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Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades "Magister Artium"

an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften


Department I - Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als
Fremdsprache
der Ludwig-Maximilians-Universität München

Das Heimatmotiv in Joseph Roths Hiob

Zum Verlust der ostjüdischen Heimat

Eingereicht von:
Kianoosh Sadigh
Echingerstr. 10e, 80805 München
kiasadigh@yahoo.com
Erstgutachter: PD Dr. Waldemar Fromm
Zweitgutachter: Professor Dr. Michael Brenner

München 2009
An diese Heimat, zu der es keine wirkliche Rückkehr geben konnte, war er durch
Sehnsucht und Ablehnung, Liebe und Hass, Stolz und verschämte Verlegenheit
gebunden. Er der sie früh verließ, suchte die verlorene Heimat in den vielen Stationen
seiner Irrfahrten durch die fernsten Länder Westeuropas. Wiedergefunden hat er sie
nur in der literarischen Gestaltung der östlichen Welt.

David Bronsen
Joseph Roth. Eine Biographie

Wo Gutes getan wird, dort ist meine Heimat.

Joseph Roth
Antichrist

2
Inhalt
EINLEITUNG ....................................................................................................................................... 4
I HISTORISCHER KONTEXT ............................................................................................................... 8
1 DAS OSTJUDENTUM .......................................................................................................................... 8
1.1 Polen: Die neue Heimat .......................................................................................................... 8
1.2 Pogrome: das Ende eines Traumes....................................................................................... 12
1.3 Chassidismus: Die spirituelle Stütze ..................................................................................... 14
1.4 Die Identität der Ostjuden .................................................................................................... 16
1.5 Das Schtetl ............................................................................................................................ 18
1.6 Die wichtigste kulturelle Bewegung im Judentum ............................................................... 22
1.6.1 Haskala .................................................................................................................................... 22
1.6.2 Haskala in Osteuropa .............................................................................................................. 24
1.6.3 Die Ostjüdische Assimilationsbewegung ................................................................................. 27
1.7 Die Habsburgermonarchie und die Juden............................................................................. 30
1.7.1 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts................................................................................... 30
1.7.2 Erster Weltkrieg und der Untergang der Donaumonarchie .................................................... 33
1.7.3 Die Entstehung einer literarischen Heimat: Mythos Galizien.................................................. 34
II JOSEPH ROTH ......................................................................................................................... 39
1 BIOGRAPHIE .................................................................................................................................. 39
2 DIE HEIMATEN DES JOSEPH ROTH ...................................................................................................... 46
2.1 Die Habsburger-Monarchie und das Ostjudentum............................................................... 46
III DER ROMAN HIOB .................................................................................................................. 52
1 DER WENDEPUNKT IN JOSEPH ROTHS WERK ........................................................................................ 52
2 DIE MOTIVE DER HEIMAT IM HIOB-ROMAN ........................................................................................ 57
2.1 Das Schtetl: der Ort der Verfremdung .................................................................................. 57
2.2 Landschaft und Natur ........................................................................................................... 60
2.3 Familie .................................................................................................................................. 64
2.3.1 Mendel und Deborah .............................................................................................................. 65
2.3.2 Die Kinder Mendel Singers ...................................................................................................... 69
2.3.2.1 Jonas und Schemarjah....................................................................................................... 69
2.3.2.2 Mirjam............................................................................................................................... 71
2.3.2.3 Menuchim ......................................................................................................................... 73
2.4 Die heimatlichen Bindungen ................................................................................................ 76
2.4.1 Die Bauern............................................................................................................................... 76
2.4.2 Die Kosaken ............................................................................................................................. 77
2.5 Der Glaube............................................................................................................................ 80
IV DAS EXIL: AMERIKA................................................................................................................. 84
1 DER EXODUS NACH AMERIKA ............................................................................................................ 84
2 DAS AMERIKA-BILD IN ROTHS HIOB ................................................................................................... 85
3 AUSBRUCH DER KATASTROPHE .......................................................................................................... 91
3.1 Verlust der Familie ............................................................................................................... 91
3.2 Verlust des Glaubens ............................................................................................................ 92
4 DIE MYTHISIERUNG DER HEIMAT ....................................................................................................... 95
5 ERLÖSUNG DURCH DIE WIEDERBEGEGNUNG DES VATERS MIT DEM SOHN .................................................. 98
ZUSAMMENFASSUNG ..................................................................................................................... 103
LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................................. 105
ERKLÄRUNG .................................................................................................................................... 111
LEBENSLAUF.................................................................................................................................... 112

3
Einleitung

Der Begriff „Heimat“ hat eine lange Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Er


weist verschiedene Inhaltsebenen auf und entsprechend dieser vielen Inhaltsebenen gibt
es für diesen Begriff auch verschiedene Inhaltselemente. In den letzten Jahrzehnten,
insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg, wurde „Heimat“ zum Objekt einer Vielzahl
von Diskussionen in verschiedenen Fachgebieten, darunter auch die
Literaturwissenschaft. Dieser Begriff ist heutzutage ein salonfähiger Begriff geworden,
nachdem er Anfang der siebziger Jahre von den prominenten Autoren jener Jahre wie
Heinrich Böll, Max Frisch, Günther Grass und Martin Walser wieder an die
Öffentlichkeit gebracht wurde. Heute kann man von der „rehabilitierten Heimat“ 1
sprechen und sich frei mit diesem Thema auseinandersetzen.
Das in der vorliegenden Arbeit zur Debatte stehende Thema ist die Bedeutung der
Heimat in Hiob. Roman eines einfachen Mannes, einem der wichtigsten Romane Joseph
Roths.. Heimat wird in dieser Arbeit nicht als eine ahistorische Kategorie verstanden,
sondern als eine, die sich in einer ganz bestimmten Epoche mythisch manifestierte.
Diese Epoche, die sogennante „Nach - dem – ersten – Weltkrieg - Zeit“, oder die Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen, ist durch die größte Krise der Menschheit im 20.
Jahrhundert gekennzeichnet; man könnte sie auch die Epoche der Sinnlosigkeit nennen.
Die Heimatlosigkeit ist die Frucht der zwei großen Weltkriege. Man verlor den Sinn des
Lebens, im Zeitalter des Herumwanderns, der Heimatlosigkeit und Nichtzugehörigkeit.
Was ist Heimat? Es ist völlig irrelevant, wie man die Heimat definiert. Die Hauptsache
ist, dass die Heimat Sinn gibt; Heimat gibt dem Leben und der Identität des Menschen
einen Sinn, und wenn dieser Sinn in eine Krise gerät, fällt auch die Heimat,
beziehungsweise das Heimatgefühl, in eine Krise. Man kann sagen: wenn man eine
Heimatkrise hat, hat man auch eine Sinnkrise und umgekehrt. In der Tiefe dieser Krise
befand sich Joseph Roth. Er, der für lange Zeit seine galizische Abstammung
verleugnete und sie hasste, versöhnte sich mit dieser ostjüdisch geprägten Heimat, als
sie nicht mehr existierte. Er verlor nicht nur die Heimat seiner Kindheit, sondern auch
alle mit ihr verbundenen Werte, vor allem die aus dem Chaos der Identitäten und
Nationalitäten Ordnung stiftende habsburgische Monarchie. Je mehr die Reliquie dieser
Heimat zersetzt wurde, umso stärker manifestierte sich bei ihm Heimat als „Nostalgie
nach Sinn“. Die Welt verkörperte für ihn das größte Chaos der Menschheit. Ihm war die

1
Bondy, Francois: Die rehabilitierte Heimat. In: Neue deutsche Hefte/22 = H. 145 - 148. 1975, S. 107-
112, hier S. 107.
4
Absurdität der Zeit bewusst, und wahrscheinlich auch die Sinnlosigkeit seiner
Versuche, in den letzten Jahren seines Lebens die Monarchie wiedererstehen zu lassen
Deswegen, um mit Marcel Reich-Ranicki zu sprechen, musste er sich „um überhaupt
existieren zu können, […] im Erfundenen verlieren. Um dem Leben standzuhalten,
benötigte er eine Kontrastwelt“ 2.
Das Chaos, aus dem er in der Märchenhaftigkeit des Wunders, in der heilen Welt der
Vergangenheit Zuflucht suchte, war das Leben selbst. Die menschlichen Werte wurden
in der Moderne so zerstört, dass es unmöglich war, sie wiederzugewinnen. Heimat
wurde zu einer Unmöglichkeit. Joseph Roth war sich der Unmöglichkeit der Heimat
bewusst, jedoch war er ein Nostalgiker, und als solcher flieht er vor der Gegenwart und
Realität. Joseph Roth suchte sein Ithaka in der Literatur, quasi im Schreiben und
Erzählen. Durch das Erzählen rekonstruierte er in Worten die Heimat. In
Radetzkymarsch versuchte Roth, die Welt der Monarchie wiederauferstehen zu lassen
und in Hiob die Welt und Werte der Ostjuden. Die Welt und Werte, die nie wieder
zurückzugewinnen waren und die gerade deswegen zum Mythos wurden.
Im Rahmen dieser Arbeit wird die Heimat als eben diese mythische Kategorie
untersucht, und da der Mythos eine literarische Heimat ist, sollte man dieses Motiv im
Hiob- Roman als ein literarisches betrachten, eine Utopie der Werte, die die Realität
verklärt. Claudio Magris bringt das Gesagte auf den Punkt:

Die Bedeutung von Hiob liegt gerade in der Auflösung des Realen, in der menschlichen
und poetischen Notwendigkeit seiner ideologischen Irrtümer, die allein durch die
Kohärenz der Fabel und des Gleichnisses gerechtfertigt sind, wo die inhaltlichen und
realistischen Elemente (in diesem Fall die Zeichnung der ostjüdischen Welt) nur als der
andere Ausdruck einer unbestimmten metaphysischen Ähnlichkeit, als bloßer Verweis
auf ein sich dem Zugriff entziehendes Jenseits, Geltung haben. Hiob stellt eines der
typischsten Beispiele für die Entdeckung des ostjüdischen Raumes als literarischen Ort
und als Seelenlandschaft dar. Gerade auch in der deutlichen Verflechtung von
Wirklichkeitstreue und Manier, epischen Zügen und dekorativen Stilisierungen, innerer
Teilnahme und kontrolliertem Abstand ist es ein typisches Werk. Hiob ist der ironische
Roman eines Intellektuellen, der gerade deshalb eine vollkommene Rekonstruktion der
Welt und der Humanität des Ostjudentums unternimmt, weil er ihren Verlust und seine
nicht wieder rückgängig zu machende Ferne von ihr fühlt. Mit Hiob versucht Roth in
seiner Ratlosigkeit vor der europäischen Wirklichkeit seiner Zeit eine Stellungnahme,
die sich auf die Archetypen einer Kultur stützt, nach der er sich, innerlich von seiner
Entwurzelung überzeugt, aus ganzem Herzen sehnt. 3

Hiob hat eine märchenhafte Struktur. Schon vom ersten Satz an gerät man in eine
zeitlose, freie Dimension: „Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens

2
Reich-Ranicki, Marcel: Kakanien als Wille und Vorstellung. In: Die Zeit. Nr. 50. 07.12.1973, S. 26.
3
Magris, Claudio: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Europaverlag. Wien 1974, S.112f.
5
Mendel Singer“ 4. Diese ahistorische Struktur mit einer mythischen Freiheit weist auf
die Werte hin, nach denen sich Roth sehnte. 5 Die Chiffre dieser mythischen Heimat war
das Judentum, das ihm einen festen Halt, eine Heimat gegeben hatte, in den Jahren, in
denen er von der Unannehmlichkeit der geschichtlichen Gegenwart und ihrer
Schwierigkeiten völlig betroffen war. 6 Ja, die Zeitlosigkeit der Heimat beruht auf dem
Leben der Juden in der Diaspora. Magris verfolgt diese These wie folgt:

Es ist vielleicht richtiger zu sagen, dass die Heimat der Juden in der Diaspora auf einer
außerzeitlichen Grundlage ruht. Seit der Zerstörung des Tempels hat das israelitische
Volk nicht im Werden gelebt, sondern in einem Buch, im Wort und in der Schrift, in der
Tora, die las schon vor der Schöpfung existierend betrachtet wurde. Das Buch […]
bedeutet Zeitlosigkeit; die jüdische Tradition erscheint durch die Jahrhunderte hindurch
nach starren Archetypen und nach dem Modell der Wiederholung geformt. Im
Judentum ist der jeder religiösen und transzendenten Weltanschauung eigene
Antihistorizismus am stärksten ausgeprägt, weil der jüdischen Religion jede
Möglichkeit genommen war, konkret auf die sie umgebende geschichtlich-
gesellschaftliche Wirklichkeit einzuwirken. Sehr früh ist jede Illusion über eine Macht
oder über eine Auseinandersetzung mit der Logik des Säkulums gefallen, und alle
Hoffnung ist nicht auf die Gegenwart oder Zukunft gerichtet, sondern auf ein
messianisches Zeitenende, das ebenso metahistorisch ist wie die biblischen Parameter.
[…] Mythisiert und in Bezug auf seine wahre Entstehungsgeschichte deformiert, wird
dieses ‚Judentum’ so jedoch eine ideale Alternative zur Inflation der Werte im
Geschichtsablauf; als Alternative, Utopie, als Modell, das die Wirklichkeit in Frage
stellt, gewinnt es eine unbestreitbare Gültigkeit und Wahrheit und nähert sich dadurch
dem Dichtungsvorgang selbst an: Phantastische und utopische Landschaften werden
gegen die Unmittelbarkeit des Wirklichen und seine horizontale Verflachung errichtet. 7

Die Vergangenheit ist jene Vertrautheit und Sicherheit des Bekannten, die Roth in
seinem Hiob darzustellen versucht. Die einzige Erfahrung, die Sinn haben kann, ist die
der schon erlebten Geschehnisse, nicht die der sich im Laufe der Geschichte
abspielenden. Roth sucht sie nicht in der Chronik der Gegenwart, sondern in der
Mythisierung, nicht in der Realität, sondern in der Literatur. 8 Die Vergangenheit ist für
Roth eine Flucht aus dem Chaos und der Unordnung, eine Flucht aus der Sinnlosigkeit.
Die Vergangenheit ist jene Zeitlosigkeit, jene Heimat, die, wie Ernst Bloch es
ausdruckt, „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ 9.
Doch Bloch sucht die Heimat, so Magris, „in einer zukünftigen Nicht-Zeit, während
Roth sie gerade in der Nicht-Zeit der Kindheit sucht, das heißt im hinter uns Liegenden
statt im vor uns Liegenden, auf Ithaka, wie der homerische Odysseus statt jenseits der

4
Roth, Joseph: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke
in drei Bänden. Bd. II. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956, S. 7. Weiter: Hiob.
5
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 113.
6
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 113.
7
Magris: Weit von wo, S. 114.
8
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 117.
9
Bloch, Ernst: Das Prinzip der Hoffnung. Bd. III. Aufbau-Verlag. Berlin 1959, S. 489.
6
Säulen des Herkules wie der dantesche.“ 10 Roths Ithaka, seine „rückwärts gewandte
Utopie“ 11 ist speziell vom Ostjudentum chassidischer Natur geprägt und daher
abzugrenzen von anderen Formen des jüdisch-revolutionären Messianismus. 12 Insofern
ist es wichtig in der vorliegenden Arbeit die Rothsche Heimat im ostjüdischen Kontext
zu analysieren. Es ist bemerkenswert, dass die Heimat der Ostjuden in Wahrheit der Ort
ihrer Entfremdung gewesen ist, was in den geschichtlichen Zusammenhängen begründet
ist.
Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit versucht, einen Überblick über die
Entwicklung des ostjüdischen Typus, die Entstehungsgeschichte der Ostjuden und ihre
Vernichtung zu verschaffen. Dabei sollten die Heimatfindung und die Heimatlosigkeit
der Ostjuden in kulturhistorischer Hinsicht berücksichtigt werden.
Das zweite Kapitel verschafft einen Überblick über Joseph Roths Leben und Werk. An
dieser Stelle soll die Bedeutung der Heimat für Joseph Roth erörtert werden.
Die Analyse des Motivs der Heimat im Roths Hiob ist die Aufgabe des dritten Kapitels.
Dabei werden die wichtigsten Merkmale der Heimat analysiert.
Der Kontrapunkt der Heimat wird im vierten Kapitel als das amerikanische Exil
vorgestellt. Der Verlust der Heimat und deren Wiederfindung sind die Themen, die im
erwähnten Kapitel erläutert werden.

10
Magris: Weit von wo, S. 116.
11
Wörsching, Martha: Die rückwärts gewandte Utopie. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik
Sonderband. Joseph Roth. München 1995, S.90-100.
12
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 116.
7
I Historischer Kontext

1 Das Ostjudentum

In der Auseinandersetzung mit Joseph Roths Werk wird man unweigerlich immer der
ostjüdischen Kultur und Spiritualität begegnen. Das Ostjudentum ist jener Ursprung,
aus dem Joseph Roth selber stammt. Obwohl er in der Mitte seines Lebensweges zum
Katholizismus konvertierte, riss die Verbindung mit seiner ostjüdischen Herkunft nie
ab. Das Ostjudentum verkörperte für ihn die verlorengegangene Heimat, die Werte und
die Kindheit, die nie mehr wiederzufinden waren. Seine Stimme ist wehmütig und
sehnsüchtig, wann immer er von der ostjüdischen Welt schreibt. Seine Bilder sind dann
voller Nostalgie und Melancholie. Aus diesem Grund halte ich es für sehr wichtig, dass
im Rahmen dieser Arbeit über Hiob - das jüdischste Werk Joseph Roths 13 - zunächst
die Anfänge und historische Kontexte der Entstehung des Ostjudentums und der
ostjüdischen Heimat erklärt werden. Wenn man von ostjüdischer Heimat spricht, meint
man meist Polen. Die Geschichte der Juden in Polen begann schon vor mehr als einem
Jahrtausend. Polen war von einer starken religiösen Toleranz gekennzeichnet. Von der
Gründung des Königreiches Polen im 10. Jahrhundert bis zur Schaffung des
Doppelstaates Polen-Litauen im Jahr 1569 war Polen einer der tolerantesten Staaten
Europas. Es wurde zur Heimat für eine der größten und lebhaftesten jüdischen
Gemeinden Europas. Es ist erforderlich, dass die Geschichte der jüdischen
Heimatfindung in Polen im Rahmen dieser Arbeit zusammenfassend untersucht wird.

1.1 Polen: Die neue Heimat

Bevor es zerfleischt wurde, war Polen der Ursprung des Ostjudentums. Da die meisten
Geschichten Joseph Roths an polnischen Schauplätzen, nämlich im ostjüdischen Schtetl
in Galizien, spielen - wobei in Hiob das Städtchen in Russland liegt - sollte zunächst die
Geschichte dieser polnischen Heimat der Juden untersucht werden; dazu wird die
Entstehung des ostjüdischen Typus geschildert. Auf diese Weise kann man vielleicht

13
Vgl. Shaked, Gershon: Wie jüdisch ist ein jüdisch-deutscher Roman? Über Joseph Roths „Hiob, Roman
eines einfachen Mannes“. In: Stephane Moses & Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen
Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1986, S. 281- 292, hier S. 281.
8
die Bedeutung der Heimat in Roths Hiob-Roman und die Poetisierung dieses wichtigen
Rothschen Motivs besser verstehen.

Es sah Israel, wie die Leiden sich immer erneuerten, die Verhängungen sich mehrten,
die Verfolgungen zunahmen, die Knechtschaft groß ward, die Herrschaft des Bösen
Verhängnis an Verhängnis reihte und Vertreibung an Vertreibung häufte, dass er vor
seinen Hassern nicht mehr bestehen konnte, - da trat es auf die Wege und schaute und
fragte nach den Pfaden der Welt, welches der rechte Weg sei, den es betreten solle, um
für sich Ruhe zu finden. Da fiel ein Zettel vom Himmel herab: Gehet nach Polen! Und
es gibt welche, die glauben, dass auch der Name des Landes einer heiligen Quelle
entspringt: der Sprache Israels. Denn so sprach Israel, als es dahin kam: Polin, das heißt:
hier nächtige! Und meinten: hier wollen wir nächtigen, bis Gott die Zerstreuten Israels
abermals sammeln lässt. 14

Die Quelle dieser Legende, die vom israelischen Schriftsteller Samuel Agnon 1916
geschrieben wurde, entspringt der großzügigen Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus
West- und Mitteleuropa im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit durch die
polnischen Könige. Die ältesten und bedeutendsten Quellen jüdischer Siedlungen in
Polen stammen aus dem 9. Jahrhundert und dann vor allem aus dem 10. und 11.
Jahrhundert. Der später verstärkte Zustrom der Juden nach Polen war hauptsächlich
bedingt durch die Verfolgungen in Westeuropa. Während die jüdische Bevölkerung aus
Deutschland, Portugal und Spanien massenhaft vertrieben wurde, hat sie in Polen einen
freundlichen Empfang erlebt. 15 Als Herzog Boleslaw V. von Großpolen im Statut von
Kalisch (1264) 16 die Einwanderung der Juden erlaubt hatte und König Kasimir der
Große (1310-1370) in den Jahren 1334 und 1385 amtlich umfassende Privilegien für die
Juden in Klein- und Großpolen verordnete, floss der jüdische Einwandererstrom nach
Polen. 17 Das Leben der Juden in Polen war vorteilhaft: sie waren vor dem Gericht
gleichberechtigt, ihre Synagogen und Friedhöfe wurden vor Schaden geschützt und sie
besaßen eine gewisse Autonomie innerhalb der Gemeinden. Es ging so weit, dass
König Sigismund I. (1467-1548), nach der Verbreitung der Lüge vom Ritualmord der
Juden verordnete, die Juden müssten in seinem Reich keine markante Kleidung
anziehen und keine spezifischen Auszeichen tragen; die Ritualmordgerüchte wurden
strafbar. 18 Ein päpstlicher Legat meldete 1565:

14
Agnon, Samuel: Die Legende von der Ankunft. In: Das Buch von den polnischen Juden. Berlin 1916.
Zitiert in: Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1999, S.
19f.
15
Vgl. Brenner, Michael: Kleine jüdische Geschichte. C.H.Beck. München 2008, S. 151.
16
Das Satut von Kalisch wurde zur Grundlage aller Schutzverordnungen zugunsten der Juden. Siehe:
Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1999, S. 20.
17
Vgl. Brenner, S. 151-152.
18
Vgl. Brenner, S. 152.
9
In diesen Gebieten trifft man große Massen von Juden, die nicht so verachtet sind, wie
dies anderswo der Fall ist. Sie leben nicht in einem Zustand der Erniedrigung, und sie
sind auch nicht auf verächtliche Berufe beschränkt. Sie besitzen Land, sie beschäftigen
sich mit dem Handel, und sie studieren Medizin und Astronomie…Sie tragen kein
Unterscheidungszeichen, und man gestattet ihnen sogar das Tragen von Waffen. Kurz,
sie verfügen über alle Bürgerrechte. 19

Die Toleranz den Juden gegenüber stieß von Anfang an auf den starken Widerstand der
katholischen Kirche. In der Versammlung der Bischöfe in Breslau 1267 wurden die
räumliche Abtrennung zwischen christlicher Bevölkerung und Juden, das Tragen
besonderer Kleidung und das Benutzungsverbot der christlichen Bäder und Wirthäuser
gefordert. 20 Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Konflikt zwischen christlichen
Bürgern und Juden dadurch verschärft, dass das polnische Bürgertum einen sozialen
Aufstieg gemacht hat und der Adel, der häufig bei den Juden verschuldet war, eine
feindliche Stellung ihnen gegenüber einnahm. Somit setzte sich auch in Polen mit etwas
Verspätung die Verdrängung der Juden aus Gewerbe und Handel ein und sie wurden
aus den großen Städten wie Krakau und Warschau vertrieben. 21
Während des 16. Jahrhunderts gelang es den polnischen Königen, trotz starken
antijüdischen Tendenzen, die Position der Juden zu schützen, aber die wachsende
Macht der Adligen beschränkte mehr und mehr die Macht des Königshauses, sodass
König Sigismund I. den Adligen das Recht geben musste, über die Juden in ihrem
Territorium selber die Entscheidung zu treffen. Auch die Macht der Städte wurde
größer und die größeren Städte wie Warschau und Danzig nahmen keine Juden mehr
auf. 22
Trotz der zunehmenden Feindseligkeiten des Adels und der Christen gegenüber den
Juden, erfuhr die Situation der Juden im Inneren eine Umwandlung. Die Lubliner Union
von 1569, die auch Weißrussland, die Ukraine, Wolhynien, Podlachien und Podolien
umfasste, brachte gewisse soziale und finanzielle Sicherheit für die Juden. 23 Man
sprach sogar vom „Paradies der Juden“. 24 Es entstand ein Staat aus vielen
unterschiedlichen Nationen, Sprachen und Religionen. Das polnisch-litauische
Großreich hatte neben Ukrainern und Weißrussen auch größere Immigrantengemeinden
aus Italien und Deutschland angezogen. Es gab neben Katholiken in Polen auch

19
Haumann, S. 24-26.
20
Vgl. Brenner, S. 152.
21
Vgl. Brenner, S. 153.
22
Vgl. Brenner, S. 153.
23
Vgl. Raffel, Eva: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold
Zweig. Gunter Narr Verlag. Tübingen 2002, S. 10.
24
Döblin, Alfred: Reise in Polen. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2000, S.73.
10
Orthodoxe, Protestanten, muslimische Tataren und Juden, die in der Mitte des 17.
Jahrhunderts 3-5 Prozent der gesamten Bevölkerung und 20 Prozent der städtischen
Bevölkerung ausmachten, das heißt viel mehr als in anderen europäischen Ländern, wo
die Juden weniger als 1 Prozent der gesamten Bevölkerung stellten. Man schätzt zur
Mitte des 17. Jahrhunderts eine Anzahl von 300,000 Juden in Polen-Litauen, das heißt
es war die größte jüdische Gemeinde in ganz Europa. 25
Politisch hatte sich im 18. Jahrhundert eine Aufteilung Polens (die erste 1772, die
zweite 1793 und die dritte 1795) vollzogen, in der nun der bis dahin gewissermaßen
homogene jüdische Bereich in drei Teile geteilt wurde, und dessen weitere Entwicklung
sehr unterschiedlich verlief: in Preußen, Russland und Österreich. Mit der dritten
Aufteilung verschwand Polen für 123 Jahre von der politischen Karte Europas. Die
polnischen Juden kamen unter die Herrschaft von drei verschiedenen Staaten, sodass
sich ihre Situation in jedem Teil des ehemaligen Polens anders gestaltete. Die Gebiete,
in denen sich unzählige Schtetlech (jüdische Städtchen) befanden, nämlich Galizien und
die Bukowina, fielen dem habsburgischen Österreich zu, und der Großteil der
polnischen Juden, bei denen auch die typische Schtetlwelt zu finden war, die wir aus
zahlreichen Erzählungen kennen, fiel an das Zarenreich. In beiden Teilungsgebieten
herrschte düstere Armut und es gab Einschränkungen für die Juden im Bereich der
Eheschließung und Berufszulassung. 26
Während die christliche Bevölkerung größtenteils aus Bauern bestand und ein
ländliches Leben führte, bildeten die Juden mehr die städtische Bevölkerung und waren
in verschiedenen Bereichen des Handels tätig. Sie waren Pächter, Kreditgeber, Händler,
Hausierer, betrieben Geldgeschäfte, Schankwirtschaften und Pfandleihhäuser. 27 Die
jüdischen Pächter spielten die Rolle des Vermittlers zwischen zwei Fronten: zwischen
Bauern und Adeligen, zwischen Polen und Ukrainern. 28
Jedoch war die jüdische Gemeinschaft in Polen eine „Parallelgesellschaft“ 29 neben der
christlichen Bevölkerung. Nicht nur in Tracht und Tätigkeit waren die Juden anders als
die umgebende Gesellschaft, sondern auch in der Sprache. Sie bewahrten das
Mittelhochdeutsche und mischten es mit hebräischen und slawischen Elementen. Aus
dieser Mischung entstand das Jiddische, das zur Muttersprache der Juden in Osteuropa,

25
Vgl. Brenner, S. 153f.
26
Vgl. Klanska, Maria: Aus dem Schtetl in die Welt 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in
deutscher Sprache. Böhlau Verlag. Wien 1994, S. 48, und Chaim, Frank: Die Welt des Ostjudentums.
Polen. Auf: http://www.hagalil.com/galluth/polen/polen6.htm.
27
Vgl. Brenner, S.154.
28
Vgl. Brenner, S. 156.
29
Brenner, S. 154.
11
der so genannten Ostjuden, wurde. 30 Darüberhinaus hatten die Juden ihre eigenen
Rituale, ihre eigenen Feiertage, ihren eigenen Kalender und ihre eigenen Speisen. Im
Laufe der Zeit erlangten die Juden eine gewisse Autonomie und regelten die
Angelegenheiten des Alltagslebens und der Religionsgesetze selbst. 31
Neben allen diesen Trennungsfaktoren gab es viele Verbindungen zwischen Juden und
Christen in Polen. Sie teilten miteinander einen großen Teil der alltäglichen
Lebensweise: Kleidungsformen, Essen, Architektur und Baustil, Melodien der
Volkslieder und vor allem die Volksaberglauben. 32 Die polnischen Juden waren ein Teil
dieses Landes. Sie fühlten sich der Landschaft Polens wie auch ihrem König
verbunden; sie waren in vielen alltäglichen Bereichen mit ihrem christlichen Umfeld
mehr verbunden als mit den Juden in anderen Ländern. Diese Verbundenheit darf
jedoch nicht idealisiert werden, weil es, nach Michael Brenner in seinem neu
veröffentlichten Buch Kleine jüdische Geschichte, eine Tatsache ist, dass Juden und
Christen in Polen sich nicht immer besonders mochten und die religiösen Unterschiede
immer die Grundlage der ständigen Spannungen zwischen beiden blieben 33.

1.2 Pogrome: das Ende eines Traumes

Die ersten Vertreibungen waren schon in Gang; die erste Heimatlosigkeit der
polnischen Juden, die in Polen einen Ersatz für die Urheimat gefunden hatten. Das
goldene Zeitalter der polnischen Juden fand sein Ende erst, als der Kosakenaufstand im
Jahr 1648 ausgelöst wurde, in dem die russisch-orthodoxen Kosaken, die aus den
ukrainischen Gebieten stammten, unter der Führung von Hetman Bogdan Chmielnicki
gegen die polnischen katholischen adligen Grundbesitzer kämpften. Von diesem
blutigen Krieg waren die Juden am Meisten betroffen, weil die Bauern sie als
willfährige Arbeiter der adligen Oberschicht betrachteten. 34 Heiko Haumann schätzt die
Zahl der ermordeten Juden auf mindestens 100,000 bis 125,000. 35 Michael Brenner
zählt die wichtigsten Gründe für diesen Aufstand, der ungeheuere dramatische Folgen
für die Juden Osteuropas als Folge hatte, in folgenden Punkten auf:

30
Vgl. Brenner, S. 154f.
31
Vgl. Brenner, S. 154f.
32
Vgl. Brenner, S. 154f.
33
Vgl. Brenner, S. 156.
34
Vgl. Hilbrenner, Anke: Jüdische Geschichte. Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands
und Osteuropas. Universität Bonn 2007, S. 19. Auf:
epub.ub.unimuenchen.de/2055/1/Hilbrenner_JuedGeschichte.pdf.
35
Vgl. Haumann, S. 40.
12
Auf nationaler Ebene bedeutete er die Erhebung gegen das polnische Großreich, auf
sozialer den Kampf der Bauern gegen die Großgrundbesitzer und auf religiöser den
Widerstand der griechisch- orthodoxen Kirche gegen die Dominanz der römisch-
katholischen. Die Juden waren nicht nur aufgrund ihrer religiösen und ethnischen
Außenseiterposition als Zielscheibe in diesen Kampf miteinbezogen, sondern auch als
wirtschaftliche Sündenböcke. Die ukrainischen Bauern kannten zumeist gar nicht die
eigentlichen Landbesitzer, sondern hatten es nur mit ihren jüdischen Mittelsmännern zu
tun, gegen die sich ihr ganzer Hass richtete. 36

Es handelte sich um die blutigsten antijüdischen Pogrome vor dem 20. Jahrhundert; die
zeitgenössischen Berichte bezeichnen sie als „die Dritte Zerstörung“ 37 (nach den
Zerstörungen beider Tempel in Jerusalem).
Ab diesem Zeitpunkt hat sich die traditionelle Richtung der jüdischen Wanderung, die
bisher von Westen in den Osten gewesen war, umgekehrt. 38 Sie flüchteten aus Polen in
die deutschen Städte, nach Amsterdam und ins Osmanische Reich. 39 Das Leben der
Ostjuden war nach diesen Gewalttaten in Unsicherheit und feindliche Konflikte geraten,
und obwohl die Wunden, die durch dieses Massaker verursacht wurden,
erstaunlicherweise sehr schnell heilten und die Juden sich in Polen langsam wieder
vermehrten, fingen dennoch die schlimmsten Ausplünderungen und Ermordungen des
Jahrhunderts erst nach diesem Geschehnis an. 40 Von großer Bedeutung für die
ostjüdische Geschichte in der Moderne waren die russischen Pogrome von 1881-1884,
in denen die Ermordung des Zaren Alexander II. als Vorwand benutzt und die Schuld
daran auf die Juden übertragen wurde; sie machten den Juden die Unmöglichkeit eines
Weiterlebens im Zarenreich klar. Das war der Höhepunkt der Flucht der Ostjuden nach
Westen. 41 Die „Sündenböcke“ und „Parasiten“, die nach Haumann „mit ihrem
religiösen Fanatismus und ihrer wucherisch-verschlagenen Ausbeutungen der
nichtjüdischen Bevölkerung“ diese Reaktion provoziert hätten, sollten aus dem Weg
geschafft werden. 42 Die Welle von Pogromen dieser Jahre waren die Anfänge eines
Pogromzeitalters in Osteuropa: der Kišinever Pogrom im Jahr 1903; 1904 wurden die
Juden von Gomel zu Opfern und die jüdische Bevölkerung wurde misshandelt und ihre
ganze Habe geplündert; die Oktoberpogrome im Jahr 1905 und schließlich hat der erste
Weltkrieg die Katastrophe für die Ostjuden ausgelöst; letztlich besiegelte das Jahr 1918

36
Brenner , S. 156f.
37
Brenner, S. 156f.
38
Vgl. Netzer, Schlomo: Wanderungen der Juden und Neusiedlungen in Osteuuropa. In: Michael Brocke
(Hrsg.): Beter und Rebellen. 1000 Jahre Judentum in Polen. Deutscher Koordinierungsrat der
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Frankfurt a.M. 1983, S.48.
39
Vgl. Brenner, S. 157.
40
Vgl. Haumann, S. 40-88.
41
Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl, S. 50.
42
Vgl. Haumann, S. 85-86.
13
das Ende der Existenz des Ostjudentums als eine Realität, das Ende der ostjüdischen
Bevölkerung und Kultur. 43

1.3 Chassidismus: Die spirituelle Stütze

Diese mystische Strömung, deren Prägung im Großteil der Romane Joseph Roths
spürbar ist, beeinflusst den Geist seines Hiob-Romans am stärksten. Hiob ist voll von
chassidischen Lehren. Die innerliche Heimat des Protagonisten, sein Glaube, beruht auf
diesen Lehren. Die Spiritualität des Buches ist chassidisch. Daher sollte der
Chassidismus an dieser Stelle als Folge der Pogrome näher untersucht werden.
Politische Unsicherheit und tiefverwurzelter Antisemitismus nahmen mit der Zeit zu
und erschwerten zunehmend Leben und den Handel für die jüdische Bevölkerung. 44 In
dieser Atmosphäre der Unsicherheit und Verelendung wandten sich die Juden verstärkt
- in ihrem Streben nach einem religiösen Sinn für die ganzen grauenvollen
Geschehnisse - den mystischen Strömungen zu und erwarteten, dass nun die richtige
Zeit gekommen sei, dass Gott ihnen den Messias entsende. 45 Die Erwartung des
Erscheinens des Messias auf der Erde steigerte sich so stark, dass Gerüchte aufkamen,
dass ER schon auf der Erde weile. 46 Gestalten wie Sabbatai Zwi und Jakob Frank 47
konnten kurzfristig einen großen Kreis von Anhängern anziehen, aber keine dieser
Strömungen erreichte die starke Anziehungskraft und Ausstrahlung des Chassidismus. 48
Von Israel ben Elieser, der den Ehrennamen Baal Schem Tow, abgekürzt Bescht,
erhielt - das heißt Meister des guten Namens, des Namens Gottes - ins Leben gerufen,
eroberte der Chassidismus, der sich durch ihn und seine Anhängerschaft in Polen

