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1. Kultursemiotik der Moskau-Tartu Schule.
1.1. Semiotische Schule von Moskau und Tartu. Vertreter, Forschungsrichtungen und
Methoden
Die semiotische Schule von Moskau und Tartu, auch sowjetische semiotische Schule genannt,
war seit Anfang der 60-er bis in die Mitte der 80-er in zwei Zentren – Moskau und Tartu tätig.
Zu den wichtigsten Vertretern der Schule zählen: Ju.Lotman, Z.Minc, I.Černov (Tartu);
V.V.Ivanov, B.Uspenskij, V.Toporov, D.Segal, I.Revsin, J.Lekomcev, A.Žolkovskij,
S.Šaumjan, A. Pjatigorskij (Moskau).
Die Semiotik in der Sowjetunion entwickelte sich am Anfang der 60-er Jahre zwar
gleichzeitig, aber erst unabhängig voneinander in Moskau und Tartu (1962 tritt in Moskau das
Semiotik-Projekt in Erscheinung: das Symposium zur strukturellen Erforschung von
Zeichensystemen). 1964 schließen sich beide Zentren zusammen. Ab diesem Moment kann
man von der „semiotischen Schule von Moskau und Tartu“ sprechen. 1964 beginnt man mit
der Veröffentlichung der Sammelbände „Trudy po znakovym sistemam“ („Forschungen zu
Zeichensystemen“), die sämtliche Materialien der Sommerschulen (die in Tartu stattfinden),
der Tagungen und Konferenzen der Schule sowie Aufsätze der Teilnehmer dieser Tagungen
bzw. der Vertreter der Schule enthalten.1
Eine „Vorbereitungsphase“ der Entwicklung sowjetischer Semiotik lässt sich jedoch bereits in
den früheren 50-er Jahren beobachten: Die Kybernetik und eine sehr intensive Forschung der
maschinellen Übersetzung einerseits und die strukturelle Linguistik andererseits, die damals
im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses standen, kann man mit Sicherheit als
Anstoßpunkte der sowjetischen Semiotik gelten lassen. Aus diesen Gebieten hat die
sowjetische Semiotik in ihrer weiteren Entwicklung einige wichtige Punkte übernommen, die
sich in den Werken der Schule von Moskau und Tartu mehr oder weniger konsequent
während der ganzen Zeit Existenz der Schule beobachten lassen, wie etwa die Nutzung
mathematischer Methoden zur Erforschung der Zeichensysteme, die Dominanz der Linguistik
oder das Problem der Übersetzung, der Übersetzbarkeit und der Korrelierbarkeit
verschiedener Zeichensysteme (Fleischer 1989:55).
Die Schule selbst sah sich in gewisser Weise als Nachfolger des russischen Formalismus. Von
vornherein wurde auch das besondere Interesse der Schule für die interdisziplinäre Forschung
betont, die Mitglieder der Schule kamen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten. Viele
Termini und Methoden der semiotischen Schule von Moskau und Tartu stammen aus dem
Bereich der Mathematik, Logik, Kybernetik, der Informations- und allgemeinen
Systemtheorie, Kulturanthropologie und Ethnologie. Die ungewöhnliche Breite des
Forschungsfeldes streckte sich von der Linguistik und Poetik bis zur Mythologie und
Kulturwissenschaften aus. Dabei zeichnete sich die Moskau-Tartu Schule jedoch durch den
expliziten Verzicht auf die Herausarbeitung einer Basistheorie aus (im Unterschied zu den
westlichen semiotischen Strömungen); man entschied sich dabei für die analytische bzw.
angewandte Semiotik (Fleischer 1989:87).
1
Es sind bis 1986 insgesamt 19 Ausgaben der „Trudy“ erschienen.
