Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
4–2013
Antisemitismus heute
REDAKTION
Patrick Siegele 296
Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Chancen und Grenzen historisch-politischer Bildungsarbeit
in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus 296
REDAKTIONSASSISTENZ
Barbara Bollinger, barbara.bollinger@lpb.bwl.de Jochen Müller 303
Zwischen Berlin und Beirut – Antisemitismus bei Jugendlichen
ANSCHRIFT DER REDAKTION
Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart arabischer, türkischer und/oder muslimischer Herkunft 303
Telefon 0711/164099-44, Fax 0711/164099-77
Gabriele Rohmann 311
HERSTELLUNG Die ganze Wahrheit, anders! – Das Projekt New Faces 311
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfi ldern-Ruit Lena Gorelik 316
Telefon 0711/4406-0, Fax 0711/442349 Gegen alle üblichen Klischees … 316
GESTALTUNG TITEL
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
Buchbesprechungen 320
GESTALTUNG INNENTEIL
Ingrid Gerlach, Schwabenverlag Media
der Schwabenverlag AG
VERTRIEB
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm
Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
Telefon 0731/9457-0, Fax 0731/9457224
www.suedvg.de
250
251
dient er mitunter zur Diskreditierung der rauf sich der Blick in der folgenden Erör-
Aktuelle Forschungen belegen ein ho- Kritik an der israelischen Politik im Na- terung ausführlicher richten wird. Bilan-
hes Ausmaß judenfeindlicher Ressen- hen Osten. Gleichzeitig nutzen Antise- zierend könnte man bezogen auf den
timents in der bundesdeutschen Be- miten dieses Themenfeld, wenn sie ihre Sammelbegriff auch sagen: Antisemitis-
völkerung. Trotz einer beständigen Judenfeindschaft im Gewand der Soli- mus ist Feindschaft gegen Juden als Ju-
Auseinandersetzung mit der national- darität mit den Palästinensern artikulie- den, also aufgrund der angeblichen
sozialistischen Vergangenheit und einer ren. oder tatsächlichen Zugehörigkeit der
weitgehenden Tabuisierung sind antise- Daher bedarf es einer klaren und trenn- gemeinten Menschen (vgl. Klug 2004:
mitische Einstellungen in der Mitte der scharfen Definition von „Antisemitis- 224).
Gesellschaft präsent. Außerdem lassen mus“, um die jeweiligen Auffassungen Doch handelt es sich hier um eine dafür
sich bei der negativen Kommentierung und Handlungen analytisch erfassen zu inhaltlich angemessene Bezeichnung?
von Israels Politik im Nahen Osten ge- können. Die vorliegende Abhandlung Eigentlich meint die Formulierung „Se-
legentlich antisemitische Ressentiments will dazu einen Beitrag leisten: Zu- miten“ eine Sprachfamilie (Akkadisch,
ausmachen. Will man antisemitische nächst geht es um eine Definition von Arabisch, Aramäisch, Kanaanäisch,
Auffassungen und Handlungen analy- „Antisemitismus“ als Sammelbezeich- Südarabisch-Abessinisch etc.). Insofern
tisch erfassen und ihnen angemessen nung für eine Feindschaft gegen Juden war und ist der Begriff für das konkret
begegnen, so bedarf es einer klaren als Juden und um die Erscheinungsfor- Gemeinte, die Feindschaft gegenüber
und trennscharfen Definition. Antisemi- men in Einstellungen und Praktiken in Juden, inhaltlich falsch oder zumindest
tismus ist – so Armin Pfahl-Traughber – der Gesellschaft. Dem folgen zunächst ungenau. „Antisemitismus“ kam Ende
eine Sammelbezeichnung für die Feind- allgemeine Aussagen zu den Ideologie- der 1870er Jahre als Selbstbezeich-
schaft gegen Juden als Juden. Diese formen des Antisemitismus in idealtypi- nung von einschlägig eingestellten
zunächst allgemein gehaltene Definiti- scher Sicht, wonach der religiöse, sozi- Gruppen und Publizisten auf, welche
on birgt verschiedene Spielarten des ale, politische, kulturelle, nationalisti- damit ihren Ressentiments gegenüber
Antisemitismus in sich, die jeweils abs- sche, rassistische, sekundäre sowie der den Juden aus propagandistischen
trakt und exemplarisch erläutert wer- antizionistische Antisemitismus jeweils Gründen einen wissenschaftlichen
den. Die präsentierte Typologie ist ein abstrakt definiert und exemplarisch er- Charakter geben wollten (vgl. Nipper-
idealtypisches Modell. In der gesell- läutert werden. Abschließend finden dey/Rürup 1975). Insofern sprechen ei-
schaftlichen Realität lassen sich nur we- sich Ausführungen zu der Überflüssig- gentlich gute Gründe für den Verzicht
nige judenfeindliche Diskurse ausma- keit der Rede vom „Neuen Antisemitis- auf den Begriff „Antisemitismus“.
chen, welche nur einer der definierten mus“, zur Notwendigkeit einer Ausdiffe-
Formen von Antisemitismus zugeordnet renzierung der Ideologieformen, zum
werden können. I Verhältnis der Ideologieformen zuein-
ander und zu den Funktionen des Anti-
semitismus.
252
Ideologieform I:
Religiöser Antisemitismus
253
254
255
Ideologieform V:
Nationalistischer Antisemitismus
256
257
258
259
Zusammenfassung
260
LITERATUR
Arndt, Ernst Moritz (1814): Blick aus der Zeit auf
die Zeit. Frankfurt am Main.
Barron, Stephanie (Hrsg.) (1992): „Entartete
Kunst“: Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-
Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber ist
Deutschland. München. hauptamtlich Lehrender an der Fach-
Benz, Wolfgang (2001): Das Bild vom mächti- hochschule des Bundes für öffentliche
gen und reichen Juden. In: Benz, Wolfgang: Verwaltung in Brühl, Dozent an der
Bilder von Juden. Studien zum alltäglichen Anti- Schule für Verfassungsschutz in Hei-
semitismus. München, S. 13–26.
Benz, Wolfgang (2004): Feindschaft gegen Ju- mersheim und Lehrbeauftragter an der
den. Annäherung an ein schwieriges Thema. In: Universität Bonn. Armin Pfahl-Traugh-
Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus? Mün- ber hat als Mitglied einer zehnköpfigen
chen, S. 9–26. Expertenkommission an dem Bericht
Bergmann, Wolfgang (2006): „Nicht immer als
Tätervolk dastehen“. Zum Phänomen des
„Antisemitismus in Deutschland – Er-
Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. scheinungsformen, Bedingungen, Prä-
In: Ansorge, Dirk (Hrsg.): Antisemitismus in Euro- ventionsansätze“ mitgewirkt, der im
pa und in der arabischen Welt. Paderborn, Auftrag des Deutschen Bundestags
Frankfurt am Main, S. 81–106. entstand und 2012 veröffentlicht wur-
de.
261
262
263
Abkürzungen: Deut. = Deutsch; ehem. SU = ehemalige Sowjetunion; Pol. = Polen; Türk. = Türken; Arab. = Araber;
Kurd. = Kurden; Südeurop. = Südeuropäer; musl. Migr. = muslimische Migranten; sonst. Migr. = sonstige Migranten.
Quelle: Mansel/Spaiser 2010, Tabellenanhang, S. 6 u. 7.