43
Vgl. Karady, Victor: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Fischer.
Frankfurt a.M. 1999, S. 98-107.
44
Vgl. Raffel, S. 10.
45
Vgl. Raffel, S. 10.
46
Vgl. Haumann, S. 49.
47
Sabbatai Zwi (1626-1676) erklärte sich selbst zu Messias, ernannte zwölf Apostel und bestimmte den
18. Juni 1666 zum Tag der Erlösung. In Konstantinopel wurde er von den osmanischen Behörden
verhaftet und vor die Wahl gestellt, entweder zum Islam überzutreten oder hingerichtet zu werden. Er
wählte den Wechsel der Religion, um seine Anhängerschaft zu schützen. Von Smyrna (heute Izmir) aus
griff das messianische Fieber auf Europa über.
Jakub Lejbowicz Frank (1726-1791) ernannte sich zum Messias und Nachfolger des Sabbatai Zwi. Er
wirkte hauptsächlich in Podolien und Galizien. Im Juli 1756 wurde in Brody über ihn der Bann verhängt.
Er konvertierte mit seinen Anhängern 1759 zum Christentum. ( Zu Sabbatai Zewi und Jakob Frank:
Gershom Scholem: Sabbatianismus und mystische Häresie. In: Die jüdische Mystik. Suhrkamp. Frankfurt
a. M. 1980. S. 315-355).
48
Chassidim sind die „Frommen“, Siehe: Brenner, S. 159.
14
entfaltete, große Teile des russisch- polnischen Judentums. 49 Er schuf mit dem
Chassidismus eine Massenbewegung, die eine große Herausforderung für die
Orthodoxen Juden war, die nur auf den Talmud fixiert waren. 50 Nach Eliesers
Überzeugung, deren Grundprinzipien von Haumann hervorgehoben werden, „gab es
keinen Raum für das Böse; es sei lediglich eine falsche Erkenntnis oder eine
Nichterkenntnis der Gottheit. […] Wer auch im Bösen die Gottheit erkenne, bringe es
doch noch zum Guten“ 51. Damit konnte jedermann Hoffnung haben auf persönliche
Läuterung. Man sollte sich bemühen, nur Gutes zu tun. Auf irgendeine mystische
Weise ist der Mensch in Liebe zu Gott immer mit ihm verbunden, auch und gerade im
Alltag. Deshalb sollte man das Vergnügen an Gott im Diesseits finden und nicht in der
Abwendung von der Welt. 52 Daher kann man von einer lebensbejahenden Frömmigkeit
im Chassidismus Beschets sprechen, zu der Tanzen, Singen, Fröhlichkeit und Ekstase
gehören. 53 Maria Klanska schreibt:

Die chassidische Lehre wandte sich gegen die Selbstgefälligkeit der Rabbiner, indem
das bescheidene, reine und Gott freudig dienende Herz viel höher als Gelehrsamkeit
eingeschätzt wurde, und es betont wurde, dass der Gottesdienst das ganze menschliche
Leben umfassen und heiligen soll. 54

Nach Haumann sei im Chassidismus großer Wert „auf die Selbstfindung und
Selbsterkenntnis des Einzelnen“ gelegt worden, „in Übereinstimmung mit Umwelt,
Geschichte und Gott“. 55 Es ist sehr beachtenswert, dass die Grundprinzipien des
Chassidismus wie eine Brise über die Atmosphäre des Hiob-Romans wehen und dem
Protagonisten einen innerlichen Halt im Leben, eine innerliche Heimat bieten; und das
ist genau, was die ursprünglichen Chassidim beabsichtigten: den heimatlosen Ostjuden
einen Heimatersatz auf der spirituellen Ebene zu schenken. Die Lehre des
Chassidismus wurde nach dem Tod Beschets von seinem Nachfolger weiter entwickelt,
aber sie löste heftigen Widerstand in den traditionellen jüdischen Kreisen bzw. unter
den Talmudisten aus, und die größten rabbinischen Autoritäten waren in vorderster
Front gegen den charismatischen Einfluss der chassidischen Rabbiner in den
Gemeinden. 56 Es ging bei diesem Konflikt um die Macht und Vorherrschaft in den
jüdischen Gemeinden. Brenner meint, dass dieser Kampf eine geographische

49
Vgl. Raffel, S. 10f.
50
Vgl. Brenner, S. 160.
51
Haumann, S. 54.
52
Vgl. Haumann, S. 54.
53
Vgl. Brenner, S. 160.
54
Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 46f.
55
Haumann, S. 54.
56
Vgl. Brenner, S. 160f.
15
Aufteilung mit sich brachte: „Die Chassidim behielten in den ärmeren und weniger
durch Gelehrsamkeit geprägten Gegenden des Ostens (Podolien, Wolhynien) und
Südens (Galizien, Ungarn) die Oberhand, die ‚Mitnagdim’ 57 dagegen in den
Hochburgen der Gelehrsamkeit, in Wilna und den übrigen nördlichen Gegenden in
Litauen und Weißrussland“. 58
Der Chassidismus stieß auf starke Resonanz, weil er sich auf die Lebenswelt des
Menschen bezog. Klanska beschreibt es folgendermaßen: „Der Chassidimus sagte den
Bedürfnissen des unterdrückten Volkes zu, in dem er den Frommen zwar keine
Veränderung der bestehenden Verhältnisse anbot, jedoch durch seine psychologische
Wirkung sie ihr Elend vergessen ließ“ 59. Er forderte weder Traurigkeit noch Askese,
weder Sühne noch persönliche Erniedrigung. Er basierte auf Fröhlichkeit und
Frömmigkeit, Liebe und Brüderlichkeit. 60 In der damaligen schwierigen Lage der
Juden, in der Krise des Judeseins, in der die alten Werte nicht mehr gültig waren, hatte
der Chassidismus eine außerordentlich wichtige Bedeutung. „Das Wunder bestand
darin, dass der Jude plötzlich die Lust und die Kraft zum Singen hatte, während der
Himmel sich mit blutroten Wolken bedeckte, die Gefahr sich immer deutlicher zeigte,
immer rascher heranzog“. 61

1.4 Die Identität der Ostjuden

Eva Raffel definiert die Ostjuden folgendermaßen: „Zwischen messianischer


Endzeiterwartung und frommer, lebensbejahender Einrichtung in einer Welt, die nicht
zu ändern war, formte sich im 18. Jahrhundert der Typus des ‚Ostjuden’ als ein ‚in sich
abgeschloßene Kulturpersönlichkeit’“. 62 Der Begriff Ostjude entstand allerdings viel
später, im 19. Jahrhundert und setzte sich erst im 20. Jahrhundert durch. Der Begriff
wurde von Nathan Birnbaum 63 zum ersten Mal 1897 auf dem ersten Zionistenkongress
in Basel 64 verwendet; daher gilt er als Schöpfer dieses Begriffs. 65 Ost und West sind in

57
Hebräisches Wort für Gegner, Siehe: Brenner, S. 161.
58
Vgl. Brenner, S. 160- 162.
59
Klanska, Ma: Aus dem Schtetl, S. 46.
60
Vgl. Haumann, S. 57.
61
Wiesel, Elie: Chassidische Feier. Geschichte und Legende. Herder Verlag. Freiburg 1988, S. 190.
62
Raffel, S. 12.
63
Nathan Birnbaum (1864-1937), der Erfinder des Begrifees „Zionismus“ und ein Nationaljude, der vor
der Gefahr der Assimilation warnte und das jüdische Problem politisch lösen wollte; ein Kulturzionist,
der das Leben der Juden in Diaspora durch Erziehung und Bildung verbessern wollte. Siehe: Raffel, S. 12
Fußnote 10.
64
Er fand vom 29. bis 31. August 1897 statt. Siehe: Haumann, S. 58 Fußnote 21.
16
diesem Zusammenhang keine rein geographischen Begriffe. Es handelt sich vielmehr,
wie Anke Hilbrenner es in ihrem Artikel über die Ostjuden präzise ausdrückt, um
„dichotomische Metaphern, normative Wahrnehmungskategorien, in denen den
historischen Subjekten durch Abgrenzung von jeweils anderen eine Selbstdefinition
ermöglicht wird“. 66 Dies gilt für beide Begriffe Ostjude und Westjude. Während die
Bezeichnung Ostjude in unserer Sprache Eingang gefunden hat, wurde die Bezeichnung
Westjude sehr selten verwendet. Erst nach der Migration der Juden aus Osteuropa in den
Westen und dem damit verbundenen westlichen Blick wurde Ostjude zur Bezeichnung
für osteuropäische Juden. 67 Der westliche Blick auf die Ostjuden, der vom
Fortschrittsgedanken geprägt war, schrieb diesen häufig aus
68
modernisierungstheoretischer Perspektive eine Rückständigkeit zu. Der Fall der
‚Ostjuden’ wurde aus westlichem Blick bezüglich eines zivilisatorischen
Entwicklungsprozesses als „spezifische eigene Form mit eigenen Charakteristika
wahrgenommen“. 69 Die abwertende Bezeichnung Ostjude gehört zum
Fortschrittsdenken der westlichen Moderne: die den Ostjuden Zugeordneten hatten ihre
eigene Kultur, aber diese Kultur, wie Nathan Birnbaum es in einer seiner Schriften
beschreibt, war keine fortschreitende Kultur; sie hat keine Entwicklung durchgemacht.
Die Ostjuden waren in religiösem Fanatismus verhaftet, konnten sich nicht aus dem
Zwang der Tradition lösen. 70 In diesem Sinne können wir uns auf Haumanns
Beschreibung der Ostjuden beziehen:

Bei einem Ostjuden handelt es sich um einen Menschen, der sich bewusst zum
Judentum bekennt, dessen Verständnis sich ihm in schweren Konflikten erschlossen hat.
Tradition und Erinnerung üben dabei prägende Wirkung aus, ohne dass der Ostjude
deshalb unbedingt konservativ eingestellt sein muss. Zwar kleidet sich der Ostjude in
der Regel in eigener Tracht und lebt nach streng befolgten religiösen Gesetzen,
überlieferten Sitten und Ritualen, doch Ausnahmen bilden keineswegs nur eine
Randerscheinung. 71

Die Vorstellung von Rückständigkeit der Ostjuden aus dem Blickwinkel der
westeuropäischen Juden wurde mit großer Selbstverständlichkeit auf russische,
polnische, galizische und rumänische Juden übertragen, bis auch diese sich selbst auf

65
Vgl. Haumann, S. 58.
66
Hilbrenner, S. 3.
67
Vgl. Hilbrenner, S. 4.
68
Vgl. Hilbrenner, S. 4.
69
Hilbrenner, S. 4.
70
Vgl. Birnbaum, Nathan: Der Zionismus als Kulturbewegung (1897). In: Die jüdische Moderne. Öl-
Baum- Verlag. Augsburg 1989, S. 86.
71
Haumann, S. 58.
17
einer niedrigeren Stufe in der Fortschrittshierarchie wahrnahmen. 72 Somit ist die
Betonung Haumanns richtig, wenn er schreibt, der Begriff Ostjude sei aus dem
innerjüdischen Sprachgebrauch entstanden. 73
An dieser Stelle muss man hervorheben, dass die Ostjuden praktisch zum Objekt einer
Wahrnehmung aus westlicher Perspektive wurden. Die Lebenswelten der Ostjuden
wurden in den ethnologischen Studien und der Literatur im nostalgischen Sinne, wie es
von Dan Miron in seinem Artikel „The literary Image of the Shtetl“ ausgedrückt wurde,
„romantisierend kolonialisiert“. 74 Hilbrenner ist der Auffassung, dass erst „aus der
pejorativen Bezeichnung heraus […] die Umdeutung des Begriffs Ostjuden durch die
osteuropäischen Juden selbst [entstand], die sich damit ihrerseits von Westjuden
abzugrenzen suchten“. 75
Jedenfalls gehörten zu dieser Kategorisierung verschiedene Elemente - neben der
äußerlichen Erscheinung - die bei der Herausbildung dieses Begriffes geholfen haben,
von denen das wichtigste die Mittlerfunktion der Juden in Osteuropa ist. Die
Herausbildung der ostjüdischen Kategorie wurde sozial und wirtschaftlich stark
erleichtert dadurch, dass die traditionelle Rolle der Juden in sozialen und ökonomischen
Verhältnissen einen Höhepunkt erreicht hatte: die Mittlerfunktion zwischen Land und
Stadt. 76 Gerade in der Aufbauphase nach den Kriegen, Ausplünderungen und
Verwüstungen waren die polnischen Juden, nach Haumann, „unersetzlich als Händler
zwischen Adel, Bauern und Städtern, als ‚Dorfgeher’ - also Hausierer-, als Geldgeber,
als Geschäftsabwickler für Adlige wie für Bauern, als Pächter und Verwalter der
Adelsgüter, als Pächter der adligen Schankwirtschaften“. 77 Der Lebensraum dieser
Vermittler war das abgesonderte Kleinstädtchen in Osteuropa, nämlich das Schtetl.

1.5 Das Schtetl

Häufige Schauplätze der Rothschen Romane sind die in Galizien und Russland von
Ostjuden bewohnten Schtetlech. Wenn man von ‚Heimat’ in Joseph Roths Werk spricht,
meint man oft diesen Ort, das Schtetl, wo die menschlichen und emotionalen
Begegnungen stattfinden, nach denen sich die Protagonisten immer sehnen. Auch

72
Vgl. Hilbrenner, S. 4.
73
Vgl. Haumann, 58.
74
Miron, Dan: The Literary Image of the Schtetl. In: jewish social studies. Nr. 1 (1995), Heft 3, S. 1-43.
Zitiert in Hilbrenner, S. 4.
75
Hilbrenner, S. 4.
76
Vgl. Haumann, S. 59.
77
Haumann, S. 59.
18
Mendel Singer, der moderne Hiob, ist ein Ostjude aus einem kleinen russischen Schtetl.
Um ein Bild von der Rothschen Heimat erlangen zu können, muss man zunächst
wissen, was für ein Ort diese Schtetlech waren.
Wenn man an Schtetl denkt, erscheint ein Bild vor dem inneren Auge, ein Bild, dem
man in der Chagallschen Malerei oft begegnet: kleine, krumme Gässchen, baufällige
Häuser und schwarz gekleidete Juden mit schwarzen Mützen und schwarzem Bart.
Das Wort Schtetl - in Deutschland meistens auch noch ‚Städtl’ ausgesprochen - ist die
Verkleinerungsform des jiddischen Wortes Schtot‚ Stadt’. 78 Joseph Roths Schilderung
des ostjüdischen Schtetl in seinem Essay Juden auf Wanderschaft gibt dem Leser ein
literarisches Bild von diesem Phänomen:

Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem
Fluß begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit
ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen. Eine läuft von
Süden nach Norden, die andere von Osten nach Westen. Im Kreuzungspunkt liegt der
Marktplatz. Am äußersten Ende der Nord-Süd-Straße liegt der Bahnhof. Einmal im Tag
kommt ein Personenzug. Einmal im Tag fährt ein Personenzug ab. Dennoch haben viele
Leute den ganzen Tag am Bahnhof zu tun. […] Die Stadt hat 18000 Einwohner, von
denen 15000 Juden sind. […] Die Stadt hat zwei Kirchen, eine Synagoge und etwa 40
kleine Bethäuser. Die Juden beten täglich dreimal. Sie müssten sechsmal den Weg zur
Synagoge und nach Hause oder in den Laden zurücklegen, wenn sie nicht so viele
Bethäuser hätten, in denen man übrigens nicht nur betet, sondern auch jüdische
Wissenschaft lernt. 79

Maria Klanska beschreibt das Schtetl folgendermaßen:

Die jüdischen Schtetlech befanden sich inmitten slawischer Länderstriche. Ringsum


lebten in den Dörfern polnische, ukrainische, weißrussische, litauische oder russische
Bauern, je nachdem, wo das Schtetl lag. Auch die Schtetlech waren nicht ausschließlich
von Juden bewohnt. In manchen von ihnen bildeten die Juden die
Bevölkerungsmehrheit, in anderen waren sie nur eine starke Minorität. In großen
Städten lebten sie meistens in eigenen Ghettos, besonderen Stadtvierteln oder Gassen,
die ihnen im Mittelalter zugewiesen worden waren. 80

Also die Schtetlech sind - im wahren Sinne - die jüdischen Zentren in einer
nichtjüdischen, oft bäuerlichen Umgebung in Osteuropa, wo das Vielvölkerexperiment
im engsten Sinne des Wortes vergleichsweise harmonisch ablief. 81 Wie es von Frank
Golczewski in seinem Artikel „Jüdische Welten in Osteuropa?“ ausgedrückt wurde, ist
das Schtetl „eine scheinbar irgendwie heimelige kleine Oase gläubiger Frömmigkeiten

78
Vgl. Hoffman, Eva: Im Schtetl. Die Welt der polnischen Juden. Zsolnay-Verlag. Wien 2000, S. 24.
79
Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei
Bänden. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956, S. 639f. Weiter: Juden.
80
Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 200.
81
Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 200.
19
in einem Umland von rohen Bauern und in Nachbarschaft von üblen Antisemiten“ 82.
Wladimir Oks schildert das Leben im Schtetl in der Ukraine und im Russland
folgendermaßen: „ […] das Städtl, ist nicht nur einfach eine Kleinstadt mit größtenteils
jüdischer Bevölkerung: sie ist mehr als ein Wohnort, sie ist eine Lebensform“ 83.
Der Topos des Schtetls umfasst das typische osteuropäische Milieu und basiert auf der
Einheit verschiedener Gruppierungen. Schon sehr früh kannte man die jüdischen
Händler, Hausierer, Kaufleute, Handwerker, Vermittler, höfischen Ratgeber und vor
allem „Luftmenschen“ 84, was für viele den Hauch von „Lebenskünstler“ hat. Das
geistige Leben spielte in diesem Milieu die zentrale Rolle: es gab Chassiden,
Orthodoxjuden und Freidenker, reiche Industrielle, assimilierte Künstler, jiddisch
schreibende Schriftsteller und Dichter. 85 Die Wichtigkeit des geistigen Lebens äußert
sich z.B. in den Bildungsinstitutionen: Tora, Talmud, Cheder und Jeshiva. 86 Weise
Rabbiner leiten diese Gemeinschaft, geben für alle möglichen Gelegenheiten Ratschläge
und sprechen Recht. 87 Simon Dubnow (1860-1941), der große Historiker des
Judentums, der selber aus der ostjüdischen Tradition stammt, schildert diese Form von
einseitiger religiöser Bildung mit treffenden Worten: „In diesem Jahrhundert lebte im
russischen Reich ein drei Millionen starkes Volk, in dem sämtliche Kinder männlichen
Geschlechts zu Theologen erzogen wurden“. 88
Eingewurzelt in das osteuropäische Bauernland hatte das Schtetl bis zum Ende seiner
Existenz (1918) seinen stark traditionellen und religiösen Charakter bewahrt. Das
Wichtigste für die Ordnungsbestimmung der alltäglichen Rituale war die Frömmigkeit
und an diesen täglichen Ritualen beteiligte sich jeder. 89 Man kann im wahrsten Sinne
von einer realen Gemeinschaft sprechen, die die Hauptcharakteristika einer
Gemeinschaft beinhaltete, wie Hofmann es formulierte: „klein, eng verknüpft,

82
Golczewski, Frank: Jüdische Welten in Osteuropa? In: Annelore Engel-Braunschmidt & Eckhard
Hübner (Hrsg.): Jüdische Welten in Osteuropa. Lang. Frankfurt a. M. 2005, S. 13-28, hier S. 13.
83
Oks, Wladimir: Die Welt des jüdischen Städtls. In: Rita Ostrowkaja (Hrsg.): Juden in der Ukraine.
Ostfildern 1996, S. 162-170. Zitiert in: Hilbrenner, S.13.
84
Menschen, die aus Armut von Luft leben. Siehe: Schwara, Desanka: Luftmenschen – ein Leben in
Armut. In: Heiko Haumann (Hrsg.): Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer
Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Böhlau. Wien 2003, S. 91.
85
Vgl. Hofmann, Eva, S. 24.
86
Vgl. Hilbrenner, S. 13.
87
Vgl. Golczewski, S. 13.
88
Dubnow, Simon: Buch des Lebens. Materialien zu einer Geschichte meiner Zeit. Erinnerungen und
Gedanken. Zitiert in: Hilbrenner, S. 13.
89
Vgl. Hoffman, S. 25.
20
beruhigend vertraut. In diesen ländlichen Enklaven brauchte niemand unter dem
modernen Unbehagen zu leiden, sich unsicher und nicht zugehörig zu fühlen“. 90
Es herrschte in den osteuropäischen Schtetlech ungeheure Armut, die sich Tag für Tag
vermehrte und ausbreitete. Die wohlhabenden Juden lebten in den großen Städten und
blickten auf die in den Schtetlech verarmenden Juden verachtend herab. Die Schtetl-
Juden waren, ihrer Meinung nach, die „Draußigen“, die mit den Bauern verbunden
waren. 91 Die Armut wurde im Laufe der Zeit größer, weil, nach Haumann, „der
Austausch zwischen Stadt und Land im Zuge der allgemeinen wirtschaftlichen
Entwicklung immer weniger Gewinn abwarf“. 92
Das Einzige, was den Juden in den Schtetlech, trotz ihrer maßlosen Armut, bewusst
war, war ihr Jüdischsein, sodass sie zwar kaum etwas zum Anziehen hatten, aber Stolz
auf ihr Judentum waren und sich glücklich und wohl fühlten, an jedem Ort, wo sie
lebten. 93
Erst nach der Vernichtung dieser Welt wurde sie zu einem wichtigen Motiv in der
Literatur und im Gedächtnis der Menschen. In der Nachkriegszeit assoziiert man mit
dem Schtetl einen verloren gegangenen Ort; es ist zum Inbegriff des Verlustes
geworden, wie es in Joseph Roths Hiob der Fall ist. 94 Für manche, die das Leben im
Schtetl nicht erlebt hatten, bedeutet das Schtetl den einzigen Ort jüdischer Authentizität,
die sich entweder in Leid oder in Geistigkeit verkörperte; für manche spiegelt das Wort
Schtetl „herzwärmende“ Bilder von herumlaufenden Menschen im schwarzen Gewand,
oder enge krumme Gässchen, wie in Gemälden von Chagall, wieder, und letztendlich ist
das Schtetl für manche Anderen eine bittere Assoziation mit den Pogromen und
Ausplünderungen. 95 Für Roth, der selber in seiner Kindheit das Leben im Schtetl erlebt
hatte, und es in seiner Jugendzeit verleugnete, war das ostjüdische Städtchen - ab einem
gewissen Zeitpunkt - die Verkörperung seiner Sehsüchte, der vergangenen Welt mit
ihren verlorengegangenen menschlichen Werten.
Jedenfalls muss man darauf achten, dass das Schtetl in Wahrheit weder eine Utopie
noch eine Dystopie darstellt. Es war, wie Eva Hoffman lakonisch feststellt, ein
„kohärentes, sonderbares und überraschend widerstandsfähiges soziales Gebilde“. 96

90
Hoffman, S. 25.
91
Vgl. Haumann, S. 61.
92
Haumann, S. 61.
93
Vgl. Haumann, S. 61.
94
Vgl. Haumann, S. 24.
95
Vgl. Haumann, S. 24.
96
Hofmann, S. 25.
21
Die Schtetlech wurden nach ihrer Vernichtung, durch die Literatur und in ihr, oft stark
idealisiert. In den Darstellungen der Autoren - gleichermaßen Jiddischschreibenden und
Nicht-Jiddischschreibenden - wie Mendele Moicher Sforim, Scholem Aleichem, Manés
Sperber, Alexander Garnach, Joseph Roth oder die Dichterin Rose Ausländer, wird ein
idealisiertes Bild von den osteuropäischen Schtetlech wiedergegeben. Die Schauplätze
vieler Romane und Erzählungen sind russische, polnische und ukrainische Schtetlech.
Das Schtetl war zu einer Sehnsucht geworden nach allen Werten und Schönheiten,
Gebundenheiten und Geborgenheiten, die verloren gegangen und nicht mehr
wiederbringbar waren: „Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein“ 97;
nach einem vollkommenen Verständnis, einer Einheit, trotz aller Verschiedenheiten:
„[…] Vier Sprachen/ Vier Sprachenlieder/ Menschen/ die sich verstehen“ 98; Sehnsucht
nach einer Heimat, nach der unschuldigen, geborgenen Welt der Kindheit, die nicht
mehr zu finden war.

1.6 Die wichtigste kulturelle Bewegung im Judentum

1.6.1 Haskala

Es soll an dieser Stelle im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Haskala-Bewegung, die
als wesentlichste kulturelle Strömung innerhalb des Judentums wahrgenommen wird,
kurz untersucht werden. Denn die spätere Assimilationsbewegung, die eine zentrale
Rolle in Roths Hiob-Roman spielt, und die vom Autor selbst als Hauptgrund für den
Zerfall der jüdischen Tradition und ostjüdischen Heimat betrachtet wurde, nimmt ihre
Grundlagen aus dieser früheren jüdischen Bewegung, nämlich Haskala.
Haskala ( ) entstammt der hebräischen Wortwurzel (Sakal), woraus unter
anderem das Wort Sechel (Verstand) abgeleitet wird. 99 Haskala bedeutet Bildung,
98F

Aufklärung und bezeichnet insbesondere die jüdische Aufklärung in der Zeit von 1770
bis 1880. 100 Die Haskalaströmung ist zum Verständnis der ostjüdischen Situation im 19.
9F

Jahrhundert von großer Bedeutung. Die jüdische Aufklärungsbewegung begann unter


dem Einfluss der europäischen Aufklärung innerhalb der deutschen Juden. Die

97
Ausländer, Rose: Czernowitz. In: Ulf Diedrerichs (Hrsg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdischen
Geschichten. Germania Judaica. München 1988, S. 33.
98
Ausländer, Rose: Bukowina III. In: Cilly Helfrich: Rose Ausländer. Biographie. Pendo Pocket. Zürich
1998, S. 16.
99
Vgl. Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch. Springer-Verlag.
Berlin/Göttingen/Heidelberg 1962, S.786.
100
Vgl. Ben- Sasson, Haim Hillel: Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur
Gegenwart. C.H.Beck. München 2007, S. 957.
22
Besonderheit der jüdischen Aufklärung bestand darin, dass sie sich parallel zu der
kulturellen und sozialen Integration der Juden in ihrer Umgebung entwickelte. 101 Dank
der allmählichen Aufhebung der besonderen Judengesetze konnte die Integration der
Juden in die christliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert große Fortschritte machen.
Diese Entwicklung wäre nicht zustande gekommen, wenn die Juden selbst keinen
Beitrag dazu geleistet hätten. Das Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich durch die
Aufklärung des europäischen Judentums aus, die sich die Verbesserung der
bürgerlichen Gesetze für die Juden zum Ziel setzte. 102 Die Haskalavertreter, „Maskilim“
(Verständige, Unterweiser) waren der Auffassung, dass die weltliche (säkulare)
Bildung, das Erlernen der europäischen Sprachen, insbesondere des Deutschen, der
Verzicht auf das traditionelle Erscheinungsbild in der Gesellschaft, besonders auf die
Gewänder und andere Äußerlichkeiten, die die Merkmale des Judenseins bedeuteten,
den Weg der Juden in die christliche Gesellschaft öffnen können und die christliche
Bevölkerung sie akzeptieren wird. 103 Der geistige Vater der Maskilim war der große,
angesehene Philosoph Moses Mendelssohn (1729-86). Er war der Sohn eines
Torarollenschreibers aus Dessau und schon früh zeigte sich seine außergewöhnliche
Begabung für die mittelalterliche jüdische Philosophie. Als er nach Berlin übersiedelte,
widmete er sich vollkommen der deutschen Literatur und dem Erlernen der lateinischen
und anderer europäischen Sprachen. 104 Mitte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts
lernte er Lessing kennen und unter dessen starkem Einfluss fand er seinen Weg zum
Kreis der deutschen Aufklärer. 105 Mendelssohn wollte im Judentum unter dem Einfluss
der Aufklärung die treue Einhaltung der religiösen Gesetze mit religiöser Toleranz und
Meinungsfreiheit verbinden. 106
Mendelssohn war der Auffassung, dass die deutschen Juden ein Teil der deutschen
Gesellschaft und Kultur werden müssten und zu diesem Zweck die deutsche Sprache
beherrschen sollten. Die jiddische Sprache betrachtete er als Jargon und lehnte sie ab. 107
1778 begann er, das Pentateuch und andere Teile der hebräischen Bibel ins
Hochdeutsche mit hebräischem Kommentar auf rationalistischer Basis zu übersetzen

101
Vgl. Ben-Sasson, S. 957.
102
Vgl. Bogojavlenska, Svetlana: Jüdische Aufklärung und Integration der Juden in die Gessellschaft. In:
Annelore Engel- Braunschmidt & Eckhard Hübner (Hrsg.): Jüdische Welten in Osteuropa. Lang.
Frankfurt a. M. 2005, S. 127.
103
Vgl. Bogojavlenska, S. 127.
104
Vgl. Ben-Sasson, S. 958.
105
Vgl. Ben-Sasson, S. 958.
106
Vgl. Ben-Sasson, S. 958.
107
Vgl. Brenner, S. 180.
23
(Biur). 108 Da dieses Projekt für viele junge Juden zu einem Schnellkurs in deutscher
Sprache wurde, warfen die Konservativen Mendelssohn vor, er habe die heilige Schrift
als Lehrbuch für die deutsche Sprache entweiht. 109
Es gab nun zum ersten Mal eine Bewegung innerhalb des Judentums, die sich dafür
engagiert hat die jüdische Gesellschaft zu modernisieren und im Rahmen der Gesetze zu
integrieren. Um das zu erreichen, mussten Erziehungsinstitutionen und Presseorgane
geschaffen werden. 110 Der Hauptzweck war, den weltlichen Studien und
Wissenschaften ebensoviel Bedeutung zuzumessen wie der Bibellehre, ja sogar den
ersteren größeren Wert beizulegen. 111
Andererseits nahmen einige Maskilim die christliche Religion an und gaben ihr
Judentum auf. Das war die vollkommene Säkularisierung. Die anderen engagierten sich
für ein reformiertes Judentum, in dem sie sich an die europäische Gesellschaft angepasst
haben. Diese Anpassung zeigte sich in den Lebensformen und im Verzicht auf die
religiösen Gebote und Verbote: in den Speisegeboten, die keine große Rolle mehr
spielten; in der Aufhebung des Mischeheverbots; in der Beschränkung der Autorität der
Rabbiner auf geistige Funktionen und Benutzung der deutschen Sprache im
Gottesdienst neben dem Hebräischen als sakrale Sprache des Judentums. 112 In
Deutschland verbreitete sich diese Reformbewegung innerhalb der jüdischen
Gesellschaft schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts und kam dann mit den Anhängern
der jüdischen Aufklärung nach Osteuropa. 113

1.6.2 Haskala in Osteuropa

Im Osten kommt die Haskala wesentlich langsamer voran. Dort war nicht nur die starke
Orthodoxie, sondern auch der ausgesprochen lebhafte Chassidismus in viellen Gruppen
und Schulen gegen die Aufklärungsbewegung. 114 Es gab zwischen West und Ost, in
diesem Zusammenhang, eine lange Sprach- und Religionsmauer. Was die beiden

108
Vgl. Brenner, S. 180.
109
Vgl. Ben-Sasson, S. 959.
110
Vgl. Brenner, S. 182.
111
Vgl. Ben-Sasson, S. 962.
112
Vgl. Bogojavlenska, S. 128.
113
Vgl. Bogojavlenska, S. 128.
114
Vgl. Bayerdörfer, Hans- Peter: Das Bild des Ostjuden in der Literatur. In: Herbert A. Strauss und
Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. Deutscher Taschenbuch Verlag.
München 1985, S.211-236, hier S. 217.
24
trennte, war der Unterschied zwischen reformfreudigen liberalen Westjuden und
religiös-konservativen Ostjuden. 115
Die Haskala in Galizien entstand vor allem durch die Versuche Kaiser Josephs II.
(1741-1790), anhand einiger staatlicher Maßnahmen die Lebensweise der Juden im
osteuropäischen Raum zu ändern. Er errichtete zum Beispiel staatliche Schulen, in
denen die jüdischen Knaben Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben mussten. 116 In
Galizien begannen die Aktivitäten der Maskilim erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 117
Die Aufforderungen der Maskilim - repräsentiert durch Isaak Bär Levinsohn (1788-
1860), den „Mendelssohn der osteuropäischen Juden“ 118- sich vollkommen an die
bestehende Gesellschaft anzupassen, sich die weltliche Wissenschaft und die
europäischen Sprachen anzueignen, die Lebensweise zu ändern und so zu einer neuen,
modernen jüdischen Identität zu gelangen - unterschieden sich nicht von denen seiner
Glaubensbrüder im Westen, aber die Entwicklung der Bewegung in beiden Gebieten
war dennoch völlig verschieden. 119 Es gab in Osteuropa im Gegensatz zum Westen
keine einflussreiche jüdische Schicht in der Gesellschaft, die engere Verbindungen mit
der nichtjüdischen Bevölkerung hatte. Die jüdische Gemeinschaft in Osteuropa wehrte
sich gegen jede Abweichung von der Tradition und die Annäherung an die modernen
Denk- und Verhaltensmuster. Daher fand die Haskala unter den Ostjuden kaum ein
Echo und diejenigen, die sich von dieser Bewegung angezogen fühlten, vermieden es,
sie in der Öffentlichkeit zu vertreten. Nur diejenigen, die finanziell unabhängig waren
und in einer guten wirtschaftlichen Situation lebten, konnten über ihre Neigung zur
Aufklärung in der Öffentlichkeit sprechen. 120 In Osteuropa sich zur Haskala zu
bekennen, brachte sehr häufig die Ablösung von der jüdischen Gemeinschaft mit sich.
Sie war ein Werkzeug zur Abschaffung der jüdischen Gemeinden und daher kann man
selbstverständlich nachvollziehen, warum die Haskalabewegung weder der Seite der
Orthodoxjuden noch der Chassidim Willkommen war. 121 Für sie war die Aufklärung
keine Antwort auf die „Judenfrage“ und keine Lösung für den herrschenden
Antisemitismus in ganz Europa. Anscheinend boten der Chassidismus und selbst die

115
Vgl. Bayerdörfer, S. 217.
116
Vgl. Ben-Sasson, S. 1030.
117
Vgl. Ben-Sasson, S. 1030.
118
Vgl. Blank, Inge: Haskala und Emanzipation. Die russisch-jüdische Intelligenz und die „jüdische
Frage“ am Vorabend der Epoche der „Großen Reformen“. In: Gotthold Rhode (Hrsg.): Juden in
Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum ersten Weltkrieg. J. -G.-Herder-Institut. Marburg 1989,
S. 197-231, hier S. 213.
119
Vgl. Haumann, S. 112
120
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031.
121
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031.
25
jüdische Orthodoxie bessere Antworten und Lösungen! 122 Aus diesem Grund konnten
die Ideen, die mit religiösen Reformen zusammenhingen in Osteuropa nicht Fuß
fassen. 123
Im Gegensatz zu Westeuropa fühlte sich der Ostjude in seiner Umgebung
bildungsmäßig nicht unterlegen. Das Bildungsniveau der Bauern, wie auch der
Stadtbewohner war so niedrig, dass es keine Herausforderung war, sich in die
Gesellschaft zu integrieren. Einige Städte wie Lemberg, Brody in Galizien und
Warschau bildeten die Ausnahmen; die erste war deutsch und die zweite polnisch
geprägt. 124 Die aufklärerischen Einflüsse in Osteuropa kamen vom Westen, aus Berlin.
Daher muss man hervorheben, dass das Deutschsprechen das Gefühl der Einheit
innerhalb der Haskalabewegung in ganz Europa ausmachte, und wie Ben-Sasson
schreibt, tatsächlich war die deutsche Sprache bis in die sechziger Jahre die
Kultursprache der meisten osteuropäischen Maskilim. 125
Aus der ständigen Auseinandersetzung zwischen Chassidim und Maskilim formte sich
eine besondere Art von Ostjudentum mit neuem Nationalbewusstsein heraus. Eine neue
Generation von jüdischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erkannte, dass die Aufklärung und Emanzipation keine Bewegungen sein darf, die
zwangsweise von Außen nach Innen importiert wird, sondern aus der kulturellen und
historischen Identität eines Volkes von innen heraus entstehen muss. 126 Zu dieser
Identität gehörte selbstverständlich die jiddische Sprache: eine Generation von
ostjüdischen Schriftstellern begann, ihre Literatur nur auf jiddisch zu schreiben, und
dies führte zu einem Aufblühen der jiddischen Sprache und Literatur ab der Mitte des
19. Jahrhunderts, dessen Höhepunkt die Werke von Scholem Alejchem (1859-1916),
Mendele Moicher Sforim (1836-1917), Isaak Lejb Perez (1852-1915) und später auch
Schalom Asch (1881-1957) bilden. 127
Die Nachkommen der Haskala in Osteuropa stammten größtenteils aus ärmeren
Schichten, die den Streit zwischen Chassidim und Maskilim miterlebt hatten.
Darüberhinaus kannten sie die russischen „kritisch-realistischen“ Kreise jener Zeit, die
die Zarengesellschaft heftig kritisierten; sie selbst gehörten zu den so genannten
‚Luftmenschen’, die durch die gesellschaftlichen Umstände an den Rand der Existenz