3
M. Fleischer, der in seiner Monographie „Die sowjetische Semiotische Schule“ einen Versuch
unternimmt, implizite theoretische Grundlagen der Schule zu rekonstruieren, nennt vier
Phasen der Entwicklung der russischen semiotischen Forschung:
- Organisationsphase (1960-1964);
- Phase der angewandten Semiotik (1964-1970),
- Kultursemiotik (1970-1979);
- Ausklangsphase (1980-er).
4
Pjatigorskij) gemeinsam herausgearbeitet und von Uspenskij aufgezeichnet wurden, findet
man folgende Definition dieses Begriffs:
„Unter „sekundären modellbildenden Systemen“ versteht man solche semiotische Systeme, mit denen
Modelle der Welt bzw. ihrer Fragmente konstruiert werden. Diese Systeme sind in Bezug auf das
primäre System der natürlichen Sprache sekundär, da sie auf diesem unmittelbar (wie das
übersprachliche System der künstlerischen Literatur) beruhen oder zu ihm als Parallelform (Musik
oder Malerei) in Erscheinung treten.“ (Thesen 1986:108)
Diese Definition impliziert, dass sowohl primäre, als auch sekundäre modellbildende Systeme
die gleiche Funktion haben, nämlich das Konstruieren der Modelle der Welt bzw. ihrer
Fragmente (Das Modell repräsentiert nie das ganze Objekt, sondern nur bestimmte Seiten von
ihm, Funktionen und Zustände... Modelle treten in allen Fällen als Analoga auf (Lotman. zit.
nach Fleischer 1989:75).
Die Hauptfunktion einer natürlichen Sprache – eines primären modellbildenden Systems,
besteht darin, die wahrgenommene nicht-semiotische Realität in Zeichen umzusetzen (in die
sprachliche Realität zu „übersetzen“) 3. Das modellbildende System „arbeitet“ an der
strukturellen „Organisierung“ der Welt (schafft die „Ordnung“ aus dem „Chaos“). Die
primären und die sekundären modellbildenden Systeme sind also beide Generatoren der
Struktur (vgl. Lotman 2001:487). Von dem Blickwinkel der strukturgenerierenden Funktion
könnte man ein sekundäres modellbildendes System (Literatur, Kunst, Kultur) als „sekundäre
Sprache“ bezeichnen. Es wird immer wieder betont, dass die Kultur ein Zeichensystem ist und
als ein System mit kommunikativer Funktion den gleichen Gesetzen wie anderer
Kommunikationssysteme (Sprachen) unterliegt. Dies erlaubt, die Methoden und Kategorien
der strukturellen Linguistik (Kode, Text, Struktur, langue und parole, syntagmatische und
paradigmatische Reihen usw.) bei der Erforschung der Kultur als sekundäres modellbildendes
Systems einzusetzen.
Bei der Gleichsetzung „Kultur = Sprache“ muss man jedoch berücksichteigen, dass es sich in
der Tat nicht um eine „sekundäre Sprache“ handelt, sondern um ein komplexes System, das
Konglomerat verschiedener „Sprachen“/semiotischer Systeme, die eine Hierarchie oder aber
auch eine Symbiose der einzelnen Systeme darstellen.
3
Zugleich mit ihrer kommunikativen Funktion.
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Semiotische Bedeutung vom Text umfasst nicht nur die Mitteilungen in der natürlichen
Sprache, die als eine Gattung der Rede definiert werden können (d.h. über eine einheitliche
Bedeutung verfügen und eine bestimmte Funktion erfüllen), sondern auch jeden beliebigen
Träger einer einheitlichen („Text“-)Bedeutung – einen Ritus, ein Werk der bildenden Kunst
oder ein Musikstuck usw.
Dabei unterscheidet man zwischen diskreten und nicht-diskreten Texttypen:
1. Diskreter Typ: Text als Abfolge von Zeichen (als eine Kette diskreter Symbole, die als
Elemente eines Ausgangsalphabet gegeben sind).