264
265
266
267
Ein älterer orthodoxer Jude geht entlang einer Mauer. Das andere Aussehen dient bei Jugendlichen (und auch bei Erwachsenen)
der phänotypischen Distinktion und erlaubt letztlich eine Einteilung in „Wir“ und „die Anderen“.
picture alliance/dpa
268
l Antisemitismus ist eine Variante grup- sche Mentalitäten. Bericht über Ergebnisse des
Forschungsprojektes Gruppenbezogene Men-
pierungsbezogener Ablehnung, die
schenfeindlichkeit in Deutschland und Europa.
nach wie vor in Deutschland und in- Expertise für den Expertenkreis Antisemitismus,
ternational ein bedeutendes gesell- Bielefeld (Universität Bielefeld); URL: http://
schaftliches Problem bildet – auch www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/
unter Jugendlichen. DE/Themen/Politik_Gesellschaft/EXperten-
kreis_ Antisemitismus/kuepper.pdf?_ _
l Antisemitismus hat in verschiedenen blob=publicationFile [16.6.2012].
gesellschaftlichen Gruppierungen
unterschiedliche Formen und unter-
schiedliche Ausmaße der Verbrei-
tung. ANMERKUNGEN
l Inhaltliche Ausprägungen, subjekti- Prof. Dr. Kurt Möller ist Professor für So- 1 Dieser Beitrag wurde erstmalig in der Zeit-
ve Begründungen und Anfälligkeits- ziale Arbeit an der Hochschule schrift „deutsche jugend“ (Heft 12/2012, S. 519–
konstellationen differieren zwischen Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Ge- 526) veröffentlicht.
Individuen und gesellschaftlichen sundheit und Pflege und Privatdozent 2 In der Fachliteratur sind zum Teil auch ande-
re plausible Zuordnungen in Gebrauch. Die hier
Gruppierungen. an der Universität Bielefeld, Fakultät für benutzten Differenzierungen haben ihnen ge-
l Antisemitismus ist verstehbar als eine Pädagogik. Er ist Mitherausgeber der genüber den entscheidenden Vorteil, aktuell
Form der Verarbeitung von individu- Reihe „Konflikt- und Gewaltforschung“ empirisch vermessen worden zu sein (vgl. dazu
eller und fraternaler, also Personen im Juventa-Verlag. Seine Arbeits- und den Abschnitt „Antisemitismus – Verbreitung,
Ausmaße und Ausprägungen in unterschiedli-
aus der wie auch immer definierten Forschungsschwerpunkte sind Jugend-
chen gesellschaftlichen Gruppierungen“). Eine
Eigengruppe treffender Ablehnung, forschung und Jugendarbeit, Soziale weitere Zuordnung findet sich in dem Beitrag
Abwertung und Diskriminierung. Arbeit und (Rechts-)Extremismus, Ge- von Armin Pfahl-Traughber in diesem Heft.
l Er wird begünstigt durch mediale und walt sowie Menschenfeindlichkeit.
narrative Angebote antijüdischer an-
269
270
271
272
273
274
275
Das anlässlich
einer Ausstellung
im Haus der
Geschichte in
Stuttgart gezeigte
Plakat zum NS-
Propagandafilm
„Jud Süß“: Wenn
antisemitische
Vorurteile – und
dies unter Ver-
wendung originä-
rer Texte und Bil-
der der NS-Pro-
paganda – dar-
gestellt werden,
um sie zu dekonst-
ruieren, ist nicht
auszuschließen,
dass die Proble-
matik des je kon-
kreten Vorurteils
nicht zureichend
verständlich wird.
picture alliance/dpa
gute Gründe für Feindseligkeit gegen- Sichtweisen ist und was an ihre Stelle kann jedoch nicht dadurch erreicht wer-
über Juden bzw. Israel gibt, ist es sinn- treten kann. den, dass problematische Äußerungen
voll, diese subjektiven Überzeugungen Bildungsprozesse sind prinzipiell er- und Überzeugungen von vornherein mit
im Rahmen von Bildungsprozessen nicht gebnisoffen. Ein Verständnis politischer dem Hinweis auf Recht und Moral von
von vornherein zu indiskutablen Vorur- Bildung als offener und dialogischer weiterer Bearbeitung ausgeschlossen
teilen zu erklären, sondern in eine Aus- Prozess kann im Fall von Antisemitismus werden und dass diejenigen diskredi-
einandersetzung mit ihnen einzutreten, jedoch nicht dazu führen, dass auf eine tiert werden, die sie äußern. Denn dies
die zunächst die Möglichkeit gibt, sol- Markierung der Grenzen des legitim verschließt jede Möglichkeit eines wei-
che Sichtweisen und ihre Begründun- Sagbaren verzichtet wird. Und die Er- teren Dialogs mit denjenigen, deren
gen zur Sprache zu bringen. Denn die wartung, dass Bildungsprozesse zu ei- Überzeugungen verändert werden sol-
Möglichkeit, eigene Annahmen und Be- ner Distanzierung und Kritik von Antise- len, wäre also kontraproduktiv. Gleich-
wertungen zu formulieren, ist eine Vor- mitismus führen sollen, ist für Bildungs- wohl bleibt Bildungsarbeit gegen Anti-
aussetzung für daran anschließende arbeit gegen Antisemitismus konstitutiv; semitismus riskant. Sie ist deshalb dar-
Prozesse, in denen erarbeitet werden sie schließt insofern einen normativ de- auf verwiesen, zu beobachten und zu
kann, was die Problematik jeweiliger finierten Erziehungsauftrag ein. Dieser analysieren, bei wem sie unter welchen
276
UNSER AUTOR
4 Wenn hier und im Folgenden von „Wissen“
die Rede ist, dann wird damit nicht zwischen
LITERATUR richtigen und falschen Annahmen unterschie-
den, sondern das bezeichnet, was jeweilige
Frindte, Wolfgang (2006): Inszenierter Antise-
Sprecherinnen bzw. Sprecher als zutreffend be-
mitismus. Wiesbaden.
trachten.
Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Meier, Marcus
5 Eine Folge davon ist auch, wie in unserem
(Hrsg.): Antisemitismus in der Einwanderungsge-
Forschungsprojekt deutlich wurde, dass Lehre-
sellschaft. Weinheim und Basel.
rinnen und Lehrer sowie Sozialpädagoginnen
Holzkamp, Klaus (1994): Antirassistische Erzie-
und Sozialpädagogen oft nicht wissen, wie ihre
hung als Änderung rassistischer „Einstellun-
Jugendlichen außerhalb pädagogischer Kon-
gen“? – Funktionskritik und subjektwissenschaft-
texte denken und reden und entsprechend von
liche Alternative. In: Jäger, Siegfried (Hrsg.):
unseren Einschätzungen „ihrer“ Jugendlichen
Anti-rassistische Praxen. Duisburg, S. 8–29.
Prof. Dr. Albert Scherr leitet das Institut überrascht waren.
Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für
6 Zum Beispiel in Form der Aussage, dass die-
die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden. für Soziologie an der Pädagogischen ses Thema ja nun doch schon allzu oft Gegen-
Klug, Brian (2003): Die Sicht auf Israel als ‘Jude Hochschule Freiburg. Er studierte So- stand gewesen sei, als dezidiertes Beharren auf
der Welt’. In: Bunzl, John/Senfft, Alexandra
(Hrsg.): Zwischen Antisemitismus und Islamo-
ziologie an der Universität Frankfurt der eigenen Position, als offenkundige Provoka-
und promovierte dort im Jahr 1985. tion oder als trotziges Schweigen.
phobie. Hamburg, S. 75–87.
7 Auf den schwierigen Sonderfall der Bil-
Kohlstruck, Michael (2011): Bildung „gegen Von 1981 bis 1983 und von 1985 bis dungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachse-
rechts“. In: Hafeneger, Benno (Hrsg.): Handbuch 1988 war Albert Scherr als Sozialar- nen, bei denen eine geschlossene antisemiti-
Außerschulische Jugendbildung. Schwalbach/ beiter tätig. Anschließend war er wis- sche Ideologie in Verbindung mit neonazisti-
Ts., S. 307–324.
senschaftlicher Mitarbeiter an der Uni- schen oder islamistischen Überzeugungen ge-
Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke,
versität Bielefeld und von 1990 bis geben ist, kann hier nicht eingegangen werden.