122
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031.
123
Vgl. Ben-Sasson, S. 1032.
124
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031.
125
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031.
126
Vgl. Haumann, S. 112.
127
Vgl. Ben- Sasson, S. 1031.
26
gedrückt worden waren; die Außenseiter der Gesellschaft, denen sich kaum „die
Möglichkeit eines sozialen Aufstieges bot“. 128 Die liberale Epoche Alexanders II. in
Russland hat den Aufklärern die Möglichkeit gegeben, aktiver zu sein und half der
Bewegung, sich zu entfalten. Das Zentrum der Haskala war die Stadt Odessa, wo bald
russischsprachige jüdische Zeitungen herauskamen. 129 In anderen Städten wie
Warschau gab es eine ähnliche Entwicklung, diesmal in polnischer Sprache. 130 Der
polnische Aufstand von 1863 bereitete ihnen jedoch gewisse Probleme und Hindernisse
und mit der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881 war die Haskalabewegung in ihrer
neuen Form endgültig zum Scheitern verurteilt. Obwohl die jüdische Aufklärung einen
großen Misserfolg erleiden musste, wurde sie aber zur Motivation für andere kulturelle
und politische Bewegungen wie die nationalistischen, zionistischen, liberalen,
assimilatorischen und sozialistischen jüdischen Strömungen; jedenfalls für eine neue
jüdische Identität. 131

1.6.3 Die Ostjüdische Assimilationsbewegung

Es gibt biographische Anhaltspunkte, die zeigen, dass sich Joseph Roth gegen die
Assimilation der Ostjuden positionierte. In Hiob stellte er seinen Widerstand in der
Gestalt zweier assimilierter Kinder Mendel Singers dar, die ihre ostjüdische Identität
wegwerfen und die neue amerikanische bzw. russische Identität annehmen. Damit
verknüpfte er den Verlust der ostjüdischen Identität mit dem der Heimat. Auch in Juden
auf Wanderschaft schrieb er:

Es gibt Ostjuden, welche sich an die Länder ihrer Wahl assimilieren und die
Vorstellungen der einheimischen Bevölkerung von ‚Vaterland‘, ‚Pflicht‘, ‚Heldentod‘
und ‚Kriegsanleihe‘ vollkommen aufgenommen haben. Sie sind Westjuden,
Westeuropäer geworden. 132

Wie gesagt ist die Assimilation ein zentrales Motiv in Roths Hiob. Der Weg der
Assimilation führt zum Verlust der Werte, Traditionen und Heimat. Assimilation ist
nach Joseph Roth eine Selbstauflösung in Nichts, in Bodenlosigkeit. Daher ist eine

128
Strauss, Herbert A.: Akkulturation als Schicksal. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Juden
und Umwelt. In: Herbert A. Strauss & Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der
Literatur. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1985, S. 12.
129
Vgl. Haumann, S. 113.
130
Vgl. Haumann, S. 113.
131
Vgl. Haumann, S. 113.
132
Roth: Juden, S.638.
27
Erklärung dieser Bewegung innerhalb des Ostjudentums zum besseren Verständnis von
Roths Hiob erforderlich.
Der große sozial-ökonomische Bruch im 19. Jahrhundert neben der massiv
zunehmenden antisemitischen Atmosphäre in Europa rief bei den Ostjuden
unterschiedliche Reaktionen hervor: eine kleine Gruppe der Ostjuden sah, genau wie die
Mehrheit der Juden in Westeuropa, den einzigen Ausweg aus Verfolgung und
Verelendung und die Lösung der ‚Judenfrage‘ in der Assimilation, indem man sich
gezwungenermaßen oder freiwillig die Kultur und Lebensweise, die Werte und
Gesellschaftssysteme der Aufnahmegesellschaft aneignet. 133 Andere wiederum sahen
den Ausweg in der Akkulturation, einer Art Anpassung 134, in der man seine eigene
Kultur völlig aufgibt und sich vollkommen an die andere Kultur angleicht oder durch
die Begegnung mit einer anderen Kultur, wie Haumann es beschreibt, auf eine neue
Synthese wartet 135. Die assimilierten Juden waren hauptsächlich die begüterten Juden
oder die, die mit der Haskalabewegung in Berührung gekommen waren. 136 Sie
emanzipierten sich von der Orthodoxie im Judentum; sie waren, nach Stefan Zweig,
„leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ‚Fortschritts’“ 137.
In Osteuropa erstreckte sich die Assimilationsbewegung von dem Optimismus, dass die
vollkommene Vereinigung mit den anderen Kulturen und Gesellschaften, wie den
russischen und polnischen, auf Dauer möglich sei, über eine mögliche kulturelle
Anpassung, für die sich vorher eine Beseitigung der diskriminierenden Faktoren
ereignen müsse, bis hin zu einer Strömung, die die Assimilation anstrebte aber unter der
Bedingung, dass die jüdische Identität bewahrt werden müsse. 138 Die von Assimilierten
geleitete jüdische Gemeinde versuchte, die kurz zuvor von den Ausschreitungen
betroffene jüdische Bevölkerung zu veranlassen, sich für irgendeine Nationalität und
Sprache (polnisch, russich, romänisch...) zu entscheiden. Es gab nur eine Minderheit,
die sich für die polnische Nationalität und Sprache ausgesprochen hat. Immerhin kann
man dies als eine Zuwendung zur Assimilationsbewegung werten. 139 Darüberhinaus
sieht man unter dieser Minderheit andere Gruppierungen, die sich von der Tradition und
der religiösen Gemeinschaft lösten und „weltlichen“, kultur-politischen Bewegungen

133
Vgl. Karady, S. 145.
134
Stefan Zweig schreibt darüber in Welt von Gestern: „Wenn sie aus iherer Heimat nach Wien
übersiedelten, passten sie sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit“, S. 17.
135
Vgl. Haumann, S. 114.
136
Vgl. Haumann, S. 114.
137
Zweig, Stephan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M.
2007, S. 17.
138
Vgl. Haumann, S. 114.
139
Vgl. Haumann, S. 114.
28
wie Zionismus oder Sozialismus anschlossen, aber viele von diesen Juden, obwohl vom
Glauben abgewandt, identifizierten sich trotzdem mit dem Judentum und fühlten sich
als Juden. 140
Stefan Zweig schildert diesen Prozess in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern
bezüglich des Lebens seiner eigenen Familie und Generation:

Längst haben wir für unsere eigene Existenz der Religion unserer Väter, ihrem Glauben
an einen raschen und ausdauernden Aufstieg der Humanität abgesagt. Banal scheint uns
grausam Belehrten jener voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit
einem einzigen Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat.
Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem
unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und
etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung
nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in
sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. 141

In der ersten Phase der Assimilation versuchten die Juden, sich ganz in ihr nicht
jüdisches Ambiente zu integrieren. Diese Phase ist von zahlreichen Konversionen
gekennzeichnet. 142 Dies war bestimmt die Suche nach Anerkennung in der
nichtjüdischen Umwelt. Dafür hatten die konvertierten Juden die Verbindung zur
jüdischen Gesellschaft und Identität lösen und sich der christlichen Mehrheit
anschließen müssen. 143 Ohne Zweifel kann man diesen Schritt im 19. Jahrhundert als
einen Versuch betrachten, die rechtlichen und sozialen Verhältnisse in den Ländern, in
denen die Juden verstreut waren, zu verbessern. 144 Von der Mitte des 19. Jahrhunderts
an verlor der Glaubenswechsel seinen ersten Platz als ein Katalysator für jüdische
Integration in der christlichen Umwelt; nur noch wenige entschieden sich für diesen
Weg. 145 Die kulturelle Assimilation und die Identifizierung mit dem Staat und der
Aufnahmegesellschaft traten an seine Stelle. 146
Die kulturelle Assimilation in den Ländern des Habsburgerreiches aber schien nicht
unproblematisch zu sein, denn der Staat war gänzlich in Provinzen zersplittert. 147 Victor
Karady erwähnt die wichtigsten Gründe für die Assimilationsproblematik unter den
Ostjuden: die Assimilation war in den habsburgischen Ländern nur auf elitäre Juden
ausgerichtet und der Hauptgrund für das Scheitern der Assimilation in diesem Gebiet
war die unschlüssige und halbherzige Vorgehensweise im Prozesses der kulturellen

140
Vgl. Haumann, S. 114.
141
Zweig, S. 16.
142
Vgl. Ben- Sasson, S. 1013.
143
Vgl. Ben- Sasson, S. 1013.
144
Vgl. Ben- Sasson, S. 1013.
145
Vgl. Ben-Sasson, S. 1015.
146
Vgl. Ben-Sasson, S. 1015.
147
Vgl. Karady, S. 90.
29
Veränderung, da die „Assimilierten“ über mehrere Generationen hinweg die wichtigsten
Merkmale ihrer ursprünglichen Kultur bewahrten: die jiddische Sprache ist ein
wichtiges Beispiel dafür. 148 Die habsburgischen Juden waren bis ins 20. Jahrhundert
fast alle mehrsprachig und konnten jederzeit entsprechend jedem Umstand für ihre
kulturelle Zugehörigkeit neue Entscheidungen treffen und die vergangenen Situationen
rückgängig machen. Auswanderung ist das beste Beispiel dafür. 149

1.7 Die Habsburgermonarchie und die Juden

1.7.1 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

Das jüdische Schicksal in Osteuropa war in der Neuzeit ganz eng mit dem des
habsburgischen Vielvölkerstaates verbunden, der seit 1273 bis zu seinem Verschwinden
von der Weltkarte (1918) von den Habsburger-Monarchen beherrscht wurde. Der
historische Kern des Reiches war Österreich, obwohl es die Länder wie Ungarn,
Böhmen und Mähren mit einer großen Anzahl an jüdischer Bevölkerung erst nach 1526
umfasste. 150 Nach der Teilung Polens und der Einnahme Galiziens (1772) und der
Bukowina (1775) lagen die meisten jüdischen Gemeinden Europas innerhalb des
Habsburgerreiches, westlich des russischen Imperiums. 151
In diesem riesigen Land wurde 1867 eine Doppelmonarchie errichtet, die man als
österreichisch-ungarische Monarchie bezeichnete und die aus zwei verschiedenen
Staaten unter der Herrschaft eines Kaisers, nämlich des Kaisers (und Königs) Franz
Joseph I., bestand. 152 Die Geschichte des habsburgischen Österreichs ist mehr die
Geschichte eines Staates als die eines Volkes, eines Staates vieler Völker, die unter
einem Dach namens Donaumonarchie zusammen lebten; trotz dieser Einheit blieb die
‚Nationale Frage’ im Reich weiterhin aktuell und wurde erst gelöst, als die Monarchie
und mit ihr der Vielvölkerstaat verschwand. 153
Das Habsburgerreich barg am Ende des 19. Jahrhunderts mit ungefähr zwei Millionen
Juden die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt in sich. 154 In Galizien, wie Brenner

148
Vgl. Karady, S. 91.
149
Vgl. Karady, S. 91.
150
Vgl. Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens. Im Zeitalter Kaiser Franz Josephs. Böhlau. Wien 1999, S.
9.
151
Vgl. Wistrich, S. 9.
152
Vgl. Wistrich, S. 9.
153
Vgl. Lohmann, Hans-Martin (Hrsg.): Freud- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler. Stuttgart
2006, S. 1(Vorwort).
154
Vgl. Brenner, S. 223.
30
erwähnt, stieg die Anzahl der Juden von 200,000 zur Zeit der polnischen Teilungen auf
über 800,000 am Ende des 19. Jahrhunderts und in manchen Städten wie Brody oder
Lemberg machten die Juden bis zu 90 Prozent der Einwohner aus (in Lemberg über ein
Drittel der Bevölkerung). 155
Das Habsburgerreich war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur politisch,
sondern auch wirtschaftlich in einer Turbulenz und im Vergleich zur westeuropäischen
Entwicklung ein zurückgebliebenes Reich. 156 In dieser Situation des Stillstandes
bekamen die verschiedenen Gruppierungen und gesellschaftlichen Kräfte Auftrieb und
setzten an, die Verhältnisse zu reformieren. Diese Kräfte wandten sich gegen
„Klerikalismus“ und die „Privilegien des Adels“, in dem sie im Interesse des
wirtschaftlichen Fortschritts und der geistigen Freiheit dynamisch auf Reformen
drängten. 157 Es kam zu einigen Verbesserungen der Gesetze, bspw.: der
„Rechtsprechungsverfahren, Aufhebung von Gesetzen zur Einschränkung der Rechte
von Juden sowie Militärreformen und Maßnahmen zur Förderung des ökonomischen
Wachstums“. 158 Die stark klerikal-konservative Einstellung des Kaisers verbunden mit
dem Einfluss der liberalistischen Ideen brachte dem Kaiser eine Art Sympathie für die
orthodoxen Elemente des Judentums. Die jüdische Orthodoxie brachte auch dem Kaiser
Sympathie und Treue entgegen. 159 Der israelische Schriftsteller Journalist und Maler
Yoram Kaniuk beschreibt diese Situation in folgenden Worten:

Dieses zeitliche Gebilde [die Habsburgermonarchie], das die Juden aus Galizien von
ganzer Seele als etwas Ewiges angesehen hatten, war ein Ersatz für das Ewige der
Vergangenheit: dass nämlich den Juden stets nur ein kurzer Übergang von einem Buch
der Tränen zum nächsten gewährt wurde“. 160

Diese Veränderungen, die den Juden ihre volle bürgerliche Gleichberechtigung


brachten, verbesserten ihre Lage schlagartig, denn, folgt man dem Hinweis Hanna
Arendts 161, waren die Juden das eigentliche „Staatsvolk“ der Donaumonarchie, da sie
weder einer eigenen gesellschaftlichen Klasse wie Adel, Bourgeoisie oder
Arbeiterschaft zugehörten, noch einer eigenen Nationalität wie Polen, Deutsche,
Tschechen oder Ukrainer, die jeweils ihren eigenen Interessen folgten; sie standen

155
Vgl. Brenner, S. 223.
156
Vgl. Lohmann, S. 1.
157
Vgl. Lohmann, S. 2.
158
Vgl. Lohmann, S. 2.
159
Vgl. Maner, Hans- Christian: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und
19. Jahrhundert. IKGS Verlag. München 2007, S. 245.
160
Kaniuk, Yoram: Galizien in Wien. In: Gabriele Kohlbauer- Fritz (Hrsg.): Zwischen Ost und West.
Galizische Juden und Wien. Judisches Museum. Wien 2000, S. 8-20, hier S. 11.
161
Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus, II.
Imperialismus, III. Totale Herrschaft. Piper. München 1993, S. 89f.
31
unmittelbar zum staatlichen Machtzentrum und deshalb war ihre besondere Stellung
sehr deutlich: „Die Anomalie des jüdischen Verhältnisses zum Staat lag in der Tatsache,
dass hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine politische
Repräsentanz hatte“ 162. Maria Klanska definiert diese Situation folgenderweise:
Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerstaates im Jahre 1918 fürchteten sich viele
Juden in dessen Nachfolgestaaten vor den jungen Nationalismen der neuen
‚Staatsvölker’. Nicht ohne Grund waren die meisten von ihnen Anhänger der
Habsburgermonarchie gewesen – sie waren sich dessen bewusst, dass sie, die Nation
ohne eigenes Land, in einem vielnationalen und multikulturellen Staat wie im
Österreich der Verfassungsära bessere Lebens- und Akzeptierungsbedingungen als in
einem homogenen Staatsorganismus gefunden hatten. 163
Nun war die bürgerliche Existenz der Juden nicht von der Teilhabe an irgendeiner
sozialen Klasse oder nationalen Gemeinschaft abhängig, sondern nur vom Maß der
versprochenen Freizügigkeit eines liberalen Staates:

Der Kaiser und das liberale System boten den Juden einen Status ohne eine Nationalität
zu fordern; sie wurden zum übernationalen Volk des Vielvölkerstaates und in der Tat zu
dem Volk, das in die Fußstapfen der früheren Aristokratie trat. Ihr Glück stand und fiel
mit dem des liberalen kosmopolitischen Staates. 164

Der Liberalismus brachte den Juden Vorteile, die man sich noch kurz vorher nicht
vorstellen konnte: Karrieren in verschiedenen Bereichen wurden möglich - in der
Politik, im Wirtschaftsleben, im akademischen und wissenschaftlichen Bereich. 165 Aber
schon in den 1870er Jahren stürzte der Liberalismus in eine große Krise. Der
Börsenkrach des Jahres 1873, der nicht nur große Firmen und Unternehmen in den
Bankrott führte, sondern auch die Existenz der kleinen Handwerker und Geschäftsleute
ruinierte, zeigte, wie tief der traditionelle Antisemitismus in der Habsburgermonarchie
verwurzelt ist. Obwohl die jüdischen Geschäftsleute selbst von dem Börsenkrach
betroffen waren, ereigneten sich in der Gesellschaft starke antisemitische Gewalttaten
und die Juden wurden wiederum zum „Sündenbock“ gestempelt. 166
Das Scheitern des Liberalismus zwang die Juden des Vielvölkerstaates zu der
Erkenntnis, dass trotz aller Assimilationsversuche für sie kein Aufstieg zu vollwertigen
und gleichberechtigten Bürgern der Monarchie möglich war. 167 In dieser Atmosphäre

162
Arendt, S. 58.
163
Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl, S. 68.
164
Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Fischer. Frankfurt a. M. 1982, S.123.
165
Vgl. Lohmann, S. 2.
166
Vgl. Lohmann, S. 3.
167
Vgl. Lohmann, S. 4.
32
der antisemitischen Gewalttaten nahm die Idee des Judenstaates als Lösung der
Judenfrage in der Moderne bei Theodor Herzl (1860-1904) Gestalt an. Anscheinend war
seine Idee, einen jüdischen Staat zu gründen, die entschiedenste Antwort auf die
Herausforderung, die der Antijudaismus für die Juden in ganz Europa darstellte. 168
Die Wirtschaftskrise und die Industrialisierung bescherten den Juden des Vielvölkerstaates
ungeheuere Armut und unbeschreibbare Verschlechterung ihrer sozialen Lage. 169 Der
Industrialisierungsschub machte eine große Anzahl von Juden arm und schuf so ein
jüdisches Proletariat in Galizien. 170 Der geringe Lebensstandard, die erbärmlichen
Arbeitsbedingungen 171 der „Luftmenschen“ und „Seh-Händler“ 172 ließen keinen anderen
Ausweg als die Emigration. Daraus folgte eine Massenemigration unter den galizischen
Juden. Zwar waren die Gründe der Auswanderungswelle auch ökonomisch-sozialer
Natur 173, aber entscheidend waren an erster Stelle die obengenannten Pogrome in Russland
in der Folge der Ermordung Zar Alexanders II. 174 ebenso wie die Erwartungen und
Hoffnungen auf bessere Lebensverhältnis in der Ferne 175. So führte der
Auswanderungsprozess die Juden Galiziens zunächst nach Frankreich, Wien, England und
als ferneres Ziel in die USA. 176 Ganz Europa und Galizien mehr als andere Gebiete - „von
den jüdischen Emigranten in der Zeit zwischen 1881-1910 stammten 85% aus Galizien“ 177-
, wurde von dieser Aufbruchsstimmung erfasst.

1.7.2 Erster Weltkrieg und der Untergang der Donaumonarchie

Um die Jahrhundertwende stellte die Donaumonarchie ein Riesenstandbild auf


„tönernen Füßen“ 178 dar. In Wien herrschte ständige Untergangsstimmung trotz des

168
Vgl. Lohmann, S. 5.
169
Vgl. Hödl, Klaus: Vom Schtetl an die Lower East Side. Galizische Juden in New York. Böhlau. Wien
1991, S. 42.
170
Vgl. Magnus, Naama: Die Juden. In: das Zeitalter Kaiser Franz Joseph. Von der Revolution zur
Gründerzeit. Katalog zur Ausstellung. Teil 1. Wien 1984, S. 85-87.
171
Vgl. Hödl, S. 42f.
172
Riedl, Joachim: Heimat der Mühsal, Heimat der Gelehrsamkeit. In: Rachel Salamander (Hrsg.): Die
jüdische Welt von gestern- text und Bildzeugnisse aus Mitteleuropa 1860-1938. Brandstätter. Wien 1990,
S. 57-59, hier S. 57f.
173
Vgl. Hödl, S. 51.
174
Vgl. Hödl, S. 72.
175
Vgl. Hoffmann, S. 172.
176
Vgl. Hödl, S. 75.
177
Häusler, Wolfgang: Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des
bürgerlichen Zeitalters (1782-1918). In: Anna Drabek, Wolfgang Häusler (Hrsg.): Das österreichische
Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Jugend u. Volk. München/Wien 1974, S. 125.
178
Lohmann, S. 5.
33
Trugbildes einer gewissen „Leichtlebigkeit und Sorglosigkeit“. 179 Während sich die
europäischen Großmächte, vor allem Deutschland, in einem Konkurrenzkampf um
Kolonien und Einflussgebiete befanden, machte man in Wien weiter wie bisher. 180 Das
Land war durch die ungelösten Nationalitätenprobleme gelähmt und in seiner
wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben und gebremst. Industriell und militärisch
rangierte Österreich hinter allen anderen europäischen Ländern; es war immer noch ein
Agrarstaat mit vollkommen zurückgebliebenen Gebieten. Die wirtschaftliche und
finanzpolitische Situation Österreichs war unreformierbar und „bewegungsunfähig“. 181
Musil beschreibt diese Situation folgendermaßen: „Es war der Staat, der sich selbst
irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der
unzureichenden Gründe der eigenen Existenz“. 182
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im Jahr 1914 beendete den trügerischen Stillstand,
in dem die Monarchie lange Zeit verharrt war, und die „Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts“ 183 nahm ihren Lauf.
Im November 1916 starb der alte Kaiser Franz Joseph I., der das riesige Staatsgebilde
bis dahin in seiner Person zusammenhielt. Nach seinem Tod gewannen die
„zentrifugalen“ Tendenzen die Oberhand. 184 Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten
Staaten auf der Seite Frankreichs, Englands und Italiens im Jahr 1917 verloren die
„Mittelmächte“ immer mehr ihre Hoffnungen. Österreich war am Ende seiner Kraft und
als 1918 der Krieg vorbei war, war mit ihm auch die Habsburgermonarchie für immer
vorbei. 185

1.7.3 Die Entstehung einer literarischen Heimat: Mythos Galizien

Das seit 1772 bestehende Kronland Galizien, das Königreich Galizien und Lodomerien,
hat mit dem Zerfall der Donaumonarchie Ende 1918 aufgehört zu existieren. Es dauerte
dann noch zwei Jahrzehnte bis auch die bunte Vielfalt der in dieser historischen
europäischen Region lebenden Bevölkerung durch die Katastrophen des zweiten
Weltkrieges verloren ging. Bevölkerungsgruppen wurden auseinandergerissen, die

179
Lohmann, S. 5.
180
Vgl. Scheuch, Manfred: Österreich im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zur zweiten Republik-
Brandstätter. Wien/München 2000, S. 8.
181
Lohmann, S. 6.
182
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt. Hamburg 1952, S. 35.
183
Lohmann, S.7.
184
Vgl. Lohmann, S. 7.
185
Vgl. Lohmann, S. 7.
34
Menschen fanden massenhaft den Tod. Seit dieser Zeit bildet Ostgalizien einen Teil der
Ukraine. 186 Für die Geschichtsschreibung ist Galizien zwar ein abgeschlossenes Kapitel
eines Landes der Donaumonarchie, das nur von 1772 bis 1918 existierte und über das
man schon genug geschrieben und geforscht hat, aber im literarischen Bereich wird
dieses Land immer mehr an Interesse gewinnen und lebt weiter in seinem mythischen
Bild durch die Literatur. Lange nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie leuchtet
Galizien immer noch und besitzt eine starke Anziehungskraft. Aber was macht die
Attraktivität dieses Landes aus; ist es seine komplizierte Geschichte, in der soziale,
religiöse und nationale Konflikte die zwischenmenschlichen Verhältnisse und ihr
Denken bestimmten? Ist es die Idee eines aus Armut und Not entstandenen
Vielvölkerstaates? Es ist vielleicht auch nur der Mythos, eine nostalgische Erinnerung
an die Vergangenheit, die dieses Land so Attraktiv darstellt.
Dietlind Hüchteker beschreibt in ihrem ausführlichen Artikel „Mythos Galizien“ die
wichtigsten Charakterzüge Galiziens, die nach dem Zerfall der Region zu Stereotypen
seines Mythos wurden: „die agrarisch geprägte Armut und eine Art Multikulturalität,
mithin Mehrsprachigkeit, Multireligiosität und/oder Polyethnizität“. 187 Man sprach in
Galizien polnisch, ukrainisch, ruthenisch, jiddisch und deutsch; verschiedene religiöse
Richtungen wurden in Galizien praktiziert, nämlich römisch-katholische, griechisch-
katholische, jüdische, protestantische, armenisch-katholische und griechisch-orthodoxe
Konfessionen. Die Struktur der Gesellschaft wurde klischeehaft wahrgenommen:
adelige Großgrundbesitzer, arme polnisch- oder ukrainischsprachige Bauern und
jüdische Dorfhandwerker, Pächter von Schenken und Hausierer. 188 Alles, was von
Galizien zurückgeblieben ist, außer ein paar verblassten Aufnahmen, ist die aus und
über Galizien geschriebene Literatur als geistiger Nachlass dieses Landes. Sie fasziniert
den Leser nicht nur durch bunte exotische Folklore, sondern eher durch ihre besondere
Art der Ästhetik, die beispielsweise ein schmutziges galizisches Schtetl in einen
himmlischen Raum verwandeln vermag, und ebenso durch die Intensität ihrer
Sprache. 189 Diese Besonderheit macht die galizische Literatur zu einem Phänomen, das
man nicht durch die Methoden, die uns die Literaturwissenschaft zur Verfügung stellt,
bewältigen kann. Man weiß scheinbar, wo die Heimat der galizischen Literatur ist, aber

186
Vgl. Hüchteker, Dietlind: Der Mythos Galizien.Versuch einer Historisierung. In: Michael G. Müller
und Rolf Petri (Hrsg.): Die Nationalisierung von grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in
sprachlich gemischten Grenzregionen. Herder. Marburg 2002, S. 81-107, hier S. 81.
187
Hüchteker, S. 81.
188
Vgl. Hüchteker, S. 81.
189
Vgl. Kasznski, Stefan (Hrsg.): Galizien- eine literarische Heimat. Wydawnictwo Naukowe
Uniwersytetu Im. Adama Mickiewicza. Poznan 1987, S. 7.
35
auch das weiß man nicht genau, denn wie kann man eine Heimat kennen, die nur in der
Literatur existiert; was ist überhaupt eine literarische Heimat, ein Mythos, Trugbild,
eine seelische Landschaft, gestaltlose Erinnerung?
In der Literaturwissenschaft benutzt man den Begriff Mythos „für das Gemeinsame
einer ‚literarischen Heimat’“ 190. Das Mythische, wie Kasznski es beschreibt, wird in der
besonderen Präsenz undefinierbarer Gefühle gesehen, die aus einer Gleichzeitigkeit von
„reale[r] Wirklichkeit“ und „transreale[m] Mythos“ 191 resultieren. Eleazar Mietletinski
ist der Auffassung, dass die ästhetische Konsequenz solcher Erzählhaltung die
Mythisierung der Wirklichkeit als eine bewusste erzählerische Entscheidung ist. 192 Der
„Mythos Galizien“ steht für die Irrealität, als Gegenbild zur realen Welt und auch als
Ausdruck für eine „Ästhetik der Seltsamkeit“ 193. Magris schreibt in seinem Vorwort zu
Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur über das
Dingfestmachen des habsburgischen Mythos:

[…] mit anderen Worten, die Art und Weise, wie eine Kultur sich bemüht, die Vielheit
der Wirklichkeit auf eine Einheit zurückzuführen, das Chaos der Welt auf eine
Ordnung, die fragmentarische Zufälligkeit der Existenz auf die Essenz, die historisch-
politischen Gegensätze auf eine Harmonie, die sie versöhnen, wenn schon nicht
aufheben kann. 194

Oft wird die Galizienliteratur dem Habsburgermythos oder der Grenzlandliteratur


zugeordnet. Zweifelsohne sind Galizien- und Habsburgermythos miteinander eng
verbunden und man kann die eine ohne den anderen nicht verstehen. Mit dem
Habsburgermythos wurde versucht bei den Völkern der Monarchie ein kollektives und
übernationales Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen 195 und mit
Grenzlandliteratur waren jene östlichen Länder des polnisch-litauischen Unionsstaates,
die 1945 Teil der ukrainischen, weißrussischen und litauischen Sowjetrepubliken
wurden, gemeint. 196
In beiden Aspekten sieht man im Bezug auf eine traditionelle Welt eigentlich eine
Utopie, um das Weltkriegstrauma und die Verlusterfahrungen der Moderne verarbeiten

190
Hüchteker, S. 84.
191
Kasznski, Stefan: Identität, Mythisierung, Poetik. Beiträge zur österreichischen Literatur im 20.
Jahrhundert. Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Im. Adama Mickiewicza. Poznan 1991, S. 61.
192
Mieletinski, Eleazar: Poetyka mitu. PIW. Warzawa 1981, S. 456. Zitiert in: Kasznski: Identität, S. 61.
193
Kasznski, Stefan: Der jüdische Anteil der Literatur in und über Galizien. In: Mark H. Gelber, Hans
Otto Horch, Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.): Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus
Österreich.Niemeyer. Tübingen 1996, S. 129-140, hier S. 134.
194
Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Zsolnay.
Wien 2000, S. 10.
195
Vgl. Magris: Habsburgische Mythos, S.
196
Vgl. Hüchtker, S. 84-85.
36
zu können. 197 Man nimmt in beiden Aspekten die Grenzgebiete als Orte harmonischer
Koexistenz von Natur und Kultur, von verschiedenen Ethnien, Nationen, Sprachen und
Religionen wahr, als Ort des Zusammenlebens, wo sich Heimat und Familie
vereinigen. 198
Der Mythos Galizien entstand erst nach dem ersten Weltkrieg, als die so benannte
Region verschwand. Es entstand in jener Literatur, deren spezifische Eigenschaft die
Verschiebung der Wirklichkeit in den Mythos, oft Habsburgermythos, und die
Positionierung als Grenzregion zwischen Ost und West gewesen ist. 199
Mit dem Ende des ersten Weltkrieges und der Auflösung der Habsburgermonarchie
wurde die galizische Region Teil des wiedergegründeten polnischen Staates. Es kam im
Jahr 1918 zu einer militärischen Auseinandersetzung, welchem Staat eigentlich
Lemberg und Ostgalizien zugehören; diese endete mit der polnischen Militärbesetzung.
Die Gründung der neuen Nationalstaaten zwang zu einer Zuordnung, und aus
polyethnischen Gesellschaften wurden Gesellschaften mit Mehr- und Minderheiten. 200
Von diesem Zeitpunkt an befasste sich die galizische Literatur mit einer Region, die als
eine politische Einheit nicht mehr existierte. 201 Der Gegensatz Realität - Mythos wurde
in der Literatur explizit und er wurde dadurch gestützt, dass man viele Werke als
Erinnerungen an die Vergangenheit und Kindheit schrieb. 202 Ein auffallendes
gemeinsames Merkmal dieser Literatur ist die Idealisierung des Kaisers Franz Joseph
als „guter Vater seiner Völkerkinder, positive Herrscherfigur und Garant eines
friedlichen Zusammenlebens“ 203. Diese besondere Kaiserliebe wird als ein Zeichen für
die Idealisierung der vergangenen Übernationalität gegen die neu entstandenen
Nationalstaaten und Nationalismen interpretiert. 204 Die Figur des Kaisers verkörpert
das alte habsburgische Österreich als der Ort der Harmonie und der glücklichen Zeit;
die geborgene Welt von gestern; die Erinnerung an diese Welt ist mit „dem Heimweh
nach der Kindheit“ 205 verbunden.

197
Vgl. Hüchtker, S. 84-85.
198
Vgl. Rinner, Fridrun: Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft. In: Lenau-Forum. Jahrbuch für
vergleichende Literaturforschung 15 (1989), S. 117-128, hier S. 125.
199
Vgl. Rinner, S. 121.
200
Vgl. Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Luchterhand.
Frankfurt a.M. 2000, S. 60-64.
201
Vgl. Roth, Joseph: Radetzkymarsch. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bde.
Bd. I. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975.
202
Vgl. Hüchteker, S. 99.
203
Hüchteker, S. 99.
204
Vgl. Hüchteker, S. 99.
205
Magris: Habsburgischer Mythos, S. 19-20.
37
Joseph Roth stellt in seiner Erzählung „Die Büste des Kaisers“ den habsburgischen
Vielvölkerstaat metaphorisch als „großes Haus mit vielen Türen und vielen Fenstern,
für alle Arten von Menschen“ 206 dar, und indem er es schreibt, verfestigt er den
dargestellten Mythos in der Ewigkeit. Galizien wurde auch durch das Schreiben, durch
die Literatur verewigt; es wurde zur utopischen Heimat derjenigen, die sie verloren
hatten, die Heimat, wie sie sein sollte, nicht wie sie in der Wirklichkeit gewesen ist.
Lunzer schreibt:

Schreiben bedeutet unter anderem auch, am Ufer entlanggehen, stromaufwärts fahren,


schiffbrüchige Existenzen auffischen und Strandgut wiederauffinden, das sich an den
Ufern verfangen hat, um es zeitweilig auf einer Arche Noah aus Papier unterzubringen.
Dieser Rettungsversuch ist utopisch, und die Arche wird vielleicht untergehen. Aber die
Utopie gibt dem Leben Sinn, weil sie ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit fordert, dass
das Leben einen Sinn habe. 207

Zum Schluss dieses Kapitels und um eine Brücke zum folgenden zu schlagen, soll
hervorgehoben werden, dass der große deutschsprachige Schriftsteller, dem diese Arbeit
gewidmet ist, Joseph Roth, einer der wichtigsten Schöpfer des galizischen Mythos
gewesen ist. Er, der selber galizischer Abstammung war, versuchte durch die
Mythisierung seiner ostjüdischen Heimat, die verlorengegangene Welt der
Vergangenheit und ihrer menschlichen Werte wiederzubeleben und die Unmöglichkeit
des Wiederfindens dieser Welt in der Realität durch das Schreiben, durch das Erzählen
im Gedächtnis der Menschheit möglich zu machen. Seiner Person und seinem
ostjüdischsten Werk Hiob sind die nächsten Kapitel gewidmet.

206
Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers. Novelle. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 5. Romane und
Erzählungen 1930- 1936. Fritz Hackert (Hrsg.). Köln 1990, S. 655- 676, hier, S. 675. Zitiert in:
Hüchteker, S. 82.
207
Lunzer, Renate: Utopie und Entzauberung. In: Claudio Magris (Hrsg.): Utopie und Entzauberung.
Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne. Hanser. München 2002, S. 5- 18, hier S. 12.

38
II Joseph Roth

Joseph Roths Leben ist „im Nebel des mythischen, der selbst inszenierten,
biographischen Erzählungen“ 208 versteckt. Roth dichtete sein Leben und erzählte es wie
ein Märchen, immer wenn es um seine Kindheit, Mutter, Ostjuden, Religion und seinen
Vater ging. 209 Er hielt sich nicht an die Fakten und gerade deshalb war es ihm möglich,
in der Phantasie seiner Sprache und ihrer Fiktion zu schweben und durch dieses
Phantasma die Welt des alten Österreichs, der Monarchie und der versinkenden
Ostjuden wieder zu beleben. 210 Die Grunderfahrung der Unsicherheit von Existenz und
Identität, die Roth in seinem Leben durchgemacht hat, führten ihn zum Treiben dieses
Spieles, das am Anfang bewusst begonnen wurde und dann eine Eigendynamik
entfaltete. 211
Im Rahmen dieser Arbeit soll Joseph Roth nicht anhand der psychologischen Theorien
behandelt werden, die - wie Müller-Funk es ausdrückt - „dem Menschen eine feste
Identität und einen fixen Bezug zur Realität des Über-Ich“ verordnen. Joseph Roth und
seine ‚Identitäten’ können von Literaturwissenschaftlern nur vermutet werden, denn
„wer so sehr in die Fallstricke des Erzählens gerät, für den verwischen sich die Grenzen
von Schwindel und Wahrheit, von Dichtung und Lebenswirklichkeit“ 212. Die
vorliegende Arbeit versucht, einen Überblick über das Leben und Werk Joseph Roths zu
vermitteln.

1 Biographie

Als siebenunddreißigjähriger Mann beschrieb Roth unter dem Titel „Wiege“ das
früheste Kindheitserlebnis, woran er sich immer noch erinnern konnte. Es handelte sich
um eine Erinnerung aus dem dritten Lebensjahr, als das machtlose Kind der zeuge einer
„Beraubung“ sein musste, während die Mutter vor seinen Augen seine Wiege einem
Fremden gab. Roth sah in diesem Ereignis schon einen unwiederbringlichen Verlust,
und das war für Wesen und Werk des späteren heimatlosen Roths sehr bedeutend bzw.

