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Matthias Riedl

Joachim von Fiore


Denker der vollendeten Menschheit
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[Mit der freundlichen Genehmigung des Autors für eine nicht-
kommerzielle Nutzung]
INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort [[7 >> Page:7]]

Einleitung [[9 >> Page:9]]

I. Die Grundlagen [[17 >> Page:17]]


1. Apokalyptik [[17 >> Page:17]]
Vorbemerkungen [[17 >> Page:17]]
Esras Krise [[21 >> Page:21]]
Die Apokalyptik und das Politische [[29 >> Page:29]]
2. Paulus und die Ekklesia [[41 >> Page:41]]
Existenz in Christo [[41 >> Page:41]]
Ekklesia [[44 >> Page:44]]
Gerechtigkeit [[47 >> Page:47]]
Geist [[49 >> Page:49]]
Geschichte [[54 >> Page:54]]
3. Mönchtum [[57 >> Page:57]]
Vorbemerkungen [[57 >> Page:57]]
Die geistigen Voraussetzungen: Origenes [[61 >> Page:61]]
Anachoresis [[77 >> Page:77]]
Koinonia [[91 >> Page:91]]

II. Geschichtsdeutung und Politikberatung [[104 >> Page:104]]


1. Transformationen der Apokalyptik [[104 >> Page:104]]
2. Die Anfänge [[119 >> Page:119]]
3. Joachims Genealogia: Übersetzung und Kommentar [[123 >> Page:123]]
Exkurs über Joachimstudien und Joachimlegenden [[127 >> Page:127]]
4. Joachim an der Kurie: De prophetia ignota [[150 >> Page:150]]
5. Der neue Jeremia: Intelligentia super calathis [[168 >> Page:168]]
Exkurs über die Grundlagen prophetischer Politik [[173 >> Page:173]]
6. Zusammenfassung [[201 >> Page:201]]
[[@Page:6]]
III. Dimensionen der Erfahrung [[205 >> Page:205]]
1. Von der himmlischen zur irdischen Ordnung: Psalterium decem chordarum
[[205 >> Page:205]]
2. Der Höhepunkt: Fui in spiritu in dominica die [[231 >> Page:231]]
Das Erlebnis [[231 >> Page:231]]
Die theoretischen Folgen [[234 >> Page:234]]
Die praktischen Folgen [[241 >> Page:241]]

IV. Das politische Denken Joachims: Systematische Gesamtdarstellung


[[253 >> Page:253]]
1. Vorbemerkungen [[253 >> Page:253]]
2. Weltwahrnehmung, condicio humana und Geschichtsbegriff [[254 >>
Page:254]]
3. Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel [[259 >> Page:259]]
4. Die Reaktion [[270 >> Page:270]]
5. Das Böse und seine Manifestationen [[273 >> Page:273]]
6. Die Lehre von den drei Status und den drei Ständen [[280 >> Page:280]]
7. Notwendigkeit und Freiheit [[296 >> Page:296]]
8. Die Geschichte der Völker [[297 >> Page:297]]
9. Führer und Johanneskirche: Das Papsttum in der Endzeit [[302 >>
Page:302]]

V. Joachims Verfassungsentwurf: Übersetzung und Kommentar [[309


>> Page:309]]

Schluß: Zur Bedeutung Joachims von Fiore [[335 >> Page:335]]

Abbildungen [[353 >> Page:353]]


Abkürzungen [[359 >> Page:359]]
Quellen [[361 >> Page:361]]
Literatur [[369 >> Page:369]]
Personenregister [[388 >> Page:388]]
[[@Page:7]]
7

VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2002/2003 von der
Philosophischen Fakultät I der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Mit Ausnahme des
Schlußkapitels habe ich sie für die Drucklegung nur geringfügig
überarbeitet.
Mein Dank gilt meinem Lehrer und Doktorvater, Prof. em. Dr.
Jürgen Gebhardt, sowie Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Tilo Schabert, die
mich in den letzten Jahren gefördert und in jeder Hinsicht gut beraten
haben. Prof. em. Dr. Kurt-Victor Selge danke ich für den anregenden
Gedankenaustausch und dafür, daß er mir vertrauensvoll seine
unveröffentlichten Editionsentwürfe für die Joachim-von-Fiore-
Gesamtausgabe zur Verfügung stellte. Dr. Julia Eva Wannenmacher
hat mit kritischem Sachverstand das Manuskript gelesen und mir mit
hilfreichen Verbesserungsvorschlägen gedient. Mit Dr. Hans-Jörg
Sigwart, Dr. Massimo Iiritano, Dr. Bettina Koch und Martin Nonhoff,
M.A. konnte ich in zahlreichen Gesprächen theoretische und sachliche
Probleme erörtern. Annegret Weinhardt und Waltraud Riedl lasen
Korrektur. Dipl.-Pol. Hans Georg Schmid leistete technische
Assistenz und erstellte das Personenregister.
Das Centro Internazionale di Studi Gioachimiti, San Giovanni in
Fiore, und die Hoover Institution on War, Revolution and Peace,
Stanford University, gewährten mir großzügige Reisestipendien. Für
Unterstützung und Unterweisung danke ich besonders Prof. Charles E.
Butterworth PhD, Prof. Dr. Maximilian Forschner, Prof. Michael A.
Gillespie PhD und Prof. Cary J. Nederman PhD. Dem Verlagshaus
Königshausen & Neumann danke ich für die Aufnahme des Bandes in
die Reihe „Epistemata Philosophie“ sowie die unkomplizierte
Zusammenarbeit.
Die Arbeit ist meinem Vater gewidmet.

Nürnberg, im März 2004 Matthias Riedl


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[[@Page:9]]
EINLEITUNG
Das vorliegende Buch bietet eine politologische Analyse des Werkes
Joachims von Fiore (1135?-1202). Die Relevanz einer solchen
Untersuchung scheint außer Frage zu stehen, nachdem das vergangene
Jahrhundert eine ganze Reihe von international berühmt gewordenen
Studien hervorgebracht hat, die der Lehre des kalabresischen Abtes
eine geradezu ungeheure Wirkung auf die europäische Geistes- und
Zivilisationsgeschichte zuschreiben. Einige der bekanntesten Thesen
seien zu Beginn vorgestellt:
Der Philosoph Alois Dempf veröffentlichte erstmals 1929 seine
monumentale Studie Sacrum Imperium. Sicherlich unter dem
Eindruck zeitgenössischer Geschichtsdeutungen konstatierte er,
Joachims Lehre sei „die Ideologie der beginnenden Neuzeit“.1 Zwei
Jahre später erkannte Eugen Rosenstock-Huessy in dem „politischen
Seher“ Joachim von Fiore den Vordenker eines ganzen Jahrtausends.
Er schreibt in Die europäischen Revolutionen und der Charakter der
Nationen (zuerst 1931):
Schon 1200 ist unser Jahrtausend auf seine politischen
Revolutionen getauft worden! Heute nimmt man derlei nur
„historisch“. Als Kuriosität registriert man diese Kühnheit des
Joachim de Fiore, vom Jahre 1260 sein neues Weltalter, das
nachkirchliche beginnen zu lassen. Und doch ist hier der
großartigste Versuch gemacht worden, für das Zeitalter der
Revolutionen eine Selbständigkeit gegenüber der altchristlichen
Kirchenzeit zu erringen. Joachim de Fiore hat damit als erster
den neuen Charakter dieser Vorgänge erfaßt. Seine neue
Zeitrechnung und Periodisierung verdient es, in ihrem
Zusammenhang mit allen großen Revolutionen bis zur
russischen erkannt zu werden, Joachim de Fiore hat mit seiner
Lehre vom Weltalter nachkirchlicher Erfüllung einfach recht. Er
hat das neue Gesetz, dessen letzter Vollstrecker Lenin hat
werden müssen, erkannt.2
Karl Löwiths Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen (zuerst 1949
als Meaning in History) sollte zeigen, daß das historische Denken ab
dem 18. Jahrhundert sich von der früheren „theologischen“
Geschichtsdeutung nicht radikal absetzte, sondern, „daß die moderne
Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung
entspringt und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen
1
Dempf, Alois: Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des
Mittelalters und der politischen Renaissance. Darmstadt: Wiss. Buchges.,
2
1954, S.269.
2
Rosenstock-Huessy, Eugen: Die europäischen Revolutionen und der
Charakter der Nationen. Erneuerte Aufl. Stuttgart und Köln: Kohlhammer,
1951, S.21. Hervorh. i. Orig.
9 ABBILDUNGEN

Vorbildes endet“.1 Joachim spielt nach Löwith eine zentrale, wenn


auch tragische Rolle in diesem Prozeß:
Joachims Erwartung eines neuen Zeitalters der „Fülle“ konnte
zwei entgegengesetzte Wirkungen haben: sie konnte die Strenge
des geistlichen Lebens gegenüber der Weltlichkeit der Kirche
fördern, und dies war seine Absicht gewesen; sie konnte aber
auch umgekehrt dem Streben nach neuen geschichtlichen
Verwirklichungen Auftrieb geben, und dies war in der Tat das
späte Ergebnis seiner Prophezeiung eines neuen Testaments.
Die innerhalb der Grenzen eines eschatologi[[@Page:10]]schen
Glaubens und im Hinblick auf ein vollkommenes, klösterliches
Leben verkündete Umwälzung wurde fünf Jahrhunderte später
von einer philosophischen Priesterschaft aufgegriffen, die den
Prozeß der Säkularisation als eine „geistige“ Verwirklichung
des Reiches Gottes auf Erden deutete. Als ein Versuch zur
Verwirklichung konnten die fortschrittlichen Denkformen von
Lessing, Fichte, Schelling und Hegel in die positivistischen und
materialistischen von Comte und Marx verwandelt werden. Das
dritte Testament erschien als „Dritte Internationale“ wieder und
als „Drittes Reich“, verkündet von einem dux oder Führer, der
als Erlöser bejubelt und von Millionen mit „Heil“ begrüßt
wurde.2
Im Anschluß an Löwith schreibt der Historiker Norman Cohn in Die
Sehnsucht nach dem Millennium (zuerst 1957 als The Pursuit of the
Millennium):
Auf lange Sicht läßt sich die Wirkung der joachimitischen
Spekulation bis in unsere Gegenwart verfolgen, am deutlichsten
in gewissen von der Kirche kategorisch abgelehnten
„Geschichtsphilosophien“. So entsetzt der weltfremde Mystiker
wäre, wenn er diese Metamorphose erlebt hätte, so
unbezweifelbar ist Joachims Phantasie von den drei Zeitaltern
beispielsweise in den von den idealistischen deutschen
Philosophen Lessing, Schelling, Fichte und bis zu einem
gewissen Grad auch von Hegel aufgestellten Theorien über die
Entwicklung der Geschichte wieder zutage getreten; ebenso in
Auguste Comtes Interpretation der Geschichte als eines
Fortschreitens aus der theologischen über eine metaphysische in
eine wissenschaftliche Phase und wiederum in der
marxistischen Dialektik von den drei Stadien: primitiver
Kommunismus, Klassengesellschaft und künftiger
Kommunismus, in dem der Staat überwunden werden und das
Reich der Freiheit anbrechen wird. Und ebenso zutreffend –
obschon noch paradoxer – ist die Tatsache, daß das Schlagwort

1
Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen
Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u.a.: Kohlhammer,
8
1990, S.11f.
2
Ebd., S.146f.
10 ABBILDUNGEN

vom „Dritten Reich“, das von dem nationalsozialistischen


Publizisten Moeller van den Bruck 1923 erstmals geprägt und
später von Hitler zur offiziellen Bezeichnung der angeblich
tausend Jahre währenden „Neuen Ordnung“ gemacht wurde,
nur geringen Gefühlswert besessen hätte, wenn nicht das
Phantasiebild von der dritten und glorreichen Ordnung über die
Jahrhunderte hinweg zum feststehenden Bestand der
Sozialmythologie Europas gehört hätte.1
Etwas pointierter drückt sich Jacob Taubes in Abendländische
Eschatologie aus:
Joachim zertrümmert das duale Geschichtsbild Augustins,
welches die mittelalterliche Metaphysik bestimmt, und stellt die
ecclesia spiritualis als etwas Drittes der Religion des Alten und
Neuen Testamentes entgegen. Damit bekommt Joachim das
Wesen der Neuzeit in den Blick und tauft sie zum Jahrtausend
der Revolution. Denn die neue Zeitrechnung Joachims und
seine Periodisierung der Geschichte muß im Zusammenhang
mit allen folgenden apokalyptischen Wellen der Neuzeit
erkannt werden.2
Taubes entlehnt seine Worte nicht nur dem schon zitierten
Rosenstock-Huessy, son[[@Page:11]]dern auch Oswald Spengler. In
dessen Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes liest man schon in
der Einleitung:
Gleich an der Schwelle abendländischer Kultur erscheint der
große Joachim von Floris († 1202), der erste Denker vom
Schlage Hegels, der das dualistische Weltbild Augustins
zertrümmert und mit dem Vollgefühl des echten Gotikers das
neue Christentum seiner Zeit als etwas Drittes der Religion des
Alten und Neuen Testaments entgegenstellt: die Zeitalter des
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Er hat die besten
Franziskaner und Dominikaner, Dante, Thomas bis ins Innerste
erschüttert und einen Weltblick geweckt, der langsam von dem
ganzen Geschichtsdenken unserer Kultur Besitz ergriff. 3
Die prägnanteste These zur Bedeutung Joachims wurde von einem
Politologen formuliert. Eric Voegelin schreibt in Die Neue
Wissenschaft der Politik (zuerst 1952 als The New Science of Politics):
In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das
Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die

1
Cohn, Norman: Die Sehnsucht nach dem Millennium. Apokalyptiker,
Chiliasten und Propheten im Mittelalter. Freiburg u.a.: Herder, 1998, S.118f.
2
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie. München: Matthes & Seitz,
1991, S.81.
3
Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte. Bd.1: Gestaltung und Wirklichkeit. München:
Beck, 60-631923, S.25.
11 ABBILDUNGEN

Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft


beherrschen.1
Wenn sich nun die aufgeführten Behauptungen nur teilweise
verifizieren ließen, so müßte man annehmen, man hätte mit Joachim
von Fiore eine der größten Lücken politischer
Ideengeschichtsschreibung vor sich. Denn in den einschlägigen
Handbüchern sucht man den Namen vergebens,2 und eine
politologische Forschung über ihn gibt es bisher nicht. Aber
entsprechen die Thesen, die zusammengenommen ja keineswegs ein
konsistentes Bild ergeben, überhaupt der Wahrheit? Einige nicht
weniger prominente Autoren haben heftig widersprochen, darunter
Hannah Arendt und Hans Blumenberg.3 Sicher ist, daß alle genannten
Thesen im Kontext von weit gefaßten, mehrere Jahrhunderte oder gar
Jahrtausende überblickenden Studien stehen, die zwar einerseits den
historischen Einzeluntersuchungen erst ihren
forschungsgeschichtlichen Sinn verleihen, andererseits aber selbst
nicht sehr weit ins Detail gehen können. Mit [[@Page:12]]anderen
Worten, das Wissen über Joachim basiert nicht selten auf
Sekundärquellen oder einer stark eingeschränkten Kenntnis der
Originaltexte. So bestand die ursprüngliche Zielsetzung für diese
Arbeit darin, im Anschluß an Eric Voegelin zu untersuchen, inwieweit
Symbole, die für die Selbstdeutung neuzeitlicher Gesellschaften
relevant sind, ihren Ursprung tatsächlich in den Schriften Joachims
finden. Das Vorhaben erwies sich aus zwei Gründen als
undurchführbar.
Erstens ist das Œuvre Joachims von Fiore sehr umfangreich, die
Quellenlage immer noch schwierig,4 und die Menge an
1
Voegelin, Eric: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung. Freiburg
und München: Alber, 41991, S.164.
2
Die beiden Ausnahmen sind: Voegelin, Eric: History of Political Ideas. Bd.II:
The Middle Ages to Aquinas. (= The Collected Works of Eric Voegelin Bd.20).
Columbia und London: University of Missouri Press, 1997, S.126-143; und das
hierzulande wenig bekannte Werk eines österreichischen Staatsrechtlers:
Stanka, Rudolf: Geschichte der politischen Philosophie. Bd.II: Die politische
Philosophie des Mittelalters. Wien: Sexl, 1957, sh. v.a. S.127ff.
3
Hannah Arendt sprach vor allem mit Blick auf Norman Cohns Ausführungen
über Joachim von einer „seltsamen Vorgängertheorie“, die rein gar nichts zum
Verständnis moderner Revolutionen beitrage. Arendt, Hannah: Über die
Revolution. München: Piper, 41994, S.30f. und S.365, Anm.8. Blumenberg
wandte sich insgesamt gegen die Säkularisationsthese Karl Löwiths. Obwohl
seine Kritik nicht ganz unangebracht ist, erstaunt es doch, daß er auf Joachim
von Fiore mit keinem Wort zu sprechen kommt, der bei Löwith Dreh- und
Angelpunkt der Argumentation ist. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der
Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21999, v.a. S.35ff.
4
Von den vier Hauptwerken Joachims (Liber Concordiae Novi ac Veteris
Testamenti, Expositio in Apocalypsim, Psalterium decem chordarum und
Tractatus super IV evangelia) lagen bis zum Abschluß dieser Arbeit nur der
12 ABBILDUNGEN

Sekundärliteratur unüberschaubar angewachsen. Weiterhin lassen sich


die Schriften des Abtes kaum lesen und seine vielfältigen
Anspielungen schwerlich verstehen, betreibt man nicht nebenher ein
eingehendes Studium der Bibel und der Kirchengeschichte. Es schien
daher naheliegend, die Wirkungsgeschichte zunächst weitgehend
beiseite zu lassen und sich auf eine möglichst quellennahe
Erforschung der Ordnungslogik und der symbolischen Struktur zu
beschränken, die das Werk Joachims durchzieht. Von einer solchen
Basis aus kann dann die Suche nach den wirkungsgeschichtlichen
Spuren neu beginnen.
Zweitens ergab sich bei der Materialsammlung, daß die Anzahl
von Philosophen, Theologen, Politikern, Malern, Dichtern,
Romanautoren und Komponisten, die sich entweder direkt auf
Joachim beziehen oder Symbole verwenden, die einen
Zusammenhang vermuten lassen, so groß ist, daß auch ein
zehnbändiges Werk die notwendigen Untersuchungen nicht hätte
fassen können.1 In der Tat: Im Namen Joachims wurde die Welt
verändert – die Frage ist nur, ob dies auch in seinem Geiste geschah.
Um das zu erfahren, hätte es nicht ausgereicht, einfach darauf zu
verweisen, daß dieser oder jener Autor den Namen Joachims erwähnt,
vom „Dritten Reich“ oder vom „Zeitalter des Geistes“ spricht. Es hätte
einerseits untersucht werden müssen, inwieweit die Berufung auf
Joachim tatsächlich im Zusammenhang mit seiner Lehre steht –
tertius status heißt ja noch nicht einfach Drittes Reich – und
andererseits, in welchem Kontext Joachims Symbole erneut zur
Deutung menschlicher Existenz herangezogen wurden. Das heißt, man
hätte sich (nicht nur oberflächlich) in das Ordnungsdenken der
Renaissance, der Reformation, der Aufklärung, der Romantik, des
Idealismus, des Positivismus, des Kommunismus, des Faschismus etc.
einarbeiten müssen, was eher einer Lebensaufgabe gleichkommt als
einer vernünftigen Zielsetzung für ein Dissertationsprojekt.
Dennoch, wie die eingangs angeführten Zitate erkennen lassen, ist
es die Wirkungsgeschichte, die den Politologen zuerst auf das Werk
des Abtes verweist. Daher kann es nicht unterbleiben, Rechenschaft
darüber abzulegen, ob sich eine solchermaßen [[@Page:13]]motivierte
Wahl des Forschungsgegenstandes im Nachhinein als gerechtfertigt

Tractatus und die erste Hälfte des Liber Concordiae in kritischer Ausgabe
vor. Kritische Editionen des Psalterium und der Expositio sind aber im
Rahmen der Joachim-von-Fiore-Gesamtausgabe für die nahe Zukunft
angekündigt. Mit Ausnahme einiger italienischer Übersetzungen ist bislang
keine der längeren Schriften Joachims in einer modernen Sprache zugänglich.
1
Ein zweibändiges Werk des französischen Theologen Henri de Lubac gibt es
bereits, und es weist viele der Probleme auf, die mit einem derart umfassenden
Anspruch verbunden sind. Lubac, Henri de: La postérité spirituelle de Joachim
de Flore. 2 Bde. I. de Joachim à Schelling II. de Saint-Simon à nos jours. Paris:
Lethielleux 1979 und 1981.
13 ABBILDUNGEN

erweist, wenngleich die wirkungsgeschichtliche Analyse aus den


genannten Gründen nur in Ansätzen geschehen kann. Ein Ergebnis,
das sich schon bei einer kursorischen Durchsicht des Materials
andeutet, ist, daß nur wenige, die sich in den letzten Jahrhunderten auf
Joachim beriefen, wirklich seine Schriften kannten. Wahrscheinlich ist
es im Grunde die joachitische Umformung der Lehren Joachims, die
geschichtlich wirksam geworden ist.1
Doch soviel ist sicher: Ohne Joachim hätte es keine Joachiten
gegeben. Es muß einen Grund haben, warum bis in die Gegenwart
hinein immer wieder tatsächliche oder vermeintliche Neuerer,
Reformer und Revolutionäre meinten, ihre Ideen seien in den
Schriften des Abtes vorbereitet oder gar vorweggenommen.2 Es muß
einen Gedanken geben, dessen Ursprung man bei Joachim selbst zu
suchen hat; ein Gedanke, der die franziskanischen Joachiten des 13.
1
Nach allgemeinem Sprachgebrauch werden Joachims eigene Lehren als
„joachimisch“ und die Lehren seiner Epigonen als „joachitisch“ bezeichnet.
Der Begriff „Joachit“ (Iohachita) wurde schon im 13. Jahrhundert von dem
Franziskanerchronisten Fra Salimbene geprägt. Reeves, Marjorie: „The Origin-
ality and Influence of Joachim of Fiore“, in: Traditio 36 (1980), S.269-316,
S.299. Einem Großteil der joachitischen Schriften wird man vielleicht am
ehesten gerecht, wenn man in ihnen eine Vulgarisierung der Lehren des Abtes
erkennt, die Umsetzung einer komplexen Ordnungskonzeption in die
Ideologien von Volksbewegungen – mit all den geistigen Verlusten, die solche
Prozesse mit sich bringen. Andererseits formierte sich schon bald ein
joachitisches Intellektuellenmilieu mit so bedeutsamen Vertretern wie Petrus
Johannis Olivi, das durchaus in den Zentren weltlicher und geistlicher Macht
anzutreffen war.
2
Zwei Beispiele mögen an dieser Stelle genügen: F.W.J. Schelling pries die
Freiheit der dritten und „wahren Kirche“ des Johannes, des „Apostels der
Zukunft“ und des Geistes, die Juden und Christen vereinen und der ersten
Kirche des Petrus sowie der zweiten Kirche des Paulus folgen sollte. Dabei
stellte er fest: „Die Ansichten, die ich jetzt gebe, nicht minder sogar die
Anwendungen davon, finde ich auffallend übereinstimmend mit den Gedanken
des Abtes Joachim von Floris […].“ Schelling, F.W.J.: Philosophie der
Offenbarung. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. 3., neu durchges. und
korrigierte Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S.315. Hervorh. i. Orig.
Auguste Comte schreibt über die Bewegung, die zu seiner „Religion der Men-
schheit“ hinführt: „Au treizième siècle une tentative plus radicale, preparée par
le pieux utopiste que Dante installa dans son paradis comme doué de l’esprit
prophétique, s’accomplit sous le digne prédécesseur de Saint-Bonaventure au
gouvernement des franciscains. Son livre, aujourd’hui méconnu, mais alors or-
gane des meilleurs aspirations, s’efforça de faire noblement prévaloir la troi-
sième personne de la trinité, pour inaugurer le règne du cœur, en écartant une
loi provisoire qui représentait l’ascendant de l’esprit.“ Comte, Auguste: Sys-
tème de Politique Positive ou Traité de Sociologie, Instituant la Religion de
l’Humanité. III. Neudr. d. Ausg. von 1851-1881, Osnabrück: Zeller, 1967, S.
485. Jener geistbegabte Prophet, von dem Dante (Commedia, Paradiso
XII,140f.) spricht, ist natürlich Joachim. Der Vorgänger Bonaventuras als
franziskanischer General war der joachitisch gesinnte Johannes von Parma.
14 ABBILDUNGEN

Jahrhunderts ebenso begeisterte wie ihre neuzeitlichen Nachfolger, ein


Gedanke, der sich bis in die totalitären Ideologien des 20.
Jahrhunderts nachweisen läßt und dessen Attraktivität längst nicht
Vergangenheit ist. Die zentrale These dieser Arbeit lautet: Der
Grundgedanke, um den die Hauptwerke Joachims von Fiore kreisen
und der in der Folge das abendländische Ordnungsdenken prägte wie
kaum ein anderer, ist die Idee des Fortschritts im Sinne einer
geschichtlichen [[@Page:14]]Vollendung der Menschheit – eine Idee,
die viele Väter hat, aber doch erst hier, in den Schriften jenes
kalabresischen Abtes, als einheitliche Konzeption aus einem großen
theoretischen Entwurf geboren wird.

Politische Wissenschaft, wie sie hier verstanden wird, hat als


historisch-philosophische Wissenschaft keinen anderen Gegenstand
als den Menschen, der sich in seiner geschichtlichen Existenz als
politisches Wesen manifestiert.1 Für das Studium eines Theoretikers
und seiner Werke folgt daraus, daß der Politologe weder bei der
bloßen Wiedergabe von „Ideen“ noch bei der Ergründung des
biographischen und geistesgeschichtlichen Hintergrundes
stehenbleiben kann. Das politologische Interesse an der
Ideengeschichte beschränkt sich nicht auf Doxographie, sondern
richtet sich darauf, ob ein Denker über alle Zeitgebundenheit hinaus
etwas über die essentielle Gegebenheit und die existentielle
Bedingtheit des Humanen zu sagen hat. Diese Frage ist es vor allem,
an der letzten Endes die Relevanz einer politologischen Forschung
über Joachim von Fiore gemessen werden muß. Gelingt es sie zu
klären, wird sich auch die wirkungsgeschichtliche Bedeutung des
Abtes besser abschätzen lassen.
Wer sich von der Eigenständigkeit Joachims von Fiore ein Bild
machen will, darf sich nicht darauf beschränken, den geistig-
historischen Kontext des 12. Jahrhundert auf Parallelen abzusuchen.
Denn der Abt und seine Zeitgenossen stehen in Traditionen, die ihren
Symbolschatz über viele Jahrhunderte hinweg angesammelt haben.
Und zuallererst lesen sie die Bibel. Vieles, was das 12. Jahrhunderts
an Neuheiten hervorzubringen scheint, findet sich bereits in den
Diskussionen der Kirchenväter und ging in den Wirren, die den
lateinischen Westen seit der Völkerwanderung erfaßten,
1
Vgl. Gebhardt, Jürgen: „Über das Studium der politischen Ideen in
philosophisch-historischer Absicht“, in: Udo Bermbach (Hrsg.): Politische
Theoriegeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft.
(= Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 15 (1984)), S.126-160; ders.:
„Was ist der Gegenstand einer empirisch-hermeneutischen Theorie des
Politischen?“, in: Michael Th. Greven und Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.):
Politische Theorie – heute. Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 101-119.
15 ABBILDUNGEN

vorübergehend verloren.1 Die Fundamente, auf denen Joachim von


Fiore das Gebäude seines Ordnungsdenkens errichtet – das sind vor
allem die Apokalyptik, die paulinische Ekklesiologie und das
Mönchtum –, wurden bereits in der Antike gelegt.
Leider hat die Politische Wissenschaft die genannten drei für die
geistige Gestaltung unserer Zivilisation so wichtigen Formen
menschlicher Existenzdeutung bisher nur wenig berücksichtigt,
weshalb es kaum möglich war, auf einschlägige Vorleistungen zu
verweisen. Es schien daher geboten, die wichtigsten Grundlagen der
joachimischen Lehre in Einzelstudien zu untersuchen und jenen
Kapiteln voranzustellen, die sich mit Joachim selbst beschäftigen. Ein
weiterer Einfluß, der vor allem für Joachims
Selbstver[[@Page:15]]ständnis von großer Bedeutung ist, das
Ordnungsdenken der alttestamentlichen Propheten, wurde an
geeigneter Stelle in einem Exkurs behandelt. Gerade hinsichtlich
dieser weiter gefaßten Frage nach den langfristigen zivilisatorischen
Sinnlinien geht die vorliegende Studie einen völlig anderen Weg als
alle bisherigen Arbeiten.2
So läßt sich zusammenfassend sagen: Der Anspruch dieser
Untersuchung ist es, das politische Denken Joachims erstens vor dem
Hintergrund seiner geistigen Grundlagen und biographisch-
historischen Bedingtheiten zu verstehen, zweitens anhand seiner
eigenen Schriften in den Grundlinien darzustellen und drittens auf
seine weiterführende Bedeutung hin zu befragen. Zu beachten
allerdings gilt: Politische Reflexion ist nicht einfach nur ein Aspekt im
Denken Joachims, sondern steht in dessen Mittelpunkt. Die Frage
nach der vollendeten Ordnung der menschlichen Gemeinschaft
durchzieht das reifere Werk des Abtes wie keine andere. Aber nicht
nur das, Joachim war eben kein „weltfremder Mystiker“ (N. Cohn),
sondern als Berater der Mächtigen aktiv an den politischen
Auseinandersetzungen seiner Zeit beteiligt. Obwohl diese Seite
Joachims zunehmend wissenschaftliches Interesse findet, ist sie
außerhalb der mediävistischen Fachkreise noch immer
vergleichsweise unbekannt. Aus diesem Grund wurde der Analyse
jener Schriften des Abtes, die sich der Bewertung von damals
aktuellen politischen Problematiken befassen, ein eigenes Kapitel
gewidmet.
1
Joachim selbst ist sich sehr wohl bewußt, wieviel er den Kirchenvätern
verdankt: „Quam propensioribus studiis a viris catholicis et orthodoxis certatum
est, ut lactentis et adhuc rudis ecclesiae fundamenta jacerent et ejus Deo
dicatam infantiam lactis potu nutrirent, illorum quae per cursum temporum ad
nos usque derivata sunt opera, coelestium doctrinis uberum fecundata
testantur.“ Ench., Burger 9,2-5; vgl. Exp. Intr., fol.1vb.
2
Zur Zivilisation als Sinneinheit und „intelligibles Feld“ historisch-politischer
Studien: Toynbee, Arnold J.: A Study of History. London u.a.: Oxford Univer-
sity Press, 21948, Bd.1, S.17-50, v.a. S.44ff.
16 ABBILDUNGEN

Man mag der vorliegenden Arbeit entgegenhalten, sie führe zu weit


auf das Gebiet der Theologie. Doch der Ruf nach einer Studie, die den
politischen Gehalt aus dem Werk Joachims herausfiltert,1 offenbart ein
radikales Mißverständnis der Denkform, die das lateinische Mittelalter
prägt. Eine solche Studie wäre nicht sinnvoll, sie wäre noch nicht
einmal möglich. Nicht der Kampf zwischen regnum und sacerdotium,
bei dem lediglich zwei Varianten ganzheitlicher Welterfassung
miteinander konkurrierten, sondern erst die Wiederentdeckung der
aristotelischen Politik und die Entstehung eines kirchenunabhängigen
Intellektuellenmilieus haben zur theoretischen Etablierung einer
autonomen Sphäre weltlicher Ordnung geführt. Das 12. Jahrhundert
blieb von diesen Entwicklungen noch weitgehend unberührt, mögen
sich auch bei den Bologneser Juristen erste Anzeichen erkennen
lassen. Das Ordnungsdenken der Zeit ist geprägt von einer
„kompakten und massiven Einheit des Religiösen und Politischen“, 2
und dies gilt selbstredend auch für Joachim von Fiore. Jeder Versuch,
eine Trennung der beiden Sphären im Nachhinein herbeizuführen,
würde zu anachronistischen Verzerrungen führen. [[@Page:16]]

1
Bloomfield, Morton: „Recent Scholarship on Joachim of Fiore and His Influ-
ence“, in: Ann Williams (Hrsg.): Prophecy and Millenarianism: Essays in
Honour of Marjorie Reeves. Essex: Longman, 1980, S.21-52, S.28.
2
Heer, Friedrich: Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenhängen
zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas
im 12. Jahrhundert. Wien und Zürich: Europa-Verlag, 1949, S.10.
17 ABBILDUNGEN

Gleichwohl kann niemand dem Abt, der einen der


faszinierendsten Entwürfe gesellschaftlicher Ordnung verfaßt hat,
ernsthaft absprechen ein politischer Denker zu sein. Joachim kennt
keinen expliziten Begriff des Politischen, aber er denkt nach über die
Ordnung der menschlichen Verhältnisse. Er betrachtet die vom
göttlichen Plan bestimmte Reihenfolge der Zeiten (series temporum)
und die Anordnung der geschichtlichen Konflikte (ordo bellorum)
ebenso wie die Palette der Gemeinschaftsformen (ordines), die sich im
Laufe der Geschichte formieren, oder die Struktur der kommenden
Gesellschaft (novus ordo). Doch die Quelle aller Ordnungsformen
findet Joachim in Gott. Die Ordnung der phänomenalen Welt
bestimmt sich von der Ordnung der invisibilia her, und mit dem
Wissen um das Göttliche steigt die Qualität der gesellschaftlichen
Verhältnisse. Wie will man ein solches Denken erforschen und vom
Theologischen absehen?
Wenn der Mensch sich selbst begreift, so sagt Joachim einmal,
begreift er zugleich Gott, als dessen Bild er sich erkennt. 1 Nun zeigt
das Werk des Abtes, daß dieser Erkenntnisprozeß keineswegs nur die
Introspektion des kontemplativen Denkers meint. Der Mensch, den es
zu begreifen gilt, existiert geschichtlich und er manifestiert seine
Gottesebenbildlichkeit in den unterschiedlichen Formen, in denen er
sein Zusammenleben ordnet – sei es das alttestamentliche Patriarchat,
die hierarchische Klerikerkirche oder das Mönchtum. Gott offenbart
sich in der politisch geformten Lebenswirklichkeit des Menschen und
ihrem geschichtlich-progressiven Wandel. Doch neben dieser
Erkenntnislogik, die den Theologen auf das empirische Feld der
politischen Gestaltungen verweist, gilt auch ihre Umkehrung, die dem
kontemplativen und charismatisch begabten Denker ein höheres,
normatives Ordnungswissen zuschreibt: Der Mensch, der Gott
begreift, begreift zugleich die göttlich geformte Kreatur. Wer den
Schöpfer und seinen Willen kennt, der weiß auch, in welcher Ordnung
er seine Geschöpfe zu sehen wünscht – er kennt die Gestalt der
vollendeten Gemeinschaft. Zwischen diesen beiden Polen einer
pneumatisch-kontemplativen Erkenntnisquelle und ihrer empirischen
Bestätigung, zwischen geistlicher Einsicht und Geschichtsstudium,
verläuft das politische Denken Joachims von Fiore.
Joachim ging es niemals um eine „reine“, politisch folgenlose
Theologie, und noch weniger um das bloße Auffinden exegetischer
Regeln. In der Tradition der gregorianischen Reform ging es ihm
zuallererst um die Kirche, die einzige Gemeinschaftsform, die dem
Gottesvolk in christlicher Zeit angemessen ist. Die kirchliche Ordnung
wird dann vollendet sein, so Joachim, wenn sie nicht nur alle Völker
umfaßt und alle konkurrierenden Ordnungsformen irdischer
Herrschaft überwunden hat, sondern zugleich in ihrer inneren Struktur
1
Psalt. I, fol.229rb.
18 ABBILDUNGEN

der göttlichen Selbstoffenbarung vollständig gerecht wird. Somit


widerspricht es keineswegs den genuinen Denkwegen des Abtes,
wenn in dieser Studie alle Einzelaspekte hinführen zur Präsentation
jenes spektakulären Verfassungsentwurfes, den Joachim für den
dritten Zustand der geschichtlichen Welt (tertius status saeculi)
gezeichnet hat – für das kommende Zeitalter des Geistes, in dem
Gottheit und Menschheit zusammenfinden, um die himmlische
Herrlichkeit vorwegzunehmen. [[@Page:17]]

I. DIE GRUNDLAGEN

1. Apokalyptik

Vorbemerkungen
Joachims frühe Schriften, Genealogia, De prophetia ignota und das
erste Buch des Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti, zeigen
eines deutlich: Sie sind tief verwurzelt in der Ordnungslogik der
Apokalyptik. Aber auch das reife Werk ist von keinem Text so
geprägt wie von der Offenbarung des Johannes. Das gilt sowohl für
die Schriften, die schon der äußeren Form nach
Apokalypsenkommentare sind, wie Expositio in Apocalypsim,
Enchiridion in Apocalypsim, Praephatio super Apocalypsim und De
septem sigillis, als auch für fast alle anderen Werke Joachims. Die
Apokalyptik muß somit Ausgangspunkt jeder Erforschung der Lehre
Joachims sein, denn die antike Apokalyptik ist bevorzugter
Gegenstand seiner Exegese, und seine Exegese steht wiederum im
Kontext der mittelalterlichen Transformation der Apokalyptik.
Die Studien des Historikers Ferdinand Seibt zeigen, daß eine
Vernachlässigung dieses Tatbestands zu einem völligen
Mißverständnis Joachims führen muß.1 Man kann Joachims
Gemeinschaftsvorstellung nicht sinnvoll mit dem genuin neuzeitlichen
Utopiebegriff erfassen, ohne sie in ein interpretatorisches Korsett zu
zwingen, das ihre eigentümlichsten Merkmale und Korrelationen
außer acht läßt. Gleiches gilt für die Vereinnahmung Joachims durch
Sozialisten und Kommunisten, für die hier nur Friedrich Engels, Karl
1
Seibt, Ferdinand: „Utopie im Mittelalter“, in: HZ 208/3 (Juni 1969), S.555-
594. Ders.: „Liber Figurarum XII and the Classical Ideal of Utopia“, in: Willi-
ams 1980, S.257-266.
19 ABBILDUNGEN

Kautsky und Ernst Bloch als prominente Vertreter genannt seien. 1 Die
beeindruckende Rezeptionsgeschichte Joachims von Fiore hat immer
wieder dazu verleitet, ihn als „Vorläufer“ des Utopismus, des
Sozialismus, der Reformation etc. zu charakterisieren. Doch damit
wird eine Analyse, die dem Selbstverständnis des Abtes gerecht zu
werden versucht, eher erschwert. Vielmehr kann man mit Alois
Dempf feststellen, daß in den Apokalypsen ein „großer Teil der
mittelalterlichen Geschichtsphilosophie versteckt liegt“, und ein
systematisches Verständnis der Apokalyptik als Vorbedingung der
einschlägigen Forschung benannt werden muß.2 [[@Page:18]]
Andererseits hat gerade die jüngere Erforschung der Gnosis und
der Apokalyptik bestätigt, daß „Ideengeschichte“ kein von den
Gesetzen einer historischen Kausalität oder einer
geistesgeschichtlichen Evolution bestimmter linearer Progreß ist,
sondern daß bestimmte Symbolkomplexe, wenn sie einmal in das
zivilisatorische Gedächtnis eingegangen sind, immer wieder zur
Artikulation existentieller Erfahrungen herangezogen werden können.3
Die meisten Symbole, die bis heute innerhalb und außerhalb der
Wissenschaft mit Apokalyptik in Verbindung gebracht werden, wie
„Armageddon“, „Millennium“, „Neues Jerusalem“, „Neue Welt“,
„Sieben Siegel“, „apokalyptische Reiter“ etc., wurden der
Offenbarung des Johannes entnommen – mögen sie ihren Ursprung

1
Friedrich Engels ist der Urheber jener bis heute populären Sukzessionslinie
der Revolutionäre, die von Joachim, der „das tausendjährige Reich, das
Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt […] verkündete
und ausmalte“, über Thomas Müntzer zu den Revolutionären der jeweils
eigenen Gegenwart reicht. Engels, Friedrich: „Der deutsche Bauernkrieg“, in:
Karl Marx und Friedrich Engels: Über Religion. Berlin: Dietz, 1958, S.87.
Kautsky nennt Joachim einen „Theoretiker des Kommunismus“, dem es in
erster Linie um die Beseitigung der „Ausbeutungswirtschaft und Korruption,
die in der Kirche herrschte“, gegangen sei. Kautsky, Karl: Vorläufer des
Neueren Sozialismus. Bd.1: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter.
Unveränd. Nachdr. der 3. Aufl. von 1913. Berlin: Dietz, 1947, S.163. Ernst
Bloch wird noch zur Sprache kommen.
2
Dempf 1954, S.87.
3
Auch wenn es gelingen mag, die Genealogie des Katharer-Glaubens über
Bogomilen, Paulikianer und Messalianer bis zu den Manichäern
zurückzuverfolgen (vgl. Borst, Arno: Die Katharer. Freiburg u.a.: Herder,
6
1998, S.59ff.), kann damit noch lange nicht der gewaltige Ausbruch des
Gnostizismus im 12. Jahrhundert erklärt werden. Ähnliches gilt z.B. für das
sprunghafte Anwachsen apokalyptischer Existenzdeutungen in Deutschland zu
Beginn des Ersten Weltkriegs. Klaus Vondung stellt dazu fest: „Erst wenn wir
die Sinndeutungen auf motivierende Erfahrungen beziehen, kommen wir der
gesellschaftlichen Rolle, die der Volksgeist im Ersten Weltkrieg tatsächlich
spielte, und der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Apokalypse
von 1914 auf die Spur.“ Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland.
München: dtv, 1988, S.192.
20 ABBILDUNGEN

auch in älteren Überlieferungen haben.1 Bis in die Gegenwart blieben


dieses Werk und seine Interpretationen die paradigmatische Grundlage
jeder apokalyptischen Existenzdeutung.
Die Analyse muß also mit Johannes von Patmos beginnen,
wenngleich zu beachten ist, daß sein Werk Bestandteil einer
Entwicklung ist, die bereits über 300 Jahre andauerte. Andere
Zeugnisse apokalyptischer Existenzdeutung, vor allem, wenn sie die
Anfänge der Tradition widerspiegeln oder – wie 4 Esra – vor
demselben historischen Hintergrund geschrieben wurden, können für
das Verständnis der Symbolik und für die Suche nach den
zugrundeliegenden Erfahrungen sehr hilfreich sein. Es ist keineswegs
notwendig, die Johannesapokalypse als genuin christliches Zeugnis
von den früheren jüdischen Apokalypsen abzutrennen. Denn Johannes
versteht sich, auch wenn er Jesus als Christus angenommen hat, nicht
als Christ, sondern als Jude, und grenzt sich wie seine Adressaten von
jenen ab, „die sich als Juden ausgeben“. 2 Weder die paulinische
Christologie und Anthropologie noch irgendeine Form von
Ekklesiologie scheint zu ihm durchgedrungen zu sein. Allerdings
wirkt sich die Annahme, der Menschensohn sei bereits erschienen,
noch einmal akzelerierend auf das ohnehin drängende
Endzeitbewußtsein des Apokalyptikers aus.
Im Grunde hat Johannes diesen Aspekt der Naherwartung sowie
die wichtigsten Punkte, die für die nähere Bestimmung der
apokalyptischen Symbolik konstitutiv sind, schon im Prolog seines
Berichtes untergebracht. Dort heißt es:
Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat, damit er
seinen Knechten zeigt, was bald geschehen muß, und er hat es
durch seinen Engel, den er sandte, [[@Page:19]]seinem Knecht
Johannes gezeigt. Dieser hat das Wort Gottes und das Zeugnis
Jesu Christi bezeugt: alles, was er geschaut hat. Selig, wer diese
prophetischen Worte vorliest und wer sie hört und wer sich an
das hält, was geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe. 3
Das zentrale Symbol, die Offenbarung bzw. Enthüllung (ἀποκάλυψις),4
1
Vgl. Collins, Adela Yarbro: „The Book of Revelation“, in: John J. Collins
(Hrsg.): The Encyclopedia of Apocalypticism. Bd.1: The Origins of Apoca -
lypticism in Judaism and Christianity. New York: Continuum, 1998, S.384-
414, S.318.
2
Offb 2,9; 3,9. Nach Offb 7,4-8 genießen die zwölf Stämme Israels bei der
endzeitlichen Rettung einen Vorrang.
3
Offb 1,1-3.
4
Der griechische Begriff wurde schon viel früher in der griechischen
Geschichtsschreibung und Philosophie verwendet, allerdings in einer profanen
Bedeutung. So kündigt Platons Gorgias gegenüber Sokrates an, ihm „die ganze
Macht der Redekunst zu enthüllen“ ([[Gorgias 455d >> Plato:Pl., Gorg. 455d]]).
Aber schon das Abnehmen einer Kopfbedeckung ist ἀποκάλυψις. Sh. Vielhauer,
Philipp und Georg Strecker: „Einleitung“, in: Edgar Hennecke und Wilhelm
21 ABBILDUNGEN

steht nicht umsonst am Anfang des Textes; Apokalypsis steht für die
plötzliche Einsicht in eine bisher verborgene Wahrheit, deren letzter
Grund Gott ist,1 und die den Sehenden eher unvorbereitet und nicht
auf seine Initiative hin trifft.2 Johannes schildert sein Erlebnis
eindeutig als Ekstase; er spricht davon, daß er vom Geist ( πνεῦμα)
ergriffen wurde und in diesem Zustand hinter sich eine Stimme „wie
eine Posaune“ hörte.3 In der alttestamentlichen Apokalypse erzählt
Daniel, daß er vor Schrecken erbleichte angesichts der unerwarteten
Enthüllung.4 Einer Vorbereitung durch körperliche oder geistige
Reinigung scheint der Apokalyptiker nicht zu bedürfen.5
Das Grundsymbol der Apokalypsis genügt, um die Apokalyptik
gegenüber anderen Formen symbolischer Existenzdeutung wie der
Gnosis abzugrenzen, ohne daß es der aufwendigen Kataloge bedarf,
die Literar- und Gattungsgeschichtler heute anzufertigen pflegen.6 Der
Gnostiker erhält ebenfalls göttliches Wissen, doch keineswegs
unvorbereitet. Nur als Auserwählter, der sich in zunehmend
entbehrungsreicheren Phasen heroischer Askese gereinigt hat, kann er
zum Empfänger der Gnosis werden. Sein Wissen ist unmittelbares
Erlösungswissen, insofern der Empfang des Wissens schon eine
Wesenstransformation im Menschen hervorruft und als Teil eines
subjektiven Erlösungsprozesses empfunden wird.7 Auch Johannes
sagt, daß „selig ist, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer
sie hört“, doch dann schließt er als unabdingbare
[[@Page:20]]Voraussetzung an, daß nur zur Seligkeit gelangen kann,
„wer sich an das hält, was geschrieben ist“. 8 Johannes zeigt am
deutlichsten im Sendschreiben an die arg bedrängte Gemeinde von
Pergamon, was damit gemeint ist:
Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen. Bd.2: Apostolisches.
Apokalypsen und Verwandtes. Tübingen: Mohr, 51989. 491-547, S.493.
1
Vgl. Dan 2,23. Joachim gibt ἀποκάλυψις mit revelatio misteriorum Dei wieder
– „sic enim latine interpretatur“. Exp. I, fol.26vb.
2
Paulus verwendet das Symbol für die Erkenntnis, die ihm bei seinem
Damaskuserlebnis zuteil wurde. Gal 1,16.
3
Offb 1,10.
4
Dan 7,28.
5
Die Aufforderung zum Fasten ist immer schon Teil der Offenbarung und nicht
ihre Voraussetzung. Ebenso kann der Adressat aufgefordert werden, sein Fasten
abzubrechen, wenn damit symbolisch auf eine folgende Heilsbotschaft
hingewiesen werden soll. Vgl. [[4 Esr 9,23 >> BibleKJV:2Esd 9.23]]-24
(JSHRZ V,4, S.373f.).
6
Vgl. z.B. Collins, John J.: „Introduction: Towards the Morphology of a
Genre“, in: Ders. (Hrsg.): Apocalypse: The Morphology of a Genre (= Semeia
14). Missoula: Society of Biblical Literature, 1979, S.1-20.
7
Rudolph, Kurt: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion.
Unveränd. Nachdr. der 3., durchges. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck
und Ruprecht, 1994, S.64. Vgl. Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden
Gottes. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, 1999, S.59ff.
8
Offb 1,3.
22 ABBILDUNGEN

Ich weiß, wo du wohnst; es ist dort, wo der Thron des Satans


steht. Und doch hältst du an meinem Namen fest und hast den
Glauben an mich nicht verleugnet […].1
Die Apokalypse ist also kein Wissen, das Erlösung bringt, sondern ein
Wissen, das den Glauben stärken soll. Sie verspricht durchaus
Erlösung, aber eine Erlösung aufgrund von Glauben (πίστις) und nicht
von Wissen (γνῶσις). Was Glauben heißt, wurde Israel schon von
Jesaja gelehrt: Es bedeutet die Treue zum und das Vertrauen auf den
handelnden Gott, der sich am Sinai dem Gottesvolk offenbart hat. Die
Lage mag noch so aussichtslos erscheinen, die Feinde mögen sich alle
gegen Israel verschworen haben, Gott wird dennoch alles zum Guten
wenden.2 Wer hingegen vom Glauben abfällt, der provoziert nicht nur
den Ausschluß vom Heil, sondern verwirkt die
Legitimationsgrundlage der eigenen Existenz: „Glaubt ihr nicht, so
bleibt ihr nicht.“3 Die Apokalypse des Johannes geht in ihrem
Heilsversprechen über Jesaja hinaus, denn sie verheißt dem, der selbst
in aussichtsloser und lebensbedrohlicher Situation am Glauben
festhält, das ewige Leben: „Sei treu bis in den Tod; dann werde ich dir
den Kranz des Lebens geben.“4
Obwohl wie bei den Propheten das Festhalten am rechten Glauben
im Mittelpunkt der apokalyptischen Paränese steht, so haben sich doch
die Inhalte dieses Glaubens auf fundamentale Weise gewandelt.
Während viele Ereignisse in der Geschichte Israels verblassen, halten
die Apokalypsen die Erinnerung an Exodus und Bundesschluß wach.
Der Auszug aus Ägypten wurde seit jeher als das Ereignis empfunden,
das die eigentümliche Beziehung zwischen Gott und Volk konstituiert.
Neue Heilstaten Gottes, die einer Rettung aus auswegloser Situation
gleichkommen, werden deshalb gerne mit dem Symbol eines neuen
Exodus belegt. Hier unterscheidet sich Johannes noch nicht von
Jesaja.5 Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, wie unvereinbar die
Positionen sind. Jesaja verbindet das Symbol des gelobten Landes mit
der irdischen Herrschaft des Messias, der das davidische Großreich
wiederherstellt.6 Die Versprengten und Zerstreuten werden
zurückkehren und vereint mit dem Herrn den Heiligen Krieg gegen
die Feinde des Gottesvolkes führen.7 Der Apokalyptiker macht jedoch
Erfahrungen, die eine solche Perspektive kaum mehr zulassen. Das
Volk Gottes wird von Großreichen beherrscht, von Ptolemäern,
Seleukiden, Römern, ohne daß Aussicht auf eine Verbesserung der
1
Offb 2,13.
2
vgl. Jes 7,2-9.
3
Jes 7,9. Vgl. Seckler, Max und Berchtold, Christoph: Glaube. In: NHThG II,
S.232-252, S.232f.
4
Offb 2,10.
5
vgl. Jes 11,16; Offb 11,8 und das Auszugslied in Offb 15,3; vgl. Ex 15,1.11.
6
Jes 11,1-13.
7
Jes 11,12.14-15.
23 ABBILDUNGEN

Verhältnisse bestünde. In Daniels Deutung von Nebukadnezzars


Traum und in seiner Vision von den vier Tieren erscheint die
Geschichte als [[@Page:21]]eine Abfolge von Reichen, wobei das
bestehende meist durch ein noch schlimmeres ersetzt wird.1 Johannes,
dessen geschichtlicher Horizont sich auf das römische Imperium
beschränkt, schildert in den buntesten Farben die Verschlechterung
der Zustände von einem Kaiser zum nächsten.2 Das Volk Gottes ist in
alle Winde zerstreut und überall droht die Versuchung der
Assimilierung. Das Leben „im Zeichen des Tieres“, d.h. unter dem
kaiserlichen Siegel, scheint leichter zu sein, als das Festhalten am
wahren Glauben.3
Nicht wenige Juden haben erkannt, daß die Bürgerschaft im
Imperium angenehmere Perspektiven bietet als das Warten auf
Verheißungen, die unglaubwürdig geworden sind. Unter diesen
Bedingungen ist das messianische Reich in weite Ferne gerückt, ja es
kann überhaupt nur noch Realität werden, wenn eine Wandlung
eintritt, die mehr ist als nur ein neues geschichtliches Ereignis. Das
Symbol des Exodus bedeutet hier ein Verlassen der Geschichte und
den Eintritt in eine völlig erneuerte Welt.4
Bedenkt man allerdings, welch gewaltigen Bedrohungen der
israelisch-jüdische Glaube in den vorangegangen Jahrhunderten
ausgesetzt war, sei es durch Unterdrückung oder Assimilierung,
verbietet sich ein schneller Schluß von einer widrigen historischen
Situation auf einen derart tiefgreifenden Wandel. Es gilt – soweit dies
die Autoren zulassen – die seelischen Prozesse zu verfolgen, die das
apokalyptische Bewußtsein hervorbrachten.

Esras Krise
Johannes läßt nicht so tief in sein Inneres blicken, wie der unbekannte
Verfasser der beeindruckendsten und literarisch hochwertigsten
Apokalypse, des 4. Esra-Buches. Der Autor, der etwa zur gleichen
Zeit wie Johannes schrieb,5 gibt sich als der biblische Esra aus, dessen
Weisheit legendär war, und versetzt sich in eine Situation, in der Israel
eine Katastrophe durchlebte, die mit der gegenwärtigen Lage nach der
1
Dan 2,38-43; vgl. [[7,17-25 >> Bible:Dan 7,17-25]]; vgl. [[ApcBar(syr) 39,3
>> Pseudepigrapha:2 Bar. 39.3]]ff.
2
Offb 13.
3
Johannes scheint eine sehr puristische Haltung gepflegt zu haben. Offenbar
empfahl er den Gebrauch römischer Münzen zu verweigern, da sie das
Konterfei des Kaisers oder die Insignien des Imperiums zeigten. Vgl. Offb
13,17.
4
Offb 11,8.12; vgl. [[4 Esr 14,29 >> BibleKJV:2Esd 14.29]]ff.
5
Zur neueren Datierung sh. Hahn, Ferdinand: Frühjüdische und urchristliche
Apokalyptik. Eine Einführung. Neunkirchen-Vluyn: Neunkirchener, 1998,
S.74,126.
24 ABBILDUNGEN

Zerstörung des Zweiten Tempels am ehesten vergleichbar ist:


Jerusalem nach der Eroberung durch die Babylonier. 1 Zu Beginn der
Apokalypse beschreibt Esra seinen seelischen Zustand: [[@Page:22]]
Als ich auf meinem Bett lag, geriet ich in Verwirrung, und
meine Gedanken gingen mir zu Herzen, weil ich die
Verwüstung Zions und den Überfluß der Bewohner Babylons
sah.2
Der Satz impliziert das Problem der Theodizee, dessen Bewußtwerden
– hier ausgedrückt in den „Gedanken, die zu Herzen gehen“ – den
Anfang aller Apokalyptik begründet. Während er die Demütigung
durch den Triumph der Feinde erleben muß, denkt Esra über die
Verheißungen des Bundes nach. Er läßt die gesamte Geschichte
Israels an sich vorüberziehen und vermag nichts zu erkennen als
Unheil und Versagen. Schon der Stammvater Adam versagte, obwohl
er doch Gottes Geschöpf war. Sein verdorbenes Geschlecht wurde
daraufhin in der Sintflut gerichtet.3 Aber auch der Bund, den Gott mit
den Nachkommen Noachs schloß, wurde von den unvollkommenen
Menschen gebrochen. Die Folge war wiederum nur Verderben. Weder
das glorreiche Königtum Davids, der Archetypus des messianischen
Reiches, noch der Bau des Tempels werden gewürdigt, denn die
Bewohner Zions sündigten.4 Was das deuteronomistische
Geschichtswerk in der großen Synthese einer gottgelenkten
Heilsgeschichte vereinigte, erscheint nun als eine Geschichte des
Mißerfolgs.
Esra ist aber nicht länger gewillt, die Niederlagen allein mit dem
periodischen Abfall eines widerspenstigen Gottesvolkes zu
begründen. Er sucht nach den tieferen Ursachen – und findet sie in der
1
Es ist nicht anzunehmen, daß die meisten Apokalyptiker zuerst deshalb unter
Pseudonymen schrieben, weil sie sich mehr Autorität verschaffen wollten. (So
u.a. Vielhauer/Strecker 1989, S.494). Hätte der Verfasser von 4 Esra auf die
Glaubwürdigkeit seines Pseudonyms wert gelegt, so hätte er darauf Rücksicht
genommen, daß den Juden durchaus bekannt war, daß Esra nicht – wie
angegeben – 30 Jahre nach der babylonischen Eroberung in Jerusalem lebte.
Die Symbolik dieses Anachronismus bzw. der Pseudonyme überhaupt zu
ergründen, ist hier nicht der Ort. In diesem Fall aber dürfte der Autor einerseits
die Absicht gehabt zu haben, den Leser in eine Situation versetzen, die durch
die Geschichtsschreibung bereits gedeutet war, und die es ihm erleichterte,
seine eigene Lage (im dritten Jahrzehnt nach der Zerstörung des Zweiten
Tempels) zu verstehen. Daß er sich andererseits Esra nennt, kann darauf
hindeuten, daß er sich weder als politischer oder militärischer Führer noch als
Priester, sondern als Schriftgelehrter verstanden wissen wollte. Denn wie die
Juden aus ihren Schriften wußten, war Esra „von ganzem Herzen darauf aus,
das Gesetz des Herrn zu erforschen und danach zu handeln und es als Satzung
und Recht in Israel zu lehren.“ Esr 7,10.
2
[[4 Esr 3,1-2 >> BibleKJV:2Esd 3.1-2]] (JSHRZ V,4, S.311f.).
3
[[4 Esr 3,4-10 >> BibleKJV:2Esd 3.4-10]].
4
[[4 Esr 3,11-25 >> BibleKJV:2Esd 3.11-25]].
25 ABBILDUNGEN

Schöpfung selbst. Adam war fehlbar erschaffen, er mußte sündigen.


Durch die Ursünde aber wurde das gesamte Menschengeschlecht
verdorben und zur Unfähigkeit verurteilt, den Bund Gottes zu halten.
Esras Anthropologie wird beherrscht vom Gedanken der Erbsünde.
Weil er nämlich ein böses Herz (in sich) trug, verging sich der
erste Adam und wurde besiegt, ebenso aber auch alle, die von
ihm abstammten. So entstand eine dauernde Krankheit […]. 1
Der Gottesbund mußte daher von den Menschen immer wieder
gebrochen werden, ihnen blieb gar keine Wahl. Aus dieser Perspektive
aber begeht Gott den eigentlichen Bundesbruch, weil er Verheißungen
macht, wohl wissend, daß Israel niemals in der Lage sein wird, seinen
Teil des Vertrages zu erfüllen. Angesichts des babylonischen
Triumphes erweitert Esra seine Analyse auf den Zustand der ganzen
Welt und stellt fest, daß es kaum einem Volk so schlecht ergeht wie
dem eigenen, obwohl die anderen Völker nicht einmal versuchten,
Gottes Gebote zu halten: [[@Page:23]]
Ich habe doch die Völker hin und her durchwandert und sie im
Überfluß gesehen, obwohl sie nicht an deine Gebote denken. Nun
also wiege unsere Sünden und die der Weltbewohner auf der
Waage! Dann wird sich zeigen wohin der Ausschlag des
Waagebalkens sich neigt. Oder wann haben die Bewohner der
Erde vor deinem Angesicht nicht gesündigt? Oder welches Volk
hat so deine Gebote gehalten?2
Der Sinaibund, der als einziges zentrales Ereignis der Heilsgeschichte
bestehen bleibt, legitimiert die Theodizeefrage.3 Doch Esras
Theodizee findet ein negatives Ende. Der Glaube Jesajas an den Gott
Israels, der zugunsten seines Volkes interveniert, ist nicht länger
haltbar. Esra malt das düstere Bild eines grausamen und zynischen
Gottes, dessen Geschöpfe zum Versagen geboren sind.
In dieser Situation sendet Gott seinen Engel Uriel, um der
Verzweiflung eines der letzten Gerechten zu begegnen. Es beginnt ein
tiefsinniger Dialog, der den Widerstreit in der Seele des Verfassers
reflektiert und sich zu einer großartigen Psychologie der Apokalyptik
entspinnt. Uriel vertritt die Sache des gerechten Gottes gegen Esra, der
ihm seinerseits die geschichtliche Realität aus der Sicht des Menschen
entgegenhält. Der Anwalt des Himmels beginnt sein Plädoyer mit der
Schilderung eines deus absconditus, dessen Schöpfung der begrenzten
menschlichen Erkenntnis nicht zugänglich sei. Esras Verzweiflung
habe nur entstehen können, weil er nicht in der Lage sei, den Kosmos
1
[[4 Esr 3,21-22 >> BibleKJV:2Esd 3.21-22]] (JSHRZ V,4, S.314); vgl.
[[ApcBar(syr) 23,4 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 23.4]].
2
[[4 Esr 3,33-35 >> BibleKJV:2Esd 3.33-35]] (JSHRZ V,4, S.316).
3
Stilistisch unterlegen, aber prägnanter formuliert die syrische Baruch-
Apokalypse: „Und wo bleibt da alles, was du zu Mose über uns gesagt hast?“
[[ApcBar(syr) 3,9 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 3.9]] (JSHRZ V,2, S.124).
26 ABBILDUNGEN

in seiner Gesamtheit zu begreifen.


Du kannst schon das nicht erkennen, was dein und mit dir
verwachsen ist, wie kann deine Fassungskraft den Weg des
Höchsten erfassen? Denn im Unermeßlichen wurde der Weg
des Höchsten geschaffen. Du kannst nicht, vergänglich in einer
vergänglichen Welt, den Weg dessen, der unvergänglich ist,
erkennen?1
Doch Esra gibt sich mit dieser Antwort keineswegs zufrieden, denn
der Mensch erfährt das Unheil als noch viel schlimmer, wenn Gott
ihm den Sinn seines Leidens vorenthält.
Es wäre besser für uns nicht dazusein, als (zur Welt) zu
kommen und in Sünden zu leben, zu leiden und nicht zu
verstehen, warum.2
Er betont, daß es ihm gar nicht darauf ankomme, Dinge zu erfahren,
die er nicht wissen soll, er wolle lediglich erfahren, wie Gott gedenkt,
seine dem Menschen doch bereits gegebenen Verheißungen noch
einzuhalten.
Ich wollte dich doch nicht über die oberen Wege fragen, sondern über
das, was täglich an uns vorbeizieht: Weshalb ist Israel zur Schmach
der Heiden ausgeliefert, das Volk, das du geliebt hast, gottlosen
Völkern? […] Wir verschwinden aus der Welt wie Heuschrecken,
und unser Leben ist wie ein Rauch. Wir sind nicht wert, Erbarmen zu
finden. Aber was wird er für seinen Namen tun, der über uns
angerufen ist? Danach habe ich gefragt.3
[[@Page:24]]Uriel sieht sich gezwungen, noch grausamer zu
antworten; er bestätigt die dunkelsten Befürchtungen Esras: Die Welt
ist aufgrund der Ursünde verdorben, die Verheißungen Gottes werden
sich daher nicht erfüllen.
Sie [die Weltzeit] vermag nicht zu bringen, was den Gerechten
zu ihrer Zeit verheißen wurde; denn diese Welt ist voll Trauer
und Übeln. […] Denn ein Korn des bösen Samens wurde am
Anfang in das Herz Adams gesät.4
Doch damit nicht genug, Uriel verkündet noch größeres Unheil. Die
kommenden Katastrophen werden durch ihr geradezu kosmisches
Ausmaß alles bisher Dagewesene weit übertreffen. Die Sonne wird
nachts scheinen, von den Bäumen wird Blut tropfen, Ungerechtigkeit
und Unzucht werden allerorten herrschen, die Völker werden in
Aufruhr geraten, die Frauen werden Mißgeburten zur Welt bringen,
1
[[4 Esr 4,10-11 >> BibleKJV:2Esd 4.10-11]] (JSHRZ V,4, S.317f.).
2
[[4 Esr 4,12 >> BibleKJV:2Esd 4.12]] (JSHRZ V,4, S.318).
3
[[4 Esr 4,23-25 >> BibleKJV:2Esd 4.23-25]] (JSHRZ V,4, S.319).
4
[[4 Esr 4,27 >> BibleKJV:2Esd 4.27]].[[30 >> BibleKJV:2Esd 4.30]] (JSHRZ
V,4, S.320).
27 ABBILDUNGEN

und es wird der regieren, „den die Erdbewohner nicht erwarten“. 1


Aber auch in dieser dunklen Endzeit bleibt alles menschliche Streben
vergeblich.
In jener Zeit wird es geschehen, daß die Menschen hoffen und
nichts erlangen, sich abmühen, und ihre Wege nicht (zum
Erfolg) gelenkt werden.2
Esras Antwort darauf ist die Antwort eines Juden, der den Sinn seiner
Existenz in die von Gott gelenkte Heilsgeschichte eingebettet sah, und
nun begreifen muß, daß alles ein großer Irrtum war. Sein Dasein hat
jeglichen Sinn verloren.
Warum, Herr? Weshalb nur wurde ich geboren? Warum wurde
der Schoß meiner Mutter mir nicht zum Grab, so daß ich die
Mühsal Jakobs und die Erschöpfung des Volkes Israels nicht
sehen müßte.3
Dieser Zustand existentieller Verzweiflung im Bewußtsein absoluter
Sinnlosigkeit des Lebens und der Welt läßt nur noch eine Lösung zu:
eine Offenbarung im Sinne einer Enthüllung größerer kosmischer
Zusammenhänge, die über diese Welt und diese Geschichte
hinausführen.
Nun ist es aber bemerkenswert, daß der Autor von 4 Esra
keineswegs unter dem unmittelbaren Eindruck der Zerstörung des
Zweiten Tempels schrieb, sondern – wie er selbst andeutet –
Jahrzehnte später.4 Man muß auch nicht notwendig schließen, daß er
[[@Page:25]]an einem der gescheiterten Aufstände gegen die

1
[[4 Esr 5,4-9 >> BibleKJV:2Esd 5.4-9]].
2
[[4 Esr 5,12 >> BibleKJV:2Esd 5.12]] (JSHRZ V,4, S.325).
3
[[4 Esr 5,35 >> BibleKJV:2Esd 5.35]] (JSHRZ V,4, S.328). Auch die Autoren
anderer Apokalypsen gelangen an diesen Tiefpunkt der Sinnkrise: „Besser wäre
es, wenn der Mensch nicht geboren würde, besser, nicht zu leben.“ [[ApcEsr
1,21 >> Pseudepigrapha:Gk. Apoc. Ezra 1.21]] (JSHRZ V,2, S.92). „Selig der,
der nicht geboren ist, oder der, der geboren wurde und dann starb.“
[[ApcBar(syr) 10,6 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 10.6]] (JSHRZ V,2, S.128).
4
Wenngleich die apokalyptischen Teile des Danielbuches unter dem Eindruck
der Unterdrückung des jüdischen Kultes durch Antiochos IV. Epiphanes (vgl.
Dan 11,36-39) entstanden sein mögen, so werden heute einige im äthiopischen
Henoch-Kompendium überlieferte apokalyptische Schriften bis in die
Herrschaftszeit Antiochus III. oder gar die Ptolemäerzeit datiert. Collins, John
J.: „From Prophecy to Apocalypticism: The Expectation of the End“, in: Ders.
1998, S.129-161, S.135. Die jüdische Apokalyptik wäre also in einer Zeit
entstanden, in der weder eine akute Verfolgungssituation herrschte noch eine
brutale Unterdrückung des Kultes unmittelbar zu befürchten stand. Aber ein
realistischer Blick auf die politischen Kräfte der Zeit mußte auch damals zum
Ergebnis haben, daß ein autonomes jüdisches Reich nicht zur Debatte stand.
Zur Situation der Juden unter der Diadochenherrschaft vgl. Maier, Johann:
Grundzüge der Geschichte des Judentums im Altertum. Darmstadt: Wiss.
Buchges., 1981, S.21ff.
28 ABBILDUNGEN

römischen Herren beteiligt war. Ein solches Ereignis kann bestenfalls


der letzte Auslöser gewesen sein. Um Esras Verzweiflung zu
verstehen, reicht es völlig aus anzunehmen, daß der Autor erkannte,
daß es kein neues davidisches Großreich geben wird.1 Die
symbolischen Dramen des Exodus und des Bundesschlusses haben
einst die horizontale Verortung Israels in der historischen Existenz
artikuliert, die einerseits den Auszug aus der vertikalen
Existenzverortung der ägyptischen Kosmologie zum Ausdruck brachte
und andererseits die symbolische Abgrenzung gegenüber den
benachbarten Großreichen sicherte. Eric Voegelin schreibt:
Israel alone constituted itself by recording its own genesis as a
people as an event with a special meaning in history, while the
other Eastern societies constituted themselves as analogues of
cosmic order. Israel alone had history as an inner form, while
the other societies existed in the form of the cosmological
myth.2
Ähnlich heißt es bei Martin Buber:
Und wenn „Israel“ schon ursprünglich ein Volksname ist, so
gibt es das Volk aktual doch erst jetzt, nicht in Ägypten,
sondern erst im Auszug aus Ägypten, und erst jetzt hat sein
Name sich vollkommen in seinem Sinn dargestellt, als „das
sichtbare Programm der Gottesherrschaft“. Und an diesem
Volk, als an einer in seinen Augen schlechthin bestehenden
Einheit, handelt Gott, ebenjener, den die Väter als mitgehenden
Schutzgott entdeckten, geschichtlich. Die Wandlung, die wir,
nunmehr an ihm wahrzunehmen vermeinen, ist die Wandlung
der Situation zur geschichtlichen, und Moses Größe ist, daß er
diese Situation empfängt und ausschöpft.3

1
G. W. Nickelsburg schreibt über die immer wieder geäußerten Vermutungen,
die Apokalyptiker hätten unter direkter physischer Verfolgung zu leiden
gehabt: „These discussions have also uniformly stressed the setting of
apocalypticism in times of social upheaval and turmoil, and they have
underscored the sense of alienation and powerlessness that permeates the
literature of these movements. A key term here is ‚sense‘. What counts is not a
neutral observer’s view of whether things are good or bad, but the apocalytist’s
perception and experience that the times are critical.“ Nickelsburg, George W.:
„Social Aspects of Palestinian Jewish Apocalypticism“, in: Hellholm, David:
(Hrsg.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Pro-
ceedings of the International Colloquium on Apocalypticism Uppsala August
12-17, 1979. Tübingen: Mohr, 1983, S.646. Hervorh. i. Orig.
2
Voegelin, Eric: Israel and Revelation (= Order and History Bd.1). Baton
Rouge und London: Louisiana State University Press, 1956, S.124. Vgl. Voe-
gelin, Eric: The Ecumenic Age (= Order and history Bd.4). Baton Rouge und
London: Louisiana State University Press, 1974, S.97ff. Sh. auch die
zusammenfassenden Glaubensbekenntnisse in Dtn 26,5-18 und [[7,6-10 >>
Bible:Dtn 26,5-18]].
3
Buber, Martin: Der Glaube der Propheten. 2., verbesserte und um Register
29 ABBILDUNGEN

Die nationale Heilsgeschichte, die die Erfahrung einer


Wechselbeziehung zwischen Gott und dem auserwählten Volk
deutete, hat aber mit dem Wegfall der innergeschichtlichen
Heilsperspektive – sei es das gelobte Land oder das messianische
Reich – Sinn [[@Page:26]]und Ziel verloren.1 Wer auch immer aus
dem Gottesvolk sich dessen gewiß wird, erfährt sich auf die
menschliche Urerfahrung der Kontingenz zurückgeworfen. Es ist nicht
so sehr die Erfahrung des Bösen, die den Apokalyptiker antreibt,
sondern die von Desorientierung herrührende Angst. Daß sich die
Kontingenzerfahrung nicht total auswirkt, verdankt der Apokalyptiker
allein der Festigkeit seines Glaubens, kraft dem er Gottes
Gerechtigkeit noch angesichts der Nichterfüllung seiner Verheißungen
zu retten sucht.
Man könnte folgende Einsicht den apokalyptischen Realismus
nennen: Seit David sind tausend Jahre ins Land gegangen, in denen
kein Herrscher vermochte, das Reich in seinem vollen Glanz
wiederherzustellen. In den letzten Jahrhunderten schließlich sahen die
Juden die wenigen verbliebenen Reste politischer Autonomie
schwinden. Am schlimmsten aber ist, daß die Einheit des Volkes
unwiederbringlich verloren scheint und sich nur noch ein zunehmend
kleiner werdender Teil der Juden im Gelobten Land aufhält. Das
jüdische Volk besitzt somit weder die Substanz noch die Mittel, das
verheißene geschichtliche Ziel zu erreichen. Es genügt nicht mehr, daß
Gott seinem Volk zur Hilfe eilt und die Feinde niederschmettert, wie
er es in alten Zeiten getan hat; er müßte schon die ganze Welt
verwandeln.
Die Lösung bleibt bei allen Apokalypsen die gleiche; sie besteht
tatsächlich in der Offenbarung einer künftigen Totalverwandlung der
Welt, bzw. in der Vernichtung der bestehenden Welt und einer sich
anschließenden Neuschöpfung.2 „Seht, ich mache alles neu“, spricht Gott
in der Johannesapokalypse.3 Die Perspektive einer diesseitigen
ergänzte Aufl. Heidelberg: Schneider, 1984, S.72.
1
Gerhard von Rad hat darauf hingewiesen, wie sehr die messianische
Perspektive nicht nur der prophetischen Überlieferung, sondern auch der
alttestamentlichen Geschichtsschreibung zugrunde liegt. Als wichtigste
Legitimationsquelle gilt ihm die Natanweissagung (2 Sam 7,8-16). Rad,
Gerhard von: Theologie des Alten Testamentes. Bd.1: Die Theologie der
geschichtlichen Überlieferung Israels. München: Kaiser, 101992, S.323. Ebenso
hat Rudolf Bultmann betont, daß fast alle Traditionsschichten der
alttestamentlichen Geschichtsschreibung immer die Hoffnung auf eine
glorreiche Zukunft implizieren, auch wenn sie die tragischsten Niederlagen in
der israelischen Geschichte schildern. Bultmann, Rudolf: Geschichte und
Eschatologie. Tübingen: Mohr, 1958, S.21ff.
2
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste
Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr.“ Offb
21,1.
3
Offb 21,5. „Die Grundfesten der Erde […] werden zittern und schwanken;
30 ABBILDUNGEN

Verwirklichung des Heils in einem messianischen Reich weicht der


Erwartung einer jenseitigen Erfüllung, die sich auf eine neue
Offenbarung gründet und die die Verheißungen der alten Propheten als
ebenso obsolet erscheinen läßt wie die glorreiche Vergangenheit des
Gottesvolkes;1 zumin[[@Page:27]]dest aber erklärt sie die Tradition
einer radikalen Neudeutung für bedürftig.
Damit ist die Heilserwartung aber nicht mehr mit einer
Verlängerung der von Gott geleiteten Geschichte Israels verbunden,
sondern sie greift aus in einen Universalismus, der das Schicksal der
gesamten Menschheit im Blick hat. Bezeichnend dafür sind die neuen
Symbole der „Weltbewohner“ bzw. „Erdbewohner“.2 Sie sind besser
geeignet, die lebensweltlichen Erfahrungen wiederzugeben, wie sie in
dem von Eric Voegelin so genannten „Ökumenischen Zeitalter“
gegeben sind.3 Das Unheil der geschichtlichen Gegenwart wird nicht
länger durch ein Fehlverhalten des Gottesvolkes erklärt, sondern ist
Resultat einer grundsätzlichen und originären Deformation der
Schöpfung, die bisweilen mit Fall der Menschen, bisweilen mit dem
Fall der Engel, bisweilen – in konsequenter Fortführung der
kosmologischen Perspektive – gar mit einer Rebellion der Sterne
gegen Gott begründet wird.4 Gott muß seinen Heilsplan deshalb nicht
denn sie wissen, daß sie am Ende verwandelt werden sollen.“ [[4 Esr 6,16 >>
BibleKJV:2Esd 6.16]] (JSHRZ V,4, S.335); vgl. [[ApcBar(syr) 32,6 >>
Pseudepigrapha:2 Bar. 32.6]]; [[49,3 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 49.3]]. „[…]
und ich will den Himmel verwandeln und ihn zum Segen und Licht für ewig
machen. Und ich werde das Festland umwandeln und es zum Segen machen
und werde meine Auserwählten auf ihm wohnen lassen.“ [[Hen(äth) 45,4-5 >>
Pseudepigrapha:1 En. 45.4-5]] (JSHRZ V,6, S.586). Das Symbol der
Neuschöpfung und die Jenseitsperspektive begegnen schon bei Tritojesaja (Jes
65,17; 66,22). Diese Stellen sind aber möglicherweise erst im 3. Jh. v. Chr.,
also zeitgleich mit den ersten Apokalypsen entstanden. Vgl. Hahn 1998, S.15.
1
„Denk nicht so schnell von früheren Zeiten Eitles, daß du nicht vor den
kommenden davoneilst.“ [[4 Esr 6,34 >> BibleKJV:2Esd 6.34]] (JSHRZ V,4,
S.338). „[…] es gibt keine [sic] Flehen mehr für Übertretungen und keine
Gebete der Väter, kein Flehen der Propheten und keinen Beistand der
Gerechten. Dort ist Gerichtsverkündigung zum Untergang […].“ [[ApcBar(syr)
85,12-13 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 85.12-13]]. (JSHRZ V,2, S.183).
2
Der in der Vulgata überlieferte Text von 4 Esr spricht von den Menschen, „qui
habitant in saeculo“ bzw. „qui habitant terram“. [[4 Esr 3,34-35 >>
BibleKJV:2Esd 3.34-35]] u.ö.; vgl. Offb 13,12.14.
3
„There was the outburst of ecumenic-imperial conquest, which forced the
former ethnic cultures into a new ecumenic society. There were the reactions of
ethnic cultures to the imperial conquest, with the lines of differentiation devel-
oping lines of protective deformation. And there was the imperial conquest it-
self as the carrier of a meaning of humanity beyond the tribal and ethnic level.
From the Ecumenic Age, there emerges a new type of ecumenic humanity,
which, with all its complications of meaning, reaches as a millennial constant
into the modern Western civilization.“ Voegelin 1974, S.58.
4
[[Hen(äth) 18,15 >> Pseudepigrapha:1 En. 18.15]]. Die Entstehung der
Apokalyptik wird u.a. mit einer Vermischung von jüdischem
31 ABBILDUNGEN

aufgeben, noch zieht er sich aus der Leitung der Weltgeschichte


zurück. Aber er wird sein Reich nicht in dieser Welt errichten.
Gerhard von Rad betont, wie neuartig diese Position gegenüber der
prophetischen Überlieferung ist: [[@Page:28]]
Von einer spezifisch heilsgeschichtlichen Verankerung in
bestimmten Erwählungstraditionen, führt kein Weg zu dem
Geschichtsbild der Apokalyptik, ebensowenig wie zu ihrer
Vorstellung, daß die Eschata seit Urbeginn festliegen. In dem
Geschichtsaspekt der beiden großen Traumvisionen in Daniel,
in der von dem Monarchienbild und in der Viertierevision ist
von Israels Geschichte überhaupt nicht die Rede. Hier ist Gott
mit den Weltreichen allein […].1
Das in der Ursünde wurzelnde Böse nimmt in der politischen
Geschichte seinen Lauf, welcher innerhalb eines vorherbestimmten
Planes auf einen Höhepunkt der Drangsal zuläuft, um dort in sein
Gegenteil gewendet zu werden.
Die Weltreiche haben einen Ursprung, ein Wesen und ein Ziel
und es entfaltet sich in ihnen das, was von Anfang an in ihnen

Geschichtsverständnis und hellenistischer oder orientalischer Kosmologie


erklärt. Die Frage ist jedoch, warum sich die jüdische Heilserwartung
überhaupt den fremden Einflüssen öffnete. Vielhauer/Strecker 1989, S.504. Die
Antwort lautet: Weil für die am verheißenen Heil verzweifelnden
Apokalyptiker die Lösung nur eine kosmische sein konnte. Außerdem ist zu
beachten, daß die Kosmologie nie zur dominierenden Symbolform wird,
sondern der eschatologisch-geschichtlichen Perspektive unterworfen bleibt.
Bultmann spricht von der „Historisierung der Kosmologie“. Bultmann 1958,
S.29. Gerade von der Offenbarung des Johannes her wird deutlich, daß die
Kosmologie bei der Neudeutung geschichtlicher Erfahrung und der
Neuformulierung eschatologischer Erwartung lediglich Argumentationshilfe
leistet und niemals selbst im Mittelpunkt des Interesses steht. Es ist irreführend
zu behaupten, es gäbe ursprünglich zwei klar zu trennende Arten der
Apokalyptik, eine eher „horizontal“ und eine eher „vertikal“ ausgerichtete, die
sich in späteren Texten wie in der Offenbarung des Johannes eben vermischt
hätten. Vgl. J. J. Collins 1979, S.17. Der gattungsbestimmende Begriff der
Apokalypse stammt nun einmal von Johannes von Patmos, daher muß sein
Werk als paradigmatisch gelten. Der Pionier der Apokalyptikforschung,
Friedrich Lücke, schreibt: „Der Name ἀποκάλυψις scheint vornehmlich durch
die authentische Überschrift der Joh. Apok. 1,1 technischer litterarischer
Ausdruck in der Griechischen Kirche geworden zu seyn. Da derselbe den
wesentlichen Inhalt dieser Litteratur in charakteristischer Weise bezeichnet, so
gehen wir in der genaueren Untersuchung über das Wesen der Apokalyptik mit
Recht von dem Begriff der ἀποκάλυψις aus.“ Lücke, Friedrich: Versuch einer
vollständigen Einleitung in die Offenbarung des Johannes oder Allgemeine
Untersuchungen über die apokalyptische Litteratur überhaupt und die
Apokalypse des Johannes insbesondere. Zweyte vermehrte und verbesserte
Aufl. Bonn: Weber, 1852, S.18.
1
Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testamentes. Bd.2: Die Theologie der
prophetischen Überlieferungen Israels. Gütersloh: Kaiser, 101993, S.321.
32 ABBILDUNGEN

angelegt war. Die in symbolischen Bildern veranschaulichte


Bewegung der Weltgeschichte zeigt ein Anwachsen des Bösen.
Diese Geschichtsschau ist also äußerst pessimistisch. Es muß in
der Weltgeschichte ein negatives Ziel erreicht, nämlich das Maß
des Frevels erfüllt sein ([[Dan.7 2 ff. >> Bible:Dan 7,2ff]] ). Die
Weltgeschichte führt einem „Abgrund“, einem „großen
Untergang“ entgegen ([[Äth. Hen. 83 7 >> Pseudepigrapha:1 En.
83.7]]). Dieses anwachsende Böse liegt offenbar im Wesen des
Menschen und der von ihm erstellten Reiche begründet, wenn
es sich auch je auf verschiedene Weise manifestiert. 1
Die apokalyptische Eschatologie ist also, im Gegensatz zur
„geschichtsimmanenten Zukunftsschau“2 der Propheten, auf das
Jenseits gerichtet. Eine Heilsgeschichte gibt es nicht mehr. Die Folge
davon ist eine völlig veränderte Perspektive auf das Diesseits, in dem
sich der Apokalyptiker nach wie vor mit seiner leiblichen Existenz
präsent weiß. Die Geschichte dieser Welt erscheint nunmehr als eine
von der ursprünglichen Deformation geprägte Einheit, der die Einheit
des Jenseits gegenübersteht. In den Apokalypsen des ersten
nachchristlichen Jahrhunderts wurde dafür das Symbol des Aions
geprägt, das in den früheren Apokalypsen seine Entsprechungen
findet.3
Denn die Vorstellung von einem Geschichtsganzen konnte doch
erst von der Konzeption eines die Geschichte beschließenden
Eschaton aus entstehen, weil von da aus erst von einer
Zielrichtung der gesamten Geschichte gesprochen werden
konnte.4 [[@Page:29]]

Die Apokalyptik und das Politische


Welche Bedeutung aber hat die Offenbarung des kommenden Aions
für die Selbstverortung des Apokalyptikers in seiner geschichtlichen
Gegenwart? Da die Symbolik der Heilsgeschichte wesentlich durch
die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk bestimmt war, wird
man sich zunächst ansehen müssen, welche Gott-Mensch-Relation die
Apokalyptik dem entgegenzusetzen hat. Denn, wie oben gezeigt, endet
mit dem Glauben an die Heilsgeschichte nicht der Glaube an Gott als
Herrn der Geschichte. Vielmehr ist dieser der einzige
Anknüpfungspunkt, der dem Apokalyptiker in der Erfahrung der
1
Von Rad 1993, S.322.
2
Von Rad 1993, S.330.
3
„Sie [die Vorstellung der zwei Aionen] findet ihren symbolischen Ausdruck
schon bei Daniel in dem Gegensatz zwischen den vier Reichen und dem Stein
bzw. Menschensohn, der jene vernichtet und so das ewige Reich herbeiführt
(Dan 2 u. 7).“ Vielhauer/Strecker 1989, S.498.
4
Von Rad 1993, S.330.
33 ABBILDUNGEN

Kontingenz eine erste Orientierung bietet und seine Theodizeefrage


legitimiert.
Der Gott der Apokalyptik zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß
er in weite Ferne rückt. Die transzendente Stellung, die Jahwe schon
bei den Propheten und im deuteronomistischen Geschichtswerk
einnimmt, gewinnt eine neue Qualität, weil sich Gottes Leitung
nunmehr auf das gesamte Menschengeschlecht ausdehnt. Diese
Leitung äußert sich aber nicht mehr in Gottes geschichtlichem
Handeln an seinen Auserwählten, sondern in einer restlosen
Determination des Geschichtsverlaufs nach einem prä-existenten
Plan.1 Die Symbole, die die Erfahrung der Determination zum
Ausdruck bringen, ergeben sich aus den verschiedenen Spielarten
einer stringenten Periodisierung, mit der Gott nach Ansicht der
Apokalyptiker die Weltzeit gegliedert hat.2 „Denn er hat die Welt auf
der Waage gewogen, mit dem Maß die Zeiten gemessen, nach der
Zahl die Epochen abgezählt.“3
Gewiß verfolgte auch der alte Gott Israels einen Plan, an dessen
letztendlicher Verwirklichung man nicht zweifeln durfte. Doch
niemals hätten die alten Propheten und Geschichtsschreiber daraus
eine absolute Determination abgeleitet. Vielmehr machten sie die
Erfüllung der Verheißungen und vor allem den Zeitpunkt von der
Zustimmung des Gottesvolkes abhängig. Gerade die Einsicht in diese
Wechselbeziehung war es, die die Propheten zu ihren großen
Mahnreden veranlaßte.
Er [Gott] wird sein Volk in eine heilbringende Zukunft leiten,
und er führt seinen Plan durch trotz der Verstocktheit des
Volkes. Selbst nach der nationalen Katastrophe bleibt seine
Verheißung unerschüttert. Die Besinnung auf die
Vergangenheit bestätigt die göttliche Verheißung, denn solche

1
„O Herr, du rufst dem Kommen der Zeiten, und sie stehen vor dir. Du läßt den
Machtbereich der Welten vergehen, und sie widersetzen sich dir nicht. Du
verfügst über den Lauf der Perioden, und sie gehorchen dir.“ [[ApcBar(syr)
48,2 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 48.2]] (JSHRZ V,2, S.151); vgl. [[4 Esr 6,6 >>
BibleKJV:2Esd 6.6]].
2
„Und er antwortete mir und sprach zu mir: ‚In zwölf Abschnitte ist jene Zeit
geteilt; und jeglicher davon ist aufbewahrt für das, was für ihn vorgesehen ist.‘“
[[ApcBar(syr) 27,1 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 27.1]] (JSHRZ V,2, S.140). Sh.
v.a. auch die Zehnwochenapokalypse in [[Hen(äth) 93,3-10 >>
Pseudepigrapha:1 En. 93.3-10]] und [[91,11-17 >> Pseudepigrapha:1 En.
91.11-17]].
3
[[4 Esr 4,36 >> BibleKJV:2Esd 4.36]]-37 (JSHRZ V,4, S.321). Die
Regelmäßigkeit wird bisweilen recht deutlich in Analogie zu kosmischen
Prozessen geschildert, wie etwa dem Lauf der Gestirne. So verweist offenbar
die Zahl „Sieben“, anhand der der Verlauf der Ereignisse in der
Johannesapokalypse geordnet wird, auf hellenistische Kosmologie, wie sie
etwa in neupythagoreischen Schulen gelehrt wurde. A.Y. Collins 1998, S.388
34 ABBILDUNGEN

Besinnung erkennt als [[@Page:30]]Grund für die bisherige


Nichterfüllung der Verheißung die Sünde des Volkes. Mit der
Verheißung ist deshalb immer eine Warnung verknüpft, ein Ruf
an die Gegenwart, Verantwortung für die Zukunft zu
übernehmen. Denn Gott wird seine Verheißung nur einem
gehorsamen Volke erfüllen.1
Dieses Element der Unbestimmtheit, das durch das Verhalten des
Gottesvolkes gegeben war, wird in der Apokalyptik eliminiert. Gott
reagiert nicht mehr auf die Werke der Menschen, weder auf die der
Juden noch auf die irgendeines anderen Volkes oder Individuums –
zumindest tut er es nicht in der Zeit.2 Sein Handeln beschränkt sich
vielmehr auf den Akt der Schöpfung und den endzeitlichen Akt der
Transformation, der die Ordnung des neuen Aions konstituiert.
Deshalb sagt der Gott des Johannes von sich selbst: „Ich bin das
Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.“3
Hier zeigt sich noch einmal der spezifische Charakter der
apokalyptischen Offenbarung: Es handelt sich um eine Enthüllung
einer immer schon gegebenen Struktur der Geschichte.4 Die
Konditionalsätze der prophetischen Offenbarung5 sind gänzlich
verschwunden, an ihre Stelle treten nomothetische Aussagen über den
festgelegten Ablauf der künftigen Ereignisse. Erst diese Determination
ermöglicht dem Apokalyptiker die Neuverortung seiner Existenz:
Zum einen läßt sich das Ende dieses Aions berechnen, solange es nur
gelingt, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten. Zum anderen erfährt der
eigene Standpunkt eine exakte Bestimmung im Lauf der Zeiten.6
Da die Weltgeschichte als ein vom ursprünglichen Defekt
1
Bultmann 1958, S.22f.
2
Gerhard von Rad stellt gar die Frage, ob es sich hier nicht um ein „im Grunde
geschichtsloses Denken“ handle, „weil hier ja die Erfahrung des geschichtlich
Kontingenten kaum mehr zu Worte kommt“. Von Rad 1993 S.322.
3
Offb 1,8; 21,6; 22,13.
4
„Siehe, du hast mir den Lauf der Zeiten gezeigt und das, was nach diesen
Dingen geschehen wird.“ [[ApcBar(syr) 14,1 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 14.1]]
(JSHRZ V,2, S.131).
5
Etwa in einer Offenbarung an Jesaja: „Wenn ihr aber bereit seid zu hören,
sollt ihr den Ertrag des Landes genießen. Wenn ihr aber trotzig seid und euch
weigert, werdet ihr vom Schwert gefressen. Ja, der Mund des Herrn hat
gesprochen.“ Jes 1,19-20; vgl. Jer 4,1: „Wenn du umkehren willst, Israel –
Spruch des Herrn –, darfst du zu mir zurückkehren; wenn du deine Greuel
entfernst, brauchst du vor mir nicht zu fliehen.“
6
„Denn in zwölf Teile ist die Weltzeit geteilt, und davon sind schon zehn, und
zwar die Hälfte des zehnten Teils vergangen. Übrig bleiben also noch zwei
außer der Hälfte des zehnten Teils.“ [[4 Esr 14,1 >> BibleKJV:2Esd 14.1]]-12
(JSHRZ V,4, S.401). „The history of Christian Apocalyptic reveals one thing
very clearly: the desire of the human soul to find a significant place for itself in
the time process.“ McGinn, Bernard: Apocalyptic Spirituality. Treatises and
Letters of Lactantius, Adso of Montier-en-Der, Joachim of Fiore, the Francis-
can Spirituals, Savonarola. Mahwah, New Jersey: Paulist Press, 1979, S.xiii.
35 ABBILDUNGEN

ausgehender, kontinuierlicher Prozeß der Degeneration beschrieben


wird, sieht sich der Apokalyptiker dem Ende der Zeiten ferner oder
näher, je nachdem, wie intensiv er das Unheil seiner Gegenwart
erfährt. In der Regel gehen die Apokalypsen davon aus, daß eine
Steigerung des Übels zwar noch möglich ist, dennoch sehen sie die
Endkämpfe bereits begonnen. Diese Naherwartung, die keinerlei
Kompromisse mehr erlaubt, betont Johannes an exponierten Stellen
seiner Apokalypse, vor allem im Prolog und im Epilog.1 Das mit ihr
verbundene Gefühl eines beschleunigten Zeitverlaufs ist keineswegs
eine christliche [[@Page:31]]Besonderheit,2 wie das Symbol der
„bedrängten Zeit“ bei Daniel zeigt.3 Wenngleich sich diese Tendenz
durch das Bewußtsein, daß der Menschensohn, der die Aionenwende
herbeiführt, die Welt bereits betreten hat, sicherlich noch einmal
zuspitzt.
Die Akteure der Kriege, die die gesamte Geschichte durchziehen
und sich nun der Entscheidungsschlacht nähern, sind entweder
Vertreter des Guten oder des Bösen, wobei irdische und himmlische
Wesen Seite an Seite kämpfen. Häufig wurde aus der Schilderung
dieser Kämpfe ein radikaler Dualismus gefolgert und zum
konstituierenden Element der Apokalyptik erklärt.4 Das ist allerdings
nur teilweise richtig. Sicherlich stehen sich der verdorbene
gegenwärtige Aion und der vollendete künftige Aion in deutlichem
Gegensatz gegenüber und ebenso werden die Kämpfe auf Erden
zwischen den Vertretern dieser Welt und denen geführt, die auf das
Jenseits ausgerichtet sind. Doch hat dies nicht, wie in der Gnosis, zu
der Konzeption einer Autonomie des Bösen, zu einem bösen Prinzip
geführt. Johannes von Patmos verurteilt ausdrücklich die Anhänger
einer Lehre, die dem Bösen eine Tiefendimension (τὰ βαθέα τοῦ
σατανᾶ) zusprechen.5 Das bedeutet keineswegs, daß Kriege nicht als
kosmologische Ereignisse gedeutet werden, denn gerade darin
unterscheiden sie sich ja von den rein innergeschichtlichen Kämpfen
der Heilsgeschichte.6 Doch über den intrakosmischen Mächten des
1
Offb 1,1.3; 22,6-7.10.12.
2
So Ernst Benz: „Erst durch die Auffassung der eigenen Zeit als der
Zwischenzeit zwischen dem in Jesus Christus bereits erfolgten Anfang und dem
nahe bevorstehenden Ende der Heilsgeschichte ist die Menschheitsgeschichte
in einen Strudel der Akzeleration hineingerissen worden.“ Benz, Ernst:
Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem. (=
Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 1977, Nr.
2). Wiesbaden: Steiner, 1977, S.5.
3
Dan 9,25.
4
„Zu den wichtigsten inhaltlichen Motiven gehört […] der dualistische
Grundansatz.“ Hahn 1998, S.3. „Der wesentliche Grundzug der Apokalyptik ist
ihr Dualismus, der in verschiedenen Ausprägungen ihre Vorstellungswelt
beherrscht.“ Vielhauer/Strecker 1989, S.498.
5
Offb 2,24.
6
Collins, Adela Yarbro: „The Political Perspective of the Revelation to John“,
36 ABBILDUNGEN

Guten und des Bösen thront der transzendente Gott, der ohne
ebenbürtigen Gegner ist.1
Der Dualismus der Apokalyptiker ist ein Dualismus zwischen
„jetzt“ und „dann“, die gnostische Konzeption eines immerwährenden
Widerstreits zwischen einem guten und einem bösen Prinzip ist ihnen
fremd. Beide Aionen sind von dem einen Gott geschaffen, beide
unterstehen seiner Gewalt. Das gnostische Symbol des Demiurgen
fehlt. Auch die Mächte des Bösen sind Teil des göttlichen Planes und
wenn sie nicht mehr gebraucht werden, läßt Gott sie sich gegenseitig
vernichten. „Denn Gott lenkt ihr [[@Page:32]]Herz so, daß sie seinen
Plan ausführen.“2 Das Böse mag die meisten der irdischen Schlachten
für sich entscheiden, doch in keiner Apokalypse wird ihm die Chance
eingeräumt, den kosmischen Krieg zu gewinnen. Allerdings ist es von
größter Bedeutung zu betonen, daß keine Apokalypse die göttliche
Determination auf das Individuum ausdehnt. Gott bestimmt zwar den
Verlauf der Kämpfe, doch es bleibt dem Einzelnen überlassen, auf
welcher Seite er sich positioniert.3 Auf die Entscheidung für das Gute,
die den einzig wirklich freien Willensakt des Individuums darstellt,
sowie auf das beständige Festhalten an dieser Entscheidung reduziert
sich letztlich die Ethik der Apokalyptiker.
Wenn nun aber die Mächte des Bösen Teil des göttlichen Planes
sind, warum hat es Gott überhaupt zugelassen, daß sie seine
Schöpfung verdarben? Wenn Gott tatsächlich der große und
allmächtige Herrscher über den Kosmos ist, zu dem ihn die
Apokalyptik macht, muß nicht das Böse der Schöpfung von Anfang
an innewohnen? Solche Fragen, die später bei Augustinus zum
zentralen theologischen Problem werden sollten, werden, wenn sie
überhaupt gestellt werden, kaum befriedigend beantwortet. In 4 Esra

in: Journal of Biblical Literature 95/2 (June 1977), S.241-256, S.244ff. Man
bedenke, daß selbst der Kampf zwischen Jahwe und Dagon in 1 Sam 5,1-4 als
eine Episode im Philisterkrieg geschildert wird, wogegen in der Apokalyptik
Kriege zu Episoden des kosmischen Kampfes werden.
1
Am eindrucksvollsten wird dies in einem Gebet Baruchs zum Ausdruck
gebracht. Er verherrlicht den transzendenten und allmächtigen Herrscher über
den Kosmos, „der du die Mächte, die vor dir stehn, regierst mit großer Umsicht,
die heiligen Wesen auch, die unzählbaren, die du von Ewigkeit her gemacht,
die Flamme und Feuer sind, die stehn um deinen Thron, die du regierst mit
Drohen; für dich allein gilt doch nur dies; daß du sofort tust alles, was du
willst.“ [[ApcBar(syr) 21,4-5 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 21.4-5]] (JSHRZ V,2,
S.136).
2
Offb 17,17.
3
Dementsprechend ist auch die Erbsünde nicht im Sinne einer Prädestination
zu verstehen, die sich auf das Individuum erstreckt: „Zwar sündigte einst als
erster Adam und hat damit vorzeitigen Tod gebracht für alle, doch hat von
denen, die aus ihm geboren sind, ein jeder auch sich selbst zukünftige Strafe
bereitet. Und also wählte ein jeglicher auch für sich die künftige Herrlichkeit.“
[[ApcBar(syr) 54,15 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 54.15]] (JSHRZ V,2, S.160).
37 ABBILDUNGEN

gibt Uriel die lapidare Antwort, daß das Böse eben vor dem Guten
kommen muß:
Bevor also nicht geerntet ist, was ausgesät war, und der Platz
nicht verschwunden ist, wo das Böse gesät worden war, wird
der Acker nicht erscheinen, wo das Gute gesät ist. 1
Apokalyptik ist eben nicht Philosophie, sie stützt sich auf Visionen,
nicht auf Vernunftgründe. Die ihm enthüllte Aussicht auf das Heil
jenseits alles Bösen genügt dem Apokalyptiker, um an der
Gerechtigkeit Gottes festzuhalten. Sein Blick ist auf das Ende
gerichtet, nicht auf den Anfang.2 Im Augenblick der erlösenden
Offenbarung muß ihm eine theoretische Durchdringung derselben als
völlig sekundär erscheinen.
Eine funktionale Bedeutung der bösen Mächte kann in Gottes Plan
dennoch ausgemacht werden, sie besteht in der Prüfung der Gerechten
Gottes.3 Das Heil im Jenseits kann nur erlangen, wer in seinem
Glauben bis ans Äußerste geht. Hier zeigt sich nun die zweite Qualität
in der Gott-Mensch-Beziehung, die sich gegenüber der
heilsge[[@Page:33]]schichtlichen Existenzauslegung verändert hat:
Gott prüft jeden einzelnen Menschen. Ja, der einzige Sinn diesseitiger
Existenz besteht letzthin im Bestehen dieser Prüfung, wie Uriel
erkennen läßt:
Das ist der Sinn des Kampfes, den der Mensch kämpft, der auf
Erden geboren ist, daß er, wenn er unterliegt, das leiden muß,
was du gesagt hast [die Strafe Gottes], wenn er aber siegt, das
empfängt, was ich gesagt habe [das ewige Leben]. 4
Selbst wenn die Zugehörigkeit zum Gottesvolk in manchen
Apokalypsen noch vorausgesetzt wird, so ist sie doch nur notwendige,
aber nicht hinreichende Bedingung für das Heil; „denn jeder trägt
selbst seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit“. 5 Die Schuld für das
gegenwärtige Unheil wird nicht länger Zion oder Israel angelastet,
1
[[4 Esr 4,29 >> BibleKJV:2Esd 4.29]] (JSHRZ V,4, S.320).
2
In 4 Esr wird stärker auf die Theodizeefrage eingegangen, als in den meisten
anderen Apokalypsen. Gott rechtfertigt sich folgendermaßen: Er habe den
Menschen präexistent zu seinem Vorhaben der Schöpfung befragt und dieser
habe nicht widersprochen. Damit sei alles Unheil Strafe für Ungehorsam und
allein dem Menschen anzulasten. [[4 Esr 9,18-19 >> BibleKJV:2Esd 9.18-19]].
Dieser Mythos findet sich auch im Koran wieder ([[Sure 7,172 >> Quran:Surah
7:172]].).
3
Diese Vorstellung eines guten Gebrauchs des Bösen durch Gott entspricht
durchaus älteren Traditionen jüdischen Denkens, auch wenn dort der
kosmologische Rahmen fehlt. So sagt etwa Josef über das verbrecherische
Verhalten seiner Brüder: „Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber
hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am
Leben zu erhalten.“ Gen 50,20.
4
[[4 Esr 7,127 >> BibleKJV:2Esd 7.127]] (JSHRZ V,4, S.359).
5
[[4 Esr 7,105 >> BibleKJV:2Esd 7.105]] (JSHRZ V,4, S.356).
38 ABBILDUNGEN

sondern den konkreten Sündern,1 denn das wahre Gottesvolk wird sich
erst im Jenseits versammeln. 2 Die Erfahrung einer individuellen
Verantwortung vor Gott drückt sich in den symbolischen Dramen des
Weltgerichts und der Auferstehung der Toten aus, die ein
beherrschendes Thema der Apokalypsen bilden und hier nicht weiter
ausgebreitet werden können. Doch Symbole wie das Buch des Lebens,
in das die Namen der Gerechten eingetragen werden, 3 oder der
zweiten Auferstehung, die jenen zuteil wird, die „siegen“, 4 zeugen von
dieser Erfahrung.5 Wie sie auch immer geschildert wird, die
endzeitliche Selektion betrifft stets nur Individuen.
Die Sendschreiben der Johannesapokalypse mögen dies
verdeutlichen: Johannes spricht die Gemeinden zwar jeweils als
Kollektive an, bewertet aber einerseits ihre Qualitäten und Leistungen
unterschiedlich und unterscheidet andererseits Gute und Böse
innerhalb der Gemeinden. So tadelt Johannes im Auftrag des Herrn
häretische Elemente der Gemeinde von Smyrna, nicht aber die
Gemeinde als Ganzes: [[@Page:34]]

Bei dir gibt es Leute, die an der Lehre Bileams festhalten. […]
So gibt es auch bei dir Leute, die in gleicher Weise an der Lehre
der Nikolaiten festhalten.6
Im Schreiben an die Gemeinde von Sardes, deren Mitglieder offenbar
in ihrer Mehrheit nicht mehr der rechten Lehre anhingen, macht
1
„Saht ihr denn nicht, was Zion getroffen hat? Meint ihr vielleicht, der Ort habe
gesündigt und sei darum zerstört worden, oder das Land (Israel) habe
irgendeine Missetat getan und sei deswegen preisgegeben worden? Wißt ihr es
wirklich nicht? Um euretwillen, die ihr sündigtet, ist es zerstört, obschon es
nicht gesündigt hat; um deretwillen, die gesündigt haben, ist das, was nicht
gefrevelt hat, den Feinden überliefert.“ [[ApcBar(syr) 72,8-10 >>
Pseudepigrapha:2 Bar. 72.8-10]] (JSHRZ V,2, S.173).
2
„Zwar wird das Heil der Zukunft auch das Heil des Gottesvolkes sein, aber
das Gottesvolk ist die Gemeinde der Auserwählten und Heiligen und daher
nicht eine Volksgemeinschaft oder Nation, sondern eine Gemeinde von
Einzelnen.“ Bultmann 1958, S.35. Vgl. [[4 Esr 3,36 >> BibleKJV:2Esd 3.36]]:
„Einzelne Menschen, mit Namen zu nennen, die deine Gebote gehalten haben,
wirst du zwar finden, Völker aber wirst du nicht finden.“ (JSHRZ V,4, S.316).
3
Offb 13,8; 20,12.15; vgl. Dan 7,10; 12,1.
4
Offb 21,6-7.
5
Die Vision von der Wiederbelebung der Toten bei Ezechiel ([[Ez 37,1-14 >>
Bible:Hes 37,1-14]]) ist kein Beleg für die Existenz früher „Vorformen“ der
Apokalyptik, sondern beweist um ein weiteres Mal den fundamentalen Bruch
zwischen Heilsgeschichte und Apokalyptik. Ezechiel rechnet „mit einer
irdischen Restitution des Gottesvolkes und einer Erneuerung der staatlichen
und kultischen Ordnung Israels“ (Hahn 1998, S.13), also mit einem diesseitigen
und innergeschichtlichen Ereignis, das sich ausschließlich auf das Kollektiv des
Volkes bezieht.
6
Offb 2,14-15.
39 ABBILDUNGEN

Johannes deutlich, daß die Konsequenzen nicht das Kollektiv treffen,


sondern ausschließlich die Sünder:
Du hast aber einige Leute in Sardes, die ihre Kleider nicht
befleckt haben; sie werden mit mir in weißen Gewändern
gehen, denn sie sind es wert.1
Die Selbstverortung des Apokalyptikers vollzieht sich immer in zwei
Dimensionen. Er erfährt sich einerseits bereits als Teil der jenseitigen
Heilsgemeinschaft, andererseits aber noch im diesseitigen Endkampf
gegenwärtig. Daraus ergibt sich eine individualistische Ethik, die eine
apolitische Haltung gegenüber dem Diesseits verlangt. In den
Kämpfen zwischen dem Engelsheer und den Chaoskräften ist ein
aktives Engagement überflüssig, denn die Niederlage des Bösen steht
fest. Zwar bedienen sich die Apokalyptiker der Symbolik des Heiligen
Krieges, doch im Vergleich mit dem Selbstverständnis der Zeloten
und anderen Gruppierungen, die aktiv Widerstand leisteten, wird der
Bedeutungswandel deutlich. Die Vorbilder des Heiligen Krieges sind
nicht länger die überlieferten Siege Israels, wie sie unter Debora oder
Josua gefeiert wurden, sondern die alten Weltkampfmythologien, wie
sie die ägyptische, mesopotamische, vedische, persische und
kanaanitische Überlieferung bereithielt.2 Im Kampf der kosmischen
Kräfte läßt sich die menschliche Machtlosigkeit gegenüber der
Geschichte besser zum Ausdruck bringen. Zwar steht der
Apokalyptiker in einem gewissen synergistischen Verhältnis zu den
Mächten des Guten, doch greift er nicht mit Waffen in den Kampf ein.
Sein Beitrag liegt in der Ausdauer. Es gilt allein, an den Forderungen
des Glaubens und des Gesetzes festzuhalten.3
Doch dieser Beitrag ist nicht geringzuschätzen, vor allem wenn er
bis zum Äußersten geleistet wird, bis zur Selbstopferung für den
Glauben. Das Martyrium ist das Paradigma aller apokalyptischen
Ethik. Und hier zeigt sich schließlich doch ein begrenzter Bereich, in
dem der Mensch auf die Geschichte Einfluß nehmen kann. Er vermag
zwar den göttlich festgelegten Ablauf der Ereignisse nicht zu ändern,
aber er kann ihn beschleunigen – durch seinen Tod. Hierzu ist auf eine
Tatsache hinzuweisen, die trotz ihrer Evidenz keineswegs immer
beachtet wird: Der antiken Apokalyptik ist die Vorstellung einer
absoluten Zeit im Sinne Newtons selbstverständlich noch fremd.
Wenn Gott beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Jahren für eine
Epoche festgelegt hat, so müssen zwar alle diese Jahre vergehen,
bevor die Epoche zu Ende gehen kann; das heißt aber nicht
1
Offb 3,4.
2
A.Y. Collins 1977, S.244. Zu den verschiedenen Einflüssen sh. Cohn,
Norman: Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse. Frankfurt
am Main und Leipzig: Insel, 1997, S.15-198.
3
Anders als Paulus stellt Johannes den Glauben nicht über das Gesetz. Sh. A.Y.
Collins 1998, S.391.
40 ABBILDUNGEN

notwendig, daß alle Jahre von gleicher Dauer sind. Das Jahr geht zu
Ende, wenn alle darin vorgesehenen Ereignisse geschehen sind.
Wird nun, wie bei Johannes, vorausgesetzt, daß der neue Aion erst
anbrechen [[@Page:35]]kann, wenn eine göttliche festgelegte Zahl
von Märtyrern ihr Leben gelassen hat, um im Jenseits die
Gemeinschaft der Heiligen zu konstituieren, dann bringt jeder Tod
eines Gerechten das Reich Gottes näher.1
Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem
Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen
des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter
Stimme: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und
Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den
Bewohnern der Erde zu rächen? Da wurde jedem von ihnen ein
weißes Gewand gegeben; und ihnen wurde gesagt, sie sollten
noch kurze Zeit warten, bis die volle Zahl erreicht sei durch den
Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch sterben müßten wie
sie.2
Die Ethik des Martyriums macht mehr als alles andere deutlich, wie
überflüssig dem Apokalyptiker jede Form irdischer
Gemeinschaftsbildung erscheinen muß.3 Weder gilt es, sich im aktiven
Kampf gegen die Widersacher zu vereinigen, noch ist es auch nur im
entferntesten denkbar, am Ende der Zeiten in einer korrupten Welt
eine sinnvolle Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu errichten.
Es mag zwar leichter fallen, die Drangsale und Versuchungen
gemeinsam zu ertragen, doch der Blick bleibt dabei immer auf das
1
A.Y. Collins 1977, S.249. Vgl. [[4 Esr 4,36-37 >> BibleKJV:2Esd 4.36-37]].
Auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Weltendes antwortet Uriel: „Dann, wenn
die Zahl derer voll ist, die euch ähnlich sind. […] Er setzt nicht in Bewegung
und weckt nicht auf, bis das festgesetzte Maß erfüllt ist.“ (JSHRZ V,4, S.321).
2
Offb 6,9-11. Ernst Benz hat gezeigt, wie sehr dieses apokalyptische
Selbstverständnis in der christlichen Zivilisation verwurzelt ist: „Hier [in De
votis monasticis iudicium] erhofft Luther das Martyrium, damit sein Blut um so
lauter zu Gott schreie und auf die Beschleunigung seines Gerichts dränge.
Luther, auf das Martyrium vorbereitet, weiß also etwas um die akzelerierende
Gewalt des unter dem Altar hervor von Gott das beschleunigte Strafgericht
heischenden Blutes der Märtyrer und hofft, durch das Geschrei seines
Märtyrerblutes das Endgericht über das Papsttum um so rascher herbeizwingen
– urgere – zu können. […] ihre säkularisierte Analogie haben sie [diese
Leidenschaften] in der enthusiastischen Märtyrerpsychologie der russischen
Revolutionäre gehabt, die das Martyrium durch ihre Attentatsversuche auf
Zaren und Minister erzwangen, um die Revolution und den Untergang des von
ihnen verhaßten herrschenden Systems zu beschleunigen.“ Benz 1977, S.25.
3
„The high regard for martyrdom in Revelation might appear rather incompat-
ible with the book’s thoroughgoing denunciation of the contemporary political
order. The political critique would seem to manifest a communal religiosity,
while martyrdom emphasizes the individual. There are a number of points at
which the theology of martyrdom relates primarily to the individual.“ A.Y.
Collins 1977, S.254.
41 ABBILDUNGEN

Jenseits gerichtet. Johannes von Patmos hat – ganz im Gegensatz zu


Paulus – keinen Begriff der Kirche im Sinne einer Einheit der
Gerechten Gottes in dieser Welt. Ebensowenig gibt es den zu
liebenden „Nächsten“ der Evangelien. Die paränetischen
Sendschreiben interessieren sich an keiner Stelle für die innere
Ordnung der Gemeinden,1 sondern ausschließlich für deren Verhalten
gegenüber den Feinden, die den Gläubigen in dieser Welt
gegenübertreten. Es zeigt sich aber, daß hier der
Gegen[[@Page:36]]satz zwischen Freund und Feind per se nicht
Kriterium des Politischen sein kann, wenn man nach den
konstituierenden Grundlagen menschlicher Gemeinschaften sucht, wie
sie sich aus deren symbolischer Selbstdeutung ergeben. Echte
Gemeinschaft gibt es für den Apokalyptiker erst dort, wo die „reale
Möglichkeit des Kampfes“ (C. Schmitt) für immer beseitigt ist. 2 Das
Reich Gottes tritt dann in Erscheinung, wenn alle anderen Reiche
vernichtet sind. Daniel schreibt über die Äonenwende:
Die Herrschaft und Macht und die Herrlichkeit aller Reiche
unter dem ganzen Himmel werden dem Volk der Heiligen des
Höchsten gegeben. Sein Reich ist ein ewiges Reich, und alle
Mächte werden ihm dienen und gehorchen.3
Nun verhält sich aber der Apokalyptiker seinem Selbstverständnis
nach nur dem Diesseits gegenüber apolitisch. Er hat dagegen eine
recht klare Vorstellung von der politischen Ordnung, die dereinst im
Jenseits errichtet werden wird, und die geeignet ist, die Erfahrung des
diesseitigen Totalverlusts an politischer Autonomie zu kompensieren.
Sie wird ihrer Herrschaftsform nach theokratisch geordnet sein und
bar aller intermediären Institutionen.4 Das bekannteste Symbol dieser
Ordnung ist das himmlische Jerusalem.
Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus
dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die
sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute
Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter
den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden
sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.5

1
Adela Yarbro Collins vermutet, daß Johannes, indem er die Schreiben nach
alter jüdischer Tradition an die „Engel der Gemeinden“ schickt bzw. die
Gemeinden als Kollektive anspricht, die Autorität der Bischöfe gezielt
unterläuft und ihr das Charisma des Apokalyptikers entgegenstellt. A.Y.
Collins 1998, S.390f.
2
Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem
Vorwort und drei Corollarien. 6. Aufl., 4. Nachdruck der Ausg. von 1963.
Berlin: Duncker und Humblot, 1996, S.32.
3
Dan 7,27.
4
Vgl. [[ApcBar(syr) 73,1 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 73.1]]ff.
5
Offb 21,2-3.
42 ABBILDUNGEN

Diese unmittelbare Präsenz Gottes, die das Leben der Bürger des
himmlischen Jerusalem bestimmen wird, wird den Kult überflüssig
machen.
Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr
Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel,
er und das Lamm.1
Es liegt in der Konsequenz der Totalverwandlung, daß die jenseitige
Ordnung im absoluten Gegensatz zur diesseitigen Politik steht, die
sich durch Gottesferne, ja Gottesfeindschaft auszeichnet. Diesem
Desinteresse an der politischen Ordnung des Diesseits scheint jedoch
die Vision vom Tausendjährigen Reich in Offb 20,1ff. zu
widersprechen. Denn Johannes spricht davon, daß die, „die das Tier
und sein Standbild nicht angebetet“ hatten, „zur Herrschaft mit
Christus für tausend Jahre“ gelangen. Doch sieht man sich die Stelle
im Kontext an, kann von „Diesseits“ kaum mehr die Rede sein. Denn
die Mitherrscher Christi sind „die Seelen aller, die enthauptet worden
waren“. Das Tausendjährige Reich ist als „erste Auferstehung“ bereits
Teil des Jüngsten Gerichts und eingebunden in den Prozeß der
kosmischen Transformation. Es dient der Sammlung derer, die selig
werden und die auch an der zweiten jenseitigen
[[@Page:37]]Auferstehung teilhaben werden. So endet das
Tausendjährige Reich mit der Freilassung Satans, der die
schrecklichen Völker Gog und Magog von den Enden der Welt
herbeiholen wird, um die Vernichtung des Diesseits zu ihrem Ende zu
bringen. Diese Ruhepause im Weltgericht enthält bis auf das Motiv
einer Rehabilitierung der Märtyrer keinerlei positive
Ordnungskonzeption, wenngleich sie in der Geschichte des politischen
Denkens äußerst anregend auf Geister wirkte, deren politische
Zielsetzungen durchaus diesseitig orientiert waren.
Um noch einmal zusammenzufassen: Die Apokalyptik ist,
bezogen auf das Diesseits, nicht originär politisch, fast scheint sie
alles Politische der Verdorbenheit und Irrelevanz des gegenwärtigen
Aions zuzurechnen, in dem alle Formen menschlicher
Vergemeinschaftung als vom primordialen Defekt geprägt empfunden
werden. Nach Daniel ist die Bestimmung aller irdischen Reiche ihre
Vernichtung.2 Selbst die Vergemeinschaftung von Gleichgesinnten,
wie sie Johannes in den frühchristlichen Gemeinden beobachten kann,
wird eher mit Desinteresse verfolgt. Aber: Die Apokalyptik ist von
Anfang an politisch, insofern ihre Protagonisten daran festhalten, daß
sich im Jenseits eine Gemeinschaft konstituieren wird, die der Struktur
ihres Bewußtseins entspricht. So wie der Apokalyptiker schon jetzt
den Glauben über alle anderen Kräfte seines versuchten Inneren stellt,
so wird einst Gott über seine Auserwählten herrschen. Und so wie sich
1
Offb 21,22.
2
Dan 2,44.
43 ABBILDUNGEN

das Bewußtsein des Apokalyptikers zur politischen Gegenwart


verhält, wird sich die jenseitige Ordnung zur diesseitigen verhalten.1
Es ist diese verheißene Umkehrung der Ordnung, die dem
Apokalyptiker Mut macht. Die Aussicht, an der Seite Gottes über die
jetzigen Widersacher zu richten,2 läßt ihn die diesseitige Erniedrigung
ertragen. Dabei ist es unübersehbar, daß das Ressentiment, das durch
die immer neue Erfahrung der Machtlosigkeit fast ins Unerträgliche
gesteigert wird, eine gewaltige Rolle spielt. 3 Eric Voegelin nannte
diese Haltung den „metastatischen Glauben“: an die Stelle des
politischen Handelns tritt das Vertrauen darauf, daß Gott einst
Gerechtigkeit herstellen wird, indem er die Realität verwandelt und
eine neue Wirklichkeit anstelle der alten errichtet.4 [[@Page:38]]
Warum aber, so muß man nun fragen, kommt es offensichtlich
schon im Diesseits zur Bildung apokalyptischer Gruppierungen wie
den Essenern oder zahlreicher endzeitlich gesinnter Gemeinschaften
bis auf den heutigen Tag, deren innere Ordnung einer deutlichen
Normierung unterliegt, und die sich ihrer gemeinschaftlichen Existenz
sehr wohl bewußt sind? Dazu ist folgendes zu sagen: Die Apokalypse
ist zunächst Ausdruck der individuellen Bewältigung einer
psychischen Krise, die vom Zusammenbruch der überkommenen
Existenzdeutung ausgelöst wurde. Durch die Vermittlung an die
soziale Umwelt, die prinzipiell die existentiellen Erfahrungen der
Seher teilt, kann die Apokalypse aber zur dominanten
Selbstinterpretation werden und die symbolische Form einer
Gemeinschaft bestimmen. Das apokalyptische Bewußtsein des
Offenbarungsempfängers schafft sich auf diese Weise ein soziales
Feld, das solange Bestand haben kann, wie die Gemeinschaft ihre
1
„Und die Könige und Mächtigen werden in dieser Zeit zugrunde gehen, und
sie werden in die Hand der Gerechten und Heiligen gegeben werden.“
[[Hen(äth) 38,5 >> Pseudepigrapha:1 En. 38.5]] (JSHRZ V,6, S.577); vgl.
[[Hen(äth) 48,8 >> Pseudepigrapha:1 En. 48.8]]; [[53,5 >> Pseudepigrapha:1
En. 53.5]]; [[67,1 >> Pseudepigrapha:1 En. 67.1]]ff.; Dan 7,27.
2
Offb 20,4.
3
Vgl. z.B. [[ApcEsr IV,9ff. >> Pseudepigrapha:Gk. Apoc. Ezra IV.9-14]] Der
christliche Autor beschreibt dort eine Jenseitsreise, die stark an Dantes Inferno
erinnert. In äußerst grausamen Bildern werden die Strafen der Sünder und der
irdischen Herrscher, von Herodes bis zum Antichrist, geschildert. Vgl. Offb
19,21, wo auf drastische Weise das Ende der „Könige der Erde“ beschrieben
wird.
4
„As the Jewish apocalyptics ever since Daniel had seen, the realization of the
humanly true order under God in society would require the apocalyptic trans-
figuration of the ,historical‘ reality in which the truth of order had emerged as
insight. In apocalyptic consciousness, the experience of the movement within
reality beyond its own structure has split into the conviction that history is a
field of disorder beyond repair by human action and into the metastatic faith in
a divine intervention that will establish the perfect order of the realm to come.
The tension between order and disorder in the one reality dissociates in the
phantasy of two realities following each other in time.“ Voegelin 1974, S.301f.
44 ABBILDUNGEN

Existenz anhand der vom Seher kreierten Symbolik zu deuten


vermag.1
Es ist nicht, wie oft vermutet,2 die Gemeinschaft, die die
Apokalypse hervorbringt, vielmehr formt die Apokalypse die
Gemeinschaft. Die Eigenart dieses Vorgangs muß noch einmal
hervorgehoben werden: Der Apokalyptiker hat kein Interesse an einer
diesseitigen Gemeinschaftsbildung. Dennoch wird er, gleichsam
gegen seinen Willen, zum Schöpfer einer politischen Ordnung, sobald
er erfolgreich den Zustand seines Bewußtseins symbolisch an die
Umwelt vermittelt. In der Sprache der philosophischen Anthropologie
ausgedrückt: die politische Natur des Menschen erweist sich sogar
noch im Widerstand des Menschen gegen diese Natur. Thomas Mann
hat dieses Phänomen meisterhaft beschrieben. In Doktor Faustus heißt
es über einen nach Amerika ausgewanderten Prediger:
Dann aber war ein neuer Schub religiöser Ergriffenheit über ihn
gekommen, und er war dem inneren Rufe gefolgt, in der
Wildnis als Klausner ein völlig einsames, karges und nur auf
Gott bedachtes Lebens zu führen. Wie es nun aber geht, daß
gerade Menschenflucht wohl den Flüchtling ins Menschliche
verflicht, so hatte er sich bald von einer Schar bewundernder
Gefolgsleute und Nachahmer seiner Absonderung umgeben
gesehen, und statt der Welt ledig zu werden, war er unversehens
und im Handumdrehen zum Haupt einer Gemeinde geworden,
die sich rasch zu einer selbständigen Sekte, der ‚Wiedertäufer
des Siebenten Tages‘ [[@Page:39]]entwickelt hatte, und der er
um so bedingungsloser gebot, als er seines Wissens
Führerschaft niemals angestrebt hatte, sondern wider Wunsch
und Absicht dazu berufen worden war.3

1
„Wenn wir z.B. sagten, daß jede Gesellschaft die Symbole hervorbringt, durch
die sie ihre Erfahrung von Ordnung ausdrückt, so ist damit nicht gemeint, daß
die Gesellschaft ein Subjekt mit einem Bewußtsein sei. Sätze dieser Art sind
vielmehr abkürzende Ausdrücke für Prozesse, in denen konkrete Menschen ein
soziales Feld schaffen, d.h. ein Feld, in dem ihre Erfahrungen von Ordnung von
anderen konkreten Menschen verstanden, als die ihren akzeptiert und zum
Motiv habituellen Handelns gemacht werden. Solche Felder nennen wir
Gesellschaften, wenn ihr Umfang und ihre relative Stabilität in der Zeit sie
identifizierbar machen.“ Voegelin, Eric: Anamnesis: Zur Theorie der
Geschichte und Politik. München: Piper 1966, S.342. Vgl. Gebhardt, Jürgen:
„Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung in der Krisenerfahrung“, in:
Klaus Vondung (Hrsg.): Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der
literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, S.52ff.
2
Der bis heute wahrscheinlich einflußreichste Aufsatz, in dem die
„soziologische Theorie“ vertreten wird, ist: Hanson, P.D.: „Apocalypticism“,
in: The Interpreter’s Dictionary of the Bible. Supplementary Volume. Nashville:
Abingdon, 1976, S.28-43.
3
Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian
Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt am Main: Fischer, 1960, S.71.
45 ABBILDUNGEN

Allerdings ist jede Gemeinschaft, die sich ausschließlich


apokalyptisch deutet, von einem inneren Widerspruch geprägt, weil
die prinzipielle Feindschaft gegen jegliche diesseitige Ordnung sich
letztlich gegen sie wenden muß. Eine apokalyptische Gemeinschaft
kann daher nur in der unmittelbaren Naherwartung des Weltendes
existieren, denn jede Form von Institutionalisierung muß als
Dekadenzerscheinung erfahren werden. Apokalyptik in Reinform
eignet sich daher nur als kurzfristiges Formprinzip einer endzeitlichen
Sekte oder Bewegung. Angesichts der Verzögerung des Weltendes
bleiben dann nur zwei Möglichkeiten, entweder Auflösung oder
Institutionalisierung. Wird die Institutionalisierung von den
Mitgliedern akzeptiert, wandelt sich die Sekte zur Kirche.
Warum jedoch der Apokalyptiker mit seiner Offenbarung nicht in
der Zurückgezogenheit das Ende der Welt abwarten kann, sondern
verkünden muß, läßt sich daraus erklären, daß ihm im Innersten
bewußt ist, daß er nur durch Verkündigung seiner Wahrheit zur
Wirklichkeit verhilft. Erst durch die sprachliche Artikulation kann
seine Erfahrung in die Symbolwelt integriert werden, in der er seine
Existenz deutet. Und erst in der Öffentlichkeit, in der Menschen seine
Offenbarung annehmen oder ablehnen, wird die Vision der jenseitigen
Wahrheit zu einer diesseitigen Realität. Geht die Offenbarung in die
Selbstdeutung einer konkreten Gemeinschaft ein, wird die
Verkündigung letztlich institutionelle Formen annehmen. Die
schöpferische Macht der Sprache, die sich in diesen Vorgängen
manifestiert, wurde schon mehrfach als magisch beschrieben. 1
Vereinfacht gesprochen handelt es sich hier genau um den Vorgang, mit dem
auch Martin Luther konfrontiert war, und der ihn zum Kirchengründer wider
Willen machte. Als endzeitlicher Prediger gegen den päpstlichen Antichrist sah
er sich in dem Moment, in dem sich ihm die Massen zuwandten, mit genuin
diesseitigen Ordnungsproblemen konfrontiert. Und seine Bemühungen, den
Notwendigkeiten genüge zu tun, nahmen in der durchaus sichtbaren
kursächsischen Landeskirche konkrete Gestalt an.
1
„Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches
wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm
Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört- und
Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres
Innenlebens – die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die
Lust der Sinne – ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden
verwandelt, gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so
umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden.
Solche verwandelnden Umformungen sind uns aus unserer täglichen Erfahrung
ganz geläufig, sie finden bereits bei dem einfachsten Erzählen einer Geschichte
statt, und wir begegnen ihnen ständig in den ‚unbeschreiblichen
Verwandlungen‘ (Rilke) individuellster Erfahrungen, die in den Gebilden der
Kunst vorliegen. Aber es bedarf nicht einmal der Kunst, um auf diese
Verwandlungsphänomene aufmerksam zu werden. Sobald wir anfangen, von
Dingen auch nur zu sprechen, deren Erfahrungsort im Privaten und Intimen
liegt, stellen wir sie heraus in einen Bereich, in dem sie ihre Wirklichkeit
46 ABBILDUNGEN

[[@Page:40]]
Paulus, dessen Botschaft ebensowenig auf Apokalyptik reduziert
wie von ihr getrennt werden kann,1 erkannte, daß er durch
Verkündung Realitäten schafft, das heißt, Gemeinschaft begründet.2
Aber wir reden in Christus, vor dem Angesicht Gottes. Und
alles, liebe Brüder, geschieht, um eure Gemeinde aufzubauen. 3
Nur weil er diesen Zusammenhang sah, reflektierte und schließlich als
gottgewollt erfuhr, konnte er zum wichtigsten Deuter der
urchristlichen Gemeinschaft werden und ihr ein Fundament verleihen,
das die Enttäuschungen der apokalyptischen Naherwartung
überdauerte.
Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe
ich wie ein guter Baumeister den Grund ( θεμέλιον) gelegt; ein
anderer baut darauf weiter.4
„Seid ihr nicht mein Werk im Herrn?“, fragt Paulus die Gemeinde von
Korinth, die als eine Sammlung von Pneumatikern natürlich schon
vorher bestand, aber erst jetzt eine Selbstdeutung erhält, die Ordnung
konstituiert. „Ihr seid ja im Herrn das Siegel meines Apostelamtes.“ 5
Die Einsicht, daß die Wahrheit sich durch Verkündigung realisiert,
nimmt ihm die Alternative, zu schweigen, „denn ein Zwang liegt auf
mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ 6 Aufbau
von Gemeinschaft (οἰκοδομή) begreift der Apostel als seinen
erhalten, die sie ungeachtet der Intensität, mit der sie uns betroffen haben
mögen, vorher nie erreicht haben. Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir
sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser
selbst.“ Arendt 1998, S.62f. „The evocative power of language, the primitive
magic relation between a name and the object it denotes, makes it possible to
transform an amorphous field of human forces into an ordered unit by an act of
evocation of such units. The evocative act can be considerably (facilitated)
when it is accompanied by the creation of the magic unit, so that the power of
the name is corroborated by the (visible) expression of a unit more tangible
than the shapeless mass of human life and action into which the existence of a
political unit dissolves itself empirically. […] The magic power of language is
so strong that the mention of a term is always accompanied by a presumption
that in using the term we are referring to an objective reality.“ Voegelin 1997,
Bd.1, S.228.
1
Vgl. Hahn 1998, S.99ff. Paulus war zweifellos schon als Pharisäer mit der
Apokalyptik vertraut. Bornkamm, Günther: Paulus. Stuttgart u.a.:
Kohlhammer, 71993, S.34.
2
Die Einheitsübersetzung hat wohl den Sinngehalt von Phil 1,20 besser erfaßt,
wenn dort steht, der Apostel wolle Christus „in aller Öffentlichkeit“ (ἐν πάσῃ
παρρησία) verherrlichen. Luther folgt wie so oft der Vulgata, die den Ausdruck
mit in omnia fiducia wiedergibt.
3
2 Kor 12,19.
4
1 Kor 3,10.
5
1 Kor 9,1-2.
6
1 Kor 9,16.
47 ABBILDUNGEN

eigentlichen Auftrag und als Inhalt seiner Vollmacht (ἐξουσία).1 Paulus


ist seinem Selbstverständnis nach ein politischer Künder, auch wenn
sich sein Konzept politischer Verfaßtheit vom himmlischen Politeuma
her bestimmt.2 Die Vergemeinschaftung unter dem Zeichen einer
neuartigen Existenzdeutung wird von ihm als eine positive Alternative
zur politischen Realität der Gegenwart erkannt. Dabei erfährt die
Kongruenz von Gerechtigkeitsbewußtsein und gesellschaftlicher
Ordnung, die die Apokalyptiker nur im Jenseits für möglich hielten,
eine partielle Verwirklichung im Diesseits. So wird die Verkündung
Teil des von Gott bewirkten Ver[[@Page:41]]wandlungsprozesses
und Teil des irdischen Heilsgeschehens.3 Die radikale Weltverachtung
der Apokalyptik ist überwunden.

