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BIG BROTHER

Überwachung am Arbeitsplatz ist in vielen


Firmen Realität
Bericht/Selina Thaler

Ein Betrieb, in dem jeder Arbeitsschritt streng getaktet ist und die Arbeiter wie
ferngesteuerte Maschinen möglichst wenig nachdenken müssen. Was für
Frederick Winslow Taylor, den Urvater des Taylorismus, Anfang des 20.
Jahrhunderts eine Wunschvorstellung war, ist über hundert Jahre später in
5 manchen Firmen Realität.

Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung ist die Kontrolle und Überwachung
von Beschäftigten so einfach wie nie zuvor. Armbänder messen die Schrittzahl
oder den Stresslevel; Bewegungsmelder, ob jemand tatsächlich an seinem
Schreibtisch sitzt; GPS-Tracker verfolgen Lieferanten wie Pakete, und
10 Software analysiert, welche Websites die Mitarbeiter am Arbeits-PC aufrufen
oder welche Tasten sie drücken.

Viele Firmen – besonders in den USA – scheinen daran Gefallen gefunden zu


haben. Aber auch in Österreich holen die Firmen auf, sagt Wolfie Christl,
Datenexperte und Netzaktivist des unabhängigen Forschungsinstituts Cracked
15 Labs. Er untersucht derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts für die
Arbeiterkammer Wien, wie verbreitet digitale Überwachung hierzulande ist.

Rigide Kontrolleure

Konkrete Zahlen gebe es noch nicht, aber mit der steigenden Digitalisierung
nehme die Überwachung klar zu, sagt Christl. "Technisch ist fast alles möglich.
20 Und die Firmen kaufen das meiste, was ihnen angeboten wird." Ihnen würde
eingeredet, dass sie am Markt nicht Schritt halten könnten, wenn sie solche
Technologien nicht einsetzen. Und letztlich versprechen sich die Chefs davon
mehr Produktivität. Doch geht das Versprechen auf? Und welche Folgen hat die
strenge Überwachung?

25 In Österreich gibt es nur wenige Beispiele rigider Überwachung. Die meisten


Fälle kommen aus den USA, am bekanntesten für seine engmaschige Kontrolle
ist der Onlinehändler Amazon. Computer steuern die Arbeiter in den
Lagerhallen mit Kommandos, Handscanner erfassen jeden ihrer Arbeitsschritte,
und Armbänder lenken sie per Vibration in eine bestimmte Richtung.

30 Keine Pausen

Letzteres erlebten auch 300 Mitarbeiter in einem US-Logistikzentrum. Und


dafür braucht Amazon nicht einmal einen Chef. Im Frühjahr machten
Enthüllungen des Tech-Portals "The Verge" bekannt, dass diese Mitarbeiter
zwischen August 2017 und September 2018 von einem Algorithmus entlassen
35 wurden. Der Grund: Sie hätten nicht effizient genug gearbeitet. Pausiert jemand
zu lange oder erfüllt bestimmte Vorgaben nicht, erzeugt das Programm eine
Warnung, die zur Entlassung führen kann. "Wir haben Hinweise, dass auch in
Amazon-Lagern in Deutschland und Österreich automatisierte
Leistungsauswertung verwendet wird, um Entlassungen zu legitimieren", sagt
40 Christl.

Holzstich einer Stechuhr von 1889:


eine der ersten Möglichkeiten, die
Arbeitszeit zu kontrollieren.© picture
alliance / akg-images

45 Die menschenunwürdigen Folgen


der Kontrolle: Amazon-Mitarbeiter
verzichteten auf Pausen oder
urinierten in Flaschen – aus Angst,
50 wegen zu vieler Leerlaufzeiten
ihren Job zu verlieren. Das enthüllte
der Investigativreporter James
Bosworth, der sich in ein britisches
Lager eingeschleust hatte.

55 Nicht produktiver

Wenn Mitarbeiter überwacht


werden und gar Pausen streichen, heißt das nicht, dass sie deswegen produktiver
sind. Bereits 2001 fanden Forscher der Purdue University heraus, dass
elektronische Überwachung die Produktivität sogar hemmt. Und zahlreiche
60 Studien belegen, dass Kontrolle am Arbeitsplatz den Stress erhöht und die
Jobzufriedenheit senkt – Faktoren, die der Leistung und Kreativität schaden.
Für Christl liegt das auch daran, dass die Mitarbeiter so zunehmend unter
Pauschalverdacht geraten und das Gefühl haben, ständig beobachtet zu werden.
"Das ist ein großes Problem für die Menschenwürde."