Frank-Olaf (2004): Nationalsozialismus: An-
Hier scheitern klassische Konzepte der Bil-
spruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. 2001 Professor für Soziologie und Ju- dungsarbeit, erforderlich ist eine Verbindung
Frankfurt am Main. gendarbeit an der Fachhochschule mit sozial- und gruppenpädagogischen Ar-
Schäuble, Barbara (2012): „Anders als Wir“. Dif-
ferenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus
Darmstadt. 1998 habilitierte er sich an beitsweisen.
der Universität Karlsruhe im Fach Sozio- 8 Hingewiesen ist damit auf ein Defizit der
unter Jugendlichen. Berlin.
gängigen Einstellungs- und Vorurteilsforschung:
Scherr, Albert (2003a): Subjektbildung in Aner- logie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten Dort werden Variablen erhoben, die auf antise-
kennungsverhältnissen. In: Hafeneger, Benno/ gehören die Soziologische Theorie, mitische Einstellungen hinweisen; den Befragten
Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Päda-
Theorien der Sozialen Arbeit, Migrati- wird aber keine Möglichkeit gegeben, sich di-
gogik der Anerkennung. Schwalbach/Ts.,
on, Diskriminierung, Rassismus, Rechts- rekt zu der Frage zu äußern, ob sie sich als Anti-
S. 26–44.
extremismus, qualitativ-empirische Bil- semiten verstehen oder nicht und warum dies
Scherr, Albert (2003b): Subjektbildung als Dis-
der Fall ist.
tanzierung. Elemente einer kritischen Bildungs- dungsforschung und Bildungstheorie
theorie in Zeiten der funktionalen Aktivierung sowie Jugendforschung.
des Subjekts. In: Höffer-Mehler, Markus (Hrsg.):
277
Geschichtsunterricht im Spannungsfeld
geschichtspolitischer Debatten –
Wissensvermittlung, Handlungsorientierung
und kritische Selbstbefragung
Peter Steinbach
Geschichtsunterrichts lassen sich auch sondern bestenfalls ein Lächeln und un-
Die Bedeutung des Unterrichtsfaches nicht, wie im Kaiserreich oder in der er- gläubiges Staunen hervorrufen. Heute
Geschichte ist geschrumpft. Gleichwohl sten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch haben hingegen pragmatische Recht-
ist in der Öffentlichkeit ein breites histo- die nationalpädagogische Identifikati- fertigungsversuche von Fächern und
risches Interesse festzustellen. Histori- on mit der Vergangenheit lösen. Natio- Unterrichtsthemen Konjunktur. „Non
sche Romane, Ausstellungen, Museen, nalbewusstsein durch Geschichtsunter- scholae, sed vitae discimus“ („Nicht für
Spielfilme und Dokumentationen trans- richt schaffen oder festigen zu wollen, die Schule, sondern für das Leben ler-
portieren und produzieren unablässig dies wurde zuletzt in den 1960er Jahren nen wir“) eignet sich allerdings nicht als
Geschichtsbilder, die sich von Genera- gefordert. Diese Absicht würde heute Wahlspruch, um Themen und Unter-
tion zu Generation unterscheiden. Die- nicht einmal mehr lautstarken Protest, richtsfächer pragmatisch, etwa als be-
se Vorstellungen und Deutungen der
Vergangenheit beeinflussen unser Ge-
genwartsverständnis und ermöglichen
die Selbstverortung im Geschichtspro-
zess. Am Beispiel der Finkelstein-De-
batte, die latente antisemitische Stim-
mungen bediente und revisionistische
Ansichten salonfähig machte, zeigt Pe-
ter Steinbach, dass der Geschichts-
unterricht den Umgang mit der Ver-
gangenheit bzw. die Genese von
Geschichtsbildern und deren manipu-
lierende Wirkung thematisieren und
bewusst machen muss. Darüber hinaus
sind im Geschichtsunterricht lebens-
weltliche Zugänge gefragt. Denn die
alltags- und regionalgeschichtliche
Sicht bietet neben der Vermittlung zeit-
geschichtlichen Wissens Gelegenheiten Historische Dra-
zur kritischen Selbstbefragung. Eine men setzen sich
solche Perspektive ermöglicht einen mit Grundsatzfra-
Brückenschlag zwischen der „großen gen auseinander.
Geschichte“ und den lebensweltlichen Das Bild zeigt eine
Erfahrungen unterschiedlicher Genera- Szene aus dem
tionen. Diese selbstreflexive Dimension Stück „Die Ermitt-
eröffnet die Möglichkeit, eigene Einstel- lung“ von Peter
lungen und eigenes Verhalten zu reflek- Weiss in der
tieren. Mithin geht es um die selbstkriti- Volksbühne Berlin
sche Frage nach den eigenen Werten, während der Pre-
Handlungsoptionen, Vorurteilen sowie miere (8.3.1980).
Alltagspraktiken. I In der „Ermittlung“
werden wörtliche
Zitate aus dem
ersten Auschwitz-
„Ist nicht die Zukunft das Kind Prozess aufgegrif-
der Gegenwart?“ fen und drama-
tisch verdichtet. In
„Ohne Vergangenheit keine Zukunft“ – wechselnden Rol-
diese fast regelmäßig zu hörende Fest- len werden
stellung aus gedenkpolitischen Sonn- Anklage, Richter
tagsreden kann den Geschichtsunter- und Zeugen
richt schon seit Langem nicht mehr legi- gespielt.
timieren. Probleme des zeitgemäßen picture alliance/dpa
278
279
280
281
282
283
284
Gedenkinschrift an einer Hausfassade in Leipzig: Die Realität des Völkermords war geprägt durch alltägliche Entrechtungen, durch
die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben, durch das Novemberpogrom 1938, durch Gettoisierungen, Deportationen und durch
industriell betriebenen Völkermord picture alliance/dpa
285
286
UNSER AUTOR
Kein politisches Interesse, das sich nicht
mit dem Antisemitismus verbinden ließ.
ANMERKUNGEN
So schien es, als sei der Völkermord an
den Juden eine „putative Abwehrmaß- 1 Norman Finkelstein (2011): Die Holocaustin-
nahme“ und in allen seinen Erscheinun- dustrie: Wie das Leiden der Juden ausgebeutet
wird. München. Das Buch war ein Jahr zuvor in
gen und Konsequenzen im Kern bereits englischer Sprache publiziert worden. Zur De-
im Judenhass, im modernen Antisemitis- batte selbst vgl. Petra Steinberger (Hrsg.) (2001):
mus und in der Machtergreifung ange- Die Finkelstein-Debatte. München und Zürich
legt gewesen. Dies war die eigentliche 2001.
2 Uwe Johnson (1970): Jahrestage: Aus dem
Herausforderung des Historikerstreits.
Leben von Gesine Cresspahl 1. Frankfurt am
Die pädagogische Konsequenz dieser Main, hier zit. nach der Ausgabe der edition
sich zur „Katastrophe von Auschwitz“ Prof. Dr. Peter Steinbach war bis zum suhrkamp NF 500, Frankfurt am Main. 1988,
steigernden Überzeugung war der Sommer 2013 Professor für Neuere und S. 144.
rasch hilflos wirkende Appell „Wehret Neueste Geschichte an der Universität 3 Fjodor Dostojewski (1956): Die Dämonen.