208
Müller- Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Beck. München. 1989, S. 7.
209
Vgl. Müller-Funk, S. 7.
210
Vgl. Müller-Funk, S. 7.
211
Vgl. Müller-Funk, S. 10.
212
Müller-Funk, S. 11.
39
vorausdeutend. Seine Wiege stand am östlichen Rande der einstigen österreichisch-
ungarischen Monarchie, im ehemaligen Kronland Galizien.
Moses Joseph Roth, nach der polnischen Tradition „Muniu“ gerufen, einer der
hervorragendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wurde am
zweiten September 1894 in der ostgalizischen Stadt Brody, die circa 90 km nordöstlich
von Lemberg (Lwów) lag, geboren. Das Städtchen hatte vor dem Ausbruch des ersten
Weltkriegs 18 000 Einwohner, von denen 85% Juden waren und es ist nicht zu
wundern, dass man diesen Ort als „das galizische Jerusalem“ bezeichnete. 213 Diese
Landschaft, unweit der russischen Grenze, hinterließ mit ihren ethnischen und
topographischen Besonderheiten einen tiefen Eindruck in der Phantasie des kleinen
Josephs. „In einer dünnbesiedelten, windigen Ebene lag Brody, die Heimatstadt,
umgeben von Wäldern und Sümpfen mit Störchen und quakenden Fröschen“ 214. Der
kleine Joseph wuchs im Haus seines Großvaters, Jechiel Grübel, eines orthodox
jüdischen Kaufmannes, unter der Fürsorge seiner Mutter Maria (Miriam) auf. 215 Die
Vormundschaft wurde dem Onkel Sigmund Grübel übertragen, der in Lemberg lebte. 216
Roths Vater, der westgalizische Jude Nachum Roth, hatte sich nach etwa
eineinhalbjähriger Ehe auf eine Geschäftreise nach Kattowitz begeben, geriet aber
infolge eines anscheinend misslungenen Geschäfts in den Wahnsinn und lebte bis 1910
bei einem chassidischen Wunderrabbi bei Rzeszów (Westgalizien); er galt als
verschollen und der kleine Muniu wuchs mit dem Glauben auf,dass sein Vater nicht
mehr am Leben sei; in Wahrheit starb Nachum drei Jahre [?]nach dem Tod des Jechiel
Grübels im Hof des Wunderrabbis in geistiger Umnachtung, ohne jemals seinen eigenen
Sohn, von dessen Existenz er überhaupt nichts wusste, gesehen zu haben. 217
Im Haus seines Großvaters wurde, wie bei vielen wohlhabenden assimilierten
österreichisch-jüdischen Familien Deutsch gesprochen. 218 Roth besuchte in den Jahren

213
Klanska, Maria: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths. In: Michael Kessler/ Fritz Hackert
(Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation- Kritik- Rezeption. Stauffenburg-Verlag. Tübingen 1990, S. 143-
156, hier S. 143.
214
Koester, Rudolf: Joseph Roth. Colloquium-Verlag. Berlin 1982, S. 5.
215
Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
216
Vgl. Hackert, Fritz: Joseph Roth. In: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche
Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Reclam.
Stuttgart 1995, S. 678.
217
Vgl. Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie. Deutscher Taschen Verlag. München 1981, S. 40-
42.
218
Klanska, Galizische Heimat, 143
40
1901-1905 die Baron-Hirsch-Volksschule 219 in Brody 220 und 1905-1913 das K.u.K.
Kronprinz-Rudolph-Gymnasium, das einzige staatliche Gymnasium neben der
Lemberger Anstalt, wo Deutsch die Unterrichtssprache war und die Schülerschaft
wiederum vorwiegend aus Juden bestand. 221 Er begeisterte sich am meisten für das
Unterrichtfach Deutsch und die Literatur. Zu seinen Lieblingsdichtern zählten Lessing,
Goethe, Schiller, Shakespeare und Hölderlin. Vor allem aber begeisterte sich Roth für
Heinrich Heine, mit dessen Wesen und Werk er sich schon früh identifizierte. 222 Bei
den Jugendwerken aus der Gymnasialzeit und danach handelt es sich um Erzählungen
und Gedichte, von denen ein Teil im zweiten Weltkrieg verloren ging. 223
Roth hat Galizien während seiner Kindheit und Jugend nie verlassen, obwohl er große
Sehnsucht nach der großen Welt außerhalb der Schtetlech hatte; in Brody fühlte sich
Roth gelangweilt und unzufrieden. 224 Er sehnte sich nach einer größeren Stadt (wie
Schemarjah, der Sohn Mendel Singers in Hiob), wo er vor der Enge der Provinz und der
Sorgfalt der Mutter hin fliehen, einer größeren Welt, in der er Geltung erlangen konnte;
somit entschloss die Familie, dass er in Lemberg studieren und bei seinem Oheim und
Vormund Siegmund Grübel leben sollte, aber es war eine große Enttäuschung für den
jungen Joseph, als er erfuhr, dass die Unterrichtsprache der Lemberger Universität statt
Deutsch Polnisch war. 225 Er, der die deutsche Sprache liebte, für die deutsche Literatur
schwärmte und in dieser Sprache Gedichte und Erzählungen schrieb, sehnte sich nicht
nach der kleinen aber glänzenden Metropole Galiziens, die man „Klein-Wien“ nannte,
er hatte Sehnsucht nach dem großen Wien, der Hauptstadt der Habsburgermonarchie. 226
So zog er im Herbst 1913 nach Wien. 227 Das in Lemberg abgebrochene Studium wurde
1914 an der K.u.K. Universität Wien wiederaufgenommen und er verbrachte fünf
Semester als Student für Germanistik in Wien. 228
Bald nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges sollte sein Leben eine andere Richtung
bekommen; 1916 brach Roth sein Studium ab und meldete sich am 31. Mai 1916

219
1891 errichtete der geadelte jüdische Philantrop Baron Moritz Hirsch (1831-1896) für die Kinder
Galiziens und der Bukowina Baron-Hirsch-Volksschulen, wo die Schüler nicht nur religiöse, sondern
auch profane Fächer, die deutsche Sprache erlernen konnten. Siehe in: Bronsen: Biographie, S. 63f.
220
Bronsen: Biographie, S. 64.
221
Bronsen: Biographie, 79-81.
222
Vgl. Koester, S. 10.
223
Vgl. Koester, S. 10.
224
Vgl. Koester, S. 10.
225
Vgl. Koester, S. 13.
226
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
227
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 124.
228
Vgl. Koester, S. 13.
41
freiwillig zum Militärdienst. Er sollte als Augenzeuge miterleben, wie Österreich, wie
Karl Kraus es ausdrückte, die „Versuchsstation für Weltuntergang“ wurde. 229
Nach dem Kriegsende fing Roth an, eine Karriere als Journalist zu machen, ein Beruf,
zu dem er Dank seiner Beobachtungsgabe und seines lebendigen Lebensstiles durchaus
Begabung hatte. Er begann, 1919 in „Der neue Tag“ zu publizieren. 230 Er schrieb in
dieser Zeit über hundert Beiträge, häufig unter dem Pseudonym „Josephus“. 231 Roth
war damals linksorientiert und zeigte sich für sozialistische Ideen empfänglich; er stand
aber jeder Theorie ablehnend gegenüber. Aufgrund des Nachkriegselends hatte seine
Sympathie für den Sozialismus mehr die Form des Mitleids. 232
In der Zeit danach zog er nach Berlin und heiratete 1922 seine in Wien verbliebene
jüdische Freundin Friedl Reichler, mit der er - von Natur aus ein „Kaffeehaus-Nomade“
und „Hotelbewohner“ - in Berlin zum ersten und letzten Mal in seinem Leben eine
Wohnung bezog. 233
Der Zeitraum zwischen 1923 und 1925 ist von wichtiger Bedeutung für Roths
Entwicklung als Journalist und Autor der Zeitromane, wie „Das Spinnennetz“ (1923),
„Hotel Savoy“ (1924) und „Die Rebellion“ (1924). 234
1925 wurde Roth von der Frankfurter Zeitung, mit der er seit 1923 arbeitete, nach
Frankreich geschickt, wo er seine zweite Heimat gefunden hat. 235 Seine erste
Begegnung mit Frankreich hat in ihm eine flammende Begeisterung ausgelöst, die man
in seinen Korrespondenzen aus diesen Jahren spüren kann. Roth bezeichnet Paris kurz
nach seiner Ankunft als „Hauptstadt der Welt“ 236 und dort fühlt er sich befreit von der
bedrückenden Enge Deutschlands. 237 Am Ende dieses Jahres wurde er als
Korrespondent nach Sowjetrussland geschickt. 238 Noch vor seiner Abreise brachte er
sein begonnenes Buch Juden auf Wanderschaft zu Ende, mit dem er eine bereichernde
Darstellung der Ostjuden - ihrer Lage, Sitten und Gebräuche - der deutschsprachigen
Literatur gewidmet hat; damit setzte er seinem eigenen ostjüdischen Erbe ein
Denkmal. 239 Roth, der, wie viele jüdische Autoren der zwanziger Jahre, sich mit seinen

229
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 153.
230
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 153.
231
Vgl. Koester, S. 18.
232
Vgl. Koester, S. 19.
233
Vgl. Hackert, S. 679.
234
Vgl. Hackert, S. 680.
235
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 266.
236
Zitiert in: Koester, S. 43.
237
Vgl. Koester, S. 43.
238
Vgl. Koester, S. 45.
239
Vgl. Koester, S. 45.
42
ethnischen Wurzeln auseinandersetzte, beschrieb in diesem Buch die Situation der von
Ost nach West gedrängten, um ihre Identität kämpfenden Ostjuden. 240 Voller
Einfühlungsvermögen beschreibt Roth die „Odyssee“ der in den Westen ziehenden
Juden und ihr Schicksal nach der Ankunft in den westlichen Großstädten (Wien, Berlin
und Paris). Er zeigt in diesem Essay seine Abneigung der jüdischen Assimilation
gegenüber und ihrer Auswanderung nach Westen. Aber genauso ablehnend steht er der
Ersatzlösung, dem Zionismus und der von ihm propagierten Rückkehr in das heilige
Land dar. Im letzten Kapitel dieses Buches schildert Roth die Situation der Ostjuden in
Sowjetrussland vielleicht etwas zu optimistisch, wenn man den weiteren Verlauf der
Geschichte bedenkt; dieses Kapitel wurde auf seiner Russlandsreise ausgearbeitet. 241
1926 begab er sich auf dem Weg nach Sowjetrussland. Trotz aller Achtung vor dem
Fortschritt in Russland wurde er von den Folgen der Revolution völlig enttäuscht. Er hat
schon bemerkt, dass sich der Proletarier in der Sowjetunion sehr leicht zum Kleinbürger
erziehen lässt; überall sah Roth die kleine „Schreibtischbürgerlichkeit“, überall die
Simplifizierung der Revolution in groben Geschmacklosigkeiten. Er begrüßte zwar die
Gleichberechtigung der Frau, aber kritisierte stark die daraus entstandene Verwandlung
ins Neutrum, ihre Degradierung „zum sexuell funktionierenden Säugetier“. 242 Die
geistige Leere, öde Disziplin und achtlose Nivellierung war überall im Land zu sehen.
Die Sowjetunion schien ihm zu beweisen, dass eine Veränderung in den ökonomischen
Verhältnissen nicht unbedingt eine geistige Erneuerung zur Folge hat. Er schrieb an
Bernard von Brentano: „das Problem…ist hier keineswegs ein politisches, sondern ein
kulturelles, ein geistiges, ein religiöses, ein metaphysisches“. 243 . Das epische Resultat
dieses Erlebnisses war der Roman Die Flucht ohne Ende, der 1927 herauskam und ein
musterhaftes Beispiel der neuen Sachlichkeit ausstellte. 244
1928 war für Roth ein besonders schweres Jahr. Bei seiner Frau, Friederike Roth, die zu
diesem Zeitpunkt kaum achtundzwanzig Jahre alt war, brach eine unheilbare
Nervenkrankheit - Schizophrenie – aus. Joseph Roth machte sich deswegen Vorwürfe,
weil er Friedl so oft - aufgrund seinen beruflichen Umstände – in Hotels allein gelassen
hatte. Er wollte nicht akzeptieren, dass ihr Fall aussichtslos ist; er benahm sich
gegenüber denjenigen, die vorschlugen, Friedl in eine Heilanstalt einzuliefern, sehr
abweisend. Verzweifelt hoffte er auf ihre Besserung und behielt sie vorläufig bei sich

240
Vgl. Hackert, S. 681.
241
Vgl. Koester, S. 46.
242
Koester, S. 47.
243
Zitiert in: Koester, S. 47.
244
Vgl. Hackert, S. 680.
43
und nahm sie mit nach Polen, das er beruflich bereisen musste. 245 Friedls Gesundheit
verschlechterte sich aber mit der Zeit und ihre erhoffte Besserung blieb aus. 1929 wurde
sie in die Berliner Nervenheilanstalt eingeliefert; doch holte sie Roth wieder heraus, um
sie unter der Fürsorge einer Krankenschwester vorläufig in der Wohnung seines
Freundes Stefan Fingal in Berlin unterzubringen. Die Krankheit seiner Frau war für ihn,
der lebenslang in finanzieller Not lebte, nicht nur eine seelische, sondern auch
zusätzlich eine finanzielle Belastung. Friedl verbrachte die dreißiger Jahre in den
österreichischen Anstalten, bis sie 1940 der Nazimaßnahme zur „Verhütung erbkranken
Nachwuchses“ 246 zum Opfer fiel.
In den späten zwanziger Jahren veröffentlichte Roth zwei Romane: Zipper und sein
Vater (1928) und Rechts und Links (1929). Diese Romane thematisieren die
Beziehungslosigkeit und geistige Anarchie der Zeit. 247
Im Mai 1930 ließ Roth seinen neuesten Roman Hiob in der Frankfurter Zeitung als
Vorabdruck erscheinen. Roths geistigerZustand blieb nach wie vor tief gedrückt. Die
Verschlechterung des Leidens seiner Frau und der finanziellen Probleme verschärften
seine Trinksucht. Er versuchte, dieser Niedergeschlagenheit in seinem Hiob Ausdruck
zu verleihen; das ist die Geschichte eines vom Leid heimgesuchten einfachen
Menschen. Mit diesem Roman kehrte Roth der zeitkritischen Betrachtung der
Nachkriegsgeneration und der Neusachlichkeit den Rücken. 248
1932 beschränkte sich seine journalistische Tätigkeit; der wichtigste Zeitungsbeitrag des
Jahres war der Vorabdruck seines Romans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung.
Im gleichen Jahr folgte die Buchausgabe im Kiepenheuer Verlag. Radetzkymarsch sollte
neben Hiob das bedeutendste Werk Joseph Roths werden. Radetzkymarsch wird als der
Roman seiner Generation und Geschichte bezeichnet. 249
Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 verließ Roth Deutschland für immer. Zuerst ließ
er sich in Paris nieder. Weil die Ortsveränderung zu seiner Sehnsucht geworden war,
wechselte er als Emigrant mehrfach seine Adresse. Er kehrte aber nach Aufenthalten in
Österreich, der Schweiz, Südfrankreich, den Niederlanden, Belgien und Polen immer
nach Paris zurück.

245
Vgl. Koester, S. 52.
246
Koester, S. 52.
247
Vgl. Koester, S. 57.
248
Vgl. Koester, S. 57.
249
Vgl. Hackert, S. 681.
44
1934 erschien Tarabas – Ein Gast auf dieser Erde, mit katholischen Tendenzen. Schon
in diesem Jahr kam sein anderes Werk Antichrist heraus. 250 Gleichzeitig schrieb er für
Exilzeitschriften, französische Literaturblätter und eine Pariser Tageszeitung für
deutsche Emigranten Artikel und Erzählungen; schließlich kamen seine Plädoyers in der
„Österreichischen Post“ für eine Restauration der Habsburgermonarchie heraus. 251 Im
Exil flüchtete sich Roth in eine drastische Produktivität; der Grund war nicht nur seine
finanzielle Not; das pausenlose Schreiben und sein extremer Alkoholkonsum ließen sein
ganzes Wesen verfallen. 252
Ab 1935 schrieb Roth auch für den christlichen „Ständestaat“. Die Mitarbeit bei dieser
konservativen österreichischen Zeitschrift entsprach seiner Austrophilie, die im Exil
besonders neuerwachte. Sein Österreich war ein subjektives Land; eher ein poetisches,
ein nostalgisch-erträumtes als ein reales. Er identifizierte sich mit einem Monarchismus
habsburgischer Prägung. 253 Schon am Anfang seiner Exiljahre schrieb er an Stefan
Zweig:

Was mich persönlich betrifft: sehe ich mich genötigt, zu Folge meinen Instinkten und
meiner Überzeugung absoluter Monarchist zu werden […] Ich liebe Österreich. Ich
halte es für feige, jetzt nicht zu sagen, dass es Zeit ist, sich nach den Habsburgern zu
sehnen. Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen. 254

Seine monarchistischen Bestrebungen führten ihn zur Kontaktaufnahme mit den


österreichischen Legitimisten und dem Thronfolger Otto von Habsburg; neben diesen
Bestrebungen wandte sich Roth dem Katholizismus zu, der vereinigenden Religion der
Monarchie. 255 Sein Katholizismus war keine Flucht vor dem Judentum. Er trennte sich
nie von seinem ostjüdischen Wurzeln. Er bezeichnet sich in einem Brief an seinen
Freund Benno Reifenberg als einen „Katholik[en] mit jüdischem Gehirn“ 256.
1936 werden Beichte des Mörders und Hundert Tage veröffentlicht. In den letzten drei
Jahren seines Lebens war Roths Stammtisch im Café Tournon des Hôtel de la Poste der
Ort der verzweifelten Diskussionen über die Machtentwicklung des dritten Reiches. Die
Hoffnungslosigkeit dieser Jahre, besonders der Anschluss Österreichs an
Hitlerdeutschland beschleunigten den geistigen und körperlichen Verfall Roths; diese
Situation reflektiert sich in seinen nächsten Werken Das falsche Gewicht (1937) und

250
Vgl. Koester, S. 69.
251
Vgl. Hackert, S. 681.
252
Vgl. Koester, S. 69.
253
Vgl. Koester, S. 75.
254
Zitiert in: Koester, S. 75.
255
Vgl. Koester, S. 75.
256
Roth, Joseph: Briefe 1911-1939. In: Hermann Kesten (Hrsg.). Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin
1970. S. 98.
45
„Kapuzinergruft“ (1938). 257 Müde von der Realität seines Lebens und seiner Welt
suchte er am Ende seines tragischen Lebenslaufs ein Balsam im Märchen; 1939 schrieb
Roth die Geschichte von „1002. Nacht“; im gleichen Jahr spiegelt er sich in einer Art
Selbstironie im polnischen Habenichts seiner Legende vom heiligen Trinker (1939), die
er mit dem Wunsch zu Ende bringt, Gott möge auch ihm „einen so leichten und so
schönen Tod“ 258 geben. 259 Er starb aber nach Herzanfällen, Magenentzündung,
Leberzirrhose und Delirium tremens am 27. Mai 1939 in einem Armenkrankenhaus in
Paris und wurde auf dem katholischen Friedhof Thiais beerdigt. 260
Immerhin ist es ihm erspart geblieben, die Vernichtung des Ostjudentums mitzuerleben.
In dieser Hinsicht ist sein Œuvre der Höhepunkt der galizischen deutsch-jüdischen
Literatur vor dem Untergang des Ostjudentums.
Roth war, wie viele Figuren seiner Romane, nirgends zu Hause. Er führte ein
sprunghaftes, rastloses Leben und besaß keinen Wohnsitz; er wohnte – aufgrund seiner
beruflichen Umstände - in Hotelzimmern und schrieb seine Werke an Kaffeehaus - und
Bistrotischen in fast allen europäischen Städten 261; er war „ein Gast auf dieser Erde“ 262.
Obwohl er sein ganzes Leben in Zerrissenheit zwischen seinen ostgalizischen Wurzeln
und seiner österreichischen Identität verbrachte, thematisiert er aber in seinen Schriften
eine mythische Heimat, die jenseits allen Grenzen liegt und die die Ordnung, Harmonie
und die zwischenmenschlichen Werte beider Identitäten wiederspiegelt. Wo lag diese
rothsche Heimat?

2 Die Heimaten des Joseph Roth


2.1 Die Habsburger-Monarchie und das Ostjudentum

Wenn man sich ein Wortverzeichnis für Roths Werke entwirft, so muss man einen
großen Platz für „Heimat“ und „Fremde“ mit den dazugehörigen Wörtern vorsehen. Die

257
Vgl. Hackert, S. 682.
258
Roth, Joseph: Die Legende vom heiligen Trinker. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in
drei Bde. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975, S. 178.
259
Vgl. Hackert, S. 682.
260
Vgl. Hackert, S. 682.
261
Rosenfeld, Sidney: Erträumte Heimat. Der Schriftsteller Joseph Roth und Österreich. In: Tribühne
(27), 1988, H. 105, S. 119-131, hier S. 119.
262
Der Untertitel von Tarabas. Vgl. Roth, Joseph: Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde. In: Hermann Kesten
(Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. II. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956.

46
Frage nach der Heimat, dem „Heimisch-Werden“ in der „Fremde“ und dem „Fremd-
Werden“ in der „Heimat“ ist das Leitmotiv vieler Werke Roths.
Roth schreibt: „Und weil meine Heimat nicht mehr vorhanden ist, bin ich nirgends zu
Hause.“ 263 Dieses Zitat und ähnliche Worte Roths weisen auf einen Umstand hin, der
Roths Leben in allen Phasen bestimmte, und sich in verschiedenen Formen in seinen
Werken spiegelte. Heimatlosigkeit ist eine Chiffre, unter der man Roths Leben und
Werk betrachten muss.
Joseph Roths zerrissene Identität zeigt in beeindruckender Weise viele
Doppeldeutigkeiten der jüdischen Existenz in der Habsburgermonarchie auf. Roths
Geburtsort Brody war, wie vorhin erwähnt, eine Stadt mit dem höchsten Prozentsatz an
Juden in der österreichisch- ungarischen Monarchie. 264 Diese Stadt und ihre
Atmosphäre, die in seinen Werken so voller Liebe beschrieben wird, war Roth verhasst.
Seitdem er sich in den zwanziger Jahren in Berlin niederließ, suchte er einen anderen
Namen für seine Heimat, um seinen galizischen Geburtsort zu verheimlichen; er
erwähnte immer das Nachbardorf Szwaby (das wie Schwabendorf klang) oder die
kleine Stadt Raziwiłłów jenseits der russischen Grenze. 265 Damit wollte er der
Peinlichkeit der Zugehörigkeit zu den galizischen Ostjuden entfliehen und Brody war
wohl ein Symbol dafür. 266 Er sollte in seinem ganzen Leben seine Heimat noch viermal
besuchen; dreimal kam er im Auftrag der Frankfurter Zeitung nach Polen, um
Reportagen von dem wiedererstandenen Staat zu schreiben. Er verfasste die Zyklen
„Reise nach Galizien“ und aus keinem dieser Berichte ging hervor, dass er selber aus
dieser Region stammte. Zum letzten Mal im Jahr 1937 kam er als Gast des polnischen
PEN-Clubs nach Polen und Lemberg. 267 Aber gerade dieses verleugnete Galizien sollte
die ganze Inspiration Roths befruchten. Seine wunderbarsten literarischen Schöpfungen
verdankt Roth wohl der Landschaft, den Menschen und insgesamt der Atmosphäre
Galiziens. 268 Helmuth Nürnberger beschreibt diesen Aspekt in Roths Leben
folgendermaßen:

Galizien hat Roth geprägt, vorgeprägt. Schwermut und Sehnsucht, Liebe und Trauer
klingen aus jeder Beschreibung, Leidenschaft, die sich in Monotonie äußert, erfahrener
Hass, vor allem Phantasie. Zwar war die Entwicklung Galiziens im neuen polnischen
Staat Roth nur von gelegentlichen Besuchen bekannt. Aber es bleibt die Heimat des

263
Roth, Joseph: Heute früh kam ein Brief. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in vier
Bände. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975-76, S. 257.
264
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
265
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144.
266
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144.
267
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144.
268
Vgl. Wistrich, S. 534.
47
Poeten. Auch wenn er, wie er lapidar erklärt, lediglich „Leute und Gegend“ beschreibt,
findet er sogleich seinen ganz persönlichen Ton. 269

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als die Welt der menschlichen
Werte völlig vernichtet wurde, wurde Galizien für ihn zur „verlorenen Heimat“ 270 und
zum Symbol des habsburgischen Vielvölkerstaates im Kleinen, in dem er, wie Maria
Klanska es beschreibt, „im Gegensatz zur bestialischen Naziherrschaft einen humanen
Staatsorganismus erblickte“ 271. Je mehr diese galizische Heimat sich als ein realer Ort,
in dem er geboren wurde und aufwuchs, als ein Ort, wo er seine Kindheit verbracht und
die mütterliche Geborgenheit erlebt hat, und als ein Teil der größeren Heimat, nämlich
der Habsburgermonarchie, räumlich und zeitlich von ihm entfernte, umso mehr
beschäftigte sie seine Phantasie. 272 Maria Klanska bringt es auf den Punkt, wenn sie
schreibt: „In seiner Einbildungskraft entstand aus den Elementen der Erinnerung ein
fiktives, von der Optik der Sehnsucht mythisch geprägtes Galizien“ 273 Der wichtigste
Bestandteil dieses Mythos war das Schtetl, das – wie Magris es beschreibt: –

trotz seiner objektiven Armut zum organischen und in sich harmonischen Mikrokosmos
verklärte Schtetl, das, wenn auch auf niedrigster Stufe, eine schützende Präsenz
universaler menschlicher Werte geleistet hatte, gültige Bezugspunkte für alle Menschen
einer wenn auch begrenzten Gesellschaft. Diese Gegenwelt hatte so die Schaffung des
Mythos eines häuslichen Universums erlaubt, in dem die klassischen Werte formuliert
werden konnten, an welche das Entstehen einer Epik, die auch den Schmerz gestaltet
und der Tragödie einen Sinn verleiht, gebunden ist. 274

Roth fing erst an, diese Heimat anzuerkennen und sie in seinen Werken zu
thematisieren, als sie nicht mehr existierte; ja nach dem Zerfall einer „menschlichen und
religiösen Choralität“ 275, wie es der Fall des Ostjudentums gewesen war. Er begann
über diese Welt zu erzählen, als nichts mehr zu erzählen war; er begann, als sie zu ihrem
Ende gekommen war, und gerade deswegen konnte er sie zum Objekt eines Mythos
machen. Roth schuf aus dem ostjüdischen Galizien und dem galizischen Ostjudentum
Literatur, weil er nur in der Welt der Literatur die Heimat finden konnte; er erzählte

269
Nürnberger, Helmuth: Die Welt des Joseph Roth. In: Evangelische Akademie (Hrsg.): Die Schwere
des Glücks und die Größe der Wunder. Joseph Roth und seine Welt. Verlag evangelischer Presseverband.
Karlsruhe 1994, S. 9-54, hier S. 35.
270
Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
271
Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
272
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
273
Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
274
Magris: Weit von wo, S. 13.
275
Magris: Weit von wo, S. 13.
48
über eine Vergangenheit, die einmal gewesen war, um zu sagen, wie die Zukunft sein
sollte. 276
Hier muss man hinzufügen, dass Roths Galizien nicht immer das historische Galizien
als Schauplatz umfasste. Normalerweise verwendet er den Begriff ‚Galizien’ als eine
staatliche Zugehörigkeit der dargestellten Gebiete, wenn er ihn metonymisch für die
Habsburgermonarchie benutzen möchte; sonst, wenn es sich um sein persönliches
Heimatbild handelt, sind seine Schauplätze manchmal galizische Städte und manchmal
auch russische. 277 Geographisch entsprechen die beiden Gebiete den alten Regionen
Podolien und Wolhynien; während das ganze Wolhynien zu Russland gehörte, gehörte
nur der westliche Teil Podoliens zu Österreich. 278 Fast immer beschreibt Roth in seinen
Werken eine osteuropäische Randlandschaft mit ihrer typischen slawisch-jüdischen
Bevölkerung, die einer von den beiden Regionen angehört. 279
Roths Protagonisten leiden oft unter Heimatlosigkeit, unter dem Verlust der geistigen
Werte und, wie Armin Wallas es ausdrückt:

[…]unter dem Zerbrechen ihres geistig-kulturellen Bezugssystems. Sie sind


Wandernde, Zerrissene, die in einer orientierungslos gewordenen Welt vergeblich nach
Halt suchen. Was ihnen bleibt, ist der Rückzug in den Mythos. Das Ideal einer
übernationalen Lebensform, das sie in der untergegangenen Welt der
Habsburgermonarchie vermeinen, weist ins Utopische 280.

Dabei muss man hervorheben, dass Roth nicht vorhatte, die Geschichte zu verklären. Er
verschiebt die Geschichte in den Mythos, weil er den Untergang der Monarchie als das
Ende der Tradition und als Anfang der Auflösung und der als „Säkularisation
verstandenen Moderne“ 281 erlebte. Roth stellt dieser Moderne, in der die vergangenen
Werte vernichtet sind, keine Ordnung mehr vorhanden ist und die Tradition aufgelöst
wird, die von Religion und monarchischer Autorität geprägte habsburgische Ordnung
entgegen. 282
Roths Mythisierung der Habsburgermonarchie hat viel mit der krisenhaften Erfahrung
der jüdischen Identität zutun. Roths jüdische Wurzeln saßen sehr tief, aber gerade diese

276
Vgl. Bohnen, Klaus: Flucht in die „Heimat“. Zu den Erzählungen Joseph Roths. In: Stefan H.
Kaszynski (Hrsg.): Galizien- eine literarische Heimat. Poznan 1987, S. 139-149, hier S. 149
277
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143.
278
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S.145.
279
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S.145.
280
Wallas, Armin A.: Mythen der Übernationalität und revolutionäre Gegenmodell. Österreich-
Konzeptionen jüdischer Schriftsteller zwischen Monarchie und Exil. In: Hanni Mittelmann und Armin A.
Wallas (Hrsg): Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts- Transfigurationen
im 19. und 20. Jahrhunder. Tübingen 2001, S. 171-193, hier S. 177.
281
Magris: Weit von wo, S. 15.
282
Vgl. Wallas, S. 178.
49
Wurzeln waren ihm verhasst. Er suchte eben deswegen Zuflucht im Katholizismus, in
dem er ein universales Prinzip, und wie es von Wallas beschrieben wird, „die einigende
Kraft der übernationalen Österreich-Idee und zugleich die Antithese zum
protestantischen (deutschnationalen) Preußen“ 283 zu erkennen glaubte. In Die Büste des
Kaisers schreibt Roth:

Hätte man ihn zum Beispiel gefragt […], welcher ‚Nation’ oder welchem Volk er sich
zugehörig fühle: der Graf wäre ziemlich verständnislos, sogar verblüfft vor dem Frager
geblieben und wahrscheinlich auch gelangweilt und etwas indigniert. Nach welchen
Anzeichen auch hätte er seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Nation bestimmen
sollen? – Er sprach fast alle europäischen Sprachen gleich gut, er war fast in allen
europäischen Ländern heimisch, seine Freunde und Verwandten lebten verstreut in der
weiten und bunten Welt. Ein kleineres Abbild der bunten Welt war eben die kaiser- und
königliche Monarchie, und deshalb war sie die einzige Heimat des Grafen. 284

Roth verleiht der Monarchie eine verklärte, übergeschichtliche Dimension, und gerade
in diesem Akt, so bringt es Magris auf den Punkt: „identifiziert er [sie] bald bewusst,
bald unbewusst mit der heilen, festen Einheit, die er auch in der Dauerverbindung der
religiösen, humanen und moralischen Wertsysteme des ebenfalls von der Geschichte
bedrängten und bedrohten Ostjudentums findet“ 285, ja, Österreich als Heimat Aller, das
war der Gedanke, der Roth faszinierte. Für Roth zählte in erster Linie die Ganzheit der
Monarchie. Und mit der Zeit begann er, sie aus dem Nichts zu beschwören. Aber weil
sich die Monarchie nicht auf das Zentrum (Wien), sondern auf die Peripherie stützte,
richtete Roth den Blick auf die Kronländer, unter denen das vertrauteste Galizien war.
Und Roth machte Galizien zu seiner auserlesenen Heimat, wo ihm die furchtlosesten
Träume verwirklicht wurden, die menschlichen, sozialen, persönlichen und literarischen
Träume. 286
Roth unterscheidet sich in dieser Hinsicht von anderen jüdischen Verehrern des „felix
Austria“ wie Stefan Zweig und Franz Werfel. Im Hintergrund seiner Werke steht die
besondere Symbiose von „Austriazität und Ostjudentum“, von „Imperium und
Schtetl“. 287 Er spricht manchmal von den Juden in seinen Werken so, als ob er von einer
Übernation spreche; für ihn sind diese Juden das „Modell der zukünftigen Form der

283
Wallas, S. 179.
284
Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers, S. 655.
285
Magris: Weit von wo, S. 15.
286
Vgl. Zatons’kyj, Dmytro: Joseph Roth oder das Problem der literarischen Heimat. In: Wolfgang Kraus
und Dmytro Zatons’kyj (Hrsg.): Von Taras Ševčenko bis Joseph Roth. Ukrainisch- Österreichische
Literaturbeziehungen. Berlin- Frankfurt a.M. 1995, S. 115-125, hier S. 117.
287
Magris, S. 16.
50
Nation“ 288. In der Kapuzinergruft wird die alte kaiserlich-königliche Monarchie, nach
Magris, als „Vaterland des Möglichen und des Verschiedenen, als vertraute Synthese
einer harmonischen Vielfalt“ 289 gerühmt. Roth richtet sein besonderes Augenmerk
jenseits dieser Gleichstellung der habsburgischen Übernationalität mit der jüdischen
Übernationalität auf das Ostjudentum und nicht auf die weltbürgerlichen, gebildeten
und assimilierten Juden des Westens, die er immer als negativ beurteilt hat; sein Essay
Juden auf Wanderschaft ist gerade eben ein „Alarmschrei“ gegen jene Assimilation der
Ostjuden, die nach Westen auswandern und auf dem besten Weg sind, ihre authentisch-
jüdische Identität zu verlieren und alle Laster der westlich- liberalen Juden
anzunehmen. 290
In fast allen seinen Werken richtet Roth den Blick, wie Magris behauptet, „auf die
Mütter, auf eine in ihrem Liebesvermögen heile, unverletzte Menschheit, auf eine
intakte, direkt vermittelte Choralität: auf all das, was er angesichts des verlorenen und
unerreichbaren, angestammten Vaterlandes der Juden die Heimat nennt“ 291. Es gibt in
der Trübseligkeit des Exils nur eine Zuflucht, Zuflucht in einer Heimat der verbundenen
Gefühle und Zuneigungen: in einer ‚Mutterheimat’ 292, wie es von der jüdischen
Dichterin Else Lasker-Schüler ausgedrückt wurde, der einzige Rückkehrort, Ithaka;
Ithaka, die die Mutter ist, die Mutter, die das Vaterland ist, die Zuflucht, die
Geborgenheit, die Erde, ja der verlorene Boden.
Für Roth findet diese Heimat in der Habsburgermonarchie und im galizischen Schtetl –
beide verloren- Gestalt 293, und er erschafft aus der Unmöglichkeit der Rückkehr, aus der
Unwiederbringlichkeit der vergangenen Zeit eine utopische Heimat, ein literarisches
Zuhause. Eine Heimat, die der Wirklichkeit nicht entspricht; sie ist jene Heimat, die sie
sein sollte.
Die galizische Heimat und deren Verlust sind Themen in vielen Werken Joseph Roths.
In den folgenden Kapiteln wird das Thema ‚Heimat’ in einem seiner zentralen Werke -
Hiob. Der Roman eines einfachen Mannes – untersucht.