65 Manche Firmen machen ihre Angestellten überhaupt zu Cyborgs: Etwa ließen


sich im Vorjahr rund 70 Mitarbeiter der US-Firma Three Square Market
freiwillig Mikrochips einpflanzen. Diese ermöglichen ihnen, die Bürotür zu
öffnen, sich am PC einzuloggen und Essen in der Kantine zu kaufen. Und
Arbeitgeber könnten sie so lückenlos überwachen, kritisieren Datenschützer.
70 Wann hat wer den Computer eingeschaltet? Wer geht wann aufs WC? Und wer
kauft oft Schokoriegel in der Kantine?
Willkürliche Chefs

Doch wie kommt es überhaupt zu alldem? Elizabeth Anderson ist politische


Philosophin an der Universität Michigan und beschäftigt sich in ihrem aktuellen
75 Buch "Private Regierung" genau mit dieser Frage. Die Überwachung resultiere
auch daraus, dass die "Mehrheit der Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten
im Arbeitsleben von kommunistischen Diktaturen regiert" wird. Die
Arbeitnehmer hätten keine Rechte gegenüber ihren Chefs, wie sie es etwa
gegenüber der Willkür der Regierung haben.

80 Und das nutzten die Arbeitgeber aus: Sie kontrollieren bis ins Privatleben
hinein, indem sie ihre Mitarbeiter grundlos auf Drogen testen, sich in deren
Partnerwahl einmischen, private Facebook-Postings sanktionieren oder sie

Das Stateville Correctional


Center im US-Staat Illinois
85 wurde 1925 eröffnet und nach
dem Panopticon-Vorbild
gebaut.

wegen eines Verhaltens


abseits der Arbeit entlassen,
90 schreibt Anderson in ihrem
Buch. All das wird in den
USA verstärkt durch die
Möglichkeit, Mitarbeiter
grundlos zu entlassen. Und
95 wer sich beschwert, läuft Gefahr, seinen Job zu verlieren. Andersons Schluss
daraus: Die Arbeitnehmer sind nicht so frei, wie es propagiert werde.

Mehr Mitsprache

Dennoch: Je gläserner der Mitarbeiter ist, desto schwächer wird seine Position.
Deshalb nennt Elizabeth Anderson auch mehrmals Deutschland als Beleg dafür,
100 dass auch ein sozial gestalteter Arbeitsmarkt mit Gewerkschaften wirtschaftlich
erfolgreich sein kann. Naheliegend, dass sie europäische Lösungsansätze
fordert: mehr betriebliche Mitbestimmung, eine (branchenweite) Vertretung
durch Gewerkschaften, Kollektivverhandlungen seitens des Gesetzgebers und
den Arbeitnehmerschutz mit einer Grundrechtecharta erhöhen.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000109453136/ueberwachung-am-arbeitsplatz-
ist-in-vielen-firmen-realitaet

Aufgabe 1: Erklären Sie folgende Wörter und Ausdrücke nach ihrer


Bedeutung im Text.

Zeile 2: …wie ferngesteuerte Maschinen


Zeilen 20-21: Ihnen würde eingeredet, …
Zeile 63: … unter Pauschalverdacht geraten
Zeile 69: … lückenlos überwachen
Zeile 98: Je gläserner der Mitarbeiter ist …
Zeile 100: ein sozial gestalteter Arbeitsmarkt
Zeile 101: europäische Lösungsansätze

Ergänzen Sie die Zusammenfassung sinngemäß:

Zeilen
6-7 Die Digitalisierung __________ viele Möglichkeiten, die
Kontrolle und Überwachung von Beschäftigten zu
_____________.

27-29 So ________ beim Onlinehändler Amazon die Arbeiter in den


Lagerhallen über Computer mit Kommandos ____________,
jeder ihrer Arbeitsschritte _________ per Handscanner
____________, und per Vibration der Armbänder in eine
bestimmte Richtung ____________.
56-58 Die Überwachung von Mitarbeitern und Streichung der Pausen
führen aber nicht zwangsläufig _____________.
100-103 Erfolgreich werden laut Experten die Unternehmen, in denen
die Mitarbeiter _____________ und durch Gewerkschaften
____________ .

Thesen zur Diskussion:

1. Anstatt zu kontrollieren, was Mitarbeiter jeden Tag an ihrem


Computer tun, wäre eine umfassende Leistungsüberprüfung viel
effektiver. Dadurch erhaltet man wirklich wertvolle Informationen
über die Qualität der Arbeit eines jeden Mitarbeiters, ohne dass er sich
dabei unwohl fühlt.
2. Ständige Kontrollen verstärken die Entfremdung zwischen
Unternehmen beziehungsweise Führungskraft und Belegschaft und
sorgen für eine Kultur des Misstrauens. Unternehmen sollten daher
den Mut aufbringen, ihren Mitarbeitenden mehr Vertrauen
entgegenzubringen.
3. Inwieweit dürfen Arbeitgeber ihre Mitarbeiter überwachen, um
mögliches Fehlverhalten nachzuweisen?
4. Welche Argumente für strengere Überwachung können von den
Arbeitgebern vorgebracht werden?
Kontrolle am Arbeitsplatz versus Persönlichkeitsrechte - burgmer
rechtsanwälte zu Gast im ZDF: https://youtu.be/T5f2lLT0yPI

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