsächli- Amira (2009): „Du Opfer! Du Jude“ – Antisemi-
sätzliche Zweifel an der Angemessen- chen Einstellungen hat dies nicht. Die tismus und Jugendarbeit in Kreuzberg. Doku-
mentation der amira-Tagung am 16.9.2008.
heit des Lerngegenstandes, weil den oben beschriebenen Abwehrmechanis-

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PRAKTISCHE ANSATZPUNKTE
EINER ANTISEMITISMUSKRITISCHEN
BILDUNGSARBEIT

Messerschmidt, Astrid (2010): Flexible Feindbil-


der – Antisemitismus und der Umgang mit Min-
derheiten in der deutschen Einwanderungsge-
sellschaft. In: Stender, Wolfram/Follert, Guido/
Özdogan, Mihri (Hrsg.): Konstellationen des
Antisemitismus. Antisemitismusforschung und
sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden, S. 91–
108.
Prengel, Annedore (2013): Plädoyer für einen
ethischen Diskurs. In: Gewerkschaft Erziehung
und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschafts-
bund (Hrsg.): Erziehung und Wissenschaft –
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft. Heft
6/2013, S. 10–13.
Schäuble, Barbara (2012): „Anders als wir“. Dif-
ferenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus
unter Jugendlichen. Anregungen für die politi-
sche Bildung. Berlin.
Schäuble, Barbara/Scherr, Albert (2007) „Ich
habe nichts gegen Juden, aber …“. Ausgangs-
bedingungen und Ansatzpunkte gesellschafts-
politischer Bildungsarbeit zur Auseinanderset-
zung mit Antisemitismen. Amadeo Antonio Stif-
tung. Berlin. URL: http://www.amadeu-antonio-
stiftung.de/w/files/pdfs/schaueblescherrich-
habenichtslangversion.pdf.

Die Wahrneh-
mung von antise- ANMERKUNGEN
mitischen Haltun-
gen und Handlun- 1 Die Bildungsstätte Anne Frank (BAF) setzt
sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus
gen sollte und mit aktuellen Themen der politischen Bil-
untrennbar mit dung auseinander. Dabei steht das Engage-
einer rassismuskri- ment für Menschenrechte und Demokratie im
tischen Perspek- Mittelpunkt der Arbeit. Zu den Angeboten der
BAF gehören Projekttage für Jugendliche und
tive einhergehen. Fortbildungen für Lehrerinnen, Lehrer, Multipli-
picture alliance/dpa katorinnen und Multiplikatoren zu den Themen
Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus
und anderen Formen von Diskriminierung, zu
Berlin. URL: http://amira-berlin.de/Material/ cherten Jahrzehnt. In: Ders. (Hrsg.): Deutsche Menschenrechten und Demokratie, Zivilcoura-
Dokumentation/54.html. Zustände. Folge 10. Berlin, S. 15–41. ge, Migration und zu Mediation/Konfliktma-
Bildungsstätte Anne Frank (2013): Weltbild An- Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migra- nagement.
tisemitismus – didaktische und methodische tionspädagogik. Weinheim, Basel. 2 Die Erfahrungen der BAF wurden in der im
Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in April 2013 veröffentlichten Broschüre „Weltbild
der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main. Antisemitismus – didaktische und methodische
URL: http://www.jbs-anne-frank.de/fileadmin/ Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in
user_upload/Slider/Publikationen/Broschue- der Migrationsgesellschaft“ gebündelt. Der vor-
UNSERE AUTORIN

re_Weltbild_ Antisemitismus.pdf. liegende Beitrag enthält unter anderem Texttei-


Czollek, Leah Carola (2009): Die Ambivalenz, le daraus.
Israel zu kritisieren: Ein Erfahrungsbericht aus 3 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Seminaren zum Thema Antisemitismus im Hoch- (GMF) meint Abwertung, Diskriminierung und
schulbereich. In: Scharathow, Wiebke/Lei- Gewalt gegenüber Menschen, die auf einer
precht, Rudolf (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 2: Ideologie der Ungleichwertigkeit basiert.
Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwal- Gruppenbezogen ist die Menschenfeindlich-
bach/Ts., S. 171–182. keit, weil sie kein „interindividuelles Feind-
Eckmann, Monique (2006): Rassismus und Anti- schaftsverhältnis“ ist, sondern ein Verhältnis
semitismus als pädagogische Handlungsfelder. zwischen Gruppen bezeichnet (Heitmeyer
In: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Messer- 2012: 15 f.). Wesentlich ist, dass die durch GMF
schmidt, Astrid/Schäuble, Barbara (Hrsg.): beschriebenen Gruppen keine Gruppen an sich
Neue Judenfeindschaft – Perspektiven für den sind, sondern als solche konstruiert werden.
pädagogischen Umgang mit dem globalisier- Tami Ensinger, M. A. in Pädagogik, ist 4 „Eine Auseinandersetzung mit Widersprü-
ten Antisemitismus. Frankfurt am Main, S. 210– chen zwischen dem eigenen Selbstverständnis
232. Bildungsreferentin in der Bildungsstätte
und eigenen Deutungen erscheint in solchen
Follert, Guido/Stender, Wolfram (2010): „das Anne Frank (Frankfurt am Main). Ihre Gruppen nur denkbar, wenn die Jugendlichen
kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Arbeitsschwerpunkte sind die Entwick- ein eigenes Problemverständnis entwickeln und
Welt“ – Antisemitismus bei Schülern in der lung pädagogischer Konzepte gegen wenn eine Ausgangssituation hergestellt wird,
Wahrnehmung von Lehrern und Schulsozialar- in der sie Widersprüche in ihren Aussagen
aktuelle Formen von Antisemitismus und
beitern – Zwischenergebnisse aus einem For- wahrnehmen können, ohne den Eindruck zu ha-
schungsbericht. In: Stender, Wolfram/Follert, die Beratungsarbeit gegen Rechtsext- ben, dass ihnen damit Gesichtsverlust droht
Guido/Özdogan, Mihri (Hrsg.): Konstellationen remismus und gruppenbezogene Men- oder ihre Persönlichkeit infrage gestellt ist“
des Antisemitismus. Antisemitismusforschung schenfeindlichkeit. Tami Ensinger ist (Schäuble 2012: 410).
und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden, zudem Lehrbeauftragte der TU Darm-
S. 199–223.
Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene stadt zu den Themen Pädagogik in der
Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsi- Migrationsgesellschaft, Rechtsextre-
mismus und Antisemitismus.

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POTENZIALE DER HISTORISCH-POLITISCHEN BILDUNG

Chancen und Grenzen historisch-politischer


Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung
mit Antisemitismus
Patrick Siegele

siert“ und Empathie für ehemals verfolg- Der Zusammenhang zwischen


Wie kann historisch-politische Bildung te Gruppen weckt. Antisemitismus und der
antisemitischen Einstellungen wirksam Im Rahmen der in diesem Heft dokumen- Verharmlosung des NS-Regimes
begegnen? Solides historisches Wissen tierten Tagung „Antisemitismus heute“
ist hierfür durchaus notwendig, reicht der Landeszentale für politische Bil- Für das Thema dieses Beitrags ist ein
allein aber für die Auseinandersetzung dung Baden-Württemberg habe ich Blick in die neueste empirische Studie
mit Antisemitismus nicht aus. Moralisie- Lehrkräfte und außerschulische politi- von Oliver Decker, Elmar Brähler und Jo-
render und bloß belehrender Unterricht sche Bildnerinnen und Bildner nach den hannes Kiess interessant, die 2012 von
ebenso wenig. Will man bei Schülerin- Zielen gefragt, die ihnen bei der Ver- der Friedrich-Ebert-Stiftung herausge-
nen und Schülern den Aufbau einer mittlung der Geschichte des National- geben wurde. 2 Das Autorenteam unter-
eigenen historisch-politischen Urteils- sozialismus und Holocaust besonders sucht in dieser Studie die Einflussfakto-
kompetenz fördern, so ist eine ange- wichtig sind. Die Ergebnisse lassen sich ren auf antisemitische Einstellungen
messene didaktische Perspektive und wie folgt zusammenfassen: (siehe Abb. 1).
Analyse dessen, was schulische und l Wissen über historische Ereignisse Menschen, die zu Antisemitismus nei-
außerschulische Bildung bewirken soll, vermitteln; gen, tendieren gleichzeitig in hohem
notwendig. Dies schließt das Nachden- l zeigen, welche gesellschaftlichen Maße zu chauvinistischen Einstellun-
ken über didaktisch-methodische Zu- und politischen Bedingungen den gen, also zu einem übersteigerten Nati-
gänge mit ein. Patrick Siegele plädiert Holocaust möglich machten; onalgefühl. Dies zeigt sich z. B. in einer
für multiperspektivische Herangehens- l die Rollen von Einzelnen als Opfer, hohen Zustimmung zur Aussage, dass es
weisen, die einer eindimensionalen Täter, Zuschauer oder Helfer aufzei- oberstes Ziel deutscher Politik sein soll-
Sicht ent gegenwirken. Die jüdische Ge- gen; te, Deutschland die Macht und Geltung
schichte ist mehr als eine Verfolgungs- l Demokratie wertschätzen und stär- zu verschaffen, die ihm zustehe (27,4
geschichte. Es gibt zahlreiche Beispiele ken; Prozent Zustimmung). An zweiter Stelle
einer friedlichen Koexistenz von Juden l Kontinuitäten in antisemitischen, ras- kommt bereits der Faktor „Verharmlo-
und Nicht-Juden, die es auch im Unter- sistischen oder anderen menschen- sung Nazi-Deutschlands“. Dies betrifft
richt darzustellen gilt. Zudem darf sich verachtenden Ideologien aufzeigen; den primären wie den sekundären Anti-
außerschulische und schulische Bil- l Entsetzen und Betroffenheit erzeu- semitismus gleichermaßen. 3 Menschen,
dungsarbeit nicht darauf beschränken, gen; die der Aussage „Ohne Judenvernich-
nur die jüdische Opferrolle zu themati- l das Nachdenken über die Gegen- tung würde man Hitler heute als großen
sieren. Eine multiperspektivische Her- wart fördern; Staatsmann ansehen“ oder „Der Natio-
angehensweise an die Geschichte des l auf antisemitische Einstellungen bei nalsozialismus hatte auch seine guten
Holocaust verlangt auch die Beschäfti- den Zielgruppen einwirken. Seiten“ zustimmen 4 , sind in einem höhe-
gung mit Tätern, Helfern und Zuschau- Bereits diese kleine Auswahl zeigt, dass ren Maße antisemitisch.
ern. Eine wesentliche Motivation Pädagoginnen und Pädagogen, wenn Reichen diese Ergebnisse aus, um zum
erwächst zudem aus lebensweltorien- sie zu den Themen Nationalsozialismus Schluss zu kommen, dass Bildungsar-
tierten, biografischen und lokalge- und Holocaust arbeiten, in der Regel beit, die der Verharmlosung des Natio-
schichtlichen Ansätzen, die einen Brü- mehr wollen, als „nur“ Wissen vermit- nalsozialismus entgegenwirkt, ein wirk-
ckenschlag zwischen der abstrakt teln. sames Mittel ist, um antisemitische Ein-
anmutenden Geschichte und der kon- Oft sind die pädagogischen Ziele mit stellungen zu verändern? Wolf Kaiser,
kreten Lebenswelt Jugendlicher ermög- dem Wunsch nach Einstellungsverän- der die Bildungsarbeit an der Gedenk-
lichen. I derungen oder mit moralischen und und Bildungsstätte Haus der Wannsee-
ethischen Fragestellungen gepaart. Un- konferenz verantwortet, schreibt, dass
abhängig von diesen anspruchsvollen für viele, die sich gegen Antisemitismus
pädagogischen Zielsetzungen gibt es engagieren, das Entsetzen über den
Ziele historisch-politischer in der Fachöffentlichkeit einen Diskurs Holocaust der Ausgangspunkt ist; und
Bildungsarbeit darüber, ob und wie die Auseinander- dass sowohl die, die antisemitische Ein-
setzung mit dem Holocaust wirksam ge- stellungen teilen, als auch jene, die sie
Im Anne Frank Zentrum erleben wir im- gen aktuelle Erscheinungsformen des bekämpfen, den Holocaust nicht igno-
mer wieder, dass Lehrkräfte ihren Be- Antisemitismus sein kann. rieren können. Am deutlichsten zeigt
such in unserer Ausstellung1 damit be- Bevor ich mich diesem Diskurs näher sich das beim sogenannten „sekundär-
gründen, auf antisemitische Vorfälle an widme, soll ein Blick in die empirische en Antisemitismus“, der als Reaktion auf
ihrer Schule reagieren zu wollen. Der Forschung helfen, die Zusammenhän- den Holocaust und dessen Erinnerung
Besuch wird mit der Erwartung ver- ge zwischen aktuellen antisemitischen entstanden ist. Es liegt für Wolf Kaiser
knüpft, dass die Auseinandersetzung Einstellungen und einer spezifischen auf der Hand, „dass solides Wissen
mit dem Holocaust Jugendliche gegen Sicht auf die NS-Geschichte zu ver- über den nationalsozialistischen Mord
Antisemitismus und Rassismus „immuni- orten. an den Juden notwendig, wenn auch

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Abbildung 1: Regressionsanalyse zu Einflussfaktoren auf den primären CHANCEN UND GRENZEN HISTORISCH-
Antisemitismus POLITISCHER BILDUNGSARBEIT

Chauvinismus (,4)

Verharmlosung Nazi-Deutschlands (,36) drücklich die Auseinandersetzung mit


Antisemitismus im Schulunterricht als ei-
Höheres Lebensalter (,07) genständiges Thema. 8

Hohes Einkommen (,06)


Primär antisemitische Die Verbindung von Geschichte und
Einstellung Gegenwart aus fachdidaktischer
Wirtschaftliche Deprivation (,05)
Perspektive
Niedrigere Bildung (,04)
Historisches Lernen ist aus Sicht der Ge-
schichtsdidaktik mehr als reine Wis-
Soziale Deprivation (,04) sensvermittlung. Die in vielen Rahmen-
lehrplänen mittlerweile als zentrale
Migrationshintergrund (,03) Kompetenz verankerte Narrativität soll
Schülerinnen und Schüler zum selbst-
Die empirische Studie „Die Mitte im Umbruch“ untersucht u. a. Einflussfaktoren auf den ständigen historischen Denken und Ur-
Antisemitismus. „Verharmlosung Nazi-Deutschlands“ steht an zweiter Stelle. Dasselbe teilen, zur Deutung von Zusammenhän-
Bild zeigt sich beim sekundären Antisemitismus. Die Zahl in Klammern beschreibt die gen, aber auch zu Folgerungen für die
Stärke im Verhältnis zu den anderen Merkmalen. Ralf Melzer/Friedrich Ebert Stiftung 2012 Gegenwart und Zukunft befähigen. Die
„Urteils- und Orientierungskompetenz“,
wie sie z. B. im Rahmenlehrplan der
nicht ausreichend ist, um die Bereit- nen Fächern unreflektiert eingesetzt Gymnasialen Oberstufe (Sekundarstu-
schaft, dem Antisemitismus entgegen- werden. Ein weiterer Kritikpunkt des Ex- fe II) Berlin/Brandenburg gefordert
zutreten, zu stärken.“ 5 Auch bei der Un- pertenkreises ist die Beobachtung, dass wird 9, besagt, dass Schülerinnen und
terscheidung zwischen einer legitimen im Zuge der Behandlung des Holocaust Schüler dazu befähigt werden sollen,
Kritik an der Politik Israels und antisemi- häufig überzogene moralische Erwar- Geschichte zur reflektierten und ver-
tischen Äußerungen zum Nahostkonflikt tungen an die Schülerinnen und Schüler nunftgeleiteten Werte- und Urteilsbil-
sind historische Kenntnisse vonnöten, gestellt werden. Diese können bei den dung, zur Identitätsbildung und zum
z. B. wenn das Vorgehen der israeli- Betroffenen Frustrationen bewirken und sinnvollen Tun nutzen zu können. Histo-
schen Regierung gegenüber den Paläs- in einen typischen „Schuldabwehr“-An- risches Lernen hat im Idealfall also Ein-
tinensern auf eine Stufe mit den von Na- tisemitismus münden. fluss auf aktuelle Einstellungen und Hal-
tionalsozialisten begangenen Verbre- Außerdem kann die unreflektierte Nut- tungen – so auch auf antisemitische Ein-
chen an Juden gestellt wird. zung von NS-Propagandamaterial im stellungen und deren Beurteilung aus
Geschichtsunterricht dazu führen, dass der Geschichte für die Gegenwart und
sich bestimmte rassistisch-antisemiti- Zukunft.
Was kann historisch-politische sche Bilder in den Köpfen der Schülerin- Politikdidaktische Vorgaben bestätigen
Bildungsarbeit leisten? nen und Schüler festsetzen. Und die Tat- diese Zielsetzung. Im Rahmenlehrplan
sache, dass der Nahostkonflikt in Schu- des Landes Nordrhein-Westfalen für
Sowohl in der Wissenschaft als auch in le und Unterricht wenig bis gar nicht das Unterrichtsfach Politik ist unter der
der Bildungspraxis gibt es berechtigte thematisiert wird, hat ein Informations- Zielsetzung „Politische Urteilskompe-
Zweifel am unmittelbaren Erfolg his- defizit zur Folge, das Schülerinnen und tenz“ Folgendes konkretisiert: Schüle-
torisch-politischer Bildung bei der Be- Schüler besonders anfällig macht für ei- rinnen und Schüler sollen sich ihre „ei-
kämpfung aktueller antisemitischer Er- ne einseitig negative und überzogene genen Voreinstellungen zu Politik auf
scheinungsformen. Der vom Bundesmi- Darstellung der Rolle Israels in diesem verschiedenen Ebenen – von aktuellen
nisterium des Inneren mit einer Ex pertise Konflikt. 7 Themen bis zum eigenen Menschenbild
beauftragte unabhängige Experten- Die Kritik, die auch auf die außerschuli- – bewusst machen können und bereit
kreis Antisemitismus fasst dies folgen- sche Bildungspraxis zutrifft, konzent- sein, sie in der Auseinandersetzung mit
dermaßen zusammen: In Hinblick auf riert sich vor allem auf die Umsetzung anderen Sichtweisen und neuem Wis-
die schulische Praxis gilt zu bedenken, und die Methoden historisch-politischer sen kritisch zu prüfen und zu verändern“.
dass „[die] Schulausbildung bei der Tra- Bildungsarbeit. In einem anderen Punkt In Hinblick auf die politische Hand-
dierung antisemitischer Stereotype in hat der Expertenkreis aber grundsätzli- lungskompetenz ist u. a. als Ziel be-
mehrfacher Hinsicht eine Rolle spielen chere Zweifel. Denn laut Auskunft der schrieben, dass die eigenen politischen
[kann]“. 6 So haben Untersuchungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister Meinungen und Urteile sachlich vertre-
Schulbuchforschung die Frage aufge- der Länder (KMK) wurden die Lehrpläne ten werden können. Wesentlich gehört
worfen, ob durch die einseitige Hervor- mittlerweile in vielen Bundesländern um zu dieser Kompetenz, „sich mit antide-
hebung der jüdischen Opferrolle in Un- die Themen „Jüdisches Leben“, „Jüdi- mokratischen Denkmustern und mit au-
terrichtswerken nicht antisemitische sche Geschichte“ oder „Israel heute“ er- toritaristischen Argumentationen kri-
Stereotype tradiert werden. Durch die gänzt. Der Schwerpunkt liegt dabei tisch auseinander[zu]setzen und auf sie
Fokussierung auf diesen Einzelaspekt aber offenbar und weiterhin eindeutig angemessen reagieren [zu] können“.10
werden historische Phänomene verkürzt auf der Auseinandersetzung mit der Ju- In beiden Fachdidaktiken ist also von
und vereinfacht. Eine wichtige Rolle bei denverfolgung in der NS-Zeit und der Werteerziehung die Rede, ohne dass
der Tradierung solcher Stereotype kön- hieraus abgeleiteten „besonderen Ver- diese Werte genauer definiert werden.
nen auch Kinder- und Jugendbücher antwortung Deutschlands für Israel“. Hier kann die Menschenrechtspädago-
spielen, die im Unterricht in verschiede- Nur ein Teil der Länder benennt aus- gik eine wichtige Hilfestellung geben.