2. Nicht-diskreter Typ: der Text stellt ein Ganzes dar, lässt sich nicht in einzelne Zeichen
zergliedern, sondern in Differenzmerkmale (bei der Malerei, Skulptur, dem Tanz, den
audiovisuellen Systemen der Massenkommunikation wie Film und Fernsehen).4
Auf verschiedenen Etappen der kulturellen Entwicklung erlangt der eine oder der andere
dieser Typen die Bedeutung des dominierenden, und seine Strukturprinzipien dringen in
andere Strukturen ein. So kann man von der Orientierung einer Kultur am Bild oder am Wort
sprechen, am Schrifttum oder an der mündlichen Rede usw.
Man betrachtet den Text als Basiseinheit der Kultur. Der Text ist mit gesamter Kultur und
ihrem Code-System korreliert. Man betrachtet die Kultur als ein Mechanismus der
Produktion von „kulturellen Texten“, und die Texte als „Realisierung“ der Kultur.
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Die minimale Organisation der inneren Struktur einer semiotischen Monade schließt das
binäre System ein, dass mindestens aus zwei semiotischen Mechanismen (parallelen
Sprachen: z.B. einer wörtlichen und einer bildenden) besteht. Jeder von diesen
Mechanismen/Sprachen hat die Aufgabe, mit seinen eigenen Mitteln ein Modell der nicht-
semiotischen Realität zu erzeugen. Das Benutzen von mehreren Sprachen hilft der
semiotischen Monade den Informationsmangel zu beheben. Eine über gewisse intellektuelle
Fähigkeiten verfügende semiotische Einheit muss ihre Tätigkeit ständig bei den Bedingungen
des Informationsmangels durchführen; deshalb ist sie bestrebt, den Mangel an Information
mit ihrer Mannigfaltigkeit auszugleichen. Es ist für das semiotische System lebenswichtig, für
sie nicht ausreichende Information vielfältig und stereoskopisch darstellen zu können. Durch
die gleichzeitige Wiedergabe der nicht-semiotischen Realität mit zwei (oder mehreren)
Sprachen, die sich gegenseitig nicht übersetzen lassen, erhält das System für jedes Objekt der
Außenwelt nicht nur ein Abbild, sondern ein ganzes Set der Modelle.
Somit bekommt der bei dem „Input“ eingetroffene Text im Inneren des Systems mindestens
zwei „unübersetzbare“ Projektionen6. In der Situation der Unübersetzbarkeit kann jedoch eine
Art „Übersetzung“ mit der Hilfe von „Metaphern“ (konventionellen Äquivalenten)
durchgeführt werden. Im Laufe solcher „Übersetzungen“ wird der Text einer unumkehrbaren
Transformation unterzogen. So geschieht der Akt der Generierung eines neuen Textes
(Lotman 2001: 641).
Da eine semiotische Monade nicht eine physische, sondern semiotisch-informatorische
Existenz besitzt, werden die „alten“ Texte während der Transformation im System weder
physisch noch informativ zerstört, sie bleiben weiter aktiv und können weiterhin mit den
Ergebnissen ihrer eigenen Transformation in Berührung kommen. Folglich kann man die
Entwicklung solcher komplexen semiotischen Systeme wie die Kunst z.B. kaum mit dem
Evolutionsablauf in der Natur vergleichen bzw. gleichsetzen. Die Entwicklung der Kultur
unterscheidet sich grundsätzlich von der biologischen Evolution, da evolutionäre Entwicklung
in der Biologie das Aussterben der Arten voraussetzt, die die natürliche Auslese nicht
überstanden haben (von solchem Standpunkt aus betrachtet lebt nur das, was für den
Naturforscher synchron ist). Im Laufe der kulturellen Entwicklung verschwinden aber die
kulturellen Texte der vorigen Epochen nach ihrem „Gebrauch“ und der Erscheinung der
neuen Texte nicht, sie bleiben im kulturellen Gedächtnis als zeitlos erhalten (obwohl sie
zeitweilig nach dem „Gebrauch“ deaktualisiert werden können), so z. B. führt die
Erscheinung Mozarts Werke nicht zum Zerstören der Werke von J. S. Bach (Lotman
2001:677).