288
Roth, Joseph: Polemik. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. III.
Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956. S. 570.
289
Magris, S. 17.
290
Vgl. Magris, S. 17.
291
Magris, S. 17.
292
Zitiert in: Magris, Claudio: Der ostjüdische Odysseus – Roth zwischen Kaisertum und Golus. In:
David Bronsen (Hrsg.): Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Agora
Verlag. Darstadt 1975, S. 181-226, hier S. 183.
293
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 18.
51
III Der Roman Hiob

1 Der Wendepunkt in Joseph Roths Werk

Als Hiob im Jahr 1930 erschien, war Joseph Roth bereits ein angesehener Autor. Mit
Hiob trat ein anderer Joseph Roth vor die Öffentlichkeit als der, den man bisher
kannte. Hiob war eine Zäsur zwischen zwei Perioden seines Lebens. Obwohl seine
Wandlung sich ein paar Jahre zurückverfolgen lässt und oft mit seiner Reise in die
Sowjetunion (1926) in Zusammenhang gebracht wird, nahm sie erst in Hiob eine
literarische Gestalt an als sein Hiobroman erschien. Der Roman gilt bis heute als
Wendepunkt Roths vom „sozialistischen“ Autor der „Neuen Sachlichkeit“ zum
konservativen, teils reaktionären, sensiblen und legitimistischen Mythenschöpfer 294
Die erste Phase seines Schaffens als Journalist führte ihn in ein linksbürgerliches,
sozialistisches Engagement, wobei Roth weder politisch aktiv war, noch eine
besondere Vorstellung von sozialistischen und marxistischen Theorien hatte. Sein
Sozialismus verkörpert sich nur in seiner scharfen Kritik am Bürgertum des 20.
Jahrhunderts, das die humanistischen Werte verraten hat und durch seine Anbetung des
technisch-zivilisatorischen Fortschritts die sozialen Verhältnisse und Bindungen und
das menschenwürdige Leben zerstörte. Unter diesen Aspekten schrieb Roth seine
Romane und journalistischen Arbeiten in der ersten Schaffensphase. 295 Die ersten
Werke Roths, die sogenannten Zeitromane Das Spinnennetz, Die Rebellion, Hotel
Savoy, Flucht ohne Ende, Zipper und sein Vater und Rechts und Links stellen seine
politische Gedankenwelt vor; sie thematisieren die Kriegserfahrung, Heimkehr,
Entfremdung und das politische Engagement seiner rebellischen Protagonisten. 296
Die „Neue Sachlichkeit“, zu deren Programm Roth einen kleinen Beitrag geliefert hat,
bezeichnet den literarischen Kontext der ästhetischen Weltanschauung und
Erzähltechnik dieser früheren Phase: „Reportage und Bericht statt Dichtung und
Einbildung“ 297. Mit dieser zehn Jahre andauernden produktiven Phase bricht Roth am
Ende der zwanziger Jahre, und sein Roman Hiob, der ihm großen Erfolg gebracht hat,

294
Vgl. Hüppauf, Bernd: Joseph Roth: Hiob. Der Mythos des Skeptikers. In: Bernd M. Kraske (Hrsg.):
Joseph Roth. Werk und Wirkung, Bonn 1988, S. 25-51, hier S. 25.
295
Vgl.Hüppauf, S. 27.
296
Vgl. Steinmann, Esther: Von der Würde des Unscheinbaren. Sinnerfahrung bei Joseph Roth. Tübingen
1984, S. 27.
297
Hüppauf, S. 27.
52
zeigt eine radikale Wende in der Denkweise des neuen Joseph Roth. Hüppauf stellt das
Neue in seinen wichtigsten Elementen dar und schreibt:

Das Neue liegt vor allem im Bruch mit den Grundpositionen der Neuen Sachlichkeit
und einer demonstrativen Rückwendung zum bewährten Alten: geschlossene
Romanform, auktoriale Erzählperspektive, maßvolles Tempo, stilisierte „klassische“
Sprache, Betonung der normativen Bedeutung von Tradition und Überlieferung,
statische Wertstruktur, exemplarische Bedeutung einer harmonischen
Gesellschaftsordnung, Mythisierung von Geschichte. 298

Claudio Magris ist der Meinung, dass Roths Sozialismus „nur der vorübergehende
Ausdruck seines Pessimismus und des Mangels an Anhaltspunkten und sein
Legitimismus die Folge einer lyrischen, phantastischen Rückkehr zur
Vorkriegswelt“ 299 sei.
Jedenfalls hatte Roth bereits in der Zeit seiner Wende vom Berichterstatter zum
Sagenerzähler eine Heimat gefunden. Diese Heimat war Galizien mit seinen
ostjüdischen Erbschaften; diese Heimat war für ihn keine gewöhnliche, keine
alltägliche Heimat; sie war etwas nicht mehr Existierendes, eben Vergangenes.
Die Forschung erkennt verschiedene Ursachen für die Umorientierung Roths Anfang
der dreißiger Jahre an. An erster Stelle waren die persönlichen Krisen, in die Roth
schon seit Anfang 1927 geraten war. Bernd Hüppauf zählt diese Ursachen auf: eine mit
der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Österreichs sowie mit seiner
Reise in die Sowjetunion verbundene Desillusionierung und der Orientierungsverlust
im gesellschaftlichen Bezugsfeld; das Aufkommen des Nationalismus; berufliche
Schwierigkeiten, besonders mit der Frankfurter Zeitung, bei der er seit 1923 tätig war;
am schwerwiegendsten aber der Ausbruch von Schizophrenie bei seiner Frau (1928),
ihre schließlich Einlieferung in eine geschlossene Anstalt, die dadurch verursachte
ständige Geldnot und vor allem die mit dem Krankwerden seiner Frau verbundenen
Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht verlassen
haben. 300 Aus diesen Krisen sucht Roth Zuflucht, wie Bronsen es beschreibt, in der
Naivität und Wärme eines Märchens, bzw. eines Fabulierens, das ein aus der eigenen
Leidenserfahrung geborenes neues Menschenbild entwirft. 301 Bronsen schreibt:

Unter „Warmes“ versteht Roth wohl eine auktoriale Einstellung, die den Leser zur
Anteilnahme anregt und sich die Ergriffenheit als höchstes Ziel setzt. Vom
Standpunkt Roths aus heißt das, Verzicht auf das Rüstzeug, das er sich als
vorübergehender Anhänger der Neuen Sachlichkeit zu eigen gemacht hat, nämlich

298
Hüppauf, S. 27.
299
Magris: Habsburgischer Mythos, S. 307.
300
Vgl. Hüppauf, S. 28.
301
Vgl. Bronsen, S. 382.
53
Skepsis und Kritik sowie Abstand und Ironie. Es heißt auch, „naiv“ zu schreiben,
das Gemüt und nicht den Geist anzusprechen und Einfachheit in der Erzählart wie
in der Menschengestaltung zu handhaben. 302

Das tut er auch. Er schreibt warm und naiv über den Protagonisten Mendel Singer,
einen einfachen Mann, wie es schon aus dem Untertitel hervorgeht: Roman eines
einfachen Mannes. Bereits im zweiten Satz der Geschichte berichtet er über ihn: „Er
war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude“ 303. Die
Einfachheit Mendel Singers und seine Gewöhnlichkeit wird in den kurz darauf
folgenden Sätzen bestätigt: „Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und
unterrichtet. Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht“ 304. Joseph Roths
neue Position ist die Anschauung des „Konkret- Besonderen“ 305 jenseits aller
politischen Systeme und Theorien. Er wendete sich von den großen Gedanken der
sozialistischen Tradition ab und schenkt seine Achtung den „Außenseitern“ 306. Er, der
selber politisch orientierungslos geworden war, der heimatlose Nomade ohne soziale
Sicherheit, machte die Unangepassten und die Abweichenden zum Gegenstand seines
Romans, als er mit Hiob das Leben des Außenseiters aller Außenseiter darbot: von
Gott selbst ausgesondert, von der Welt verlassen, sich von Gott betrogen fühlend und
desillusioniert sitzt der biblische Hiob auf einem Haufen Asche und der Hiob des 20.
Jahrhunderts in einem New Yorker Hinterstübchen. Er stellt sich die Frage, was aus
einem zum Außenseiter geborenen und gemachten Ostjuden in den Gesellschaften des
Ostens und des Westens von 1930 wird. Der Kern des Romans ist die Zuwendung
seines Schöpfers zum Schicksal des konkreten Einzelmenschen. 307
Über die Hiob-Analogie in diesem Werk gibt Bronsen die Erklärung, dass sich der
Roman, um der Fabel Mustergültigkeit zu verleihen, im breiten Bogen seines
Werdegangs an den biblischen Hiob anlehnt, und an einigen Stellen große
Ähnlichkeiten im Wortgebrauch mit der „Vorlage“ zeigt. Aber anders als der biblische
Hiob lebt Mendel Singer nicht im Überfluss und nichts an ihm zieht besondere
Beachtung an. Er muss aber auch als ein auserwählter Heimgesuchter, als ein leidender
Mensch die Schläge Gottes ertragen, ohne zu wissen, weshalb er sie erhält. Diese
Schläge dauern solange an, bis er an Gott verzweifelt und sich ihm widersetzt. 308

302
Bronsen, S. 382.
303
Hiob, S. 7.
304
Hiob, S. 7.
305
Hüppauf, S. 35.
306
Hüppauf, S. 35.
307
Vgl. Hüppauf, S. 36f.
308
Vgl. Bronsen, S. 382.
54
Thematik und Sprache des Romans

Hiob beinhaltet die Geschichte eines wolhynischen Cheder-Lehrers namens Mendel


Singer. Dieser „war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher
Jude“ 309. Mendel Singer ist der von Gott verlassene, leidende Mensch; herausgehoben
einzig durch die Dichte des Unglücks in seinem Leben.
Die Entfremdung in der eigenen Heimat, die Assimilation der Söhne an das Fremde,
die Gefahr, die die Tochter Mirjam bedroht, weil sie sich den Kosaken hingibt, die
Krankheit des jüngsten Kindes Menuchim, der als Epileptiker geboren ist, die
Vereinsamung in der Ehe und die Lustlosigkeit zwischen Mendel und seiner Frau
Deborah und letztendlich der Verlust der Heimat und infolgedessen der ganzen Familie
zehren den Glauben Mendel Singers auf, der in seinem Glauben einen Heimatersatz
gefunden hatte, und er sagt sich von Gott los.
In der ganzen Geschichte spürt man eine Art Erwartung auf die Erfüllung der
Prophezeiung eines Wunderrabbis, auf dessen Mittlerschaft zwischen Gott und
Mensch Deborah vertraute. Sie pilgert zu ihm in das Nachbardorf, um ihn um
Gesundheit für Menuchim zu bitten. Seine Prophezeiung sagte:

Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele
geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die
Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine
Ohren hell und voll widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen
auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus! 310

Am Ende des Romans geht diese Prophezeiung in Erfüllung, indem das Wunder in der
Verkörperung des gesunden Menuchims zutage tritt, der den Vater gesucht und
gefunden hat und ihn mit in die Heimat nehmen möchte.
Die Schlichtheit der Fabel wurde in der Literaturwissenschaft oft als Simplizität
verkannt. Esther Steinmann meint: „die Schönheit der Sprache, die Grazie der
Darstellung, der ‚Charme der Unschuld’ 311 scheinen einem Urteil Vorschub zu leisten,
das geradezu stereotyp die Hiob-Rezeption geprägt hat“ 312; stellvertretend dafür
könnte man hier die Worte Hermann Levin Goldschmidts zitieren:„Das ist ein
rührendes, sehr schönes, aber auch sehr harmloses Buch im Sinne der seit vielen

309
Hiob, S.7.
310
Hiob, S. 14.
311
Reich-Ranicki, Marcel: Joseph Roths Flucht ins Märchen. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg):
Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. Deutscher Taschenbuch Verlag.
München 1977, S. 227.
312
Steinmann, S. 29.
55
Jahrhunderten verbreiteten Hiobsgeschichten von einem vielversprechenden Anfang
und dann niederschmetternden Lebenslauf, für den sich aber zuletzt alles zum Guten
wendet“ 313.Aber diese Einfachheit verbirgt in sich eine andere Dimension, die von
vielen sensibleren Lesern entdeckt worden ist. Stefan Zweig schreibt in einem
Zeitungsartikel über Hiob: „Man schämt sich nicht […] sentimentalisch erschüttert zu
sein. [man] erlebt, statt zu lesen“. 314 Das hängt im Grunde genommen von der
literarischen Genialität Roths ab, den Stoff so zu gestalten, dass er dem Leser zu
Herzen geht. Roth ist es gelungen in einem Stil und einer Sprache der Einfachheit
diese Wirkung zu erzielen. Esther Steinmann schreibt zu diesem Punkt:

Nur allzu bereitwillig ergibt man sich dem Zauber dieser Prosa, der Suggestion von
Einfachheit und Transparenz, der Schwerkraft einer Leichtigkeit, die das
Romangeschehen schließlich in die märchenhaften Fernen des Unglaubhaften zu
entrücken scheint. […] Die Originalität des Roth’schen ›Hiob‹ gründet dann nicht
länger nur in seinem ästhetischen Wert als ›sprachliches Kunstwerk‹, vielmehr werden
sich überdies Besonderheiten der Struktur ausmachen lassen, die auch die Architektonik
des Romans als kunstvoll, eigenwillig und durchaus nicht ›harmlos‹ erweisen. 315

Roth findet seine Heimat in der Sprache, wie er bei der Besprechung eines Buches von
Hermann Kesten schreibt: „Das Vaterland des echten Schriftstellers ist seine
Sprache“. 316 In dieser Heimat geht er frei und vertraut einher wie seine Bauern in den
galizischen und russischen Dörfern. 317 Hermann Kesten äußert sich über die Sprache
Roths in Hiob wie folgt: „[…] und er spricht in kleinen und kurzen Sätzen wie ein
Kind, wie ein Neger, wie ein gutes Gesetz, wie ein Gebet“ 318, und nur diejenigen
können in dieser Art sprechen, die der Sprache mächtig sind; Hermann Kesten
schreibt:

Joseph Roth hat die Klarheit eines klassischen Stils. Eine strikte Einfachheit, aber die
Einfachheit der bedeutenden Rede, die einfache Bedeutendheit derer, die zu viel oder zu
nachdrücklich zu sagen haben, […] es ist die Sprache der von der reinen Idee
Besessenen, wobei man wissen muss, dass diejenigen, die anscheinend zu viel zu sagen
haben, Menschen sind, die nur einer Sprache mächtig sind, […] Sein neuester, sechster
Roman, Hiob, schien von der Gruppe seiner ersten Romane abzuweichen. Der bisher
analysierende Stil ward malerisch, die einzelnen Szenen, früher wie Radierungen, waren

313
Goldschmidt, Hermann L.: Hiob im neuzeitlichen Judentum. In: Karl Kerényi(Hrsg.) Weltgespräch.
Weltliche Vergegenwärtigungen Gottes: zum Problem der Entmythologisierung. Herder. Freiburg 1967,
S. 41f.
314
Zweig, Stefan: Der Roman Hiob von Joseph Roth. In: Kölnische Zeitung, 26.10.1930.
315
Steinmann, S. 30.
316
Roth, Joseph: Panoptikum. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Werke in drei Bänden. Bd. III. Kiepenheuer
& Witsch. Köln-Berlin 1956. S. 383.
317
Vgl. Hiob, S. 27.
318
Kesten, Hermann: Der Schriftsteller Joseph Roth. In: Text + Kritik, München 1982, S. 7-10, hier S. 7.
56
hier farbig wie Gemälde. Die geschmeidige Präzision einer stählernen Prosa verwandelt
sich in die farbenschimmernde Melodie einer legendenhaften Poesie. 319

Die Hiob-Analogie und die Nachahmung des biblischen Stils verstärken die
Vermutung, dass „Das Buch Hiob“ des Alten Testaments Vorlage und sprachliche
Anregung für Roth gewesen ist. Die feierliche, zum Teil poetische Ausdrucksweise der
biblischen Quelle
findet bei Roth im Satzbau und im sprachlichen Rhythmus ihren Widerhall. 320

2 Die Motive der Heimat im Hiob-Roman

Unter anderen kann man das untergehende Ostjudentum, das ostjüdische Schtetlleben,
die ostjüdische Heimatlosigkeit und ihre Suche nach einer möglichen Heimat ebenfalls
als Hauptthemen des Hiob hervorheben. Roth zeigt in seinem Buch das Leben der
Ostjuden, die Auswanderung nach Amerika und deren Versuch, in diesem neuen Land
eine Existenz aufzubauen. In Hiob wird aus der Existenzfrage eines einzelnen Menschen
die Schicksalsfrage des ostjüdischen Volkes.
Die nähere, genauere Analyse der Darstellung des Heimatmotivs im Hiob-Roman ist die
Aufgabe dieses Kapitels. Es soll untersucht werden, wie die Heimat mythisiert wird; die
Heimat, die nur im Traum verwirklicht werden konnte; die Sehnsucht nach einer heilen
Welt, die nicht mehr existierte und nie mehr existieren konnte; eine Heimat, die es nie
gab. Zum Schluss soll das Ergebnis erreicht werden, dass in Hiob nicht von einer
Möglichkeit der ostjüdischen Heimat die Rede ist, sondern eher von deren
Unmöglichkeit; und gerade deswegen wird in der vorliegenden Arbeit von der
mythisierten Heimat gesprochen.
Im Folgenden werden die wichtigsten Bestandteile analysiert, aus denen sich der
Heimatbegriff in Hiob zusammensetzt.

2.1 Das Schtetl: der Ort der Verfremdung

Joseph Roth selbst wurde in der galizischen Stadt Brody, an der äußersten östlichen
Grenze des Habsburgerreiches geboren. Diese Stadt war nur wenige Kilometer von der

319
Kesten, S. 7.
320
Vgl. Eckhoff, Astrid: Joseph Roth: Hiob. Eine Interpretation. Staatsexamenarbeit. Bergen 1987, S. 51.
57
russischen Grenze entfernt. 321 Brody - ab einem gewissen Zeitpunkt an von Roth
verhasst - lag also an der Peripherie des großen österreichischen Reiches und fern von
der Hauptstadt der Monarchie, Wien. Die Völkermischung und Sprachenvielfalt seines
Geburtsortes hat ihm das Milieu, die Atmosphäre und die Gestalten für viele seiner
wichtigsten Romane geliefert. Wie oben erwähnt, verleugnete Roth seinen Geburtsort
bereits bei seinem ersten Auslandsaufenthalt. Er veränderte den Namen und sagte, er
sei in Szaby, Schwaby oder Schwabendorf geboren. 322
In den meisten Werken Joseph Roths sind die Schauplätze auf der österreichischen
Seite der Grenze. In Hiob aber liegt das Städtchen auf der russischen Seite der Grenze,
nämlich das wolhynische Schtetl Zuchnow bei Dubno in Russland. Astrid Eckhoff
schreibt in ihrer Interpretation zum Hiob- Roman:

Die geographische Entfernung zwischen Dubno und Brody beträgt etwa 50 Kilometer.
Weil die Grenze sich nicht geographischen Abschnitten fügen kann, sondern mitten
durch ein endloses Flachland verläuft, kann man das Land auf beiden Seiten als ein
Ganzes betrachten. 323

Jedenfalls, ob Brody oder Swaby, ob Zloczow oder Zuchnow, ob österreichisch oder


russisch, ob erfundene oder wirkliche geographische Namen, sie sind alle Beispiele für
die ostjüdischen Schtetl in einer Gegend, die Joseph Roth sehr vertraut war. Genauso
war Zuchnow Mendel Singer vertraut. Das Rothsche Schtetl sollte eine ideale
Lebensform sein, jenseits allen technisch-zivilisatorischen Zerfalls, deren Werte erst
nach ihrer Zerstörung geschätzt wurden. 324
Es handelt sich um ein winziges jüdisch-slawisches Städtchen, das von einer düsteren
andauernden Armut gekennzeichnet ist:

Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die
Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen
wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und
die Hühner ein Nichts. 325

In dieser bedrückenden Armut lebt Mendel Singer mit seiner Familie in einem kleinen
Haus, das so zentral und entfremdet steht, als wäre es das einzige in ganz Zuchnow. Es
gibt aber auch andere Menschen in diesem Schtetl, also „nicht weniger als
hundertsechsundsiebzig“ 326 Juden. Sie leben alle in einer Gasse, die als „die Gasse der

321
Vgl. Eckhoff, S. 1f.
322
Vgl. Bronsen, S. 32.
323
Eckhoff, S. 2.
324
Vgl. Hüppauf, S. 37.
325
Hiob, S. 8.
326
Hiob, S. 10.
58
Juden“ 327 bezeichnet wird. In dieser Gasse steht das Haus der Familie Singer in der
Reihe der jüdischen Häuser als das letzte. 328 Die Lage des Hauses und die Erwähnung
der Judengasse könnte die isolierte Situation der Familie Singer und im Allgemeinen
die Absonderung der ostjüdischen Gesellschaft in den russisch-galizischen Städten
zum Ausdruck bringen. Es wird in einer Szene beschrieben, wie die Gasse der Juden
gegen Abend lebendig wird:

Die schmale Gasse verdunkelte sich vollends und belebte sich gleichzeitig. Die dicke
Frau des Glasermeisters Chaim und die neunzigjährige Großmutter des längst
verstorbenen Schlossers Jossel Kopp brachten ihre Stühle aus den Häusern, um sich vor
den Türen hinzusetzen und die frische Abendstunde zu genießen. 329

Mendel Singer und seine Familie nehmen an dieser Lebendigkeit nicht teil. Sie leben
unter den Juden, aber isoliert und verfremdet. Es scheint so, dass sie keiner
menschlichen Kontakte bedürfen.
Ein wichtiger Bestandteil des Schtetls ist der Markt. Auf dem Markt finden Jahrmärkte
statt, insbesondere Schweinemärkte: „[…]es ist Donnerstag und Schweinemarkt“ 330. Zu
diesen Jahrmärkten kommen die Bauern aus der Umgebung, und dort finden die meisten
Geschäfte zwischen ihnen und den Städtern statt. 331 Zwar leben die Bauern und die
Juden in den Schtetlech zusammen, aber sie sind sich äußerlich fremd und innerlich
fern. Die Juden sind für Bauern immer unter Verdacht. Zum Beispiel als die Söhne
Mendel Singers aus Targi, wo sie als Soldaten aufgenommen wurden, nach Hause
zurück fahren und eine Strecke zu Fuß wandern müssen, schauen die Bauern die zwei
schwarz angezogenen Juden wie fremde Erscheinungen im Schneefeld an, obwohl sie
mit diesen Menschen ihren Alltag verbringen: „Manchmal blieben sie stehen und sahen
sich nach den zwei schwarzen Männern um, wie nach ungewohnten Erscheinungen,
obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war“ 332.
Auch der kleine jüdische Friedhof ist ein wichtiges Merkmal des Schtetls. In Hotel
Savoy lässt Roth den jüdischen Millionär Bloomfield sagen: „Ich bin ein Ostjude, und
wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben“ 333 Der Friedhof ist
ein Ort, zu dem Deborah, die Frau von Mendel Singer „durch Regen und Sonne“

327
Hiob, S. 10.
328
Hiob, S. 10.
329
Hiob, S. 46.
330
Hiob, S. 51.
331
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 148.
332
Hiob, S. 27.
333
Roth, Joseph: Hotel Savoy. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bde. Bd. I.
Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975, 876.
59
pilgert. 334 Sie sucht dort Hoffnung und Ruhe: „Sie schlug mit dem Kopf gegen die
moosigen Sandsteine, die aus den Gebeinen ihrer Väter und Mütter wuchsen. Sie
beschwor die Toten, deren stumme tröstende Antworten sie zu hören vermeinte“ 335.
In diesem Städtchen lebt Mendel Singer ein entfremdetes Leben unter den jüdischen
Nachbarn. Er verbringt seine Zeit entweder zu Hause bei seiner Familie, oder geht zum
Bethaus. Im Bethaus verbringt er viel Zeit. Anscheinend ist das Bethaus der einzige
Ort, wo er sich heimisch und Zuhause fühlt. Eigentlich ist er nur in der Welt seines
Glaubens wirklich aufgenommen und kenn nur dort Heimat finden. 336
Das kleine russische Schtetl Zuchnow liegt in der flachen Landschaft Russlands, wo
den Juden eigentlich eine Heimatstätte gegeben sein sollte, aber in der Tat ist es
wiederum nur ein weiterer Aspekt für die Entfremdung dieser Menschen.

2.2 Landschaft und Natur

Die dargestellte Landschaft im Hiob ähnelt den Landschaften in anderen Geschichten


Joseph Roths. 337 Das Land ist flach und agrarisch. Roth lässt den Erzähler in einer
Szene, wo Mendels Söhne Schemarjah und Jonas aus der Kreisstadt nach Hause
zurückfahren, wohin sie zur Kontrolle berufen wurden, die Verschiedenheit ihrer
Weltanschauungen durch die Wahrnehmung der Landschaft äußern: „Ungeheuer weit
erschien Schemarjah die Welt. Flach war sie in Jonas Augen, sie langweilte ihn. Der
Zug fuhr glatt durch das flache Land, wie ein Schlitten über Schnee. Die Felder lagen
in den Fenstern“ 338.Außerdem ist das Land ein sumpfiges Flachland:

Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst
störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet
runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen
unterbrochen war. Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen
ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug. 339

Diese Landschaft ist dem Ostjuden Mendel Singer fremd. Er führt sein Leben wie in
einem Ghetto. Fremd ist ihm die Natur, fremd die Landschaft. Roth hat schon drei
Jahre vor dem Erscheinen des Hiob in seinem Essay Juden auf Wanderschaft diese
Fremdheit so formuliert: „Der Ostjude sieht die Schönheit des Ostens nicht. Man

334
Hiob, S. 11.
335
Hiob, S. 11.
336
Vgl. Eckhoff, S. 22.
337
Vgl. Roth: Juden, S. 24.
338
Hiob, S. 23f.
339
Hiob, S. 37f.
60
verbot ihm, in Dörfern zu leben, aber auch in großen Städten. In schmutzigen Straßen,
in verfallenen Häusern leben die Juden“ 340. Und er bemerkt weiter: „Die große
Mehrzahl kennt den Boden nicht, der sie ernährt“ 341. In Hiob läßt Roth den Fuhrmann
Sameschkin diesen Aspekt der Entfremdung in einer direkten Frage an Mendel Singer
aussprechen, als die beiden wegen eines Unfalls die Nacht unter freiem Himmel in der
Natur verbringen: „Siehst du, wie schön das Land ist?“ 342. Diese Frage deutet auf die
Lebenslage Mendel Singers hin. Er lebt sein Ghetto-Dasein im russischen Schtetl
Zuchnow weiter. Die Natur und die Erde der Umgebung haben keine große Wirkung
auf seinen Alltag, sie bleiben ihm fremd. Sidney Rosenfeld stellt diese Fremdheit
folgendermaßen dar: „So wie er seinen kargen Unterhalt durch den Bibelunterricht
verdient, so werden seine Tage und Nächte allein durch das Glaubensgebot
bestimmt“ 343. Wolfgang Müller-Funk macht in seiner Roth-Biographie folgende
Bemerkung:

Was für Roth die Tragik des Ostjudentums ausmacht, ist, dass es die Schönheit seiner
unmittelbaren Heimat nicht erkennt, wobei Heimat hier nicht im Sinne eines staatlichen
Territoriums zu verstehen ist. Worauf Roth abzielt, ist eine Geborgenheit, die sich der
Vielgesichtigkeit von Landschaft und Gesellschaft und der (scheinbar)
vorgeschichtlichen Archaik des Lebens verdankt. 344

In den Darstellungen Roths wird ein starkes Gefühl für die Natur spürbar, aber auch
eine ungeheuere Angst vor den in ihr verborgenen Gefahren. Historisch gesehen
könnte schlussfolgern, dass dieses Gefühl des Fremdseins und Grauens des Ostjuden in
der Landschaft das Resultat ihrer Heimatlosigkeit ist. 345
Besonders charakteristisch kommt an einer anderen Stelle des Romans die
Entfremdung der Ostjuden von der Natur und Landschaft zum Ausdruck: in der
Darstellung der Versammlung der Juden von Zuchnow auf einem freien Feld, wo sie
nach Vorschrift die Geburt des Mondes, quasi den Neumond begrüßen:

Und sie hasteten, stumm und schwarz, in regellosen Grüppchen, hinter die Häuser,
sahen in der Ferne den Wald, der schwarz und schweigsam war wie sie, aber ewig in
seinem verwurzelten Bestand, sahen die Schleier der Nacht über den weiten Feldern und
blieben schließlich stehn. Sie blickten zum Himmel und suchten das gekrümmte Silber
des neuen Gestirns, das heute noch geboren wurde, wie am Tag seiner Erschaffung. Sie
schlossen sich zu einer dichten Gruppe, schlugen ihre Gebetbücher auf, weiß
schimmerten die Seiten, schwarz starrten die eckigen Buchstaben vor ihren Augen in

340
Roth: Juden, S. 8.
341
Roth: Juden, S. 8.
342
Hiob, S. 60.
343
Rosenfeld, Sidney: „Hiob“ - Glaube und Heimat im Bild des Raumes. In: David Bronsen (Hrsg.):
Joseph Roth und Tradition. Darmstadt 1975, S. 227-240, hier S. 228.
344
Müller-Funk, S. 124.
345
Vgl. Nürnberger, S. 39.
61
der nächtlichen bläulichen Klarheit, und sie begannen, den Gruß an den Mond zu
murmeln und die Oberkörper hin und her zu wiegen, dass sie aussahen wie von einem
unsichtbaren Sturm gerüttelt. Immer schneller wiegten sie sich, immer lauter beteten
sie, mit kriegerischem Mut warfen sie zu dem fernen Himmel ihre unheimischen Worte.
Fremd war ihnen die Erde, auf der sie standen, feindlich der Wald, der ihnen
entgegenstarrte, gehässig das Kläffen der Hunde, deren misstrauisches Gehör sie
geweckt hatten, und vertraut nur der Mond, der heute in dieser Welt geboren wurde wie
im Lande der Väter, und der Herr, der überall wachte, daheim und in der
Verbannung. 346

Roth versucht mittels der sinngebenden Landschaftsbeschreibung die Heimatlosigkeit


der Ostjuden am genauesten zu verdeutlichen. Er vergleicht die Juden mit dem fernen
Wald, der wie sie „schwarz und schweigsam“ ist, aber der russische Wald ist „ewig in
seinem verwurzelten Bestand“ 347, und diese Kontrastierung gibt zu verstehen, dass die
Juden dagegen entwurzelt sind und auf dieser fremden Erde nicht zuhause.
Nach dieser Zeremonie und nachdem die anderen Juden weggegangen sind, fühlt sich
Mendel matt und bekommt auf einmal Lust, „sich auf den Boden zu legen, und hatte
Angst vor der unbekannten Erde und dem gefahrvollen Gewürm, das sie
höchstwahrscheinlich beherbergte“ 348. Zum ersten Mal hat Mendel das Bedürfnis, sich
mit der fremden Erde zu vereinigen, aber die Ängste sind viel größer als dieser
Wunsch, vor allem heulten die Hunde „und erschreckten Mendel“ 349. Die heulenden
Hunde „zerrissen den Frieden der Erde und vergrößerten Mendel Singers Unruhe“ 350.
Er kommt sich unbeschreibbar einsam und fremd in dieser Gegend vor, und obwohl er
nur fünf Minuten von den anderen jüdischen Häusern entfernt ist, fühlt er sich
trotzdem bedroht von unbekannten Gefahren. 351 Er fühlt sich wie ein Gefangener der
Natur, von allen Seiten bedroht: „er wandte sich nach Norden: da atmete finster der
Wald. Rechts dehnten sich viele Werst weit die Sümpfe mit den vereinzelten silbernen
Weiden. Links lagen die Felder unter opalenen Schleiern“ 352.
Als er die Stimme zweier Liebenden hört, die durch das Getreide gingen, bekommt er
eine Art instinktive Angst, weil die beiden bald aus dem Feld treten könnten. Da
überwindet er „seinen furchtsamen Ekel vor dem Gewürm der Erde und legte sich
sachte hin, den Blick auf das Getreide gerichtet“ 353. Diese Szene kann die Situation der

346
Hiob, S. 46f.
347
Hiob, S. 46.
348
Hiob, S. 47.
349
Hiob, S. 47.
350
Hiob, S. 47.
351
Vgl. Hiob, S. 47.
352
Hiob, S. 47.
353
Hiob, S. 48.
62
Ostjuden unter den unbekannten Gefahren der Pogrome in russischen Gebieten
treffend verdeutlichen.
Das Fremdsein der Ostjuden in der Landschaft ist die Folge ihrer Heimatlosigkeit. Dies
wird ganz am Anfang des Romans, als die Söhne Mendel Singers aus der Kreisstadt
Targi zurückkehren, bildhaft geschildert:

Es schneite dichter und weicher, je weiter der Tag fortschritt, als käme der Schnee von
der ansteigenden Sonne. Nach einigen Minuten war das ganze Land weiß. Auch die
einzelnen Weiden am Weg und die verstreuten Birkengruppen zwischen den Feldern
weiß, weiß, weiß. Nur die zwei jungen schreitenden Juden waren schwarz. Auch sie
überschüttete der Schnee, aber auf ihren Rücken schien er schneller zu schmelzen. […]
Je dichter es schneite, desto schneller gingen sie. 354

Die Landschaft versteckt sich hinter dem Schleier des Schnees und ist weiß. Sidney
Rosenfeld meint, dass Roth das Adjektiv weiß wiederholt, um dessen Kontrastkraft mit
den zwei schwarzen jungen Juden – schwarz sind ihre Gewänder - zu erhöhen. 355 In
diesem Bild kommt die absonderliche Situation der Juden am deutlichsten zum
Ausdruck. Die schwarzangezogenen Juden verhalten sich in dieser weißen Landschaft
anders als die im Land beheimateten Bauern, die ihnen langsam entgegen kommen:
„vertraut mit dem Schnee gingen sie in ihm einher, wie in einer Heimat. Manchmal
blieben sie stehn und sahen sich nach den zwei schwarzen Männern um, wie nach
ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd
war“ 356.Den Bauern bedeutet diese Landschaft die vertraute Heimat und den Juden die
Fremdheit, Absonderlichkeit. Dieses Bild manifestiert das Unbehaust-Sein der Juden
sehr stark.
Als wesentliche Merkmale der heimatlichen Landschaft, die Roth in den meisten seiner
Werke als Leitmotiv verwendet, kann man die verschiedenen Varianten einer lyrischen
Formel erwähnen, die zum Beispiel im Hiob den anbrechenden Morgen begleitet: „Ein
fernes Trillern von Millionen Lerchen erhob sich draußen, über dem Haus, unter den
Himmeln. Schon drang die anbrechende Hitze des jungen Tages in den morgendlich
verdunkelten Raum“ 357; „Nur ein Sommermorgen brach an, nur Lerchen trillerten in
unerreichbarer Ferne“ 358; „Millionen Lerchen trillerten über dem Haus, unter dem
Himmel“ 359. Die unbestimmte, unerreichbare „Ferne“, die so oft mit der unvorstellbaren
Höchstzahl – „Millionen“ Lerchen – verwendet wird, bezeichnet einen in seiner Tiefe

354
Hiob, S. 26
355
Vgl. Rosenfeld: Glaube und Heimat, S. 230.
356
Hiob, S. 27.
357
Hiob, S. 18f.
358
Hiob, S. 19.
359
Hiob, S. 50.
63
abgegrenzten Raum „über dem Haus, unter den Himmeln“. Rosenfeld interpretiert die
erwähnten Raumbestimmungen folgendermaßen:

Die erste verankert das Leben des Hauses – in dem die Familie Singer wohnt – fest in
dem Mittelpunkt des Geschehens. Es ist beinahe, als wäre es, da im Roman das
Städtchen selbst kaum erwähnt wird, das einzige Haus. Die zweite Bestimmung („unter
den Himmeln“), obwohl sie jedem Versuch einer Präzisierung sich entzieht, setzt dem
Raum doch eine obere Grenze. Sie meint deutlich das Firmament selbst, das Weltall,
welches sich durch das unermessliche Blau des Tages und der Nächte kundtut. Der
Ostjude nun, auf dessen täglichem Leben die Enge des Ghettos bedrückend lastet,
erstrebt das nur durch den tiefsten Glauben Mögliche, nämlich im Pathos des Gebets
sowohl die Grenze des Ghettos als sogar auch des Weltalls zu durchbrechen, um seinen
fern dahinter thronenden Gott zu erreichen. Ihm, „der überall wachte, daheim und in der
Verbannung“, gilt der Mondsegen der Juden von Zuchnow. Der traditionelle Vorgang,
wie aus der stark mitfühlenden Beschreibung klar hervorgeht, ist weit mehr als die
Wiederholung einer altgewohnten Formel; durch die Inbrunst des Gottsuchens wird er
zum gültigen Ausdruck einer Existenz, die von dem immer gegenwärtigen Bewusstsein
der Heimatlosigkeit geformt wird. 360

Dieser unendliche Himmelsraum scheint die einzige Landschaft zu sein, in der die
heimatlosen Ostjuden Trost finden, und deshalb ist sie auch die einzige von ihnen
wahrgenommene.

2.3 Familie

Im Gegensatz zu den frühen Romanen Joseph Roths, in denen junge alleinstehende


Männer, die Heimkehrer aus dem Krieg, entwurzelte und herumirrende Menschen, die
Protagonisten gewesen waren, ist die Hauptfigur des Hiob- Romans, Mendel Singer,
ein Ehemann und Vater, der in seiner russischen Heimat, Zuchnow, und in der
jüdischen Tradition fest verankert ist: „eine Frau und drei Kinder musste er kleiden
und nähren. (mit einem vierten ging sie schwanger)“ 361. Obwohl die Familie im
traditionellen Sinne ein Symbol fürs „Zuhausesein“ ist 362, sollte es in der vorliegenden
Arbeit geschildert werden, wie sich alle Familienmitglieder außer dem kranken
Menuchim in ihrer eigenen Heimat und Familie, in ihrem eigenen Haus entfremdet
fühlen.