2. Paulus und die Ekklesia

Existenz in Christo
An dieser Stelle wird es nötig, den Begriff der proleptischen
Gemeinschaft einzuführen. Damit soll eine besondere Form der
Selbstauslegung von Gemeinschaften terminologisch umfaßt werden,
für welche im Laufe der Geschichte zwar viele Symbole gefunden
wurden, ohne daß allerdings eines von ihnen das Phänomen in seiner
Grundsätzlichkeit zum Ausdruck gebracht hätte. Der Begriff
proleptische Gemeinschaft meint eine sich gegenüber der (Um-)Welt
abgrenzende Gemeinschaft, deren Selbstverständnis darin besteht, daß
sie die Heilsordnung, welche sie in ihrer Vollendung erst unter den
Bedingungen der Zukunft für möglich hält, in ihrer gegenwärtigen
Struktur ansatzweise schon verwirklicht sieht. Eine solche
Gemeinschaft sieht sich auf einer linearen Zeitachse mit der
vollendeten Gemeinschaft der Zukunft verbunden und steht gegenüber
der künftigen Ordnung, auf die sie sich hinzuentwickeln glaubt, im
1
2 Kor 10,8; 13,10.
2
Phil 3,20.
3
„Wenn das aber so ist, daß die Verkündigung des Heilsgeschehens nicht eine
vorgängige Belehrung ist, die der eigentlichen Glaubensforderung vorangeht,
sondern wenn sie als solche der Ruf zum Glauben, zur Preisgabe des bisherigen
Selbstverständnisses, der Ruf καταλλάγητε τῷ θεῷ ist, – wenn das so ist, so
heißt das, daß das Hei l sgeschehen ni rgends anders al s i m
verkündi genden, i m anredenden, fordernden und verhei ßend en
Wort präsent ist.“ Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testamentes. 8.,
durchges., um Vorw. u. Nachtr. erw. Aufl. Hrsg. von Otto Merk. Tübingen:
Mohr, 1980, S.301. Hervorh. i. Orig.
48 ABBILDUNGEN

Verhältnis der Prolepsis, der Vorwegnahme. Mit anderen Worten, die


Ordnungsmaximen der Gemeinschaft in der Gegenwart bestimmen
sich vom Bild der vollendeten Gemeinschaft in der Zukunft her. Die
proleptische Gemeinschaft bezieht ihre Attraktivität erstens aus einer
besonderen Prädisposition, am künftigen Heil teilzuhaben, zweitens
aus der Gelegenheit, an der Durchsetzung des Heils aktiv
mitzuwirken, und drittens aus dem Angebot, bereits hier und jetzt in
den Genuß eines Vorscheins dieses Heils zu kommen. Jedoch setzt
ihre Plausibilitätsstruktur das primäres Motiv jener eschatologische
Spannung voraus, die sich aus der Erfahrung eines bereits in der
Verwirklichung begriffenen Heils ergibt.
Neuere Beispiele für proleptische Gemeinschaften wären etwa –
ohne daß hier gleich wirkungsgeschichtliche Thesen formuliert
würden – kommunistische Bewegungen oder sozialistische Staaten.
Denn jene nehmen für sich in Anspruch, in ihrer inneren Ordnung
bestimmte Grundsätze zu verwirklichen, in denen sie Charakteristika
der künftigen kommunistischen Weltgesellschaft erkennen, einer
Gesellschaft die jenseits der von Klassengegensätzen und Staatlichkeit
geprägten „Vorgeschichte“ (K. Marx) liegt. Solche
Ordnungsmerkmale wären etwa die Aufhebung des Privateigentums
und der Klassenschranken oder die Gleichberechtigung von Mann und
Frau. Historisch gesehen ist die proleptische Gemeinschaft – vom
Sonderfall der Essener einmal abgesehen [[@Page:42]]– zunächst ein
spezifisch christliches Phänomen, welches seine erste theoretische
Grundlegung bereits in den ältesten überlieferten Texten des
Christentums erfährt, in den Briefen des Apostels Paulus.1
1
Als politischer Denker wurde Paulus in jüngerer Zeit wenig berücksichtigt,
obwohl seine zentrale Stellung im abendländischen Ordnungsdenken, bis hinein
in das organologische Gemeinschaftsverständnis moderner Nationalstaaten,
kaum bestritten werden kann. Die unter einem verheißungsvollen Titel posthum
veröffentlichten Vorträge Jacob Taubes’ erweisen sich als eher ärgerliche, im
flapsig-abgeklärten Ton gehaltene Gelehrtenplaudereien. Taubes, Jacob: Die
politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte
der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.-27. Februar 1987.
Nach Tonbandaufzeichn. red. Fassung von Aleida Assmann. Hrsg. von Aleida
Assmann und Jan Assmann in Verbindung mit Horst Folkers u.a. München:
Fink, 21995. Wo Taubes beansprucht, das spezifisch Politische an Paulus zu
erörtern, wiederholt er lediglich eine alte These Bruno Bauers, wonach der
Römerbrief „eine politische Theologie, eine politische Kampfansage an den
Cäsaren“ sei. Ebd., S.27. Hervorh. i. Orig. Die These wird auch dadurch nicht
plausibler, daß sie in den Kategorien Carl Schmitts aufbereitet wird. Ein
kürzerer, aber wesentlich hilfreicherer Beitrag, gleichfalls unter dem Titel „Die
politische Theologie des Paulus“, findet sich neuerdings in: Ottman, Henning:
Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis
auf unsere Zeit. Bd.2: Die Römer und das Mittelalter. Teilbd. 1: Die Römer.
Stuttgart und Weimar: Metzler, 2002, S.213-219. Andernorts wird der
„politische Paulus“ meist auf Röm 13 reduziert, d.h. auf das, was er zum
„Staat“ zu sagen hat. Sein Verständnis gemeinschaftlicher Ordnung kann auf
49 ABBILDUNGEN

Prolepsis ist ein Begriff, mit dem die Apokalyptikforschung


versucht, das Eigentümliche des frühchristlichen Denkens
herauszustellen, das es von der jüdischen Apokalyptik unterscheidet:
Die Notwendigkeit, daß Christen die Existenz im Diesseits neu deuten
müssen, ergibt sich aus der Identifizierung des Menschensohns mit der
Person Jesu von Nazaret. (Die schwierige Frage, wie weit dies dem
Selbstverständnis des „historischen Jesus“ entspricht, sei hier ganz
dahingestellt.)
Der Menschensohn der jüdischen Apokalyptik hat prinzipiell nicht
sehr viel mit dem Messias der überlieferten Heilsgeschichte gemein,
auch wenn es zum Teil – wie ja auch in den neutestamentlichen
Schriften – zu einer mehr oder minder starken Identifikation der
beiden Figuren kommt.1 Höchstwahrscheinlich hat der Menschensohn
sogar einen völlig anderen religionsgeschichtlichen Ursprung.2
Wichtig ist an dieser Stelle nur: Der Menschensohn tritt nicht aus der
Geschichte heraus, er stammt weder aus dem Haus Davids noch aus
dem Volk Israel, ja er hat überhaupt keinen diesseitigen Ursprung.
Das zeigt schon seine erste Erwähnung in einer Vision Daniels: Er ist
vielmehr der Anführer der himmlischen Mächte, der im Auftrag des
Herrn zur Erde niederfährt, aber nicht zuerst, um dort in den Ablauf
der Ereignisse einzugreifen, sondern vor allem um sie zu beenden und
alle Herrschergewalt der Welt in sich zu vereinen. Sein Kommen leitet
unmittelbar in das ewige Reich des neuen Aions über.3
Wenn aber nun der Menschensohn in der Gestalt des Jesus von
Nazaret die Welt [[@Page:43]]bereits betreten hat, ohne daß das Ende
der Welt unmittelbar gefolgt wäre, stellt sich die Frage, welche
Wirkung diese Präsenz auf den Zustand des gegenwärtigen Aions hat.
Die Evangelien erzählen, daß Jesus Wunder wirkte, predigte und eine
Gemeinschaft von Jüngern um sich versammelte, daß er also mit
seinem ganzen Tun in dieser kranken Welt Heil bewirkte. Damit ist
die scharfe Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen
Unheil hier und Heil dort, abgemildert. Den Pharisäern, die nach der
traditionell apokalyptischen Vorstellung alles Heil vom Anbruch des
jenseitigen Gottesreiches erwarten und deshalb von Jesus Genaueres
über den Zeitpunkt zu erfahren hoffen, wird geantwortet:
Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es an äußeren
diese Weise kaum erforscht werden. Sh. z.B. Parrott, Rodney L.: Paul’s polit-
ical thought: Rom 13:1-7 in the light of hellenistic political thought. Diss. Ann
Arbor: Univ., Microfilms Intern., 1985.
1
VanderKam, James C.: „Messianism and Apocalypticism“, in: Collins 1998,
S.193-228, S.193ff.
2
Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen. Bd.2: Von Gautama Buddha
bis zu den Anfängen des Christentums. Freiburg u.a.: Herder 1993, S.231.
3
Dan 7,13f. Die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches schildern den
Menschensohn als präexistent. [[Hen(äth) 48,3 >> Pseudepigrapha:1 En. 48.3]].
[[6 >> Pseudepigrapha:1 En. 48.6]].
50 ABBILDUNGEN

Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht,


hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist
(schon) mitten unter euch.1
In der Person Jesu Christi bricht bereits das Reich Gottes an, und je
mehr Menschen sich zu Jesus bekennen, desto stärker wirkt der
kommende Aion in diese Welt, die Zukunft in die Gegenwart hinein.
Nach dem Christushymnus des Philipperbriefs ist Jesus Christus der
Sohn Gottes, der sich selbst aus seiner Göttlichkeit in die knechtische
Seinsweise des Menschen hinein entäußerte (ἑαυτὸν ἐκένωσεν), um dem
Menschen den Weg zum Heil zu weisen. 2 Wenngleich die Vollendung
des Heils jenseitig bleibt und das aionenscheidende Gericht
voraussetzt, so wird doch in der Gemeinschaft mit Christus die
Prolepsis, die Vorwegnahme des Heils, möglich. Vielleicht ist dies der
mächtigste Gedanke des Christentums überhaupt. Ferdinand Hahn
schreibt:
Die Verbindung einer apokalyptisch verstandenen
Vollendungshoffnung mit einer Heilsverwirklichung in der
Gegenwart macht deutlich, daß die für die frühjüdische
Apokalyptik kennzeichnende Grundkonzeption einer alten und
sie ablösenden neuen Welt zerbrochen ist. […] An die Stelle
dieses einseitig zukunftsorientierten Heilsverständnisses tritt bei
Jesus die aktuelle Heilszusage und Heilserfahrung. Das in der
Gegenwart verwirklichte Heil wird von ihm als Prolepse , als
Vorwegnahme des endgültigen Gotteshandelns verstanden, wie
die Bedeutung seiner Tischgemeinschaften zeigt (vgl. Jes 25,6).
Das schließt die Zukunftserwartung keineswegs aus, sondern
versteht sie als Vollendung des bereits anbrechenden Heils. 3
Nun rückt die Welt und ihre Geschichte wieder in den Blick des
Betrachters. Geschichte, so wird schon im Römerbrief, dann aber vor
allem im Hebräerbrief, im lukanischen Doppelwerk und bei den
frühen Kirchenvätern wie Irenäus deutlich, ist nun wieder
Heilsgeschichte, Erzählung von der Verwirklichung des Heils in der
Welt, mit all ihren Hindernissen. In den Apokalypsen ist davon nicht
das geringste zu spüren. Es ist daher kein Wunder, wenn Paulus auf
die Worte der alten Propheten zurückgreift, um im Gegensatz zu den
Apokalyptikern zu betonen, daß Gott im Sinne eines Herstellens
(ποιεῖν) veränderter Existenzbedingungen sehr wohl in dieser Welt am
Werke ist. [[@Page:44]]„Denn der Herr wird handeln ( ποιεῖν), indem
er sein Wort auf der Erde (ἐπὶ τῆς γῆς) erfüllt und durchsetzt.“4 Die
Predigt des Evangeliums ist gleichsam die geschichtliche Fortsetzung
des Schöpfungsaktes.
1
Lk 17,21.
2
Phil 2,5-11.
3
Hahn 1998, S.94; Hervorh. d. Verf.
4
Röm 9,28; vgl. Jes 10,22f.
51 ABBILDUNGEN

Es ist von einiger Bedeutung für das Verständnis der Lehre


Joachims, daß dieses gottgeleitete Fortschreiten der Verkündigung
von Anfang an als ein organisches Wachstum begriffen wird. Schon
Jesus und Paulus hielten Bilder aus dem Bereich der Botanik für
geeignet, um diesen Vorgang zu erläutern. 1 Wachstum (προκοπή/Vg:
profectus) ist das zentrale Symbol, mit dem die Erfahrung des
geschichtlichen Fortschritts zum Ausdruck gebracht wird;2 mag sich
auch angesichts der Naherwartung der historische Raum, an den hier
gedacht ist, noch ganz bescheiden ausnehmen.

Ekklesia
Das Symbol, das Paulus für die proleptische Gemeinschaft verwendet,
ist die Kirche (ἐκκλησία). Ekklesia bedeutet für den Apostel3 nicht eine
Gemeinschaft, die von Jesus begründet wurde, sondern eine
gemeinschaftliche Existenz, die in der Wahrheit des auferstandenen
Christus begründet liegt.4 Dies entspricht insofern der klassischen
Bedeutung des Wortes (Volksversammlung), als Gott die Menschen
durch seine Boten (ἀπόστολοι) in die Ekklesia ruft. „Sie entsteht als die
von Gott aus der Welt herausgerufene Gemeinschaft.“5 Man muß nicht
auf jüdische Umdeutungen in der Septuaginta verweisen, um zu
erklären, warum sich der römische Bürger Paulus der politischen
Terminologie der klassischen Antike bedient,6 denn der hellenisch-
bürgerschaftliche Gehalt des Symbols Ekklesia ist bei ihm keineswegs
ganz verloren gegangen. Versammelt werden alle, die den
Bürgerstatus besitzen bzw. in Aussicht haben, nur daß sich die
Bürgerschaft (πολίτευμα) jenseitig konstituiert. Ekklesia und Politeuma
1
Mk 4 parr. (dazu Hahn 1998, S.94). Röm 11,16-24; 1 Kor 3,6-8.
2
Phil 1,12. Zur hellenisch-römischen Fortschrittsterminologie, der sich auch
Paulus und Hieronymus bedienen, vgl. Meier, Christian: „Fortschritt in der
Antike“, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.2.
Stuttgart: Klett, 1975, S.353-363.
3
Für die Zwecke dieser Untersuchung kann die religionsgeschichtliche
Herleitung einzelner Theologumena ebenso unterbleiben, wie das Forschen
nach irgendeinem dunklen „Urkerygma“. Zum einen ließe sich aus allen
denkbaren Einflüssen niemals der ganze Paulus erklären; zum anderen bleiben
die ältesten Quellen christlicher Gemeinschaftskonzeption nun einmal die
Briefe des Paulus. Nur hier wird diese Konzeption als sinnvolle Einheit
dargeboten und von hier aus entfaltete sie ihre Wirkung bis in die Gegenwart.
4
„Die Theologie des Paulus ist nicht eine Wiederholung der Predigt Jesu vom
Kommen der Gottesherrschaft. Jesus Christus selbst und das durch seinen Tod
am Kreuz, seine Auferweckung und Erhöhung zum Kyrios begründete und
eröffnete Heil sind Inhalt der paulinischen Verkündigung.“ Bornkamm 1993,
S.121.
5
Gnilka 1999, S.269.
6
So Bornkamm 1993, S.184f.
52 ABBILDUNGEN

sind aufeinander bezogen Symbole, wie sie es schon seit klassischer


Zeit gewesen waren. Wenn Augustinus in der jenseitigen Ordnung die
wahre res publica erkennt,1 dann hat er Paulus [[@Page:45]]nicht
„hellenisiert“, sondern adäquat wiedergegeben. Ergänzend zu Carl
Schmitt gilt es zu betonen: Viele zentrale Begriffe der christlichen
Theologie sind sakralisierte politische Begriffe, den von Platon
geprägten Begriff der „Theologie“ eingeschlossen.2
Die Ekklesia ist nach Paulus weder mit irgendeiner empirischen
Gemeinschaft identisch, noch ist sie unsichtbar; sie manifestiert sich
vielmehr in den einzelnen Gemeinden, die gleichfalls Ekklesia
genannt werden. Sie ist „die Kirche Gottes, die in Korinth ist“, wie
überall dort, wo der Name Jesu Christi angerufen wird. 3 Der einzelne
kann Glied der Ekklesia werden, wenn er sich für den Glauben an den
auferstandenen Christus entscheidet, der ihm in der Verkündigung
begegnet. Der Apostel selbst ist durch seine Vision ganz eins mit
Christus geworden; „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in
mir“.4 Er trägt die Stigmata Jesu sichtbar an seinem Leib, 5 Christus
spricht durch ihn.6 In seiner Verkündigung fordert er die Gemeinde
auf, diese Identifikation mit dem Gekreuzigten nachzuahmen, 7 das
heißt, die Erfahrungswelt seines Bewußtseins im kollektiven
Nachvollzug zum Konstituens der Gemeinschaft zu machen.8 Für die
Gläubigen wird dies möglich durch die mystischen Handlungen der
Taufe und des Abendmahls, welche sie zu Gliedern am Leib Christi
werden lassen.9 Am Leib Christi teilzuhaben heißt nichts weniger als
Kreuzigung, Passion und Auferstehung Christi gemeinschaftlich
nachzuvollziehen. Taufe ist ein Mitgekreuzigtwerden (συσταυρωθῆναι),
ein Sterben und Begrabenwerden mit Christus.10 Die Gemeinde in
dieser Welt ist eine Leidensgemeinschaft (κοινονία τῶν παθημάτων)11

1
[[De civ. Dei II,21 >> Augustine:De civ. Dei 2.21]] u.ö.
2
„Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte
theologische Begriffe.“ Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur
Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot, 71996, S.43.
Θεολογία begegnet zuerst in [[Politeia 379a >> Plato:Pl., Rep. 379a]], im Sinne
einer vernünftigen Gotteslehre, die sich für die Jugenderziehung in der Polis
eignet. Vgl. Kampling, Rainer: „Theologie“, in: NHThG V, S.129-182, S.129.
3
1 Kor 1,2. Vgl. Bornkamm 1993, S.184ff.
4
Gal 2,20; vgl. Phil 3,12.
5
Gal 6,17; vgl. 2 Kor 4,10.
6
Röm 10,17; 2 Kor 3,13.
7
1 Kor 11,1.
8
Vgl. die Worte, die Paulus nach der lukanischen Überlieferung zu König
Agrippa spricht: „Ich wünschte mir von Gott, daß früher oder später nicht nur
du, sondern alle, die mich heute hören, das werden, was ich bin […].“ Apg
26,29.
9
1 Kor 12,13; 10,16f.
10
Röm 6,2-8. Gnilka 1996, S.274ff.; Bultmann 1980, S.313.
11
Phil 3,10; vgl. 2 Kor 1,5-7; 4,10f.
53 ABBILDUNGEN

und wird dereinst gemeinsam in Christo auferstehen.1 Das geht soweit,


daß Paulus die Gemeinde als eine einzige kollektive Person
ansprechen kann. „Denn ihr seid alle einer in Christus Jesus (πάντες
γαρ ὑμεῖς εἷς ἐςτε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ).“2
Diese Stelle zeigt am deutlichsten, daß hier für den
Individualismus der Apokalyptiker nur wenig Raum ist. Zwar bleibt
ein persönliches und wechselseitiges Verhältnis zwischen Gott und
Mensch bestehen, das sich in der Rechtfertigung durch die Gnade
Gottes einerseits und der Annahme der Gnade durch den Glaubenden
andererseits [[@Page:46]]äußert; doch die Gnade weist keinen
individuellen Weg zum Heil, sondern bewirkt die Zugehörigkeit zur
Ekklesia. Ebenso ist die Praxis des Glaubens und der Liebe, die aus
dem Glauben folgt, nur in der Gemeinde möglich. Die Vorwegnahme
der künftigen Ordnung, die zuvor nur im Bewußtsein des
selbstgerechten Apokalyptikers geschehen konnte, prägt jetzt die
Struktur der Gemeinde. Es ist anzunehmen, daß gerade das Scheitern
des pharisäischen Vertrauens in die eigene Gerechtigkeit die
entscheidende Krise heraufbeschwor, die im paulinischen Bewußtsein
den Boden für die erlösende Offenbarung bereitete.3
Der Christus des Paulus wurde im Gegensatz zum Christus der
Johannesapokalypse nicht in den Himmel entrückt, um von dort am
Ende der Zeiten wieder zu kommen und zu beenden, was er begonnen
hat. Zwar schildert Paulus die Parusie wie die Apokalyptiker als
endzeitlichen Sieg über die Chaosmächte,4 doch bildet sie für ihn nur
den Abschluß eines eschatologischen Geschehens, das bereits mit
Kreuzigung und Auferstehung begonnen hat. Das Heilsgeschehen
setzt sich durch die Verkündigung, die Sakramente und den Aufbau
der Gemeinde fort und wird so zu einem geschichtlichen Prozeß, der
im Gegensatz zur immanenten Heilsgeschichte Israels über das
1
2 Kor 4,14; 1 Thess 4,14.
2
Gal 3,28. Gnilka 1996, S.276.
3
In der Sekundärliteratur ist es beinahe zum Dogma geworden, die Schilderung
dieser Krisenerfahrung in Röm 7 dürfe gar nicht auf persönliche Erlebnisse des
Paulus zurückgeführt werden, sondern sei als paradigmatische Abhandlung
über das innere Leiden des „Menschen ohne Christus“ zu verstehen. Bornkamm
1993, S.136ff.; Bultmann 1980, S.189; Gnilka 1996, S.219; etwas vorsichtiger
urteilt Otto Kuss. Sh. Kuss, Otto: Paulus. Die Rolle des Apostels in der
Theologischen Entwicklung der Urkirche. Regensburg: Pustet, 21976, S.344f.
Man wird umgekehrt sagen müssen, daß Paulus die persönliche Erfahrung als
paradigmatisch verkündigt, wie er es auch sonst zu tun gewohnt ist. Anders
sind seine tiefgreifenden Erkenntnisse schwer zu erklären; denn selbst der
Apostel hat nur Kenntnis von seinem eigenen Bewußtsein. Zudem hat Paulus
kaum zufällig die Form der Ich-Erzählung gewählt. Offenbar besteht auf
theologischer Seite die (unbegründete) Furcht, die Diagnose einer seelischen
Prädisposition könnte dazu führen, daß das Damaskuserlebnis an Bedeutung
einbüßt.
4
1 Kor 15,24-28.
54 ABBILDUNGEN

irdische Dasein hinausführt.1 Dem einzelnen Menschen wird durch die


Gliedschaft in der Ekklesia ermöglicht, an diesem Heil teilzuhaben. 2
So bewirkt die Präsenz Christi in den Gliedern seines Leibes eine
völlig neue Existenzweise, die sich von allen bisher dagewesenen
unterscheidet.3
Um die paulinische Konzeption der proleptischen Gemeinschaft
noch einmal in ihrem Wesenskern zusammenzufassen: In seiner
Vision des auferstandenen Gekreuzigten erfuhr Paulus den Heilsweg
der Menschheit. Er besteht darin, daß die Gläubigen durch die
Nachahmung des Apostels, also durch den Nachvollzug seiner
Identifikation [[@Page:47]]mit dem Gekreuzigten, zu Gliedern am
Leib Christi werden, so daß sie bei ihrer eigenen Auferstehung
Christus als dem Haupt des Leibes nachfolgen können. 4 Der Leib
Christi befindet sich in Gestalt der Ekklesia zwar gegenwärtig noch in
der Fremde des alten Aions, konstituiert aber bereits die
Gemeinschaft, der im Jenseits ihre vollkommene Herrlichkeit
verliehen wird. In der Kurzfassung des Philipperbriefes: Wer jetzt in
der Ekklesia den Apostel nachahmt, erhält dann seinen Platz in der
himmlischen Bürgerschaft (πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς).5
Es sei noch darauf verwiesen, daß trotz der begrifflichen Nähe
damit zugleich die Grunddifferenz berührt ist, die klassisches und
christliches politisches Denken trennt. Zwar erinnert Phil 3,20 stark an
Buch IX von Platons Politeia, wo es heißt, daß der Philosoph, der das
Muster (παράδειγμα) der Politeia im Himmel (ἐν οὐρανῷ) erblickt,
zuerst die Geschäfte jener intelligiblen Polis betreibt, und nicht die
irgendeiner irdischen.6 Aber selbstverständlich wäre Platon niemals
auf den Gedanken gekommen, in einem künftigen Leben leibhaftiger
Bürger jenes Paradigmas sein zu können. Das Politeuma des Paulus ist
Gegenstand der Offenbarung, jenseitig und für den verklärten Leib des
Auserwählten zugänglich; die Politeia des Platon dagegen bestimmt
sich von der Schau des transzendenten Agathon7 her und kann nur auf
dem Wege vernünftigen Redens (ἐν λόγοις) betreten werden.8
1
Kuss 1976, S.404ff.; Bultmann 1980, S.302f.; Bornkamm 1993, S.126f.
2
Bultmann 1980, S.307.
3
„Kaum einen Zweifel kann es geben, daß Paulus zuerst und vor allem von
dem gefesselt ist, was zwischen Gott und Mensch geschieht; im Mittelpunkt
seines theologischen Interesses steht das Handeln Gottes, das Handeln Jesu und
in der Folge dann das antwortende Handeln des Menschen. Es ist also Jesus
Christus, der durch seinen heilschaffenden Weg, durch Leben, Tod und
Auferwecktwerden Gottes Ratschluß mit den Menschen vollzogen hat – es ist
dieser wirkende Christus, welcher den Apostel beschäftigt und den Inhalt seiner
Verkündigung ausmacht.“ Kuss 1976, S.354. Hervorh. im Orig.
4
1 Thess 4,14.
5
Phil 3,17.20.
6
[[Politeia 592a-b >> Plato:Pl., Rep. 592a-b]].
7
[[Politeia 509b >> Plato:Pl., Rep. 509b]].
8
[[Politeia 592a >> Plato:Pl., Rep. 592a]].
55 ABBILDUNGEN

Einige Aspekte, welche die von Paulus verkündete Existenzweise


enthält, und die im Hinblick auf Joachim bedeutsam sind, seien in
gebotener Kürze dargestellt:

Gerechtigkeit
Wer den paulinischen Gerechtigkeitsbegriff erfassen will, muß alle
klassischen Vorstellungen von der Gerechtigkeit als Tugend und aktiv
ausgebildeter Qualität der Person hinter sich lassen.1 Denn
Gerechtigkeit ist immer Gerechtigkeit Gottes, die sich dem Menschen
durch Offenbarung und Gnade mitteilt.2 Paulus folgt der stoischen
theologia naturalis, wenn er sagt, daß Gott allen Menschen seine
Wirklichkeit und seine Rechtsordnung (δικαίωμα τοῦ θεοῦ) bereits in
der Schöpfung offenbart und sie damit zu Gegenständen des
menschlichen Verstandes (νοούμενα) macht.3 Darüber hinaus erhielten
die Juden das Gesetz (νομός), während den Heiden als Vermögen zur
moralischen Selbstbeurteilung das Gewissen (συνείδησις) gegeben ist.4
Indes ist weder mit dem einen noch dem anderen die Fähigkeit zur
Moralität verbunden; sondern Juden wie Heiden wird vor Augen
geführt, wie wenig sie aus eigener Kraft dazu in der Lage sind, der
göttlichen Rechtsordnung gerecht zu werden. Gott gab das Gesetz, um
die Sünde [[@Page:48]]und damit die Erlösungsbedürftigkeit noch zu
mehren.5
Sünde (ἁμαρτία) ist sowohl die Macht, die den gegenwärtigen
Aion beherrscht, als auch jede Tat des einzelnen Menschen, in der er
der Gegenwart größere Bedeutung zumißt als der Hoffnung auf die
künftige Herrlichkeit. In der Sünde leugnet der Mensch seine
Erlösungsbedürftigkeit und damit seine Kreatürlichkeit, das heißt,
seine existentielle Abhängigkeit von Gott.6 Die Erfahrung der
Fremdbestimmung durch die Sünde,7 die „ein anderes Gesetz in
meinen Gliedern“ aufrichtet, ruft ein verzweifeltes Verlangen nach
Rettung hervor.8 Eine solche wird möglich durch den Glauben ( πίστις),
der selbst nicht Leistung, sondern Gehorsam vor der Verkündigung
ist.9 Der Glaube gründet sich auf das bereits geschehene Heilshandeln
1
Ottmann 2002, S.215; Bultmann 1980, S.277.
2
Röm 1,17; Gal 3,11.
3
Röm 1,19f.32. Bultmann 1980, S.74f.
4
Röm 2,15. Bultmann 1980, S.217ff.
5
Röm 5,20; 7,7-9; Gal 3,19.
6
Bornkamm 1993, S.135; Bultmann 1980, S.232ff., 246ff.
7
Röm 7,17.
8
Röm 7,23f.
9
Röm 1,5; 10,16.33; 11,30-32; 15,18; 16,19; 2 Kor 9,13; 10,5f. Bultmann 1980,
S.315ff. Die Gleichsetzung von Glauben und Gehorsam (ὑπακοή) ist sicherlich
der problematischste Aspekt der paulinischen Lehre, denn kein selbständiger
Akt des Denkens soll die Unterwerfung unter die Verkündigung behindern.
56 ABBILDUNGEN

Gottes im Sühneopfer Christi und besteht im Vertrauen auf die


künftige Heilstat, wenn Gott die Glaubenden in die ewige Existenz
(ἀφθαρσία) des Jenseits versetzen wird.1 Ihm muß die Gnade (χάρις)
vorausgehen, die den Zwang zur Übertretung, der in der allgemeinen
Sündenknechtschaft der Menschen herrscht,2 aufhebt.
Die Gnade selbst kommt mit Christus in die Welt, der durch sein
Sühneopfer die alte Schuld auf sich nimmt3 und eine neue Menschheit
begründet, die der alten, von Adam abstammenden Menschheit
enthoben ist.4 Gnade bedeutet in einem tatsächlich juristischen Sinne
den Verzicht Gottes auf die Strafe des Todes, die jeden Menschen zu
Recht treffen würde, da alle gesündigt haben.5 So begegnet bereits im
eschatologischen ‚Jetzt‘ (νυνί) der Verkündigung das Gericht Gottes6
und stellt den Menschen vor die Wahl, entweder durch den
Gesinnungswandel (μετάνοια) ein neuer Mensch zu werden und dieses
Urteil anzuerkennen oder weiterhin auf seine eigene Gerechtigkeit zu
vertrauen.7 Der Glauben verwandelt den inneren Menschen, insofern
dieser sein bisheriges Selbstverständnis aufgibt und künftig bekennt,
daß es nur eine Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben (δικαιοσύνη
θεοῦ διὰ πίστεος) geben kann.8 Gerechtigkeit heißt Gerechtfertigt-sein.
Weil aber die Rechtfertigung des Menschen nur durch den
Glauben an den Opfertod des Gottessohnes und durch den
Nachvollzug seiner Kreuzigung in der Taufe geschehen kann, tritt der
Gläubige gegenüber Gott durch einen Akt der Versöhnung
[[@Page:49]](καταλλαγή) in das neue Rechtsverhältnis der Sohnschaft
(υἱοθεσία).9 In diesem Vater-Sohn-Verhältnis kommt zum Ausdruck,
daß die Gerechtigkeit, das heißt die von der göttlichen Ordnung
geforderte Anerkennung der Geschöpflichkeit, die der Mensch im
Stand der Sünde verweigerte, durch das erlösende Opfer Christi
wiederhergestellt worden ist.

Geist
Der Gläubige ist ein neuer Mensch und hat die Existenzbedingungen
des alten Menschen hinter sich gelassen. Vor Christus bestand die
menschliche Existenz im Leben nach dem Fleisch (κατὰ σάρκα), in der
„Wir nehmen alles Denken gefangen, so daß es Christus gehorcht; wir sind
entschlossen, alle Ungehorsamen zu strafen […].“ 2 Kor 10,5f.
1
Vgl. Bultmann 1980, S.323.
2
Röm 3,3.19.23; Gal 3,22.
3
Röm 3,25.
4
Röm 5,12-21.
5
Röm 3,24.
6
Röm 3,21.
7
Röm 2,1-5.
8
Röm 3,21f.; vgl. 1,16f. Vgl. Bultmann 1980, S.270ff.; Kuss 350ff.
9
Röm 5,10f.; Gal 4,5. Vgl. Bultmann 1980, S.286f., 307f.
57 ABBILDUNGEN

Sorge um die Gegenwart und die Bedürfnisse dieser Welt, in der die
Sünde mächtig ist.1 Im Glauben lebt der Mensch nach dem Geist ( κατὰ
πνεῦμα). Das Pneuma ist nichts, was dem Glauben vorangeht, sondern
das, was auf ihn folgt. Es ist eine göttliche Wunderkraft, die aus der
Zukunft des Jenseits in das Diesseits hereinbricht und dem Menschen
bei der Metanoia beisteht und unterstützt.2 Im Pneuma handelt Gott in
dieser Welt und begründet die Ausrichtung des gläubigen Menschen
auf die göttliche Herrlichkeit (δόξα) im Jenseits.3 An die Stelle der
knechtischen Gesetzestreue tritt die Freiheit und Erkenntnis des
Gläubigen; der „Schleier des Mose“ fällt.4 Erst in der vom Pneuma
bewirkten Metamorphose – so resümiert Paulus – wird der Mensch
zum Ebenbild Gottes, wie auch Christus ein Bild Gottes ( εἰκὼν τοῦ
θεοῦ) ist.5
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des
Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt
(μεταμορφούμεθα), von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den
Geist des Herrn.6
Insofern mit Christus eine neue Geschichte begonnen hat, die sich von
der geschichtlichen Realität des gegenwärtigen Aions abhebt und in
ihm Heil bewirkt, ist das Pneuma die Kraft, die diese Heilsgeschichte
bewegt. Es ist deshalb ein Heiliger Geist ( πνεῦμα ἅγιον). Menschen, die
in der Realität des Pneumas leben, sind Geistmenschen [[@Page:50]]
(πνευματικοί)7 und Heilige (ἅγιοι/ἡγιασμένοι),8 „die aus dieser Welt
herausgenommen und in die eschatologische Existenz versetzt sind“. 9
Die Neuschöpfung (καινὴ κτίσις) beginnt sich in ihnen schon zu

1
Bultmann 1980, S.233ff.
2
„Der Geist erweist sich […] als die Macht in der Gegenwart, indem diese
durch die Zukunft bestimmt ist.“ Bultmann 1980, S.349. „Mit dem Begriff
Pneuma […] sucht er [Paulus] zu erfassen, was durch Gottes Heilsgnade an der
Wurzel schon geschehen ist, was an sichtbaren und verborgenen Gaben jetzt
schon die eschatologische Vollendung andeutet und vorausnimmt.“ Kuss 1976,
S.367f. „Mit diesem Begriff Pneuma […] ist am nachhaltigsten das schwere
Problem bewältigt worden, das aus dem nebeneinander von Schon und Noch-
nicht gestellt war: das Heil ist schon da, und das Heil ist doch noch nicht da –
das heißt eben: das Heil ist so da, daß das Pneuma da ist.“ Ebd., S.368f.
3
„Und sofern der Glaubende mit seinem eigentlichen Sein schon jenseits der
Sphäre des Nur-Menschlichen steht und der Sphäre des πνεῦμα angehört, kann
für ihn das εἶναι ἐν (τῇ) σαρκί antezipierend in Abrede gestellt werden […].“
Bultmann 1980, S.236. Vgl. Röm 8,9.
4
2 Kor 3,12-15.
5
2 Kor 4,4.
6
2 Kor 3,18.
7
1 Kor 2,15.
8
Röm 1,7; 8,27; 12,13; 15,25-26.31; 16,2.15; 1 Kor 1,2; 6,2.11; 2 Kor 8,4; 9,1.
Vgl. Gnilka 1996, S.266f.
9
Bultmann 1980, S.339.
58 ABBILDUNGEN

verwirklichen.1 Diese wunderbare Verwandlung der Welt und der


Menschheit manifestiert sich in der Ekklesia, die eine Gemeinschaft
des Heiligen Geistes (κοινωνία τοῦ πνεύματος) ist.2 Sie beginnt mit der
wundersamen Verwandlung des Paulus, dem Gott seinen Sohn
offenbart,3 und dehnt sich aus auf die Ekklesia, die Gemeinschaft
derer, die die Metamorphose nachvollziehen. Das Ziel der
Heilsgeschichte ist die universale Ausbreitung der Ekklesia, die eine
neue, geistlich ausgerichtete Menschheit herstellt und in den ewigen
Aion überleitet.4 So hoffte der vom Pneuma angetriebene Apostel, die
Ekklesia noch selbst auf die gesamte Ökumene auszudehnen und sie
nach der Missionierung des Ostens bis nach Spanien zu tragen.5
In der Ekklesia bewirkt das Pneuma durch seine verschiedenen
Gaben (χαρίσματα) eine funktionale Differenzierung der Organe des
corpus mysticum;6 die Vergabe der Geistesgaben richtet sich dabei
nach dem individuellen Maß des Glaubens (μέτρον πίστεως), das Gott
den einzelnen Menschen zugeteilt hat.7 Doch bleibt über allen
Charismata immer die geistgewirkte Einheit des Leibes (σῶμα)
erhalten. Enthusiasmus, Ekstase und Glossolalie gehören zwar
gleichfalls zu den Gaben des Geistes, doch sollen sie immer dem
gemeinschaftlichen Aufbau der Gemeinde dienen. Völlig
überraschend wird mitgeteilt, daß hinsichtlich der Strukturierung der
Gemeinschaft der ordnenden Vernunft (νοῦς) der Vorrang gegenüber
dem dynamischen Pneuma eingeräumt werden müsse, (wobei es
Paulus freilich der Nachwelt überließ, die philosophischen
Konsequenzen zu ziehen).8 Alles solle der Ordnung gemäß (κατὰ τάξιν)
geschehen.9 „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein
Gott des Friedens.“10
Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle
Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen
Leib bilden: so ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist
wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib
aufgenommen, Juden, Griechen, Sklaven und Freie; und alle
wurden wir mit dem einen Geist getränkt. Auch der Leib
besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern.
[…] Gott hat aber den Leib so zusammengefügt, daß er
1
2 Kor 5,17; Gal 6,15.
2
2 Kor 13,13, Phil 2,1. Bultmann 1980, S.337.
3
Gal 1,13-16.
4
Vgl. Bornkamm 1993, S.156.
5
Röm 15,18-28. Bornkamm 1993, S.68ff.
6
Röm 12,4-8.
7
Röm 12,3.
8
1 Kor 14,19. Vgl. Voegelin 1974, S.245f. Auch die Schilderung mystischer
Erlebnisse (2 Kor 12,1-4) läßt sich nur schwer in eine Konzeption einordnen,
die sonst die pneumatische Erkenntnis in den Mittelpunkt stellt.
9
1 Kor 14,40.
10
1 Kor 14,33.
59 ABBILDUNGEN

[[@Page:51]]dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ,


damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder
einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet,
leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich
alle anderen mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder
einzelne ist ein Glied an ihm. So hat Gott in der Kirche die
einen als Apostel eingesetzt, die andern als Propheten, die
dritten als Lehrer; ferner verlieh er die Kraft, Wunder zu tun,
sodann die Gaben, Krankheiten zu heilen, zu helfen, zu leiten,
endlich die verschiedenen Arten von Zungenrede. 1
Die Glieder des Leibes begründen schon in der Ekklesia den Tempel
Gottes;2 denkt man konsequent weiter, dann ist Jerusalem nicht länger
eine geographische Größe, sondern befindet sich dort, wo die
Gemeinde ist. Damit steht die Gemeinde im proleptischen Verhältnis
zur Bürgerschaft des himmlischen Jerusalem.3 Und aufgrund des
proleptischen Charakters der Gemeinschaft müssen die Gläubigen
bedenken, daß sie sich immer noch im gegenwärtigen Aion befinden,
obgleich die Kraft des künftigen Aions schon in ihnen wirkt. Der
innere Mensch (ὁ ἔσο ἄνθρωπος) lebt zwar schon im Geist, der äußere
aber noch im Fleisch;4 um zur ewigen Herrlichkeit zu gelangen, muß
auch der äußere Mensch „in die Gestalt seines verherrlichten Leibes“
verwandelt werden.5 Dies geschieht aber erst bei der leiblichen
Auferstehung im Jenseits.
Der Geist wirkt deshalb nicht, wie er dereinst in der vollendeten
jenseitigen Heilsgemeinschaft wirken wird, sondern wird den
Beschränkungen der proleptischen Gemeinschaft gerecht. Nur als
Erstlingsgabe (ἀπαρχή), als Anzahlung (ἀρραβών) ist er gegeben.6 So
sind die herausragenden Tugenden, in denen er sich manifestiert,
erstens die Liebe (ἀγάπη), die über alle speziellen Charismata hinweg
die Gemeinschaft stiftet und sie bis über diesen Aion hinaus erhält;
und zweitens die Hoffnung (ἐλπίς), die proleptische Tugend
schlechthin, die den Menschen ganz auf die jenseitige Vollendung
ausrichtet und ihn seine Vergangenheit vergessen läßt:
So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu
gelangen. Nicht daß ich es schon erreicht hätte oder daß ich
schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen,
weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder,
ich bilde mir nicht ein, daß ich es schon ergriffen hätte. Eines
aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mit liegt, und strecke mich
nach dem aus, was vor mit ist. Das Ziel vor Augen, jage ich

1
1 Kor 12,12-14.24-28.
2
1 Kor 3,16.
3
Phil 3,20.
4
2 Kor 4,16; 5,6; vgl. Röm 7,22f.
5
Phil 3,21.
6
Röm 8,23; 2 Kor 1,22;5,5.
60 ABBILDUNGEN

nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns


in Christus Jesus schenkt.1
Besondere Charismata, die der Geist dem Pneumatiker mitteilt, sind
Weisheit (σοφία) und Wissen (γῶνσις),2 welche sich von der Weisheit
dieser Welt und von der Gnosis [[@Page:52]]des Sarkikers
fundamental unterscheiden.3 Der Inhalt solchen Wissens besteht unter
anderem in den Geheimnissen (μυστήρια) der Heilsgeschichte und der
endzeitlichen Verwandlung der Gläubigen.4 Doch selbst das Wissen
des Pneumatikers kann im Stand der Prolepsis nur Stückwerk sein.
Was man jetzt nur im Rätsel (ἐν αἰνίγματι) erblickt, wird dann offenbar
werden, wenn die Schau an die Stelle des Glaubens treten wird.5 Diese
Beschränkungen betont der Apostel besonders gegenüber den
libertinistischen Schwärmern von Korinth, die meinen, schon im
Vollbesitz des Pneumas und der Gnosis zu sein.6
Denn Stückwerk ist unser Erkennen ( γινώσκειν), Stückwerk
unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete ( τέλειον)
kommt, vergeht alles Stückwerk. […] Jetzt schauen wir in einen
Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen
wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich
unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen
[…].7
Die Gemeinschaft im Geist läßt die soziale Ordnung dieses Aions
unberührt,8 sie ist nicht revolutionär, sondern folgt ihren eigenen
Gesetzen. Im Bewußtsein der Vorwegnahme der jenseitigen
Heilsgemeinschaft, hinsichtlich der Zukunft also, sind in ihr alle
Unterschiede ethnischer und sozialer Art aufgehoben.9 Doch bleibt der
äußere Mensch, der in der Gegenwart lebt, Herr oder Sklave – auch
wenn das Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Schichten ein
neues sein soll.10
Gleichwohl gibt es in der Ekklesia eine Stufenordnung
pneumatischer Existenz: Sie reicht vom Unmündigen (νήπιος) über
den Bewährten (δόκιμος) und den Klugen (φρόνιμος) bis zum
Vollkommenen (τέλειος), der im Pneuma die Tiefen Gottes (τὰ βάθη
τοῦ θεοῦ) ergründet und damit schon weitgehend die Gnosis
vorwegnimmt, die im Jenseits allen uneingeschränkt zuteil werden

1
Phil 3,1-14.
2
1 Kor 12,8. Bultmann 1980, S.326ff.
3
1 Kor 1,26f.; 2,6.
4
Röm 12,25; 1 Kor 2,7; 15,51.
5
2 Kor 5,7.
6
1 Kor 4,8. Bornkamm 1993, S.88ff.
7
1 Kor 13,9-10.12.
8
1 Kor 7,17-24.
9
1 Kor 12,13; Gal 3,28.
10
Phlm 15-17; vgl. Ottmann 2002, S.218f.
61 ABBILDUNGEN

wird.1 Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, daß es immer auf
die Schwachen Rücksicht zu nehmen gilt.2 Keineswegs kann geduldet
werden, daß ein Glied der Ekklesia in die Existenzweise der Welt, d.h.
des gegenwärtigen Aions,3 zurückfällt, wieder nach dem Fleische
wandelt und so die proleptische Gemeinschaft kontaminiert. Darauf
muß, sollte Besserung ausbleiben, mit dem Ausschluß aus der
Ekklesia geantwortet werden.4 Es versteht sich von selbst, daß in der
proleptische Gemeinschaft, die nur ihren Mitgliedern Aussicht auf das
jenseitige Heil gewährt, die Exkommunikation eine wesentlich
schlimmere Strafe bedeutet als der Tod. [[@Page:53]]
Die erneuerte Erfahrung von der Geschichtlichkeit des Heils
macht die Ablehnung der politischen Ordnung außerhalb der Ekklesia
hinfällig. Denn die weltliche Macht erfüllt eine Aufgabe innerhalb des
Heilsgeschehens. Auch hinter ihr steht der allmächtige Gott und durch
sie vollzieht er seine Urteile.5 Nur gilt es, sich aus ihren Händeln
herauszuhalten, sich zwar ihren Anordnungen, nicht aber ihren
Ordnungsmaximen zu unterwerfen; denn die Ekklesia ist „eine neue
und grundsätzlich autarke Ordnung“.6 Mitglieder der proleptischen
Gemeinschaft erwarten ihr Recht vom kommenden Gericht, nicht von
der Jurisdiktion der Gegenwart.7
Die Abgrenzung gegenüber der „Welt“ geht noch weiter: Die Ehe
soll nach Möglichkeit nicht mehr vollzogen werden, und ist nur den
Schwachen gestattet, um Unzucht zu vermeiden und die Ordnung
aufrecht zu erhalten.8 Selbstverständlich stehen alle diese Normen im
Zusammenhang mit der Naherwartung, die bei Paulus immer präsent
ist.9 Der Leib Christi, dessen Glieder die Leiber der
Gemeindemitglieder sind,10 muß rein gehalten werden, damit er am
Tag des Herrn, der jederzeit kommen kann „wie ein Dieb in der
Nacht“,11 von der proleptischen in die endgültige und ewige Existenz
versetzt werden kann.
Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen
Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?12
Das Pneuma – so läßt sich zusammenfassend sagen – konstituiert die
Existenz zwischen Diesseits und Jenseits, die diesseitige
1
Röm 16,10; 1 Kor 2,6.10; 3,1; 4,10. Vgl. Bultmann 1980, S.329.
2
1 Kor 8,11f.
3
Bornkamm 1993, S.140.
4
1 Kor 5,1-5.
5
Röm 13,1-7.
6
Kuss 1976, S.126.
7
1 Kor 6,1-11.
8
1 Kor 7,1-11.25-40.
9
1 Kor 7,29. Kuss 1976, S.129f., 288ff.
10
1 Kor 6,15.
11
1 Thess 5,2.
12
1 Kor 6,19.
62 ABBILDUNGEN

Vorwegnahme des jenseitigen Heils.1 Als „Macht der Zukünftigkeit“2


gewährt es die Sicherheit, Erben Gottes und Miterben Christi zu sein,
also an der jenseitigen Herrlichkeit Gottes teilhaben zu dürfen.3 Wer
in der proleptischen Gemeinschaft des Geistes lebt, erfährt die
Spannung zwischen diesen beiden Polen, zwischen jenseitigem Heil
und diesseitiger Notwendigkeit:
Es zieht mich nach beiden Seiten ( συνέχομαι δὲ ἐκ τῶν δύο): Ich
sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein – um
wieviel besser wäre das! Aber euretwegen ist es notwendiger,
daß ich am Leben bleibe.4
An die Stelle der apokalyptischen Ethik der Selbstgerechtigkeit und
des Martyriums tritt die Verantwortung für die Gemeinschaft.
[[@Page:54]]

Geschichte
Paulus hat keinen Begriff von Geschichte im modernen Sinn.
Geschichte als autonomer oder gar selbstevidenter Prozeß irdischen
Geschehens ist ihm völlig fremd. Er kennt den Kosmos als den
geschaffenen Raum, in dem der Schöpfer Prozesse in Gang bringt. 5
Insofern gibt es für ihn nicht nur eine einzige Geschichte, sondern eine
Geschichte vor der Existenz in Christo und eine Geschichte, die mit
der Kreuzigung beginnt, die Geschichte der Ekklesia. Pneumatische
Existenz begründet also eine neue Geschichte, eine Heilsgeschichte
zwischen der ersten Ankunft Christi und seiner Auferstehung
einerseits sowie seiner zweiten Ankunft und der Auferstehung aller
Gerechten andererseits. Heilsgeschichte im Sinne von Paulus ist der
Prozeß der bereits begonnenen Verwandlung der Welt, die aus diesem
Aion hinausführt und ihre Vollendung im Jenseits finden wird. Die
Mächte dieser Welt interessieren nur, weil sie die Glieder der Ekklesia
auf ihre Standhaftigkeit hin überprüfen.6 Eine eigene Geschichte, die
sinnvoll genannt werden könnte, haben sie nicht.
Das heißt aber nicht, daß die mit Christus begonnene Geschichte
ganz voraussetzungslos ist, denn sie ereignet sich in demselben
geschaffenen Kosmos, in dem Gott von Anfang an am Werk ist. Es ist
der gleiche Gott, der einst die Welt schuf, und der jetzt seinen Sohn
gab, um sie zu erlösen. Das Christusgeschehen ordnet sich ein in den
Gesamtplan, den Gott für seine Schöpfung gefaßt hat. So stellt sich
1
Vgl. Kuss 1976, S.302ff.
2
Bultmann 1980, S.370.
3
Röm 8,14-17.
4
Phil 1,23f.
5
Bultmann 1980, S.255ff.
6
Röm 13,3f.
63 ABBILDUNGEN

dann die Frage, in welcher Beziehung die neue Heilsgemeinschaft der


Ekklesia zur alten Heilsgemeinschaft Israel steht, und in welcher
Weise das alte Zeugnis göttlicher Offenbarung, die Verlesung des
Alten Bundes (ἀνάγνωσις τῆς διαθήκης), mit der neuen Offenbarung in
Einklang zu bringen ist. Daher wird der Apostel gerade in der Israel-
Frage zum innovativen Exegeten.
Paulus ist sich dessen bewußt, daß sowohl Jesus Christus wie auch
er selbst „nach dem Fleisch“ aus Israel stammen, und daß diesem
Volk besondere Offenbarungen (das Gesetz, der Gottesdienst, die
Verheißungen) zuteil geworden sind.1 So galt das Angebot Christi
denn auch zuerst dem auserwählten Volk.2 Doch Israel hat seine
Prärogative verspielt, als es sich dem Evangelium verweigerte.3 Die
negativen Erfahrungen bei der Judenmission sowie das wachsende
Heidenchristentum mögen die Gründe gewesen sein, die zu des
Apostels eigentümlicher Konzeption von Heilsgeschichte geführt
haben.
Für Paulus, der sich immer als Jude verstand und von der
nationalen Heilsgemeinschaft nicht freiwillig Abstand nehmen
wollte,4 muß es niederschmetternd gewesen sein, daß sein Volk seine
Erlösungsbotschaft nicht hören wollte. Weil er sich aber seiner
Verkündigung so sicher war, ging er zu den Heiden, nicht zuerst weil
ihm an deren Heil besonders gelegen hätte, sondern vor allem um sein
eigenes Volk eifersüchtig zu [[@Page:55]]machen. War die
Offenbarung erst einmal verkündigt, und hatte sie bei den Heiden das
Heil bewirkt, das eigentlich Israel zustand, so würden die Juden schon
erkennen, daß sie sich der Wahrheit verweigern.
Euch, den Heiden, sage ich: Gerade als Apostel der Heiden
preise ich meinen Dienst, weil ich hoffe, die Angehörigen
meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigstens einige
von ihnen zu retten.5
Man kann gut beobachten, daß Paulus so sehr an der traditionellen
Kollektivvorstellung des Gottesvolkes festhält, daß er kaum damit
fertig wird, wenn sich einige Juden dennoch Christus zuwenden.
Möglicherweise geht die Gnadenlehre nicht weniger auf diese
Erfahrung zurück als auf das persönliche Erwählungserlebnis. Denn
die göttliche Gnadenwahl wird im gleichen Kontext (Röm 9-11)
erörtert; und die Lösung des Problems lautet:
Was Israel erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der
erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden verstockt. 6
1
Röm 9,3-5.
2
Röm 1,16.
3
Röm 1,16; 11,18-20.25; 2 Kor 3,14; 1 Thess 2,15f.
4
Röm 11,1f.
5
Röm 11,13f.
6
Röm 11,7; vgl. 11,25.
64 ABBILDUNGEN

Hier kommen nun die Heiden ins Spiel, denn erst das Versagen Israels
eröffnet ihnen den Weg zum Heil.1 Sie sind zunächst nicht mehr als
ein Ersatz für die abtrünnigen Juden, ein Zweig der gegen die Natur
(παρὰ φύσιν) anstelle der herausgebrochenen Zweige in den Stamm der
göttlichen Erwählung eingepfropft wird.2 Überheblichkeit gegenüber
den Juden ist daher völlig fehl am Platz.3 Das Bild des Ölbaumes dient
Paulus als Metapher für die Ekklesia.4 Er wächst aus einer heiligen
Wurzel, doch nicht alle Zweige gelangen zur Blüte. Sie sterben ab,
werden entfernt und ersetzt. Indes kann das Wachstum des Baumes
niemals aufgehalten werden, und es besteht kein Zweifel, daß letztlich
auch die abgestorbenen natürlichen Zweige des Ölbaums, das heißt
die Juden, die sich bisher dem Evangelium verweigern, dem Stamm
wieder eingepfropft werden.5 Denn:
Vom Evangelium her sind sie Feinde Gottes, und das um
euretwillen; von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott
geliebt, und das um der Väter willen.6
Nun sieht es so aus, als sei die Verstockung Israels allein deshalb
geschehen, damit den Heiden der Zugang zum Heil ermöglicht werde;
dies ändert aber nichts daran, daß die Verheißung an die Väter erfüllt
werden muß. Israel wird vergeben, daher wird die Ekklesia am Ende
Juden und Heiden in einer universalen Gemeinschaft vereinen; dann
kann Christus wiederkehren und die Gemeinschaft im Gericht einer
letzten Reinigung unterziehen, bevor sie in den neuen Aion überführt
wird. [[@Page:56]]
Damit ihr euch nicht auf eigene Einsicht verlaßt, Brüder, sollt
ihr dieses Geheimnis wissen: Verstockung liegt auf einem Teil
Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben;
dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift
heißt: Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle
Gottlosigkeit von Jakob entfernen. Das ist der Bund, den ich
ihnen gewähre, wenn ich ihre Sünden wegnehme.7
In gewisser Weise setzt die Ekklesia also die Existenz des alten
Gottesvolkes Israel fort, und in Gestalt des judenchristlichen Restes
gibt es – wie von Jesaja prophezeit8 – sogar eine Minderheit, die die
genealogische Kontinuität sichert. Doch diese Minderheit kann nicht
überdecken, daß ein ganz neues Verständnis des Gottesvolkes, ein
neuer Begriff von Israel nötig ist. Es kann nicht mehr die
1
Röm 11,11.
2
Röm 11,24.
3
Röm 11,18-23.
4
Röm 11,16-24
5
Röm 11,24.
6
Röm 11,28.
7
Röm 11,25-27; vgl. Jes 59,20f.; Jer 31,33f.
8
Röm 9,27; vgl. Jes 10,22f.
65 ABBILDUNGEN

Abstammungsgemeinschaft sein, die Erfahrungen des Apostels führen


zu einer Konzeption des Gottesvolkes als Erwählungsgemeinschaft. 1
Wer ihr angehört, wurde nach Gottes unergründlichem Plan
vorherbestimmt2 und nicht körperlich, sondern pneumatisch gezeugt.3
Der wahre Jude, so meint Paulus jetzt, zeichnet sich schon immer
dadurch aus, daß er nicht am Fleisch, sondern am Herzen beschnitten
ist.4 Schon die alten Zeugnisse beweisen dem Apostel, daß Israel seit
jeher Erwählungsgemeinschaft war, denn Esau wurde verstoßen,
Jakob aber erwählt.5 Kriterium der Gnadenwahl ist von Anfang an der
von Gott vorhergesehene Glaube.6
Der Sinaibund ist für Paulus nicht länger das entscheidende
Ereignis der Heilsgeschichte, er kann durch einen neuen Bund ersetzt
werden, der das Evangelium an die Stelle des Gesetzes rückt und die
Heiden in das Gottesvolk einschließt.7 Das zentrale Ereignis ist
vielmehr die Verheißung an Abraham als Stammvater aller Gläubigen,
die schon immer alle Völker der Erde einschloß.8 Damit sind die
geschichtstheologischen Voraussetzungen gegeben für die Fassung
der Ekklesia als pneumatischer Gemeinschaft, wie sie oben
beschrieben wurde. Auf dem Wege eines neuen
Gemeinschaftsver[[@Page:57]]ständnisses gelingt Paulus die
Vermittlung zwischen der Neuheit seines Evangeliums und der
Gültigkeit des Kanons. Er kann nun sagen: Seit der Genesis verweisen
die alten Schriften auf den Neuen Bund, wenn man sie nicht wörtlich
nimmt, sondern geistlich versteht. „Denn der Buchstabe tötet, der
Geist aber macht lebendig.“9 Oder mit anderen Worten: Im neuen
Gottesvolk der Ekklesia erfüllen sich die Verheißungen, die dem alten
Gottesvolk Israel gegeben wurden.
1
„Nicht die Kinder des Fleisches sind die Kinder Gottes, sondern die Kinder
der Verheißung werden als Nachkommen anerkannt.“ Röm 9,8.
2
Röm 8,28-30.
3
Gal 4,23.29.
4
Röm 2,25-29.
5
Röm 9,10-13.
6
Röm 3,22-31.
7
Röm 3,6; 1 Kor 11,25; Gal 4,24.
8
Röm 4; Gal 3,1-18; vgl. Gen 17,5; 18,18; 22,17f. „[…] so ist ‚Kirche‘,
verstanden als Gottesvolk, die schon in der Erwählung Abrahams gegründete
Gemeinschaft der (an Christus) Glaubenden. Das Kontinuum bildet die Kette
der Verheißungsträger auf ein universales Gottesvolk hin. Das empirische
Israel besaß seine besondere Aufgabe darin, Garant dieser Verheißung und
damit Zeichen der Hoffnung für die Welt zu sein.“ Gnilka 1996, S.284. „So
gewiß Israel ausgezeichnet ist durch Gottes Verheißungen, so fassen sich diese
doch zusammen in der Zusage an Abraham, der allein um seines Glaubens
willen gerechtfertigt und zum Vater aller Völker gemacht ist (Röm 4; Gal 3).
Das hebt nicht auf, sondern bestätigt nur, daß das Heil in einer bestimmten
Geschichte verwirklicht ist und darum auch zu einem geschichtlichen Ziel
führen soll.“ Bornkamm 1993, S.75. Hervorh. i. Orig.
9
2 Kor 3,6.
66 ABBILDUNGEN

So unternahm schon der Apostel die Grundlegung der


hermeneutischen Kategorien, die es dem Christentum ermöglichten
mit zwei Testamenten zu leben.1 Die Geschichte ist demgemäß
Heilsgeschichte, die sich durch das Verhältnis zwischen Gott und
seinem auserwählten Volk bestimmt, aber: Das Gottesvolk wandelt
sich von einer nationalen und patriarchalen Gemeinschaft unter dem
Vater zu einer pneumatischen und universalen Gemeinschaft in
Christo.

3. Mönchtum
Vorbemerkungen
Das Mönchtum ist der dritte große Traditionsstrom, aus der sich
Joachims Gemeinschaftskonzeption speist. Wie die meisten
bedeutenden Denker des christlichen Mittelalters war Joachim ein
Mönch. Doch selten hat jemand so intensiv danach geforscht, was es
überhaupt heißt ein Mönch zu sein, und welche Bedeutung dem
Mönchtum als christlicher Lebensform zukommt. Wie weit diese
Vergegenwärtigung ging, läßt sich allein daraus erahnen, daß sich
Joachim mit allen zeitgenössischen Formen des Mönchtums
unzufrieden zeigte und als Ordensgründer das monastische Ideal neu
formulierte.
Auch für das Mönchtum gilt: Man kann die Ordnungserfahrungen,
die einer Existenzweise zugrunde liegen, am besten dort erforschen,
wo sie noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Am
Ursprungsort bedarf es am meisten der klärenden Worte, die den
Zeitgenossen den Sinn des neuen Lebens vermitteln. Auch Joachim
von Fiore war der Meinung, daß man den tieferen Sinn des
mönchischen Lebens nicht zuletzt in seinen initiationes suchen müsse.
Der Jesuit Heinrich Bacht schreibt:
Was sich in den ersten zwei Jahrhunderten des beginnenden
Mönchtums in Ägypten, Palästina und Kleinasien ereignet und in
den vielen Überlieferungszeugen niedergeschlagen hat, hat nicht
nur chronologischen Vorrang. Je länger man sich mit diesen
Zeugnissen beschäftigt, um so nachhaltiger wird der Eindruck, daß
darin eigentlich alles Entscheidende der nachfolgenden
Mönchsgeschichte zu finden ist. Selbst die Sprache, in der die
geistlichen Erfahrungen auszudrücken sind, ist damals schon für
alle Zeiten geprägt worden, nur mit dem Unterschied, daß in der
„Gründerzeit“ die Worte und Formeln noch mit vollem Leben
gefüllt sind, während sie im Abstand der Jahrhunderte immer mehr
zu Klischees verblassen und zu allzu gängiger Münze abgewertet
1
Vgl. Gal 4,24ff.
67 ABBILDUNGEN

werden.1 [[@Page:58]]
Im folgenden werden die beiden Lebensformen untersucht, die sich
schon in den Anfängen der monastischen Bewegung herausbildeten
und für die gesamte Geschichte des Christentums paradigmatisch
blieben, die Klostergemeinschaft und das Eremitentum. Es geht dabei
in erster Linie um eine Analyse der Symbole, die in der Selbstdeutung
beider Formen des Mönchtums jeweils die zentrale Stelle einnehmen,
Anachoresis und Koinonia.
Die erste Gestalt des christlichen Mönchtums, die historisch
faßbar wird, ist der Ägypter Antonius (ca. 251-356), genannt „der
Große“. Zwar scheint es schon vor ihm religiös motivierte Eremiten
gegeben zu haben, doch ist über sie nur wenig bekannt. Es hat sicher
seinen Grund, warum Antonius und keiner seiner Vorgänger in vielen
zeitnahen Quellen als die große Vaterfigur des Mönchtums hervortritt;
und dieser scheint darin zu liegen, daß er durch sein Charisma wie
durch seine Kompromißlosigkeit die Zeitgenossen mehr als andere
beeindruckte, vor allem aber, daß er intellektuell in der Lage war, das
Selbstverständnis der monastischen Bewegung zu formulieren.
Seit Athanasius bis in die jüngste Gegenwart wurde Antonius
meist als ein ungebildeter und von weltlicher Weisheit
„unverdorbener“ Mann des Glaubens dargestellt. Entsprechend
gewisser historiographischer Moden wollte man seinen Gang in die
Wüste gar auf die „Mentalität“ der koptischen Landbevölkerung
zurückführen.2 Doch dieses Bild hat sich als unhaltbar erwiesen. Die
einzigen überlieferten Zeugnisse aus Antonius’ eigener Hand, sieben
Briefe, deren Authentizität kaum mehr bestritten wird,3 weisen ihn als
einen Mann aus, der sich in der Weite des alexandrinischen
Bildungshorizonts sehr wohl zurechtfand.4 Apokalyptik spielt hier wie
1
Bacht, Heinrich: Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum frühen
Mönchtum I. Würzburg: Echter, 1972, S.7f.
2
Baumeister, Th.: „Die Mentalität des frühen ägyptischen Mönchtums“, in:
ZKG 88 (1977), S.145-160.
3
Vgl. Frank, Karl Suso: „Antonius von Ägypten und seine Briefe“, in: Margot
Schmidt und Fernando Domínguez Reboiras (Hrsg.): Von der Suche nach Gott.
Helmut Riedlinger zum 75. Geburtstag. Suttgart-Bad Cannstatt: Frommann-
Holzboog, 1998, S.65-82, S.67ff.
4
Frank 1998, S. 81f.; Rubenson, Samuel: The Letters of St. Antony. Origenist
Theology, Monastic Tradition and the Making of a Saint. Lund: University
Press, 1990. Wie Samuel Rubenson, dessen Forschung das neue Interesse an
den Briefen zu verdanken ist, zeigt (S.35ff.), war das Hauptargument gegen die
Authentizität, daß sie nicht in das Bild des einfachen koptischen Bauernsohns
passen. Sollten sie entgegen aller Indizien dennoch nicht aus Antonius’ eigener
Hand stammen, so wären sie doch eines der frühesten Zeugnisse koptischen
Mönchtums. Eine ausgewogene Darstellung, die im Anschluß an die
Erkenntnisse Rubensons die Briefe berücksichtigt, findet sich jetzt auch in:
Dunn, Marilyn: The Emergence of Monasticism. From the Desert Fathers to
the Early Middle Ages. Oxford: Blackwell, 2000, S.2ff
68 ABBILDUNGEN

in den meisten herausragenden Texten der frühen Mönchsliteratur so


gut wie keine Rolle. Insbesondere die Lehren des Origenes, der alle
anderen christlichen Denker seiner Zeit weit überragte, scheinen
Antonius tief bewegt zu haben. Wie alle großen religiösen und
sozialen Bewegungen beginnt also auch das Mönchtum nicht in den
ungebildeten Unterschichten.1 [[@Page:59]]
Dank der [[Vita Antonii >> Athanasius:Vit. Ant.]] des Athanasius,
die zum Prototyp aller Heiligenviten avancierte, war der Wüstenvater
im Westen der Ökumene bald gleichermaßen berühmt. Nicht selten
wird die lateinische Übersetzung des Rufinus als Initialzündung des
abendländischen Mönchtums erachtet. Welchen Eindruck die Vita
Antonii auf Menschen machen konnte, kann man am besten aus den
[[Confessiones >> Augustine:Conf.]] des Augustinus erfahren: Der
Afrikaner, der später selbst zu einer der wichtigsten Gründerfiguren
des westlichen Mönchtums werden sollte, dachte im Augenblick
seines Bekehrungserlebnisses an das Beispiel des Antonius und
bekehrte sich nicht nur zum Christentum, sondern auch gleich zur
Enthaltsamkeit.2 Selbstverständlich kannte Joachim von Fiore die
Erzählungen über Antonius,3 den er zur erlesenen Schar der
vollendeten Väter (patres perfecti) zählt. Schließlich beginnt er selbst
sein monastisches Leben als Eremit, das heißt als Nachfolger des
Antonius.
Es ist nicht der philosophische Antonius, der aus den Briefen
spricht, sondern der Antonius des Athanasius, der im Abendland
wirksam wurde und große Verehrung erfuhr. Dennoch widersprechen
1
Daß Origenes auf die monastischen Führer nach Antonius wie Evagrius
Ponticus oder Cassian wirkte, wurde niemals ernsthaft bestritten. Aber auch
hinsichtlich der allerersten Anfänge muß die um das Kontinuum der
Orthodoxie immer bemühte katholische Kirchengeschichtsschreibung
eingestehen, daß Origenes „insoweit als Wegbereiter des Mönchtums gelten
darf, als er durch seine Vollkommenheitslehre ein diesem günstiges Klima
schaffen half“. HbKg II, S.352. Für eine detaillierte Studie, die in Origenes den
„Vorläufer“ des Mönchtums erblickt, sh. Völker, Walther: Das
Vollkommenheitsideal des Origenes. Eine Untersuchung zur Geschichte der
Frömmigkeit christlicher Mystik. Tübingen: Mohr, 1931, v.a. S.60ff.
2
[[Conf. VIII,12,29 >> Augustine:Conf. 8.12.29]]. Augustinus erzählt
weiterhin von kaiserlichen Hofbeamten, die während der Lektüre (inter
legendum) der Vita Antonii beschlossen, auf ihre Karriere sowie ihre Bräute zu
verzichten und der Welt zu entsagen. [[Conf. VIII,6,15 >> Augustine:Conf.
8.6.15]].
3
Das wird vor allem deutlich in Exp. I, fol.68vb-69ra; vgl. Psalt. II, fol.247va;
Tract. I,9, Santi 198,11-12. Joachim nennt Antonius neben Paulus von Theben,
über den Hieronymus in seiner Vita Pauli behauptete, er sei der wahre
Begründer des Mönchtums gewesen. Der eitle und charakterschwache
Kirchenvater wollte damit wohl Athanasius den Ruhm streitig machen,
Biograph des ersten Mönches zu sein. Sein dürftiges Werk hat aber kaum
historischen Gehalt und bleibt in jeder Hinsicht weit hinter der Vita Antonii
zurück.
69 ABBILDUNGEN

sich die beiden Quellen wesentlich weniger, als es auf den ersten
Blick scheint.1 Während die Briefe das philosophisch-theologische
Fundament der Wüstenaskese durchscheinen lassen, formuliert die
Vita das Paradigma der monastischen Lebensführung.2 Es lohnt sich,
beide Zeugnisse nebeneinanderzustellen, um den Motiven und den
Grundgedanken des „ersten Mönches“ näherzukommen.
Zuerst aber ist es vonnöten, einen Passus über die alexandrinische
Theologie einzuschalten. Es gilt, das intellektuelle Milieu
auszuleuchten, in dem sich die geistigen Bedingungen dafür bildeten,
daß sich Menschen überhaupt zum Mönchtum berufen fühlen
konnten. Selbstverständlich kann die monastische Bewegung nicht
allein aus ihren geistigen Grundlagen erklärt werden, doch alle
anderen Motive sind in hohem Maße historisch kontingent und weder
hinreichende noch notwendige Bedingungen einer Lebensform, die
trotz aller Krisen und Wandlungen bis auf den Tag besteht.
[[@Page:60]]
Immer wieder führt die Kirchengeschichte vor Augen, daß alle
grundsätzlichen Probleme des christlichen Glaubens bereits in der
alten Kirche an die Oberfläche kamen und diskutiert wurden. Die
Konfrontation zwischen dem Evangelium und den griechischen,
römischen und syrischen Traditionen sowie die Spannungen zwischen
jüdischem und hellenischem Gedankengut, die zum Teil schon den
neutestamentlichen Text selbst bestimmen, hatten eine Bandbreite von
Klärungsversuchen zur Folge, deren Symbolreichtum schier
unerschöpflich ist. Man halte sich nur vor Augen, wie die
reformatorische Theologie die Väterliteratur neu entdeckte und aus
ihr, besonders aus Augustinus, einen Gutteil ihres
Selbstverständnisses gewann. So gab es auch im 12. Jahrhundert kaum
theoretische Auseinandersetzungen, welche nicht an Debatten erinnert
hätten, die bereits im 3., 4. oder 5. Jahrhundert stattfanden. Abhängig
vom jeweiligen Disput beschimpfte man sich als Arianer, Sabellianer,
Tritheisten etc. Bei der Frage etwa, ob die Gültigkeit des Sakraments
von der Reinheit des Spenders abhänge, wurden ganz bewußt die
Argumente des Donatismusstreits wiederaufbereitet. Und wer hätte
sich im Investiturstreit überhaupt zu Wort melden können, ohne die

1
Vgl. Frank 1998, S.69f.
2
In den Gesprächen mit heidnischen Philosophen, über die Athanasius
berichtet, zeigt sich Antonius sehr wohl als Kenner der (neu-)platonischen
Lehren. [[Vita Ant. LXXII-LXXX >> Athanasius:Vit. Ant. 72-80]]. Daß
Antonius kein Griechisch sprach, ist unwahrscheinlich. Rubenson 1990, S.41f.,
S.98f.; Dunn 2000, S.6. Wenn Athanasius mehrfach und vehement darauf
besteht, daß Antonius einen Dolmetscher brauchte, um mit Philosophen zu
sprechen, so will er damit doch eher sagen, daß der Mann, der in der Weisheit
Gottes so weit fortgeschritten war, die irdische Weisheit nicht mehr verstand.
[[Vita Ant. LXXII >> Athanasius:Vit. Ant. 72]], [[LXXIV >> Athanasius:Vit.
Ant. 74]], [[LXXVII >> Athanasius:Vit. Ant. 77]].
70 ABBILDUNGEN

Differenzierungen der gelasianischen Doktrin vorauszusetzen?1


Dieser Sachverhalt gilt insbesondere für das Abendland, denn erst
im Hochmittelalter konnte allmählich wieder an das intellektuelle
Niveau angeknüpft werden, auf dem die theologische und
philosophische Diskussion der Jahrhunderte zwischen Origenes und
Augustinus geführt wurde. Eine eigenständige Denkleistung, die
explizit und demonstrativ von den Autoritäten der Väter abwich, galt
noch zu Joachims Zeiten als etwas Gefährliches, obgleich die
novitates mit wachsendem Selbstbewußtsein vertreten wurden. Bei
Rupert von Deutz genügte es, daß er etwas unbekanntere Väterzitate
heranzog, und schon sah er sich der Häresie verdächtigt. 2
Intellektuelle Originalität war im 12. Jahrhundert keineswegs ein
Qualitätsmerkmal, eher galt das Gegenteil. Nichtsdestotrotz hat es
natürlich auch in der Zwischenzeit, vor allem seit der Karolingerzeit,
viele herausragende Persönlichkeiten gegeben, die sehr eigenständig
dachten, obwohl sie sich dessen nicht immer bewußt waren.
In der sogenannten Spätantike – aus christlicher Sicht kann sie
kaum als Spätstadium einer Epoche begriffen werden – konnten viele
Erörterungen freilich noch ergebnisoffener geführt werden, da
einerseits die dogmatische Fixierung der Orthodoxie noch nicht so
weit fortgeschritten war, und andererseits keine allseits anerkannte
Zentralautorität existierte. Anders wird gar nicht verständlich, daß ein
Mann wie Origenes an vielen Stellen seines Werkes mit der ganzen
Bandbreite spekulativer Möglichkeiten, welche die Verbindung von
hellenistischer Philosophie, orientalischer Kosmologie und christlicher
Verkündigung eröffnet, geradezu spielerisch experimentiert.
Selbstverständ[[@Page:61]]lich blieb der Amtskirche (und den
christlichen Imperatoren) kaum anderes übrig, als die Intellektuellen
in die Schranken zu weisen, wenn die kirchliche Lehre der Ökumene
eine ordnungsstiftende Deutung ihrer selbst ermöglichen sollte. Der
Einfluß vieler damaliger Theologen ergibt sich nicht zuletzt daraus,
daß sie die Diskussionen der Konzilien und Synoden bestimmten,
denn erst diese stellten eine ökumenische Öffentlichkeit her. Zwar war
es nicht nur der Partei, die jeweils als Sieger aus ihnen hervorging,
sondern oft auch jener, der die Niederlage das Etikett „häretisch“
einbrachte, vergönnt, weiterhin geschichtliche Wirkung zu entfalten;
1
Gerd Tellenbach schreibt über die Ordnungsprinzipien, die dem
Investiturstreit zugrunde liegen: „Sie haben ihren Ursprung in altchristlicher
Zeit und lassen sich, wie sehr viele geistige Erscheinungen des frühen
Mittelalters, nur als Auswirkungen spätantik-christlichen Geistesgutes
begreifen.“ Tellenbach, Gerd: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter
des Investiturstreits. Stuttgart: Kohlhammer, 1936, S.1.
2
Beinert, Wolfgang: Die Kirche – Gottes Heil in der Welt. Die Lehre von der
Kirche nach den Schriften des Rupert von Deutz, Honorius Augustodunensis
und Gerhoch von Reichersberg. Ein Beitrag zur Ekklesiologie des 12.
Jahrhunderts. Münster: Aschendorff, 1973, S.109f.
71 ABBILDUNGEN

doch wurden zwischen Nikaia und Chalkedon dogmatische


Entscheidungen getroffen, die in vielen Bereichen den Weg der
Kirche vorzeichneten, auch wenn veränderte Erfahrungssituationen
immer wieder dazu zwangen, die Dogmen neu zu interpretieren.
Die fundamentalen Fragen waren ja von Anfang an gestellt und
wurden zum Teil (und keineswegs immer übereinstimmend) bereits in
den Schriften des Neuen Testamentes erörtert; mit jedem Konzil
wurde der Spielraum orthodoxer Lösungen eingeschränkt, aber nicht
eine der Fragen endgültig beantwortet, die da lauten: Wie steht die
Gemeinde zur Welt und ihren Herrschern? Wie steht die Theologie
zur Philosophie, oder, um es mit Paulus zu sagen, wie steht die
Weisheit aus Gott zur Weisheit dieser Welt? Wie steht der einzelne
zum Corpus der Gemeinde? Läßt der Gedanke der Ekklesia Eliten
oder Hierarchien zu? Haben die, die ein vollkommeneres Lebens
führen, eine größere Aussicht auf das Heil oder schaffen die
Sakramente gleiche Bedingungen für alle? Gibt es einen Weg zum
Heil, der sicherer ist als die anderen? In welchem Maße kann man
selbst zum eigenen Heil beitragen? Inwieweit ist die Urgemeinde der
Maßstab, an dem sich christliche Gemeinschaft zu messen hat? Was
bedeutet für Christen noch das Alte Testament? In welcher Beziehung
steht das neue Gottesvolk der Christen zum alten Gottesvolk Israel?
Etc. Dazu kommen die zentralsten aller theologischen Probleme: Wer
oder was ist überhaupt Gott? Was heißt Dreieinigkeit? Wer und vor
allem was ist Jesus Christus? Was ist der Heilige Geist? Wie verhalten
sich die göttlichen Personen zueinander? Wie überhaupt ist in diesen
Dingen Erkenntnis möglich?
Wer sich darauf besinnt, daß diese Fragen dem Christentum
inhärent sind und – nicht zuletzt weil sie in der überzeitlich gültigen
Heiligen Schrift gleichsam kanonisiert wurden – in der ein oder
anderen Form immer wieder der Vergegenwärtigung bedürfen, der
wird zugestehen, daß Joachim von Fiore keine hochmittelalterliche
Spezialdiskussion führt.

Die geistigen Voraussetzungen: Origenes

Wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, war bereits Paulus bewußt,


daß er trotz der nahenden Parusie nicht von allen Gliedern der
Gemeinde den gleichen Grad an Vollkommenheit erwarten konnte.
Wenngleich der Apostel seine eigene Enthaltsamkeit zum Maßstab
machte, gestattete er Ehe und eheliche Sexualität, um Unordnung und
Unzucht zu vermeiden. Ebenso ordnete er die besonders begnadeten
Pneumatiker in das corpus mysticum ein, innerhalb dem alle Kräfte in
einem „Liebe“ (ἀγάπη) genannten synergistischen Verhältnis stehen
und dem gesamten Leib zugute kommen. Das 13. und 14. Kapitel des
72 ABBILDUNGEN

1. Korintherbriefs rufen in diesem Sinne dazu auf, alle Fähigkeiten in


[[@Page:62]]den Dienst der Ekklesia zu stellen. Der Apostel selbst
geht mit gutem Beispiel voran und stellt dabei das eschatologische
Motiv des gemeinschaftlichen Zusammenhalts heraus:
[…] ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller,
damit sie gerettet werden. Nehmt mich zum Vorbild, wie ich
Christus zum Vorbild nehme.1
Entscheidend ist, daß nirgendwo einem Glied der Gemeinde, sei es
aufgrund charismatischer Begabung oder aufgrund eines Amtes, eine
Bevorzugung hinsichtlich des jenseitigen Heils eingeräumt wird. Das
corpus mysticum ist der Auferstehungsleib Christi, und nur innerhalb
dieses Leibes kann der einzelne das Jenseits erreichen. Daher wird der
Verklärung des corpus Christi die erste Auferstehung der Toten
vorangehen, auf daß lebende und verstorbene Glieder der Ekklesia als
Kollektiv in den neuen Aion eingehen können.2 Sonderwege sind
ausgeschlossen.
Daß die endgültige und jenseitige Transformation als leibliche
Auferstehung geschildert wird, ist nicht auf des Apostels mangelnde
Fähigkeit zum abstrakten Denken zurückzuführen, wie Rudolf
Bultmann meint, und kann deshalb nicht einfach „entmythologisiert“
werden.3 Sie ist vielmehr essentieller Bestandteil der Heilserwartung
des Paulus und wird von ihm mit großer Selbstverständlichkeit
konstatiert: „Wenn es einen irdischen Leib gibt, gibt es auch einen
überirdischen.“4 Denn nur die Vorstellung des Christusleibes, der sich
seinerseits aus den einzelnen Leibern der Gemeindemitglieder
zusammensetzt, erlaubt das vom Apostel geforderte Maß an
Kollektivität und eschatologischer Egalität. Die noch innerweltlich
gedachte Auferstehung des Gottesvolkes als ein Heer von Gleichen,
wie sie in einer Vision Ezechiels aufscheint, 5 mag dazu den
Hintergrund abgeben. Paulus war eben kein Existenzphilosoph avant
la lettre, dem es lediglich um die Bedingungen des „Daseins“
gegangen wäre; seine Eschatologie korreliert mit einer spezifischen
Anthropologie, die zweifelsohne ihre zeitgebundenen
Voraussetzungen hat, aber deshalb noch lange nicht aus ihrem
gedanklichen Kontext herausgenommen werden kann.
Die funktionale Differenzierung der leiblichen Gemeinschaft im
corpus Christi erfordert hinsichtlich der gleichzeitigen und kollektiven
Auferstehung den Dienst am anderen und die Verantwortung
untereinander. Es ist bekannt, welch beeindruckenden Zusammenhalt
1
1 Kor 10,33-11,1.
2
1 Thess 4,13-18.
3
Bultmann 1980, S.199.
4
1 Kor 15,44.
5
„[…] und es kam Geist in sie. Sie standen auf – ein großes gewaltiges Heer.“
[[Ez 37,10 >> Bible:Hes 37,10]].
73 ABBILDUNGEN

dieses Bewußtsein in den frühen christlichen Gemeinden hervorrief.


Und gegen niemanden wettert der Apostel mehr als gegen die, die sich
außerhalb der Ekklesia stellen und glauben, über private Pneumata zu
verfügen oder ihre Verklärung individuell herbeiführen zu können.1
Mit einem Satz: Nur die kollektive leibliche Auferstehung sichert die
Kontinuität zwischen der proleptischen Gemeinschaft der Ekklesia
und der endgültigen Gemeinschaft der himmlischen Bürgerschaft.
Die frühe Gemeindeverfassung der Didache zeigt, daß sich dieses
egalitäre Konzept [[@Page:63]]zumindest an einigen Orten eine
gewisse Zeit lang halten konnte. Trotz aller Differenzen, die an dieser
Stelle nicht weiter von Belang sind, gibt es auch hier mit
unterschiedlichen Charismen begabte Funktionsträger und bestimmte
Mitglieder, denen mehr zugemutet werden kann als anderen,2 jedoch
keinerlei Eliten und keine Hierarchie – zumal nicht hinsichtlich der
jenseitigen Gemeinschaft. Grundsätzlich wird zwischen Klerus und
Laien noch nicht differenziert. Die Ekklesia als lokale ebenso wie als
universale Gemeinde wählt gemeinsam die Amtsinhaber,3 prüft
gemeinsam die Charismata,4 betet gemeinsam5 und vollzieht
gemeinsam die Mysterien, durch die die Einheit des Leibes hergestellt
wird.6 Die Gaben des Heiligen Geistes sind in der nachapostolischen
Zeit prinzipiell noch allen Gemeindemitgliedern zugänglich.7 Es gibt
keine privilegierten Wege zum Heil, sondern, wie schon der erste Satz
der Didache betont, einen Weg zum Heil und einen zum Tod, 8 nichts
dazwischen und nichts darüber hinaus. Das Schlußkapitel der Didache
bekräftigt dagegen die apokalyptische Naherwartung, die allein ein
solches Maß an Egalität zuläßt. Nur als Kollektiv kann die Gemeinde
soweit vervollkommnet werden, daß sie die bevorstehenden Drangsale
der Endzeit besteht und gemeinsam mit den auferstandenen Toten vor
den Richter treten kann.9
Die alexandrinische Theologie, um die es auf den folgenden
Seiten geht, scheint in gewisser Weise ein egalitäres
Gemeinschaftsverständnis zu bestätigen. Nach Klemens von
Alexandrien bewirkt schon das Sakrament der Taufe die Verwandlung
des Menschen zur Vollkommenheit:
[…] sie bringt die vollständige Vergebung der Sünden und
befreit von der dunklen Macht der Dämonen; positiv ist sie die
1
1 Kor 12; 14,12.37; vgl. Bultmann 1980, S.311.
2
[[Did 6,2-3 >> ApostolicFathers:Did 6.2-3]].
3
[[Did 15,1 >> ApostolicFathers:Did 15.1]].
4
[[Did 11-12 >> ApostolicFathers:Did 11-12]].
5
[[Did 8,2-3 >> ApostolicFathers:Did 8.2-3]].
6
[[Did 7 >> ApostolicFathers:Did 7]]; [[9,1-10,5 >> ApostolicFathers:Did 9.1-
10.5]].
7
HbKg I, S.177.
8
[[Did 1,1 >> ApostolicFathers:Did 1.1]].
9
[[Did 16,2-8 >> ApostolicFathers:Did 16.2-8]].
74 ABBILDUNGEN

Wiedergeburt zum neuen Leben im Reich des Vaters, schenkt


daher Unsterblichkeit und gewährt mit dem in die Seele
einströmenden Heiligen Geist die wahre Gotteserkenntnis, die
Gnosis. Diese wird grundsätzlich jedem Getauften zuteil, nicht
etwa nur dem Pneumatiker, und mit ihr ist ihm prinzipiell die
Grundlage aller Vollkommenheit gnadenhaft zuteil geworden,
die sich nun in seinem Leben entfalten muß. […] in der Taufe
wiederholt sich real, nicht nur symbolisch, am Christen, was
einst die Taufe im Jordan an Christus gewirkt hat: deshalb ist
das Leben aus der Taufgnade Nachahmung Christi, mit dem der
Gläubige in seiner Taufe zu unauflöslicher Einheit verbunden
ist.1
Obwohl also Klemens an der sakramentarischen Einheit des Leibes
festhält und grundsätzlich jedem Christen die Möglichkeit der
Vollkommenheit zubilligt, so deutet sich hier doch in nuce bereits der
Weg an, den die alexandrinische Theologie gehen sollte, und an
dessen Ende das Mönchtum steht. [[@Page:64]]
Zunächst wird die Vollkommenheit in der Taufe nur als Potential
erteilt, das sich in der Lebensführung des einzelnen erst aktualisieren
muß. Damit ist ein Maßstab für individuelle Vollkommenheit
gegeben, den ein Protestant wohl Werkgerechtigkeit nennen würde.
Klemens denkt bei der Aktualisierung dieses Potentials keineswegs
sofort an Askese, seine Vorstellung von Vollkommenheit orientiert
sich viel eher am klassischen Tugendideal der griechischen
Philosophie.2 Mit der Ethik einer schrittweisen Vervollkommnung
korrespondiert eine Erkenntnislehre, die den einzelnen auf dem Wege
individuellen Fortschritts bis zur Existenzform des vollkommenen
Gnostikers schreiten läßt. Hans Freiherr von Campenhausen schreibt:
[Der vollkommene Gnostiker] ist durch die innere Heftung
seines Willens an Gott gleichsam eingetreten in den Chor der
ewig anbetenden Engel. Er mag wandeln und mit den Menschen
verkehren, ruhen, lesen, Geschäfte treiben – im Grunde ist doch
sein ganzes Leben nur ein ununterbrochenes Gebet, Umgang
mit Gott selber, ein ständiges Fest. Und Gott erhört diese
inwendige Richtung auf ihn immerdar, auch wenn sie keine
geformten Worte findet. Gerade in dieser seligen Vollendung
lebt aber der wahre Gnostiker nicht mehr für sich. Indem er
Gott liebt, lebt Gottes Liebe auch in ihm, er wird zum
lebendigen und wirkenden Abbild Christi und neigt sich mit
Freuden zu seinen Mitmenschen hinab, die alle – gleich ihm –
zum Höchsten berufen sind und durch ihn in das Reich der
göttlichen Erkenntnis eintreten sollen.3

1
HbKg I, S.330f.
2
Campenhausen, Hans Freiherr von: Griechische Kirchenväter. Stuttgart u.a.:
Kohlhammer, 81993, S.35f.
3
Ebd., S.40.
75 ABBILDUNGEN

Gegenüber Paulus hat sich einiges verändert. Der einzelne stellt,


indem er die Lebensführung des wahren Gnostikers praktiziert, ein
individuelles Verhältnis zu Gott her – hier und jetzt. Erst wenn er ganz
vom göttlichen Wissen erfüllt ist, kehrt er wieder in die Gemeinschaft
zurück und läßt sie an seiner Gnosis teilhaben. Mit der Gemeinschaft
ist dabei eher an die Schülergemeinschaft denn an die
Kirchengemeinde als Ganzes gedacht. Wie nun an die Stelle des
Glaubens die Gnosis tritt, so ersetzt der Paidagogos, der Lehrer, den
frühchristlichen Apostel und Propheten.1 Der wesentliche Unterschied
besteht darin, daß der paulinische Charismatiker seine Begabungen
allein der Initiative des Pneumas verdankt, während der
klementinische Gnostiker aus seinem eigenen
Vollkommenheitsverlangen heraus zu Gott hin aufsteigt.
Der Wandel, der sich hier vollzieht, erfordert mehr, als nur eine
Relativierung der Gnadenlehre. Er setzt eine völlig neue
Anthropologie voraus, die auf die hellenistische Differenzierung
zwischen Leib und Seele aufbaut. Nur so wird es möglich, daß die
christliche Ethik um ein Element erweitert wird, das zum paulinischen
Gerechtigkeitsbegriff in einem kaum unüberbrückbaren Gegensatz
steht: die Forderung nach der Vollkommenheit der Person. Der
Pelagianismusstreit um das Ideal des Christianus integer ist nur eine
der vielen Auseinandersetzungen in der Kirchengeschichte, in denen
sich diese Spannung entlud.
Von Origenes, der bereits in einem christlichen Haus aufwuchs
und als Christ zur Philosophie fand, kann man erwarten, daß er die
Probleme adäquater erfaßt, die die [[@Page:65]]hellenistische
Bildung für die Kirche aufwirft. Für ihn bedeutet Theologie schon
mehr als bloße Apologetik, die beweisen soll, daß das Christentum der
antiken Philosophie ebenbürtig oder gar überlegen ist. Abgesehen
davon ist er mit einem Typus des „Vollkommenen“ konfrontiert, der
mit dem klementinischen Gnostiker wenig gemeinsam hat, den
Asketen und Märtyrern. So vermittelt Origenes’ Schrift Exhortatio ad
martyrium einen guten Einblick in die Implikationen des individuellen
Vollkommenheitsstrebens. Es sei vorausgeschickt, daß sich die frühen
Mönche als direkte Nachfolger der Blutzeugen und als „Märtyrer der
Friedenszeit“ verstanden.2 Sie konnten die Schrift des Origenes ohne
größere Schwierigkeiten auf sich selbst beziehen.3
1
Ebd., S.39.
2
Frank, Karl Suso: Geschichte des christlichen Mönchtums. 5., verb. und erg.
Aufl. Darmstadt: Primus, 1996, S.15.
3
Die kaum zu überschätzende Bedeutung des Origenes für die frühen Mönche,
die den Alexandriner rezitierten wie die Bibel und lieber die Vertreibung
erduldeten, als von ihrem geliebten Mentor abzufallen, zeigt: Chadwick, Owen:
John Cassian. Cambridge: Cambridge University Press, 1968, v.a. S.25ff. und
82ff. Daß die großen geistigen Führer des spätantiken Mönchtums wie Evagrius
Ponticus, Cassian oder Hieronymus große Origenisten waren, kann ebenfalls
76 ABBILDUNGEN

Das Problem, mit dem es Origenes zu tun hat, ist die Frage nach
dem Nutzen des Leidens und Sterbens für das Zeugnis Christi. Wenn
schon die Sakramente die Zugehörigkeit zur Heilsgemeinschaft
bewirken, was kann dann die heroische Sonderleistung noch bringen?
Natürlich darf das Martyrium nicht auf ein utilitaristisches Motiv
reduziert werden, aber es ist doch ganz deutlich, daß ein solches eine
Rolle spielt. So läßt Origenes schon im ersten Abschnitt seiner Schrift
erkennen, daß der Märtyrer im Himmel mehr erwarten darf als der
gewöhnliche Gläubige und daß er mit seinem
Vollkommenheitsstreben an einem Wettkampf teilnimmt:
Wer indes „Trübsal über Trübsal“ nicht von sich weist, sondern
wie ein edler Wettkämpfer sie erwartet, der erwartet sogleich
auch „Hoffnung über Hoffnung“, deren er nach kurzer um der
Hoffnung willen erduldeter Trübsal teilhaftig werden wird. 1
Daß der Märtyrer des Heils ‚sogleich‘ teilhaftig werden kann,
geschieht, weil er sich der „Last des sterblichen Körpers“ ganz
entledigt, so daß die befreite Seele sofort zu Gott aufsteigen kann. 2
Keineswegs muß er bis zur Auferstehung der Toten warten, damit sein
Leib in der Gemeinschaft des corpus mysticum verklärt werde.
Unschwer erkennt man, wie hier die hellenistische Unterscheidung
zwischen Leib und Seele den individuellen Weg zum Heil eröffnet.
Nicht daß Origenes die leibliche Auferstehung leugnen würde, aber
für ihn besteht sie darin, daß die Seele, die individuelle und ewige
Kernsubstanz des Menschen, mit einem geistlichen Leib (spiritale
corpus) bekleidet wird und nicht – wie bei Paulus – in einer
Transformation des Menschen, dem als einer leiblichen Einheit die
Unvergänglichkeit erst verliehen werden muß.3 Selten wird die
Spannung zwischen Platonismus und biblischer Überlieferung derart
greifbar.
Allerdings ist unübersehbar, daß es Origenes primär um die
Rückkehr der Seele [[@Page:66]]geht. Welche Akzidentien dieser
Seele einmal zukommen, wenn sie bereits im Himmel weilt, ist eher
zweitrangig. Das erweist sich unter anderem in seiner Äußerung, die
pneumatischen Leiber würden sich völlig gleichen, da die
Individualität des Menschen in seiner Seele begründet liege. 4 Wichtig
aber ist: Das Ziel der Seele ist nicht länger ein zeitlich hinter dem
gegenwärtigen Aion gelegenes Jenseits, sondern der überirdische
nicht bezweifelt werden, auch wenn letzterer eine opportunistische Wende
vollzog.
1
[[Exh. ad mart. 1 >> Origen:On Mart. 1.1]], Kohlhofer 252; vgl. Jes 28,10.
2
[[Exh. ad mart. 3 >> Origen:On Mart. 3]], Kohlhofer 254.
3
[[De princ. II,10,1-3 >> Origen:De princ. 2.10.1-3]]; vgl. 1 Kor 15,42-54; vgl.
[[De princ. III,5-7 >> Origen:De princ. 3.5-7]].
4
[[De princ. III,6,4 >> Origen:De princ. 3.6.4]]. Nach [[IV,4,6-7 >> Origen:De
princ. 5.4.6-7]] sind die Leiber jeweils wechselnde Qualitäten (qualitates) der
seelischen Substanz.
77 ABBILDUNGEN

(nicht jedoch transzendente) Himmel, der von jedem Punkt der


Geschichte aus gleich zugänglich ist.
Die Zugangsberechtigung zu den himmlischen Freuden hält
Origenes nicht für einen undurchschaubaren Gnadenakt, sondern für
den gerechten Lohn, dessen Auszahlung auf einer
vertragstheoretischen Fundierung beruht. Jeder Christ ist schon mit
dem Abschluß des Taufbundes die Verpflichtung zum Martyrium
eingegangen. Daher gilt der Ruf zur Vollkommenheit für alle
Gläubigen, auch wenn er den sicheren Tod bedeutet.
Auch dies müssen wir inne haben, daß wir den sogenannten
Bund mit Gott in einem mit ihm abgeschlossenen Vertrage
eingegangen haben, wobei wir uns verpflichteten, nach dem
Christentum zu leben. Und in unserm Vertrage mit Gott war das
ganze Verhalten nach der Richtschnur des Evangeliums
eingeschlossen. Dieses sagt nun aber: „Wenn Jemand mein
Jünger sein will, so verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz
auf sich und folge mir nach. Wer nämlich seine Seele erhalten
will, der wird sie verlieren; wer aber seine Seele um
meinetwillen verliert, der wird sie erhalten.“ 1
Der himmlische Lohn ist keineswegs immer der gleiche, sondern
bemißt sich danach, wie viel man in diesem Leben zurückgelassen
hat.2 Alles Irdische ist ausnahmslos zu verachten, weshalb den
Märtyrern der Vorrang im Heil gebührt, da sie selbst „die natürliche
Liebe zu den Kindern mit Füßen trete[n]“.3 Im Himmel werden sie
dieselbe Stufe einnehmen wie die Apostel.4
Wenn „ebenso wie die Leiden Christi überschwenglich sind,
auch der Trost durch Christus überschwenglich ist,“ so lasset
uns auf das Bereitwilligste die Leiden Christi hinnehmen; und
in überschwenglichem Maße mögen sie uns zu Teil werden,
wenn wir anders nach dem überschwenglichen Troste
verlangen, womit „alle Trauernden werden getröstet werden,“
aber wohl nicht in gleichem Maße. Denn wenn der Trost ein
gleichmäßiger wäre, so stünde wohl nicht geschrieben:
„Gleichwie die Leiden Christi uns überschwenglich zu Teil
werden, ebenso ist auch unser Trost überschwenglich.“ Die an
den Leiden Teil nehmen, werden eben in dem Maße, als sie mit
Christus an den Leiden Teil nehmen, auch an dem Troste Teil
nehmen.5 [[@Page:67]]
1
[[Exh. ad mart. 12 >> Origen:On Mart. 3.12]], Kohlhofer 269; Mt 10,39. In
Zitaten nach der Kohlhofer-Ausgabe habe ich die Orthographie etwas
aktualisiert.
2
[[Exh. ad mart. 14 >> Origen:On Mart. 3.14]].
3
[[Exh. ad mart. 15 >> Origen:On Mart. 3.15]], Kohlhofer 275.
4
[[Exh. ad mart. 34 >> Origen:On Mart. 5.34]], [[50 >> Origen:On Mart.
7.50]].
5
[[Exh. ad mart. 42 >> Origen:On Mart. 5.42]], Kohlhofer 318, Hervorh. d.
Verf.; 2 Kor 1,5; Mt 5,4.
78 ABBILDUNGEN

Trotz allem ist das Martyrium nicht conditio sine qua non. Denn die
Märtyrer, die schon jetzt bei Gott sind, können ein gutes Wort für ihre
Glaubensgenossen einlegen, sofern diese darum bitten.
[…] so befinden sich „die Seelen der wegen ihres Zeugnisses
für Jesus Hingerichteten“ nicht umsonst am himmlischen
Altare, sondern vermitteln denen, die darum flehen,
Nachlassung der Sünden.1
Man stößt hier auf eine der ersten theoretischen Reflexionen über die
Heiligenverehrung, die zu dieser Zeit den Märtyrern und wenig später
auch den herausragenden Asketen tatsächlich entgegengebracht
wurde. Doch die Fürbitte als gemäßigte Möglichkeit, in den Himmel
zu kommen, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der Himmel des
Origenes ist eine differenzierte hierarchische Ordnung, in der jeder
den Platz einnimmt, der ihm nach seinen Leistungen zukommt – eine
Vorstellung, die sich im Mittelalter weit verbreitet hat, wie Tausende
von Altarbildern zeigen.2 Bei Origenes ist allerdings die himmlische
Hierarchie ebenso wie die irdische Herrschaft Teil der kosmischen
Gesamtordnung, in sich die göttliche Gerechtigkeit manifestiert, und
in der jeder zu jeder Zeit nach seinen Verdiensten eingestuft wird. 3 So
erscheint das göttliche Gericht eher als ein permanenter Prozeß von
Bestrafung und Belohnung durch Höher- und Tieferstufung, denn als
ein singuläres Ereignis.4
Die Anspielung auf die Johannesapokalypse, die das zuletzt
angeführte Zitat enthält, läßt erkennen, wie das Eschaton von den
1
[[Exh. ad mart. 30 >> Origen:On Mart. 5.30]], Kohlhofer 297; vgl. Offb 6,9.
2
Die Sichtbarmachung der Heilshierarchie wurde sogar als „Hauptzweck der
hochmittelalterlichen christlichen Bilderwelt“ bezeichnet. Würtenberger,
Franzsepp: Weltbild und Bilderwelt. Von der Spätantike bis zur Moderne. Wien
und München: Schroll, 1958, S.12ff.
3
„Es bleibt also (der Schluß), daß es bei jedem Geschöpf an seiner eigenen
Tätigkeit und seinen eigenen Bewegungen lag, daß jene Mächte, die das
Fürstentum oder die Gewalt oder die Herrschaft über andere ausüben, ihren
Vorrang erhielten und über die gesetzt wurden, die sie, wie es heißt, leiten oder
beherrschen: (nämlich) wegen ihres Verhaltens und nicht durch eine
Bevorzugung der Schöpfung (ex merito, et non per conditionis
praerogativam).“ [[De princ. I,5,3 >> Origen:De princ. 1.5.3]].
Görgemanns/Karpp 203; vgl. [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]];
[[I,8,4 >> Origen:De princ. 1.8.4]]; [[II,9,7-8 >> Origen:De princ. 2.9.7-8]];
[[III,1,23 >> Origen:De princ. 3.1.23]].
4
Origenes muß dazu größere Korrekturen an der neutestamentlichen
Eschatologie vornehmen: „Es steht außer Zweifel, daß dereinst am Tage des
Gerichtes die Guten von den Bösen, die Gerechten von den Ungerechten
getrennt werden, und ein jeder durch Gottes gerechte Entscheidung an den
Platz verwiesen wird, den er verdient hat […]. Aber etwas Entsprechendes,
meine ich, ist auch früher schon geschehen. Denn man muß annehmen, daß
Gott alles und jederzeit nach gerechter Entscheidung tut und anordnet.“ [[De
princ. II,9,8 >> Origen:De princ. 2.9.8]], Görgemanns/Karpp 417.
79 ABBILDUNGEN

Alexandrinern entgeschichtlicht wurde. Bei Johannes von Patmos


hoffen die verstorbenen Märtyrer noch auf das Gericht Gottes und das
Ende dieses Aions, bei Origenes weilen sie schon im Himmel.
Dagegen entfällt die Neuschöpfung eines zweiten und endgültigen
Aions völlig. Statt der apokalyptischen Kosmologie vertritt Origenes
die Lehre von der All-Erlösung, der Wiederherstellung der gefallenen
Schöpfung in ihrer Gesamtheit (ἀποκατάτασις πάντων/restitutio
omnium).
Origenes, der wie Plotin bei Ammonios Sakkas studierte, war mit
der platonischen Tradition zutiefst vertraut. Aus der Verbindung von
Schöpfungsgedanken, Emanati[[@Page:68]]ons- und Seelenlehre
schuf er eine großartige Konzeption, über deren noch beinahe
unerforschte Wirkungsgeschichte sich wahrscheinlich viele Bände
schreiben ließen; – man denke nur an so unterschiedliche
Persönlichkeiten wie Dionysius Areopagita, Eriugena, Meister
Eckehart, Leibniz, Lessing, C.G. Jung, Carl Orff, Wassily Kandinsky
oder die russischen Religionsphilosophen. Auch im Werk Joachims
von Fiore ist das beständige Fortwirken der origenistischen Lehre
offensichtlich, wenngleich er selbst sich dessen nicht immer bewußt
war. 1
1
Origenes erlebte im 12. Jahrhundert eine Renaissance, gerade in Kreisen der
Zisterzienser. Es genügt als berühmtestes Beispiel die an Origenes geschulten
Predigten Bernhards von Clairvaux über das Hohelied zu erwähnen, die zum
literarisch Hochwertigsten zählen, was das Abendland zu dieser Zeit zu bieten
hatte. Joachim schließt sich zwar der Orthodoxie an und verurteilt Origenes als
einen Verderber der kirchlichen Lehre. Ench., Burger 50,1352; vgl. Exp. I,
fol.75va. Wo er ihn aber in einem halbwegs positiven Sinne erwähnt, betont er,
daß man ihn ja jetzt wieder in der Kirche lese. Tract. I,4, Santi 41,23-42,1.
Vielleicht wollte er damit dem Verdacht entgehen, er beschäftige sich mit
gefährlichen Büchern. Wie auch immer, Joachim konnte origenistisches
Gedankengut außer durch den verehrten Bernhard noch durch viele andere
Autoren kennenlernen, die er kannte oder gar ausdrücklich schätzte: Pseudo-
Dionysius Areopagita, Hilarius von Poitiers, Hieronymus, Ambrosius von
Mailand, Rufinus von Aquileia, Eusebius von Caesarea, Johannes
Chrysostomos. Auch Cassian war ihm sicher vertraut. Die Lektüre von dessen
Schriften legte ihm schon die Benediktregel nahe. [[Reg. Ben. 42,3 >>
RuleOfStBenedict:RB 42.3]].[[5 >> RuleOfStBenedict:RB 42.5]]; [[73,5 >>
RuleOfStBenedict:RB 73.5]]. So lautet denn sein abschließendes Urteil über
Origenes: Er befand sich zwar auf einem guten Weg und übernahm die
apostolische Lehre der intelligentia spiritualis, ließ aber später nach. „[…]
Origenes protinus defecit in via.“ Tract. I,6, Santi 82,27-83,1. Die
Formulierung ist durchaus konventionell. In monastischen Kreisen, in denen
man weder auf die origenistische Hermeneutik noch auf das hellenische
Vollkommenheitsideal völlig verzichten konnte, wurde die lateinische Fassung
von De principiis über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben. Allerdings
hatte schon der Übersetzer Rufinus einige Korrekturen im Namen der
Orthodoxie vorgenommen, wie er in seinem Vorwort bekennt. De princ. I,
Praef. Ruf. 2-3. Die von der Kirche beanstandeten Irrtümer, die das Werk
weiterhin enthielt, wurden in der Regel als ein „Abgleiten seiner späteren
80 ABBILDUNGEN