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Patrick Siegele
Menschenrechtsbildung hat zum Ziel, den pädagogischen Programmen zur Autoren empfehlen, Jüdinnen und Ju-
den Einzelnen zu befähigen, Menschen- Ausstellung gibt es – egal für welche Al- den als „aktive Bürger und kreative Ge-
rechte zu fördern, zu schützen und zu tersstufe – immer einen Teil, der sich mit stalter“ zu vermitteln und – jenseits der
leben. Dazu gehört laut Anja Mihr „his- dem Titel, der Konzeption und dem Auf- Auseinandersetzung mit dem Holocaust
torisches Hintergrundwissen“. Die Be- bau der Ausstellung beschäftigt. Schü- – die Geschichte des friedlichen und ko-
schäftigung mit zeitgeschichtlichen Bei- lerinnen und Schüler sollen sich in die operativen Zusammenlebens von Juden
spielen kann helfen, Ursachen von Lage von Ausstellungsmachern verset- und Nicht-Juden in Deutschland und Eu-
Menschenrechtsverletzungen und ge- zen und kritisch reflektieren, wie Ge- ropa zu vermitteln. Das betrifft auch die
genwärtige menschenrechtliche Nor- schichtsnarrative entstehen. Zeit nach 1945. Die deutsch-jüdische
men und Standards besser zu verste- Geschichte endet nicht mit dem Holo-
hen. Anhand praktischer Beispiele aus Jüdische Geschichte – caust. Gerade nach der Zuwanderung
Geschichte und Gegenwart können in- mehr als eine Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden aus der ehema-
ternationale Menschenrechtsstandards Ein immer wieder geäußerter Kritik- ligen Sowjetunion nach 1990 haben wir
„als Orientierungsrichtlinie für verant- punkt, der sich an die historisch-politi- wieder Beispiele jüdischen Lebens in
wortungsbewusstes Handeln vermittelt sche Bildung wendet, ist jener, dass sie Deutschland, die in der schulischen Aus-
werden“11 . Die Beschäftigung mit Ge- dazu beitrage, die deutsch-jüdische einandersetzung mit dem Judentum viel
schichte zeigt, welche Ursachen und Geschichte auf ihre Verfolgungs- und zu wenig Beachtung finden.13
Folgen Menschenrechtsverletzungen Vernichtungsgeschichte zu reduzieren. Wie berechtigt diese Kritik ist, fällt uns
haben können. Im Rahmen der Ausein- Auch die bereits zitierte unabhängige im Anne Frank Zentrum immer dann auf,
andersetzung mit dem Nationalsozia- Expertenkommission sieht hier einen wenn Religions- und Ethiklehrer im Rah-
lismus und Holocaust können aus der wesentlichen Grund dafür, dass Jüdin- men der Beschäftigung mit dem Juden-
Perspektive der Menschenrechte kon- nen und Juden vorwiegend als Objekte, tum das Anne Frank Zentrum besuchen,
krete Lehren gezogen werden, welche Verfolgte und Opfer präsentiert wer- anstatt z. B. das jüdische Gemeinde-
die Auswirkungen von Antisemitismus den. zentrum, das Jüdische Museum oder ei-
auf struktureller Ebene zu verstehen hel- Das Leo Baeck Institut, das die Ge- ne Synagoge als außerschulischen
fen. schichte und Kultur der deutschsprachi- Lernort ins Auge zu fassen.
gen Juden erforscht und dokumentiert, Ein gutes Beispiel, das den vom Leo
hat eine Orientierungshilfe herausge- Baeck Institut beschriebenen Empfeh-
Empfehlungen für die anti- geben, die Pädagoginnen und Pädago- lungen folgt, sind die von der Bundes-
antisemitische historisch-politische gen dabei unterstützen soll, diese ein- zentrale für politische Bildung heraus-
Bildungsarbeit seitige Wahrnehmung zu reflektieren gegebenen Unterrichtsmaterialien „An-
und zu verändern. Die Autorinnen und tisemitismus in Europa“. Sie beschreiben
Erwartungen zurückschrauben
Historisch-politische Bildungsanstren-
gungen müssen nicht immer die passen-
de Antwort auf eine antisemitische Äu-
ßerung oder Tat sein. Wenn „Du Jude“
als Schimpfwort im Schulhof fällt, ist der
Besuch der nächstgelegenen KZ-Ge-
denkstätte nicht zwangsläufig die päd-
agogisch sinnvollste Reaktion. Es geht
vielmehr darum, Erziehungsansprüche
im Kontext der Beschäftigung mit dem
Holocaust kritisch zu reflektieren und
gegebenenfalls zurückzunehmen. Für
Wolf Kaiser besteht die Herausforde-
rung darin, eine Balance zu finden zwi-
schen Konzepten reiner Wissensorien-
tierung und einer eher gleichgültigen
Haltung, alle Meinungen – auch die auf
Unwissen oder moralisch unakzeptab-
len Einstellungen basierenden – unkom-
mentiert im Raum stehen zu lassen.12 Eine 8. Klasse
Geschichts- und Politikdidaktik beto- besucht die Aus-
nen, dass der Lernende zum eigenen stellung „Anne
Urteil befähigt werden soll. Dazu ge- Frank. hier &
hört auch die Infragestellung konventi- heute“ in Berlin.
oneller Deutungen und gängiger Ge- Am Beispiel der
schichtsnarrative. Lebensgeschichte
In den pädagogischen Angeboten des Anne Franks set-
Anne Frank Zentrums ist die Infragestel- zen sich die Schü-
lung von Geschichtsnarrativen ein fes- lerinnen und
ter Bestandteil. In der Berliner Dauer- Schüler mit den
ausstellung „Anne Frank. hier & heute“ Folgen und Ursa-
wird die Rezeptionsgeschichte des Ta- chen des Holo-
gebuchs thematisiert und damit der Fra- caust auseinan-
ge nachgegangen, wieso Anne Franks der.
Tagebuch im Vergleich zu anderen Ta- Foto: Tim Zülch/Anne
gebüchern so berühmt geworden ist. In Frank Zentrum

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– im Kontext der Vermittlung der Ge- mus und Holocaust kann so vermittelt CHANCEN UND GRENZEN HISTORISCH-
schichte der Judenfeindschaft – Bei- werden, dass Jüdinnen und Juden nicht POLITISCHER BILDUNGSARBEIT
spiele friedlicher Koexistenz von Juden ausschließlich als Opfer präsentiert
und Nicht-Juden in Europa und gehen werden. Es gibt viele Beispiele für For-
über den Zeitraum 1945 hinaus, sowohl men der jüdischen Selbsthilfe und
was die Beschäftigung mit Antisemitis- Selbstbehauptung, wie z. B. die 1933 es ebenfalls Beispiele, die zeigen, dass
mus betrifft als auch die Auseinander- gegründete Reichsvertretung der deut- die Familienangehörigen auf die Verfol-
setzung mit dem heutigen Judentum. Pä- schen Juden, der während der NS-Zeit gung reagiert haben. Neben der Emig-
dagogische Materialien, die sich aus- aktive Kulturbund Deutscher Juden oder ration und dem späteren Untertauchen
schließlich auf die Perspektive heute in das Zionistische Jugendwerk. Außer- gibt es kleine alltägliche Beispiele der
Deutschland lebender jüdischer Ju- dem gab es Formen des Widerstands Selbstbehauptung. Als es für Anne
gendlicher konzentrieren, finden sich in von jüdischer Seite – sei es persönlich, Frank verboten war, Kinos zu besuchen,
„Die Judenschublade – Junge Juden in sei es organisiert. Dazu zählen einer- hat sie mit Hilfe ihres Vaters zu Hause
Deutschland“. Die Materialien entstan- seits Flucht und Emigration, das Unter- Kinoabende für ihre jüdischen und
den begleitend zum gleichnamigen Do- tauchen in die Illegalität oder das An- nicht-jüdischen Freundinnen und Freun-
kumentarfilm von Margarethe Mehring- nehmen von falschen Identitäten, ande- de organisiert. Und als ihre Schwester
Fuchs. Sie wurden vom Anne Frank Zen- rerseits aber auch der bewaffnete Margot aus allen Sportvereinen ausge-
trum in Zusammenarbeit mit dem Verlag Kampf bei den Partisanen, in der briti- schlossen wurde, hat diese ihren eige-
an der Ruhr entwickelt. Im Film kommen schen oder amerikanischen Armee, so- nen Tischtennis-Club gegründet.
jüdische Jugendliche zu Wort. Sie er- wie die in mehreren Ghettos erfolgten
zählen von jüdischer Kultur und Religi- Aufstände verzweifelter jüdischer Ein- Multiperspektivität
on, von Ausgrenzungserfahrungen oder wohner. Multiperspektivität ist eine zentrale Ka-
von ihrem Verhältnis zu Israel. In den Das Anne Frank Zentrum versucht, die- tegorie der Geschichtsdidaktik. Um die
Aussagen und Geschichten der Jugend- ser Forderung in seiner Berliner Dauer- gesellschaftliche Dimension des Holo-
lichen zeigt sich die Vielfalt jüdischen ausstellung sowohl auf allgemeiner als caust annähernd verstehen zu können,
Lebens im heutigen Deutschland. auch auf persönlicher Ebene umzuset- ist die Beschäftigung mit den Opfern,
Was bedeuten die Empfehlungen des zen. So finden sich in der Ausstellung Tätern, Zuschauern und Helfern zentral.
Leo Baeck Instituts in Hinblick auf die beispielsweise Informationen über den Dabei ist es wichtig, zu zeigen, dass
Beschäftigung mit Nationalsozialismus in Berlin geleisteten Widerstand von Ju- diese Rollen innerhalb einer Lebensge-
und Holocaust? Auch hier plädieren die gendlichen rund um die zionistische Ju- schichte wechseln können, abhängig
Autoren für einen Perspektivwechsel. gendorganisation Chug Haluzi. In der von Entscheidungen, die jeder Einzelne
Die Geschichte des Nationalsozialis- Lebensgeschichte von Anne Frank gibt für sich trifft. Die Thematisierung von
Handlungsspielräumen im Kontext die-
ser Rollen ist ein wichtiger Bestandteil
vieler Angebote der historisch-politi-
schen Bildungsarbeit und eine Möglich-
keit des Transfers in die Gegenwart.
Handlungsspielräume sind abhängig
von gesellschaftlichen und politischen
Machtverhältnissen, damals wie heute.
In unserer Dauerausstellung „Anne
Frank. hier & heute“ beschreiben wir an-
hand von Selbstzeugnissen die syste-
matische Entrechtung und Verfolgung
von Anne Frank und ihrer Familie. Damit
geben wir den Opfern eine Stimme und
versuchen zumindest annähernd zu ver-
mitteln, welche Folgen Ausgrenzung,
Entrechtung und schließlich die zum Völ-
kermord radikalisierte Verfolgung für
die Opfer hatte. Demgegenüber zeigen
wir auch aktuelle Beispiele von Antise-
mitismus, den jüdische Schülerinnen
und Schüler in Berlin erleben. In päda-
gogischen Begleitangeboten themati-
sieren wir Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede. Die Handlungsspielräume der
verfolgten Jüdinnen und Juden wurden
während der NS-Zeit immer geringer
und zur Verfolgung kam zunehmend die
Angst vor der Vernichtung hinzu. Dage-
gen ist es für viele Jugendliche heute
einfacher, sich gegen Antisemitismus
und Rassismus zu wehren und zu enga-
gieren. Die Beispiele zeigen, dass es ei-
nerseits Kontinuitäten von Antisemitis-
mus gibt, andererseits aber einen
funda mentalen Unterschied in den ge-
sellschaftlichen und politischen Rah-

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Patrick Siegele
menbedingungen, die unmittelbare hen, ob berechtigt oder nicht, Opfer- len“. Anhand von Fotos, Zeitzeugenbe-
Auswirkungen auf Handlungsspielräu- konkurrenzen und die Wahrnehmung, richten und Dokumenten informiert das
me haben. es würde „immer nur um die Juden“ ge- Material über die rassistische Verfol-
Die Rolle, die Opfer, Täter, Zuschauer hen. In den vergangenen Jahren sind gung von Schwarzen während der NS-
und Helfer in der NS-Gesellschaft spiel- sowohl in der schulischen als auch in Zeit, über die Verfolgung griechischer
ten, wird exemplarisch in dem vom Anne der außerschulischen Bildungsarbeit oder tunesischer Jüdinnen und Juden
Frank Haus entwickelten Geschichtsco- Anstrengungen unternommen worden, oder über die Rolle muslimischer Helfe-
mic „Die Suche“ und den begleitenden die Geschichte „vergessener Opfer“ rinnen und Helfer.
Unterrichtsmaterialien thematisiert. Der des Nationalsozialismus zu erzählen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das
Comic erzählt aus der Perspektive einer Dazu zählen lokale Projekte zur Erinne- vom Anne Frank Zentrum herausgege-
Überlebenden die fiktive Geschichte rung an die ermordeten Sinti und Roma, bene Material „Mehrheit, Macht, Ge-
der Familie Hecht aus Heidelberg. Zu Ausstellungen zu Opfern der Euthana- schichte“, das sieben Biografien zu Dis-
allen Rollen gibt es begleitende Ar- sie-Aktionen oder pädagogische Ma- kriminierung und Selbstbehauptung
beitsblätter. terialien, die anhand von Lebensge- enthält. In diesem, mit zahlreichen Fil-
schichten einen multiperspektivischen men und pädagogischen Methoden er-
Perspektiverweiterung und inklusives Zugang zur NS-Geschichte fördern. gänzten Material wird zum Beispiel die
Geschichtslernen Mit Blick auf die nationalsozialistische Geschichte der als Roma verfolgten Fa-
In der außerschulischen Bildungsarbeit Judenverfolgung ist aber auch eine milie Rosenberg oder die Geschichte
wird Multiperspektivität zunehmend räumliche Perspektiverweiterung wich- des als Homosexuellem verfolgten Ste-
nicht nur mit Blick auf den historischen tig und sinnvoll. Der Blick auf Deutsch- fan K. erzählt.
Gegenstand, sondern auch in Hinblick land (und vielleicht noch auf Auschwitz) Unlängst erst veröffentlicht wurde die
auf die Zielgruppen verstanden. Im Sin- reicht nicht aus, um den Holocaust in Website „zuerst einmal bin ich
ne eines inklusiven Ansatzes geht es da- seiner europäischen Dimension zu ver- Mensch …“ (vgl. www.annefrank.de/
rum, Angebote zu schaffen, die alle Ju- stehen. Juden wurden in ganz Europa mensch). Anhand von sechs Biografien
gendliche in ihrer Vielfältigkeit und He- entrechtet und verfolgt. Dies geschah wird auf Deutsch und Türkisch die Ge-
terogenität einbeziehen. Dazu gehört oft in Zusammenarbeit mit kollaborie- schichte der Migration zwischen dem
auch, gängige Geschichtsnarrative zu renden Verwaltungen und Polizeibeam- Osmanischen und Deutschen Reich
hinterfragen und zu erweitern. Jugend- ten in den besetzten Gebieten. Ohne bzw. zwischen der Türkei und Deutsch-
liche, die von Diskriminierung betroffen die deutsche Verantwortung zu relati- land erzählt. Eine der sechs Biografien
sind oder sich gegen diese engagieren vieren, ist es wichtig, das Geschehene ist die von Dorothea Brandner, geb.
wollen, nehmen Antisemitismus nur als in einem größeren europäischen Zu- Merzbacher, die 1935 aus Berlin in die
eine von vielen Diskriminierungsformen sammenhang zu sehen und zu verste- Türkei floh, um der Verfolgung durch die
wahr. Sie erleben in ihrem Alltag auch hen. Dies setzt genaue Kenntnisse vor- Nationalsozialisten zu entkommen. Eine
Rassismus, Islamfeindschaft oder Ho- aus. andere ist die von Leon Veissid, der als
mophobie. Auch diese Ideologien der Einen wichtigen Beitrag zum inklusiven türkischer Jude nach Berlin kam und
Ungleichwertigkeit haben eine Ge- Geschichtslernen bildet der vom Haus 1938 über Kuba in die USA floh.
schichte. Oft kommt diese im regulären der Wannseekonferenz herausgegebe-
Unterricht aber nicht vor. Daraus entste- ne Dokumentenkoffer „GeschichteN tei- Lebensweltorientierung
Lebensweltorientierung, in der Ge-
schichtsdidaktik auch „Daseinsorientie-
rung“ genannt, hat in der außerschuli-
schen Bildungsarbeit oft einen motivati-
onalen Aspekt. Jugendliche sollen für
Geschichte interessiert werden, indem
ihnen deutlich wird, welche Bezüge Ge-
schichte zu ihrem eigenen Leben hat.
Das biografische Lernen bietet hier be-
sondere Chancen. Das Tagebuch der
Anne Frank ist beispielsweise nicht nur
eine wichtige Quelle zur Auseinander-
setzung mit dem Holocaust, sondern
auch das Lebenszeugnis eines puber-
tierenden Mädchens, das über Identi-
tät, Religion, Familie, erste Liebe oder
Zukunftsträume schreibt. Hier ergeben
sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für
Jugendliche, die im Idealfall ein empa-
thisches Verstehen der Geschichte des
Holocaust fördern. Auch für die Ge-
schichtsdidaktik ist die „Orientierungs-
kompetenz“ eine der zentralen Kompe-
tenzen des historischen Lernens. Fragen
an die Vergangenheit (und deren Deu-
tungen) ergeben sich aus der Gegen-
Über Videoinstallationen kommen in der Ausstellung fünf Jugendliche zu Wort. So wie wart. Geschichte ohne Gegenwart gibt
Anne Frank in ihrem Tagebuch äußern sie sich über Fragen der Identität, über Diskri- es für die zeitgemäße Geschichtsdidak-
minierung, Engagement, Krieg und Zukunftsträume. Im Sinne der Lebensweltorientie- tik demzufolge nicht.
rung entstehen so aus der Gegenwart heraus Fragen an die Vergangenheit. In der Dauerausstellung des Anne Frank
Anne Frank Zentrum Zentrums ist der Lebenswelt der Ju-

300

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CHANCEN UND GRENZEN HISTORISCH-
POLITISCHER BILDUNGSARBEIT

sowie die spätere Aufarbeitung der


NS-Geschichte und das bürgerschaftli-
che Engagement gegen das Vergessen
auf lokaler Ebene.

VORGESTELLTE PÄDAGO-
GISCHE MATERIALIEN

Anne Frank Haus/OSZE/Zentrum für Antisemitis-


musforschung (Hrsg.) (2008): Antisemitismus in
Europa. Arbeitsmaterialien und Lehrkräftehand-
reichung. Bonn. [Die Materialien können kosten-
los bei der Bundeszentrale für politische Bil-
dungsarbeit bestellt werden: www.bpb.de
(Themen und Materialien)].
Anne Frank Haus (Hrsg.) (2009): Alle Juden
sind … 50 Fragen zum Antisemitismus. Mülheim
„Nicht in die Schultüte gelegt“, heißt das Material, das das Anne Frank Zentrum für die an der Ruhr 2009.
Klassen 4 bis 6 entwickelt hat. Es verbindet historisches Lernen mit Menschenrechtsbil- Anne Frank Haus (Hrsg.) (2010): Die Suche. Gra-
dung und macht die Kindheitserinnerungen von (ehemaligen) Berliner Jüdinnen und phic Novel und Materialien für Lehrkräfte.
Braunschweig.
Juden zum Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Nicht die Anne Frank Zentrum (Hrsg.) (2007): Mehrheit,
Verfolgungsgeschichte der Kinder steht im Vordergrund, sondern die Normalität, die Macht, Geschichte. 7 Biografien zwischen Ver-
nach und nach zerstört wurde. folgung, Diskriminierung und Selbstbehaup-
Anne Frank Zentrum/Centrum Judaicum tung. Mülheim an der Ruhr 2007 [Vergriffen].
Anne Frank Zentrum (Hrsg.) (2013): „Nicht in die
Schultüte gelegt …“ Schicksale jüdischer Kinder
1933–1942 in Berlin. Menschenrechtsbildung
gendlichen ein eigener Ausstellungsteil Das Anne Frank Zentrum hat Unter- durch historisches Lernen. Ein Lernmaterial für
gewidmet. Im Kontext von Zitaten aus richtsmaterialien für 4. bis 6. Klassen Grundschulen. [Neuerscheinung im Dezember
Anne Franks Tagebuch kommen über entwickelt mit dem Titel „Nicht in die 2013].
Ehricht, Franziska/Gryglewski, Elke (2011): Ge-
Filmclips fünf Jugendliche aus Berlin zu Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer schichten teilen. Dokumentenkoffer für eine in-
Wort, die sich zu den Themen Identität, Kinder 1933 bis 1942 in Berlin“. Das Ma- terkulturelle Pädagogik zum Nationalsozialis-
Diskriminierung, Zivilcourage, Krieg terial basiert auf Kindheitsgeschichten mus. Hrsg. von Miphgash/Begegnung e. V. und
und Zukunftsträume äußern. Für die ju- und historischen Fotos aus den 1930er Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wann-
gendlichen Teilnehmenden unserer pä- Jahren von (ehemaligen) Berliner Jüdin- seekonferenz. Berlin.
Gorelik, Lena/Mehring-Fuchs, Margarethe/
dagogischen Programme ergeben sich nen und Juden. Es thematisiert die Weber, Larissa (2011): Die Judenschublade.
daraus vielfältige Identifikationsange- schleichende Ausgrenzung bis hin zur Junge Juden in Deutschland. Ein Dokumentar-
bote und die Chance, zuerst andere völligen Entrechtung, erzwungenen film mit Arbeitsmaterialien. Mülheim an der Ruhr.
Sichtweiten kennen zu lernen, bevor sie Ausreise oder gar Ermordung. Das Be-
sich selbst positionieren. Die Ausstel- sondere an diesem Material ist, dass
lung bietet so auch Raum für die Ausein- nicht die nationalsozialistischen Ver-
SEKUNDÄRLITERATUR
andersetzung mit der eigenen Biografie brechen den Ausgangspunkt bilden,
und mit eigenen Diskriminierungserfah- sondern die von den Überlebenden be- Bundesministerium des Inneren (2011): Antisemi-
rungen, aus denen heraus die Jugendli- schriebene Normalität, die nach und tismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Be-
dingungen, Präventionsansätze. Bericht des
chen Fragen an die Geschichte entwi- nach zerstört wurde. Die historischen unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus.
ckeln. Beispiele von Diskriminierung und Ver- Berlin 2011. URL: www.bmi.bund.de/Shared-
lust werden zu den entsprechenden Ar- Docs/Downloads/DE [31.1.2013].
Biografisches Lernen und tikeln der UN-Kinderrechtskonvention Decker, Oliver/Brähler, Elmar/Kiess, Johannes
(2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme
lokalgeschichtliche Ansätze in Beziehung gesetzt, um einen Gegen- Einstellungen in Deutschland 2012. Herausge-
Lebensweltorientierung kann aber auch wartsbezug herzustellen. Ein weiteres geben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf
über lokalgeschichtliche Ansätze erfol- Beispiel ist das bei der Landeszentrale Melzer. Bonn.
gen. Das Leo Baeck Institut empfiehlt für politische Bildung Baden-Württem- Leo Baeck Institut für die Geschichte und Kultur
bei der Auseinandersetzung mit der berg erschienene Lese- und Arbeitsheft der deutschsprachigen Juden (Hrsg.) (2011):
Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht. Eine
deutsch-jüdischen Geschichte örtliche zur jüdischen Landgemeinde Butten- Orientierungshilfe für Schule und Erwachsenen-
Spurensuchen, die Beschäftigung mit hausen. Die Materialien beschäftigen bildung. 2. erweiterte und aktualisierte Fassung.
lokalen Denkmälern oder Ge- sich auf lokalgeschichtlicher und bio- Berlin.
schichtsprojekte zu verfolgten Schüle- grafischer Ebene mit einem Teil deutsch- Kaiser, Wolf (2008): Bildungsarbeit zum Thema
Holocaust und Antisemitismus. In: Expert Forum
rinnen und Schülern der eigenen Schu- jüdischer Geschichte, der nicht (nur) von on Combating Antisemitism – Challenges and
le. Damit kann nicht nur das Interesse Ausgrenzung und Verfolgung, sondern Successful Strategies. German Bundestag,
von Jugendlichen geweckt werden, auch von friedlicher Koexistenz von Ju- Contributions from the Experts. Hrsg. von der
sondern die als abstrakt und fern wahr- den und Nicht-Juden geprägt war. Das German Delegation of the OSCE Parliamentary
genommene Geschichte nimmt konkrete Lese- und Arbeitsheft thematisiert darü- Assembly und Gert Weisskirchen. Berlin. URL:
http://www.gert-weisskirchen.de/Gert_OSZE/
Bedeutung an. Ähnlich verhält es sich ber hinaus die besondere Geschichte FINAL_Vorab-Doku.pdf [23.01.2013].
bei der Arbeit mit biografischen Quel- dieser Gemeinde bis zu ihrer Auslö- Kaiser, Wolf (2010): Historische Formen der Ju-
len. schung durch die Nationalsozialisten denfeindschaft als Unterrichtsgegenstand. Zie-