20. Aufl. 1996, S. 127.
den Anfängen!“ oder das Versprechen Mannheim und Leiter der dort angesie- 4 Friedrich Nietzsche (1986): Jenseits von Gut
„Nie wieder!“ Schwüre wurden abge- delten Forschungsstelle „Widerstand und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwi-
geben, Gedenkfeiern wurden veran- gegen den Nationalsozialismus im schenspiele, S. 156.
staltet, Denkmäler errichtet. Dies alles deutschen Südwesten“. Weiterhin ist er 5 Daniel Goldhagen (1996): Hitlers willige
wissenschaftlicher Leiter der Gedenk- Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und
reagierte nicht auf Erwartungen der
der Holocaust. Berlin.
überlebenden Verfolgten und Entrech- stätte Deutscher Widerstand in Berlin.
teten, sondern entsprach der deklama-
IMPRESSUM
Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.
Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick
Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77
Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),
Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 23 49
Vertrieb: Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm,
Telefon (07 31) 94 57–0, Telefax (07 31) 94 57–224, E-Mail: www.suedvg.de
Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung.
Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte
übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
287
288
289
290
291
292
293
Angemessener Umgang
mit Desinteresse
294
Die Wahrneh-
mung von antise- ANMERKUNGEN
mitischen Haltun-
gen und Handlun- 1 Die Bildungsstätte Anne Frank (BAF) setzt
sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus
gen sollte und mit aktuellen Themen der politischen Bil-
untrennbar mit dung auseinander. Dabei steht das Engage-
einer rassismuskri- ment für Menschenrechte und Demokratie im
tischen Perspek- Mittelpunkt der Arbeit. Zu den Angeboten der
BAF gehören Projekttage für Jugendliche und
tive einhergehen. Fortbildungen für Lehrerinnen, Lehrer, Multipli-
picture alliance/dpa katorinnen und Multiplikatoren zu den Themen
Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus
und anderen Formen von Diskriminierung, zu
Berlin. URL: http://amira-berlin.de/Material/ cherten Jahrzehnt. In: Ders. (Hrsg.): Deutsche Menschenrechten und Demokratie, Zivilcoura-
Dokumentation/54.html. Zustände. Folge 10. Berlin, S. 15–41. ge, Migration und zu Mediation/Konfliktma-
Bildungsstätte Anne Frank (2013): Weltbild An- Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migra- nagement.
tisemitismus – didaktische und methodische tionspädagogik. Weinheim, Basel. 2 Die Erfahrungen der BAF wurden in der im
Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in April 2013 veröffentlichten Broschüre „Weltbild
der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main. Antisemitismus – didaktische und methodische
URL: http://www.jbs-anne-frank.de/fileadmin/ Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in
user_upload/Slider/Publikationen/Broschue- der Migrationsgesellschaft“ gebündelt. Der vor-
UNSERE AUTORIN
295
296
Chauvinismus (,4)
297
298
299
300
VORGESTELLTE PÄDAGO-
GISCHE MATERIALIEN
301
UNSER AUTOR
leadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Hand- Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsfor-
lungsfelder/Handeln_fuer_Menschenrechte/ men, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht
Menschen_Rechte_Bilden/text_a.mihr.pdf des unabhängigen Expertenkreises Antisemitis-
[1.2.2013]. mus. Berlin, S. 180ff.
Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2007): „Ich 7 Vgl. BMI (2011), S. 180.
habe nichts gegen Juden, aber …“ Ausgangs- 8 Vgl. BMI (2011), S. 181.
bedingungen und Perspektiven gesellschafts- 9 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
politischer Bildungsarbeit gegen Antisemitis- Sport (2006): Rahmenlehrplan für die gymnasi-
mus. Amadeu Antonio Stiftung. Berlin. ale Oberstufe Geschichte. URL: http://www.
Siegele, Patrick/Steinkühler, Judith (2011): „An- berlin.de/imperia/md/content/sen-bildung/un-
tisemitismus im Klassenzimmer?!“ – Erfahrungen terricht/lehrplaene/sek2_geschichte.pdf
aus bundesweiten Fortbildungen für Pädago- [14.7.2013].
ginnen und Pädagogen. In: Zentrum für Antise- 10 Ministerium für Schule, Wissenschaft und
mitismusforschung (Hrsg.): Jahrbuch für Antise- Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
mitismusforschung. Berlin, S. 113–124. Patrick Siegele ist seit 2011 stellvertre- (2001): Rahmenvorgabe Politische Bildung. Fre-
Siegele, Patrick (2010): „Anne Frank. hier & heu- tender Direktor des Anne Frank Zent- chen, S. 17–18.
te“ – Historisch-politische Bildungsarbeit für die rums in Berlin. Von 2001 bis 2004 war 11 Mihr, Anja: Drei Fragen und Antworten zum
Einwanderungsgesellschaft. In: Hilmar, Till Thema Aufarbeitung von Unrechtserfahrung
(Hrsg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten er als Bildungsreferent für interkulturelle und Menschenrechtsbildung. Veröffentlicht auf
historisch-politischer Bildungsarbeit zum Natio- und historisch-politische Bildungsar- der Seite der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
nalsozialismus. Wien, S. 376–379. beit am Anne Frank Zentrum tätig. Seit tung, Zukunft“ – Programmbereich „Menschen-
2004 leitet er das Ausstellungszentrum RechteBilden“. URL: http://www.stiftung-evz.
de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/
in Berlin. Patrick Siegele ist für die Kon- Handlungsfelder/Handeln_fuer_Menschen-
zeption und Koordination der museums- rechte/Menschen_Rechte_Bilden/text_a.mihr.
ANMERKUNGEN
pädagogischen Angebote verantwort- pdf, S. 4 [1.2.2013].
1 Das Anne Frank Zentrum zeigt in seinen Räu- lich. Darüber hinaus leitete er mehrere, 12 Vgl. Kaiser, Wolf (2008), S. 15.
men in Berlin die ständige Ausstellung „Anne teils internationale Projekte zur Entwick- 13 Siehe Leo Baeck Institut (2011): Deutsch-jü-
Frank. hier & heute“. Zur Ausstellung wird eine dische Geschichte im Unterricht. Berlin, S. V–VII.
Vielzahl pädagogischer Programme angebo- lung von pädagogischen Materialien.
ten.
• Das Heft bietet Texteinheiten und Arbeitsblätter mit Dokumenten, Quellen und
Aufgaben, darunter Anregungen zum selbstständigen Erkunden der Geschichte,
zur Vorbereitung von Präsentationen oder eines Werkstattbuchs.