360
Rosenfeld: Glaube und Heimat, S. 232.
361
Hiob, S. 7.
362
Vgl. Eckhoff, S. 20f.
64
2.3.1 Mendel und Deborah

Mendel Singer ist ein einfacher, alltäglicher Jude. Von Beruf ist er Lehrer. „In seinem
Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis
der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg.
Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet“ 363. Deborah, seine Frau,
leidet unter dem sozialen Status ihres Mannes. Das kann man zum Beispiel aus einer
Szene erfahren, in der sie ihn wegen seiner Ergebenheit gegenüber dem Schicksal tadelt
und sagt: „Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen
dein bisschen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du,
Mendel, ein Lehrer!“ 364. Gershon Shaked schreibt in seinem Artikel:

Das Wort ‚Lehrer’ ist hier eine ‚Übersetzung’ des jiddisch-hebräischen Wortes
Melamed, was soviel wie Volksschullehrer bedeutet, also Lehrer der untersten
Schulklassen. In der Soziologie der Juden ist dieser Beruf der schlechtest bezahlte und
sozial niedrigste. Das Wort wird sehr oft als Synonym für Schlemasel (Unglücksrabe,
Pechvogel) gebraucht. […] Mendel Singer ist also ein verachteter, sozial tiefstehender
Melamed (nicht »Lehrer«) 365.

Deborah wendet sich nicht nur gegen Mendels Beruf, sondern auch gegen seine
Traditionsverbundenheit. Mendel denkt: „Gewiss, er war ein Lehrer! Auch sein Vater
war ein Lehrer gewesen, sein Großvater auch. Er selbst konnte eben nichts anders sein.
Man griff also sein Dasein an, wenn man seinen Beruf tadelte, man versuchte ihn
auszulöschen aus der Liste der Welt. Dagegen wehrte sich Mendel Singer“ 366.
Mendel Singer ist hier, nach Claudio Magris, vor allem Vaterfigur, jedoch „nicht als
Symbol einer bestimmten und folglich vergänglichen Generation, sondern als Symbol
einer klassischen, per definitionem zur Dauer bestimmten Humanität“ 367. Ja, Vater im
Sinne des patriarchalischen Prinzips. 368 In einer Szene, in der seine Kinder über den
Korb von Menuchim, dem kranken Kind, herfallen, und ihn heftig pendeln lassen,
ergreift Mendel mit beiden Händen seine Söhne und kneift sie in die Ohren 369; er
schlägt sie mit seinem Hosengurt so heftig, als „gehörte das Leder noch zu seinem
Körper, als wäre es die natürliche Fortsetzung seiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden

363
Hiob, S. 7.
364
Hiob, S. 30.
365
Shaked, S. 283f.
366
Hiob, S. 31.
367
Magris: Weit von wo, S. 154.
368
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 159.
369
Vgl. Hiob, S 14.
65
klatschenden Schlag, der die Rücken seiner Söhne traf“ 370. Er ist ein typischer Tyrann,
für dessen Rolle seine Gesellschaft keinen Raum mehr hat. Bernd Hüppauf meint:

Aus diesem Anachronismus gewinnt der Roman einen entscheidenden Teil seiner
ironischen Brechung. Erst nachdem das Ende der geschlossenen ostjüdischen Welt, in
der das individualistische Ideal des frühbürgerlichen Humanismus sich länger
unverzerrt erhalten hatte als im Westen, unausweichlich gekommen war, wurde die
Überhöhung dieses Ideals zum Typus des Patriarchen möglich. Mendel Singer vertritt
den in seiner eigenen Welt anachronistisch gewordenen Anspruch des autonomen
Subjekts durch den Idealtyp des biblischen Patriarchen. 371

Esther Steinmann bezieht sich auf eine Dissertation über „Joseph Roth und das
Judentum“ von Hansotto Ausserhofer und schreibt, dass seiner Auffassung nach die
Personen des Romans verschiedene jüdische Existenzweisen repräsentieren:

Vertritt Mendel Singer in seinem unbeirrbaren Festhalten an den göttlichen Weisungen


der Tora und seinem unerschütterlichen religiösen Fatalismus die jüdische Orthodoxie,
so Deborah Singer in ihrem Vertrauen auf die Mittlerschaft des Wunderrabbi und ihrer
durchaus dem gesunden Menschenverstand entgegenkommenden Frömmigkeit den
Chassidismus. 372

Nach Eva Raffel manifestieren Mendel Singer und Deborah zwei


auseinanderstrebendende Strömungen des gefährdeten Ostjudentums, nämlich
Orthodoxie und Assimilation. 373
Klaus Hödl ist der Auffassung, dass die Assimilation eines Volkes immer bei den
Frauen beginnt: „Während der Vater sich in Sorgen um die ‚Jiddischkeit’ seiner Kinder
erging und voller Gram deren Loslösung vom Judentum unter dem Einfluss der Schule
beobachtete, war die Mutter hinter seinem Rücken der treibende Faktor einer solchen
Entwicklung“ 374. Raffel meint, dass der Grund für diese Erscheinung an der
unterschiedlichen Schulbildung der Jungen und Mädchen lag. Die Jungen sollten sich
nur mit Tora beschäftigen, aber die Mädchen waren vom religiösen Studium befreit und
besuchten in größerem Ausmaß als die Jungen die öffentlichen Schulen. 375 Die
Entfremdung zwischen Mendel und Deborah verkörpert sich in der Geburt ihres
kranken Kindes Menuchim. 376 Mark Zborowski und Elisabeth Herzog schreiben in Das

370
Hiob, S 14.
371
Hüppauf, S. 43.
372
Steinmann, S.31.
373
Vgl. Eva Raffel, S. 208 .
374
Hödl, S. 224.
375
Vgl. Raffel, S 208.
376
Vgl. Raffel, S 208.
66
Schtetl: im Schtetl galt „ein Kind, das stumm, lahm, blind oder verunstaltet, also
unnormal geboren wird, […] als Beweis der elterlichen Schuld“ 377.
Die Schuld, die Mendel viel später erkannte, befindet sich von Anfang an in der Form
einer nicht aufzulösende Disharmonie in der Familie. Die Sünde und die Schuld
bestehen, wie Claudio Magris es zum Ausdruck bringt, „im langsamen fortschreitenden
Dahinwelken der ehelichen Bindung, in der Ergebung in das Altern, das die Schönheit
Deborahs abbröckeln lässt“ 378, und Mendel hat nicht gesehen:

wie das Fleisch abbröckelte von den Wangen, schöngetünchter Mörtel von einer Wand,
wie die Haut sich um die Nase spannte, um desto lockerer unter dem Kinn zu
zerflattern, wie die Lider sich runzelten zu Netzen über den Augen und wie deren
Schwärze ermattete zu einem kühlen und nüchternen Braun, kühl, verständig und
hoffnungslos. 379

Es wird ihm erst bewusst, als die sinnliche Einheit zwischen ihm und seiner Frau in
Verfall geriet, in einem entfremdenden Moment, als Deborah ihren gealterten Körper im
Spiegel anschaut, und Mendel sie mit einem offenen Auge beobachtet; es wird plötzlich
beiden bewusst, in welcher körperlichen Fremdheit sie zusammen leben. 380 Die
Erkenntnis, die plötzlich über Mendel kommt, dass Deborah ihm „untrennbar und auf
ewig, aber unerträglich, quälend und ein bisschen auch gehasst“ 381 und seine
Gebundenheit an sie wie die Gebundenheit an eine Krankheit ist 382, wird später als eine
Sünde empfunden. Diese Sünde erkennt Mendel Singer erst im Exil nach dem Tode
Deborahs. Er spricht mit seiner toten Frau:

Du hast es gut, Deborah! […] Es ist nur schade, dass du keinen Sohn hinterlassen hast,
ich selbst muss das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird
uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Wie zwei kleine
Fünkchen sind wir erloschen. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der
Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren
habe ich dein Fleisch genossen, in späteren Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht
war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen
uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde
verdorben. 383

Deborah verkörpert eine typische jüdische „Mamme“, den Urtyp der jüdischen Mutter,
die nach Raffel, „sich um alles Irdische kümmern musste, während ihr Mann sich im

377
Zborowski, Mark & Herzog, Elisabeth: Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen
Juden. Beck. München 1992, S. 227.
378
Magris: Weit von wo, 131
379
Hiob, S. 30.
380
Vgl.Hiob, S. 18.
381
Hiob, S. 31.
382
Vgl. Hiob, S. 31.
383
Hiob, S. 98.
67
Idealfall nur dem Torastudium widmete“ 384. Deborah wird von Roth folgendermaßen
beschrieben: „Sie war ein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. […] Viel zu gering war
Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die
Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter“ 385. Ein
ähnliches Gefühl hat auch Mendel. Er kann Deborahs Gesicht seit Jahren nicht mehr
leiden und ihr Fleisch, das ihm einmal vertraut war, war ihm jetzt fremd. 386
Mendels Ergebenheit gegenüber Gott und seinem Willen gibt ihm einen starken Halt
im irdischen Leben und ein inneres Zuhause, während Deborah diesen unmittelbaren
Glauben an Gott nicht aufbringen kann; sie sucht Gott nicht in ihrem eigenen Innern
und im Glauben, sondern in den Vermittlern des göttlichen Willen, und zwar nicht mit
Ergebenheit, sondern mit Erwartung; sie erwartet die Einwilligung Gottes. Gott ist ihr
fern und sie kann ihn nicht erreichen:

Sie wagte nicht mehr Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß, zu weit, unendlich
hinter unendlichen Himmeln, eine Leiter aus Millionen Gebeten hätte sie haben müssen,
um einen Zipfel von Gott zu erreichen. Sie suchte nach toten Gönnern, rief die Eltern
an, den Großvater Menuchims, nach dem der kleine hieß, dann die Erzväter der Juden,
Abraham, Isaak und Jakob, die Gebeine Mosis und zum Schluss die Erzmütter. Wo
immer eine Fürsprache möglich war, schickte sie einen Seufzer vor. Sie pochte an
hundert Gräber, an hundert Türen des Paradieses. Vor Angst, dass sie morgen den
Rabbi nicht erreichen würde, weil zuviel Bittende da waren, betete sie zuerst um das
Glück, rechtzeitig vordringen zu können, als wäre die Gesundung ihres Sohnes dann
schon ein Kinderspiel. 387

Eva Raffel meint, dass der Hauptgrund für die Entfremdung zwischen Mendel und
Deborah gerade Deborahs innere Auflehnung gegen Mendels Orthodoxie und ihr
eigener Wille zur Assimilierung sei. 388 Allein die Tatsache, dass Deborahs
Mädchenname ‚Kossak’ ist, und Menuchim am Ende des Romans als ein völlig
Assimilierter diesen Namen annimmt und nach Amerika kommt, so Raffel, „ruft
unweigerlich Assoziationen an die Kosaken hervor. Wie die Kosaken seit der
Katastrophe von 1648 389 physisch die größte Gefahr für das Ostjudentum darstellten,
so bedeutet Assimilation in Roths Augen die größte seelische Bedrohung für den
Fortbestand des ostjüdischen Volkes“ 390.

384
Raffel, S. 209.
385
Hiob, S. 8.
386
Hiob, S. 46.
387
Hiob, S. 13.
388
Vgl. Raffel, 210
389
Siehe Kapitel „Historischer Kontext“ vorliegender Arbeit
390
Raffel, S. 210.
68
Am stärksten manifestiert sich die Gefahr der Assimilation und die darauf folgende
Entfremdung in den Figuren von Mendel Singers Kindern, die sich von der jüdischen
Tradition und Religion gänzlich losgesagt haben.

2.3.2 Die Kinder Mendel Singers

2.3.2.1 Jonas und Schemarjah

Die Zerstörung von Mendel Singers Familie und der Verlust der ostjüdischen Identität
und Heimat kommen nicht von außen, nämlich durch die Auswanderung. Sie sind
schon längst da, im Innern der Familie; in dem Weg der Kinder in die Assimilation; ja,
der Zerfall der Familie setzt schon in der Kindergeneration ein. 391 Das zeigt sich schon
am Anfang des Romans in einem Gespräch zwischen zwei Söhnen Mendel Singers,
Jonas und Schemarjah, als sie im Zug aus Targi nach Hause zurückfahren. Da äußert
Jonas, dass er Bauer und Soldat werden, betrunken sein und mit den Mädchen schlafen
möchte. 392 Im Gegensatz zu ihm träumt Schemarjah vom Leben. Er will so sein, wie er
ist, ein Jude wie sein Vater, nüchtern und kein Soldat. Auf die Frage seines Bruders,
was das Leben sei, antwortet Schemarjah:

Das Leben […] ist in großen Städten zu sehen. Die Bahnen fahren mitten durch die
Straßen, alle Läden sind so groß wie bei uns die Gendarmeriekaserne, und die
Schaufenster sind noch größer. Ich habe Ansichtskarten gesehen. Man braucht keine
Tür, um in ein Geschäft zu treten, die Fenster reichen bis zu den Füßen. 393

Er will also auswandern, in die große Welt gehen und reich werden. Völlig anders als
sein Bruder, der sich aus der jüdischen Tradition und Herkunft lösen möchte, hat
Schemarjah noch Verbundenheit zu der Tradition seines Vaters. Nach der zu allem
Unglück bestandenen Musterung beider durch die russische Militärkommission
wandern die Brüder durch den schwarzen Tannenwald nach Hause. Von Zeit zu Zeit
werden sie von einem „heimatlosen Windstoß“ begleitet, der aus „willkürlicher
Himmelsrichtung“ 394 kommt. Eva Raffel meint: „Der drohende Militärdienst wird
ihnen zwar äußerlich eine neue Heimat innerhalb der militärischen Ordnung bieten,
aber ihre eigene Heimat, das Judentum, müssen sie verlassen“ 395. Ihre Verbindung mit

391
Vgl.Hüppauf, S. 42.
392
Vgl. Hiob, S. 24.
393
Hiob, S. 24.
394
Hiob, S. 26.
395
Raffel, S. 211.
69
dem Judentum ist der Vater. Mendel Singer scheint mit seinem eigenen Leben, das vor
ihm auch seine Väter führten, zufrieden zu sein. Er ist die Verkörperung des
Judentums und, so Raffel, vereint beides für die beiden Söhne: Judentum und
Heimat. 396 Bernd Hüppauf meint, dass „westliche oder östliche Assimilation,
schleichender oder rasanter sozialer Wandel, sozialistische oder kapitalistische
Modernisierung […] gleichermaßen das Ende des Ostjudentums als Ideal einer
geschlossenen Lebenswelt“ 397 bedeuteten, und Roth war sich dessen bewusst.
Also verlassen die Söhne das Haus und die Eltern. Jonas geht gern zu den
Zarensoldaten; er will nicht vom Militärdienst freikommen; er bleibt bei den Soldaten,
und eines Vormittags verschwand Jonas. 398 Er arbeitet und lebt beim Führman
Sameschkin bis zu seinem Militärdienstbeginn. Er lebt wie ein richtiger Bauer. „Er
striegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall, sog mit offenen
genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduft ein und den sauren Schweiß. Er
[…] trank Samogonka mit Sameschkin, war betrunken und befruchtete die Mägde“ 399
Jonas gibt seine Familie, ihre Tradition und das Judentum auf. „Man beweinte ihn zu
Hause als einen Verlorenen, aber man vergaß ihn nicht. 400
Schemarjah verlässt das Land und floh nach Amerika. Die Entfremdung Schemarjahs
von seiner Heimat wird in einer Szene deutlich, in der er sich anschickt, das Land zu
verlassen. Er verlässt die Eltern, das Haus seiner Kindheit und die damit verbundenen
Erinnerungen; „er versucht, in dem Augenblick, in dem er über die Schwelle tritt, das
Haus und alle seine Angehörigen zu vergessen“ 401; man kann sagen, er trat über die
Schwelle und überschritte damit eine Grenze, die zwischen Heimat und Heimatlosigkeit
gezogen ist, zwischen Daheim und Fremde. Er wird von einem Schmuggler namens
Kapturak geschmuggelt und der Bote Kapturaks zeigt ihm kurz vor seiner Abreise die
Dörfer, die Landschaften und die Gehöfte; er deutet auf ferne Kirchtürme und nennt die
Güter und die Gutsbesitzer. 402 „Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich
auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch
schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu
suchen“ 403. Diese kurze Durchreise durch die Heimat säte das Heimweh für immer und

396
Vgl. Raffel, S. 212.
397
Hüppauf, S. 42.
398
Vgl. Hiob, S. 35.
399
Hiob, S. 35.
400
Vgl. Hiob, S. 35.
401
Hiob, S. 37.
402
Vgl. Hiob, S. 37.
403
Hiob, S. 37.
70
ewig in das Herz Schemarjahs. Trotzdem gibt er seine ganze Identität auf, sobald er in
Amerika ist, und wird zu einem echten pflichtbewussten Amerikaner, der nicht mehr
Schemarjah, sondern Sam heißt. 404 Zur Namensänderung der Juden schreibt Roth in
Juden auf Wanderschaft:

Man wundere sich nicht über die Pietätlosigkeit der Juden gegen ihre Namen. Mit einer
Leichtfertigkeit, die überraschend wirkt, wechseln sie ihre Namen, die Namen ihrer
Väter, deren Klang doch immerhin für europäische Gemüter irgendeinen Gefühlswert
hat. Für die Juden hat der Name deshalb keinen Wert, weil er gar nicht ihr Name ist.
Juden, Ostjuden haben keinen Namen. Sie tragen aufgezwungene Pseudonyme. Ihr
wirklicher Name ist der, mit dem sie am Sabbat oder am Feiertage zur Tora angerufen
werden: ihr jüdischer Vorname und der jüdische Vorname ihres Vaters. Die
Familiennamen aber von Goldberg bis Hescheles sind aufoktroyierte Namen. Die
Regierungen haben den Juden befohlen, Namen anzunehmen. Sind es ihre eigenen? […]
Der Jude schreibt in Amerika Greenboom statt Grünbaum. Er trauert nicht um die
veränderten Vokale. 405

Und so begann Schemarjah, als Sam in Amerika eine völlig andere Existenz und
Identität aufzubauen, und zwar eine moderne, säkulare und assimilierte.

2.3.2.2 Mirjam

Mirjam ist die einzige Tochter und das dritte Kind Mendels und Deborahs. Das Bild,
das Roth von Mirjam malt, stellt ein zartes Mädchen dar, das „schlank und schmal“ 406
ist, mit einem „schimmernde[n] Schatten, eine[m] braunen Gesicht, eine[m] große[n]
rote[n] Mund und [den] zwei alten Augen mitten in der braunen Jugend des
Angesichts“ 407. Die Schönheit Mirjams kontrastiert scharf zu den Eltern, die zu
verwelken anfangen: „Deborah in einem alten Schal, stand alt, hässlich, ängstlich vor
der goldüberglänzten Mirjam, hielt am Rande des hölzernen Bürgersteigs, als befolgte
sie ein altes Gesetz, das den hässlichen Müttern befahl, einen halben Werst tiefer zu
stehen, als die schönen Töchter“ 408. Das graziös gebaute Mädchen wird mit einer
Gazelle verglichen; kokett und gedankenlos wie dieses Tier ist Mirjam. 409 Dieser
Vergleich spielt an auf die Gazelle als Beute, die den Raubtieren ausgeliefert ist und
ihnen endlich zum Opfer fällt. Und so wirft sich Mirjam in die Arme der Kosaken und

404
Vgl. Hiob, S. 41f.
405
Roth: Juden, ???
406
Hiob, S. 21.
407
Hiob, S. 21
408
Hiob, S. 68.
409
Vgl. Hiob, S. 21.
71
jungen Offiziere. Ihre starke Sehnsucht nach den Männern scheint eine Nymphomanie
zu sein:

Sie entkleidete sich und befühlte ihre Brüste. Sie taten ihr weh. Ihre Haut hatte ein
eigenes Gedächtnis und erinnerte an jeder Stelle der großen, harten und heißen Hände
der Männer. Ihr Geruch hatte ein eigenes Gedächtnis und behielt den Duft von
Männerschweiß, Branntwein und Juchten unablässig, mit quälender Treue 410.

Für Mirjam hat die Sexualität keine Grenze und alle Männer sind ihr in dieser Hinsicht
gleich; nur die körperliche Erfüllung sucht sie im männlichen Geschlecht:

Sie musste nach Amerika. Eine vage Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika,
zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld,
tröstete sie über das Nahe der Ernte. Schon kam sie. Mirjam hatte keine Zeit zu
verlieren. Sie liebte Stepan. […] sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen,
ihre gewaltigen Hände zündeten dennoch sachte die Flammen im Herzen an. Stepan
hießen die Männer, Iwan und Wsewolod. In Amerika gab es noch viel mehr Männer. 411

Religiöse Neigungen zeigt Mirjam nicht und Spuren der Zugehörigkeit zum Judentum
kann man bei ihr nicht finden. Zu ihrem Vater, der die jüdische Religiosität verkörpert,
hat sie keine besondere Beziehung. Sie verachtet ihn sogar. In einem Gespräch mit der
Mutter spricht Mirjam von dem Vater wie von einer fremden Person und Deborah fühlt
sich unsicher:

Lass ihn böse sein“, erwiderte Mirjam, „deinen Mendel Singer“. Zum ersten Mal hörte
Deborah den Namen des Vaters aus dem Mund eines ihrer Kinder. Einen Augenblick
schien es ihr, dass hier eine Fremde sprach, nicht Mendels Kind. […] „Bleib hier
Mutter!“ wiederholte Mirjam, „lass ihn allein, deinen Mann, fahr mit mir nach Amerika.
Lass Mendel Singer und Menuchim, den Idioten, hier. 412

Mirjam ist die Ursache der Heimatlosigkeit der Familie. Sie führt die Familie in die
Fremde, nach Amerika, wo sie als selbstständiger freier Mensch über ihr eigenes
Leben entscheiden kann. Als Mendel Singer, selbst entfremdet in seiner eigenen
Heimat, verhasst und einsam in seiner eigenen Familie, erfährt, dass Mirjam sich mit
den Kosaken einlässt, beschließt er ins Exil zu ziehen, zu seinem Sohn
Schemarjah/Sam nach Amerika, um die Tochter, die er als Kind so liebte und häufiger
liebkoste 413, zu retten: „Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muss
zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns, wenn
wir bleiben“ 414. Susanne Berg meint dazu, für die orthodoxen Juden breche damit ihre
ganze Welt zusammen, die in erheblichem Maße durch absoluten Gewaltverzicht

410
Hiob, S. 55.
411
Hiob, S. 54.
412
Hiob, S. 64.
413
Vgl. Hiob, S. 8.
414
Hiob, S. 50.
72
bestimmt sei. Mirjams rücksichtslose Verletzung der jüdischen Tradition, durch ihre
erotomanischen Beziehungen mit den Kosaken, sei symptomatisch für den inneren und
äußeren Auflösungsprozess, den der Roman darstelle. 415

2.3.2.3 Menuchim

Menuchim ist das vierte und jüngste Kind Mendel Singers und Deborahs. Er ist
eigentlich der Mittelpunkt der Familie. Die Geschichte von der Familie Singer beginnt
mit der Geburt Menuchims und endet mit dem Wiederfinden Menuchims. Sein Name
steht im ganzen Roman im Brennpunkt. Für Mendel und Deborah bedeutet Menuchims
Geburt eine Störung in ihrem sehr regelmäßigen Dasein. Menuchims Krankheit
symbolisiert die zerstörte Beziehung zwischen den Ehepartnern 416. Die Disharmonie
zwischen Mann und Frau, Mendel und Deborah, verkörpert sich in der äußeren Gestalt
des Kindes:

Im dreizehnten Monat seines Lebens begann er Grimassen zu schneiden und wie ein
Tier zu stöhnen, in jagender Hast zu atmen und auf eine noch nie dagewesene Art zu
keuchen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine
breite Stirn fächelte und furchte sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes Pergament.
Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren
Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund. 417

Für Menuchim gibt es in der kleinen Wohnung Mendel Singers keinen Platz:
„Menuchim hatte keine Wiege. Er schwebte in einem Korb aus geflochtenen
Weidenruten in der Mitte des Zimmers, mit vier Seilen an einem Haken im Plafond
befestigt wie ein Kronleuchter“ 418. Astrid Eckhoff deutet an, dass diese Szene die
erhabene und erhöhte Stelle Menuchims über die Umgebung beschreibt; er ist zwar im
Zentrum der Familie aber nicht ganz dazugehörend. 419 Menuchim hat einen
schwebenden Platz, und es kann, nach Eckhoff, als sein Schweben zwischen
Gesundheit und Krankheit, zwischen Leben und Tod in seiner Kindheit gedeutet
werden. 420 Man kann dieses Schweben auch mit Menuchims viel späterem Schweben
zwischen Tradition und Moderne assiziieren, als er als der erfolgreiche Musiker Alexej
Kossak in seiner sehr modernen Erscheinung in New York traditionelle jüdische

415
Vgl. Berg, Susanne: Archaik in der Moderne. Zu Joseph Roths „Hiob-Roman“. In: Der
Deutschunterricht 37,3 (1985), S. 102-105, hier S. 104.
416
Vgl. Raffael, S. 208.
417
Hiob, S. 11.
418
Hiob, S. 10-11.
419
Vgl. Eckhoff, S. 76.
420
Vgl. Eckhoff, S. 76.
73
Lieder komponiert. Astrid Eckhoff aber sieht in dem schon erwähnten Bild eine andere
Assoziation, nämlich die mit dem kleinen Moses im alten Testament, der später die
Israeliten gerettet hat; Menuchim hat auch seine Laufbahn in einem Korb begonnen. 421
Ja man könnte sagen, dass genau wie Menuchim am Anfang des Romans ein
Unheilszeichen ist, wird er am Ende des Romans zum Retter, zur Verkörperung der
Gnade Gottes. Für Mendel Singer ist Menuchim das einzige Mitglied der Familie, das
seine Identität bewahrt hatte: „Nur Menuchim blieb, was er gewesen war, seit dem
Tage seiner Geburt: ein Krüppel“ 422; genauso wie Mendel selbst. Auch Mendel
bewahrt seine Identität im ganzen Roman und blieb das, was er immer gewesen war:
ein Lehrer in der Heimat 423 und ein russischer Jude im Exil 424. Claudio Magris äußert:

Mendel Singer ist in der Tat der Repräsentant des patriarchalischen Moments, das heißt
der Forderung nach einer Wiedereinsetzung von Werten. Auch unter diesem
Gesichtspunkt steht er in einer in der jiddischen Literatur oft behandelten Thematik. In
der technologischen Gesellschaft unterliegen die Kinder und werden von ihr zermalmt:
Schemarjah nennt sich Sam und fällt als Soldat im amerikanischen Heer, Mirjam erliegt
den Verführungen und wird wahnsinnig. Einigermaßen von dieser Auflösung unberührt
bleiben nur die in Osteuropa zurückgelassenen Kinder, der anormale Menuchim tritt
schließlich sogar als Retter auf. einzig der Vater widerteht dieser Gesellschaft
[Amerika], er erscheint daher nicht als Symbol einer bestimmten und folglich
vergänglichen Generation, sondern als das Symbol einer klassischen, per definitionem
zur Dauer bestimmten Humanität. 425

Man kann davon ausgehen, dass für die Eltern Menuchim die festeste Bindung zur
Heimat bedeutet; im amerikanischen Exil ist ihre Sehnsucht nach ihm die Bedeutung
der Heimat. Sie wissen, dass sie ihn zurücklassen müssen, als sie beschließen, nach
Amerika auszuwandern, und ab diesem Zeitpunkt wird Menuchim zu ihrer Sehnsucht,
Heimkehr und Heimat.
Menuchims Heimat ist die Mutter. Das erste und einzige Wort, das er auszusprechen
vermag, ist das Wort „Mama“: „Und dieses eine Wort der Missgeburt war erhaben wie
eine Offenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der
Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine süße Frucht“. 426
Deborahs Liebe zum kleinen Krüppel ist für ihn und sein Leben ausschlaggebend.
Ohne sie wäre er nie geheilt worden, oder schon als ein kleines Kind zugrunde
gegangen. 427 Deborah, die sich aus mütterlicher Liebe ganz und gar Menuchim widmet

421
Vgl. Eckhoff, S. 76.
422
Hiob, S. 69.
423
Vgl. Hiob, S. 45.
424
Vgl. Hiob, S. 149.
425
Magris, S. 154.
426
Hiob, S. 28.
427
Vgl. Eckhoff, S. 79.
74
und ihn selbstlos betreut, wird ohne ihn heimatlos. Im Exil, wo sie gehofft hatte, eine
ganz fremde Welt zu finden, um „das alte Leben und Menuchim sofort zu
vergessen“ 428, findet sie nichts Neues. Das Leben im New Yorker Judenviertel ist das
gleiche wie in Zuchnow mit noch mehr Juden; aber es fehlt ihr etwas, was ihr das
Leben schwer macht:

Nein, sie wusste nicht genau, was ihr fehlte, Menuchim fehlte ihr. Oft, im Schlaf, im
Wachen, beim Einkaufen, im Kino, beim Aufräumen, beim Backen hörte sie ihn rufen
Mama! Mama! Rief er. Das einzige Wort, das er sprechen gelernt hatte, musste er jetzt
schon vergessen haben. Fremde Kinder hörte sie Mama rufen, die Mütter meldeten sich,
keine einzige Mutter ließ freiwillig von ihrem Kinde. Man hätte nicht nach Amerika
fahren dürfen. Aber man konnte ja immer noch heimkehren. 429

Auch für Mendel Singer hat Menuchim eine zentrale Bedeutung. Man kann sagen, er
hätte sich erhofft, dass Menuchim geheilt werden und anders als andere Kinder, die
sich der Assimilation unterwerfen, die Werte und die Tradition der Väter weitertragen
würde; daher lesen wir in einer entscheidenden Szene, in der er mit seinem Sohn
allein ist, dass Mendel ihn auf den Tisch setzt, sich in sein Gesicht vertieft und durch
die langsame Wiederholung seines Namen versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Der Sohn reagiert aber nicht. Daraufhin nimmt Mendel seinen Löffel, schlägt damit
gegen das Teeglas und „sofort wandte Menuchim den Kopf“ 430.Mendel setzt das
Klingeln fort und singt ein Lied. Die Schläge des Löffels und das Klingeln des Glases
bringen Menuchim in Unruhe. Mendel versucht diesen Kontakt weiter durch das
Sprechen und Zitieren aus der Bibel fortzusetzen, aber diese Art scheitert und
Menuchim zeigt keine Reaktion auf Zitate aus der Bibel und Schöpfungsgeschichte. 431
Mendel wünscht sich manchmal, er wäre öfter mit ihm allein zu Hause geblieben: „Er
liebte diese stillen Stunden. Er blieb gern allein mit seinem Sohn. Ja, manchmal
überlegte er, ob es nicht besser wäre, wenn sie überhaupt zusammenblieben, ohne
Mutter, ohne Geschwister“ 432.
Auch Mendel fehlt im Exil etwas, nach dem er sich sehnt: die Heimat und Menuchim
wieder zu sehen. Menuchims Motiv wiederholt sich in seinen Träumen in Amerika.
Jedes Mal wenn er seine Augen schließt, träumt er von Menuchim: „Am Nachmittag,
um die Stunde, in der zu Hause seine Schüler gekommen waren, legte er sich auf das

428
Hiob, S. 126.
429
Hiob, S. 127.
430
Hiob, S. 46.
431
Vgl. Hiob, S. 46-47.
432
Hiob, S. 46.
75
Rosshaarsofa, schlief ein bisschen und träumte von Menuchim“ 433. Diese Sehnsucht
geht so weit, dass er an einem Tag im amerikanischen Exil einen halbwüchsigen
Jungen, der ihm aus der Ferne bekannt erscheint, an der Ecke der Gasse mit Menuchim
verwechselt:

Der Junge lehnte in einem Haustor und weinte. Mendel hörte ein dünnes Wimmern, es
drang, so leise es auch war, bis zu Mendel, auf die gegenüberliegende Seite der Straße.
Wohlvertraut war dieser Laut. Er blieb stehen. […] Im Schatten des Abends und des
Haustors, in dem der Junge kauerte, schien er Menuchims Umriss und Haltung zu
bekommen. Ja, so, vor der Schwelle seines Hauses in Zuchnow, hatte Menuchim
gekauert und gewimmert Mendel machte noch ein paar Schritte. Da huschte der Knabe
ins Haus. Mendel trat bis zur Tür. Da hatte der finstere Hausflur den Jungen schon
aufgenommen. 434

Für das Wiederauftauchen Menuchims im Roman als eine Realität und nicht nur als eine
Erinnerung oder Sehnsucht wählt Joseph Roth ein wunderbares Wiedersehen des Vaters
mit dem Sohn als heilendes, hoffnungsvolles Ende. Menuchim sollte als Retter und im
Gewand eines Wunders für Mendel Singer erscheinen.

2.4 Die heimatlichen Bindungen

2.4.1 Die Bauern


Bäuerlich-ostjüdische Begegnung ist ein Bild, das häufig in den Romanen Joseph Roths
vorkommt. Im Hiob wird diese Begegnung als ein Aspekt der heimatlichen Atmosphäre
prägnant gezeigt. Die Wechselbeziehungen zwischen Bauern und jüdischer Bevölkerung
sind, wie Maria Klanska sie nennt, „alltäglich-leidlich“ 435, das heißt, dass man einander
als Geschäftspartner braucht und sich aneinander in der langen Zeit des
Zusammenlebens in der Heimat gewöhnt hat. 436 Trotz dieser Gewohnheit bleiben die
Juden mit ihren Bräuchen, ihrem Denken und Tun für die Bauern unverständlich;
irgendein Gefühl von Vertrautheit und gleichzeitig Fremdsein schwebt zwischen diesen
zwei sozialen Gruppen. Maria Klanska schreibt: „Er ist ihm vertraut und fremd zugleich,
wobei dieses Fremdartigkeitsgefühl in kritischen Augenblicken, besonders wenn
religiöse Anlässe vorkommen, sogar in einen spontanen Hass ausarten kann, der zu
Pogromen führt“ 437. Der Repräsentant der Bauernklasse im Hiob ist der Fuhrmann

433
Hiob, S. 130.
434
Hiob, S. 131.
435
Klanska: Galizische Heimat, S. 151.
436
Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 151.
437
Klanska: Galizische Heimat, S. 151.
76
Sameschkin. Als Deborah zu ihm geht, um ihn zu fragen, ob er sie in der nächsten Zeit
umsonst nach Kluczýsk mitnehmen kann, wird die Atmosphäre wie folgt beschrieben:

Er saß auf der blanken Ofenbank, ohne sich zu rühren, die Füße in graugelben Säcken,
mit Stricken umwickelt, und er duftete nach selbstgebrautem Schnaps. Deborah roch
den Branntwein wie einen Feind. Es war der gefährliche Geruch der Bauern, der
Verbote unbegreiflicher Leidenschaften und der Begleiter der Pogromstimmungen. 438

Die Zwiespältigkeit des Verhältnisses zwischen Bauern und Juden wird am stärksten in
einer Szene ausgedrückt, in der Mendel Singer mit Sameschkin unterwegs ist und sie
aufgrund eines Unfalls die Nacht gemeinsam in der Natur nebeneinander verbringen
müssen. Sameschkin, der erfahren hat, dass Mendel und seine Familie nach Amerika
auswandern, äußert sich: „Was fahrt ihr auch immer so viel in der Welt herum! Der
Teufel schickt euch von einem Ort zum andern. Unsereins bleibt, wo er geboren ist, und
nur wenn Krieg ist, zieht man nach Japan!“ 439. Mendel, der zum ersten Mal in seinem
Leben auf der nackten Erde, mitten in der wilden Nacht und neben einem Bauern sitzt,
fühlt sich zum ersten Mal vor allem frei von Vorurteilen und Sameschkin, der Bauer, ist
ihm in diesem Moment wie ein Bruder vertraut. Mendel weint neben ihm vor
Verzweiflung und Sameschkin wird von Mitleid mit dem weinenden Juden überwältigt.
Dann legt er Mendel den Arm um die Schulter und sagt beruhigend: „Schlaf, lieber
Jude, schlaf dich aus“ 440. Maria Klanska zieht den Schluss daraus, dass „das Mitleid des
Erzählers dem herumgetriebenen Juden gilt, mit dem er sich vielleicht sogar
identifiziert. Aber seine Bewunderung gilt der Sesshaftigkeit des Bauern“ 441. Mendel
Singer repräsentiert in der Tat den ewigen Juden, der nie zur Ruhe kommt, und
Sameschkin den sesshaften Menschen, der eigentlich angekommen ist.