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Patrick Siegele
le und didaktische Entscheidungen. In: Politeja, 2 Decker, Oliver/Brähler, Elmar /Kiess, Johan- 4 Vgl. Brähler/Decker/Kiess (2012), Grafik
Heft 2/2010, S. 550–557. nes (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextre- 2.2.6, S. 37.
Messerschmidt, Astrid (2011): Geschichtsbezie- me Einstellungen in Deutschland 2012. Heraus- 5 Kaiser, Wolf (2008): Bildungsarbeit zum
hungen in Bewegung – Erinnerungsbildung in gegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Thema Holocaust und Antisemitismus. In: Expert
post-nationalsozialistischen Migrationsgesell- Ralf Melzer. Bonn. Die Studie erscheint seit 2006 Forum on Combating Antisemitism – Challenges
schaften. In: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bilden- im Zweijahresrhythmus und basiert auf ca. and Successful Strategies. Hrsg. von der Ger-
de Kunst, Frühling 2011, S. 26–27. 2.500 Telefoninterviews in Deutschland. man Delegation of the OSCE Parliamentary As-
Mihr, Anja: Drei Fragen und Antworten zum The- 3 Zur Unterscheidung der beiden Begriffe sie- sembly und Gert Weisskirchen, Personal Repre-
ma Aufarbeitung von Unrechtserfahrung und he den Beitrag von Armin Pfahl-Traughber in sentative of the Chairman-in-Office of the OSCE
Menschenrechtsbildung. Veröffentlicht auf der diesem Heft. on Combating Antisemitism. Berlin. URL: http://
Seite der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, www.gert-weisskirchen.de/Gert_OSZE/FI-
Zukunft“ – Programmbereich „MenschenRechte- NAL_Vorab-Doku.pdf, S. 13 [23.01. 2013].
Bilden“. URL: http://www.stiftung-evz.de/fi- 6 Bundesministerium des Inneren/BMI (2011):

UNSER AUTOR
leadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Hand- Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsfor-
lungsfelder/Handeln_fuer_Menschenrechte/ men, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht
Menschen_Rechte_Bilden/text_a.mihr.pdf des unabhängigen Expertenkreises Antisemitis-
[1.2.2013]. mus. Berlin, S. 180ff.
Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2007): „Ich 7 Vgl. BMI (2011), S. 180.
habe nichts gegen Juden, aber …“ Ausgangs- 8 Vgl. BMI (2011), S. 181.
bedingungen und Perspektiven gesellschafts- 9 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
politischer Bildungsarbeit gegen Antisemitis- Sport (2006): Rahmenlehrplan für die gymnasi-
mus. Amadeu Antonio Stiftung. Berlin. ale Oberstufe Geschichte. URL: http://www.
Siegele, Patrick/Steinkühler, Judith (2011): „An- berlin.de/imperia/md/content/sen-bildung/un-
tisemitismus im Klassenzimmer?!“ – Erfahrungen terricht/lehrplaene/sek2_geschichte.pdf
aus bundesweiten Fortbildungen für Pädago- [14.7.2013].
ginnen und Pädagogen. In: Zentrum für Antise- 10 Ministerium für Schule, Wissenschaft und
mitismusforschung (Hrsg.): Jahrbuch für Antise- Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
mitismusforschung. Berlin, S. 113–124. Patrick Siegele ist seit 2011 stellvertre- (2001): Rahmenvorgabe Politische Bildung. Fre-
Siegele, Patrick (2010): „Anne Frank. hier & heu- tender Direktor des Anne Frank Zent- chen, S. 17–18.
te“ – Historisch-politische Bildungsarbeit für die rums in Berlin. Von 2001 bis 2004 war 11 Mihr, Anja: Drei Fragen und Antworten zum
Einwanderungsgesellschaft. In: Hilmar, Till Thema Aufarbeitung von Unrechtserfahrung
(Hrsg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten er als Bildungsreferent für interkulturelle und Menschenrechtsbildung. Veröffentlicht auf
historisch-politischer Bildungsarbeit zum Natio- und historisch-politische Bildungsar- der Seite der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
nalsozialismus. Wien, S. 376–379. beit am Anne Frank Zentrum tätig. Seit tung, Zukunft“ – Programmbereich „Menschen-
2004 leitet er das Ausstellungszentrum RechteBilden“. URL: http://www.stiftung-evz.
de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/
in Berlin. Patrick Siegele ist für die Kon- Handlungsfelder/Handeln_fuer_Menschen-
zeption und Koordination der museums- rechte/Menschen_Rechte_Bilden/text_a.mihr.
ANMERKUNGEN
pädagogischen Angebote verantwort- pdf, S. 4 [1.2.2013].
1 Das Anne Frank Zentrum zeigt in seinen Räu- lich. Darüber hinaus leitete er mehrere, 12 Vgl. Kaiser, Wolf (2008), S. 15.
men in Berlin die ständige Ausstellung „Anne teils internationale Projekte zur Entwick- 13 Siehe Leo Baeck Institut (2011): Deutsch-jü-
Frank. hier & heute“. Zur Ausstellung wird eine dische Geschichte im Unterricht. Berlin, S. V–VII.
Vielzahl pädagogischer Programme angebo- lung von pädagogischen Materialien.
ten.

„Wir als Juden können diese Zeit nie vergessen“


MATERIALIEN-Heft zur Geschichte der Juden von Buttenhausen

• Das Lese-und Arbeitsheft in der Reihe MATERIALIEN rekonstruiert das Leben


der jüdischen Landgemeinde Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb: 150 Jahre
Mit- und Nebeneinander der christlichen und jüdischen Dorfbewohner, wirt-
schaftliche und kulturelle Blüte im 19. Jahrhundert bis hin zu Ausgrenzung und
Verfolgung, Deportation und Ermordung in der NS-Diktatur.

• Das Heft bietet Texteinheiten und Arbeitsblätter mit Dokumenten, Quellen und
Aufgaben, darunter Anregungen zum selbstständigen Erkunden der Geschichte,
zur Vorbereitung von Präsentationen oder eines Werkstattbuchs.

• Die Reihe MATERIALIEN entwickelt in Zusammenarbeit mit Gedenkstätten


Angebote zur Geschichtsvermittlung an außerschulischen Lernorten.

• Außerdem erhältlich sind Ausgaben zur NS-„Euthanasie“ in Grafeneck, zum


Unternehmen „Wüste“ in Südwürttemberg und zur Deportation der Juden aus
Baden sowie aus Württemberg und Hohenzollern.

Bestellung: kostenlos, ab 500 g zzgl. Versand,


Landeszentrale für politische Bildung, Fax 0711.164099 77,
marketing@lpb.bwl.de, http://www.lpb-bw.de/bausteine.html

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ISLAMISMUS, ANTISEMITISMUS UND DIE ROLLE DES NAHOSTKONFLIKTS

Zwischen Berlin und Beirut – Antisemitismus


bei Jugendlichen arabischer, türkischer und/
oder muslimischer Herkunft
Jochen Müller

dann müssen wir dem Kind einen Na- Muslime (deren Einstellungen hier von
In dem Beitrag1 von Jochen Müller ste- men geben. Daher wird häufig von islamistischen und traditionalistischen
hen Erscheinungsformen und Motive „muslimischem“ oder „islamischem“ An- Positionen unterschieden werden sol-
von Antisemitismus und antisemitischen tisemitismus gesprochen. Auf diese len) eine tolerante Haltung insbesonde-
Positionen im Mittelpunkt, die unter Ju- Weise wird aber Antisemitismus unter re gegenüber den anderen monotheis-
gendlichen und jungen Erwachsenen Migranten aus arabischen, türkischen tischen Religionen ab. Vor diesem Hin-
arabischer, türkischer und/oder musli- und muslimischen Gesellschaften pri- tergrund besteht also die Gefahr, dass
mischer Herkunft anzutreffen sind. Ein- mär mit der Religion in Verbindung ge- wir uns den Blick eher verstellen, wenn
gangs werden einige Aspekte skizziert, bracht, der die Mehrzahl dieser Men- wir über „muslimischen“ Antisemitismus
die in aktuellen Diskussionen über den schen angehört – und auf diese Weise sprechen und die Religion dabei als
Antisemitismus zuletzt eine Rolle ge- eine Wirklichkeit konstituiert, die in die- Motiv in den Vordergrund rücken, ob-
spielt haben. Diese Aspekte bieten ser Form nicht existiert: Denn ohne Zwei- wohl Wurzeln und Ursachen antisemiti-
den Hintergrund für die Auseinander- fel gibt es (modernen und traditionel- scher Positionen von Menschen arabi-
setzung mit der Frage, welche Funkti- len) Antisemitismus unter Muslimen – ein scher, türkischer und muslimischer Her-
on antisemitische Behauptungen und explizit „muslimischer“ Antisemitismus, kunft selten im Islam liegen. 6
Ressen timents für deutsche (bzw. in d. h. ein primär religiös begründeter An- Die Ideologie des Islamismus und seine
Deutschland lebende) Jugendliche und tisemitismus, ist jedoch höchst selten. 4 Vertreter zählen hingegen ohne Zweifel
junge Erwachsene mit (muslimischem) So begründen zwar Muslime mitunter weltweit und im Nahen Osten zu den
Migrationshintergrund haben können – antisemitische Positionen mit spezifi- Hauptträgern von militantem Antisemi-
und für einige Optionen, wie ihnen pä- schen Passagen in den religiösen Quel- tismus. So finden sich in den Ideologien
dagogisch begegnet werden kann. 2 len Koran und Sunna. 5 Aus dem Islam der meisten islamistischen Gruppierun-
Dabei spielt der Nahostkonflikt bzw. leiten jedoch gerade explizit religiöse gen weltweit antisemitische Elemente
dessen Rezeption oftmals eine zentrale
Rolle – ihm kommt daher im folgenden
Beitrag eine besondere Gewichtung
zu. I

Islam, Islamismus und


Antisemitismus

In den gegenwärtigen öffentlichen De-


batten werden antisemitische Positio-
nen von Menschen mit arabischem, tür-
kischem oder muslimischem Migrations-
hintergrund meist unter dem Begriff
„muslimischer Antisemitismus“ subsu-
miert. Dies suggeriert eine kausale Be-
ziehung zwischen dem Islam als Religi-
on und antisemitischen Positionen oder
gar einer antisemitischen Weltanschau-
ung. 3 Ein primär religiös geprägter Anti-
semitismus ist meines Erachtens jedoch
weder in den so genannten muslimischen
Ländern noch in Deutschland beson-
ders verbreitet. Deshalb sind die häufig
verwendeten Bezeichnungen „muslimi-
scher“ oder „islamischer“ Antisemitis-
mus irreführend. Wir haben es hier mit
einem letztlich erkenntnistheoretischen
Dilemma zu tun.
Wenn wir etwa über Formen des Antise- Mitunter begründen Muslime antisemitische Positionen mit spezifischen Passagen in
mitismus bei Migranten und Jugendli- den religiösen Quellen Koran und Sunna. Aus dem Islam leiten jedoch gerade explizit
chen arabischer, türkischer und/oder religiöse Muslime eine tolerante Haltung insbesondere gegenüber den anderen
muslimischer Herkunft sprechen wollen, monotheistischen Religionen ab. picture alliance/dpa

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Jochen Müller
wie Verschwörungstheorien bis hin zu lationen von antisemitischen Positionen, zusammenfassen, sind daher nicht an
Aufrufen zum Kampf gegen „die Juden“, die mit den Ereignissen im Nahen Osten sich neu, sondern bedienen sich ledig-
die etwa unter Bezug auf Koranverse „legitimiert“ wurden, häufig darüber lich eines neuen „Aufhängers“.
diffamiert werden. 7 Trotz ihrer häufigen diskutiert, ob es denn einen „Neuen An- Als ein Sonderfall könnten allerdings
propagandistischen Verwendung ste- tisemitismus“ gebe: einen Antisemitis- solche antisemitischen Positionen be-
hen dabei jedoch die religiösen Motive mus, der sich (kurz gesagt) nicht auf das trachtet werden, die von Menschen
meist nicht wirklich im Vordergrund. vermeintliche Verhalten von Juden be- (hier insbesondere Jugendlichen) geäu-
Vielmehr stehen hinter dem Hass auf Ju- zieht, sondern sich vor allem auf den ßert werden, die direkt von Gegenwart
den auch hier universelle Motive des Staat Israel und dessen Politik bezieht.10 und Geschichte des Nahostkonflikts be-
Antisemitismus wie die Bekämpfung von Verstanden als Ideologie im Sinne einer troffen sind11: Spielen hier doch zumin-
Phänomenen der Moderne, die „den Ju- Weltanschauung gibt es allerdings mei- dest teilweise spezifische Erfahrungen
den“ zugeschrieben werden, sowie der nes Erachtens keinen „neuen“ Antisemi- (bzw. deren Tradierung etwa durch Fa-
Versuch, die Gesamtheit der Muslime tismus. Vielmehr handelt es sich bei des- milienangehörige) eine besondere Rol-
mittels gemeinsamer Feindbilder als sen wesentlichen Elementen (wie u. a. le für das Bild von „den Juden“. Hatten
(starke) Gemeinschaft zu konstituieren der Antimodernismus, Verschwörungs- also der deutsche und europäische An-
und gegen die Juden (bzw. Israel) in theorien und seine Funktion als Gemein- tisemitismus mit dem realen Verhalten
Stellung zu bringen. schaftsideologie) um Projektionen, die von Juden nichts zu tun (es handelte sich
Für viele islamistische Gruppen mit universell sind und mit dem konkreten um reine Fiktionen seitens seiner Trä-
deutlich antisemitischer Ausrichtung und tatsächlichen Verhalten von Juden ger), gibt es zumindest im engeren (ter-
wie etwa die palästinensische Hamas höchstens indirekt zu tun haben. Ele- ritorialen) Umfeld des Nahostkonflikts
oder die libanesische Hisbollah spielt mente antisemitischer Weltanschau- Menschen (und deren Nachkommen),
dabei der Nahostkonflikt eine entschei- ung, die im Kontext des Nahostkonflikts die aktuell und historisch gesehen tat-
dende Rolle. Ohne diesen ist ihre Popu- geäußert werden, so ließe sich verkürzt sächlich unter dem Verhalten von Men-
larität insbesondere in der Region nicht
zu denken. Attraktivität erlangen diese
Gruppen und Bewegungen nämlich
nicht wegen ihrer antisemitischen Ideo-
logie und deren teils religiöser Begrün-
dung (die ist meist sekundär).
Attraktiv erscheinen sie für viele Men-
schen vor allem deshalb, weil sie im
Kontext des Nahostkonflikts und dessen
ideologisierter Wahrnehmung die radi-
kalste (nationalistische!) Opposition im
Nahen Osten gegen Israel darstellen
(und auf diese Weise auch Bedürfnisse
nach Kollektividentitäten bedienen). 8
Und das gilt auch in Deutschland: So
gehen die Menschen nicht zu Demonst-
rationen zum Nahostkonflikt wie dem
alljährlichen Al-Quds-Tag, weil es reli-
giös legitimierende islamistische und/
oder antisemitische Organisationen
sind, die dazu aufrufen, sondern weil es
gemeinsam gegen Israel geht. Im Zuge
solcher Demonstrationen (wie auch zu-
letzt etwa anlässlich des Gaza-Kriegs),
aber ebenso in Internetforen, auf Face-
book oder auf Musikvideos, die sich um
den Nahostkonflikt drehen, kommt es
dann auch zu Hasspropaganda und
Antisemitismus, weil neben Akteuren,
die lediglich ihre Kritik oder ihre Empö-
rung zum Ausdruck bringen wollen, Schatten spielen-
auch jene deutlich in Erscheinung tre- der Kinder vor
ten, denen der Nahostkonflikt als Motiv einem antiisraeli-
antisemitischer Einstellungen dient. Und schen Graffiti in
unter ihnen finden sich (auch in Deutsch- Gaza. Für die
land) viele, die islamistischen Ideologi- palästinensische
en und Organisationen anhängen bzw. Hamas spielt der
nahe stehen.9 Nahostkonflikt
eine entschei-
dende Rolle.
Israel und der Nahostkonflikt: Ohne diesen ist
Aufhänger für einen ihre Popularität
„Neuen Antisemitismus“? insbesondere in
der Region nicht
In den vergangenen Jahren wurde vor zu denken.
dem Hintergrund zunehmender Artiku- picture alliance/dpa

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schen zu leiden haben, die als Israelis oft leidvollen Erfahrungen und Ereignis- ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
(und Juden) in Erscheinung traten und sen im Zuge des Nahostkonflikts „ledig- ARABISCHER, TÜRKISCHER UND/ODER
identifiziert wurden. lich“ aufgegriffen und entsprechenden MUSLIMISCHER HERKUNFT
In die Interpretation solcher konkreter Wahrnehmungen und Erzählungen ge-
(historischer und aktueller) Erfahrungen wissermaßen „sekundär“ hinzugefügt
bzw. in die Erzählungen darüber (etwa werden.12 das Aufgreifen und die Artikulation an-
von Familienangehörigen) gehen dann tisemitischer Ressentiments ist.
nicht selten antisemitische Stereotypen Das betrifft sowohl Menschen aus der
und Behauptungen ein. Sie können der Israelkritik und Antizionismus Region selbst, als auch solche, die vom
„Erklärung“ (und Dramatisierung) von Konflikt nur indirekt oder gar nicht be-
Erfahrungen sowie der Legitimation von Zwar lassen sich antisemitische Einstel- rührt sind. Auf diese Weise spielt der
Wut und auch Hass dienen, die viele lungen keineswegs durch den Nahost- Nahostkonflikt eine entscheidende Rol-
Menschen palästinensischer und liba- konflikt „erklären“. Eine solche Analyse le für die Neukonstituierung und Reak-
nesischer Herkunft (und ihre Nachkom- würde das Wesen des Antisemitismus tualisierung solcher Positionen. (Der
men) angesichts ihrer Erlebnisse emp- verkennen – schließlich würde er auch türkische Kinofilm „Tal der Wölfe –
finden. Häufig ist dann von außen mit einer wie auch immer gearteten Lö- Palästina“ ist ein Beispiel für diese Dy-
schwer oder gar nicht zu unterscheiden, sung des Konflikts nicht einfach ver- namik.13 )
ob diese Stereotypen und Behauptun- schwinden. Die Beobachtung der Kon- Insbesondere sind es dabei Krisenzei-
gen nun Bestandteil allgemeiner antise- junkturen antisemitischer Vorfälle und ten, in denen die Emotionen hochschla-
mitischer Ressentiments bzw. einer la- israelfeindlicher sowie antisemitischer gen. Teilweise sind diese Emotionen –
tenten oder offenen antisemitischen Propaganda zeigt aber, dass der Kon- vor allem bei Menschen mit palästinen-
Weltanschauung sind. Oder ob sie im flikt einer der Hauptkatalysatoren für sischem und libanesischem Hintergrund
Zuge der Interpretation von realen und – Ausdruck authentischer Empörung.
Schließlich verbinden viele von ihnen
(bzw. ihre Familien) teils traumatische
Erfahrungen mit dem Konflikt. Die Politik
Israels empfinden sie meist als äußerst
ungerecht.14
Solche Kritik an Israel und auch Empö-
rung über israelische Politik sind ohne
Frage legitim und nachvollziehbar.
Nicht selten findet jedoch eine Vermi-
schung statt: Reale Erlebnis- und Erfah-
rungsberichte von Betroffenen vermi-
schen sich mit ideologischen und von
Hasspropaganda geprägten Wahr-
nehmungen. Von solchen Interpretatio-
nen des Konflikts lassen sich insbeson-
dere Jugendliche sehr beeinflussen. (s.
unten)
Vor allem unter dem Deckmantel des
Antizionismus findet eine solche Vermi-
schung häufig statt. Das beste Beispiel
dafür ist die iranische Staatspropagan-
da der vergangenen Jahre: Hier wer-
den zwar Juden und das Judentum als
Religion offiziell akzeptiert, Israel und
der Zionismus hingegen werden als Re-
präsentanten von Moderne, Säkularis-
mus und Unterdrückung der Menschheit
diffamiert und angegriffen. In seiner
vom Iran selbst als „antizionistisch“ be-
zeichneten Propaganda geht es eben
nicht, wie behauptet, nur um Gerechtig-
keit für die Palästinenser, sondern es
tauchen eine Vielzahl „klassischer“ anti-
semitischer Stereotypen und Verschwö-
rungstheorien auf (vom Ritualmordvor-
wurf bis zu den „jüdischen Machen-
schaften“ in Hollywood).15
Die Legitimität von Kritik und Verurtei-
lungen israelischer Politiken endet also
dort, wo sie mit Hasspropaganda und
Elementen antisemitischer Ideologie
verbunden oder das Existenzrecht von
Israel in Frage gestellt wird. In „antizio-
nistischen“ Positionen ist dies nicht im-
mer und notwendigerweise, aber häu-
fig der Fall.