302
dann müssen wir dem Kind einen Na- Muslime (deren Einstellungen hier von
In dem Beitrag1 von Jochen Müller ste- men geben. Daher wird häufig von islamistischen und traditionalistischen
hen Erscheinungsformen und Motive „muslimischem“ oder „islamischem“ An- Positionen unterschieden werden sol-
von Antisemitismus und antisemitischen tisemitismus gesprochen. Auf diese len) eine tolerante Haltung insbesonde-
Positionen im Mittelpunkt, die unter Ju- Weise wird aber Antisemitismus unter re gegenüber den anderen monotheis-
gendlichen und jungen Erwachsenen Migranten aus arabischen, türkischen tischen Religionen ab. Vor diesem Hin-
arabischer, türkischer und/oder musli- und muslimischen Gesellschaften pri- tergrund besteht also die Gefahr, dass
mischer Herkunft anzutreffen sind. Ein- mär mit der Religion in Verbindung ge- wir uns den Blick eher verstellen, wenn
gangs werden einige Aspekte skizziert, bracht, der die Mehrzahl dieser Men- wir über „muslimischen“ Antisemitismus
die in aktuellen Diskussionen über den schen angehört – und auf diese Weise sprechen und die Religion dabei als
Antisemitismus zuletzt eine Rolle ge- eine Wirklichkeit konstituiert, die in die- Motiv in den Vordergrund rücken, ob-
spielt haben. Diese Aspekte bieten ser Form nicht existiert: Denn ohne Zwei- wohl Wurzeln und Ursachen antisemiti-
den Hintergrund für die Auseinander- fel gibt es (modernen und traditionel- scher Positionen von Menschen arabi-
setzung mit der Frage, welche Funkti- len) Antisemitismus unter Muslimen – ein scher, türkischer und muslimischer Her-
on antisemitische Behauptungen und explizit „muslimischer“ Antisemitismus, kunft selten im Islam liegen. 6
Ressen timents für deutsche (bzw. in d. h. ein primär religiös begründeter An- Die Ideologie des Islamismus und seine
Deutschland lebende) Jugendliche und tisemitismus, ist jedoch höchst selten. 4 Vertreter zählen hingegen ohne Zweifel
junge Erwachsene mit (muslimischem) So begründen zwar Muslime mitunter weltweit und im Nahen Osten zu den
Migrationshintergrund haben können – antisemitische Positionen mit spezifi- Hauptträgern von militantem Antisemi-
und für einige Optionen, wie ihnen pä- schen Passagen in den religiösen Quel- tismus. So finden sich in den Ideologien
dagogisch begegnet werden kann. 2 len Koran und Sunna. 5 Aus dem Islam der meisten islamistischen Gruppierun-
Dabei spielt der Nahostkonflikt bzw. leiten jedoch gerade explizit religiöse gen weltweit antisemitische Elemente
dessen Rezeption oftmals eine zentrale
Rolle – ihm kommt daher im folgenden
Beitrag eine besondere Gewichtung
zu. I
303
304
305
306
307
308
309
pädagogische Praxis. Wiesbaden. ideologien. (2009):): „Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus
Zentrum für Antisemitismusforschung/American 10 Vgl. Rabinovic, Doron/Speck, Ulrich/Sznai- in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel
Jewish Committee/Landesinstitut für Schule und der, Natan (2004): Neuer Antisemitismus? Eine muslimisch sozialisierter Milieus. Reader und
Medien Berlin-Brandenburg (Hrsg.) (2008): Ge- globale Debatte. Frankfurt am Main. Praxisbeispiele zur pädagogischen Arbeit. Ber-
gen Antisemitismus. CD-ROM mit Material und 11 Vgl. Arnold, Sina/Jikeli, Günther (2008). Ju- lin.
Modulen. Berlin. denhass und Gruppendruck – Zwölf Gespräche 19 Vgl. zur Mediennutzung von Jugendlichen
mit jungen Berlinern palästinensischen und li- muslimischer Herkunft: ufuq.de (2007): Newslet-
banesischen Hintergrunds. In: Benz, Wolfgang ter „Jugendkultur, Religion und Demokratie“,
(Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Nr. 1+2. Berlin. URL: www.ufuq.de; Nordbruch,
ANMERKUNGEN Berlin, S. 105–130. Götz (2011): Islam 2.0 in Deutschland. Jenseits
12 Die Unterscheidung zwischen Antisemitis- von deutscher Leitkultur und islamischem „Me-
1 Der Beitrag beruht auf Vorträgen und be- mus als einer mehr oder weniger kohärenten dienghetto“. In: Englert, Rudolf u. a. (Hrsg.): Jahr-
reits publizierten Beiträgen des Autors (in: Weltanschauung einerseits und antisemitischen buch für Religionspädagogik 2012. Gott goo-
Gebhardt u. a. 2013) sowie auf Erfahrungen mit Stereotypen, die aufgegriffen und „nachträg- geln? Multimedia und Religion. Neukirchen.
Jugendlichen. lich“ in die Interpretation realer Ereignisse und Verfügbar unter: www.ufuq.de.
2 Zu beachten ist dabei, dass sich vor allem Erfahrungen im Kontext des Nahostkonflikts in- 20 Lediglich die BMI-Studie „Muslime in
im Kontext des Nahostkonflikts viele Jugendli- tegriert werden andererseits, hat große Bedeu- Deutschland“ (2006) bietet einen Anhaltspunkt:
che antiisraelisch und oft israelfeindlich äußern, tung für die pädagogische Arbeit mit Jugendli- Demnach stimmten 15,7 Prozent der befragten
diese Positionen aber nur teilweise auch als an- chen und jungen Erwachsenen aus der Region. „muslimischen Jugendlichen“ der 9. und 10. Jahr-
tisemitisch zu betrachten sind. Ebenso ist zu be- Dies gilt auch, wenn diese Unterscheidung oft gangsstufe der Aussage zu, dass „Menschen
denken, dass der allergrößte Teil der in Deutsch- nicht eindeutig zu treffen ist und tatsächlich jüdischen Glaubens überheblich und geldgie-
land gemeldeten antisemitischen Vorfälle nicht nicht selten Kritik an Israel und israelischer Poli- rig“ seien; bei „nichtmuslimischen Migranten“
auf Menschen mit Migrationshintergrund, son- tik in Form klassischer antisemitischer Stereoty- und „nichtmuslimischen Einheimischen“ liegen
dern auf das weite Spektrum des deutschen pe erfolgt, wobei der Konflikt dann lediglich als diese Werte mit 7,4 Prozent bzw. 5,7 Prozent
Rechtsextremismus zurückgehen. Aufhänger dient (s. unten). So spielen für Einstel- deutlich niedriger[].
3 Zur Debatte über Antisemitismus im arabi- lungen von Menschen aus Ägypten, Marokko, 21 Vgl. Wetzel, Juliane (2010): Moderner Anti-
schen/islamischen Kontext siehe: Webmann, der Türkei oder Malaysia gegenüber Israel und/ semitismus unter Muslimen in Deutschland. In:
Esther (2010): The Challenge of Assessing Arab/ oder den Juden eigene bzw. familiäre Erfahrun- Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Islam-
Islamic Antisemitism. In: Middle Eastern Studies. gen im Konflikt eine entsprechend kleinere oder feindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik ver-
Vol. 46, S. 677–697; Kiefer, Michael (2007): Isla- gar keine Rolle. schwimmen. Wiesbaden, S. 379–392.
misierter Antisemitismus. In: Benz, Wolfgang/ 13 Vgl. dazu etwa die Berichterstattung auf 22 Vgl. zum Folgenden detaillierter: Müller, Jo-
Wetzel, Juliane (Hrsg.): Antisemitismus und radi- Spiegel-online. chen (2008): „Warum ist alles so ungerecht?“
kaler Islamismus. Essen, S. 71–84; Nordbruch, 14 Vgl. Nordbruch, Götz (2009): Dreaming of Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen.