2.4.2 Die Kosaken

Die Kosaken sind eine Bedrohung für die Familie Singer. Jonas, der älteste Sohn, wird
ein Soldat, und „Soldat“ bedeutet für Mendel Singer „Kosak“. Mirjam, die Tochter, ist
auch in dieser Hinsicht dem Bruder ähnlich. Sie liebt die Kosaken. Sie geht durch die
Gassen der Heimat „sorglos“ und „lustsüchtig“ 442. Ihre Art zu gehen fällt den Offizieren

438
Hiob, S. 46.
439
Hiob, S. 92.
440
Hiob, S. 93.
441
Klanska: Galizische Heimat, S. 151.
442
Hiob, S. 30.
77
der Garnison auf. Sie gehen ihr manchmal nach. Mirjam genießt diesen Augenblick des
„Gejagtwerdens“:

Nichts anderes nahm sie von ihren Jägern zur Kenntnis, als was sie durch die äußeren
Tore der Sinne gerade nachschicken konnte: ein silbernes Klirren und Rasseln von
Sporen und Wehr, einen verwehenden Duft von Pomade und Rasierseife, einen
knalligen Schimmer von goldenen Knöpfen, silbernen Borten und blutroten Riemen aus
Juchten. Es war wenig, es war genug 443

Mirjam zieht die Jäger hinter sich her, indem sie an jeder Straßenecke hält und ihre
Blicke zurückwirft. 444 Letztendlich läßt sie sich mit den Kosaken ein und ruiniert
dadurch das heimatliche Dasein der Familie. In der Geschichte der Juden in Osteuropa
spielen die Kosaken die Rolle der Feinde und mit ihrem Namen assoziiert man immer
die Pogrome. Sie waren die Vertreiber, die Verfolger und die Verführer der Ostjuden;
durch sie verloren viele Ostjuden ihre Heimat. Ihren Namen verband man mit der
Heimatlosigkeit. 445 Daher kann man sehr gut nachvollziehen, wenn Mendel Singer
denkt: „Hier war mein Großvater Lehrer; hier war mein Vater Lehrer, hier war ich ein
Lehrer. Jetzt fahre ich nach Amerika. Meinen Sohn Jonas haben die Kosaken
genommen, Mirjam wollen sie mir auch nehmen“ 446. Es hat eine tiefere Bedeutung, eine
historische. Gershon Shaked äußert: „Der Kosak ist das Symbol nicht nur der
Verfolgenden, sondern auch der verführerischen Welt der Nichtjuden“ 447. Man kann
sagen, dass in Hiob diese Gegenüberstellung der Tradition und des Kosakentums zum
Audruckkommt. Tradition hat mit Gott zutun, Kosakentum mit Teufel und Verführung.
Gershon Shaked schreibt:

Kosak steht also für mehr als eine russische Volksgruppe, die einen großen Teil der
russischen Armee stellt. Er ist ursprünglich das Sinnbild der Judenverfolger, was aus
den historischen Erfahrungen der Juden heraus verständlich ist. Im weiteren Verlauf des
Romans wird das Wort »Kosak« aber auch die Metapher für sexuelle Sünde und
Ausdruck der Xenophobie. 448

In Amerika, dem Land der Nichtjuden, quasi dem Land der Kosaken, weiß Mendel,
dass seine Tochter „mit Mac spazieren geht, tanzen geht, baden geht, turnen geht. Er
weiß, Mendel Singer, dass Mac kein Jude ist, die Kosaken sind auch keine Juden, so
weit ist es noch nicht“ 449 und später, als ein gewisser Mr. Glück auftaucht, denkt

443
Hiob, S. 30f.
444
Vgl. Hiob, S. 31.
445
Siehe Kapitel „Historischer Kontext“ vorliegender Arbeit.
446
Hiob, S. 102.
447
Shaked, S. 285.
448
Shaked, S. 285.
449
Hiob, S. 125.
78
Mendel Singer, „Ein neuer Kosak! […] Aber er sagte nichts“ 450. Hier ist „Kosak“ zur
Metapher der sexuellen Sünde geworden. Ob Mr. Glück Jude ist oder nicht spielt keine
große Rolle mehr. Er vertritt als „Kosak“ die Welt des Bösen, des Teufels. 451
Am Ende des Romans kommt Menuchim als ruhmreicher Komponist traditioneller
jiddischer Lieder nach Amerika und stellt sich dem Vater zuerst als Alexej Kossak vor.
Man kann das Vorkommen des Namens „Kossak“ als einen Hinweis auf die
Assimilation und deren Beziehung zu der Tradition betrachten. Dass sich Menuchim
diesen Namen ausgesucht hat, beruht auf seinem schon weiter oben erwähnten
Schweben zwischen Tradition und Assimilation. 452

450
Hiob, S. 149.
451
Vgl. Shaked, S. 285.
452
Siehe Kapitel „Menuchim“ vorliegender Arbeit.
79
2.5 Der Glaube

Mit der literarischen Figur Mendel Singers und seiner Attribute entwirft Roth das Bild
eines orthodoxen Juden, dessen Schicksal ihn und seine Familie ins Exil führt. Die
Erschaffung dieser Figur könnte die Beziehung ihres Schöpfers zum Judentum
implizieren. Da Roth selber, wie David Bronsen es andeutet, „aus seinem
Lebenselement herausgerissen“ war und da er seinem „eigenen Volk nicht angehörte,
war ihm sein Leben ein zwei- und dreifaches Exil“ 453. Aber sein Respekt für diejenigen
Juden, die auch im westlichen Exil orthodox blieben, ihre Heimat im Reich des Inneren
fanden, und seine enge und ernsthafte Freundschaft mit Joseph Gottfarstein, einem
orthodoxen Juden mit immensem jüdischem Wissen, „der einzige, den Roth nie
verhöhnte“, spricht dafür, dass Roth die Frömmigkeit liebte. 454 Man könnte daraus
schließen, dass er die gläubigen Juden um diesen inneren Halt und die seelische Heimat
beneidete. Roth reflektiert seine Liebe in der Person Mendel Singers, des einfachen
gläubigen Juden.
Mendel Singer entspricht dem Klischee, das man von einem frommen Ostjuden im
Westen hatte. Sein Leben besteht nur aus Gebeten und religiösen Zeremonien. Die
jüdische Tradition, Glauben und das Jiddischsein umfassen seine ganze Lebensform. Es
scheint, dass der einzige Ort, wo sich Mendel Singer tatsächlich zu Hause fühlt, gerade
die Welt seines Glaubens ist.
Schon vom Anfang des Romans an lernt man ihn als „fromm“ und „gottesfürchtig“ 455
kennen. Seine äußerliche Erscheinung entspricht einem typischen orthodoxen Ostjuden:

Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es [sein Gesicht] ganz. Den
Mund verdeckte der Bart. […] Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem
Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht
werden. Der Körper steckte im halblangen landesüblichen jüdischen Kaftan 456

Sein Lebensrhythmus deutet auf einen reinen Glauben hin, der ihm in der Tat den Halt
im Leben geschenkt hat. Die religiösen Gebote hält Mendel mit innerer Überzeugung
ein:

Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den
anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging, betete er noch einmal. Wenn die ersten
Sterne aufsprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte

453
Bronsen: Biographie, S. 550.
454
Vgl. Bronsen, Biographie, S. 543ff.
455
Hiob, S. 7.
456
Hiob, S. 7.
80
er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein
Gewissen war rein. Seine Seele war keusch. 457

Er lebt trotz seiner Armut in einer friedvollen Harmonie mit sich selbst und mit Gott
und nimmt alle Schicksalsschläge mit einer besonderen Gelassenheit hin, die man als
Fatalismus verstehen kann: „Mendel Singer aber, der Gerechte, floh vor keiner Strafe
Gottes“ 458. Mendels Gottvertrauen ist viel größer als sein Vertrauen zur modernen
Wissenschaft. So lehnt er das Angebot eines Arztes ab, der Menuchim mit ins
Krankenhaus nehmen will, wo er vielleicht geheilt werden könnte; er sagt zu seiner
Frau, die sich freut und Menuchim dem Arzt überlassen will: „Sei still, Deborah!
Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen
Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen, und Hühner
auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt“ 459. Mendel Singers Fatalismus
nimmt an manchen Stellen des Romans die Farbe der Naivität an, sodass er sich über
die Einberufung seiner Söhne nicht ärgert und mit einer besonders gelassenen Ruhe
sagt:

Was willst du Deborah […] die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine
goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen
sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt er, dem anderen nimmt er… man soll sein
Schicksal tragen! Lass die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen. Gegen den
Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ‚Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt
sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen’ – so steht es
geschrieben. 460

Nachdem Mendel Singer sieht, dass seine Kinder ihren Weg in die Assimilation gehen
und das Band zu ihren Eltern abreißt, ahnt er, wie Eva Raffel es ausdrückt, dass er
keinen Halt mehr in dieser irdischen Welt hat, weil die Werte, die er an seine Kinder
vermittelt, nichts mehr wert sind; sie gehen doch durch die Generation der Kinder
verloren, und in diesem Moment der Erkenntnis weiß er, dass für ihn die einzige Heimat
noch sein unerschütterlicher Glaube ist. 461
Gottergebenheit heißt für Mendel, den Blick von den Mitmenschen abzuwenden hin zur
religiösen Erfüllung. Daher kapselt er sich in der engen Gemeinschaft des Schtetls
völlig von der Außenwelt ab und gibt sich vollkommen der Familie und seiner
Glaubenswelt hin. 462 Sein Zuhause ist das Bethaus, wo er fünf Mal am Tag und bei

457
Hiob, S. 8.
458
Hiob, S. 12.
459
Hiob, S. 13.
460
Hiob, S. 43f.
461
Vgl. Raffel, S. 219.
462
Vgl. Eckhoff, S. 22.
81
jeder Gelegenheit, gut oder schlecht, Zuflucht findet. 463 David Bronsen deutet in seiner
Roth Biographie an, dass Roth selber große Sehnsucht nach „jüdischer Frömmigkeit“
hatte, aber er meinte, Gott „ließe sich nicht im Tempel finden, sondern nur im Schteibl“,
und das heißt im kleinen Gebetshaus der Ostjuden. 464 Diese liebevolle Sehnsucht
widerspiegelt sich in der Beschreibung des Gebetshauses im Hiob-Roman. Das Bethaus
wird im Gegensatz zu Mendels eigenem Haus, das ganz neutral und seelenlos
geschildert wird 465, so liebevoll beschrieben, dass dem Leser kein Zweifel daran bleibt,
dass dieser Ort die wahre Geborgenheit für Mendel bietet. Da er in seinem sozialen
Makrokosmos: Zarismus, russisches Kosaken- und Bauerntum und Christentum nichts
außer Bedrohung empfindet, sucht er sein Zuhause in dem Mikrokosmos Bethaus:

Es konnten kaum drei Stunden verflossen sein, seitdem er das Bethaus verlassen hatte.
Nun, da er es wieder betrat, war ihm, als kehre er nach vielen Wochen dahin zurück,
und er strich mit einer zärtlichen Hand über den Deckel seines alten Gebetspultes und
feierte mit ihm ein Wiedersehn. Er klappte es auf und langte nach seinem alten,
schwarzen und schweren Buch, das in seinen Händen heimisch war und das er unter
tausend gleichartigen Büchern ohne Zögern erkannt hätte. So vertraut war ihm die
lederne Glätte des Einbands mit den erhabenen runden Inselchen aus Stearin, den
verkrusteten Überresten unzähliger längst verbrannter Kerzen, und die unteren Ecken
der Seiten, porös, gelblich, fett, dreimal gewellt durch das jahrzehntelange Umblättern
mit angefeuchteten Fingern. Jedes Gebet, dessen er im Augenblick bedurfte, konnte er
im Nu aufschlagen. Eingegraben war es in sein Gedächtnis mit den kleinsten Zügen der
Physiognomie, die es in diesem Gebetbuch trug, der Zahl seiner Zeilen, der Art und
Größe des Drucks und der genauen Farbtönung der Seiten. 466

Mann kann daraus schließen, dass das Bethaus, das ein Symbol für Religiosität ist, die
Unmöglichkeit von Heimatbesitz für die Juden in der Wirklichkeit impliziert; das heißt,
dass Mendel Singer in diesem Ort einen Heimatersatz findet, nämlich im Haus des
Betens, wo der Glaube praktiziert wird, weil ihm exemplarisch als ein Jude seit
Jahrtausenden unmöglich ist, die Heimat außerhalb der heiligen Schrift und Erinnerung
wiederzufinden. 467 Dieser Ort des Glaubens, in dem man die heilige Schrift liest, mit
Gott redet und zu ihm betet, gilt für einen frommen Juden als seine Heimat, sein
Zuhause, gerade weil er dort immer wieder die Erinnerung an die wirkliche Heimat, an
Palästina, wiederholen und beleben kann.
Mendel Singers ganzes Dasein ist von einer unmittelbaren Liebe zu Gott erfüllt. Seine
ekstatische Haltung beim Beten könnte man als einen mystischen Zustand beschreiben,
in dem der Mystiker weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft lebt; er ist voller

463
Vgl. Hiob, S. 68.
464
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 549.
465
Vgl. Hiob, S. 60.
466
Hiob, S. 74.
467
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 114.
82
Gegenwart und erfüllt vom göttlichen Licht und göttlicher Liebe. Kein Schlag kann
diesen Menschen erschüttern, kein Teufelspfeil ihn erreichen; gerade diese direkte
Verbindung zwischen dem Menschen und Gott, ohne irgendeine Mittlerschaft macht die
Faszination des Glaubens in der Figur Mendel Singers aus:

Mendel Singer entzündete zwei Kerzen, klebte sie fest am nackten Holz des Pultes,
schloß die Augen und begann zu beten. Mit geschlossenen Augen erkannte er, wo eine
Seite zu Ende war, mechanisch blätterte er die neue auf. Allmählich glitt sein
Oberkörper in das altgewohnte regelmäßige Schwanken, der ganze Körper betete mit,
die Füße scharrten die Dielen, die Hände schlossen sich zu Fäusten und schlugen wie
Hämmer auf das Pult, an die Brust, auf das Buch und in die Luft. Auf der Ofenbank
schlief ein obdachloser Jude. Seine Atemzüge begleiteten und unterstützten Mendel
Singers monotonen Gesang, der wie ein heißer Gesang in der gelben Wüste war,
verloren und vertraut mit dem Tode. Die eigene Stimme und der Atem des Schlafenden
betäubten Mendel, vertrieben jeden Gedanken aus seinem Herzen, nichts mehr war er
als ein Beter, die Worte gingen durch ihn den Weg zum Himmel, ein hohles Gefäß war
er, ein Trichter. So betete er dem Morgen entgegen. 468

Aus dieser beneidenswerten und harmonischen inneren Heimat fällt Mendel


Singer erst heraus, als er ins Exil, nach Amerika zieht, und ihm alles Heimatliche
verloren geht.

468
Hiob, S. 75f.
83
IV Das Exil: Amerika

1 Der Exodus nach Amerika

Um die Tochter Mirjam vor den Kosaken retten, beschließen Mendel und Deborah,
ihrem in Amerika schon lange heimisch gewordenen Sohn Schemarjah, der sich in der
neuen Welt Sam nennt zu folgen. Sie hegten die Hoffnung, dass es in Amerika keine
Kosaken mehr gebe: „Mirjam geht mit einem Kosaken, in Russland kann sie es wohl, in
Amerika gibt es keinen Kosaken“ 469 denkt sich Deborah. Das größte Problem ist der
kranke Menuchim, der nicht mitreisen kann. Sie müssen ihn zurücklassen, wobei sie bis
zuletzt auf ein Wunder, auf die Erfüllung der Prophezeiung des Wunderrabbis noch vor
dem schon beschlossenen Exodus nach Amerika hoffen. Deborahs Unruhe steigert sich
mit der Zeit, weil der Wunderrabbi riet, Menuchim nicht zu verlassen, da er nach langen
Jahren gesunden werde: „Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last
ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch“ 470. Doch
das Wunder bleibt aus, jedenfalls bis zum Tag der geplanten Auswanderung. Menuchim
soll bei der befreundeten Familie Billes zurückbleiben, und „es wurde ausgemacht, dass
Mendel Singer sein Haus vor einfachen Zeugen der Familie Billes zur Benutzung
übergeben“ werde und sie auf Menuchim aufpassen würden 471.
Die Orientierungslosigkeit beginnt für Mendel schon bei der Beschaffung der
Dokumente und Papiere: „Ich will nach Amerika – wo muss ich hin?“ 472 fragt Mendel
hilflos einen Beamten. Das Verlorensein hat bereits begonnen, deutet Eva Raffel an. 473
Raffel ist der Meinung, dass der Deichselbruch, den der Wagen von Fuhrmann
Sameschkin auf der Rückfahrt von dem Amt erleidet, ein „symptomatisches Zeichen für
den Zusammenbruch der Familie“ ist, und die Familie wiederum für „das ewig
flüchtende Judentum“ 474 steht. Daher sind die Worte Fuhrmann Sameschkins sehr
treffend, als er Mendel sagt: „So beginnt deine Reise nach Amerika, […] was fahrt ihr
auch immer so viel in der Welt herum! Der Teufel schickt euch von einem Ort zum

469
Hiob, S. 78.
470
Hiob, S. 20.
471
Hiob, S. 103.
472
Hiob, S. 86.
473
Vgl. Raffel, S. 219.
474
Raffel, S. 219.
84
anderen“ 475. Die Auflösung nimmt ihren Gang und schon vor der Abreise beginnt der
Zerfall des Hauses Mendel Singers:

alle wussten schon, dass Mendel nach Amerika ging, ein Schüler nach dem anderen
blieb vom Unterricht weg. Jetzt waren es nur noch fünf Knaben, auch sie kamen nicht
zu regelmäßigen Zeiten. Die Papiere hatte Kapturak noch nicht gebracht, die
Schiffskarten hatte Sam noch nicht geschickt. Aber schon begann das Haus Mendel
Singers zu zerfallen. 476

In diesem Moment ist Amerika nicht mehr das Land der Hoffnung, wie sich Deborah
denkt: „Amerika ist ein gesegnetes Land. […] Russland ist ein trauriges Land, Amerika
ist ein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehr sein, der Vater
eines reichen Sohnes wird er sein“ 477, sondern es ist das Schicksal, vor dem sie sich
nicht retten können: „Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den
Entschluss gefasst, nach Amerika zu gehen, sondern als wäre Amerika über sie
gekommen, über sie hergefallen, […]sie konnten sich nicht mehr vor Amerika
retten“ 478. Und so beginnt der Exodus Familie Singer exemplarisch für das gesamte
Ostjudentum nach Amerika.

2 Das Amerika-Bild in Roths Hiob


Das erste, was Mendel bei der Ankunft im Hafen von New York erblickt, ist die
Freiheitsstatue, die sie wie Millionen von anderen Immigranten mit Strahlenkrone und
Fackel empfängt. 479 Mendel erfährt von einem Juden, der neben ihm steht, dass die
Fackel, die die Freiheitsstatue in der Hand hält, „brennt und dennoch niemals ganz
verbrennen kann“ 480. Eva Raffel lässt durchblicken, dass Roth in dieser Stelle die
Worte des alten Testaments über den brennenden Dornbusch 481 wiedergibt 482, mit
denen der Exodus der Juden aus der ägyptischen Sklaverei eingeleitet und ihnen ein
Land versprochen wurde, in dem Milch und Honig fließen würden. 483 Sie weist weiter
darauf hin, dass Roth hier mit diesen Worten seinem großen Misstrauen Ausdruck
verlieh, das er dem Zeitalter der Industrialisierung entgegenbrachte, dessen

475
Hiob, S. 92.
476
Hiob, S. 102.
477
Hiob, S. 78.
478
Hiob, S. 106.
479
Vgl. Hiob, S. 114.
480
Hiob, S. 114.
481
Vgl. 2 Mos 3,2; Dort erschien ihm der Engel des Herren in einer Flamme, die aus einem Dornbusch
emporschlug. Er schaute hin: da brannte der Dornbusch und verbrannte nicht.
482
Vgl. Raffel, S. 220.
483
Vgl. 2 Mos 3.8: Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land
hinaufzufahren in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen…
85
Verkörperung die westliche Welt, vor allem Amerika war. 484 Die Freiheitsstatue ist im
Inneren hohl und es könnte als eine Anspielung auf die hohle Freiheit in Amerika, die
nur auf äußerlichen, oberflächlichen Werten, wie Geld, Autos und Besitz beruht,
verstanden werden. 485
Das Wiedersehen des Sohnes, Schemarjah, verwirrt Mendel Singer. Er ist Schemarjah
und zugleich Sam, „als wenn ein Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre, ein
durchsichtiger Sam. […] Er war zwar Schemarjah, aber es war Sam“ 486. Eva Raffel
deutet diese Spaltung an und schreibt:

Mendel muss feststellen, dass aus Schemarjah wirklich Sam geworden ist, denn dieser
trägt keinen Bart mehr. Die meisten frommen Juden verurteilen einen Mann aufs
schärfste, der sich den Bart rasieren lässt – wie überhaupt das rasierte Gesicht das
deutliche Merkmal für den Abfall vom Glauben darstellt 487.

Ja, Schemarjahs „Angesicht ist glatt, wie ein nobler Grabstein“, und duftet nach
„Schneeglöckchen“ und „auch ein wenig wie Karbol“ 488. Eva Raffel meint, man könnte
die Assoziation mit „noblem Grabstein“ als einen Hinweis auf Sams frühen Tod für das
neue Vaterland Amerika verstehen. Sam hat die Werte des Judentums begraben und
hinter seinem neuen noblen Aussehen sieht Mendel nichts von der jüdischen
Identität 489.
Die erste richtige Begegnung Mendel Singers mit Amerika ist seine erste Fahrt durch
New York. An einem hellen und heißen Tag sitzt Familie Singer im Auto von Sams
Freund Mac. Für Mendel Singer ist das, als ob er eine Höllenfahrt gemacht hätte: „Der
schwere Wagen ratterte über die Straßen mit einer wütenden Wucht, […] als wäre es
seine Absicht, Stein und Asphalt für ewige Zeiten zu zertrümmern und die Fundamente
der Häuser zu erschüttern“ 490; Mendel ist in diesem Moment „der Jude auf
Wanderschaft“ und muss „an die Wüste denken, durch die seine Ahnen vierzig Jahre
gewandert waren“ 491, er denkt und sagte sich: „Aber sie waren wenigstens zu Fuß
gegangen“ 492. In der „wahnsinnigen Eile, in der sie dahin rasten“ spürt Mendel einen
heißen Wind, „den feurigen Atem der Hölle. Statt zu kühlen, glühte er. Der Wind war

484
Vgl. Raffel, S. 220.
485
Vgl. Raffel, S. 220.
486
Hiob, S. 115.
487
Raffel, S. 220.
488
Hiob, S. 115.
489
Vgl. Raffel, S. 221.
490
Hiob, S. 117.
491
Hiob, S. 117.
492
Hiob, S. 117.
86
kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, es war ein wehender Lärm“ 493. Eine
kindliche Regression bemächtigt sich seiner, „Die Muskeln seines Angesichts waren
erstarrt. Er hätte lieber geweint wie ein kleines Kind“ 494. Seine mit dem Geruch der
slawischen Natur vertraute Nase riecht

den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen und spröden Staub in
der Luft, den ranzigen und fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den
beizenden Geruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen
Sumpfgeruch aus Fischhallen, die Maiglöckchen und das Karbol von den Wangen
seines Sohnes. 495

Amerika ist das Land der Ohnmächtigkeit. Mendel hat seine Sinne nicht mehr
beieinander, „er wusste nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war“ 496. Er
verliert die Grundfähigkeiten eines Menschen und entfremdet sich völlig von sich
selbst, wie in einer Ohnmacht: „Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn,
Amerika zerschmetterte ihn. Nach einige Minuten wurde er ohnmächtig“ 497. Mendel
Singer ist in dieser Situation machtlos; er ist passiv und dem Geschehen ausgeliefert, er
zerbricht nicht an Amerika, sondern „Amerika zerbrach ihn“ 498. Er verliert den Bezug
zu sich selbst, und seine Persönlichkeit ist aufgelöst; im wahrsten Sinne des Wortes hat
er kein Selbstbewusstsein mehr: „Erst an seinen Angehörigen erkannte er sich wieder.
Ein bisschen schämte er sich. […] Es war ihm, als wäre er aus sich selbst
herausgestoßen worden, von sich selbst getrennt würde er fortan leben müssen“ 499. Die
Auflösung seiner Identität nimmt ihren Gang mit der Erkenntnis, dass er in Amerika
nichts zu suchen hat; er ist mit der ganzen Welt um sich herum entfremdet: „Was gehen
mich diese Leute an […] Was geht mich ganz Amerika an? Mein Sohn, meine Frau,
meine Tochter, dieser Mac? Bin ich noch Mendel Singer? Wo ist mein Sohn
Menuchim?“ 500. Claudio Magris meint, dass der ganze Roman von der bejahenden
Antwort auf diese Identitätsfrage zusammengehalten wird. 501
Mendel Singer verlässt mit Menuchim auch sich selbst in Russland: „Es war ihm, als
hätte er sich selbst in Zuchnow zurückgelassen, in der Nähe von Menuchim“ 502. Eva
Raffel ist der Meinung, dass Mendel Singer nur im Schtetl Selbstbewusstsein hatte,

493
Hiob, S. 117.
494
Hiob, S. 118.
495
Hiob, S. 118.
496
Hiob, S. 118.
497
Hiob, S. 118.
498
Hiob, S. 118.
499
Hiob, S. 119.
500
Hiob, S. 119.
501
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 153.
502
Hiob, S. 119.
87
unter seinesgleichen, den anderen Ostjuden, denn er war dort nicht fremd, und seine
ostjüdische Erscheinung war nicht auffallend. In Amerika ist Mendel Singer fremd und
eine auffällige Persönlichkeit, gespalten zwischen dem Bedürfnis, sich der neuen
Umgebung anzupassen, und dem Wunsch, sein Judentum für sich zu bewahren. 503
Schon nach der ersten Begegnung Mendel Singers mit „Amerika“ fängt in seinem Innen
der Prozess der Vereinsamung an. Amerika macht ihn einsam: „Und während es um
seine Lippen lächelte und während es seinen Kopf schüttelte, begann sein Herz langsam
zu vereisen, es pochte wie ein metallener Schlegel gegen kaltes Glas. Schon war er
einsam, Mendel Singer: schon war in Amerika“ 504.
Claudio Magris sieht in der direkten Berührung der völlig horizontalen
gesellschaftlichen Wirklichkeit Amerikas und der inneren vertikalen Wirklichkeit der
Persönlichkeit Mendels und der von ihm verkörperten Tradition einen
Verfremdungseffekt. „Amerika ist ein ironisches God’s own country, ein Gelobtes
Land“ 505.
Mendel, Deborah und Mirjam wohnen in einer dunklen, kümmerlichen Wohnung im
ersten Stock eines Hauses im Judenviertel New Yorks, was als ein „Glücksfall“ 506
beschrieben wird, weil man leicht auch im zweiten, im dritten, im vierten Stock hätte
wohnen können. 507. Mendel schläft in der Küche und die Frauen im einzigen
Wohnraum: „Paläste bewohnt man auch in Amerika nicht“ 508. Es fehlt in der
Wohnung an Licht und Sonnenschein, dafür gibt es aber Ungeziefer in Mengen 509. Es
stinkt und lärmt im Haus: „Die Treppe ist schief und schmutzig, immer finster. Mit
Streichhölzern beleuchtet man auch am Tag die Stufen. Es riecht warm, feucht und
klebrig nach Katzen. […] Alle Bretter quietschen, wenn Mendel durch die Stube
geht“ 510. Unbewusst vergleichen Mendel und Deborah die neue Welt mit der alten. Die
neue Welt ist auch eine Kopie der Judengasse in Zuchnow. Deborah denkt sich: „Aber
dieses Amerika war keine neue Welt. Es gab mehr Juden hier als Kluczýsk. Hatte man
den weiten Weg über das große Wasser nehmen müssen, um wieder nach Kluczýsk zu
kommen, das man in der Fuhre Sameschkin hätte erreichen können?“ 511. Der
Unterschied liegt in der Qualität des Lebens: „Licht und Sonne hatte Deborah

503
Vgl. Raffel, S. 221f.
504
Hiob, S. 120.
505
Magris: Weit von wo, S. 152.
506
Hiob, S. 125.
507
Vgl. Hiob, S. 125.
508
Hiob, S. 125.
509
Vgl. Hiob, S. 139.
510
Hiob, S. 125.
511
Hiob, S. 126.
88
wenigstens zu Hause gehabt“ 512, die Fenster gehen in Zuchnow gen Himmel auf und in
Amerika „in einen finsteren Lichthof, in dem Katzen, Ratten und Kinder sich balgten,
um drei Uhr nachmittags, auch im Frühling, musste man die Petroleumlampe
anzünden, nicht einmal elektrisches Licht gab es“ 513.
Obwohl im Haus Friede herrscht und Deborah und Mirjam gut miteinander leben, fühlt
sich Mendel einsam und unglücklich: „Mutter und Tochter flüstern miteinander, oft,
lange nach Mitternacht, Mendel tut, als ob er schliefe. Er kann es leicht“ 514. Esther
Steinmann weist darauf hin, dass „sich das Unglück eben nicht nur aus Geschehnissen
der äußeren Wirklichkeit zusammensetzt, sondern durchaus ein Innenleben, eine
verborgene Rückseite hat. Zu den Voraussetzungen jenes Unglücks von innen gehört
der Mangel an Zufriedenheit“ 515. Obwohl man zu Beginn des zweiten Teils liest: „Von
Mendel Singer aber wissen wir, dass er nach einigen Monaten in New York zu Hause
war. Ja er war beinahe heimisch in Amerika!“ 516, wird man nicht wirklich überzeugt,
dass dies wahr ist. Durch das „beinahe“, meint Eva Raffel, wird ein großer Abstand
hervorgehoben, der zwischen Mendel Singer und seinem amerikanischen Umfeld
besteht. 517
Die äußeren Erscheinungen der Amerikanisierung schleichen in das Haus Mendel
Singers: das Grammophon, das Sam „schon“ besitzt und das Mirjam „manchmal“ bei
der Schwägerin ausleiht und in „getreuen Armen, durch die Straßen, wie ein krankes
Kind“ 518 trägt; die Gewohnheit Sams, sich „zweimal am Tag“ zu waschen und seinen
Anzug, den er „am Abend trägt“, Dress zu nennen und seine häufige Verwendung der
englischen Ausdrücke 519; die Tatsache, dass Deborah „schon zehnmal im Kino und
dreimal im Theater“ war; ihr seidenes, dunkelgraues Kleid, das sie von Sam geschenkt
bekommen hatte und ihre goldene Kette, die sie „um den Hals“ trägt, und die sie wie
„eines der Lustweiber, von denen manchmal die heiligen Schriften erzählen“ 520
aussehen lässt; Mirjams Job als Verkäuferin „in Sams Laden“, ihr Verhalten, nach
Mitternacht heimzukommen und um sieben Uhr morgens wegzugehen und dem Vater
„Guten Abend, Vater! Guten Morgen, Vater“ zu sagen und „weiter nichts“ 521, ihr

512
Hiob, S. 126.
513
Hiob, S. 126.
514
Hiob, S. 126.
515
Steinmann, S. 45.
516
Hiob, S. 123.
517
Vgl. Raffel, S. 222.
518
Hiob, S. 124.
519
Hiob, S. 124.
520
Hiob, S. 124.
521
Hiob, S. 125.
89
nobles Aussehen, mit „Hut und Seidenstrümpfen“ 522 und ihre Beziehung mit dem
amerikanischem Mac, dem besten Freund Sams 523 - alles spricht für den unbedingten
Willen zur Assimilation im Haus Mendel Singers.
Mendel bleibt aber seiner einfachen bescheidenen Lebensführung und dem
traditionellen Äußeren treu; er betrachtet seinen Aufenthalt in Amerika als
vorübergehend und träumt ständig von der Rückkehr in sein russisches Schtetl und vom
Wiedersehen mit Menuchim. 524 Zwar bewundert Mendel Singer den Fortschritt und die
schnelle Entwicklung der Technik in Amerika, und er glaubt seinen Kindern „aufs
Wort“, dass „Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und
Englisch die schönste Sprache. […] Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel,
schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, […] Die Welt wird sehr schön
sein“ 525, aber die Erkenntnis, dass er alle diese Ereignisse nicht erleben werde, und dass
„er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde“ 526, beruhigt ihn. Eva
Raffel ist der Meinung, dass der fast märchenhafte Ton an dieser Stelle das
Unrealistische an diesen Gedanken zeigt. 527
Bodo Rolka äußert, Roth habe in seinen Werken versucht, ein zweiseitiges Amerika zu
zeigen: einerseits ein Beispiel für die fortgeschrittenste Technik, andererseits ein
Beispiel für ein Land, „in dem die Zerstörung der elementaren menschlichen Werte am
weitesten fortgeschritten ist“ 528. - das zweite Bild kann man zum Beispiel im Verhalten
Sams sehen, der mit menschlichen Werten aufgewachsen ist, aber in Amerika, wo es
ums Geld und Geschäft geht, alle diesen Werte wegwirft und dem Vater mit besonderer
Eitelkeit erzählt : „Jetzt kommen die Versicherungsagenten zu mir. Ich sehe sie mir an,
denke mir: ich kenn das Geschäft, und werfe sie hinaus, eigenhändig. Alle werfe ich
hinaus!“ 529 – Amerika wird, setzt Rolka fort, „zu einer Chiffre für das Böse“, und das
Böse „manifestiert sich als die zunehmende Entfernung des Menschen von Gott“ 530.
In diesem Land setzt das Heimweh Mendel Singers nach Russland ein. Erst in
Amerika wird ihm bewusst, dass er dem kleinen ostjüdischen Schtetl Zuchnow, trotz
allen dortigen Entfremdungen zugehört.

522
Hiob, S. 126.
523
Vgl. Hiob, S. 127.
524
Vgl. Hiob, S. 139.
525
Hiob, S. 138.
526
Hiob, S. 139.
527
Vgl. Raffel, 225.
528
Rolka, Bodo: Joseph Roths Amerikabild. In: Literatur und Kritik. Heft 70. Salzburg 197, S. 590-598,
hier S. 597.
529
Hiob, S. 128.
530
. Rolka, S. 597.
90
3 Ausbruch der Katastrophe
3.1 Verlust der Familie

Amerika bedeutet aber auch den vollständigen Verlust all dessen, was bislang zur
Selbstverständlichkeit gehörte. Der Aufbruch nach Amerika macht die Auflösung der
Familie, den Zerfall des Hauses Mendel Singers offenkundig: „Wie morsch muss es
doch gewesen sein, dachte Mendel. Es ist morsch gewesen, und man hat es nicht
gewusst“ 531. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, während „zum ersten mal die
Sorgen das Haus Mendel Singers“ 532 verlassen, zieht Sam, der das Fortleben der
Familie gesichert hat, für Amerika in den Krieg, denn „Amerika ist nicht Russland.
Amerika ist ein Vaterland. Jeder anständige Mensch ist verpflichtet, für das Vaterland
in den Krieg zu gehen“ 533. Er läßt Mirjam den Eltern diese pathetischen Worte
ausrichten. Mendel, der einen Sohn „dem Zaren gegeben“ hat, denkt sich, „es wäre
genug gewesen“ 534. Er ist nicht überzeugt, dass Amerika ein Vaterland ist, und sucht
die Schuld in sich, in seinen eigenen Taten, ohne zu erkennen, wie Bernd Hüppauf es
meint, „dass nicht er gesündigt, sondern die Welt um ihn herum sich verändert hat“ 535.
Mendel Singers Schuldgefühlt nimmt ihm die Ruhe:

Vielleicht war Amerika ein Vaterland, der Krieg eine Pflicht, die Feigheit eine Schande,
[…] Dennoch,[…] bin ich der Vater, ich hätte ein Wort sagen müssen. » Lange Jahre
habe ich gewartet, um einen kleinen Zipfel vom Glück zu sehen. Nun ist Jonas bei den
Soldaten, wer weiß, was mit Menuchim geschehen wird, du hast eine Frau, ein Kind
und ein Geschäft. Bleib Sam! « Vielleicht wäre er geblieben. 536

Sam fällt im Krieg. Mac, sein bester Freund, kehrt zurück und bringt der Familie
Singer Sams „Uhr und die letzten Grüße“ 537. Deborah verkraftet die Todesnachricht
ihres Sohnes nicht und stirbt unmittelbar aus Kummer darüber. Mendel, der den Tod
Deborahs zunächst scheinbar nicht wahrnimmt, denkt sich: „Auch Menuchim ist
gestorben, allein, unter Fremden“ 538. In einem Gespräch mit der toten Deborah

531
Hiob, S. , I/909 (muss finden)
532
Hiob, S. 137.
533
Hiob, S. 146.
534
Hiob, S. 147.
535
Hüppauf, S. 42.
536
Hiob, S. 147.
537
Hiob, S.1 50.
538
Hiob, S. 152.
91
erbringt Mendel seinen immer noch fest verwurzelten Glauben: „Er ist der Herr, Er
weiß, was er tut“ 539. Aber er befindet sich in einer trostlosen Lage. Sein Herz ist leer
und er ist nicht mehr Mendel Singer, er ist „der Rest von Mendel Singer“ 540. Mendel
setzt das Gespräch mit der toten Deborah fort; in der Wucht seiner Wut bringt er
seinen Hass gegen die mörderische Rolle Amerikas, des Pseudo-Vaterlandes, zum
Ausdruck:

Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was
bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod. Der Sohn, der bei
uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen. In Amerika bist du begraben, Deborah,
auch mich, Mendel Singer, wird man in Amerika begraben. 541

Nach den sieben Trauertagen bringt man Mendel Singer die Nachricht von Mirjams
Wahnsinn: „Der Teufel ist in sie gefahren“ 542. Sie hat in die Anstalt gebracht werden
müssen, und wird auf einer „Bahre“ weggetragen. Eva Raffel gibt zu verstehen, dass
man eine Bahre nur für Tote nimmt, einen kranken Menschen transportiert man auf
einer Trage. Folglich deutet es darauf hin, dass Mirjam auch nicht mehr zu retten ist.
Ihre Krankheit ist eine unheilbare Krankheit. 543 Es gibt überhaupt keine Hoffnung
mehr. Mendel ist alles verloren gegangen. Er begreift, dass Amerika nicht die
erträumte Rettung gewesen ist. Amerika kann keine Rettung sein. Es hat den Zerfall
beschleunigt: „Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihr
Menuchim, den treuesten aller Toten. Wären wir dort geblieben – dachte Mendel, -
gar nichts wäre geschehen!“ 544. Über die rettungslose Situation Mirjams äußert Eva
Raffel, dass es ein Zeichen für das Versagen Amerikas als einer Lösung für die
europäischen Probleme ist, auch für die nachfolgende Generation. 545
Durch den Verlust der Familie geht Mendel den wichtigsten Halt seines Lebens,
nämlich sein starker Glaube, auch verloren.