In der Semiosphäre, die Lotman als Ganzheit, Inkorporation von unzähligen semiotischen
Monaden definiert, von denen jede zu bedeutungsgenerierenden Operationen fähig ist, findet
ständig der Informationstausch und die Verlagerung von Texten statt, was von dem
strukturellen Isomorphismus der Monade, ihrer Eingeschlossenheit in metasprachlichen
Gemeinschaften und die Gemeinsamkeit ihrer Grenze ermöglicht wird. Dieser gemeinsame
intellektuelle Raum ist gleichzeitig der Raum des kulturellen Gedächtnisses, das sowohl als
6
Die Unmöglichkeit der genauen Übersetzung von diskreten Texten in nicht-diskrete und umgekehrt
liegt an verschiedenen Prinzipien ihrer Beschaffenheit: in diskreten Systemen ist der Text sekundär, das
Zeichen ist die primäre elementare Einheit; in nicht-diskreten ist der Text primär, stellt selbst ein Zeichen dar
oder ist einem Zeichen isomorph: in solchen Systemen sind nicht die Regeln der Zusammensetzung der
Zeichen aktiv, sondern der Rhythmus und die Symmetrie bzw. die Arhytmie und die Antisymmetrie.
7
„Lager“ der Information, als auch als Generator von neuen Texten dient. Im Kanal zwischen
dem Sender und dem Empfänger wird von aktuellen Adressaten die Selektion der Texte
durchgeführt, bei der aus der Gesamtmenge von Texten einige ausgewählt werden, die den
ästhetischen Normen der Epoche , der Generation, der sozialen Gruppe entsprechen. Diese
sämtlichen ausgewählten Texte werden in Gedächtnis aufbewahrt und können jede Zeit
aktualisiert werden, weil die ganze Schicht der Texte potentiell aktiv ist. Der Prozess der
Aktualisierung von einen oder anderen Texten ist sehr komplex, hängt mit dem gesamten
Lauf der kulturellen Prozesse zusammen und kann nicht auf die Formel „das Neuste ═ das
Wertvollste“ gebracht werden. Die Struktur des kulturellen Gedächtnisses ist auf keinen Fall
syntagmatisch aufgebaut, sondern stellt ein Kontinuum dar, woraus die aktuellen kulturellen
Texte hervortreten, während die nicht aktuellen im Hintergrund bleiben, um nach einer Zeit
wiederum hervorzutreten und die jetzt aktuellen Texte abzulösen. 7
Das kulturelle Gedächtnis dient auch als Kanal für das Übertragen von Texten, die als
Programm der Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltenstypen für eine andere Kultur
erscheinen (z.B. Helden der Antike als Programm für das Verhalten der Menschen des 18.
Jh.).
Die im Gedächtnis aufbewahrten Texte ändern sich im Laufe der kulturellen Entwicklung.
Die Tatsache, dass ein Text gleichzeitig mit mehreren Kodes dechiffriert werden kann, erklärt
das Phänomen der Veränderung von im Gedächtnis aufbewahrten schon „fertigen“ Texten im
Laufe der kulturellen Entwicklung. Die Anwendung des neuen Kodes auf die „alten“ Texte
führt zur Verschiebung der relevanten und irrelevanten Elemente ihrer Struktur, wodurch
neuer Sinn dieser Texte entsteht. So ist z.B. die Rezeption von antiker Skulptur oder
spätmittelalterliche Dichtung der Provence in Italien der Renaissance mit derjenigen der
Antike oder in Provence des Spätmittelalters auf keinen Fall identisch.