Götz (2004): Antisemitismus als Gegenstand a free Palestine: Muslim Youth in Germany and In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.): „Die Juden
islamwissenschaftlicher und Nahost-bezogener the Israel-Palestine-conflict. Centre for Contem- sind schuld!“ Antisemitismus in der Einwande-
Sozialforschung. In: Bergmann, Werner/Körte, porary Middle East Studies. Odense. rungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozia-
Mona (Hrsg.): Antisemitismusforschung in den 15 Vgl. Müller, Jochen (2008), a. a. O. lisierter Milieus. Reader und Praxisbeispiele zur
Wissenschaften. Berlin, S. 241–269. 16 Vgl. Müller, Jochen (2008), a. a. O. pädagogischen Arbeit. Berlin, S. 30–36; Müller,
4 Vgl. Kiefer, Michael (2009): Was wissen wir 17 Vgl. Müller, Jochen (2009): „Das sind die Jochen (2008a): Zwischen Abgrenzen und An-
über antisemitische Einstellungen bei mus li mi- Gefährlichsten, weil man sie nicht sieht.“ In: ami- erkennen. Überlegungen zur pädago gischen
schen Jugendlichen? Leitfragen für eine künftige ra (Hrsg.): Antisemitismus in der Türkei. Berlin. Begegnung von antisemitischen Einstellungen
Forschung. In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.): URL: http://www.amira-berlin.de/Aktuelles/65. bei deutschen Jugendlichen muslimischer/ara-
„Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus in der htm. bischer Herkunft. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.):
Einwanderungsgesellschaft am Beispiel musli- 18 Vgl. etwa: European Monitoring Centre on Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin,
misch sozialisierter Milieus. Reader und Praxis- Racism und Xenophobia (2004): Manifestations S. 97–104.
beispiele zur pädagogischen Arbeit. Berlin, of Antisemitism in the EU 2002–2003. Wien; 23 Darunter waren auch viele Berichte von Ju-
S. 20–23. amira (Hrsg.) (2009): „Du Opfer! – Du Jude!“ gendlichen palästinensisch-libanesischer Her-
5 Vgl. Kiefer, Michael (2002): Antisemitismus Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg. kunft, die 2006 zu Familienbesuchen im Libanon
in den islamischen Gesellschaften. Düsseldorf; waren und dort den Krieg aus nächster Nähe
Müller, Jochen (2008). Geschichte und Gegen- mitbekommen haben.
wart des Antisemitismus im Nahen und Mittleren 24 Vgl. ausführlicher: Müller, Jochen (2008):
Osten. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Der Hass „Warum ist alles so ungerecht?“ Antisemitismus
UNSER AUTOR
gegen die Juden. Dimensionen und Formen des und Israelhass bei Jugendlichen. In: Amadeu
Antisemitismus. Berlin, S. 119–136. Antonio-Stiftung (Hrsg.): „Die Juden sind
6 Zu beachten ist dabei, dass die Selbstdefi- schuld!“ Antisemitismus in der Einwanderungs-
nition als Muslim bzw. die Zugehörigkeit zu einer gesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisier-
Kollektividentität „der Muslime“ eine wichtige ter Milieus. Reader und Praxisbeispiele zur päd-
Rolle bei der Formierung antisemitischer Positio- agogischen Arbeit. Berlin, S. 30–36.
nen spielen kann (etwa in der Konstruktion ent- 25 Auf Youtube findet sich eine Fülle von Vi-
sprechender Feindbilder). Diese Kollektividenti- deos, in denen türkische Jugendliche Kurden
tät wird insbesondere in der Ideologie islamisti- diffamieren – und umgekehrt.
scher Bewegungen beschworen. Außerdem 26 Vgl. Dantschke, Claudia (2006): Feindbild
können aber auch der türkische und der (pan-) Juden. Zur Funktionalität der antisemitischen
arabische Nationalismus als wichtige Kollektiv- Gemeinschaftsideologie in muslimisch gepräg-
ideologien gelten, die zur Verbreitung antisemi- ten Milieus. In: Amadeu Antonio-Stiftung (Hrsg.):
tischer Einstellungen wesentlich beigetragen „Die Juden sind schuld!“ Antisemitismus in der
Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaft-
haben. Einwanderungsgesellschaft am Beispiel musli-
7 Vgl. Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des ler und Mitgründer des Berliner Vereins misch sozialisierter Milieus. Reader und Praxis-
Antisemitismus: Islamistische, demokratische ufuq.de (www.ufuq.de). Er arbeitet als beispiele zur pädagogischen Arbeit. Berlin,
und antizionistische Judenfeindschaft. Ham- Berater und Publizist sowie mit Jugend- S. 10–19.
burg. lichen und Multiplikatoren zu den The- 27 Ob, in welcher Form und in welchem Kontext
8 Vgl. Müller, Jochen (2007): Auf den Spuren Pädagogik gegen Antisemitismus sich tatsäch-
von Nasser. Nationalismus und Antisemitismus men Islam, Muslim-Sein und Islamfeind- lich besonderen Zielgruppen wie Jugendlichen
im radikalen Islamismus. In: Benz, Wolfgang/ schaft in Deutschland, Islamismus und mit Migrationshintergrund in spezifischer Form
Wetzel, Juliane (Hrsg.): Antisemitismus und radi- Prävention von Radikalisierungen, Ju- widmen kann und soll, ist Gegenstand von Aus-
kaler Islamismus. Essen, S. 85–102. gendkulturen und Medien in der Ein- einandersetzungen. Zur Diskussion und zu päd-
9 Vgl. Wolter, Udo (2004): Beispiel Al-Quds- agogischen Formaten zur Begegnung von Anti-
wanderungsgesellschaft. Außerdem
Tag. Islamistische Netzwerke und Ideologien semitismus vor allem unter Jugendlichen türki-
unter Migrantinnen und Migranten in Deutsch- entwickelt er zu diesen Themen Mate- scher, arabischer und muslimischer Herkunft
land und Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher rialien und Module für die pädagogi- siehe das Literaturverzeichnis.
Intervention. Gutachten im Auftrag des BAMF. sche Arbeit. Jochen Müller arbeitet
URL: http://ufuq.de/newsblog/online-bilbio- auch für das ZDK (Zentrum Demokrati-
thek/islamismus-und-antisemitismus/329-bei-
sche Kultur).
310
sorgt zur Zeit der Rhein-Main-Rapper alismus und dessen Folgen abzuschlie-
Antisemitismus zeigt sich in all seinen „Haftbefehl“ mit antisemitischen Song- ßen. Die zurzeit am meisten verbreitete
Spielarten in allen gesellschaftlichen texten (wie im Song „Psst“: „… ticke Ko- Facette ist die in Antisemitismus mün-
Milieus. Für die schulische und außer- kain an die Juden von der Börse“) für dende Kritik an der Politik des Staates
schulische (politische) Bildung stellt sich Aufsehen und schaffte es 2012 sogar in Israel und sein Vorgehen im Nahostkon-
die Frage, wie junge Menschen für anti- die Top Ten der deutschen Album- flikt. Veranstaltungen und Diskussionen
semitische Vorurteile sensibilisiert wer- Charts. darüber enden häufig in heftigen Strei-
den können. Mehr noch: Wie ist in einer Antisemitismus zeigt sich heute in all sei- tigkeiten, in denen Vorwürfe, Rechtferti-
multiethnischen Gesellschaft Bildungs- nen Spielarten: Als rassistische Kompo- gungen, eigene Betroffenheit, Schuld-
arbeit mit Jugendlichen machbar, die nente, in der Juden besondere positive abwehrmechanismen oder Verweige-
selbst diskriminiert werden oder mittel- oder negative Merkmale zugeschrie- rungshaltungen stur aufeinandertref-
bar vom Nahostkonflikt betroffen sind? ben werden. Die einen halten sie für be- fen, sich vermischen und immer wieder
Gabriele Rohmann beschreibt das Mo- sonders klug und gebildet, die anderen generalisierende und oft judenfeindli-
dellprojekt New Faces, das Antworten für besonders verschlagen und reich, chen Äußerungen („Die Juden haben
auf eben diese Fragen sucht. New Faces die dritten für beides. Die sekundäre aus der Geschichte nichts gelernt“ oder
beschreitet einen neuen Weg, indem es Komponente zielt darauf, endlich einen „Die Juden geben ihr Trauma weiter“
sich an jugendkulturellen Lifestyles ori- Schlussstrich unter die Vergangenheit oder „Was die Juden mit den Palästi-
entiert. Es setzt bei dem an, was junge zu ziehen und das Kapitel Nationalsozi- nensern machen, ist das gleiche wie
Menschen interessiert: bei Musik, Medi-
en, Freizeit, Mode. Diese jugend- und
subkulturellen Lifestyles bieten vielfälti-
ge Möglichkeiten, sich mit Vielfalt und
Respekt, aber auch mit Ausgrenzung
und Diskriminierung auseinanderzuset-
zen. Um der Spielart des sekundären
Antisemitismus wirksam begegnen zu
können, arbeitet New Faces mit deutsch-
israelischen Teams. Die geschilderten
Erfahrungen und Ergebnisse sind ein
Beleg für kreative Wege, antisemiti-
schen Vorurteilen und Klischees wirk-
sam begegnen zu können. I
Antisemitismus im Alltag
311
312
313
314
315
mit uns verwandt (obwohl alle Juden ir- überleben. Weil es oft um Leben und
Literarische Texte sind in unserer Zeit- gendwie miteinander verwandt zu sein Tod ging – oder um den Alltag. „Ich hät-
schrift „Der Bürger im Staat“ eher die scheinen oder es angeblich sogar sind). te gerne das Fischbrötchen!“, bestellt
Ausnahme. Manchmal können literari- ein Jude. „Das ist aber Schinken, nicht
sche Texte allerdings mehr Schranken 4. Juden sind Wucherer Fisch!“, antwortet der Verkäufer. „Habe
einreißen als jeder noch so gut gemeinte Der „Judenzins“ ist bekannt. Ich selbst ich Sie gefragt, wie der Fisch heißt?“
fachwissenschaftliche (oder didakti- verleihe ja eher Bücher als Geld. Die Gerissen schon. Hinterlistig nicht.