3.2 Verlust des Glaubens

Mendel Singers innere Heimat, sein Glaube, der während der Jahre des Exils
unerschütterlich bleibt, der nichts erwartet, hofft oder fürchtet, der jede Neuigkeit

539
Hiob, S. 154.
540
Hiob, S. 154.
541
Hiob, S. 154.
542
Hiob, S. 157.
543
Vgl. Raffel, S. 225; In der Krankheit Mirjams schildert Roth die hoffnungslose Situation seiner
geisteskranken Frau, Friedl. Vgl. Bronsen: Biographie, S. 385.
544
Hiob, S. 158.
545
Vgl. Raffel, S. 225.
92
ausschließt und ihn immer bestärkt, alles mit sich geschehen zu lassen, nichts aber in
sich, wird durch diese Abfolge von Unglücksnachrichten und Häufung von Leid
erschüttert, und er lehnt sich gegen Gott auf, nachdem seine harten Prüfungen ihn
niedergeschmettert haben.
Mendel Singer steht in der Mitte des Lebens ohne jemanden an seiner Seite zu haben.
„Es fiel ihm ein, dass er schon seit Jahren einsam war. Einsam war er seit dem
Augenblick gewesen, an dem die Lust zwischen seinem Weib und ihm aufgehört hatte.
Allein war er, allein“ 546. Alle seine Bindungen sind zerbrochen. Nur eine Beziehung
ist ihm übrig geblieben, die er zu lösen beabsichtigt; diejenige, die sein ganzes Leben
hindurch die wichtigste für ihn gewesen ist, die ihm als der wichtigste Halt seines
Lebens, als seine Heimat gilt. Er bricht mit Gott. Zu seiner Schwiegertochter sagt er:
„Ein paar Welten habe ich zugrunde gehen sehn, endlich bin ich klug geworden. Alle
Jahre war ich ein törichter Lehrer. Nun weiß ich, was ich sage“ 547. Mendel lässt Gott
und seinen Glauben in Flammen aufgehen, und murmelt währenddessen die Bilanz
seines Lebens:

Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer. […] Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er
hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gott sagt: ich habe Mendel Singer
gestraft; wofür straft er, Gott? […] Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel
hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus
ist es mit Mendel Singer. 548

Eva Raffel lässt erkennen, dass Mendel in dieser Episode von sich in der dritten Person
spricht, und das heißt in der „größtmöglichen Distanz“; da er sich von Gott lossagte,
entfernte er sich weiter von sich selbst als je zuvor: „Das Personalpronomen der
größten Nähe bleibt Gott vorbehalten“. 549
Mendels Herz ist „böse auf Gott“, aber, als er das „rotsamtene Säckchen“, in dem
seine „Gebetsriemen lagen, sein Gebetsmantel und seine Gebetsbücher“ in den Armen
hält, wirft er es nicht in das Feuer hinein. Ein paar Mal hebt er es in die Höhe, seine
Arme aber sinken wieder. Die Furcht vor Gott wohnt immer noch „in seinen
Muskeln“ 550. Diese Hände haben Fünfzig Jahre, Tag für Tag, „den Gebetsmantel
ausgebreitet und wieder zusammengefaltet, die Gebetsriemen aufgerollt und um den
Kopf geschlungen und um den linken Arm, dieses Gebetsbuch aufgeschlagen, um und
um geblättert und wieder zugeklappt“. Nun in dem Moment weigern sich die Hände,

546
Hiob, S. 161.
547
Hiob, S. 161.
548
Hiob, S. 162.
549
Raffel, S. 226.
550
Hiob, S. 163.
93
„Mendels Zorn zu hören“. 551 Sidney Rosenfeld meint, dass Mendel Singers
Auflehnung gegen Gott der Verzweifelung eines Menschen entwächst, „dessen
Lebensfundament gänzlich in der Überzeugung gegründet ist, dass Gott den
Schuldigen strafe, das Gebet des Gerechten jedoch erhöre“, und da er sieht, wie sein
Glaube widerlegt ist, und „die Welt auf die Hiobsfrage »warum mich?« keine Antwort
gibt“, bleibt ihm nichts übrig als „Gott den Gehorsam zu verweigern“. Das Unglück
das ihm widerfuhr ist nicht „die Probe des Gerechten, sondern in Wirklichkeit die
Tragik seiner eigenen zerklüfteten Welt“. Das Vertrauen des einfachen armen
Kinderlehrers „in das Wort und sein Glaube an Gottes Gerechtigkeit“ ist zu groß, und
dementsprechend seine Desillusion. 552 Mendels vier Freunde, Menkes, der
Obsthändler, Skowronek, der Musikalienhändler, Rottenberg, der Bibelschreiber, und
Groschel, der Schuster, die nach Eva Raffel den vier Freunden des biblischen Hiob,
Eliphas, Bildad, Zophar und Elihu entsprechen 553, denken, dass Mendel aus lautem
Kummer das Haus verbrennen möchte und hindern ihn daran. Darauf erwidert Mendel:

Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. […] Ihr
werdet staunen und sagen: auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich
versichere euch: ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich
verrückt, heute bin ich es nicht.Gott will ich verbrennen. […] Gott ist grausam, und je
mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die
Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen,
aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines
Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. 554

Die Freunde Mendels unterbreiten ihm ein Sinnangebot im Hinblick auf den biblischen
Hiob: „Erinnere dich an Hiob. Ihm ist Ähnliches geschehen wie dir. Er saß auf der
nackten Erde, Asche auf dem Haupt, und seine Wunden taten ihm so weh, dass er sich
wie ein Tier auf dem Boden wälzte. Auch er lästerte Gott. Und doch war es nur eine
Prüfung gewesen“ 555. Ihre Argumente werden aber von Mendel verworfen: „Habt ihr
schon wirkliche Wunder gesehen, mit euren Augen? Wunder, wie sie am Schluss von
Hiob berichtet werden?“ 556 Die Versuche der Freunde, Mendel Hoffnung zu schenken,
sind umsonst. Mendels innere Heimat, sein Glaube ist zerstört: „Ich bin allein und ich
will allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. Alle Jahre
habe ich Gott gefürchtet, jetzt kann er mir nichts machen. Er kann mich nur noch

551
Hiob, S. 163.
552
Vgl. Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 237.
553
Vgl. Raffel, S. 226.
554
Hiob, S. 164f.
555
Hiob, S. 165.
556
Hiob, S. 165f.
94
töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.“ 557 Und doch lebt er
weiter bei dem Musikhändler Skowronnek. Er „betete nicht mehr“ 558, aber „es tat ihm
weh, dass er nicht betete. Sein Zorn schmerzte ihn und die Machtlosigkeit dieses
Zorns“ 559. Je mehr sich Mendel in seinen Taten von Gott abwendet, umso stärker
denkt er an die Vergangenheit, an die ostjüdische Heimat, und umso lebendiger
werden ihm die Erinnerungen. Die Zuchnower Heimat wird für Mendel zu einem Ort,
an dem er gerne sterben möchte. Mendels Erinnerungen verkörpern die Heimat, wie
sie eigentlich sein sollte; dieser Ort hat mit der Realität nichts zu tun. Der Akt des
Erinnerns ist eine Flucht aus der Wirklichkeit. 560

4 Die Mythisierung der Heimat

Claudio Magris, der den zweiten Teil des Hiob-Romans, der im amerikanischen Exil
angesiedelt ist, der Ghettoliteratur zuordnet, weist nach, dass die Zeugnisse der
Ghettoliteratur „in der Tat fast immer Zeugnisse der Vergangenheit“ 561 sind. Er fügt
hinzu, dass „das Reale […] in die Erinnerung übergeführt“ wird, und „nur in den
Parametern des Gedächtnisses einen Sinn“ 562 gewinnt. Die Verneinung und
Umkehrung aller erworbenen Sicherheiten, was seit dem „Fin de siècle“ bis in die
dreißiger Jahre die Kultur des mitteleuropäischen Raums gekennzeichnet hat, ist
ursprünglich Protest gegen das, was als aktuelle Wirklichkeit des „geschichtlichen
Augenblicks“ wahrgenommen wurde, und gegen die „Logik der Geschichte selbst“ 563.
Die Bedeutung und Funktion der Vergangenheit wird von Magris weiter erklärt:

Die Vergangenheit ist in diesem Fall kein konservatives Modell eines Zeitalters oder
einer zu restaurierenden geschichtlichen Kultur, sie ist die Chiffre der Innerlichkeit, die
totale Unbedingtheit der Seele, für die alles gleichzeitig ist und nichts vergessen oder
abgelegt werden darf. Die Vergangenheit wird zur Utopie als Negation jeder Gegenwart
und jedes herrschenden Systems, aller herrschenden Normen. 564

Und so ruft Mendel Singer sich die Erinnerungen an die Vergangenheit ins
Gedächtnis, um die harte Wirklichkeit der Gegenwart zu negieren. Da seine
Entfremdung und Vereinsamung unerbittlich zunehmen und ihm die Heimatlosigkeit

557
Hiob, S. 168.
558
Hiob, S. 171.
559
Hiob, S. 172.
560
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 150.
561
Vgl. Magris: Weit von wo, S. 150.
562
Magris: Weit von wo, S. 150.
563
Magris: Weit von wo, S. 150.
564
Magris: Weit von wo, S. 151.
95
zur bittersten Erfahrung wird, drängen sich ihm häufiger die Bilder der Zuchnower
Heimat ins Bewusstsein. Sie ist nicht jene Heimat, die er verlassen hatte, sondern die,
die er sich wünschen würde, eine Utopie, eine mythisierte Heimat.
Sidney Rosenfeld weist darauf hin, dass die altheimatlichen Bilder, die im
amerikanischen Exil in den Erinnerungen des entwurzelten Mendel Singers
ausgeleuchtet werden, ihm schon am Anfang des Aufenthalts in Amerika als
„konturlose, ganz aus Klang und Finsternis“ 565 bestehende Landschaft gegenwärtig
sind. Es scheint, dass die landschaftlichen Bilder der alten Heimat mit denen des
amerikanischen Exils kontrastieren, vor allem aber, wie Sidney Rosenfeld äußert, „der
weitgespannte Himmelsraum, das einstige Zeugnis der Allgegenwart Gottes“ 566.
Mendel zündet eine Kerze und ging ans Fenster:

Da sah er den rötlichen Widerschein der lebendigen amerikanischen Nacht, die sich
irgendwo abspielte, und den regelmäßigen silbernen Schatten eines Scheinwerfers, der
verzweifelt am nächtlichen Himmel Gott zu suchen schien. Ja, und ein paar Sterne sah
Mendel ebenfalls, ein paar kümmerliche Sterne, zerhackte Sternbilder. Mendel erinnerte
sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefe Bläue des weitgespannten Himmels,
die sanftgewölbte Sichel des Mondes, das finstere Rauschen der Föhren im Wald, an die
Stimme der Grillen und Frösche. 567

In dieser Passage steht die Farbe Rot für etwas Irdisches und Diesseitiges, die mit der
tiefen Bläue des heimatlichen Himmels, die das Heiligtum und etwas Jenseitiges
verkörpert, kontrastiert. Das zeigt, welche unantastbar heilige Rolle die
Heimatvorstellung für Mendel spielt.
Mendel denkt ständig an eine Heimkehr. 568 Ihm fällt es schwer, die amerikanische Welt
nicht mit der heimatlichen zu vergleichen. Er kann nicht die schöne Natur des Exillandes
anschauen ohne sich dabei an die wilden Nächte daheim, das Zirpen der Grillen und das
Quaken der Frösche zu erinnern. 569
Als die Schläge des Schicksals Mendel gänzlich treffen, gesellen sich zu „den vielen
Stimmen, in denen die Heimat sang und redete“, zum „Rauschen des Waldes“, zum
„Zirpen der Grillen und zum Quaken der Frösche“ 570, die die sehnsuchtsvolle
Erinnerung wieder wachrufen, so Sidney Rosenfeld, „weitere, konkrete Erscheinungen
der russischen Landschaft, welche Mendel Singer vorher nie mit vollem Bewusstsein

565
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 235.
566
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 235.
567
Hiob, S. 140.
568
Vgl. Hiob, S. 136.
569
Vgl. Hiob S. 133.
570
Hiob, S. 140.
96
wahrgenommen hatte“ 571. Schon im Wartesaal der Irrenanstalt, in die man Mirjam
einliefert, blickt Mendel eine Blumenvase an und es werden die Bilder der russischen
Landschaft heraufgerufen:

Es waren gelbe Schlüsselblumen, Mendel erinnerte sich, dass er sie daheim auf den
grünen Wiesen oft gesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrer
gern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! Der Friede war dort
heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen, und die vertraute Armut. Im
Sommer war der Himmel ganz blau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz
gelb, die Fliegen hatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unter
den blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören. 572

Jedes Einzelbild tritt in dieser Darstellung mit besonders großer Leuchtkraft hervor,
die durch die Adjektive intensiviert wird und zur vollen Wirksamkeit gelangt: der
heimatliche Himmel ist „ganz“ blau, die Sonne „ganz“ heiß, das Getreide „ganz“ gelb.
Die Wiesen, die einmal bedrohlich und finster gewesen waren, verlieren ihre dunkle
Anonymität und erscheinen grün voll warmen Lebens; das gehässige Kläffen der
Hunde verwandelt sich zum Summen der Fliegen und zu Lerchengesang. Die
Sehnsucht nach der Heimat wird einem gewissen Plausibilitätsanspruch unterworfen
und der Mythos in die Vergangenheit verlegt. Jetzt, da die Zuchnower Heimat
unerreichbar fern ist, da die Jugend und der Friede vergangen sind, da das Heimatliche
zeitlich und geschichtlich verschwunden ist, wird das ostjüdische Schtetl und seine
Umgebung, die einst als feindlich wahrgenommen wurde, noch einmal als Erinnerung
an ein verlorenes Glück wiederhergestellt.
Weit mehr als die Sehnsucht nach Heimat und dem längst verschwundenen Frieden
der Seele ist Mendels überaus große Sehnsucht nach dem in der Zuchnower Heimat
zurückgelassenen Sohn Menuchim. Seit dem Auszug aus Zuchnow taucht keine
einzige Erinnerung in Mendel Singer auf, in der Menuchim nicht im Mittelpunkt
gestanden hätte. Sidney Rosenfeld ist der Meinung, dass Zuchnow dem vereinsamten
Mendel Singer erst zur Heimat werden kann, als durch den Tod Schemarjahs im Krieg
die letzte Verbindung mit den Lebenden abgeschnitten ist und nur noch „der dort
vermeintlich gestorbene und begrabene Menuchim als einziges, wenngleich
unerreichbares Ziel seiner Sehnsucht bleibt“. 573 Das Wunder am Ende des Romans,
das Wiedersehen mit dem totgeglaubten Sohn erfüllt diese starke Sehnsucht.

571
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 236.
572
Hiob, S. 158.
573
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 236f.
97
5 Erlösung durch die Wiederbegegnung des Vaters mit dem Sohn

Und so geht schließlich die Prophezeiung des Wunderrabbis in Erfüllung und der geheilte
Menuchim findet seinen Vater wieder.
Das Ende des Romans mit der wunderbaren Gesundung Menuchims ist wegen der
legendenhaften, märchenhaften Ausschmückungen oft angegriffen worden. Sidney
Rosenfeld charakterisiert den Schluss als „problematisch“ und „filmhaft“ 574, Ludwig
Marcuse als „wohl nur aufgesetzt“ und „kompositorische Verlegenheit“ 575; dazu stellt Peter
W. Jansen fest, dass „das mäßige Wunder […] im Roman unmäßig“ 576 scheint. Hermann
Kesten behauptet, dass Roth ursprünglich an einen anderen Schluss gedacht habe und erst
durch ihn dazu gekommen sei, seinen Hiob-Roman mit einem Hiob-Wunder zu Ende zu
bringen. 577 Demgegenüber weist David Bronsen auf die frühe Prophezeiung des
Wunderrabbis hin, die über den ganzen Roman leitmotivisch einen Schatten wirft und
Erfüllung beansprucht. 578 Man kann sagen, dass der wunderbare Schluss des Romans der
großen Erwartung entspricht, die seit der Prophezeiung des Wunderrabbis atmosphärisch
über der Geschichte schwebt. Man sieht voraus und erwartet, dass das Wunder geschieht,
und in dem Sinne ist das Wunder am Ende die logische Konsequent des Romanverlaufes.
Hiobs große Leiden – ob in der Bibel oder im Roman eines einfachen Mannes - sollen durch
ein großes angemessenes Wunder ihr Ende finden. Ein „Happyend“ bedeutet nicht in jedem
Falle das schlechteste Ende einer Geschichte.
Jedenfalls kommt der erste Hoffnungsschimmer für, das versteinerte Herz Mendel
Singers aus Europa. Mendel, der bei seinem Freund Skowronnek dem Musikhändler
wohnt, legt eines Tages heimlich eine Grammophonplatte auf, und es erklingt ein Lied,
das Mendel zutiefst berührt. Beim Anhören dieser Musik weint Mendel zum ersten
Mal seit langer Zeit. Das Lied heißt „Menuchims Lied“: „Es rann wie ein kleines
Wässerchen und murmelte sachte, wurde groß wie das Meer und rauschte. »Die ganze
Welt höre ich jetzt«, dachte Mendel. Wie ist es möglich, dass die ganze Welt auf so
einer kleinen Platte eingraviert ist?“. 579 Eva Raffel meint, dass für Mendel Singer der
Trost und die Erlösung von seinem Schmerz nur aus Europa kommen konnte. Sie
schreibt: „Europa war – nicht nur in Roths Augen- zerstört und krank wie Menuchim,

574
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 227.
575
Marcuse, Ludwig: Radetzkymarsch. In: Das Tagebuch 13 (1932), S. 1548-1550.
576
Jansen, Peter Wilhelm: Weltbezug und Erzählhaltung. Eine Untersuchung zum Erzählwerk und zur
dichterischen Existenz Joseph Roths, Freiburg 1958, S. 179.
577
Vgl. Bronsen, Biographie, S. 385.
578
Vgl. Bronsen, Biographie, S. 385.
579
Hiob, S. 179.
98
aber man hatte genauso wenig Recht, es zu verlassen, wie Mendel nicht das Recht
hatte, den kranken Sohn zu verlassen“ 580. Rottenberg, ein Freund von Mendel sagt
ihm: „Vielleicht, lieber Mendel, hast du Gottes Pläne stören versucht, weil du
Menuchim zurückgelassen hast? Ein kranker Sohn war dir beschieden, und ihr habt
getan, als wäre es ein böser Sohn“ 581. Daher ist das einzige Ziel Mendels, nach Europa
zurückzukehren zu Menuchim, um dort für ewig einzuschlafen, denn seine Welten sind
gestorben. 582
Am Pessachabend sitzt Mendel mit der Familie Skowronnek zusammen beim
feierlichen Seder. Er sitzt am Rande des Tisches und stützt ein den Tisch
verlängerndes Brett. Ohne ihn als Stütze würde der ganze Tisch zusammenbrechen.583
Man kann davon ausgehen, dass obwohl Mendel „als Geringster“ 584 am äußersten
Rand des Tisches saß, sein Vorhandensein trotzdem dringend notwendig ist und seiner
marginalen Rolle als ostjüdischer Patriarch in der modernen amerikanischen
Gesellschaft entspricht. Man kann auch sagen, dass ohne das Wesen der Tradition,
trotz seiner Altmodischkeit, der Zusammenhalt der Ostjuden unmöglich wäre. Als
Mendel der Sederabendstradition gemäß die Tür für den Propheten Elias, der die
Ankunft des Messias ankündigt, öffnet, tritt Menuchim, der sich als Alexej Kossak
vorstellt, ein. 585 Eva Raffel gibt die Erklärung:

Menuchim oder Menahem ist nach einem messianischen Text aus dem
Palästinensischen Talmud der Name des Messias. In einer anderen messianischen
Erzählung 586 sucht der Seher Elia am Tage der Tempelzerstörung den Messias und
findet eine klagende Mutter vor. Auf die Frage nach dem Grund ihrer Klage antwortet
sie, der Knabe sei schließlich „an dem Tage geboren, da das Haus Gottes zerstört
wurde“. Elia bedeutet ihr, den Knaben zu hüten und auf ihn achtzugeben, denn „durch
ihn wird dereinst großes Heil euch zuteil werden“. Fünf Jahre später sucht Elia diese
Frau wieder auf, um nach dem „Erlöser Israels“ zu schauen. Er findet sie vor der Tür
sitzend, den Knaben auf dem Boden liegend. Sie jammert: „Füße hat er und kann nicht
gehen, Augen hat er und kann nicht sehen, Ohren hat er und kann nicht hören, einen
Mund hat er und kann nicht sprechen, und immer liegt er da gleichwie ein Stein“587. Die
Parallele zur Figur des Menuchim im Roman ist nicht zu übersehen. 588

580
Raffel, S. 227.
581
Hiob, S. 166.
582
Vgl. Hiob, S. 187.
583
Vgl. Hiob, S. 194.
584
Raffel, S. 227.
585
Vgl. Hiob, S. 197.
586
Ben Gorion, Micha Joseph: Aus alten Büchern. In Bethlehem, in Jerusalem und in Rom. Fünf
messianische Texte. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar
Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 267-273.
587
Ben Gorion: S. 268.
588
Eva Raffel, S. 228.
99
Das überraschende Wiedererkennen von Vater und Sohn markiert den Umschwung,
den Höhepunkt sowohl des Lebens Mendel Singers als auch des Romans. Menuchim,
ein gefeierter Musiker, kommt aus Europa, wurde in Europa geheilt, will den Vater
nach Hause, nach Europa, holen. Auch für Mirjam hofft Menuchim auf eine Genesung
in Europa: „Vielleicht nehmen wir sie mit. Vielleicht wird sie in Europa gesund!“ 589.
Eva Raffel äußert, dass man an so etwas Altmodisches wie ein Wunder nur in Europa
glauben kann, in Amerika glaubt man an die moderne Medizin. 590
Das Wunder Menuchim ist die Erlösung Mendel Singers. Es geschieht, weil in Mendel
die Bereitschaft zur Versöhnung allmählich aufbricht, zur Versöhnung mit der Familie,
der feindlichen Natur, der dahinschwindenden Zeit und mit Gott. 591 Menuchim bringt
dem Vater auch die verlorengegangene Hoffnung auf ein Wiederfinden des Sohnes
Jonas, auf eine Gesundung Mirjams und auf die Heimat: „Aber ihr dürft die Hoffnung
immer noch nicht aufgeben“ 592. Wolfgang Müller-Funk meint: das Wiederfinden
Menuchims bedeutet „wiedergefundene Identität, Abkehr von der trügerischen
Heilsversprechung Amerika, Rückkehr in die Heimat“ 593 Esther Steinmann weist
darauf hin, dass das Wunder Menuchim „also zugleich das Wunder Kossak“ ist, „ein
Name, in dem sich vielleicht auch die Rückkehr zum Ausgangspunkt in der Beziehung
Mendels zu Deborah andeuten mag“ 594.
Mendel geht mit seinem Sohn ins Hotel Astor. Dort nimmt er zum ersten Mal die
Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft, ohne von ihnen verstört zu werden.
Er macht eine Verwandlung durch. Mendel Singer betritt die Halle des Hotels:

Gebeugt, im grünlich schillernden Rock, das rotsamtene Säckchen im Arm. […] er


betrachtete das elektrische Licht, den blonden Portier, die weiße Büste eines
unbekannten Gottes vor dem Aufgang […] Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel
neben seinem Sohn, er schloss die Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden. […]
er schwebte in den Himmel. 595

Mit dem Wiederfinden Menuchims findet Mendel seine schon seit langer Zeit
verlorengegangenen Sinne. Er geht ins Zimmer seines Sohnes und dort „sah er zum
ersten mal die Nacht von Amerika aus der Nähe“ 596; er kann die Farben und die

589
Hiob, S. 216.
590
Vgl. Raffel, S. 228.
591
Vgl. Steinmann, S. 47.
592
Hiob, S. 201.
593
Müller-Funk, S. 129.
594
Steinmann, S. 52.
595
Hiob, S. 210.
596
Hiob, S. 211.
100
Geräusche anders wahrnehmen. Anders als bei seiner ersten Rundfahrt in New York
sieht er über der amerikanischen Nacht:

Den geröteten Himmel, die flammenden, sprühenden, tropfenden, glühenden, roten,


blauen, grünen, silbernen, goldenen Buchstaben, Bilder und Zeichen. Er hörte den
lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen, das Klingeln, das
Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und das Heulen. Dem Fenster gegenüber, an dem
Mendel lehnte, erschien jede fünfte Sekunde das breite lachende Gesicht eines
Mädchens, zusammengesetzt aus lauter hingesprühten Funken und Punkten […] Es war
eine Reklame für eine neue Limonade. 597

Mendel versöhnt sich mit Amerika. Er bewundert sogar diese „vollkommenste


Darstellung des nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit“. 598 Er versöhnt sich
mit der Vergangenheit, in dem er Menuchim mit „weiter, weiter“ 599 anspornt, als
dieser ihm Erinnerungen aus seiner Kindheit erzählt. Indem er Menuchim zuhört,
durchlebt Mendel die alte Zeit in der Heimat erneut; er sieht Mirjam vor sich „im
goldenen Schal, mit den blauschwarzen Haaren, flink und leichtfüßig, eine junge
Gazelle“. 600 Mendel versöhnt sich mit der Natur, die ihm einmal fremd und feindlich
war: beim Ausflug ans Meer gelangt der Vater mit seinem Sohn

in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weite Meer blau und alle Häuser weiß.
[…] Die Amseln hüpften dicht an ihn heran. […] Die Wellen des Meeres plätscherten
mit sanftem regelmäßigem Schlag an den Strand. Am blassblauen Himmel standen ein
paar weiße Wölkchen. 601

Diese vollkommene Harmonie wird begleitet von seiner Versöhnung mit einem neuen
Bild von Gott. Gott ist nun nicht mehr der strafende böse Jahwe, sondern ein
barmherziger Gott, der ihm erlaubt, zum ersten mal seine „Mütze aus altem Seidenrips
abzulegen und die Sonne auf seinen alten Schädel scheinen zu lassen“ 602. Inmitten
dieses Glückes glaubt er „dass Jonas sich einmal wieder einfinden würde und Mirjam
heimkehren […] Er selbst, Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod
eingehen, umringt von vielen Enkeln und »satt am Leben«, wie es im Hiob
geschrieben stand“. 603 Und „so grüßte Mendel Singer die Welt“. 604
Durch die Rückkehr des gesund gewordenen Sohnes erfährt Mendel die Erlösung.
Menuchim ist der Retter des Vaters. Mendel findet zum ersten Mal Ruhe und Frieden

597
Hiob, S. 211.
598
Hiob, S. 211.
599
Hiob, S. 212f.
600
Hiob, S. 213.
601
Hiob, S. 215.
602
Hiob, S. 215.
603
Hiob, S. 215.
604
Hiob, S. 215.
101
im Leben und „ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“. 605
Man kann aus dem Schluss des Romans schließen, dass die Rothsche Heimat weder in
Osteuropa noch in Amerika liegt. Die ersehnte Heimat des Ostjuden in der Diaspora ist
der Mythos einer erträumten Heimat, die in der äußeren Wirklichkeit nicht existiert.
Die ostjüdische Heimat liegt im Innern. Solange der Ostjude nicht zu sich selbst
gefunden hat, solange er den Frieden mit Gott, der Tradition und sich selbst nicht
erreicht hat, fühlt er sich nirgendwo heimisch. Die Unmöglichkeit der Heimat entsteht
aus der Entfremdung mit sich selbst, der Natur und den Menschen. Der Weg zu sich
selbst geht durch die Heimatlosigkeit, und sobald der Ostjude den inneren Frieden
gewinnt, kann er Hoffnung haben auf das Wiederfinden der Heimat, beziehungsweise
auf das Gefühl des Heimischseins entweder in Osteuropa oder möglicherweise einer
Heimatstätte in Amerika.

605
Hiob, S. 217.
102
Zusammenfassung

Seit seiner skeptischen Wende in den dreißiger Jahren gab Joseph Roth die Idee des
Absoluten auf. Weder im wunderbaren Schluss des Hiob-Romans noch in der
Mythisierung der ostjüdischen Heimat kann noch eine Spur von dieser Idee gefunden
werden. Das Mythische betrachtete er nicht als Ort der absoluten Wahrheit, sondern
eher als eine Hilfskonstruktion für das Weiterleben, beziehungsweise Überleben in
einer Welt voller Hoffnungslosigkeit, voller Hässlichkeit. Joseph Roths Bindung an die
ostjüdische Welt entwickelte sich, als diese vernichtet wurde. Bedingt durch die
Unwiederbringlichkeit der verlorenen Welt der Ostjuden fand er in ihr bestimmte
Momente und Werte, die dem Menschen Lebenshalt, Gelassenheit und Hoffnung
schenken. Roth fand in der ostjüdischen Welt und der des alten habsburgischen
Österreich ein idealisiertes Exemplar für die Welten, die schon gestorben waren: die
Welten seiner Werte. Diese beiden verlorenen Welten – die des Ostjudentums und der
habsburgischen Monarchie – ließen seinen Traum von einem menschenwürdigen
hoffnungsvollen Leben auch in den finsteren Zeiten seines eigenen Daseins nicht
ersterben. Der Raum wo diese beiden Welten zusammenkamen war Galizien. Galizien
– sowohl im polnischen als auch im russischen Raum – fungiert in Roths Werk als ‚die
verlorene Heimat’. Dieses Galizien war Roths eigene Heimat, wo er seine Kindheit
und Jugend verbracht hatte; in genau den gleichen landschaftlichen und ethnischen
Besonderheiten dieses Raumes. Diese kleine galizische Heimat und das Leben in dem
winzigen ethnischen Raum des Schtetl waren zeitlebens das Ziel seiner Sehnsüchte.
Roth verließ diese Heimat ganz früh und kehrte nie wieder dorthin zurück. Er wusste,
dass ihm keine Rückkehr mehr möglich sein wird. Somit mythisierte er die
unwiederbringliche Heimat. Er ließ seinen Protagonisten das Gleiche tun.
In seinem Werk erscheint diese Heimat oft aus der Perspektive der Emigranten, die sie
verlassen haben und sich in einem fremden Land an ihre Bilder, Gerüche,
Geschmäcker, Landschaften und Menschen erinnern.
In Hiob idealisiert Roth die heimatlichen Werte aus der Perspektive des Exils heraus.
Der Protagonist Mendel Singer, der sich in seiner ostjüdischen Schtetlwelt in der
russischen Heimat fremd und einsam fühlt und das Land als ein verhängnisvolles Land
von Bedrohung und Untergang wahrnimmt, beginnt, diese verfremdete Heimat zu
idealisieren, nachdem er sie verlassen hat, um ins amerikanische Exil zu ziehen. Es gibt
zwischen Mendel und seinem neuen Umfeld, der modernen hoch technologisierten

103
Gesellschaft Amerikas gar keinen Berührungspunkt. Daher nimmt er seinen neuen
Zustand nur als einen vorübergehenden Zustand wahr und träumt Tag und Nacht von
der Rückkehr nach Hause. Erst durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges und die
daraus folgende Zerstörung seiner Heimat und seiner Familie verliert Mendel alle seine
alten Bindungen, die ihm am stärksten die Heimat verkörpern. Auch sein unmittelbarer
liebevoller Glaube an Gott, der ihm als ein innerliches Zuhause gilt, geht ihm verloren
und in dem hoffnungslosesten Moment seines Lebens bricht er mit Gott wegen all der
Schläge, die Gott ihm zugefügt hat. In diesem trostlosen Zustand kehren die Bilder der
verlorenen russischen Heimat immer stärker, wacher, bunter und idealisierter in seine
Erinnerung zurück, als ob er zum ersten Mal die Schönheiten seiner Heimat
wahrnehmen würde. Es sind nicht die Bilder jener Heimat, die er verlassen hat, sondern
die Bilder einer Utopie; die Bilder der Heimat, nicht wie sie in der Wirklichkeit
gewesen ist, sondern wie er sie sich wünschen würde. Er mythisiert die alte russische
Heimat, weil ihm die Unmöglichkeit dieser Heimat bewusst ist. Es bleibt ihm nichts
übrig, außer einer blassen Hoffnung, nach Russland zurückzugehen und irgendeine Spur
von seinem kranken, in Russland zurückgelassenen Sohn Menuchim zu finden. Die
Geschichte Mendel Singers findet ihren Schluss in einer wunderbaren Weise.
Menuchim kommt geheilt und prächtig als ein großer, ruhmreicher Musiker nach
Amerika, um den Vater zu holen. Das Wiedererkennen von Vater und Sohn ist der
Höhepunkt des Romans. Das Wunder Menuchims scheint zugleich das Wunder Mendel
Singers zu sein. Durch dieses Wunder versöhnt sich Mendel mit der Vergangenheit und
auch mit der Gegenwart. Er zieht mit Menuchim in dessen Hotel ein und kommt dort
zum ersten Mal – aller Sorgen frei – zu Ruhe. Durch Menuchims Wiederfinden öffnet
sich Mendel Singer und findet zu sich selbst und vor allem zu Gott. Der Schluss zeigt,
dass das größte Problem der jüdischen Heimatfindung eigentlich die ‚seelische
Obdachlosigkeit’ ist. Solange der Ostjude seine innerliche Heimat nicht findet, bleibt
ihm die Möglichkeit einer Heimatfindung im Äußeren unvorstellbar. Für einen
entwurzelten Ostjuden ist die Hoffnung das einzige, was ihm bleibt. Hoffnung ist die
stärkste Motivation für die Suche, und in Hiob wird ein Suchender dargestellt, der am
Ende seines Lebens anscheinend einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit seines
irdischen Daseins gefunden hat. Es ist der Versuch, im Wunder, in der Gnade Gottes,
eine Heimat zu finden. Mendel Singers Schluss gibt Zeugnis davon, dass man die
Gnade Gottes erleben kann, sowohl im russischen Schtetl als auch in Amerika.

104
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110
Erklärung

Die Unterzeichnete versichert, dass sie die vorliegende, schriftliche Hausarbeit


selbständig verfasst und keine anderen, als die von ihnen angegebenen Hilfsmittel
benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem
Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter angegebenen Quellen
kenntlich gemacht.

München, den 2. Juni 2009

Kianoosh Sadigh

111
Lebenslauf

Kianoosh Sadigh Echingerstr. 10e, 80805 München


Telefon: 017620501900
Email: kiasadigh@yahoo.com

Persönliche Angaben Geburtsdatum: 28.Juni.1970


Geburtsort: Teheran/Iran
Familienstand: ledig
Staatsangehörigkeit: iranisch

Schulische Bildung 1976-1981: Grundschule, Bahare-No, Teheran-Iran


1981-1984: Mittelschule, Nour, Teheran-Iran
1984-1988: Gymnasium, Schohadaye-Hafte-Tir, Teheran-
Iran

Studium: 1990-1994: Studium Persische Sprache und Literatur,


Gilan-Universität, Rasht-Iran. Abschluss B.A.
Seit 2002: LMU München:
Fächer: Neuere deutsche Literatur
Orientalistik/Semitistik

Berufserfahrung: 1994-2000: Forscherin und Assistentin in der


Geschichtsabteilung des Zentrums der großen
islamischen Enzyklopädie, Teheran-Iran
1994-2000: Freiberufliche Autorin von
islamwissenschaftlichen und literarischen
Artikeln in verschiedenen Forschungszentren,
Teheran-Iran
1998-2000: Freiberufliche journalistische Tätigkeit bei
der Zeitschrift „Zanan“ (Frauen), Teheran-
Iran
Seit 2002: Buchhändlerin in München. Fachkraft in der
Buchhandlung Avicenna, Amalienstr. 91 für
islamwissenschaftliche Bücher

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Fremdsprachen Persisch Muttersprache
Deutsch DSH Zertifikat (2002)
Englisch Mittelkentnisse
Arabisch Großes Arabicum LMU
Hebräisch Großes Hebraicum LMU

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