Das monumentale Grundlagenwerk des Origenes, De principiis (Περὶ


ἀρχῶν), eröffnet den Blick auf die geistige Welt, die sich hinter der
eher volkstümlichen Märtyrerschrift auftut: Die Quelle allen Seins ist
das göttliche Eine,1 aus dem der Logos und das Pneu[[@Page:69]]ma,
also der Sohn und der Heilige Geist, in einer ewigen Zeugung
(aeterna ac sempiterna generatio) als nachgeordnete Hypostasen
hervorgehen.2 Um dieses göttliche Zentrum herum schafft Gott durch
den Logos die Geister, die liebend auf ihn ausgerichtet sind.3 Die
Einheit der Geistwelt zerfällt jedoch, als ein Teil der Geister seinen
freien Willen mißbraucht und sich von Gott abwendet. Dieser
metaphysische Sündenfall führt zur Entfernung der Schöpfung aus der
göttlichen Einheit, zu Vielheit, Verschiedenheit und Wandelbarkeit in
der gegenwärtigen Welt.4 Je größer die Distanz zu Gott, desto tiefer
sinkt das Geistwesen in der kosmischen Ordnung, bis zur
Verstrickung in Materie und Körperlichkeit.5 Ganz unten stehen der
Teufel und die Dämonen, die selbst einst makellos und Teil der
Geistwelt waren.6
Jahre“ entschuldigt. Sh. die Einführung zur deutschen Ausgabe von De
principiis, Görgemanns/Karpp 27. Wer also wie Joachim behauptet, daß
Origenes nach guten Anfängen „nachließ“, tut dies üblicherweise, um den
„frühen“ Origenes in Anspruch nehmen zu können. Defecit in via, das sagt
Joachim auch über Mose, der das Volk Gottes bis zum gelobten Land führte, es
aber selbst nicht betreten durfte. Exp. Intr., fol.20va. Um mit dieser Anmerkung
keinen falschen Eindruck zu erwecken: Wichtig ist letztlich nicht die exakte
Feststellung der Quellen, sondern die Tatsache, daß sich unter der Oberfläche
der monastischen Bildungstradition die origenistische Leistungsethik immer
erhalten hat. Im Grunde aber war den Mönchen sehr oft bewußt, wem sie derart
wesentliche Bestandteile ihres Denkens zu verdanken hatten. Nur so kann
erklärt werden, daß ein beachtlicher Teil der Werke des Origenes trotz
widrigster Umstände überliefert und immer wieder gelesen wurde.
1
„Ich glaube, daß Gott Vater, der das All zusammenhält, zu jedem Seienden
hindurchdringt und einem jeden aus seinem eigenen (Sein) verleiht zu sein, was
es ist.“ [[De princ. I,3,5 >> Origen:De princ. 1.3.5]], Görgemanns/Karpp 169-
171.
2
[[De princ. I,2,4 >> Origen:De princ. 1.2.4]]; vgl. [[I,3,4 >> Origen:De princ.
1.3.4]]; [[II,2,1 >> Origen:De princ. 2.2.1]]; [[IV,4,1 >> Origen:De princ.
4.4.1]]. Zur hierarchischen Ordnung innerhalb der Trinität: [[De princ. I,3,5 >>
Origen:De princ. 1.3.5]]. Vgl. zum folgenden: Campenhausen 1993, S.48ff.
3
[[De princ. II,9,1-2 >> Origen:De princ. 2.9.1-2]].
4
[[De princ. II,9,6 >> Origen:De princ. 2.9.6]]; [[III,5,4-5 >> Origen:De princ.
3.5.4-5]].
5
[[De princ. I,5,3 >> Origen:De princ. 1.5.3]]; [[I,8 >> Origen:De princ. 1.8]],
Anhang I, Nr.2. Unter dem Körperlichen wird hier wie im folgenden die Sphäre
des irdisch-materiellen verstanden, im Gegensatz zur Leiblichkeit, die zwar
irdisch-materiell, aber auch pneumatisch sein kann.
6
[[De princ. I,5,5 >> Origen:De princ. 1.5.5]]; [[I,8,3 >> Origen:De princ.
81 ABBILDUNGEN

Auch die Menschen sind ihrer Herkunft nach präexistente


Geistwesen, die zur Strafe für den Fall und zur Läuterung in sterbliche
Leiber eingeschlossen wurden.1 Die ursprüngliche und eigentliche
Vernunft- bzw. Geistnatur des Menschen, kraft der er am göttlichen
Logos teilhat, bleibt aber in der Seelensubstanz, dem menschlichen
Wesenskern, erhalten.2 Es gilt also, sich ganz auf die Geistnatur zu
konzentrieren und die leibliche zu vernachlässigen, ja sogar zu
bekämpfen. Nur so kann die Seele wieder reines Geistwesen werden
und in ihre Heimat zurückkehren, um das göttlichen Eine zu schauen.
Gleichwohl ist diese Konzeption nicht dualistisch, denn alle Materie
ist von Gott geschaffen, um eine Hierarchie des Seienden zu
konstituieren, die der gefallenen Seele den Aufstieg zum Ursprung
möglich macht.3
Diese Rückkehr steht im Gesamtzusammenhang der
Apokatastasis panton, der Rückwendung der gesamten gefallenen
Schöpfung in die ursprüngliche Einheit der Geistwelt.4 Die
Gesetzgebung an Mose, die Offenbarung an die Propheten sind ebenso
[[@Page:70]]wie die Sendung des Logos als Bemühungen Gottes um
die Heimkehr der Geister zu sehen. Denn wie ihr Fall Resultat einer
freien Willensentscheidung war, so muß auch der Entschluß zur
Umkehr aus freien Stücken erfolgen. Indem Gott sich selbst offenbart,

1.8.3]].
1
„[…] denn wir Menschen sind ja Lebewesen, die zusammengesetzt sind
aus Leib und Seele (animal sumus compositum ex corporis animaeque
concursu) – nur so konnten wir ja auf der Erde wohnen.“ [[De princ. I,1,6 >>
Origen:De princ. 1.1.6]], Görgemanns/Karpp 113. Vgl. [[De princ. II,3,2-3 >>
Origen:De princ. 2.3.2-3]]. Epiphanius von Salamis faßt die Anthropologie des
Origenes so zusammen: „Er (Or.) sagt, die menschliche Seele sei präexistent;
dies seien Engel und Mächte in der Höhe; sie hätten sich aber durch Sünden
verfehlt und seien deshalb zur Strafe in diesen Körper eingeschlossen. Gott
schicke sie zur Strafe herab, damit sie hier das erste Gericht erlitten. Deshalb,
so sagt er, heiße der Leib auch ‚demas‘ weil die Seele im Körper gefangen liege
(‚dedesthai‘).“ De princ. I,8, Anhang I, Nr.3, Görgemanns/Karpp 275; vgl.
Nr.4-6.
2
[[De princ. I,3,6 >> Origen:De princ. 1.3.6]]; [[II,6,3 >> Origen:De princ.
2.6.3]].
3
[[De princ. I,3,3 >> Origen:De princ. 1.3.3]]; [[II,1,4 >> Origen:De princ.
2.1.4]]; [[II,2,1-II,3,2 >> Origen:De princ. 2.2.1-3.2]]; [[III,6,6-9 >> Origen:De
princ. 3.6.6-9]]; [[IV,4,6-8 >> Origen:De princ. 4.4.6-8]].
4
„Denn immer ist das Ende dem Anfang ähnlich; und daher muß, so wie das
Ende von allem ei nes ist, so auch ei n Anfang (initium) von allem
angenommen werden; und so wie die vielen Dinge ei n Ende haben, so
entspringen die vielen Unterschiede und Abweichungen aus ei nem Anfang.
[…] Alle aber werden wieder durch die Güte Gottes, die Unterwerfung unter
Christus und die Einheit im heiligen Geist zu dem einen Ende gebracht, das
dem Anfang gleicht.“ [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]]. Görge-
manns/Karpp 217-219. Hervorh. i. Orig.; vgl. [[De princ. III,6,4 >> Origen:De
princ. 3.6.4]].
82 ABBILDUNGEN

versucht er beim Menschen die Sehnsucht wecken, sich dieser


Herrlichkeit wieder zu nähern. Geschichte, wenn man dieses Wort hier
benutzen will, ist für Origenes die Gesamtheit der freien
Individualentscheidungen vernünftiger Wesen (wozu auch die
Himmelskörper zählen), die sich gleichwohl in einen göttlich
gelenkten Zeitablauf einordnen. Gott braucht weder Zwang
anzuwenden noch einem unrettbar Verlorenen seine Gnade zu
erweisen, sondern lediglich durch seine Selbstoffenbarung den
anamnetischen Prozeß zu befördern, in dem sich die gefallene Seele
ihrer Herkunft und Bestimmung wieder bewußt wird.1
Die Menschheitsgeschichte ist eingebettet in die Bewegung aller
vernünftigen Wesen, in das kosmische Gesamtgeschehen der
Wiederherstellung (perfecta universae creaturis restitutio),2 an dessen
Ende selbst der Teufel und die Dämonen in den Anfang zurückkehren
werden.3 In diesem doppelten Sinne begegnet bei Origenes der Begriff
Fortschritt (προκοπή/profectus). Es handelt sich zum einen um die
persönlichen Tugend- und Erkenntnisfortschritte der einzelnen
(profectus, meist im Plural)4 und zum anderen um die göttliche
Einordnung dieser Individualleistungen in den stufenweise
verlaufenden Gesamtvorgang der Apokatastasis (profectus im
Singular).
Nun gestaltet und lenkt Gott durch die unaussprechliche Kunst
seiner Weisheit alles, was wie auch immer entsteht, zu
irgendeinem Nutzen und zum gemeinsamen Fortschritt des
Gesamten (communis omnium transformans ac reparans
profectus); und so bringt er auch die Geschöpfe, die von sich
aus durch ihren geistigen Unterschied so weit voneinander
entfernt waren, zu einer gewissen Einheit des Wirkens und
Strebens; zwar bleiben die geistigen Bewegungen verschieden,
aber sie machen zusammen die Fülle und Vollkommenheit der
einen Welt aus, und gerade die geistige Verschiedenheit führt
zu dem einen Ziel der Vollkommenheit.5

Dies muß man sich aber nicht als ein plötzliches Geschehen
vorstellen, sondern als ein allmähliches, stufenweise im Laufe
von unzähligen und unendlich langen Zeiträumen sich
1
[[De princ. III,5,8 >> Origen:De princ. 3.5.8]].
2
[[De princ. III,5,7 >> Origen:De princ. 3.5.7]].
3
Ein bei Hieronymus (Ep. 124,3) überliefertes Fragment besagt: „Sicque per-
miscet omnia, ut de archangelo possit diabolus fieri et rursum diabolus in ange-
lum revertatur.“ [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]], Görgemanns/
Karpp 216, Anm.1.
4
[[De princ. I,3,8 >> Origen:De princ. 1.3.8]]; [[I,8,4 >> Origen:De princ.
1.8.4]]; [[II,11,6-7 >> Origen:De princ. 2.11.6-7]]; [[III,1,23 >> Origen:De
princ. 3.1.23]] u.ö.
5
[[De princ. II,1,2 >> Origen:De princ. 2.1.2]], Görgemanns/Karpp 287; vgl.
[[III,6,6 >> Origen:De princ. 3.6.6]].
83 ABBILDUNGEN

vollziehendes, wobei der Besserungsprozeß langsam einen nach


dem anderen erfaßt.1
Beinahe alle Begriffe, die in Joachims Fortschritts- und
Gemeinschaftslehre eine zentrale Rolle spielen, sind hier schon
vorhanden – ohne daß Joachim sie notwendig aus dieser Quelle
bezogen haben müßte. Die Stufe, die die Seele auf der Skala der
Vervoll[[@Page:71]]kommnung jeweils einnimmt, nennt Origenes
einen Zustand (status).2 Die Seelen, die sich im selben Status
befinden, bilden jeweils eine von vielen Ordnungen (ordines), die der
Fortschritt durchläuft.3
Da individuelles Vollkommenheitsstreben und Willensfreiheit
nicht zu trennen sind, zeigt Origenes für die paulinische
Gnadentheologie nur wenig Verständnis.4 Jeder Mensch ist persönlich
dazu aufgerufen, durch tugendhafte Lebensführung die Seele aus dem
Grab des irdischen Leibes zu befreien,5 und jeder Mensch hat durch
seine gottesebenbildliche Seelensubstanz die Anlagen dazu. Es liegt in
seiner Entscheidungsfreiheit, dem Aufruf Christi, „Ihr sollt
vollkommen sein, wie es euch euer himmlischer Vater ist“, 6 Folge zu
leisten oder sich zu verweigern.
In dem Menschen sind ja offensichtlich auch die Anzeichen
(indicia) des göttlichen Bildes zu erkennen, nicht in der
vergänglichen körperlichen Gestalt, sondern in des Geistes
Klugheit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit,
Weisheit, Bildung, kurz in dem ganzen Reigen der Tugenden,
die in Gott wesenhaft sind, im Menschen aber durch sein
Streben und durch Nachahmung Gottes vorhanden sein
können.7
Angesprochen wird der Mensch am deutlichsten in der göttlichen
Selbstoffenbarung der Heiligen Schrift. Die Bibel ist für Origenes
daher ein Buch voller Mysterien, deren Bedeutung erst hervortritt,
wenn sich der Leser bemüht, sie hinsichtlich seiner Geistnatur zu
1
[[De princ. III,6,6 >> Origen:De princ. 3.6.6]], Görgemanns/Karpp 659.
2
[[De princ. III,6,3 >> Origen:De princ. 3.6.3]]; [[III,6,6 >> Origen:De princ.
3.6.6]].
3
[[De princ. III,6,6 >> Origen:De princ. 3.6.6]].
4
„Auch dies ist in der kirchlichen Verkündigung festgelegt, daß jede
vernünftige Seele begabt ist mit der Freiheit der Entscheidung und des
Willens.“ De princ. I, Praef. 5, Görgemanns/Karpp 91-93; vgl. [[De princ.
II,1,2 >> Origen:De princ. 2.1.2]]. Vgl. den aufwendigen Traktat über die
Willensfreiheit in De princ. III,1, der in Nr. 7-11,17-24 eine beeindruckende
Neudeutung der klassischen Paulusstelle Röm 9,16-21 enthält.
5
„[…] denn nur wer sich hier auf Erden im Gutestun sittlich bewährt hat, kehrt
zurück zu der Ruhestätte droben um der Gerechtigkeit seines Handelns willen.“
[[De princ. II,8,3 >> Origen:De princ. 2.8.3]], Görgemanns/Karpp 395.
6
Mt 5,48; vgl. [[De princ. IV,4,10 >> Origen:De princ. 4.4.10]].
7
[[De princ. IV,4,10 >> Origen:De princ. 4.4.10]], Görgemanns/Karpp 819.
84 ABBILDUNGEN

verstehen, also zu einem geistlichen Verständnis (intelligentia


spiritalis)1 zu gelangen. Mit der Technik der Allegorese kann es
gelingen den geistlichen Sinn (λόγος πνευματικός/intellectus spiritalis,
sensus spiritalis)2 hinter dem Buchstaben zu erfassen. Das heißt, die
Askese, verstanden als Aktualisierung der Geistnatur gegen die
Bedürfnisse des irdischen Leibes, ist Voraussetzung und Äquivalent
zum fortschreitenden Verständnis der Bibel, vom buchstäblichen hin
zum geistlichen Sinn. Askese und Hermeneutik sind
korrespondierende Bestandteile des Vervollkommnungsprozesses, in
dem die Seele durch die stete Nachahmung Gottes in ihren Ursprung
zurückkehrt.3 Und nur am Ziel (finis) wird das höchste Gut (summum
bonum) aufbewahrt, das allein der Bestim[[@Page:72]]mung des
Menschen gerecht wird, die vollendete Gottesähnlichkeit.4
Besser als man das selbst tun könnte, faßt Origenes das Paradigma
der individuellen Vervollkommnung samt seinen anthropologischen
Prämissen zusammen:
[Der Schöpfungsbericht] deutet auf nichts anderes hin, als daß
(der Mensch) zwar die Würde des „Bildes“ (imaginis dignitas)
bei der ersten Schöpfung empfing, die Vollendung der
„Ähnlichkeit“ (similitudinis perfectio) ihm aber für das Ende
aufgespart ist; er sollte sich selbst durch eigenen Eifer
(propriae industriae studiis) diese Ähnlichkeit durch
Nachahmung Gottes (dei imitatione) erwerben; nachdem ihm zu
Anfang die Fähigkeit zu Vervollkommnung (possibilitas
perfectionis) kraft der Würde des „Bildes“ gegeben war, sollte
er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die

1
[[De princ. I,3,3 >> Origen:De princ. 1.3.3]]; vgl. [[IV,3,15 >> Origen:De
princ. 4.3.15]].
2
[[De princ. II,4,4 >> Origen:De princ. 2.4.4]]; [[III,5,1 >> Origen:De princ.
3.5.1]]; [[IV,2,2 >> Origen:De princ. 4.2.2]]; [[IV,2,5 >> Origen:De princ.
4.2.5]]; [[IV,3,5 >> Origen:De princ. 4.3.5]].
3
[[De princ. IV,2,1 >> Origen:De princ. 4.2.1]]; [[IV,2,4 >> Origen:De princ.
4.2.4]]; [[IV,2,7 >> Origen:De princ. 4.2.7]]. Vgl. Reventlow, Henning Graf:
Epochen der Bibelauslegung. Bd.1: Vom Alten Testament bis Origenes.
München: Beck, 1990, S.174ff.
4
[[De princ. III,6,1 >> Origen:De princ. 3.6.1]]. Auch von den Zeitgenossen
wurde das persönliche Vollkommenheitsstreben mit dem Ziel der
Gottesähnlichkeit als Mittelpunkt der origenistischen Lehre erkannt.
Glücklicherweise hat sich eine Lobrede bzw. Dankrede – schon die literarische
Form ist bezeichnend – des Origenesschülers Gregorius Thaumaturgus
erhalten, die Origenes selbst als Paradigma des Weisen (παράδειγμα σοφοῦ,
Lobrede c.11; vgl. Völker 1931, S.230) preist. Gregorius gibt als Intention
seiner Rede an: „Ich beabsichtige nämlich, über einen Mann zu sprechen, der
zwar der Erscheinung und dem Ansehen nach ein Mensch ist, aber in den
Augen Derjenigen, die das Hervorragende seines Charakters zu überblicken
vermögen, bereits mit dem höheren Schmucke der Vervollkommnung bis zum
Göttlichen ausgestattet ist.“ Lobrede c.2, Margraf 22.
85 ABBILDUNGEN

vollkommene „Ähnlichkeit“ vollenden.1


Der Fortschritt an Tugend und Erkenntnis kann aber nicht nur
hinsichtlich der Entwicklung des Individuums, sondern – gemäß der
Doppelbedeutung von profectus – auch als geschichtlicher Prozeß
betrachtet werden. Zuerst spricht der Logos im Gesetz, dann in den
Propheten, bis er sich schließlich in Christo inkarniert; 2 so teilt sich
Gott in zunehmend vollendeter Form den Menschen mit. Die
Geschichte (im Sinne von Weltgeschehen) ist ein Erziehungsprozeß,
in dessen Verlauf der göttliche Pädagoge gemäß seinem trinitarischen
Wesen als Vater, Logos und Geist dem Menschengeschlecht zu
wachsender Selbsterkenntnis seiner Geistnatur verhilft, bis es
schließlich vollständig zu ihm zurückgekehrt sein wird.
[…] damit unaufhörlich und untrennbar mit dem, der da ist,
vereinigt seien, die von ihm geschaffen sind: zu diesem Zweck
hat die Weisheit die Aufgabe, die Geschöpfe zu lehren und zu
erziehen und zur Vollkommenheit zu führen (instruere atque
erudire et ad perfectionem perducere) mit der Stärkung und
unaufhörlichen Heiligung des heiligen Geistes, durch die allein
sie Gott fassen können. Wenn uns so durch alle Stufen der
Vervollkommnung hindurch (per singulos quosque profectuum
gradus) das beständige Wirken des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes immer wieder zuteil geworden ist, können wir
endlich mit Mühe – wenn überhaupt je – ein heiliges und
seliges Leben erschauen. Und wenn wir nach langem Ringen zu
ihm gelangt sind, müssen wir darin verharren, ohne daß uns
jemals Überdruß an diesem Gut erfaßt.3 [[@Page:73]]
Die kosmologische Lehre von der Apokatastasis läßt ebenso wie die
Anthropologie des Origenes nur eine universale Sicht der Dinge zu.
Es geht um das Schicksal der Menschheit oder gar der Schöpfung
insgesamt – und um nichts weniger. Die Verwandlung zum geistlichen
Menschen geschieht nicht durch den Glauben an das begegnende
Kerygma, der nur innerhalb der Sakramentsgemeinschaft der Ekklesia
praktiziert werden kann, sondern durch den Tugend- und
Erkenntnisfortschritt des einzelnen, der eingebunden ist in den
geschichtlichen Offenbarungsprozeß. In stoischer Manier wird das
Symbol des Leibes auf die Einheit des Kosmos bezogen.
Wie unser Leib einer ist, aber aus vielen Gliedern
zusammengefügt, und von einer Seele zusammengehalten wird,

1
[[De princ. III,6,1 >> Origen:De princ. 3.6.1]], Görgemanns/Karpp 645-647;
vgl. [[De princ. IV,4,10 >> Origen:De princ. 4.4.10]].
2
De princ. I, Praef. 1; [[II,6,1 >> Origen:De princ. 2.6.1]]. Im Sinne dieser
intellektualistischen Christologie ist der Sohn als Wort und Weisheit Gottes der
Weg (via), auf dem die gefallene Seele zurück zum Vater findet. [[De princ.
I,2,4 >> Origen:De princ. 1.2.4]]; vgl. [[III,5,6 >> Origen:De princ. 3.5.6]].
3
[[De princ. I,3,8 >> Origen:De princ. 1.3.8]], Görgemanns/Karpp 183.
86 ABBILDUNGEN

so muß man, meine ich, auch das Weltganze (universus


mundus) gleichsam als ein ungeheuer großes Lebewesen
(animal quodam immensum atque inmane) ansehen, das wie
von einer Seele von Gottes Kraft und Planung beherrscht wird. 1
Hier stellt sich in der Tat die Frage: Was soll überhaupt noch die
Kirche und was das kirchliche Amt?2 Auch wenn Origenes darauf eine
Antwort wußte, so sind doch die Konflikte vorgezeichnet.
Das Heil ist erstens Sache der Menschheit und zweitens Sache des
einzelnen.3 Die Ekklesia spielt als Heilsgemeinschaft keine Rolle. Sie
bietet als Hüterin der Offenbarung in erster Linie den Raum, innerhalb
dem die Erziehung der Menschen erfolgen kann.4 Origenes’ Tätigkeit
als Lehrer paßt gut in dieses Bild. Er vertritt vor seinen Hörern, von
denen er keineswegs die Mitgliedschaft in der Kirche verlangte, 5 die
ecclesiastica doctrina,6 die höchste Form der Gnosis, die die göttliche
Selbstoffenbarung zuläßt. Der kirchliche Amtsträger dagegen dient
dazu, für Ordnung zu sorgen, wie es nun einmal für jedes Volk der
gefallenen Menschheit nötig ist, auch für das christliche. Wie hier der
grundsätzliche Unterschied zwischen Kirche und Welt aufgehoben ist,
so unterscheidet sich der Bischof hinsichtlich seiner
Ordnungsfunktion nicht wesentlich von einem weltlichen Regenten. 7
Deshalb spricht im Grunde nichts dagegen, daß der weltliche
Herrscher die Christenheit anführt, wenngleich er sich natürlich deren
Ziele zu eigen machen muß. [[@Page:74]]
Hier kommt etwas ganz Grundsätzliches zum Ausdruck: Die
Konzeption der kollektiven leiblichen Auferstehung erlaubt keine
politische Theorie, die sich der diesseitigen Gemeinschaft um ihrer
selbst willen zuwendet. Die immerwährende Vorläufigkeit irdischer
Ordnung verhindert, daß der Mensch auf Erden seinen endgültigen
1
[[De princ. II,1,3 >> Origen:De princ. 2.1.3]]. Görgemanns/Karpp 289; vgl. 1
Kor 12,12.
2
„Es läßt sich nicht verkennen, daß Origenes bei aller Friedfertigkeit und
persönlichen Demut letzten Endes dem Bischofsamt überhaupt nicht die
Bedeutung zubilligen konnte, die es für sich in Anspruch nahm, und zwar aus
prinzipiellen, religiös-theologischen Erwägungen. Das, worauf es letzten Endes
ankommt, die lebendige Erkenntnis und Erleuchtung durch die Wahrheit, läßt
sich seiner Meinung nach nicht amtlich übertragen und beherrschen.“
Campenhausen 1993, S.57.
3
Bei der Exegese von 1 Kor 12 bezieht Origenes die Wirkungen des Heiligen
Geistes auf alle vernünftige Kreatur und nicht auf die Kirche. Das Wort corpus
fällt nicht einmal. [[De princ. I,3,7-8 >> Origen:De princ. 1.3.7-8]]. In [[De
princ. IV,3,7 >> Origen:De princ. 4.3.7]] scheint Origenes den Begriff der
Ekklesia auf die Gesamtheit der Seelen auszudehnen.
4
[[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]].
5
Lies, Lothar: Origenes’ ‚Peri archon‘. Eine undogmatische Dogmatik.
Einführung und Erläuterung. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1992, S.4.
6
De princ. I, Praef. 2.
7
Campenhausen 1993, S.57.
87 ABBILDUNGEN

Standort findet. Im Vordergrund der apostolischen Sorge um das


„Gemeinwohl“ steht die Sammlung der Gläubigen in der
proleptischen Gemeinschaft, die von aller weltlichen Ordnung
unterschieden werden muß und sich erst im Jenseits vollendet. Die
paulinische Terminologie bringt dies zum Ausdruck, wenn nicht die
Ekklesia, wohl aber die jenseitige Vereinigung eine politische
Gemeinschaft (πολίτευμα) genannt wird.
Die Lehre von der Seele gestattet dagegen ein eher ungezwungenes,
ja pragmatisches Verhältnis zur weltlichen Macht. 1 Die Regierung hat
für Frieden, Sicherheit und Ordnung zu sorgen, um sein Heil kümmert
sich jeder zuallererst selbst. Lehrer, Gesetzgeber, Herrscher und Priester
können dafür lediglich günstige Bedingungen schaffen.2 Um der
Erlösung teilhaftig zu werden, ist es prinzipiell nicht nötig, Mitglied in
einer irdischen, also notwendig leiblichen Sondergemeinschaft zu
werden. Es genügt Bürger zu sein, um von den günstigen Verhältnissen
der politischen Gemeinschaft zu profitieren und sie mitzugestalten. So
sucht man in De principiis vergeblich nach einer Ekklesiologie.3
Allerdings werden schon bei Origenes die Gefahren deutlich, die
die neue Nähe zu den weltlichen Autoritäten birgt, wenn gleichzeitig
an der Geschichte als einem göttlich geleiteten Prozeß festgehalten
wird: Die Sphäre irdischer Herrschaft wird re-divinisiert,4 die
bestehende Ordnung, in diesem Fall des römischen Reiches, erhält
ihre göttliche Legitimation:
In seinen [Jesu] Tagen ging die Gerechtigkeit auf und die Fülle
des Friedens; sie begann mit seiner Geburt. Gott bereitete die
Völker auf seine Lehre vor und machte, daß der römische
Kaiser die ganze Welt beherrschte; es sollte nicht mehrere
Reiche geben, sonst wären ja die Völker einander fremd

1
Paulus kennt zwar den Begriff der ψυχή, meint damit aber etwas ganz anderes
als die Menschenseele im klassischen Sinn. Es handelt sich im Gegenteil um
die Summe der diesseitig orientierten Kräfte des Menschen. „Der ψυχικὸς
ἄνθρωπος ist nicht ein Mensch, der nur vitale Bedürfnisse hat, sondern der
Mensch, der in einer auf das Irdische beschränkten Lebensrichtung steht ([[1.
Kr 2,10f. >> Bible:1Kor 2,10f]]).“ Bultmann 1980, S.206.
2
Ganz im aristotelischen Sinne (vgl. [[Nik. Eth. 1095b >> Aristoteles:Aristot.,
Nic. Eth. 1095b]]) steht der βίος πολιτικός, den Origenes als Sorge um das
Gemeinwohl charakterisiert, zwischen dem βίος ἀπολαυστικός, der nur die
körperlichen Gelüste befriedigt, und dem βίος θεωρητικός. [[De princ. II,11,1
>> Origen:De princ. 2.11.1]]. Was gegenüber Aristoteles fehlt, ist der
Bezugsrahmen der Polis.
3
Nach Origenes gehört es zu den Fundamentallehren der apostolischen
Überlieferung, „daß die Seele eigene Substanz und eigenes Leben hat
(substantiam vitamque habens propriam), und daß ihr nach ihren Verdiensten
vergolten werden wird, wenn sie aus dieser Welt geschieden ist.“ De princ. I,
Praef. 5, Gögemanns/Karpp 91. Die paulinische Lehre vom corpus Christi
fehlt.
4
Vgl. Voegelin 1991, S.148ff.
88 ABBILDUNGEN

geblieben und der Vollzug des Auftrages Jesu: „Geht und lehrt
alle Völker,“ den er den Aposteln gab, schwieriger gewesen. Es
ist bekannt, daß die Geburt Jesu unter der Regierung des
Augustus erfolgte, welcher in gewisser Hinsicht die meisten
Völker zu einem einzigen Reich zusammengebracht und
vereinigt hatte.1
[[@Page:75]]Was hier noch apologetisch motiviert sein mag,
entwickelte sich unter den Händen des Origenesverehrers Eusebius
von Caesarea zu einer Reichstheologie, auf die sich das
konstantinische Herrscherhaus stützen konnte, und die noch 1000
Jahre später in Dantes Monarchia Eingang fand.2 Origenes selbst
konnte zu keiner fundierten politischen Theorie gelangen, da die
kosmopolitische Anlage seines Gemeinschaftsbegriffs keinen Bezug
auf konkrete Gesellschaften zuläßt. Wie das obige Zitat erkennen läßt,
erhält das Imperium nur insofern eine Vorrangstellung unter den
weltlichen Ordnungsformen, als es der Kosmopolis einen irdischen
Raum zu geben sucht.
Um noch einmal auf den Märtyrer zurückzukommen: Auch seinen
himmlischen Lohn darf man sich nicht materiell vorstellen. Vielmehr
wird seine Belohnung eher einem Philosophen gerecht. Sie besteht in
der totalen Erkenntnis der himmlischen Schau,3 im Empfang des
„ewigen Evangeliums“, des „immer neuen Testaments“ zu dem das
Gesetz und Christus hinführen.4 Hinsichtlich dieses Ziels, das der
ganzen Menschheit gesteckt ist, bilden die Märtyrer eine Avantgarde,
die schon jetzt verwirklicht, was in der Apokatastasis allgemein wird.
Sie haben den Leib verlassen und partizipieren als reine Geistnaturen
an der jenseitigen Glückseligkeit. So dienen sie der Erbauung der
Zurückgebliebenen und halten ihnen ihr himmlisches Ziel vor Augen.5
Hundert Jahre später gibt es kaum mehr Gelegenheit zum
Martyrium, so repräsentiert schon im Spätwerk des Eusebius ein
anderer Stand die Avantgarde der fortschreitenden Vernunftnatur, die
Mönche. Eusebius zitierend schreibt Alfred Adam:
1
[[C. Cels. II,30 >> Origen:Cont. Cels. 2.30]], Röhm I,207.
2
Monarchia II,x,4ff.
3
„Was zögern wir darum und tragen Bedenken, den uns hinderlichen
verweslichen Leib, der die Seele beschwert und den vieldenkenden Geist
niederdrückt, die irdische Hütte, zu verlassen, uns loszumachen von den
Fesseln und fortzusegeln aus den Wogen von Fleisch und Blut, um mit Christo
Jesu die der Seligkeit eigene Ruhe zu genießen, wo wir das ganz und
vollkommen lebendige Wort selber schauen, von ihm genährt werden, seine
überaus mannigfaltige Weisheit erfassen, von der Wahrheit selber gebildet und
im wahren und unvergänglichen Lichte der Erkenntnis geistig erleuchtet
werden […]?“ [[Exh. ad mart. 47 >> Origen:On Mart. 7.47]], Kohlhofer 331.
4
[[De princ. III,8 >> Origen:De princ. 3.8]]; [[IV3,13 >> Origen:De princ.
4.3.13]]; vgl. Offb 14,6; [[Hebr 9,15 >> Bible:Heb 9,15]]; [[12,24 >>
Bible:Heb 12,24]].
5
[[Exh. ad mart. 45 >> Origen:On Mart. 6.45]], Kohlhofer 323.
89 ABBILDUNGEN

[…] „die oberste Ordnung derer, die in Christus voranstreben ist


die der μοναχοί“. Die προκοπή ist der umfassende Begriff, das
Voranstreben zum Himmel, zur αφθαρςία, und innerhalb der Schar,
die das übt, sind die μοναχοί am weitesten voran, sie stehen an der
Spitze der zum Himmel vordringenden Ecclesia militans.1
Aus der Verwirklichung individueller Vollkommenheit einerseits und
der allgemeinen Rückwendung in der Apokatastasis andererseits
ergibt sich eine Spannung, die Origenes – wie bereits angedeutet –
löst, indem er das Eschaton differenziert. Am Ende wird zwar die
Einheit der Geistwelt wiederhergestellt sein, aber innerhalb dieser
Einheit gibt es eine Hierarchie, in der alle Vernunftwesen den Rang
einnehmen, den sie ihren freien Willensentscheidungen zu verdanken
haben. [[@Page:76]]
Wenn sie aber aus eigener Schuld nicht wachsam auf sich selbst
achten, so kommt es zu einem Fall, früher oder später und in
größerem oder geringerem Maße. Denn auf Grund dieser
Schuld, durch göttliches Gericht, das den eigenen Bewegungen
eines jeden, je nachdem sie besser oder schlechter sind, die
verdiente Folge zumißt, wird der eine in der kommenden
Weltordnung den Rang eines „Engels“, die Macht eines
„Fürstentums“, die „Gewalt“ über andere, einen „Thron“ über
Untertanen oder die „Herrschaft“ über Sklaven erhalten. 2
Bei diesem „Ende“ handelt es sich nicht um ein endgültiges Eschaton,
das mit dem zweiten und ewigen Aion der Apokalyptiker vergleichbar
wäre, sondern lediglich um den Scheitelpunkt des zyklischen
Weltgeschehens, einer Startlinie (repagula), von der aus die Seelen in
ein neues Rennen entlassen werden – freilich mit den
unterschiedlichen Startbedingungen, die sich aus den Verdiensten des
vergangenen Aions ergeben.3 Da nach Origenes die Willensfreiheit
1
Adam, Alfred: Grundbegriffe des Mönchtums in sprachlicher Hinsicht. In:
ZKG 65 (1953/54), S.209-239, S.214. Das Eusebius-Zitat stammt aus dem
Psalmenkommentar, einem der ersten Texte, in dem das Wort μοναχός in einem
christlichen Kontext begegnet.
2
[[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]], Görgemanns/Karpp 221.
3
[[De princ. I,7,5 >> Origen:De princ. 1.7.5]]; [[II,3,4 >> Origen:De princ.
2.3.4]]. Ganz offensichtlich vertrat Origenes die Lehre von der
Seelenwanderung, welche in der Überarbeitung des Rufinus kaum noch
erkennbar ist. Vgl. [[De princ. I,8,4 >> Origen:De princ. 1.8.4]] mit Anm.15 in
Görgemanns/Karpp 263 und III,6,3. So überliefert es auch Gregor von Nyssa,
dem noch der griechische Urtext vorlag. De princ. I,8, Anhang II, Nr.2. Nach
der Darstellung des Hieronymus nahm Origenes unendlich viele Welten an.
[[De princ. II,3,1-2 >> Origen:De princ. 2.3.1-2]], mit Anm.2 in
Görgemanns/Karpp 299; vgl. [[De princ. III,5,3 >> Origen:De princ. 3.5.3]].
Wiederum nach Hieronymus und im Gegensatz zum Text des Rufinus hielt er
es gar für möglich, daß Christus jedesmal Passion und Kreuzigung erleidet.
[[De princ. II,3,5 >> Origen:De princ. 2.3.5]], mit Anm.12 in
Görgemanns/Karpp 313. An dieser Stelle spielt Origenes in einer zunehmend
90 ABBILDUNGEN

der Geister immer bestehen bleibt, und die Ungleichheit in der


himmlischen Ordnung einen Anreiz zur Unzufriedenheit bietet, ist
jederzeit ein Fall möglich, mit dem das kosmische Geschehen in einen
neuen Zyklus tritt.
Denn zweifellos wird man feststellen, daß ihr [der Welt] Ende
noch immer mit viel Unterschiedlichkeit verbunden ist, und
diese Unterschiedlichkeit am Ende dieser Welt wird wieder
Gründe und Anlässe geben für die Mannigfaltigkeit in einer
anderen Welt, die nach dieser kommt, so daß das Ende dieser
Welt der Anfang einer künftigen sein wird.1 [[@Page:77]]

Anachoresis
Nach dem Bericht des Athanasius stammte der Ägypter Antonius aus
einem vornehmen Haus und genoß eine christliche Erziehung. 2 Daß er
schon als Kind eine Aversion gegen jede Art schulischer Bildung
gezeigt haben soll, ist angesichts des Zeugnisses seiner Briefe eher
unwahrscheinlich und mag ebenso wie die Schilderung einer
angeborenen Anspruchslosigkeit dem hagiographischen Bestand der
Vita zugerechnet werden. Interessant ist dagegen die Darstellung der
Bekehrung, der jenseits allen historischen Gehalts grundsätzliche
Bedeutung zukommt: Auf dem Weg zum Gottesdienst, etwa im Jahr
270, vertieft sich Antonius in die Situation der Apostel, die „alles
verließen und dem Heiland nachfolgten“, und der frühen Christen, die
nach dem Bericht der Apostelgeschichte all ihren Besitz hingaben, um
ihre Aussicht auf Erlösung zu verbessern.3 Als er die Lesung hört,
kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, das Wort des Evangeliums
sei an ihn persönlich gerichtet.
phantastischer werdenden Spekulation mit dem Gedanken eines Endzustandes,
der Existenz von Parallelwelten und einem allen Kosmoi übergeordneten
Hyperkosmos. [[De princ. II,3,5-7 >> Origen:De princ. 2.3.5-7]]. Seine
endgültige Meinung bleibt im Dunkeln, vielmehr bietet er dem Leser
verschiedene Lösungen zur Auswahl an. Es scheint, als habe Origenes nach
einem Ausweg aus den problematischen Implikationen seiner Kosmologie
gesucht, die Augustinus später deutlich formulierte: Wenn alles, einschließlich
Himmel und Hölle, einer konsequenten Zyklik unterworfen ist, kann die Seele
keine endgültige Erlösung finden. [[De civ. Dei XII,14 >> Augustine:De civ.
Dei 12.14]]. Und namentlich Origenes wirft der Kirchenvater vor, daß seine
Konzeption ebensowenig die ewige Verdammnis der Verworfenen erlaubt.
[[De civ. Dei XXI,17 >> Augustine:De civ. Dei 21.17]].
1
[[De princ. II,1,3 >> Origen:De princ. 2.1.3]]. 291. Bevor Origenes solches
äußert, hat er (bzw. der Übersetzer Rufinus) sich freilich dadurch abgesichert,
daß er die Abhandlung als bloße disputatio ausgibt.
2
[[Vita Ant. I >> Athanasius:Vit. Ant. 1]].
3
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]], Mertel 690/14f.; vgl. Mt 4,20; Apg
4,35.
91 ABBILDUNGEN

[…] und er hörte, wie der Herr zum Reichen sprach: „Wenn du
vollkommen werden willst, wohlan, verkaufe all deine Habe,
und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“1
Noch während des Gottesdienstes verläßt Antonius die Kirche,
verschenkt den ererbten Familienbesitz und verteilt sein Geld an die
Armen. Lediglich eine kleine Restsumme behält er, um für seine
Schwester sorgen zu können, für die er seit dem frühen Tod der Eltern
verantwortlich ist.2 Man kann den symbolischen Gehalt dieser Passage
kaum hoch genug einschätzen. Der Ägypter erkennt im Evangelium
den Aufruf zur Vollkommenheit, der an den einzelnen ergeht, und
dem allein durch den gemeinsamen Gottesdienst der Ekklesia nicht
konsequent entsprochen werden kann. Damit aber nicht genug:
Wieder besuchte er die Kirche und hörte im Evangelium den
Herrn sprechen: „Sorget euch nicht um das Morgen“; da brachte
er es nicht über sich, länger zu warten, sondern er ging hinaus
und gab auch den Rest den Bedürftigen. Die Schwester
vertraute er bekannten, zuverlässigen Jungfrauen an und brachte
sie in einem Jungfrauenhaus zur Erziehung unter; er selbst
widmete sich von nun an vor seinem Hause der Askese, hatte
acht auf sich und hielt sich strenge.3
Dem eher paradigmatischen als biographischen Bericht des
Athanasius entspricht es, daß der Leser den Fortschritt eines
Menschen vom einfachen Gemeindemitglied zum heroischen
Einzelkämpfer verfolgen kann, welcher gleichzeitig Parallelen zur
historischen Entwicklung der christlichen Askese aufweist. Nachdem
er sich vom Besitz getrennt hat, muß sich Antonius von allen
Blutsbanden lösen, die die Seele in der körper[[@Page:78]]lichen
Welt festhalten. Es darf nichts mehr geben, was ihn noch zur „Sorge
um das Morgen“ veranlaßt und vom „Achten auf sich selbst“ ablenkt.
Eine besondere List des Teufels und der Dämonen, von denen in der
Vita Antonii soviel die Rede ist, besteht darin, dem Asketen nicht nur
erotische Gedanken einzugeben, sondern ihn zugleich an seine Familie
zu erinnern.4 So provozieren sie die körperliche Liebe, die keineswegs
nur die Sexualität meint, sondern die Bindung an das Körperliche
überhaupt. Die körperliche Liebe hält die Seele vom Aufstieg ab, und
der Asket muß ihr die spirituelle Liebe zu seinesgleichen, den
Verwandten im Geiste entgegensetzen.5
1
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]], Mertel 691/15; vgl. Mt 19,21.
2
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]].
3
[[Vita Ant. III >> Athanasius:Vit. Ant. 3]], Mertel 690/15f.; vgl. Mt 6,34; 1
Tim 4,13.16.
4
[[Vita Ant. V >> Athanasius:Vit. Ant. 5]]; [[XXXVI >> Athanasius:Vit. Ant.
36]].
5
In fünf der sieben überlieferten Briefe (Ep. III-VII) versichert Antonius seine
asketischen Adressaten seiner spirituellen, auf die Verehrunges Gott
ausgerichteten Liebe (dilectio spiritus culturae dei), die mit leiblicher Liebe
92 ABBILDUNGEN

Bis hierhin überschreitet Antonius noch nicht die Grenzen der


innergemeindlichen Askese, die zu dieser Zeit übliche Praxis war. Bis
zu welchen Extremen schon die vormonastische Enthaltsamkeit
führen konnte, zeigt beispielhaft die Selbstkastration des Origenes,
auch wenn sie ihn später reute.1 Andererseits verdeutlicht das im
spätantiken Christentum ebenfalls weitverbreitete (und wahrscheinlich
nicht immer ganz zu Unrecht verrufene) Syneisaktentum, das keusche
Zusammenleben von Mann und Frau als „Bruder und Schwester“ in
einer geistlichen Ehe,2 daß es schon vor dem Mönchtum Versuche
gab, spirituelle Liebesbeziehungen aufzubauen, also soziale
Beziehungen auf nichtkörperliche Grundlagen zu stellen.3
Erst nachdem Antonius bei verschiedenen Asketen im Umkreis
seines Heimatdorfes in die „Lehre“ gegangen ist, 4 tut er den
entscheidenden Schritt, der ihn zu einer herausragenden Figur in der
Geschichte des Christentums werden läßt. Athanasius erzählt:
[[@Page:79]]
Er hielt auch folgenden, wirklich seltsamen Gedanken fest: er
wollte den Weg zur Tugend und die Trennung vom Leben, die
nichts zu tun habe. Vgl. [[Vita Ant. 4 >> Athanasius:Vit. Ant. 4]]: Antonius
wird sowohl von einfachen Dorfbewohnern, also der Menschheit als auch von
anderen Asketen, die im Verhältnis der gegenseitigen Liebe stehen, als „Sohn“
und „Bruder“ angenommen.
1
[[Eusebius, Hist. eccl. VI,8,1-2 >> Eusebius:Hist. eccl. 6.8.1-2]]. Eusebius
schildert Origenes auch sonst als beispielhaften Asketen. [[Hist eccl. VI,3,9-12
>> Eusebius:Hist. eccl. 6.3.9-12]].
2
HbKg I, S.339f.
3
Auf eine Darstellung der möglichen außerchristlichen Einflüsse wird
verzichtet, nicht nur weil eine derartige Untersuchung für die Zwecke dieser
Studie zu weit führen würden, sondern auch, weil in der Vergangenheit die
Versuche einer religionsgeschichtlichen Herleitung des christlichen
Mönchtums (etwa aus dem ägyptischen Serapiskult) nur zu wenigen haltbaren
Ergebnissen führten. Die neuere Forschung geht im allgemeinen nicht mehr
davon aus, daß es sich beim Mönchtum um eine christianisierte ursprünglich
heidnische Lebensform handelt, sondern daß sich dasselbe aus der
innergemeindlichen Askese des spätantiken Christentums entwickelt hat. Daß
andere Einflüsse, wie der alexandrinische Platonismus und verschiedene
gnostische Formen eine Rolle spielen, kann ebensowenig bestritten werden.
Vielleicht hat sogar die in Ägypten seit Jahrtausenden verwurzelte
Jenseitsorientierung ihren Teil beigetragen. Auf den intellektuellen Horizont
des „geistigen Vaters“ Origenes wurde ja schon verwiesen. Was insbesondere
die Gnosis angeht, so entspricht die scharfe Unterscheidung zwischen den
diversen „Strömungen“ ohnehin mehr unserem wissenschaftlichen
Differenzierungsanspruch als der Wahrnehmung der Zeitgenossen. „It was only
with the subsequent rise of ecclesiastical power that the distinctions between
orthodoxy and heresy, canonical and uncanonical, sharpened. In the case of
Gnosticism the term is actually more a label put on heterodox groups by eccle-
siastical opponents than a religious movement of its own.“ Rubenson 1990,
S.102.
4
[[Vita Ant. IV >> Athanasius:Vit. Ant. 4]].
93 ABBILDUNGEN

er sich um ihretwillen auferlegte, nicht durch ein zeitliches Maß


messen, sondern durch seine Sehnsucht und seinen Vorsatz. Er
wollte sich nicht erinnern an die Zeit, die schon verstrichen;
nein, wie wenn er täglich die Askese aufs neue begänne, mühte
er sich immer mehr ab um seine Vollendung, indem er
beständig die Worte des Apostels Paulus wiederholte:
„Vergessend das, was da zurück liegt, strebend nach dem, was
vorwärts liegt“; er gedachte des Ausspruches des Propheten
Elias, der sagt: „Es lebt der Herr, vor dem ich heute stehe“.
Denn Antonius beachtete, daß Elias, da er von „heute“ sprach,
die abgelaufene Zeit nicht maß; wie wenn er immer von neuem
den Anfang machte, bemühte er sich, aus sich den zu machen,
als der er vor Gott erscheinen sollte; reinen Herzens und bereit,
seinem Willen zu gehorchen und keinem anderen. […] So
meisterte sich Antonius. Dann wanderte er weg zu Gräbern, die
weit von dem Dorfe lagen.1
Antonius vollzieht den Auszug (ἀναχώρησις) aus der Gemeinde,2 ja aus
der menschlichen Gemeinschaft überhaupt, und bezieht ein Grab, die
Behausung eines Toten. Der wichtige Gedanke, der dem Entschluß
zugrunde liegt, und den Athanasius als „seltsam“ empfand, rechtfertigt
das längere Zitat. Antonius, der sich seit seinem Erweckungserlebnis
in einem Zustand existentieller Unsicherheit befindet, will „reinen
Herzens“ vor Gott treten, das heißt, sich ohne jede Ablenkung des
Urgrundes seines Seins bewußt werden. Jenseits aller Bedingtheit
menschlicher Existenz, jenseits von Körperlichkeit, Sozialität und der
später von Augustinus so sehr beklagten „Zersplitterung in die Zeit“ 3
sucht er nach dem Unbedingten.
Dieses Motiv, das wahrscheinlich hinter allen christlichen und
nicht-christlichen Formen des Mönchtums steht,4 wird näher
1
[[Vita Ant. VI-VII >> Athanasius:Vit. Ant. 6-7]], Mertel 698/22; vgl. Phil
3,13; 1 Kön 18,15.
2
Im vormonastischen Ägypten bedeutet ἀναχώρησις die Flucht vor Steuern und
anderen öffentlichen Verpflichtungen, die den Bewohnern v.a. von der
römischen Verwaltung auferlegt wurden. Rubenson 1990, S.89ff; Dunn 2000,
S.2. Zum monastischen Gebrauch des Begriffs Rubenson 1990, S.166ff.; Dunn
2000, S.8f Auch später war es vor allem bei reicheren Bürgern nicht leicht zu
trennen, ob sie aus religiösen oder steuerlichen Gründen den Mönchshabit
anlegten. Bacht, Heinrich: Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum
frühen Mönchtum. Bd.2: Pachomius – Der Mann und sein Werk. Würzburg:
Echter, 1983, S.15f.
3
[[Conf. XI,29,39 >> Augustine:Conf. 11.29.39]].
4
Es sei angemerkt, daß das Ideal einer anachoretischen Befreiung des Geistes
auch unter westlichen Intellektuellen niemals ganz in Vergessenheit geriet.
Aber oft waren es nur noch die Dichter, die sich von einer Welt abwandten, in
der sie überall nach dem Unbedingten suchten, aber immer nur Dinge fanden
(Novalis). Ein Ausweg schien der Rückgriff auf den (wenn auch nur gedanklich
vollzogenen) Auszug des Mönchs zu sein, obgleich dieser nie völlig
unabhängig von zeitgebundenen Voraussetzungen gedacht werden konnte.
94 ABBILDUNGEN

spezifiziert: Antonius macht die Erfahrung, [[@Page:80]]daß es nicht


genügt, Familie und Besitz zu verlassen, um eine dauerhafte
persönliche Beziehung mit Gott zu beginnen; er muß zusätzlich aus
seinem eigenen Bios heraustreten, aus allem was er in Gesellschaft
war oder glaubte zu sein. Tugend und Trennung vom Leben nennt
Athanasius in einem Atemzug, als ob das eine nicht ohne das andere
denkbar wäre. Und auch hier wird er von Antonius selbst bestätigt:
Die Tugenden sind nicht das Ergebnis einer beständigen Übung,
sondern die unwandelbaren Eigenschaften der zum Himmel
strebenden Seele, die von der körperlichen Existenz des Menschen
lediglich in ihrer Entfaltung behindert werden.1 In letzter Konsequenz
will der Anachoret die Zeitlichkeit überhaupt hinter sich lassen, die
sich in Gestalt von Geschichte, Genealogie und Biographie als
Grundbedingung sozialer Existenz erweist. Dies ist die volle
Bedeutung des Symbols „Anachoresis“.
Nachdem sich Antonius der „Sorge um das Morgen“ entledigt hat,
vernichtet er nun die Vergangenheit, die Erinnerung an sein Leben in
der Körperwelt. Des Anachoreten „Weg zur Tugend“ ist kein
Fortschritt in der Zeit, sondern ein Fortschritt aus der Zeit. Das Ziel ist
die Ewigkeit.
Keiner möge sich rückwärts wenden, wie das Weib Lots,
besonders da der Herr gesagt hat: „Niemand, der die Hand an
den Pflug legt und sich zurückwendet ist tauglich im Reiche des
Himmels.“ Sich umwenden heißt aber nichts anderes als Reue
empfinden und wieder weltlich denken.2

Bereits von Antonius werden die Techniken berichtet, die die Mönche
entwickelten, um aus der Zeitlichkeit der wandelbaren Körperwelt
Rilkes Vom mönchischen Leben („Denn nur dem Einsamen wird offenbart …“)
und Hölderlins Hyperion oder der Eremit von Griechenland sind zwei ganz
unterschiedliche Manifestationen solchen Strebens. Ebenso konnte sich das
Ganze wieder ins Politische wenden, wenn sich die befreiten Geister fanden,
und der neue Geisterbund die Sehnsucht verspürte, einen Platz auf Erden zu
erobern (Hölderlin). Hierher gehört aber auch das Abenteuer des modernen
Eremiten Henry Thoreau, der ganz praktisch daranging, die Schranken zu
durchbrechen, die die neuenglische Gesellschaft vor jeder unbedingten
Erfahrung aufgebaut hatte.
1
„My dear brethren and joint heirs with the saints, not foreign to you are all the
virtues, but they are yours, if you are not under guilt from this fleshly life, but
are manifest before God.“ Ep. IV, Chitty 12. Das entspricht einem
Antoniuswort, das Athanasius überliefert: „Denn die Tugend besteht darin, daß
die Seele das Vernünftige in sich hat, wie es ihrer Natur gemäß ist. […] wenn
wir bleiben wie wir sind, dann verharren wir in der Tugend; wenn wir aber an
das Schlechte denken, werden wir als Böse befunden „ [[Vita Ant. XX >>
Athanasius:Vit. Ant. 20]], Mertel 710/34f.
2
[[Vita Ant. XX >> Athanasius:Vit. Ant. 20]], Mertel 710/34; vgl. Gen 19,26;
Lk 9,62.
95 ABBILDUNGEN

herauszutreten und Gott im Nachvollzug seiner Ewigkeit


näherzukommen. Dazu zählen das immerwährende Gebet und das
Durchbrechen der irdischen Tag- und Nachtzeiten durch Schlafentzug.
Athanasius hebt besonders hervor, daß Antonius forderte, jederzeit
von der Möglichkeit eines plötzlichen Ablebens auszugehen. So kann
jede Sünde, das heißt jede Wertschätzung zeitlicher Güter, wirksam
unterbunden werden.1
Man begegnet, wie schon bei Origenes, dem platonischen
Gedanken der Anamnesis, des Wieder-bewußt-werdens der göttlichen
Herkunft der Seele. Antonius vergißt, um sich seines wahren Seins zu
erinnern. Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis ist das Motiv, das
den „ersten Mönch“ in die Einsamkeit treibt. „For first the rational
man needs to know himself, and then to know the things of God […]“2
Die in der Seinshierarchie tiefer stehenden Chaoskräfte, der
Teufel und die Dä[[@Page:81]]monen, wollen ihn von der
Neuordnung seiner Existenz abhalten,3 indem sie ihm mit physischer
Pein und dem „Geist der Unzucht“ zusetzen. Ihr Ziel ist, ihm seine
Körperlichkeit wieder in Erinnerung zu bringen; doch sie scheitern. 4
Nach bestandener Prüfung erfährt Antonius zum ersten Mal die
göttliche Gegenwart.
[…] als Antonius aufblickte, sah er das Dach geöffnet, und ein
Lichtstrahl kam auf ihn herab. […] Antonius aber merkte die
Hilfe, atmete auf, er wurde von seinen Schmerzen erleichtert
und fragte die Erscheinung: „Wo warst du? Warum bist du
nicht zu Anfang gekommen, um meine Qualen zu beendigen?“
Und eine Stimme ertönte zu ihm: „Antonius, ich war hier, aber
ich wartete, um dein Kämpfen zu sehen. Da du den Streit
bestanden hast, ohne zu unterliegen, werde ich dir immer
hilfreich sein, und ich werde dich berühmt machen allerorten.“
Als er dies hörte, stand er auf und betete, er gewann soviel
Kraft, daß er merkte, jetzt mehr Stärke zu besitzen als vorher. 5
Die symbolische Gewalt der Grabesszene hatte auch tausend Jahre
später nichts von ihrer Faszination verloren, wie Matthias Grünewalds
Isenheimer Altar eindrucksvoll beweist. Ihr eigentlicher Inhalt besteht
darin, daß Gott, nachdem er sich der Ernsthaftigkeit und der
Willensstärke des Antonius versichert hat, der Lebensweise des
Anachoreten seine Zustimmung erteilt. Gott will ihn „berühmt
machen“, das heißt, sein Weg soll zum Paradigma werden für alle, die
1
[[Vita Ant. XIX >> Athanasius:Vit. Ant. 19]]; [[LXXXIX >> Athanasius:Vit.
Ant. 89]]; [[XCI >> Athanasius:Vit. Ant. 91]]. Der Teufel wiederum versucht,
den Asketen an die Länge der Zeit zu erinnern, die ihre Askese noch in
Anspruch nehmen könnte. [[Vita Ant. V >> Athanasius:Vit. Ant. 5]].
2
Ep. VII, Chitty 27.
3
[[Vita Ant. XXXVI >> Athanasius:Vit. Ant. 36]].
4
[[Vita Ant. VIII-IX >> Athanasius:Vit. Ant. 8-9]].
5
[[Vita Ant. X >> Athanasius:Vit. Ant. 10]], Mertel 701/25.
96 ABBILDUNGEN

vollkommen sein wollen und ihrem Ursprung zustreben.


Doch Antonius ist noch lange nicht am Ende dieses Weges
angelangt; begleitet von den Anfechtungen der Dämonen und gestärkt
von himmlischen Visionen, zieht er immer tiefer in die Wüste hinein.1
In einem verlassenen Kastell findet er schließlich die Ruhe, die er zur
Kontemplation braucht. Zwanzig Jahre lang bekommt ihn fast kein
Mensch zu Gesicht, bevor das entscheidende Ereignis geschieht:
Antonius hat sein Ziel erreicht, er ist sich des Grundes und des Ziels
sein Existenz bewußt geworden, so daß ihn kein Zweifel mehr
erschüttern kann. Nun ist es an der Zeit, daß er an die Öffentlichkeit
tritt und sein Wissen in den Dienst der Allgemeinheit stellt, auch wenn
die wartenden Menschen erst gewaltsam nachhelfen müssen.
Da aber wünschten viele gar innig, seine Askese nachzuahmen;
andere von seinen Bekannten erschienen und brachen und
stießen mit Gewalt die Türe auf; da trat Antonius wie aus einem
Heiligtum hervor, eingeweiht in tiefe Geheimnisse und
gottbegeistert.2
Antonius begegnet den Menschen als Heiliger, der durch die lange
Askese das stoische Ideal der Leidenschaftslosigkeit ( ἀπάθεια) zum
persönlichen Dauerzustand gemacht hat. Wie das reine Geistwesen,
das jeder Mensch ursprünglich war, wird er allein von der Vernunft
geleitet – wobei Vernunft im antiken Sinne die Teilhabe der Seele am
[[@Page:82]]Göttlichen meint.3 Die Verklärung des Leibes, die nach
Paulus ein kollektives Ereignis der Aionenwende ist, hat er als
Individuum zum Teil bereits verwirklicht. Damit ist die Prolepsis, die
Vorwegnahme des künftigen Heils, zum Ergebnis eines persönlichen
Reinigungsprozesses (κάθαρσις) geworden, für den ein Mann wie
Antonius weder Kirche noch Sakrament benötigt.4 In einem Brief
schreibt er:
[…] I think that when the whole body is purified, and has re-
ceived the fulness of the Spirit, it has received some portion of
that spiritual body which it is to assume in the resurrection of

1
[[Vita Ant. XI-XIII >> Athanasius:Vit. Ant. 11-13]].
2
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 704/28.
3
„Die Verfassung seines Innern aber war rein; denn weder war er durch den
Mißmut grämlich geworden noch in seiner Freude ausgelassen, auch hatte er
nicht zu kämpfen mit Lachen oder Schüchternheit; denn der Anblick der großen
Menge brachte ihn nicht in Verwirrung, man merkte aber auch nichts von
Freude darüber, daß er von so vielen begrüßt wurde. Er war vielmehr ganz
Ebenmaß, gleichsam geleitet von seiner Überlegung, und sicher in seiner
eigentümlichen Art.“ [[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel
705/29; vgl. XXXV; LXVII.
4
Weder Athanasius noch Antonius gehen auf die Sakramente ein. Es ist ja auch
schwer denkbar, wie der Heilige in den zwanzig Jahren, die er eingeschlossen
im Kastell zubrachte, den Ritus vollzogen haben sollte.
97 ABBILDUNGEN

the just.1
Athanasius und Antonius widersprechen sich nicht, wenngleich
letzterer das Pneuma in den Vordergrund stellt. Der Geist ist wie bei
Paulus das aus Gott hervorgehende Konstituens proleptischer
Existenz, doch ganz im Sinne der origenistischen Lehre steht er
sowohl in Verbindung mit dem einzelnen als auch mit der gesamten
Vernunftnatur (λογική φύσις). In einer „liebenden Partnerschaft“
verleiht das Pneuma dem Verstand des einzelnen die Fähigkeit der
Unterscheidung (δίακρισις) zwischen Leib und Seele, den Maßstab,
den er benötigt, um sich schrittweise selbst zu reinigen.2 So bewirkt
das Pneuma die reuige Umkehr (μετάνοια) des Menschen, welche sich
in einen Fortschrittsprozeß äußert, der je nach individueller Leistung
mehr und mehr zurück zur göttlichen Herrlichkeit führt: „And those
who made most progress, He gave more abundant glory.“3
Die Weisheit und Tugend, die der Asket zum Vorschein bringt,
sind aber keine Geistesgaben, sondern, wie bereits bemerkt, die
ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Seele.4 Ein „weiser
Mann“ – so nennt sich Antonius in seinen Briefen – ist jemand, der
sich seines wahren Wesens bewußt geworden ist. Neben seiner
eigenen Geistsubstanz kann die einzige Quelle seines Wissens (γνῶσις)
nur die Bibel sein, in der der Heilige Geist durch Mittelsmänner die
Selbstoffenbarung des Seinsgrundes zu Papier brachte.5
Selbsterkenntnis und Bibellektüre haben nach Ansicht der Mönche das
[[@Page:83]]gleiche Ziel, ein geistliches Wissen um den Ursprung zu
erlangen, aus dem alles weitere folgt. Jede Lektüre heidnischer Texte
würde den Weisen wieder in weltliches Wissen verstricken. Schon bei
Antonius findet sich deshalb die Philosophiefeindlichkeit, für die die
Geschichte des Mönchtums so viele Beispiele kennt. Und bereits
Origenes hatte damit begonnen, die heidnischen Quellen zu
verschweigen und seine Gedanken nur mehr mit Bibelzitaten zu
belegen. Erst diese Entscheidung machte es nötig, reichlichen
Gebrauch von der Allegorese zu machen sowie weitere komplizierte
1
Ep. I, Chitty 5.
2
„Then the Spirit that is his guide begins to open the eyes of his soul, to give
it also repentance, that it may be purified. The mind also starts to discriminate
between the body and the soul, as it begins to learn from the Spirit how to
purify both by repentance. […] Then the Spirit has a loving partnership with
the mind, because the mind keeps the commandments which the Spirit has de-
livered to it. […] the Spirit assigns the rules of purification […].“ Ep. I, Chitty
2-4.
3
Ep. III, Chitty 16.
4
So ist es zu verstehen, wenn Antonius gegen die Philosophen spricht: „Also
wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft.“ [[Vita Ant.
LXXIII >> Athanasius:Vit. Ant. 73]], Mertel 757/81.
5
Vgl. [[Vita Ant. III >> Athanasius:Vit. Ant. 3]]. Athanasius gibt die Ansicht
des Antonius sicher richtig wieder, wenn er sagt, dieser habe seine Askese nur
aus der Schrift gelernt. [[Vita Ant. XLVI >> Athanasius:Vit. Ant. 46]].
98 ABBILDUNGEN

Exegesetechniken zu entwickeln. Wenn der anamnetische Prozeß und


die in der Heiligen Schrift bezeugte göttliche Selbstoffenbarung zum
gleichen Ziel führen, dann muß jede Erkenntnis, möge sie auf noch so
irdischen Erfahrungen basieren, im biblischen Text wiederzufinden
sein, zumindest in Gestalt eines Mysteriums. 1 Es liegt also im
Selbstverständnis der Mönche begründet, daß sie vielfach dazu
neigen, die außerbiblischen Quellen ihres Denkens zu leugnen und zu
verdrängen.
Zurück zur Epiphanie des Antonius. Ähnlich wie beim
Apokalyptiker, stellt sich auch hier die Frage: Warum bleibt der
Asket, der seinen Weg gefunden hat, nicht in der Dunkelheit seiner
Höhle, bis ihm der Tod die Erlösung von der Körperlichkeit und damit
die letzte Vollendung erlaubt? Die Briefe des Antonius geben darauf
eine Antwort, die eindeutig auf dem Boden der origenistischen Lehre
steht, und die die biblische Erzählung in einen kosmologischen
Gesamtzusammenhang stellt:
Bei der Grundlegung der Welt schloß der Herr mit allen
vernünftigen Kreaturen einen Bund, der, eingepflanzt in die Herzen
(νόμος ἔμφυτος), jedem einzelnen stetig die göttliche Präsenz zu
Bewußtsein brachte. In einem nicht näher spezifizierten Prozeß
verloren die vernünftigen Kreaturen ihr geistliches
Wahrnehmungsvermögen, vergaßen ihren göttlichen Urgrund und
damit sich selbst.2 So begannen sie die Schöpfung dem Schöpfer
vorzuziehen und sich mehr und mehr in die Körperlichkeit zu
verstricken, doch ohne daß sie jemals ihres geistlichen Wesens (οὐςία
νοερά)3 hätten verlustig gehen können. Dies ist der Zustand der
Menschen nach dem Fall, wie ihn auch Origenes beschrieben hat. Die
Geschöpfe haben vergessen, daß sie alle von der Einheit der göttlichen
Geistsubstanz abstammen und führen einen Krieg aller gegen alle. 4
Von hier aus beginnt die Apokatastasis, die von Gott veranlaßte und
geleitete Rückwendung der vernünftigen Kreatur in ihren göttlichen
Ursprung, die auch Antonius als einen stufenförmig verlaufenden
universalgeschichtlichen Fortschrittsprozeß beschreibt.
Schon das jedem vernünftigen Geschöpf eingepflanzte
(Natur-)Gesetz reicht aus, um einige herausragende Menschen –

1
Vgl. Rubenson 1990, S.63f.
2
„[…] their intellectual perception died, so that they were not longer able to
know themselves according to their first condition […].“ Ep. II, Chitty 6; vgl.
[[Vita Ant. XXII >> Athanasius:Vit. Ant. 22]].
3
Daß die Verfasser der koptischen Manuskripte auf die Verwendung
griechischer Begriffe angewiesen waren, läßt den hellenistisch-philosophischen
Hintergrund um so deutlicher hervortreten. Rubenson 1990, S.47.
4
„God is One, that is to say, Unity of the intellectual substance. You should un-
derstand this, beloved, that in all places, where there is no harmony, men draw
wars upon themselves, and raise up lawsuits among themselves.“ Ep. III, Chitty
9.
99 ABBILDUNGEN

gemeint sind wohl die Patriarchen – an ihre Her[[@Page:84]]kunft zu


erinnern. Da aber Gott die Heimkehr aller seiner Geschöpfe wünscht,
bestärkt er die Anamnese durch seinen Erziehungsplan. Zuerst sendet
er Mose, den Gesetzgeber, der, wie man erstaunt liest, bereits die
katholische Kirche begründet. Die Stelle klärt sich, besinnt man sich
auf das Kirchenverständnis des Origenes: Die Ekklesia ist die
Institution, in der die von Gott schrittweise offenbarte Lehre
verkündet wird; sie ist nicht die Auferstehungsgemeinschaft des
corpus Christi.1 So nennt Antonius die Kirche das „Haus der
Wahrheit“, das gegründet wurde, „for He desires that we should be
brought back to our first beginning“.2 Von einem auserwählten Volk
ist gleichfalls nirgendwo die Rede, die Lehre richtet sich vielmehr an
„[the] holy Israelite Children in their intellectual substance“, wie es in
einer von Antonius gerne verwendeten Grußformel heißt. 3 Gemeint ist
keine leibliche Abstammungsgemeinschaft, sondern die Gemeinschaft
der Seelen, die sich ihrer gemeinsamen Herkunft wieder bewußt
geworden sind.
Nun ist es Mose aber nicht vergönnt, das Haus zu vollenden und
es bedarf weiterer Lehrer, die in Gestalt der Propheten auf den
bestehenden Fundamenten weiterbauen. Doch letztlich erweist sich
die Wunde, die der Menschheit bei ihrem Fall zugefügt wurde, als
unheilbar. Gott greift auf dem Höhepunkt seiner Selbstoffenbarung
zum letzten Mittel und sendet seinen eigenen Sohn, den „großen
Arzt“, der die Voraussetzungen schafft für die Rückkehr aller
vernünftigen Kreatur. Bevor dies geklärt wird, sei ein weiterer Blick
auf die Vita Antonii des Athanasius gestattet.
Als Antonius nach zwanzig Jahren Abgeschlossenheit seine
Behausung verläßt, handelt er wie Jesus und wird wie er ein Arzt
genannt: Er heilt Kranke und wirkt als Exorzist; seine größte Kraft
aber liegt in der Predigt. Denn Gott „verlieh unserem Antonius auch
die Freundlichkeit in der Rede“.4 Der Wüstenvater spricht zu den
Menschen, und das überwältigende Ergebnis, das sich unmittelbar im
Anschluß an seine erst Rede zeigt, ist ein politisches:
Dadurch überredete er viele, sich dem Einsiedlerleben zu
widmen. So entstanden jetzt auch im Gebirge Klöster, und die
Wüste wurde zur Stadt (πόλις) gemacht von den Mönchen, die
1
Wie bei Origenes sind die Menschen Glieder des Kosmos, nicht nur der
Ekklesia. So hört der Pneumatiker in der Verkündigung „about the mercy
shown to the whole creation, which in these members was once sick.“ Ep. 1,
Chitty 3. Wo vom Kirchenleib die Rede ist, wird dieser in den kosmologischen
Gesamtzusammenhang gestellt: „[…] He [Christ] himself is the head of all cre-
ation, and His body the Church.“ Ep. VI, Chitty 21; vgl. Kol 1,15-18. Vgl.
Rubenson 1990, S.78f
2
Ep. II, Chitty 6.
3
Ep. V, Chitty 14 vgl. Ep. VI; VII.
4
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 705/29.
100 ABBILDUNGEN

alles verließen, was sie besaßen, und sich einzeichneten für die
Bürgerschaft (πολιτεία) im Himmel.1
Ehe der symbolische Gehalt dieses Ereignisses ermessen werden kann,
stellt sich noch eine andere Frage: Was war der Inhalt seiner Rede?
Athanasius hält sich an dieser Stelle sehr bedeckt und gibt als Kern
der Predigt die Mahnung an, sich der Menschenfreundlichkeit Gottes
zu erinnern, der, wie Paulus sagt, „seinen eigenen Sohn nicht schonte,
[[@Page:85]]sondern ihn hingab für uns alle“. 2 Gerne würde man
etwas mehr erfahren über das Ergebnis einer Meditation, die immerhin
zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm. Und wieder helfen die Briefe des
Heiligen weiter. Sie bringen das von Athanasius angeführte Zitat aus
dem Römerbrief mit einer anderen Paulusstelle in Zusammenhang, die
schon Origenes gerne zitierte,3 den Christushymnus des
Philipperbriefes:
Er war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern entäußerte sich
und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist, als alle Namen,
damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu
und jeder Mund bekennt:
„Jesus Christus ist der Herr“ –
zur Ehre Gottes, des Vaters.4
Die Kenosis, die göttliche Selbstentäußerung, wurde in einer
spezifischen Deutung schon früh zum elementaren Bestandteil der
monastischen Existenzdeutung und begegnet nach Antonius häufig in
den Basistexten des christlichen Mönchtums.5 Im Kontext der
origenistischen Kosmologie verläuft die Interpretation der Stelle
folgendermaßen:
In der letzten Stufe seines Erziehungsplanes sendet Gott seinen
1
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 705/29. Die
Übersetzung habe ich leicht korrigiert.
2
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 705/29; vgl. Röm 8,32.
3
Sh. z.B. De princ. I, Praef. 4; [[I,2,8 >> Origen:De princ. 1.2.8]]; [[II,6,1 >>
Origen:De princ. 2.6.1]].
4
Phil 2,5-11.
5
Sh. z.B. Cassian, Inst. XII,28; [[Reg. Ben. 7,34 >> RuleOfStBenedict:RB
7.34]]; [[Basilii Reg. II,50 >> Basilius:Basil., Regulae morales 2.50]].
101 ABBILDUNGEN

eigenen Sohn. Das heißt, Christus, den Antonius mit Origenes und
dem Johannesevangelium als den präexistenten Logos denkt,
verzichtet auf seine Göttlichkeit und begibt sich in einem kaum
faßbaren Akt der Selbsterniedrigung in die Situation des gefallenen
Menschen; er nimmt die körperliche Gestalt des irdischen Leibes an.
Am meisten zeigt sich Antonius davon beeindruckt, daß es heißt,
Christus sei zum Sklaven geworden. Dies scheint ihm der
entscheidende Punkt zu sein, die Forderung des Evangeliums
schlechthin: So wie Christus sein Fleisch kreuzigte, um wieder
aufzuerstehen, sollen sich alle Menschen in ihrer irdischen Existenz
erniedrigen, um bei der Auferstehung erhöht zu werden. Durch die
Kenosis ist der Heilsweg angezeigt: Christus gab den Menschen ein
Beispiel; sie alle sollen seine Selbsterniedrigung, seinen knechtischen
Gehorsam nachahmen, der ihn selbst den Kreuzestod ertragen ließ.
Von hier aus formt sich das monastische Verständnis von Demut als
zentraler Tugend. [[@Page:86]]
And He became obedient to the Father in everything unto death,
even the death of the cross ([[Phil. 2:8 >> Bible:Phil 2,8]]), that
by His death He might work the resurrection of us all […]. And
indeed we set ourselves free through this advent, we shall be
found disciples of Jesus, and receive in Him the divine inherit-
ance.1
Antonius ruft alle Menschen auf, wie Christus zu Knechten Gottes zu
werden. Denn die Nachahmung des Sohnes wird einst dazu führen,
daß der nach Vollendung Strebende vom Vater adoptiert und selbst
zum Sohn Gottes und Bruder Jesu wird. Er vollzieht gleichsam
spiegelbildlich die Kenosis Christi, entäußert sich seiner
Körperlichkeit und kehrt in die Heimat der Geistwelt zurück.2 Gott
sendet seinerseits das Pneuma, die leitende Kraft, die der
Aufwärtsbewegung des Menschen gnadenhaft entgegenkommt.
Antonius, der beinahe den gesamten paulinischen Symbolapparat
einer neuen, auf die individuelle Eschatologie zugeschnittenen
Bedeutung zuführt, spricht wie der Apostel vom Geist der Adoption.
And each of the rational natures, for which principally the Sa-
viour came, ought to examine his pattern, and know his mind,
and discern between bad and good, so that he may be set free by
His advent. For as many as are set free by His dispensations, are
called the servants of God. And this is not yet perfection, but in
its own time it is righteousness, and it leads to the adoption of
sons. And Jesus our Saviour understood that these were near to

1
Ep. VII, Chitty 26; vgl. [[Vita Ant. LXXIV >> Athanasius:Vit. Ant. 74]].
2
Dementsprechend wird in der Vita Pachomii die Kenosis auf die Mönche
bezogen: „Sie entäußerten sich aller irdischen und vergänglichen Güter, sie
eiferten im Fleische nach dem Wandel der körperlosen Wesen […].“ Vita Pach.
22, Mertel 800/22.
102 ABBILDUNGEN

receiving the Spirit of Adoption, and that they knew Him, hav-
ing been taught by the Holy Spirit; and He said to them,
„Henceforth I will not call you servants, but brothers and
friends: for all things that the Father hath taught me, I have
made known unto you and taught you.“1
Wenn die Mönche durch den Geist der Adoption zu Söhnen Gottes
werden, werden sie zugleich zu Miterben Christi und zu Brüdern –
wie ja nicht zufällig die Selbstbezeichnung der Mönche bis zum
heutigen Tag lautet. Derjenige von ihnen, der durch seine Erfahrung
und charismatische Exzellenz Gott am nächsten steht, wird geistlicher
Vater (pater spiritualis) genannt, Abba, Abt.2 So ist endlich an die
Stelle der leiblichen Familie eine neue Verwandschaftsbeziehung
getreten, eine Gemeinschaft aus Gott, die ganz von der göttlichen
Wirkkraft des Pneumas getragen wird. Anhand von Pauluszitaten faßt
Antonius das monastische Selbstverständnis zusammen:
And they received the spirit of Adoption, and cried out saying,
„We have not received the spirit of bondage again to fear; but
we have received the spirit of adoption, whereby we cry, Abba,
Father.“ ([[Rom. 8:15 >> Bible:Röm 8,15]].) Now therefore, O
God, we know what Thou hast given us – that we are children
and heirs of God, and joint heirs with Christ ([[Rom. 8:17 >>
Bible:Röm 8,17]]).3 [[@Page:87]]
Der Abt, als dessen Urbild seit jeher Antonius verehrt wird, schafft
durch seine Unterweisung Gemeinschaft. Doch handelt es sich bei
dieser Gemeinschaft nicht um die Kirche im Sinne der paulinischen
Ekklesia, und sie hat auch nichts zu tun mit dem Glauben an einen
durch Christi Kreuzestod sich plötzlich eröffnenden kollektiven
Heilsweg – wie ja der Begriff des Glaubens in den Antoniusbriefen
überhaupt keine große Rolle spielt. Die Identifikation mit Christus ist
kein kollektiver Akt, deshalb leidet der Anachoret nicht in
Gemeinschaft, sondern als Eremit in der Einsamkeit der Wüste
(ἐρημία). Es entspricht der individuellen Eschatologie, daß die Präsenz
(παρουία) Christi von den Anachoreten nicht als historisches Ereignis,
sondern als persönliche Begegnung aufgefaßt wird.4 Als einzelner
(μοναχός) ahmt der Eremit Christus nach, wie es ihn der Abt gelehrt
hat.
Offenbarung und Unterweisung enthalten aber nichts, was
außerhalb des Menschen läge und ihm bei-gebracht werden müßte. Sie
1
Ep. II, Chitty 7; vgl. Joh 15,15.
2
Vgl. Bacht 1972, S.214ff.
3
„And they received the spirit of Adoption, and cried out saying, ‚We have not
received the spirit of bondage again to fear; but we have received the spirit of
adoption, whereby we cry, Abba, Father.‘ ([[Rom. 8:15 >> Bible:Röm 8,15]].)
Now therefore, O God, we know what Thou hast given us – that we are chil-
dren and heirs of God, and joint heirs with Christ (Rom. 8:17).“ Ep. II, Chitty 7.
4
Rubenson 1990, S.76f.
103 ABBILDUNGEN

befördern vielmehr die individuelle Selbsterkenntnis, das Wissen um


das eigene Sein und die eigene Herkunft. Insofern ist die spirituelle
Gemeinschaft, die dort in der Wüste manifest wird, dem
Selbstverständnis der Mönche nach lediglich die durch Askese
wiedererinnerte ursprüngliche Gemeinschaft aller Geistnatur. In
diesem Sinne ist der Anachoret seinem Nächsten und der universalen
Menschengemeinschaft verpflichtet, weil er durch sein Beispiel „den
Bruder gewinnt“,1 also am göttlichen Erziehungsprozeß mitwirkt und
die Apokatastasis befördert. Damit muß nicht notwendig eine
empirisch feststellbare Gemeinschaftsbildung einhergehen, es genügt,
daß der Asket sein leuchtendes Vorbild von einem fernen Berg oder
durch die verschlossene Tür seiner Klause erstrahlen läßt. 2 Antonius
mahnt aber, bei aller Sorge um den Nächsten das eigene Heil immer
im Blick zu behalten: „I beseech you, beloved, by the name of Jesus
Christ, do not neglect your own salvation […].“3
Gemeinschaftsgründung im Verständnis der frühen Mönche ist ein
anamnetischer Akt. Was entsteht, ist eine durch die Liebe der
Gleichgesinnten konstituiertes, kosmopolitisches corpus der Geister.
In einer weiteren Exegese des Christushymnus verweist Antonius auf
die universale Bedeutung der Kenosis, die über die individuelle
Nachfolge Christi hinausreicht:
[…] the father of all creatures […] sent forth to us His Only-be-
gotten, who because of our bondage took upon Himself the
form of a bondservant ([[Phil. 2:7 >> Bible:Phil 2,7]]), and gave
Himself up for our sins; for our iniquities humbled Him, and by
his [[@Page:88]]wound we all are healed ([[Isa, 53:5 >>
Bible:Jes 53,5]]); and He gathered us out of all regions, till He
should make resurrection of our hearts from the earth, and teach
us that we are all of one substance, and members one of an-
other. Therefore we ought greatly to love one another. For he
who loves his neighbour, loves God: and he who loves God,
loves his own soul.4

1
„Ein andermal sagte er [Antonius]: ‚Vom Nächsten her kommen uns Leben
und Tod. Gewinnen wir nämlich den Bruder, so gewinnen wir Gott […].‘“ Ap.
Patr., Antonius 9, Miller 16.
2
[[Vita Ant. XLVII >> Athanasius:Vit. Ant. 47]]; [[LXXXIV >>
Athanasius:Vit. Ant. 84]]. „Mögen sie selbst auch im verborgenen leben,
mögen sie auch wünschen, verborgen zu bleiben, der Herr zeigt sie doch allen
wie Leuchten, damit so auch die, welche es hören, erkennen, daß seine Gebote
geeignet sind zur Vollkommenheit und damit sie das eifrige Streben nach dem
Weg zur Tugend gewinnen.“ [[Vita Ant. XCIII >> Athanasius:Vit. Ant. 93]],
Mertel 776/100; vgl. [[XCIV >> Athanasius:Vit. Ant. 94]].
3
Ep. II, Chitty 8.
4
Ep. VI, Chitty 22; vgl. Ep. III, Chitty 10: „And He humbled Himself, and by
his stripes we all were healed. ([[Phil. 2:8 >> Bible:Phil 2,8]]; [[Isa. 53:5 >>
Bible:Jes 53,5]].) And by the word of His power He gathered us out of all
lands, from one end of the world to the other end of the world, and raised up
104 ABBILDUNGEN

Wie sich die Entwicklung aus der Sicht des modernen Historikers
darstellt, sei nur kurz zusammengefaßt:1 Um die charismatischen
Pioniere, die Altväter, bildeten sich bald lose Anachoretenkolonien.
Jeder Mönch übte sich als Individuum in einer abgeschlossenen
Behausung, es gab weder feste Bindungen an andere Personen, noch
verbindliche Vorschriften. Man suchte lediglich die Väter auf, um von
ihnen Worte der Weisung zu erbeten, die im Sinne dieses
anarchischen Lebens lediglich den Charakter eines Rates hatten. In
Gestalt der Apophthegmata Patrum und Cassians Collationes – um
nur die berühmtesten Sammlungen zu nennen – gingen die
Vätersprüche in den literarischen Schatz des Christentums ein.
Innerhalb kürzester Zeit nahmen die Kolonien die Dimension von
Städten an, in die es, selbst wenn man die enthusiastischen
Schätzungen der Zeitgenossen vorsichtig bewertet, Tausende von
Menschen zog. Selbstverständlich kamen mit den Gläubigen, für
deren Erlösungsbedürfnis der Gottesdienst der Gemeinde nicht mehr
ausreichte, auch die Priester in die Wüste und achteten darauf, daß sie
das große Ereignis des massenhaften Vollkommenheitsstrebens nicht
außerhalb der Ekklesia vollzog. Daß sie versuchten, die Anachoreten
durch das Sakrament in die Kirche einzubinden, wurde scheinbar
nirgendwo als Widerspruch empfunden. Im Gegenteil, wie bei
Klemens von Alexandrien, einem weiteren Lieblingsautor der
ägyptischen Anachoreten, zu sehen, wurde das Sakrament als
Voraussetzung und Grundlage der Vollkommenheit gerechnet. Doch
die Weisung zu höherer Vollendung, zur Aktualisierung des
sakramentarisch gewährten Potentials, erteilte der Abt.
Es zeichnet sich ein Konflikt ab, der beinahe die gesamte
Kirchengeschichte durchzieht: Mit dem Erfolg des Mönchtums
entstand neben den Amtscharismatikern die konkurrierende Elite der
Äbte. Im Westen, wo vor allem Gregor der Große das Mönchtum in
die Kirche eingebunden hatte, gelang es vielerorts den Konflikt zu
lösen, indem Mönch und Kleriker in symbiotischen Verhältnissen
oder gar in Personalunion die Gemeinschaft ordneten; 2 doch stellte
sich natürlich von Anfang an die allgemeine Frage nach der
Hierarchie der Lebensformen, hinsichtlich der irdischen Ordnung
ebenso wie hinsichtlich der himmlischen. Angesichts dessen, was
oben über das Problem der Auferstehung gesagt wurde, ist es
bezeichnend, daß in Ägypten, wo die Konflikte in brutale Gewalt
umschlugen, ein Argument eine besondere Rolle spielte: Die Mönche

our hearts from the earth, and taught us that we are members one of another.“
1
Zum folgenden Dunn 2000, S.13ff; Frank 1996, S.20ff.; Knowles, David:
Geschichte des christlichen Mönchtums. Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser.
München: Kindler, 1969, S.10ff.
2
Prinz, Friedrich: Askese und Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum
an der Wiege Europas. München: Beck, 1980, S.19ff.
105 ABBILDUNGEN

[[@Page:89]]glauben nicht an die allgemeine leibliche Auferstehung.1


Das heißt, ihre Eschatologie erfordert nicht die Unterordnung unter
die Kirche. Um das Jahr 400 nahm der Niedergang des ägyptischen
Mönchtums seinen Lauf, als der alexandrinische Bischof Theophilus
befahl, die Mönche wegen ihres (inzwischen als häretisch
qualifizierten) Origenismus aus der Wüste zu vertreiben. 2 Einige der
größten Geister, darunter Johannes Cassian, flohen in den Westen und
trugen dazu bei, daß sich die Spannung zwischen Mönchtum und
Klerus zu einem gesamtkirchlichen Dauerproblem entwickelte.
Die Konflikte seien vorerst zurückgestellt und statt dessen noch
einmal auf den Bericht des Athanasius verwiesen, der das
beeindruckende Ereignis der Massenanachorese als einen
ausschließlich positiven Prozeß erfuhr:
In dem Gebirge lagen die Mönchskolonien wie Zelte voll
göttlicher Chöre, die Psalmen sangen und sich der Lesung der
Schrift befleißigten, die fasteten und beteten, die sich freuten
über die Hoffnung auf die Zukunft, die arbeiteten am Werke der
Barmherzigkeit, die Liebe und Eintracht pflegten untereinander.
Hier gab es niemand, der Unrecht tat oder litt, man wußte nichts
von dem gehässigen Treiben der Steuereinnehmer; es war eine
Schar von Asketen, und die Gedanken aller waren auf eines
allein gerichtet, auf die Tugend.3
Was klingt wie eine Utopie, wie der Traum von der idealen
Gesellschaft, ist letztlich doch etwas völlig anderes; es handelt sich
um die Neuformulierung der proleptischen Gemeinschaft, die
allmählich sichtbare Konturen gewinnt. Zwar nimmt sie wie die
paulinische Konzeption ihren Ausgang von der Christusidee, baut aber
jetzt auf dem monastischen Selbstverständnis auf: In den
Mönchskolonien verhalten sich die Menschen schon jetzt, als ob sie
Engel wären; sie praktizieren die Tugend, wie dies eigentlich nur die
reinen Geistwesen tun.
Es begegnet ein Phänomen, das sich in ähnlicher Gestalt schon bei
der Apokalyptik zeigte. Der Anachoret ist völlig desinteressiert an
jeglicher Form irdischer Gemeinschaft, er zerreißt alle Bindungen, die
er als weltlich empfindet, die Bindung an den Körper des anderen
Geschlechts, an die leibliche Verwandtschaft und an die Gemeinde. In
der Einsamkeit der Wüste stellt er sein Leben schließlich auf eine
1
Chadwick 1968, S.27.
2
HbKg II, S.369.
3
[[Vita Ant. XLIV >> Athanasius:Vit. Ant. 44]], Mertel 731/55. Die
Übersetzung habe ich leicht korrigiert. Wenn Athanasius die Freiheit von
Steuern betont, tut er dies nicht aus materiellem Interesse, sondern weil er die
Freiheit von öffentlichen Verpflichtungen betonen wollte, die für den
Bewohner der ägyptischen Provinz zuallererst in der massiven Besteuerung
durch das Imperium bestanden.
106 ABBILDUNGEN

neue, geistliche Basis. Doch in dem Moment, in dem er seiner


Verantwortung um den allgemeinen Fortschritt der Menschheit
gerecht werden will, seine Höhle verläßt und zu den Menschen
spricht, schafft er Gemeinschaft – vermeintlich nur die Gemeinschaft
der Geistwesen, von der er nicht bezweifelt, daß sie, wenn auch
verborgen, seit der Grundlegung der Welt besteht. Aber zugleich
gründet er doch auch eine ganz irdische Gemeinschaft, indem er
Mönche um sich sammelt und lehrt. Trotz der auf das Individuum
abgestellten Heilslehre kann er der menschlichen Natur nicht Einhalt
gebieten. Wo sich Menschen dauerhaft versammeln, beginnen sie
miteinander zu sprechen und Gemeinschaft [[@Page:90]]zu
konstituieren. Wie bei der Apokalypse kommt auch bei der
Anachorese das politische Wesen des Menschen entgegen der
ursprünglichen Konzeption zum tragen, insofern – um noch einmal
Thomas Mann zu bemühen – gerade Menschenflucht den Flüchtling
ins Menschliche verflicht. Und das bedarf der Deutung.
Athanasius verarbeitete diese Erfahrung und erkannte die
politische Dimension des Ereignisses, wie das oben angeführte Zitat
verdeutlicht: Die Mönche gründen eine Polis, auch wenn sie auf die
himmlische Politeia ausgerichtet ist und selbige nur unvollständig
vorwegnimmt. Mit anderen Worten, auf dem Boden der neuen
anachoretischen Existenzdeutung entstehen die Maßstäbe für eine
Neuordnung des menschlichen Zusammenlebens, eine neue Politik,
die zwar noch nicht himmlisch, aber auch nicht mehr weltlich ist. Wie
die Begriffswahl des Athanasius verdeutlicht, bedarf es nicht erst der
modernen Wissenschaft, um zu erkennen, daß es sich bei der
Entstehung und Entwicklung des Mönchtums um ein politisches
Geschehen handelt.1
Angesichts der universalen Teleologie der spätantiken
Mönchsethik ist es gleichwohl erstaunlich, daß es erst Joachim von
Fiore war, der diesen Prozeß zu Ende dachte, bis zu einem Zustand
der Welt (status mundi), der völlig vom Mönchsstand (ordo
monachorum) dominiert wird. Dies war aber vielleicht nur möglich in
einem historischen Moment, in dem die Ausbreitung und Entwicklung
des Mönchtums nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als ein
rapides, explosionsartiges Geschehen erfahren wurde, das in den
gültigen Kategorien geschichtlicher Wahrnehmung nicht mehr zu
fassen war. Zu Joachims Zeiten war diese Erfahrung wieder möglich.
Das heißt aber keineswegs, daß nicht schon vor Joachim in eine solche
Richtung gedacht wurde, wie das folgende Beispiel verdeutlichen
mag:
Als um das Jahr 394 eine Reisegesellschaft aus Jerusalem

1
Es ist bezeichnend, daß Athanasius auf das schon erwähnte Apostelwort Phil
3,20 anspielt, die einzige Stelle, in der Paulus eine im engeren Sinne politische
Terminologie anbietet.
107 ABBILDUNGEN

aufbrach, um zu den ägyptischen Mönchskolonien zu pilgern, die


inzwischen in aller Welt gerühmt und nachgeahmt wurden, kam sie in
die Stadt Oxyrhynchus. Die Erlebnisse der Pilger sind in der
anonymen Historia monachorum in Aegypto überliefert, die einer der
Mitreisenden verfaßt hat. Dort beschreibt der Autor Oxyrhynchus als
eine Polis, die bereits völlig monastisiert ist. Freilich ist das Bild
idealisiert, aber gerade deshalb ist es interessant, denn eines läßt sich
mit Sicherheit sagen: Der Gedanke an eine Entwicklung, die hin zu
einer völlig nach monastischen Maßstäben ausgerichteten Ordnung
des menschlichen Zusammenlebens führt, ist sehr alt und folgt nicht
sehr spät auf die Entstehung des Mönchtums überhaupt. Und: Eine
solche Ordnung wurde nicht als Utopie, nicht als intellektuelles Spiel
mit einem Nicht-ort begriffen,1 sondern als geschichtliche
Möglichkeit. Es empfiehlt sich, den folgenden Report über
Oxyrhynchus noch einmal zu lesen, nachdem man in den folgenden
Kapiteln Joachims Gemeinschaftskonzeption kennengelernt hat,
welche ja in ihrer figürlichen Fassung nicht nur nach der Anlage eines
Klosters, sondern auch nach dem Bild einer Stadt (ad instar superne
Jerusalem) gestaltet ist.2 [[@Page:91]]
Wir kamen auch nach Oxyrhynchus, einer Stadt in der Thebais.
Ihre Wunder kann man nicht genügend rühmen. Sie ist im
Innern voller Klöster. Vom Gesang der Mönche hallen die
Mauern laut wider. Außen ist die Stadt von weiteren Klöstern
umgeben. So scheint sich um die eine Stadt eine andere zu
legen. Auch in den Tempeln und öffentlichen Gebäuden [!]
wohnten Mönche. Ja, in jedem Winkel der Stadt lebten sie. Die
Stadt ist sehr groß. Deshalb gibt es dort zwölf Kirchen. In ihnen
versammelte sich das Volk. Daneben haben die Mönche ihre
Oratorien in jedem Kloster. Es lebten dort nahezu mehr Mönche
als weltliche Bürger. Selbst bei den Stadttoren und auf den
Tortürmen hielten sie sich auf. Fünftausend Mönche sollen in
dieser Stadt gelebt haben, genausoviel waren es außerhalb. Da
gab es keine Stunde des Tages noch der Nacht, da sie nicht Gott
Verehrung erwiesen hätten. In der Stadt lebte auch kein
irrgläubiger oder heidnischer Bewohner. So konnte der Bischof
auf offener Straße dem Volk den Segen geben. […] Wer kann
geziemend von der Freundlichkeit des Volkes erzählen, als es
uns Fremde sah, da wir über den Marktplatz kamen und sie uns
wie Engel entgegenkamen! Wer vermag die Schar der Mönche
und Jungfrauen zu zählen! Unzählbar ist sie. […] Wir sahen
dort zahlreiche und bedeutende Väter, die verschiedene
Charismen besaßen: die einen im Wort, die anderem im
Wandel, wieder andere im Wunder- und Zeichenwirken. 3
1
Oxyrhynchus war in der Tat ein Zentrum des koptischen Christentums und ist
heute unter dem Namen El-Bahnasa für bedeutende Papyrusfunde bekannt.
2
Lib. Fig., tav.XII.
3
Hist. mon. 5,1-7, Frank 60f.
108 ABBILDUNGEN

Koinonia
Der Mann, der das Werk in Angriff nahm, die proleptische
Gemeinschaft der Mönche zu ordnen, war der Kopte Pachomius
(292?-346). Als er eine Generation nach Antonius, aber noch zu
dessen Lebzeiten, seine ersten Erfahrungen mit der Anachorese
machte, konnte er den Enthusiasmus nicht teilen, der aus dem Werk
des Athanasius spricht.
Wie zu Beginn der Vita Antonii den abendländischen Adressaten
mitgeteilt wird, daß sie in einen Wettstreit gegen die ägyptischen
Mönche getreten sind,1 hatte zuvor schon Origenes den kompetitiven
Charakter der Askese herausgestellt. In diesem Bewußtsein führte die
Befreiung aus der Körperlichkeit zu immer extremeren Formen, für
die die syrischen Säulenheiligen nur das bekannteste Beispiel sind.
Zahllos sind die Klagen über neue Formen der Eitelkeit und des
Stolzes über die eigene Entsagungsleistung.2 Andererseits konnten
nicht alle, die es versuchten, den hohen Zielen der Wüstenväter
gerecht werden. Rückfälle in „weltliche“ Gepflogenheiten waren
nichts Seltenes. Antonius hatte deshalb den Mönchen, denen es in der
Einsamkeit an der Maßregelung durch andere ermangelte, empfohlen,
schriftlich über den Zustand ihres Gewissens Rechenschaft
abzulegen.3 Doch auch bei dieser Art der Buchführung wird es zu
Schlampereien gekommen sein.
Das dritte und wahrscheinlich größte Problem indes bestand darin,
daß die große Masse der Menschen, die um der Erlösung willen den
Vätern in die Wüste gefolgt war, [[@Page:92]]keineswegs das
intellektuelle Niveau der großen Vorbilder teilte, ja oft noch nicht
einmal lesen und schreiben konnten. Was der ungebildete Anachoret
dachte, läßt sich schwer sagen, da es niemandem der Überlieferung
wert schien. Doch ist es bekannt, daß die einfachen Kopten zwar zur
Askese bereit waren, weniger aber dazu, ihre anthropomorphen
Gottesvorstellungen dem schwer zugänglichen Origenismus ihrer
Anführer zu opfern.4
Jedenfalls muß dem ehemaligen Legionär Pachomius der
ausufernde Individualismus und die Disziplinlosigkeit, die er bei
seinem Einzug in die Wüste zu Gesicht bekam, ein Graus gewesen
sein.5 Es ist von Bedeutung, daß es ein (wenn auch
1
Vita Ant., Prolog.
2
Davor warnt schon Antonius, Ep. VI.
3
[[Vita Ant. LV >> Athanasius:Vit. Ant. 55]].
4
Manche Kleriker, denen in der Wüste gefährlich Konkurrenten erwachsen
waren, wußten sich die Widerstandskraft des Mobs zunutze zu machen. Vgl.
Chadwick 1968, S.24ff.
5
Der Erzählung nach lernte Pachomius schon als Anachoret von seinem Lehrer
Palamon, daß die demonstrativ zur Schau gestellte Virtuosität mancher Asketen
109 ABBILDUNGEN

zwangsrekrutierter) Soldat war, der die Domestizierung des


Mönchtums in die Hand nahm.1 Der Ausgangspunkt des Pachomius ist
jedoch nicht der Wunsch nach militärischer Disziplin, sondern die
skeptische Frage, ob denn die Anachoreten tatsächlich der
Verantwortung gegenüber dem Nächsten gerecht werden können, wie
sie von sich behaupteten. Eine koptische Biographie berichtet, daß
Pachomius zu folgendem Ergebnis kam:
He [the anchorite] does not bear the responsibility of other as-
cetics, but neither does he see those who practise exercises – a
thing which would incite him to imitate their actions and the ex-
cellent practices they perform in order to do the same himself.
Well, such a man will not rank high in the kingdom of heaven. 2
Pachomius sah ganz deutlich, daß das anachoretische Konzept,
wonach der Asket seine Verantwortung auch aus der räumlichen
Distanz wahrnehmen kann, nicht funktionieren konnte, solange sich
die spirituelle Gemeinschaft noch in der Sinnenwelt befand: Der
Anachoret sieht seine Mitstreiter nicht; er kann sich weder ein
Beispiel an denen [[@Page:93]]nehmen, die weiter fortgeschritten
sind, noch sich um die Brüder sorgen, die zurückbleiben. Pachomius
folgert: Die gegenseitige Verantwortung der Asketen, die sich aus
ihrer spirituellen Verwandtschaft ergibt, muß in einer diesseitigen
Gemeinschaft (κοινωνία), als gemeinschaftliche Lebensform

etwas Dämonisches ist. Vita Pach. IV.


1
Einen Zusammenhang zwischen der militärischen Ausbildung des Pachomius
und der Anlage seiner Klosterordnung anzunehmen ist nicht naiv, wie H. Bacht
meint (Bacht 1983, S.197, Anm. 420.); naiv ist es vielmehr zu glauben, der
Kopte hätte sich bei der Disziplinierung der Askese nicht an der Ordnung
orientiert, die er kannte. Schon Hieronymus sah, daß Pachomius das Mönchtum
in Zenturien und Dekurien organisiert (Bacht 1983, S.207, Anm. 498). Der
Sachverhalt ist ja auch nicht weiter problematisch. Falsch wäre es nur,
Pachomius den spirituellen Ernst abzusprechen und zu behaupten, das
Militärische sei nicht nur Mittel, sondern Zweck gewesen. Apologetik ist also
völlig fehl am Platz. Im übrigen durchzieht der militia-Gedanke, die
Vorstellung vom gemeinschaftlichen Kampf gegen die Mächte dieser Welt, die
gesamte Geschichte des Mönchtums und fehlt auch in den alten
Überlieferungen über die Pachomianer nicht: „[…] sie stritten tapfer gegen die
unbesiegbaren und unsichtbar kämpfenden Feinde und überwanden ihre Macht
nach den Worten dessen, der da sagt: ;Es gilt den Kampf für uns nicht gegen
Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte, gegen die Herrscher der Finsternis
dieser Welt, gegen die Geister der Schlechtigkeit im Himmel.‘“ Vita Pach. I,
Mertel 800/22; vgl. Eph 6,12. Der Pachomianer Horsiesius fordert: „Laßt uns
als wackere Soldaten (milites) Christi die Mühsal ertragen (2 Tim 2,3),
eingedenk jenes Schriftwortes: Niemand, der für Gott Kriegsdienst leistet
(militans Deo), gibt sich mit den Geschäften dieses Lebens ab […].“ Lib. Ors.
34, Bacht 145; vgl. 2 Tim 2,4.
2
Zit. n. Rousseau, Philip: Pachomius. The Making of a Community in Fourth-
Century Egypt. Berkeley u.a.: University of California Press, 1985, S.99.
110 ABBILDUNGEN

(κοινόβιος) institutionalisiert werden.1


Die erste bedeutsame Maßnahme des Pachomius, derentwegen er
in die Geschichte des Christentums einging, war, daß er etwa im Jahr
320 um eine Mönchskolonie eine Mauer zog und so das erste
christliche Kloster zu gründete. (Mag es auch – wie immer wieder
vermutet wird – schon vorher koinobitische Lebensformen gegeben
haben, das Christentum – und mit ihm Joachim – erinnert sich an
Pachomius.) Die Mauer hatte sicherlich eine Schutzfunktion, doch
ihre symbolische Bedeutung geht weit darüber hinaus. Von nun an
entsagt der werdende Mönch der Welt nicht mehr durch die
Anachoresis, den Auszug aus der Gesellschaft, sondern durch das
Eintreten (ingredi) in das Kloster,2 in einen räumlich abgegrenzten
Bereich. Geographisch gesehen ist „Welt“ alles außerhalb der
Klostermauern. Es ist deshalb kein Wunder, wenn der Pförtner seither
eines der wichtigsten Klosterämter darstellt, das nur
vertrauenswürdige Personen übernehmen dürfen.3 Ebenso ist die
Regelung der Frage, wer wann und wie eintreten darf, eines der
diffizilsten Unternehmen monastischer Gesetzgebung.4 Doch der
Schritt durch die Pforte ist nur der erste. Der zweite ist die Profeß, das
Bekenntnis zu den Regeln der Koinonia und damit die Aufnahme in
die spirituelle Gemeinschaft der fraternitas.5
1
Im folgenden werden die beiden Hauptquellen pachomianischen
Ordnungsdenkens berücksichtigt, die Regel und das Buch des Horsiesius
(Liber Orsiesi). Letzterer war ein Schülers des Pachomius und dessen zweiter
Nachfolger in der Leitung des Klosterverbands. Unter dem Eindruck des
Verfalls, der bald nach dem Tod des Gründers einsetzte, versuchte er, die
Grundsätze seines Lehrers zu neuem Bewußtsein zu erwecken. Daher bringen
seine Formulierungen oft die Prinzipien zum Ausdruck, die in der Regel schon
vorausgesetzt werden. Über ihn: Bacht 1972, S.9-55. Die Pachomiusregel wird
nach der lateinischen Fassung des Hieronymus wiedergegeben, weil diese im
Abendland wirksam wurde und als einzige vollständig überliefert ist. Welche
Bestandteile dieser Regel letztlich von Pachomius selbst stammen und welche
von seinen Nachfolgern, ist hier nicht relevant. Da die Texte in den
entscheidenden Punkten nicht inkonsistent sind, wird man sagen dürfen, daß sie
als sinnvolle Überlieferungseinheit die von Pachomius geschaffene
Ordnungskonzeption wiedergeben. Auskunft über Detailfragen bietet der
ausführliche Kommentar zu beiden Werken in Bacht 1972 und Bacht 1983. Die
Regel und der Liber Orsiesi entfalteten eine gemeinsame Wirkung auf das
Abendland, da der große Reformer Benedikt von Aniane, der im Auftrag der
Karolinger die Vereinheitlichung des Mönchtums in Angriff nahm, beide
Werke sowohl in seinem Codex Regularum vereinte als auch für seine
Concordia Regularum heranzog. Bacht 1972, S.31f.
2
Reg. Pach. Praec. 1.
3
Reg. Pach. Praec. 1. Vgl. Bacht 1983, S.33.
4
Vgl. Reg. Pach. Praec. 52-54.
5
Der Begriff findet sich in Reg. Pach. Praec. 127. Man erhält sogar neue
Vorfahren (maiores), die verstorbenen Klosterobern, deren überlieferten
Weisungen (praecepta) man nach Art der römischen mos maiorum zu achten
hat. Reg. Pach. Praec. 8.
111 ABBILDUNGEN

Politisch gesehen ist „Welt“ alles außerhalb der Mönchsfamilie. 1


Das heißt, Weltli[[@Page:94]]ches kann sich ins Kloster
einschleichen, ohne sogleich die Gemeinschaft zu gefährden, und
Pachomius traf Vorkehrungen, die dieser Annahme Rechnung trugen.2
Ebenso kann sich die Brüderschaft, etwa auf dem Weg zur Ernte,
außerhalb der Klostermauern bewegen, ohne mit der Welt in
Berührung zu kommen.3 Die Mönche sind gehalten, in der Gruppe zu
marschieren und nicht aus dem Glied zu treten.4 Sollte sich die
Notwendigkeit ergeben, mit der Welt zu kommunizieren, so war dies
die Aufgabe des Pförtners, der die Brüder begleitete.5
Es gilt zu betonen: Das Werk des Pachomius ist nicht allein die
Gründung eines Klosters oder eines Klosterverbandes, sondern die
Grundlegung eines Ordnungsparadigmas und einer Lebensweise,
denen sich – dies wird viel zu selten bedacht – in den folgenden
tausend Jahren beinahe alle großen Geister der Christenheit
unterwarfen – und nicht nur sie.6 Die revolutionäre Bedeutung der
pachomianischen Gründung war von Anfang an evident. Eine der
koptischen Viten berichtet, offensichtlich in bewußter Anspielung auf
den Gründungsmythos Roms, daß der Bruder des Pachomius, ein
Vertreter des alten anachoretischen Ideals, die Klostermauern
niederriß, um die befürchtete Umwälzung zu verhindern. 7 Sein im
Gegensatz zu Remus natürlich nicht gewaltsamer (aber wohl
gottgewollter) Tod beseitigt das Problem. Die ganz auf den Himmel
ausgerichtete Polis, von der Athanasius sprach, nimmt unaufhaltsam
konkrete Gestalt an. Aber es bleibt nicht bei einem Kloster, der Zulauf
ist so gewaltig, daß eine Filiation nach der anderen entsteht. Die
Pachomianer breiten sich in der Wüste aus wie eine spirituelle Armee,
1
In Reg. Pach. Praec. 49 ist der Vorgang zusammengefaßt: Der Neuling (rudis)
kommt zur Klosterpforte (accedere ostium monasterii), entsagt der Welt
(renuntiare saeculo) und schließt sich der Bruderschaft an (fratrum agregari
numero). Das ganze ist allerdings mit einer strengen Prüfung verbunden, in der
der Mönch beweisen muß, daß er fähig ist, seine weltliche Familie und seinen
Besitz zu verlassen.
2
Die Mönche dürfen zu bestimmten Anlässen, aber nie allein, das Kloster
verlassen und unter strengen Auflagen Besuch empfangen. Allerdings dürfen
sie nicht von den weltlichen Dingen sprechen (loqui de rebus saecularibus), die
sie gesehen oder gehört haben. Reg. Pach. Praec. 55-57, 122, 143.
3
Reg. Pach. Praec. 58, 59.
4
Reg. Pach. Praec. 65, 131.
5
Reg. Pach. Praec. 59.
6
Schon in der Überlieferung der Regel wird das Paradigmatische der
Gründungsleistung betont. „Praecepta et instituta Patris nostri Pachomii
hominis Dei qui fundavit ab exordio sanctae vitae communionem iuxta
imperium Dei.“ Reg. Pach. Inst., Vorwort, Bacht 226. Horsiesius nennt die
Koinobiten famuli Domini Iesu Christi et filii Pachomii et discipuli
coenobiorum. Lib. Ors. 23, Bacht 121.
7
Bacht 1983, S.23. Die Erzählung ist in der griechischen Überlieferung stark
abgeschwächt. Vita Pach. VI.
112 ABBILDUNGEN

die im besetzen Gebiet ihre Kastelle errichtet. Ihnen folgen unzählige


Klöster, Klosterverbände und Ordensgemeinschaften in aller Welt.
Der Bund der Geistmenschen, so könnte man meinen, unternimmt die
Kolonialisierung der Körperwelt. Er schafft abgeschlossene Oasen,
deren Ordnung nach monastischem Selbstverständnis nicht von dieser
Welt her bestimmt wird, sondern vom Pneuma, der göttlichen
Wirkkraft, die ins Diesseits hereinbricht.1 Doch sollte es nicht bei
einigen Oasen blei[[@Page:95]]ben; das Ziel war immer, die gesamte
Menschheit zur Umkehr zu bewegen.
Selbstverständlich wäre der Übergang von der Eremitenklause
zum Kloster niemals denkbar gewesen, hätte sich Pachomius nicht auf
die Autorität eines göttlichen Auftrages berufen können. Ein
anonymer Biograph erzählt:
Einmal ging er [Pachomius] aus der Zelle eine ziemlich
bedeutende Strecke weg und kam zu einem Dorfe, namens
1
Es wird in dieser Studie völlig darauf verzichtet, den abgegriffenen Terminus
der „Spiritualität“ zu verwenden. Historiker verfassen heute hunderte Bücher
und Aufsätze über die jeweiligen Spiritualitäten der Pachomianer, der
Zisterzienser, der Kartäuser etc., so als ob Spiritualität etwas wäre, was Mönche
neben ihren Regeln und Statuten, ihrer Wirtschaftsordnung, ihrer
Gelehrsamkeit und ihrer Kunst auch noch haben. Spiritualität in diesem Sinne
erscheint als eine Kategorie, der alles zugeordnet wird, was der Wissenschaftler
irgendwie für „religiös“ oder „geistlich“ hält. Selten ist es jemandem
aufgefallen, daß die antiken und mittelalterlichen Mönche selbst niemals von
ihrer „Geistlichkeit“, ihrer spiritualitas sprechen, daß sie wohl eher überrascht
gewesen wären, hätte man ihnen mitgeteilt, daß sie etwas Derartiges besitzen.
Verständige Forscher haben immer erkannt, daß „Spiritualität“, wenn dieser
Begriff irgendeinen Sinn haben soll, nichts anderes sein kann als eine
spezifische Deutung des Daseins, die mit dem zentralen Symbol „Geist“
(spiritus) den Grund der Existenz bezeichnet. Hans Urs von Balthasar versteht
unter Spiritualität „jene praktische oder existentielle Grundhaltung eines
Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen- oder allgemeiner:
ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche
(habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven
Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“ Bernhard Fraling erklärt: „Die
christliche Spiritualität ist die geistgewirkte Weise ganzheitlich gläubiger
Existenz, in der sich das Leben des Geistes Christi in uns in geschichtlich
bedingter Konkretion ausprägt.“ (Beide Zitate wiedergegeben nach Wiechert,
Gabriela: „Die Spiritualität des Deutschen Ordens in seiner mittelalterlichen
Regel“, in: Zenon Hubert Nowak: Die Spiritualität der Ritterorden im
Mittelalter. Torun: Uniwersytet Mikolaja Kopernika 1993, S.131-146, S.133.)
Als eine eigentümliche Deutung menschlicher Existenz jedoch liegt
„Spiritualität“ im engeren Sinne dem christlichen Mönchtum überhaupt und im
weiteren Sinne dem gesamten Christentum zugrunde, wenigstens sofern es sich
im paulinischen Sinne begreift. Alle weiteren Bereiche des mönchischen
Lebens, wie Normen, Wirtschaft, Schrifttum, Kunst etc., sind symbolische
Ausdrucksweisen spiritueller Existenzdeutung. Sie sind nicht Kategorien, die
neben „Spiritualität“ bestehen, sondern Gestaltungsweisen menschlichen
Daseins, die aus „Spiritualität“ folgen.
113 ABBILDUNGEN

Tabennesis; er stand da lange Zeit nach seiner Gewohnheit im


Gebete, da hörte er eine Stimme, die zu ihm sprach:
„Pachomius, bleibe hier und gründe ein Kloster; denn es
werden zu dir viele kommen, die das Heil finden wollen. Diese
leite nach der Vorschrift, die ich dir geben werde.“ Sogleich
erschien ihm nun ein Engel und gab ihm eine Tafel, auf welcher
die ganze Ausbildung derer, die zu ihm kommen sollten,
aufgezeichnet stand. Nach ihr leben die Mönche von
Tabennesis, die sie von ihm empfangen haben, bis auf diese
Zeit […].1
Pachomius empfängt also nicht nur den Auftrag zur Klostergründung,
sondern zugleich die Offenbarung der ersten Mönchsregel. Damit
wird er zum Prototypen des monastischen Gesetzgebers, der in der
Nachfolge Moses den Menschen göttliche Gebote übermittelt. 2 Wenn
Pachomius von Wahrheit (veritas) spricht, so ist die Regel
ge[[@Page:96]]meint.3 Selbstverständlich gingen die Mönche davon
aus, daß alle Anweisungen der Regel in komprimierter Form das
enthielten, was die Bibel als Offenbarung desselben Gottes von
ihnen forderte. Das zeigt sich allein daran, daß Ordensregeln meist
mit biblischen Zitaten reich gespickt sind, und keine von ihnen
versäumt, zu Bibellektüre und Bibelmeditation zu mahnen.
Pachomius war sicherlich nicht ungebildet, die Quellen indes
zeugen weniger von philosophischer Reflexion als von einem
außergewöhnlichen Pragmatismus. Nichtsdestoweniger hat sich bei
ihm der origenistische Wunsch nach persönlicher Erlösung einerseits
und All-Erlösung der Menschheit andererseits erhalten.
„[Pachomius] bat Gott, ihn und alle Menschen zu retten […].“ 4 Der
Erzählung nach empfing er eine „Verheißung von jenen unzähligen
Seelen, die durch ihn zum Heil gelangen sollten“, 5 und ein Engel
teilte ihm mit: „Der Wille Gottes ist es, ihm zu dienen und das
Menschengeschlecht mit ihm zu versöhnen.“ 6 Die Apokatastasis
verstand er wie Origenes und Antonius als anamnetischen Prozeß; er
sah sich daher berufen, seine Schützlinge aus dem Schlaf des
Vergessens zu erwecken. 7 Es besteht kein Grund zur Annahme, daß
1
Vita Pach. V, Mertel 809/31f.
2
„Wohlan denn, liebste Brüder, die ihr das Leben und die Satzungen der
Zönobien befolgt, stehet fest im einmal ergriffenen Entschluß und erfüllt das
Werk Gottes. Dann kann der Vater, der erstmals die Zönobien begründet hat,
im Blick auf uns voll Freude zum Herrn sagen: So wie ich es ihnen überliefert
habe, so leben sie.“ Lib. Ors. 12, Bacht 85f. Vgl. Bacht 1983, S.38. Schon zu
Beginn der Regel wird darauf verwiesen, daß es sich um ein mandatum Dei
handelt. Reg. Pach. Praec., Vorwort; vgl. Iud. 8.
3
Reg. Pach. Inst. 33; Iud. 5, 11.
4
Vita Pach. IV, Mertel 809/31.
5
Vita Pach. VI, Mertel 813/35.
6
Vita Pach. VIII, Mertel 819/41.
7
Lib. Ors. 3, 6, 37f.
114 ABBILDUNGEN

Pachomius das hohe Ziel des Mönchtums aus den Augen verloren
hätte: die Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis der eigenen
Geistnatur.
Im folgenden werden zentrale Gesichtspunkte der
pachomianischen Ordnungskonzeption vorgestellt. Dabei gilt es zu
bedenken, daß die Regel des Ägypters das Vorbild aller christlichen
Kloster- und Ordensverfassungen abgibt, bis hin zu neuzeitlichen
Gründungen wie den Jesuiten. Und: Die Konzeption des Pachomius
lebte nicht nur in der lateinischen Kirche weiter, sondern durch die
Vermittlung des Basilius und anderer auch in Byzanz. Joachim von
Fiore erkannte sehr gut, daß das Mönchtum die spirituelle Einheit
des Christentums besser bewahrt hatte als die Orthodoxien der
Amtskirchen und gedachte ihm die Rolle des Mittlers (mediator)
zwischen Ost und West zu. 1
1. Armut und gemeinschaftliches Eigentum: Während selbst die
strengsten Anachoreten auf ein Minimum an Eigentum (Zelle,
Gewand, Bibel etc.) nicht verzichten konnte, gelang es den
Koinobiten, die Armutsforderung des Evangeliums konsequent zu
verwirklichen. Nur wenn alles Gemeinbesitz ist (cum omnia in
comune sint),2 ist die Nachahmung der Urgemeinde möglich, wie sie
die Apostelgeschichte schildert:
Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele.
Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum,
sondern sie hatten alles gemeinsam. 3
Obwohl Kleidung, Behausung, Nahrung und Bücherbestand den
Standard der Ere[[@Page:97]]miten bei weitem überstiegen, so war
doch das Privateigentum endgültig abgeschafft. 4
2. Uniformität: Wer das Kloster betritt, wird uniformiert. Er zieht
die weltliche Kleidung aus und legt den Mönchshabit (habitus
monachorum) an.5 Damit grenzt sich die geistlich orientierte
Bruderschaft einerseits optisch gegenüber den Weltmenschen
(saeculares homines) ab und betont andererseits die Gleichheit der
Asketen, unabhängig von Rang, Bildung und Fähigkeiten. Bis ins
Detail schreibt die Regel vor, welche Kleidungsstücke bei welcher
Gelegenheit erlaubt sind und auf welche Weise sie zu tragen sind.6
Doch die Uniformierung geht noch weiter: Einzelne

1
Conc. IV,8, fol.48ra, Daniel 351,33-36
2
Lib. Ors. 21.
3
[[Apg. 4,32 >> Bible:Apg 4,32]].
4
Reg. Pach. Praec. 81f.; „Welchen Anlaß haben wir da noch, irgend etwas zu
eigen besitzen zu wollen, und handelte es sich auch nur um einen Strick oder
einen Schuhriemen.“ Lib. Ors. 21, Bacht 107; vgl. Lib. Ors. 26f.
5
Reg. Pach. Praec. 49
6
Reg. Pach. Praec. 2, 98f.
115 ABBILDUNGEN