Nicht selten sind Fälle, bei denen eine kulturelle Organisation mit der Invasion von Texten zu
tun hat, zu deren Dechiffrierung es in dieser Organisation keinen Kode gibt (z.B. die
Übersetzungen der christlichen Texte in Russland der 11.-12. Jh. oder der Einbruch der
westeuropäischen Texte in den russischen Kulturraum des 18. Jh.). Solche Situationen haben
meistens folgende typologische Merkmale: zuerst gibt es eine Pause im Prozess der
Texterzeugung, eine „Empfangsphase“, der die explosionsartige Herstellung von neuen
Texten folgt, was die betroffene Kultur aus der kulturellen Peripherie ins Zentrum des
Kulturareals verwandelt. Dieses neu entstandene Zentrum sendet seine Texte wiederum in die
vorigen Zentren der Texterzeugenden Prozesse8
.Das Schaffen von neuen Texten wird von dem Prozess des „Vergessens“, des „Löschens“
von einigen „alten“ Texten begleitet (was bestimmte Begrenztheit der Kapazität des
kulturellen Gedächtnisses vermuten lässt, die das Verdrängen der einen Texte durch die
7
Vgl. z.B. steigende und senkende Aktualität Puschkins Werke in Russland: 1840-1860-er – Senkung;
1880-1890-er – Steigerung; 1910-1920-er – Senkung; 1930-1950-er – Steigerung usw.. Ein Merkmal der
europäischen Kultur der II. Hälfte des XX. Jh. ist z.B. die Aktualisierung von allen Formen der archaischen
Kunst (vom Mittelalter bis in die jüngere Steinzeit) und gleichzeitige Deaktualisierung der ganzen kulturellen
Paradigma der Antike und der Renaissance (Lotman 2002:674).
8
Solche „Dialoge“ finden nicht nur zwischen kulturellen Regionen statt, sondern auch auf allen Ebenen
des kulturellen Raums: z.B. die Aggression der Poesie in die Prosa und umgekehrt, gegenseitige Spannungen
zwischen dem Drama und dem Roman, zwischen Maßen- und Elitärkulturen, zwischen der mündlichen und
der schriftlichen Tradition usw. (Lotman 2001:676).
8
andere hervorruft). Das „Vergessen“ ist in diesem Sinne jedoch ein Instrument des
Gedächtnisses, das die Prozesse des Anfüllens des Gedächtnisses steuert.
9
Siehe auch die Beiträge der Schule im Bereich der angewandten kultursemiotischen Forschung: von
I.Černov, D.Segal, V.V.Ivanov, V.Toporov, Ju.Lotman.
10
Bei der „Sprache“ handelt es ist höchstwahrscheinlich um den „kulturellen Kode“.
11
Üblicherweise dient bei den Kulturtypologien die Sprache des letzten synchronen Querschnitts der
Kultur als Metasprache für alle hervorgehenden kulturellen Epochen.
9
Die Schule von Moskau und Tartu hat mehrere Versuche unternommen, die theoretischen
Grundlagen für die kulturtypologische Forschung aufzubauen. Vor allem wurde an den
möglichen Lösungen des Problems der Metasprache gearbeitet (z.B. das Benutzen des
Apparats der Topologie bei der Beschreibung (das Beschreiben anhand räumlicher Modelle).
Von großem Interesse sind auch die Beiträge zur angewandten kultursemiotischen Forschung,
z.B. der Aufbau der Kulturtypologien aufgrund der binären Oppositionen:
- im System „Adressant ↔Adressat“ (Sender-Orientierte vers. Empfänger-Orientierte
Kulturen;12
- „Inhalts-orientierte“ vs. „Ausdrucks-orientierte“ Kulturen, denen zu Grunde die
Auffassung von konventioneller bzw. nicht-konventioneller Natur des Zeichens liegt;
- Analyse der „magischen“ vs. „religiösen“ Transformationen der archaischen
soziokulturellen Modelle, die die Opposition „Vertrags“- vers. „Hingabe“- Kulturen
ergibt;
Es wurde außerdem an der Herausarbeitung solcher neuen typologischen Charakteristika
gearbeitet wie das Modell der Kulturvermittlung oder das Verhältnis des Kulturkodes zum
Zeichen u.a.