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Jochen Müller
Zur Verbreitung von auf den Konflikt bei diesen Geschichten Bezug auf den Nahostkonflikt vorge-
antisemitischen Positionen nahe – schließlich haben viele dieser worfen wird, einseitig proisraelisch zu
Menschen im Zuge des Konflikts Ver- berichten.19
Eine immer wieder gestellte und umstrit- wandte und Bekannte ebenso verloren Das Feindbild von „den Juden“ und Isra-
tene Frage in der Diskussion um Antise- wie Haus und Hof. Teils mussten sie el gehört vor diesem Hintergrund für
mitismus unter Menschen arabischer, gleich mehrfach fliehen. Bei aller au- viele Jugendliche arabischer und türki-
türkischer und/oder muslimischer Her- thentischen Erfahrung und dem erlitte- scher und/oder muslimischer Herkunft
kunft lautet, wie verbreitet antisemiti- nen Leid und Unrecht sind aber diese auch in Deutschland zum Alltagswissen.
sche Einstellungen in dieser Gruppe der Berichte nicht selten ideologisch so ver- Gesicherte Zahlen zur Verbreitung anti-
deutschen Bevölkerung denn nun ei- zerrt, dass sie Anknüpfungspunkte für semitischer Einstellungen unter Jugend-
gentlich sind? Und wie sie – offenbar antisemitische Stereotype bieten bzw. lichen gibt es auch hier nicht. 20 Beob-
auch unter Migranten der dritten Gene- antisemitisch verarbeitet werden. Da- achtungen und Berichte etwa aus der
ration – verbreitet werden? bei dürften auch einzelne Medien eine Schule oder von Jugendarbeitern oder
Der Blick in die Herkunftsregionen zeigt wichtige Rolle spielen. (Auch hier fehlen aus einzelnen qualitativen Untersu-
zunächst, dass keinerlei Zahlen vorlie- indes entsprechende Untersuchungen chungen bestätigen indes die Verbrei-
gen, die auch nur eine ungefähre Vor- über Mediennutzungsverhalten und tung antisemitischer Überzeugungen:
stellung vermitteln könnten. Aus der Be- Medienwirkung.) Insbesondere in Kri- So ist „Du Jude“ eines der in vielen Schu-
schäftigung mit arabischen Medien senzeiten wird arabischen (und einzel- len und oft mit größter Selbstverständ-
kann man aber ableiten, dass in der nen türkischen) Medien – darunter vor lichkeit verwendete Schimpfwort, das
arabischen Öffentlichkeit antisemiti- allem einzelne islamistische und natio- oft im Sinn von „Du Opfer“ zur Abwer-
sche Positionen verbreitet sind. So tau- nalistische TV-Kanäle – mehr getraut, tung anderer dient. Und dass in
chen beispielsweise krasse diffamieren- als deutschen Medien, denen gerade in Deutschland ein schlechtes Bild vom Is-
de und aufhetzende Behauptungen
über Juden immer wieder (und dabei
meist – aber nicht nur – im Kontext des
Nahostkonflikts) auch in renommierten
Medien auf, ohne dass daran öffentlich
Anstoß genommen würde. Im Gegen-
teil, wer daran Anstoß nähme, muss da-
mit rechnen, selbst diffamiert zu wer-
den.16
Ähnlich gilt dies auch in der Türkei:
Moderner Antisemitismus ist dort seit
der Gründung des modernen türkischen
Nationalstaats präsent. Und auch hier,
ohne dass es ein irgendwie verbreitetes
Problembewusstsein gäbe. Dabei geht
es bis heute sowohl in nationalistischen
wie islamistischen Ideologien (und de-
ren Medien) immer wieder um die Be-
drohung der Gemeinschaft der Türken
durch Feinde von außen und von innen.
Unter anderen sind diese Feinde die Ju-
den, die diese Gemeinschaft scheinbar
bedrohen. Charakteristisch dafür ist
das immer wieder reproduzierte und
sehr verbreitete Dönme-Motiv.17
Und solche tradierten Denkmuster und
Überzeugungen wirken auch in der drit-
ten Generation, d. h. bei den in Deutsch-
land geborenen Jugendlichen und jun-
gen Erwachsenen arabischer und
türkischer Herkunft.18 Dabei dürften die
Ansichten und Erzählungen von Er-
wachsenen eine große Rolle spielen:
Diese sind – das gilt etwa für türkisch-
nationalistische Positionen – häufig ge-
prägt von überlieferten Gemeinschafts-
ideologien (inklusive Juden als Feind-
bild); und sie sind – im Fall der arabi-
schen Erwachsenen – geprägt von oft
einseitigen Berichten über Geschichte
und Gegenwart des Nahostkonflikts.
So greifen z. B. Jugendliche mit palästi-
nensischem Hintergrund Berichte, Er-
zählungen und Behauptungen von El-
tern und Großeltern auf, in denen Flucht
und Vertreibung eine zentrale Rolle
spielen. Zwar liegt eine einseitige Sicht

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lam und ein falsches über den Nahost- immer wieder eine zentrale Rolle bei der ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
konflikt herrsche, führen Jugendliche Mobilisierung und der Reaktualisierung ARABISCHER, TÜRKISCHER UND/ODER
auch darauf zurück, dass Medien wie von Positionen und Emotionen, die anti- MUSLIMISCHER HERKUNFT
Spiegel oder Stern doch in „jüdischer semitisch sind oder Anknüpfungspunkte
Hand“ seien. für antisemitische Stereotypen bieten. 21
Zusammenfassend lässt sich sagen: An- scher und muslimischer Herkunft attrak-
tisemitismus und Israelhass gibt es auch tiv sein? 22
in anderen migrantischen Gruppen so- Funktionen antisemitischer Zunächst ist insbesondere im Zusam-
wie in der Mehrheitsbevölkerung. Anti- Überzeugungen: „Die Juden“, menhang mit dem Nahostkonflikt ein
semitische Äußerungen und Positionen Israel und der Nahostkonflikt sehr jugendtypisches Motiv der Mobili-
kommen unter Jugendlichen arabischer, als Projektionsfläche sierung zu nennen: Der Einsatz für das,
türkischer und muslimischer Herkunft je- was als gerecht bzw. der Protest gegen
doch häufiger, offener und teils in äu- Für die pädagogische Auseinanderset- das, was als ungerecht wahrgenommen
ßerst militant geäußerter Form vor. Sie zung mit antisemitischen Positionen bei wird. Dies ist in Internetforen und auf
werden über Medien und über die Er- Jugendlichen ist nicht zuletzt die Frage Demonstrationen das sicherlich am
zählungen der älteren Generationen von entscheidender Bedeutung, welche häufigsten anzutreffende Motiv für das
verbreitet, so dass ein schlechtes Bild Funktionen diese erfüllen. Oder anders: emotionale und politische Engagement
von Israel und synonym von „den Juden“ Warum können (neben legitimem Pro- von Jugendlichen. Dahinter steht meist
zu haben, für viele vor dem Hintergrund test) Feindbilder, Hasspropaganda und die Empörung über Leid und Ungerech-
von tradiertem Familien- und Medien- antisemitische Einstellungen für einen tigkeiten, die Palästinenser im Zuge des
wissen ganz selbstverständlich er- Teil der Jugendlichen arabischer, türki- Konflikts scheinbar oder real erleiden.
scheint. Dabei spielt der Nahostkonflikt Während der Kriege (Libanon 2006,
Gaza 2008) waren die Internetforen
voller Berichte und Initiativen von Ju-
gendlichen, in denen gegen Unterdrü-
ckung und Ungerechtigkeit protestiert
sowie zur Unterstützung der Libanesen
und Palästinenser aufgerufen wurde. 23
Das hier zum Ausdruck kommende Be-
dürfnis nach Gerechtigkeit und der Pro-
test gegen Unrecht (bzw. was die Ju-
gendlichen dafür halten) sind nachvoll-
ziehbar. Allerdings verschwimmen sie
häufig mit einer extrem einseitigen und
verzerrten Wahrnehmung und Darstel-
lung des Konflikts, die vor allem am wie-
derkehrenden Motiv getöteter und ver-
letzter unschuldiger Kinder deutlich
wird („Kindermörder Israel“): Unschul-
dige, ohnmächtige Opfer stehen in die-
ser Wahrnehmung einer machtgieri-
gen, brutalen, aggressiven und expan-
siven Soldateska gegenüber. Vor dem
Hintergrund solcher dichotomen Wahr-
nehmungen (Gut-Böse, Täter-Opfer,
Teilnehmerinnen schuldig-unschuldig ….) sind viele Ju-
halten ein Trans- gendliche bereit, auch den haarsträu-
parent mit der benden Gerüchten über die Brutalität
Aufschrift „Holo- der israelischen Armee oder Verschwö-
caust in Gaza“ rungstheorien Glauben zu schenken.
während einer Die von palästinensisch-libanesischen
Demonstration Jugendlichen und jungen Erwachsenen
gegen den Gaza- berichteten (und nicht selten von Ju-
Krieg hoch gendlichen anderer Herkunft übernom-
(17.1.2009). Im menen) Geschichten changieren auf
Zusammenhang diese Weise beständig zwischen rea-
mit dem Nahost- len Erfahrungen und extrem verzerrten
konflikt ist ein Wahrnehmungen. Deutlich wird daran,
jugendtypisches wie aus legitimer Kritik und nachvoll-
Motiv der Mobili- ziehbarer Empörung Hass auf Israel
sierung erkenn- und antisemitische Positionen entstehen
bar: Das Engage- können.
ment für das, was Dabei zeigen Gespräche mit Jugendli-
als gerecht bzw. chen und jungen Erwachsenen ebenso
der Protest gegen wie die Analyse von Musikvideos oder
das, was als unge- Beiträgen auf Internetforen wie das
recht wahrgenom- Feindbild Israel und das Feindbild der
men wird. Juden für viele zu einer Projektionsflä-
picture alliance/dpa che wird. Der Protest gegen Israel wird

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Jochen Müller
gerade bei Jugendlichen und jungen
Erwachsenen arabischer, türkischer und
muslimischer Herkunft zu einem Ventil
für Zorn und Empörung über Frustrati-
onserfahrungen, die sie eigentlich in
Deutschland machen: Denn viele von ih-
nen erleben sich hier als perspektivlos,
nicht anerkannt, ohnmächtig und unge-
recht behandelt. 24 Insbesondere Ju-
gendliche palästinensischer und liba-
nesischer Herkunft verbinden hier indi-
viduelle und familiäre reale Erfahrun-
gen von Leid und Diskriminierung im
Herkunftsland mit Erlebnissen, die sie in
Deutschland haben.
Hinzu tritt dann nicht selten eine ideolo-
gisch geprägte Interpretation solcher
Erfahrungen.
Auch bei Jugendlichen türkischer Her-
kunft lassen sich solche Positionen ähn-
lich deuten: Das bei vielen bestehende
Gefühl von Nichtanerkennung und
Perspektivlosigkeit in Deutschland för-
dert nationalistische und religiöse
Überhöhungen und Formen individuel-
ler Selbstinszenierung. Zu diesen
Selbstinszenierungen können auch ext-
reme Feindbildkonstruktionen, die ag-
gressive Abwertung anderer sowie Un-
terwerfungsfantasien gehören. Insbe-
sondere männliche und bildungsbe-
nachteiligte Jugendliche sind dafür
empfänglich. (Solche Abwertungen an- kennung, Stärke und Selbstwirksam- fahrungen aus dem Rechtsextremismus
derer, die der eigenen Aufwertung die- keit.) zeigen – oft zu spät.
nen, können sich auch in Form von Frau- l In einer Opferperspektive kann man Es gibt inzwischen einige Ansätze und
enverachtung, Homophobie oder Ab- sich gut einrichten: Diese oft von Ju- Konzepte zur spezifischen Begegnung
wertung von Deutschen oder Schwar- gendlichen eingenommene Sicht- von Antisemitismus bei Jugendlichen
zen äußern. Bei vielen türkischen weise erklärt die eigene Lage, ent- arabischer, türkischer und muslimischer
Jugendlichen findet sich dies etwa auch schuldigt sie und befreit von eigener Herkunft. 27
in der Diffamierung von Jugendlichen Verantwortlichkeit. Dennoch stecken diese insgesamt noch
türkisch-kurdischer Herkunft.) 25 l Äußerungen von Hass auf Israel und/ in den Anfängen. Im Folgenden einige
Wenn also „die Juden“, Israel oder „die oder „die Juden“ dienen teilweise als Punkte, die im hier beschriebenen Zu-
Zionisten“ für Jugendliche zum Feind- gezielte Provokation der deutschen sammenhang bedeutsam sind:
bild werden, kann dies gleich mehrere Mehrheitsgesellschaft – einschließ- l Die Auseinandersetzung mit dem
Funktionen erfüllen: lich ihrer Pädagogen, deren Unsi- Nahostkonflikt kann ein wesentlicher
l Als Sündenbock und Ventil dienen Is- cherheit an diesem Punkt wahrge- Bestandteil pädagogischer Interven-
rael oder „die Juden“ der Kompensa- nommen und nicht selten ausgenutzt tionen gegen antisemitische Positio-
tion und Aggressionsabfuhr im Sinne wird. 26 nen und Behauptungen von Jugend-
eines als gerecht empfundenen lichen und jungen Erwachsenen sein.
Zorns, dessen Ursachen aber nur be- In der Regel wissen diese sehr wenig
dingt im Nahen Osten liegen. Schlussfolgerungen für eine über den Konflikt, was in großem
l Das Feindbild Israel oder/und „der zielgruppenspezifische Pädagogik Kontrast zu der Bedeutung steht, die
Juden“ stiftet Gemeinschaft und ver- viele ihm beimessen. In Form einer
mittelt das Gefühl von Zugehörigkeit Voranzuschicken ist hier zunächst noch multiperspektivischen Auseinander-
– als Palästinenser, Libanesen, Tür- einmal, dass bei den Jugendlichen und setzung mit Geschichte und Gegen-
ken, Araber oder Muslime. Dies er- den meisten jungen Erwachsenen kein wart des Konflikts können Jugendli-
folgt auch vor dem Hintergrund der festes kohärentes Weltbild in Form einer che nicht zuletzt befähigt werden,
Erfahrung und des Empfindens, in antisemitischen Weltanschauung vor- zwischen realem Konfliktgeschehen
Deutschland nicht akzeptiert zu wer- liegt. Vielmehr handelt es sich oft um ein und dessen ideologischer Interpreta-
den, nicht dazu zu gehören. Sammelsurium aufgeschnappter und tion zu unterscheiden. Bewährt ha-
l Durch die Denunzierung und Abwer- fragmentarischer Behauptungen und ben sich dabei zwei Erklärungssche-
tung anderer (hier: der Juden und Is- Überzeugungen, die sie in bestimmten mata: (1) Die Geschichte (aber auch
raelis) fühlen sich Jugendliche und Situationen reproduzieren. einzelne aktuelle Ereignisse) des
junge Erwachsene stark, insbeson- Das macht auch erst die pädagogische Konflikts lassen sich in Form der Ge-
dere solche, die sich in ihrem Alltag Arbeit sinnvoll: Es geht primär darum, genüberstellung des legitimen „isra-
meist als schwach und ohnmächtig die Verfestigung einzelner Bilder zu ei- elischen“ Bedürfnisses nach Sicher-
erleben. (Aus den mitunter zutage nem antisemitischen Weltbild zu verhin- heit und dem ebenso legitimen „pa-
tretenden Hass- und Gewaltfantasi- dern. Besteht ein solches Weltbild erst lästinensischen“ Wunsch nach Ge-
en spricht das Bedürfnis nach Aner- einmal, kommt die Pädagogik – wie Er- rechtigkeit betrachten. (2) Dabei

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ANTISEMITISMUS BEI JUGENDLICHEN
ARABISCHER, TÜRKISCHER UND/ODER
MUSLIMISCHER HERKUNFT

onen deutlich entgegen getreten und


ihnen im Zweifelsfall auch mit Sanktio-
nen begegnet werden. Hier ist also eine
schwierige pädagogische Balance ge-
fordert: Die Balance zwischen Anerken-
nen und Abgrenzen! Anerkennung ge-
bührt der Person, aber nicht zwangsläu-
fig den Positionen, die sie vertritt.
Und, nicht zuletzt: Um Pädagogen in-
haltlich und pädagogisch in die Lage zu
versetzen, diese schwierige Balance zu
halten, muss auch die Aus- und Fortbil-
dung von Pädagoginnen und Pädago-
gen, die mit Jugendlichen arabischer,
türkischer und muslimischer Herkunft ar-
Für die Bildungs- beiten, ein wesentliches Element zu-
arbeit mit künftiger Begegnung und Prävention
muslimischen von antisemitischen Positionen sein.
Jugendlichen gilt:
Pädagogik gegen
Antisemitismus ist
LITERATUR
notwendig auch
eine Pädagogik Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.) (2009): „Die
für Integration. Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Ein-
wanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch
picture alliance/dpa
sozialisierter Milieus. Reader und Praxisbeispie-
le zur pädagogischen Arbeit. Berlin.
Fechler, Bernd/Kössler, Gottfried/Messer-
könnte vermittelt und anerkannt wer- gendliche sollen in die Lage versetzt schmidt, Astrid/Schäuble, Barbara (Hrsg.)
den, dass historisch im Zuge der Im- werden, mit Berichten und Informati- (2006): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven
für den pädagogischen Umgang mit dem glo-
migration und Flucht von Juden nach onen, die sie bekommen, kritisch um- balisierten Antisemitismus. Frankfurt am Main.
Palästina, der Gründung des Staates zugehen. Dazu gehört ggf. auch die Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Meier, Marcus
Israels und auch den nachfolgenden Fähigkeit und Möglichkeit, Erzählun- (Hrsg.) (2012): Antisemitismus in der Einwande-
Kriegen Palästinensern individuell gen von Älteren infrage zu stellen – rungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bil-
dungsarbeit. Weinheim und Basel.
Unrecht geschehen und Leid zuge- und zwar so, dass dabei die Jugend- Georgi, Viola/Ohliger, Rainer (Hrsg.) (2009):
fügt wurde – aber ohne, dass sich lichen nicht gleich in einen Loyalitäts- Crossover Geschichte. Historisches Bewusst-
dafür konkret und eindeutig Schuldi- konflikt geraten, weil sie sich mit ei- sein Jugendlicher in der Einwanderungsgesell-
ge benennen ließen. Vielleicht liegt ner kritischen Rezeption von der schaft. Hamburg.
darin eine besondere Tragik dieses Jikeli, Günther (2007): Pädagogische Arbeit ge-
eigenen Familie oder der Community
gen Antisemitismus mit Jugendlichen mit arabi-
Konflikts, die Jugendlichen vermittelt distanzieren würden. schem/muslimischem Familienhintergrund. In:
werden und zu einer versöhnlichen l Die Erfahrung zeigt, dass auch der Is- Benz, Wolfgang/Wetzel, Juliane (Hrsg.): Anti-
Betrachtung beitragen kann. lam ein Weg sein kann, um muslimi- semitismus und radikaler Islamismus. Essen,
S. 201–214.
l Zur Multiperspektivität gehört unbe- sche Jugendliche anzusprechen.
Hochschule für angewandte Wissenschaften
dingt auch (etwa in der Schule) eine Zwar ist der Antisemitismus wie ge- Hamburg (HAW)/ufuq.de (2011): Islam, Islamis-
gezielte kritische Auseinanderset- sagt meist nicht religiös begründet. mus und Demokratie. Filme und Begleithefte für
zung mit Gemeinschaftsideologien Der Bezug auf Religion (etwa auf das die pädagogische Arbeit (u. a. zu Antisemitis-
(hier: islamischer und nationaler) – Toleranzgebot oder die Parallelen mus und Nahostkonflikt). Hamburg/Berlin.
dem Denken in WIR und DIE. Dazu zwischen Judentum, Christentum und Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus
( KIgA) (2013): Widerspruchstoleranz. Ein Theo-
können auch andere Ideologien wie Islam), der sich oft auch nicht beson- rie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und
Rassismus und Islamfeindschaft her- ders religiöse Jugendliche zurech- Bildungsarbeit. Berlin.
angezogen werden. Für Jugendliche nen, weil sie ein wesentliches Merk- Niehoff, Mirko/Üstün, Emine (Hrsg.) (2011): Das
zentrale Fragen von Zugehörigkeit, mal ihres Konzepts von Identität und globalisierte Klassenzimmer – Theorie und Pra-
xis zeitgemäßer Bildungsarbeit. (Schriftenreihe
Identität und Anerkennung können Selbstbehauptung darstellt, kann „Theorie und Praxis der Schulpädagogik“, Band
aufgegriffen, dabei aber auch fal- aber helfen, bestehende Feindbilder 6). Immenhausen.
sche kollektive Identitätskonzepte in- abzubauen und den Jugendlichen Radvan, Heike (2010): Pädagogisches Handeln
frage gestellt werden. Pädagogik insgesamt den Zugang zu einem to- und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu
gegen Antisemitismus ist hier auch Beobachtungs- und Interventionsformen in der
leranten Welt- und Menschenbild zu
offenen Jugendarbeit. Bad Heilbrunn.
eine Pädagogik für Integration. eröffnen. Schäuble, Barbara/Scherr, Albert (2009): Politi-
l Angesichts der Rolle, die Medien im l Um die Jugendlichen zu erreichen, ist sche Bildungsarbeit und Antisemitismus bei Ju-
Leben vieler Jugendlicher aber auch es wichtig, sie persönlich anzuerken- gendlichen. In: Scharathow, Wiebke/Leiprecht,
bei der Verbreitung von einseitigen nen – und das heißt auch, ihre Positi- Rudolf (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 2: Rassis-
muskritische Bildungsarbeit. Schwalbach/Ts.,
Perspektiven (u. a. auf den Nahost- onen zunächst aufzugreifen und S. 283–299.
konflikt) spielen, ist die Förderung kri- nicht direkt moralisch abzuwerten. Stender, Wolfgang/Follert, Guido/Özdogan,
tischer Medienkompetenz ein wichti- Gleichzeitig muss antisemitischen wie Mihri (Hrsg.) (2010): Konstellationen des Antise-
ges pädagogisches Anliegen. Ju- anderen menschenverachtenden Positi-