Körperbewegungen,1 Körperhaltungen2 und der räumliche Abstand


zum Körper des anderen3 sind genau festgelegt. Selbst die Gefühle,
die man bei den Abendgebeten zu empfinden hat, sind vorgegeben. 4
Trotz der vielen Zeit, die der individuellen Meditation zugedacht ist,
ist der Tages- und Wochenablauf genau reguliert. Ein Signalton
(commune signum) sorgt dafür, daß sich die Bruderschaft exakt
gleichzeitig in Bewegung setzt.5 Mit dem Prinzip der Uniformität will
die pachomianische Koinonia jeglichem Indiviualismus
entgegenwirken, an die Stelle asketischer Bravourleistungen soll die
demütige Akzeptanz der Gleichheit treten. Das zeigt sich nicht zuletzt
daran, daß das Fasten, in dem sich die Anachoreten mit großem Eifer
gegenseitig überboten, nun vorrangig eine Sache gemeinschaftlicher
Praxis ist.6
3. Das Regierungssystem: Der Eintritt in das Kloster schneidet
den Mönch von der Ordnung der weltlichen Gesellschaft ab. Nicht
einmal mehr sein irdischer Geburtstag gilt etwas, denn sein geistliches
Alter bemißt sich nach dem Beginn des neuen Lebens. Sein Ort in der
Klosterhierarchie die z.B. in der Gottesdienst- und Tischordnung zum
Ausdruck kommt,7 errechnet sich nach dem Tag der Profeß.8 Der
Verband der pachomianischen Klöster ist nach einer stringenten
Befehlshierarchie geordnet.9 An der Spitze steht der Abt (caput
monasteriorum), der vor allem beim österlichen Generalkapitel seine
Weisungen erteilt.10 Ihm unterstehen die Klosterobern
(principes/patres monasteriorum), denen je ein Stellvertreter zur Seite
gestellt ist. Die Klöster sind jeweils in Häuser (domus) unterteilt, in
denen solche Mönche zusammenwohnen, die jeweils das gleiche
[[@Page:98]]Handwerk ausüben.11 Sie gehorchen einem Hausobern
(praepositus domus), der ebenfalls einen Stellvertreter hat.
4. Gehorsam und Verantwortung: Eine große Leistung des
Pachomius war sicherlich, daß er die monastische Tugend der Demut
einer Bedeutung zuführte, die sich in sein Konzept der
gemeinschaftlichen Askese einpaßte. Demut wird nicht länger in der
1
Nach dem Gebet „soll niemand sich verspätet erheben, vielmehr sollen alle
gleichzeitig aufstehen.“ Reg. Pach. Praec. 6, Bacht 83.
2
Reg. Pach. Praec. 87.
3
Reg. Pach. Praec. 95.
4
Reg. Pach. Leg. 10.
5
Reg. Pach. Praec. 90.
6
Reg. Pach. Praec. 115.
7
Reg. Pach. Praec. 13, 29, 49.
8
Reg. Pach. Praef. Hier. 3. Wer die Bruderschaft verläßt und reuig aus der Welt
zurückkehrt, wird behandelt, als sei er neu eingetreten. Reg. Pach. Praec. 136f.
9
Allerdings kennt die Regel ein demokratisches Element, wonach Obere, die
ungerechte Urteile fällen, von einem Rat von heiligen Männern
zurechtgewiesen werden können. Reg. Pach. Iud. 9.
10
Reg. Pach. Praef. Hier. 7.
11
Reg. Pach. Praec. 15.
116 ABBILDUNGEN

einsamen Nachahmung Christi praktiziert, sondern erstens im


widerspruchslosen Gehorsam vor der Regel und den Weisungen der
Obern1 und zweitens in der Verantwortung für die Mitbrüder. Zucht
(disciplina) und Ordnung (ordo) gehören zu den häufigsten Vokabeln
der Pachomiusregel. Die Obern sind davon nicht ausgenommen und
unterstehen ebenso dem Gesetz der Regel. Sie werden zuerst daran
gemessen, wie sie ihrer Verantwortung gerecht werden2 und haften im
Diesseits wie im Jenseits für ihre Untergebenen. 3 Die „Obernspiegel“
des Pachomius und seines Schülers Horsiesius4 verpflichten mit einer
Vielzahl von Anweisungen und Drohungen zur Sorge um den
Tugendfortschritt der Untergebenen. Damit erfährt das Spezifikum
christlicher Ethik, die Forderung, sich dem Anderen hinzugeben und
zugleich nach dem eigenen Heil zu streben, eine eigentümliche
Institutionalisierung. Der Koinobit beansprucht in der Tat, seinen
Nächsten zu lieben wie sich selbst. Nicht nur Weltentsagung und
Armut, sondern auch Gehorsam und Verantwortung sind also gemeint,
wenn Koinobiten beschließen, das Kreuz auf sich zu nehmen.5 Mit den
Worten des Hebräerbriefes faßt Horsiesius die Tugenden der Koinonia
zusammen:
Gehorcht euren Vorgesetzten und seid ihnen untertan, denn sie
wachen über eure Seelen und tragen Verantwortung für euch
([[Hbr 13,17 >> Bible:Heb 13,17]]).6
Mit der Neuformulierung der Demut geht ein Wandel des Gottesbildes
einher, der keineswegs als pragmatisch veränderter Überbau
verstanden werden darf, sondern auf der Erfahrung der
1
„Sie sollen sich den Obern unterwerfen, indem sie nach ihrer Rangfolge
(ordo) sitzen, gehen und stehen und miteinander in der Demut wetteifern.“ Reg.
Pach. Leg. 3, Bacht 275. „Seid den Vätern untertan in allem Gehorsam, ohne
Murren und Hintergedanken (vgl. Phil 2,14). Lib. Ors. 19, Bacht 99f.
2
„Alle, denen die Sorge für die Brüder anvertraut ist, sollen sich für die Parusie
des Heilands rüsten und seinen furchterregenden Richterthron.“ Lib. Ors. 10,
Bacht 79. „Auch uns (Obern) wurde von Gott ein Gut anvertraut, nämlich der
Wandel unserer Brüder. Wenn wir uns für sie abmühen dürfen wir den ewigen
Lohn erwarten.“ Lib. Ors. 11, Bacht 83; vgl. Lib. Ors. 40f.
3
Reg. Pach. Inst. 11-13, 17; Iud. 11. „Wenn wegen der Pflichtvergessenheit der
Vorsteher in den Häusern eine Todsünde (vgl. [[Jo 5,16f >> Bible:Joh 5,16f]].)
oder ein schändliches Vergehen vorgekommen ist, dann soll nach der
Bestrafung der Schuldigen auch der Vorsteher für das Vergehen haftbar
gemacht werden.“ Lib. Ors. 16, Bacht 93. „Denn wenn einer durch unsere [der
Obern] Schuld zu Tode kommt, dann wird unsere Seele für seine Seele haften
müssen.“ Lib. Ors. 13, Bacht 89.
4
Reg. Pach. Inst.; Lib. Ors. 7-18.
5
„Jedes einzelne Gebot unseres Vaters (Pachomius) und jener, die uns
unterwiesen haben, wollen wir mit sorgsamem Herzen erwägen. Es kommt ja
darauf an, daß wir nicht nur an Christus glauben, sondern auch für ihn leiden
(Phil 1,29)[…].“ Lib. Ors. 5, Bacht 67.
6
Lib. Ors. 19, Bacht 101. Vgl. Bacht 1983, S.39f.
117 ABBILDUNGEN

anachoretischen Hybris beruht. Solche Auswüchse konnte Gott nicht


gewollt haben. Andererseits ist zu erkennen, daß das Gottesbild der
monastischen [[@Page:99]]Lebensformen mit dem Selbstverständnis
der Äbte, die sich von Gott berufen wußten, korrespondiert. Während
der Gott des Antonius wie der anachoretische Wüstenvater seine
Kinder ermuntert, in freier Willensentscheidung zu ihm
zurückzukehren, fordert der Gott des Pachomius wie der koinobitische
Klosterobere bedingungslosen Gehorsam und droht mit Züchtigung. 1
Die freie Willensentscheidung reduziert sich im wesentlichen auf die
Zustimmung zur Regel, die der Novize beim Eintritt mit einem
Vertrag besiegelt.2 Mit der Vorstellung von der göttlichen Züchtigung
rückt bei den Pachomianern der Gedanke an das Gericht wieder in den
Vordergrund, der bei Origenes und den Anachoreten keine große
Rolle spielt.3 Demut ist daher letztlich nicht die Unterordnung unter
die Weisungen des Abtes und der Regel, sondern eine Folge der
Gottesfurcht.4 Vorausgesetzt wird dabei, daß die Regel offenbartes
Gesetz Gottes ist.5
Man darf nun aber nicht folgern, die pachomianische
Klosterordnung habe das Leben der Mönche ohne Unterlaß einer
unmenschlichen Zucht unterzogen. Der Gründer wollte ja gerade die
Schwachen für das geistliche Leben gewinnen. Daher finden sich
zahlreiche Ausnahmeregeln für Kranke und Alte,6 viele Möglichkeiten
der Wiedergutmachung von Vergehen, und nur in Extremfällen waren
körperliche Strafen vorgesehen.7 Die Ernährung war nicht üppig, aber
besser als es viele aus ihrem früheren Leben gewohnt waren, und
selbst der sprichwörtlichen Naschsucht der Orientalen trug Pachomius
Rechnung.8
5. Bildung: Für das spirituelle Leben ist es unabdingbar, die
Heilige Schrift lesen und über ihre Inhalte meditieren zu können.
Eines der ersten Fähigkeiten, die der „Novize“ deshalb lernen muß, ist

1
„Glückselig der Mensch, der den Herrn fürchtet (Ps 11,1) und den er züchtigt,
um ihn zu bessern, und den er sein Gesetz lehrt (Ps 93,12), damit er in seinen
Satzungen wandle (vgl. Ps 118,32) alle Tage seines Lebens (vgl. Dtn 6,2).“ Lib.
Ors. 3, Bacht 63.
2
Reg. Pach. Praec. 139; Iud. 11.
3
Reg. Pach. Iud. 11.; Lib. Ors. 10f.; 14; 16, 31.
4
Vgl. Rousseau 1985, S.90f., 130ff.
5
„Wenn es Gottes Gebote sind, die er uns durch unseren Vater überliefert hat
und durch deren Befolgung wir zum Himmelreich gelangen können, dann
wollen wir sie auch aus ganzem Herzen erfüllen.“ Lib. Ors. 28, Bacht 135.
6
Z.B. Reg. Pach. Praec.40-45.
7
Reg. Pach. Iud. 4. Daß hier Anweisung gegeben wird, den Delinquenten
außerhalb der Mauern zu verprügeln, bedeutet wohl, daß Gewalt im Kloster zu
vermeiden ist.
8
Alle drei Tage wurden Süßigkeiten (tragematia) verteilt, die man sogar mit in
die Zelle nehmen durfte. Reg. Pach. Praec. 37f.
118 ABBILDUNGEN

lesen (nicht unbedingt auch schreiben).1 Allerdings wollte man keine


intellektuelle Elite heranbilden, die sich über die anderen Brüder
gestellt hätte. Daher werden Bücher streng verwaltet und nur auf
Anfrage für eine begrenzte Zeit herausgegeben.2 Die Unterweisung
des Abtes ist keine freiwillige Sache mehr, wie bei den Anachoreten,
sondern eine Pflichtveranstaltung, in der die Mönche nach ihrem Rang
geordnet den Worten des Haus- oder Klosterobern lauschen und sie
anschließend besprechen.3 [[@Page:100]]
6. Wirtschaft: Die Geschichte der mönchischen Ökonomie beginnt
bereits mit Antonius. Um die Anachorese noch konsequenter
verwirklichen zu können und nicht länger von anderen Menschen
abhängig zu sein, die ihm von Zeit zu Zeit Nahrung brachten, begann
der Wüstenvater mit der Anpflanzung eines Gartens.4 Die
anachoretische Ökonomie ist daher reine Subsistenzwirtschaft, die die
Trennung von der Welt sichert. Nach der Überlieferung der
Apophthegmata entdeckte ebenfalls schon Antonius, daß einfache
Arbeit – die typische Tätigkeit ägyptischer Mönche war
Mattenflechten – weltlichen Ablenkungen und der von allen Mönchen
gefürchteten Melancholie vorbeugt, gleichzeitig aber Meditation
erlaubt.5 Anders jedoch bei den Koinobiten. Die anachoretischen
Motive bleiben zwar erhalten, aber die Arbeit steht nun im Dienst der
Gemeinschaft. Jeder einzelne Mönch wird zur Produktion verpflichtet
und wirkt am Unterhalt der Koinonia und ihrer karitativen Tätigkeit
mit.6 Damit wird der einzelne der Sorge um die Existenz wie der
Pflicht zum Almosengeben enthoben.
Der Grad der Rationalisierung, der aus der pachomianischen
Wirtschaftsordnung ersichtlich wird, ist erstaunlich. Es gibt eine
ausdifferenzierte Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Häusern der
Koinonia,7 und die Verwaltung der gemeinsamen Produktionsmittel
unterliegt einer strengen Reglementierung.8 Die Organisation der
Arbeit wird in die Klosterhierarchie eingepaßt, bis hinauf zur
zentralen Leitungsposition des Abtes, dem beim Generalkapitel die
Buchführung offengelegt werden muß.9 Dabei werden die Grundsätze
der koinobitischen Askese nicht verletzt; niemand soll hinter dem
Plansoll zurückbleiben und niemand soll sich mit seinen Leistungen
vor den anderen hervortun.10 Beim Verkauf der Waren soll nicht auf
1
Reg. Pach. Praec. 140.
2
Reg. Pach. Praec. 101; Iud. 2.
3
Reg. Pach. Praec. 19-21; Reg. Pach. Leg. 12.
4
[[Vita Ant. L >> Athanasius:Vit. Ant. 50]].
5
Ap. Patr. Antonius 1.
6
Reg. Pach. Praec. 5. Vgl. Bacht 1983, S.36, und 124f., Anm. 30.
7
Reg. Pach. Praef. Hier. 6.
8
Reg. Pach. Praec. 23-26, 66; Inst. 5.
9
Reg. Pach. Praec. 23-27.
10
Die Regel spricht von moderatus labor. Reg. Pach. Leg. 3
119 ABBILDUNGEN

Profit geachtet werden, sondern auf einen fairen Preis.1


Da der einzelne Mönch nichts für sich selbst fordern durfte und
alles der Gemeinschaft zugute kam, konnten die Klöster trotz
karitativer Leistungen bald einen Lebensstandard bieten, der den der
einfachen Landbevölkerung überstieg. Die Pachomianer konnten sich
auch an die Feldarbeit in der Umgebung machen, weil sie aus bereits
bekannten Gründen das Kloster verlassen konnten, ohne zugleich die
Koinonia zu verlassen. Die Dynamik, die sich aus der Verbindung von
selbstloser Arbeit mit persönlicher Armut und rationalem
Wirtschaften ergab, sorgte schließlich dafür, daß mit der Ausbreitung
des Koinobitentums halb Europa sowie beachtliche Flächen der
restlichen Welt kultiviert wurden. [[@Page:101]]

Am Ende dieses Kapitels sei noch einmal die pachomianische


Konzeption der proleptischen Gemeinschaft als Koinonia im
Gegensatz zur paulinischen Ekklesia herausgestellt: Die Koinonia hat
wesentlich weniger den Charakter eines Heilskollektivs. Sie wird
nicht als corpus mysticum am Ende des Aions verklärt und ins Jenseits
überführt. Vielmehr entscheidet das Gericht Gottes über die Seelen
der einzelnen, die nicht als Kollektiv, sondern nacheinander in das
Himmelreich eingehen.2 Dort werden sie von Gott gemäß ihren
Leistungen in die himmlische Hierarchie eingeordnet. Und es ist nicht
einmal sicher, daß alle Koinobiten ihr Ziel erreichen. 3 Versager
mußten aber nicht sogleich aus der Koinonia verbannt werden, da es
nicht wie bei Paulus darum ging, das corpus als Tempel Gottes
reinzuhalten. Der Ausschluß aus dem Kloster war lediglich ultima
ratio, um den Fortschritt der Anderen zu schützen.
Die individualistische Grundeinstellung der Anachoreten wurde
von Pachomius keinesfalls ganz aufgegeben, sondern bestimmt die
Ordnung des Klosters bis in die Architektur. Jeder Mönch verbringt
den größten Teil des Tages abgeschlossen in seiner Einzelzelle, wo die
Nachahmung Christi ein persönliches Werk bleibt. Individuelle
Sonderleistungen werden keineswegs verachtet,4 lediglich dem
asketischen Heroentum wird eine Absage erteilt. Vielmehr soll der
Fortgeschrittene seine Fähigkeiten in den Dienst aller stellen. Doch
geht es dabei nicht um das Kollektiv, sondern um den Dienst am
persönlichen Fortschritt des Mitbruders. Mit einem Satz: Die Umkehr
aus dem gefallenen Zustand in die rein geistliche Existenz ist – wie
bei der Anachorese – Sache des einzelnen, doch der einzelne ist durch
Gehorsam und Verantwortung eingebunden in ein von der Regel
1
Vita Pach. XLI.
2
Lib. Ors. 47.
3
Lib. Ors. 22.
4
Reg. Pach. Praec. 79. Vgl. Bacht 1983, S.183, Anm.349f.
120 ABBILDUNGEN

vorgegebenes System gegenseitiger Unterstützung.1 Zum Problem des


Wettkampfes, das zu Beginn dieses Abschnitts auftrat, läßt sich nun
sagen:
Auch wer am Wettkampf teilnimmt, erhält den Siegeskranz nur
dann, wenn er ordnungsgemäß (legitime) gekämpft hat.2
Trotz aller Unterschiede zur Ekklesia trägt die Koinonia die oben
skizzierten Züge der proleptischen Gemeinschaft: Obschon der Geist
Gottes nicht in Beziehung mit der Gemeinschaft, sondern mit dem
einzelnen steht, versteht sich die Koinonia als geistliche Familie, als
Volk Gottes3 und Versammlung von Heiligen (collecta sanctorum),4
in der alle das fleischliche Leben und die fleischlichen
Verwandtschaftsbeziehungen hinter sich gelassen haben und auf die
jenseitige Bürgerschaft (in futuro saeculo civitas nostra) ausgerichtet
sind.5 Die Zugehörigkeit zur Koinonia verspricht den Gläubigen
größere [[@Page:102]]Sicherheit auf dem Weg zum Heil als das
weltliche Leben oder die Anachorese, an der der Durchschnittsmensch
scheitern muß. Horsiesius schreibt über die Regel seines Lehrers:
Betrachten wir die Überlieferungen unseres Vaters [Pachomius]
als eine Leiter, die zum Himmelreich führt. 6
Schon jetzt verwirklicht die Koinonia Merkmale der himmlischen
Gemeinschaft, indem sie eine Gemeinschaft von geistlich orientierten
Wesen sein will, die in vollendeter Eintracht7 ganz nach göttlichen
Gesetzen lebt und den Abt als Stellvertreter Gottes in ihrer Mitte hat. 8
Die Koinonia, die gemeinschaftliche Askese, soll dazu führen, daß
sich die Bruderschaft in der himmlischen Gemeinschaft wiederfindet.
Horsiesius, der sich wie Paulus dessen sehr bewußt war, daß die
Prolepsis erst durch die Heilstat Christi möglich wird, schreibt über
das Selbstverständnis der Koinobiten:

1
Vgl. Lib. Ors. 46.
2
Lib. Ors. 34, Bacht 145; vgl. 2 Tim 2,5.
3
Lib. Ors. 47f., 53.
4
Reg. Pach. Praec. 1.
5
Lib. Ors. 2. „Laßt uns des Herrn eingedenk sein und (der Gedanke an)
Jerusalem steige in unserem Herzen auf (Jr 51,50).“ Lib. Ors. 4, Bacht 65. Die
Abgehobenheit der proleptischen Gemeinschaft zeigt sich vielleicht am
deutlichsten darin, daß die Mönche bisweilen sogar in einer spirituellen
Sprache (lingua mystica, alfabetum spirituale) kommunizieren, die weltliche
Menschen nicht mehr verstehen können. Reg. Pach. Praef. Hier. 9. Die
Sprache, in der einige überlieferte Schriftstücke verfaßt sind, ist trotz vieler
Versuche bis heute nicht entschlüsselt. Vgl. Bacht 1983, S.81, Anm.66.
6
Lib. Ors. 22, Bacht 113; vgl. Gn 28,12; Lib. Ors. 43.
7
Lib. Ors. 23.
8
Denn die Konvente der Mönche sind in Wahrheit das Haus Gottes und der
Weinberg der Heiligen (conciliabula monachorum vere Dei domus est et
sanctorum vinea). Lib. Ors. 28, Bacht 135.
121 ABBILDUNGEN

Da wir nun in den Zönobien zusammenwohnen und


miteinander in gegenseitiger Liebe vereint sind, wollen wir uns
bemühen, daß wir, so wie wir uns hienieden der Gemeinschaft
der heiligen Väter erfreuen durften, auch dereinst an ihnen
Anteil erlangen. Wir haben uns dabei bewußt zu bleiben, daß
das Kreuz die Grundlage unseres Lebens und unserer Lehre ist
und daß wir mit Christus mitleiden müssen (Röm 8,17) und daß
wir begreifen müssen, daß niemand ohne Mühsal und Pein den
Sieg erlangt (vgl. Apg 14,2).1
Pachomius hatte nun ein großes Problem gelöst. Er hatte für die losen
Verbände, die sich in Gestalt der Anachoretenkolonien herausgebildet
hatten, ein institutionelles Programm entworfen und schuf damit die
Möglichkeit eines systematischen Ordnens des asketischen
Zusammenlebens. Doch damit entstand ein neues Problem, das nicht
geringer war. Wie gesehen, verstanden sich die Anachoreten als
spirituelle Gemeinschaft, als wiedererinnerte Gemeinschaft der
Geister, das heißt, sie konnten ihr körperliches Zusammenleben nur
als zufällig, irrelevant oder bestenfalls zweitrangig begreifen.
Pachomius dagegen hatte eine Ordnung gegründet, die mit den
meisten ihrer Normen eine körperliche Gemeinschaft regelte, dabei
aber eine geistliche Gemeinschaft sein wollte.2 Theoretisch ist die
Konzeption einsehbar, bei der praktischen Umsetzung waren die
Enttäuschungen vorprogrammiert: Die klösterliche Kommunität
versteht sich als spiritueller Verband der fraternitas, begegnet sich
aber täglich als körperliche Gemeinschaft mit all ihren menschlichen
Schwächen. Aus dieser permanenten
Defizien[[@Page:103]]zerfahrung entsteht die Spannung, die nicht
nur die zahlreichen Reformen innerhalb des Mönchtums
hervorbrachte,3 sondern, indem die Reform des Mönchtums von
Joachim von Fiore als geschichtlicher Prozeß stetiger Spiritualisierung
erfahren wurde, letztlich auch die Idee des geschichtlichen
Fortschritts. Doch dazu später.
Eine Reihe von Fragen bleibt offen. Und es ist für die Zwecke
dieser Arbeit nicht so wichtig, wie sie von den Zeitgenossen des
Antonius und des Pachomius beantwortet wurden, sondern allein
welcher Lösung sie in der Gesamtkonzeption Joachims von Fiore
zugeführt werden: Welche Lebensweise zeichnet sich durch größere
1
Lib. Ors. 50, Bacht 175f.
2
Horsiesius bezieht die hinsichtlich der Ekklesia gesprochenen Paulusworte auf
die Koinonia: „Ihr lebt nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist (vgl. Röm
8,9).“ Lib. Ors., Bacht 103. Auch der Gedanke der wiedererinnerten
Gemeinschaft wird auf Paulus zurückgeführt: „Daß aber unsere Vereinigung
und die Gemeinschaft (koinonia), die uns verbindet, aus Gott stammt, das hat
uns der Apostel gelehrt […].“ Lib. Ors. 50, Bacht 175.
3
Der erste uns bekannte Reformversuch wurde aufgrund ebendieser Erfahrung
schon wenige Jahre nach dem Tod des Pachomius von Horsiesius
unternommen.
122 ABBILDUNGEN

Vollendung aus, die Anachorese oder die Koinonia? Wie steht der
Mönch zur allgemeinen Kirche, zur Ekklesia (Pachomius nennt den
Begriff kein einziges Mal!)? Wie geht man mit dem wirtschaftlichen
Erfolg und dem zunehmenden Wohlstand der Klöster um? Wie kann
der Anspruch auf geistliche Gemeinschaft von Körperwesen eingelöst
werden? Was bedeutet die Ausdifferenzierung des Christentums in
verschiedene Lebensformen? In Joachims Jahrhundert wurden jene
Fragen angesichts der rasanten Entwicklung des Mönchtums so
aktuell, wie sie es seit der Spätantike nicht mehr waren.
[[@Page:104]]

II. GESCHICHTSDEUTUNG UND

POLITIKBERATUNG

1. Transformationen der Apokalyptik


Einige Ergebnisse des Grundlagenkapitels seien kurz
zusammengefaßt: Die antiken Apokalypsen sind das Ergebnis einer
von mehreren jüdischen Autoren erfahrenen existentiellen Krise.
Diese beruht auf der Erfahrung, daß das Gottesvolk ohne absehbares
Ende sein Dasein unter der Herrschaft fremder Reiche fristen muß.
Das heißt, die Krise resultiert aus dem dauerhaften Verlust der
politischen Gestaltungsmacht sowie der Verzweiflung an der
messianischen Zukunft. Das Symbol der Apokalypse ist Ausdruck
einer in Offenbarungserlebnissen erfahrenen Enthüllung des göttlichen
Plans und bringt in der Krise der überkommenen Geschichtsdeutung
den rettenden Einblick in das universale Erlösungsgeschehen zur
Sprache. Demnach sieht der Plan Gottes für diesen Aion eine
unabänderliche Zeitstruktur vor, innerhalb der die Mächte des Guten
und des Bösen – beide unterliegen dem göttlichen Willen – ihre
Gefechte austragen. Gleichzeitig erlaubt die Einsicht in die Struktur
des Aions dem Apokalyptiker, sich im vorbestimmten Verlauf der
Zeiten zu verorten. Sein Blick bleibt dabei auf das Ende gerichtet, wo
die Kämpfe der widerstreitenden Weltmächte auf einen Höhepunkt
zulaufen und im Finale eines totalen Krieges enden. Der Ausgang des
Endkrieges steht bereits fest, denn keiner der Widersacher kann
letztlich dem Gericht des Herrn entgehen, in dem alles Böse
gemeinsam mit dem verdorbenen Aion untergeht. Die irdischen
Anhänger der himmlischen Partei werden bei der Auferstehung der
123 ABBILDUNGEN

Toten in die göttlich regierte Ordnung des neuen und ewigen


Jerusalem überführt, das sich auf eine neu geschaffene Welt
herabsenkt. Alle politischen Gestaltungen hienieden werden als Werke
des Bösen und Ausdruck seines Unterdrückungswillens angesehen.
Im zweiten Abschnitt war zu sehen, daß die radikale Jenseitigkeit
des Gottesreiches im frühen Christentum aufgebrochen wird, durch
die Predigt Jesu von Nazaret, durch die Interpretation der Person Jesu
in den Evangelien, nicht zuletzt aber durch die spezifische Verbindung
von Christologie und Ekklesiologie in den Briefen des Paulus von
Tarsus. Das Symbol der Ekklesia ist der ordnungs- und
gemeinschaftsstiftende Ausdruck der Erfahrung, daß mit der irdischen
Präsenz Christi das Jenseits ins Diesseits hereingebrochen ist. Für den
Menschen, der dem Evangelium begegnet und die entsprechenden
Konsequenzen zieht, wird es möglich, Glied am Auferstehungsleib
Christi zu werden. Daraus ergibt sich bei Paulus eine funktional
differenzierte Form des gemeinschaftlichen Existierens, die auf die
Ordnung des jenseitigen Politeuma abzielt und sich von diesem her
bestimmt. Dies wurde eine proleptische Gemeinschaft genannt, eine
Gemeinschaft, die sich als vorläufig begreift, im Sinne einer
Vorwegnahme der endgültigen Heilsgemeinschaft im Jenseits.
Es wird deutlich, daß der Symbolismus der Ekklesia von der
Apokalyptik abhängig ist, mit ihr aber nicht länger vereinbart werden
kann. Verkündigung und Kirche sind nunmehr positive Gegebenheiten
diesseits des Jüngsten Gerichts, in ihnen verwirklicht sich bereits die
Transformation der Welt. Der neue Aion wird dann anbrechen, wenn
sich die Ekklesia und das Evangelium über die gesamte Ökumene
ausgedehnt haben, [[@Page:105]]wenn ihr Wachstum vollendet ist.
Doch dieses Wachstum, das Hieronymus in seiner Übersetzung von
Phil 1,12 mit profectus wiedergibt, ist ein rein quantitatives
Wachstum; die Kirche wandelt sich nicht, sie wird größer. Qualitativ
ändert sich nur die gefallene Schöpfung, die durch den von Christus,
dem neuen Adam, begonnenen Prozeß teilweise wiederhergestellt
wird, letztlich aber nicht mehr zu retten ist. Die Erlösung ist erst in
einem Jenseits möglich, das dem zeitlichen Wandel nicht mehr
unterliegt, der einst mit Adams Eigenmächtigkeit seinen Lauf nahm.
Wie ging nun die Gemeinschaft, die sich als Ekklesia deutete, mit
der Offenbarung des Johannes um, welche meist für ein Werk des
gleichnamigen Evangelisten gehalten wurde und nicht zuletzt
deswegen kanonische Autorität beanspruchen konnte? Vor allem nach
dem Ende der Christenverfolgungen sowie den religionspolitischen
Entscheidungen unter Konstantin und Theodosius entstand eine
gewaltige Kluft zwischen der Erfahrungswirklichkeit der
„Reichschristen“ und jener des Sehers. Für die katholische Majorität
war es völlig ausgeschlossen, den Text als heilig zu verehren und
zugleich seine Intention einer radikalen Abwendung von der
diesseitigen Ordnungsform, also vom Imperium, nachzuvollziehen.
124 ABBILDUNGEN

Selbst als der Verfall Westroms offensichtlich wurde, konnte die


katholische Kirche die apokalyptische Gegenwartsdeutung nicht
zulassen, da sie in mehrerlei Hinsicht die symbolische Nachfolge des
Imperiums antrat, die von den Barbarenfürsten nicht geleistet werden
konnte. Das heißt die Kirche beanspruchte zunehmend Autorität als
diesseitige Ordnungsinstanz und konnte als Sakramentsanstalt der
Massen keinen elitären Rigorismus dulden. Lediglich Gemeinden, die
sich als Opposition und als Verfolgte des Imperiums und der
römischen Kirche begriffen, wie die donatistische Kirche in
Nordafrika, konnten die weltabgewandte Tradition der antiken
Apokalyptik bedingt fortsetzen.1
Im Osten des Reiches entbrannte ein Streit um die Kanonisierung
der Johannesoffenbarung, in dessen Verlauf konsequenterweise die
Autorschaft des Evangelisten bestritten wurde.2 Nicht so im Westen.
Dort bediente man sich vor allem exegetischer Mittel, um zu einem
neuen Verhältnis gegenüber diesem Text zu kommen.3 Dies führte zu
einem Prozeß, der die Apokalypse ihres ursprünglichen
Bedeutungsgehaltes entkleidete und „verkirchlichte“. Die
wirkungsreichste Rolle dabei spielte der Kirchenvater Augustinus. 4
1
Faktisch war die donatistische Kirche nicht weniger in weltliche
Angelegenheiten verstrickt. Aber die Gleichsetzung von imperium und
saeculum erlaubte ihr ein anderes Selbstverständnis als den Katholiken. Vgl.
Fredriksen, Paula: „Tyconius and Augustine on the Apocalypse“, in: Richard
K. Emmerson und Bernard McGinn (Hrsg.): The Apocalypse in the Middle
Ages. Ithaca und London: Cornell University Press, 1992, S.20-37, S.21ff.
Markus, R. A.: Saeculum: History and Society in the Theology of St Augustine.
Cambridge: Cambridge University Press, 1970, S.55. Über den theologisch-
politischen Hintergrund der afrikanischen Sezession sh. ebd., S.105ff.
2
Vgl. Campenhausen, Hans Freiherr von: Die Enstehung der christlichen Bibel.
Berlin: Evangelische Verlangsanstalt, 1975, S.273ff. Vgl. [[Eusebius, Hist.
eccl. III,24,18-25,2 >> Eusebius:Hist. eccl. 3.24.18-25.2]].
3
Vgl. Kamlah, Wilhelm: Apokalypse und Geschichtstheologie. Die
mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore. Berlin:
Ebering, 1935, S.70.
4
Augustinus war keineswegs der erste, der eine ekklesiologische „Bezähmung“
der Apokalypse versuchte. Ihm gingen zwei einflußreiche Kommentatoren
voraus, Victorinus von Pettau und der exkommunizierte Donatist Tyconius. Der
Kirchenvater konnte also auf ältere Traditionsbestände zurückgreifen. Wie
schon seit längerem bekannt ist, kann insbesondere der Einfluß des Tyconius
kaum unterschätzt werden. Sein Liber regularum lieferte Augustinus die
exegetischen Mittel, mit denen die Neudeutung der apokalyptischen Symbole
gelingen konnte. Vgl. Pollmann, Karla: Doctrina Christiana. Untersuchungen
zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer
Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana. Freiburg/Schweiz:
Universitätsverlag, 1996, v.a. S.196ff. Die Autorität des Augustinus, der die
Regeln des Tyconius in seinem Werk De doctrina christiana wiedergegeben
hatte, sicherte dem Häretiker langfristigen Einfluß auf die abendländische
Exegese. Weil aber die Apokalypsenkommentare des Victorinus und des
Tyconius stets daran gemessen wurden, ob sie grundsätzlich mit der
125 ABBILDUNGEN

[[@Page:106]]
Augustinus dachte keineswegs in jeder Beziehung „anti-
apokalyptisch“, vielmehr übernahm er in der Nachfolge des Paulus
den apokalyptischen Traditionsbestand, soweit er der Symbolik der
Ekklesia nicht entgegenstand. Dazu gehören der Erbsündenmythos,
die Lehre von einem unwandelbaren Plan Gottes, die Abwertung des
Diesseits zugunsten einer auf das Jenseits gerichteten Eschatologie,
der Universalismus, die Erwartung des Jüngsten Gerichts, die Lehre
von der leiblichen Auferstehung, insgesamt also zentrale Inhalte der
nunmehr christlichen Doktrin. Einige Symbole aber mußten neu
gedeutet werden, wenn sie das katholische Kirchenverständnis nicht
gefährden sollten. Denn diese Gefahr bestand durchaus. In den Jahren
nach der Erstürmung Roms durch die Westgoten unter Alarich (410)
war offenbar geworden, daß die Reichstheologen die
heilsgeschichtliche Verbindung zwischen Imperium und Kirche zu
eng geknüpft hatten, so daß mit dem Untergang des Reiches auch der
Untergang der Kirche zu befürchten stand. Wie Hieronymus sahen
viele Christen das Haupt des Reiches abgeschlagen (Romani imperii
truncatum caput) und das Licht der Erde erloschen (clarissimum
terrarum omnium lumen extinctum).1 Die Erfahrung des
Ausgeliefertseins an die Barbarenvölker ist in gewisser Weise mit der
Erfahrung der jüdischen Apokalyptiker unter Diadochen und Römern
vergleichbar. Denn wenn das Imperium als irdische
Durchsetzungsmacht der Kirche verstanden wurde, bedeutete sein
Untergang, daß die Politik nun von anderen, antichristlichen (oder
mindestens arianischen) Kräften gestaltet wurde. Wiederum konnte
die Welt als Schlachtfeld der widerstreitenden Mächte verstanden
werden, auf welchem dem einzelnen nichts anderes blieb, als am
Glauben festzuhalten und den Blick fort von der Welt ausschließlich
auf das Jenseits zu richten. Zwar war es keineswegs zwingend, daß der
Barbarensturm die gleiche Interpretation zur Folge hatte wie die
Diadochenherrschaft, aber der reiche Traditionsbestand an
apokalyptischer Symbolik bot diese Möglichkeit.
Das politische Hauptwerk des Augustinus, [[De civitate Dei >>
Augustine:De civ. Dei]], vermittelt einen Eindruck davon, wie
zahlreich die „Mißdeutungen“ jener Katastrophe waren, gegen die die
katholische Kirche den Anspruch behaupten mußte, weiterhin als
Ordnungsmacht zu existieren und auch fortan die Leitung der
Gläubigen in der Hand zu behalten. In [[Buch XX >> Augustine:De
civ. Dei 20]] wendet sich der Kirchenvater gegen die neu erblühte
Apokalyptik und verleiht der orthodoxen Deutung der
Geschichtsdeutung des Augustinus zu vereinbaren waren (vgl. Kamlah 1935,
S.9ff.), läßt sich für die Zwecke dieser Arbeit eine Beschränkung auf den
Kirchenvater rechtfertigen.
1
Demandt, Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches
im Urteil der Nachwelt. München: Beck, 1984, S.58.
126 ABBILDUNGEN

Johannesoffenbarung eine meisterhaft durchkomponierte


Grundlegung. [[@Page:107]]
Augustinus beginnt mit einer Erörterung der conditio humana.
Dabei kann er mit den Apokalyptikern soweit übereinkommen, daß
das göttliche Gericht an den Menschen schon unmittelbar nach dem
Sündenfall begonnen hat und den gesamten Aion durchzieht. 1 Er
stimmt ihnen auch darin bei, daß Gott alles irdische Geschehen lenkt
und die Mächte des Bösen nur insoweit ihr Unwesen treiben können,
wie Gott dies zuläßt.2 Allerdings bestreitet der Kirchenvater vehement,
daß dem Menschen irgendein Einblick in die planvolle Anordnung des
irdischen Geschehens möglich ist. Lediglich das Alte Testament
erlaube es, Gottes Wirken in der (israelitischen) Geschichte zu
erkennen. Doch die Christenheit verfüge über keine Offenbarung, die
die Geschehnisse nach dem Auftreten Jesu Christi auf ihre
heilsgeschichtliche Struktur hin durchsichtig machen könnten.
Sicherlich, Augustinus weiß, daß in dieser Welt die civitas Dei und
die auf zeitliche Dinge gerichtete civitas terrena im Streit liegen; aber
welcher Mensch welcher Gemeinschaft angehört, bleibt verborgen.
Und auch das in allem irdischen Geschehen waltende Gericht Gottes
ergibt aus menschlicher Perspektive keinen Sinn:
Denn wir wissen nicht, welches Gottesgericht dem zugrunde
liegt, daß hier ein Guter arm, dort ein Böser reich ist; daß hier
einer sich freut, der, wie wir meinen, wegen seiner
Sittenlosigkeit von Kummer geplagt sein müßte, während dort
ein anderer traurig ist, dem sein löbliches Leben nach unserer
Überzeugung Freude hätte verschaffen sollen. […] Wenn
wenigstens noch in diesem scheinbaren Unsinn (absurditas)
Methode (constantia) wäre, so daß in diesem Leben, in dem der
Mensch nach den Worten des heiligen [[Psalms [144,4] >>
BibleLUTBIB1984:Ps 144,4]] der Nichtigkeit verfallen ist und
wie ein Schatten dahinschwindet, nur die Bösen die
vergänglichen Güter erlangten und nur die Guten solche Übel
erduldeten! […] Nun aber, wo nicht nur Gute im Unglück und
Böse im Glück sich befinden, was ungerecht scheint, sondern
wo es oft genug auch Bösen und Guten gut ergeht, werden die
Gottesgerichte noch unbegreiflicher und seine Wege noch
unerforschlicher.3
Die Grundvoraussetzung jeglicher Apokalyptik, nämlich daß eine
enthüllende Offenbarung dem Menschen ermöglicht, seine Situation
1
„[…] quia et nunc iudicat et ab humani generis initio iudicuit dimittens de pa-
radiso et a ligno uitae separans primos homines peccati magni perpetratores.“
[[De civ. Dei XX,1 >> Augustine:De civ. Dei 20.1]], CClat XLVIII,699,22-25.
2
„[…] nullus daemonum aut hominum agat inique, nisi diuino eodemque iustis-
simo iudicio permittatur.“ [[De civ. Dei XX,1 >> Augustine:De civ. Dei 20.1]],
CClat XLVIII,700,42-43.
3
[[De civ. Dei XX,2 >> Augustine:De civ. Dei 20.2]], Thimme II,586f.
127 ABBILDUNGEN

zu ergründen und die diesseitigen Widerfahrnisse sinnvoll zu deuten,


wird verworfen. Die apokalyptische Symbolik ist damit ihres
transzendenten Bezugspunktes beraubt, und Augustinus unterzieht im
Anschluß ihre Bestandteile einer Überprüfung durch die paulinische
Lehre. Zuallererst wird die Gewißheit der eigenen Gerechtigkeit und
Erwähltheit radikal bezweifelt.1 Denn nach dem Römerbrief ist die
moralische Qualität des einzelnen nicht das Ergebnis seiner
persönlichen Entscheidung, sondern in allererster Linie das Resultat
der unerforschli[[@Page:108]]chen Gnadenwahl Gottes, die vor der
Grundlegung der Welt (ante mundi constitutionem) erfolgte.2
Aus dem Prinzip der Gnadenwahl gewinnt Augustinus noch eine
weitere politisch bedeutsame Erkenntnis: Es ist kein absolutes Urteil
über den sittlichen Charakter von empirischen Kollektiven möglich,
noch nicht einmal über die Kirche in ihrer irdischen
Erscheinungsform, der ecclesia militans. Andererseits sind weder das
Imperium noch die Barbarenstämme noch die geheimnisvollen
Völker, die am Rande der Welt hausen, per se schlecht, sondern ihnen
allen eignet gleichermaßen eine heilsgeschichtliche Indifferenz, die
sich aus menschlicher Perspektive nicht auflösen läßt. Die politische
Theorie des Augustinus läßt gar nichts anderes zu, da sie das antik-
bürgerschaftliche Verständnis des Politischen noch bewahrt und daher
in allen Städten, Reichen, Völkern immer die Summe der in ihnen
lebenden Einzelmenschen erkennt.3 Bestenfalls kann Augustinus den
Römern das Prädikat einer bedingten Sittlichkeit gewähren, die sich
relativ zum korrupten Gesamtzustand der Welt verhält. 4 Nach der
Exegese des Kirchenvaters handelt es sich bei den vom Teufel
beherrschten und daher absolut schlechten Völkern Gog und Magog,
von denen die Offenbarung des Johannes spricht, nicht um empirische
Größen, sondern vielmehr um die weltweite Gesamtheit der (mit
Gottes Erlaubnis) vom Teufel verführten Individuen.5 In allen
1
„Signavit autem, […] significasse mihi uidetur, quod occultum esse uoluit, qui
pertineat ad partem diaboli, et qui pertineant ad partem diaboli, et qui non perti-
neant. Hoc quippe in saeculo isto prorsus latet, quia et qui uidetur iacere, utrum
sit surrecturus, incertum est.“ [[De civ. Dei XX,7 >> Augustine:De civ. Dei
20.7]], CClat XLVIII,711,91-96; vgl. Offb 20,3.
2
[[De civ. Dei XX,7 >> Augustine:De civ. Dei 20.7]], CClat XLVIII,711,99.
3
„Neque enim aliunde beata ciuitas, aliunde homo, cum aliud ciuitas non sit
quam concors hominum multitudo.“ [[De civ. Dei I,15 >> Augustine:De civ.
Dei 1.15]], CClat XLVII,47f.
4
Vgl. [[De civ. Dei V,15 >> Augustine:De civ. Dei 5.15]].
5
„Gentes quippe istae, quas appellat Gog et Magog, non sic sunt accipiendae,
tamquam sint aliqui in aliqua parte terrarum barbari constituti, siue quos
quidam suspicantur Getas et Massagetas propter litteras horum nominum
primas, siue aliquos alios aliagenas et a Romano iure seiunctos. Toto namque
orbe terrarum significati sunt isti esse, cum dictum est nationes quae sunt in
quattuor angulis terrae, easque subiecit esse Gog et Magog.“ [[De civ. Dei
XX,7 >> Augustine:De civ. Dei 20.7]], CClat XLVIII,720,11-19; vgl. Offb
128 ABBILDUNGEN

empirischen Kollektiven dagegen können sowohl Bürger der civitas


Dei wie der civitas terrena verborgen sein.
Römischer Bürger zu sein heißt also nicht, das Tier der
Apokalypse anzubeten; und ebensowenig ist die sakramentarische
Zugehörigkeit zur Kirche schon mit dem himmlischen Bürgerrecht
gleichzusetzen. Die geschichtliche Gegenwart, so Augustinus, ist
geprägt von der Vermischung der Guten und der Bösen (hominum
bonorum et malorum nunc permixtio).1 Erst im Rückblick vom Tage
des Jüngsten Gerichts wird es möglich sein, den Sinn geschichtlicher
Ereignisse zu erkennen:
Wenn wir aber vor jenes Gottesgericht kommen, dessen Zeit in
besonderem Sinne Tag des Gerichts, bisweilen auch Tag des
Herrn heißt, werden nicht nur alle Urteile, die dann gefällt
werden, sondern auch alle Urteile, die von Anfang an gefällt
wurden und bis zu jenem Zeitpunkt noch zu fällen sind, als
durchaus gerecht sich offenbaren.2
Nachdem solchermaßen die geschichtstheologischen Fundamente
gelegt sind, kann sich Augustinus an die Entschärfung der Symbole
machen, die den meisten Zündstoff ber[[@Page:109]]gen. Da es hier
nur um das Grundsätzliche geht, das die Kontinuitäten und Brüche in
Joachims Lehre deutlich werden läßt, können die Einzelheiten der
augustinischen Argumentation beiseite gelassenwerden. Es sei aber
festgehalten, daß kaum eines der apokalyptischen Symbole seine
urspüngliche Bedeutung behält: 1. Die Herabkunft des
Menschensohns bedeutet nichts anderes als die ständige Präsenz
Christi in den Gliedern seines Leibes, also der Kirche. 3 2. Das
Millennium wird mit der Kirchenzeit gleichgesetzt, die mit der
Inkarnation beginnt und mit dem Jüngsten Gericht endet.4 3. Die Zahl
Tausend verweist in diesem Sinne lediglich auf ein geschichtliches
Absolutum und ist keine numerische Größe, die Kalkulationen
erlauben würde.5 4. Die Fesselung und Loslassung des Teufels
bezeichnen keine geschichtlichen Epochen, die an der prinzipiellen
Situation der Gläubigen etwas ändern würden.6 5. Wenn die
Apokalypse vom Gericht der Heiligen spricht, meint sie damit
lediglich die Männer, „von denen die Kirche jetzt verwaltet wird“. 7 6.
20,8.
1
[[De civ. Dei XX,5 >> Augustine:De civ. Dei 20.5]], CClat XLVIII,703,20-
704,21.
2
[[De civ. Dei XX,2 >> Augustine:De civ. Dei 20.2]], Thimme II,587f.
3
[[De civ. Dei XX,5 >> Augustine:De civ. Dei 20.5]].
4
[[De civ. Dei XX,9 >> Augustine:De civ. Dei 20.9]].
5
[[De civ. Dei XX,7 >> Augustine:De civ. Dei 20.7]].[[9 >> Augustine:De civ.
Dei 20.9]]; vgl. Offb 20,2ff.
6
[[De civ. Dei XX,8 >> Augustine:De civ. Dei 20.8]]; vgl. Offb 20,1ff.
7
[[De civ. Dei XX,9 >> Augustine:De civ. Dei 20.9]], Thimme II,610; vgl.
Offb 20,4.
129 ABBILDUNGEN

Das Tier, das nach Ansicht der Apokalyptiker die Macht bezeichnet,
die den endzeitlichen Angriff auf die Gläubigen unternimmt, steht für
die civitas terrena, die mit der Bürgerschaft Gottes seit jeher im Streit
liegt.1 7. Die Herabkunft des himmlischen Jerusalem beschreibt nichts
weiter als das stetige Wachstum der Glaubensgemeinschaft seit Christi
Geburt.2 Und so weiter.
Die Exegese der Johannesoffenbarung durch Augustinus läßt sich
so zusammenfassen: Die Apokalypse erlaubt keine Deutung
geschichtlicher Ereignisse. Sie beschreibt die grundsätzliche Situation
der Gläubigen in christlicher Zeit (a primo scilicet aduentu Christi
usque in saeculi finem) und weiter nichts.3
Es ist nicht nötig, an dieser Stelle die Entwicklungen in der
Apokalypsenauslegung der folgenden Jahrhunderte nachzuzeichnen.
Nicht daß es keinen Wandel gegeben hätte, aber grundsätzlich gilt: Im
Rahmen der orthodoxen Exegese, wie sie sich etwa in den Glossen
fand,4 wurde niemals versucht, die Offenbarung des Johannes auf die
Ereignisse der geschichtlichen Gegenwart hin auszulegen. Niemals
wurde die nicht-apokalyptische Interpretation der Apokalypse, welche
infolge der zunehmenden Autorität des Augustinus immer
verbindlicher wurde, wesentlich durchbrochen. Ein grundlegender
Wandel trat erst um die Wende zum 12. Jahrhundert ein, als Resultat
von Erfahrungen, die im Zusammenhang mit jener
Auseinandersetzung stehen, die die Geschichtsschreibung den
„Investiturstreit“ nennt. [[@Page:110]]

Der hochmittelalterliche Kampf zwischen regnum und sacerdotium


drehte sich um wesentlich mehr als die Investiturfrage. Das Wormser
Konkordat war „eine Etappe, keineswegs der Schlußstrich in der
Neugestaltung der ‚Weltordnung‘ durch Papst- und Kaisertum“. 5 Daß
andererseits Konkordate überhaupt zustande kamen, und daß die
Investiturfrage regional ganz unterschiedliche, den jeweiligen
Traditionen und Machtverhältnissen angepaßte Lösungen fand, zeigt,
daß man im Ritus der Bischofseinsetzung ebensowenig wie im
Eigenkirchenrecht, der Zölibats- oder Simoniefrage die
grundsätzlichen Widersprüche sah. Man war hier keineswegs geneigt,
bis zum Äußersten zu gehen. Ungeachtet seiner Heftigkeit handelte es
1
[[De civ. Dei XX,9 >> Augustine:De civ. Dei 20.9]]; vgl. Offb 19,19ff.
2
[[De civ. Dei XX,17 >> Augustine:De civ. Dei 20.17]], vgl. Offb 21,2.10.
3
[[De civ. Dei XX,8 >> Augustine:De civ. Dei 20.8]], CClat XLVIII,712,22-
23.
4
Kamlah 1935, S.25ff.
5
Jakobs, Hermann: Kirchenreform und Hochmittelalter 1046-1215. München:
Oldenbourg, 41999, S.173.
130 ABBILDUNGEN

sich um ein Ringen um zweifellos wichtige, aber doch eindeutig


zweitrangige Symbole, Stellvertreterkriege im Kampf um die
symbolische Neuordnung des Abendlandes. Prinzipiell ging es auf
beiden Seiten nicht um bloße Macht, sondern um die Durchsetzung
des jeweiligen Selbstverständnisses. Natürlich waren dazu
Machtmittel erforderlich, aber eben nur als Mittel. Es gibt nicht den
geringsten Anlaß dafür, in Gregor VII. und seinen Nachfolgern
herrschsüchtige Machtmenschen zu sehen, die die geistliche
Argumentation nur vorgeschoben hätten, um ihre weltlichen
Absichten zu verschleiern. Nach dem Zeugnis der Quellen lebte die
Mehrheit der Päpste jener Zeit im wahren Bewußtsein ihrer
apostolischen Berufenheit.1
Das eigentliche Ereignis des Investiturstreits bestand im
innerchristlichen Widerstreit zweier Ordnungskonzeptionen mit
universalem Geltungsanspruch, der päpstlichen Hierokratie und dem
Sakralkönigtum. Das eigentliche Ergebnis des Investiturstreites war
das symbolische Auseinandertreten von Reich und Kirche.2
Das Ordnungsverständnis der gregorianischen Reformer wird
noch zur Sprache kommen, an dieser Stelle ist zunächst nur folgender
Aspekt wichtig: Das regnum wurde von päpstlicher Seite nicht länger
als Glied am Kirchenleib gesehen, in den es spätestens mit den
Krönungen Pippins III., Karls des Großen und Ludwigs I. sowie der
Synode von Paris 829 inkorporiert worden war. 3 Seit diesen Tagen
sprach man vom Amt des Königs als einer speziellen Gabe des
Heiligen Geistes, vermittelt durch das Sakrament der Salbung, und
von seiner Amtsgewalt (regalis potestas) als einer Funktion, die der
[[@Page:111]]Herrscher als Glied am Leib Christi erfüllt – der
höherrangigen auctoritas des Priestertums selbstverständlich

1
„Es ist ebenso ungerecht, königliche ‚Übergriffe‘ ins kirchliche Gebiet
generell als Wirkung persönlicher Herrschsucht oder gar Verworfenheit zu
bezeichnen wie die Ausdehnung kirchlicher Befugnisse auf eigentlich weltliche
Angelegenheiten, so sehr solche Motive mitgesprochen haben mögen. Denn
Staat wie Kirche – um einmal diese sachlich nicht ganz gemäßen, aber üblichen
Begriffe anzuwenden – mußten beide sich selbst als die obersten, von Gott
gegebenen sozialen Körper betrachten, die alles einschlossen und beherrschten.
Es war nur konsequente Pflichterfüllung, wenn die Häupter der beiden
Institutionen sich selbst für die Gesamtheit der menschlichen Lebenstätigkeiten
Gott gegenüber für verantwortlich hielten.“ Tellenbach 1936, S.77f.
2
Vgl. Struve, Tilman: „Regnum und Sacerdotium“, in: Iring Fetscher und
Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd.2:
Mittelalter: Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation. München:
Piper, 1993, S.189-242, S.190.
3
Sivers, Peter von: „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.): Respublica Christiana.
Politisches Denken des orthodoxen Christentums im Mittelalter. München:
List, 1969, S.12f. Struve 1993, S.190, 195f.; Ullmann, Walter: Die
Machtstellung des Papsttums im Mittelalter. Idee und Geschichte. Graz u.a.:
Styria, 1960, S.195ff.
131 ABBILDUNGEN

untergeordnet. Nach diesem Verständnis gab es keine eigenständige


Sphäre weltlicher Herrschaftsausübung, der christliche König war
nicht irgendein Kriegsherr, sondern der Verteidiger der Kirche.
„Welt“ waren vielmehr die widerchristlichen Mächte, denen der
König im Großen wie jeder einzelne Gläubige im Kleinen
entgegenzutreten hatte. Prinzipiell stimmten mit jener
organologischen Konzeption, die allen Amtsträgern ihren Platz
zuwies, auch jene Theoretiker überein, die sich im Umfeld der
karolingischen Herrscher bewegten, wie Alkuin von York oder
Hinkmar von Reims.1 Eine „weltliche“ Bildung für die intellektuelle
Elite gab es ohnehin nicht; und auch das entspricht der Logik der
politisch-symbolischen Gesamtordnung.
Über zweieinhalb Jahrhunderte lang hatte sich die Symbolik des
corpus Christi als tragfähige Grundlage für das Verhältnis von Reich
und Kirche erwiesen, alle Veränderungen im Kräfteverhältnis des
Abendlandes ließen sich in diesem Rahmen deuten. Konflikte konnten
als pathologische Erscheinungen diagnostiziert werden, brachten aber
die Gesamtkonzeption nicht in Gefahr. Doch die
Auseinandersetzungen seit der Mitte des 11. Jahrhunderts waren damit
nicht mehr verständlich zu machen.
Es wird heute bisweilen betont, der Gang Heinrichs IV. nach
Canossa sei gar kein so entscheidendes Ereignis für den Ausgang des
Investiturstreits gewesen.2 Gerade für die Zeitgenossen aber war der
symbolische Gehalt solcher Begegnungen von größter Bedeutung,
ganz gleichgültig wie sie sich nun tatsächlich zugetragen haben
mögen.3 Hier fochten gleichsam im Zweikampf die beiden Figuren
miteinander, um die es wahrhaft ging und die nichts weniger
beanspruchten als die Leitung der Christenheit. Das politische Denken
des Mittelalters, das – man kann es nicht oft genug betonen – keinen
„Staat“ kannte und stark auf die Person des Regenten konzentriert
war,4 begünstigte diese Sichtweise. Was aber nun sollte der Gläubige
davon halten, daß der König einfach exkommuniziert und für
abgesetzt erklärt werden konnte? „Der ganze Erdkreis erzitterte, als
die Nachricht vom Bann gegen den König bekannt wurde“, schrieb
Bonizo von Sutri, obgleich ein Anhänger des Papstes. 5 Wie, so mußte
man fragen, konnte der König sein Amt noch ausfüllen, wenn dies
1
Struve 1993, S.192ff., 198ff.
2
Laudage, Johannes: Gregorianische Reform und Investiturstreit. Darmstadt:
Wiss. Buchges., 1993, S.40f.
3
Sicherlich hat sich damals niemand die Frage heutiger Historiker gestellt, ob
es physisch möglich sei, drei Tage lang barfuß im Schnee zu stehen. Vgl.
Hartmann, Wilfried: Der Investiturstreit. München: Oldenbourg, 1993, S.88f.
4
Vgl. Struve 1993, S.189f.
5
Zit. nach Jordan, Karl: „Das Zeitalter des Investiturstreites als politische und
geistige Wende des abendländischen Hochmittelalters“, in: Ders.: Ausgewählte
Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters. Stuttgart: Klett, 1980, S.11-20, S.11.
132 ABBILDUNGEN

eine kirchliche Funktion darstellte? War die Ordnung im Leib Christi


noch gegeben, wenn sich der König bis zum Äußersten erniedrigen
mußte, um wieder in die Heilsgemeinschaft aufgenommen zu werden?
Bekanntermaßen kam es noch schlimmer: Was bedeutete es, daß
der König den Papst absetzte und einen anderen auf den Stuhl Petri
hob? Was, wenn es zwei Päpste [[@Page:112]]gab, die sich
gegenseitig und mitsamt ihrer jeweiligen Anhängerschaft
exkommunizierten? Die Einsetzung Honorius’ II. durch Heinrich III.
mochte noch als Zwischenspiel durchgehen, die Einsetzung Clemens’
III. und das unwürdige Ende Gregors VII. waren schon anders zu
bewerten. Das Schisma zwischen Innozenz II. und Anaklet II. endlich
spaltete das gesamte Abendland. Neutralität war in diesen Fragen, die
das persönliche Seelenheil eines jeden angingen, nicht möglich. Man
vermag sich nur vage die Verwirrung der Gläubigen vorzustellen, die
sich den Zugang zum wahren Leben nur als Glieder der Kirche
erhoffen konnten. Die Frage, wie man sich zu einem
exkommunizierten Kaiser verhalten sollte, betraf jeden einzelnen
Christen, nicht nur jene, die im persönlichen Kontakt zu dem
Ausgeschlossenen standen und sich vom päpstlichen Bannstrahl
bedroht sahen. Schließlich konnte es für das eigene Heil von
Bedeutung sein, auf welcher Seite der jeweilige Spender der
Sakramente stand.1
Die politischen Theoretiker der päpstlichen Partei ließen es nicht
dabei, die Handlungsweise des Kirchenoberhaupts aus der Tradition
zu rechtfertigen; was sie formulierten, war vielmehr ein neuer Begriff
der Kirche. Aus der Ekklesia als proleptischer Gemeinschaft aller
Getauften, die Paulus als einen mystischen Leib ohne konkrete
diesseitige Gestalt verstand, wurde die hierarchisch geordnete
Klerikerkirche. An die Stelle der ecclesia universalis trat jetzt immer
öfter das Symbol der Christenheit (christianitas), des christlichen
Volkes (populus christianus) oder – wie Gregor VII. es nannte – der
christlichen Gesellschaft (societas christiana), über welche der
kirchliche Stand (ordo ecclesiasticus) herrschte, mit dem Papst an der
Spitze.2 Die Salbung der Könige und Kaiser versuchte man
herunterzuspielen, obwohl sie prinzipiell noch deren Aufnahme in der
Priesterstand einschloß. Ob Bauer, Ritter, Herzog oder Kaiser, aus der
Perspektive der Reformtheoretiker waren sie alle primär Laien.3 Im
1
Die Gläubigen waren ohnehin bereits verunsichert, da von der
Reformbewegung die Frage aufgeworfen wurde, ob Sakramente gültig seien,
wenn der Spender sein Amt durch Simonie erlangt hatte. Bei dem weiten
Simoniebegriff jener Zeit betraf das bekanntlich nicht wenige.
2
Kempf, Friedrich: „Das Problem der Christianitas im 12. und 13.
Jahrhundert“, in: HJ 79 (1960), S.104-123, v.a. S.108ff.; vgl. Beinert 1973,
S.80f.; Jordan 1980, S.12ff.; Ullmann 1960, S.403ff. u.ö.
3
Walter Ullmann hat darauf verwiesen, daß der zentrale politische
Differenzierungsprozeß des Mittelalters nicht den „Staat“ von der Kirche
133 ABBILDUNGEN

kirchlichen corpus kam den weltlichen Fürsten zwar nach wie vor die
Funktion zu, die Kirche zu schützen, doch deren Ausübung unterstand
der Urteilskraft der ordinierten Glieder. Von der Verteilung der
höheren Charismen sahen sich die Laien ausgeschlossen.1 Der
bedeutende Reformtheoretiker Humbert von Selva Candida etwa
kommt zu einem Ergebnis, das Walter Ullmann wie folgt
zusammenfaßt:
Priesterstand und weltlicher Arm in der Kirche verhalten sich
also zueinander wie Seele und Leib, Sonne und Mond, Haupt
und Glieder. Die Kaiser im Westen und im Osten sind die
weltlichen Arme des Papstes.2
Die Laienherrschaft wurde einer zunehmenden Profanisierung
unterzogen, die in letz[[@Page:113]]ter Konsequenz tatsächlich auf
die Konstituierung einer autonomen Sphäre der weltlicher Macht
hinauslaufen konnte – auch wenn dies keineswegs in der Absicht der
Reformer lag. Wenn die Gregorianer nach der libertas ecclesiae riefen
und damit die Freiheit der Kirche von Laienhand meinten, so war klar,
daß dieser Begriff von Kirche den Priesterstand, aber nicht mehr die
Laien umfaßte.3 Seit Gratian galten für Laien und Klerus endlich auch
getrennte Rechtsbereiche.4 Nicht nur die Konflikte zwischen Kirche
und Reich, sondern gerade die Friedensschlüsse zeigten, was sich
verändert hatte: seit dem Vertrag von Konstanz (1153) hatten sie die
Form bilateraler Abkommen.5
Nun konnte aber die Herrschaft über die Christenheit nie etwas
anderes sein als die stellvertretende Ausübung des Königspriestertums

trennt, sondern den Klerus von den Laien. Ullmann 1960, S.2.
1
Ullmann 1960, S.389ff.
2
Ullmann 1960, S.392.
3
Die katholische Kirchenhistoriker Joseph Lortz beschreibt den
ordnungspolitischen Anspruch der gregorianischen Reform wie folgt: „Die
Forderung der ‚libertas‘ wird in programmatischer Zuspitzung und Ausweitung
in den Mittelpunkt gestellt: sie ist die zentrale Idee, nach der im augustinischen
Sinn die Macht verwaltet und Gerechtigkeit und Frieden in der ganzen
Christenheit verwirklicht werden soll. Insofern diese ‚Freiheit‘ als ‚libertas
ecclesiae‘ aufgefaßt wurde, zeigt sich eine folgenreiche Einschränkung der
Kirchenvorstellung: als ‚Kirche‘ im eigentlichen Sinn erscheinen vorzugsweise,
ja beinahe nur deren amtliche Repräsentanten: die Laien waren in dieser Sicht
eher Objekt der Betreuung als mündige Glieder.“ Lortz, Joseph: Geschichte der
Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung. Bd.1: Altertum und Mittelalter.
Münster: Aschendorff, 1962, S.296. Diesen Wandel muß sogar der stets auf die
Kontinuität der Rechtsbegriffe bedachte Walter Ullmann eingestehen:
„Offensichtlich meint Gregor mit ‚ecclesia‘ nicht die universale Kirche,
sondern den geistlichen Stand in der universalen ecclesia.“ Ullmann 1960,
S.430.
4
Kempf 1960, S.113; Beinert 1973, 126f.
5
HbKg III/2, S.71f.
134 ABBILDUNGEN

(regale sacerdotium) Christi nach der Ordnung des Melchisedek.1


Hatte man bisher dem König priesterliche Funktionen zugesprochen,
damit er als Stellvertreter des Priesterkönigs Christi (vicarius Christi)
gelten konnte,2 so versuchte im Laufe des 12. Jahrhunderts das
Papsttum den einst allen Priestern gemeinsamen Stellvertretertitel zu
monopolisieren und sprach sich königliche Leitungsfunktionen zu.3
Mit anderen Worten: Die Bischofsinvestitur ist ein sekundäres
Symbol, in Wahrheit drehte sich der Streit zwischen Papst und Kaiser
immer um die „Kernfrage“ (W. Ullmann), wer auf Erden den Platz
des Priesterkönigs Christus einnimmt.
Die bisher aufgrund des ungleichen Kräfteverhältnisses gehemmte
Sprengkraft der gelasianischen Zwei-Gewalten-Lehre tat nun ihre
Wirkung, da die römischen Oberhirten über ein nie gekanntes
Selbstbewußtsein verfügten und – nicht zuletzt durch die
[[@Page:114]]neue Kraft der Normannen – allmählich auch über die
Mittel, diesem Geltung zu verschaffen.4 Gelasius I., der seine Worte in
eindeutiger Abwehrhaltung gegenüber den Ansprüchen des
byzantinischen Basileus formulierte, hatte zwar prinzipiell die
potestas des Königs der auctoritas sacrata der Priester untergeordnet;
das eigentliche Problem aber lag darin, daß er zugleich behauptete,
Christus hätte die Ämter (officia) seines königlichen Priestertums auf
zwei Gewalten (potestates) verteilt.5 Doch die Trennung der Gewalten
gefährdete potentiell die symbolische Ordnung des Christusleibes, die
1
Vgl. Ps 110,4; [[Hebr 5,1-10 >> Bible:Heb 5,1-10]]; [[6,20 >> Bible:Heb
6,20]]; [[7,1-17 >> Bible:Heb 7,1-17]].
2
Nach Kantorowicz war der Titel vicarius Christi in der Karolinger Zeit zwar
bekannt, fand aber seltener Verwendung als vicarius Dei (wobei der
Unterschied nicht immer sehr scharf war). Die Ottonen und Salier hätten dann
aber den Titel vicarius Christi bevorzugt. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei
Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters.
München: dtv, 1990, S.108f. mit Anm.9. Eine theoretische Grundlegung des
königlichen Anspruchs auf die Stellvertreterschaft Christi findet sich aber
schon in karolingischer Zeit, etwa bei Smaragdus von St. Mihiel. Struve 1993,
S.194; Ullmann 1960, S.163 mit Anm.72.
3
Miethke, Jürgen: „Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter. Die
politische Theorie der Traktate De Potestate Papae“, in: Fetscher/Münkler
1993, S.351-445, S.359f.; Kempf 1960, S.110f.
4
Sh. zum Gesamtkomplex: Robinson, I.S.: „Church and Papacy“, in: J.H.
Burns (Hrsg.): The Cambridge History of Medieval Political Thought c.350 –
c.1450. Cambridge: Cambridge University Press, 1988, S.252-305, v.a. S.288ff.
5
„[Q]uoniam Chri st us , memor fragilitatis humanae, quod suorum saluti con-
grueret, dispensatione magnifica temperavit, sic act i oni bus propri i s di g -
ni t at i busque di st i nct i s offi ci a pot est at i s ut ri usque di screvi t , suos
volens medicinali humilitate salvari, non humana superbia rursus intercipi: ut et
chri st i ani i m perat ores pro aeterna vita pontificibus indigerent et ponti -
fi ces pro temporalium cursu rerum imperialibus dispositionibus uterentur.“
Tractatus IV, „Ne forte quod solent“, c.11, zit. Mirbt 86,11-16, Hervorh. i.
Orig. Vgl. Tellenbach 1936, S.44ff.; Ullmann 1960, S.31ff.
135 ABBILDUNGEN

Ordnung Melchisedeks, denn damit hatte – wie Gregor VII. später


feststellte – der auf Erden pilgernde Kirchenleib zwei Köpfe; er war
zu einem Monstrum geworden.1
Das Reformpapsttum machte sich daran, diesem unhaltbaren
Zustand abzuhelfen, indem es beide potestates wieder zu vereinen
suchte. Im Grunde waren ihm darin schon die Kaiser vorangegangen,
seit Otto III. seine Allmacht im Titel des rex et sacerdos zum Ausruck
gebracht hatte.2 Nun glaubten sich die Päpste stark genug, ihrerseits
den Titel nicht nur beanspruchen, sondern auch in praktische
Reformpolitik umsetzen zu können. Geistliche und weltliche Gewalt
waren zwei verschiedene Dinge, diesen Grundsatz des Gelasius
behielt man bei, aber sie lagen vereint in der Hand des Papstes, als
dem Stellvertreter Christi und damit dem rechtmäßigen Inhaber des
regale sacerdotium. Nachdem bereits Theoretiker wie Petrus Damiani
die gelasianische Doktrin verschärfend in eine Zwei-Schwerter-Lehre
umformuliert hatten, konnte Bernhard von Clairvaux sagen: Das
weltliche Schwert ist eine Leihgabe des Papstes als erstem Träger
beider Gewalten, Könige und Kaiser haben es im Sinne der Kirche zu
führen.3
Was aber, wenn dies nicht geschah? Wie mußte man es deuten,
wenn päpstliche und kaiserliche Truppen gegeneinander kämpften,
wenn – erst aufgrund der symbolischen Neuordnung konnte man den
Gedanken überhaupt formulieren – das christliche Reich gegen die
christliche Kirche stritt? Dies waren die Fragen, die beinahe jeden
Menschen existentiell betrafen und zu einem neuen Ausbruch
apokalyptischer Existenzdeutung führten.
Je weiter die päpstlichen und kaiserlichen Theoretiker die
einheitsstiftende Konzeption der Ekklesia zerstörten und auf deren
Trümmern die päpstliche Hierokratie und das gottunmittelbare
Kaisertum errichteten, desto deutlicher sahen die Zeitgenossen vor
ihren Augen zwei widerstreitende Mächte erstehen, desto plausibler
erschienen ihnen die apokalyptischen Predigten von den endzeitlichen
Kriegen. Ohne daß es ihnen [[@Page:115]]immer bewußt gewesen
wäre, weichten die „politischen Theologen“ (E. H. Kantorowicz)
allmählich die augustinische Geschichtsdeutung auf, die die
paulinische Ekklesiologie voraussetzte und die unter den Bedingungen
des neuen Kirchenverständnisses keinen rechten Sinn mehr ergab.
Gleichwohl vollzog sich die Abkehr von der Exegese des
Kirchenvaters hin zur Aktualisierung der Apokalypse nicht in einem
Satz.

*
1
Beinert 1973, S.80.
2
Ullmann 1960, S.352ff.
3
[[De cons. IV,iii,7 >> Bernard_of_clairvaux:Bernard, Cons. 4.3.7]], Winkler
I,748,11-14.
136 ABBILDUNGEN

Schon Beda Venerabilis war aufgefallen († 735), daß die Struktur der
Johannesapokalypse von der Zahl Sieben dominiert wird. Der
Gregorianer Bruno von Segni († 1123) betonte, daß in den sieben
Teilen der Apokalypse Verfolgungen prophezeit würden, die der
Antichrist zwischen Christi Geburt und dem Weltende gegen die
Kirche unternehmen werde. Nur der letzte Teil der Offenbarung weise
auf den Sabbat des Gottesvolkes hin. 1 Damit war klar, wie man die
weltlichen Gegner des Papsttums künftig verstehen wollte. Aber noch
scheute man sich, konkrete historische Figuren und Ereignisse der
Gegenwart mit bestimmten Stellen der Apokalypse zu identifizieren.
Die Autorität des Augustinus war mächtig und nicht von einem Tag
auf den anderen zu beseitigen.
Ohne eine wirkungsgeschichtliche Linie ziehen zu wollen, seien
ein paar Namen genannt:2 Rupert von Deutz († 1129) suchte nach
einer Erklärung für den Investiturstreit und meinte, sie in der Struktur
der Apokalypse zu finden.3 Die vom Heiligen Geist geschaffene
Ordnung sollte ihm einen genaueren Einblick in den Verlauf der
Geschichte erlauben, allerdings wagte er sich in der konkreten
Geschichte nicht weiter als bis zu Konstantin. Eine grundlegende
Neuerung wurde von Anselm von Havelberg († 1158) eingeführt, der
die sieben Siegel der Offenbarung mit den sieben Status der Kirche
gleichsetzte und damit die augustinische Auslegung endgültig hinter
sich ließ. Gerhoch von Reichersberg († 1169) bezog sich bei seiner
Exegese schon ganz konkret auf den Streit zwischen Barbarossa und
Papst Alexander III.4
Das Grundmuster der Gegenwartsdeutung war also gegeben: Die
Auseinandersetzungen zwischen Reich und Kirche sind als eine
Epoche im Kampf zwischen den Anhängern des gerechten Gottes und
1
„In omnibus enim Ecclesiae persecutiones narrantur, praeter quod in ultimo
coelestis Jerusalem aedificia describuntur.“ Zit. nach Kamlah 1935, S.19.
2
Üblicherweise werden die im folgenden aufgeführten Autoren dem
„deutschen Symbolismus“ zugerechnet. Der Begriff wurde von Alois Dempf
geprägt. Sh. Dempf 1954, v.a. S.229ff. Auch wenn Dempfs Charakterisierung
jener Denker nach wie vor zu den interessantesten gehört, die je geschrieben
wurden, scheint es doch problematisch, den Begriff „Symbolismus“ auf
bestimmte historische Epochen oder Denkrichtungen zu beschränken.
Sinndeutende Äußerungen des Menschen sind immer symbolisch. Zwar sind
die Symbole der monastischen Theologie stärker an die visuelle Wahrnehmung
gebunden als die Symbole der Scholastik, wie „Vernunft“ oder „Wesen“, aber
dies ist kein prinzipieller Unterschied. In jedem Fall muß ein geistiger
Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft werden. Vgl.
Cassirer, Ernst: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der
Geisteswissenschaften“, in: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs.
Darmstadt: Primus, 81997, S.169-200, S.175; Gebhardt 1980, S.41-61, S.46ff.
3
McGinn 1999, S.81f; Kamlah 1935, S.75ff.
4
McGinn 1999, S.82.
137 ABBILDUNGEN

den Anhängern des Satans zu verstehen, wie er in [[@Page:116]]der


Offenbarung des Johannes beschrieben wird.1 Nun wurde die
Apokalypse wieder apokalyptisch gelesen, als eine Enthüllung des
göttlichen Plans, der die Ordnung der Zeiten offenbart und der es
ermöglicht, den eigenen Standpunkt in der Geschichte zu bestimmen. 2
Aber erst Joachim von Fiore fand den Schlüssel, der es ermöglichte,
alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Ereignisse der
Kirchengeschichte präzise in die Struktur der Apokalypse einzuordnen
und mit diesem Wissen den Gegenwartspunkt genau zu bestimmen.
Man könnte nun einwenden, daß es sich bei den
hochmittelalterlichen Exegeten nicht eigentlich um Apokalyptiker
handelte,3 denn sie beanspruchten nicht, eigene Apokalypsen
vorzulegen, sondern lediglich die biblischen Offenbarungen zu
kommentieren. Allerdings beriefen sich Hildegard von Bingen, Rupert
von Deutz und Joachim von Fiore durchaus auf Visionen oder
spirituelle Erlebnisse, die ihnen einen besseren Einblick in den Plan
Gottes gestatteten, wenngleich ihnen bisweilen nur mitgeteilt wurde,
wie sie die Bibel zu lesen hätten oder daß sie dabei von der
Vätertradition abweichen sollten.4 Man könnte also sagen, den
Apokalypsen des Hochmittelalters liege weniger die direkte Schau als
vielmehr eine „hermeneutische Vision“ zugrunde. Sieht man sich
andererseits die biblischen Apokalypsen an, so erweisen sich diese in
weiten Teilen ebenfalls als Auslegungen älterer biblischer Texte.
Daniel erbittet von Gott eine Offenbarung, die es ihm ermöglicht, die
Zeitangaben in den Prophezeiungen Jeremias zu verstehen. 5 Johannes
von Patmos betreibt auf der Grundlage seiner Vision die Exegese des
Buches Daniel, und Joachim von Fiore wird eröffnet, wie er die
Offenbarung des Johannes auszulegen hat. Telesphorus von Cosenza
wiederum wird in einer Vision mitgeteilt, daß er die Schriften
Joachims von Fiore auf das große abendländische Schisma hin
erforschen solle, welches er zu verstehen suchte.6 So groß sind die
Unterschiede nicht. Apokalypsen bieten seit jeher nicht nur neue
Offenbarung, sondern zugleich Konkretisierung alter Offenbarung
aufgrund des neuen Wissens. Am Beispiel von 4 Esra war zu sehen,
daß die visionäre Exegese bis zu einer Neuinterpretation des gesamten
1
Kamlah S.79ff.
2
Kamlah 1935, S.64ff. Anselm selbst sah sich offenbar in der Zeit des vierten
Status, in der er eine Verfolgung durch die falsi fratres aus den eigenen
mönchischen Reihen vermutete.
3
Theologen wie Rupert von Deutz nur als Apokalyptiker zu bezeichnen, wäre
natürlich nicht gerechtfertigt, aber es geht hier nur um diesen Aspekt ihrer
Lehre.
4
Zu Ruperts Visionen sh. Kamlah 1935, S.82ff.
5
Dan 9, sh. v.a. V.[[2 >> Bible:Dan 9,2]] und [[23 >> Bible:Dan 9,23]].
6
Reeves, Marjorie: Joachim of Fiore and the Prophetic Future. London:
SPCK, 1976, S.69. Reeves, Marjorie: The Influence of Prophecy in the Later
Middle Ages. A Study in Joachism. Oxford: Clarendon Press, 1969, S.423f.
138 ABBILDUNGEN

kanonischen Bestandes führen konnte.


Die beliebte Unterscheidung zwischen Offenbarungsträger hier
und Exeget dort entspricht daher nicht dem Selbstverständnis der
Autoren – mihi revelatio facta est, sagt Joachim von Fiore.1 Wichtiger
wäre es schon, die Differenzen zwischen den Offenbarungserlebnissen
zu beleuchten. Davon wird noch zu reden sein. Und noch etwas: Wenn
die Kirche der Raum ist, innerhalb dem Apokalyptik stattfindet, wenn
die Kirche der wichtigste Akteur in den Apokalypsen ist, und wenn
am Heilsauftrag der Kirche [[@Page:117]]grundsätzlich nicht
gezweifelt wird, dann kann jederzeit wieder die Frage im Raum
stehen, was denn „Kirche“ eigentlich heißt. Im gleichen Moment, in
dem die innere Gestalt der Kirche in den Blick gerät, ist aber die
Apokalyptik prinzipiell schon überwunden. Denn die Apokalypse
bringt zum Ausdruck, daß das Reich Gottes jenseits der diesseitigen
Kampfsituation zu suchen ist, das Symbol der Ekklesia dagegen, daß
mit Christus das Reich Gottes schon angebrochen ist. Der Blick
wendet sich vom defizitären Zustand der Welt zum defizitären
Zustand der Kirche, der Apokalyptiker wird zum Reformer.
Andererseits aber liegt es in der symbolischen Struktur der Kirche als
proleptischer Gemeinschaft begründet, daß Apokalyptik und
Ekklesiologie einander nie völlig ausschließen, wie sie es schon bei
Paulus nicht getan haben.2 Im Diesseits bleibt die Kirche ecclesia
militans und ist auf die jenseitige Vollendung gerichtet.
Im 4. Jahrhundert ließ die wundersame Vereinigung von
Imperium und Kirche die apokalyptischen Selbstdeutungen
frühchristlicher Gemeinschaften, wonach die Kirche eine von
weltlichen Mächten verfolgte Sammlung von Gerechten ist, als
obsolet erscheinen. Doch diese Einheit von Reich und Kirche war im
Investiturstreit zerbrochen, so zumindest sahen es die Zeitgenossen.
Daher geht es bei der mittelalterlichen ebenso wie bei der antiken
Apokalyptik um die Neuorientierung nach dem mindestens teilweisen
Zusammenbruch der symbolischen Ordnung, innerhalb der man seine
Existenz zu deuten gewohnt war. Wer nun das neue exklusive
Kirchenverständnis der Reformpäpste akzeptierte, konnte – wie einst
Daniel – die Geschichte als eine Abfolge feindlicher Reiche deuten,
denen die Gerechten Gottes ausgesetzt waren.
Hatten nicht schon Goten, Vandalen und Langobarden gegen die
Kirche Christi gewütet? Waren nicht die teutonischen Herrscher – so
1
Exp. I, fol.39va.
2
Es wäre gerade im Falle Joachims von Fiore lohnenswert zu untersuchen, wie
sich seine Paulusexegese wandelt und welche Zitate er in den verschiedenen
Phasen seiner geistigen Entwicklung heranzieht. Das Ergebnis wäre sicher, daß
in seinen frühen Jahren apokalyptische oder apokalyptisch verwertbare Stellen
wie Röm 11,13ff., der 1. Thessalonicherbrief und der (deuteropaulinische) 2.
Thessalonicherbrief im Vordergrund stehen, später jedoch allmählich
ekklesiologische Passagen wie 1 Kor 12 bedeutsam werden.
139 ABBILDUNGEN

nannte man sie neuerdings1 – einfach an deren Stelle getreten, obwohl


sie sich als Christen und römische Kaiser bezeichneten? Waren das
nicht alles Truppen Satans, die er periodisch gegen die Kirche ins Feld
schickte? Und mußte man nicht andere widerchristliche Mächte, wie
die Ketzerbewegungen und die Muslime an deren Seite stellen?
Solche Fragen wurden gestellt, und es läßt sich unschwer erkennen,
daß man nun wieder konkrete Kollektive am Werk sah, die sich
eindeutig dem Guten oder dem Bösen zuweisen ließen. Mit der
differenzierten Theorie der mystischen Gemeinschaften, die
Augustinus entwickelt hatte, hatte dies nichts mehr zu tun.
Betont sei aber, daß die apokalyptische Deutung keinesfalls
zwingend war. Joachims etwas älterer Zeitgenosse Johannes von
Salisbury, der ebenfalls auf Seiten des Papstes stand, zeigt, daß man
mit dem entsprechenden Bildungshintergrund zu ganz anderen,
wesentlich rationaleren Ergebnissen kommen konnte.2 Doch soviel
bleibt [[@Page:118]]festzuhalten: die Aktualisierung der Apokalypse
war wieder möglich. Und im Mittelalter geschah es keineswegs zum
letzten Mal, daß man auf sie zurückgriff, um den schockierenden
Ereignissen der Gegenwart Sinn zu verleihen. Nicht nur der biblische
Kanon, sondern auch Literatur, Kunst, Musik und Film sorgen bis
heute dafür, daß die apokalyptische Symbolik im Gedächntnis der
Zivilisation ständig präsent ist.
Im Mittelalter ist Apokalyptik nicht vorrangig ein
Sektenphänomen, zumindest nicht vor dem 13. Jahrhundert.3
Spätestens seit dem Investiturstreit trug sie entscheidend zur
Selbstdeutung der katholischen Kirche bei. Sicherlich stand die
apokalyptische Symbolik, die für die Theoretisierung der inneren
Ordnung der Kirche aus bereits erwähnten Gründen nicht taugte,
immer mehr oder weniger unvermittelt neben alten und neuen
Ekklesiologien. Aber die in der Literatur nach wie vor weit verbreitete
Dichotomie zwischen Apokalyptik und orthodoxer Theologie läßt sich
angesichts des empirischen Materials nicht aufrecht erhalten. Rupert
von Deutz, Gerhoch von Reichersberg und Joachim von Fiore waren
ihrem Selbstverständnis nach rechtgläubige Katholiken, die
publizistische Ketzerbekämpfung rechneten sie zu ihren vornehmsten

1
Jakobs 1999, S.166.
2
Vgl. Spörl, Johannes: Grundformen hochmittelalterlicher
Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12.
Jahrhunderts. 2., unveränd. Aufl. München: Hueber, 1935, S.73ff.
3
Norman Cohns klassische Studie (Cohn 1998), die heterodoxe Formen der
Apokalyptik in den Vordergrund stellt, vermittelt daher schiefes Bild der
apokalyptischen Hauptströmungen im Hochmittelalter. Vgl. McGinn, Bernard:
„Apocalypticism and Church Reform: 1100-1500“, in: Ders. (Hrsg.): The En-
cyclopedia of Apocalypticism. Vol.2: Apocalypticism in Western History and
Culture. New York: Continuum, 1999, S.74-109, S.78.
140 ABBILDUNGEN

Aufgaben. Zweifellos hatten sie alle ihre innerkirchlichen Feinde, aber


viele hochrangige Kleriker, bis hinauf zu den Päpsten, hörten ihnen
zu. Einflußreiche Kommentatoren der Apokalypse, wie Bruno von
Segni, hielten sich ständig im Umkreis der Reformpäpste auf und
betrieben deren Politik.1 Die Apokalypse erwies sich als probates
Kampfmittel der gregorianischen Bewegung, da man den Gegner an
seinen geschichtstheologischen Ort verweisen und vor der
abendländischen Öffentlichkeit den Truppen des Antichrist zurechnen
konnte. Doch die Gegenseite lernte schnell: bereits Gregor VII. war
der erste Papst, der seinerseits als Antichrist bezeichnet wurde.2
Aber auch hier gilt: Es handelte sich nicht einfach nur um
apokalyptische Propaganda, die einer rational kalkulierten
Machtpolitik als Tarnung gedient hätte. Die Diffamierung des
Gegners mochte ein Beweggrund gewesen sein, dringlicher waren die
existentiellen Fragen der Menschen, die in die Kämpfe verwickelt
waren. Die Päpste und ihre Anhänger, aber auch deren Kontrahenten,
suchten nach ihrer Rolle im göttlichen Plan. Sie begannen, die
Apokalypse ernst zu nehmen. Fachleute, die sich in der Auslegung der
Johannesoffenbarung bewährt hatten, wurden von den Mächtigen als
Berater herangezogen. Bernard McGinn faßt zusammen:
Rather than representing a semi-educated and alienated fringe
of society, most of the major apocalyptic thinkers of the twelfth
century were figures situated in high echelons of intellectual
and political power. They sought to make their views effective
both on a popular level through preaching and also with the
leadership of christianitas, especially with the popes of the era. 3
[[@Page:119]]
Die politische Ideengeschichtsschreibung hat die Apokalyptiker bisher
weitgehend vernachlässigt, aber schon ihre Biographien lassen nicht
zu, sie als Nebenfiguren und Exoten abzutun. Einer jener Spezialisten
und wahrscheinlich der einflußreichste seiner Zeit war Joachim von
Fiore.

2. Die Anfänge
Herkunft und Jugend Joachims von Fiore liegen im Dunkel. Die
biographischen Informationen, die sich in seinen Schriften finden,
betreffen fast ausschließlich seine Zeit als Abt. Allerdings gibt es eine
fragmentarisch überlieferte Biographie, die wohl bald nach Joachims

1
Kamlah 1935, S.16.
2
Dempf 1954, S.179.
3
McGinn 1999, S.85.
141 ABBILDUNGEN

Tod von einem Gefährten1 anonym verfaßt wurde und (im Gegensatz
zur zweiten zeitgenössischen Biographie, die von Bischof Lucas von
Cosenza, dem ehemaligen Schreibgehilfen Joachims, stammt) einiges
über Joachims junge Jahre berichtet. Wenn man den groben Linien
dieses Textes folgt, ergibt sich ungefähr das folgende, durchaus
glaubhafte Bild:2
Joachim wurde um 1135 im Dorf Celico geboren, das im
kalabresischen Sila-Gebirge liegt. Damit wuchs er unter der
Herrschaft der Normannen auf, deren süditalienisches Reich nun
schon über ein Jahrhundert lang Bestand hatte und in der Mitte des 12.
Jahrhunderts eine gewisse Blüte erlebte. Es muß heute betont werden,
daß Süditalien damals im Mittelpunkt des „Weltgeschehens“ lag, vor
allem in der Regierungszeit Heinrichs VI., in die Joachims reife Jahre
fallen. Der Kalabrese entstammt einer gebildeten und wahrscheinlich
einigermaßen wohlhabenden Familie. Über eine jüdische
Abstammung wurde immer wieder spekuliert, aber wirkliche Beweise
gibt es nicht. Die Schriften des Abtes sprechen eher gegen eine solche
Annahme.3 Joachims [[@Page:120]]Vater war ein Notar, der in den
1
Wahrscheinlich handelt es sich um einen Florenser, der bei der Gründung im
Sila dabei war. Wessley 1990, S.30.
2
Ein abschließendes Urteil über diesen Text fällt recht schwer. Einerseits
verzichtet der Autor – ganz im Gegensatz zu späteren Berichterstattern – auf
Erzählungen von Joachims Wundertätigkeit (Sh. hierzu die schöne Sammlung:
Adorisio, Antonio Maria: La ‚legenda‘ del santo di Fiore. B. Ioachimi abbatis
miracula. Manziana: Vechiarelli, 1989). Allerdings begegnen auch Motive, wie
etwa der kompromißlose Bruch mit dem leiblichen und die Entscheidung für
den himmlischen Vater, die man aus mittelalterlichen Hagiographien kennt. Die
für die Biographie Joachims wichtigste Sekundärquelle ist Grundmann,
Herbert: „Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza“, in:
Ders.: Ausgewählte Aufsätze Teil 2: Joachim von Fiore. Stuttgart: Hiersemann,
1977, S.255-360. Dort finden sich Editionen der beiden zeitgenössischen
Joachim-Viten. Grundmann hat die Texte mit anderen Quellen konfrontiert und
hält sie insgesamt für glaubwürdig. Der italienische Kirchenhistoriker Gian
Luca Potestà hat für das Jahr 2004 eine Biographie Joachims von Fiore
angekündigt.
3
Auch die jüngste Untersuchung kann die These von einer jüdischen
Abstammung nicht überzeugend belegen. Lerner, Robert E: The Feast of Saint
Abraham: Medieval Millenarians and the Jews. Philadelphia: University of
Pennsylvania Press, 2000, S.5-37. Andere wichtige Beiträge zum Thema sind:
Hirsch-Reich, Beatrice: „Joachim von Fiore und das Judentum“, in: West 1975,
Bd.2, S.473-510; Grundmann 1977, S.333-341; Iiritano, Massimo: „Gioacchino
da Fiore e l’ebraismo“, in: Florensia 13/14 (1999/2000), S.139-158. Die ganze
Diskussion wurde ausgelöst durch die Entdeckung einer Polemik von Joachims
Feind Gottfried von Auxerre, in der dieser behauptet, Joachim habe sein
Judentum noch nicht ausgespien und seine Getreuen würden seine wahre
Herkunft verschweigen. Nun mußten Konvertiten in jener Zeit, die zwar
Antijudaismus, aber keinen Antisemitismus kannte, ihre jüdische Abstammung
keineswegs leugnen; es ist daher auch nicht einzusehen, warum Joachim das
getan haben sollte. Es ist richtig, daß er sich jüdischer Buchstabensymbolik
142 ABBILDUNGEN

Diensten des normannischen Hofes stand. Der Sohn sollte eine


ähnliche Laufbahn beschreiten und war offenbar schon in der
königlichen Kanzlei zu Palermo tätig,1 als er plötzlich seine Karriere
abbrach, um im Jahr 1166/67 eine Pilgerreise in das Heilige Land zu
unternehmen.
Was dort genau geschah, ist nicht bekannt. Vielleicht überlebte er
als einziger der Reisegesellschaft eine Seuche,2 vielleicht hatte er auf
dem Berg Tabor eine Vision,3 vielleicht beeindruckte ihn die
herbeigesehnte Begegnung mit den religiosi in Palästina;4 jedenfalls
war er ein anderer Mensch, als er in den Westen zurückkehrte. Die
bediente, die er dem Werk des Konvertiten Petrus Alphonsi entnahm. Aber das
taten auch viele andere christliche Autoren seiner Zeit. Alphonsi war ja gerade
deshalb interessant, weil er als getaufter Jude gegen Juden schrieb. Sh. Tolan,
John: Petrus Alfonsi and His Medieval Readers. Gainesville: University Press
of Florida, 1993, S.95ff. Insgesamt spricht das Werk Joachims eher dagegen,
daß er mit dem jüdischen Leben sehr vertraut war. Wo er über jüdische
Bräuche spricht, bezieht er sein Wissen ausschließlich aus der Bibel. Wenn er
auf hebräische Begriffe verweist, bedient er sich des Hieronymus, wie andere
Autoren auch. Die Kenntnis des Hebräischen läßt sich ausschließen (Hirsch-
Reich 1975, S.488). Und daß Joachim mit einem gelehrten Juden disputierte
(Exp. I, fol.36vb), entsprach zisterziensischen Gepflogenheiten, man denke
allein an die Rabbiner, die bei Stephans Hardings textkritischen Bibelstudien
behilflich waren. Aber von einem „Philosemitismus“, den Buonaiuti bei
Joachim zu erkennen glaubte (Buonaiuti, Ernesto: Tractatus super quatuor
evangelia di Gioacchino da Fiore. Roma: Istituto storico italiano 1930, S.116,
Anm.1), und den man auch auf eine jüdische Abstammung zurückführen
wollte, kann keine Rede sein. Der Abt kann sogar in einen derben Zynismus
verfallen, wenn er auf die diesseitigen Heilserwartungen der Juden zu sprechen
kommt. Sh. z.B. Conc. IIa,1, fol.6 rb, Daniel 55,92-94. Wie viele apokalyptisch
orientierte Christen (die Christian Right im heutigen Amerika
eingeschlossen) verhält sich Joachim den Juden gegenüber freundlich, weil er
überzeugt ist, daß sie sich demnächst zum Christentum bekehren werden, wie
von Paulus prophezeit. Wer aber noch im Judentum verharren sollte, den
rechnet Joachim den Truppen des Antichrist zu. Die falschen Gelehrten der
Juden würden ohnehin demnächst durch das geistliche Schwert fallen und alle
drei Stände (einschließlich der principes in ordine laicorum) würden den
vereinten Kampf gegen die unverbesserlichen Reste der Juden aufnehmen.
Conc. V,75, fol.103va-104va. Man muß sich ja auch einmal fragen, was die
ganze Diskussion, die auf einem sehr wackligen empirischen Boden steht,
bezwecken soll. Was wäre, wenn sich herausstellen sollte, daß Joachim ein
getaufter Jude war? Würde man sein Werk besser verstehen? Müßte man
seine Schriften völlig neu lesen? Würde sich am Ende jede Besonderheit
seiner Lehre aus seiner Abstammung erklären? Sicherlich nicht!
1
Grundmann 1977, S.298.
2
So berichten spätere Quellen. Vgl. Grundmann 1977, S.299.
3
Das Fragment der anonymen Vita beginnt folgendermaßen: „Unser Moses
stieg vom Berg [nach einer der Handschriften: Tabor] herab, nachdem er die
zweite Offenbarung des Gesetzes empfangen hatte, und kehrte zu den seinen
zurück […].“ Vita Joach. (Anon.), Grundmann 342.
4
Die Vita legt diese Annahme nicht nahe. Joachim sei vielmehr bei seinen
143 ABBILDUNGEN

„fromme Unruhe“ (pia sollicitudo), von der sein anonymer Biograph


berichtet,1 plagte ihn zweifel[[@Page:121]]los schon, bevor er den
Entschluß faßte in jenes Land aufzubrechen, „in dem der Herr
beschlossen hatte sich sehen zu lassen und unter den Menschen zu
weilen“.2 Spätestens bei seiner Rückkehr war Joachim entschlossen,
daß er den Rest seines Lebens Gott widmen wollte – in diesen Zeiten
keine ungewöhnliche Entscheidung für einen jungen Mann aus gutem
Hause. Allerdings schloß sich Joachim nicht sogleich einer
klösterlichen Gemeinschaft an, sondern lebte zunächst eine Zeit lang
als Eremit in der Nachbarschaft eines griechischen Klosters, nahe
beim Vulkan Ätna.3
Die Vita fährt fort: Wie der heilige Martin von Tours einst über
die Alpen nach Hause zog, so setzte Joachim aufs Festland über, um
die Heimat mit den befruchtenden Wirkungen des Heiligen Geistes zu
beglücken, also sein Einsiedlerdasein in Kalabrien fortzusetzen.4 Ein
Mann aus seinem Heimatdorf erkannte ihn wieder und benachrichtigte
den Vater. Dieser suchte seinen Sohn auf und stellte ihn wegen der
vergeblich investierten Bildung zur Rede. Die gesamte
Verwandtschaft hätte darauf gesetzt, daß der begabte Jüngling dem
Hause Ruhm, Ehre und (nicht zuletzt) Reichtum bringe. Der
Hoffnungsträger sei er gewesen und ein Vagabund sei er geworden.
Joachims Antwort ist die eines Mannes, der sich in heroischer
Weltabkehr den höheren Dingen zugewandt hat: „Du hast mich an den
königlichen Hof geführt, nun diene ich dem himmlischen König.“5 Ein
frühes Bekenntnis zur Theokratie.
Offensichtlich zog der junge Mann in den folgenden Jahren als
Wanderprediger durch die kalabresischen Täler.6 Was er den
Gastgebern auf Glaubensirrtümer gestoßen, von den Ansichten der Masse der
Bevölkerung ganz zu schweigen. Vita Joach. (Anon.), Grundmann 342.
1
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 342.
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 342.
3
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 343. Das Eremitenleben „an den Hängen des
Ätna“ im Anschluß an eine Pilgerreise ist ein Topos süditalienischer
Heiligenviten. Vgl. White, Lynn Townsend: Latin Monasticism in Norman Si-
cily. Cambridge, Mass.: The Medieval Academy of America, 1938, S.33.
Bedenkt man weiterhin, daß sich der spätere Ordensgründer Joachim gerne in
der Rolle eines neuen Benedikt von Nursia sah, so fällt eine weitere Parallele
auf: Auch Benedikt verbrachte die ersten Mönchsjahre als Eremit in der Nähe
eines Kloster. So schildert es jene Joachim wohlbekannte Vita aus der Feder
Gregors des Großen. Dial. II,1,3-5. Doch das alles spricht nicht dagegen, daß
sich Joachims Rückzug aus der Welt genauso zugetragen haben könnte.
4
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 343.
5
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 344. Die Parallele zur späteren
Franziskusvita ist beachtlich.
6
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 344. Über den Typus des apokalyptischen
Wanderpredigers im Mittelalter: Cohn 1998, S.36ff; Hawel, Peter: Zwischen
Wüste und Welt. Das Mönchtum im Abendland. München: Kösel, 1997,
S.285ff.
144 ABBILDUNGEN

Menschen dort verkündete, kann man lediglich aus seinen frühen


Schriften erahnen. Er wird ihnen gepredigt haben, daß der Antichrist
nahe sei und auf sein schreckliches Wüten bald das Weltgericht folgen
werde. Er wird sie an die Wertlosigkeit irdischer Bedürfnisse erinnert
und sie gemahnt haben, angesichts der zu erwartenden Drangsale und
Versuchungen nicht vom rechten Glauben abzufallen. Jedenfalls ist
Joachim seinen Zeitgenossen nicht als revolutionärer
Geschichtstheologe in Erinnerung geblieben, wie man ihn heute zu
sehen pflegt, sondern als Prediger des Antichrist.1 Es ist möglich, daß
er seinen Ruf schon in jener Zeit begründete.2 [[@Page:122]]
Joachim scheint aus irgendwelchen Gründen Skrupel bekommen
zu haben hinsichtlich seiner Tätigkeit (metuens, ne forte peccaret),
vielleicht geriet er unter Häresieverdacht; jedenfalls ließ er sich zum
Priester ordinieren und legitimierte seine Predigt.3 Dies Ereignis ist
bezeichnend: Joachim wird zum innerkirchlichen Apokalyptiker, und
er wird die längste Zeit seines Lebens an der Seite des Papstes stehen,
wenn auch nicht kritiklos.
Etwa im Jahre 1171 – Joachim war inzwischen gut 35 Jahre alt –
begegnete ihm ein griechischer Mönch, wahrscheinlich einer der in
Kalabrien damals recht zahlreichen Basilianer. Es ist nicht bekannt,
welches die Worte waren, die auf Joachim so großen Eindruck
machten. Der Grieche könnte ihm von den Vorzügen des
koinobitischen Lebens berichtet und möglicherweise daran gemahnt
haben, daß das Leben unter der Regel vor Hybris schütze und der
sicherere Weg zum Heil sei. Uns wird nur berichtet, er habe auf das
Gleichnis Jesu vom unnützen Knecht verwiesen.4 Das macht es
wahrscheinlich, daß er die heilsgeschichtliche Bedeutung der zum
Himmel strebenden Mönchsbewegung hervorhob und Joachim
aufforderte, sein Talent darein zu setzen. Wie auch immer, der junge
Prediger geht ins Kloster.5
Joachims Fähigkeiten wurden schnell erkannt, so daß er sich bald
als Prior und wenig später als Abt eines Konvents namens Corazzo
wiederfand. Darüber war der junge Mönch scheinbar alles andere als
glücklich. Im Kloster wollte er der Welt entfliehen und das Kloster
verwickelte ihn wieder in ganz irdische Notwendigkeiten. Auch später
1
Reeves 1976, S.30.
2
Als er wenig später ins Kloster geht, ist er dort schon durch seine Lehre
bekannt (ex doctrina sua cognitus). Vita Joach. (Anon.), Grundmann 345.
3
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 344f.
4
Vgl. Mt 25,14-30.
5
Diese biographische Sequenz (religiöses Erlebnis – Anachorese –
Wanderpredigertum – Koinobitentum, oder in anderen Begriffen: Erfahrung –
Selbstbesinnung – Verkündigung – Unterordnung unter die geeignete
Lebensform oder Stiftung einer solchen) folgt einem Muster spiritueller
Lebensordnung, das nicht nur auf Joachim zutrifft. Man denke etwa an den
Begründer des Prämonstratenserordens, Norbert von Xanten. Sh. Hawel 1997,
S.289ff.
145 ABBILDUNGEN

hat Joachim seine Abtspflichten als „weltliche oder beinahe weltliche


Geschäfte“ abgetan, die ihn davon abhielten, das himmlische
Jerusalem zu schauen.1 Wohl erst mit der eigenen Ordensgründung hat
sich seine Haltung gewandelt. Doch die erste Reaktion auf die neue
Leitungsfunktion trug panikartige Züge. Er flüchtete sich vor der
Verantwortung und versuchte vergeblich, sich in anderen Klöstern zu
verstecken. Nur durch das vereinte Bemühen verschiedener lokaler
Autoritäten konnte er dazu bewegt werden, sein Amt anzutreten.2
Auch diese Episode ist bezeichnend. Der vollendete Mönch der
Zukunft, der vir perfectus, wie ihn Joachim später konzipiert, wird frei
sein von der tätigen Verantwortung um den Nächsten, frei für die
reine Kontemplation. [[@Page:123]]
Die biographischen Informationen aus späteren Jahren fließen
weniger spärlich, an geeigneter Stelle wird auf sie verwiesen werden.
Faktum ist: Viel ist nicht bekannt über den etwa vierzigjährigen
Mann, der im Jahr 1176 einen kurzen Text verfaßt, welcher zwar noch
nicht völlig den Rahmen der zeitgenössischen Weltdeutung sprengt,
aber doch bereits eine erstaunlich eigenständige Methode der
Bibelexegese zeigt. Das von der Joachim-Forschung Genealogia
genannte Werk, wurde erst spät als ein Frühwerk Joachims erkannt. 3
Verblüffend ist der Befund vor allem, wenn man von Joachims
späteren Hauptwerken, wie dem monumentalen
Apokalypsenkommentar, auf diese Schrift zurückblickt. Ob Joachim
davor schon Schriften verfaßt hat, ist nicht bekannt, doch seine
Genealogia präsentiert sich als die gedrängte Skizze eines
Masterplans, als ein gedanklicher Nukleus, aus dem sich die großen
Kommentarwerke des Abtes entfalten. Um die folgenden
Untersuchungen nicht allzu abstrakt zu halten und um zu zeigen wie
fremdartig und dunkel Joachims Exegese zunächst anmutet, bietet es
sich an, den kurzen Text in Übersetzung wiederzugeben.4
1
„Sed cum michi, qui – ut iam videbatur cogitatione et aviditate illius superne
civitatis habitator effectus – fruebar secundum interiorem hominem non modica
visione pacis, accideret illud, quod sibi multi et si frustra accidisse queruntur, ut
rursum occasione cure rei familiaris cogerer implicari negotiis monasterii, que
secundum cuiusdam coloris sui speciem aut vere secularia sunt aut pene secu-
laria iudicanda, compulsus sum iterum cum cordis gemitu nec sine formidine
exclamare: Heu michi quia incolatus meus prolongatus est.“ Psalt. praef.,
fol.227ra-rb, korr. n. Selge; vgl. Ps 119,5 LXX. Vgl. die Vorschrift der
Benediktregel: „Saeculi actibus se facere alienum.“ [[Reg. Ben. 4,20 >>
RuleOfStBenedict:RB 4.20]].
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 345; vgl. Grundmann 1977, S.302f.
3
Wessley, Stephen E.: „A New Writing of Joachim of Fiore: Preliminary Ob-
servations“, in: Florensia VII (1993), S.39-58.
4
Meine Übersetzung folgt der kritischen Edition in: Potestà, Gian Luca: „Die
Genealogia. Ein frühes Werk Joachims von Fiore und die Anfänge seines
Geschichtsbildes“, in: DA 56/1 (2000), S.55-101, S.91-96. Die Einteilung der
Absätze nach Buchstaben habe ich selbst vorgenommen, um die
146 ABBILDUNGEN

3. Joachims Genealogia: Übersetzung und


Kommentar
1.

a) Die Genealogie der heiligen alten Väter wird von Adam bis zu
Jakob gewoben und der Stamm des Baumes genannt. Von Jakob an
aber beginnt [der Baum] die Zweige der zwölf Stämme [Israels]
auszutreiben, bis zur Zeit von König Usija. Von Usija bis zu Christus
erstrecken sich zwei Äste, also die beiden Stämme Juda und
Benjamin, die [nach dem Untergang des Nordreiches] übrigblieben
sind. Dieser Baum ist dem Feigenbaum nachgebildet, den der Herr
verfluchte, weil er keine Frucht an ihm finden konnte. 1 Sowie aber
dieser Feigenbaum einen Anfang (initium) hatte, ein Wachstum
(profectus) und ein Vergehen (defectus), so hat auch der andere Baum,
der Weinstock des Neuen Testamentes freilich, also die Kirche, seinen
Anfang, sein Wachstum und sein Vergehen. Der Anfang und
gleichsam der Stamm dieses Weinstockes wurde dem Feigenbaum
aufgepfropft, weil die Kirche ihren Ausgang von der Synagoge nahm.

b) Daher begann dieser Stamm in den Zeiten Usijas, wie sie sagen, als
Jesaja weniger wie ein Prophet, sondern eher wie ein Evangelist
predigte. Dort nämlich begann das Neue Testament, als zum ersten
Mal das Evangelium gepredigt wurde; dort also befand sich eine
gewisse Mitte, wo die Synagoge verfiel (deficere) und die Kirche
ihren Anfang hatte. Von Christus an aber erbrachte dieser zweite und
aufgepfropfte Baum so viele Zweige wie Anfänge (principia), die
zwölf Kirchen freilich, deren Wachstum und Vermehrung (profectus
suus et augmentum) bis zu den Zeiten der arianischen Barbaren, die
beinahe die [[@Page:124]]gesamten Kirchen in Afrika und im Orient
zerstörten sowie in Griechenland, wo man alle, die nicht den
römischen Glauben haben, für Häretiker hält. Und so blieben kaum
zwei Zweige übrig. Um es knapper auszudrücken: am alten Baum
blieb nur der Stamm Juda übrig, aus dem Christus geboren wurde; an
diesem zweiten [Baum] bleibt nur der Zweig der römischen Kirche,
wo man ohne jegliche Ketzerei glaubt und Christus verehrt.

c) Der erste Baum umfaßt vom Stamm bis zu Christus 63 fleischliche


Generationen (generationes carnales); vom Stamm des zweiten
Baumes bis zu [der Wiederkehr von] Christus als Richter sind es 63
geistliche (spirituales) [Generationen]. Gleichwohl sind jene mittleren

Kommentierung zu erleichtern.
1
Vgl. Mt 21,18-22; Mk 11,12-14; 10,15.
147 ABBILDUNGEN

[Generationen von König Usija bis Christus], die das Ende des ersten
und den Stamm des zweiten [Baumes] bilden, zum Teil fleischlich
und zum Teil geistlich. Die 42 unteren [Generationen] sind nur
fleischlich, die 42 oberen nur geistlich. Die unteren [Generationen]
bestimmt man mit den Namen der Väter, die oberen aber mit der Zahl
[von] 30 [Jahren]. Man meint nämlich, die Kirche würde so viele
geistliche Generationen lang dauern wie die Synagoge fleischliche.

d) Wenn also nun seit der Geburt Christi 40 Generationen vergangen


sind, das heißt 1176 Jahre, so bleiben nicht mehr als zwei
Generationen, die noch zu erfüllen sind, also 60 Jahre; gleichsam zwei
mal die Zahl [von] 30 [Jahren], in denen sich alles erfüllen muß, was
auch immer über den Antichrist und das Ende der Welt (consummatio
seculi) gesagt ist. Nachdem also die 60 Jahre abgelaufen sein werden,
wird es an Gottes Willen liegen, wann das Ende kommt. Daniel nennt
diese Zeit „die Zeit der 45 Tage“.1 Weise Männer legen einen Tag
jeweils als ein Monat aus, andere als ein Jahr und wieder andere als
ein Zeitalter (seculum), so daß die 45 Tage, von denen man bei Daniel
liest, entweder 45 Monate oder 45 Jahre oder 45 Zeitalter (secula)
bedeuten, entweder größere oder kleinere Umläufe von Jahren. Sie
sagen, daß in diesen Zeiten Zeichen und Schrecken auftreten werden,
damit alle Buße täten, sich alle zu dem einen Glauben bekehrten und
alle den nahen Tag des Gerichts erwarteten.

e) Diese [weisen Männer] bedachten die Drangsale, die die Kinder


Israels von Jakob bis zu Christus ereilt hatten, und die Übel, die der
Kirche von Christus bis zur Gegenwart zugestoßen waren, indem sie
diese jenen gegenüberstellten. Sie nehmen an, daß fünf Verfolgungen
vergangen sind und erwarten die sechste, die – wie sie sagen –
innerhalb der 60 Jahre zweifach stattfinden wird. Jene, die die sechs
Verfolgungen der Synagoge mit den sechs Verfolgungen der Kirche
vergleichen, sagen nämlich, daß dies die sieben Siegel seien, die
Johannes in der Apokalypse sah. Im ersten Siegel aber wird eine Zeit
wie in Ruhe und in Frieden sein, die sie mit jenem Frieden
vergleichen, der bei der Geburt Christi herrschte. [[@Page:125]]

f) In den Seitenlinien, [die von] jener Linie [abzweigen], die sich von
Adam bis zum Gericht Christi erstreckt, setzt man gewisse
zeitgenössische Ereignisse (contemporanea) an, so daß die früheren
Ereignisse, vergleicht man sie nach besagter Logik (ratio) mit den

1
Daniel spricht nicht ausdrücklich von 45 Tagen. In Dan 12,11f. heißt es: „Von
der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen
Greuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage. Wohl dem, der aushält und
dreizehnhundertfünfunddreißig Tage erreicht!“ Offensichtlich wird seit
Hieronymus die Differenz der beiden Zahlen als Zeit zwischen dem Ende des
Antichrist und dem Ende der Welt bestimmt. Vgl. Potestà 2000, S.93, Anm.
113; Wessley 1993, S.48f. Joachim spricht also von der Zeit nach Ablauf der
verbleibenden 60 Jahre, deren Länge gemäß dem vorhergehenden Satz im
göttlichen Wissen beschlossen liegt.
148 ABBILDUNGEN

späteren, damit drohen, daß das Ende der Welt bevorsteht. Auf beiden
Seiten bemißt man mit der Zahl [von] 30 [Jahren pro Generation] eine
Linie und erweist, daß auf ihnen die Anzahl der Päpste und auf der
anderen Seite die Anzahl der Imperatoren liegt.

2.

a) Fünf Zeitalter (etates) waren es von Adam bis zu Christus; das


sechste [beginnt] mit Christus und [geht] weiter, weil Gott seine
Werke in sechs Tagen vollbrachte. Das siebte [Zeitalter] besteht nicht
in einem Werk, sondern in der Ruhe der Seelen. Das erste Zeitalter
dauert von Adam bis Noach, das zweite endet mit Abraham, das dritte
mit David, das vierte mit der babylonischen Gefangenschaft, das
fünfte mit dem Heiland Christus, das sechste mit dem Richter
Christus. Die Apokalypse legt den Verlauf des sechsten Zeitalters dar.
Von Jakob bis zu Christus sind es sieben Zeiten (tempora), in denen
die Kämpfe angezeigt werden, die die Drangsale der gegenwärtigen
Kirche bedeuten. Das sechste Zeitalter teilt man in sechs kleine
Zeitalter (etatula).

b) Der Stamm Juda, aus dem Christus geboren wurde, bezeichnet die
[römische] Kirche,1 der Gott das königliche Priestertum (regale
sacerdotium) verliehen hat. Die anderen vier Stämme [von den fünf
Stämmen, die nach Jos 13-17 zuerst ihren Erbbesitz im gelobten Land
erhielten,] bezeichnen die Konstantinopolitanische, die
Alexandrinische, die Antiochenische und die Jerusalemische [Kirche].
Die sieben andern Stämme [nach Jos 18-19] bezeichnen die sieben
Kirchen der Apokalypse.2 Jene fünf Kirchen werden [außerdem] durch
die fünf Städte im Land Ägypten bezeichnet, die die Sprache Kanaans
sprechen.3

3.

a) Von Mose bis zu Johannes dem Täufer geschahen sieben


Drangsale, weshalb es heißt: „Ich schlage euch siebenfach für eure
Sünden“.4 Im Neuen Testament sind es sechs [Drangsale], weil die
beiden letzten des Alten [Testamentes] im Neuen nur eine ergeben,
und weil am sechsten Wochentag zwei Gomer Manna gesammelt

1
Daß hier nur die römische Kirche gemeint sein kann, ergibt sich aus Absatz 1b
und daraus, daß in der Folge alle anderen elf Kirchen ausgeschlossen werden,
die Joachim zu den zwölf ecclesiae principales zählt.
2
Vgl. Offb 2-3.
3
Vgl. Jes 19,18.
4
Lev 26,14.
149 ABBILDUNGEN

wurden.1 [[@Page:126]]

b) Der erste Kampf des Alten Testamentes war der mit den Ägyptern;
der zweite der mit den Kanaanäern; der dritte der mit den Syrern; der
vierte der mit den Assyrern, der fünfte der mit den Chaldäern; der
sechste war der Kampf der Meder gegen Babylon und erneut gegen
die Kinder Israels; der siebte der der Griechen, als Antiochus [IV. die
Juden aus] Jerusalem vertrieb. Diese sieben Drangsale waren die
sieben Siegel, das heißt die verborgenen Siegel der künftigen Dinge.
Man wußte nämlich nicht, was sie bedeuten, bis Christus sie öffnete.

c) Diese Kriege wurden gegen die Kinder Israels geführt. Auf


ähnliche Weise führten die Juden einen Kampf gegen die Kirche, als
das erste Siegel geöffnet wurde; einen zweiten [Kampf gab es] bei der
Verfolgung durch die Heiden; die Syrer vergleicht man mit den
Persern, Goten, Vandalen und Langobarden, die die Kirche angriffen;
beim vierten Siegel erhoben sich die Sarazenen gegen die Kirche;
beim fünften erhoben sich die neuen Chaldäer und das neue Babylon
gegen das geistliche Jerusalem; beim sechsten geschieht die
Vernichtung Babylons, also Roms. Sieben Drangsale sind geschehen,
wie oben gesagt wurde, aber die beiden letzten sind als eine einzige zu
verstehen. Diese Drangsal, die unter Antiochus geschah, kann man mit
jener vergleichen, die unter dem Antichrist geschehen wird. So
wurden die Siegel geöffnet, das heißt, es wurde verstanden, was durch
jene bezeichnet wurde.

4.

a) Der erste Teil der Apokalypse handelt von den sieben Kirchen; der
zweite von den sieben Siegeln; der dritte von den sieben Engeln, die
Posaune blasen; der vierte von der mit der Sonne bekleideten Frau und
ihrer Niederkunft; der fünfte von den Engeln, die mit den Schalen des
Zorns Gottes aus dem Tempel heraustreten; der sechste vom
Untergang Babylons und vom Kampf Christi als auch von Elija und
den falschen Propheten und zuletzt von der Befreiung des Teufels; der
siebte handelt vom Gericht.

b) Der erste Teil bezeichnet den Kampf der Pastoren; der zweite den
der Märtyrer; der dritte den der Kirchenlehrer (doctores); der vierte
den der Asketen (virgines); der fünfte den der geistlichen Männer
(spirituales viri); der sechste den Kampf gegen die Verbrechen der
Welt; und der siebte [den Kampf] gegen Babylon.

1
Ex 16,22.
150 ABBILDUNGEN

Es kann im folgenden nicht jedes Detail erörtert werden, von Interesse


ist die politische Aussage des Textes. Jene ist allerdings überraschend.
Die These sei vorweggenommen: Die Genealogia hat neben der
apokalyptischen Dimension, innerhalb der Joachim die
Selbstverortung im göttlichen Geschichtsplan betreibt, eine zweite
Dimension: die Legitimation des päpstlichen Führungsanspruches.
Dies mag seltsam klingen angesichts der Tatsache, daß Joachim
immer als jener revolutionäre Prophet beschrieben wurde, der der
Klerikerkirche den Untergang in Aussicht stellte. In diesem Kapitel
geht es also um jene Seite des Abtes, die heute die unbekanntere ist,
der Joachim aber zu Lebzeiten fast [[@Page:127]]ausschließlich
seinen Ruhm verdankte.1 Zunächst sind einige Bemerkungen nötig,
wie es geschehen kann, daß die hier vertretene These dem populären
Joachimbild so radikal widerspricht.