Das letztere Charakteristikum liegt der Kulturtypologie der russischen Kultur 11.-19. Jh. zu
Grunde, die in Lotmans Artikel „Problema znaka i znakovoj sistemy i tipologija russkoj
kultury XI-XIX vekov“ („Problem des Zeichens und des Zeichensystems und die Typologie
der russischen Kultur XI-XIX Jh.“ vorliegt (Lotman 2001:400-417). Es schein sinnvoll, diese
Typologie an dieser Stelle wiederzugeben, da hier zugleich mit dem Aufbau einer Typologie
von Lotman der Versuch der Rekonstruktion des kulturellen Kodes unternommen wird13.
3.1. Die Typologie der russischen Kultur der klassischen Periode (11.-19.Jh.) nach J.
Lotman.
Wie bereits gesagt wurde, liegt dieser Kulturtypologie die Relation zwischen dem Kulturkode
und dem Zeichen und dem Zeichenhaftem zu Grunde.
Diese Typologie unterscheidet vier folgende Typen des Kulturkodes:
1. ein Zeichen wird als Repräsentant aufgefasst (semantische Organisation);
2. ein Zeichen wird als ein Teil des Systems aufgefasst (syntaktische Organisation);
3. die Ablehnung beider vorhergehenden Organisationsarten;
4. die Synthese beider vorhergehenden Organisationsarten.
Daraus ergibt sich die Matrix der Kulturkodes14:
12
Siehe „Thesen“ (1986) S.93-95
13
Zum Problem der Rekonstruktion der kulturellen Kodes siehe Aufsätze zur Geschichte und Semiotik in:
Lotman (2001).
14
In diesem Fall spricht man nicht von der Dominanz, sondern von der Präsenz beider
„gleichberechtigten“ Tendenzen in dem Kulturkode.
10
Die dominierenden Typen der russischen Kulturorganisation der klassischen Periode (11.-19.
Jh.) lösen sich in ihre Entwicklung in oben genanter Reihenfolge ab.
15
So z.B. in „Russkaja pravda“, einem der ersten ostslawischen Gesetzbücher hängt die Höhe der Strafe
vom jeweiligen sozialen Status des Betroffenen oder Täters ab. Die Kriterien, die die Auffassung vom
Subjekt des Rechts und vom Individuum bestimmten, wurden von Lotman als ein typologisches Merkmal
vorgeschlagen. Zur semiotischen Grenze des Individuums siehe auch Lotman 2001, S.264-265.
11
auftreten. Den höheren Wert haben also die Zeichen mit geringem „materiellem“ Anteil.
Hingegen wurde denjenigen Fakten des Lebens, die nicht als Zeichen fungieren konnten (dazu
gehörte die ganze Schicht der lebensnotwendigen alltäglichen Bedürfnisse des Menschen)
keine soziale Existenz zugesprochen. Auf solche Weise schuf dieses System eine Kluft
zwischen der sozialen und der biologischen Realitäten des Menschen.
Im Weltbild, dem ein semantischer Kode zu Grunde lag, wurde reale historische Zeit als
irrelevant betrachtet.
12
Mehrheit (Poetisierung des Kolossalen, des Staates, der Nation usw.). Das erste zeichnet die
semantische Organisation und das zweite die syntaktische aus. Beide Systeme unterscheiden
sich auch erheblich durch die Bewertung des Sieges bzw. Niederlage. Systeme mit
dominierender syntaktischer Organisation rühmen den Sieg (Sieg, Apotheose als Krönung des
Sujets des Klassizismus). Mittelalterliche Helden dagegen fallen im Krieg oder erleiden eine
Niederlage (Rolandslied, Igorlied); dies gilt auch für das semantische kulturelle Modell der
Romantik.