sche) Impuls. Die Schriftstellerin Lena kriege ich leider nur selten zurück (wes-
Gorelik, die 1992 mit ihrer russisch-jü- halb ich dann Geld für andere Bücher 8. Juden sind Lobbyisten, klüngeln
dischen Familie als „Kontingentflücht- ausgeben muss; ein Teufelskreis). Ich „Das ist einer von uns“, sagt mein Vater,
ling“ nach Deutschland kam, erzählt, sinniere schon länger darüber, einen wenn er jemanden etwas Kluges im
wie sie entspannt mit antisemitischen Bücherjudenzins einzuführen: Wer ein Fernsehen sagen hört. Auch auf Hebrä-
Klischees umgeht. Sie gehört der neuen Buch zu spät oder unzufrieden zurück- isch ist „jemand von uns“ ein gängiger
Generation von Juden in Deutschland gibt – unzufrieden, obwohl ich eines Begriff. So eine Art große Familie, ein
an, die sich über ihre Zukunft, nicht über meiner geliebten Bücher voller Begeis- Zusammengehörigkeitsgefühl über Lan-
ihre Vergangenheit definieren wollen. terung weitergegeben habe –, muss desgrenzen hinweg. Weil Jüdisch-Sein
Für diese Generation ist die jüdische den Bücherjudenzins zahlen. So käme irgendwie verbindet, und wie, weiß kei-
Identität längst nicht mehr nur an den ich zu Geld und könnte eine richtige Jü- ner von uns, denn Religion ist, wie nur
Holocaust gekoppelt. Scherzhaft und din werden, die Bücher zu Wucherprei- Nichtjuden annehmen können, kein ver-
nachdenklich führt sie antisemitische sen verleiht. Die Welt wäre dann ein
Klischees ad absurdum. In dem Teilka- Stück weit mehr so, wie man sie sich vor-
pitel „Auf der Suche nach Antisemiten“ stellt. Und ich hätte Geld und Bücher.
zeigt sie antisemitische „Fettnäpfchen“
auf und plädiert dabei ironisch – zwi- 5. Juden haben eine problematische
schen den Zeilen jedoch überaus konst- Beziehung zu ihrer Mutter
ruktiv – für einen entkrampften deutsch- Nein, natürlich nicht. Aber jetzt würde
jüdischen Dialog. I ich lügen. (Was Juden ja auch angeb-
lich gern tun.) Also, jetzt mal jüdisch-
ehrlich: Problematisch ist die Beziehung
nicht. Aber sie, wie soll ich sagen, ge-
Die Top Ten der antisemitischen staltet den Alltag: „Wie hast du ge-
Klischees: Warum sie wahr sind schlafen? Hast du das gesunde Kopfkis-
sen benutzt, das ich dir neulich ge-
1. Juden haben Hakennasen schickt habe?“, „Was hast du gefrüh-
Grundsätzlich gilt: Alles, worüber Ju- stückt? Wie, du frühstückst nicht? Das ist
den Witze machen, trifft zu. Meine Na- doch die wichtigste Mahlzeit des Ta-
se sieht eindeutig sonderbar aus. Mög- ges!“, „Weißt du, wie kalt es heute wer-
licherweise noch keine klassische Ha- den soll? Nimm unbedingt den Schal
kennase, wie man sie aus Nazi-Karika- mit, den ich dir gestrickt habe im Schwei-
turen kennt, aber doch zu lang. Kürzer ße meines Angesichts. Jaja, ich leg ja
zwar als die der meisten meiner Famili- schon auf!“ Und das alles vor neun Uhr
enmitglieder, aber eben zu lang. Macht morgens. Aber problematisch? Nein,
nichts, ich habe auch abstehende Ele- problematisch ist die Beziehung nicht.
fantenohren, die diese Nase wunder-
bar ergänzen. 6. Juden sind schlauer als andere
Schach spielen konnte ich mit drei, lesen
2. Juden haben Glatzen mit vier Jahren. An meiner Intelligenz
Was soll ich sagen? Mein Vater hat eine liegt das nicht – etwas anderes hätte
Glatze. Er hatte schon immer eine Glat- ich meinem Vater schlichtweg nicht an-
ze, an seine Haarfarbe erinnere ich tun können. So wie sportverrückte Väter
mich nicht. Mein Mann hat eine Glatze. in US-Filmen von ihren Söhnen erwar- Der jüdische
Über die Glatze ist er trauriger als ich. ten, Baseball zu spielen, und nicht damit Geldverleiher
Früher zählte er seine verbliebenen umgehen können, wenn diese lieber Shylock aus dem
Haare. Nun rasiert er sich immer den Ballett tanzen, so ist es für jüdische El- Shakespeare-
Kopf, damit man die Glatze nicht als tern unvorstellbar, dass das Kind einen Stück „Der Kauf-
solche erkennt. Ich find’s nicht schlimm. Ball einem Buch vorzieht. mann von Vene-
Er ist doch Jude. dig“ steht für das
7. Juden sind verschlagen, hinterlistig, antisemitische Kli-
3. Juden haben viel Geld gerissen schee des Wuche-
Rothschilds Existenz will ich natürlich Gerissen schon. Hinterlistig nicht. Ge- rers.
nicht leugnen. Leider Gottes ist er nicht rissen mussten die Juden sein, um zu picture alliance/dpa
316
317
318
hinten verschieben und sich ein anderes Flüchtlinge. Man verfolgt uns. Man wirft
Bild dazu vorstellen, und dann sieht Steine und Bomben in die Synagogen.
man doch ganz deutlich, was für ein an- Ich lese die Nazi-Zeitung, denn sie
tisemitisches Hetzblatt die Bild ist!“ stimmt mich zuversichtlich. Wir besitzen
Nein, ich verleugne nicht ihre Existenz. die Banken! Wir besitzen die großen
Aber ich habe auch schon den einen Firmen! Wir beherrschen die Welt!“
oder anderen Nichtjuden getroffen, der
kein ausgeprägter Antisemit war. Und Lena Gorelik, geboren 1981 in St. Pe-
dafür den einen oder anderen jüdi- tersburg, kam 1992 mit ihrer russisch-
schen Antisemiten. jüdischen Familie als sogenannter Kon-
Manchmal werde ich gefragt, ob ich an- tingentflüchtling nach Ludwigsburg.
tisemitische Erfahrungen gemacht ha- Lena Gorelik veröffentlichte bisher fünf
be. Meistens bin ich geneigt, „Nein!“ zu vielfach preisgekrönte Bücher. Sie lebt
rufen, einfach aus Prinzip, weil ich nicht mit ihrem Mann und zwei Söhnen in
zu den Antisemitismus-Suchern gehören München. Im September 2013 erschien
möchte, jede Gelegenheit dazu nutze, ihr neuer Roman „Die Listensammlerin“
mich von ihnen zu distanzieren. Bis mir bei Rowohlt Berlin.