Exkurs über Joachimstudien und


Joachimlegenden
Es hat eine Menge mit den national differierenden Joachimlegenden zu tun,
daß der „römisch-katholische“ Aspekt in Joachims Werk bisher nicht
hinreichend beachtet wurde. Sich von solchen Legenden ganz frei zu
machen, dürfte selbst für den auf äußerste Objektivität bedachten Historiker
schwierig sein.2 Wenn man ehrlich ist, ist es nicht zuletzt dies diffuse
Konglomerat von „Populärmeinungen“, aus dem der Forschungsgegenstand
Joachim von Fiore seine besondere Attraktivität bezieht. Gäbe es nicht jene
dunkle Legende vom geheimnisvollen Propheten des Dritten Reiches, wäre
die Sache nur halb so interessant. Von Wissenschaftshistorie soll hier nicht

1
Herbert Grundmann hat bemerkt, daß Joachims zeitgenössische Biographen
die revolutionären Lehren seiner Schriften kaum erwähnen, nicht einmal Lucas
von Cosenza, der als Joachims Sekretär mit den Inhalten vertraut war. Sie
schildern lieber die Kontakte zu berühmten und mächtigen Personen, die der
Abt unterhielt. „Andere Zeitgenossen, die mit Joachim sprachen, interessierten
sich vornehmlich für seine Deutung der Apokalypse, soweit sie den Kreuzzug,
das Schicksal Saladins und des Heiligen Landes und vor allem das Kommen
des Antichrist betrafen.“ Grundmann 1977, S.323.
2
Selbst ein herausragender Philosophiehistoriker wie Kurt Flasch rechnet
Joachim zu den „Opfern von Glaubensbehörden“, deren Leben „physisch
zerstört“ worden sei. Flasch, Kurt: Geschichte der Philosophie in Text und
Darstellung. Bd.2: Mittelalter. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam, 1994,
S.355. Es gibt aber keine Hinweise darauf, daß Joachim zu Lebzeiten von
offizieller Seite behindert worden wäre. Im Gegenteil, er ist vor und nach
seinem Tod von verschiedenen Päpsten gefördert worden. Cölestin III.
bestätigte Joachims Florenserorden im Jahr 1196, und Papst Gregor IX.
ernannte den Orden 1234 gar zu einer der vier Säulen der Kirche. Wessley,
Stephen E.: Joachim of Fiore and Monastic Reform. New York u.a.: Lang,
1990, S.2 und 46.
151 ABBILDUNGEN

lange die Rede sein, zumal schon entsprechende Untersuchungen vorliegen, 1


aber gerade in einer politologischen Studie muß das Problem kurz
angesprochen werden.
In Frankreich steht die wissenschaftliche Entdeckung Joachims im
Zusammenhang mit der Romantik und ihrem Suchen nach der religiösen
Bedeutung der Revolution.2 Der erste, der systematische Forschungen über
den kalabresischen Mönch betreibt, ist der große Nationalhistoriker Jules
Michelet, später folgte ihm Ernest Renan mit einer ausführlichen
Joachimstudie.3 Bei Michelet und Renan, ebenso wie bei Auguste Comte
und der „Muse der Republik“, George Sand, steht Joachim für die
prophetische Vorwegnahme der Überwindung des Christentums durch eine
revolutionäre bzw. szientistische Religion. 4 Trotz einiger bedeutsamer
Einzelstudien hat sich in [[@Page:128]]Frankreich allerdings keine
vergleichbar große Tradition der Joachim-Forschung entwickelt wie in
Italien und Deutschland.
In Italien wird Joachim seit den Anfängen der franziskanischen
Bewegung im 13. Jahrhundert als antiklerikaler Prophet verehrt. Die
gleichfalls vom Antiklerikalismus geprägte intellektuelle Linke Italiens
pflegt diesen Mythos bis heute und preist den Abt (etwas anachronistisch)
als Gegner des „Thomismus“, das heißt der orthodoxen Dogmatik. Der
Joachimismus „ist das Gegenstück zu der offiziellen Geschichte der Kirche“,
schreibt der KPI-Mitbegründer, spätere Dissident und Schriftsteller Ignazio
Silone. Joachims Lehre sei das „schlechte Gewissen“ der allzu weltlichen
Kirche.5 Folgt man Silone, ist der Joachimismus, den er bezeichnenderweise
mit dem Franziskanertum gleichsetzt, geradezu eine Konstante im nationalen
Bewußtsein.6 Auch wenn man nicht so weit gehen will, läßt sich vermuten,
daß jeder gebildete Italiener zumindest eine Ahnung von dem kalabresischen

1
Gabelli, Anna Maria: „Gioacchimo da Fiore nella storiografia italiana del
’900“, in: Atti I (1980), S.245-268; Selge 1986.
2
Zur Joachim-Rezeption in Frankreich: Marjorie Reeves und Warwick Gould:
Joachim of Fiore and the Myth of the Eternal Evangel in the Nineteenth Cen-
tury. Oxford: Clarendon, 1987. Sh. v.a. die Kapitel III, V, VI.
3
Renan, Ernest: „Joachim de Flore et l’Evangile Éternel “, in: Ders.: Nouvelles
Études d’Histoire Religieuse. Paris: Lévy, 1884, S.217-322.
4
Sand, George:Spiridion. Bekenntnisse eines Mönchs. Stuttgart: Franckh’sche
Buchhandl., 1845, S.260ff.
5
So in einem Vorwort zu seinem Theaterstück über den joachitisch gesinnten
Papst Cölestin V. Silone, Ignazio: Das Abenteuer eines armen Christen. Köln
und Berlin: Kiepenheuer und Witsch, 21969, S.26f.
6
„Wenn immer geistig rege Menschen sich gegen das Schicksal auflehnten, so
führte die Rebellion in unserem Lande immer zur Anarchie oder zum
Franziskanertum. Unter der Asche des Skeptizismus ist bei denen, die am
meisten zu leiden haben, die uralte Hoffnung auf Das Reich, in dem die
Barmherzigkeit den Platz des Gesetzes einnimmt, der alte Traum des
Gioacchino da Fiore, der Spiritualisten, der Coelestiner nie ganz erloschen.“
Silone, Ignazio: Notausgang. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 21998, S.103.
Hervorh. i. Orig.
152 ABBILDUNGEN

Abt haben muß. Von Dante Alighieri 1 bis Umberto Eco2 sind Joachim und
die Joachiten beliebter Stoff der berühmtesten Schriftsteller des Landes. Ein
amüsantes, aber signifikantes Beispiel für die antiklerikale Legende ist ein
Ausschnitt aus dem Bühnenmonolog Mistero Buffo des Nobelpreisträgers
und selbst ernannten Volkspoeten Dario Fo:
Joachim von Fiore, der noch vor dem heiligen Franziskus lebte
und ein bißchen als Urvater aller häretischen Bewegungen
bezeichnet werden könnte, hatte sinngemäß gesagt: „Wenn wir
der Kirche Christi die Würde zurückgeben wollen, müssen wir
die Kirche zerstören: Rom, das schreckliche Ungeheuer, das
entsetzliche Untier, Rom. Und es reicht nicht aus, die Mauern
einzureißen, die Dächer und Kirchtürme, um die Kirche zu
vernichten. Diejenigen müssen wir treffen, die sie regieren, den
Papst, die Bischöfe, die Kardinäle.“ Ein bißchen radikal diese
Haltung. Tatsächlich schickte der Papst ihm sofort eine
Hundertschaft Soldaten, die ihn besuchen sollte, in den Bergen,
dort, wo er lebte. […] aber zu ihrem Unglück war er tot, als sie
ankamen. Noch warm, aber bereits tot. Zwei Minuten vor ihrer
Ankunft verstorben. Man weiß nicht, ob vor Schreck über die
Soldaten oder weil er ein Schelm war und es an dem schuldigen
Respekt ermangeln ließ. Ich glaube, so war es: Joachim von
Fiore war ein Spitzbube, ein großer Spitzbube.3 [[@Page:129]]
Für diese Darstellung gibt es keine historische Grundlage, außer der
italienisch-franziskanischen Joachimlegende. Dario Fo sei die Dichterfreiheit
selbstverständlich zugestanden, aber das Beispiel zeigt, daß der Umgang mit
Joachim seit jeher mit politischen Absichten zu tun hat, mögen sie
kirchenreformerisch, sozialreformerisch, protestantisch, marxistisch,
faschistisch oder antifaschistisch sein. Nicht zufällig begann die erste Welle
der Forschung nach dem 1. Vatikanischen Konzil, als sich viele Katholiken
enttäuscht von Rom abwandten. Nicht zufällig besorgte die ersten kritischen
Ausgaben einiger Schriften Joachims der „Modernist“ Ernesto Buonaiuti,
der sich mit dem Heiligen Stuhl ebenso angelegt hatte wie mit den
Faschisten.4 Und ebensowenig ist es ein Zufall, daß Buonaiutis
(protestantischer und vorübergehend zum Deutschchristentum neigender)
Schüler Ernst Benz dazu beitrug, hierzulande das Interesse der historischen

1
„Rabano è qui, e lucemi da lato,
il calavrese abate Giovacchino,
di spirito profetico dotato.“ Commedia, Paradiso XII, 140f.
2
Die joachitsche Bewegung bildet den bemerkenswert sorgfältig recherchierten
Hintergrund von Ecos millionenfach verkauftem Mittelalterroman. Eco,
Umberto: Der Name der Rose. München: dtv, 211997. Sh. v.a. S.70ff.
3
Fo, Dario: Obszöne Fabeln. Mistero Buffo. Szenische Monologe. Frankfurt am
Main: Verlag der Autoren, 1992, S.136f.
4
Den biographischen Hintergrund Buonaiutis beschreibt Ernst Benz in einer
ausführlichen Einleitung zu: Buonaiuti, Ernesto: Die exkommunizierte Kirche.
Zürich: Rheinverlag, 1966.
153 ABBILDUNGEN

und theologischen Forschung auf Joachim zu lenken. 1 In Deutschland


allerdings wurde die wissenschaftliche Deutung in andere Bahnen gelenkt,
denn ungeachtet der Skepsis Luthers hatten Reformation und
Protestantismus Joachim schon lange für sich in Anspruch genommen –
spätestens seit Thomas Müntzer ausrief: „Bei mir ist das Gezeugnis Abatis
Joachim groß.“2 Die protestantische Sichtweise hat ihrerseits wieder auf
Italien und andere Länder zurückgewirkt und tut dies bis heute.
Nicht weniger problematisch ist die marxistische Interpretation, die die
Lehre des Abtes nicht nur in einem antiklerikalen, sondern gar in einem
antikirchlichen Sinn verstanden wissen will. Der bedeutendste Protagonist
dieser Legende ist Ernst Bloch, der schreibt:
Die folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters wurde von dem
kalabrischen Abt Joachim di Fiore (um 1200) aufgestellt. Ihm
ging es nicht darum, Kirche, gar Staat von ihren Greueln zu
reinigen, sie wurden statt dessen abgeschafft. […] Es gibt, lehrt
Joachim, drei Stufen der Geschichte, und jede ist näher zum
betreibbaren [!] Durchbruch des Reichs. […] Die dritte Stufe,
die bevorsteht ist die des [[@Page:130]]Heiligen Geistes oder
der Erleuchtung aller, in mystischer Demokratie, ohne Herren
und Kirche.3
1
Benz widmete ein Buch über Joachim und die Joachiten „der kommenden
Kirche“. Benz, Ernst: Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und
Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. Stuttgart: Kohlhammer,
1934. Der Begriff der Reformation im Titel verweist bereits auf die
geschichtsphilosophischen Absichten. Allerdings zeigt das Vorwort keineswegs
eine Zustimmung zum „Reichsbewußtsein“ der Nationalsozialisten. Vielmehr
vollziehe sich in der christlichen Kirche auf universale Weise, was anderswo
„nationalen oder gruppenmäßigen Begrenzungen“ oder „dem Druck konkreter
geschichtlicher Forderungen und Egoismen“ unterliege. Das Umprägen der
christlichen Reichsidee „in eine soziale oder politische Reichsidee“ verhalte
sich kontraproduktiv zu der „ungeheuren Aufgabe“, die die Kirche noch zu
vollenden habe. Ebd., S.1f. In einem anderen Beitrag von 1931 schreibt er,
Joachims Lehre könne „auch zum Auffinden von Ideen und Begriffen einer
modernen christlichen Geschichtsdeutung von Nutzen sein“. Die „Bedeutung
Joachims als Prophet“ liege in „der Vorausbestimmung einer zukünftigen
Geistkirche und der Deutung ihrer Auseinandersetzung mit der Papstkirche“.
Der konfessionelle Hintergrund liegt offen zutage, denn von einer solchen
Auseinandersetzung ist bei Joachim nicht die Rede. Benz, Ernst: „Joachim-
Studien I.: Die Kategorien der religiösen Geschichtsdeutung Joachims“, in:
ZKG 50 (1931), S.24-111, S.25.
2
Müntzer, Thomas: „Von dem getichten Glauben auf nechst Protestation
ausgegangen Tome Müntzers, Selwerters zu Alstet, 1524“, in: Ders.: Die
Fürstenpredigt. Theologisch-Politische Schriften. Hrsg. von Günther Franz.
Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam, 1983, S.16-26, S.26. Müntzer berief sich
allerdings auf den pseudo-joachimischen Jeremia-Kommentar.
3
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 51998,
S.590f. Das wirklich Ärgerliche an Blochs Ausführungen ist, daß er lateinische
Begriffe erfindet, um dem Leser zu suggerieren, er sei mit der Primärliteratur
vertraut. Er schreibt etwa: „[…] so stammt außer dem Ausdruck ‚Tertium
154 ABBILDUNGEN

Wenn hier darauf verwiesen wird, daß kein Wissenschaftler ohne


Voraussetzungen ans Werk geht, dann wird damit die Lauterkeit von
herausragenden Forschern wie Herbert Grundmann keineswegs in Frage
gestellt. Es ist bewundernswert, wie sich der junge Doktorand von den
schwärmerischen Kündern des „Dritten Reiches“, die im Deutschland der
späten 20er so zahlreich auftraten, durch strikte Wissenschaftlichkeit
abgrenzte. Aber sein Protestantismus hat bei der Wahl des Themas sicher
eine Rolle gespielt.1 Vielleicht sind ihm gerade deshalb tiefere
Ein[[@Page:131]]blicke in das Werk Joachims gelungen als einigen seiner
historistisch gesinnten Fachkollegen hierzulande, die in vermeintlicher

Evangelium‘ auch der Ausdruck ‚Tertium Imperium‘ vom Calabreser Abt.“ In


Wahrheit hat Joachim keinen der beiden Begriffe jemals verwendet. Bloch,
Ernst: Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte. Aus Leipziger
Vorlesungen. (= Gesamtausgabe Bd.12). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.
Die marxistische Forschung hat jedoch mit Bernhard Töpfer einen
herausragenden und allseits anerkannten Fachmann hervorgebracht. Töpfer,
Bernhard: Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer
Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter. Berlin, 1964. In seinem Buch läßt
allerdings sich gut beobachten, wie der wissenschaftliche Anspruch ständig mit
der marxistischen Grundüberzeugung kollidiert. So stellt er etwa in einer
Fußnote ausdrücklich gegen kommunistische Joachim-Interpretationen fest:
„[…] Fragen wie die des Verhältnisses zwischen Feudalherren und Bauern
stehen gänzlich außerhalb des Interessenbereichs Joachims.“ Ebd., S.48,
Anm.3. Andererseits kann die für den Marxisten unumgehbare Betonung der
historisch-sozialen Umstände als Korrektiv zu manchem allzu idealistisch
gezeichneten Bild Joachims gelten. Sh. dazu Töpfers Rückblick auf seine
Arbeit in der DDR: Töpfer Bernhard: „Vorstellungen von einem ursprünglichen
und einem endzeitlichen Idealzustand als Ausdruck utopischen Denkens im
Mittelalter (unter besonderer Berücksichtigung von Interpretationen des
Kapitels Dilectissimis der Causa XII des Decretum Gratiani) bis zum frühen
14. Jahrhundert“, in: Michel Borgolte (Hrsg.): Mittelalterforschung nach der
Wende 1989. München: Oldenbourg, 1995, S.387-406, S.387f.
1
Selge, Kurt-Victor: „Joachim von Fiore in der Geschichtsschreibung der
letzten sechzig Jahre (von Grundmann bis zur Gegenwart). Ergebnisse und
offene Fragen“, in: Atti II (1986), S.29-53, S.34ff. Selge betont gegen Anna
Maria Gabelli, daß sich das Interesse an Joachim nicht auf den Antifaschismus
beschränken läßt: „Dabei ist ganz im Gegenteil klar, daß die
nationalsozialistische Bewegung in Deutschland an den Hoffnungen und
Erwartungen sozialer und geistiger Erneuerung Anteil gehabt hat, wie sie das
erste Drittel unseres Jahrhunderts erfüllten und unter anderem im Mythos vom
‚Dritten Reich‘ symbolischen Ausdruck fanden. Eine neue Kirche und eine
erneuerte Gesellschaft – das sind die dringlichen und generellen Hoffnungen,
die den entlegenen Hintergrund der Joachimstudien bilden, ganz unabhängig
davon, wie die einzelnen Forscher sich dann angesichts der Sirenenklänge der
faschistischen und nationalsozialistischen Bewegung entscheiden, oder welch
ein Geschick ihnen diese Bewegungen dann bereiten würden. Auch die Rolle
von emigrierten Forschern – wie Beatrix Hirsch-Reich – ist hier nicht zu
vergessen. Schließlich darf man einen spezifisch protestantisch-
nordamerikanischen Aspekt als Hintergrund der Studien über die ‚Suche nach
dem Tausendjährigen Reich‘ anführen. Es ist die neuere Krise des
155 ABBILDUNGEN

Ideologiefreiheit noch jeder Quelle den Geist ausgetrieben haben. 1


Eines sollte aber nach diesen knappen Anmerkungen deutlich geworden
sein: Welche der genannten Motive auch immer hinter den Joachimstudien
standen, sie förderten nicht gerade den Blick auf Joachim als einen
Parteigänger des Papstes. Ähnliches ließe sich wahrscheinlich für die
amerikanische Forschung feststellen. Das Problem wird im übrigen nicht
kleiner dadurch, daß einige vornehmlich italienische Forscher versucht
haben, Joachim zu einem zahmen Katholiken zu machen. 2 Es geht hier nicht
um die theologische Frage der Rechtgläubigkeit, sondern um die politische
Frage nach Joachims Haltung gegenüber dem Papsttum.

Zurück zum Text der Genealogia: Es sei an das oben skizzierte


Problem erinnert, vor das sich ein zeitgenössischer Beobachter der
Ereignisse gestellt sah: Kirche und Reich lagen offensichtlich im
Krieg. Joachim schrieb den Text, wie er selbst vermerkt (1d), im Jahr
1176, also in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung einen neuen
Höhepunkt erreicht hatte.3 Das Schisma schien sich zum Dauerzustand
auszuwachsen. Obwohl Barbarossas Unterstützung für den
Gegenpapst nachließ, folgten auf Viktor IV. zwei weitere
Gegenpäpste, Paschalis III. und Kalixt III. Rom, die Stadt seines
Bischofssitzes, wagte der legitime Papst nicht zu betreten und mußte
dulden, daß ein Schismatiker auf dem apostolischen Stuhl Platz nahm.
Es war kaum zuverlässig einzuschätzen, wie sich die auf
puritanischen Erbes im Mythos der Vereinigten Staaten von Nordamerika als
dem Gelobten Land der Hoffnung auf eine ‚Neue Welt‘ der Freiheit und der
Suche nach dem Glück, zugleich mit der neuerkannten Notwendigkeit, sich
über die utopisch-messianischen Züge der totalitären marxistischen Ideologie
als des großen Konkurrenten auf dem Wege zu einer Neuordnung der
menschlichen Verhältnisse im Weltmaßstab Rechenschaft zu geben. Der
geistige Hintergrund der Joachimstudien ist also sehr viel weiter und diffuser.“
Ebd., S.34f.
1
Bezeichnend ist das Schlußwort in seiner Studie über Joachims Intelligentia
super calathis, die Grundmann beurteilt als „eine ungewöhnliche Quelle für
den Historiker, der nicht nur aus spröden Urkunden und Chroniken den Ablauf
der Ereignisse erschließen, sondern ihn begreifen will, aus den Motiven und
Spannungen der oft auch damals zwiespältigen Gedankenwelt der
Zeitgenossen; schließlich ein Zeugnis für eine christliche Gesinnung, die
ähnlich auch zu anderen Zeiten bis heute über Entscheidungsfragen der Politik
sich ihre eigenen Gedanken macht.“ Grundmann, Herbert: „Kirchenfreiheit und
Kaisermacht um 1190“, in: Grundmann 1977, S.360-402, S.402.
2
Z.B. Russo, Francesco: Gioacchino da Fiore e le fondazioni Florensi in
Calabria. Napoli: Fausto Fiorentino, 1959, S.26ff.
3
Zum folgenden: HbKg III/2, S.81ff.; Oppl, Ferdinand: Friedrich Barbarossa.
Darmstadt: Wiss. Buchges., 1990, S.209ff.; Jordan, Karl: Handbuch der
deutschen Geschichte. Bd. 4: Investiturstreit und frühe Stauferzeit. München:
dtv, 101999, S.146ff.
156 ABBILDUNGEN

Selbständigkeit dringenden Städte des lombardischen Bundes


verhalten würden, die sich schon in der Vergangenheit als
ausschlaggebende Kraft etabliert hatten. Die Verhandlungen zwischen
dem wohl rechtmäßigen Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich I.
waren mehrfach gescheitert. Nun aber war der Widersacher des
Papstes nicht mehr nur gedanklich, sondern auch physisch präsent:
Barbarossa stand mit einem Heer in Italien.
Ob Joachim vor oder nach der entscheidenden Niederlage des
Kaisers bei Legnano (29. Mai 1176) schrieb, ist nicht bekannt.
Sicherlich aber konnte er noch kaum absehen, daß damit ein
Wendepunkt erreicht war und eine Annäherung der beiden Mächte
[[@Page:132]]möglich wurde. Der Vorvertrag von Anagni (eigentlich
ein Waffenstillstandsabkommen) zwischen Alexander III. und
Friedrich I. kam erst im November des Jahres zustande, die
endgültigen Friedensverhandlungen begannen im April 1177. Selbst
wenn Joachim schon von Legnano oder Anagni gewußt hätte, er hätte
dem Staufer kaum getraut.1 Die Situation im Jahr 1176 war also
geprägt von Krieg, Schisma, der fortbestehenden Exkommunikation
Barbarossas und dem (noch) gültigen Schwur des Kaisers, daß er
diesem Papst auf ewig die Anerkennung verweigern werde.
Inwieweit die Ereignisse Joachim persönlich betrafen, ist nicht
bekannt. Sicher ist, daß er in allen seinen Schriften ein deutliches
Endzeitbewußtsein an den Tag legt, das lediglich unterschiedliche
Grade an Dringlichkeit aufweist.2 Wie viele andere wird er sich also
gefragt haben, ob die gegenwärtigen Wirren schon die letzte große
Attacke des Antichrist einläuteten, die alle Apokalyptiker vor dem
Weltende erwarteten. Und wie andere Exegeten vermutete auch er den
Schlüssel zu allen Rätseln in der Apokalypse des Johannes.
Irgendwann, als er über dieses Problem meditierte, sah er schlagartig
die Lösung vor sich. Joachim selbst beschrieb diese Erkenntnis später
als eine Vision. Er erzählt, daß er eine Zeder schauen durfte, als er
sich auf einem Berggipfel aufhielt – keineswegs eine profane Zeder,
wie sie in Bergwäldern zu finden sei, sondern eine, die ihm durch
1
Rückblickend schreibt er über die damaligen Ereignisse: „Sane generatione
quadragesima facta est pax eadem reliquis diebus ipsius pape [Alexandri], que
cepit iterum infringi in diebus pape Lucii maximeque Vrbani, ita ut in diebus
eius supramodum et supra uires angustaretur ecclesia.“ Conc. IV,23, fol.53 va,
Daniel 386,3-8. Im Liber introductorius äußert Joachim sein grundsätzliches
Mißtrauen gegenüber den Scheinchristen Neu-Babylons: „Sed quid si vincuntur
illi [gentes infideles] et manet adhuc superbia babilonis adversus cives
Ierusalem? Quis enim deterior hostis quam familiaris inimicus? Quid inde si
non occidor a gentibus et me superbus christianus affligit?“ Exp. Intr., fol.24rb.
2
Endzeitbewußtsein meint hier nicht mehr als die damals weit verbreitete
Wahrnehmung, daß die Prozesse begonnen haben, die das Weltende einleiten.
Nicht gemeint ist eine unmittelbare Naherwartung in dem Sinne, daß das Ende
jeden Augenblick zu erwarten ist. Denn dies hätte es überflüssig gemacht, an
das Diesseits überhaupt nur einen Gedanken zu verschwenden.
157 ABBILDUNGEN

Gnadengabe zuteil geworden sei.1


Von solch einem Baum ist im Text die Rede. 2 Im Grunde handelt
es sich um eine Anleitung zur graphischen Darstellung eines solchen.
Doch bevor dies näher erörtert werden kann, empfiehlt es sich, kurz
auf Joachims Offenbarungsverständnis einzugehen, das in der
Genealogia schon ansatzweise erkennbar wird.
Der zentrale Begriff in der Exegese Joachims heißt concordia,
auch wenn er im obigen Text noch nicht begegnet. Der Abt benennt
damit die von ihm entdeckte Strukturgleichheit der beiden
Testamente. Er hat den Gedanken später zum Thema eines seiner
Hauptwerke gemacht, dem Liber Concordiae Novi ac Veteris
Testamenti; grundsätzlich aber prägt er fast alle seiner Schriften. Der
Begriff Strukturgleichheit paßt an dieser Stelle ganz gut, weil Joachim
den biblischen Offenbarungstext mehrfach mit einem Gewebe
[[@Page:133]]oder Flechtwerk vergleicht.3 Darauf verweist bereits
der erste Satz der Genealogia, in dem er das Verbum texere (weben,
flechten) verwendet. Joachim sucht also nach der strukturellen Logik,
nach der die Geschichte aufgebaut ist, und kommt zu dem Ergebnis,
daß die Gewebestruktur des Alten Testamentes jener des Neuen
Testamentes entspricht, in den Details wie in der Gesamtanlage. Dies
bedarf einiger Erläuterungen:
Joachim hat die Problematik des jüdisch-christlichen
Offenbarungszeugnisses recht gut erfaßt. Er geht von der Bibel nicht
als einem einheitlichen Buch aus, das vollständig als das durch Mittler
gesprochene oder geschriebene Wort Gottes zu verstehen ist, wie etwa
Muslime den Koran begreifen. Wie die meisten mittelalterlichen
Exegeten verwendet er das Wort biblia nicht,4 sondern versteht die
sanctae scripturae als eine heterogene, gleichwohl kanonische
Sammlung von Texten mehrerer inspirierter Autoren.5 Diese
Sammlung enthält neben Überlieferungen von Gottesworten auch
Berichte über die Selbstoffenbarung Gottes, wie sie sich in seinem
Handeln manifestiert. Das Alte Testament umfaßt daher nicht nur
1
„[…] talem nos cedri huius ymaginem assignare oportet, qualem eam pro
dono gratie in montis uertice contemplati sumus, non quales in siluis montium
consueuerunt inueniri.“ Conc. IIb,1, fol.19rb, Daniel 146,21-23.
2
Daß Joachim dort von Zedern, hier von Feigen spricht, hat nicht viel zu sagen,
sondern hängt mit der jeweils kommentierten Bibelstelle ([[Ez 17,22f. >>
Bible:Hes 17,22f]] bzw. Mk 11,12-14 par.) zusammen, weniger mit dem Inhalt
seiner Vision; für botanische Feinheiten fehlte ihm jeglicher Sinn.
3
Die lateinischen Begriffe textum und textus legen diese Analogie ohnehin
nahe. Vgl. auch den Begriff der textura concordie in Conc. IIa,25, fol.16rb,
Daniel 126,33.37; Conc. IIIa,3, fol.40rb, Daniel 294,47f.; und Joachims
Umschreibung seiner exegetischen Aufgabe in Psalt. II, fol.272va: „[…] ad
retexendam huiuscemodi telam generationum veniendum est […].“
4
Vgl. Smith, Lesley: „What was the Bible in the Twelth and Thirteenth Centur-
ies?“, in: Lerner 1996, S.1-15, S.2.
5
Vgl. z.B. Ench., Burger 10,58ff.; Exp. Intr., fol.2vb-3ra.
158 ABBILDUNGEN

Prophezeiungen, Psalmen und Weisheitstexte, sondern auch


Erzählungen (historiae) über die Geschichte des Volkes Israel, in der
man Gott am Werke sieht. Der Herr offenbart sich eben nicht nur in
Worten, sondern auch in Werken, sei es die Herausführung Israels aus
Ägypten oder die Einsetzung des davidischen Herrscherhauses. Es ist
daher nicht inkonsequent, wenn Joachim unter dem Neuen Testament
nicht nur den Kanon aus Evangelien, Apostelgeschichte, apostolischen
Briefen und Apokalypse versteht, sondern ebenso das Zeugnis
(testamentum) von den Handlungen des Herrn am neuen Gottesvolk,
der Kirche. Das Neue Testament in diesem Sinne umfaßt die ganze
Kirchengeschichte (historia ecclesiastica).
Die Frühschriften des Abtes, Genealogia, De pophetia ignota und
das erste Buch des Liber Concordiae, sind ekklesiologisch nicht sehr
ergiebig. Der Kirchenbegriff entspricht im wesentlichen dem der
Apokalyptik, seine Plausibilität wurde gleichwohl von der exklusiven
Ekklesiologie der gregorianischen Reform begünstigt. Es handelt sich
um die Gemeinschaft der Gerechten Gottes, die in einer fremden Welt
der Verfolgung durch wechselnde Mächte ausgesetzt ist. Die innere
Ordnung der Kirche ist kein Thema. Weder die Drei-Status-Lehre
noch jegliche Art von Fortschrittsdenken spielen beim frühen Joachim
eine Rolle.
Wenn also beide Testamente im Verhältnis der Konkordanz
stehen, dann muß in irgendeiner Weise die Geschichte Israels der
Geschichte der Kirche entsprechen. Wie in der Genealogia
verdeutlicht Joachim dies in der Regel mit einem zweigeteilten Baum,
der die duale Struktur des göttlichen Geschichtsplans veranschaulicht.
Und das war es auch, was ihm die Baumvision vor Augen führte oder
worin sie ihn zumindest bestätigte: 1 die Geschichte der Kirche
1
Ein Passus in dem späteren Werk Enchiridion super Apocalypsim scheint ge-
gen eine Vision zu sprechen: „Denique et ego, cum librum hunc lectitare coep-
issem, et adhuc concordiarum sacramenta nescirem, quo illuc impetu a primo
ductus sim nescio, Deus scit. Unum scio quod nequaquam historiarum peritia
ad concordiae notitiam perductus sum; sed sola praeteritorum operum, hoc est,
testamenti veteris comparatione pulsatus, credens discordare non posse in cor-
pore, quod in capite concors inveni, nec ociosum fore in reliquis sanctis, quod
in patriarchis et apostolis concordare perpendi, dedi operam in hoc ipso, ut
quantum Deus mihi concederet testimoniorum concordiam compilarem. Ench.,
Burger 47,1256-48,1264. Ausgeschlossen wird hier allerdings nur, daß
Geschichtskenntnisse der erste Anstoß zu seiner Lehre waren. Man wird
annehmen dürfen, daß Joachim bei der Erforschung der Heiligen Schrift
zunächst Parallelen festgestellt hat, die er sich nicht erklären konnte. Vielleicht
ahnte er bereits die Konkordanz der Testamente, als ihm das Bild des Baumes
half, seinen Gedanken konkrete Gestalt zu geben. Zwar ist dies von den
Erlebnisberichten der Mystiker und Apokalyptiker weit entfernt, aber der
Begriff Vision ist wohl gerechtfertigt, wo es um die Schau göttlicher
Geheimnisse (sacramenta) geht. Denn auf dieser gnadenhaften Schau besteht
Joachim im Liber Concordiae (Conc. IIb,1, fol.19rb, Daniel 146,21-23). Die
Vision eines einzigen Bildes, ist in gewisser Weise typisch für Joachims
159 ABBILDUNGEN

wiederholt in gewisser Weise die Geschichte Israels.


[[@Page:134]]Ganz offensichtlich ist Joachim bemüht, sich seine
Vision immer wieder zu vergegenwärtigen, in dem er sie an der Bibel
als der autoritativen Quelle göttlicher Offenbarung mißt und zugleich
versucht, den Leser an seinem Verständnisprozeß zu beteiligen. Die
gleiche Methode wendet er im übrigen auch da an, wo er den
Wahrheitsgehalt von Visionen begreifen will, die anderen Menschen
zuteil wurden, wie z.B. dem Propheten Ezechiel.1 Immer müssen
korrespondieren Bibelstellen gefunden werden, um die Aussage zu
klären.
Man müsse sich zunächst die Bäume vor sein geistiges Auge
stellen, sagt Joachim im Liber Concordiae.2 Im ständigen Dialog mit
der Heiligen Schrift, aber auch den Chroniken beginnt er dann, den
Bäumen immer konkretere Gestalt zu verleihen, bis sie schließlich
mehr oder weniger alle wichtigen Epochen, Ereignisse und Personen
der (im wahrsten Sinne des Wortes) weit verzweigten Heilsgeschichte
aufweisen. Da dem Leser die Gesamtkonzeption kaum in Worten
anschaulich gemacht werden kann, verfiel Joachim schon früh darauf,
seine Visionen und Gedanken anhand von gezeichneten Figuren zu
visualisieren. Die wahrscheinlich bedeutendsten von ihnen wurden
von ihm oder seinen Schülern in einem Liber Figurarum
zusammengestellt.3 Der obige Text der Genealogia ist im Grunde
nichts weiter als ein Kommentar zu einem von Joachims Baumbildern,
wie sie den Handschriften beigefügt waren, und damit letztlich die
Exposition seiner Vision (sh. Abbildung 1 im Anhang).4 Für den
heutigen Interpreten bedeu[[@Page:135]]tet dieser Sachverhalt eine
ungewöhnliche hermeneutische Herausforderung, da es gilt, Figuren
und Text synoptisch zu erfassen.
Was also heißt dies nun alles für das skizzierte Problem, die
exakte Auslegung der Apokalypse auf die konkrete Geschichte hin?

spirituelles Erleben. Die spätere Vision des Psalters hat ähnlichen Charakter. Es
stellt sich sogar die Frage, ob nicht der Liber Figurarum insgesamt Ausdruck
solcher Erfahrungen ist.
1
„[…] rotam illam, quam vidit Ezechiel propheta, nos quoque pro dono dei
videre subtiliter studeamus, quatinus per multa concordiarum itinera ad unam
veritatis notitiam pervenire possimus.“ Conc. V,85, fol.112vb-113ra; Lib. Fig.,
tav.XV.
2
„Ponamus suprascriptas arbores ante oculos mentis […].“ Conc. IIb,1, fol.19rb,
Daniel 145,1.8.
3
Zur Authentizität der Figuren: Troncarelli, Fabio: „Il Liber figurarum tra
‚gioachimiti‘ e ‚gioachimisti‘“, in: Atti V (2001), S.267-286.
4
Lib. Fig., tav.II stammt möglicherweise aus der gleichen Zeit wie die
Genealogia, denn der letzte Papst, der erwähnt wird, ist Alexander III. (†
1181). Auch fehlt jeder Hinweis auf Joachims spätere Lehre vom dritten Status.
Das Ende der Geschichte besteht lediglich in der Wiederkehr Christi zum
Gericht, während Lib. Fig., tav.I bis zu Urban III. weitergeführt ist und deutlich
auf das kommende Zeitalter des Heiligen Geistes verweist.
160 ABBILDUNGEN

Joachims theoretische Grundkonzeption ist einfach, kompliziert wird


sie erst in der Durchführung: Ein Visionsbericht der Apokalypse
erzählt, wie das Lamm, also Christus, aus der Hand Gottes eine
Buchrolle mit sieben Siegeln erhält.1 Mit jedem Siegel, das das Lamm
öffnet, wird die Menschheit von eine neue Plage getroffen. Lediglich
bei der Öffnung des siebten Siegels ist den Menschen eine kurze
Ruhepause vergönnt, bevor die letzte Katastrophe einsetzt.2 Wie
gesehen, hatten bereits verschiedene Exegeten die Siegel mit den
Verfolgungen gleichgesetzt, die die Kirche im Laufe ihrer Pilgerschaft
auf Erden erdulden muß. Joachims Neuerung bestand lediglich darin,
daß er die Buchrolle, also den Plan Gottes, in eine neue Beziehung
zum Alten Testament setzte. Mit jeder Verfolgung, unter der die
Synagoge, also das Volk Gottes in alttestamentlicher Zeit, zu leiden
hatte, so meinte er, wurde ein Siegel an der Rolle angebracht. 3 „Diese
sieben Drangsale waren die sieben Siegel, das heißt die verborgenen
Siegel der künftigen Dinge“ (3b). Wenn die Siegel nun wiederum von
Christus geöffnet wurden, so hieß das, daß die Kirche, also das Volk
Gottes in neutestamentlicher Zeit, ähnliche Verfolgungen zu leiden
hatte. Der alttestamentlichen Reihe der sieben Siegel (sigilla) steht
somit die neutestamentliche Reihe ihrer Öffnungen (apertiones)
gegenüber.4 Aufgrund der Strukturgleichheit der Testamente konnte
man davon ausgehen, daß auch die Reihenfolge genau die gleiche sein
mußte. Die Lösung lautet also: Der Schlüssel zur Apokalypse ist das
Alte Testament. In Absatz 1e steht der zentrale Satz:
Diese [weisen Männer] bedachten die Drangsale, die die Kinder
Israels von Jakob bis zu Christus ereilt hatten, und die Übel, die
der Kirche von Christus bis zur Gegenwart zugestoßen waren,
indem sie diese jenen gegenüberstellten.
Daß sich Joachim hier auf anonyme weise Männer (sapientes) berufen
muß, zeigt, daß er sich der Neuheit des Gedankens sehr wohl bewußt
war.5 Die politische Bedeutung der [[@Page:136]]Entdeckung liegt
1
Offb 5,1-7.
2
Offb 6; 8,1-5.
3
Vgl. Potestà 2000, S.71.
4
Vgl. Ench., Burger 14,184ff; Exp. Intr., fol.3vb-4ra.
5
Es ist bezeichnend, daß die Chronisten, die bald nach Joachims Tod schrieben,
ganz genau verstanden, worauf es ankam. In der Chronik des Erzbischofs von
Gloucester, Radulfus Niger († 1217), findet sich folgende kurze Notiz über den
kalabresischen Abt: „His diebus Ioachim quidam monachus Cisterciensis, a
fere illiterato subito factus intelligens, scripsit super Apocalipsim, et apertiones
sigillorum per preteritas persecutiones distinguens, quodammodo Novum
Testamentum Veteri Testamento comparavit et diem iudicii proxime futuram
asseveravit, quia ultimi sigilli apertio, in quo Antichristus venturus erat, a
limine iam immineret.“ Zit. n. Pispisa, Enrico: Gioacchino da Fiore e i cronisti
medievali. Messina: Sicania, 1988, S.33. Das gleiche Zitat auch in:
Grundmann, Herbert: „Dante und Joachim von Fiore. Zu Paradiso X-XII“, in:
161 ABBILDUNGEN

vor Augen: Sollte es Joachim gelingen, die Verfolgungen genau


zuzuordnen, so wußte er, wie die gegenwärtige Situation
einzuschätzen war. Dann konnte er zum Beispiel herausfinden,
welchen alttestamentlichen Herrschern die Stauferkaiser entsprachen.
Er mußte nur die Geschichte jener Könige im Alten Testament zu
Ende lesen, dann konnte er nicht nur die Gegenwart besser
einschätzen, sondern auch die Zukunft voraussagen; dann wußte er,
von woher Gefahr drohte und wie man sich ihr gegenüber zu verhalten
hatte. Sollten die Mächtigen seiner Lösung Glauben schenken, dann
mußte er für sie zum wertvollsten aller Berater werden.
Seit jeher besteht die existentielle Not aller Regenten darin, daß
sie weitreichende Entscheidungen fällen müssen, ohne über die
geringste Sicherheit zu verfügen, daß ihre Einschätzung der künftigen
Dinge richtig ist. Solange das historische Gedächtnis zurückreicht,
umgeben sie sich daher mit Experten, deren Geschäft die Prognostik
ist. Mögen sie sich Astrologen, Vogelschauer, Exegeten oder
Wirtschaftswissenschaftler nennen, ihre Aufgabe ist es, virtuelle
Planungssicherheit herzustellen und den Entscheidungsträger von
einem Teil seiner Verantwortung zu entlasten.1 Doch bevor Joachim
soweit war, mußte er zu größerer Sicherheit gelangen und die
Strukturgleichheit der Testamente anhand konkreter Parallelen
festmachen. Denn die Strukturgleichheit betrifft keineswegs nur den
allgemeinen Verlauf (cursus generalis) gemäß den sieben Siegeln,2
sondern prinzipiell jede Person und jedes Ereignis, das in der Heiligen
Schrift erwähnt wird. Auch diese Parallelen nennt Joachim später
concordiae, diesmal im Plural.
Joachim definiert die concordia als eine „Ähnlichkeit der gleichen
Proportion“ (similitudo eque proportionis), wobei „Proportion“
sowohl im quantitativen Sinne, etwa bei numerischen Werten, als
auch im qualitativen Sinne verstanden werden kann, wenn
beispielsweise die Würde zweier Personen miteinander verglichen

Grundmann 1977, S.167-210, S.200. Grundmann führt Radulfus in einer langen


Reihe von Chronisten auf, von denen er meint, sie hätten Joachim falsch
verstanden, weil sie nicht vom dritten Status sprechen. Ebd., S.199. Das ist
keineswegs der Fall. Radulfus hat sehr gut verstanden. Für die meisten
Zeitgenossen wird es schlicht interessanter gewesen sein, zu erfahren, was sie
selbst in unmittelbarer Zukunft zu erwarten haben und nicht, was künftigen
Generationen bevorsteht.
1
Es ist sicher kein Zufall, daß man den ersten biblischen Apokalypsen eine
Rahmenhandlung gegeben hat, in der der Seher Daniel als Berater der
babylonischen Herrscher vorgestellt wird. Damit mag einerseits zum Ausdruck
kommen, daß den irdischen Reichen, die über Palästina herrschen, ihr
Untergang in Aussicht gestellt wird. Andererseits aber wird Daniel von den
Königen geehrt, weil seine Kunst jene der anderen Wahrsager, Orakeldeuter
und Astrologen bei Hofe übersteigt. Vgl. Dan 2; 4; 5.
2
Ench., Burger 29,652f.
162 ABBILDUNGEN

wird.1 In seinen Hauptwerken hat Joachim mit einer beachtlichen, den


heutigen Leser allerdings stark ermüdenden Akribie unzählige dieser
Ähnlichkeiten bis ins kleinste Detail erforscht. Zwar erfährt das
principium concordiarum2 mit der Entdeckung des dritten Status noch
einmal eine Weiterung, aber insgesamt bildet es eine Konstante in
Joachims Denken und gibt gleichsam die Matrix ab, auf der sich die
Geschichtsdeutung des Abtes entfal[[@Page:137]]tet. Einige Aspekte,
die bereits in der Genealogia hervortreten und dort mit einer später nie
wieder erreichten Prägnanz vorgetragen werden, seien im Folgenden
erörtert.
Israel/Kirche: Joachim entnimmt viele seiner basalen Symboliken
den paulinischen Briefen, wenngleich ihm in den Frühschriften noch
das theologische und ekklesiologische Tiefenverständnis abgeht.
Christus ist also der neue Adam, der die in Adam gefallene
fleischliche Menschheit auf dem Fundament der Gnade als geistliche
Menschheit neubegründet. Die Ekklesia, in der der Mensch durch die
Taufe neugeboren wird, ist das geistliche, am Herzen beschnittene
Gottesvolk, das an die Stelle des alten Gottesvolkes Israel tritt,
welches am Fleisch beschnitten ist. Die beiden Gottesvölker bilden
jeweils den Stamm der beiden Bäume in Joachims Figur. Schon
Paulus hatte sich des Bildes einer göttlichen Veredelung des
Menschheitsbaums bedient, das sich in modifizierter Fassung in der
Genealogia wiederfindet.3 Im Römerbrief schrieb er, daß die Gnade
Gottes aufgrund der Verweigerung der Juden auf die Heiden übergeht.
Paulus sprach nur von einem neuen Ast am Baum der Erwählung;
Joachim, der auf beinahe 1200 Jahre Kirchengeschichte zurückblicken
kann, spricht von einem zweiten Baum, der auf den ersten gepfropft
wird (1a).
Adam/Usija: Aber dann fällt eine Besonderheit auf: Der zweite
Stamm beginnt nicht etwa mit Christus, wie man erwarten würde,
sondern mit dem judäischen König Usija, einer nicht eben sehr
populären Figur aus dem Alten Testament. Von seiner Regierungszeit
an, so erklärt Joachim, hätten das Neue Testament und die Kirche
ihren Ausgang genommen (1b).4 Dies mag auch für die Zeitgenossen
1
„Concordiam proprie esse dicimus similitudinem eque proportionis noui ac
ueteris testamenti; eque dico quo ad numerum, non quo ad dignitatem; cum
uidelicet persona et persona, ordo et ordo, bellum et bellum ex parilitate
quadam mutuis se uultibus intuentur: utpote Abraham et Zacharias, Sara et
Elisabeth, Isaac et Iohannes baptista, Iacob et homo Christus Ihesus, duodecim
patriarche et numeri eiusdem apostoli […].“ Conc. IIa,2, fol.7 rb-va, Daniel 62,1-
6.
2
So nennt Joachim seinen hermeneutischen Grundgedanken in einer späteren
Schrift. Int. cal. praef., De Leo 135,7.
3
Auf das Vorbild des Apostels verweist Joachim in De proph. II,5, Kaup
200,12-202,2.
4
„Ab Ozia namque initiatum est testamentum nouum quod confirmatum est in
Christo […].“ Conc. IIa,10, fol.10va, Daniel 81,11.
163 ABBILDUNGEN

sehr ungewöhnlich geklungen haben. Nirgendwo im Alten oder Neuen


Testament beruft sich irgend jemand auf das Vorbild Usijas. Die
Abschnitte, die ihm die Bibel widmet und die trotz seiner langen
Regierungszeit von 52 Jahren sehr knapp bemessen sind, zeichnen ein
ambivalentes Bild und sprechen nicht gerade von einer Lichtgestalt. 1
Nach der Chronik drang Usija in den Tempel ein und wollte ein
Rauchopfer darbringen. Die Tat wird als Affront gegen die empörte
Priesterschaft geschildert, als illegitimer Eingriff in die
Sakralordnung. Gottes Strafe ereilte den König an Ort und Stelle, in
Gestalt von Aussatz. Usija mußte den Rest seines Lebens in
Quarantäne verbringen und verlor die Herr[[@Page:138]]schergewalt
an seinen Sohn Jotam.
Erst die christliche Herrschaftslehre verhalf Usija zu einiger
Bedeutung, beurteilte ihn aber keineswegs positiv. Seit Ambrosius
wurde er als abschreckendes Beispiel für die schweren Strafen
genannt, die Gott über jenen Herrscher verhängt, der versucht,
Befugnisse aus dem priesterlichen Machtbereich zu usurpieren. 2
Joachim dagegen stellt überraschend die Konkordanz zwischen Adam
und Usija her. Der eine stehe für den Anfang des Alten, der andere für
den Ursprung des Neuen Testamentes.3 Andernorts begründet Joachim
die Parallele Adam/Usija damit, daß beide nach jeweils gutem Anfang

1
2 Kön 14,21f. mit 15,1-7; 2 Chr 26,1-27,2. Die extrem kurze Abhandlung im
2. Königsbuch entspricht der Intention der deuteronomistischen
Geschichtsschreibung, die die Höhepunkte der Königszeit in den Kultreformen
erblickt. Hierzu hat Usija scheinbar nichts Entscheidendes beigetragen. Kraus,
Hans-Joachim: Prophetie und Politik. München: Kaiser, 1952, S.35; Fohrer,
Georg: Geschichte der israelitischen Religion. Freiburg u.a.: Herder, 1992,
S.310f. Die Chronik ist etwas ausführlicher, aber auch dort gilt Usija nicht als
großer König, obwohl Juda unter seiner Herrschaft offenbar eine Blütezeit
erlebte. Eißfeldt, Otto: „Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum
Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. Vom Aufkommen des Königtums in Israel
bis zum Ende des jüdischen Exils“, in: Elena Cassin u.a. (Hrsg.): Die
Altorientalischen Reiche III. Die erste Hälfte des 1. Jahrtausends. (=
Weltgeschichte Bd.4). Augsburg: Weltbild, 1998, S.125-219, S.178. Aus
alttestamentlicher Sicht ist die politisch wichtigste Stelle, an der Usija erwähnt
wird, die Berufung Jesajas (Jes 6,1-13), die im Todesjahr des Königs erfolgt.
Damit wird nach Ansicht Martin Bubers das ewige Königtum Gottes dem
vergänglichen irdischen gegenübergestellt. Buber 1984, S.99.
2
Gut belegt ist dieser Befund für die Karolingerzeit. Sh. Anton, Hans Hubert:
Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit. Bonn: Röhrscheid,
1968, S.239, 312, 334, 349 und v.a. 435f. Aber auch zur Zeit Joachims finden
sich diese Urteile, z.B. bei Johannes von Salisbury: „Uzziah, whom the irrefut-
able book reports to have been just in many ways, usurped the offices of the
priesthood not so much with piety as with presumptuousness […]. Uzziah is
imitated by many in encroaching upon priestly powers, but very few are
shamed by his leprosy.“ Policraticus VIII,22, Nederman 215.
3
„Manet autem Ozias in radice noui testamenti secundum initiationem, sicut et
Adam in radice prioris.“ Psalt. II, fol.276ra.
164 ABBILDUNGEN

in Hochmut verfallen seien und ein Tabu (vetitum) gebrochen hätten.


Gott habe sie daher von den heiligen Orten vertrieben, an denen sie
sich befunden hätten.1 Wie also kommt Joachim dazu, den judäischen
König gegen alle Tradition positiv zu bewerten und ihn gleichsam
zum Stammvater der Christenheit2 zu erklären? Es wird noch deutlich
werden, daß die Figur Usija, die in den meisten Schriften Joachims
eine zentrale Rolle spielt, ein Schlüssel zu seinem politischen Denken
ist.
Ein erster Hinweis findet sich in Absatz 1b, wo Joachim die
Regierungszeit Usijas mit dem Auftreten Jesajas synchronisiert, der
wie ein Evangelist gepredigt und den Grund für das Neue Testament
gelegt habe. Ähnliche Formulierungen begegnen in den Begleittexten
zu den Baumfiguren des Liber Figurarum.3 Die erste dieser Figuren
enthält aber eine Bemerkung, die viel weiter geht und plötzlich auf
ganz andere historische Zusammenhänge verweist:4 [[@Page:139]]
Hier [zur Zeit Usijas] nahm Rom seinen Anfang, das künftig
zur Herrin der Welt werden würde, und in dem – wie Christus,
der König des Himmels, vorauswußte – das königliche
Priestertum (regale sacerdotium) sein würde. Daher wurden –
wie der heilige Augustinus in seinem Buch De civitate Dei
bezeugt – seit dieser Zeit Propheten entsandt, die Dinge, die
während [der Zeit] des römischen Reiches erfüllt werden
mußten, im voraus niederschrieben und die die nahe Ankunft
Christi in der Fülle der Zeiten vorhersagten. 5
Ein Blick in De civitate Dei sorgt für größere Klarheit. Augustinus
1
„Igitur Adam, primus parens, respicit Oziam regem Iuda, qui regnavit in
diebus Isaie prophete; quia sicut Adam ob culpam elationis fedatus est pudore
luxurie, ita Ozias ob reatum superbie pollutus est immunditia lepre, et uterque
expulsus est de loco sancto; alius, scilicet, de paradiso, alius de sanctuario
domini; nimirum quia etsi uterque prius bonus et iustus, usurpando tamen
uetitum uterque preuaricator et culpe obnoxius effectus est.“ Conc. IV,2,
fol.43vb, Daniel 319,16-21; vgl. Conc. IIb,7, fol.22 va, Daniel 180,1-7; Conc.
V,118, fol.134va. Sh. aber Psalt. II, fol.276ra: „Ita Ozias non in quo percussus est
lepra, significat patrem, sed in quo constitutus est in eo loco linee, ubi initiatum
est novum testamentum.“
2
Vgl. Lib. Fig., tav.X.
3
In Lib. Fig., tav.III ist links neben dem Namen Ozias zu lesen: „Hic
prophetare cepit Ysaias propheta.“ Vgl. Conc. IV,1,fol.43ra, Daniel 318,110-
114.
4
Die Baumfigur, die zusammen mit der Genealogia überliefert wurde, weist
einen fast wortgleich übereinstimmenden Text auf. Vgl. die Edition in Potestà
2000, S.97-101, S.100. Nach den Erkenntnissen des Herausgebers wurde die
Figur von Joachim selbst angefertigt, allerdings sicher zu einem späteren
Zeitpunkt als die Genealogia, denn sie reicht bis in die Zeit Urbans III.
Wahrscheinlich aber lag der Genealogia schon immer eine ähnliche Figur bei,
die später gemäß den historischen Fakten und den Entwicklungen in Joachims
Lehre modifiziert wurde.
5
Lib. Fig., tav.I.
165 ABBILDUNGEN

behandelt in [[Buch XVIII, Kapitel 27 >> Augustine:De civ. Dei


18.27]]ff. die Schriftprophetie. Er stellt fest, daß viele der großen
Künder fast gleichzeitig auftraten, die ersten von ihnen (Hosea, Jesaja,
Amos) unter der Regierung Usijas.1 Soweit kann Augustinus den
chronologischen Vermerken der Bibel folgen.2 Doch aus der
Zusammenschau mit den Werken der christlichen und heidnischen
Chronisten ergibt sich weiterhin, daß die Gründungsphase Roms in die
gleiche Zeit fällt.3
Der tiefere Sinn, der sich hinter diesen scheinbar rein
historiographischen Feststellungen andeutet, ist folgender: Die
Schriftpropheten wenden sich im Gegensatz zu den Propheten der
Königsbücher nicht nur an das Volk Israel, sondern auch an die
Heiden, denn diese werden die prophetischen Bücher eines Tages
lesen und sich aneignen, (eine überraschend modern klingende
Einsicht in die Bedeutung der Schriftlichkeit für das zivilisatorische
Gedächtnis4). Dies meint Joachim, wenn er Jesaja im Anschluß an den
Kirchenvater einen Evangelisten nennt (1b).5
Augustinus schreibt:
Wie also zu Beginn des Assyrerreiches Abraham auftrat, dem
die klarsten Verheißungen zuteil wurden, daß durch seinen
Samen alle Völker gesegnet werden sollten, so öffnete sich
beim Hochkommen des abendländischen Babylons [d.h. Roms],
während dessen Herrschaft Christus erscheinen sollte, der
Mund der Propheten, das große zukünftige Ereignis nicht nur
mit ihren Reden, sondern auch ihren Schriften zu bezeugen.
1
Da Micha nur kurz nach dem Tode Usijas auftritt, wird er als vierter
mitgerechnet. „Hi sunt, quos eodem tempore simul prophetasse ex eorum lit-
teris inuenitur.“ [[De civ. Dei XVIII,27 >> Augustine:De civ. Dei 18.27]],
CClat XLVIII,617,14f. Augustinus hielt noch Hosea und nicht Amos für den
ersten Schriftpropheten. Aus heutiger Sicht läßt sich das verstärkte Auftreten
von Propheten ab der Regierungszeit Usijas mit der gleichzeitigen
Thronbesteigung des assyrischen Herrschers Tiglatpilesers erklären, mit der
sich die äußere Bedrohung Judas verschärfte. Von Rad 1993, S.155.
2
Jes 1,1; 6,1; Hos 1,1; Am 1,1.
3
„Tenduntur autem hi dies a rege Latinorum Proca siue superiore Auentino
usque ad regem Romulum iam Romanum, uel etiam usque ad regni primordia
successoris eius Numae Pompilii […].“ [[De civ. Dei XVIII,27 >>
Augustine:De civ. Dei 18.27]], CClat XLVIII,617,19-618,22; vgl. Conc. IIa,7,
fol.9ra, Daniel 72,6-9.
4
Die Betonung der Schriftlichkeit findet sich auch bei Joachim: „[…] Ozias, a
cuius missi sunt prophete annuntiare aduentum Christi in carne, incipientibus
Isaia et Hosee primis omnium prophetarum, qui libros propheticos edidisse nos-
cuntur.“ Conc. IV,4, fol.45va, Daniel 331,11-13; vgl. Conc. V,7, fol.63 vb. Vgl.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische
Identität in frühen Hochkulturen. 2., durchges. Aufl. München: Beck, 1997.
5
Vgl. [[De civ. Dei XVIII,29 >> Augustine:De civ. Dei 18.29]]. Vgl. Conc
V,10, fol.65vb-66ra.
166 ABBILDUNGEN

[…] als aber das offenkundiger sich bezeugen[[@Page:140]]de


prophetische Schrifttum hervortrat, das einst auch den Heiden
zu nützen bestimmt war, sollte es zu der Zeit geschehen, als der
Staat (civitas) gegründet ward, der zur Herrschaft über die
Heidenvölker bestimmt war.1
Für Augustinus sind solche Koinzidenzen von außerordentlicher
Bedeutung. Denn, wie bereits besprochen, glaubt er, nur durch das
Alte Testament Einblick in die Heilsgeschichte zu erhalten. Doch die
Synchronie Usija/Jesaja/Romulus erlaubt einen Blick auf die sonst
unsichtbare heilsgeschichtliche Bedeutung der außerbiblischen
Historie. Die Bedeutung des römischen Reiches in Gottes Plan – der
Kirchenvater erahnte sie schon aus seiner Vergil-Lektüre – ist damit
nachgewiesen. Allerdings ist dieser Nachweis bei Augustinus von
aller reichstheologischen Glorifizierung des Imperiums gereinigt, wie
sie sich bei Eusebius von Caesarea und anderen findet. Er will
lediglich auf den geschichtlichen Zusammenhang verweisen, daß die
Verkündigung Christi durch die Propheten zu der Zeit erfolgte, als
Rom gegründet wurde, und sich erfüllte als Rom die Welt beherrschte.
Die Ehre gilt nicht Rom, sondern der göttlichen Providenz.
Nun heißt aber „Rom“ für einen Italiener im späten 12.
Jahrhunderts nicht unbedingt das gleiche wie für einen Afrikaner im
frühen 5. Jahrhundert. Rom, das ist für Joachim nicht nur das Reich,
sondern Gründungsort und ständiger Sitz der rechtgläubigen (1b)
Kirche des Westens (ecclesia occidentalis). Bevor dies genauer geklärt
werden kann, müssen noch einige weitere Parallelen erörtert werden,
auf die die Genealogia verweist.
Generationen: In Absatz 1c unterteilt Joachim die
Geschichtsbäume in Generationen. Die Generation ist sozusagen die
kleinste Recheneinheit, anhand der sich die Struktur des göttlichen
Plans durchmessen und eine genauere Ortsbestimmung vornehmen
läßt.2 Auf diese Weise bleibt das chronologische Gerüst Joachims
relativ flexibel, eine genaue Fixierung bestimmter Jahreszahlen
ermöglicht es nicht. Die präzisesten Zeitangaben in Joachims Werk
haben in der Regel die Form: „in der 25. Generation nach der
Fleischwerdung des Herrn …“, „in der 22. Generation nach dem hl.
Benedikt …“, etc. Ausgangspunkt sind die ersten Verse des Neuen
1
[[De civ. Dei XVIII,27 >> Augustine:De civ. Dei 18.27]], Thimme 457f.; vgl.
Conc. IV,2; fol.43vb, Daniel 320,28-31: „[…] a diebus Ozie missi sunt diuinitus
ipsi prophete in potentia spiritus et uirtute uerborum; ut, quoniam uerbum dei
reuelandum in carne et uenturum dei spiritum ad homines nuntiaret, necnon et
filios spirituales gignendos esse per uerbum dei in populo gentili, in quo Roma
optinet principatum.“
2
„Ostensis in testamento ueteri et ex parte in nouo locis precipuis
concordiarum, modo sub numero generationum querendi sunt termini
generationum, ut sciat lector loca concordie per regulam numeri inuenire.“
Conc. IIa,20, fol.13rb, Daniel 106,1-3.
167 ABBILDUNGEN

Testamentes, der Stammbaum Jesu, durch den Matthäus die Abkunft


des Messias vom Stammvater Abraham und dem Haus Davids
nachweist.1 Der Evangelist zählt von Abraham bis Jesus 42
Generationen. Joachim addiert weitere 21 Generationen, die er im
Anschluß an die biblischen Chronisten von Adam bis Terach, dem
Vater Abrahams, errechnet.2 Ein Baum mißt also 63 Generationen.
Nun lassen sich aber für die Zeit der Kirche keine „fleischlichen“
Generationen berechnen, da Jesus bekanntlich keinen Nachwuchs
hinterlassen hat, sondern das neue Gottesvolk der Kirche auf ein
geistliches Zusammengehörigkeitsprinzip gestellt hat, die Taufe.
[[@Page:141]]
Eine „geistliche“ Generation des Neuen Testamentes bzw. der
Kirche entspricht deshalb, so folgert Joachim, der Zeitspanne von 30
Jahren, die zwischen der Inkarnation und dem öffentlichen Auftreten
Christi vergangen ist, also dem Zeitpunkt, zu dem er begann,
geistliche Kinder zu zeugen (1c).3 Aufgrund der Strukturgleichheit der
Testamente wiederum folgt, daß die Zeit der Kirche ebenso viele
Generationen lang dauert wie die Zeit der Synagoge (1c). Da nun der
Baum des Neuen Testamentes aber aus bekannten Gründen schon bei
König Usija beginnt und 21 Generationen lang mit dem Alten
Testament parallel verläuft, bleiben von Christus bis zum Ende der
Zeiten 42 Generationen, also 1260 Jahre. Damit ergeben sich
zwischen Schöpfung und Gericht zwei Höhepunkte im Lauf der
Heilsgeschichte: die Zeit Usijas, jene „gewisse Mitte“ (quoddam
medium, 1b), in der der Verfall der Synagoge beginnt und die Kirche
ihren Anfang nimmt, sowie die Zeit von Christi Geburt, in der – um
mit Paulus zu sprechen – der Zweig der Synagoge aus dem Baum der
Erwählung herausgebrochen wird, und das Christentum als alleiniger
Träger der Heilsgeschichte zurückbleibt.4 Es ist evident, wie
revolutionär diese Einteilung der Geschichte war, nachdem alle
1
Mt 1,1-17.
2
1 Chr 1,1-24; vgl. Gen 5,1-22; 10,21-29; 11,10-27.
3
„Igitur in testamento nouo non secundum carnem accipienda est generatio sed
secundum spiritum. […] Et quoniam triginta annorum erat dominus quando
cepit habere filios spirituales, quod etiam prefiguratam fuerat in unctione Dauid
et in inchoatione prophetie Ezechiels prophete, recte spatium generationis in
nouo testamento triginta annorum numero terminatur.“ Conc. IIa,16, fol. 12 va,
Daniel 99,7-8.10-13; vgl. Conc. IV,2, fol.44va, Daniel 326,165-169.
4
Mit der Einführung des dritten Status kommt später noch eine dritte „Mitte“
hinzu: „Ysaias secundum hystoriam tangit Iudeos, secundum concordiam
duorum testamentorum Latinos. tangit autem secundum eandem concordiam
quasi mediam partem synagogici atque ecclesiastici temporis, id est vel ea que
a patre suo usque ad Christum in synagoga, vel ea que ab obitu imperatoris
Heraclii usque ad secundum Christi adventum futura vel fuerunt vel sunt.“
Conc. V,106, fol.124vb-125ra. Mit exegetischen Kunstgriffen (vgl. Conc. IIa,18,
fol.13ra) synchronisiert Joachim die Zeit des byzantinischen Kaisers Heraclius
(† 641), mit dem Auftreten Benedikts († ca. 547).
168 ABBILDUNGEN

christlichen Theoretiker, angefangen bei Paulus und dem Verfasser


des Hebräerbriefs, nur einen Wendepunkt im Heilsgeschehen gekannt
hatten: Christus, das Telos des Gesetzes, von dessen Wort das
Evangelium ausgeht,1 Christus, den Mittler des neuen Bundes, der den
früheren Bund für veraltet erklärt.2 Hier war kein Platz für Usija.
Joseph Ratzinger hat auf eine andere Neuerung in Joachims
Geschichtstheologie verwiesen, die vielleicht noch bedeutender ist:
Vom ersten bis zum zwölften Jahrhundert wird in Christus zwar der
einzige Wendepunkt im Heilsgeschehen erblickt, aber in dem Sinne,
daß die Inkarnation das Ende der Geschichte überhaupt einleitet.
Joachim dagegen begreift Christi Geburt – ungeachtet der mit Usija
beginnenden Vorlaufzeit – als Mittelpunkt zwischen den zwei
Geschichtszeiten des alten und des neuen Gottesvolkes. Mit Christus
beginnt nicht das Ende, sondern die Zeit der Kirche:
[…] Joachim wurde so gerade in der Kirche selbst zum Wegbereiter
eines neuen Geschichtsverständnisses, das uns heute so
selbstverständlich als das christliche schlechthin erscheint, daß es
uns schwerfällt zu glauben, es sei irgendwann einmal anders
gewesen.3 [[@Page:142]]
Gleich im folgenden Abschnitt (1d) verdeutlicht Joachim die
existentielle Bedeutung seiner Rechnung. Er befindet sich im Jahr
1176, also in der 40. Generation nach Christus. Es bleiben noch zwei
Generationen bis zum Ende der Welt, in denen – wie es heißt – sich
alles erfüllen muß, was über den Antichrist und das Ende der Welt
geschrieben steht. Im Anschluß an Dan 12,11f. glaubt Joachim, daß
sich noch eine kurze Zeit zwischen dem Jahr 1260 und dem
endgültigen Ende einschiebt, die aus menschlicher Sicht nicht
berechenbar ist.
Wie Joachim erklärt, können nun auf beiden Seiten der von
Christus ausgehenden Linie alle Päpste und Kaiser den jeweiligen
Generationen zugeordnet und damit den alttestamentlichen Figuren
gegenübergestellt werden. Später hat Joachim im vierten Buch des
Liber Concordiae tatsächlich eine solche parallele
Geschichtsschreibung bis ins Detail durchgeführt.4 Doch am
wichtigsten ist: Zeitgenössische Ereignisse (contemporanea) können
hinfort gedeutet werden, wenn es gelingt, sie den alttestamentlichen
Entsprechungen zuzuordnen.
1
Röm 10,4.16.
2
[[Hebr 8,6f >> Bible:Heb 8,6f]].[[13 >> Bible:Heb 8,13]]
3
Ratzinger, Joseph: Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura.
Neuauflage. St. Ottilien: EOS, 1992, S.108.
4
Dazu sagt er einführend: „Vtilius uero fore censemus, si nomina pontificium
aut imperatorum sub quibus singule consumate sunt seriatim notamus, ut sciat
lector quo tempore hoc uel illud et sub quo pontifice aut imperatore gestum
fuerit, et ut ex hoc maxime considerari queat parilitas generationum.“ Conc.
IV,2, fol.44vb, Daniel 327,196-328,199.
169 ABBILDUNGEN

Juda/Römische Kirche: Allerdings ist die Sache nicht so


eindeutig, wie es auf den ersten Blick aussieht. Denn wie sollte diese
Zuordnung erfolgen? Der Tradition der christlichen
Geschichtsschreibung und Herrschaftslehre hätte es entsprochen, die
christlichen Könige in Beziehung zu den israelitischen bzw.
judäischen Herrschern zu stellen. Seit König Pippins Tagen drückte
der symbolische Akt der Salbung aus, daß die Kirche bereit war, der
fränkischen Königsidee zu folgen und in den gegenwärtigen
Herrschern die Nachfolger der biblischen Könige zu sehen. 1 In dieser
Konsequenz wurden seit jeher David, Salomo und in einem negativen
Sinn auch Usija für die Typologien der Fürstenspiegel herangezogen.
Doch Joachim verfährt anders. In Absatz 1b legt er dar, daß der
Baum des Neuen Testamentes von Christus an zwölf Äste austreibt, die
zwölf Kirchen, die die Apostel gründeten. Sie werden in Verbindung zu
den zwölf Stämmen Israels gebracht, die an der entsprechenden Stelle,
also bei Jakob, ihren Ausgang nehmen. Die zehn Stämme, die sich von
Juda getrennt hatten, sind nach dem Bericht der Bibel untergegangen.
Joachim betont in 1a, daß sich auch dies zur Zeit Usijas zugetragen
habe. Das heißt, daß von Usija bis Christus nur noch der Stamm Juda
heilsgeschichtliche Relevanz besitzt, an seiner Seite Benjamin, der ihm
die Treue hielt. Nach Joachims Ansicht entspricht dem wiederum, daß
beinahe alle Kirchen von den arianischen Ketzern verdorben wurden
(1b). Als alleiniger Träger der Heilsgeschichte aber bleibt – parallel
zum Stamm Juda – die römische Kirche.2 Joachim bezieht im Liber
Concordiae auf diesen Zeitpunkt den Jakobssegen, neben der
Natanweissagung der wichtigste Offenbarungsbeweis für den judäisch-
davidischen An[[@Page:143]]spruch auf legitime Herrschaft über das
Gottesvolk:3
Von Jakob an wurden die Äste vervielfacht und blieben an
ihrem Ort bis zu Usija. Von Usija an wurden auch sie
abgeschnitten und den Heiden als Beute gegeben. Aber nicht
der Stamm Juda, der dem Stamm [des Baumes] selbst spezieller
anzugehören schien, wie Jakob sagt: „Nie weicht das Zepter,
der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der [Vg: dux] kommt,
dem er gehört, dem der Gehorsam der Völker gebührt.“ 4
Wenn dieser Gehorsam im Alten Testament Juda gebührt, so gebührt

1
Ullmann 1960, S.220ff.
2
„[…] quia nimirum Latina ecclesia, que uelut altera tribus Iuda custodita est
a Christo, non usque a deo permissa est errare cum Grecis […].“ Conc. IIIb,3,
fol.40ra, Daniel 293,27-29; vgl. Conc. IV,5, fol.46rb, Daniel 337,12-338,17;
Conc. V,61, fol.92rb.
3
Freilich legte das Alte Testament eher nahe, die Verheißung auf die
Einsetzung des davidischen Herrscherhauses zu beziehen. Vgl. von Rad 1993,
S.22f.; Fohrer 1992, S.358.
4
Conc. IIa,22, fol.13vb, Daniel 109,42-46. Sh. Gen 49,10.
170 ABBILDUNGEN

er im Neuen Testament der römischen Kirche. 1 Ihren Dekreten müsse


die Gesamtheit der Kirchen untertan sein, sagt Joachim später im
Enchiridion super Apocalypsim, alles andere bedeute Rebellion gegen
den göttlichen Willen.2 So ist zugleich ein nicht unwichtiger
Nebenaspekt deutlich ausgesprochen, der Führungsanspruch der
lateinischen gegenüber der griechischen Kirche. Joachim wird im
Enchiridion noch deutlicher. Er beschränkt den Kirchenleib (corpus
ecclesiae) auf die römische Kirche; mit wenigen Ausnahmen müßten
die Mitglieder der Ostkirche von der Heilsgemeinschaft abgesondert
werden.3 An andere Stelle heißt es lapidar, die römische Kirche sei die
eigentliche Kirche Christi (ecclesia propria Christi).4 Zwar befindet
sich Joachim damit in prinzipieller Übereinstimmung mit den
Kirchenreformern seit Humbert von Selva Candida,5 doch die
spezifische Argumentation, mit der er den geschichtlichen Vorrang
des Westens behauptet, wird erst nach einem kleinen Seitenblick auf
seine alttestamentlichen Vorlagen verständlich.
Was für die Schriftpropheten seit Jesaja gilt, ist noch deutlicher
aus den Geschichtsbüchern ersichtlich: Die judäischen
Historiographen, die zur Zeit Davids ihre Arbeit beginnen, gehen wie
selbstverständlich davon aus, daß ihr Volk seit der Gründung der
Dynastie das Volk Jahwes war.6 Sie gehen sogar soweit, die
israelitische Ge[[@Page:144]]schichte in ihrer Gesamtheit zur
Geschichte Judas zu machen:7 Durch die Verfehlungen Sauls sah sich
1
„[…] Romana Ecclesia claruit in principatu ac si altera tribus Juda: quia ut ibi
dictum est: Non auferetur sceptrum de Juda, ita hic dictum est Symoni: Tu es
Petrus et super hanc petram hedificabo, etc.“ Lib. Fig., tav.VI. „Ibi quoque
electa est Iherusalem et sublimata est super omnia tabernacula Iacob; hic Ro-
mana ecclesia super omnes orientales; utrique nempe Iherusalem in consimili,
ut iam dixi, generatione concessa est sublimitas regni.“ Conc. IV,3, fol.45 ra,
Daniel 329,220-222.
2
„Licet enim de jure sit ut decretis sanctae Romanae ecclesiae universitas ec-
clesiarum subdi debeat, solae tamen occidentales ecclesiam Romanam sequun-
tur, sicut sola tribus Juda domum David, reliquae autem recalcitrare et velut ex
aequalitate quam sibi arrogant repugnare noscuntur.“ Ench., Burger 81,2360-
2363.
3
„Sic ergo visa est stare usque nunc orientalis ecclesia, sed vix in paucis
reliquiis stetit in fide, quia extra corpus ecclesiae seponendum est, quod ro-
manae ecclesiae non adhaeret […].“ Ench., Burger 36,897-899.
4
Praeph. Apc. I, Selge 109,188.
5
Vgl. die ersten beiden Grundsätze im Dictatus papae Gregors VII.: „1. Quod
Romana ecclesia a solo Domino sit fundata. 2. Quod solus Romanus pontifex
iure dicatur universalis.“ Mirbt 146,24f.
6
Die Chronik verschweigt Davids siebenjähriges Königtum über Juda (2 Sam
2,-11) völlig und macht ihn schon in Hebron zum König über Israel (1 Chr 1,1-
4).
7
Die deuteronomistische Einleitung zum Richterbuch ([[1,2-20 >> Bible:Ri
1,2-20]]) zum Beispiel zählt Juda zu den Stämmen, die an der Landnahme
beteiligt waren. Ri 1,2-20. Anders dagegen z.B. 2 Sam 2,9.
171 ABBILDUNGEN

Jahwe veranlaßt, die Königsherrschaft über Israel auf das Haus Davids
zu übertragen.1 Das bedeutet natürlich mehr als nur einen Wechsel der
Dynastien, vielmehr geht Jahwes Gunst von einem Volk (Israel) auf
das andere (Juda) über.2 Es handelt sich um eine translatio imperii.
Die Probleme, die sich daraus ergeben, werden bei der Teilung
des davidischen Reiches deutlich. Rehabeam versammelt „Israel“ (d.i.
Juda) in Sichem, um Salomos Nachfolge anzutreten. 3 Doch Israel (d.i.
die Nordstämme) kündigt den Vertrag mit David auf, um zu seinen
Zelten zurückzukehren.4 Das heißt, es entsteht die paradoxe Situation,
„that Israel had broken away from ‚Israel‘“.5 Das Dilemma löst sich
erst mit der Vernichtung des Nordreiches,6 die beweist, daß Jahwes
Gunst Juda gehört. Das judäische Volk bekennt sich nach dieser Art
der legitimatorischen Geschichtsschreibung aber zugleich bereit, die
historische Existenz Israels fortzusetzen. Die Herrschaft Davids ist
einfach eine weitere große geschichtliche Tat Jahwes, „der nächste
große Traditionspunkt jenseits des Hexateuch“.7
Einem so detailversessenen Bibelleser wie Joachim war die
Problematik allerdings nicht entgangen. Er betont, daß die Herrschaft
nicht nur an David, also an die Dynastie, sondern an Juda, also an den
Stamm, übergeben wurde. Dies zeigt einen außergewöhnlichen
Einblick in die Problematik der alttestamentlichen
Geschichtsschreibung, der zu seiner Zeit keineswegs der gängigen
Exegese entsprach. Diese Abweichung konnte kaum als Bagatelle
abgetan werden, denn damit gab es im Alten Testament nicht mehr
nur ein auserwähltes Volk, sondern zwei, die einander ablösen.8 Das
1
1 Sam 15,28; 28,17; 2 Sam 3,10; vgl. 1 Chr 10,14; 12,23. In der Vulgata, 2
Sam 3,10; 1 Chr 10,14 und 12,23, findet sich die Wendung regnum transferre.
2
Das „Haus Juda“ umfaßte einige der südpalästinensischen, ehemals
israelitischen Stämme, aber der führende „Stamm Juda“ tritt erst mit David auf.
Noth, Martin: Geschichte Israels. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986,
S.265ff.
3
1 Kön 12,1.
4
2 Sam 5,3; 1 Kön 12,16.
5
Voegelin, 1956, S.271. „So fiel Israel vom Haus Davids ab und ist abtrünnig
bis zum heutigen Tag.“ 1 Kön 12,19.
6
2 Kön 17,18.
7
Von Rad, 1992, S.320.
8
Zur Herrschaft Davids wird in Lib. Fig., tav.III vemerkt: „Hic regale
sceptrum et pax domui Juda donata sunt.“ Die Verwirrung der Zeitgenossen
wird in der Dresdner Fassung von Lib. Fig., tav.III greifbar, wo laut
Tondellis Kommentar (Anm.8) das Wort „Juda“ durch „David“ ersetzt
wurde – eine Korrektur im Namen der Orthodoxie. Werner Goez meint, die
biblische Erzählung vom Übergang der Herrschaft von Saul zu David habe
bei den mittelalterlichen Translationstheoretikern keine Rolle gespielt, weil
darin nur ein Wechsel der Dynastie gesehen worden sei. Goez, Werner:
Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und
der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.
Tübingen: Mohr, 1958, S.12. Wenn das richtig ist, so bildet Joachim die
172 ABBILDUNGEN

heißt [[@Page:145]]nichts anderes, als daß Gottes Gunst ihre Träger


wechseln kann und sämtliche Reichsübertragungen der christlichen
Geschichte im Alten Testament ihr Vorbild finden – angefangen
natürlich bei der von Paulus konstatierten Gnadenübertragung von den
Juden auf die Heiden. Der Umzug der Gnade von den Griechen zu den
Lateinern, eines der großen Themen in Joachims
Geschichtsdarstellung, wird ebenso in diesen Termini erklärt wie die
Vergabe des königlichen Priestertums an das heidnische (=
heidenchristliche) Volk.1
In Abschnitt 2b folgt ein letztes Argument, das geeignet ist, noch
bestehenden Zweifel an Joachims romtreuer Gesinnung zu zerstreuen.
Die Übertragung des königlichen Priestertums (regale sacerdotium)
erfolgt nicht einfach an das Heidenchristentum überhaupt, sondern
speziell an die römische Kirche und ihr Oberhaupt. 2 Damit ist für
Joachim der wichtigste Streitpunkt der zeitgenössischen
Auseinandersetzungen geklärt: Die Regierung über die Christenheit
gebührt dem Papst, der auf Erden das Königspriestertum Christi in
Stellvertreterschaft ausübt.3
Im Liber Concordiae gibt Joachim die legitimatorische
Argumentation der Gregorianer in gewohnter Weise wieder.
Allerdings zeigt er sich hinsichtlich der Silvesterlegende und der
konstantinischen Schenkung auffallend vorsichtig, lieber verweist er
auf die göttliche Quelle aller diesseitigen Gewalt. Weiterhin fällt auf,
daß er – wohl in Anlehnung an den von ihm gerne herangezogenen
Papstspiegel De consideratione Bernhards von Clairvaux – den Papst
große Ausnahme. Allerdings bezieht sich der Abt, wie schon erwähnt, auf
eine Bibelstelle, die Goez entgangen ist, nämlich den Jakobssegen: „Non
auferetur sceptrum de Juda […].“ Gen 49,10. Der Satz impliziert, daß das
Zepter Juda zuvor übergeben wurde. Vgl. Conc. I,9, fol.4 rb-va; Daniel 41,1-
19; Conc. V,77, fol.105 va.
1
„[…] [Samuel propheta] iubente domino unxit [David] in regem, ut
significaretur in eo regale sacerdotium, quod gentium populo datum est,
reprobato superbo populo iudaeorum, quod significatum est in Saule.“ Psalt. II,
fol. 273va.
2
Vgl. Praeph. Apc. I, Selge 109,185-187: „Tribus Iuda, tribus regalis, in qua
fundatum noscitur templum, Romanam respicere comprobatur ecclesiam, cui
regale prestitit deus sacerdotium.“
3
Zum päpstlichen Vikariat sh. Exp. VIII, fol.220vb: „In templo etenim
manufacto, quod hedificavit Salomon, erant Pontifices et Sacerdotes constituti
ut docerent populum legem Domini, et offerent pro eo sacrificium, et pro
delicto, et pro peccato. Similiter, et si multo dignius, venerandum illud
capitulum, quod fundatum est Rome, pro templo constitutum est in ecclesia, ut
ab eo accipiant fideles decreta et legittima vite Christiane, in quo, et qui
presidet summus Pontifex, vicem Christi gerit in terris, donec veniat ipse qui
est summus Pontifex, requirere oves suas, et visitare illas, sicut visitat pastor
gregem suum, in die quando fuerit in medio ovium suarum dissipatum.“ Vgl.
Exp II, fol.112vb: „Quis enim fidelium ignorare se dicat universalem ac
romanum pontificem vicarium esse celi imperatoris?“
173 ABBILDUNGEN

mahnt, seine weltliche Gewalt besser zu delegieren. Mit anderen


Worten: Joachims politische Grundeinstellung läßt sich beschreiben
als eine bernhardinisch revidierte Fassung des gregorianischen
Reformprogramms. Er schreibt:
Man muß aber wissen, daß der Mensch Christus Jesus, der,
gesalbt vom Heiligen Geist, über das christliche Volk herrscht,
zugleich König und Priester ist. Daher spricht Petrus zu denen,
die Christus angehören: „Ihr aber seid ein auserwähltes
Geschlecht, eine königliche Priesterschaft (regale
sacerdotium).“ Die königliche Majestät (regia maiestas) gehört
nämlich zur Göttlichkeit [Christi], die Demut des Priesters zur
Menschlichkeit. Deshalb heißt es auch beim Psalmisten: „Du
bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks.“
Melchisedek war nämlich ein Priester des Herrn und König von
Salem. Und demgemäß mußte der Römische
[[@Page:146]]Papst zugleich König und Priester sein. Kaiser
Konstantin, der das verstand, bot dem heiligen Papst Silvester
freiwillig die Würde (dignitas) an, die er zu tragen schien, als
ob sie dem König Christus gebührte. Weil aber das Königtum
Christi nicht von dieser Welt ist, so schien es den römischen
Päpsten, als hätten sie die gebührende Gewalt (debita potestas)
immer von Christus empfangen, damit sie dennoch gezwungen
würden, den zeitlichen Gebrauch des Königtums (regnum) –
oder besser die leibliche Last der Regierung (regimen) – jenen
zu überlassen, die nach der Herrlichkeit dieser Welt streben. So
daß, gemäß dem Apostel, jene, die für Gott streiten, nicht in
zeitliche Geschäfte verwickelt würden. 1
Daß aber die Vergabe des regale sacerdotium an das Papsttum dem
göttlichen Heilsplan entspricht, das läßt sich – so legt die Genealogia
in Verbindung mit der beigegebenen Figur nahe – zeichenhaft aus
dem alttestamentlichen Geschehen erkennen: In Usijas Zeit nimmt das
römische Volk seinen Anfang, das einst die wahre Kirche Christi
hervorbringen wird. Ebenfalls in Usijas Zeit gehen die Nordstämme
unter und der Stamm Juda, der nach dem Prinzip der concordia auf
die römische Kirche verweist, bleibt als einzig relevanter Zweig am
Baum der Erwählung bestehen. Usija selbst schließlich stellt das
regale sacerdotium her, indem er sich priesterliche Funktionen
aneignet – wenn auch noch nicht ungestraft, wie Joachim im Liber
Concordiae betont. Wie Melchisedek nimmt er die Herrschergestalt
Christi vorweg und wird zum Uranfang, zum Samen des kirchlichen
Klerikerstandes, der seit der Menschwerdung Christi Früchte trägt.2
1
Conc. IV,3, fol.45ra, Daniel 329,222-235; Hervorh. d. Verf. Sh. 1 Petr 2,9; Ps
110,4 (vgl. Gen 14,18); Joh 18,36; 2 Tim 2,4.
2
„Clericorum ordo initiatus est ab Ozia, qui cum esset de tribu obtulit incensum
domino etsi non impune; fructificauit autem a Christo, qui uerus est et rex et sa-
cerdos.“ Conc. IIa,5, fol.8va, Daniel 68,6-9; vgl. Conc. IIa,12, fol.10vb, Daniel
84,5; Conc. IIa,14, fol.11va, Daniel 93,2-3.
174 ABBILDUNGEN

Man sieht wiederum den gregorianischen Kirchenbegriff im


Hintergrund. Die historische Legitimierung, die in der Genealogia und
den früheren Teilen des Liber Concordiae betrieben wird, betrifft
allein den Klerus, das christliche Laienvolk dagegen erscheint nur als
Objekt der Herrschaftsausübung.
Sieben Verfolgungen: Die Zuordnung der geschichtlichen Figuren
ist nunmehr geklärt: Den Königen Judas entspricht niemand anderes
als die Päpste.1 Joachim kennt Ausnahmen von dieser Regel, aber im
Gesamtzusammenhang der Strukturgleichheit beider Testamente gilt
dieser Grundsatz. Alle Angriffe auf die judäischen Herrscher, die nach
dem Untergang der Nordstämme endgültig die Führerschaft in Israel
übernommen haben, sind gleichzusetzen mit den Angriffen auf die
römische Kirche, die sich als Führerin des Gottesvolkes in der
neutestamentlichen Zeit weiß.
Im Abschnitt 2a der Genealogia unternimmt Joachim abermals
eine Einteilung des göttlichen Geschichtsplans, diesmal unter
Rückgriff auf die von der Autorität des Augustinus bezeugte
Weltalterlehre.2 Die ersten fünf Zeitalter (etates) bestimmen den
Verlauf des Alten Testamentes. Das sechste Zeitalter entspricht der
Geschichte der Kirche, deren näherer Verlauf in der Apokalypse
geschildert wird. Das siebte Zeitalter ist der
[[@Page:147]]Weltsabbat, in dem das Gottesvolk zur Ruhe kommt. 3
Ob dieser Sabbat jenseitig ist, wie Augustinus meint, oder diesseitig,
wie Joachim in späteren Schriften meint, wird hier nicht deutlich. Auf
keinen Fall ist schon an einen dritten Status gedacht. Das sechste
Zeitalter wird wiederum in sechs kleine Zeitalter (etatula) unterteilt,
denen auf alttestamentlicher Seite die sieben Zeiten (tempora)
gegenübergestellt werden, die nach dem Prinzip der concordia bei
Jakob beginnen. In den sieben Zeiten von Jakob bis Christus
geschehen die Verfolgungen (persecutiones) oder Drangsale
(tribulationes) des Alten Testamentes, die sich in den sechs kleinen
Zeitaltern des Neuen Testamentes wiederholen müssen. Die Differenz
zwischen sieben tempora und sechs etatula ergibt sich, da nach
Joachims Ansicht in die sechste etatula zwei Verfolgungen fallen
müssen (3a; 1e).4

1
„Igitur quod in ueteri testamento designabant reges Iuda, consumatum est sub
nouo testamento in Christo et in pontificibus Romanis.“ Conc. IV,3, fol.45rb,
Daniel 330,245f.
2
[[De civ. Dei XXII,30 >> Augustine:De civ. Dei 22.30]]. Augustinus stellt
dort bereits den Bezug zu den Generationen im Stammbaum Jesu her.
3
Vgl. [[Hebr 4,9 >> Bible:Heb 4,9]].
4
Die Begründung erscheint uns heute nicht so plausibel wie jenen Menschen,
die in der heiligen Schrift ein „Meer von Zeichen“ vermuteten. Nach Ex
16,22ff. wird Israel in der Wüste aufgetragen, am sechsten Tag der Woche zwei
Gomer (atl. Maßeinheit) Manna zu sammeln, um am folgenden Tag ruhen zu
können, denn „am siebten Tag ist Sabbat; da findet ihr nichts“.
175 ABBILDUNGEN

Die Absätze 3b und 3c stellen nun die alttestamentliche Reihe


der Siegel1 und die neutestamentlichen Reiche ihrer Öffnungen
gegenüber: Der erste Kampf, den die Ägypter mit den Israeliten unter
Mose führen, verweist auf den Kampf der Juden gegen die junge
Kirche, der zweite Kampf mit den Kanaanäern bei der Landnahme auf
die Christenverfolgung durch die (römischen) Heiden. Die Angriffe
der Syrer bezeichnen die Angriffe der Perser, Goten, Vandalen und
Langobarden.2 Die vierte Verfolgung, die Juda/Israel von den
Assyrern zu erdulden hat, entspricht der Verfolgung der Kirche durch
die Sarazenen (gemeint ist die Gesamtheit der muslimischen Völker).3
Der fünfte Krieg aber verweist auf die Gegenwart, in der die
„neuen Chaldäer“ und das „neue Babylon“ gegen das geistliche
Jerusalem, also die Kirche, vorgehen. Die neuen Chaldäer, das sind
die deutschen („teutonischen“) Herrscher und ihre Truppen; nach
Joachims üblichen Kategorisierungen fallen darunter Salier und
Staufer.4 Dies ist keineswegs in einem nationalen Sinne zu verstehen,
sondern vielmehr im Rahmen gregorianischer Typologien. Chaldäer
ist der Laie, der die Freiheit der Kirche einschränkt. In diesem Sinne
aber vermutete man spätestens seit den Tagen Gregors VII. die
deutschen Herrscher an der Spitze der Truppen Babylons. 5 Die
Bemerkung in 1e, wonach fünf Verfolgungen bereits vorüber sind,
legt nahe, daß Joachim das staufische [[@Page:148]]Reich in den
letzten Zügen sah. Denn dies kann er nun aus dem Alten Testament
erkennen: Wie sich einst die Meder gegen Babylon erhoben haben und
damit die Befreiung aus der Gefangenschaft ermöglichten,6 so steht
1
Eine gewisse Inkonsequenz besteht darin, daß Joachim in 1e erklärt, das erste
Siegel bedeute eine Zeit der Ruhe und es gebe nur sechs Verfolgungen der
Synagoge. In 3a dagegen ist von sieben alttestamentlichen Verfolgungen die
Rede, aber nicht mehr von einer Zeit der Ruhe. Aufklärung hierüber verspricht
die demnächst erscheinende Dissertation von Julia Eva Wannenmacher über
Joachims Traktat De septem sigillis.
2
Joachim faßt diese vier Völker andernorts (historisch stark vereinfachend)
unter dem Oberbegriff „Arianer“ zusammen. De proph. I,4, Kaup 186,1-2. Dies
paßt zu Absatz 1b, wo Joachim den Arianern die Zerstörung der nicht-
römischen Kirchen anlastet.
3
In Vita Ben. 24, Baraut 52,38-43 erwähnt Joachim die Islamisierung der
Perser und Türken, durch die sie in seinen Begriffen zu „Sarazenen“ werden.
4
Bisweilen läßt Joachim das tempus Babilonensium et Chaldeorum (Int. cal. 1,
De Leo 138,26f.) schon mit den Karolingern beginnen.
5
Daneben mögen die zeitgenössischen Ängste vor dem furor Teutonicus ihren
Teil zu Joachims Typologisierungen beigetragen haben.
6
Dieser Zusammenhang läßt sich nicht aus den Geschichtsbüchern der Bibel
schließen. Allerdings hat Joachim eine Reihe von Prophezeiungen in diesem
Sinne verstanden. Sh. Jes 13,17; 21,2; Jer 51.11.28; Dan 5,28; Offb 17,15-17.
Er stützt sich weiterhin auf zwei chronologische Hinweise in Dan 6,1; 9,1.
Auch Mordechais Traum im Buch Ester ließ sich in dieser Richtung deuten. Sh.
Est 1,1a-k (= 11,2-12 Vg). Joachim betont aber, daß die Prophezeiungen
Jeremias über den Kampf der Mederkönige gegen Babylon im Alten Testament
176 ABBILDUNGEN

auch jetzt der Untergang Neubabylons, also des Reichs, bevor,


wenngleich noch nicht bekannt ist, wer die neuen Meder sind. (Später
geht Joachim davon aus, daß es sich um Muslime handelt.1) Die
Verfolgung des Seleukidenherrschers Antiochus IV.,2 die Daniel in
den düstersten Tönen ausmalt, verweist endlich auf die Verfolgung
durch den Antichrist, auf den Endkampf zwischen Gut und Böse. Für
die Gegenwart heißt das also: Der Untergang des Reichs ist nahe.
Vielleicht fällt Joachim die Prophezeiung deshalb so leicht, weil er die
Schwächung Barbarossas schon erkannt hat. Die Kirche wird also eine
gewisse Befreiung erleben, so läßt sich schließen, auf die die
endzeitlichen Kämpfe folgen werden. Doch die Freiheit kann nicht
von langer Dauer sei, denn der sechste und der siebte Krieg fallen in
dieselbe Zeit, und es bleiben nur noch zwei Generationen, in denen
sich alles erfüllen muß (1e).
Der Schlußteil der Genealogia (4a-b) bringt dann noch eine
weitere Interpretation der Apokalypse, die so knapp gehalten ist, daß
sie nur in Verbindung mit anderen Schriften Joachims verständlich
wird. Demnach weisen die verschiedenen Teile der Apokalypse auf
spezielle Träger des Kampfes hin, den die Kirche gegen ihre
Widersacher führt. Ob die Reihenfolge eine historische Abfolge meint
oder einen gleichzeitigen Kampf jener Gruppen, wird nicht ersichtlich.
Interessant wiederum ist, daß die Laien ausgeschlossen bleiben und
zum ersten Mal jene Geistmänner (viri spirituales) erwähnt werden,
die im späteren Werk Joachims eine so wichtige Rolle spielen.
Irdische Herrscher aber tragen zur Verteidigung der Kirche nicht bei.
In der Genealogia finden sie nur als Verfolger (persecutores)
Erwähnung.
Fast alle Berechnungen, Zeiteinteilungen und Konkordanzen, die
Joachim in der Genealogia einführt, bleiben als Grundgerüst seiner
späteren Werke bestehen. Freilich mußte der Abt immer wieder
Änderungen und Korrekturen vornehmen, sei es aufgrund eines neuen
Verständnisses des biblischen Textes, sei es aufgrund der
geschichtlichen Ereignisse. Bekanntlich konnten sich die „Neu-
Chaldäer“ noch eine Zeit lang halten, und sie verhielten sich
gegenüber Joachim gar nicht immer so unfreundlich.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Joachim ging es nicht

kaum eingetroffen seien, da dort nur von dem einen Mederkönig Darius die
Rede ist. Er schließt, daß sich die Prophezeiung um so deutlicher am neuen
Babylon erfüllen muß. Conc. V,107, fol.125rb-va, Exp. Intr., fol.8rb. Auf die
Situation der Kirche bezieht Joachim die Mederkriege in Conc. V,109,
fol.126vb.
1
Dem Liber introductorius zufolge treten die Neu-Meder an, „ut statuant
blasphemiam mahumeth“. Exp. Intr., fol.8va.
2
Mit dem Begriff der Griechen (3b) meint Joachim Makedonier und
Diadochen, die allerdings in Gestalt der Seleukiden am schlimmsten gegen die
Juden wüten.
177 ABBILDUNGEN

darum, einem speziellen Papst propagandistische Schützenhilfe zu


leisten, schon gar nicht dem „Juristen[[@Page:149]]papst“ Alexander
III., während dessen Pontifikat die Genealogia verfaßt wurde.
Ebensowenig läßt sich aus dem Text schließen, daß Joachim den
damaligen Zustand der römischen Kirche für lobenswert hielt. Er war
keineswegs der Meinung, der Papst müsse sich gleich anderen
irdischen Fürsten als Lehnsherr geben oder gar selbst zum weltlichen
Schwert greifen. Aber es ging ihm eindeutig darum, den Prinzipat
Petri innerhalb der Christenheit zu verteidigen, gegenüber der
Ostkirche wie gegenüber dem staufischen Imperium. Den Weg, den er
dabei beschritt, war, das Papsttum als heilsgeschichtliche
Notwendigkeit zu identifizierten, als irdischen Träger des königlichen
Priestertums, welches Christus der römischen als der einzig
rechtgläubigen Kirche verliehen hat. Und dieser legitimatorische
Impetus des Textes geht weit über eine bloße Loyalität gegenüber den
kirchlichen Oberhirten hinaus.1 Joachim zeigt ein aktives Engagement
für die Sache Roms und eine von tiefer Gläubigkeit getragene
Zustimmung zum geschichtlichen Auftrag der Petruskirche – ein
Engagement, in dem er freilich auch enttäuscht werden konnte.
Auffallend ist, daß die Genealogia keineswegs einen
optimistischen Ausblick auf die Zukunft erlaubt, vielmehr wird der
apokalyptische Duktus strikt durchgehalten. Von dieser Welt ist keine
Beständigkeit und kein Heil zu erwarten. So wie die Synagoge die drei
Phasen Entstehen (initium), Wachsen (profectus) und Vergehen
(defectus) durchlief, so geht jetzt die Kirche unvermeidlich dem
Verfall entgegen (1a). Erst im Jenseits wird sie verklärt als
himmlisches Jerusalem wiederauferstehen und in ihrer Mitte die
Bürger versammeln, die sich vom Antichrist nicht verführen ließen. In
diesem Sinn präsentiert die Genealogia keineswegs einen konsequent
linearen Verlauf des irdischen Geschehens, wie das Symbol des
Baumes nahelegen würde. Joachim zeichnet später das Bild sich
überschneidender Kreise, die er aber dann bereits um einen dritten
Zyklus ergänzt hat.2
Abschließend sei noch ein Blick auf die eigentümliche Rolle
Israels erlaubt. Es scheint fast, als beschränkte sich die Funktion des
alten Gottesvolkes darauf, die Zeichen herzustellen, die den Christen
den Lauf der Dinge anzeigen. Die Israeliten selbst sind ahnungslos,
„denn man wußte nicht, was die Siegel bedeuten, bis Christus sie
öffnete“ (3a). Das ist prinzipiell augustinisch, denn nach Ansicht des
1
Den legitimatorischen Absichten entspricht es, daß sich der paränetische
Gehalt der Genealogia auf den letzen Satz von Absatz 1d beschränkt, wo
Joachim auf das nahe Gericht verweist. Andere Schriften Joachims tragen
hingegen einen ausgeprägt exhortativen Charakter. Vgl. De proph. III,1, Kaup
220,1f: „Sed quid podest ista prescire, se ea totis viribus non nitamur totoque
conamine fugere et tranquillo portui adherere?“
2
Lib. Fig., tav.XI.
178 ABBILDUNGEN

Kirchenvaters besteht der Dienst des älteren Gottesvolkes am


Jüngeren1 vor allem darin, daß es durch sein Schrifttum Zeugnis
ablegt.2 Aber ein abschließendes Augustinus-Zitat mag noch einmal
verdeutlichen, worin die fundamentalen Unterschiede zum
Geschichts- und Schriftverständnis Joachims liegen:
[…] die Absicht jenes Schriftstellers [dieser Heilsgeschichte
(sacrae huius historiae)], den der heilige Geist dabei leitete,
war, durch die Aufeinanderfolge bestimmter, von einem
Menschen abstammender Geschlechter zunächst zu Abraham
und [[@Page:150]]sodann durch dessen Nachkommen zum
Volk Gottes zu gelangen. In diesem, das von den übrigen
Volksstämmen abgesondert ward, sollte all das im voraus
dargestellt und verkündet werden, was von der Bürgerschaft,
deren Reich ewig währt, und seinem Könige und Gründer
Christus im Heiligen Geiste als künftig vorausgeschaut war.
Dabei sollte dann auch von der anderen menschlichen
Genossenschaft, die wir die irdische Bürgerschaft nennen,
insoweit die Rede sein, als es erforderlich war, die Bürgerschaft
Gottes durch Vergleich mit ihrem Gegenüber in helles Licht zu
rücken.3
Bei Augustinus verweist die konkrete Geschichte Israels auf die
mystische Gemeinschaft der civitas Dei, von der ein Teil unsichtbar
auf dieser Welt pilgert, welcher mit keiner historisch konkreten
Gemeinschaft identisch ist. Die anderen Völker des Alten Testamentes
sind zeichenhafte Charakterisierungen der ebenfalls unsichtbaren
civitas terrena. Bei Joachim dagegen verweist Israel, das er gleichsam
als heilsgeschichtlich orientierungslos beschreibt, auf die konkrete
Historie der Christenheit. Die Feinde Israels bzw. Judas finden ihre
Parallelen in den konkreten Feinden der römischen Kirche. Dies ist
praktisch die Umkehrung des Verhältnisses, in dem Augustinus altes
und neues Gottesvolk zueinander stehen sah. Ohne die Voraussetzung
des gregorianischen Kirchenverständnisses, ohne die Umdeutung der
Ekklesia in die historisch konkrete Klerikerkirche, wäre dies nicht
möglich gewesen.

1
Vgl. Röm 9,12.
2
[[De civ. Dei XV,2 >> Augustine:De civ. Dei 15.2]], [[XVIII,46 >> Augus-
tine:De civ. Dei 18.46]].
3
[[De civ. Dei XV,8 >> Augustine:De civ. Dei 15.8]], Thimme 227. Die
Übersetzung habe ich nach CSEL XLVIII,463,10-20 korrigiert. Vgl. [[De civ.
Dei X,32 >> Augustine:De civ. Dei 10.32]].
179 ABBILDUNGEN

4. Joachim an der Kurie: De prophetia


ignota
Es ist unbekannt, ob es sich bei der Genealogia um eine
Auftragsarbeit handelte oder ob sich Joachim die Skizze zur eigenen
Selbstvergewisserung anfertigte. Jedenfalls scheint alsbald das
Gerücht umgegangen zu sein, daß der Abt von Corazzo über ein
besonderes Wissen verfüge. Angesichts der politischen Zielsetzung
der Genealogia verwundert es nicht, wenn es die päpstliche Kurie
war, die zuerst auf Joachims Künste aufmerksam wurde. Joachims
zweite Schrift, De prophetia ignota, datiert aus dem Jahr 1184.1
Das Pontifikat Lucius’ III. (1181-1184), hatte ungünstig
begonnen.2 Als Gebetsbruder der Zisterzienser hatte er es nicht mit
seinem Selbstverständnis vereinbaren [[@Page:151]]können, sich die
Gunst der Stadtrömer zu erkaufen. Jene aber waren es gewohnt, von
einem neuen Papst auf finanziellem Wege günstig gestimmt zu
werden. Nur fünf Monate lang konnte sich Lucius im Lateran halten,
bevor er die Flucht ergriff. Zwischen den Römern und den Päpsten
hatte sich schon seit längerem eine Dauerspannung entwickelt. Die
Verweigerung finanzieller Mittel bestätigte das Mißtrauen gegen den
Nachfolger des verhaßten Alexander III. Es kam zum Streit um
päpstliche Güter, insbesondere Tusculum beanspruchte die Kommune
für sich. Der streitbare Erzbischof Christian von Buch, auf den der
Papst gesetzt hatte, verstarb während der folgenden Wirren an einem
Fieber. Ferdinand Gregorovius berichtet am anschaulichsten, wie die
Angelegenheit weiter eskalierte:
1
Die Schrift liegt als bisher einziges Werk Joachims in kritischer lateinisch-
deutscher Ausgabe vor: Kaup, Matthias: De prophetia ignota. Eine frühe
Schrift Joachims von Fiore. (= MGH Studien und Texte Bd.19). Hannover:
Hahnsche Buchhandlung, 1998.
2
Zum historischen Hintergrund: HbKg III/2,106ff; Oppl 1990, S.137ff.; Kölzer,
Theo: „Sizilien und das Reich im ausgehenden 12. Jahrhundert“, in: HJ 110
(1990), S.3-22; Jordan, Karl: Friedrich Barbarossa. Kaiser des christlichen
Abendlandes. 2. verb. Aufl. Göttingen u.a.: Musterschmidt, 1967, S.68ff;
Csendes, Peter: Heinrich VI. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1993, S.52ff.; Wolter,
Heinz: „Die Verlobung Heinrichs VI. mit Konstanze von Sizilien im Jahre
1184“, in: HJ 105 (1985), S.30-51; Baaken, Gerhard: „Unio Regni ad
Imperium. Die Verhandlungen von Verona 1184 und die Eheabredung
zwischen König Heinrich VI. und Konstanze von Sizilien“, in: QFIAB 52
(1972), S.219-297. Wenck, Karl: „Die römischen Päpste zwischen Alexander
III. und Innocenz III. und der Designationsversuch Weihnachten 1197“, in:
Albert Brackmann (Hrsg.): Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur
politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65.
Geburtstag dargebracht. Neudr. d. Ausg. von 1926. Aalen: Scientia, 1973,
S.415-474, S.418ff.
180 ABBILDUNGEN

Nun wendeten sich die Römer kühner gegen alle Ortschaften,


die noch dem Papste anhingen. Sie verwüsteten im April 1184
das Gebiet von Tusculum, und streiften verheerend tief nach
Latium hinein. Ihr Haß gegen den Clerus war wild und
barbarisch; einst ergriffen sie eine Schar Priester in der
Campagna, blendeten sie, bis auf einen, setzten sie auf Esel,
hefteten ihnen auf pergamentnen Mitren Namen von Kardinälen
an, und befahlen dem, dessen sie geschont hatten, diesen
Trauerzug zum Papst zu führen.1
In dieser angespannten Situation stand das bereits 1183 ausgehandelte
Treffen zwischen Papst und Kaiser bevor, das am Gardasee stattfinden
sollte. Barbarossa hatte die Verhältnisse in Deutschland geordnet und
sich im Frieden von Konstanz (1183) mit den oberitalienischen
Städten geeinigt, die ihm einst so erbitterten Widerstand
entgegengesetzt hatten. Das Kräfteverhältnis hatte sich also stark zu
Ungunsten des Papstes verändert.
Wichtige Dinge standen zur Entscheidung an: Lucius III.
wünschte sich die Unterstützung des Kaisers gegen die Stadtrömer.
Die strittige Besetzung des Erzbistums Trier mußte geklärt werden
und ebenso die Frage nach dem Status der schismatisch geweihten
Kleriker. Barbarossas Anspruch auf die Mathildischen Güter
erforderte eine Antwort. Des weiteren verlangte Friedrich vom Papst,
seinen Sohn Heinrich zum Mitkaiser zu krönen. Es ist nun nicht
unwahrscheinlich, daß man an der Kurie bereits im Frühjahr 1184 von
der bevorstehenden Verlobung zwischen Heinrich und der
normannischen Königstochter Konstanze gehört hatte.2 Auch wenn
man noch nicht im mindesten die Folgen jener Heirat absehen konnte,
so war doch Mißtrauen angebracht gegenüber einer Einigung
zwischen dem deutschen Kaiser im Norden und dem normannischen
König im Süden. Für eine Verbindung der Herrscherhäuser wiederum
sprach der Wunsch Lucius’ III., bald ein vereinigtes Kreuzritterheer
zum Entsatz der [[@Page:152]]arg bedrängten Gründungen im
Heiligen Land entsenden zu können.3 Zusammengefaßt: Der Papst und
der kuriale Klerus befanden sich im Frühjahr 1184 in einer
1
Gregorovius, Ferdinand: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom V. bis
zum XVI. Jahrhundert. Bd.4. Vierte, verb. Aufl. Stuttgart: Cotta, 1890, S.577.
2
Die Vorbereitung der Verlobung ist ein unter Historikern äußerst umstrittenes
Thema. Die Nachwelt urteilt freilich in Kenntnis der staufischen Erbfolge, die
aus der Verbindung hervorging. Einen Überblick über die Thesen gibt Kölzer
1990, S.6ff. Wenn die Einigung beim berühmten Mainzer Hoffest zu Pfingsten
erfolgte, wie Theo Kölzer und Heinz Wolter unter Berufung auf
zeitgenössische Quellen meinen, mußten die Verhandlungen im Frühjahr
bereits im vollen Gange gewesen sein. Ebd., S.14; Wolter 1985, S.45
3
Insgesamt dürfte freilich die Furcht vor einer staufisch-sizilianischen Einigung
das wichtigere Argument gewesen sein. Solche Ängste bestanden bereits zur
Zeit Alexanders III. Wolter 1985, S.35ff. Die Möglichkeit der Erbfolge auf
Konstanze mußte damals zumindest in Betracht gezogen werden. Ebd., S.38ff.
181 ABBILDUNGEN

schwierigen Lage, die weitsichtige Entscheidungen erforderte.