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mitismus. Antisemitismusforschung und sozial- spiel-al-quds-tagislamistische-netzwerke-und- Berlin; Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.)
Jochen Müller

pädagogische Praxis. Wiesbaden. ideologien. (2009):): „Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus
Zentrum für Antisemitismusforschung/American 10 Vgl. Rabinovic, Doron/Speck, Ulrich/Sznai- in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel
Jewish Committee/Landesinstitut für Schule und der, Natan (2004): Neuer Antisemitismus? Eine muslimisch sozialisierter Milieus. Reader und
Medien Berlin-Brandenburg (Hrsg.) (2008): Ge- globale Debatte. Frankfurt am Main. Praxisbeispiele zur pädagogischen Arbeit. Ber-
gen Antisemitismus. CD-ROM mit Material und 11 Vgl. Arnold, Sina/Jikeli, Günther (2008). Ju- lin.
Modulen. Berlin. denhass und Gruppendruck – Zwölf Gespräche 19 Vgl. zur Mediennutzung von Jugendlichen
mit jungen Berlinern palästinensischen und li- muslimischer Herkunft: ufuq.de (2007): Newslet-
banesischen Hintergrunds. In: Benz, Wolfgang ter „Jugendkultur, Religion und Demokratie“,
(Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Nr. 1+2. Berlin. URL: www.ufuq.de; Nordbruch,
ANMERKUNGEN Berlin, S. 105–130. Götz (2011): Islam 2.0 in Deutschland. Jenseits
12 Die Unterscheidung zwischen Antisemitis- von deutscher Leitkultur und islamischem „Me-
1 Der Beitrag beruht auf Vorträgen und be- mus als einer mehr oder weniger kohärenten dienghetto“. In: Englert, Rudolf u. a. (Hrsg.): Jahr-
reits publizierten Beiträgen des Autors (in: Weltanschauung einerseits und antisemitischen buch für Religionspädagogik 2012. Gott goo-
Gebhardt u. a. 2013) sowie auf Erfahrungen mit Stereotypen, die aufgegriffen und „nachträg- geln? Multimedia und Religion. Neukirchen.
Jugendlichen. lich“ in die Interpretation realer Ereignisse und Verfügbar unter: www.ufuq.de.
2 Zu beachten ist dabei, dass sich vor allem Erfahrungen im Kontext des Nahostkonflikts in- 20 Lediglich die BMI-Studie „Muslime in
im Kontext des Nahostkonflikts viele Jugendli- tegriert werden andererseits, hat große Bedeu- Deutschland“ (2006) bietet einen Anhaltspunkt:
che antiisraelisch und oft israelfeindlich äußern, tung für die pädagogische Arbeit mit Jugendli- Demnach stimmten 15,7 Prozent der befragten
diese Positionen aber nur teilweise auch als an- chen und jungen Erwachsenen aus der Region. „muslimischen Jugendlichen“ der 9. und 10. Jahr-
tisemitisch zu betrachten sind. Ebenso ist zu be- Dies gilt auch, wenn diese Unterscheidung oft gangsstufe der Aussage zu, dass „Menschen
denken, dass der allergrößte Teil der in Deutsch- nicht eindeutig zu treffen ist und tatsächlich jüdischen Glaubens überheblich und geldgie-
land gemeldeten antisemitischen Vorfälle nicht nicht selten Kritik an Israel und israelischer Poli- rig“ seien; bei „nichtmuslimischen Migranten“
auf Menschen mit Migrationshintergrund, son- tik in Form klassischer antisemitischer Stereoty- und „nichtmuslimischen Einheimischen“ liegen
dern auf das weite Spektrum des deutschen pe erfolgt, wobei der Konflikt dann lediglich als diese Werte mit 7,4 Prozent bzw. 5,7 Prozent
Rechtsextremismus zurückgehen. Aufhänger dient (s. unten). So spielen für Einstel- deutlich niedriger[].
3 Zur Debatte über Antisemitismus im arabi- lungen von Menschen aus Ägypten, Marokko, 21 Vgl. Wetzel, Juliane (2010): Moderner Anti-
schen/islamischen Kontext siehe: Webmann, der Türkei oder Malaysia gegenüber Israel und/ semitismus unter Muslimen in Deutschland. In:
Esther (2010): The Challenge of Assessing Arab/ oder den Juden eigene bzw. familiäre Erfahrun- Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Islam-
Islamic Antisemitism. In: Middle Eastern Studies. gen im Konflikt eine entsprechend kleinere oder feindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik ver-
Vol. 46, S. 677–697; Kiefer, Michael (2007): Isla- gar keine Rolle. schwimmen. Wiesbaden, S. 379–392.
misierter Antisemitismus. In: Benz, Wolfgang/ 13 Vgl. dazu etwa die Berichterstattung auf 22 Vgl. zum Folgenden detaillierter: Müller, Jo-
Wetzel, Juliane (Hrsg.): Antisemitismus und radi- Spiegel-online. chen (2008): „Warum ist alles so ungerecht?“
kaler Islamismus. Essen, S. 71–84; Nordbruch, 14 Vgl. Nordbruch, Götz (2009): Dreaming of Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen.
Götz (2004): Antisemitismus als Gegenstand a free Palestine: Muslim Youth in Germany and In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.): „Die Juden
islamwissenschaftlicher und Nahost-bezogener the Israel-Palestine-conflict. Centre for Contem- sind schuld!“ Antisemitismus in der Einwande-
Sozialforschung. In: Bergmann, Werner/Körte, porary Middle East Studies. Odense. rungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozia-
Mona (Hrsg.): Antisemitismusforschung in den 15 Vgl. Müller, Jochen (2008), a. a. O. lisierter Milieus. Reader und Praxisbeispiele zur
Wissenschaften. Berlin, S. 241–269. 16 Vgl. Müller, Jochen (2008), a. a. O. pädagogischen Arbeit. Berlin, S. 30–36; Müller,
4 Vgl. Kiefer, Michael (2009): Was wissen wir 17 Vgl. Müller, Jochen (2009): „Das sind die Jochen (2008a): Zwischen Abgrenzen und An-
über antisemitische Einstellungen bei mus li mi- Gefährlichsten, weil man sie nicht sieht.“ In: ami- erkennen. Überlegungen zur pädago gischen
schen Jugendlichen? Leitfragen für eine künftige ra (Hrsg.): Antisemitismus in der Türkei. Berlin. Begegnung von antisemitischen Einstellungen
Forschung. In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.): URL: http://www.amira-berlin.de/Aktuelles/65. bei deutschen Jugendlichen muslimischer/ara-
„Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus in der htm. bischer Herkunft. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.):
Einwanderungsgesellschaft am Beispiel musli- 18 Vgl. etwa: European Monitoring Centre on Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin,
misch sozialisierter Milieus. Reader und Praxis- Racism und Xenophobia (2004): Manifestations S. 97–104.
beispiele zur pädagogischen Arbeit. Berlin, of Antisemitism in the EU 2002–2003. Wien; 23 Darunter waren auch viele Berichte von Ju-
S. 20–23. amira (Hrsg.) (2009): „Du Opfer! – Du Jude!“ gendlichen palästinensisch-libanesischer Her-
5 Vgl. Kiefer, Michael (2002): Antisemitismus Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg. kunft, die 2006 zu Familienbesuchen im Libanon
in den islamischen Gesellschaften. Düsseldorf; waren und dort den Krieg aus nächster Nähe
Müller, Jochen (2008). Geschichte und Gegen- mitbekommen haben.
wart des Antisemitismus im Nahen und Mittleren 24 Vgl. ausführlicher: Müller, Jochen (2008):
Osten. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Der Hass „Warum ist alles so ungerecht?“ Antisemitismus
UNSER AUTOR

gegen die Juden. Dimensionen und Formen des und Israelhass bei Jugendlichen. In: Amadeu
Antisemitismus. Berlin, S. 119–136. Antonio-Stiftung (Hrsg.): „Die Juden sind
6 Zu beachten ist dabei, dass die Selbstdefi- schuld!“ Antisemitismus in der Einwanderungs-
nition als Muslim bzw. die Zugehörigkeit zu einer gesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisier-
Kollektividentität „der Muslime“ eine wichtige ter Milieus. Reader und Praxisbeispiele zur päd-
Rolle bei der Formierung antisemitischer Positio- agogischen Arbeit. Berlin, S. 30–36.
nen spielen kann (etwa in der Konstruktion ent- 25 Auf Youtube findet sich eine Fülle von Vi-
sprechender Feindbilder). Diese Kollektividenti- deos, in denen türkische Jugendliche Kurden
tät wird insbesondere in der Ideologie islamisti- diffamieren – und umgekehrt.
scher Bewegungen beschworen. Außerdem 26 Vgl. Dantschke, Claudia (2006): Feindbild
können aber auch der türkische und der (pan-) Juden. Zur Funktionalität der antisemitischen
arabische Nationalismus als wichtige Kollektiv- Gemeinschaftsideologie in muslimisch gepräg-
ideologien gelten, die zur Verbreitung antisemi- ten Milieus. In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.):
tischer Einstellungen wesentlich beigetragen „Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus in der
Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaft-
haben. Einwanderungsgesellschaft am Beispiel musli-
7 Vgl. Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des ler und Mitgründer des Berliner Vereins misch sozialisierter Milieus. Reader und Praxis-
Antisemitismus: Islamistische, demokratische ufuq.de (www.ufuq.de). Er arbeitet als beispiele zur pädagogischen Arbeit. Berlin,
und antizionistische Judenfeindschaft. Ham- Berater und Publizist sowie mit Jugend- S. 10–19.
burg. lichen und Multiplikatoren zu den The- 27 Ob, in welcher Form und in welchem Kontext
8 Vgl. Müller, Jochen (2007): Auf den Spuren Pädagogik gegen Antisemitismus sich tatsäch-
von Nasser. Nationalismus und Antisemitismus men Islam, Muslim-Sein und Islamfeind- lich besonderen Zielgruppen wie Jugendlichen
im radikalen Islamismus. In: Benz, Wolfgang/ schaft in Deutschland, Islamismus und mit Migrationshintergrund in spezifischer Form
Wetzel, Juliane (Hrsg.): Antisemitismus und radi- Prävention von Radikalisierungen, Ju- widmen kann und soll, ist Gegenstand von Aus-
kaler Islamismus. Essen, S. 85–102. gendkulturen und Medien in der Ein- einandersetzungen. Zur Diskussion und zu päd-
9 Vgl. Wolter, Udo (2004): Beispiel Al-Quds- agogischen Formaten zur Begegnung von Anti-
wanderungsgesellschaft. Außerdem
Tag. Islamistische Netzwerke und Ideologien semitismus vor allem unter Jugendlichen türki-
unter Migrantinnen und Migranten in Deutsch- entwickelt er zu diesen Themen Mate- scher, arabischer und muslimischer Herkunft
land und Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher rialien und Module für die pädagogi- siehe das Literaturverzeichnis.
Intervention. Gutachten im Auftrag des BAMF. sche Arbeit. Jochen Müller arbeitet
URL: http://ufuq.de/newsblog/online-bilbio- auch für das ZDK (Zentrum Demokrati-
thek/islamismus-und-antisemitismus/329-bei-
sche Kultur).

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MIT JUGENDKULTUREN UND MEDIEN ANTISEMITISMUS AUFBRECHEN

Die ganze Wahrheit, anders!


– Das Projekt New Faces
Gabriele Rohmann

sorgt zur Zeit der Rhein-Main-Rapper alismus und dessen Folgen abzuschlie-
Antisemitismus zeigt sich in all seinen „Haftbefehl“ mit antisemitischen Song- ßen. Die zurzeit am meisten verbreitete
Spielarten in allen gesellschaftlichen texten (wie im Song „Psst“: „… ticke Ko- Facette ist die in Antisemitismus mün-
Milieus. Für die schulische und außer- kain an die Juden von der Börse“) für dende Kritik an der Politik des Staates
schulische (politische) Bildung stellt sich Aufsehen und schaffte es 2012 sogar in Israel und sein Vorgehen im Nahostkon-
die Frage, wie junge Menschen für anti- die Top Ten der deutschen Album- flikt. Veranstaltungen und Diskussionen
semitische Vorurteile sensibilisiert wer- Charts. darüber enden häufig in heftigen Strei-
den können. Mehr noch: Wie ist in einer Antisemitismus zeigt sich heute in all sei- tigkeiten, in denen Vorwürfe, Rechtferti-
multiethnischen Gesellschaft Bildungs- nen Spielarten: Als rassistische Kompo- gungen, eigene Betroffenheit, Schuld-
arbeit mit Jugendlichen machbar, die nente, in der Juden besondere positive abwehrmechanismen oder Verweige-
selbst diskriminiert werden oder mittel- oder negative Merkmale zugeschrie- rungshaltungen stur aufeinandertref-
bar vom Nahostkonflikt betroffen sind? ben werden. Die einen halten sie für be- fen, sich vermischen und immer wieder
Gabriele Rohmann beschreibt das Mo- sonders klug und gebildet, die anderen generalisierende und oft judenfeindli-
dellprojekt New Faces, das Antworten für besonders verschlagen und reich, chen Äußerungen („Die Juden haben
auf eben diese Fragen sucht. New Faces die dritten für beides. Die sekundäre aus der Geschichte nichts gelernt“ oder
beschreitet einen neuen Weg, indem es Komponente zielt darauf, endlich einen „Die Juden geben ihr Trauma weiter“
sich an jugendkulturellen Lifestyles ori- Schlussstrich unter die Vergangenheit oder „Was die Juden mit den Palästi-
entiert. Es setzt bei dem an, was junge zu ziehen und das Kapitel Nationalsozi- nensern machen, ist das gleiche wie
Menschen interessiert: bei Musik, Medi-
en, Freizeit, Mode. Diese jugend- und
subkulturellen Lifestyles bieten vielfälti-
ge Möglichkeiten, sich mit Vielfalt und
Respekt, aber auch mit Ausgrenzung
und Diskriminierung auseinanderzuset-
zen. Um der Spielart des sekundären
Antisemitismus wirksam begegnen zu
können, arbeitet New Faces mit deutsch-
israelischen Teams. Die geschilderten
Erfahrungen und Ergebnisse sind ein
Beleg für kreative Wege, antisemiti-
schen Vorurteilen und Klischees wirk-
sam begegnen zu können. I

Antisemitismus im Alltag

„Du Jude“ als Schimpfwort oder die


Gleichsetzung der israelischen Politik
mit der des Nationalsozialismus sind in
Deutschland keine Seltenheit. Viele Ele-
mente des Antisemitismus sind in sämtli-
chen gesellschaftlichen Milieus sicht-
und hörbar. Auch 68 Jahre nach dem
Ende des Nationalsozialismus kursieren
immer noch Ritualmordlegenden, Ver-
schwörungstheorien und offen abwer-
tende Bemerkungen über Juden. Im Ber-
liner Stadtteil Schöneberg überfielen
im August 2012 Jugendliche einen Rab-
biner und dessen siebenjährige Toch-
ter, bedrohten das Kind mit dem Tod
und schlugen den Vater zusammen. Er-
kannt hatten sie ihn an der Kippa. Im
rechtsextremen Spektrum ist Antisemi-
tismus nach wie vor ein fester Bestand- Bildtafeln, entstanden während einer New-Faces-Projektwoche in der Gedenkstätte
teil der Ideologie – besonders deutlich Ravensbrück (Oktober 2012). Jugendliche aus Berlin und Brandenburg erarbeiteten
in Schriften, Songs, auf CD-Covern, Co- zusammen mit Teamern von New Faces im Streetart-Style Biografien von zwei Häftlin-
mics und in Internetforen. Im HipHop gen und einer Wärterin. Foto: Archiv der Jugendkulturen e. V.

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Gabriele Rohmann
das, was die Nazis ihnen angetan ha-
ben“) zu hören sind.
Wie lässt sich erklären, dass eine Ausei-
nandersetzung damit kaum stattfindet?
Warum neigen viele Menschen dazu,
dem Staat Israel eine besonders wer-
tende Bedeutung beizumessen sowie
schnell von „den Juden“ anstatt von
Menschen zu sprechen? Alle meinen,
beim Thema Israel mitreden zu können.
Doch nur wenige kennen die Vielfalt der
israelischen Gesellschaft – die Einwan-
derungsgesellschaft per se auf der
Welt – oder sind profunde Kennerinnen
und Kenner des hochkomplexen Nah-
ostkonflikts. Viele urteilen über einen
Staat und dessen Einwohner, oft mit mo- Vom Mainstream
ralischen Standards, die sie bei ande- abweichende Stile
ren Staaten nicht anlegen und ohne ei- wie Rap, Techno,
nen Menschen aus Israel zu kennen. Punk oder Graffiti
Nach der letzten „Deutsche-Zustände- faszinieren
Studie“ des Bielefelder Instituts für inter- Jugendliche. Bei
disziplinäre Gewalt- und Konfliktfor- genauem Hinse-
schung zur Gruppenbezogenen Men- hen sind diese
schenfeindlichkeit aus dem Jahr 2011 ist Stile voll von
der Antisemitismus in Deutschland in gelebter Reibung
der Tendenz rückläufig. Das ist grund- an der Gesell-
sätzlich eine gute Nachricht und er- schaft, zeigen
laubt auch einen Rückschluss auf die ho- einen Teil der
he Bedeutung und Wirksamkeit schuli- Lebenswirklichkeit
scher und außerschulischer politischer junger Menschen,
Bildung zur Überwindung von Antisemi- erlauben Einblicke
tismus. Trotzdem stimmen in dieser Stu- in ihren Alltag, in
die knapp 20 Prozent der Befragten der ihre Träume und
Aussage zu, die Juden hätten in Reflexionen.
Deutschland zu viel Einfluss. Fast die Foto: Archiv der
Hälfte meint, dass Juden aus ihrem Op- Jugendkulturen e. V.
ferstatus während des Nationalsozia-
lismus Vorteile ziehen würden. Und
ebenfalls rund die Hälfte findet die Äu- nach den Zugängen zu den Zielgrup- Potenziale von Jugendkulturen
ßerung, Israel führe einen Vernichtungs- pen. für die politische Bildung
feldzug gegen die Palästinenser, rich- Wie können wir junge Menschen, die ei-
tig. Auch der Bericht der vom Deutschen nen großen zeitlichen Abstand zum Na- Junge Menschen in Deutschland haben
Bundestag eingesetzten unabhängi- tionalsozialismus haben, für antisemiti- ein großes Interesse an Musik, Medien
gen Expertenkommission „Antisemitis- sche Vorurteile sensibilisieren? Erst oder Mode und orientieren sich entwe-
mus in Deutschland“ aus dem Jahr 2011 recht, wenn intergenerationelle Begeg- der am so genannten Mainstream oder
lässt nicht aufatmen. Danach ist Antise- nungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeu- am Außergewöhnlichen, an Stilen, die
mitismus in unserer Gesellschaft nach gen kaum noch möglich sind. Wie lässt vom Mainstream abweichen, an ju-
wie vor fest verankert und fungiert als sich mit Jugendlichen arbeiten, die gendkulturellen Szenen wie Rap, Graffi-
„Einstiegsdroge“ und Scharnier in und selbst vom Nahostkonflikt betroffen ti, Techno oder Punk. Für viele Außenste-
für die rechtsextremistische Szene. Und sind? Die eine emotionale Nähe zu die- hende wirken diese Jugendkulturen he-
die neueste Rechtsextremismus-Studie ser Region haben und gleichzeitig we- donistisch, selbstreferenziell, unpoli-
der Friedrich-Ebert-Stiftung, „Die Mitte niger Bezüge zur deutschen Geschich- tisch.
im Umbruch“ (2012), legt alarmierende te. Wie sieht eine milieusensible Arbeit Doch bei genauerem Hinsehen sind sie
Zahlen zu Antisemitismus unter Her- mit Jugendlichen aus, die oder deren voll von gelebter Reibung an der Ge-
kunftsdeutschen und unter Menschen Angehörige in unserer Gesellschaft dis- sellschaft, zeigen einen Teil der Lebens-
mit Migrationsgeschichte vor. Nach kriminiert werden, die Bildungsbenach- wirklichkeiten von jungen Menschen,
dieser Studie sind antisemitische Res- teiligung und Ausgrenzung erfahren? erlauben Einblicke in ihren Alltag, in ih-
sentiments in der Bevölkerung in sämtli- Wie erreichen wir mit dem Thema Er- re Träume und Reflexionen und enthal-
chen Milieus mit teilweisen Zustim- wachsene, die meinen, es sei fast alles ten deswegen ein hohes Potenzial für
mungsraten von mehr als 60 Prozent gesagt und getan und es gäbe dringli- die kulturelle und politische Bildung.
verbreitet. chere Probleme als Judenhass? Wie ge- Das Archiv der Jugendkulturen e. V. Ber-
Für Menschen, die schon lange in der hen wir mit Erwachsenen um, die ihre lin verbindet seit rund 13 Jahren politi-
Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Stereotype an Jugendliche weiterge- sche Bildung gegen Rechtsextremismus,
arbeiten, sind diese Befunde vermutlich ben, diese und sich selbst bewusst oder Rassismus und andere Diskriminierun-
keine Überraschung. Trotzdem stellt unbewusst darin bestärken? Und gen mit Jugendkulturen und hat in der
sich angesichts der Vielschichtigkeit schließlich: Wie lassen sich politisch Vergangenheit mit seinem Projekt Cul-
und Tiefe des Phänomens in sämtlichen und wirtschaftlich kritische Meinungen ture on the Road an hunderten von Schu-
gesellschaftlichen Milieus die Frage ohne Antisemitismus artikulieren? len und Jugendeinrichtungen bundes-

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DIE GANZE WAHRHEIT, ANDERS!
– DAS PROJEKT NEW FACES

ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Wünsche


und Träume in Songs, Comics, Mixtapes
oder Streetart; sie fotografieren, filmen
oder spielen Theater, tanzen oder ent-
decken sich in anderen Segmenten. In
diesen kulturellen Auseinandersetzun-
gen liegt ein hohes Potenzial für die po-
litische Bildungsarbeit gegen Antisemi-
tismus – sei es über das Texten, Malen
oder Musikhören oder über Tanzen und
Rollenspiele.