319
320
Auswertung orientiert sich dabei durch- lang dieser Texte lässt sich die Hitler- wird. Bereits im Jahr 1934, d. h. ein Jahr
gehend am aktuellen Forschungsstand. Euphorie, der propagandistisch insze- nach der „Machtergreifung“, ist in ei-
Den stark polisierten Schüleraufsätzen nierte Hitler-Mythos und schließlich die nem Schüleraufsatz schon vom Sterben
werden so faktenreiche Kommentare „Führervergötterung“ verfolgen. die Rede. Zentrales Thema aller Aufsät-
gegenübergestellt, in denen die Ideolo- Die Auswahl der 16 Aufsätze ist gleich- ze ist der Krieg. Die „Erziehung zur Här-
gie des „Dritten Reiches“ schlüssig er- sam ein Längsschnitt, anhand dessen te“ und die „Erziehung zum Sterben“ of-
klärt wird. Die oft phrasenhaften Argu- die Entwicklung und letztlich die Radi- fenbaren sich als Teil der psychologi-
mentationsstränge der Schüler werden kalisierung des nationalsozialistischen schen und systematisch betriebenen
mit der Biografie Hitlers gespiegelt. Ent- Gedankenguts trefflich demonstriert Kriegsvorbereitung. Die 16 Abiturauf-
냇
Wenn Sie DER BÜRGER IM STAAT abonnieren möchten, erhalten Sie die Zeitschrift für nur € 12,80, vier Hefte im Jahr, frei Haus.
Schicken Sie diesen Abschnitt zurück an:
Sollten Sie jeweils drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres nicht abbestellt haben, läuft das Abonnement weiter.
Rechtlicher Hinweis:
Ich kann diese Bestellung binnen 14 Tagen widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung
(Poststempel) an:
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion Der Bürger im Staat, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart.
Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.
Datum, Unterschrift
321
sätze haben somit einen Erschließungs- schwerde als elftes Bundesland einge- landesrechtlichen subjektiven Rechte
charakter für die nationalsozialistische führt. Somit kann jede Bürgerin resp. je- des Bürgers auf. Dabei werden die ver-
Schulpolitik. der Bürger Landesgesetze, Verordnun- fahrensrechtlichen Voraussetzungen für
Bernhard Sauer belegt eindrucksvoll, in gen und Gerichtsentscheidungen dar- eine Verfassungsbeschwerde ausführ-
welchem Ausmaß in einem humanisti- aufhin überprüfen lassen, ob sie gegen lich dargestellt. Antragsmuster helfen
schen Gymnasium die NS-Ideologie die Landesverfassung verstoßen. Die bei der praktischen Umsetzung der
fraglos übernommen wurde. Schullei- Bürgerinnen und Bürger haben damit rechtlichen Vorgaben. Die maßgebli-
tung und Pädagogen des Gymnasiums die Möglichkeit, sich vor dem Staatsge- chen Gesetzestexte sind in einem An-
waren typische Vertreter jener bürger- richtshof gegen Verletzungen ihrer hang wiedergegeben. Ein ausführliches
lich-konservativen Schichten, die in Hit- Grundrechte durch die öffentliche Ge- Stichwortregister ermöglicht Leserinnen
ler einen Verbündeten im „Kampf gegen walt zu wehren. Auch der Staatsge- und Lesern, sich in diesem Kommentar
Versailles“ und im „Kampf gegen den richtshof Baden-Württemberg betritt mühelos zurechtzufinden.
Marxismus“ sahen, jedoch blind für die mit dem Recht der Landesverfassungs- Aktuelle Zahlen belegen die Notwen-
unerbittlichen und inhumanen Konse- beschwerde Neuland. Die 60-jährige digkeit und den Nutzen eines solchen
quenzen der NS-Politik waren. Rechtsprechung des Bundesverfas- Buches! Denn die Baden-Württember-
Siegfried Frech sungsgerichts zur Bundesverfassungs- ger tun sich noch schwer mit dem neuen
beschwerde muss von ihm zugrunde ge- Instrument der Landesverfassungsbe-
legt werden. Für das Landesverfas- schwerde. Seit der Einführung im April
Landesverfassungsbeschwerde sungsgericht besteht aber auch die 2013 sind zwar 89 Verfassungsbe-
Chance, den Besonderheiten der Lan- schwerden eingegangen, so eine Mel-
Holger Zuck, Rüdiger Zuck, unter desverfassung Rechnung zu tragen. dung der „Stuttgart Nachrichten“
Mitarbeit von Reiner Eisele Der Kommentar orientiert sich deshalb (5.11.2013), die allermeisten erfüllen je-
Die Landesverfassungsbeschwerde an zwei Aufgaben: die Rechtsprechung doch nicht die Zulassungskriterien. Sie
in Baden-Württemberg des Bundesverfassungsgerichts abruf- wurden zurückgewiesen, oder aber die
Kommentar – Antragsmuster – Gesetzestexte bar zu machen und dem Landesrecht Bürgerinnen bzw. Bürger verfolgen ihr
Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2013. das ihm zukommende Gewicht zu ver- Begehren nach einem entsprechenden
364 Seiten, 58,00 Euro. leihen. Die Kommentierung zum Recht Hinweis des Gerichts nicht weiter. Bis-
der Landesverfassungsbeschwerde in lang war keine Landesverfassungsbe-
Die Verfassungsbeschwerde ist der Baden-Württemberg hilft Beschwerde- schwerde erfolgreich. Von den 89 Be-
Schlussstein eines Rechtsschutzsystems. führern, leichter zu ihrem Recht zu kom- schwerden sind jedoch 14 noch in Bear-
Er ist jetzt auch für Baden-Württemberg men. Besonders nützlich sind dabei die beitung.
gesetzt worden. Baden-Württemberg „Grundrechts-Steckbriefe“. Sie schlüs- Siegfried Frech
hat das Instrument der Verfassungsbe- seln den Rechtsgehalt der bundes- und
322
323
Rezensionen
Siegfried Schiele Demokratie in Gefahr? 125
Günther Rüther Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis? 126
Karl Heinz Metz Geschichte der Gewalt. Krieg – Revolution – Terror 127
Uwe Wagschal u. a. Der historische Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg 244
Karin Wieland Dietrich & Riefenstahl. Der Traum von der neuen Frau 245
Martin Curi Brasilien, Land des Fußballs 246
Ernst Wolfgang Becker u. a. Theodor Heuss. Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954 246
Hubert Wolf Die Nonnen von Sant’ Ambrogio. Eine wahre Geschichte 248
Lena Muchina Lenas Tagebuch 320
Bernhard Sauer „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stich lassen.“
Abituraufsätze im Dritten Reich 321
Holger Zuck u. a. Die Landesverfassungsbeschwerde in Baden-Württemberg 321
324