Nun war plötzlich eine Prophezeiung unbekannter Herkunft
aufgetaucht, die man im Nachlaß des kurz zuvor verstorbenen
Kardinalpresbyters Matthaeus von Angers gefunden hatte.1
Wahrscheinlich wurde sie als vaticinium ex eventu während des
Pontifikats Alexanders III. verfaßt, als in Rom ein Gegenpapst saß,
und die Kurie wandernd umherzog.2 Der Text schien aber ebensogut
auf die Gegenwart zu passen, denn er begann mit folgenden Worten:
„Aufgewiegelt werden wird Rom gegen den Römer.“3
Es bestand der Verdacht, die Prophezeiung würde nähere
Auskunft darüber geben können, wie man die gegenwärtige Lage
einzuschätzen hatte und was in naher Zukunft zu erwarten war. Doch
der Text, der lediglich zwanzig Sätze umfaßt, erwies sich als ebenso
dunkel wie vielsagend. Man brauchte einen Fachmann und wandte
sich an Joachim von Fiore. Ob Lucius III. bei Joachims Auftritt selbst
zugegen war, ist nicht bekannt,4 es ist im Grunde auch nicht so
wichtig. Tatsache ist, daß Joachim im Zentrum des päpstlichen
Machtbereichs als Berater anerkannt wurde.5 Wie die Beratungen mit
Barbarossa später zeigten, waren es ohnehin die Kardinäle, die die
Politik bestimmten, und nicht der Papst. Daß sich Joachim selbst
angeboten hatte, die Auslegung zu übernehmen, ist unwahrscheinlich,
denn im Grunde war seine Hinzuziehung ein Mißverständnis. Seine
ganze Hermeneutik beruhte auf seinem Verständnis der Heiligen
Schrift und dem Verhältnis der beiden Testamente, apokryphen
Prophezeiungen stand er mit deutlicher Skepsis gegenüber. Das größte
Problem bestand jedoch darin, daß sich das Prinzip der concordia auf
außerbiblische Texte nicht anwenden ließ. Wer auch immer Joachim
mit der Auslegung beauftragte, brachte ihn sichtlich in Verlegenheit.
In der schriftlichen Fassung schiebt Joachim vor den eigentlichen
Kommentar einen Grundsatzteil ein, in dem er seine Exegese erläutert.
Er versichert, daß er überhaupt nur dann zu Erkenntnissen über den
1
De proph. I,4, Kaup 185 mit Kommentar S.5f.
2
Zu Herkunft, Gestalt und Überlieferung der Prophetia ignota: Kaup 1998,
S.69ff. und S.145ff.
3
Proph. ign. 1, Kaup 175.
4
Lucas von Cosenza berichtet: „Tunc coram eodem domino papa et consistorio
eius coepit primum revelare intelligentiam scripturarum et utriusque testamenti
concordiam; a quo et licentiam scribendi obtinuit et scribere coepit.“ Vita
Joach. (Lucas), Grundmann 353. Matthias Kaup bezweifelt dies mit dem
plausiblen Argument, daß es Joachim sicher erwähnt hätte, wenn er so
prominente Zuhörer gehabt hätte. Kaup 1998, S.11ff. Interessant aber ist, daß
Lucas hier von einem ersten Mal (primum) spricht, was bedeuten würde, daß
Joachim der Kurie häufiger seine Dienste erwies.
5
Herbert Grundmann sieht in dem Ereignis „den sicheren Beweis […], daß
Joachim schon damals den Zeitgenossen, sogar den höchsten kirchlichen
Stellen, als Spezialist für Prophetie galt“. Grundmann, Herbert: „Kleinere
Beiträge über Joachim von Fiore“, in: Grundmann 1977, S.70-100, S.81.
182 ABBILDUNGEN

Gehalt der Prophetia ignota kommen könne, wenn er Parallelen in der


Bibel finde. Daß er sich überhaupt darauf einläßt, rechtfertigt
[[@Page:153]]er mit der Autorität des Augustinus, die er gleich im
ersten Satz bemüht. Denn der Kirchenvater selbst habe auf
Apokryphen zurückgegriffen, wenn sie nicht im Widerspruch zum
biblischen Text gestanden hätten.1 Joachim hält sich dann auch bei
seiner Voraussage der künftigen Dinge streng an die Heilige Schrift.
Daß er dabei notwendigerweise immer wieder auf die Prophetia
ignota zurückkommen muß, wirkt an manchen Stellen fast störend. 2
Letzten Endes aber wendet Joachim die prekäre Situation mit großem
Geschick zu seinen Gunsten. Während er seinen Zuhörern bzw.
Lesern fast nebenbei die anonyme Prophetie erklärt, macht er sie mit
den Grundzügen seiner Geschichtsdeutung vertraut.
De prophetia ignota unterscheidet sich von der Genealogia darin,
daß es sich um einen literarisch ausgestalteten Text handelt und nicht
nur um eine Skizze. Der ursprüngliche Anlaß der Schrift ist noch gut
spürbar, da sich Joachim direkt an sein Publikum zu wenden scheint.
Deutlicher als in anderen Schriften hat man den Eindruck, den Abt
selbst sprechen zu hören. Und es wird gleich zu Beginn recht
offensichtlich, wie Joachim gesehen werden will, denn über die
Auslegung des ihm vorgelegten Textes sagt er:
Als wir aufmerksam dessen Sinn erwogen, um seine
Geheimnisse aufzuspüren, sind wir nicht ohne
Gemütsbewegung in einen traurigen Ton verfallen. Dabei stand
uns vor allem jenes Geheimnis vor Augen, das als Typus der
Römischen Kirche in Michas Weissagung enthalten ist:
„Trauere“, sagt er, „und fürchte dich, Tochter Zion, weil Du
nun aus der Stadt hinausgehen und auf dem Land wohnen und
bis nach Babylon geführt werden wirst“.3
Hier findet sich ein erster Hinweis auf Joachims Selbstverständnis, das
an anderer Stelle noch näher zu erörtern ist: Der Abt sieht sich in einer
ähnlichen Rolle wie die alten Propheten. Wie einst Micha und vor
allem Jeremia über das Schicksal Israels weinten, das sie voraussahen,
so klagt jetzt Joachim über die gegenwärtige und künftige Misere der
römischen Kirche. Zwar nennt sich Joachim niemals einen Propheten,
aber er sieht sich der Kirche in einer ähnlichen Weise gegenüber
stehen wie die großen Mahner des Alten Testamentes. Bedenkt man
weiterhin, in welcher Weise Jesaja oder Jeremia auf die Politik der
1
De proph. I,1, Kaup 181. Joachim meint wahrscheinlich die
„Christusweissagung“ der erythräischen Sibylle, die Augustinus in [[De civ.
Dei XVIII,23 >> Augustine:De civ. Dei 18.23]] heranzieht.
2
Das gilt vor allem für die beeindruckende Auslegung von Mt 14,22ff., „jene
geheimnisvolle Geschichte des Evangeliums“, die Joachim offensichtlich für
wesentlich bedeutsamer hält als seine apokryphe Vorlage. De proph. II,8, Kaup
213-217.
3
De proph. I,4, Kaup 185; Mi 4,10.
183 ABBILDUNGEN

judäischen Könige Einfluß zu nehmen versuchten, kann man


schließen, daß Joachim der Kurie hinsichtlich der anstehenden
politischen Entscheidungen durchaus ein gewisses Verhalten
nahelegen wollte. Später hat Joachim kirchenpolitische
Empfehlungen, die er auf seine Bibelexegese gründete, recht offen
ausgesprochen.
Wie schon in der Genealogia, so breitet Joachim auch in De
prophetia ignota die Konkordanz der Verfolgungen aus. Es versteht
sich von selbst, daß er angesichts des erneuten Erstarkens des
staufischen Reiches zu einigen Veränderungen gezwungen ist. Die
fünfte Verfolgung der „Neu-Chaldäer“ sieht er nun nicht mehr als
beinahe überwunden, sondern als noch bevorstehend. Wichtiger aber
sind einige andere Neuerungen: [[@Page:154]]Anders als in seiner
ersten Schrift macht Joachim jetzt die Kämpfe der Kirchengeschichte
an konkreten Namen fest. Die Verfolgung der Sarazenen etwa läßt er
in der Belagerung Konstantinopels (717/718) unter Kaiser Leo III.
gipfeln.1 Auf sie folgt während der Herrschaft eines Karolus, pius rex
Francorum – gemeint ist Karl Martell – eine vorläufige Ruhe, in der
die Kirche neuen Mut schöpft.2
Joachim bezieht die sarazenische Bedrohung auf die assyrische
Belagerung Jerusalems unter König Hiskija. Der „Frankenkönig“ Karl
Martell entspricht aber keineswegs dem judäischen Herrscher, wie
man vermuten könnte, sondern eher jenem Engel, den Gott zur
Rettung Jerusalems entsandt hatte.3 Vielmehr sind es die Päpste
Gregor III. und Zacharias, die an der Spitze der Römischen Kirche zu
Gott flehen, wie einst Hiskija um himmlische Hilfe gebeten hatte. 4
Soweit sind Joachims Ausführungen einsehbar und folgen der Logik
der Genealogia. Doch dann schließt sich eine Stelle an, die zunächst

1
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.187, Anm.20.
2
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.32ff. Der fränkische Majordomus
Karl Martell wurde offenbar schon seit dem 8. Jahrhundert rex Francorum
genannt. Er ist in der Regel gemeint, wenn Joachim von einem Karolus spricht.
Die in der Tat verheerende Belagerung Konstantinopels wurde natürlich nicht
von ihm beendet, sondern von den Bulgaren. Norwich, John J.: Byzanz. Bd.1:
Der Aufstieg des Oströmischen Reiches. Sonderausgabe. Düsseldorf und
München: Econ, 1998, S.423ff.
3
Vielleicht ist Joachim aufgefallen, daß die Zahl von 385 000 Sarazenen, die
Karl Martell der Überlieferung gemäß (vgl. Otto von Freising, Chron. V,16)
getötet haben soll, gewisse Ähnlichkeit mit der Zahl der 185 000 Assyrer hat,
die nach 2 Kön 19,35 der Engel Gottes erschlug, wenigstens was ihre auffällige
Höhe angeht. Vgl. Conc. IIa,25, fol.15rb, Daniel 117,45-48: „In diebus autem
Ezechie, et filii Israel cum rege suo traditi sunt in potestate regis Assyriorum, et
ipse Ezechias tradendus erat, nisi clamasset ad dominum qui et eripuit eum,
interficiens per angelum suum de castris Assyriorum centum octoginta quinque
milia.“
4
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.38 und 187ff, Anm.22 und 26; 2
Kön 20,1-7; Jes 38,1-6.
184 ABBILDUNGEN

etwas kryptisch anmutet:


Seit der Zeit des Papstes Zacharias, in dessen Tagen Italien in
allgemeinem Frieden ausruhte, begannen sich die
Ankündigungen jenes Textes [d.h. der Prophetia ignota] zu
erfüllen. Doch weil die menschliche Dreistigkeit nicht verdient,
sich lange zu freuen, hat Gott, der versprochen hatte, die heilige
Stadt vor den Königen der Assyrer zu schützen, eröffnet, daß
Jerusalem in die Hände der Chaldäer übergeben werden müsse.
Das offenbarte er anläßlich des Besuchs der Gesandten des
Königs von Babylon, dem der König von Juda selbst
Geheimnisse enthüllt hatte. Ebenso erwartet uns in unseren
Tagen die fünfte Verfolgung durch ein anderes und übleres
Babylon, in der die Mutter Zion nach Babylon geführt wird.
Herangerückt sind nämlich jene Tage, über die der Erlöser sagt:
„Die Tage werden kommen, an denen ihr wünschen werdet,
einen Tag des Menschensohnes zu sehen. Es gab nämlich in
jenen Tagen einen Überfluß an Frieden, bis der Mond
hinweggenommen wurde“, das heißt, bis die in die Verbannung
weggeführte römische Kirche ihren strahlenden Glanz verliert. 1
Der Passus ist für Joachims politische Grundeinstellung äußerst
aufschlußreich. Aller[[@Page:155]]dings bleibt er ohne die
zugrundeliegende Bibelstelle, deren Kenntnis Joachim bei seinem
Publikum voraussetzen konnte, völlig undurchsichtig. Im zweiten
Buch der Könige heißt es:
Damals sandte Merodach-Baladan, der Sohn Baladans, der
König von Babel, einen Brief und Geschenke an Hiskija; denn
er hatte von seiner Krankheit gehört. Hiskija freute sich darüber
und zeigte den Gesandten sein ganzes Schatzhaus, das Silber
und das Gold, die Vorräte an Balsam und feinem Öl, sein
Waffenlager und alle anderen Schätze, die er besaß. Es gab
nichts in seinem Haus und in seinem Herrschaftsbereich, das er
ihnen nicht gezeigt hätte. Danach kam der Prophet Jesaja zu
König Hiskija und fragte ihn: Was haben diese Männer gesagt?
Woher sind sie gekommen? Hiskija antwortete: Sie sind aus
einem fernen Land, aus Babel gekommen. Er fragte weiter: Was
haben sie in deinem Haus gesehen? Hiskija antwortete: Sie
haben alles gesehen, was in meinem Haus ist. Es gibt nichts in
meinen Schatzkammern, das ich ihnen nicht gezeigt hätte. Da
sagte Jesaja zu Hiskija: Höre das Wort des Herrn: Es werden
Tage kommen, an denen man alles, was deine Väter bis zum
heutigen Tag angesammelt haben, nach Babel bringt. Nichts
wird übrigbleiben, spricht der Herr. Auch von deinen eigenen
Söhnen, die du noch bekommen wirst, wird man einige
mitnehmen, und sie werden als Kämmerer im Palast des Königs

1
De proph. I,4, Kaup 189; Lk 17,22. Die Übersetzung habe ich im letzten
Halbsatz leicht geändert.
185 ABBILDUNGEN

von Babel dienen.1


Joachim zieht die Parallelen diesmal folgendermaßen: Papst Zacharias
entspricht König Hiskija, daher kann der König von Babylon niemand
anderer sein als der fränkische Hausmeier Pippin. Nun ist bekannt,
was in Pippins Zeit geschah:2 Das Papsttum entfernte sich von den
ikonoklastischen Kaisern des Ostens und suchte nach einer neuen
Machtbasis. Diese fand sie in Gestalt der aufstrebenden karolingischen
Dynastie, die ihrerseits an einer Verbindung mit Rom interessiert war.
Gesandtschaftsschreiben mit entsprechenden Gesuchen waren beim
Papst eingegangen. Eine Einigung kam schließlich zustande: Pippin
gestattete dem Missionar Bonifatius, die fränkische Kirche romtreu zu
organisieren, im Gegenzug beauftrage der Papst den
Missionarsbischof damit, den fränkischen König zum christlichen
König zu salben und damit seine Dynastie zu legitimieren. Es ist kaum
umstritten, daß dieses Ereignis eine zentrale Bedeutung für die
symbolische Formung der abendländischen Politik hatte. Ferdinand
Seibt etwa schreibt:
Das archaische Charisma war durch die kirchliche Salbung
ersetzt, der tradierte Volksglaube abgelöst worden durch einen
rechtssetzenden sakralen Akt, und dabei hatte die Kirche selbst
sich als die Mutter aller politischen Autorität hervorgetan.3
Nun erweist sich die anfangs dunkle Stelle als ein hervorragendes
Beispiel für Joachims Konkordanzenlehre: Pippin/Merodach schreibt
Briefe an den geschwächten Zacharias/Hiskija und bietet ihm seine
Hilfe an. Aus Dankbarkeit führt Zacharias/Hiskija
[[@Page:156]]Pippin/Merodach in die Schatzkammer seines Hauses,
das heißt der Papst öffnet dem Franken den Weg in die
Charismenordnung des corpus Christi. Er weiht ihn mit dem Chrisma
und macht ihn zum Christus, zum Gesalbten. Doch der irdische
Christus, das diesseitige Haupt der Kirche und der Inhaber des
königlichen Priestertums kann nach Joachims Ansicht nur einer sein,
der Papst. Und der Archetypus des gesalbten Königs war natürlich seit
jeher David, dessen historische Nachfolge nach Joachims Lehre die
Päpste angetreten hatten.4 Sicherlich war die Katholisierung des
Frankenreiches zu begrüßen und auch eine militärische Unterstützung
gegen die Langobarden war nicht zurückzuweisen, aber das päpstliche
Entgegenkommen ging zu weit, der bezahlte Preis war zu hoch. In der
1
2 Kön 20,12-19; vgl. Jes 39,1-8.
2
Vgl. zum folgenden Nelson, Janet: Kingship and empire. In: Burns 1988,
S.211-251, S.213ff.; Ullmann 1960, S.79ff; Otto von Freising, Chron. V,21-23.
3
Seibt, Ferdinand: Glanz und Elend des Mittelalters. Eine endliche Geschichte.
Berlin: Siedler, 1987, S.29. Otto von Freising vermag dies in dem trockenen
Satz zusammenzufassen: „Ex hoc Romani pontifices regna mutandi
auctoritatem trahunt.“ Chron. V,23, Schmidt/Lammers 410,34-412,35.
4
Sh. v.a. Conc. V,61, fol.92rb-va.
186 ABBILDUNGEN

sakramentarischen Weihe der Fürsten dieser Welt erkennt Joachim


den Urgrund eines gewaltigen Unordnungspotentials, dessen
Tragweite in den Tagen Pippins noch nicht abzusehen war.
Wie Jesaja damals wußte, daß in den Vertraulichkeiten mit dem
anfangs freundlich gesinnten König von Babylon der Keim für die
babylonische Gefangenschaft gelegt war, so sieht Joachim, daß die
Römische Kirche jetzt, mit der Bedrohung durch die Stauferkaiser,
den Preis für ihre vertrauensselige Bündnispolitik bezahlt, die sie in
den Tagen von Papst Zacharias begonnen hat.1 Sie wird in die
Verbannung geschickt werden und ihren Glanz verlieren. Und wie alle
Strafen Gottes ist auch diese eine Folge des Ungehorsams des
Gottesvolkes und seiner Führer. Im Liber Concordiae ordnet Joachim
jene geschichtlichen Wendepunkte in den Zyklus des fünften Siegels
ein, die rund 450jährige Epoche Neu-Babylons, die um 750 beginnt
und auf dem Höhepunkt der fünften Verfolgung zu Ende gehen muß.2
In einem negativen Sinn erkennt Joachim damit das
Selbstverständnis Barbarossas an, der bekanntlich den Kult um Karl
den Großen betrieb wie keiner vor ihm. Indem der staufische Kaiser
auf dem Karlsthron Platz nahm, legte er – in vereinten Kräften mit der
imperialen Historiographie – selbst den Grund für dergleichen
Deutungen seiner Person. Was von Karl begonnen wurde, setzt sich in
der Politik der Staufer fort, so sieht es auch Joachim. Man kann aber
aus Joachims Worten auch eine sehr praktische Empfehlung
herauslesen: Das Ersuchen Barbarossas, seinen Sohn Heinrich zum
Mitkaiser zu krönen, ist abzulehnen. Schon die Salbung Pippins war
ein Fehler, warum also nun den jüngsten Sproß Neu-Babylons in das
Schatzhaus der Kirche führen und ihm eine Gabe aus dem
Gnadenschatz Christi zusprechen, die ihm nicht zusteht. Die
[[@Page:157]]Absichten, die sich hinter den zugegebenermaßen
schwierigen Stellen von De prophetia ignota verbergen, lassen sich
heute besser erkennen, da Joachim sie in späteren Werken klarer
ausgeführt und in seinen weltgeschichtlichen Gesamtentwurf
eingegliedert hat. Seinen Zeitgenossen jedenfalls, die mit jener
1
In Conc. V,7, fol.63vb werden die Bündnispolitik und ihre langfristigen Folgen
als ein einziges Ereignis geschildert: „Quinto tempore quod incepit a diebus
Ysaie et Ezechie regis Iuda, confederatio quedam facta est inter reges Iuda et
reges gentium, Egypti scilicet et Babylonis, eunte etsi invita aliqua parte filio-
rum Iuda veluti in profundum maris in Egyptum et Babylonem et alias civitates
gencium, quatinus et ipse gentes cognoscerent deum celi; reliqua vero etsi mod-
ica in patrie libertate manente.“
2
„Apertio quinti signaculi inchoata est a diebus Zacharie pape qui respicit in
concordiam Ezechiam, regem Iuda. A diebus denique pape Zacharie ceperunt
reges Francorum Romanum optinere imperium. Fuit enim rex Babilonis, cuius
primo facta est mentio in libro Regum, amicus Ezechie; nec minus primi reges
Francorum amici pontificum Romanorum. Sane circa finem surrexit rex alius in
Babilone, per quem humiliata est ualde superbia Iherusalem.“ Conc. IIIa,5, fol.
41rb, Daniel 301,1-6.
187 ABBILDUNGEN

Argumentationslogik eher vertraut waren als der moderne Leser,


konnte Joachim vielsagend bedeuten:
„Um welches Babylon es also geht, um welches Chaldäa, wer
der König von Babylon ist, nun, ich meine, daß ihr mich
versteht. So will ich jetzt lieber das nur umschreiben als es
direkt benennen.1
Im nächsten Schritt seiner Argumentation versucht Joachim, die
babylonische Gefangenschaft näher zu erörtern. Dazu legt er den
dritten und vierten Satz der anonymen Prophezeiung aus, welche
lauten:
Leichter werden die Stäbe der Hirten gemacht werden.
Und deren tröstende Fürsorge wird in Untätigkeit verfallen. 2
Joachim erklärt:
Immer leichter werden die Stäbe der Hirten gemacht werden,
weil alle Autorität der Fürst der Chaldäer, wie ich Euch als
Wissenden sage, an sich ziehen wird, so daß die Lenker der
Kirchen seiner Vorherrschaft unterstellt werden. Denn deren
tröstende Fürsorge, die zuvor die Leidenden aufzurichten
pflegte, wird in Untätigkeit verfallen, weil ihnen weder gestattet
werden wird, die Angeklagten zu verurteilen noch den
Bedrängten Hilfe zu bringen.3
Es ist nicht schwer, den Ton der Investiturdebatte herauszuhören, die
noch lange nicht ausgestanden war, sondern wieder an Brisanz
gewonnen hatte.4 Nach einer Doppelwahl im Jahr 1183 war ein Streit
um das Erzbistum Trier entstanden. Barbarossa beendete ihn vorerst,
indem er die Wahl beim Reichstag zu Konstanz wiederholen ließ und
den Sieger, Rudolf zu Wied, investierte. Vom Papst erwartete er jetzt
die Weihe seines Kandidaten. Andererseits hatte der unterlegene
Folmar an die Kurie appelliert und hoffte auf Unterstützung. Beim
bevorstehenden Treffen zwischen Papst und Kaiser sollte die
Angelegenheit geklärt werden. Ob sich Joachim konkret auf diese
Frage bezieht, läßt sich nicht feststellen, ist aber gut denkbar. Es ist
jedenfalls äußerst unwahrscheinlich, daß er von den Diskussionen an
der Kurie nichts wußte. Im allgemeinen aber kündigt er an, daß das
Reich wieder stärkeren Einfluß auf die Kirche nehmen wird –
1
De proph. II,2, Kaup 195.
2
Proph. ign. 3-4, Kaup 175.
3
De proph. II,3, Kaup 107.
4
Vgl. Joachims Gegenwartsbeschreibung in Ench., Burger 61,1690-1695: „Do-
lebant Judaei quondam super servitute corporea, et nos dolere parvipendimus
super servitute peccati. Dolebant se illi corpore servire principus Babylonis, et
nos non attendimus quam miserum sit expectare ecclesiasticas dignitates a prin-
cipibus mundi, obedientes propter illas praeceptis sacrilegis, et illicitis tyranno-
rum jussis assensum quam indigne praebentes.“
188 ABBILDUNGEN

vielleicht keine allzu prophetische Voraussage unter den damaligen


Bedingungen. Seine Sicht der Dinge ist aber weit düsterer, als es der
unmittelbare Anlaß nahegelegt hätte: Der Klerus wird soweit
eingeschränkt werden, daß er zur Untätigkeit verdammt sein wird. Die
[[@Page:158]]Schreckensvision Humberts von Selva Candida und der
gregorianischen Reformer wird eintreten, die Kirche wird völlig in
Laienhand geraten.1 Mit diesem Höhepunkt der Unterdrückung hätte
sich Jesajas Prophezeiung schließlich auch in der Kirchengeschichte
erfüllt, wonach die künftigen Führer Judas, also die Päpste, im Palast
des babylonischen Königs Kämmererdienste leisten. Die
Gegenwartsdiagnose, die Joachim wenige Jahre später im Enchiridion
super Apocalypsim stellt, ist ganz im gregorianischen Geist formuliert.
Dem reformunwilligen Klerus, der sich mit dem Status quo
abzufinden gedenkt, wird eindeutig eine Mitschuld an der Misere
angelastet:
Jene [die Juden] beklagten sich, mit dem Körper den Fürsten
Babylons dienen zu müssen. Und wir achten nicht darauf, wie
armselig es ist, die kirchlichen Würden von den Fürsten dieser
Welt zu empfangen, sondern leisten jener Würden wegen den
anbefohlenen Sakrilegien Folge und erteilen den unerlaubten
Befehlen der Tyrannen unsere allzu unwürdige Zustimmung. 2
Inwieweit Joachims Ausführungen auf die Politik der Kurie Einfluß
hatten, muß weitgehend Spekulation bleiben. Einige Überlegungen
seien dennoch erlaubt: Beim Gipfeltreffen, das schließlich in Verona
stattfand, setzten die Kurialen entgegen dem erklärten
Verständigungswillen des Papstes durch, daß fast alle Ersuchen des
Kaiser relativ brüsk zurückgewiesen wurden. Selbst die bereits in
Aussicht gestellte Krönung Heinrichs wurde abgesagt. Eine Einigung
gab es lediglich hinsichtlich eines verschärften Vorgehens gegen
Ketzer, der Rückkehr Heinrichs des Löwen aus dem englischen Exil
und der Kreuzzugsfrage; aber diesen Punkten hätte auch Joachim
zustimmen können. Das heißt, der auf Ausgleich bedachte Kaiser
erfüllte die wichtigsten Forderungen des Papstes, seine eigenen
Anliegen wurden sämtlich abgelehnt. Selbst bei kirchenfreundlichen
Historikern hat dieser Ausgang zu einiger Verwunderung geführt:
„Wenn man bedenkt, daß die Verhandlungen von Verona vom Papst
selbst angeregt worden waren, mag diese betonte Reserve
befremden.“3 Im allgemeinen wird die Haltung der Kurie damit
begründet, daß die anstehende Verlobung zwischen Heinrich und
Konstanze kurz vor der Abreise Friedrichs bekannt gegeben wurde.
Aber ebenso allgemein heißt es, daß dies nicht der einzige Grund
gewesen sein könne, und daß die Kurie von den Eheverhandlungen
1
Vgl. Ullmann 1960, S.389ff.
2
Ench., Burger 59,1690-1695.
3
HbKg III/2, S.107f.
189 ABBILDUNGEN

längst gewußt haben müßte.1


Es sei ein Angebot des Kaisers in Erinnerung gebracht: Er schlug
dem Papst und den Kardinälen vor, sie an den italienischen
Reichseinnahmen zu beteiligen, wenn sie ihm im Gegenzug den
Besitz der Mathildischen Güter bestätigten. Was hätte dies bedeutet?
Nichts anderes als eine dauerhafte finanzielle Abhängigkeit der Kurie
vom [[@Page:159]]Kaiser,2 die babylonische Gefangenschaft.
Sicherlich war Joachims Prophezeiung nicht allein ausschlaggebend,
aber es wäre ein Fehler, einen Einfluß von seiner Seite völlig
auszuschließen. Dies hieße den existentiellen Ernst zu unterschätzen,
der in dieser Zeit der Apokalyptik entgegengebracht wurde. Man
sollte politischen Entscheidungen im Mittelalter nicht einen Grad an
pragmatischer Rationalität unterstellen, den man auch in der
Gegenwart für realitätsfern halten muß.3
Joachim hatte genau das getan, was man von ihm erwartete. In
einer schwierigen Situation bot er den politischen
Entscheidungsträgern Orientierung und klärte sie über die „wahre“
Gesinnung und Identität ihres Gegners auf, der sich neuerdings so
zahm gab. Im Typus der alten Propheten riet Joachim dem „König von
Israel“ und seinem Hof von jeder Bündnispolitik ab und rief in einer
wahrhaft jesajanischen Rede zum kompromißlosen Gottvertrauen auf.
Im Typus Daniels und Johannes’ von Patmos wiederum verwies er auf
den unabänderbaren Plan Gottes, durch den Neu-Babylon zu Fall
kommen werde wie alle irdischen Reiche, und demgegenüber der
Kirche nichts anderes geboten sei als demütige Duldsamkeit. Damit
präsentierte er der Kurie eine Möglichkeit der Selbstdeutung, die sie
über ihre geschichtliche Bestimmung nicht länger im Unklaren ließ.
Politische Entscheidungen aber fallen seit jeher nicht nur aufgrund
von rationalem Kalkül, sondern sind ebenso geprägt vom
Selbstverständnis der Entscheidungsträger.4 [[@Page:160]]
1
Oppl 1990, S.143; vgl. Kölzer 1990, S.12; Csendes 1993, S.57. Nach Heinz
Wolter kann die Nachricht der Verlobung „allenfalls ein zusätzliches Argument
gegen die versöhnliche Politik des nachgiebigen Papstes geboten haben“.
Wolter 1985, S.47. Die von Gerhard Baaken ins Spiel gebrachten Übergriffe
König Heinrichs gegen die Anhänger Folmars, des kurialen Favoriten für den
Trierer Bischofsstuhl, scheiden wohl aus chronologischen Gründen aus. Baaken
1972, S.230ff. Dazu Wolter 1985, S.48f.
2
Jordan 1967, S.71.
3
„Auch wenn man die mittelalterlichen Geschichtsanschauungen nicht mehr
für wahr hält, hat man sich also zu fragen, wieweit sie wirksam waren und
infolgedessen wichtig sind zum Verständnis der geistigen Voraussetzungen, der
Triebkräfte und Leitideen der mittelalterlichen Geschichte und Politik.“
Grundmann, Herbert: „Die Grundzüge der mittelalterlichen
Geschichtsanschauungen“, in: Grundmann 1977, S.211-219.
4
Gerhard Baakens ausführliche Studie schildert das Treffen von Verona als ein
Aushandeln von Rechtsgütern zwischen zwei gesichtslosen Großmächten,
deren kühl rechnende Protagonisten sich lediglich durch unterschiedliches
190 ABBILDUNGEN

Unter „realpolitischen“ Gesichtspunkten ist ohnehin kaum


verständlich zu machen, wie die Kurie die Situation weiter eskalieren
ließ. Dagegen paßt das Verhalten sehr gut zum kompromißlosen
Gerechtigkeitsbewußtsein der Apokalyptiker: Der gemäßigte Lucius
III. starb kurz nach den Verhandlungen, und die Kardinäle wählten
(entgegen kanonischem Recht) noch am gleichen Tag den radikal
antikaiserlich eingestellten Erzbischof Humbert Crivelli zum Papst. Er
nannte sich Urban III. Als er bald entgegen der Entscheidung
Barbarossas Folmar zum Bischof von Trier weihte und damit die im
Wormser Konkordat zugesicherten Rechte des Kaisers verletzte,
bedeutete dies eine „offene Kampfansage“1 an das Reich – und dies
alles in einer Lage, in der sich die Kurie alles andere als stark fühlen
Verhandlungsgeschick auszeichnen. Demnach hätte Barbarossa seine Trümpfe
länger in der Hand behalten sollen, also z.B. dem Kreuzzug erst dann
zustimmen, nachdem seine eigenen Forderungen erfüllt wurden. Baaken 1972,
S.240. Nun sind selbst die nüchternsten Historiker der Meinung, daß des
Kaisers Entschluß zum Kreuzzug – ähnliches gilt wahrscheinlich hinsichtlich
der Einigung in der Ketzerfrage – nicht aus Kalkül erfolgte, sondern aus dem
Bewußtsein persönlicher Berufung. „[Der Kaiser] war aufs tiefste von dem
Bewußtsein erfüllt, daß ihm als dem Haupt der Christenheit vor allen andern
die Pflicht zukäme, das Schwert gegen die Heiden zu führen und das heilige
Grab ihren Händen zu entreißen.“ Jordan 1967, S.76. Ein solches Motiv kennt
Baaken nicht. Über die Ereignisse von 1184 meint er abschließend: „Zum Kern
großer politischer Streitfragen gelangt der Historiker erst dann, wenn er in
ihnen nicht lediglich das Aufeinanderprallen von Macht und Gewalt erblickt,
sondern zu den Rechtsüberzeugungen vordringt, die jeden der Beteiligten
trugen und von ihm als unverzichtbar angesehen wurden.“ Baaken 1972, S.295.
Das wäre nur richtig, wenn der Begriff der „Rechtsüberzeugung“ die
Gesamtheit der spirituellen Ordnung in sich schließen würde, von der das
Selbstverständnis eines Menschen abhängt. Jede mittelalterliche
Rechtsauffassung ist in einer spezifischen, mehr oder weniger klar reflektierten
Theologie verwurzelt, insofern alle Normativität auf den göttlichen Willen –
Augustinus spricht von der lex aeterna – als ihren Grund zurückgeführt wird.
„Die mittelalterliche Literatur ist geradezu voll davon, daß Gott der Urheber
der Natur, das Recht oder der Anfang alles Rechtes, das ewige und wahre
Gesetz, die wahre Wahrheit und die Sonne aller Gerechtigkeit sei.“ Tellenbach
1936, S.30. Nicht weniger wichtig sind die anthropologischen, kosmologischen
und eschatologischen Komponenten der spirituellen Ordnung, da im Mittelalter
zuerst der einzelne Mensch als Rechtssubjekt in Frage kommt, jede Form der
Ordnung als Teil der Schöpfungsordnung betrachtet wird, und das letzte Ziel
des Menschen über seine diesseitige Existenz hinausführt. Zu Recht wehrt sich
Baaken andernorts gegen die unter Historikern weitverbreitete Praxis, einen am
modernen Nationalstaatsdenken (insbesondere Carl Schmitt und Max Weber)
geschulten Politikbegriff auf das Mittelalter anzuwenden und alles politische
Handeln am „Prinzip der Macht“ zu messen. Weil er aber dem Begriff der
Macht einen Begriff des Rechts entgegensetzt, der von Sinngehalten
weitgehend gereinigt ist, gelingt es ihm ebensowenig den Anachronismen zu
entgehen. Vgl. Baaken, Gerhard: „Recht und Macht in der Politik der Staufer“,
in: HZ 221 (1975), S.553-570.
1
Oppl 1990, S.154; vgl. Csendes, S.62.
191 ABBILDUNGEN

durfte. Die Reaktion folgte auf dem Fuße, Friedrich entsandte seinen
Sohn Heinrich, um das Patrimonium Petri zu besetzen. Die
„babylonische Gefangenschaft“ schien also schließlich doch
Wirklichkeit zu werden. Heinz Wolter schreibt zu den Vorgängen:
Nach der Kölner Königschronik und Albert von Stade waren es
[…] die Kardinäle, die dem Papst den Vorwand für die
Verweigerung der Kaiserkrönung Heinrichs VI. lieferten. Wenn
wir ferner noch bedenken, daß die gleichen Kardinäle rund ein
Jahr später mit Urban III. einen der schärfsten persönlichen
Gegner des Kaisers zum Papst erhoben, dann bestätigt sich der
Eindruck, daß Barbarossa in Verona auf einen alten,
nachgiebigen Papst, aber ein seit der Zeit des Schismas waches,
mißtrauisches Kardinalskollegium stieß, dessen Einfluß auf den
greisen Lucius III. seine Bemühungen zunichte machte. 1
Somit ergeben sich zwei konkrete Fragen, die in diesem Rahmen nur
gestellt, nicht aber geklärt werden können, nämlich erstens ob Joachim
zum Mißtrauen der Kardinäle gegenüber Barbarossa seinen Teil
beigetragen hat; und zweitens ob versucht wurde, mit Joachims
Auslegung der Prophetia ignota Einfluß auf den
verständigungsbereiten Papst auszuüben. Es ist aufs Ganze gesehen
zumindest denkbar, daß der Abt von Corazzo die abendländische
Politik schon zu einem Zeitpunkt mitbestimmte, als von seiner
revolutionären Drei-Status-Lehre noch keine Rede war.
Auf alle Aspekte von De prophetia ignota einzugehen, ist hier
weder möglich noch nötig. Einige Bemerkungen Joachims aber
weisen weit voraus auf seine späteren Schriften und sollen zumindest
Erwähnung finden. So ist davon die Rede, daß während der Zeit, in
der die Kleriker zur Untätigkeit verurteilt sein werden, Mönche an ihre
Stelle [[@Page:161]]treten und mit ihrem Gebet den Gläubigen einige
Erleichterung verschaffen werden – wenn es auch eine „Erleichterung
in Tränen“ sein wird.2 Hier ist zum ersten Mal eine geschichtliche
Rolle für das Mönchtum angedeutet und zugleich der Weg, der
Joachim über die Apokalyptik hinausführen wird.
Joachim äußert sich in De prophetia ignota erstmals über die
Zukunft der Juden. Im engen Anschluß an den Römerbrief verweist er
auf den Zusammenhang zwischen Hochmut und Erwählung. Die
Juden sperrten sich einst im hochmütigen Vertrauen auf die
Gesetzestreue gegen das Evangelium und mordeten den Messias. Aber
nach den vielen Qualen, die sie im Laufe der Geschichte erdulden
mußten, wird sie eine „späte und nahezu tödliche Reue“ dazu treiben,
Christus doch noch anzuerkennen.3 Die Heiden aber – gemeint sind
die Christen nicht-jüdischer Abstammung – werden zuvor den Preis
1
Wolter 1985, S.50; vgl. Wenck 1973, S.423.
2
De proph. II,3, Kaup 197; vgl. Proph. ign. 4-5, Kaup 175f.
3
De proph. II,5, Kaup 205.
192 ABBILDUNGEN

für ihre Selbsterhebung zahlen. In einem ersten „kleinen Tag des


Herrn“, der dem Jüngsten Gericht vorausgeht, wird Neu-Babylon und
mit ihm alles nur nominelle Christentum gerichtet. 1 Die paulinische
translatio gratiae erfolgt also nun in umgekehrter Richtung:
Er erhöht den erniedrigten Juden, er erniedrigt den erhöhten
Heiden. Jetzt aber wird Gott, weil er die natürlichen Zweige
nicht geschont hat, tatsächlich auch die Heiden nicht schonen.
Die Juden werden eingepfropft werden, weil ihr Unglauben in
Glauben verwandelt werden wird.2
So wächst sich die Lehre von Hochmut und Fall aus zu einem fast
kausalen Prinzip göttlichen Handelns in der Geschichte:
In der Selbstüberhebung wird der Glaube zuschanden gemacht,
in der Schmach aber wird er erworben. Den Hochmütigen
nämlich tritt Gott entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine
Gnade. Das Verworfene und Niedere in der Welt hat Gott
erwählt, um das Hochmütige zu vernichten. Wer also in der Tiefe
ist, der sei zuversichtlich, wer aber in der Höhe ist, der fürchte
sich, weil sowohl jenen die Gnade zum Heil erhebt, als auch
diesen der Hochmut in die Tiefe hinabzieht.3
Aber alle derartigen Überlegungen bleiben noch im Rahmen des
apokalyptischen Determinismus. Keineswegs hat man sich die
Begnadigung der Juden als spontane Reaktion Gottes vorzustellen, die
auf einen Gesinnungswandel im alten Gottesvolk erfolgt. Vielmehr
erfüllt sich, was im göttlichen Geschichtsplan seit jeher vorgesehen
war und von Paulus prophezeit wurde. Gott selbst hat die Juden
erniedrigt und demütig gemacht, damit er sie erwählen konnte:
[Es] spricht der Herr durch den Propheten: „Ich werde töten und
lebendig machen, ich werde zerschlagen und gesund machen.“
Zu recht tötet, wer lebendig macht, zu Unrecht tötet, wer nicht
retten kann. Gott zerschlägt nämlich die Hochmütigen, um sie
demütig und heil zu machen, damit sie nicht in ihrem
an[[@Page:162]]geschwollenen Hochmut zugrundegingen,
wenn er sie nicht zerschlüge. Und obgleich der, der den
Schlagenden nicht erträgt, aufgrund seiner schuldhaften
Leidensunfähigkeit (impatientie culpa) verdammt wird, würde
dennoch keiner gerettet, wenn Gott niemanden zum Heil
zerschlüge. Soweit es also an Gott liegt, zerschlägt er selbst alle
zum Heil. Aber es gibt einige, die zerschlagen zugrundegehen,
weil sie die Medizin des Arztes nicht annehmen wollen. 4
Dies klingt nach den radikalsten Fassungen der augustinischen
1
De proph. II,4, Kaup 199.
2
De proph. II,5, Kaup 207; vgl. Röm 11,21.23.
3
De proph. II,6, Kaup 209; Jak 4,6; 1 Kor 1,27f; 10,12.
4
De proph. II,5, Kaup 203; Dtn 32,39.
193 ABBILDUNGEN

Gnadenlehre, und doch besteht ein wichtiger Unterschied: Joachim


spricht von Kollektiven, die göttliche Gnadenwahl oder Verdammung
bei Augustinus betrifft dagegen stets das Individuum. Allerdings
macht es der kollektive Determinismus leichter, dem einzelnen
Entscheidungsfreiheit zuzugestehen. Denn wenn auch die göttliche
Strafe das hochmütige Heidentum insgesamt trifft, so liegt es doch am
einzelnen die Züchtigung als Heilsweg zu begreifen – die
zuvorkommende Gnade Gottes freilich vorausgesetzt. Damit ist
zugleich angezeigt, was für die Gläubigen in der kommenden Zeit der
großen Drangsale geboten ist: eine demütige Geduld, die alles Unheil
als gerechte Strafe Gottes erkennt. Dies ist die paränetische
Dimension von De prophetia ignota, die weit über die aktuellen
politischen Fragen hinausreicht. Es geht Joachim darum, seine
Zuhörer aus dem „Schlaf der Trägheit“ zu erwecken und an das zu
erinnern, was ihre christliche Pflicht ist: sich mit geistlichen Waffen,
also Buße und Gebet, gegen die Angriffe des Satans zur Wehr zu
setzen.1
Schließlich gibt es noch eine dritte Dimension der Schrift, die
wiederum ein genaueres Hinsehen erfordert. Wie kein anderes Werk
des Abtes weist De prophetia ignota einen deutlichen Zug ins
Mythische auf. Das betrifft vor allem die Vorhersage der Ereignisse,
die auf den Fall Babylons folgen werden. Joachim stellt sich den
Ablauf ungefähr folgendermaßen vor: Während noch die zehn Könige
herrschen, die nach der Offenbarung des Johannes das Ende Babylons
herbeiführen, wird der Antichrist geboren werden, der Veränderer der
Welt (immutator seculi), wie ihn die anonyme Prophezeiung nennt. 2
Er wird als ein Lehrer von hoher Autorität auftreten und vereint mit
falschen Propheten die Gläubigen in die Irre führen. Gegen ihn aber
wird ein namenloser Gefährte Elijas ins Gefecht gesandt, der zuerst
gegen die falschen Lehrer auftreten und alle Welt zum Glauben rufen
wird.3 Er wird die zehn Könige besiegen, nicht durch Waffengewalt,
sondern durch das Wort Gottes, und sie zurück in die Kirche führen.
Damit wird der Weg frei für einen endzeitlichen Papst, der sich durch
größte Glaubensstärke auszeichnet. Der Römische Bischof wird über
die Völker hinwegschreiten, wie einst Petrus über den See Gennesaret
seinem Herrn entgegenging.4 Fast die ganze Welt und die meisten
ihrer Könige werden sich ihm unterstellen. Doch gegen den Terror des
Antichrist kann auch er nicht bestehen. In dem Moment, in dem sich
die Kirche über ihre Wiederherstellung (reparatio) freut, wird sie vom
Widersacher und seinen Helfern [[@Page:163]]gekreuzigt werden,
damit der Leib dasselbe Ende finde wie einst das Haupt. 5 Mit diesem
1
De proph. III,1, Kaup 221f.
2
De proph. II,8, Kaup 209; Proph. ign. 14, Kaup 177.
3
De proph. II,8, Kaup 211f.
4
De proph. II,8-9, Kaup 213ff; vgl. Mt 14,22ff.
5
De proph. II,9-10, Kaup 217f.
194 ABBILDUNGEN

Finale in Schrecken beschließt Joachim seine Ausführungen und fügt


nur noch einige Mahnungen an, wie man sich auf die Drangsale
vorzubereiten habe.1 Ganz im apokalyptischen Stil appelliert Joachim
an das Durchhaltevermögen des Einzelnen, denn die Kirche wird am
Ende scheitern:
Zerstören wird sie fürwahr ein Eber aus dem Walde und eine
einzigartige Bestie wird sie fressen, weil der Antichrist, wie in
Daniel zu lesen ist, die Heiligen des Höchsten vernichten wird
und er über das hinaus, was man sich vorstellen kann, alles
verwüsten wird.2
Obwohl Joachim versucht, für jedes dieser Ereignisse Bibelstellen
beizubringen, wird deutlich, daß die Gesamtdramaturgie seiner
Ankündigungen eine andere Quelle hat. In der Bibel wird der
Antichrist namentlich nur an eher entlegenen Stellen erwähnt,3 und
selbst wenn man alle Passagen hinzuzieht, die sich sinnvoll auf ihn
beziehen lassen, so ist doch nirgendwo von seiner Geburt die Rede
oder von jenem mysteriösen Gefährten des Elija. Joachims
Endzeitmythos steht eindeutig auf dem Boden der mittelalterlichen
Antichrist-Erzählungen.
Die Figur des Antichrist kann an dieser Stelle nicht näher erörtert
werden, bei Joachim ist sie Ausdruck aller widerchristlichen Kräfte,
die einmal mehr, einmal weniger personenhaft gezeichnet wird. Als
manifeste Exponenten des Antichrist gelten ihm die konkreten
Herrscher, die gegen die Römische Kirche vorgehen. Die Frage, die
vielmehr interessieren muß, ist folgende: Warum wagt sich Joachim
überhaupt soweit auf das Gebiet der Legende, wo er doch gerade in
De prophetia ignota auf die Unzuverlässigkeit alles Apokryphen
verwiesen hat und die Antichrist-Erzählungen andernorts in Bausch
und Bogen verwirft?4 Man muß einen Blick auf die Gestalt jener
Traktate werfen, um das Problem zu klären.
Die berühmteste aller Antichrist-Erzählungen und zugleich einer
der am weitesten verbreiteten Texte des Mittelalters war De ortu et
tempore Antichristi (ca. 953-954) des Abtes Adso von Montier-en-
Der, höchstwahrscheinlich eine Auftragsarbeit für Königin Geberga,
die Schwester Ottos I. und Mutter des französischen Königs Ludwig
1
De proph. III,1, Kaup 221f.
2
De proph. II,10, Kaup 219; Ps 80,14; Dan 7,25; 8,24.
3
1 Joh 2,18.2; 4,3; 2 Joh 7.
4
„Sola ergo que in diuinis scripta sunt uoluminibus perstringentes et ex eis que
clara sunt in auctoritate sumentes, superflua illa que de ortu et operibus anti-
christi ac fine mundi ex apocrifis ut dictum est sumpta libellis a plerisque sim-
plicium amplectuntur uelut peregrina et extranea confutamus.“ Conc. praef.,
fol.4ra, Daniel 13,114-14,118; vgl. Conc. praef., fol.3 va, Daniel 11,73-81;
Praeph. Apc. I, Selge 105,78-106,114. Dagegen wird in Exp. Intr., fol.25va
außerkanonischen Prophetien immerhin der Status einer Meinung (opinio)
zugebilligt.
195 ABBILDUNGEN

VI. Nach Ansicht des französischen Historikers Claude Carozzi wollte


sich Geberga ein Orakel ausstellen lassen, „zu einer Zeit, in der die
Kaiserwürde seit 924 vakant war und die Zukunft der karolingischen
Dynastie einzig auf den beiden Söhnen der Königin ruhte“. 1 Adsos
Leistung bestand darin, ältere, vor allem byzantinische Antichrist-
[[@Page:164]]Prophezeiungen zusammenzufassen und in eine
erzählerische Form zu bringen.2 Unter seinen Händen geriet die
Antichrist-Überlieferung zu einer Biographie des personifizierten
Bösen, die in ständiger Analogie zu den Evangelien zugleich einen
Anti-Jesus beschreibt – angefangen bei der recht drastischen Szene der
Zeugung durch den Teufel. Zugleich wurden den geschichtlichen
Größen der Gegenwart bestimmte Rollen im universalhistorischen
Drama zugewiesen, wobei jeweils ein Reich die Führungsposition
einnahm – in Adsos Fall die Franken. In dieser leicht konsumierbaren
Fassung wurde der Traktat mit anhaltend großem Publikumserfolg
durch die Jahrhunderte weitergegeben, sogar in die
Geschichtsschreibung (Otto von Freising, Roger von Hoveden u.a.)
ging er ein. Es wechselten die Namen der Reiche und die Orte des
Geschehens, aber niemals die Grundstruktur der Erzählung, bis hinein
ins 20. Jahrhundert.3 Allein der weltgeschichtliche Omphalos
Jerusalem blieb als Fixpunkt in allen Fassungen bestehen. Die an
1
Carozzi, Claude: Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im
Mittelalter. Frankfurt am Main: Fischer, 1996, S.18.
2
McGinn, Bernard: The Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascin-
ation with Evil. San Francisco: Harper, 1994, S.101.
3
Solowjews Fassung der Antichrist-Erzählung erzielte noch einmal
europaweite Höchstauflagen. Daß sich die bereits 1900 erschienene Schrift
zunehmender Beliebtheit erfreute, erklärt sich vielleicht daraus, daß es ex post
so aussehen konnte, als hätte Solowjew die großen Katastrophen des
anbrechenden Jahrhunderts vorausgeahnt. Der Antichrist, der die Menschheit
nunmehr mit naturwissenschaftlich erzeugten Wunderzeichen täuscht, hält sich
für einen „Übermenschen“ und stellt sich als „euer wahrer Führer“ vor. Die
Schlachten zwischen Gut und Böse haben die Dimension der inzwischen
historischen Weltkriege. Die deutsche Übersetzung erschien in erster Auflage
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und im Nachwort (S.66) ist vermerkt,
der Leser finde hier „ein tieferes Verstehen der die Geschichte und unsere
Existenz bewegenden Mächte des Göttlichen und des Widergöttlichen“.
Solowjew, Wladimir: Kurze Erzählung vom Antichrist. Übers. und erläutert von
Ludolf Müller. 4. verb. und erw. Aufl. München: Wewel, 1981. In der
russischen Literatur wie in der russischen Volksreligion ist der Antichrist-
Mythos seit jeher präsent. Man begegnet ihm in Dostojewskis Großinquisitor
(Die Brüder Karamasoff V,5) und in verschiedener Gestalt (Julian Apostata,
Cesare Borgia, Peter der Große) in den auch in Deutschland einst so populären
historischen Romanen Dimitri Mereschkowskis. Gogol erzählt von den
Propheten, die den Antichrist in Napoleon kommen sahen und berichtet mit der
ihm eigenen Ironie, es sei in Rußland schon vorgekommen, daß Fanatiker
„unter dem Vorwand, den Antichrist fangen zu wollen, einigen
Nichtantichristen den Garaus gemacht“ hätten. Gogol, Nikolaj: Die toten
Seelen. München: dtv, 51998, S.467.
196 ABBILDUNGEN

dieser Stelle relevanteste Bearbeitung der Legende ist der Tegernseer


Ludus de Antichristus, ein liturgisches Spiel, wie es zu besonderen
Anlässen in Kirchen aufgeführt wurde. Die Handlung ist schnell
zusammengefaßt:
In der nahen Endzeit versucht der deutsche Kaiser, das Römische
Weltreich wiederherzustellen und sich alle Könige tributpflichtig zu
machen.1 Es gelingt ihm, sich das Frankenreich, Byzanz, das
Königreich Jerusalem und – nach erfolglosem Widerstand – das
Frankenreich zu unterwerfen,2 damit „die ganze Kirche dem
römischen Reich un[[@Page:165]]tertan sei (tota ecclesia subdita sit
imperio Romano)“.3 Als sich die Muslime erheben und das bedrohte
Jerusalem um Hilfe ruft, geht der Kaiser auf Kreuzzug, nicht ohne
zuvor von einem Engel den himmlischen Auftrag erhalten zu haben.
Nun, da alle Feinde besiegt sind, legt der Kaiser am Grab Christi die
Reichsinsignien nieder, setzt die Kirche in Jerusalem ein und gibt
damit seine Herrschaft an Christus zurück. Doch dann steht der
Antichrist auf, setzt sich auf den Thron zu Jerusalem und macht sich
der Reihe nach die Reiche der Erde untertan, durch Terror, List und
Geschenke. Die Kirche flüchtet sich erschreckt zurück nach Rom
(redibit ad sedem Apostolici).4 Zwar besiegt der deutsche Kaiser die
Truppen des Antichrist militärisch, unterliegt aber seiner
heuchlerischen Wundertätigkeit. Auch die Heiden und Juden können
ihm nicht widerstehen. Schließlich herrscht der Antichrist über alle
Welt und gibt sich wie ein Gott. Der wahre Herr jedoch sendet seine
Boten Elija und Henoch, die die Juden zu Christus bekehren, bevor
die Welt über dem Antichrist zusammenbricht. Im allgemeinen
Untergang aber kehren noch alle zum rechten Glauben zurück. Damit
endet das Stück.
Die Parallelen zu De prophetia ignota sind unübersehbar, und so
wird Joachims Absicht deutlich: Er wollte einen Gegenmythos
formulieren. In der Tradition ihrer byzantinischen Vorbilder, deren
Herkunft sich bis auf die heidnische Alexanderlegende
zurückverfolgen läßt. hatten die Antichrist-Erzählungen die Figur des
Endkaisers in den Mittelpunkt gestellt.5 So gelang es, dem Imperium
eine positive Rolle im Geschichtsverlauf zuzubilligen, ohne
grundsätzlich etwas an der pessimistischen Grundstimmung zu
1
„Sicut tradunt hystoriographorum,
totus mundus fuerat fiscus Romanorum.“ Ludus, Engelsing 10.
2
Die vielen Subtilitäten, wie etwa, daß die Franken als einzige (erfolgslosen)
Widerstand leisten, müssen an dieser Stelle leider übergangen werden. Es sei
auf den aufschlußreichen Kommentar verwiesen, der auch hier herangezogen
wurde: Litz, Markus: Theatrum Sacrum und symbolische Weltsicht. Der
staufische ludus de antichristo. Frankfurt am Main u.a.: Lang, 1990.
3
Ludus, Engelsing 16.
4
Ludus, Engelsing 26.
5
McGinn 1994, S.88ff.
197 ABBILDUNGEN

ändern, mit der die Apokalyptik das Diesseits betrachtet. Der


Antichrist wird kommen, aber der Kaiser kann ihn noch eine Weile
zurückhalten, er ist der Aufhalter (κατέχων), von dem der Apostel
gesprochen hatte.1 Ein letztes Mal wird er die Christenheit unter
seinem Zepter vereinen, bevor auch sein Reich untergeht. Joachim
setzt dagegen die Figur des Endpapstes, der unter seiner Leitung ein
letztes Mal die Könige der Erde in der einen ökumenischen Kirche
vereint. Letzten Endes steht hier das staufische Reichsbewußtsein
gegen die gregorianische Kirchenidee, auf beiden Seiten beansprucht
man ja nicht irgendeine abstrakte Weltherrschaft, sondern konkret die
Leitung der potentiell universalen christianitas. Damit wird aber
deutlich, daß es Joachim nicht in erster Linie darum ging, einen
Beitrag zur Antichrist-Literatur zu leisten, sondern wiederum darum,
die weltgeschichtliche Rolle des Römischen Bischofs herauszustellen,
die die bisherigen Fassungen des Dramas unberücksichtigt ließen. 2
Daß er die apokryphen Prophetien so sehr ablehnte, kommt nicht
zuletzt daher, daß sie sich nur für das Reich, kaum aber für die Kirche
interessierten. [[@Page:166]]
Wenn im Ludus de Antichristo das deutsche Kaiserreich ebenso
untergeht wie in De prophetia ignota die römische Kirche, so zeigt
sich nur, daß beide Texte im Gefolge der apokalyptischen Tradition
die radikale jenseitsorientierte Heilserwartung beibehalten. Es ist die
Eigenheit der Apokalyptik, daß sie den Sinn diesseitiger Existenz vom
Ende her bestimmt. Daher ist es nicht belanglos, in welcher Gestalt
sich das Diesseits zeigt, bevor der Antichrist das Gericht und die
Verwandlung der Welt einleitet. Die discessio, der Reichsverzicht und
die Reichsauflösung im Ludus, und die Kreuzigung der Kirche bei
Joachim sind analoge Symbole; es geht darum, wer im Typus des
Gottessohnes die geborgte Macht an den Vater zurückgibt.3 Denn in
1
2 Thess 2,7.
2
Im Ludus de Antichristo hat der Papst nicht einmal eine Sprechrolle. Man
kann dies aber auch so interpretieren, daß der Papst als unverrückbarer Fels im
endzeitlichen Geschehen bestehen bleibt. Denn als der Antichrist die Herrschaft
in Jerusalem ergreift, kann sich die Kirche zu ihm zurück flüchten. Wie auch
immer, eine aktive Rolle wird ihm nicht zugebilligt. Vgl. Litz 1990, S.156ff.
Das Fehlen des Papstes hat natürlich auch mit dem byzantinischen Ursprung
der Antichrist-Erzählungen zu tun.
3
Die discessio wird im allgemeinen auf 2 Thess 2,3 zurückgeführt, wo es heißt,
Christus werde nicht wiederkehren, „nisi venerit discessio primum et revelatus
fuerit homo peccati filius perditionis“. In Adsos Traktat läßt die entsprechende
Stelle die politisch-legitimatorischen Absichten des Autors deutlich
hervortreten: „Scimus enim, quoniam post regnum Grecorum sive etiam post
regnum Persarum, ex quibus unum quodque suo tempore magna gloria viguit et
maxima potentia floruit ad ultimum quoque post cetera regna, regnum
Romanorum cepit, quod fortissimum omnium superiorum regnorum fuit et
omnia regna terrarum sub dominatione sua habuit, omnesque populorum
nationes Romanis subiacebant et serviebant eis sub tributo. Inde ergo dicit
198 ABBILDUNGEN

diesem Akt stellt sich noch einmal heraus, wer der wahre Stellvertreter
Christi ist, lassen sich doch beide Varianten des symbolischen Dramas
– trotz aller außerkanonischen Einflüsse – als Exposition der
folgenden Paulus-Stelle verstehen:
Es gibt eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus, dann
folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach
kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft
vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater übergibt.
Denn er muß herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße
gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod.
Sonst hätte er ihm nicht alles zu Füßen gelegt. Wenn es aber
heißt, alles sei unterworfen, ist offenbar der ausgenommen, der
ihm alles unterwirft. Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird
auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles
unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem. 1
Noch einmal: Joachim ging es nicht um papalistische Propaganda,
wenngleich es ihm notwendig erscheinen mußte, die populären
Erzählungen in seinem Sinn zu modifizieren. Denn wer sich mit
seinen Symbolen durchsetzt, der gewinnt den Kampf um die Form der
Gemeinschaft, darüber herrschte auf beiden Seiten Klarheit. Das
Reich konn[[@Page:167]]te gegen die Kurie seine Juristen ins Feld
schicken, die es jetzt in Bologna ausbilden ließ, doch vor einer
Bevölkerung, die überwiegend aus Analphabeten bestand, war der
Vorgang der renovatio imperii in einer anderen, vertrauteren Sprache
zum Ausdruck zu bringen.2 Ein Schauspiel, in dem alle
Paulus apostolus, Antichristum non antea in mundum esse venturum, nisi
venerit discessio primum, id est, nisi prius dicesserint omnia regna a Romano
imperio, que pridem subdita erant. Hoc autem tempus nondum venit, quia, licet
videamus Romanorum regnum ex maxima parte destructum, tamen, quamdiu
reges Francorum duraverint, qui Romanum imperium tenere debent, Romani
regni dignitas ex toto non peribit, quia in regibus suis stabit. Quidam vero
doctores nostri dicunt, quod unus ex regibus Francorum Romanum imperium
ex integro tenebit, qui in novissimo tempore erit. Et ipse erit maximus et
omnium regum ultimus. Qui postquam regnum feliciter gubernavit, ad ultimum
Ierosolimam veniet et in monte Oliveti sceptrum et coronam suam deponet. Hic
erit finis et consummatio Romanorum christianorumque [!] imperii.“ De ortu,
Sackur 109f. Kommentiert bei Konrad, Robert: De ortu et tempore Antichristi.
Antichristvorstellung und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der.
Kallmünz: Lassleben, 1964, v.a. S.95ff.
1
1 Kor 15,23.
2
„The religious fervour of the Gregorian age was accompanied by a revived
apocalypticism which could assign new and positive roles to kings and espe-
cially to emperors: this, more even than re-reading of Roman law, accounts for
the enthusiastic tone of much twelfth-century writing on divinely ordained
rulership.“ Nelson 1988, S.212. Inwieweit sich die staufischen Kaiser selbst als
Endkaiser und Katechon begriffen, ist umstritten. Doch daß Barbarossas
Kreuzzugsbegeisterung echt war, und daß das Ziel all seines Strebens
Jerusalem war, darin stimmen die Historiker weitgehend überein. Eine
199 ABBILDUNGEN

geschichtlichen Größen, Kirche, Synagoge, Heiden, Byzanz,


Königreiche und deutsches Kaiserreich als Personen auftreten und ihr
Selbstverständnis gebetsmühlenhaft wiederholen, war sicher eine
geeignete Form.
Es war aber nicht nur das „Volk“, das den Antichrist-Mythos ernst
nahm. Immerhin berichten zwei voneinander unabhängige Quellen über
verschiedene Situationen, in denen gebildete Geistliche den
exegetischen Bemühungen Joachims die konventionelle Fassung der
Antichrist-Erzählung entgegenhielten. Eine der Situationen ist jenes
denkwürdige Zusammentreffen mit König Richard Löwenherz, dem
Joachim seine heilsgeschichtliche Bestimmung als Kreuzfahrer
bestätigte und (irrtümlicherweise, wie man heute weiß) einen
glorreichen Sieg voraussagte.1 Wenn Joachim die Tradition nicht in
vollem Umfang zurückwies, sondern lediglich den Endkaiser durch
einen Endpapst ersetzte, war dies für seine Zeitgenossen sicher
überzeugender. Hinter alledem jedoch steht wie immer ein tiefes
Vertrauen auf die göttliche Sendung der römischen Kirche, und dies
ließ sich in den Konkordanzen zu den judäischen Herrschern ebenso
ausdrücken wie in Endzeittraktaten. Viele der mythischen Elemente
treten in Joachims späteren Werken wieder in den Hintergrund oder
werden allegorisiert, was bleibt, ist die Erwartung eines endzeitlichen
Führers, der ein römischer Papst sein wird. Peter Csendes schreibt:
Die Rückgewinnung der heiligen Stätten und die Einigung der
Christenheit waren jene Taten, die vom Friedenskaiser in den
Prophezeiungen erwartet wurden. Daß diese Gedankengänge
auch der Kurie vertraut waren, könnte seinen
Nieder[[@Page:168]]schlag darin gefunden haben, daß man in
Rom seit dem Ende des 12. Jahrhunderts nach theoretischen
vorsichtige und quellennahe Untersuchung dieser Fragen findet sich bei:
Jakobs, Hermann: „Weltherrschaft oder Endkaiser? Ziele staufischer Politik im
ausgehenden 12. Jahrhundert“, in: Theo Kölzer (Hrsg.): Die Staufer im Süden.
Sizilien und das Reich. Sigmaringen: Thorbecke, 1996, S.13-28. Eines der
Ergebnisse lautet: „Selbstverständlich läßt sich mit den Ludus nicht die Politik
Heinrichs VI. erklären, aber das Spiel, dessen Lebendigkeit um 1200 immerhin
durch Handschriftenfragmente belegt wird, erklärt m.E. sehr sicher, worauf es
ankommt. Der Kaiser hat die Heraufkunft des Antichrist hintanzuhalten, er ist
der katéchon, sein Machtverzicht würde den Antichrist freisetzen.“ S.28.
1
In dem Interview, das Adam von Perseigne mit ihm führte, wurde Joachim
befragt, was er zu den Prophezeiungen sage, die ankündigten, daß der
Antichrist in Babylon geboren werde. Radulphus von Coggeshall, Chron.,
Stevenson 69; vgl. Adso von Montier-en-Der, De ortu, Sackur 107. Bei dem
Treffen mit Richard Löwenherz antwortete der König auf Joachims
Ausführungen mit einer Zusammenfassung der herkömmlichen Ansichten über
den Antichrist. Auch einige andere viri ecclesiastici, die bei dem Gespräch
dabei waren, äußerten sich in ähnlicher Weise. Der Chronist Roger von
Hoveden, dem die Überlieferung dieses Ereignisses zu verdanken ist, kann sich
selbst nicht entschließen und gibt anschließend an Joachims Ausführungen den
Antichrist-Traktat Adsos in voller Länge wieder. Chron. III, Stubbs 78ff.
200 ABBILDUNGEN

Begründungen für das päpstliche dominium mundi suchte, die


die auctoritas imperandi des Papstes vor jener des Kaisers
sichern sollten.1
In diesem Zusammenhang ist Joachims De prophetia ignota zu sehen.
Und um zum Abschluß dieses Abschnitts noch einmal den Blick auf
die tatsächliche Politik der Päpste zu lenken, sei eine Bemerkung von
Hermann Jakobs angefügt, die er im Anschluß an diese Feststellung
von Csendes formulierte:
Ich knüpfe die Frage daran, ob nicht auf dieser Linie auch die
Wiederholung des Versuchs Gregors VII. durch Innozenz III.
liegt, unter eigener Führung das Ziel Jerusalem zu erreichen,
nachdem alle Könige und Kaiser am Kreuzzug gescheitert
waren.2
Die Antwort scheint unlängst der österreichische Historiker Christoph
Egger gefunden zu haben. Er konnte zeigen, daß Papst Innozenz III., der
sich in geistlichen Dingen von Joachims ehemaligem Gefährten Rainer
von Ponza beraten ließ, sein Selbstverständnis wie seine
heilsgeschichtlichen Ansichten unter direktem Rückgriff auf die
Schriften Joachims von Fiore formte.3 Er verstand sich selbst –
zumindest bis zum katastrophalen Scheitern seines Planes, die
griechische Kirche wieder der römischen anzuschließen – als der
endzeitliche Papst, der die universale Christenheit unter seiner Führung
versammelt. Genau dieses Motiv steht im Hintergrund, wenn es Innozenz
zunächst begrüßte, daß die Anführer des Vierten Kreuzzuges im Osten
ein lateinisches Kaiserreich gründeten.4 Spätestens hier kann Joachims
Einfluß auf die päpstliche Politik nicht mehr bestritten werden,
gleichwohl er selbst militärischen Unternehmungen eher skeptisch
gegenüberstand. Sicherlich hat Innozenz aus Joachims Werken nur das
entnommen, was ihm ins Konzept paßte, aber immerhin konnte er auch
das darin finden. Die Worte jedenfalls, mit denen er in einem Brief an die
Geistlichen im Kreuzfahrerheer die bevorstehende Rückkehr der
Griechen in die katholische Kirche beschreibt, sind aus Joachims
Expositio in Apocalypsim abgeschrieben.5

1
Csendes 1993, S.225, Anm.19.
2
Jakobs 1996, S.28.
3
Egger, Christoph: „Joachim von Fiore, Rainer von Ponza und die römische
Kurie“, in: Atti V (2001), S.129-162, v.a. S.140ff.
4
Vgl. HbKg III/2, S.193.
5
Exp. III, fol.143va-144ra. Eine Synopse der Texte bei Egger 2001, S.142ff.
201 ABBILDUNGEN

5. Der neue Jeremia: Intelligentia super


calathis
Im Januar 1191 stand abermals ein deutsches Heer in Italien. 1 König
Heinrich VI. hatte die Alpen vor allem aus zwei Gründen
überschritten: Erstens wollte er in Sizilien den Erbanspruch geltend
machen, der auf ihn und seine normannische Gattin Konstanze
übergegangen war, nachdem König Wilhelm II. kinderlos verstorben
war. Zweitens hatte ihm der versöhnliche Papst Clemens III., der auf
Urban III. und den nur zwei Monate amtierenden Gregor VIII. gefolgt
war, die Kaiserkrone in Aussicht gestellt. Der
[[@Page:169]]traditionellen Symbolik des Romzuges folgend hatte
die Heerfahrt auf dem Lechfeld begonnen. Barbarossa war ein halbes
Jahr zuvor auf dem Kreuzzug umgekommen, und wie einst er selbst
präsentierte sich nun sein Sohn als Nachfolger Ottos des Großen, als
Vorstreiter der Christenheit, Schutzherr der Kirche und berufener
Kaiser.2
Das Heer kam gut voran, auch wenn Heinrich selbst noch einen
Umweg über Thüringen nahm. Mit den lombardischen Städten hatte
sich sein Vater im Frieden von Konstanz weitgehend geeinigt, so
mußte sich der König nicht lange mit Verhandlungen und
Scharmützeln in Oberitalien herumschlagen. Anfang März traf
Heinrich bereits in Lucca ein. Dort besprach er mit Vertretern der
Stadt Rom und Gesandten des Papstes die Bedingungen und
Modalitäten der anstehenden Kaiserkrönung. Scheinbar konnten alle
Fragen geklärt werden, jedenfalls setzte das Heer seinen Weg fort.
Doch wenige Tage später, am 20. März, starb plötzlich und unerwartet
Papst Clemens. Wie nun offenbar wurde, war die Kurie keineswegs
einer Meinung, daß man den deutschen König so entgegenkommend
behandeln solle, wie es der verstorbene Papst getan hatte. Eine
reichsfreundliche und eine reichsfeindliche Partei standen sich
gegenüber, als das Heer Heinrichs VI. sich unaufhaltsam der Stadt
näherte und ein neuer Papst gewählt werden mußte. Offensichtlich
einigte sich die Mehrheit der Kardinäle sehr schnell auf einen
Kompromißkandidaten, den greisen Kardinaldiakon Hyacinth von S.
Maria in Cosmedin, der bereits am 21. März gewählt wurde und sich
später Cölestin III. nannte.3 Bis heute ist nicht völlig geklärt, warum
1
Zum historischen Hintergrund: Jordan 1999, S.162ff.; Csendes 1993, S.86ff.;
HbKg III/2, S.109f.; Zerbi, Piero: Papato, impero e „respublica christiana“
dal 1187 al 1198. Milano: Vita e Pensiero, 21980, S.83ff.; Grundmann 1977,
S.324ff., 386ff.; Wenck 1973, S.442ff.;
2
Vgl. Csendes 1993, S.86.
3
Die Chronologie der Vorgänge ist nur sehr schwer zu ergründen. Ich halte
mich an: Baaken, Katrin: „Zur Wahl, Weihe und Krönung Papst Cölestins III“,
202 ABBILDUNGEN

Hyacinth seine Konsekration entgegen allen Gepflogenheiten bis zum


14. April hinauszögerte. Offensichtlich wollte er die Krönung
Heinrichs verschleppen, die nur ein geweihter Papst vornehmen
konnte. Wenngleich die einzelnen Beweggründe im Dunkeln bleiben,
kann man mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Kaiserkrönung
unter den Kardinälen hoch umstritten war und der designierte Papst
Zeit gewinnen wollte, bevor er seine Entscheidung traf. Man kann sich
gut die von hitzigen Diskussionen aufgeladene Atmosphäre vorstellen,
wie sie in diesen Tagen an der Kurie geherrscht haben muß.
Herbert Grundmann hat mit plausiblen Argumenten dargetan, 1 daß
vor diesem historischen Hintergrund eine Schrift Joachims von Fiore
zu sehen ist, die nach der zugrundeliegenden Bibelstelle meist
Intelligentia super calathis genannt wird. Zwar war Joachim zum
Zeitpunkt ihrer Abfassung mit der Arbeit an seinen Hauptwerken
schon weit fortgeschritten – es handelt sich also nicht mehr um eine
„Frühschrift“ –, doch ist die Intelligentia ganz der Logik der zuvor
betrachteten Schriften verhaftet. Neu ist nur, daß ekklesiologische
Reflexionen eine stärkere Rolle spielen. Zugleich erfährt man aus der
Intelligentia, daß Joachims Stellung als Berater nicht unangefochten
war, denn die Schrift ist in der Form eines Brieftraktates an einen
Gegner gerichtet, Gottfried von Auxerre, ehemals Sekretär und
Biograph Bernhards von Clairvaux. Sicherlich war das Schreiben von
vornherein als „offener Brief“ angelegt, der weniger den Kontrahenten
als die Öffentlichkeit überzeugen sollte, im besonderen den Klerus. 2
[[@Page:170]]
Joachim hatte auf die gegenwärtige Situation der Kirche hin
Jeremias Vision von den beiden Feigenkörben (Jer 24; Vg: duo
calathi pleni ficis) ausgelegt, seine Einsichten öffentlich vorgetragen,
aber zunächst nicht niedergeschrieben. Die schriftliche Fassung der
Intelligentia super calathis sollte dazu dienen, Mißverständnisse
auszuräumen, die Joachim gerüchteweise zu Ohren gekommen
waren.3 Offensichtlich wurde über seine Exegese soviel diskutiert, daß
Gottfried von Auxerre meinte, ihr öffentlich und in aller Schärfe
entgegentreten zu müssen. Es hat sich ein Fragment einer gegen
Joachim gerichteten Predigt Gottfrieds erhalten, die eine alternative
Auslegung derselben Bibelstelle bietet und zugleich ungewöhnlich

in: DA 41/1 (1985), S.203-211.


1
Grundmann 1977, S.387ff.
2
Deutlich wird dies vor allem an der Stelle, wo Joachim seine Adressaten
anredet als „die ihr auf den Felsen gegründet seid“. Int. cal. 2, De Leo 145,8;
vgl. Mt 16,18. Damit kann nicht mehr Gottfried von Auxerre gemeint sein.
3
Der Text beginnt mit folgenden Worten: „De spiritualibus autem visum est
mihi aliquid scribere paternitati vestre, ut sciatis intelligentiam meam super
calathis plenis ficubus, de quibus ut audivi, tamquam si ego de eis aliquid
scripserim, mentio ab aliquibus facta est.“ Int. cal. praef., De Leo 135,2-6. Vgl.
Int. cal. 2, De Leo 147,32-148,3.
203 ABBILDUNGEN

schwere, bis tief ins Persönliche gehende Angriffe gegen Joachim


richtet. Über die Motive des Zisterziensers kann man im Grunde nur
spekulieren,1 aber seine Predigt zeigt, daß nicht nur über Joachims
Prophezeiungen, sondern auch über seine eigentümliche Methode der
Bibelauslegung diskutiert wurde. Wie noch zu sehen sein wird, war
Gottfried ungehalten über den schlechten Einfluß, den Joachim seiner
Meinung nach auf die Kurie ausübte. Sicherlich aber fand er Joachims
Selbstverständnis anmaßend, in das man in diesem Zusammenhang
tiefen Einblick erhält.

Der große Prophet, der zu Beginn der babylonischen Gefangenschaft


das Wort des Herrn kundtut, ist Jeremia. Wenn nun Joachim darlegt,
daß die Päpste die neuen Könige von Juda sind und die Staufer die
neuen Chaldäer, dann kann er selbst kein anderer sein als der neue
Jeremia.2 Einer seiner Biographen verrät, daß er tatsächlich schon zu
[[@Page:171]]Lebzeiten ein alter Hyeremias genannt wurde.3 Doch
was heißt das? In der Chronik des Zisterziensers Radulphus von
Coggeshall hat sich neben anderen Auskünften über Joachim ein
kleiner Text erhalten, der Seltenheitswert besitzt. Es handelt sich um
ein Interview, das Adam von Perseigne mit Joachim führte, als beide
in Rom zusammentrafen. Dabei kam auch das Selbstverständnis des
Abtes zur Sprache.4 Adams nicht ohne Polemik vorgebrachte Frage
1
Über ihn: Grundmann 1977, S.325ff, 395ff. Gottfrieds Biographie legt, soweit
erforscht, nahe, daß er keine Persönlichkeit war, mit der leicht auszukommen
war. Möglicherweise hegte er Feindschaft gegen Joachim, weil dieser
inzwischen den Zisterzienserorden verlassen hatte, um seine eigene
Kongregation zu begründen. Möglicherweise spielen auch persönliche
Antipathien eine Rolle, die sich heute nicht zurückverfolgen lassen.
Wahrscheinlich kannten sich die beiden, denn Gottfried war eine Zeit lang Abt
des Zisterzienserklosters Fossanova gewesen, dem Joachims früherer Konvent
Corazzo in zweiter Ordnung angehörte. Sicherlich ging es auch um das legitime
Erbe Bernhards von Clairvaux, der von beiden Männern gleichermaßen verehrt
wurde. Liest man Gottfrieds Predigt über Jer 24, meint man zu hören, daß hier
jemand zeigen wollte, wie man die Prophetenworte im wahrhaft
bernhardinischen Stil auszulegen hatte. Relativ unvermittelt wird die
Jeremiastelle in den großen Zusammenhang des Exodus eingeordnet, wobei
Ägypten wie bei Bernhard die Welt meint: „Exeuntes de Egipto transeamus per
mare rubrum in amaritudine conpunctionis et rubore confessionis, ut sint aque
pro muro a dextris et a sinistris contra vanam spem et desperationem. […] Ter-
cio transeam aquas dulces, quia dulcis ingressus in terram promissionis. Hic
transitus in contemplatione consistit.“ Predigt, Grundmann 358f. Von der
historisierenden Exegese in Joachims Intelligentia ist das freilich weit entfernt.
2
Vgl. Ench., Burger 65,1823-1829.
3
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 352.
4
Der Bericht ist glaubhaft, denn was Joachim dort spricht, deckt sich bis in die
begrifflichen Details mit zahlreichen Stellen in seinen eigenen Werken.
204 ABBILDUNGEN

war, woher Joachim seine Voraussagen nehme, aus Verwegenheit


(ausus), Prophetie (prophetia), Mutmaßung (coniectura) oder
Offenbarung (revelatio). Joachim antwortete, daß nichts von alledem
der Fall sei:
Sondern Gott, der einst den Propheten den Geist der Prophetie
(spiritus prophetiae) verlieh, gab mir den Geist der Einsicht
(spiritus intelligentiae), damit ich im Geiste Gottes alle
Mysterien der Heiligen Schrift aufs klarste verstehe, sowie sie
die heiligen Propheten verstanden hatten, die sie einst im Geiste
Gottes von sich gaben (ut in Dei spiritu omnia mysteria sacrae
Scripturae clarissime intellegam, sicut sancti prophetae
intellexerunt, qui eam olim in Dei spiritu ediderunt).1
Wenn Joachim hier bestreitet, ein Prophet zu sein, dann tut er dies
nicht aus Bescheidenheit. Nein, er glaubt die Mysterien Gottes ebenso
zu verstehen wie einst die Propheten, seine Einsicht steht sogar weit
höher. Denn während die Propheten jeweils nur einen Ausschnitt aus
dem göttlichen Zukunftswissen erhielten und als Sprachrohr Gottes
dazu dienten, die Erkenntnis auszusprechen bzw. niederzuschreiben
(edere), liegt Joachim in Form der Heiligen Schrift die Gesamtheit der
kanonischen Prophezeiungen vor, die es zu verstehen (intellegere)
gilt. Jeremia sprach dem Buchstaben nach zu Israel, in einem höheren
Sinne aber bezog er sich – wenn auch unbewußt – immer schon auf
die Kirche.2 Joachims Aufgabe ist es also nicht, erneut zu
prophezeien, sondern diesen bei Jeremia und anderen verborgenen
Sinn zu ergründen und offenzulegen. Die Gnadengabe des spiritus
intelligentiae hilft ihm herauszufinden, auf welchen Zeitpunkt der
Kirchengeschichte die Prophezeiungen Anwendung finden und wie
sie zu deuten sind. Man kann Joachim also nicht einen Propheten
nennen, ohne sein Selbstverständnis zu verzerren, aber im Ergebnis
sagt er natürlich die Zukunft voraus.3
Damit geht er freilich weit über die ursprüngliche
Konkordanzenlehre der Genealogia hinaus. Nicht mehr nur Ereignisse
und Personen der Geschichte Israels verweisen auf die Kirche,
sondern ebenso die Ankündigungen der alten Propheten.4 Doch nach
1
Chron., Stevenson 68.
2
„[Increpatur] generalis clericorum ecclesia […] a Jeremia propheta, qui sic Is-
rael ad litteram objurgare videtur, ut tamen clericorum ecclesia desolatam de-
ploret.“ Ench., Burger 86,2505f. Vgl. Conc. V,107, fol.125rb.
3
Wenn der Chronist Roger von Hoveden, der Joachim persönlich begegnet ist,
über ihn sagt, er habe über prophetischen Geist verfügt und den Menschen die
künftigen Dinge vorausgesagt, (habens spiritum propheticum et ventura populo
praedicebat), so entspricht das zwar nicht ganz Joachims eigenen Worten, aber
der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Chron. III, Stubbs 75.
4
Vgl. die Exegese sämtlicher atl. Propheten in Conc. V,94-119 und Joachims
einleitende Worte, wonach er selbst die Zukunftsvoraussagen der Propheten
lediglich wiederhole und auf die bevorstehenden Ereignisse hin konkretisiere.
205 ABBILDUNGEN

[[@Page:172]]dem principium concordiarum müssen auch die


Propheten ihre personalen Entsprechungen finden; und gemäß dieser
Logik stellt Joachim eine strukturale Gleichzeitigkeit zwischen
Jeremia und seiner Person her.1 Möglicherweise hat sein wachsender
Bekanntheitsgrad und sein Einfluß als Berater am Hof der neuen
„Könige Judas“ dazu beigetragen, daß Joachim hier seine eigene Rolle
fand.2 Es ist gut denkbar, daß der Abt sogar die nachlässige Kleidung
der Propheten nachahmte. Jedenfalls löste sein Äußeres Befremden
aus, wie Lucas von Cosenza berichtet:
Ich wunderte mich aber, daß ein Mann solchen Namens, so
wirksam in der Rede, derart alte und abgerissene Kleider hatte,
die an den Fransen schon teilweise verbrannt waren. Aber
nachher erkannte ich, daß er sich zeit seines Lebens nicht um
die Minderwertigkeit seines Habits sorgte. 3
Wie auch immer, auffällig ist, daß Joachim inzwischen weit über die
Apokalyptik hinausgegangen ist, ohne sich von ihr zu verabschieden.
Sein Selbstverständnis als neuer Jeremia impliziert, daß er auf die
innere Ordnung der Kirche einwirken und nicht mehr nur einen
festgelegten Geschichtsverlauf darlegen will. Man kann richtiggehend
beobachten, wie sich Joachim zu diesem Zweck immer weitere Teile
des biblischen Ordnungsdenkens erschließt. Im nächsten Kapitel wird
gezeigt, wie weit er inzwischen in die ekklesiologische Problematik
vorgedrungen ist, zugleich aber steigt sein Interesse für die politische

Conc. V,95, fol.122va-vb.


1
Gian Luca Potestà kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn er über
dasselbe Zitat urteilt: „Während er sich weigert, sich den Geist der Prophetie
zuzuschreiben, reklamiert er andererseits eine eigene Fähigkeit der
Schriftauslegung, die ihn hinsichtlich der Einsicht in das göttliche Mysterium
zur Höhe der Propheten von ‚einst‘ (olim) trägt. Wohlverstanden, er vergleicht
sein eigenes Charisma als Exeget mit dem der alten Propheten: Die
Veränderung der Zeiten hat den Übergang von der Prophetie zur Exegese
offenkundig gemacht; aber im Grunde ahnt man eine unveränderte Aufgabe
und Verantwortung gegenüber der Heilsgeschichte.“ Gian Luca Potestà:
„,Intelligentia Scripturarum‘ und Kritik des Prophetismus bei Joachim von
Fiore“, in: Lerner 1996, S.95-119, S.97.
2
Wenn Gottfried von Auxerre Joachim zu treffen sucht, indem er ihn einen
Konvertiten nennt, der sein Judentum noch nicht ausgespien habe, dann stützt
er sich wahrscheinlich auf dieses Selbstverständnis und nicht auf jene obskuren
Quellen, die er angibt. „Ex iudeis orta persona est, in iudaismo, quem necdum
satis evomuisse videtur, annis pluribus educata, que, sicut pereos, qui cercius
cognoverunt, tandem nobis innotuit […].“ Predigt, Grundmann 359. Joachim,
dem Polemik keineswegs unbekannt war, zahlt es ihm am Ende seiner Schrift
mit gleicher Münze heim, wenn er ihn mit dem nur scheinbar schmeichelhaften
Titel eines magister in Israel belegt. Denn genauso nannte Jesus den ignoranten
Pharisäer Nikodemus. Int. cal. 2, De Leo 148,4; vgl. Joh 3,10.
3
Vita Joach. (Lucas), Grundmann 353. Vgl. 2 Kön 1,8; Sach 13,4; Mt 3,4.
206 ABBILDUNGEN

Gestalt des alten Gottesvolkes. Das principium concordiarum hat sich


so nachhaltig in Joachims Logik verankert, daß beide
Erkenntnisprozesse nur parallel verlaufen können.
Es ist geradezu verblüffend, wie gut Joachim das
Politikverständnis der alten Propheten verinnerlicht hat. An dieser
Stelle empfiehlt es sich, einen Exkurs über die Grundlagen der
prophetischen Politik einzuschalten, von dem aus eine tiefere Einsicht
in die Intelligentia super calathis möglich wird. Die These lautet:
Kaum ein anderer Denker des christlichen Mittelalters hat das
politische Denken der israelitischen Propheten so [[@Page:173]]gut
verstanden wie Joachim, und kein zweiter wendet die
alttestamentliche Ordnungslogik so konsequent auf die christliche
Kirche an.

Exkurs über die Grundlagen prophetischer


Politik
Der Bundesschluß am Sinai: Ausgangspunkt der politischen Argumentation
der Propheten ist immer die Theophanie am Sinai. Jahwe gibt sich dort durch
Mose dem Volk Israel nicht als ein Schöpfergott, sondern als ein Gott der
Geschichte zu erkennen, der die Ägypter vernichtet hat, um den Exodus des
Volkes zu ermöglichen.1 Obwohl Jahwe ein universaler Gott ist, so hat er
sich doch Israel als sein besonderes Eigentum (segullah), sein Reich der ihm
unmittelbar Untergebenen (mamlekhet kohanim) und sein heiliges Volk (goy
qadosh) erwählt.2 Doch bevor der Bund (berith) zwischen Israel und Jahwe
geschlossen werden kann, muß das Volk zustimmen. Erst als die Israeliten
geloben, jedem Befehl Jahwes zu folgen, kann der Vertrag in kraft treten. 3
Mose erhält die Steintafeln mit dem Dekalog, der die Grundregeln der
Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk sowie der Beziehungen der
Israeliten untereinander formuliert.4 Die Regierungsform, die sich daraus
ergibt, ist die Theopolitie, die unmittelbare Herrschaft Jahwes über sein
Volk.5 Sie läßt nur Beauftragte Jahwes zu, aber keine göttlichen
Stellvertreter wie die Könige der altorientalischen Reiche.
Der Heilige Krieg: Das vielleicht älteste überlieferte Zeugnis für die
Ordnungserfahrung, die im Bundesdrama zum Ausdruck kommt, ist das
Debora-Lied, das die Eindrücke einer Schlacht verbündeter hebräischer

1
Ex 19,4. Der tatsächliche Ablauf der historischen Ereignisse ist für diese
Untersuchung ebenso unerheblich wie die Chronologie ihrer schriftlichen
Fixierung. Wichtig ist allein, wie die Überlieferung in das Bewußtsein der
Propheten eingegangen ist.
2
Ex 19,5f.
3
Ex 19,8; 24,7f
4
Ex 24,12; 20,2-17; vgl. Voegelin 1956, S.418ff.
5
Am deutlichsten wird dieses Credo von der Gemeinschaft der Stämme beim
sogenannten Landtag zu Sichem geäußert. Jos 24, v.a. V.18.21.24.
207 ABBILDUNGEN

Stämme gegen die Kanaanäer schildert. 1 Der Sieg gegen die feindliche
Übermacht wird als ein Handeln Jahwes, als ein „unmittelbarer Jahwesieg“
empfunden.2 Die eigentlich kämpfende Kraft im Heiligen Krieg, die einem
Naturereignis gleichkommt, ist Jahwe.3 Das Volk des Herrn (’am Jahwe)4
muß sich nur bereithalten5 und Jahwe unterstützen, das heißt, es muß seine
existentielle Verbundenheit mit Jahwe, die später durch die Lade
symbolisiert wird, erkennen und danach handeln. 6 Der Krieg kann nur im
bedingungslosen Glauben an Jahwe [[@Page:174]]geführt werden,7 alle
Rückschläge sind allein auf die Verzagtheit der Krieger zurückzuführen. Die
Stämme, die sich verweigern, müssen die Folgen tragen. 8
Die Endfassung des Richterbuches schildert den Heiligen Krieg als ein
immer gleich ablaufendes zyklisches Geschehen, 9 das folgende Stadien
enthält: 1. Israel tut, „was dem Herrn mißfällt“, und fällt vom reinen
Glauben an den Gott ab, der das Volk aus Ägypten geführt hat. 2. Jahwe
straft die Israeliten durch Niederlage im Krieg, Tributpflichtigkeit und
dergleichen. 3. Wenn Israel bereit zur Umkehr ist, läßt Jahwe einen Richter
(schofet) aufstehen, dem er Charisma verleiht, und der die Israeliten in den
siegreichen Kampf führt. Wenn der schofet stirbt, versündigt sich Israel
wieder gegen Jahwe, etc.10
Wichtiger ist aber zunächst ein Symbol, das im Rahmen der
Kriegsberichte mehrfach erwähnt wird: Der Führer empfängt das Charisma,
in dem der Geist (ruach) Jahwes über ihn kommt.11 Da ruach neben Geist
(Gottes) auch die Bedeutung von Wind oder Lebenshauch hat, 12 wird die
Dynamik deutlich, die mit dem Begriff verbunden ist. Im Falle Gideons wird
geschildert, wie die Kraft der ruach zunächst auf den Richter wirkt, aber von
ihm sogleich an das ganze Volk weitervermittelt wird.
1
Ri 5. Vgl. auch den späteren „historischen“ Bericht, der dem Lied hinzugefügt
wurde. Ri 4,1-16.
2
Fohrer 1992, S.77. Der Eindruck war offenbar so stark, daß sich auch andere
Stämme zum Jahweglauben bekehrten. „In diesem Ereignis haben sich die
Stämme als ‚Israel‘, d.h. als eine von Jahwe geführte und geschützte Einheit
erlebt. Genauer: Sie haben überraschend erfahren, dass die kultische Bindung
an Jahwe auch weitreichende Konsequenzen auf politischem Gebiet hatte.
Damals begann Israel ein Volk zu werden.“ Von Rad, Gerhard: Der Heilige
Krieg im alten Israel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 51969, S.20.
3
Ri 5,4f.20f.
4
Ri 5,11.13.
5
Ri 5,2.9.
6
Buber 1984, S.29
7
Von Rad 1969, S.9ff.
8
Ri 5,18.23.
9
Tatsächlich waren bei weitem nicht alle Kriege Heilige Kriege, sondern
ausschließlich die Verteidigungskämpfe. Von Rad 1969, S.19f und S.32.
10
Sh. Ri 3,7ff.; 3,12ff.; 4,1ff.; 6,1ff.; 10,5ff.; 13,1ff. Vgl. Voegelin 1956, S.212.
11
Z.B. Ri 3,10; 6,34; 11,29. Vgl. auch die Simsonerzählung, v.a. Ri 13,25; 14,6;
15,15. Dazu Koch, Robert: Der Geist Gottes im Alten Testament. Frankfurt am
Main u.a.: Lang, 1991, S.40ff.
12
Koch 1991, S.14ff.
208 ABBILDUNGEN

Da kam der Geist des Herrn über Gideon. Gideon blies ins
Widderhorn und rief und rief die Abiësiter, ihm (in den Kampf)
zu folgen. Auch schickte er Boten in ganz Manasse umher
[…].1
Die ruach symbolisiert die Erfahrung des göttlichen Handelns in der
Geschichte, die Erfahrung immanenter Wirkung des transzendenten Gottes,
und die Manifestationen der ruach „gehören gewiß zum ursprünglichsten,
was Israel überhaupt von seinem Gotte wahrnahm“. 2 Es ist bezeichnend für
Joachims tiefgehende Erforschung der alttestamentlichen Symbolik, wenn er
bisweilen sogar das hebräische Wort verwendet. 3
Samuel und Saul: Das auffallendste Kennzeichen der
Ordnungskonzeption, die dem Heiligen Krieg zugrunde liegt, ist die
weitgehende Abwesenheit von dauerhaften gemeinsamen Institutionen.
Gemeinsam handeln die Stämme nur im Verteidigungsfall, vereint im
Heerbann unter einem Führer, und nur dort begreifen sie sich ’am Jahwe.4
Versuche, Hierarchien jenseits der Sippen- und Stammesordnungen zu
errichten, werden als Anmaßung empfunden. 5 Das ändert sich schlagartig,
als die Bedrohung durch die Philister, deren Ausmaß nach dem Verlust der
Lade in [[@Page:175]]der Schlacht bei Eben-Eser offenbar wird, 6 eine
Neuorganisation des losen Verbundes der Amphiktyonie erfordert.
Der Übergang zum Königtum erfolgte keineswegs so rasch, wie es 1
Sam 8ff. nahelegt,7 dennoch ist allein die symbolische Darstellung der sich
wandelnden Ordnungserfahrung von Bedeutung, wie sie sich im biblischen
Bericht niedergeschlagen hat. Es müssen zwei verschiedene
Deutungstraditionen auseinandergehalten werden, die im Ersten Samuelbuch
nebeneinander bestehen.8 Ein Ordnungsproblem, das beiden Überlieferungen
zugrunde liegt, ist die mit dem Königtum einhergehende Umwandlung des
Stammeswesens und des Heeres.9 Das heißt, es stellt sich die Frage, wer im
zentralisierten Königreich die Nachfolge der charismatischen Führer antritt.
1. Die antiroyalistische Überlieferung steht dem Königtum Sauls äußerst
skeptisch gegenüber. Das Verlangen nach einem dauerhaften irdischen
Herrscher kommt einem Bundesbruch gleich. 10 Jahwe gibt deutlich zu
1
Ri 6,34f.
2
Von Rad 1992, S.106f.
3
Joachim übersetzt ruach wie Hieronymus mit (Dei) spiritus. „[…] Dei
spiritus, qui hebraice […] vocatur rua […]. Exp. I, fol.64rb; vgl. fol. 64ra; Adv.
Jud., Frugoni 23,22; 25,10.
4
Voegelin 1956, S.205.
5
Am deutlichsten wird dies bereits in der alten Jotamfabel (Ri 9,8-15)
formuliert, dem „antiroyalistischsten Dokument der Weltgeschichte“. Koch
1995, S.76f.
6
1 Sam 4f.
7
Sh. z.B. Ri 9,6. Vgl. Noth 1986, S.152ff; Voegelin 1956, S.212ff.
8
Koch 1995, S.76ff.; Voegelin 1956, S.226ff.
9
Vgl. Noth 1986, S.174ff.
10
„Die Staatenbildung wird demnach im Alten Testament nicht als ein
naturhaftes Ereignis, als ein organischer Wachstumsprozeß beschrieben, sie ist
209 ABBILDUNGEN

erkennen, daß die Wahl eines Königs seinem Willen zuwiderläuft, und
verweist darauf, daß sein Handeln allein die Geschichte Israels bestimmt.
So spricht der Herr, der Gott Israels: Ich habe Israel aus
Ägypten heraufgeführt, ich habe euch aus der Gewalt der
Ägypter befreit und aus der Gewalt all der Königreiche, die
euch bedrängt haben. Ihr aber habt euren Gott verworfen, der
euer Retter in allen Nöten und Bedrängnissen war, und ihr habt
gesagt: Nein, du sollst einen König bei uns einsetzen. 1
Wenn Jahwe sich dennoch nicht von seinem erwählten Volk abwendet, so
nur unter der Voraussetzung, daß die Grundsätze des Bundes gewahrt
bleiben und die Theopolitie in eine monarchische Theokratie, 2 keinesfalls
aber in ein kosmologisches Gotteskönigtum verwandelt wird.
Seht, hier ist euer König, den ihr verlangt und den ihr euch
erwählt habt. Ja, der Herr hat euch einen König gegeben. Wenn
ihr den Herrn fürchtet und ihm dient, wenn ihr auf seine
Stimme hört und euch seinem Befehl nicht widersetzt, wenn
sowohl ihr als auch der König, der über euch herrscht, dem
Herrn eurem Gott, folgt, dann geht es euch gut. Wenn ihr aber
nicht auf die Stimme des Herrn hört und euch seinem Befehl
widersetzt, dann wird die Hand des Herrn gegen euch
ausgestreckt sein wie gegen eure Väter. 3
Gleichzeitig wird von einer neuen Gruppierung innerhalb der israelitischen
Gesellschaft berichtet, den Propheten (nebiim), die als jahwistische Kritiker
auftreten. In der deuteronomistischen [[@Page:176]]Überlieferung
konzentriert sich das Phänomen zunächst auf die Person Samuels, der
zugleich Richter ist, und als Bote Jahwes vor dem König auftritt, um ihm
nach seinem Versagen sein Ende zu offenbaren. 4 Das heißt, der nabi ist der
rechtmäßige Nachfolger der Richter und er allein kennt den Willen Jahwes. 5
Es ist deshalb nur konsequent, wenn das Symbol der ruach nun auf die
Propheten angewandt wird. Allerdings kann der Geist auch über andere
Menschen kommen und sie dazu zwingen, Jahwes Willen zu befolgen. 6
Vor allem in der nordisraelitischen Überlieferung wurde der Glaube an
die Möglichkeit einer Gemeinschaft ohne irdischen Herrscher niemals

hervorgegangen aus einem offenkundigen Bruch mit dem alleinigen Herrscher


Jahwe. ‚Politik‘ steht im Alten Testament unter dem Zeichen des Unglaubens,
sofern der Staat selbst nichts anderes ist als eine Ordnung derer, die Gott und
seiner Herrschaft mißtrauen.“ Kraus 1952, S.30.
1
1 Sam 10,18f. Vgl. [[8,7f. >> Bible:1Sam 8,7f]]
2
Zu dieser Terminologie sh. Voegelin 1956, S.243, Anm.12.
3
1 Sam 12,13-15.
4
1 Sam 7,11-17.
5
Vgl. 1 Sam 3,20.
6
1 Sam 19,20-24. Diese Stelle, in der Jahwe Saul durch die ruach zur Umkehr
zwingt, unterscheidet sich trotz der äußerlichen Ähnlichkeit fundamental von 1
Sam 10,10f., wo Saul durch die ruach kurz vor seiner Wahl die charismatischen
Gaben erhält. Vgl. 1 Sam 10,6.
210 ABBILDUNGEN

aufgegeben.1 Das Ordnungskonzept des Bundes, die prinzipiell egalitäre


Vorstellung einer „original creation of a people of free householders“ 2
bleibt paradigmatisch, auch wenn sie, bedingt durch temporäre
Notwendigkeiten, vorübergehend aufgehoben werden muß. 3
2. Nach der royalistischen Überlieferung, die wahrscheinlich auf eine
ältere Erzählung zurückgeht, erkennt Jahwe die Not Israels und offenbart
Samuel, der zuvor ein Seher (roeh) war und kein Richter,4 daß er Saul zum
König salben soll:
Morgen um diese Zeit schicke ich einen Mann aus dem Gebiet
Benjamins zu dir. Ihn sollst du zum Fürsten meines Volkes
Israel salben. Er wird mein Volk aus der Gewalt der Philister
befreien; denn ich habe die Not meines Volkes Israel gesehen,
und sein Hilfeschrei ist zu mir gedrungen.5
Der König wird so zum Messias, zum Gesalbten Jahwes. 6 Neben der
Verleihung des Amtes bleibt aber der ekstatische Empfang der ruach nach
Art der Richter Teil der göttlichen Erwählung. Dem Propheten Samuel steht
es nur zu, das Ereignis anzukündigen:
Dann wird der Geist des Herrn über dich kommen, und du wirst
wie sie [die Ekstatiker] in Verzückung geraten und in einen
anderen Menschen verwandelt wer[[@Page:177]]den. Wenn du
aber diese Zeichen erlebst, dann tu, was sich gerade ergibt; denn
Gott ist mit dir.7
Dennoch ist es wichtig, auch die Gemeinsamkeiten der beiden
Überlieferungen hervorzuheben, die es einerseits dem Deuteronomisten
ermöglichten, auf der Grundlage der prophetischen Überlieferung die

1
„Doch sollte man bedenken, daß die Vorstellung vom charismatischen
Führertum, die auf dem Boden des Nordreiches kräftig weiterlebte, als ein
Gegenmodell zum erblichen Königtum diente. Allein dadurch schon entstanden
Freiräume für die Beteiligung von Propheten an politischen Vorgängen.“
Blenkinsopp, Joseph: A history of prophecy in Israel. Louisville: Westminster
John Knox Press, 1998, S.59.
2
Voegelin 1997, Bd.1, S.110.
3
„Sie setzen Könige ein, aber gegen meinen Willen;
sie wählen Fürsten, doch ich erkenne sie nicht an.“ Hos 8,4.
4
So ließe sich der umstrittene Vers 1 Sam 9,9 („Denn wer heute Prophet
genannt wird, hieß früher Seher“) auch politisch deuten: Die Propheten können
sich nicht als Nachfolger der schofetim ausgeben, wie die antiroyalistische
Überlieferung nahelegt. Vgl. 1 Sam 9,19. Vgl. Weber-Schäfer, Peter:
Einführung in die antike politische Theorie. Erster Teil: Die Frühzeit.
Darmstadt: Wiss. Buchges., 1992, S.79ff.
5
1 Sam 9,16; vgl. 1 Sam 16,12: „[…] dieser Akt geht über die Berufung eines
charismatischen Führers, wie sie bisher je und dann erfolgt war, insofern weit
hinaus, als die Salbung die Übertragung eines Amtes bedeutete […].“ Noth
1986, S.156.
6
Voegelin 1956, S.227.
7
1 Sam 10,6f.
211 ABBILDUNGEN

„Israel-Bundestradition“ mit der „Davidbundestradition“ zu verschmelzen, 1


und andererseits eine der Voraussetzungen dafür schuf, daß spätere
„Propheten“, darunter Joachim, Messianismus und Kollektivismus verbinden
konnten:
Beide Darstellungen denken theokratisch. Nach der älteren
wollte Gott durch seinen Gesalbten die Geschichte Israels in die
Hand nehmen; in der jüngeren wehrt sich Jahwe gegen die
Auslieferung einer Institution an den autonom gewordenen
politischen Willen Israels.2
Das Königtum Davids: Die Symbolik, die das Zweite Samuelbuch, der
Psalter und die Chronik entwickeln, wenn sie das Bild der davidischen
Herrschaft zeichnen, kann in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden.
Die Namen „David“ und „Jerusalem“ lösen sich in einem erstaunlichen
Prozeß von ihren historischen Trägern ab und gehen in den Grundbestand
des jüdisch-christlichen Symbolschatzes ein. Sie kehren wieder in allen
Formen des Messianismus, in den Hoffnungen auf eine endzeitliche
Ordnung, aber auch in den Jenseitsvorstellungen. Wenn Joachim auf diese
Symbole zurückgreift, so ist das also keine Besonderheit – im Gegenteil, es
wäre erstaunlich, wenn er es nicht getan hätte.
1. Der Messias: In der Natanweissagung ereignet sich etwas „großes
Neues“ (G. v. Rad): Jahwe verleiht seine Bestandsgarantie an eine Dynastie, er
schließt einen neuen, „ewigen Bund“ mit dem Haus Davids;3 die
Nachkommen des Königs werden von Jahwe an Sohnes statt angenommen.
Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern
legst, werde ich deinen leiblichen Sohn als deinen Nachfolger
einsetzen und seinem Königtum Bestand verleihen. […] Ich
will für ihn Vater sein, und er wird für mich Sohn sein. 4
Damit verbindet sich für den Herrscher einerseits das Privileg, mit Jahwe in
einem besonderen Kommunikationsverhältnis zu stehen, 5 andererseits kann
er künftig daran gemessen werden, wie gut er Jahwes Willen in die Tat
umsetzt.6 Jahwes Handeln in der Geschichte ist also nicht damit beendet, daß
ein Volk seßhaft wurde und die Lade auf den Zion verbracht wurde, er
bedient sich lediglich eines neuen Werkzeuges. 7 Auch für diese
geschichtliche Tat wird das Symbol der ruach verwendet.
Konsequenterweise geht die ruach auf das von Jahwe eingesetzte Haus
Davids über, das damit zum einzig legitimen Mittler zwischen Jahwe und
seinem Volk wird.8 [[@Page:178]]
1
Von Rad 1992, S.350f.
2
Ebd., 1992, S.339.
3
2 Sam 23,5.
4
2 Sam 7,12.14.
5
Von Rad 1992, S.332.
6
2 Sam 7,14.
7
2 Sam 7,8.
8
Die „Letzten Worte Davids“ (2 Sam 23,1-7) stellen den König als
212 ABBILDUNGEN

Samuel nahm das Horn und salbte David mitten unter seinen
Brüdern. Und der Geist des Herrn war über David von diesem
Tag an. Samuel aber brach auf und kehrte nach Rama zurück. 1
Doch hat das Symbol seine ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Aus dem
dynamischen Geistwind, der Jahwes Diener nur vorübergehend überkam, 2 ist
die dauerhafte Inspiration und Legitimation der Dynastie geworden. 3 Die
Verwirklichung der gottgewollten Ordnung und die Wahrung der
Gerechtigkeit ist nun die Aufgabe des Gesalbten Jahwes. 4
So ist also die Nathansweissagung […] in höchstem Maße
traditionsschöpferisch geworden, denn diese Zusage Jahwes ist
nie mehr vergessen worden; sie ist in der Folgezeit immer neu
interpretiert und aktualisiert worden; hier liegt der
geschichtliche Ursprung und die Legitimation auch aller
messianischen Erwartungen.5
2. Jerusalem: Die Einnahme der alten Jebusiterstadt Jerusalem, die zwischen
Israel und Juda lag, war – gleich ob sie nun kriegerisch oder friedlich
geschah – einer von Davids geschicktesten Schachzügen zur Sicherung der
Herrschaft über beide Reiche. Damit schuf sich der König ein
gebietsneutrales Regierungszentrum für das Großreich. 6 Im Übergang von
Saul zu David verwandelt sich das Stammeskönigtum unter Zuhilfenahme
von orientalischer Herrschersymbolik in ein Stadtkönigtum nach
kanaanäischem Vorbild.7 Israel geriet damit in die Gefahr, sich allmählich
allen anderen Völkern anzugleichen und sich von seiner theokratischen
Exzeptionalität endgültig zu verabschieden. Doch gegen diesen
schleichenden Prozeß, von dem die Königsbücher allenthalben berichten,
standen die Propheten auf und brachten die gesamte Tradition des
Gottesvolkes gegen die Geistesvergessenheit seiner Könige in Anschlag.

Aus diesen historisch-biblischen Grundlagen, die Joachim von Fiore


in seinen Werken ausnahmslos berücksichtigt hat,8 läßt sich der
prophetische Anspruch charakterisieren. Alle politische Aktivität der
Offenbarungsempfänger und Verkünder vor, analog zu den Propheten. Die
ruach wirkt durch ihn, der dabar wird durch ihn verkündet (sh. v.a. V.[[2 >>
Bible:2Sam 23,2]]).
1
1 Sam 16,13.
2
Das gilt noch für Saul (1 Sam 10,5-12), dem die Zustimmung Jahwes wieder
entzogen wird (1 Sam 16,14).
3
Koch 1991, S.54.
4
Vgl. Ps 45,7f.
5
Von Rad 1992, S.323.
6
Voegelin 1956, S.249 und 273ff.
7
Fohrer 1992, S.132ff.
8
Sh. z.B. die Zusammenfassung in Psalt. II, fol.259rb-va.
213 ABBILDUNGEN

Propheten bezieht ihre Antriebskraft aus einer Quelle, die Eric


Voegelin die theokratische Spannung (theocratic tension) genannt
hat,1 und die vor ihm schon Fritz Wilke beschrieb:
Der Zusammenstoß zwischen der königlichen und der
prophetischen Macht, wie er uns hier [in 1 Sam] in so
lebendiger Gestalt entgegentritt, hat sich in der
Ge[[@Page:179]]schichte Israels unzählige Male wiederholt.
Ja, der Widerstreit jener beiden Gewalten, ihre friedlichen und
feindlichen Berührungen bilden eine der wirksamsten
Triebfedern der israelitischen Volksgeschichte. Das Königtum
entwickelt folgerichtig seine eigenen Grundsätze, indem es sich
der jeweiligen, politischen Lage anzupassen und die Schranken
zu beseitigen sucht, die die geistliche Macht ihm fortgesetzt
ziehen möchte. Der Prophetismus beharrt dagegen auf dem
Standpunkt, daß Jahwe in Israel alles sein und bleiben und alles
ihm sich fügen müsse, und indem er sich anschickt, das
Königtum von diesem Gesichtspunkt aus zu beaufsichtigen und
zu meistern, ruft er immer neue Streitfälle hervor. 2
Joachim selbst beschreibt die Spannung als Kampf zwischen Geist
und Fleisch, zwischen dem himmlischen Ordnungswissen der
Propheten und der irdischen Gesinnung der Volksmehrheit, die beide
auf den König einzuwirken suchen.3
Die Frage der israelitischen Prophetie lautet: Wie kann die
theokratische Ordnung, in der das Gottesvolk einst am Sinai
begründet wurde, aufrechterhalten werden, trotz der Realität des
judäischen Königtums? Alle Mahnungen, die die Propheten – in
erster Linie sind immer Jesaja und Jeremia gemeint – den Königen
erteilen, sind aus einer theokratischen Grundüberzeugung heraus
ausgesprochen. Die Einsetzung des Königtums war gottgewollt,
daran zweifelt keiner der großen Propheten, aber ein König ist dann
gut, wenn er sich auf die Leitung des wahren Königs verläßt. Da
jedoch die Könige in den Augen der Propheten keineswegs immer
ihrer Bestimmung gefolgt sind, da sie sich auf Bündnispolitik
1
Voegelin 1956, S.474.
2
Wilke, Fritz: Die politische Wirksamkeit der Propheten Israels. Leipzig:
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1913, S.25.
3
Über die Zeit Samuels und der ersten Könige sagt er: „Incipiebat enim ex hoc
loco attenuari similitudo carnis, initiari vero similitudo spiritus, licet usque ad
Christum concertatio quedam facta fuerit inter carnem et spiritum,
quemadmodum inter domum Saulis et domum Dauid, prophetis quidem
sanctibus ad superiora tedentibus, carnali vero populi multitudine ad inferiora
trahente.“ Psalt. II, fol.273rb; vgl. 1 Sam 16,13. Weiter heißt es über den
Konflikt zwischen dem geistbegabten Propheten Elischa und den fleischlich
gesinnten Königen: „Nec mirum si zelus viri iusti, qui significat spiritum
sanctum, accensus est contra eos, qui gloriabant in carne dicentes se habere
patrem David et nolentes imitari opera eius ambulantes secundum carnem et
non secundum spiritum […].“ Psalt. II, fol.274va; vgl. 2 Kön 9.
214 ABBILDUNGEN

verlassen haben statt auf den Herrn, fühlen sie sich berufen, als
charismatisch begabte Berater an die Seite der Herrscher zu treten,
sie an ihren Auftrag zu gemahnen und korrigierend in ihre Politik
einzugreifen. Auf sie geht der Geist Gottes über, wenn sich ihm die
Herrscher verweigern. 1 Ihre Mahnungen werden erst dort nicht mehr
nötig sein, wo göttlicher Geist und König eins sind, so wie es in Jes
11,2f. beschrieben ist, dem locus classicus des messianischen
Politikverständnisses. [[@Page:180]]
Der Geist des Herrn läßt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht,
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.
Er erfüllt ihn mit dem Geist der Gottesfurcht.
Er richtet nicht nach dem Augenschein,
und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er […].
Genau dieselbe Haltung findet man bei Joachim. Seine Frage lautet
analog: Wie kann die theokratische Ordnung, in der die christliche
Kirche begründet wurde, aufrechterhalten werden, trotz der Realität
eines mit weltlicher Gewalt ausgestatteten Papsttums? Alle
Mahnungen, die Joachim an die Kurie richtet, sind aus derselben
theokratischen Grundüberzeugung heraus ausgesprochen. Der
Hebräerbrief betont, daß der neue Bund ebenso theokratischer Natur ist,
wie es der alte war; das Priestertum Christi läßt die Herrschaft Gottes
sogar noch deutlicher hervortreten.2 Zwar ist sich Joachim sicher, daß
die Verleihung weltlicher Macht an das Papsttum gottgewollt war, aber
der Papst handelt nur dann rechtmäßig, wenn er sich auf die Leitung des
wahren Priesterkönigs verläßt. Wenn er meint, ohne Kenntnis des
göttlichen Ratschlusses gegen die Feinde ziehen zu können, dann muß
er scheitern, wie einst Papst Leo IX. gegen die Normannen. Den
göttlichen Ratschluß zu vermitteln, dafür gab es damals Propheten wie
es jetzt Exegeten gibt. Wie er gegenüber Adam von Perseigne bekannte,
ist Joachim überzeugt davon, daß der Geist, der den israelitischen
Kündern die prophetia verlieh, derselbe ist, der ihm das Charisma der
intelligentia verlieh, daß also Jeremia und er selbst ihr Wissen aus der
gleichen göttlichen Quelle beziehen. Dieses Bewußtsein erlaubt es
Joachim, den Päpsten gegenüberzutreten wie einst die Propheten den
Königen. Gerade diese Parallele macht deutlich: Der intelligentia
1
Joachim hat das Prinzip genau erkannt. Er geht sogar noch weiter, wenn er
anmerkt, daß Gott das Bild seiner Dreifaltigkeit den Persönlichkeiten der
Propheten zeichenhaft aufprägt, um im Falle von untauglichen Königen die
Kontinuität seiner Selbstoffenbarung zu gewährleisten: „[…] siquidem omnes
reges ultimi, qui geniti sunt in transmigratione babylonis, pessimi fuerunt in
conspectu domini, electi sunt tres viri sancti in spiritu prophetie, Hyeremias
scilicet qui fuit quasi pater, Ezechiel qui fuit heres prophetie ipsius, et Daniel
cui revelata sunt secreta celestia.“ Psalt. II, fol. 275ra.
2
[[Hebr 8,1-6 >> Bible:Heb 8,1-6]].
215 ABBILDUNGEN

spiritualis eignet von vornherein ein politisches Moment, insofern sie


ihre Träger in die Lage versetzt, wenn nicht sogar verpflichtet,
politischen Entscheidungsträgern den göttlichen Willen zu vermitteln.
Das Korrektiv geistbegabter Exegese wird erst dort nicht mehr nötig
sein, wo die kirchliche Ordnung direkt von der geistlichen Einsicht
geleitet wird. Joachim hat, wie noch zu zeigen ist, eine solche Ordnung
konzipiert, selbstverständlich mit Bezug auf die messianische
Prophezeiung Jesajas.