Mit Jugendkulturen und Medien


Antisemitismus aufbrechen

Die Gesellschaft in Israel ist in einem


stetigen Wandel. Israel ist das (jüdi-
sche) Einwanderungsland per se auf
der Welt, hier leben Menschen aller
Herkünfte. Damit geht eine unermessli-
che Vielfalt an Kulturen, Haltungen, Prä-
gungen, religiösen Einstellungen ein-
her, aber auch an Spannungen, Konflik-
ten und Auseinandersetzungen. Junge
Menschen in Israel, in der dritten oder
inzwischen vierten Generation nach
der Shoah, haben ein Interesse am Land
der Täterinnen und Täter, gepaart mit
dem Wunsch, sich kreativ auszuleben,
jenseits der gesellschaftlichen und poli-
tischen Lage in Israel und des sie stän-
dig umgebenden Nahostkonflikts. In
den letzten Jahren sind tausende junger
weit mit tausenden von Jugendlichen gen akzeptierende Angebote anzuneh- Israelis vor allem nach Berlin gezogen.
und Erwachsenen zu Auseinanderset- men, und zwar auch im Kontext von Sie wollen sich selbst ein Bild von
zungen und kritischen Reflexionen über konflikt haften Themen, die oft mit Ab- Deutschland machen und Menschen
Diskriminierungen beigetragen. wehrreaktionen oder Verweigerungs- hier kennenlernen.
Mittler und Mittlerinnen der Themen haltungen einhergehen. Rund 20 von ihnen gehören zum Team
sind beim Archiv der Jugendkulturen Vor dem Hintergrund der reichhaltigen von New Faces. Sie arbeiten mit jungen
e. V. Menschen, die sich in den Jugend- Erfahrungen mit diesem Ansatz hat sich Berlinerinnen und Berlinern gemeinsam
kulturen sehr gut auskennen und deren auch das Projekt „New Faces – Mit Kultur in interkulturellen Teams, gehen an
Inhalte kreativ und reflektiert selbst le- und Medien gegen Antisemitismus“ ent- Schulen, in Jugendeinrichtungen, in
ben. Junge Szenevertreterinnen und wickelt. Seit April 2011 wird New Faces Gedenkstätten, diskutieren und arbei-
-vertreter aus Punk, HipHop, Reggae im Bundesprogramm „Toleranz fördern ten mit Jugendlichen und Erwachsenen
oder Skateboarding kommen mit an – Kompetenz stärken“ des Bundesminis- über Jugendkulturen, Israel, Deutsch-
diesen Jugendszenen interessierten Ju- teriums für Familie, Senioren, Frauen land, Religion, Diskriminierungen und
gendlichen ins Gespräch, vermitteln so- und Jugend (BMFSFJ) und von der Bun- Menschenrechte. Sie geben Einblicke in
ziokulturelle sowie gesellschaftspoliti- deszentrale für politische Bildung (bpb) ihr Leben, in ihre Erfahrungen, vermit-
sche Hintergründe und Entwicklungen als Modellprojekt gefördert. New Faces teln in Workshops und Vorträgen Wis-
der Szenen, deren politische Bildungs- beschreitet einen neuen Weg. Das Pro- sen und erarbeiten zusammen mit Ju-
kontexte wie die Relevanz von Rassis- jekt setzt zunächst bei dem an, was jun- gendlichen und Erwachsenen kreativ
mus im HipHop und bieten Jugendli- ge Menschen interessiert und wo sie be- mobile Ausstellungen. Die Ausstellun-
chen an, sich praktisch zum Beispiel im sonders aufnahmebereit sind: bei Mu- gen präsentieren die Ergebnisse aus
Schreiben eines Rap-Songs, Anfertigen sik, Medien, Freizeit, Mode. Es geht um den Workshops, tragen sie in die Öf-
von Graffiti oder Streetart, Zeichnen ei- jugendkulturelle Lifestyles, um Alltag, fentlichkeit und garantieren so eine
nes Comics oder Erstellen eines Musik- um Interessen und Bedürfnisse. Dahin- stärkere Nachhaltigkeit des Projekts.
clips kreativ auszuprobieren. Dieser An- ter steht eine Auseinandersetzung mit Sie laden dazu ein, sich dem Thema An-
satz funktioniert. Die Interessen von jun- Vielfalt, Anerkennung und Respekt, aber tisemitismus zu nähern und selbst damit
gen Menschen, direkte Partizipation in auch mit Ausgrenzung, Abwertung und auseinanderzusetzen. Bisher haben
den Workshops und politische Bildung Diskriminierungen. rund 10.000 Menschen die Ausstellun-
lassen sich sehr gut in Einklang bringen. Jugend und Jugendkulturen gibt es in Is- gen von New Faces gesehen.
Jugendliche zeigen eine hohe Bereit- rael genauso wie in Deutschland. Dort
schaft, kreative und sie in ihren Belan- wie hier verarbeiten junge Menschen

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Gabriele Rohmann
Erfahrungen und Ergebnisse

Im Herbst 2011 haben wir über mehrere


Wochen an Schulen in Berlin-Moabit
und Hamburg-Altona, im Herbst 2012
mit Jugendlichen und Erwachsenen in
Berlin-Mitte Rap-, Theater-, HouseD-
Jing-, Streetart-, Fotografie-, Comic-
und Radio-Workshops veranstaltet und
die Ergebnisse in beiden Städten in drei
verschiedenen multimedialen Wander-
ausstellungen präsentiert. Die Work-
shops wurden von je zwei Teamerinnen
und Teamern aus Deutschland und Isra-
el geleitet. In Berlin-Moabit, an einem
Oberstufenzentrum mit 3.000 Jugendli-
chen, die dort verschiedene Schulab-
schlüsse machen können, stieß das The-
ma zunächst auf Widerstand. Theater
spielen zu Diskriminierungen, zur eige-
nen Identität, zu Rassismus und Rechts-
extremismus fanden die Jugendlichen in
Ordnung, aber warum über Antisemitis-
mus reden? Warum über Israel, den
Nahostkonflikt? Die Sache hielten viele Zwanzig junge Israelis gehören zum Team von New Faces. In interkulturellen Teams
für klar: Es gibt nette Menschen in Israel, gehen sie in Schulen und Jugendeinrichtungen, diskutieren und arbeiten mit Jugend-
aber das ändert nichts daran, dass die- lichen über Jugendkulturen, Israel, Deutschland, Religion, Diskriminierung und Men-
ser Staat alle anderen unterdrückt und schenrechte. Sie erarbeiten zusammen mit den Jugendlichen mobile Ausstellungen, die
bei Kritik die „Nazi-Keule“ schwingt. der Öffentlichkeit präsentiert werden. Foto: Archiv der Jugendkulturen e. V.
Auch in anderen Workshops zeigten
sich ähnliche Widerstände. Radio, Rap-
pen, Sprayen, Filmen okay, aber bitte schen Mädchen und die Reaktionen in versetzten sie sich in die Rolle einer
nicht mehr. Hier waren es vor allem die den Familien und in der Schule themati- Werbeagentur, die den Auftrag erhält,
persönlichen Begegnungen mit den sierten. Allein das ist ein Ergebnis, das eine Kampagne gegen dieses Tier zu
Teamerinnen und Teamern sowie deren in der hoch-konflikthaften Arbeit zu An- kreieren. Die Jugendlichen zeichneten
Auftreten als interkulturelles Tandem, tisemitismus nicht selbstverständlich ist. diskriminierende Plakate. In einem
die die Jugendlichen dazu bewegten, Aus Projektsicht ist das ein Indiz für eine nächsten Schritt hatten sie den Auftrag,
sich auf das Thema einzulassen. Eine gelungene Sensibilisierung der Jugend- den Hintergrund dieser Diskriminierung
weitere wichtige Herangehensweise lichen. in einer Geschichte darzustellen und
war, Antisemitismus im Kontext anderer Auch in Hamburg waren die Jugendli- diese so zu dekonstruieren. Grundidee
Diskriminierungen zu erarbeiten. Die chen überwiegend mehrsprachig, hier des Workshops war es, die Mechanis-
Jugend lichen, viele mit türkischen und aber mit Bezügen zu über 80 Ländern men von Vorurteilen, Propaganda,
verschiedenen arabischen Bezügen, der Welt. Dominanzgruppen waren we- Halbwahrheiten sowie Manipulation
bekamen Raum, eigene Diskriminie- niger ausgeprägt, die Schule war deut- deutlich und nachvollziehbar zu ma-
rungserfahrungen mit der bundesrepu- lich kleiner und engagiert sich seit vie- chen. Um die Schaffung oder Vertiefung
blikanischen Mehrheitsgesellschaft zu len Jahren für die Überwindung von von Stereotypisierungen gegenüber
thematisieren. Eine Sensibilisierung für Rassismus. Die Platzierung des Themas Menschen zu vermeiden, wurde hier be-
die Diskriminierung von jüdischen Men- Antisemitismus fiel in Hamburg leichter. wusst auf das Genre der Fabel zurück-
schen ergab sich zum Teil erst in offenen Für die meisten Jugendlichen war es fast gegriffen und mit Tierfiguren gearbei-
Auseinandersetzungen, im Austausch selbstverständlich, die Herabsetzung tet.
und einem gegenseitigen Ernstnehmen von Juden als Diskriminierung zu erken- Auch in Hamburg gaben fast alle Teil-
von Ausgrenzung, einhergehend mit ei- nen und zu verstehen. Hier begaben nehmenden ihre Zustimmung zur Veröf-
ner Wissensvermittlung über die Größe sich die Jugendlichen beispielsweise fentlichung der Ergebnisse in einer Aus-
und Zusammensetzung des Staates auf Spurensuche von jüdischem Leben stellung. Diese war in der Schule, in ei-
Israel und der Vergewisserung gemein- in Hamburg und dokumentierten foto- nem Kindermuseum im Sozialraum und
samer kultureller Interessen für Rap, grafisch und filmisch das Grindel-Vier- in einer weiteren Schule zu sehen, in der
House music, für Fotografie, Theater, tel. Für sie war es die erste direkte Re- Jugendliche auch noch zu Peer Guides
Streetart oder Film. Am Ende dieser Er- cherche mit vielen neuen und berühren- der Ausstellung geschult wurden.
fahrungen stand eine multimediale Aus- den Erkenntnissen über die Verfolgung Eine dritte große Station hatte New
stellung, die in der Schule und an ande- der Juden und Jüdinnen im Nationalso- Faces im Winter 2012 an einer Schule in
ren Orten in Berlin zu sehen war. Alle zialismus. Berlin-Mitte. Auch an dieser Schule fin-
Jugendlichen hatten ihre Einwilligung In einem Comic-Workshop verarbeite- det gelebte Migration statt, der Anteil
zur Veröffentlichung der Workshop-Er- ten die Jugendlichen die Themen Pro- von mehrsprachig erzogenen Jugendli-
gebnisse und begleitender Fotos sowie paganda und Manipulation und erstell- chen liegt bei rund 80 Prozent. An dieser
zu deren Verbreitung im öffentlichen ten ein gemeinsames Heft mit dem Titel Schule machten wir, trotz vorhandener
Raum gegeben – sogar zu einem von ih- „Tierische Propaganda“. Für ihre Ge- Dominanzgruppen, ähnliche Erfahrun-
nen gedrehten fiktiven Video, in dem sie schichten suchten sie sich zunächst ein gen wie in Hamburg-Altona. Auch diese
eine Liebesbeziehung zwischen einem Tier aus, dem sie positive und negative Schule engagiert sich gegen Vorurteile,
jüdischen Jungen und einem mus limi- Eigenschaften zuschrieben. Danach auch hier ist die Schulgröße überschau-

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Arbeit mit Erwachsenen DIE GANZE WAHRHEIT, ANDERS!
– DAS PROJEKT NEW FACES
Das größte Potenzial für Antisemitismus
liegt nicht bei den jungen Menschen,
sondern bei den Erwachsenen. Das Pro-
jekt ist daher darauf ausgerichtet, Er- aus bundesweit sowohl im städtischen
wachsene fortzubilden und diese auch als auch im ländlichen Raum weiter ak-
in die Workshoparbeit mit den Jugend- tiv sein. Das Projekt sucht weiterhin
lichen einzubeziehen. Das Interesse Schulen, Gedenkstätten, Jugendein-
von Erwachsenen am Thema ist leider richtungen und andere gesellschaftli-
(oder vielleicht auch erwartungsge- che Institutionen für eine Teilnahme. Re-
mäß) überschaubar. Viele argumentier- alisierbar sind Vorträge, Workshops,
ten mit einem Mangel an Zeit oder Projekttage und Projektwochen mit zwi-
Überforderung in ihrem Alltag, einige schen zwei und 20 Teamerinnen und
lehnten eine Teilnahme am Projekt aber Teamern aus Deutschland und Israel.
auch mit deutlichen Verweisen auf „re- Für Jugendliche, für Erwachsene und für
levantere Themen“ ab. Eine historische beide gemeinsam. Das Projekt New
Betrachtung über Gedenkstättenbesu- Faces erhielt 2013 den renommierten
che und die Beschäftigung mit Antise- Dieter-Baacke-Preis in der Kategorie in-
mitismus im Nationalsozialismus halten ternationale und interkulturelle Projek-
viele zwar für notwendig und angemes- te. Die Preisverleihung fand am 22.11.
sen, aber die Bedeutung des Themas in 2013 in Mainz statt (vgl. http://www.
der Gegenwart, gerade im Kontext ei- dieterbaackepreis.de/).
ner Auseinandersetzung mit dem Nah-
ostkonflikt oder Elementen des sekun-
dären Antisemitismus mit „Schlussstrich-
LITERATUR
bar. Die Jugendlichen arbeiteten enga- mentalität“ und „Täter-Opfer-Umkehr“,
giert im Projekt mit, es entstanden meh- wird entweder wenig wahrgenommen Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.) (2012): Kritik
rere Video-Clips zu Diskriminierungen, oder abgewehrt. Auf einer qualitativ- oder Antisemitismus? Eine pädagogische Hand-
reichung zum Umgang mit israelbezogenem
Antisemitismus, eigenen Migrationsge- empirischen Ebene erfährt das Projekt Antisemitismus. Berlin.
schichten, ein Musikvideo, ein Comic, New Faces gerade von Erwachsenen, Battegay, Caspar (2012): Judentum und Popkul-
Graffiti und Streetart mit interreligiöser was die eingangs erwähnten Studien tur. Ein Essay. Bielefeld.
Friedensbotschaft, ein deutsch-israeli- des Bielefelder Instituts und der Fried- Bericht des unabhängigen Expertenkreises An-
sches Techno-House-Mixtape und Fo- tisemitismus (2011): Antisemitismus in Deutsch-
rich-Ebert-Stiftung quantitativ präsen-
land – Erscheinungsformen, Bedingungen, Prä-
to-Collagen mit Bildern aus dem Scheu- tieren: Antisemitismus ist eine viel- ventionsansätze. Deutscher Bundestag, Druck-
nenviertel Berlin, Porträt-Fragmenten schichtige, tief sitzende und weit ver- sache 17/7700 vom 10.11.2011.
der Jugendlichen und vom jüdischen breitete Diskriminierung in unserer Ge- Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V./Tache-
Friedhof in Berlin-Weißensee. Das Pro- sellschaft, der wir auf verschiedenen les reden e. V. (Hrsg.) (2007): Woher kommt Ju-
denhass? Was kann man dagegen tun? Ein Bil-
jekt war an der Schule präsent, als sich Ebenen, in allen Zielgruppen und mit dungsprogramm. Materialien, Methoden und
die politische Lage in Israel und in Gaza einer großen Methodenvielfalt begeg- Konzepte. Mülheim.
im November 2012 wieder einmal zuge- nen müssen. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2002–2011): Deut-
spitzt hatte, eine Bombe in Tel Aviv ex- sche Zustände. Folgen 1 bis 10. Frankfurt am
Main.
plodierte und eine Bodenoffensive in
Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antise-
Gaza befürchtet wurde. Die Bedenken, Nächste Schritte mitismus. Islamische, demokratische und antizi-
sich ausgerechnet in diesem Span- onistische Judenfeindschaft. Hamburg.
nungsgefüge an die Schule zu bege- New Faces wird als Modellprojekt bis Holz, Klaus (2010): Nationaler Antisemitismus.
ben, erwiesen sich als unbegründet. Im April 2014 und hoffentlich darüber hin- Wissenssoziologie und Weltanschauung. Ham-
burg.
Gegenteil, gerade die Präsenz der in- Melzer, Ralf (2012): Die Mitte im Umbruch.
terkulturell besetzten Kleinteams und Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland
die direkte Möglichkeit für einen Dialog 2012. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-
UNSERE AUTORIN

über die Ereignisse im Nahen Osten Stiftung. Bonn.


Moses, Gabriel S. (2010): Spunk. Eine Graphic
und die gemeinsame kreative Verarbei-
Novel. Berlin.
tung wurden sowohl von den Jugendli- Moses, Gabriel S. (2011): Subz. Biographien aus
chen als auch den Teamerinnen und einer israelischen Vorstadt. Berlin.
Teamern als sehr berührend und positiv Palandt, Ralf (2011): Rechtsextremismus, Rassis-
beschrieben. Auch hier ließen sich die mus und Antisemitismus in Comics. Berlin.
Rohmann, Gabriele (2013): Chancen und Gren-
Jugendlichen auf das Projekt ein, gaben zen der Subjektorientierung – Einblicke in die
ihre Zustimmung für eine Ausstellung Bildungsarbeit des Archiv der Jugendkulturen
und präsentierten im Laufe des Jahres e. V. Berlin. In: Psychologie & Gesellschaftskritik
2013 das Projekt selbst an verschiede- (im Erscheinen).
Sharuz Shalicar, Arye (2010): „Ein nasser Hund
nen Orten in Berlin, so im Literaturforum
ist besser als ein trockener Jude“. Die Geschich-
des Brecht-Hauses anlässlich des Ge- Gabriele Rohmann, Projektleiterin von te eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde.
denkens der Bücherverbrennung vor 80 New Faces, ist Sozialwissenschaftlerin, München.
Jahren und bei Veranstaltungen im Kon- Journalistin und leitet das Archiv der Spiegelman, Art (2011): Maus. Die Geschichte
text des Berlin-Themenjahres „Zerstörte Jugendkulturen e. V. Berlin. Mehr Infos eines Überlebenden. Frankfurt am Main.
Welzer, Harald (Hrsg.) (2007): Der Krieg der
Vielfalt“ in der Auseinandersetzung mit zum Projekt unter www.newfaces.ju- Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Wi-
der Machtergreifung der Nationalsozi- gendkulturen.de und zum Archiv der derstand im europäischen Gedächtnis. Frank-
alisten vor 80 Jahren. Jugendkulturen unter www.jugendkul- furt am Main.
turen.de.