13
Weltgeistes widerspiegelt. Die materiellen Erscheinungen stehen einerseits in der Relation zu
ihrem verborgenen Sinn (semantische Organisation), andererseits sind sie ein Teil des ewigen
Prozesses der historischen Entwicklung (syntaktische Organisation). Das scheinbar sinnlose
bekommt den Sinn als einen Augenblick der gemeinsamen Evolution. Man betrachtet die
Welt als ein ideales System, das in materiellen Fakten seinen Ausdruck bekommen hat.
Diese Auffassung führte zu dem großen Interesse für den materiellen Aspekt des Zeichens,
der für das mittelalterliche Bewusstsein lediglich die „Ketten der Bedeutung“ darstellte.
Gleichzeitig aber neigte man zum Nicht-Berücksichtigen von allem Systemfremden. Die
Vorstellung, dass ein systemfremder Fakt „nicht existiert“, implizierte die Priorität des
Allgemeinen vor dem Individuellen (der Geschichte, der Nation oder des Staats vor dem
Menschen). Genau dieser Punkt löste die erste Kritik amn diesem neuen System aus. Belinskij
schrieb etwa im Jahre 1840 in einem Brief an Botkin: „Общее – палач человеческой
индививуальности“ (V.Belinskij zit. nach Lotman 2001:416).
Zur Mitte des 19. Jh. war das Potenzial von neuen Kombinationen des Kulturkodes bereits
erschöpft. Die Systeme, die in Russland ab Mitte 19. Jh. in Erscheinung treten, stellen die
Kombinationen von bereits vorhandenen Kulturkodes dar. So waren Versuche einer Synthese
von dem 3. und 4. Strukturtyp für Russland von überragender Bedeutung. Deren verschiedene
Modifikationen findet man sowohl bei Revolutionären Demokraten, als auch bei Lev Tolstoj.
Im 20. Jh. führt die Anwendung semantischer und syntaktischer Prinzipien bei dem Aufbau
des Kulturkodes zur Umwandlung der semantischen Organisation in die Vorstellung von einer
Klasse, einem Volk, der Menschheit als von einem „Menschen“; ein Individuum stellt dabei
bloß ein Merkmal dieser strukturellen Einheit dar. Die syntaktische Organisation zwang zu
der Vorstellung, ein einzelner Mensch sei eine Kette von Persönlichkeiten, mit der Frage nach
deren Übereinstimmung und Identifikation.
Schlussbemerkung
In ihrer „Ausklangsphase“ tendiert die Moskau-Tartu Schule immer mehr in die Richtung der
traditionellen Philologie. Das Interesse für die Kultur als komplexes semiotisches Problem
bleibt jedoch bestehen und wird vor allem bei Lotman zum zentralen Thema seiner späteren
theoretischen Abhandlungen.
Die sekundären modellbildenden Systeme – dies gilt sowohl für die Literatur bzw. Kunst, die
durch eine entsprechende Vielzahl von Texten repräsentiert werden, als auch für die
Gesamtheit aller Kulturphänomene, die als eine Art Meta-Text auftreten – werden als
besondere Manifestationen menschlichen Bewusstseins aufgefasst (Eimermacher, Einleitung
zu Lotman 1974:XVI). Das praktische Interesse der sowjetischen semiotischen Schule mit der
Frage: „Wie funktioniert…?“ kann man also von einem Text, einem Kunstwerk über die
Kultur als Meta-Text auf den Bereich des menschlichen Bewusstseins ausdehnen. In diesem
Sinne könnte man die semiotische Forschung der Schule von Moskau und Tartu als ein
Versuch betrachten, die theoretischen und methodologischen Grundlagen zu einer möglichen
Theorie des Bewusstseins/Theorie der Kommunikations- und Erkennungsprozesse zu liefern.
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Literaturverzeichnis:
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