Joachims Intelligentia super calathis beginnt, wie man es kaum anders


erwartet hätte. Er legt wie schon am Anfang von De prophetia ignota
sein exegetisches Konzept offen, das principium concordiarum.
Diesmal jedoch kommt es ihm auf zwei besondere Parallelen an:
Vom Patriarchen Jakob bis zu Salomo rechnet man zwölf
Generationen und von Salomo bis Hiskija wiederum zwölf. 1 In
den Tagen Salomos wurde zwischen dem König von Juda und
dem König von Ägypten Freundschaft geschlossen, in den
Tagen Hiskijas auf ähnliche Weise zwischen dem König von
Juda und dem König von Babylon. Nach dem Tode Salomos
gewann der König von Ägypten die Oberhand gegen Jerusalem,
aber noch viel mehr erstarkte der König von
Ba[[@Page:181]]bylon nach dem Tode von Hiskija, und das
schon bevor der König von Ägypten von seiner Verfolgung und
Unterdrückung abließ. Ihre Konkordanz ist die folgende: Von
Christus bis ungefähr zu Kaiser Julian [II.] sind es zwölf
geistliche Generationen. Und von da an bis zu Karl, dem
Fürsten über das Frankenreich, sind es wiederum zwölf
Generationen.2
Die Entsprechung zwischen der Zeit Hiskijas und der Zeit Karl
Martells – er ist es wiederum, der hier mit dem Carolus princeps
regni Francorum gemeint ist – und ihre Bedeutung wurde bereits
erörtert. Jetzt geht es Joachim eher um die Generationen davor, also
grob die Zeit von Christi Geburt bis zur Herrschaft der
konstantinischen Dynastie. Es sieht ganz so aus, als hätte Gottfried
von Auxerre auf einen (vermeintlichen) Fehler in der
Konkordanzenlehre seines Feindes Joachim aufmerksam gemacht:
Wenn die Geschichte Israels auf die Geschichte der Kirche verweist,
wenn weiterhin die judäisch-israelitischen Könige den römischen
Päpsten entsprechen, und wenn der Geschichtsabschnitt des Alten
Testamentes, welcher der christlichen Zeit entspricht, mit Jakob
beginnt, dann dürfte es in den ersten Jahrhunderten der
1
Vgl. Mt 1,2-10.
2
Int. cal. 1, De Leo 135,9-17.
216 ABBILDUNGEN

Kirchengeschichte keine Päpste gegeben haben, weil es vor Saul keine


Könige gab.
Joachim ist natürlich nicht um eine Antwort verlegen. Indem er
die antiroyalistischen Passagen des ersten Samuelbuches heranzieht,
wendet er Gottfrieds Kritik in eine Lobrede auf die theokratische
Anfangszeit der Kirche:
Doch wenn du sagst, daß Israel bis zu Saul, dem Sohn von
Kisch, keinen König gehabt habe, siehe, daß damals jenes Volk
eher aufhörte einen wahren König zu haben, als es einen
Menschen zum König forderte. So sprach Gott, der König
selbst, von dem sie nicht wußten, daß er sie regiert, zu Samuel:
„Denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie
verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein.“ Aber auch
Samuel selbst klagt sie an, daß sie durch die Forderung nach
einem König heftigen Anstoß erregen würden, da der Herr
selbst über sie herrsche. Siehe wie offensichtlich es einleuchtet,
was wir sagen. Und damals herrschte ein wahrerer König
Jerusalems über sie, als sie noch keinen menschlichen König
kannten. Als sie dann einen menschlichen König hatten, wurden
sie von ihm [Gott] entfernt und entfremdet, was – wie man weiß
– auch in der Kirche geschehen ist.1
Man hätte erwarten dürfen, daß Joachim die Zeit der charismatischen
Richter der frühkirchlichen Theokratie gegenübergestellt, wie er das
auch an anderer Stelle getan hat.2 Hier aber wählt er überraschend das
vordavidische Jerusalem, um seine heilsgeschichtlichen Parallelen zu
ziehen. Überraschend ist dies vor allem deshalb, weil in Jerusalem
bekanntlich der heidnische Stamm der Jebusiter und nicht das
Gottesvolk zu Hause war, als David die Stadt im Sturm eroberte. 3
Aber offensichtlich kommt es Joachim hier nicht darauf an, die
Konkordanzenlehre systematisch darzustellen, sondern symbolisch auf
einen ganz bestimmten Sachverhalt zu verweisen. Auch in anderen
Schriften ver[[@Page:182]]zichtet der Abt im Zweifelsfall auf die
Konsistenz seiner Exegese oder begibt sich auf die Suche nach
Ausnahmeregeln, sollte das principium concordiarum einmal nicht
das gewünschte Ergebnis bringen. Nicht daß Joachims Methodik
völlig beliebig wäre, aber sie ist doch eher eine Folge seiner
theologischen und geschichtstheoretischen Überlegungen als deren
Voraussetzung. Hier also heißt es:
In jenem Zeitraum zwischen Jakob und Salomo gab es bereits
jene Stadt, die schließlich Jerusalem genannt wurde; aber sie
war noch nicht zur Königsherrschaft erhöht worden (nondum
sublimata erat in regnum), sondern gedieh – gemäß dem Plan
1
Int. cal. 1, De Leo 138,16-24; 1 Sam 8,7; vgl. 1 Sam 8,18.
2
Conc. IIa,27, fol.17va, Daniel 135,9-17; vgl. Conc. IV,2, fol.44rb, Daniel
325,147-151.
3
2 Sam 5,6-9; 1 Chr 11,4-9.
217 ABBILDUNGEN

der göttlichen Gnade – von Tag zu Tag in ihren Kindern, bis sie
in der elften und zwölften Generation, in den Tagen Davids und
Salomos zur Königsherrschaft erhöht wurde. Auf ähnliche
Weise betrifft das auch die Kirche, die man das neue Jerusalem
nannte. Sie wurde nämlich bis zu den Zeiten Konstantins so
verborgen und vom fleischlichen Volk so verachtet, als ob ihr
keinerlei Autorität (auctoritas) und Gnade zu eigen sei.1
Deutlicher wird die Passage erst, wenn man berücksichtigt, daß
Joachim nicht nur auf Gottfried von Auxerre antwortet, sondern
offenbar ebenso auf Otto von Freising. Ottos Chronica sive historia
de duabus civitatibus scheint überhaupt die wichtigste Quelle von
Joachims Geschichtskenntnissen gewesen zu sein, manchmal wirken
die knappen Bemerkungen und Anspielungen des Abtes sogar so, als
würde er bei seinen Lesern die Kenntnis der Chronik voraussetzen.2
1
Int. cal. I, De Leo 135,17-23; vgl. Conc. IIIb,2, fol.39rb, Daniel 289,16-18.
2
Es empfiehlt sich immer, Ottos Chronik begleitend zu Joachims Werken zu
lesen. Der Papst- und Kaiserkatalog am Ende von Buch VII., den Otto sicher
anderen Quellen entnommen hat, bietet lange Tafeln, die die Reihe der Kaiser
und parallel dazu die Reihe der Päpste wiedergeben. Sie könnten ein
entscheidender materialer Grundstock für Joachims Konkordanzen gewesen
sein, zumindest aber hatten beide ähnliche Quellen. Hier (nicht aber im Textteil
der Chronica) findet sich die auch bei Joachim begegnende „Verwechslung“
zwischen Heinrich II. und Heinrich I. Selbst dort, wo sich ein direkter Bezug zu
Joachim nicht feststellen läßt, ist die Chronica von Interesse, denn sie gibt
zuverlässig den damaligen Stand historiographischen Wissens wieder und
referiert nicht selten die unter Zeitgenossen übliche Deutung des
Geschichtsverlaufs – wobei man Ottos genuine Interpretationen natürlich nicht
unterschätzen darf. Neben der Chronica benutzte Joachim mindestens noch
Augustinus’ De civitate Dei, die von Rufinus von Aquileia übersetzte und
fortgeführte Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea sowie die
Weltgeschichte des Orosius. Augustinus kam schon oben zur Sprache, wo es um
König Usija ging. Rufinus/Eusebius läßt sich als Quelle etwa dort nachweisen,
wo Joachim den Bericht Philos von Alexandrien über die jüdischen Therapeuten
erwähnt und sie im Anschluß an Eusebius fälschlich für christliche Mönche hält.
Exp. Intr., fol.19va; vgl. [[Hist. eccl. II,16-17 >> Eusebius:Hist. eccl. 2.16-17]].
Auf Orosius verweist Joachim in Conc. I,4, fol.3va, Daniel 34,16. Immerhin
gehörte Joachim eine Zeit lang den Zisterziensern an, konnte also sicher ohne
größere Schwierigkeiten die Schriften seines Ordensbruders Otto von Freising
erreichen. Im 12. Jahrhundert gab es neben der Chronica ohnehin nicht viele
Möglichkeiten, an eine vollständige und bis fast in die Gegenwart reichende
Kirchengeschichte zu gelangen, wie sie Joachim für seine Arbeit benötigte.
Eine viel gewagtere Überlegung wäre – sie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht
überprüft werden und findet deshalb nur in einer Fußnote Erwähnung –, ob es
nicht zumindest eine Nebenabsicht Joachims war, mit dem Liber Concordiae
eine Generalrevision der Geschichtsschreibung Ottos zu unternehmen, also eine
Art Gegenchronik zu verfassen. Selbstverständlich waren die beiden nicht in
jeder Beziehung verschiedener Meinung. Aber es sieht so aus, als hätte Joachim
in den ersten vier Büchern des Liber Concordiae das gesamte Material von
Ottos Chronica gesichtet und auf der Grundlage der Konkordanzenlehre und
seiner spezifischen Geschichtsdeutung so ausgewählt und umgedeutet, daß das
218 ABBILDUNGEN

[[@Page:183]]
Nun hatte Otto im Vorwort zu Buch IV eine bedeutsame Frage
aufgeworfen, als er von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der
„konstantinischen Wende“ handelte. Es lohnt sich, die Stelle etwas
ausführlicher zu zitieren:
Da also der Herr die Kirche nach vielen Prüfungen und
Verfolgungen erhöhen wollte, hat er sich eine Person im
besonderen ausgewählt, durch die er dies am besten erreichen
konnte. Für diesen Zweck hat er den römischen Kaiser
bestimmt, auf den damals die ganze Welt ihren Blick richtete,
und hat in ihm nicht nur den Glauben erweckt, durch den er aus
der Finsternis des Irrwahns zur Erkenntnis des wahren Lichts
gelangte, sondern ihm auch die Liebe eingegeben, mit der er
Gottes Staat (civitas) durch viele Ehrungen erhöhen und mit
reichen Mitteln und Besitzungen ausstatten sollte. Und damit du
erkennst, daß dies nicht durch blinden Zufall, sondern durch
Gottes tiefen und gerechten Ratschluß geschehen ist, siehe, wie
der Staat Gottes, der vordem im Verborgenen war und sich vor
jedem beliebigen Manne niedersten Standes ducken mußte, in
kurzem solche Macht gewinnt, daß er nun über Könige gebietet
und über Könige richtet; siehe, wie er von der Welt so hoch
geehrt ist, daß die Herren der Erde kommen, sich beugen vor
ihm und niederfallen vor den Füßen des auf dem Throne
Sitzenden. Nun aber erhebt sich eine wichtige Frage und tiefe
Meinungsverschiedenheit über die Rechte des Königtums und
des Priestertums. Manche behaupten nämlich, angeblich aus
religiösen Gründen (religionis obtentu), andere im Hinblick auf
das weltliche Ansehen, durch das die Machtfülle des Reiches
offensichtlich geschmälert wird, diese irdische Herrlichkeit und
dieser weltliche Besitz stehe den Priestern Christi, denen doch
die Herrlichkeit des Himmelreiches verheißen ist, nicht zu und
sie führen dafür viele Beweise an.1
Otto kommt zu einem Urteil, das zwar die Legitimität der
konstantinischen Schenkung bestätigt, aber noch nichts darüber sagt,
ob dieser Zuwachs an weltlicher Macht der Kirche letztlich genutzt
oder geschadet habe:
[Es] ist also erwiesen, daß Konstantin mit vollem Recht der
Kirche die Regalien verliehen hat und daß es der Kirche erlaubt
war, sie anzunehmen. Denn wenn wir Könige fragen, nach
welchem Recht sie diese Befugnisse haben, pflegen sie zu
antworten: auf Grund der Anordnung Gottes und der Wahl des

Papsttum in ein günstigeres, das Kaisertum jedoch in ein ungünstigeres Licht


gerückt wurde. Dieser Logik folgend entspricht das fünfte Buch des Liber
Concordiae, das vom dritten Status handelt, schließlich dem achten Buch der
Chronica, wobei allerdings der tertius status ecclesiae – Otto gebraucht den
Begriff zuerst – von Joachim ins Diesseits verlegt wird.
1
Chron. IV, prol., Schmidt/Lammers 291,11-33.
219 ABBILDUNGEN

Volkes. Wenn also Gott kein Unrecht damit getan hat, daß er
anordnete, den Königen diese Befugnisse zuzuerkennen, um
wie viel weniger darf man ihn dann deshalb des Unrechts
zeihen, weil er bestimmt hat, daß sie von der weltlichen auf die
geistliche Person übertragen wurden!1
Wie aus den zitierten Passagen hervorgeht, haben weder Joachim noch
Otto den ge[[@Page:184]]ringsten Zweifel daran, daß die
konstantinische Schenkung Gottes Willen entspricht.
Selbstverständlich stellt keiner von beiden die Echtheit der
Schenkungsurkunde in Frage, bedenkt man aber, daß die Fälschung
seit dem Investiturstreit eine wichtige Rolle bei der Legitimation des
päpstlichen Führungsanspruches spielte, wird deutlich, daß bereits die
heilsgeschichtliche Einordnung der Donatio von äußerster politischer
Brisanz war. Es geht um abermals um das Zentralproblem der
hochmittelalterlichen politischen Theorie, um das Verhältnis von
Königtum und Priestertum in der Ordnung der christianitas.
Wie gesehen, finden Joachim und Otto ganz ähnliche Worte für
die frühe Kirche. Sie sei noch verborgen gewesen und derart
erniedrigt, daß man ihr keinerlei auctoritas zugesprochen habe
(Joachim) und sie sich vor jedermann hätte ducken müssen (Otto). Der
Bischof von Freising schildert weiterhin, daß Konstantin die Kirche
aus diesem Zustand befreit habe, indem er ihr Güter, Besitzungen und
Ehrungen habe zuteil werden lassen und am Ende gar die Regalien
übergab. Damit aber noch nicht genug, denn anschließend sei
Konstantin selbst nach Byzanz umgezogen – mit gewaltigen
Konsequenzen:
Infolgedessen behauptet die römische Kirche, daß ihr die
Herrschaft über das Abendland als von Konstantin übertragen
zustehe […].2
Otto referiert kurz einige widersprüchliche Meinungen über diesen
Anspruch, meint aber schließlich, es sei nicht seine Aufgabe, „dies
alles zu entscheiden“.3 Was jedoch dann folgt ist eine komprimierte
Weltgeschichte, die beweisen soll, daß die Bürgerschaft Gottes von
Adam bis Konstantin fast immer in Schwierigkeiten war.4 Es habe
1
Chron. IV, prol., Schmidt/Lammers 295,9-18.
2
Chron. IV,3, Schmidt/Lammers 307,5-7. Im Text der Donatio (§18) heißt es:
„Unde congruum prospeximus, nostrum i m peri um et regni potestatem
ori ent al i bus t ransferri ac transmutari regionibus et in Byzantiae provincia
in optimo loco nomini nostro civitatem aedificari et nostrum illic constitui
imperium; quoniam, ubi principatus sacerdotum et christianae religionis caput
ab imperatore caeleste constitutum est, iustum non est, ut illic imperator
terrenus habeat potestatem.“ Mirbt 112,18-22. Hervorh. i. Orig. Dazu: Ullmann
1960, S.126ff.
3
Chron. IV,3, Schmidt/Lammers 307,22.
4
Chron. IV,4. Selbst die Bedeutung des davidischen Königtums wird zu diesem
Zweck heruntergespielt.
220 ABBILDUNGEN

dem göttlichen Ratschluß entsprochen, daß nicht nur das alte


Gottesvolk, sondern auch die Kirche Christi in ihrer Frühzeit unter
den Heiden habe leiden müssen. Die Terminologie, mit der Otto die
Wende beschreibt, ist entscheidend:
Weil aber übermäßige Geißelhiebe wie eine im Übermaß
eingenommene Medizin den Geist zerbrechen, statt ihn zu
bessern, erhöhte er, wie oben gesagt, zur rechten Zeit die
verlassene und erniedrigte Kirche (desolatam et humilitatam, ut
supra dixi, tempore quo decuit exaltavit ecclesiam). Und um
ihren Glauben an die Verheißung des Himmelreiches zu
stärken, übertrug er ihr die oberste zeitliche Herrschaft über alle
Reiche (regnum ei temporale regnorum omnium maximum
tradidit).1
Zusammengefaßt: Die Zeit vor Konstantin war eine Zeit der
Erniedrigung der Kirche, die mit Konstantin von einer Zeit der
Erhöhung abgelöst wurde. Der entscheidende [[@Page:185]]Akt der
Zeitenwende ist die Übergabe der Regalien. Nun war Joachim –
vielleicht bei der Lektüre der Chronica – aufgefallen, daß dieser
Zusammenhang zwischen Königtum (regnum) und Erhöhung
(exaltatio) eine Parallele im Alten Testament hat, nämlich im Bericht
über die Eroberung Jerusalems durch David. Dort heißt es
abschließend:
Und David erkannte, daß ihn der Herr als König über Israel
bestätigt hatte, und daß er sein [Davids] Königtum über sein
[Gottes] Volk Israel erhöht hatte (exaltasset regnum eius super
populum suum Israel).2
Wie bereits dargelegt, parallelisiert Joachim die Einnahme Jerusalems
mit der konstantinischen Wende. Damit aber gibt er der Deutung des
Ereignisses eine völlig neue Wendung, wie folgender Satz
verdeutlicht:
In den Tagen Papst Silvesters unterwarf sich Konstantin, indem
er Gott die Ehre erwies und sich in die Stadt Byzanz begab, die
wie zu einem neuen Ägypten wurde […].3
Hier klingt die Tat Konstantins zunächst einmal viel weniger heroisch
als bei Otto, eher wie eine Pflichterfüllung. Dies entspricht Joachims
Überzeugung, wonach dem Papst allein das Priesterkönigtum Christi
1
Chron. IV,4, Schmidt/Lammers 309,21-25.
2
2 Sam 5,12 (Übers. d. Verf. nach der Vg). Die Terminologie hat eine lange
kirchengeschichtliche Tradition, ob sie von vornherein jener Bibelstelle
entlehnt ist, ist mir nicht bekannt. Als Papst Stephan II. in einem Brief an
Pippin den Franken über die Bedeutung der Königssalbung aufklärte, wählte er
folgende Worte: „Ideo vos Dominus per humilitatem meam mediante beato
Petro unxit in reges, ut per vos sancta sua ecclesia exaltetur et princeps
apostolorum suam suscipiat justiciam.“ Zit. n. Ullmann 1960, S.103, Anm.86.
3
Int. cal. 1, De Leo 135,23-136,1.
221 ABBILDUNGEN

zukommt.1 Wichtiger aber ist der zweite Aspekt: Byzanz wird zu


einem neuen Ägypten. Joachim spielt hier auf nichts anderes an als
auf den Anspruch Konstantinopels, ein zweites Rom zu sein.2 Denn
Ägypten entspricht dem römischen Kaiserreich, die Pharaonen den
Herrschern dieser Welt, unter dem neuen Ägypten ist daher das neue
Rom Konstantins zu verstehen.3 Daraus ergeben sich zwei wichtige
Folgerungen: Erstens, Konstantin unterscheidet sich nicht prinzipiell
von den römischen Kaisern vor ihm, er hat lediglich seine Pflicht
getan, indem er der Kirche die Herrschaft über das Abendland
überließ. Zweitens, aus der konstantinischen Schenkung ergibt sich
keineswegs die wundersame Vereinigung von Reich und Kirche, wie
sie Otto von Freising zu erkennen glaubte. Vielmehr stehen sich Reich
und Kirche wie Ägypten und das zum Königreich erhöhte Israel
gegenüber, und die wechselnde Qualität ihrer Beziehungen prägt die
nachkonstantinische Geschichte der christianitas. Dies entspricht
exakt der prophetischen Sicht auf das judäische Königtum, denn das
Schicksal des Gottesvolkes wird nicht zuletzt vom außenpolitischen
Verhalten der [[@Page:186]]Herrscher abhängig gemacht. Von dort
droht am ehesten die Gefahr, daß sich die Könige auf weltliche
Mächte stützen statt auf die Leitung des himmlischen Herrschers.
Nun hatte sich schon Otto von Freising die bange Frage gestellt,
ob denn mit der konstantinischen Wende tatsächlich eine Besserung
eingetreten sei:
Aber vielleicht erhebt jemand den Einwand, hier sei dem
kirchlichen Oberhaupt etwas übertragen worden, dessen Besitz
ihm wegen der Heiligkeit seines Amtes weder gezieme noch
nütze. […] Wenn ich meine eigene Meinung sagen soll, so
erkläre ich, daß ich durchaus nicht weiß, ob Gott die Erhöhung
(exaltatio) seiner Kirche, die wir jetzt erleben, besser gefällt als
ihre frühere Niedrigkeit (humiliatio).4
Ottos Unsicherheit gilt aber lediglich der Verfassung des sacerdotium,5
keine Zweifel hat er daran, daß sich mit Konstantin der Gesamtzustand
der pilgernden civitas Dei gewaltig verbessert hat, daß sie zusammen
mit der nochmaligen Erhöhung der Kirche unter Theodosius sogar die
1
Um den entscheidenden Ausschnitt aus dem oben bereits angeführten Zitat zu
wiederholen: „Melchisedek war nämlich ein Priester des Herrn und König von
Salem. Und demgemäß mußte der Römische Papst zugleich König und Priester
sein. Kaiser Konstantin, der das verstand, bot dem heiligen Papst Silvester
freiwillig die Würde an, die er zu tragen schien, als ob sie dem König Christus
gebührte.“ Conc. IV,3, fol.45ra, Daniel 329,228-231.
2
Vgl. Ench., Burger 76,2190-2193.
3
Int. cal. 1, De Leo 138,13f.
4
Chron. IV, prol., Schmidt/Lammers 295,25-27.30-33.
5
Seine vielsagende Formel lautet, der vorige Zustand der Kirche sei besser
gewesen, der jetzige dagegen glücklicher: „Videtur quidem status ille fuisse
melior, iste felicior.“ Chron. IV, prol., Schmidt/Lammers 294,24f.
222 ABBILDUNGEN

glücklichste Zeit einleitet, die die Christenheit je gesehen hat. Die


civitas Dei aber, insofern sie auf Erden pilgert, umschließt bei Otto
immer weltliche und geistliche Gewalt, die beide eher gleichberechtigt
nebeneinander stehen und mit der konstantinischen Wende zur
Deckung kommen.1 Joachim kann so nicht denken. Ganz im
gregorianischen Sinne mißt er den Zustand der christianitas an der
inneren Verfassung der Priesterkirche. Er ist sich dabei im Klaren, daß
diese Verfassung auf Erden der ständigen Bedrohung durch die Mächte
dieser Welt ausgesetzt ist, doch die Gelegenheit Schaden anzurichten
erhalten jene Kräfte nur, wenn es die Dekadenz der Kleriker erlaubt.
Mit diesen Voraussetzungen ist es möglich, den komprimierten
Durchzug durch die Kirchengeschichte nachzuvollziehen, den
Joachim auf den ersten Seiten der Intelligentia darbietet. Denn neben
der Antwort auf Gottfried von Auxerre hat die Darstellung den
Zweck, den Führern der römischen Kirche ihre eigene Situation
verständlich zu machen.2 Wie Joachim zu Beginn der Intelligentia
betont, dient die Exegese der Heiligen Schrift mit Hilfe der
Konkordanzenlehre nicht bloß der historiographischen Systematik,
sondern der Einsicht in die Zukunft durch das Verständnis der
Vergangenheit.3
Es ist nun schon mit einer deutlichen Wertung verbunden, wenn
Joachim meint, nur in der Zeit vor Konstantin sei die Kirche wirklich
frei gewesen:
Das Reich Christi, das heißt die Kirche, war also frei vom
König Ägyptens, solange es für sich und verborgen (privatum
et occultum) blieb, bis zu Kaiser Konstantin; als es aber in die
Öffentlichkeit (in manifestum) trat, wurden bald der Satan und
[[@Page:187]]seine Nacheiferer gegen es hervorgerufen.
Jedenfalls fordert das der Urteilsspruch, in dem es heißt: „Denn
was die Menschen für großartig halten, das ist in den Augen
Gottes ein Greuel.“4
Zwar stand der Kirche das Königtum zu, doch brachte es eine große
Gefahr mit sich, nämlich von der weltlichen Gewalt selbst Gebrauch
zu machen. Damit ist nicht nur gemeint, daß die Kirche das weltliche
Schwert delegieren muß, sondern auch, daß sie auf den Glanz
1
Vgl. Goetz, Hans-Werner: Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein
Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12.
Jahrhunderts. Köln und Wien: Böhlau, 1984, S.243ff.
2
„Et hec quidem circa Iudam et circa urbem sanctam Iherusalem, que latina per
concordiam intuetur ecclesia.“ Int. cal. 1, De Leo 136,32-137,1.
3
„[…] dignum duxi perstringere aliqua ab ipso concordiarum principio, ut ex
eis, que precesserunt in mundo, possimus ad sequentium notionem venire.“ Int.
cal. praef., De Leo 135,6-8.
4
Int. cal. 1, De Leo 137,29-138,1; Lk 16,15. Vgl. Int. cal. 1, De Leo 138,11-13:
„Ceterum quod in occulto pertinet et inter regni filios clarum est tempus liberta-
tis ecclesie a tempore Christi usque ad Constantinum magis viguit.“
223 ABBILDUNGEN

irdischer Herrlichkeit verzichten soll. Die größte Gefahr besteht


letztlich in der Öffentlichkeit selbst, im öffentlichen Auftreten und im
öffentlichen Umgang mit der „Welt“. Hier zeigt sich Joachims
monastisches Verständnis von Kirche, das Verlangen nach einer
Gemeinschaft, die von der Welt völlig geschieden ist. Die
vordavidische, unbekannte und vor aller Welt verborgene
Jebusiterstadt Jerusalem, das ist Joachims Symbol für eine
gottgefällige Gemeinschaft.
Die konstantinische Schenkung war legitim, hier stimmt Joachim
mit Otto von Freising überein. Dem Kaiser war es geboten, die
Regalien zu geben, wie es der Kirche geboten war sie anzunehmen.
Doch Joachim ahnt, daß damit die Kirche potentiell dem Bösen
geöffnet wurde, nämlich der Versuchung sich mit den irdischen
Königreichen zu messen und sich ihnen immer mehr anzugleichen. Ihr
Auftrag läuft Gefahr, ins Gegenteil verkehrt zu werden, sie soll den
Weg aus der Welt eröffnen, nicht tiefer in sie hineinführen. Die
Klarheit der Stadt Christi wurde zerfleischt, wie Joachim sagt, sei es
auch damals wegen der ungläubigen Völker nötig gewesen, daß die
Kirche auf zeitliche Weise verherrlicht werde.1 Es klingt wie eine
Antwort auf Otto von Freising: Mit Konstantin begann nicht die beste
Zeit der Kirche, mit ihm ging sie zu Ende. 2 Als der Papst die regalis
potestas in Empfang nahm, erhielt das Gottesvolk einen weltlichen
König. Mit dieser Erhöhung (exaltatio) der Kirche war die Klarheit
der Theokratie dahin.3
Es ist nicht schwer, die Tragik zu erfassen, die aus Joachims
Worten spricht. Insgesamt zeigt der Abt ein viel tieferes Verständnis
für die Problematik des päpstlichen Führungsanspruches als noch in
den Frühschriften. Inzwischen ist ihm die paradoxale
[[@Page:188]]Situation einer Kirche bewußt geworden, die die Welt
1
„[…] per augmentum eviscerata est claritas civitatis Christi etsi propter infi-
deles populos ita oportebat ad horam etiam temporaliter honorari ecclesiam.“
Int. cal. 1, De Leo 138,9-11. Hinter Joachims Überlegungen mag nicht zuletzt
der Vorwurf Bernhards von Clairvaux an Eugen III. gestanden haben, der Papst
sei eher Konstantin gefolgt als Petrus. De cons. IV,iii,6, Winkler I,746,20.
2
Wenn Joachim die positiven Aspekte der konstantinischen Zeit herausstellen
will, bevorzugt er bezeichenderweise den Ausdruck tempus sancti Siluestri.
Conc. IV,2, fol.43rb, Daniel 325,147. Aber auch dort spricht Joachim nicht
wirklich von einer glorreichen Zeit, höchstens von einem kurzen Frieden, der
schon mit Konstantins Sohn wieder zu Ende geht.
3
Im Grunde ist damit das Problem des vorkonstantinischen Papsttums immer
noch nicht gelöst. Es sieht in Joachims Schriften so aus, als habe die Kirche vor
Silvester I. zwar römische Bischöfe gehabt, doch seien diese nicht
hervorgetreten. Dies entspricht der Aussage, wonach die Kirche mit der
konstantinischen Schenkung in das Licht der Öffentlichkeit gehoben wird.
Zwar werden die vorkonstantinischen Päpste an einigen wenigen Stellen
erwähnt, doch über eine bloße Aufzählung geht das kaum hinaus. Vgl. Lib.
Fig., tav.IV und X; Conc. IV,2-3.
224 ABBILDUNGEN

verändern und sich zugleich von ihr fernhalten soll. Als unterdrückte
und verfolgte Gemeinschaft war die Kirche innerlich rein und brachte
reihenweise heilige Märtyrer hervor. Doch ihr Auftrag besteht nun
einmal darin, das Wachstum des Gottesreiches durch die
Verkündigung des Evangeliums zu befördern, daher mußte sie in die
Öffentlichkeit treten. Predigt und Seelsorge, das sind für Joachim
unausweichliche Notwendigkeiten, aber zugleich Anlaß zu
Verunreinigung, das heißt Verweltlichung. Doch es gibt keine Wahl.
Die Welt ist durch die Sünde verdorben und das Heilswerk, das
Christus begonnen hat, muß in der Kirche, seinem Leib fortgesetzt
werden. Alle Übel, die die Kirche treffen sind Mitvollzug der Passion
Christi und Sühne für den Sündenfall, dazu gehören nicht nur die
Verfolgungen, sondern auch die Notwendigkeit, in die Welt zu gehen,
Kämpfe auszufechten und Herrschaft auszuüben. Die konstantinische
Schenkung mußte angenommen werden, damit die Kirche ihren
Heilsauftrag wirkungsvoller ins Werk setzen konnte. Sie mußte
angenommen werden, zweifellos, aber in dem demütigen Bewußtsein,
daß es sich um die Bürde der Sühne handelt und nicht um ein
Verdienst. Eine theokratische Kirche, wie sie Joachim sich wünscht,
wäre nur dort möglich, wo alle Glieder des Christusleibes sich aus der
Welt zurückziehen könnten, im Jenseits – oder dort, wo alle
Gläubigen Mönche wären. Erst dann würde sich die theokratische
Spannung lösen, die Joachim ebenso verspürt wie einst die großen
Propheten Israels.
Doch davon ist die Kirche in der Zeit Konstantins weit entfernt.
Unter ihren Führern, die nunmehr mit der regalis potestas ausgestattet
sind, wird sie von den weltlichen Mächten nicht mehr nur unterdrückt
und gedemütigt, sondern knüpft mit ihnen bilaterale Beziehungen.
(Wie schon gesehen, entspricht diese Sichtweise den tatsächlichen
Entwicklungen ab der Mitte des 12. Jahrhunderts.) Den Anfang macht
Byzanz, das neue Ägypten. Salomo ging einst eine Verbindung mit
dem Pharao ein und nahm dessen Tochter zur Frau. 1 Jetzt verbündet
sich der Papst mit dem Kaiser, also dem Führer in den öffentlichen
Angelegenheiten (princeps rei publice), und erhält dafür dessen
Tochter, das mit Privilegien und Ehren ausgestattete Konstantinopel,
zum Weib.2 Dahinter verbirgt sich nichts anderes, als die
Überzeugung, der Kaiser habe das konstantinopolitanische Patriarchat
der Lehrhoheit der römischen Kirche unterstellt, eine Meinung, die
eher auf die Silvesterlegende zurückzuführen ist, als auf die
tatsächliche Religionspolitik Konstantins.3 Es wäre jedoch müßig, mit
dem heutigen historischen Wissen an Joachims stark schematischer
Geschichtsdarstellung Kritik zu üben. Viele seiner Deutungen würde
1
1 Kön 3,1.
2
Int. cal. 1, De Leo 136,4-7; vgl. Augustinus, [[De civ. Dei V,25 >>
Augustine:De civ. Dei 5.25]].
3
HbKg II/1, S.24.
225 ABBILDUNGEN

man bei anderen Chronisten und Theoretikern seiner Zeit


wiederfinden. Entscheidend ist letztlich, wie Joachim die Ereignisse
unter Zuhilfenahme seiner Konkordanzenlehre ordnet und in
eindeutiger Absicht auf die Gegenwart hin lenkt. Gerade seine
Vereinfachungen sind von einiger Aussagekraft.
Bevor das Volk Gottes in das gelobte Land ziehen durfte, wurde
es vor allen Bündnissen mit den weltlichen Mächten gewarnt, fast wie
einst Adam vor der verbotenen Frucht.1 Wie jede Verbindung
zwischen Juda und den orientalischen Reichen und [[@Page:189]]wie
jede Verbindung zwischen Kirche und Welt, barg daher auch das
Bündnis zwischen Kaiser Konstantin und dem Papst Silvester den
Keim von Unordnung;2 das wurde schon unter Kaiser Konstantius,
Konstantins Nachfolger im Ostreich, offenbar. Joachim schildert den
unheilvollen Prozeß, wie er sich in Konkordanz zum Alten Testament
entwickelt:
In der zwölften Generation des Alten Testamentes rebellierte
Jerobeam gegen Salomo und suchte dann beim Pharao Schischak
Zuflucht. Er wurde Hausgenosse des Ägypters und näherte sich auf
diese Weise seinem Ziel eines eigenen Königreiches. Ebenso begehrte
in der zwölften Generation der Kirche ein Teil der byzantinischen
Bischöfe unter dem arianischen Bischof Eusebius von Nikomedien
gegen die Beschlüsse des ökumenischen Konzils von Nikaia auf und
unterstellte sich dem Schutz des Konstantius. In der dreizehnten
Generation des Alten Testamentes zog Pharao Schischak gegen
Jerusalem, wie sich in der dreizehnten Generation der Kirche Kaiser
Valens gegen die rechtgläubige Kirche erhob. In Israel kam es zum
Abfall der zehn Nordstämme, die fortan ein eigenes nordisraelitisches
Königreich bildeten, in christlicher Zeit stärkte der häretische Kaiser
den Prinzipat der Ostkirche und förderte damit deren Entfernung von
der römischen Orthodoxie.3 Doch die Unordnung war nicht total, denn
erstens entzog Gott der Ostkirche seine Gnade nicht völlig, und
zweitens standen die Dinge in der lateinischen Kirche etwas besser.
Denn die westlichen Kaiser waren katholisch.
Was sich nun anschließt, ist eine Art Fürstenspiegel, der zeigt, wie
sich ein christlicher Kaiser zur Kirche zu stellen hat. Das Ganze
erinnert stark an das Bild des imperator felix, das Augustinus in De
civitate Dei zeichnet.4 Wie der Kirchenvater, so geht auch Joachim
von einem grundsätzlichen Unordnungszustand aus, in dem selbst die
beste Herrschaft nur relativ gut sein kann. Und wie Augustinus, so
scheint auch Joachim das idealisierte Verhältnis von Kaiser
Theodosius und Bischof Ambrosius vor Augen gehabt zu haben. Der
1
Dtn 7,2f; Ri 2,1f.
2
Vgl. Conc. IV,17, fol.53rb, Daniel 378,69-75.
3
Int. cal. 1, De Leo 136,7-17. Vgl. 1 Kön 11,26-40; 14,25; 2 Chr 12,9. Vgl.
Otto von Freising, Chron. IV,6.15.
4
[[De civ. Dei V,24 >> Augustine:De civ. Dei 5.24]]-26.
226 ABBILDUNGEN

gute Kaiser, so Joachim, streitet nicht in eigenem Interesse, sondern


als Bannerträger der Kirche. Der kirchliche Stand seinerseits ist
bemüht, Bluturteile zu verhindern1 und vermeidet es, selbst zum
weltlichen Schwert zu greifen.2 Die ideale Balance zwischen Kaiser
und Papst, wie sie in jener Zeit im Westreich geherrscht habe, sieht so
aus:
[…] wenngleich der römische Papst, der ja bei den Vätern dem
wahren König und dem wahren Priester nachgefolgt zu sein
schien, das höchste Königtum (summa regni) erhielt, so mußte
ihm dennoch eine Laienperson stellvertretend zur Seite stehen,
die nichtsdestoweniger König genannt wurde, und deren Hoheit
(claritas) darin bestand, das christliche Volk zu schützen,
Gericht zu halten sowie Dienstleistungen (ministeria) zu
erfüllen.3 [[@Page:190]]
In einer seltenen Ausnahme von seiner Konkordanzenlehre meint
Joachim, daß Herrscher, die jenem Bild entsprechen und nicht in die
kirchliche Lehrhoheit eingreifen, sogar „Könige Jerusalems im
Geiste“ genannt werden können. Wenn sie jedoch gegen die Kirche
agieren und sich gleich den heidnischen Cäsaren auf das fleischliche
Erbrecht stützen – die Spitze gegen den staufischen Erbreichsplan und
die Wiederentdeckung des Cäsarentitels ist nicht zu überhören –, sind
sie mit den ägyptischen Tyrannen auf die gleiche Stufe zu stellen.4
Herbert Grundmann glaubte nun, aus diesem einen Satz folgern zu
können, daß Joachim keine „kurialistische“ Haltung einnehme.5 An
1
Vgl. [[De civ. Dei V,26 >> Augustine:De civ. Dei 5.26]]; Otto von Freising,
Chron. IV,18.
2
Int. cal. 1, De Leo, 136,17-21.
3
Int. cal. 1, De Leo 136,21-25. Meine Übersetzung folgt der Lesart in
Grundmann 1977, S.372f., Anm.20 (claritatem statt claritate). Grundmann
verwies auch darauf, daß es statt misteria adimplenda wohl ministeria
adimplenda heißen muß. Die Wendung geht zurück auf Isidor von Sevilla und
wurde 829 bei der Synode von Paris bestätigt. Ullmann 1960, S.197.
4
„Sed notandum, quod illi principes reges Iherusalem merito in spiritu dici
possunt, qui imitantes regem humilem Christum dant per omnia honorem Deo
et vicarium omnipotentis Dei loco patris et domini venerantur, nichil contra
eorum votum circa doctrinam ecclesiasticam disponentes. Quo contra reges
Egypti et non Iherusalem erant dicendi, qui nequaquam dignitatem imperialem
a rege Christo et eius vicario, sicut Constantinus fecisse legitur, humiliter
cognoscebant, sed magis a Iulio Cesare et Octaviano augusto vendicare sibi
lege carnis et iure hereditario nitebantur, preferentes se Romano pontifici et
ecclesie Christi, imitantes regum illum Egypti, qui ascendit et subiecit sibi
urbem Iherusalem, asportatis tamen thesauris domus Dei et clippeis aureis,
quos fecerat Salomon et omnibus pretiosis rebus, que inveniri potuerunt in
Iherusalem.“ Int. cal. 1, De Leo 137,10-20. Dem entspricht es, daß Joachim
bisweilen die Zeit der „Ägypter“ nicht schon mit dem guten Kaiser Konstantin,
sonden erst mit Julian Apostata beginnen läßt. Etwa in Int. cal. 1, De Leo
138,25.
5
Grundmann 1977, S.373f. Grundmann argumentiert gegen entsprechende
227 ABBILDUNGEN

dieser Stelle aber ist seine Einschätzung wohl doch etwas zu


„protestantisch“ geraten. Denn wie es weiter heißt, ist der Ehrentitel
„König von Juda“ nur den Herrschern zu verleihen, die sich der
Römischen Kirche unterwerfen (qui Romane subiecti erant ecclesie
cum piis regibus Iuda similitudinem habent). Zuvor betont Joachim
bereits, die erste und höchste Würde der königlichen Gewalt sei vor
allem dem Klerus gegeben worden und nur sekundär den Laien
(prima et summa dignitas potestatis regie clero specialiter data est,
secundarie laicis), die Laien aber sollten so leben, daß sie den Klerus
nach Kräften nachahmen.1 Selbst König David habe seinerzeit höchste
Sorge getragen, die priesterliche Würde (sacerdotalis dignitas) zu
bewahren, daher habe er sie dem Priesterstamm der Leviten
unterstellt.2 [[@Page:191]]
Man kann sich ungefähr vorstellen, was ein Barbarossa und ein
Heinrich VI. darauf geantwortet hätten, hätte man ihnen gesagt, sie
seien nur dann legitime Herrscher, wenn sie sich ganz dem Willen der
Kirche unterwürfen, wenn sie nichts gegen den Wunsch der Päpste
(nichil contra eorum votum) unternähmen, und wenn sie den Papst als
Stellvertreter des Allmächtigen (vicarius omnipotentis Dei) verehrten.
Und das zu einem Zeitpunkt, als sich das Kaisertum für so heilig hielt,
daß es bisweilen schon meinte, auf kirchliche Weihen ganz verzichten
zu können. „Kurialistisch“ mag ein unglücklicher Begriff sein, aber es
wird doch sehr deutlich, wo Joachim steht. Hinsichtlich des
Verhältnisses zwischen Papst und Kaiser vertritt er exakt die
gregorianische Position, wonach „eine christliche Königsgewalt […]
so lange legitim ausgeübt werden [kann], als der König der Regierung
des Papstes zustimmt.“3 Der von Joachim verwendete Titel
Bemerkungen Johannes Chrysostomus Hucks in dessen Dissertation über
Ubertino da Casale, die mir nicht vorliegt. Seine Ansicht beruht nicht zuletzt
auf dem Mißverständnis des folgenden Satzes: „Quando enim clerus liber est et
humiliter optemperat regi suo [das Possessivpronomen ist entscheidend], tunc
bona est in omnibus libertas.“ Wenn aber vom König der Kleriker die Rede ist,
so ist damit der Priesterkönig Christus oder bestenfalls der Papst als sein
Stellvertreter gemeint, keinesfalls aber der weltliche Herrscher, wie
Grundmann meint (Ebd., S.376). Das wird aus dem Kontext mehr als deutlich.
1
Int. cal. 1, De Leo 136,30-32.
2
Int. cal. 1, De Leo 136,25-30. Joachim kennt noch eine mittlere Kategorie von
Herrschern, die byzantinischen Kaiser, die sich zwar dem votum der Kirche
unterstellen, aber dennoch nicht gegen die Eigenmächtigkeiten der Ostkirche
vorgehen. Sie entsprechen den Königen Samariens, die ihr Reich zwar aus
Gottes Hand erhielten, sich aber scheuten, in den Tempel Gottes zu gehen, der
sich im judäischen Jerusalem befand. Der Satz, den Joachim anschließt,
bekräftigt noch einmal seinen exegetischen Grundgedanken: „[…] quod quam
fuit contrarium voluntati divine satis ex ipso regum volumine, si quis in eo
provide perscrutetur, advertitur.“ Int. cal. 1, De Leo 137,23-29.
3
Ullmann 1960, S.414f. Joachim bestätigt das päpstliche Recht zur
Exkommunikation des Kaisers am Beispiel des sogenannten „Pravilegs“ vom
11. April 1111. Wenngleich ihn entgangen ist, daß es ausgerechnet in diesem
228 ABBILDUNGEN

„Stellvertreter des allmächtigen Gottes“ geht sogar weit über die


üblichen Ansprüche des Reformpapsttums hinaus. Joachims Blick für
die Probleme der römischen Kirche mag sich inzwischen geschärft
haben, sein politischer Standpunkt bleibt davon unberührt: Der
weltliche König erwirbt sich Auszeichnungen als Dienstleister des
päpstlichen Priesterkönigs, welcher die Gottheit auf Erden
repräsentiert.
Joachim fährt in seiner Deutung der Kirchengeschichte fort,
indem er zunächst Ottos Darstellung der translatio imperii akzeptiert.
Die Chronik des Bischofs von Freising stellt die jeweiligen
Entwicklungen im Osten und Westen gegenüber: Während Byzanz in
Dekadenz versank, bis schließlich mit Kaiserin Irene gar eine Frau den
Thron bestieg (nicht ohne zuvor den eigenen Sohn blenden zu lassen),
erlebte das Frankenreich unter Karl dem Großen einen grandiosen
Aufschwung. Als Karl schließlich den Papst aus einer mißlichen Lage
befreite und sich, ganz im Gegensatz zu den ikonoklastischen
Herrschern des Ostens, als Schutzherr der Kirche bewährt hatte, zog
der Papst die Konsequenzen und krönte unter den Akklamationsrufen
des römischen Volkes den Franken zum Kaiser.1 Otto schreibt:
Dadurch wurde die Regierung des römischen Reiches, deren
Sitz von Konstantin bis zu diesem Tage die Kaiserstadt, d.h.
Konstantinopel, gewesen war, auf die Franken übertragen. 2
In Joachims Logik, klingt das folgendermaßen: Die Geschichte Juda-
Israels war immer geprägt von den Beziehungen zu anderen Mächten,
das gleiche gilt für die Kirche. Ihre [[@Page:192]]Geschichte läßt sich
in drei große Zyklen fassen, aber nur im ersten war sie frei von
Beziehungen zu dieser Welt. Die christianitas, das christliche Volk
stand also lediglich in der ersten Phase unter der Herrschaft des
wahren Königs, in der zweiten herrschten die Kaiser des Ostens und in
der dritten die Kaiser des Westens. Joachim vermag die Geschichte
der Christenheit in einem Satz zusammenzufassen:
Das christliche Volk war in seinem ersten Fortgang (cursus)
Israel, im zweiten wurde es zu Ägypten gemacht und im dritten,
was noch schlechter ist, zu Babylon.3
Aber erst die Ausgestaltung dieses Rahmens mit Hilfe der
Konkordanzenlehre läßt Joachims Absicht zur Gänze hervortreten:4 In
Fall nicht der Papst war, der den Bann verhängte, sondern eine Synode unter
Guido von Vienne. Conc. IV,17, fol.53va, Daniel 379,102-380,108; vgl. Conc
IV,21, fol.53rb, Daniel 384. Vgl. Jordan 1999, S.69f.
1
Chron. V,26-31. In Lib. Fig., tav.I heißt es dazu: „In hoc tempore Constanti-
nopolitani amiserunt Romam et Italiam et datum est imperium Francis.“ Vgl.
Conc. IIIb,4, fol.40rb-va, Daniel 296,4-7.
2
Chron. V,31, Schmidt/Lammers 421,20-23.
3
Int. cal. 1, De Leo 138,28-30.
4
„Tempus itaque spiritalis Israel a Christo usque ad Iulianum; tempus Egypto-
229 ABBILDUNGEN

alttestamentlicher Zeit verbündet sich Salomo mit Ägypten. Am


Anfang sind die Beziehungen freundschaftlich, doch als in Hiskijas
Zeiten Assur gegen Juda zieht, muß sich der judäische König von den
Gesandten des assyrischen Herrschers Sanherib folgendes anhören:
Du vertraust gewiß auf Ägypten, dieses geknickte Schilfrohr,
das jeden, der sich darauf stützt, in die Hand sticht und sie
durchbohrt. Denn so macht es der Pharao, der König von
Ägypten, mit allen, die ihm vertrauen.1
In christlicher Zeit beginnt die Beziehung zu Byzanz, also Neu-
Ägypten, mit der glanzvollen Zeit Konstantins des Großen, endet aber
in der Feindschaft zu den ikonoklastischen Kaisern, die – wie schon
aus De prophetia ignota bekannt – die Kirche nicht gegen die
Sarazenengefahr zu verteidigen wissen. [[@Page:193]]
Hiskija knüpft neue Freundschaften mit Babylon, die aber
langfristig in die Katastrophe der babylonischen Gefangenschaft
führen. In der Kirchenzeit beruft Papst Leo III. Karl den Großen zum
neuen Schutzherrn der Kirche, nachdem sich die Franken bereits unter
Karl Martell und Pippin bewährt haben.2 (Joachim beweist großes

rum a Iuliano usque ad Carolum, cuius generatio vicesima quarta respicit Eze-
chiam; tempus Babilonensium et Chaldeorum ex eodem tempore usque ad pre-
sens. […] Fuit in primo cursu ecclesie christianus populus Israel, in secundo
factus est Egyptus, in tertio quod deterius factus est Babilon. Rex itaque Babi-
lonis, qui misit munera ad Ezechiam, illos devotos principes respicit, qui satis
benigne et humane Romanam tractaverunt ecclesiam. Fecerunt quippe hoc
reges Francorum, quibus datum es Romanum imperium, eo scilicet tempore,
quo verti iam ceperat in Babilonem, unde et reges Babilonis in spiritu dicti sunt.
Quod autem sub vicesima quarta generatione Israel satis se devotum et humi-
lem exhibuit rex Babilonis regi Iude, humilitatem principum Francorum perno-
tat, qua licet data sibi esset potestas in Urbe, devotos se tamen a principio exhi-
buerunt circa sanctam ecclesiam, etsi iam ut dixi, christianus populus, qui ali-
quando erat Israel, in Babilonesium confusionem deveniret, propter quod et
reges ipsi ultimi principes Babilonis dicendi erant, non mutatione loci, sed
conversionis distantia. Quod autem post regem illum Babilonis, qui misit litte-
ras et munera ad Ezechiam regem Iuda, surrexerunt tandem alii circa finem re-
gni Iuda, qui coegerunt reges Iuda transmigrare in Babilonem, illos prorsus de-
signat Romanos principes, qui vice Chaldeorum successerunt Gallis, per quos
libertas ecclesie iam pene ad nichilum redacta est […].“ Int. cal. 1, De Leo
138,24-139,12. Vgl. Exp. Intr., fol.7vb: „Ut ergo in quinto tempore reges egypti
et babilonis qui aliquando videbantur fuisse amici regum iuda deterius pre cete-
ris gentibus afflixerunt eos, ita in tempore ecclesie quinto et maxime a diebus
henrici primi, imperatoris alamannorum mundani principes qui christiani dicun-
tur et qui primo videbantur venerari clerum, deterius pre gentibus que ignorant
deum auferre quesierunt libertatem ecclesie et quantum ad eos pertinet abstu-
lisse noscuntur.“
1
2 Kön 18,21. Joachim zitiert die Stelle nicht, hat aber sicher an sie gedacht
und konnte sie bei einem bibelkundigen Publikum voraussetzen.
2
Vgl. Conc. IV,4, fol.45vb, Daniel 333,44-47; Conc. IV,16, fol.50va-vb, Daniel
368,75-369,78.
230 ABBILDUNGEN

Gespür für die Feinheiten der politischen Symbolik, in der sich das
Verhältnis von Papst und Kaiser ausdrückt, wenn er Karl zwar den
weltlichen Rang des princeps Gallie und den Beamtentitel des
patricius Romanorum zubilligt, der die Verpflichtung zum Schutz der
römischen Kirche beinhaltet, von Salbung und Kaiserkrönung aber
schweigt.1) Doch auf die Karolinger und Ottonen, die die Kirche gütig
und menschlich (benigne et humane) behandeln,2 folgen die
schlechten „chaldäischen“ Dynastien der Salier und Staufer, die die
Freiheit der Kirche fast auf ein Nichts herabgesetzt haben (pene ad
nichilum redacta). Damit ist Joachim in der Gegenwart angekommen
und seine Intention wird allmählich offenbar.
Die Freundschaft mit Neu-Babylon wendet sich in die
Katastrophe und der Höhepunkt ist nunmehr erreicht. Als Joachim den
Brief an Gottfried von Auxerre schrieb, waren die wichtigen
Entscheidungen scheinbar schon gefallen. Die schriftliche Fassung der
Intelligentia super calathis sollte ganz offensichtlich im Rückblick
klären, ob das Vorgehen der Kurie richtig war. Die Antwort ergibt
sich aus dem Prinzip der Konkordanz: Die Kirche sollte sich so
verhalten, wie Gott wollte, daß sich Israel gegenüber den Chaldäern
unter Nebukadnezzar verhält. Damals aber gab es zwei Parteien, jene,
die sich gemeinsam mit dem König Jojachin den Chaldäern
auslieferten und nach Babylon verschleppt wurden,3 sowie jene, die
unter Zidkija, dem von Nebukadnezzar eingesetzten König,
zurückblieben und später gegen die Chaldäer rebellierten.4 Gott ließ
durch seinen Propheten Jeremia erklären, welches die bessere Wahl
war:5
Der Herr ließ mich schauen: Da standen zwei Körbe mit Feigen
vor dem Tempel. […] In dem einen Korb waren sehr gute
1
Int. cal. I, De Leo 138,15f. Über den patricius Romanorum: Ullmann 1960,
S.98ff. Der Titel wurde zwar schon an Pippin verliehen, aber auch Otto von
Freising erwähnt ihn zum ersten Mal bei Karl. Chron. V,28, Schmidt/Lammers
418,18f. Pippin weigerte sich bezeichnenderweise, den Titel anzunehmen,
vielleicht weil er wußte, mit welchen Verpflichtungen er verbunden war und
wie wenig er der fränkischen Herrscheridee entsprach. Ullmann 1960, S.111,
Anm. 105.
2
Vgl. Conc. IV,16, fol.50va, Daniel 368,66-69.
3
1 Kön 24,10-16.
4
1 Kön 24,17-25,1.
5
Ob die Judäer damals tatsächlich die Wahl hatten, ist natürlich zweifelhaft. Es
sieht so aus, als hätten die Chaldäer gezielt die Führungsschicht, die
Wehrfähigen und die Metallhandwerker verschleppt. Vgl. 2 Kön 24,14; Jer
24,1. Entscheidend ist hier nur, daß Joachim mit Hinblick auf die Gegenwart
eine solche Wahlmöglichkeit gegeben sah. „Laudatur ergo, qui sic transmigrat,
qui sic pro peccatis in confusionem adduci permittit, non quidem absolute
tamquam iustus, sed tamquam qui e duobus eligit illud, quod facilius curari
possit et cui potius presto sit miseratio Domini […].“ Int. cal. 2, De Leo
144,19-23.
231 ABBILDUNGEN

Feigen, wie Frühfeigen, im anderen Korb sehr schlechte Feigen,


so schlecht daß sie ungenießbar waren. […] Nun erging an mich
das Wort des Herrn: So spricht der Herr, der Gott Israels: Wie
auf diese guten Feigen, so schaue liebevoll auf die
Verschleppten aus Juda, die ich [[@Page:194]]von diesem Ort
vertrieben habe ins Land der Chaldäer. Ich richte meine Augen
liebevoll auf sie und lasse sie in dieses Land heimkehren. Ich
will sie aufbauen, nicht niederreißen, einpflanzen, nicht
ausreißen. Ich gebe ihnen ein Herz, damit sie erkennen, daß ich
der Herr bin. Sie werden mein Volk sein, und ich werde ihr
Gott sein; denn sie werden mit ganzem Herzen umkehren. Aber
wie mit den schlechten Feigen, die so schlecht sind, daß sie
ungenießbar sind, […] so verfahre ich mit Zidkija, dem König
von Juda, mit seinen Großen und dem Rest Jerusalems, mit
denen, die sich in Ägypten niedergelassen haben. Ich mache sie
zu einem Bild des Schreckens für alle Reiche der Erde, zum
Schimpf und Gespött, zum Hohn und zum Fluch an allen Orten,
an die ich sie verstoße. Ich sende unter sie Schwert, Hunger und
Pest, bis sie ganz ausgerottet sind aus dem Land, das ich ihnen
und ihren Vätern gegeben habe.
Es ist völlig klar, was Joachim im Typus Jeremias sagen will, wenn er
die Vision seines „Vorgängers“ auf die Gegenwart hin aktualisiert.
Die Kurie sollte sich verhalten wie die Partei Jojachins, also sich dem
neuen Nebukadnezzar, Heinrich VI., unterwerfen. Dies scheint der
rigorosen Haltung zu widersprechen, die Joachim zu Barbarossas
Zeiten in De prophetia ignota einnahm, denn diesmal plädiert er
offensichtlich für die Krönung. Aber schon damals hielt er die
babylonische Gefangenschaft der Kirche für letzthin unausweichlich.
Nun, da sie eingetreten ist oder im Begriff ist einzutreten, ist sie
demütig hinzunehmen und kein stolzer Widerstand zu leisten.1 Denn
wie die babylonische Gefangenschaft Israels der Reue diente, so ist
auch die Verfolgung durch die Neu-Chaldäer die Strafe für den
sündigen Hochmut der Kirche.
Inspiriert vom Gedankengut der alttestamentlichen Prophetie führt
Joachim den gregorianischen libertas-Gedankens weiter und
formuliert eine Typologie von Freiheit und der Knechtschaft sowie
zugleich einen eigentümlichen Beitrag zur mittelalterlichen
Diskussion um das Widerstandsrecht: Die bestmögliche Situation der
Kirche ist die demütige Freiheit (libertas humilis), die in der Frühzeit
der Kirche herrschte, aber unter den gegenwärtigen Umständen
ausgeschlossen ist. Die zweitbeste Möglichkeit ist eine demütige
Knechtschaft (servitus humilis), wie sie Jojachin erduldete und wie sie
jetzt geboten ist. Sie ist besser als die hochmütige Freiheit (libertas
superba/elata) eines Zidkija, dessen Widerstand sich schließlich in die
1
„Qui superbit cadit et confitetur similis est Iechonie. Qui superbit nec
cognoscit superbiam stare nititur, similis Sedechie.“ Int. cal. 1, De Leo 141,20-
22.
232 ABBILDUNGEN

schlechteste aller Möglichkeiten wandelte, die hochmütige


Knechtschaft (servitus superba).1 Das entspricht exakt der Logik jener
kollek[[@Page:195]]tivistischen Gnadenlehre, die Joachim schon in
De prophetia ignota vertreten hat, und die durch die gesamte
Intelligentia hindurch mit ständig neuen Bibelzitaten erläutert wird.
Im Grunde greift er die prophetische Beschreibung der Beziehung
zwischen Gott und Gottesvolk auf und reformuliert sie in paulinisch-
augustinischen Begriffen: Der Herr erniedrigt sein Volk, wenn es
hochmütig aufbegehrt und er schenkt ihm seine Gnade, wenn es in
Schande darniederliegend die kollektive Metanoia vollzieht.2
Gleichwohl wird die Demütigung der Kirche in den
heilsgeschichtlichen Prozeß einbezogen, der mit der
Selbsterniedrigung des Gottessohns beginnt und von den Gliedern
seines Leibes fortgesetzt wird.

*
1
„Sed que utilitas in libertate ista, in qua non est salus? Quocirca si utilitatem
intuemur, duo genera libertatis sunt et totidem genera servitutis. Est enim
bona libertas designata in mansione Ezechie et mala libertas in pertinatia
Sedechie. Es enim bona servitus designata in captione Iechonie, et mala item
servitus designata in captione Sedechie. Quando enim clerus liber est et humili-
ter optemperat regi suo, tunc bona est in omnibus libertas. Cum vero de liber-
tate sua in sublime erigitur et pro superbia traditur hosti nec rennuit, agnoscens
se pro culpa sua evacuatum iuribus nec posse resistere inimicis, tunc quidem de
libertate superba ad humilem servitutem perducitur, ut humiliatus et confusus
salutarem medicinam accipiat, sicut hii qui cum Iechonia in Babilonis provin-
ciam ducti sunt.“ Int cal. 2, De Leo 147,2-12. Vgl. Grundmann 1977, S.375ff.
Gottfried von Auxerre scheint genau diese Sicht der Dinge bezweifelt zu haben:
„Opponat aliquis et dicat: ‚Et si ita est, quare tradit Dominus servum suum in
manu hostis, ut tradatur in Babilonem?‘ Sed dicat mihi, quicunque est ille,
quare permisit hominem temptari, quem sciebat prostrandum et ducendum
revera in Babilonem? et ego illi satisfaciam super questione ista, ostendens
meliorem esse servitutem humilem libertate superba: superba, inquam
meliorem, non humili, elata, non prostrata potenti.“ Int. cal. 1, De Leo 139,27-
32. Offenbar hat er sich auch geweigert, die gegenwärtige Misere auf die
Sündhaftigkeit der Kirche zurückzuführen und plädierte wohl eher dafür, daß
die Kurie sich zu wehren habe: „Alioquin si iccirco non putatur esse culpa
transmigrari in Babilonem, quia id consulere videbatur, videat qui hoc putat
penam fuisse peccati transmigrationem illam, a qua tamen velle eripi et corrigi
nolle, contumatie esse vitium non virtutem […].“ Int. cal. 1, De Leo 140,21-24.
2
Der Kollektivismus äußert sich am deutlichsten, wo Joachim die Kirche als
„hochmütige Jungfrau“ personifiziert: „Lugeat ergo superba virgo si corrupta
ducetur in Babilonem, sed sciat se omnino stare non posse nisi humilietur et
diligat, quia iusto iudicio ducetur vel invita in Babilonem, sicut Sedechias rex
Iuda, tantumque distare inter superbam virginem ex peccato conversam et quasi
in Babilonem iam positam, quantum inter ficus malas et ficus bonas, quia illa
manet in alto ut corruat, ista manet in imo et elevari iam cepit. Illi enim dicitur
id quod audivimus de ista non sic, sed gaudium e(rit) in c(elo) s(uper) u(no)
p(eccatore) p(enitentiam) a(gente).“ Int. cal. 1, De Leo 140,2-9; Lk 15,7.
233 ABBILDUNGEN

Der zweite Teil der Intelligentia blickt auf die jüngsten Ereignisse
zurück: Als die Weihe Papst Cölestins III. endlich vollzogen war,
krönte er am Ostersonntag 1191 Heinrich VI. zum Kaiser.1 Der Preis
der Einigung war hoch: Um die Stadtrömer zufriedenzustellen, hatten
sich Papst und Kaiser darauf verständigt, ihnen die altehrwürdige
Stadt Tusculum zu überlassen, gegen die die Bürger Roms schon
lange tiefen Haß hegten. Tusculum wurde in einem Gewaltrausch
zerstört, die Einwohner niedergemacht oder vertrieben. Heinrich zog
gegen den Willen des Papstes weiter nach Süden, konnte aber Neapel,
wo sich die wichtigsten Anhänger seines normannischen Widersachers
Tankred von Lecce verschanzt hatten, nicht einnehmen. Stattdessen
richtete er all seine Kraft darauf, die Umgebung zu verwüsten. Erst als
im deutschen Heer die Malaria ausbrach und es gewaltig dezimierte,
kehrte der Kaiser um und ließ weit und breit nichts als verbrannte
Erde zurück.
Der Schrecken war groß über das Ausmaß der Katastrophen, die
unmittelbar auf die Kaiserkrönung gefolgt waren und die man mit ihr
im Zusammenhang sah. Für die Entscheidung der Kurie aber machte
man Joachim von Fiore verantwortlich – zumindest tat dies Gottfried
von Auxerre. Er selbst war wahrscheinlich wie die Minorität der
Kardinäle der Meinung, man hätte dem Staufer die Krone verweigern
und im Ernstfall [[@Page:196]]mit Waffengewalt gegen ihn vorgehen
sollen.2 An Gottfried richtet Joachim eine große Rechtfertigungsrede,
die schon bald in ein Credo seiner kirchenpolitischen Ansichten
abbiegt und in mahnenden Worten an den Gegner endet:
Es ist keineswegs absolut erlaubt, sich jeder beliebigen Gewalt
des Königs von Babylon auszuliefern, sondern nur wenn die
Sünden es verdienen und es keine angemessene Rechtfertigung
gibt; etwas anderes ist gar nicht erlaubt, wenngleich auch dies
nicht ohne Schaden möglich sein konnte – auf daß nicht noch
Schlimmeres geschehe. Man liest nämlich, daß Jeremia diesen
Rat nur in der äußersten Notlage gegeben habe, die wir nun auf
ähnliche Weise in der Kirche eingetreten sehen. Forscht
sorgfältig im Buch des Herrn und fragt die Herren Kardinäle, ob
sie etwa meinen, den Fürsten der Welt sei vom römischen Stuhl
1
Zum folgenden: Csendes 1993, S.91ff.
2
Vgl. Zerbi 1980, S.93; Grundmann 1977, S.384, 388f. Entgegen Herbert
Grundmann (ebd., S.393) möchte ich annehmen, daß die Schrift nicht während
jener Ereignisse verfaßt wurde, sondern nachher. Es sieht so aus, als ginge es
um die Rechtfertigung einer bereits gefallenen Entscheidung, die Joachim
billigte und die dem von ihm mündlich gegebenen Rat zu entsprechen schien.
Dieser in Form der Jeremiaexegese gegebene Rat war es ja offensichtlich, über
den soviel diskutiert wurde, und den Joachim meinte richtigstellen zu müssen.
Das geht aus dem im Anschluß wiedergegebenen Zitat hervor, wo er davon
spricht, daß es schlimmer hätte kommen können, wenn man sich anders
entschieden hätte und keine Zugeständnisse gemacht hätte.
234 ABBILDUNGEN

etwas gegen die Freiheit der Kirche zugestanden worden oder


müsse ihnen zugestanden werden.1 Wenn wir auch gerne sehen
würden, daß vieles, was wegen des Zwangs der großen Not
zugestanden wurde, nicht zugestanden worden wäre, mögen wir
darüber Schmerz empfinden, seufzen und schweigen. Ich kann
nicht sagen, daß das kein Übel ist, aus dem so viele und so
zahllose neue Übel hervorgehen, aber wenn es vielleicht nicht
dieses Übel gegeben hätte, dann hätte noch Schlimmeres
geschehen können.

Wer nämlich hätte glauben können, daß das römische Heer


unterliegt, wenn es gegen den Feind der Kirche kämpfte, sowie
in den Tagen des Papstes Leo oder in der Zeit von Innozenz? 2
Aber wer sein Vertrauen eher in geistliche als in materielle
Waffen setzt und die Siege eher vom Himmel als von der Erde
erwartet, der kann sich über solche Fälle nicht wundern. Wenn
die Kirche so lebte, daß sie keinerlei derartigen
Notwendigkeiten unterworfen wäre: dies jedenfalls wäre das
absolut Gute, dies wäre des Beifalls wert. Wenn sie aber wegen
der Sünden ihrer Kinder an einen solchen Punkt gelangt, wo der
Zugang zur Freiheit nicht ohne große Gefahr offensteht, dann
muß man dazu raten, eher auf Gott zu vertrauen als ihm
Widerstand zu leisten. […]

Warum bis ans Ende kämpfen für die irdische Substanz? Ja


nicht einmal für diese [[@Page:197]]Substanz, sondern für
Babylon? Der kirchliche Stand ist nämlich zu keinem anderen
Zwecke eingerichtet, als daß er jenes Volk hüte und unterweise,
das sich das christliche nennt, das aber nicht mehr christlich ist,
weil es sich vom Land Israels nach Ägypten gewandt hat und
von Ägypten nach Babylon, so daß fast keine Heiligkeit 3 mehr
bleibt. Warum sollte man also für Babylon die Freiheit des
Gottesdienstes verteidigen, die Babylon selbst bekämpft, etwa
damit die erniedrigte und verstörte Kirche selbst wie eine
Herrin in die Höhe gehoben wird? Was kannst du denn anderes
tun, wenn du dich nicht zur Wehr setzen kannst?

1
Wenn Joachim Gottfried empfiehlt, die „Herren Kardinäle“ zu fragen, dann
nicht – wie vermutet wurde –, weil er auf dessen gute Kontakte zur Kurie
anspielen will, sondern weil Joachim mit der Mehrheit der Kardinäle einer
Meinung ist und weil sie in seinem Sinne entschieden haben. Vgl. Potestà, Gian
Luca: „Ger 24 nell’interpretazione di Gioacchino da Fiore“, in: Giuseppe
Ruggieri: La cattura della fine. Variazioni dell’escatologia in regime di
cristianità. Genua: Marietti, 1992, S.63-88, S.83, Anm.57.
2
Gemeint sind die Niederlagen, die Papst Leo IX. und Papst Innozenz II. gegen
die Normannen erlitten. Grundmann 1977, S.380f.
3
De Leos Edition hat sanitas. Grundmann meint, es müßte eher sanctitas
heißen. Grundmann 1977, S.383, Anm.38. Der Gesamtzusammenhang wird
aber in jedem Fall verständlich.
235 ABBILDUNGEN

Wenn du aber nun nach einem Andrang des Fleisches befohlen


hast, zum Schwert zu greifen, fürchte dich nicht, aber korrigiere
dich schnell und ahme deinen Herrn nach, der befiehlt und
korrigiert, (denn er selbst schien beispielshalber etwas befohlen
zu haben, damit er es korrigiere). So spricht nun also auch die
Wahrheit in den Schriften zur Kirche Petri, was sie selbst dem
Apostel Petrus mitteilt: „Stecke dein Schwert wieder in die
Scheide.“1
Ob Joachims Einfluß auf die Kurie wirklich so groß war, wie
Gottfried meinte, läßt sich kaum feststellen, denkbar ist es jedenfalls.
Im Nachhinein muß man sagen, daß Joachim den besseren Rat
gegeben hat als Gottfried – zumindest wenn man Blutvergießen
vermeiden wollte. Der Abt war kein gedankenloser Fanatiker, er
wußte die realen Machtverhältnisse sehr gut einzuschätzen. Als man
Heinrich in Verona – vielleicht auch auf Joachims Rat hin – die Krone
verweigert hatte, überfiel er auf brutalste Weise das Trierer Erzstift.
Diesmal wären die Konsequenzen schlimmer gewesen, wie des
Kaisers rücksichtsloses Vorgehen bei der Belagerung von Neapel
bewies.
Von großem Interesse ist der Blick auf das Verhältnis von Kirche
und Christenheit, den Joachims Rede eröffnet. Grundsätzlich wäre es
die Aufgabe der Kirche, das christliche Volk zu betreuen, aber
nachdem sich das Volk nach Babylon gewandt hat,2 ist diese Pflicht
entfallen. Der überwiegende Teil derer, die sich Christen nennen, ist
nicht im himmlischen Jerusalem beheimatet.3 Die Schafe stehen gegen
die Hirten. Erst das gregorianische Kirchenverständnis, das den
Klerikerstand vom christlichen Volk geschieden hatte, ermöglichte
eine solche Diagnose. Doch in dieser Situation kann ein Gregorianer
das Reformprogramm nur als gescheitert begreifen. Schuld an diesem
Scheitern, daran läßt Joachim niemals einen Zweifel, war immer der
von beiden großen Lastern (superbia und luxuria) befallene Klerus,4
der sich auch diese Katastrophe selbst zuzuschrei[[@Page:198]]ben
hat. Jetzt aber bleibt den wahren Dienern Gottes nur noch übrig, sich als
heiliger Rest auf sich selbst zu besinnen. Wiederum bedient sich
Joachim der Worte Jeremias:
1
Int. cal. 2, De Leo 142,29-143,16; 143,23-144,2; Mt 26,52; Lk 22,36; Joh
18,11. Die Mahnung hat große Ähnlichkeit mit jener, die Bernhard von
Clairvaux unter Verwendung desselben Bibelzitats an Papst Eugen III.
ausgesprochen hat. De cons. IV,iii,7, Winkler I,748,5-8.
2
Vgl. Vita Ben. 28, Baraut 60,7f. Joachim definiert dort Neu-Babylon als
populus christianus versus in Babilonem.
3
„Sed heu que aliquando erat plena, modo uacua est, quia, etsi plena uidetur
esse populo etiam nunc, non tamen suo populo sed alieno, non filiis suis qui
sint ciues celestis Ierusalem sed filiis Babylonis. An quia omnes dicuntur chris-
tiani? Quid enim prodest nomen, ubi non est effectus?“ Conc. IV,25, fol.54 ra,
Daniel 390,6-9.
4
Int. cal. 1, De Leo 142,3-19.
236 ABBILDUNGEN

Wir wollten Babylon die Heilung bringen, es war aber nicht


mehr zu heilen. Verlaßt es! Gehen wir, jeder in sein Land! Denn
sein Gericht reicht bis zum Himmel hinauf, ragt bis zu den
Wolken empor.1
Aber auch in anderer Beziehung werden die ekklesiologischen
Konturen schärfer: Joachim beschreibt die Gegenwart nicht nur als
babylonische Gefangenschaft, sondern zieht eine zweite Analogie zur
Gefangennahme Jesu im Garten Getsemani: Jesus entgegnete dem
kampfbereiten Petrus, der Himmel könne jederzeit mehr als zwölf
Engelslegionen zu seinem Schutz aufbieten, aber die Schrift müsse
erfüllt werden.2 Den Evangelien zufolge meinte Jesus damit, daß keine
Macht des Himmels seine Kreuzigung verhindern durfte, weil sein
Heilswerk zu Ende gebracht werden mußte. Nach Joachim heißt das,
daß die Kirche sich nicht verteidigen darf, sondern sich in ihr
Schicksal fügen muß, will sie nicht die Erlösung verhindern. Hier
wiederholt sich ein Gedanke, der schon mehrfach angedeutet wurde
und bereits in De prophetia ignota begegnete: Die Kirche wiederholt
die Passion Christi und wird ans Kreuz geschlagen. 3 Wenn sie gleich
Jojachins Schar die Leiden der Gefangenschaft erträgt, wird in ihren
rechtschaffenen Gliedern das Blut Christi aufbereitet (conficitur
sanguis Christi).4 Im Grunde ist die Geschichte der Kirche ein
Nachvollzug des Lebens Jesu Christi; die Wesensverwandtschaft
zwischen Haupt und Leib manifestiert sich in der Folge der
Heilswerke.
Doch diesmal führt Joachim den Gedanken zu Ende. Wenn die
Kirche wie Christus geboren wird, leidet und stirbt, dann wird sie
auch wieder auferstehen. Sie wird aus Babylon ausziehen wie einst
Israel unter Serubbabel. Sie wird nach Jerusalem zurückkehren und
den Tempel wiedererrichten. Joachim versteht wie Jeremia die
babylonische Gefangenschaft als Katharsis. Die Kirche wird von
allem Weltlichen gereinigt werden und als geistliche Kirche aus der
Gefangenschaft hervorgehen. Babylon wird dann sein gerechtes Ende
gefunden haben. Wie bei den alten Propheten wechselt Joachims Rede
zwischen Gerichtsandrohung und Heilsverheißung. Und wie bei
Jeremia, so endet auch bei Joachim die Geschichte des Gottesvolkes
mit der Erhöhung Jerusalems. Allein dieser Ausblick auf die
gottgewirkte Wiederherstellung der Ordnung kann der Kirche ihre
gegenwärtige Ohnmacht erträglich machen kann:
1
Int. cal. 2, De Leo 144,11-13; Jer 51,9.
2
Int. cal. 2, De Leo 144,4f.; Mt 26,53f. parr.
3
„[…] ecclesie de libertate superbienti expedit magis humiliari cum Christo et
iudiciari in conspectu Pilati, licet alias non expediat, quia profecto dum domi-
natur carnalis homo, spiritalis vehementer affligitur et multa patiatur necesse
est, que sine gravi offensione sustineri non possunt.“ Int. cal. 2, De Leo 146,18-
22.
4
Int. cal. 1, De Leo 141,23.
237 ABBILDUNGEN

Dies wird geschehen, es wird geschehen, und es wird bald


geschehen, weil die Zeit seines Erbarmens kommt. Viele aber
werden aus Babylon hinaufsteigen, um neue Gebäude zu
errichten, während sie die Stimme hören, die bei Johannes
spricht: „Verlaß die Stadt [Babylon], mein Volk, damit du nicht
mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen
mitgetroffen wirst. Denn ihre Sünden ha[[@Page:199]]ben sich
bis zum Himmel aufgetürmt, und Gott hat ihre Schandtaten
nicht vergessen.“1
Es ist kein Zufall, daß Joachim eine Stelle aus der Offenbarung zitiert,
in der Johannes von Patmos wiederum auf Jeremia anspielt. Wie einst
bei den Apokalyptikern hat die Erfahrung des Verlusts an
Gestaltungsmacht und des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an die
widergöttlichen Kräfte einen unüberbrückbaren Widerspruch zu dem
Bewußtsein geschaffen, dem auserwählten Volk Gottes anzugehören.
Der apokalyptische Ausweg, die Hoffnung auf das Gericht und die
anschließende Totalumkehr der Ordnung, hat an Attraktivität nicht
verloren. Doch der metastatische Glaube wird angereichert durch den
Rückgriff auf ältere biblische Traditionen, durch den prophetischen
Ausblick auf den verklärten Zion. So eröffnet sich die Perspektive auf
eine diesseitige Heilszeit, auf eine gereinigte Kirche, die wieder in
demütiger Freiheit leben wird wie einst die frühe Kirche vor
Konstantin. Nur wird diese Freiheit noch viel größer sein, denn dann
werden auch die Verfolgungen ein Ende haben. Die Laien werden in
Scharen zurückkehren und die Kirchenreform, die sich gegen das
staufisch geführte Babylon nicht behaupten konnte, wird ihr Ziel am
Ende doch noch erreichen. Ein engelsgleicher Papst wird das
Stellvertretertum Christi zu ungekannten Höhen führen. So schließt
sich der zweite große Zyklus des Gottesvolkes, die Geschichte der
Kirche Christi, mit der Erfüllung der theokratischen Visionen, die
bereits an Israel verkündet worden waren, vom alten Gottesvolk aber
nicht eingelöst werden konnten. Im Liber Concordiae schreibt
Joachim:
Der Nachfolger Petri, der in jener Zeit der allergläubigste
Stellvertreter (fidelissimus vicarius) Jesu Christi sein wird, wird
in die Höhe gehoben werden, damit sich erfülle, was beim
Propheten Jesaja geschrieben steht: „Am Ende der Tage wird es
geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest
gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu
ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den
Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn
und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf
seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die
Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Man zieht nicht
mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den
1
Int. cal. 2, De Leo 143,18-23; Offb 18,4; vgl. Jer 51,9.
238 ABBILDUNGEN

Krieg.“1

Wenn man dem anonymen Biographen Joachims glauben darf, sind


sich der Abt und der Kaiser in dieser Zeit auch persönlich begegnet. 2
Als Heinrich darüber erzürnt war, daß er Neapel nicht einnehmen
konnte, große Blutbäder anrichtete und die Gegend
[[@Page:200]]entvölkerte, suchte ihn Joachim von Fiore auf. Er
tadelte ihn wegen der Greuel, die er gegen Volk und Kirche verübt
hatte und prophezeite ihm, daß der Kaiser und sein Heer dauerhaft
erfolglos bleiben würden, sollten sie nicht unverzüglich zu Verstande
kommen und abziehen. Zum Kaiser, bei dem er den nötigen Sinn und
das nötige Wissen erkannte, um seine Ausführungen zu verstehen, 3
sprach er diesmal im Typus des großen exilischen Propheten Ezechiel:
Wenn sich Heinrichs Heer, das für seine Freveltaten mit Krankheit
geschlagen worden sei, jetzt zurückziehe, dann würde ihm bei einer
späteren Wiederkehr das sizilianische Normannenreich ohne Krieg in
die Hand gegeben.4 Denn daß es sich bei Heinrich VI. um den neuen
Nebukadnezzar handelte, war bereits klar. Sizilien und sein Vorposten
Neapel konnten dann nichts anderes sein als die Entsprechung des
alttestamentlichen Tyrus, das von den babylonischen Truppen
angegriffen wurde. Auch Nebukadnezzar war zunächst erfolglos
geblieben,5 doch schließlich mußte sich die Prophezeiung erfüllen, die
bis in die geographischen Details hinein ebensogut auf die

1
Conc. V,92, fol.122va; Jes 2,2-4; vgl. Mi 4,1-3. Vgl. Ench., Burger 39,984-
999.
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 350-352. Wenn Joachim von Gottfried und
vielleicht auch von anderen Zeitgenossen für die Untaten Heinrichs
mitverantwortlich gemacht wurde, dann kann man den Passus ebensogut als
Apologie lesen – was aber noch nichts über den historischen Gehalt des Textes
sagen würde. Heinrichs jüngster Biograph hält den Bericht für glaubhaft.
Csendes 1993, S.102, 151.
3
Wenn die Vita berichtet, Joachim habe gesprochen ad hominem, quem sensum
et scientiam vidit intellegere propositionum, conversus, dann ist damit nicht
irgendein Gelehrter aus Heinrichs Gefolge gemeint, wie Herbert Grundmann
meint, sondern der Kaiser selbst. Das geht sowohl aus den Folgesätzen, in
denen Heinrich das Subjekt bleibt, als auch aus dem Gesamtkontext hervor.
Wie Grundmann richtig bemerkt, spielt der Autor auf Dan 8,23f. Vg an. Dort
ist das intellegens propositionum aber über den rex inpudens facie ausgesagt,
der Verwüstungen anrichtet, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen
(supra quam credi potest universa vastabit). In diesem Zusammenhang kann
damit nur Heinrich gemeint sein. Vgl. Grundmann 1977, S.317.
4
Auf die Authentizität der Erzählung deutet hin, daß Joachim auch im Liber
Concordiae prophezeit, „Tyrus“ werde bald in die Hände der Neu-Chaldäer
fallen. Conc. V,108, fol.126ra.
5
Zumindest konnte man [[Ez 29,18 >> Bible:Hes 29,18]] so verstehen.
239 ABBILDUNGEN

gegenwärtige Situation zu passen schien:


Denn so spricht Gott, der Herr: Nebukadnezzar, den König von
Babel, den König der Könige, führe ich von Norden gegen
Tyrus heran, mit Rossen und Wagen und Reitern, mit einem
großen Aufgebot, einem gewaltigen Heer. Deine Töchter auf
dem Festland wird er mit dem Schwert erschlagen. […] Unter
dem Dröhnen der Reiter und Räder und Wagen erzittern deine
Mauern, wenn er durch deine Tore eindringt, wie man eindringt
in eine Stadt voller Breschen.1
Nun kehrte Heinrich sicher nicht wegen Joachims Worten um,
sondern weil die Malaria sein Herr kampfunfähig gemacht hatte. Aber
er zeigte sich beeindruckt und sicherte Joachim freies Geleit durch
einen ranghohen Offizier zu. Als der Abt das Heerlager verließ, hörte
man allerdings hinter seinem Rücken die skeptische Frage: „Welch
große Übel verbergen sich wohl unter jener Kutte?“2
Drei Jahre später kehrte Heinrich zurück. Zwar konnte er nicht
völlig kampflos in Sizilien einmarschieren, aber im Großen und
Ganzen glaubte er wohl, daß sich Joachims Prophezeiung erfüllt habe.
Der Anonymus berichtet, der König habe aus Dankbarkeit in Joachims
Geburtsort Celico einen Wächter abgestellt.3 Man könnte dies alles
[[@Page:201]]als hagiographische Anekdote abtun, wenn sich nicht
genau ab diesem Zeitpunkt großzügige Schenkungen Heinrichs für
Joachims Klostergründungen nachweisen ließen, die durch kaiserliche
Urkunden bestens belegt sind. Nach Heinrichs Tod setzte Kaiserin
Konstanze die Förderung Joachims fort. Und selbst Friedrich II., der
den Abt bereits im zarten Alter von fünf Jahren kennenlernte, stellte
Joachims Florenserorden zahlreiche Privilegien aus.4
Schließlich sei noch eine weitere Begegnung von hohem
symbolischem Gehalt wiedergegeben, die Joachims ehemaliger
Sekretär, Lucas von Cosenza, schildert. Die Begebenheit zeigt –
vorausgesetzt sie entspricht den Tatsachen, aber das sei einmal
angenommen –, daß die engen Kontakte zu den staufischen
1
[[Ez 26,7f >> Bible:Hes 26,7f]].[[10 >> Bible:Hes 26,10]].
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 351.
3
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 352. Aus dieser Geschichte läßt sich m.E.
nicht herauslesen, daß Joachims Mahnungen gegen Heinrich VI. sowie weitere
seiner Prophezeiungen aus einer Parteinahme für den Normannen Tankred zu
erklären seien. Vgl. Brown, T.S.: „The Political Use of the Past in Norman Si-
cily“, in: Paul Magdalino (Hrsg.): The Perception of the Past in Twelth-Cen-
tury Europe. London and Rio Grande: Hambledon, 1992, S.191-210, S.208ff.
Schließlich sagt Joachim dem deutschen Kaiser letztlich den Sieg voraus. Eine
Parteinahme für irdische Mächte paßt nicht zu Joachims Denken und Handeln.
Er wird jeweils jener Seite zugeneigt gewesen sein, die seine monastische
Sache unterstützte.
4
Grundmann 1977, 317ff.; Quellen bei Holtzmann, Walter: „Papst-, Kaiser-
und Normannenurkunden aus Unteritalien. II. S. Giovanni di Fiore“, in: QFIAB
36 (1956), S.1-21.
240 ABBILDUNGEN

Herrschern nichts an Joachims Grundpositionen ändern konnten:


Am Karfreitag saß ich mit ihm [Joachim] im Kloster Sanctus
Spiritus in Palermo und siehe, er wurde zum Palast der Kaiserin
Konstanze gerufen, die ihm beichten wollte. Er ging hin und
fand sie auf ihrem gewohnten Thron sitzen. Als ihm geheißen
wurde, sich auf einen Schemel zu setzen, der für ihn hingestellt
worden war, setzte er sich. Als ihm aber die Kaiserin ihren
Vorsatz eröffnete, ihm das, was sie mußte, zu beichten, zügelte
er sie kraft seiner Autorität und antwortete ihr: „Weil ich nun an
der Stelle Christi stehe, du aber den Platz der büßenden Maria
Magdalena einnimmst, steige herunter, sitze auf der Erde und so
kannst du gläubig beichten. Sonst muß ich dir nämlich nicht
zuhören.“ Die Kaiserin stieg herab und saß auf der Erde; und
nachdem sie demütig ihre Sünden bekannt hatte, wunderten sich
alle mit ihr, als sie von der apostolischen Autorität berichtete,
über die der Abt verfügte.1

6. Zusammenfassung
Einige Punkte sollten in diesem Kapitel deutlich geworden sein:
1. Joachim von Fiore war kein zurückgezogener Mönch, der
fernab des weltlichen Ringens sein Leben in Kontemplation
verbrachte. Auch wenn das seiner Vorstellung einer geistlichen
Lebensführung entsprochen hätte, mußte er lernen, daß dieses Ideal in
seiner Zeit kaum erreichbar war. Anders als die orientalischen
Eremiten, aber in Übereinstimmung mit der monastischen Tradition
des Westens sah der Abt sein Schicksal eingebunden in die
geschichtliche Situation der Kirche. Wie sein Vorbild Bernhard von
Clairvaux versuchte er daher, der Kirche beizustehen, wenn sie darum
rang, ihrem Heilsauftrag gerecht zu werden. Joachim stand mitten in
den politischen Auseinandersetzungen seiner Gegenwart und
versuchte aktiv auf sie einzuwirken. Alle
Darstellun[[@Page:202]]gen, die das Bild eines meditativen
Mönchstheologen zeichnen, der alle seine Einsichten aus
Kontemplation und Bibelexegese gewonnen hätte, beschreiben nur
einen Teil seiner Persönlichkeit, und möglicherweise nicht einmal den
entscheidenden.2 Die Legende vom spirituellen Überwinder aller
1
Vita Joach. (Lucas), Grundmann 356.
2
Johannes Chrysostomus Huck spricht von Joachim als dem „mystisch
grübelnden ‚Seher‘ auf der Höhe des einsam-wilden Silagebirges“. Huck,
Johannes Chrysostomus: Joachim von Floris und die joachitische Literatur.
Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des hohenstaufischen Zeitalters mit
Benützung und teilweiser Veröffentlichung ungedruckter Joachimsschriften.
241 ABBILDUNGEN

diesseitigen Herrschaftsstrukturen wirkt hier noch nach. Die bisher


betrachteten Schriften zeigen, daß Joachims Exegese unmittelbar vom
historisch-politischen Erfahrungshintergrund geprägt ist, auch wenn
sie – wie im folgenden Kapitel deutlicher werden wird – nicht auf ihre
geschichtliche Bedingtheit reduziert werden kann.
2. Die existentielle Verbundenheit mit dem Leib Christi äußert
sich auf verschiedene Weise. Während die Genealogia und De
propehtia ignota die Kirche noch wesentlich im apokalyptischen
Sinne als eine Versammlung Gerechter beschreiben, die von den
wechselnden Mächten dieser Welt verfolgt wird, differenziert sich
diese Sicht später. Anfangs ging es Joachim darum, den Schlüssel zur
Apokalypse zu finden, der es ihm erlaubte, den Standort der Kirche im
göttlichen Heilsplan zu bestimmen. Doch wie die Genealogia zeigt,
spielte auch ein legitimatorisches Motiv von Anfang an eine Rolle,
wenn sich Joachim auf die Suche nach den heilsgeschichtlichen
Konkordanzen begab. Der Abt verlängerte die apostolische
Sukzession des römischen Bischofs rückwärts in das judäische
Königtum hinein und bestritt damit prinzipiell den Anspruch der
christlichen Könige, sich kraft ihrer Salbung in einer Reihe mit David
und seinen Erben zu sehen. Ganz den zeitgenössischen Entwicklungen
folgend tritt das Argument der Nachfolge Petri zurück. Christus selbst
war es, der, dem Fleische nach aus dem Hause Davids stammend und
zugleich als göttlicher Herrscher das neue geistliche Gottesvolk
regierend, das Alte Testament zum Abschluß brachte und die Reihe
der kirchlichen Priesterkönige einleitete.
3. Gleichwohl war Joachim kein päpstlicher Hoftheologe. Denn
aus dem principium concordiarum folgte viel mehr als Joachim
zunächst erwarten konnte. Seine eigene Bestimmung allmählich

Freiburg i. Br.: Herder, 1938, S.227. Bei einem anderen Autor heißt es: „Nicht
die Welt der Kathedralschulen, sondern das Kloster und das monastische Leben
ist seine geistige und geistliche Heimat. In dieser Schule geht es um die
Einübung in die befreiende Wahrheit der Liebe in Lesung, Gebet und
Meditation.“ Mehlmann, Axel: „Confessio trinitatis. Zur trinitätstheologischen
Hermeneutik Joachims von Fiore“, in: Margot Schmidt und Fernando
Domínguez Reboiras (Hrsg.): Von der Suche nach Gott. Helmut Riedlinger
zum 75. Geburtstag. Suttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1998, S.83-
108, S.86. Das ist prinzipiell nicht falsch, aber eben nur ein Teil der Wahrheit.
Es ist evident, daß von diesem Standpunkt aus keine der bisher betrachteten
Schriften erklärt werden kann. Joachims Rolle als Ordensgründer verweist
nicht weniger auf ein äußerst aktives Leben. Walter Holtzmann, der
Herausgeber einiger mit Joachims Ordensgründung verbundenen Urkunden,
schreibt: „[…] wie überhaupt die urkundliche Überlieferung Joachim viel mehr
im Lichte eines sehr tätigen Geschäftsmannes und Organisators erscheinen läßt
als die hagiographische, die darauf hinausläuft, den Beweis für seine
Prophetengabe und seine Askese zu erbringen.“ Holtzmann 1956, S.10. Auch
Joachims Bildungshintergrund läßt sich nicht auf die kontemplative Theologie
reduzieren, bedenkt man allein sein großes Interesse für die Historiographie.
242 ABBILDUNGEN

begreifend, trat er den Päpsten gegenüber wie einst die


israeliti[[@Page:203]]schen Propheten ihren Königen. Er berief sich
auf das Charisma der intelligentia spiritualis, das es ihm als einem an
irdischen Gütern Desinteressierten erlaubte, die Politik der Kurie zu
korrigieren, die aus Notwendigkeit immer wieder Gefahr lief, sich an
weltlichen Maßstäben zu orientieren. Dieses Selbstverständnis half
ihm zugleich, den apokalyptischen Determinismus zu überwinden.
Denn die Kirche, so erkannte er, ist nicht einfach nur eine
Versammlung der Gerechten, die im Diesseits eine festgelegte Reihe
von Verfolgungen zu durchlaufen hat, bis sie vom Antichrist
gekreuzigt und im Jenseits erlöst wird. Das Unheil, das sie trifft, steht
mit ihrem eigenen Verhalten im engsten Zusammenhang.
Bezeichnend ist, das Joachim in der Intelligentia super calathis eine
Entscheidungssituation präsentiert, in der es die Verantwortlichen
selbst in der Hand haben, ob sie nachher auf der Seite Zidkijas oder
Jojachins stehen.

Trotz der ekklesiologischen und christologischen Reflexionen, die vor


allem in der Intelligentia deutlicher sichtbar werden, muß man
gestehen: Der theoretische Gehalt der bisher betrachteten Schriften ist
enttäuschend. Obwohl Joachim alles irdische Geschehen dem
göttlichen Herrscher unterworfen sieht, bleibt völlig unklar, in welcher
Beziehung Gottheit und Geschichte stehen. Theologie im engeren
Sinne enthalten die drei Texte kaum. Nicht viel besser steht es mit der
Ekklesiologie; zwar greift Joachim in der skizzierten Analogie zum
Leiden Christi einige nicht gerade unkonventionelle Lehren auf und
aktualisiert sie auf die geschichtliche Situation hin, aber die innere
Ordnung des Christusleibes bleibt unsichtbar. Wären nur diese drei
Schriften erhalten geblieben, würde man heute Joachims Lehre
wahrscheinlich als Kuriosität in die Geschichte der mittelalterlichen
Apokalyptik einordnen. Man würde in dem Abt nicht mehr erkennen
als die meisten seiner Zeitgenossen, die von den Hauptwerken, die
Joachim schon viele Jahre vor der Intelligentia super calathis in
Angriff genommen hatte, nicht viel wissen konnten. Kaum jemand
konnte ahnen, auf welch gewaltigen Fundus an
geschichtstheologischer und erkenntnistheoretischer Reflexion
Joachim zu diesem Zeitpunkt bereits zurückgreifen konnte.
Dennoch ist es äußert wichtig, den kleineren Schriften Joachims
größere Bedeutung einzuräumen, als dies bisher geschehen ist. Es
handelt sich bei De prophetia ignota und Intelligentia super calathis
nicht um Nebenprodukte oder gar Gefälligkeitsgutachten, vielmehr
zeugen sie davon, daß Joachim den Wert seiner Einsichten an der
konkreten geschichtlichen Situation zu erweisen suchte. Gerade der
Blick auf die „praktische Anwendung“ seiner Lehren kann dazu
243 ABBILDUNGEN

beitragen einige Mythen zu beseitigen, die die Figur Joachim von


Fiore umgeben. Soviel läßt sich an dieser Stelle schon sagen: Der Abt
war kein Proto-Luther, der zwischen dem Offenbarungstext und der
Realität der römischen Klerikerkirche einen unüberbrückbaren
Widerspruch sah. Noch weniger vertrat er, wie der bereits zitierte
Ernst Bloch meint, ein mystisches Christentum, das kirchliche
Strukturen für überflüssig erklärte oder gar zu beseitigen suchte. Und
ebensowenig war Joachim ein Mann, der den Laien das Wort redete,
ganz im Gegenteil. Bei ihm steigerte sich die gregorianische
Unterscheidung zwischen kirchlichem Stand und christlichem Volk in
einen heilsgeschichtlichen Widerspruch, insofern die Papstkirche das
neue Juda [[@Page:204]]repräsentiert und die Laien sich in ein neues
Babylon verwandelt haben.
Die These, die sich am Ende dieses Kapitel formulieren läßt, und
an der die folgenden Überlegungen anschließen, widerspricht der
Mehrheit der populären und einem Gutteil der wissenschaftlichen
Meinungen über den kalabresischen Abt. Indes kann sie nach allen
hier vorgelegten Ergebnissen nicht mehr überraschen: Als politischer
Denker hatte Joachim von Fiore niemals eine andere
Gemeinschaftsform vor Augen als die Kirche – aber nicht irgendeine
historisch unbestimmte oder gar mystische Kirche Christi, sondern die
konkrete römisch-katholische Papstkirche in ihrer heilsgeschichtlichen
Eingespanntheit zwischen altem Gottesvolk und eschatologischer
Vollendung. Joachim von Fiore war weder ein Revolutionär noch ein
Utopist, sondern ein Reformer. [[@Page:205]]

III. DIMENSIONEN DER ERFAHRUNG

1. Von der himmlischen zur irdischen


Ordnung: Psalterium decem chordarum
An dieser Stelle bietet es sich an, einige biographische Notizen
nachzuholen: Wie berichtet, war Joachim Abt des Klosters Corazzo
geworden und fand sich nach einem vergeblichen Fluchtversuch damit
ab, daß er zunächst seine Weisheit darauf richten mußte, die zeitliche
Substanz zu verwalten (prudenter et fideliter temporalem substantiam
dispensare).1 In der anonymen Biographie heißt es weiter, Joachim
habe jene ordnungsstiftende Weisheit zum einen der göttlichen Gnade,
1
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 345.
244 ABBILDUNGEN

vor allem aber seinem ständigen Bemühen um den geistlichen


Fortschritt (spiritalis profectus exercitio) zu verdanken. Dabei sei zu
jeder Zeit jene von oben verliehene Einsicht in die Heiligen Schriften
(intelligentia scripturarum) Gegenstand seiner Meditationen, Reden
und Kommentare gewesen. Er habe aber zunächst noch davon
abgesehen, seine Kommentare niederzuschreiben, da er sich bereits
den Statuten der Zisterzienser verbunden gefühlt habe; denn jene
untersagten es, ohne päpstliche Erlaubnis Schriften zu verfassen.1
Joachim war ein überzeugter Anhänger der zisterziensischen
Reformbewegung geworden. Schon bevor er dem Orden formal
angehörte, fühlte er sich als Zisterzienser und handelte entsprechend.
Die Mönche seines Konvents taten es ihm wahrscheinlich gleich. 2
Vielleicht schon unter seinem Vorgänger, möglicherweise aber erst
durch die Bemühungen Joachims erhielt Corazzo von Papst Alexander
III. das Privileg der Zisterzienser zugesprochen. Wie die Klöster des
Reformordens war also auch Joachims Konvent von der
Gehorsamspflicht gegenüber dem Bischof dispensiert.3 Aber bald
erlebte der Abt herbe Enttäuschungen. Er versuchte, Corazzo in den
zisterziensischen Verband einzugliedern und einem Kloster zu
affilieren, das dem Orden bereits angehörte. Doch zweimal, in
Sambucina und in dessen südlich von Rom gelegenen Mutterkloster
Casamari, wurde er abgewiesen, immer mit der Begründung, seine
Mönche seien zu arm.4 Der junge Abt mußte aus eigener Erfahrung
lernen, daß die zisterziensische [[@Page:206]]Ordensbewegung ihren
hehren Zielen nicht immer gerecht wurde.5 Der schier unglaubliche
1
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 345f.
2
Grundmann 1977, S.305ff.; Selge, Kurt-Victor: „L’origine delle opere di
Gioacchino da Fiore“, in: Ovido Capitani und Jürgen Miethke (Hrsg.): L’attesa
della fine dei tempi nel Medioevo. Bologna: Il Mulino, 1990, S.87-131, S.97f.
3
Grundmann 1977, S.304f.
4
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 346. Natürlich könnte sich die Begründung
propter paupertatem et inopiam monachorum auch auf die Mönche von
Sambucina und Casamari beziehen, die sich aus Armut nicht in der Lage sahen,
Corazzo aufzunehmen. Vgl. Selge 1990, S.97. Aber wie einem Bildband über
die Zisterzienser zu entnehmen ist, wurde Casamari in den Jahren nach 1173,
also genau in der Zeit, als Joachim dort anfragte, von den sizilianischen
Herrschern mit Reichtümern geradezu überschüttet, weil es den Mönchen
gelungen war, die Streitigkeiten der Lokalfürsten beizulegen. Die Architektur
des Klosters ist geradezu überwältigend. Von 1203 bis 1217 realisierten die
besten Baumeister aus Clairvaux ehrgeizige Projekte, mit Gewölben in der
gerade erst erfundenen Kreuzrippentechnik. Die strengen Bauvorschriften der
Zisterzienser, die nur schlichte Ornamentik vorsahen, wurden gerade dort nicht
eingehalten. Casamari konnte es sich außerdem leisten, allein über die Tochter
Sambucina fünfzehn Klöster neu zu gründen. Gaud, Henri und Jean-François
Leroux-Dhuys: Die Zisterzienser. Geschichte und Architektur. Köln:
Könemann, 1998, S.97, 162ff. Von Armut konnte also schlecht die Rede sein.
Nein, man wollte den Reichtum offensichtlich nicht mit jedem teilen.
5
Materielle Erwägungen durften bei der Affiliation keine Rolle spielen. Vgl.
245 ABBILDUNGEN

Enthusiasmus, der die explosionsartige Ausbreitung des


Reformordens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts getragen hatte,
begann schon seit längerem nachzulassen. Materielle Erwägungen
konnten also inzwischen die Frage entscheiden, ob ein Mutterkloster
bereit war, eine neue Tochter aufzunehmen. Joachim hat sich in
späteren Werken bitter über den Sittenverfall unter den Zisterziensern
beklagt und mit seiner eigenen Ordensgründung die praktischen
Konsequenzen gezogen.
Obwohl Joachim mit seinem Vorhaben in Casamari zunächst
gescheitert war, blieb er dort anderthalb Jahre, etwa ab dem Spätherbst
oder Winter 1182/1183.1 Mit Gerald, dem Abt von Casamari, verband
ihn eine besondere Freundschaft, die sich unter anderem darin erwies,
daß Joachim ein fähiger Schreiber zur Verfügung gestellt wurde, jener
Lucas, der sich später noch als Bischof von Cosenza und – wie schon
mehrfach erwähnt – als Biograph Joachims hervortun sollte. Joachim
begann mit der parallelen Arbeit an dreien seiner Hauptwerke, dem
Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti, der Expositio in
Apocalypsim und dem Psalterium decem chordarum.2
In der Vorrede zum Psalterium berichtet Joachim über eine
Vision, die ihm während seines Aufenthalts in Casamari zuteil wurde
und die sein Denken noch einmal grundlegend veränderte. Bereits im
Kloster Corazzo, so erzählt er, sei er bei der Psalmenmeditation sehr
weit vorgedrungen. Ihm hätten sich Dinge erschlossen, die durch
bloße Lehre (doctrina) und Lesung (lectio), also durch scholastische
Methoden, niemals vermittelt werden könnten. Er habe bereits einigen
Einblick in das himmlische Jerusalem erhalten und sei schon fast zum
Bewohner jener Stadt geworden, als ihn die Klostergeschäfte immer
wieder in weltliche Gefilde zurückgeholt hätten.3 Doch in Casamari,
wo er mit derartigen Sorgen nicht belastet war, gelang ihm ein
Durchbruch.
Joachim begann zu Pfingsten 1183 über den Sinn jenes dem
Heiligen Geist gewidmeten Festes nachzudenken.4 Er meditierte über
die Herabkunft des Geistes auf die Apostel und über das Mysterium
der Salbung des Gottessohnes. Schließlich entschloß er sich, zu Ehren
des Heiligen Geistes einige Psalmen zu singen.5 Denn, soviel wußte
Carta caritatis prior I, Bouton/Van Damme 91.
1
Vita Joach. (Lucas), Grundmann 353ff; Grundmann 1977, S.306f; Selge 1990,
S.96ff.
2
In welcher Reihenfolge die Bestandteile der Hauptwerke entstanden, ist bis
heute nicht völlig geklärt, was die Rekonstruktion der intellektuellen
Entwicklung Joachims sehr erschwert. Die einzige Studie, die sich bisher
eingehender mit diesem Problem befaßt hat, ist: Selge 1990. In fast allen
chronologischen Fragen halte ich mich im folgenden an die dort vorgelegten
Erkenntnisse.
3
Psalt. praef., fol.227ra-rb.
4
Zur Datierung: Selge 1990, S.97f.
5
Psalt. praef., fol.227rb; vgl. Apg 2,1ff; [[Hebr 1,9 >> Bible:Heb 1,9]].
246 ABBILDUNGEN

er, die Psalmen waren einzig zu dem Zwecke verfaßt, Gott zu loben.
Und nur wer sie in [[@Page:207]]diesem Sinne sang, den weihte der
Herr vielleicht in die höheren Mysterien ein.1 Doch als Joachim sein
Lobesopfer (sacrificium laudis) darbringen wollte, befielen ihn
plötzlich Glaubenszweifel:
Inzwischen, als ich ins Oratorium ging und vor dem heiligen
Altar den allmächtigen Gott anbetete, entstand in mir gleichsam
eine gewisse Unentschlossenheit (hesitatio) hinsichtlich des
Glaubens an die Trinität, als ob es für den Intellekt oder den
Glauben nur schwer faßbar wäre, daß alle Personen ein Gott
sind, und ein Gott alle Personen ist.2
Joachim erschrak sehr ob seines Zweifels an den zentralen
Glaubenswahrheiten des katholischen Bekenntnisses, denn wer jene
Überzeugungen nicht teilte, war ein vom Heil ausgeschlossener
Ungläubiger oder Ketzer. In seiner Furcht rief er den Heiligen Geist
an, jenen Geist, von dem Jesus einst sagte, daß nur er die ganze
Wahrheit lehre.3 Der Abt hoffte, daß es ihm gerade am Festtag der
dritten göttlichen Person gelingen könne, gleichsam durch Theurgie
ein persönliches Pfingsten herbeizuführen und vom Geist selbst in das
heilige Mysterium der Trinität eingeweiht zu werden.4 Er war
erfolgreich:
Dies aussprechend begann ich zu psalmodieren, um zur
vorgenommenen Zahl zu gelangen. Ohne Verzögerung
begegnete in meinem Inneren (animus) bald die Form des
zehnsaitigen Psalters und in demselben so licht und deutlich das
Mysterium der heiligen Trinität, daß ich unverzüglich
gezwungen war auszurufen: „Wo ist ein Gott, so groß wie unser
Gott? Du allein bist der Gott, der Wunder tut.“ Und: „Groß ist
unser Herr und gewaltig an Kraft, unermeßlich ist seine
Weisheit.“5
Man wird auch hier mit Recht von einem Visionserlebnis sprechen
dürfen, da es sich Joachims Worten zufolge eindeutig um ein
innerliches Sehen handelt. Es gilt lediglich die Eigenart der
Erfahrungsweise herauszustellen, die jener ersten Vision eines
Baumes nicht unähnlich ist. Joachim sieht nicht das göttliche Licht
selbst, er vollzieht weder die Vereinigung mit der Gottheit wie ein

1
Joachim bezieht sich auf Ps 50,23: „Wer Opfer des Lobes bringt, ehrt mich;
wer rechtschaffen lebt, dem zeig’ ich mein Heil.“
2
Psalt. praef., fol.227rb.
3
Joh 16,13.
4
„Quod cum accideret timui valde et conterritus vehementer conpulsus sum in-
vocare Spiritum sanctum cuius sacra sollempnitas presens erat, ut ipse michi
dignaretur ostendere sacrum misterium Trinitatis in quo nobis promissa est a
Domino omnis notitia veritatis.“ Psalt. praef., fol.227rb-va; korr. n. Selge.
5
Psalt. praef., fol.227va; Ps 77,14f.; [[147,5 >> BibleLU1912:Ps 147,5]].
247 ABBILDUNGEN

Mystiker noch wird ihm eine Thronvision zuteil wie einst Ezechiel
oder Johannes von Patmos. Er sieht vor seinem inneren Auge ein
einziges Bild, das ihm als die unmittelbare Antwort auf alle seine
Fragen erscheint.
Nun wird man sagen, daß es nicht gerade unwahrscheinlich ist,
beim Psalmodieren an den Psalter zu denken. Vielleicht rezitierte
Joachim sogar gerade einen der beiden Psalmen, die von jenem
zehnsaitigen Musikinstrument sprechen, mit dem – wie man
[[@Page:208]]glaubte – schon König David die Lobgesänge begleitet
hatte.1 Aber darauf kommt es nicht an, wichtig ist allein, daß Joachim
in dem Moment, als er das Bild des Psalters schaut, die Erfahrung
eines plötzlichen Verstehens macht, eines Verstehens, das er aufgrund
seiner Unmittelbarkeit nicht als Resultat eines Denkprozesses
begreifen kann, sondern nur als Eingebung des Heiligen Geistes.
Diese Erfahrung von Casamari ist es nicht zuletzt, auf die man
Joachims Begriff des geistlichen Verstehens (intelligentia spiritualis)
zurückführen muß. Es handelt sich um die intellektuelle Fähigkeit des
charismatisch Begabten, die sich ausschließlich der göttlichen Gnade
verdankt, wenngleich sie in Reaktion auf die suchenden Bemühungen
des Kontemplativen verliehen wird. Sie ist das Signum einer
intellektuellen Elite, deren asketischer Eifer in der gläubigen
Wahrheitssuche mit der Gabe göttlicher Erkenntnis belohnt wird. Die
eigentliche Erkenntnis aber resultiert nicht aus dem visionären
Erleben, sondern der sich mitteilende Geist verweist den Empfänger
zurück auf die biblische Offenbarung – allerdings unter der neuen
Bedingung eines höheren, geistlichen Verständnisses, das den
Buchstaben transzendiert und den geistlichen Sinngehalt (intellectus
spiritualis) zum Vorschein bringt.
So wird ersichtlich, warum Joachim dem Psalterium eine Vorrede
voranstellt, in der er die Pfingstvision beschreibt. Denn auf diese
Weise stellt er klar, daß er sich selbst der Elite der viri spirituales
zuordnet. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn Joachim sich gleich
zu Beginn des ersten Buches von der konkurrierenden Elite der
scholastischen moderni absetzt. Deren neumodische und
abergläubische Harmonielehren könnten niemals zu einer Einsicht in
die göttliche Harmonie führen, wie sie einem geistlich Begabten zuteil
werde, der über die Gestalt und den Klang des Psalters meditiert. 2
Aber es geht nicht nur um Eifersüchteleien zwischen zwei
Intellektuellenparteien, sondern um zwei grundverschiedene Wege,
die Wirklichkeit zu erschließen. Während sich die in den Klöstern
geübte Mönchstheologie allein auf die Schriftmeditation und den
Beistand des Heiligen Geistes stützt, also auf kontemplative Weise zu
Einsicht gelangt, greifen die Theologen der Kathedralschulen verstärkt
1
Ps 33,2; 92,4.
2
Psalt. I, fol.228va.
248 ABBILDUNGEN

auf das aristotelische Organon zurück und beschreiten einen


dialektischen, rational-konklusiven Erkenntnisweg. Sicherlich waren
die Grenzen nicht scharf gezogen, aber Joachim wußte den
Unterschied noch viel plakativer darzustellen: Die einen verfügen über
himmlisches Wissen, die anderen über irdisches.1
Schon Joachims anonymer Gefährte und Biograph, der sich
wahrscheinlich auf Erzählungen seines Meisters selbst stützen konnte,
beschreibt die Vision von Casamari [[@Page:209]]als Joachims
entscheidende Einsicht in das göttliche Wesen.2 Das entspricht exakt
Joachims eigenen Angaben, wonach das erste Buch des Psalterium
unter dem unmittelbaren Eindruck des Visionserlebnisses verfaßt
wurde:
Also begann ich, als er [der Herr] selbst es zuteil werden ließ
(donante ipso), sogleich das erste Buch des vorliegenden
Werkes, während ich mich in diesem Kloster befand, und habe
es zum Teil vollendet. Das zweite und das dritte Buch aber
schrieb ich damals nicht, nicht einmal in derselben Zeit,
sondern zwei Jahre später.3
Bereits in der Einleitung war davon die Rede, daß sich Joachims
Ordnungsdenken aus zwei Quellen speist, einer pneumatisch-
kontemplativen, die in der Einsicht des Verstandes (mens) in die
geistlichen Eingebungen besteht, und einer empirischen, dem Studium
der Geschichte Israels und der Kirche. Da Joachim, wie noch genauer
auszuführen ist, die Geschichte des Gottesvolkes als
Offenbarungsprozeß begreift, finden für ihn beide Quellen ihren
Ursprung in der göttlichen Selbstmitteilung. Und nur dort, wo sie
zusammenfließen, ist höhere Offenbarung möglich. Bibel und
Kirchengeschichte wären nichts als toter Buchstabe, wenn sie nicht
von der intelligentia spiritualis zum Leben erweckt würden. Im
vorangegangenen Kapitel war zu sehen, daß die göttlich verliehene
Einsicht, die sich in der Baumvision mitteilte, zum
Ordnungsparadigma des principium concordiarum führte, anhand
1
Conc. IIa,1, fol.5vb, Daniel 53,41-51. Eine Polemik, die an Derbheit
schwerlich zu überbieten ist, findet sich im 5. Buch des Liber Concordiae. Dort
vergleicht Joachim die Scholastiker mit dem Pöbel von Sodom. Lot wollte nach
Gen 19,8 seine Töchter dem Pöbel zur Vergewaltigung ausliefern, um dessen
Gewaltbereitschaft von den Gesandten Gottes abzulenken, die in seinem Haus
zu Gast waren. Ebenso wie Lot würden jetzt die Geistmänner sagen: Wir haben
bei uns ein paar Einfältige und Unfähige (simplices et ydiothe); wenn ihr schon
jemandem das wollüstige Verlangen eurer Künste einflößen wollt, dann nehmt
die. Die geistlich Begabten aber gelte es für die Ruhe der Kontemplation zu
bewahren. Conc. V,40, fol.77va-78rb.
2
„Tunc cum esset in dicto monasterio Casamarie, revelatum est ei misterium
Trinitatis et scripsit ibi primum librum Psalterii decem chordarum.“ Vita Joach.
(Anon.), Grundmann 346.
3
Psalt. praef., fol.227va.
249 ABBILDUNGEN

dessen Joachim das geschichtliche Material zu sortieren begann. Das


deckt sich mit der Selbstauskunft des Abtes, wonach seine Einsicht in
die Struktur der Heilsgeschichte keine immanente Folge des
historischen Studiums sei (nequaquam historiarum peritia ad
concordiae notitiam perductus sum), sondern auf eine andere, das
heißt auf jene pneumatisch-kontemplative Quelle zurückgeführt
werden müsse.1
Joachim unterscheidet klar zwischen zwei Wirklichkeitssphären,
der sichtbaren und der unsichtbaren. Gemäß der hellenisch-
christlichen Tradition erkennt er die Sphäre der invisibilia als die
vornehmere. Sie ist die unsichtbare ewig-göttliche Realität, die der
zeitlich-sichtbaren Welt vorausgeht und ihr ursächlicher Anfang ist.
Die visibilia sind materielle Abbilder, Signifikanten, die auf die
unsichtbare Welt hinweisen. Daraus folgt, daß die kontemplative
Erkenntnis, die sich allein auf die invisibilia richtet und von dort aus
die Ordnung der sichtbaren Dinge begreift, die höhere ist. Sie ist aber
nur einer auserwählten Elite von Geistmännern (viri spirituales)
zugänglich, die über die intelligentia spiritualis verfügen. In der
Tradition des biblischen Denkens erfordert die geistliche Einsicht die
tätige Selbstmitteilung Gottes an seine Auserwählten. Intelligentia
spiritualis bedeutet also nicht allein das Vordringen des
kontemplativen Asketen in die göttlichen Mysterien, sondern schließt
die mitteilende Gegenbewegung des souveränen Gottes mit ein.2
Die Masse der Gläubigen ist zu solcher Einsicht nicht in der Lage,
sondern verfolgt den umgekehrten Erkenntnisweg, der von den
sichtbaren Dingen zu den unsicht[[@Page:210]]baren führt. Daher ist
es geboten, sich der Leitung der Geistmänner anzuvertrauen, denn
deren Einsicht in die Schrift und die Tiefen Gottes (profunda Dei)
kann über die Unzulänglichkeiten des Normalmenschen
hinweghelfen.3 So erklärt sich Joachims pädagogisches Konzept, das
sich von der scholastischen Methode völlig unterscheidet. Leider ist
Joachims Pädagogik von der Forschung fast völlig unberücksichtigt
geblieben. Allerdings stehen – wie noch zu zeigen ist – pädagogische
und politische Konzeption in einem so engen Zusammenhang, daß
einige diesbezügliche Klärungen nicht unterbleiben können.
Joachim setzt im Gegensatz zur scholastischen Pädagogik keine
logische Propädeutik voraus, sondern wandelt die Inhalte seiner
geistlichen Schau in materielle Figuren oder in Analogien aus der
kreatürlichen Welt. So hofft er einerseits, sich seine kontemplativ
erlangten Einsichten immer wieder vergegenwärtigen zu können –
1
Ench., Burger 47,1258f.
2
„[…] pro velle suo claudit et aperit […].“ Exp. I, fol.39rb.
3
„Si etiam semetipsum comprehendere nequit, studeat incunctanter credere
spiritalibus viris quibus datus est spiritus scrutans omnia et etiam profunda Dei
et suam inprudentiam ab hac temeritate compescat.“ Psalt. I, fol.229rb; vgl. 1
Kor 2,10.
250 ABBILDUNGEN

einer späteren Überlieferung zufolge soll er die Wände seiner


Klosterzelle mit Figuren bemalt haben1 – und andererseits den Leser
seiner Werke oder den Betrachter seiner Zeichnungen auf dem Wege
des analogischen und nicht des logischen Schließens der unsichtbaren
Welt näherzubringen. Joachim spricht von der Annäherung durch
unähnliche Ähnlichkeiten (dissimiles similitudines):
Weil das, was von menschlichen Dingen geschrieben steht, den
göttlichen Dingen sehr unähnlich ist, liegt es dennoch dem
Glauben nicht fern, durch die unähnlichen Ähnlichkeiten zur
Kenntnis des Schöpfers zu gelangen. Auch widerspricht es nicht
der Vernunft, etwas entfernten Dingen zuzuschreiben
(assignare aliquid in distantibus rebus), was auf höhere Weise
wahr ist, wenn es vom Schöpfer behauptet wird.2
Damit ist gesagt, daß sich die kreatürliche Sphäre von der göttlichen
Sphäre hinsichtlich ihres Wirklichkeitsgehaltes graduell, aber nicht
prinzipiell unterscheidet. Die sinnliche Wahrnehmung führt
keineswegs grundsätzlich in die Irre, sondern kann den Menschen der
göttlichen Wahrheit näherbringen – wenn sie in die richtigen Bahnen
gelenkt wird.
Im Psalterium bringt der Abt sein pädagogisches Verfahren zur
Anwendung. Er zeichnet eine Figur des zehnsaitigen Psalters, die
gleichsam ein Abbild der Pfingstvision darstellt, und stellt sie seinem
Werk voran – wohl wissend, daß eine figura materialis der innerlich
geschauten Gestalt niemals gerecht werden kann.3 Aber, so behauptet
Joachim an einer späteren Stelle des Werkes, es sei möglich durch die
entsprechenden Figuren das geistige Auge (mentis oculus) auf das
innere Erfassen (intellectus) der drei göttlichen Personen zu lenken,
indem gleichsam versucht werde, analogisch von den sichtbaren
Dingen auf das Unsichtbare zu schließen; so wie man nach der Lehre
des Paulus den Schöpfer anhand der Schöpfung begreifen kann.4 Oder,
wie es bei anderer Gelegenheit [[@Page:211]]heißt: Indem man sich
die von Joachim gezeichnete Figur des zehnsaitigen Psalters vor das
fleischliche Auge führe, könne man mit dem geistigen Auge den
Sinngehalt erfassen; so wie einst der Blinde sehend gemacht wurde,
als ihm Jesus das Auge mit Speichel bestrich.5
1
Reeves, Marjorie und Beatrice Hirsch-Reich: The Figurae of Joachim of
Fiore. Oxford: Clarendon, 1972, S.21.
2
Psalt. I, fol.233va.
3
Psalt. I, fol.228ra.
4
„Igitur locus est, ut agentes de ternario numero, premissis competentibus
figuris, ad intellectum trium personarum mentis oculum dirigamus, querentes
per res visibiles intelligere invisibilem et per res creatas rerum omnium
creatorem. Psalt. II, fol.256rb, korr. n. Selge; vgl. Röm 1,20.
5
„Sed oportet nos […] pro more nostro coaptare figurem, ut adducta imagine
ipsa psalterii coram oculis carnalis, spirituales mentis oculi ex apposito, ut ita
dixerim, luto aperiantur ad intellectum.“ Psalt. II, fol.269rb, korr. n. Selge; vgl.
251 ABBILDUNGEN

Doch Joachim läßt es nicht dabei, er zieht die Visionen anderer


Seher hinzu, denen nicht nur ein inneres Bild eingegeben wurde,
sondern die die himmlische Ordnung in unmittelbarer Schau
bewundern durften. Es handelt sich vor allem um Ezechiel und
Johannes von Patmos, deren Visionen kanonisiert und daher in ihrer
Authentizität bestätigt wurden. Auch dazu hat Joachim zum Teil im
Psalterium, zum Teil an anderem Ort Figuren angefertigt. 1 So gelingt
es ihm, seine Vision des Psalters mit den ergänzenden Informationen
aus der Heiligen Schrift zu einem Gesamtbild der himmlischen
Ordnung zu verdichten, das er seinem Leser präsentiert. Diese
Ordnung umfaßt zunächst das Wesen Gottheit selbst, sowohl
hinsichtlich ihrer kaum faßbaren Einheit als auch hinsichtlich der
Beziehungen zwischen den drei Personen.
Die Pfingstvision prägt Joachims Bewußtsein so nachhaltig, daß
seine gesamte Wahrnehmung der Wirklichkeit von der Einsicht in das
trinitarische Wesen Gottes strukturiert wird. Von dort her baut sich in
der Folge das gesamte Ordnungsdenken Joachims auf, das sich
zunächst auf die himmlischen Heerscharen, dann aber sehr bald auf
die Ordnung der Menschheit und ihre Geschichte erstreckt. Denn
wenn sich in der sichtbaren Schöpfung der unsichtbare Schöpfer
wiedererkennen läßt, wie Paulus sagt, dann ist das Wesen der
Gottheit, die unbegreifliche Einheit, die Dreiheit der Personen und die
Struktur ihrer gegenseitigen Beziehungen, der gesamten Kreatur
aufgeprägt. Insbesondere gilt dies für den Menschen, der in
hervorragender Weise nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.2 Es
braucht nicht weiter betont werden, daß das gesamte theologische
Denken des Abtes von einem Erkenntnisoptimismus geprägt ist, wie
er in solcher Unbefangenheit vielleicht nur in vorreformatorischer Zeit
möglich war. Nach dem Prinzip der fides quaerens intellectum3 hält es

Joh 9,6.
1
Sh. v.a. Lib. Fig., tav.XII und XV.
2
„Quid enim potest esse suavius contemplatione divina? et per ea que facta
sunt in sapientia Dei, ad eius qui fecit omnia, speculationem venire? Sic enim
scriptum est per Apostolum: Invisibilia enim ipsius per ea que facta sunt a
creatura mundi intellecta conspiciuntur, sempiterna quoque virtus eius, et
divinitas […]. Psalt I, fol.228va-vb; vgl. Ps 103,24; Röm 1,20. „Quia tamen
invisibilia eius que exsuperant omnem sensum, non potest infirmitas
captivitatis inspicere, nisi per res visibiles contemplari studeat saltem sepisum
homo, cum de illa maiestate loqui cupit, ad creaturas nobiliores contemplandes
extendere, ut est in rebus visibilibus lux et in invisibilibus propria que hoc
cogitat anima seipsum homo comprehendere potest, inveniet in seipso
similitudinem Dei.“ Psalt. I,fol.229rb; vgl. Röm 1,20; Phil 4,7; Gen 1,26; 5,1.
3
„[…] qui non potest credere, intelligere nequit, quia tenebre incredulitatis
obcecant oculos mentis eius, et palpans in circuitu ostium non sinitur invenire.
Eis autem qui spernunt gloriam suam, datur a Domino ut possint credere, datur
ut credentes intelligere queant […].“ Exp. Intr., fol.2vb, korr. n. Selge. Vgl.
Praeph. Apc. I, Selge 104,54-57.
252 ABBILDUNGEN

Joachim grundsätzlich für möglich, auf der [[@Page:212]]Grundlage


eines gläubigen Grundvertrauens und der Hilfe des geistlichen
Beistandes die Tiefen Gottes, das heißt sein Wesen und seinen
heilsgeschichtlichen Plan, zu erforschen.1
Doch Joachims Erkenntnisgewinn hat seine eindeutigen Grenzen.
Die Ideen, die sich aus der intelligentia spiritualis ergeben, sind
radikal neu, was die Beziehung zwischen der Gottheit und der
geschichtlich existierenden Menschheit angeht. In anderen Bereichen
dagegen, vor allem in der Schöpfungslehre und im Kernbereich der
Trinitätstheologie, denkt Joachim erstaunlich konventionell. Ja, man
kann sogar sagen, er ist aufs peinlichste bedacht, nicht am
katholischen Dogma zu rühren. Dennoch ist es wichtig, Joachims
diesbezügliche Ansichten wiederzugeben, auch wenn sie dem
Herkömmlichen nicht widersprechen. Denn die Folgerungen, die
Joachim aus den dogmatischen Positionen zieht, sind alles andere als
konventionell.
In den biblischen Sprichwörtern ist zu lesen, welchem Zweck die
Gesamtheit des Seienden dient: Der Herr hat alles für sich selbst
(propter semet ipsum) erschaffen.2 Doch was heißt das? Thomas von
Aquin schreibt zwar erst einige Jahrzehnte nach Joachim, faßt aber –
ungeachtet der aristotelischen Begrifflichkeit – die Denkweise des
Hochmittelalters hervorragend zusammen. In der Summa Theologiae
bezieht er sich auf die eben genannte Bibelstelle, wenn er die Frage
stellt, inwiefern Gott zugleich Grund und Ziel alles Seienden (causa
finalis omnium) sein könne. Heißt das, so eine der Objektionen, daß
Gott etwas bedürfe und die Welt daher erschaffen habe? Nein,
antwortet Thomas, Gott habe mit der Schöpfung nichts anderes
bezweckt, als seine Vollkommenheit mitzuteilen (communicare suam
perfectionem), die zugleich seine Güte (bonitas) sei. Daher wolle
jedes Geschöpf zu seiner eigenen Vollkommenheit gelangen, die in
Nachbildung (similitudo) der göttlichen Vollkommenheit und Güte
bestehe. „So ist also die göttliche Güte das Ziel (finis) aller Dinge.“3
Das heißt, es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen
dem Begreifen der göttlichen und der Verwirklichung der eigenen
Vollkommenheit. Von hegelianischer Dialektik ist dies denkbar weit
entfernt. Gott bedarf nicht der Welt und ihrer Geschichte, um zu sich
selbst zu kommen. Vielmehr ist die Welt zeitlicher Ausfluß des
göttlichen Seins, das schon immer ganz bei sich ist.
1
„[…] frustra se nonnulli de tarditate intellectus excusant quod impossibile sit,
et supra humane capacitatis mensuram extendere se, qualitercumque, ad
intelligentiam creatoris, quod utique non esset, si non et illud verum fuisset
quod scriptura testatur, dicens: Spiritus scrutatur omnia, et etiam profunda Dei.
Sed que profunda? Nunquid non alia profunda quam que fide tenemus? Min-
ime.“ Psalt. I, fol.228vb; 1 Kor 2,10.
2
Spr 16,4.
3
[[Sum. Theol. I, qu.44, a.4 >> Summa:STh., I q.44 a.4]].
253 ABBILDUNGEN

Da aber die göttliche Vollkommenheit wesenhaft von der Dreiheit


der Personen bestimmt wird, muß sich dies in der göttlichen
Selbstoffenbarung mitteilen.1 Die mittel[[@Page:213]]alterliche
Theologie denkt, vor allem in Anschluß an Augustinus’ De trinitate,
den Offenbarungsprozeß und die innergöttlichen Prozesse in einem
kausalen Zusammenhang. Die ewige Zeugung des Sohnes erweist sich
in der zeitlichen Sendung Christi. In diesem Sinne wird die
Menschwerdung Gottes immer weniger als Folge der Erbsünde
gesehen, sondern als Teil der göttlichen Selbstmitteilung, die mit der
Schöpfung beginnt. Bereits Rupert von Deutz ergänzte aus dem
Johannesevangelium, daß erst die Sendung des Heiligen Geistes
diesen Selbstmitteilungsprozeß vollendet. Aber auch die Ankunft des
Geistes ist als zeitliche Wirkung eines innergöttlichen Prozesses zu
sehen, nämlich der ewigen Liebe zwischen Vater und Sohn. Über die
schöpfungstheologischen Grundannahmen, wie sie zur Zeit Joachims
in gebildeten Kreisen vorherrschten, läßt sich insgesamt sagen:
Die mittelalterliche Theologie konkretisierte die
angenommene Einheit von Schöpfung und Erlösung im
Inkarnationsgeschehen: Das innergöttliche Leben ist
Voraussetzung und Beweggrund der Erschaffung des
Nichtgöttlichen. Die Erschaffung der Welt zielt bereits auf
die Menschwerdung des Logos. Die Frage nach der
Kontingenz des Geschichtlichen und damit nach der
Bedeutung des Sündenfalls tritt in dieser heilsgeschichtlichen
Gesamtschau zurück. 2
Gerade aber die Psalmen, denen sich Joachim im Psalterium
besonders zuwendet, verweisen auf einen zweiten Aspekt: Die ganze
Schöpfung dient dem Lob und der Verherrlichung Gottes. „Alles, was
atmet, lobe den Herrn!“, lautet der abschließende Satz des
Psalmenbuches.3 Damit ist nicht gemeint, daß Gott die Welt aus
Ehrsucht erschaffen habe, sondern vielmehr daß jedes Geschöpf, das
sich als solches begreift, nicht anders kann als den Schöpfer, den

1
Die äußerst komplexe Materie kann hier nur sehr selektiv behandelt werden.
Die detailreichste Studie zu Joachims Trinitätstheologie bietet: Mehlmann,
Axel: De unitate Trinitatis. Forschungen zur Trinitätstheologie Joachims von
Fiore im Zusammenhang mit seinem verschollenen Traktat gegen Petrus
Lombardus. Masch. Diss. Freiburg i. Br., 1991. Die scholastische Kritik an
Joachim behandelt: Schachten, Winfried H. J.: Ordo Salutis. Das Gesetz als
Weise der Heilsvermittlung. Zur Kritik des Hl. Thomas von Aquin an Joachim
von Fiore. Münster: Aschendorff, 1980. Die vielleicht hilfreichste Studie, die
Joachims Trinitätslehre und das Urteil von 1215 vor dem Hintergrund
zeitgenössischer Auseinandersetzungen behandelt, ist: Robb, Fiona: „The
Fourth Lateran Council’s Definition of Trinitarian Orthodoxy“, in: Journal of
Ecclesiastical History 48/1 (1997), S.22-43.
2
HbDgm I, S.184.
3
Ps 150,6.
254 ABBILDUNGEN

Grund seiner Existenz, zu verherrlichen.1 Ein für Joachim wichtiger


Psalm, dem er zugleich den Titel seines Werkes entlehnt, lautet:
Preist den Herrn mit der Zither, spielt für ihn auf der
zehnsaitigen Harfe (psalterium decem chordarum)! Singt ihm
ein neues Lied, greift voll in die Saiten und jubelt laut! Denn
das Wort des Herrn ist wahrhaftig, all sein Tun ist verläßlich.
Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr
ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes. Denn der Herr
sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da. 2
Da sich für Joachim die Ordnung der sichtbaren Welt nur von der
himmlischen Ordnung her erschließt, folgert er den Sinn der
Schöpfung aus seinen Einsichten in die invisibilia. Schon bei seinen
ersten meditativen Ausflügen in das himmlische Jerusalem begann
Joachim zu erkennen, was er mit der Pfingstvision vollständig begriff:
Die [[@Page:214]]himmlische Ordnung ist so verfaßt, daß sie Gott
auf vollendete Weise loben kann.3 Die theokratischen Visionen Jesajas
und Johannes’ von Patmos bestätigen dies: Rings um den Thron
Gottes erklingt Tag und Nacht das Sanctus.4
Einen tiefen Einblick in die himmlische Lobesordnung erlaubt
Joachim in der Expositio in Apocalypsim. Er legt eine Stelle der
Offenbarung des Johannes aus, in welcher der Seher folgende Vision
beschreibt: In dem Moment, in dem alle Siegel des himmlischen
Buches geöffnet sind, also der Plan Gottes offen zutage liegt, werden
Himmel und Erde eine geordnete Einheit bilden, um den Schöpfer und
Herrscher zu verherrlichen. In der Apokalypse heißt es:
Und alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, unter der
Erde und auf dem Meer, alles, was in der Welt ist, hörte ich
sprechen: Ihm, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm
gebühren Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft in alle
Ewigkeit.5
Joachim erklärt:
Mit dieser Vision des Johannes stimmt ein Satz des Paulus
überein, den er im Brief an die Philipper formuliert: „Für uns
wurde Christus gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen
verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel,
auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem
1
Sh. v.a. Ps 104; vgl. Augustinus, [[De civ. Dei XII,5 >> Augustine:De civ.
Dei 12.5]].
2
Psalt. I, fol.229vb-230ra; Ps 33,2-4.6.9.
3
„Non solum autem sed etiam tunc sentire incipiebam, quid illud sit quod in
alio psalmo scriptum est: Beati qui habitant in domo tua Domine, in secula
seculorum laudabunt te.“ Psalt. praef., fol.227ra, korr. n. Selge; Ps 84,5.
4
Psalt. I, fol.228vb; Jes 6,2; Offb 4,8.
5
Offb 5,13.
255 ABBILDUNGEN

Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der
Herr‘ – zur Ehre Gottes des Vaters.“ […]

[…] Heilige Männer bestätigen bald durch Zeichen, bald durch


Mysterien, daß es wahr ist, daß nur dem allein Lob und Ehre
und Herrlichkeit und Kraft zukommen, der, soviel es an ihm
liegt, will, daß niemand zugrunde geht, sondern daß alle dahin
gelangen, ihn zu erkennen. Um es kürzer zu sagen, und was der
Wahrheit noch näher kommt: Man hört deshalb, daß alle
Geschöpfe ihn lobten, nachdem das Buch geöffnet wurde, weil
der, der durch die Selbstoffenbarung des Herrn (Domino
revelante) zur Erkenntnis gelangt, genau abzuschätzen vermag,
daß alles zum Lobe des Herrn erschaffen wurde (omnia
perpendit ad laudem Dei esse creata).1
Hier sind nun jene beiden Aspekte der christlich-mittelalterlichen
Schöpfungslehre zusammengedacht: Die Verherrlichung des
Schöpfers ist der Sinn der Schöpfung. Aber die Geschöpfe können
Gott erst dann auf vollendete Weise loben, wenn seine Herrlichkeit
zur Gänze sichtbar wird, wenn sein Wesen und sein Schöpfungsplan
vollständig offenbar sind. Die Kenosis, die Selbstentäußerung des
Gottessohnes, ist in diesen Prozeß eingeordnet.2 [[@Page:215]]
Nach allem, was bisher gesagt wurde, muß die Kenntnis des
göttlichen Wesens dort am größten sein, wo das Lob Gottes auf
vollendete Weise dargebracht wird, im Himmel. Und unter Bezug auf
diesen himmlischen Lobgesang, das dreifache Sanctus, das Jesaja und
Johannes in ihren Visionsberichten beschreiben, legt Joachim im
Psalterium ein Glaubensbekenntnis ab:
Dieser Gesang der Heiligen ist das vielstimmige, ständige und
allgemeine Bekenntnis der Erwählten. Es kann kein heiliges
Wesen geben, das die Vortrefflichkeit dieses Bekenntnisses
nicht kennt. Welchen Katholiken gibt es, der sich nicht
fälschlich orthodox nennt und dies nicht ausruft? Der nicht den
allmächtigen einen und dreifaltigen Gott bekennt? Alle legen
mit einer Stimme dies eine Bekenntnis ab. Gott ist nämlich
einer, ohne Vermischung seiner Personen, dreifaltig in seinen
Personen und ohne Teilung seiner Substanz. Immer ist er das,
was er ist, niemals kann er etwas anderes sein als der dreifaltige
und eine. Er kann sich nicht wandeln, auch nicht geteilt werden,
nicht leiden, nicht verringert oder vermehrt werden. […] Wir
bekennen nämlich auf das wahrhaftigste, fromm und gläubig,
daß drei Personen dieses Eine sind und dies Eine drei Personen,
daß der Vater von keinem stammt, der Sohn vom Vater und von
beiden der Paraklet, daß nur der Sohn allein vom Vater geboren