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ÜBER DEN UMGANG MIT ANTISEMITISCHEN STEREOTYPEN

Gegen alle üblichen Klischees …


Lena Gorelik

mit uns verwandt (obwohl alle Juden ir- überleben. Weil es oft um Leben und
Literarische Texte sind in unserer Zeit- gendwie miteinander verwandt zu sein Tod ging – oder um den Alltag. „Ich hät-
schrift „Der Bürger im Staat“ eher die scheinen oder es angeblich sogar sind). te gerne das Fischbrötchen!“, bestellt
Ausnahme. Manchmal können literari- ein Jude. „Das ist aber Schinken, nicht
sche Texte allerdings mehr Schranken 4. Juden sind Wucherer Fisch!“, antwortet der Verkäufer. „Habe
einreißen als jeder noch so gut gemeinte Der „Judenzins“ ist bekannt. Ich selbst ich Sie gefragt, wie der Fisch heißt?“
fachwissenschaftliche (oder didakti- verleihe ja eher Bücher als Geld. Die Gerissen schon. Hinterlistig nicht.
sche) Impuls. Die Schriftstellerin Lena kriege ich leider nur selten zurück (wes-
Gorelik, die 1992 mit ihrer russisch-jü- halb ich dann Geld für andere Bücher 8. Juden sind Lobbyisten, klüngeln
dischen Familie als „Kontingentflücht- ausgeben muss; ein Teufelskreis). Ich „Das ist einer von uns“, sagt mein Vater,
ling“ nach Deutschland kam, erzählt, sinniere schon länger darüber, einen wenn er jemanden etwas Kluges im
wie sie entspannt mit antisemitischen Bücherjudenzins einzuführen: Wer ein Fernsehen sagen hört. Auch auf Hebrä-
Klischees umgeht. Sie gehört der neuen Buch zu spät oder unzufrieden zurück- isch ist „jemand von uns“ ein gängiger
Generation von Juden in Deutschland gibt – unzufrieden, obwohl ich eines Begriff. So eine Art große Familie, ein
an, die sich über ihre Zukunft, nicht über meiner geliebten Bücher voller Begeis- Zusammengehörigkeitsgefühl über Lan-
ihre Vergangenheit definieren wollen. terung weitergegeben habe –, muss desgrenzen hinweg. Weil Jüdisch-Sein
Für diese Generation ist die jüdische den Bücherjudenzins zahlen. So käme irgendwie verbindet, und wie, weiß kei-
Identität längst nicht mehr nur an den ich zu Geld und könnte eine richtige Jü- ner von uns, denn Religion ist, wie nur
Holocaust gekoppelt. Scherzhaft und din werden, die Bücher zu Wucherprei- Nichtjuden annehmen können, kein ver-
nachdenklich führt sie antisemitische sen verleiht. Die Welt wäre dann ein
Klischees ad absurdum. In dem Teilka- Stück weit mehr so, wie man sie sich vor-
pitel „Auf der Suche nach Antisemiten“ stellt. Und ich hätte Geld und Bücher.
zeigt sie antisemitische „Fettnäpfchen“
auf und plädiert dabei ironisch – zwi- 5. Juden haben eine problematische
schen den Zeilen jedoch überaus konst- Beziehung zu ihrer Mutter
ruktiv – für einen entkrampften deutsch- Nein, natürlich nicht. Aber jetzt würde
jüdischen Dialog. I ich lügen. (Was Juden ja auch angeb-
lich gern tun.) Also, jetzt mal jüdisch-
ehrlich: Problematisch ist die Beziehung
nicht. Aber sie, wie soll ich sagen, ge-
Die Top Ten der antisemitischen staltet den Alltag: „Wie hast du ge-
Klischees: Warum sie wahr sind schlafen? Hast du das gesunde Kopfkis-
sen benutzt, das ich dir neulich ge-
1. Juden haben Hakennasen schickt habe?“, „Was hast du gefrüh-
Grundsätzlich gilt: Alles, worüber Ju- stückt? Wie, du frühstückst nicht? Das ist
den Witze machen, trifft zu. Meine Na- doch die wichtigste Mahlzeit des Ta-
se sieht eindeutig sonderbar aus. Mög- ges!“, „Weißt du, wie kalt es heute wer-
licherweise noch keine klassische Ha- den soll? Nimm unbedingt den Schal
kennase, wie man sie aus Nazi-Karika- mit, den ich dir gestrickt habe im Schwei-
turen kennt, aber doch zu lang. Kürzer ße meines Angesichts. Jaja, ich leg ja
zwar als die der meisten meiner Famili- schon auf!“ Und das alles vor neun Uhr
enmitglieder, aber eben zu lang. Macht morgens. Aber problematisch? Nein,
nichts, ich habe auch abstehende Ele- problematisch ist die Beziehung nicht.
fantenohren, die diese Nase wunder-
bar ergänzen. 6. Juden sind schlauer als andere
Schach spielen konnte ich mit drei, lesen
2. Juden haben Glatzen mit vier Jahren. An meiner Intelligenz
Was soll ich sagen? Mein Vater hat eine liegt das nicht – etwas anderes hätte
Glatze. Er hatte schon immer eine Glat- ich meinem Vater schlichtweg nicht an-
ze, an seine Haarfarbe erinnere ich tun können. So wie sportverrückte Väter
mich nicht. Mein Mann hat eine Glatze. in US-Filmen von ihren Söhnen erwar- Der jüdische
Über die Glatze ist er trauriger als ich. ten, Baseball zu spielen, und nicht damit Geldverleiher
Früher zählte er seine verbliebenen umgehen können, wenn diese lieber Shylock aus dem
Haare. Nun rasiert er sich immer den Ballett tanzen, so ist es für jüdische El- Shakespeare-
Kopf, damit man die Glatze nicht als tern unvorstellbar, dass das Kind einen Stück „Der Kauf-
solche erkennt. Ich find’s nicht schlimm. Ball einem Buch vorzieht. mann von Vene-
Er ist doch Jude. dig“ steht für das
7. Juden sind verschlagen, hinterlistig, antisemitische Kli-
3. Juden haben viel Geld gerissen schee des Wuche-
Rothschilds Existenz will ich natürlich Gerissen schon. Hinterlistig nicht. Ge- rers.
nicht leugnen. Leider Gottes ist er nicht rissen mussten die Juden sein, um zu picture alliance/dpa

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bindendes Element. Warum, wissen wir 10. Juden sind inzestgefährdeter GEGEN ALLE ÜBLICHEN KLISCHEES …
selbst nicht so genau. Heutzutage be- als andere
zeichnen manche das als „Juden-Lob- Nun, wer so gute Filme macht wie Woo-
by“. So nennt das aber „keiner von uns“. dy Allen, darf heiraten, wen er will. Und
wenn’s seine Katze ist.
9. Jüdische Weltverschwörung Theologen. Die zu Verallgemeinerun-
Ist doch kein Klischee, gibt’s doch wirk- gen neigten, nicht immer, aber in man-
lich. Man muss nur die Augen aufma- Auf der Suche nach Antisemiten chen Fällen, in den jüdischen zumal.
chen. Die jüdische Claims Conference Aber was bleibt einem auch anders üb-
erschlich sich zum Beispiel Entschädi- Die Liste ist so schlecht nicht. Da finden rig, wenn es um Juden geht, um diese
gungszahlungen in Höhe von 42 Millio- sich Namen wie Martin Luther, Immanu- Lumpen, die Betrüger, die Lügner.
nen Dollar. Das ist zwar noch keine el Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Und jetzt mal Schluss mit der Polemik
Weltverschwörung an sich, sondern ei- Arthur Schopenhauer und Voltaire wie- (und den Lügen, die ich, Lump und Betrü-
ne Sauerei und im Grunde ein Phäno- der. Und wenn man sie so liest, diese ger, der ich qua Geburt also bin, über
men, das nicht nur in der Politik weit ver- Namen, und ein paar andere noch da- die großen Denker verbreite). Fakt ist: Es
breitet ist. Aber man könnte es, wenn zu, dann hätte man wohl nichts dage- wird sie immer geben, die Antisemiten.
man wollte, als Vorzeichen von Welt- gen, die Liste mit dem eigenen zu ergän- Darin sind sich die Antisemiten und die
verschwörung betrachten. Andere Vor- zen. Eine schöne Reihe von klugen Den- Juden ausnahmsweise einmal einig: So-
zeichen fallen mir nicht ein. Denn: Leider kern und Schreibern, die kluge Dinge lange es Juden gibt, wird es Antisemiten
dürfen bei der Weltverschwörung nur schrieben wie: „Die Juden sind die aller- geben. Die Menschen, die jemanden
auserwählte Juden mitmachen. Mich la- größten Lumpen, die jemals die Ober- aus dem einfachen und verständlichen
den sie nicht dazu ein. fläche der Erde besudelt haben.“ Oder Grund hassen, dass er Jude ist. Oder –
auch: „Die Juden sind eine Nation von ich möchte natürlich keinem Antisemiten
Betrügern.“ Und nicht zuletzt: „Juden zu nahe treten, geschweige denn etwas
sind große Meister im Lügen.“ Kluge unterstellen – ihn vielleicht gar nicht
Menschen sind das gewesen, ohne Fra- hassen, aber ihm bestimme Eigenschaf-
ge. Bedeutende Dichter, Philosophen, ten zuschreiben. Oder seine vorhande-

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Lena Gorelik
nen Eigenschaften darauf zurückführen,
dass er Jude ist. Seine, meine, unsere
jüdischen jedenfalls. (Und darf ich, als
Jüdin, über dieses Thema denn schrei-
ben?)
Was ich gerne wüsste: Wie entstehen
Antisemiten? Wachen sie eines Mor-
gens auf und sagen sich: „Ich glaube,
ich werde die Juden nicht mögen, diese
Nasen kommen mir doch etwas sonder-
bar vor?“ Wird man als Antisemit gebo-
ren? Gibt es ein Antisemiten-Gen, das
weiter gereicht wird, von Generation zu
Generation? „Tut mir leid, ich kann
nichts dafür, ich kam schon so auf die
Welt.“ Haben sie vielleicht noch nie ei-
nen Juden gesehen, aber viel über ihn,
den Juden, gehört? Oder schlimmer
noch, haben sie einen eigenen netten,
kleinen Juden, der anders ist als sein
ganzes Volk? „Also mein Nachbar, der
Jude, der ist ganz in Ordnung! Gut,
mein Portemonnaie würde ich ihm nicht
zur Aufbewahrung geben, aber ansons-
ten ist der wirklich ganz okay. Ganz an-
ders als all die anderen Juden! Nee,
mein Jude, der ist schon ganz in Ord-
nung.“ (So ein bisschen, wie jeder sei-
nen eigenen Türken hat, bei dem man
sein Gemüse holt.)
Und wovor genau haben die Antisemi- Auf der Suche nach Antisemiten: Die Liste ist so schlecht nicht. Da finden sich Namen
ten Angst? Vor der tatsächlichen, baldi- wie Martin Luther, Richard Wagner, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer …
gen Übernahme der Weltherrschaft? picture alliance/dpa
Ja, da sind wir ganz fleißig dabei. Wir
sind sozusagen kurz davor, aber Pst! Ich
darf ja nicht so viel verraten. Es wird Freunde hatten jüdische Fürsprecher, späten Geburt, ich habe die Angst nicht
Menschen geben, die behaupten, was die sich für ihre Aufnahme an der Uni mit in die Wiege gelegt bekommen.
ich da von mir gebe, („mit ihrem jüdi- einsetzten. Die jüdische Mamme hatte Liegt vielleicht auch daran, dass Antise-
schen Humor“), sei ein Ablenkungsver- den Onkel angerufen, dessen jüdischer miten ja auch nicht so einfach an der
such. Ablenkung von den wahren Tatsa- Bekannter aus dem jüdischen Golfklub Nase zu erkennen sind wie die Juden.
chen, von den jüdischen Plänen, vor der auch dort studiert habe, begeistert von Ich fände es schön, wenn die Antisemi-
jüdischen Diktatur in der Welt. Diese ihrem hinreißenden jüdischen Mutter- ten es uns Juden ebenso einfach ma-
Menschen haben Recht. Wir haben uns söhnchen berichtet, und so weiter. „Und chen würden, sie zu erkennen, wie wir
nur noch nicht entschieden, wer unser du, hattest du keinen Fürsprecher?“, ihnen. Nase um Nase sozusagen.
Hitler sein soll. Es wird genauso Men- fragte ich. „Doch, natürlich! Sonst kriegt „Schau mal, wie seine geldgierigen Au-
schen geben, die behaupten, ich („mit man ja kaum einen Platz an der Uni! Ein gen hinter seiner Krummnase verschwö-
ihrem jüdischen Humor“) schaffe erst, Kollege meines Vaters, die kennen sich rerisch blitzen! Ein echter Jud!“
schüre noch den Antisemitismus. Ich übers Business, hat sich für mich einge- „Schau mal den großen Blonden an, wie
kann mit beidem leben. setzt“, antwortete er wahrheitsgemäß. die Dummheit aus seinen Augen, Ohren
Wovor haben die Antisemiten Angst? Die jüdische Lobby ist weit verbreitet. und Mund geradezu strömt! Ein wahrer
Davor, dass die Juden alle wichtigen Ähnlich wie der Antisemitismus. Antisemit!“ Ich glaube, dass man Antise-
Positionen in der Welt ergattern, un- Wie viele Antisemiten gibt es denn auf miten findet, wenn man sie sucht. Ich su-
rechtmäßig, versteht sich? Haben sie dieser Welt? Oder in diesem Land. Das che lieber Pilze (im Sommer) und warme
doch schon längst! Noch nie was von Statistische Bundesamt hat leider keine Plätze (im Winter). Beides findet man
der jüdischen Lobby in den USA gehört, Auskunft hierüber geben können, und auch, wenn man danach sucht. Die Anti-
die alle Regierungsentscheidungen ei- Studien kommen zu unterschiedlichen semitismus-Sucher aber suchen Antise-
gentlich trifft? Die, die mehr Einfluss hat Ergebnissen, je nachdem ob von Juden miten, und da, wo es keine gibt, fahnden
als die Waffen-Lobby beispielsweise, oder Antisemiten in Auftrag gegeben. sie nach Antisemitismus von Nichtanti-
auch mehr Einfluss als die Pharma-Lob- Viele Juden zum Beispiel schätzen die semiten. Mit einer Genauigkeit und Pe-
by oder die Immobilien-Lobby. Gut, die Zahl der Antisemiten als sehr hoch ein. netranz, dass man schon wieder ein an-
Finanz-Lobby erwähne ich jetzt mal Hier ein Antisemit, da ein Antisemit, tisemitisches Klischee daraus basteln
nicht, denn die gehört auch den Juden. überall, wo kein Jude ist, ist ein Antise- könnte. Die sitzen da, hören zu und war-
Schön, dass alles Geld den Juden ge- mit. In den Medien: auch alles Antisemi- ten, „bis sich einer verrät“: Könnte das
hört. ten. In der Politik sowieso. Ach, sogar ein antisemitisches Wort gewesen sein?
Es stimme ja auch, erklärte mir einmal beim Bäcker um die Ecke sitzen welche. Schwang da gerade was mit? Wenn ich
ein amerikanischer Bekannter, der auf Nun könnte man mir vorwerfen, ich bin es mir recht überlege, ja, ich glaube, da
einer der Ivy-League-Universitäten stu- eine Realitätsverweigerin, weil ich so schwang so ein bisschen … Antisemitis-
dierte, den Einfluss der jüdischen Lobby viele Antisemiten – meist – gar nicht se- mus hat nämlich so eine Art zu schwin-
habe er selbst erlebt. Seine jüdischen he. Liegt vielleicht an der Gnade der gen, muss man wissen.

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einfällt, wie ich mit einer ehemaligen GEGEN ALLE ÜBLICHEN KLISCHEES …
Kommilitonin in einem Café saß, wir un-
seren Kaffee schlürften und wir dann
auf eine gemeinsame Freundin zu spre-
chen kamen, die sie über ihren Freund
kannte und ich über jüdische Kreise. wie eine Lügnerin vor, wenn ich behaup-
Und genau das fragte sie: „Woher tete, es gäbe gar nicht so viele Antisemi-
kennst du sie eigentlich?“, und ich ant- ten, wie man denkt.
wortete in aller Unschuld: „Über eine Vor einiger Zeit saß ich mit jemandem
jüdische Studentengruppe.“ Woraufhin bei einem Kaffee zusammen, der lange
sie aus heiterem Himmel fragte: „Da in einer jüdischen Organisation gear-
fällt mir ein, was ich dich schon lange beitet hatte. „Und, bist du nicht Antise-
fragen wollte: Wie groß ist eigentlich mit geworden?“, fragte ich ihn, woraus
der Einfluss der Juden auf die deutsche man schließen kann, dass ich von die-
Wirtschaft?“ Ups! Ups! Mehr passierte sem Thema ebenso besessen bin wie
in meinem Kopf nicht, nur das Ups. Wes- die anderen Juden, denen ich eben dies
halb ich vorsichtshalber den Kuchentel- vorwerfe. „Doch!“, antwortete er. „Und
ler anstarrte, der nur weiß war, keine das sage ich auch all meinen jüdischen
Verzierungen, kein Goldrand, einfach Freunden ganz ehrlich!“ Ich hätte la-
ein weißer Porzellanteller. Ups! Und chen können und sollen, wahrschein-
dann, peinlicherweise, etwas darüber lich. Stattdessen zahlte ich, nicht über-
zu stammeln begann, dass der Einfluss stürzt, aber dann doch rasch, und war
der Juden gar nicht so groß sein könne, den ganzen Nachhauseweg irgendwie
allein rechnerisch-mathematisch schon beleidigt. Warum? Verübeln konnte ich
mal nicht, und rechnete in Prozenten es ihm nicht, keinen einzigen Tag würde
aus, warum Juden sie nicht bedrohen ich in einer jüdischen Organisation ar-
können, sie und ihre deutsche Wirt- beiten wollen, niemals. Ich fragte mich,
schaft. Ich habe nicht gefragt: „Wie ob er mich auch hasste, ob ich für ihn
kommst du drauf, hast du das in ‚Mein auch zu den Juden gehörte, die … Ich
Kampf ‘ gelesen?“ Ich habe nicht ge- fragte mich, ob ich vielleicht sogar seine
fragt, wie groß der Anteil der Katholi- Ausnahme war, seine Alibi-Jüdin, ganz
ken in der deutschen Wirtschaft sei. Ich okay. Wenn ich wählen würde, wäre ich
Einmal traf ich einen Juden (und nein, bin nicht aufgestanden und gegangen. jederzeit lieber eine geldgierige,
das ist kein jüdischer Witz, auch wenn Ich aß den Kuchen weiter und rechnete krummnasige, hinterlistige, verräteri-
der Anfang so klingt), der mir lang und vor: den Anteil der Juden in Deutsch- sche Jüdin als die Ausnahme. Immer
breit erklärte, wie antisemitisch alle Me- land, den Anteil der im Berufsleben sich schön der jüdischen Herde hinterher.
dien seien. Vor Langeweile holte ich ei- befindenden Juden, den Anteil der Manchmal, zugegebenermaßen selten,
ne Bild-Zeitung und zeigte ihm eine Geisteswissenschaftler sowie der nicht hat der Antisemitismus auch gute Sei-
Überschrift, die etwas Jüdisches zum Deutsch sprechenden russischen Juden ten, zumindest im jüdischen Witz: Im
Thema hatte und Bild-untypisch nichts und so weiter. Ich versuchte, die Juden Jahre 1938 sitzen in der New Yorker U-
weiter als eine Tatsache beschrieb. Er in Schutz zu nehmen. Vor einem billigen Bahn zwei gerade eingewanderte
dachte nach. Eine Minute, zwei Minu- antisemitischen Klischee. Und ab da deutsche Juden einander gegenüber.
ten, ich holte mir einen Kaffee. Als ich schämte ich mich jedes Mal, wenn ich Der eine liest das Naziblatt „Der Stür-
zurückkam, grübelte er mit gerunzelter mich an mein Verhalten damals im Café mer“. Der andere liest die jüdische Zei-
Stirn über der jüdischen Nase. „Na?“, erinnerte. Ab da kam ich mir ein wenig tung „Aufbau“ und wirft seinem Sitz-
fragte ich triumphierend, denn Antise- nachbarn immer häufiger beunruhigte
mitismus-Sucher kann ich nicht so richtig Blicke zu. Endlich fragt er seinen Lands-
gut leiden. „Aber natürlich ist das eine mann: „Wieso lesen Sie dieses furcht-
UNSERE AUTORIN

antisemitische Überschrift!“, triumphier- bare Blatt? Es ist nur reiner Antisemitis-


te er, denn er konnte mich nicht so rich- mus, Judenhetze ist das.“ Der erste Jude
tig gut leiden. „Man muss nur dieses antwortet: „Schauen Sie. Was steht in
Wort hier wegdenken, dieses da nach Ihrer Zeitung? Überall sind die Juden
picture alliance/dpa

hinten verschieben und sich ein anderes Flüchtlinge. Man verfolgt uns. Man wirft
Bild dazu vorstellen, und dann sieht Steine und Bomben in die Synagogen.
man doch ganz deutlich, was für ein an- Ich lese die Nazi-Zeitung, denn sie
tisemitisches Hetzblatt die Bild ist!“ stimmt mich zuversichtlich. Wir besitzen
Nein, ich verleugne nicht ihre Existenz. die Banken! Wir besitzen die großen
Aber ich habe auch schon den einen Firmen! Wir beherrschen die Welt!“
oder anderen Nichtjuden getroffen, der
kein ausgeprägter Antisemit war. Und Lena Gorelik, geboren 1981 in St. Pe-
dafür den einen oder anderen jüdi- tersburg, kam 1992 mit ihrer russisch-
schen Antisemiten. jüdischen Familie als sogenannter Kon-
Manchmal werde ich gefragt, ob ich an- tingentflüchtling nach Ludwigsburg.
tisemitische Erfahrungen gemacht ha- Lena Gorelik veröffentlichte bisher fünf
be. Meistens bin ich geneigt, „Nein!“ zu vielfach preisgekrönte Bücher. Sie lebt
rufen, einfach aus Prinzip, weil ich nicht mit ihrem Mann und zwei Söhnen in
zu den Antisemitismus-Suchern gehören München. Im September 2013 erschien
möchte, jede Gelegenheit dazu nutze, ihr neuer Roman „Die Listensammlerin“
mich von ihnen zu distanzieren. Bis mir bei Rowohlt Berlin.

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BUCHBESPRECHUNGEN
Die Blockade Leningrads es nur noch den einzigen, alles dominie- verbrachte u. a. ihre Schulzeit in Lud-
renden Gedanken: etwas in den Ma- wigsburg. Auch ihre Großmutter über-
Lena Muchina gen zu bekommen, und sei es die Katze lebte die Belagerung Leningrads. In ih-
Lenas Tagebuch der Nachbarn. Lena erzählt dies in rer Familienerzählung war „die Blocka-
Aus dem Russischen von Lena Gorelik und schockierender Deutlichkeit, für senti- de immer da“.
Gero Fedtke. mentale Regungen ist längst kein Platz Siegfried Frech
Graf Verlag, München 2013. 288 Seiten, geb., mehr.
18 Euro Lena Muchina, 1924 in Ufa geboren,
war knapp 16 Jahre als, als ihr Tage- Schule der Diktatur
Lena Muchina beginnt ihr Tagebuch im buch begann. Sie überlebt den Blocka-
Mai 1945 mit Einträgen typischer Ge- dewinter 1941/42, den sie eindrucksvoll Bernhard Sauer:
danken einer 16-Jährigen. Sie interes- beschreibt. Im Juni 1942, noch vor Been- „Nie wird das Deutsche Volk seinen
siert sich für all das, was alle junge digung der Blockade, wurde sie evaku- Führer im Stiche lassen“. Abituraufsätze
Mädchen beschäftigt: Es geht um Schu- iert und gelangte nach Gorki, wo ihre im Dritten Reich.
le, Prüfungen, Freundinnen, Jungs, die Tante und andere Verwandte lebten. (Reihe: Zeitgeschichtliche Forschungen, Band
erste Verliebtheit... Das Tagebuch setzt Dort verbrachte sie die Kriegsjahre und 46), Duncker & Humblot, Berlin 2012.
in politisch brisanter Zeit ein, nur einen erlernte den Beruf der Müllerin. Sie 128 Seiten, 26,90 Euro.
Monat, bevor die Wehrmacht Lenin- kehrte nach dem Krieg nach Leningrad
grad einkesselt, um die Zivilbevölkerung zurück, fand dort keine Arbeit und lebte Seit dem Klassiker „Schule der Diktatur“
mit beispielloser Grausamkeit auszu- schließlich bis zu ihrem Tod am 5. Au- von Kurt-Ingo Flessau aus dem Jahr
hungern. Lena ahnt: „Früher oder später gust 1991, vier Monate vor der Auflö- 1979 ist hinlänglich bekannt, wie sich
wird es Krieg geben.“ sung der Sowjetunion, in Moskau. die nationalsozialistische Schulpolitik
Der deutsche Überfall auf die Sowjet- Lenas Tagebuch wurde erst 2010 im Na- in Richtlinien, Lehrplänen, einzelnen Un-
union verändert alles. Der Krieg bricht tionalarchiv für Politisch-Historische terrichtsfächern und in Schulbüchern
in ihr Leben ein. Fliegeralarm, Stunden Dokumente der Universität Sankt Peters- niederschlug. Bernhard Sauer, ein pro-
im Luftschutzkeller, Hunger und Tod. Ein burg entdeckt. Es gibt über die Blocka- movierter Historiker und Experte zur
Jahr beschreibt das Tagebuch von Lena de Leningrads mehrere Standardwer- Frühgeschichte der NSDAP, hat mit sei-
die Blockade Leningrads durch die ke – so die Monographie von Harrison ner unlängst erschienenen Analyse von
deutsche Wehrmacht. An fast 900 Ta- E. Salisbury 900 Tage. Die Belagerung 16 Abituraufsätzen aus den Jahren
gen von September 1941 bis Januar von Leningrad (Frankfurt/M. 1970). Neu- 1934 bis 1942 konkret aufgezeigt, wie
1944 sterben rund eine Million Men- eren Datums ist das Buch Blokada. Die die Politik der NSDAP an Schulen auf ei-
schen, die meisten durch Unterernäh- Belagerung von Leningrad 1941-1944 ner Ebene unterhalb der Richtlinien und
rung bzw. den Hungertod. (Berlin 2011) von Anna Reid. Lenas Ta- Lehrpläne umgesetzt wurde und sich in
Lena lebt zunächst von einem Tag auf gebuch hingegen schildert die Blocka- der Gedankenwelt der Schüler wider-
den anderen und blendet die Gefahr de gleichsam aus der Perspektive einer spiegelte.
anfangs aus. Die Versorgungslage wird Zeitzeugin. Ihr Bericht ist schonungslos Die Abituraufsätze stammen aus dem
im Herbst 1941 kritisch, die tägliche ehrlich. Sie zeigt die Deformierung des Schularchiv des Heese-Gymnasiums in
Brotration beträgt nur noch 400 Gramm. Denkens und Fühlens in Zeiten des Exis- Berlin-Steglitz. Das altsprachliche, hu-
Dazu kommen die Zerstörungen durch tenzkampfes. Ihre dramatischen Einbli- manistische Gymnasium lag in einem
deutsche Luftangriffe. Lena führt peni- cke in das Leben unter der Blockade ausgesprochen bürgerlichen und kon-
bel Buch und hält fest, was sie aus dem wechseln mit literarisch ausgestalteten servativ geprägten Bezirk. Die NSDAP
Radio über den Kriegsverlauf in Erinne- Passagen, mit pathetischen Gedichten erzielte in diesem Bezirk stets ihre bes-
rung bringen kann. Zumindest am An- und Spottversen. Gleichzeitig zeigt das ten Wahlergebnisse in Berlin. Dement-
fang ihrer Tagebucheinträge schlagen Tagebuch ein Mädchen, das in vieler sprechend geprägt war die politische
sich die Propagandasprache der Front- Hinsicht noch ein Kind ist, Geld für An- Gedankenwelt der Lehrer- und Schüler-
berichte und der ungetrübte Patriotis- sichtskarten verschwendet und von ei- schaft des Gymnasiums. Allein schon
mus nieder. ner Berufskarriere als Zoologin träumt. die Themenstellungen der Aufsätze sind
Mit dem Wintereinbruch und der wirk- Zugleich wird sie zur Verantwortung ge- aufschlussreich: Sie reichen von sach-
sam werdenden Blockade verdüstert zwungen. Das disziplinierte Schreiben lich anmutenden Aufgabenstellungen
sich ihre Stimmung zusehends. Im No- des Tagebuchs spendet einerseits Trost („Was hat Hitler für das Deutsche Volk
vember, als sie 17 wird, leidet sie massiv und verhindert andererseits die Selbst- geleistet?“) über normativ-ideologische
unter dem Hunger, nachdem die Brotra- aufgabe. So wie Anne Franks Tagebuch Aussagen („Das Heer als Schule der
tion auf 125 Gramm reduziert wurde. für den Völkermord des „Dritten Reichs“ Völkergemeinschaft“) bis hin zu platten
Was einzig noch zählt, sind Lebensmit- an den Juden steht, kann Lenas Tage- Sprichwörtern („Viel Feind’, viel Ehr’!“)
tel. Die Regale sind leer, die Menschen buch – so der Historiker und Slawist Ge- und gipfeln schließlich in offener Kriegs-
stehen stundenlang Schlange für ein ro Fedtke im Nachwort – für den Völker- propaganda („Wir müssen siegen und
paar wenige Krumen. Die Kälte ver- mord an den Leningradern stehen. wir werden siegen“).
schärft die Situation drastisch, es geht Wie prägend die 872 Tage andauern- Die 16 Aufsätze werden zunächst doku-
ab Dezember ums pure Überleben. Ge- de Blockade für Generationen davon mentiert. Die Gutachten bzw. Bewer-
gessen wird oft nur noch heiße Flüssig- Betroffener war und ist, zeigt das sehr tungen der Lehrer werden im Anschluss
keit mit einer winzigen Einlage; Tischler- persönlich gehaltene Vorwort der kursiv wiedergegeben. In einem zwei-
leim wird zu Ersatznahrung. Schriftstellerin Lena Gorelik, die bis- ten Schritt präsentiert Bernhard Sauer
Lena verliert drei der ihr nächsten Men- lang fünf vielfach preisgekrönte Bücher nach jedem einzelnen Aufsatz Zitate
schen, darunter die Mutter, und ist fort- veröffentlicht hat. Lena Gorelik, 1981 in aus Hitlers „Mein Kampf“ und andere
an auf sich allein gestellt. Die Situation Leningrad geboren, kam als Elfjährige NS-Propagandatexte bzw. Aussagen
wird immer dramatischer und bald gibt mit ihrer Familie nach Deutschland und von Zeitzeugen. Die quellenkritische

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BUCHBESPRECHUNGEN

Landeszentrale trauert um Heinz Lauber


Vor wenigen Wochen erreichte uns die unerwartete und gart“. In Anerkennung dieser Leistung wurde Heinz Lau-
traurige Nachricht vom Tod unseres langjährigen Kolle- ber im Jahr 2002 die Otto-Hirsch-Medaille verliehen.
gen Heinz Lauber. Mit 84 Jahren hat er uns verlassen. Die Medaille wird für herausragende Verdienste für die
christlich-jüdische Verständigung verliehen und erinnert
Heinz Lauber war von 1973 bis 1994 stellvertretender Lei- an den Stuttgarter Ministerialrat Otto Hirsch, der 1941
ter der Landeszentrale für politische Bildung Baden- im Konzentrationslager Mauthausen ermordet wurde.
Württemberg. 1994 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Auf dem Gebiet der Lehrerfortbildung war Heinz Lauber
Für Heinz Lauber war stets eine zentrale Frage, wie unse- intensiv mit den Themenfeldern Parlamentarismus und
re Demokratie gegen extremistische Bestrebungen gesi- Föderalismus befasst.
chert werden kann. Deshalb hat er sich u. a. intensiv mit
der pädagogischen Aufarbeitung der nationalsozialisti- Heinz Lauber war als Kollege geschätzt. Wir wollen in
schen Zeit beschäftigt. Er hat maßgeblich die Erinne- dadurch ehren, dass wir seinen Idealen, denen er ver-
rungsstätte „Die Männer von Brettheim“ mit aufgebaut pflichtet war, in unserer Arbeit nachgehen.
und gestaltet. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit war
das stete Bemühen um die christlich-jüdische und die
deutsch-israelische Verständigung. Er war Initiator des Lothar Frick Sonja Danner
Projekts „Spurensuche – Juden und Judentum in Stutt- Direktor Personalratsvorsitzende

Auswertung orientiert sich dabei durch- lang dieser Texte lässt sich die Hitler- wird. Bereits im Jahr 1934, d. h. ein Jahr
gehend am aktuellen Forschungsstand. Euphorie, der propagandistisch insze- nach der „Machtergreifung“, ist in ei-
Den stark polisierten Schüleraufsätzen nierte Hitler-Mythos und schließlich die nem Schüleraufsatz schon vom Sterben
werden so faktenreiche Kommentare „Führervergötterung“ verfolgen. die Rede. Zentrales Thema aller Aufsät-
gegenübergestellt, in denen die Ideolo- Die Auswahl der 16 Aufsätze ist gleich- ze ist der Krieg. Die „Erziehung zur Här-
gie des „Dritten Reiches“ schlüssig er- sam ein Längsschnitt, anhand dessen te“ und die „Erziehung zum Sterben“ of-
klärt wird. Die oft phrasenhaften Argu- die Entwicklung und letztlich die Radi- fenbaren sich als Teil der psychologi-
mentationsstränge der Schüler werden kalisierung des nationalsozialistischen schen und systematisch betriebenen
mit der Biografie Hitlers gespiegelt. Ent- Gedankenguts trefflich demonstriert Kriegsvorbereitung. Die 16 Abiturauf-


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Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.

Datum, Unterschrift

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BUCHBESPRECHUNGEN

sätze haben somit einen Erschließungs- schwerde als elftes Bundesland einge- landesrechtlichen subjektiven Rechte
charakter für die nationalsozialistische führt. Somit kann jede Bürgerin resp. je- des Bürgers auf. Dabei werden die ver-
Schulpolitik. der Bürger Landesgesetze, Verordnun- fahrensrechtlichen Voraussetzungen für
Bernhard Sauer belegt eindrucksvoll, in gen und Gerichtsentscheidungen dar- eine Verfassungsbeschwerde ausführ-
welchem Ausmaß in einem humanisti- aufhin überprüfen lassen, ob sie gegen lich dargestellt. Antragsmuster helfen
schen Gymnasium die NS-Ideologie die Landesverfassung verstoßen. Die bei der praktischen Umsetzung der
fraglos übernommen wurde. Schullei- Bürgerinnen und Bürger haben damit rechtlichen Vorgaben. Die maßgebli-
tung und Pädagogen des Gymnasiums die Möglichkeit, sich vor dem Staatsge- chen Gesetzestexte sind in einem An-
waren typische Vertreter jener bürger- richtshof gegen Verletzungen ihrer hang wiedergegeben. Ein ausführliches
lich-konservativen Schichten, die in Hit- Grundrechte durch die öffentliche Ge- Stichwortregister ermöglicht Leserinnen
ler einen Verbündeten im „Kampf gegen walt zu wehren. Auch der Staatsge- und Lesern, sich in diesem Kommentar
Versailles“ und im „Kampf gegen den richtshof Baden-Württemberg betritt mühelos zurechtzufinden.
Marxismus“ sahen, jedoch blind für die mit dem Recht der Landesverfassungs- Aktuelle Zahlen belegen die Notwen-
unerbittlichen und inhumanen Konse- beschwerde Neuland. Die 60-jährige digkeit und den Nutzen eines solchen
quenzen der NS-Politik waren. Rechtsprechung des Bundesverfas- Buches! Denn die Baden-Württember-
Siegfried Frech sungsgerichts zur Bundesverfassungs- ger tun sich noch schwer mit dem neuen
beschwerde muss von ihm zugrunde ge- Instrument der Landesverfassungsbe-
legt werden. Für das Landesverfas- schwerde. Seit der Einführung im April
Landesverfassungsbeschwerde sungsgericht besteht aber auch die 2013 sind zwar 89 Verfassungsbe-
Chance, den Besonderheiten der Lan- schwerden eingegangen, so eine Mel-
Holger Zuck, Rüdiger Zuck, unter desverfassung Rechnung zu tragen. dung der „Stuttgart Nachrichten“
Mitarbeit von Reiner Eisele Der Kommentar orientiert sich deshalb (5.11.2013), die allermeisten erfüllen je-
Die Landesverfassungsbeschwerde an zwei Aufgaben: die Rechtsprechung doch nicht die Zulassungskriterien. Sie
in Baden-Württemberg des Bundesverfassungsgerichts abruf- wurden zurückgewiesen, oder aber die
Kommentar – Antragsmuster – Gesetzestexte bar zu machen und dem Landesrecht Bürgerinnen bzw. Bürger verfolgen ihr
Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2013. das ihm zukommende Gewicht zu ver- Begehren nach einem entsprechenden
364 Seiten, 58,00 Euro. leihen. Die Kommentierung zum Recht Hinweis des Gerichts nicht weiter. Bis-
der Landesverfassungsbeschwerde in lang war keine Landesverfassungsbe-
Die Verfassungsbeschwerde ist der Baden-Württemberg hilft Beschwerde- schwerde erfolgreich. Von den 89 Be-
Schlussstein eines Rechtsschutzsystems. führern, leichter zu ihrem Recht zu kom- schwerden sind jedoch 14 noch in Bear-
Er ist jetzt auch für Baden-Württemberg men. Besonders nützlich sind dabei die beitung.
gesetzt worden. Baden-Württemberg „Grundrechts-Steckbriefe“. Sie schlüs- Siegfried Frech
hat das Instrument der Verfassungsbe- seln den Rechtsgehalt der bundes- und

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JAH R ES I N HALTSVE RZ E IC H N IS

Der Bürger im Staat, 63. Jahrgang, 2013

Heft 1/2: Brasilien


Hartmut Sangmeister Brasiliens Rolle in der Weltwirtschaft 4
Bernhard Leubolt „Entwicklungsstaat“ statt „Hühnerflug“? 13
Sérgio Costa Das politische System Brasiliens 23
Gilberto Calcagnotto Brasiliens soziale Herausforderungen 34
Martin Coy Umweltprobleme und Umweltpolitik in Brasilien 48
Claudia Zilla Brasilien und seine Nachbarn 57
Susanne Gratius Brasilien und die Europäische Union 66
Peter Rösler Strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Brasilien: Realität
oder Wunschtraum? 74
Daniel Flemes Militärmacht Brasilien 83
Rudolf von Sinner Religionen in Brasilien 91
Horst Nitschack Die widersprüchliche Faszination brasilianischer Kultur 99
Eva Karnofsky Brasilianische Literatur und Politik 107
Wolf Grabendorff Brasilien auf dem Weg zur Weltmacht? 117

Heft 3: Bundestagswahl 2013


Karl-Rudolf Korte Die Bundestagswahl 2009 – Wählen im Schatten der Krise 132
Frank Decker Aktuelle Entwicklungen der Parteienlandschaft 141
Christoph Bieber Die Piratenpartei als neuer Akteur 149
Norbert Kersting Wutbürger und andere soziale Bewegungen 155
Herfried Münkler Die jüngste Krise der parlamentarischen Demokratie 166
Axel Murswieck Vier Jahre Schwarz-Gelb: eine Bilanz 171
Andrea Römmele Konkurrenten um die Kanzlerschaft: Angela Merkel und Peer Steinbrück 182
Frank Brettschneider Wahlkampf: Funktionen, Instrumente und Wirkungen 190
Dieter Roth Zur Funktionsweise der Wahlforschung 199
Hans Meyer Das Bundestagswahlrecht 2013 208
Uwe Andersen Bundestagswahlen: 1949 bis 2009 218

Heft 4: Antisemitismus heute


Armin Pfahl-Traughber Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden als Juden 252
Kurt Möller Antisemitismus bei Jugendlichen in Deutschland. Formen, Ausmaße, spezifische
Ausprägungen und Begünstigungsfaktoren 262
Albert Scherr Ausgangsbedingungen und Perspektiven der Bildungsarbeit gegen
Antisemitismus 270
Peter Steinbach Geschichtsunterricht im Spannungsfeld geschichtspolitischer Debatten –
Wissensvermittlung, Handlungsorientierung und kritische Selbstbefragung 278
Tami Ensinger Praktische Ansatzpunkte einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit 288
Patrick Siegele Chancen und Grenzen historisch-politischer Bildungsarbeit in der
Auseinandersetzung mit Antisemitismus 296
Jochen Müller Zwischen Berlin und Beirut – Antisemitismus bei Jugendlichen arabischer, türkischer
und/oder muslimischer Herkunft 303
Gabriele Rohmann Die ganze Wahrheit, anders! – Das Projekt New Faces 311
Lena Gorelik Gegen alle üblichen Klischees … 316

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JAH R ES I N HALTSVE RZ E IC H N IS

Rezensionen
Siegfried Schiele Demokratie in Gefahr? 125
Günther Rüther Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis? 126
Karl Heinz Metz Geschichte der Gewalt. Krieg – Revolution – Terror 127
Uwe Wagschal u. a. Der historische Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg 244
Karin Wieland Dietrich & Riefenstahl. Der Traum von der neuen Frau 245
Martin Curi Brasilien, Land des Fußballs 246
Ernst Wolfgang Becker u. a. Theodor Heuss. Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954 246
Hubert Wolf Die Nonnen von Sant’ Ambrogio. Eine wahre Geschichte 248
Lena Muchina Lenas Tagebuch 320
Bernhard Sauer „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stich lassen.“
Abituraufsätze im Dritten Reich 321
Holger Zuck u. a. Die Landesverfassungsbeschwerde in Baden-Württemberg 321

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LANDESZENTR ALE FÜR POLITISCHE
BILDUNG BADEN-WÜRT TEMBERG
Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
lpb@lpb-bw.de, www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Außenstellen


Büro des Direktors: Regionale Arbeit
Sabina Wilhelm -62 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40 Veranstaltungen für den Schulbereich

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Außenstelle Freiburg


Leiter: Werner Fichter -63 Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Felix Steinbrenner -64 Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner -77
Abteilung Zentraler Service Thomas Waldvogel -33
Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Außenstelle Heidelberg
Personal: Sabrina Gogel -13 Plöck 22, 69117 Heidelberg
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137 Leiter: Wolfgang Berger -14
Robby Geyer -13
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit*: Sibylle Thelen -30 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler/
Landeskunde und Landespolitik*: Dr. Iris Häuser -20 Veranstaltungen für den Schulbereich
Jugend und Politik*: Angelika Barth -22 Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika Greiner -25 Thomas Franke -83
N. N. -26
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/ -32 Projekt Extremismusprävention
Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel -35 Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Alexander Werwein-Bagemühl -36 Leiterin: Regina Bossert -81
Stefan Paller, Charlotte Becher -37/ -34 Assistentin: Friederike Hartl -82

Abteilung Medien und Methoden


Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 * Paulinenstraße 44-46, 70178 Stuttgart
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes- Fax: 0711/164099-55
kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech -44
Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47
Politische Bildung Online/E-Learning: Susanne Meir -46
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb Tel.: 07125/125-136
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe/N. N. -49 LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0


Abteilung Haus auf der Alb
Montag bis Freitag
Tagungszentrum Haus auf der Alb,
8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Telefon 07125/152-0, Fax -100 Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-0
www.hausaufderalb.de Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-0


Dr. Markus Hug -146 Dienstag 9.00–15.00 Uhr
Schule und Bildung/Integration und Migration: Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr
Robert Feil -139
Internationale Politik und Friedenssicherung/ Stuttgart Stafflenbergstraße 38,
Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Telefon 0711/164099-66
Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr
Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121
Hausmanagement: Nina Deiß -109 Newsletter „einblick“
anfordern unter www.lpb-bw.de

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