1
Exp. II, fol.113rb-vb; Phil 2,8-11; 1 Tim, 2,4.
2
„Idcirco enim Dei Filius venit in carne, ut videat omnis caro pariter salutare
Dei.“ Ench., Burger 71,2031f.; vgl. Exp. Intr., fol.17rb; Lk 3,6.
256 ABBILDUNGEN

wird, daß aber der Heilige Geist aus beiden hervorgeht. 1


Wenn es oben hieß, daß Joachim nicht am Dogma zweifelte und in der
Trinitätstheologie weitgehend konventionell dachte, dann scheint dies
im Widerspruch dazu zu stehen, daß das IV. Lateranische Konzil im
Jahr 1215 seinen Traktat De unitate seu essentia Trinitatis verurteilte.2
Die dogmengeschichtlich äußerst bedeutsame „Analogieformel“
wurde nicht einfach verkündet, sondern konkret gegen die Inhalte von
Joachims Werk ausgesprochen:
Zwischen Schöpfer und Geschöpf kann keine noch so große
Ähnlichkeit festgestellt werden, ohne daß man sich einer je
noch größeren Unähnlichkeit zwischen beiden bewußt sein
muß.3
Eigentlich hatte man sich im lateinischen Westen schon frühzeitig
dafür entschieden, daß die bildhafte Darstellung der Gottheit zur
religiösen Erziehung der Gläubigen beitragen und daß man den
Betrachter geeigneter Figuren zu größerer Bekanntschaft mit dem
Schöpfer führen kann. Nichts anderes wollte Joachim. Der Abt befand
sich im [[@Page:216]]Einklang mit einer vielhundertjährigen
Geschichte christlicher Sakralkunst und einer Lehrtradition, die über
die Kirchenväter bis zu Paulus zurückreicht.4 Allerdings konnte er
nicht vorausahnen, daß das Lateranum schon bald nach seinem Tod
eine tendenziell ikonoklastische Entscheidung fällen würde.5
Offenbar versuchten einflußreiche Kreise – zu denken ist vor
allem an die Pariser Scholastik und ihre kurialen Protagonisten 6 – bei
dem Konzil eine Entscheidung gegen die epistemologischen
1
Psalt. I, fol.229ra; Offb 4,8; Jak 1,17. Joachims (hier nur auszugsweise
wiedergegebenes) Bekenntnis stimmt teils wortgleich überein mit dem aus dem
5. Jh. stammenden pseudo-athanasianischen Symbolum „Quicumque“.
Denzinger/Schönmetzer 41f., §75.
2
Dieser Traktat ist trotz intensiver Suche zahlreicher Forscher niemals
aufgefunden worden. Einen Überblick über die Forschungshypothesen gibt
Mehlmann 1991, S.279ff. Ich möchte mich der Vermutung von Kurt-Victor
Selge anschließen, wonach es sich bei diesem Traktat nicht um eine
eigenständige Schrift handelte, sondern um das erste Buch des Psalterium
decem chordarum, das den Titel De contemplatione Trinitatis trägt und von
Joachim möglicherweise gesondert herausgegeben wurde. Jedenfalls enthält
dieser Text praktisch alle Aussagen, die das Konzil beanstandete. Allerdings
wurde das Psalterium nicht verurteilt. Selge 1990, S.113ff.
3
„[…] inter creatorem et creaturam non potest similitudo notari, quin inter eos
maior sit dissimilitudo notanda.“ Denzinger/Schönmetzer 262, §806.
4
Zwar verweist der Kanon des Konzils auf eine Reihe von Bibelstellen, die
Joachim falsch interpretiert habe, aber die Erkenntnislehre von Röm 1,19f., auf
die sich der Abt immer berufen konnte, wird bezeichnenderweise übergangen.
5
In der Konsequenz dieser Entscheidung liegt etwa das im Jahr 1628
ausgesprochene Verbot Urbans VIII., die Trinität als drei nebeneinander
stehende menschliche Gestalten darzustellen. HbDgm II, S.481.
6
Robb 1997, S.22-43, S.24.
257 ABBILDUNGEN

Grundlagen der kontemplativen Klostertheologie herbeizuführen. So


richtet sich das Dekret vor allem gegen Joachims Erkenntnistheorie
(oder was man dafür hielt), weniger gegen seine Trinitätslehre, die
man für grundsätzlich orthodox erachtete. Man hätte sicherlich nicht
Joachim als Negativbeispiel gewählt, wenn sich jener nicht dazu
verstiegen hätte, völlig verfehlte Anschuldigungen ausgerechnet gegen
Petrus Lombardus vorzubringen, ihn gar der Ketzerei und des
Wahnsinns zu beschuldigen.1 Nachdem das Konzil schließlich die
Trinitätslehre des Lombarden kanonisierte, lag es nahe, Joachims
Schrift zu verurteilen.2 Der Abt war zwar keineswegs der einzige, der
publizistisch gegen den Lombarden vorging,3 aber seine in der Tat
peinlichen Mißverständnisse schienen sich gut zu eignen, die
kontemplative Theologie insgesamt in Mißkredit zu bringen.4
1
Denzinger/Schönmetzer 261, §803; vgl. Psalt. I, fol.232rb, 242va; Psalt. II,
fol.277rb.
2
Daß Joachim auch andernorts (Vita Ben. 20, Baraut 45,41) von der
blasphemia Petri spricht, ist offenbar nicht aufgefallen.
3
HbKg III/2, S.115.
4
Joachims Dilemma besteht im Grunde darin, daß die katholische Dogmatik
die Dreieinigkeit spätestens seit dem Konzil von Nizäa in den Begriffen der
hellenischen Metaphysik beschreibt, daß Joachim selbst aber nicht willens ist,
sich auf Metaphysik einzulassen. Aus Sicht der Hochscholastik konnte Thomas
von Aquin später sagen, Joachim verfüge nicht über die Bildung, um die
Subtilitäten der Glaubensdogmatik zu begreifen (in subtilibus fidei dogmatibus
rudis). (Das Urteil findet sich in einem Kommentar zum Dekretale des IV.
Lateranum, Opusculum De errore Abatis Ioachim. Sh. Schachten 1980, S.65.)
In der Tat fehlt Joachim der Horizont, um mit abstrakten Begriffen wie
substantia und essentia im zeitgemäßen Stil umgehen zu können. (Sh. die
Kritik des Thomas an Joachim in [[Sum. Theol. I, qu.39, a.5c >> Summa:STh.,
I q.39 a.5]]; dazu Schachten 1980, S.105f.). Das Problem ist, daß er es – mit
nicht geringer Selbstsicherheit – trotzdem tut. Zwar ist er sich dessen bewußt,
daß die dogmatische Begrifflichkeit größtenteils nicht aus der Bibel kommt,
sondern von den Graeci. Psalt. I, fol.231va, 232ra. Aber eine plausible Kritik an
der metaphysischen Theologie, d.h. an der Anwendung der neuplatonischen
Hypostasenlehre und der aristotelischen Kategorien auf
Offenbarungswahrheiten, vor allem aber an ihrer dogmatischen Verhärtung,
hätte bei den Begriffen ansetzen müssen. Doch soweit wagt sich Joachim nicht
vor. Dazu hätte er sich mit den philosophischen Gehalten der abendländischen
Überlieferung ernsthaft auseinandersetzen und unter Umständen gar das
Dogma in Zweifel ziehen müssen. Eher versucht er die Terminologie der
Konzilsbeschlüsse mit seinen Analogien aus der kreatürlichen Welt in
Übereinstimmung zu bringen. Diesen Versuch muß man wohl als gescheitert
betrachten, denn, wie schon Abaelard sah, läßt sich die Konsubstantialität nicht
anhand einer Trias von geschöpflichen Dingen verstehen. Sh. Robb 1997, S.40.
Eine Auswirkung dieser Verwirrung ist Joachims Verurteilung des Petrus
Lombardus, der von der göttlichen Substanz Gottes als einer gewissen höchsten
Wirklichkeit (quaedam summa res) gesprochen hatte. Joachim zeigt sich
unfähig, die summa res als Abstraktum zu denken, und wirft daher dem
Lombarden die Einführung einer Vierfaltigkeit (quaternitas) vor. Psalt. I,
fol.229rb u.ö. „It shows Joachim’s visual imagination at work, how he automat-
258 ABBILDUNGEN

[[@Page:217]]
Es ging dem Konzil nicht um Joachim selbst, das sei betont. Hätte
man ihn treffen wollen, wäre in seinen Werken viel Problematischeres
zu finden gewesen. Die Geschichtstheologie wurde vom IV.
Lateranum gar nicht beachtet, obwohl Papst Innozenz selbst mit ihr
vertraut war. Interessant ist, daß das Konzil von den zahlreichen
Analogieschlüssen Joachims keinen namentlich beanstandete,1 außer
einem einzigen. Im Dekret heißt es, Joachim gestehe zwar zu, daß
Vater, Sohn und Heiliger Geist eine Substanz, ein Wesen und eine
Natur seien …
Aber er bekennt, daß die Einheit (unitas) nicht solchermaßen
wahr und eigentümlich ist, sondern wie eine kollektive und
durch gegenseitige Ähnlichkeit gekennzeichnete (quasi

ically turns the concept of the quaedam summa res into an object, picturing it in
relation to other objects.“ Robb 1997, S.27; vgl. Mehlmann 1991, S.257f; 266f.
Freilich eifert Joachim zugleich seinen Vorbild Bernhard von Clairvaux nach,
der einst Gilbert de la Porrée gleichfalls den Glauben an eine quaternitas
vorhielt, weil er die Gottheit (deitas) zu den drei Personen hinzufüge. De cons.
V,vii,15, Winkler I,798 mit Anm.151.
1
Joachim wählt als kreatürliche Analogien zur Trinität u.a. die Sonne, das
Feuer und den Baum. Psalt. I, fol.229 rb-va, 232ra, 232va. Würde man nur eines
von Joachims Bildern betrachten, müßte man immer feststellen, daß sie alle in
irgendeiner Weise dem Dogma widersprechen. Aber damit hätte man Joachim
mißverstanden. Ihm ging es darum, mit jeder seiner Analogien einen
bestimmten Aspekt des göttlichen Wesens herauszustellen oder eine Ketzerei
zurückzuweisen. Zwar betont Joachim immer wieder, daß keines seiner Bilder
geeignet sei, die unbegreifliche Einheit Gottes zum Ausdruck zu bringen, aber
sein Fehler liegt darin, daß er die Analogien als Erklärung metaphysischer
Begriffe ausgibt, die er selbst als solche nicht verstanden hat. Das analogische
Schließen von der Kreatur auf den Schöpfer, das Joachim den nicht geistlich
begabten Gläubigen empfiehlt, verlangt die Verlagerung der Wahrnehmung
vom Auge des Fleisches auf das Auge des Verstandes, von der äußeren Schau
auf die innere Schau. Joachim, der das Erkenntnisziel aus der geistlich
verliehenen Einsicht schon kennt, sieht die Aufgabe des vir spiritualis darin,
diesen Erkenntnisprozeß zu lenken (dirigere). Psalt. II, fol.256rb. Aber immer
ist die göttliche Illumination, die auf die Herzen (corda) und nicht auf die
äußeren Augen (oculi exteriores) wirkt, Voraussetzung jeglicher Erkenntnis.
Psalt. I, fol.229rb. In diesem Sinne dienen Joachims Figuren vor allem dazu,
kontemplativ gewonnene Erkenntnisse festzuhalten und zu vermitteln, und
weniger dazu, die Trinitätsdogmatik bildlich darzustellen. Es versteht sich von
selbst, daß der assoziative Übergang von der äußeren zur inneren Schau keinen
Zwischenschritt metaphysischer Reflexion zuläßt. Weil Joachim meinte, durch
ständiges Zitieren dogmatischer Formulierungen seine Orthodoxie unter
Beweis stellen zu müssen, hat er der Klarheit seiner kontemplativen
Erkenntnislehre selbst geschadet. Auch die sogenannten trinitarischen Figuren
im Liber Figurarum (Lib. fig, tav.XXVI) dienen lediglich der Klärung
häretischer Positionen. Wollte man annehmen, Joachim hätte mit diesen
primitiven Bildchen das Wesen der Gottheit darstellen wollen, müßte man ihm
eine Naivität unterstellen, die sich anhand seines Werkes nicht bestätigen läßt.
259 ABBILDUNGEN

collectiva et similitudinaria) Einheit, so wie es heißt, daß viele


Menschen ein Volk und viele Gläubige eine Kirche sind […]. 1
[[@Page:218]]
In der Tat gibt es im Psalterium Aussagen, die man in diesem Sinne
verstehen könnte.2 Allerdings irrte das Konzil (und später auch
Thomas von Aquin3) darin, daß es Joachim darum gegangen sei, die
Trinität als Kollektiv zu deuten.4 Wenn man das Dekret genauer liest,
stellt man fest, daß Joachim ohnehin keine Häresie vorgeworfen
wurde, was wahrscheinlich ernsthaftere Folgen gehabt hätte, sondern
lediglich eine unzulässige Analogie.5
Es entbehrt nicht der Ironie, daß ausgerechnet Innozenz III., der
das Konzil einberief, eine ähnliche Analogie von Trinität und
Kollektiv gebrauchte und sich dabei auf die Schriften Joachims
stützte.6 Der Papst schreibt in seinem Brief an die Geistlichen des
Vierten Kreuzzuges, daß sich die Trinität in der Berufung von drei
Völkern zu einem einzigen Gottesvolk abbilde. Sowie das jüdische
Volk mit Vater, habe das lateinische Ähnlichkeit (similitudo!) mit dem
Sohn und das griechische mit dem Geist. 7 Wie schon erwähnt, ist der
Passus wörtlich aus Joachims Expositio entnommen. Er zeigt, daß es
weder Innozenz noch Joachim darauf ankam, von der Kollektiveinheit
des Gottesvolkes auf die Einheit der Gottheit zu schließen, wie es dem
Abt beim Lateranum vorgeworfen wurde, sondern andersherum das
Wirken der Trinität auf die Ordnung und die Geschichte des
Gottesvolkes darzutun.8 Joachim hat die Trinität nicht mit dem
1
Denzinger/Schönmetzer 261, §803.
2
Z.B. Psalt I, fol.231rb-va, 232va-vb.
3
Sh. Schachten 1980, S.102.
4
Vgl. Mehlmann 1991, S.569ff.
5
Man vergleiche nur die versöhnlichen Worte, die man abschließend für
Joachim fand, mit der geradezu wütenden Verurteilung Amalrichs von Bena,
die sich unmittelbar anschließt. Der Teufel habe dessen Verstand derart
geblendet, daß sein perversissimum dogma nicht mehr als häretisch einzustufen
sei, sondern schlichtweg als krank. Denzinger/Schönmetzer 263, §808. Dazu
meint Kurt-Victor Selge: „Es ist doch höchst bemerkenswert, daß gerade in
einer solchen häreseologischen Paniksituation, wie es die Zeit zwischen
Innozenz III. und Gregor IX. war, Joachims trinitätstheologischer Angriff auf
Petrus Lombardus (als Erben der Häresie der trinitätstheologischen
‚Dialektiker‘) nur als ‚error Joachimi‘, nicht als Häresie abgewiesen, im
übrigen aber sein erklärter Wille zur Rechtgläubigkeit im Sinne der Römischen
Kirche anerkannt wurde.“ Selge, Kurt-Victor: „Trinität, Millennium,
Apokalypse im Denken Joachims von Fiore“, in: Atti V (2001), S.47-69, S.48.
6
Im übrigen kann man daher ausschließen, daß es der Papst selbst war, der die
Anklage gegen Joachim betrieb; eher wird man ihm den apologetischen Absatz
im Dekret zuschreiben müssen, der Joachims Ehre als Ordensgründer und
katholischer Schriftsteller rettet. Sh. Denzinger/Schönmetzer 262f., §807.
7
Text bei Egger 2001, S.145f.
8
„Quocirca, quia ipse in unitate trinus est, quesivit semper et querit quomodo
plures homines et diversi populi convenirent in unum, sciens quod nulla possit
260 ABBILDUNGEN

[[@Page:219]]äußerlichen Auge in der Geschichte geschaut, sondern


mit dem inneren Auge in der Vision des Psalters.1 Wenn das Konzil
die Bildlehre der dissimiles similitudines verwirft, dann trifft das
lediglich Joachims auf Röm 1,19f. gestütztes pädagogisches Konzept,
nicht aber den pneumatisch-kontemplativen Erkenntnisweg der viri
spirituales. Denn deren Wissenschaft (scientia) stehen die
geschöpflichen Dinge (res create) geradezu im Wege:
Wenn du nämlich nicht den Geist (mens) befreist vom Bemühen
um die Meditation dessen, was zur Wissenschaft der Dinge
gehört, die, wie der Psalmist sagt, in Weisheit geschaffen sind,
wirst du die Süße der Liebe Gottes nicht wahrnehmen können,
die gewöhnlich aus der Präsenz des heiligen Geistes in gänzlich
freie Gemüter (mentes) eingegossen wird. […]. Sowie nämlich
jemand im Schriftstudium keine Fortschritte machen kann,
wenn er sich nicht von der Unruhe der irdischen
Angelegenheiten vorsichtig losmacht, so gelangt er auch nicht
dahin, jenes einfache Wesen, das Gott ist, durch die Ankunft
des Heiligen Geistes zu schauen, wenn er nicht vom Getöse der
geschöpflichen Dinge, der Aktivitäten und aller Worte, die zur
Wissenschaft der Schriften gehören, ausruht, und den Eifer und
die Hingabe seiner Aufmerksamkeit allein dem zuwendet, der
alles geschaffen hat.2
Insofern muß es fast zwangsläufig zu Mißverständnissen führen, wenn
esse felicitas ubi scissio et diversitas est.“ Psalt. I, fol.233 va, korr. n. Selge. Die
Denkbewegung verläuft von oben nach unten, vom Schöpfer zu den
Geschöpfen: „Habet enim et istud simplicitas illa in qua non est aliqua partium
sive divisio voluntatum, sed summa unitas et inscissa maiestas. Ut enim a su-
pernis illis redeamus ad ima nostra illud boni semper et ubique habere unitas
consuevit, ut, quod singuli est proprium, plurimum faciat esse comune. Si
autem id agitur per hoc bonum ut id habeat singulus quod habent omnes, quid
possunt habere omnes quod non habeat unus? Verum hoc apud homines. Apud
Deum autem non agitur horum quicquam, sed est id quod est; ad cuius summi
boni similitudinem formanda erat rationalis creatura, non in plenitudine maies-
tatis assumpta, sed ad imaginem ipsius participatione gratie sublimata.“ Psalt. I,
fol.235ra.
1
Insofern ist folgender Satz von Marjorie Reeves so nicht haltbar: „Thus
Joachim believed that the mystery of the Trinity was to be understood through
the study of history, since its nature and activity were made manifest in the
time-process.“ Reeves, Marjorie: „The Abbot Joachim’s Sense of History“, in:
1274. Année charnière. Mutations et Continuités. Paris: Éditions du CNRS,
1977, S.781-796. Denn nach Joachim bedarf es des hermeneutischen Charismas
der intelligentia spiritualis, um das Wirken der Gottheit in der Geschichte
erkennen zu können. Die Aufgabe des geistbegabten Exegeten besteht seiner
Auffassung nach darin, die Ordnung und den Sinn der Geschichte von seiner
Einsicht in die Gottheit her verständlich zu machen und nicht umgekehrt die
Gottheit durch Geschichtsstudium zu begreifen. „Ante omnia intellige Deum
tuum esse tres Personas plenas, integras atque perfectas […].“ De art. fid.,
Buonaiuti 5,9f.
2
Psalt. I, fol.241vb; vgl. Ps 104,24.
261 ABBILDUNGEN

in Studien über das Psalterium übersehen wird, daß das Werk mit
einem Visionsbericht beginnt. Denn dann kann es leicht geschehen,
daß das pädagogisches Konzept für die Masse, also der Weg von den
visiblia zu den invisibilia, und die Erkenntnislehre für die Elite, also
der Weg von den invisibilia zu den visibilia, verwechselt werden.1
Diese beiden Wege zum göttlichen Wissen, von denen der eine
gleichsam induktiv von unten nach oben und der andere deduktiv von
oben nach unten verläuft, müssen unbedingt auseinandergehalten
[[@Page:220]]werden, will man die hierarchische Konzeption der
„Wissensgesellschaft“ verstehen, die Joachim später entworfen hat.

Man muß sich den Aufbau des Psalterium ansehen, um Joachims


Intention besser zu erkennen. Das erste Buch beginnt mit der
Vergegenwärtigung der visionär geschauten Gestalt des Psalters und
endet in Reflexionen über die rechte Ordnung der Christenheit. Das
zweite Buch befaßt sich über weite Strecken fast ausschließlich mit
der christlichen Sozialordnung und der Ordnung der Geschichte.
Joachim verlangt nicht zuerst nach subjektiver Gotteserkenntnis,
gerade darin will er sich von Scholastik und ihrem „Wissen um des
Wissens willen“ absetzen.2 Was ihn antreibt, ist eine genuin politische
Frage, um deren Beantwortung sich alle seine Hauptwerke bemühen,
die Frage nach dem Telos der Kirchenreform: Wie müßte die
christliche religio aussehen, wenn sie auf das Beste geordnet und
ausdifferenziert wäre (si religio Christiana perfecte esset ordinata et
distincta)?3
1
So in den einschlägigen Schriften Stephan Ottos: „Der Bildbegriff bei
Joachim von Fiore und die Bildformel des 4. Laterankonzils“, in: Ders.: Die
Funktion des Bildbegriffes in der Theologie des 12. Jahrhunderts. Münster:
Aschendorff, 1963, S.292-309. Und: „Die Denkform des Joachim von Fiore
und das Caput ‚Damnamus‘ des 4. Laterankonzils“, in: Ders.: Materialien zur
Theorie der Geistesgeschichte. München: Fink, 1979, S.106-133. Die
„Denkform“ Joachims wird dort geradezu verfehlt, denn bei dem Abt handelt
es sich um einen Theoretiker der intelligentia spiritualis und nicht der
analogia entis, wie Otto behauptet. Die deutlichste Klarstellung findet sich
dort, wo Joachim seine Baumfiguren erläutert: […] non quasi ex similitudine
fingenda est ueritas, sed magis, ueritate perspecta, propter eos qui tardioris sunt
ingenii, similitudo significans adhibenda […].“ Conc. IIb,1, fol.19 rb, Daniel
145,19-146,21. Vgl. Conc. V,75, fol.101vb: „[…] ydolum nichil est.“
2
„Aliud est enim respicere quod factum est, aliud speculari eum qui fecit quod
factum est, sicut aliud est sciri aliquid ut sciatur, aliud sciri ut diligatur. Ibi est
scientia sola que sepe inflat, hic cum sapientia caritas que edificat.“ Psalt. I,
fol.242ra. Das Pauluszitat (1 Kor 8,1) macht deutlich, daß es Joachim ebenso
wie dem Apostel um den Aufbau der Ekklesia geht. Das falsche Wissen fördert
die Hybris des einzelnen und die Individualisierung, das rechte Wissen bringt
die gemeinschaftskonstituierende Liebe hervor.
3
Conc. V,22, fol.71rb. „Das Motiv, aus dem erst die trinitätstheologische, dann
262 ABBILDUNGEN

Religio meint bei Joachim – dem klassisch-lateinischen Gebrauch


des Wortes entsprechend – die Gottesverehrung, durchaus auch im
kultischen Sinne.1 Er spricht von verschiedenen Arten der
Gottesverehrung (species religionis), wie sie jeweils bei bestimmten
Kollektiven, etwa Völkern oder Ständen, oder zu bestimmten Zeiten
üblich sind (religio pharisaeorum, religio monastica, secundi stati
religio etc.). Der Begriff umfaßt sowohl das äußerlich sichtbare
Verhalten als auch die innere Haltung.2 Aber ganz im Gegensatz zum
neuzeitlichen Religionsbegriff setzt die wahre religio bei Joachim den
Glauben (fides) an das orthodoxe Dogma eher voraus, als daß sie ihn
beinhaltet. Denn ein ketzerisches [[@Page:221]]Bekenntnis würde
eine wahre Verehrung Gottes von vornherein ausschließen.3
Von der religio, von der Weise der Gottesverehrung her, bestimmt
sich nach Joachim die Gestalt der Kirche (forma ecclesie).4 Und damit
ist man wieder bei der Frage angelangt, die aus der
Schöpfungstheologie resultiert: In welcher Verfassung kann das
christliche Gottesvolk am besten Gott verherrlichen? Die Antwort, die
schon gegeben wurde, lautet: Dann, wenn die Gläubigen Gott in
seinem dreieinigen Wesen vollständig erkennen.5 Die Frage nach dem
Politischen impliziert die Frage nach dem Göttlichen. Politisches
Denken und Theologie sind eins.

die geschichtstheologische Entdeckung erwächst, ist die monastische Sehnsucht


nach der Kirchenreform, nach der wahrhaft christlichen Kirche […].“ Selge
2001, S.51. Hervorh. i. Orig.
1
Sh. den Begriff cultus religionis in Exp. I, fol.61vb. Zum Gebrauch von religio
bei Cicero und den Kirchenvätern: Feil, Ernst: Religio. Die Geschichte eines
neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, S.39ff. Das Joachim-Kapitel dieser
sonst aufschlußreichen Studie ist leider nicht zu empfehlen. Keines der
Hauptwerke wurde von Feil gesichtet, lediglich die beiden in dieser Hinsicht
unergiebigen Schriften Adversus Judaeos und De articulis fidei. Daher lautet
das unbefriedigende Fazit: „Insgesamt ist der Befund so dürftig, daß aus ihm
keine Schlüsse für eine nennenswerte Bedeutung des Terminus ‚religio‘
gezogen werden können.“ Ebd., S.116.
2
„Illa est enim vera religio in conspectu Dei que et foris lucet per exemplum, et
intus accensa est per ardorem iustitie.“ Exp. V, fol.185va. Die Verknüpfung von
religio und iustitia, im Sinne einer Gerechtigkeit gegenüber der Gottheit, findet
sich ebenfalls schon bei Cicero. Feil 1986, S.40, 43ff.
3
Sh. z.B. Exp. Intr., fol.18va: „[…] tres Deos aut Dominos dicere catholica reli-
gione prohibemur.“ Der Teufel versucht daher, die Gläubigen zu einer falsa
religio zu bekehren, in der sie ihn an der Stelle Gottes verehren, nachdem sie
zuvor den Glauben an den gekreuzigten Gottessohn und die Trinität abgelegt
haben. Exp. IV, fol.167vb.
4
Conc. V,22, fol.71va.
5
Der Gedanke ist schon bei Cicero vorhanden: Das richtige Wissen um die
Gottheit ist die Voraussetzung dafür, sie in der religio angemessen verehren zu
können. Feil 1986, S.42. Im Grunde dreht sich Platons Eutyphron um das
gleiche Thema.
263 ABBILDUNGEN

Zwei Begriffe stehen im Mittelpunkt von Joachims Trinitätslehre,


processio und missio. Der erste beschreibt das innergöttliche Leben,
die ewigen Beziehungen der göttlichen Personen zueinander, der
zweite das Verhältnis der Gottheit zur Menschheit. Ausgangspunkt ist
die von Augustinus gegenüber der Kategorienlehre des Aristoteles
vorgenommene „Rehabilitation der Relation“ (K. Flasch),1 die
letztlich ein Ergebnis trinitätstheologischer Reflexion ist. Denn wenn
Vater, Sohn und Geist wesensgleich und gleichewig sind, wenn in
jeder Person immer auch die anderen präsent sind und wenn die
einzelne Person nicht weniger ist als die ganze Gottheit, dann
unterscheiden sich die Personen nicht in ihrer Substanz, nicht in
Quantität und Qualität, noch anderen Akzidentien wie Ort, Zeit, Lage
etc., sondern durch ihre Beziehungen untereinander (relationes in
deitate).2 In Joachims Sinn lassen sich die Relationen zunächst anhand
der innergöttlichen Prozesse beschreiben.
Gott der Vater ist der Urgrund (principium) aller Prozesse. In
einer ewigen processio gehen aus ihm sowohl der Sohn als auch der
Geist hervor, wobei nur das Hervorgehen des Sohnes ein
Geborenwerden (nasci) genannt wird. Der Geist geht aber nicht nur
aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn hervor, er hat also an zwei
processiones teil. Wichtig ist, daß es sich nicht um zeitliche, sondern
um ewige Prozesse handelt, denn die Gottheit ist unwandelbar. Die
Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sind
gleichewig (coeterne). Insgesamt ergeben sich vier ewige Relationen
der göttlichen Personen untereinander, zu denen aber noch eine fünfte
zeitliche hinzukommt, die Beziehung der Gottheit zu den Menschen. 3
[[@Page:222]]
Ein weiterer Begriff, der in diesem Zusammenhang bedeutsam ist,
ist proprietas bzw. proprium. Damit wird die jeweilige relationale
Eigentümlichkeit einer Person bezeichnet. In Anlehnung an den
lateinischen persona-Begriff definiert sich die Eigentümlichkeit einer
Person zuerst aus ihrer Rolle in den innergöttlichen Prozessen. Die
proprietas des Vaters besteht unter anderem darin, daß er selbst aus
keiner anderen Person hervorgeht, aber die beiden anderen Personen
aus ihm hervorgehen. Der Sohn geht aus dem Vater hervor, wie der
Geist wiederum aus dem Sohn hervorgeht. Und der Geist schließlich,
der die Liebe zwischen Vater und Sohn ist, geht aus beiden anderen
Personen hervor. Alle Personen samt ihren proprietates bilden

1
Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken. 2., durchges. Aufl.
Stuttgart: Reclam, 1994, S.353ff.
2
Psalt. II, fol.258va.
3
Psalt. I, fol.230vb, 235ra, 238ra; Psalt II, fol.256rb.
264 ABBILDUNGEN

zusammen eine vollkommene Einheit (unitas perfecta).1 Solange


Joachim von der Gottheit hinsichtlich ihres von allem Geschöpflichen
verschiedenen Wesens spricht, ist die unitas perfecta nicht mit der
Vorstellung einer Kollektiveinheit verbunden. Wenn sich ein solcher
Gedanke aufdrängt, dann liegt das nicht an Joachim, der bis zu diesem
Punkt weitgehend Augustinus folgt, sondern an den gleichfalls schon
von Augustinus kritisierten Unzulänglichkeiten des Personenbegriffs.2
Um der politischen Bedeutung dieser Gotteslehre
näherzukommen, bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als sich auf
das pädagogische Konzept Joachims ein Stück weit einzulassen. Man
muß die Figur des Psalters betrachten, die er als zeichenhafte
Abbildung seiner Vision erstellte (sh. Abbildung 2 im Anhang); nur so
kann man eine Ahnung davon erhalten, welche Strukturen der
himmlischen Ordnung Joachim erkannt zu haben glaubte: Die
dreieickige Form des Psalters verbildlicht das Wesen Gottheit. 3 Dies
entspricht der Selbstauskunft Gottes, der sich in der Apokalypse als
Alpha und Omega kundtut.4 Denn der Umriß des Musikinstruments
ähnelt dem Buchstaben Alpha und das Schalloch dem Omega (es wäre
pedantisch darauf zu bestehen, daß es sich eigentlich um ein Omikron
handelt). Die oberste Ecke des Psalters ist abgeflacht und entspricht
dem Vater, der in besonderer Weise Urgrund allen Seins ist. Aus ihm
gehen die beiden Linien hervor, die in den spitzen Ecken der beiden
anderen Personen münden und daher das Hervorgehen des Sohnes und
des Geistes aus dem Vater darstellen. Die Kreisform des Schalloches
steht für die unitas perfecta.5
Die Gestalt des Psalters deutet aber nicht nur auf das Wesen der
Gottheit hin, sondern zugleich auf die Gesamtordnung der invisibilia,
auf die Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem. Die zehn Saiten
stehen für die zehn hierarchisch gestuften Chöre (ordines) der
himmlischen Heerscharen. Ihr Lobgesang läßt gleichsam die Saiten
des Psalters erklingen, und die himmlische Musik verbreitet sich über
das Schalloch zu den drei Winkeln der göttlichen Personen.6 Das
Psalterium decem chordarum, jenes Musikinstrument, das seit David
in besonderer Weise der Verherrlichung Gottes dient und nach dem
Joachim sein Werk benannt hat, steht also für jene vollkommene
Lobesordnung, die von Anfang an das Ziel der Schöpfung war, aber
erst im Jenseits gänzlich [[@Page:223]]verwirklicht werden kann.
Nun gibt es aber nach der pseudo-dionysischen Hierarchienlehre
nur neun Engelschöre, wofür also steht die zehnte Saite? Sie trägt den
Namen homo, denn erst mit der Wiederherstellung des gefallenen
1
Psalt. I, fol.235ra; Psalt. II, fol.257vb.
2
[[De trin. VII,4 >> Augustine:De Trin. 7.4]].
3
Psalt. I, fol.234ra.
4
Offb 21,6.
5
Psalt. I, fol.232vb-233ra.
6
Psalt. I, fol.242va-vb.
265 ABBILDUNGEN

Menschengeschlechts vollendet sich die himmlische Ordnung, wie sie


im göttlichen Schöpfungsplan konzipiert ist. Im Jenseits wird die
Menschheit den erhabensten Platz einnehmen und mehr als selbst
Seraphim und Cherubim zur Verherrlichung Gottes beitragen. Wie
Augustinus lehrt, haben der hochmütige Luzifer und seine
Engelsschar ihren himmlischen Platz eingebüßt. Daher hat Gott den
Menschen erschaffen, den er ausersah, die klaffende Lücke zu füllen. 1
Nachdem aber das edle Geschlecht durch den Fall seines Stammvaters
verdorben war, mußte Gott einen langen Erziehungsprozeß in Gang
setzen und selbst seinen Sohn aussenden, um das Menschengeschlecht
seiner Bestimmung zuzuführen und um – wie sich Joachim ausdrückt
– die verdorbene zehnte Saite des Psalters wiederherzustellen.2
Damit kommt der zweite Begriff ins Spiel, der zum Ausdruck
bringt, wie sich die processiones auf die geschichtlich existierende
Menschheit auswirken, die Sendung (missio). Mit missiones
bezeichnet Joachim unterschiedliche Aspekte im Prozeß der göttlichen
Selbstoffenbarung, die jeweils den innergöttlichen processiones
entsprechen. Denn wenn die processiones das Beziehungsgeflecht
ausmachen, in dem die Eigentümlichkeiten (proprietates) der
göttlichen Personen ihr Substrat haben, dann muß sich dies in
irgendeiner Weise in der Offenbarung widerspiegeln, die den
Menschen mit Gottes dreifaltigem Wesen vertraut machen soll. Um
sich zu offenbaren sendet (mittere) Gott der Vater also den Sohn und
den Heiligen Geist, so wie Sohn und Geist aus ihm hervorgehen
(procedere). Vater und Sohn entsenden beide den Geist, der Vater
selbst aber wird von keinem gesandt, da er auch selbst nicht aus einer
anderen Person hervorgeht. Wichtig ist, daß Sohn und Geist, auch
wenn sie in sichtbarer Gestalt zu den Menschen gesandt werden, sich
niemals aus der ewigen Einheit mit dem Vater lösen, und daß es sich
bei allen Wirkungen auf die Menschheit letztlich doch immer nur um
die eine und unteilbare Gottheit handelt.3 Um dem Leser das
innergöttliche Beziehungsgeflecht, wie es Joachim sieht, noch einmal
schematisch vor Augen zu führen, sei die Relationentafel
wiedergegeben, die sich im zweiten Buch des Psalterium findet4:
[[@Page:224]]

1
[[Ench. 16 >> Augustine:Enchir. 16]],[[61 >> Augustine:Enchir. 61]]f.
2
„Nota quod homo prelatus est omnibus ordinibus angelorum propter verbum
patris humanam carnem assumens, ut gradum chorde decimum qui corruit res-
tauraret.“ Psalt. I, figura I, fol.226r.
3
„Quod si pater, sicut a nullo est, ita nunquam legitur missus, filius vero et spi -
ritus sanctus, alter quidem in carnis substantia, alter in columba et igne, ab eo
qui a nullo mittitur missi sunt, et ita missi ad homines, ut eum qui se misit non
dimitterent, sed in eo et cum eo sine fine manerent.“ Psalt. I, fol.236 ra; vgl. Mt
3,16; Mk 1,10; Lk 3,22; Joh 1,32; Apg 2,3; vgl. Psalt. II,fol.257vb.
4
Psalt. II, fol.259r.
266 ABBILDUNGEN

1. Relation des Vaters zum Sohn Weil der Vater allein zeugt.

2. Relation des Sohnes zum Vater Weil der Sohn gezeugt ist.

3. Relation des Vaters und des Sohnes zum Geist Weil beide einen aussenden.

4. Relation des Sohnes und des Geistes zum Vater Weil beide von einem gesandt w
des Vaters, des Sohnes und des Weil alle drei ein Schöpfer der g
5. Relation
Geistes zur Kreatur Kreatur sind.

Auch wenn Joachim hier nicht mehr klar zwischen processio und
missio trennt, so besteht doch ein wichtiger Unterschied: Im
Gegensatz zur innergöttlichen processio ist die missio, die
Aussendung von Sohn und Geist zu den Menschen, zeitlich begrenzt
und hat einen Anfang und ein Ende.1 Insofern gehört zu den propria
des Sohnes und des Geistes, in welcher Gestalt und zu welcher Zeit
sie sich auf Erden begeben, wie es ein proprium des Vaters ist, daß er
dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Und dennoch sind die
missiones Ausdruck des einen Wirkens (una operatio) des dreifaltigen
Gottes.2
Die missio ist also das diesseitig-manifeste Pendant zur
unsichtbaren und ewigen processio.3 Und auch diese Parallelstruktur
von processiones und missiones wird in der Figur des Psalters
abgebildet. Joachim läßt keinen Zweifel daran, daß der Grund, aus
dem nicht nur der Sohn, sondern auch der Geist in die geschöpfliche
Welt entsandt werden, die Erlösung der Menschheit ist (ad
redimendum genus humanum)4 und ihre Einordnung in die himmlische
Ordnung des Lobgesangs:
Daß also jene Ecke, die die ursprüngliche ist, scheinbar von den
anderen beiden ein wenig verschieden ist, scheint in der Tat zu
lehren, daß der Vater, so wie er nämlich von keinem anderen

1
Psalt. I, fol.238ra-vb; Psalt. II, fol.261va.
2
„Quia ergo nec temporalis nativitas pertinet nisi ad filium, nec temporalis
spiritus sancti missio vel effusio nisi ad spiritum sanctum, excepto in eo, quod
una est operatio trium propter ineffabilem unitatem et ut ita dixerim vinculum
deitatis, nichilque pertinet proprie ad personam patris quod eternum non sit.
Iure principale cornu latius est duobus, quia nimirum patris eternitas communis
est filio et spiritui sancto, temporalia vero filii et spiritus sancti que prescripsi-
mus, propria sunt filii et spiritus sancti.“ Psalt. I, fol.239 ra. „Solus autem pater
sic mittit filium et spiritum sanctum, ut a nullo mittatur, et idcirco eterna patris
divinitas communis est filio et spiritui sancto. Incarnatio vero filii, propria filii
est. Assumptio columbe vel ignis propria spiritus sancti, et si una sit operatio
trium.“ Psalt. I, fol.240rb.
3
Psalt. II, fol.261vb.
4
Psalt. I, fol.239rb.
267 ABBILDUNGEN

ausgeht, so auch niemals zu den Menschen gesandt wird;


jedenfalls hat er selbst keinen Ursprung (principium), von dem
er gesandt würde. Aber der Sohn und der Heilige Geist, die sich
in jene himmlische Stadt ergießen und mit ihrer Gnade die neun
Chöre der Engel erfüllen, fließen wie die Strömung eines
Flusses nach unten, um das Menschengeschlecht zu erlösen. 1
[[@Page:225]]Joachims Ausführungen klingen zum Teil sehr nach der
plotinischen Emanationslehre. Er spricht von dem einen Urgrund
(origo/principale principium), aus dem die Hypostasen des Sohnes
und des Geistes wie Wasser hervorfließen (manare), die vom Vater
ihr göttliches Sein erhalten und damit die Welt befruchten. 2 Zu
Joachims Zeiten fand sich die populärste Synthese von
Neuplatonismus und Christentum in den Hierarchienschriften des
Pseudo-Dionysius Areopagita, die im 12. Jahrhundert den „Höhepunkt
ihrer Wirkungsbreite“ erreichten und bedeutenden Einfluß auf das
politische Denken nahmen.3 Joachim hat ihre Inhalte mindestens aus
zweiter Hand gekannt.4 In der pseudo-dionysischen Umgestaltung der
Emanationslehre ergießt sich das Wissen der göttlichen
Selbstmitteilung zunächst über die Hierarchie der Engelschöre, bevor
es nach unten in die kirchliche Hierarchie weitervermittelt wird.5 In
der Tat scheint Joachim zunächst dem Areopagiten zu folgen.
Seine Gemeinschaftskonzeption enthält zwei implizite
Grundsätze, die beide aus der paulinischen Konzeption von Kirche als
proleptischer Gemeinschaft stammen: Erstens, die Kirche versammelt
auf Erden die Bürger, die bei der allgemeinen Auferstehung in die
jenseitige Gemeinschaft Gottes eingehen. Zweitens, die innere
Ordnung der Kirche bestimmt sich von der finalen Ordnung der
jenseitigen Gemeinschaft, vom Politeuma des himmlischen Jerusalem
1
Psalt. I, fol.236ra; vgl. Psalt. I, figura I, fol.226r: „Idcirco primum cornu
psalterii non est acutum sicut duo alia inferiora, quia pater manens in culmine
maiestatis missus non legitur, sed tantum filius et spiritus sanctus ad nostras
angustias missi sunt.“
2
„Quod ut recte fiat, principale illud cornu ex quo ars tota sumit originem, in
primo loco trium quemadmodum expedit statuamus. In quo nimirum cornu, non
alius quam deus pater intelligendus est, a quo filius et spiritus sanctus, alter
quidem nascendo, alter procedendo, id acceperunt esse, quod ipse est. Hec
igitur principalis persona, in principali cornu psalterii designata est, quod quasi
principale principium duorum esse videtur. Ibi enim (ut supra diximus) manet
initium totius vasis, et quasi aqua ex fonte manans, in quedam larga maria
dilatatur.“ Psalt. I, fol.235vb-236ra.
3
Miethke 1993, S.360ff.
4
Im Tractatus beruft sich Joachim ausdrücklich auf die „Hierarchia“ des
Areopagiten. Tract. III,16, Santi 300,14-16. Zu den Quellen der Hierarchielehre
sh. Reeves/Hirsch-Reich 1972, S.58ff, 202ff.; eine der wahrscheinlichsten
Quellen Joachims wird von Reeves und Hirsch-Reich nicht genannt: Bernhards
De consideratione. Sh. De cons. III,iv,18, Winkler 730,12-17; V,iv,7-v,12,
Winkler 782,18-794,4.
5
De coel. hier. III,2.
268 ABBILDUNGEN

her. Nun besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Paulus und


Joachim darin, daß der Abt glaubt, über sehr genaue Auskünfte zu
verfügen, wie die himmlische Stadt geordnet ist. Maßgeblich dafür
sind seine Pfingstvision, die kanonischen Visionsberichte und die
Tradition der Hierarchienlehre.
Die himmlische Ordnung, wie sie Joachim beschreibt, entspricht
gemäß der origenistisch-monastischen Überlieferung dem
Leistungsprinzip. Die entbehrungsreiche vita contemplativa läßt einen
größeren Lohn erwarten als die weltzugewandte vita activa. Zwar sind
alle Bürger des himmlischen Jerusalem vollkommen, aber ein
beständiger Grundsatz in Joachims Ordnungsdenken lautet: Zwischen
vollkommen und vollkommen besteht ein Unterschied (inter
perfectum et perfectum differentia est).1 Nicht alle verfügen über die
gleiche Kraft, weshalb Gott nicht mit einer Stimme, sondern mit der
harmonischen [[@Page:226]]Vielfalt der hierarchisch gestuften
Himmelschöre gelobt wird. Wenn aber der Himmel gestaffelt
aufgebaut ist, dann muß dies nach dem Prinzip der Prolepsis auch für
die Kirche gelten, weil sie die jenseitige Ordnung vorwegnimmt und
einst in ihr aufgehen wird.2 Durch seine Vorsehung lenkt Gott die
Kirche zu einer Gestalt hin, die dem himmlischen Hof (celestis curia)
als Schmuck dienen kann.3
1
Psalt. I, fol.230rb, korr. n. Selge.´
2
Man muß diese Konzeption nicht unbedingt nur auf biblische Quellen
zurückführen. Die Vorstellung, daß der verdiente Mensch in den ewigen
Klängen einer jenseitigen Harmonie aufgeht, ist dem Abendland vor allem
durch Ciceros Erzählung von Scipios Traum bekannt geworden. [[De re publica
V >> Cicero:Cic., Rep. 5]],18,18f. Durch seine neuplatonische Kommentierung
erleichterte Macrobius den Christen die Rezeption des Textes. Fuhrmann,
Manfred: Rom in der Spätantike. Porträt einer Epoche. München und Zürich:
Artemis & Winkler, 1994, S.143ff.
3
„Non enim est omnium equa virtus, non una nec eadem potentia, quia nec
cordarum vox una est nec eadem positio. Altior est alia alia, alia alia prolixior
est, et que altior est, altius et acutius sonat, et tamen spatio minor est. Que vero
inferior est, gravius et humilius, et tamen spatio maior est. Sed quid in his om -
nibus contemplandum nisi discretam illam ordinum multitudinem, quam tanta
Deus arte tantaque providentia moderatur, ut diversis distincta mansionibus,
hoc est dignitatibus et honoribus, celestem illam curiam ac si diuersis floribus
aut coloribus ornat, et qui maiores pauciores sunt, ne ibi adhuc Rachelem emu-
letur Lia, et qui plures sunt inferiores, ne eos qui pauciores sunt ut Phenenna
quondam fertilis Annam contempnendo confundat. Sed hoc non spatiosis ut ita
dicam limitibus interpositis sibi, ut quasi inter principes et clientes nullus ordo
medius sit – alioquin, quantum spectat ad commune iudicium, alios despicerent
alii et aliis alii inviderent –, sed dum quasi unus episcopus aliquantis sacerdoti -
bus presidet, dum sacerdotes pluribus diaconibus, dum diacones subdiaconibus,
subdiacones acolitis, acoliti exorcistis, exorciste lectoribus, lectores ostiariis,
maiores inferioribus suis quasi e vicino prelati sunt. Et diversitas honorum
sanctam illam et celestem patriam mirabiliter ornat, et livoris lesionem modera-
tio unitatis excludit. Licet enim gratia operetur ibi pacem, tamen et sapientia ibi
necessaria est, ut non solum virtute Spiritus videantur ibi celi perfecti, verum
269 ABBILDUNGEN

Die himmlische wie die kirchliche Hierarchie, die hier fast in


eins gesetzt werden, unterscheiden sich von der weltlichen
Gesellschaft – Joachim hat natürlich die Feudalordnung seiner Zeit
vor Augen – dadurch, daß die Abstände zwischen den Engelschören
bzw. den Klerikerrängen fein abgestuft sind und sich nicht eine so
gewaltige Kluft auftut wie zwischen Fürst und Lehensmann. Denn
wenn die Unterschiede gering sind und jede Ordnung jeweils nur der
nächsthöheren gehorcht bzw. der nächstniedrigeren befiehlt, dann
kann der Neid der Untergebenen ebenso wirkungsvoll unterbunden
werden wie die Überheblichkeit der Oberen. Die pseudo-dionysische
Konzeption stimmt insofern mit der Vision des Psalters überein, als
die zehn Saiten jenes Instruments in unterschiedlichen Tonlagen
erklingen. Je länger die Saite, desto tiefer der Ton und umgekehrt. Das
bedeutet, daß die Zahl derer, die auf der untersten Stufe der Hierarchie
stehen, am größten ist, während auf der obersten Stufe eine kleine
Elite zu finden ist.
Parallel zur ecclesiastica hierarchia des Areopagiten folgert
Joachim, daß die Kirche dann entsprechend dem himmlischen Ziel
geordnet ist, wenn ein Bischof einigen Priestern vorsteht, die Priester
vielen Diakonen, die Diakone den Subdiakonen, die Subdiakone den
Akoliten, die Akoliten den Exorzisten, die Exorzisten den Lektoren
und die [[@Page:227]]Lektoren schließlich den Türhütern.1 Das
Konzept ist nicht sehr originell, aber die Frage nach der religio
perfecta scheint gelöst. Ein Gregorianer hätte applaudiert: Die Kirche
ist eine klerikale Hierarchie, in der Laien nichts zu melden haben, ja
zur ecclesia im engeren Sinn nicht einmal gezählt werden.
Doch kaum hat Joachim seine Kirchenordnung präsentiert, gerät
er in tiefe Zweifel. Zwar zeigen einige seltene Passagen, daß er
durchaus versucht war, der mystischen Aufstiegslehre des
Areopagiten zu folgen.2 Aber Joachim war von der apokalyptischen,

etiam Verbo Domini firmati et solidati, ne illud in civitate illa videatur deesse,
quod Psalmista in operibus Domini admiratur dicens: Omnia in sapientia
fecisti, Domine. Psalt. I, fol.243ra-rb, korr. n. Selge; vgl. Joh 14,2; Gen 30,1; 1
Sam 1,1ff.; Ps 33,6; 104,24.
1
Sh. die vorhergehende Anmerkung. Vgl. Pseudo-Dionysius, De eccl. hier.
V,i,4-6.
2
„Illius ergo fidelis confessio aures penetrat divinitatis, qui tres quidem
agnoscit et veneratur personas, sed tamen mentis oculo unitatem cernit, quando
quidem et personas distincte cogitat non divise, et substantiam personarum non
singularem esse fingit sed unam. Talis ergo cordarum vox aures cito penetrat
maiestatis. Talis laus animalium ad celum usque tertium pergit. Qui sic orat et
psallit laudans et invocans deum suum, noverit vocem suam ad aures altissimi
pervenire, si tamen opera sua non sunt contraria voci sue. Excedit hominem,
supergreditur angelum, requiescit in deo. Ibi respicit mira misteria, ibi quod
oculus non vidit nec auris audivit, ibi archana verba que non licet homini loqui,
quia animalis, inquit, homo non percipit que sunt Spiritus Dei.“ Psalt I,
fol.243ra. 1 Kor. 2,9; 2,14; 2 Kor 1,4.
270 ABBILDUNGEN

auf die geschichtliche Dimension menschlichen Daseins gerichteten


Existenzdeutung zu nachhaltig geprägt, als daß es ihm nun genügt
hätte, sich in vertikalen Hierarchien zu verorten. Man bedenke, daß er
zu diesem Zeitpunkt bereits eine Schrift wie die Genealogia verfaßt
hatte. Anders formuliert: Die Vision des Psalters stand gegen die
Vision des Baumes.
Joachim begann die pseudo-dionysische Konzeption zu
hinterfragen: Auf der höchsten Stufe stehen die Bischöfe, die nach
dem Prinzip der apostolischen Sukzession alleine als Nachfolger der
Apostel angesehen werden. Aber muß es denn so sein, daß wenige
Väter wenige Kinder hervorbringen? Wäre das Weizenkorn Christi
nicht vergeblich zur Erde gefallen, wenn nur wenige Bischöfe die
höchste Stufe der Vollendung erreichen? Hätte dieser Same nicht eine
reiche Ernte hervorbringen sollen, die die Scheunen bis zur Decke
füllt?1 Wenngleich er es nicht offen ausspricht, hat sich Joachim
natürlich die Frage gestellt, ob denn die Bischöfe immer zu Recht an
oberster Stelle stehen. Gebührt diese Stellung nicht eher den
Mönchen, die Gott viel größere Verehrung zuteil werden lassen als der
Klerus? Denn, so fährt er fort, in der Apokalypse des Johannes ist von
jener klerikalen Hierarchie nicht die Rede. Die Vision des Sehers läßt
die himmlische Lobesordnung ganz anders aussehen:
Und ich sah: Das Lamm stand auf dem Berg Zion und bei ihm
waren hundertvierundvierzigtausend […]. Dann hörte ich eine
Stimme vom Himmel her, die dem Rauschen von
Wassermassen glich und dem Rollen eines gewaltigen Donners
glich. Die Stimme, die ich hörte, war wie der Klang der Harfe,
die ein Harfenspieler schlägt. Und sie sangen ein neues Lied vor
dem Thron und vor den vier Lebewesen und vor den Ältesten.
Aber niemand konnte das Lied singen lernen außer den
hundertvierundvierzigtausend, die freigekauft worden sind. 2
Wer aber sind jene Auserwählten, die ganz oben, vor dem Thron
Gottes stehend ihren [[@Page:228]]Gesang darbringen? Die
Apokalypse gibt zwei Antworten, die beide von Joachim zitiert
werden:
1. Sie sind es, die sich nicht mit Weibern befleckt haben; denn
sie sind jungfräulich.3
2. Es sind die, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie
haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß
gemacht.4
Damit können nicht nur die Bischöfe gemeint sein. Es handelt sich

1
Psalt. I, fol.243rb; vgl. Joh 12,24.
2
Offb 14,1-3.
3
Offb 14,4.
4
Offb 7,14.
271 ABBILDUNGEN

eindeutig um Asketen und Märtyrer.1 Joachim stellt neben die


klerikale Sukzession die Sukzession der Weltverächter, wie sie schon
seit langem monastisches Gedankengut ist.2 Die Mönche legitimieren
ihre Existenz zwar nicht mit einer personalen Sukzession, aber sie
führen ihre Lebensform auf das Vorbild der apostolischen Kirche
zurück. Neben die Personalfolge der Bischöfe, die nach Joachims
Ansicht Eliten von zweifelhafter Qualität hervorbringt,3 tritt eine
Reihung geschichtlich aufeinanderfolgender Lebensformen. Auf die
Apostel und die Märtyrer der frühen Kirche, die gleichwohl in den
Propheten des Alten Testamentes schon ihre Vorgänger hatten, folgen
die monastisch lebenden Kirchenväter; danach die ersten Asketen und
Eremiten, und nach ihnen wiederum das koinobitische Mönchtum.
Nun begreift Joachim, wie unvereinbar sein geschichtliches Denken
mit den statischen Hierarchien des Pseudo-Dionysius ist. Der
Areopagit dachte wie Origenes, dem er viel zu verdanken hat, an eine
kosmische Ordnung, die von den Cherubim bis zu den einfachsten
Kirchenfunktionen hinabreicht – analog zur hierarchischen
Seinsordnung, innerhalb der die Seele zum Ursprung der göttlichen
Einheit zurückkehrt.4
Wenn aber Himmel und Erde eine einzige immerwährende
Stufenleiter bilden, dann ist das mit der paulinischen Konzeption der
proleptischen Gemeinschaft nicht vereinbar, die von der
Nachzeitigkeit des Eschatons im künftigen Aion ausgeht. Weiterhin
würden von den höheren Stufen der himmlischen Ordnung alle
herausragenden Figuren der Heilsgeschichte ausgeschlossen, die keine
kirchlichen Funktionen im Sinne der zeitgenössischen Hierarchie
innehatten: die Propheten, die Märtyrer, die Asketen
[[@Page:229]]und Mönche. Dies konnte nicht sein! Aber auch die
trinitarischen Reflexionen Joachims waren mit dieser
Ordnungskonzeption nicht zu vereinbaren. Wenn sich die
Eschatologie im Aufstieg der Einzelseele erschöpft, welche
1
Psalt. I, fol.243rb.
2
Frank 1996, S.14f. Eine längere Abhandlung über die Sukzession der Mönche
bietet Joachim im Enchiridion. Ench., Burger 85,2472-86,2523.
3
„[…] hii qui successerunt in ipso ordine sacerdotali, nichil pene habentes de
imitatione celestis hominis, terreni sunt omnino, et terrena sectantur, non ingre-
dientes per deum ad altare sed per homines, nec intuitu diuini lucri sed obtenu
muneris temporalis. Neque enim querunt pascare gregem sed seipsos, nec
lactare paruulos, sed dominari in plebe.“ Conc. IV,25, fol.54rb-va, Daniel 392,44-
48.
4
“Die Hierarchie, die der Engel wie der Kirche – und beide zusammen bilden
die ‚Welt‘ schlechthin –, ist zwar ‚heilige Ordnung‘, indes kein in sich
ruhendes System, sondern ein Wirkungsgefüge (ẻνέργεια) der intelligiblen
Welt, dessen Leiter und Bewirker (καθηγεμών) Gott ist, mithin eine Thearchie.”
Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 1: Die Grundlegung
durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts.
München: Beck, 1990, S.53f., Hervorh. i. Orig.
272 ABBILDUNGEN

Bedeutung haben dann noch die missiones, die irdischen


Manifestationen des Gottessohnes und des Heiligen Geistes? Viele
Stellen im ersten Buch des Psalterium weisen daraufhin, daß Joachim
die Selbstoffenbarung der göttlichen Personen bereits als
geschichtlichen Prozeß begreift, auch wenn er dabei noch nicht
wesentlich von den traditionellen Lehren abweicht, wie sie seit
Irenäus von Lyon bekannt sind.1
Joachim verabschiedet sich von den pseudo-dionysischen
Hierarchien, was er allerdings keineswegs aufgibt, ist das Bild des
Psalters. Man vermag zu erkennen, daß die visionären Einsichten
Joachims die nicht hintergehbaren Höhepunkte seiner
Wirklichkeitserfahrung sind und zu Axiomen seiner Existenzwahrheit
werden.2 Vom Bewußtsein spiritueller Erleuchtung her ordnet er die
Welt. Wenn die von ihm geschaute trigonale Gestalt des Psalters auf
eine hierarchische Struktur der jenseitigen Ordnung hinweist, dann
muß dies auch der Wahrheit entsprechen. Läßt sich die Ordnung nicht
sinnvoll mit den überkommenen Hierarchielehren spezifizieren, dann
muß eben eine andere Lösung gefunden werden. Hier zeigt sich zum
ersten Mal das Hauptproblem, das das politische Denken Joachim
weiterhin beherrscht: Die horizontal-geschichtliche Ordnung des
Diesseits, wie sie schon in der Genealogia beschrieben wird, muß mit
der vertikal-hierarchischen Ordnung des Jenseits in Übereinstimmung
gebracht werden.
Sein erster Versuch erinnert, trotz einiger Anklänge an paulinische
und deutero-paulinische Vorstellungen,3 an ein experimenthaftes
1
„[…] nec filius a principio voluit hominibus revelari, sed mansit in abscondito
usque ad tempus statutum […].“ Psalt I, fol.232ra. „Verumtamen ipse pater re-
velatus est hominibus primo tempore magis quam filius et spiritus sanctus, ut
ipsi quoque in suis temporibus manifestius apparerent.“ Psalt I, fol.238ra-rb. Vgl.
Irenäus, Adv. haer. IV passim. Es sieht allerdings im ersten Buch des
Psalterium so aus, als würden die Offenbarungen des Sohnes und des Geistes in
der plenitudo temporis erfolgen, die bereits angebrochen ist. Vgl. Psalt. I,
fol.239va-240ra; 241va. Ein eigenes Zeitalter des Geistes, das dem späteren
tertius status entsprechen würde, kennt Joachim zu diesem Zeitpunkt noch
nicht. Zwar heißt es in Psalt. I, fol.242 ra: „In quinque siquidem etatibus primis
timor servilis perseveravit in mundo. In sexta vero et septima etate timor filialis
et amor adsunt, quorum aliud ad filium pertinet, aliud ad spiritum sanctum.“
Aber hier werden dem Sohn und dem Geist nur die kindliche Furcht und die
Liebe zugeordnet, jedoch keine spezielle etas. Vielmehr scheinen timor filialis
und amor die sechste und die siebte etas zugleich zu prägen.
2
Natürlich kann die Wissenschaft die Inhalte von Joachims visionären
Erlebnissen nicht als Satzwahrheiten behandeln, wohl aber als
Existenzwahrheiten. Denn die Art und Weise wie Joachim von seinen
Erlebnissen spricht und die Neuheiten seiner Lehre aus ihnen ableitet, läßt
erkennen, daß er selbst von der Wahrheit seiner Schau zutiefst überzeugt war.
Vgl. Kamlah, Wilhelm: „Satzwahrheit und Existenzwahrheit“, in: Ders.:
Wissenschaft, Wahrheit, Existenz. Stuttgart: Kohlhammer, 1960, S.57-73.
3
Vgl. 1 Kor 12,28; Eph 4,11.
273 ABBILDUNGEN

Vorgehen, bei dem ein Modell gesetzt und anschließend auf seine
Stimmigkeit überprüft wird. Nachdem er die Hierarchien des
Areopagiten verworfen hat, beginnt Joachim den nächsten Satz mit
einem entschlossenen statuamus nunc: [[@Page:230]]
Setzten wir also jetzt, wenn es beliebt, an die erste Stelle die
Apostel, an die zweite die Propheten und Evangelisten, an die
dritte die Kirchenlehrer (doctores), an die vierte die
Kontemplativen, an die fünfte die Kleriker und Mönche und
danach die Menge der Enthaltsamen und aller Gläubigen. 1
Auch diese Ordnung würde einer Hierarchie nach dem Bild des
Psalters entsprechen. Oben stünde eine kleine Elite, unten die Masse;
die verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte wären berücksichtigt.
Die Stufung wäre so angelegt, daß niemand Neid empfinden müßte
usw. Und dennoch würden weiterhin die Bischöfe als Nachfolger der
Apostel die erste Stelle einnehmen. Alles andere wäre ja auch ein
radikaler Zweifel an der bestehenden Kirchenverfassung. Scheinbar
gelassen meint Joachim:
Sei deshalb Bischof, wer wolle, er möge auf dem Thron mit
dem Vater von allen verehrt werden. Gott sorge mit dieser
Schar der Heiligen dafür, daß ich meinen Anteil erhalte – mit
Rücksicht auf Ausdauer und die Reinheit des Gewissens. 2
Doch dann fügt er skeptisch hinzu, er sei sich gar nicht so sicher,
welcher Platz in der himmlischen Ordnung den Vorzug verdiene. Wie
er zu erkennen meine, seien sogar jene glücklicher und von der Gnade
bevorzugt, die in der Ordnung tiefer stehen. Wählte sich Christus nicht
eine Frau aus niedrigem Stand, um von ihr geboren zu werden? Hat er
nicht selbst gesagt, daß nur der, der das Reich Gottes wie ein
Geringfügiger (parvulus) annimmt, in es hineingelangt.3
Der Autor des Psalterium gibt sich als standesbewußter Mönch zu
erkennen, der um seine Leistungen weiß und daher mit der klerikalen
Hierarchie hadert. Joachim wollte sich mit dem Platz nicht zufrieden
geben, der für ihn und seinesgleichen vorgesehen war. Er geht sogar
noch weiter: Gott habe die himmlische Hierarchie nur deshalb so
differenziert angelegt, weil es die größere Kunst sei und zu größerer
Ehre gereiche, eine vielfältige Ordnung zu schaffen, die einen
vielstimmigen Gesang erklingen lassen könne. Die Stufung sage aber
1
Psalt. I, fol.243rb.
2
Psalt. I, fol.243va, korr. n. Selge; vgl. Offb 14,3.
3
„Et de his quid dicendum? Nescio, quid de his certum scribam, ignoro quid
horum preferam aut deponam, quia plerumque illos invenio secundum preroga-
tivam gratie esse feliciores quos ordine video inferiores. Mirarer super his si
nescirem matrem alicuius, in quo mater est, esse proprio Filio materna dignitate
prelatam et nisi viderem regem celi humilem sibi feminam elegisse in matrem.
Restat ergo, ut qui regnum Dei non recipit sicut parvulus non ingrediatur in
illud.“ Psalt. I, fol.243va, korr. n. Selge; vgl. Mk 10,15.
274 ABBILDUNGEN

nichts darüber aus, daß ihm die einen mehr wert seien als die anderen.
Das könne man schon daran erkennen, daß Christus den Jünger
Johannes und seine Nachfolger, also die Mönche, mehr geliebt habe
als Petrus und dessen Nachkommenschaft, also die Kleriker. Dennoch
habe er die Mönche dem Klerus unterworfen. 1 Aber kann es sein, daß
weder die diesseitige Kirchenordnung noch die Ordnung
[[@Page:231]]der jenseitigen Gottesstadt die Präferenzen der Gottheit
widerspiegelt? Kann es sein, daß die Entsagungsleistung der Mönche
im Himmel einen geringeren Lohn einbringt als das vergleichsweise
komfortable Leben eines Klerikers?2 Warum dann überhaupt die
ganze Demut? Seit den allerersten Anfängen des Asketentums steht
die diesseitige Selbsterniedrigung und Entsagung in auflösbarer
Verbindung mit der Erwartung jenseitiger Erhöhung – man erinnere
sich an die Märtyrerschrift des Origenes. 3 Joachim hatte sich in
Aporien verstrickt und wußte nicht weiter. Abrupt bricht das Buch an
dieser Stelle ab. Dies zeigt zugleich, um was es Joachim wirklich
ging: um die Frage, wie die Stadt Gottes im Himmel gordnet ist, und
wie die Kirche, ihr auf Erden pilgernder Teil, geordnet sein soll. Als
ihm bewußt wird, daß er am Politischen scheitert, gibt er die Arbeit
am Psalterium auf. Es dauert zwei Jahre, bis er wagt, das Werk
fortzusetzen.

1
„Satis poterit de hoc iudicare vir probus qui nullam esse iudicaret artem decacordi
psalterii, si unus esset sonus in toto vase, si una et indifferens in cordis omnibus
melodia. Non enim differentias ordinum Deus esse voluit, quia alios aliis plus
dilexit cum videamus Iohannem plus dilectum Petro et successoribus suis, in suis
posteris esse subiectum sicut et ipse matri sue subijci dedignatus non est, sed ut
diversos distincte corde promentes sonos suavitate melodie sanctam illam letificent
civitatem dei in qua sicut letantium omnium habitatio est.“ Psalt. I, fol.243 va; vgl.
Joh 13,23f; 19,26; 21,20; Lk 2,51.
2
Joachims Leistungskriterium ist immer der Grad, in dem der Rückzug aus der
Welt gelingt: „Haec est enim differentia inter illos ordines qui in saeculo
militant, et eos qui a saeculo sequestrantur: Quod illi, etsi bene vivant, aliquid
sibi quo vivere in saeculo videantur reservant; hi autem cuncta deserunt, ut soli
Deo vivere possint.“ Ench., Burger 85, 2498-2501.
3
Kaum jemand hat diese Vorstellung besser dargestellt als Giotto im neunten
Bild seines an Bonaventura inspirierten Franziskus-Zyklus (Assisi, Basilica di
San Francesco): Ein Mönch hat eine Vision, in der ihm ein Engel zeigt, daß
Franziskus, der als demütigster aller Mönche auf allen irdischen Reichtum und
Einfluß verzichtet, im Jenseits den prunkvollsten aller Throne einnehmen wird,
der noch weit über dem Engel selbst steht.
275 ABBILDUNGEN

2. Der Höhepunkt: Fui in spiritu in


dominica die

Das Erlebnis
Joachim kam nicht nur beim Psalterium ins Stocken. Schon vor der
Pfingstvision hatte er mit zwei anderen seiner Hauptwerke begonnen.
Der Liber Concordiae sollte die gesamte Geschichte des Gottesvolkes
darstellen und bis in die Einzelheiten hinein die Strukturgleichheit der
beiden Testamente nachweisen. Das erste Buch war bereits
fertiggestellt und enthielt die Geschichte Israels, geordnet nach dem
Prinzip der sieben Siegel bzw. der sieben Verfolgungen. Wie aber war
das binäre System der heilsgeschichtlichen Konkordanzen mit der
Vision des Psalters, also mit der Erkenntnis der göttlichen
Dreifaltigkeit und eines hierarchisch geordneten Himmels, vereinbar?
Die Frage war noch ungelöst. Auch seinen großen
Apokalypsenkommentar, die Expositio in Apocalypsim, hatte er schon
vor dem Psalterium begonnen. Wie eine Geburt sei das Werk aus dem
Liber Concordiae hervorgegangen.1 Was Joachim damit
wahrscheinlich meint ist, daß er zwar die Geschichte Israels aus der
Bibel kannte, aber die Parallelstrukturen der Kirchengeschichte nicht
einfach nur den Chroniken der Historiker entnehmen konnte. Denn
diese waren nicht göttlich inspiriert, also weniger authentisch (minus
authenticae) und fehlerhaft.2 Über die künftigen Entwicklungen
vermochten sie gar nichts zu sagen. Doch in der Offenbarung des
Johannes, dem letzten Buch der Bibel, das im
propheti[[@Page:232]]schen Geiste verfaßt wurde, sah Joachim den
gesamten Ablauf der Kirchengeschichte offenbart, einschließlich der
Zukunft.3 Wie er schon in der Genealogia zeigte, ergibt sich die
Struktur des göttlichen Geschichtsplans vor allem aus der
Gegenüberstellung von Apokalypse und den historischen Schriften
des Alten Testamentes. Die gleichzeitige Arbeit am Liber Concordiae
1
Psalt. praef, fol.227va-vb.
2
Ench., Burger 47,1250-1252.
3
„Apocalipsis liber ultimus est librorum omnium, qui prophetie spiritu scripti
sunt et in sacrarum cathalogo scripturarum habentur. Qui videlicet liber idcirco
revelatio dicitur, quia per ipsum nobis Christi opera, que in hac plenitudine
temporum gesta sunt aut gerenda, panduntur.“ Praeph. Apc. I, Selge 102,1-4.
„[…] gesta vero novi testamenti adhuc futura erant, quando Christus venit in
mundo, et quia historice necdum scribi poterant, in libro apocalipsis verbis sunt
propheticis coartata […].“ Praeph Apc I, Selge 103,42-44. Vgl. Ench., Burger
11,86ff.; Exp. Intr., fol.3raff.
276 ABBILDUNGEN

und dem Apokalypsenkommentar folgt fast notwendig aus Joachims


Logik.1
Die Expositio war von vornherein als ein Großprojekt angelegt,
als eine Vers-für-Vers-Auslegung der gesamten Apokalypse. Aber
schon bei Vers [[1,10 >> Bible:Offb 1,10]] war der Abt mit seiner
Weisheit am Ende. In jenem Satz, dessen Verständnis Joachim so
schwer fiel, beschreibt Johannes von Patmos den Beginn seiner
Existenz als Seher. Um den Wortlaut der Vulgata möglichst genau
wiederzugeben: „Ich war im Geiste am Tage des Herrn (fui in spiritu
in dominica die).“ Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die im
Zusammenhang mit dieser Bibelstelle stehen, müssen sehr sorgfältig
bedacht werden, denn die Lösung des Problems lenkte nicht nur
Joachims Denken in eine ganz neue Richtung, sondern erschloß den
christlich geprägten Gesellschaften völlig neue Möglichkeiten ihres
Selbstverständnisses. Die Deutung des Offenbarungserlebnisses, das
an Ostern 1185 Joachims intellektuelle Krise beendete,2 bedeutet
einen der entscheidenden Durchbrüche in der Geschichte der
politischen Ideen. Alles neuzeitliche Fortschrittsdenken, aller Glaube
an eine geschichtliche Verbesserung und Vollendung der Menschheit
hat hier einen Ursprung. Trotz einiger Versuche ist das Geschehen
noch nie in seiner vollen Bedeutung erfaßt worden.3
Am Anfang steht die Erfahrung intellektueller Unzulänglichkeit.
Joachim erzählt im Rückblick, er sei sich damals mehr als sonst der
Beschränktheit seines Intellekts bewußt geworden (preter solitum
perpessus sum angustias intellectus).4 Er sei gegen diese Bibelstelle
wie gegen eine Brandung geworfen worden. Ein weiteres Symbol, mit
dem Joachim diese Erfahrung zum Ausdruck bringt, ist der Stein vor
dem Grab Christi. Er mußte akzeptieren, daß er zu schwach war, den
Zugang zu öffnen, um zur Wahrheit vorzudringen. Es blieb ihm
zunächst nichts anderes übrig, als das Hindernis zu umgehen – eine
sicherlich unbefriedigende Lösung, zumal der Verdacht bestand, daß
es sich bei jenem Apokalypsenvers um eine zentrale Stelle handelte,
deren Verständnis für die Auslegung des folgenden Textes von großer
Bedeutung war.5
Ein ganzes Jahr verging, die Angelegenheit war längst vergessen,
als Joachim in [[@Page:233]]der Nacht zum Ostersonntag erwachte
und begann, über die Apokalypse zu meditieren. Im Vertrauen auf
seine charismatische Begabung fühlte er sich ermutigt, seine
Erkenntnisse niederzuschreiben. Er habe sogar gefürchtet, seine
1
Vgl. Ench., Burger 48,1292-49,1296.
2
Zur Datierung: Selge 1990, S.110f.
3
Die wichtigste Studie zum Thema ist: Lerner, Robert E.: „Joachim of Fiore’s
Breakthrough to Chiliasm“, in: Cristianesimo nella storia 6 (1985), S.489-512.
4
Exp. I, fol.39rb.
5
„Locus iste magni ponderis est et altis repositus sacramentis.“ Exp. I, fol.39rb,
korr. n. Selge.
277 ABBILDUNGEN

Einsichten für sich zu behalten; denn damit, so meint Joachim mit


Verweis auf das Gleichnis vom nichtsnutzigen Knecht, hätte er sein
Talent vergraben.1 Dennoch sei er in jener Zeit, als er zwar schon
einiges begriffen hätte, die größeren Geheimnisse aber noch nicht
gekannt hätte, hin und her gerissen gewesen, ob er das Wagnis
eingehen sollte, einen eigenen Apokalypsenkommentar zu verfassen.
Mit anderen Worten, er war sich noch nicht völlig sicher, ob er zur
Erhellung der biblischen Offenbarung etwas Substantielles beitragen
könne und ob die Welt seiner Ausführungen tatsächlich bedurfte.
Diese Fragen hätten ihn also auch in jener Nacht gequält. Und dann
geschah es:
Etwa um die Stunde, zu der, wie man meint, unser Löwe aus
dem Stamm Juda auferstanden war, wurde mir bei der
Meditation plötzlich eine Offenbarung über die Fülle dieses
Buches und die ganze Konkordanz zwischen Altem und Neuen
Testament zuteil, die ich in einer gewissen Helligkeit der
Einsicht mit meinen Verstandesaugen wahrnahm (subito mihi
meditanti aliquid quadam mentis oculis intelligentie claritate
percepta de plenitudine libri huius et tota veteris ac novi
testamenti concordia revelatio facta est).2
Obwohl Joachim wieder von einer inneren Schau spricht, fällt es
schwer, das Ereignis eine Vision zu nennen. Denn diesmal scheint er
nichts Gegenständliches wahrgenommen zu haben. In den Kategorien
von Jean Carmignac läßt sich wohl am besten von einer révélation
purement intellectuelle (im Gegensatz von Vision und Audition)
sprechen.3 Es handelt sich um die plötzliche Einsicht in
heilsgeschichtliche Strukturen, nicht unähnlich den Erfahrungen eines
plötzlichen Begreifens physikalischer Strukturen, wie sie aus den
Biographien großer Naturwissenschaftler bekannt sind. Joachim selbst
war sich keineswegs von Anfang an sicher, was das Erlebnis zu
bedeuten hatte. Er wußte, daß er einen gewaltigen
Erkenntnisfortschritt gemacht hatte, aber er vermochte noch nicht
sprachlich auszudrücken, worin er bestand. Doch dies entspricht dem
Weg, auf dem sich die viri spirtuales die Wahrheit erschließen: Erst
allmählich vergegenwärtigen sie sich durch Kontemplation, was ihnen
der Heilige Geist zuvor eingegeben hat.4 In diesem Sinn gelangte
Joachim nach einiger Zeit zu der Einsicht, daß er sein Erlebnis nicht
1
Exp. I, fol.39rb-va; Mt 25,14-30; Lk 19,11-27.
2
Exp. I., fol.39va; vgl. Offb 5,5.
3
Carmignac, Jean: „Description du phénomène de l’Apocalyptique dans l’An-
cien Testament“, in: Hellholm 1983, S.163-170, S.165. Solche
Kategorisierungen sind bereits seit Augustinus bekannt. Vgl. Lerner 1985,
S.494f., Anm.13.
4
„[…] illi veritate praecognita sola coelestia degustare intendent, non ut scire
quae sint, sed ut possint apprehendere quae Spiritu insufflante cognoscent.“
Ench., Burger 86,2521-2523.
278 ABBILDUNGEN

zufällig an diesem Tag hatte, und daß er es mit jener Bibelstelle in


Zusammenhang bringen mußte, die ihm einst nicht aufgehen wollte.
Nun wußte er, was Johannes sagen wollte, denn er hatte genau
dieselbe Erfahrung gemacht wie der Seher von Patmos: „Ich war im
Geiste am Tage des Herrn.“ Der „Tag des Herrn“, damit war nicht
irgendein Sonntag, gemeint, sondern der Ostersonntag, der Tag der
Auferstehung Christi. [[@Page:234]]

Die theoretischen Folgen


Worin bestand nun die neue Erkenntnis des Ostererlebnisses? Joachim
spricht von einer Offenbarung über die Fülle der Apokalypse und die
Konkordanz der beiden Testamente. Aber er ging doch schon immer
davon aus, daß die Offenbarung des Johannes die gesamte Geschichte
der Christenheit bis zum Weltende umfasse, und die Konkordanz der
Testamente lag schon den Frühwerken zugrunde. Seine beiden
zentralen exegetischen Prinzipien mußten also eine bedeutende
Weiterung erfahren haben. Drei Einsichten zählt Joachim auf, die er
im Rückblick auf das Ostererlebnis zurückführte.1 Alle stehen sie mit
dem Osterfest in Verbindung:
1. Christus, der an Ostern aus dem Grab steigt, bezeichnet den Geist,
der aus den Buchstaben hervorgeht (Christus de monumento
egrediens spiritum de litera signaverit processurum).
2. Die sieben Tage der Karwoche mit dem folgenden Ostersonntag
entsprechen den acht Teilen der Apokalypse (septem dies
paschalis ebdomade cum octavo sequenti cum partibus libri huius
in mysteriis concordarent).
3. Noch am selben Tag, an dem Christus auferstand, offenbarte er
den Jüngern den Sinn, der es ihnen ermöglichte, die Heiligen
Schriften zu verstehen (aperuerit discipulis sensum ut intelligerent
scripturas).
Zugegebenermaßen klingt dies alles noch etwas kryptisch und bedarf
der Erläuterung. Der Fehler, der bisher bei der Erforschung von
Joachims Ostererlebnis gemacht wurde, ist, daß seine spektakuläre
Schilderung des Offenbarungsempfangs aus dem Zusammenhang
gerissen wurde. Doch der Erlebnisbericht allein besagt so gut wie gar
nichts. Entscheidend ist vielmehr, daß Joachim meinte, die gleiche
Erfahrung gemacht zu haben wie Johannes von Patmos. Das heißt, die
Exegese des Satzes Fui in spiritu in dominica die, die sich über
immerhin sechs Spalten der venezianischen Ausgabe hinzieht,2 ist
nichts weniger als die Auslegung von Joachims eigener Erfahrung.
Zu 1.: Christus, der an Ostern aus dem Grab steigt, bezeichnet

1
Exp. I, fol.39va; vgl. Lk 24,45.
2
Exp. I, fol.39rb-40va.
279 ABBILDUNGEN

den Geist, der aus den Buchstaben hervorgeht. Das bedeutsamste


Wort ist „hervorgehen“ (procedere), das wieder auf die
Trinitätstheologie verweist. Mit dem Buchstaben (litera) ist
selbstverständlich der Text des Alten und des Neuen Testamentes
gemeint. Das heißt, der Geist, oder besser das geistliche Verständnis
(intelligentia spiritualis), geht ebenso aus dem Alten und Neuen
Testament hervor wie der Heilige Geist aus Vater und Sohn. Wie
schon mehrfach bemerkt, begreift Joachim die beiden Testamente als
Zeugnisse des Wirkens der Gottheit in der Geschichte. Und dies ist
das Entscheidende, was er im Anschluß an sein Ostererlebnis folgerte:
Der Prozeß der göttlichen Selbstoffenbarung ist entsprechend dem
trinitarischen Wesen Gottes zu verstehen. Freilich war dies prinzipiell
nichts neues, Anselm von Havelberg, Rupert von Deutz und andere
hatten längst entsprechende Einteilungen der Weltgeschichte
vorgenommen. Auch Joachim selbst hatte schon im ersten Buch des
Psalterium darauf verwiesen, daß sich der Vater früher zu erkennen
gibt als die anderen Personen, und daß die Manifestationen des
Sohnes und des Geistes den Offenbarungsprozeß befördern.
[[@Page:235]]
Was den fundamentalen Unterschied zu den früheren Ansichten
ausmacht, rührt von Joachims eigener Erfahrung: Er begriff, daß er
selbst an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter stand. Als ihn der
Heilige Geist ergriff, wurde sein Verständnis der Schrift so weit über
den Literalsinn hinausgehoben, daß es eine neue Existenzgrundlage
bedeutete.1 Schon vorher glaubte Joachim, daß der Heilige Geist ihm
besondere Erkenntnisse zuteil werden ließ, aber erst in der Osternacht
wurde seine Verwandlung zum Geistmann (vir spiritualis)
abgeschlossen. Aber das war noch nicht alles: Würde das Wissen,
über das er und seinesgleichen verfügten, allgemein werden, dann
würde eine völlig neue Gesellschaft entstehen. Die Christenheit oder
gar die gesamte Menschheit würde den Wandel nachvollziehen, der in
der Person Joachims bereits erfolgt war. Denn wie gesehen, mißt sich
die Qualität der gesellschaftlichen Ordnung an ihrem Wissen über
Gott.
Dies war in der Tat ein Durchbruch zu einer völlig neuen, zu einer
zukunftsorientierten, um nicht zu sagen prophetischen
Geschichtsbetrachtung.2 Das Volk Gottes befand sich demnach nicht
1
Vgl. Benz, Ernst: „Creator Spiritus. Die Geistlehre des Joachim von Fiore“,
in: Olga Fröbe-Kapteyn (Hrsg.): Der Mensch und das Schöpferische (=
Eranos-Jahrbuch 25). Zürich: Rhein-Verlag, 1957, S.285-355, S.309ff.
2
Um einen Durchbruch zum Chiliasmus handelt es sich aber gerade nicht. So
Lerner 1985, S.489f. Denn in der Frage des Millenniums folgt Joachim
grundsätzlich der Position des Augustinus, die jener gerade gegen die
Chiliasten bzw. Millenarier entwickelt hat. (Augustinus nennt den griechischen
und den lateinischen Begriff. [[De civ. Dei XX,7 >> Augustine:De civ. Dei
20.7]], CClat XLVIII,709,39-41.) Joachim schreibt: „[…] mille anni omne tem-
280 ABBILDUNGEN

länger im Endstadium seiner geschichtlichen Existenz, wie


Augustinus gelehrt hatte, nein, es stand am Anfang eines neuen
Zeitalters, in dem das neue Ordnungswissen einen neuen Zustand der
Welt (status mundi) heraufführen würde. Deutlicher als zuvor ordnet
Joachim jetzt die Geschichtsepochen den Personen der Gottheit zu: Im
Alten Testament sah man vor allem Gott den Vater am Werk. Dem
Wissen von Gott als Vater entsprach daher der erste Status der Welt,
in dem das Gottesvolk patriarchalisch geordnet war. Im Neuen
Testament wurde durch Christus offenbar, was der Sinn des Alten
Testamentes war. Das Wissen über den Sohn und sein königliches
Priestertum prägt den zweiten Status der Welt und formt eine neue
gesellschaftliche Ordnung des Gottesvolkes, die vom Klerus geleitete
Kirche. Nun aber bricht ein dritter Zustand der Welt (tertius status
mundi) an, in dem das geistliche Verständnis (intelligentia spiritualis)
den geistlichen Sinn (intellectus spiritualis) der Schriften offenbar
werden läßt. Wie zuvor der Vater und der Sohn offenbart sich nun der
Geist. Im dritten Status kommt es zur allgemeinen Geistausgießung,
wie vom Propheten Joël [[@Page:236]]und vom Apostel Petrus
angekündigt.1 Das Gottesvolk wandelt sich auf der Grundlage dieses
Wissens in eine geistliche Kirche (ecclesia spiritualis).
In den Schriften, die Joachim vor dem Ostererlebnis verfaßt hat
(Genealogia, De prophetia ignota und jeweils das erste Buch des
Psalterium decem chordarum und des Liber Concordiae),2 spielt der
Begriff status keine Rolle. Das heißt, die Drei-Status-Lehre, das
Kernstück von Joachims Geschichtstheologie, ist unmittelbarer
Ausdruck der Ostererkenntnis. Mit anderen Worten: Joachims
Strukturierung der Geschichte in drei Status hat keine andere Quelle
als die Struktur seines „nachösterlichen“ Bewußtseins.3 Seine
pus quod decursum est a ressurectione domini designare videntur usque ad tem-
pus Gog, non quia mille anni erunt tantum, sed quia millenario numero anno-
rum numerositas designatur.“ Exp. Intr., fol. 16ra. Zwar hat er andernorts die
Einkerkerung des Satans (Offb 20,2f.) auf den dritten Status bezogen, aber dort
vermeidet er, das Symbol des Millenniums zu gebrauchen (z.B. Exp. Intr.,
fol.11rb; Ench., Burger 53,1425-1428). Insgesamt gilt: Soll der Begriff
Chiliasmus seinen historischen und etymologischen Bedeutungsgehalt nicht
verlieren und völlig beliebig werden, darf er nicht mit Fortschrittsdenken
gleichgesetzt werden, sondern nur mit der Erwartung einer tausendjährigen
Übergangszeit zwischen den Aionen. Vgl. Offb 20,4ff. Dieses Millennium aber
folgt eher auf eine kontinuierliche Zunahme der irdischen Drangsale; d.h.
Chiliasmus hat mit Fortschrittsdenken nichts zu tun.
1
Joël 3,1f; Apg 2,17f.
2
Zur chronologischen Einordnung sh. jeweils Selge 1990.
3
Joachim ist ein gutes Beispiel für eine Problematik, die in der jüngeren
Theorie der Geschichtsschreibung immer deutlicher wahrgenommen wird:
Epochengrenzen sind nicht selbstevident. Es sei auf einen interdisziplinären
Sammelband hingewiesen, der mit zahlreichen Studien belegt, daß es sich – wie
es im Vorwort heißt – beim „Faktor Bewußtsein“ um das „eigentlich
epochengenerierende Moment“ handelt. Herzog, Reinhart und Reinhart
281 ABBILDUNGEN

Bewußtseinsstruktur wiederum ist geprägt von spirituellen


Erlebnissen, den Höhepunkten seiner Wirklichkeitserfahrung, die an
Ostern zum Abschluß kommen. Oder noch prägnanter: In der Drei-
Status-Lehre dreht sich die Menschheitsgeschichte um die Achse des
joachimischen Epochenbewußtseins.1
Christus, der Löwe vom Stamm Juda, ist nach der Offenbarung
des Johannes der einzige, der in der Lage ist, die sieben Siegel zu
öffnen oder – gemäß Joachims Verständnis – die Bedeutung des Alten
Testamentes für die christliche Kirche, wie sie die Apokalypse in
komprimierter Form enthält, zu entschlüsseln. An Ostern stieg
Christus aus dem Grab, um den Geist zu bezeichnen, der aus dem
Buchstaben hervorgeht. Mit seinem Kreuzestod starb das Mysterium
des Buchstabens, mit seiner Auferstehung wurde der geistliche Sinn
(spiritualis intellectus) offenbar, den der Herr zunächst seinen Jüngern
verkündete.2 Wiederum an Ostern wurde Joachim von Fiore vom
Geist ergrif[[@Page:237]]fen und erhielt Einsicht in eine Realität, die
den Literalsinn der biblischen Testamente transzendiert und sich
künftig in der geschichtlich-politischen Welt manifestieren wird.
Durch die historisierende Exegese der Auferstehung Christi
entsteht eine wundersame Gleichzeitigkeit zwischen der Erkenntnis
Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München: Fink,
1987.
1
Joachim erinnert im Enchiridion an einen Hymnus des Ambrosius von
Mailand, demgemäß sich der ganze Erdkreis um die Auferstehung des Herrn
dreht. Ench., Burger 75,2167f. Das läßt sich nun ebenso von der spirituellen
Wiederholung des Osterereignisses zu Beginn des dritten Status sagen.
„Joachim schöpft sein Schaffen aus dem Bewußtsein, an der Schwelle des
neuen Zeitalters, der ‚Neuzeit‘ des Hl. Geistes, zu stehen.“ Heer, Friedrich:
Europäische Geistesgeschichte. Stuttgart: Kohlhammer, 1953, S.103.
2
Man muß folgende Stellen aus dem Enchiridion (und die Textparallelen im
Liber introductorius) als Vergegenwärtigung des Ostererlebnisses lesen:
„Omnes libri historici quos, Moyse incohante, antiqui patres scripserunt, in
quibus ab exordio temporum usque ad Esdram gesta mystica scripta sunt, sub
generali quodam libro collecti erant quando Christus venit in mundum, septem
involuto signaculis, in cujus solutione palma nemo dignus inventus est, ut
testatur in hoc libro Joannes, nisi ille qui mortis regnum moriendo exsuperans,
leonis fortitudinem resurgendo calcavit. ‚Ecce‘ inquit, ‚vicit leo de tribu Juda
aperire librum, et solvere septem signaculis ejus.‘ Libri ergo hujus tam magna
tam archana mysteria soli morienti ac resurgenti Domino aperire donatum est,
quia videlicet et moriente Christo litterae vis quae occidebat interiit, et spiritua-
lis intellectus qui vivificat vixit. Erat enim ut quidam tumulus liber iste signa-
tus, in quo vita jacebat mortua, ne mortuis donum vitae preastaret. Ubi autem
vita, Christus, resurrexit a mortuis, vitalis intellectus qui latebat prodiit, et quasi
cujusdam floris species de scripturae monumento processit.“ Ench., Burger
13,143-157; Offb 5,5, vgl. Exp. Intr., fol.3va-vb. „Quia igitur in morte Christi car-
nis infirmitas, ut ita dicam, infirmata interiit, et antiquae vetustas litterae
consummationem accepit, in resurrectionem Christi sigillorum solutio designa-
tur. Tunc enim aperuit discipulis suis sensum ut intelligerent scripturas.“ Ench.,
Burger 14,178-183, vgl. Exp. Intr., fol. 3vb; Lk 24,25.32.
282 ABBILDUNGEN

Joachims und dem Offenbarungswerk Christi. Joachim erinnert daran,


daß das christliche Osterfest nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich
mit dem jüdischen Paschafest zusammenfällt. Pascha, das muß nach
der Vulgata mit Übergang (transitus), übersetzt werden, denn man
gedenkt des Übergangs aus der ägyptischen Knechtschaft in die
Freiheit. Ebenso aber ging Christus an Ostern vom Tod zum Leben
über, und ebenso geht die Welt jetzt aus der Zeit der Mühsal (labor) in
eine Zeit der Ruhe (requies).1 Die Ereignisse der Gegenwart, das
Ostererlebnis eingeschlossen, bedeuten analog zur Auferstehung des
Herrn das Ende der Alt-zeit und den Anfang der Neu-zeit, (quantum
ad vetera finis […] et quantum ad nova principium subsequentium
seculorum).2
Von Joachims Epochenbewußtsein her erklärt sich die
Selbstverortung europäischer Gesellschaften in der „Neuzeit“, mag
der Begriff auch seit der Renaissance teils mit anderen Inhalten
verbunden worden sein. Doch ganz gleich, ob die jeweiligen
Implikationen der Geschichtsdeutung mit Joachims Gedanken noch
etwas zu tun haben: Die Auslegung des Ostererlebnisses von 1185
schuf späteren Intellektuellen die Möglichkeit, konstruktiv in die
Zukunft zu denken, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse in einen
qualitativen Fortschritt der Zivilisation, in eine Entwicklung der
Gesellschaft hin zum Besseren einzuordnen. Das ist der Grund,
warum sich noch Auguste Comte dankbar an Joachim erinnert und ihn
in den Heiligenkalender der Positivisten aufgenommen hat.3 Schon in
der Zeit der europäischen Aufklärung prägte diese Art der
Geschichtsdeutung das Selbstverständnis der Intellektuellen so sehr,
daß es eines weiteren Offenbarungserlebnisses bedurfte, um die
Wahrnehmung der geschichtlichen Wirklichkeit wieder in weniger
optimistische Bahnen zu lenken: Jean-Jacques Rousseaus
„Erleuchtung“ auf dem Weg zu Denis Diderot.4
Zu 2.: Die sieben Tage der Karwoche mit dem folgenden
Ostersonntag entsprechen den acht Teilen der Apokalypse. Dieser
scheinbar lapidare Satz bedeutet nicht weniger, als daß Joachim seinen
Bruch mit der augustinischen Geschichtsdeutung bekanntgibt – ein
Wagnis, das in der Tat große Selbstsicherheit voraussetzte. Wie
1
Ench., Burger 31,718-734; vgl. Ex 12,11 Vg.
2
Exp. I, fol.39vb; vgl. Conc. IIa7, fol.22vb, Daniel 182,47-53.
3
Er soll nach Comtes Wünschen am zweiten Tag des Monats Descartes verehrt
werden. Comte, Auguste: Calendrier Positiviste. Paris: Schiffer, 1891, S.13.
4
Rousseau, Jean-Jacques: Die Bekenntnisse. München: dtv, 21984, S.345ff. Es
ist nicht möglich, an dieser Stelle näher darauf einzugehen. Aber ein Vergleich
der Berichte Joachims und Rousseaus würde ergeben, daß sie im Modus der
Erfahrung und der anschließenden Auslegung deutliche Parallelen aufweisen,
auch wenn die Ergebnisse diametral entgegengesetzt sind. Zur Analyse von
Rousseaus Erlebnisbericht: Schabert, Tilo: „The Paradise in Politics: A Chapter
in the Story of Negative Cosmology“, in: The European Legacy 7/3 (2002),
S.293-329, S.305ff.
283 ABBILDUNGEN

hinreichend dargetan, geht Joachim davon aus, daß die Apokalypse


die gesamte Kirchengeschichte enthält. Der [[@Page:238]]letzte und
nach Joachim achte Teil der Apokalypse schildert den künftigen Aion,
die jenseitige Welt. Wenn nun der Sonntag, der achte Tag, auf das
Jenseits verweist, dann bedeuten die sieben Tage der Karwoche die
sieben Zeiten (tempora) der Kirchengeschichte. In seinen Schriften
verbindet Joachim die tempora der Kirche mit den aetates der
augustinischen Weltalterlehre. Die ersten fünf aetates erfüllen sich
wie bei Augustinus in der vorchristlichen Geschichte. Die ersten sechs
tempora der Kirche identifiziert Joachim mit der sechsten aetas des
Augustinus. Die siebte Zeit der Kirche schließlich verläuft kongruent
zum siebten Zeitalter und zum dritten Status der Welt. Das heißt:
Gleich ob Joachim die Geschichte in tempora, aetates oder status
unterteilt, alle Periodisierungen treffen sich in der Epoche der
Vollendung.1
Augustinus hatte dagegen nur sechs geschichtliche Zeitalter
gekannt, der Sabbat, der siebte Tag, an dem der Herr von seinem
Schöpfungswerk ruhte, verwies auf die jenseitige Welt, denn in dieser
Welt konnte die Kirche nicht zur Ruhe kommen. 2 Joachim dagegen
verlegt den Sabbat des Gottesvolkes3 in die diesseitige Zukunft und
identifiziert ihn mit dem dritten Status. Die Welt wird in einen
Zustand der Ruhe und Vollendung eintreten, der den ewigen und
jenseitigen Sabbat des achten „Zeitalters“ vorwegnimmt.4
Zu 3.: Noch am selben Tag, an dem Christus auferstand,
offenbarte er den Jüngern den Sinn, der es ihnen ermöglichte, die
Heiligen Schriften zu verstehen. Dieser Satz und die dazugehörigen
Erläuterungen spezifizieren noch einmal Joachims
Epochenbewußtsein. Robert E. Lerner hat richtig herausgestellt, daß
es Joachim im Anschluß an das Ostererlebnis gelingt, seine
hermeneutischen Grundgedanken in einer kohärenten Konzeption zu
vereinen.5 Allerdings macht es das neue trinitarische
Geschichtsverständnis nötig, die älteren Prinzipien zu modifizieren.
1
„[…] quod et respectu sex temporum istorum que pertinent ad secundum
statum dicendum est septimum tempus, quod erit tertii status, et respectu sex
partium libri pertinentium ad secundum statum dicenda est septima pars illa
quam ad tertium pertinere prediximus. Non solum autem respectu sex tem-
porum pertinentium ad secundum statum tempus illud quod erit tertii status sep-
timum extimandum est. Verum etiam respectu sex etatum mundi, quarum
quinque preterierant quando christus venit in mundum, sexta vero inchoata ex
eodem tempore perseverat in labore usque ad hec tempora nostra, in quibus et
status secundus in extremis agit et tertius qui erit sabbatum initiatus est.“ Exp.
Intr., fol.11va; vgl. fol.12ra.
2
[[De civ. Dei XXII,30 >> Augustine:De civ. Dei 22.30]].
3
Vgl. [[Hebr 4,9f >> Bible:Heb 4,9]].
4
„[…] in serie libri sex quidem partes ascribuntur proprie secundo statui, tertio
vero sola septima, octava sola vite future […].“ Exp. Intr., fol.23rb.
5
Lerner 1985, S.507.
284 ABBILDUNGEN

Zum einen muß aufgrund der Wesensgleichheit der göttlichen


Personen das principium concordiarum auch hinsichtlich des dritten
Status bedacht werden; die Strukturgleichheit, die zwischen dem
Zeitalter des Vaters und dem Zeitalter des Sohnes gilt, muß
grundsätzlich auch für das Zeitalter des Geistes gelten. Zum anderen
ist die Fülle (plenitudo) der Apokalypse noch einmal angeschwollen.
Sie hat nunmehr einen zweifachen typologischen Sinn, der sich einmal
auf den zweiten und einmal auf den dritten Status bezieht.
Gemäß dem ersten Sinn betrachtet Joachim die Geschichte der
Welt als zweigeteilt. Mit der Auferstehung Christi wurde der
geistliche Sinn des Alten Testamentes [[@Page:239]]offenbar. Doch
noch am selben Tag teilte Jesus den Jüngern den geistlichen Sinn des
Neuen Testamentes, (in Joachims Kategorien also auch den Sinn der
anbrechenden Kirchengeschichte), mit.1 Er formte durch esoterische
Predigt eine kleine Elite, der er zu Beginn des zweiten Status jenes
Ordnungswissen zuteil werden ließ, das erst am Ende des Status
allgemein werden sollte.2 Dagegen nahm Jesus in seiner exoterischen
Predigt darauf Rücksicht, daß die Masse der Menschen noch zu
unvollkommen war, um die ganze Wahrheit zu hören.3 Ebenso mußten
die Evangelisten den geistlichen Sinn wieder unter dem Buchstaben
vergraben, damit er vor den Blicken der Frevler geschützt war.4 Nun,
da der zweite Status zu Ende geht, muß das esoterische Wissen
offenbar werden. Oder, wie sich Joachim ausdrückt: Christus erschien
der Mehrzahl der Jünger erst am Abend nach seiner Auferstehung, das
1
Lk 24,45.
2
„Cum igitur in quadraginta diebus quibus se prebuit dominus discipulis suis
vivum in multis argumentis per dies quadraginta apparens eis et loquens de
regno dei, tempus accipimus status secundi, tunc universaliter adimpleri
oportet, quod subditur: Accipietis virtutem supervenientis spiritus sancti in vos,
et eritis michi testes in hierusalem, et in omni iudea et samaria et usque ad
ultimum terre, oportet enim compleri ista in fine secundi status […].“ Exp.
Intr., fol.23ra; Apg 1,3.8. Joachim sagt mit Blick auf die Ereignisse, die sich
nach Mt 27,50ff. zutrugen, als Jesus „den Geist aushauchte“: Am Samstag
öffneten sich die Gräber und es zerriß der Schleier vor dem Tempel, bevor sich
am Sonntag das Grab Christi öffnete, das ja erst am Samstag in den Stein
gehauen wurde. Ebenso wird der geistliche Sinn des Alten Testamentes zu
Beginn des zweiten Status eröffnet und schon bald darauf der geistliche Sinn
des Neuen Testamentes, auch wenn das zweite Testament erst in dieser Zeit
begründet wird. „Et videtur apertio ista pertinere ad scripturas veteris testa-
menti, apertio vero monumenti dominici, quod fuit novum et excisum de petra,
ad scripturam novi testamenti, quod eo tempore conditum est et mox apertum,
maxime cum in hoc loco scriptum sit, quod velum templi scissum sit a summo
usque deorsum. Ubi enim ista duo simul ponuntur, templum scilicet et monu-
mentum Domini. Templum quidem designat testamentum vetus, monumentum
novum.“ Exp. I, fol.40ra.
3
Exp. Intr., fol.21vb.
4
„Nam et sancti evangeliste sepelierunt sub litera veritatem que est in Spiritu,
occultando illam obtutibus impiorum […].“ Exp. I, fol.40ra.
285 ABBILDUNGEN

heißt, die allgemeine Offenbarung Christi wird bis auf den Abend des
christlichen Zeitalters hinabverlegt (usque ad vesperum dilata). In
diesem Sinne bedeutet Joachims Epochenbewußtsein, daß es an der
Zeit ist, mit einem esoterischen Wissen an die Öffentlichkeit zu treten,
das der Elite der Geistmänner seit den Aposteln bekannt ist.1
[[@Page:240]]
Gemäß dem Sinn aber, der sich auf den dritten Status bezieht, ist
das Osterereignis anders zu betrachten. Vielmehr muß jetzt die
Konkordanz zwischen zweitem und drittem Status hergestellt werden:
So wie einst Christus den Aposteln das Ordnungswissen mitteilte, das
sich auf den zweiten Status bezog, so muß jetzt eine neue Elite
auftreten, der der Geist die Heiligen Schriften eröffnet, damit sie in
das kommende Zeitalter des Geistes sehen und das Ordnungswissen
der Zukunft vorwegnehmen kann.2 Es besteht kein Zweifel, daß sich
Joachim zu dieser Elite rechnet. Er sieht sich in der Nachfolge der
Geistmänner des zweiten Status an den Anfang des dritten Status
gestellt (in initio tertii status positi sumus). Dieses Wissen aber, das
den Aposteln noch nicht bekannt war, ist im Gegenwartspunkt das
wichtigere, denn es erlaubt, in die Zukunft zu sehen.3 Gleichwohl
1
„Eo itaque tempore conditum est novum testamentum, quo scripture veteris
aperiri ceperunt; sed tamen et ipsum non longe post aperiri cepit et eius interi-
ora patefieri credentibus, quia esse in eo misticum intellectum ab ipso eodem
tempore quo gestum est, et primo sancti apostoli, quibus primitie Spiritus date
sunt, et post ipsos multi alii, eodem docti Spiritu, perceperunt. Sed quid, si mox
apertum est testamentum novum? Num idcirco Christus, qui latebat in eo, mox
ut ascendit de monumento manifestus apparuit? Nonne manifesta eius apparitio
usque ad vesperum est delata? Quid est autem ‚usque ad vesperum‘ nisi usque
ad tempus sextum? […] Significat autem in intellectu primo apertionem veteris
testamenti delatam esse usque ad Christum, apertionem vero novi non sic, sed
ab ipso eodem tempore viris spiritalibus propalatam. Verumptamen et si apertio
facta, revelatio tamen resurgentis diu mansit occulta et quasi usque ad
vesperum, quo finis alicuius temporis designatur, dilata.“ Exp. I, fol.40 ra-rb, korr.
n. Selge; vgl. Röm 8,23; Joh 20,19; Lk 24,29ff.
2
„Ceterum si de illo agitur intellectu qui pertinet ad tertium statum, scrutari et
pensare diligenter debemus, quod sicut in prefato intellectu dies resurrectionis
dominice significat initium secundi status, ita in eo intellectu qui pertinet ad
tertium statum, initium tertii, quod erit post finem, vel potius in fine secundi.
Quod autem non mane ipsius diei, sed ad vesperum revelatus est Christus,
significat in fine secundi status revelandum esse eum intellectum, qui pertinet
ad eundem secundum statum, in fine autem tertii eum qui pertinet ad tertium.
Ergo secundum hanc rationem intellectus, qui pertinuit ad primum statum, tunc
revelatus est, cum Christus venit in mundum, intellectus qui pertinet ad
secundum circa finem secundi status, intellectus qui pertinet ad tertium, circa
finem ipsius. Porro apertio monumenti facta est doctoribus secundi status ab
ipso secundi status principio, et oportet fieri doctoribus tertii a principio tertii.“
[…] Exp. I, fol.40rb, korr. n. Selge; vgl. Joh 3,19; 1 Tim 1,15. „[…] nos, qui in-
ter secundum et tertium statum constituti sumus, multa quidem de tertio illo sta-
tu contemplari permittimur […].“ Conc. V,20, fol.70rb.
3
„Verumtamen quia sicut alibi scripsimus, duos habet liber iste typicos intellec-
286 ABBILDUNGEN

handelt es sich nicht um ein neues, drittes Testament – darin besteht


das fundamentale Mißverständnis vieler Joachiten –, sondern
wiederum um den geistlichen Sinn des Neuen Testamentes, vor allem
der Apokalypse. Aber diesmal ist es jener besondere, höhere und
würdigere Teil des geistlichen Sinnes, der die Geheimnisse des dritten
Status enthüllt.1
Jetzt also ist an der Zeit, ja wirklich an der Zeit, daß die
verborgenen Mysterien dieses Buches offenbart werden […]. 2
Diesem zweiten Verständnis zufolge verfügt Joachim also über ein
Wissen, das nach dem Plan der göttlichen Selbstoffenbarung nicht
eher als in der Gegenwart erkannt werden kann, und dieses Wissen
wird erst am Ende des dritten Status allgemein offenbar werden. Der
dritte Status liegt zwischen Ostern und Pfingsten, sagt Joachim, 3
zwi[[@Page:241]]schen der Mitteilung des Geistes an eine Elite und
der allgemeinen Geistausgießung.4 Da er Wissen und
Gesellschaftsform als untrennbare Einheit begreift, sieht er die
künftige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens voraus.
Joachim von Fiore ist der Prototyp des politischen Denkers, der die
Zukunft konzipiert.

Die praktischen Folgen


Mit dem Ostererlebnis ist Joachims intellektuelle Entwicklung
weitgehend abgeschlossen. Zwar hat er seine Exegese immer wieder
korrigiert, vor allem angesichts der historischen Faktenlage; aber man
erfährt von keinen weiteren Erlebnissen, die sein Denken noch einmal
in eine völlig neue Richtung gelenkt hätten. In allen Schriften, die er
zwischen Ostern 1185 und seinem Tod im Jahr 1202 verfaßt hat, läßt
sich eine konsistente Ordnungskonzeption erkennen, die lediglich in
Detailfragen Unstimmigkeiten aufweist. Was aber keineswegs
abgeschlossen ist, ist Joachims Prozeß der Selbstfindung. Erst wenn

tus, unum qui pertinet ad secundum statum, alterum qui spectat ad tertium. Li-
bet hac in re diligentius intueri, quod nobis, qui in initio tertii status positi su-
mus, illa potius revelatione indigemus, que sequentia detegit, quam illa que a
tempore apostolorum, viris spiritalibus facta est, et si nunc magis illa ad lucem
veniat, cum hec pro cursu temporis incipit aperiri.“ Exp. I, fol.39rb.
1
„Ipsa sunt quatuor evangelia, que et ipsa, secundum hunc intellectum, hacte-
nus clausa fuerunt et involuta voluminibus suis, que oportuit suo tempore ape-
rire, ut ad lumen veniant […]. Quando autem aperiuntur, nisi quando incipit
consumari quod latebat in ipsis? Dico autem illa consumata esse in spiritu in
statu secundo, sed multo dignius et perfectius in statu tertio consumanda sunt.“
Vita Ben. 25, Baraut 54,13-19.
2
Ench., Burger 47,1230f.
3
Ench., Burger 64,1790-1792.
4
Conc. IIa,6, fol.9ra, Daniel 70,24-71,29; vgl. Joh 20,22; Apg 2,2-4.
287 ABBILDUNGEN

man die praktischen Konsequenzen betrachtet, wird deutlich, daß das


Ostererlebnis und seine Vergegenwärtigung nicht im geschichtsfreien
Raum stattfinden, sondern die Erfahrung sozialen Wandels
voraussetzen.
Unter Historikern herrscht kaum Zweifel, daß das Abendland im
12. Jahrhundert – bedingt durch eine relative Stabilität – von
vielfältigen Aufbrüchen und beschleunigten Entwicklungen geprägt
war, auch wenn die beliebte Rede von einer „Renaissance“ kaum der
damaligen Wahrnehmung entspricht.1 Die Stadtentwicklung mit der
Herausbildung eines neuen, zunehmend selbstbewußten Bürgertums,
das erblühende Rittertum und die Verfeinerung des höfischen Lebens,
der rasante Bevölkerungszuwachs und die damit einhergehende
Steigerung und Rationalisierung der agrarischen Produktion, die
Intensivierung des Handels und der Geldwirtschaft, der Rückgang der
Armut, die insgesamt beschleunigte Ausdifferenzierung der
Gesellschaft, die Frühscholastik an den Kathedralschulen und die
Gründung der ersten Universitäten, die Rezeption klassisch-antiker
Bildung – all das und vieles mehr könnte in diesem Zusammenhang
erwähnt werden. Und doch werden diese Prozesse von Joachim kaum
reflektiert und spielen in seinem Werk nur mittelbar eine Rolle. Der
Abt betrachtet die Welt durch das ständische Raster. Was ihn
fasziniert, ist ein ganz anderes Phänomen jener Zeit: die rasante
Entfaltung des Mönchtums. Selbst in seinen letzten Lebensjahren hat
sein Staunen darüber noch nicht nachgelassen. Im unvollendet
gebliebenen Alterswerk Tractatus super IV evangelia schreibt er:
[[@Page:242]]
Wenn das Leben der Enthaltsamen seiner Natur nach schon so
mühsam und fremdartig ist, wer würde sich nicht wundern oder
es für ein göttliches Werk halten, daß so große
Menschenmengen von der Nichtigkeit der Welt bekehrt wurden
und in den Kirchen und den Koinobien versammelt werden, um
sich dem göttlichen Lob zu widmen?2
Doch diese Erfahrung macht er keineswegs allein. Zu Recht wird
immer wieder auf Anselm von Havelberg verwiesen, der – sprachlich
1
Zuerst in: Haskins, Charles Homer: The Renaissance of the Twelth Century.
Cambridge: Harvard University Press, 1927. Einen Überblick über die neueren
Diskussionen zum Thema bietet: Swanson, R.N.: The Twelfth-Century
Renaissance. Manchester und New York: Manchester University Press, 1999,
S.1ff. Eine materialreiche begriffgeschichtliche Studie findet sich weiterhin bei:
Ladner, Gerhart: „Terms and Ideas of Renewal“, in: Robert L. Benson and
Giles Constable (Hrsg.): Renaissance and Renewal in the Twelth Century.
Oxford: Clarendon, 1982, S.1-33. Ladner kommt zu dem Ergebnis, daß sich
zwar viele Symbole für Erneuerungserfahrungen finden, aber kein Hinweis auf
die Erfahrung einer allgemeinen Wiedergeburt oder ein der italienischen
Renaissance vergleichbares Epochenbewußtsein. Sh. v.a. S.28.
2
Tract. II,12, Santi 246,25-247,2.
288 ABBILDUNGEN

wesentlich gewandter als Joachim – am deutlichsten ausgesprochen


hat, vor welche Probleme sich die christliche Geschichtsdeutung
gestellt sah. Selten hat man das Glück, einen derart authentischen
Bericht über zeitgenössische Wahrnehmungen vorliegen zu haben,
wie Anselms Dialogi. Es lohnt sich, etwas ausführlicher zu zitieren:
Viele pflegen sich zu wundern, Fragen zu stellen und – da sie
nicht nur sich selbst, sondern auch andere fragen – einen
Skandal heraufzubeschwören. Sie sagen nämlich folgendes und
fragen wie betrügerische Ankläger: Weshalb geschehen so viele
Neuheiten (novitates) in der Kirche Gottes? Wer vermag noch
die vielen Klerikerorden zu zählen? Wer wundert sich nicht
über so viele Arten von Mönchen? Wer würde schließlich nicht
Anstoß daran nehmen, und inmitten so verschiedener und von
einander abweichender religiöser Lebensweisen (formae
religionum) einen abscheuerregenden Skandal empfinden? Wer
würde nicht gar eine christliche Religion verachten, die so
vielen Variationen unterworfen, durch so viele Neuerfindungen
verwandelt, durch so viele neue Gesetze und Gewohnheiten
angetrieben und durch so viele, beinahe jährlich erneuerte
Regeln und Sitten ins Wanken gebracht wird? Was noch vor
kurzem – so sagen sie – von gewissen Leuten um des
Himmelreichs willen vorgeschrieben wurde, dies wird sogleich
von denselben oder von anderen Leuten um des Himmelreichs
willen verboten. Was noch vor kurzem gleich einem Sakrileg
untersagt war, wird plötzlich als heilig und heilbringend erlaubt.

Solche Fragen führen sie an, weil sie Nichtsnutze sind und die
Herzen der einfachen Menschen verderben, in dem sie
behaupten, daß jede Religion je beweglicher, desto
verachtenswerter sei. Wenn sie nämlich – so sagen sie – so
beweglich ist, so veränderlich und so unbeständig, wie kann sie
einem Weisen als nachahmenswert erscheinen? Durch die
eigene Vielfältigkeit zeigt sie ihm, daß er sie zurückweisen
muß. Siehe, wir sehen – wie sie sagen – in der Kirche Gottes
gewisse Leute hervortreten, die sich nach ihrem Belieben mit
einem ungewohnten Habit bekleiden, sich eine neue
Lebensordnung (ordo vivendi) wählen und sich unter dem Titel
des mönchischen Bekenntnisses oder des Gelübdes der
kanonischen Disziplin das aneignen, was auch immer sie
wollen. Sie erfinden für sich eine neue Art des Psalmodierens
und der Enthaltsamkeit, sie stellen neue Speiseregeln auf. Sie
ahmen weder die Mönche nach, die unter der Benediktregel
streiten, noch die Kanoniker, die ihr Leben nach der Regel des
heiligen Augustinus führen. Aber indem sie sich – so heißt es –
alles neu schaffen, sind sie sich selbst Gesetz, sind sie sich
selbst Autorität. Und sie versammeln unter dem Vorwand einer
neuartigen Gottesverehrung (nova religio) so viele Menschen
wie möglich in ihrer Gemeinschaft. Und man glaubt, daß sie in
diesen Dingen religiöser erscheinen, [[@Page:243]]wenn man
289 ABBILDUNGEN

sieht, daß sie sich von jedem Habit und jeder Disziplin der
Mönche (religiosi) unterscheiden; und man zeigt mit dem
Finger auf sie, wie auf solche, die ehrenwerter sind als die
übrigen.

Dies und ähnliche Dinge sagen sie und beunruhigen mit vielen
Fragen die anderen. Nicht offensichtlich, sondern im
Verborgenen und aus dem Hinterhalt verunglimpfen sie die
Religion. Und als ob sie die Religion lieben und gutheißen
würden, sagen sie: „Oh, wenn wir doch irgendwo irgend etwas
Sicheres finden könnten, worauf wir in Zuversicht und
Erwartung des ewigen Heils unser Haupt betten können!“ 1
Anselm mag jene „betrügerischen Ankläger“ noch so sehr
verdammen, an anderer Stelle gibt er selbst zu, daß er auch von seinen
Ordensbrüdern mit der Frage bedrängt wurde, wie sich die
Vielgestaltigkeit der Lebensführung (multiformitas vivendi) zur
Einheit des Glaubens verhalte.2 Gerade weil Anselm auf die rein
äußerlich wahrnehmbaren Veränderungen (Kleidung, Liturgie etc.)
eingeht, enthält sein Bericht die Fragen, die sich die Menschen in
dieser Zeit mehrheitlich gestellt haben mußten. Vor allem der letzte
Absatz verrät, warum die Diversifizierung der religiösen
Lebensformen in der Erfahrungswelt auch der nicht-monastischen
Zeitgenossen eine besondere Rolle spielte. 3 Die Gläubigen suchten
zuallererst nach Sicherheit hinsichtlich ihres jenseitigen Fortlebens,
und diese Sicherheit erwarteten sie von der Kirche und ihren
Sakramenten. Wenn sich die Kirche nun ständig veränderte, wenn in
ihrer Mitte ständig neue Lebensformen entstanden, die alle für sich in
Anspruch nahmen, einen Weg von größerer Sicherheit oder gar den
einzig sicheren Weg in die himmlische Herrlichkeit zu eröffnen, dann
läßt sich die große Unruhe gut verstehen, von der Anselm erzählt.
Die ständische Dreiteilung in Arbeitende, Kämpfende und
Betende, die im 11. Jahrhundert ihre theoretische Fundierung erhalten
hatte, und die schon seit der Spätantike bekannte Teilung des
geistlichen Standes in den predigenden und seelsorgenden Klerus
sowie das betende und meditierende Mönchtum,4 all die gewachsenen
1
Dial. I,1, SC 118,34-36.
2
Dial. I, prol., SC 118,30.
3
Joachim kommt selbst mehrfach auf die vielen neuen Arten von religiosi zu
sprechen: „[…] sunt religiosi illi qui litteras nesciunt, quorum alteri conversi,
alteri familiares a modernis dicuntur, sive ut in partibus Hierosolymae quidam
religiose laici Templarii, quidam Hospitalarii dicti sunt […].“ Ench., Burger
82,2390-2392.
4
Vgl. Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, S.25ff.; Oexle, Otto Gerhard: „Tria
genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen
Wirklichkeit in Antike und Mittelalter“, in: Lutz Fenske u.a. (Hrsg.):
Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef
290 ABBILDUNGEN

symbiotischen Verhältnisse, die die christliche Gesellschaft ernährten,


schützten und auf das Jenseits vorbereiteten, all das geriet in Gefahr.
Die Bewegungen, die im 10. und 11. Jahrhundert von Reformzentren
wie Cluny, Gorze, Hirsau und Fruttuaria ausgingen, ließen solche
Sorgen noch nicht aufkommen, denn prinzipiell handelte es sich
überall um die allseits bekannten „schwarzen Mönche“. Doch mit der
Wende zum 12. Jahrhundert änderten sich die Dinge. [[@Page:244]]
Die Kreuzzüge und die Pilgerströme hatten die Ritter- und
Hospitalorden hervorgebracht und somit die Trennung zwischen
Mönchen und Laien, zwischen betendem und kämpfendem Stand
aufgehoben. Die aus dem Klerus hervorgegangenen Kartäuser prägten
mit ihrer spezifischen Verbindung von Anachorese und
Koinobitentum die neue Eremitenbewegung, welche gleichwohl schon
seit längerem im Gang war. Norbert von Xanten schuf den
Prämonstratenserorden, der Mönchtum, Missionars- und
Wanderpredigertum auf eine äußert effektive Weise vereinte.
Innerhalb und außerhalb der Vielfalt an neuen
Kanonikerkongregationen, die laut Anselms Bericht so heftig beklagt
wurden, entstanden verschiedene Formen des weiblichen Mönchtums.
Die Zisterzienserbewegung schließlich rollte über Europa hinweg
und stellte die Weichen für die künftige Entwicklung des Mönchtums,
indem sie das Ordenswesen einführte, also die Vereinheitlichung der
Klöster und ihrer Gebräuche in zentral geleiteten Verbänden.
(Generalkapitel und Verbandssystem gab es zwar schon bei den
Pachomianern, hatten sich aber im Westen nicht durchgesetzt.) Die
weißen Mönche, die schon äußerlich ihren besonderen asketischen
Anspruch zur Schau trugen, lösten im europäischen Adel eine
Euphorie aus, die jeder materialistischen Geschichtsschreibung
spottet. Zu Tausenden verschenkten wohlhabende junge Männer ihr
Hab und Gut, um unter den strengen Sitten des Ordens zu dienen.
Zuletzt verschaffte das gewaltig anwachsende Konversenwesen selbst
den einfachen Bauern und Handwerkern die Möglichkeit, einen Status
irgendwo zwischen Mönch und Laie zu erlangen.
Das Zitat aus Anselms Dialogi formuliert mit immer neuen
Worten die Grunderfahrung, die sich vor allem auf die rasante
Geschwindigkeit zurückführen läßt, mit der sich die Dinge
entwickelten: Es gibt Wandel (mutatio) in der Kirche Gottes. Sie ist so
beweglich, so veränderlich, so unbeständig (tam mobile, tam
variabile, tam instabile) geworden, daß sie kaum mehr Verläßlichkeit
bietet. So sprachen sicher nicht nur die Laien, sondern alle
Konservativen in Mönchtum und Klerus. Otto von Freising trat als
Geschichtsschreiber an, um dem Elend der diesseitigen Wandelbarkeit
(mutabilitas) das Heil der jenseitigen Stetigkeit (stabilitas)

Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag. Sigmaringen: Thorbecke, 1984, S.481-


500.
291 ABBILDUNGEN

gegenüberzustellen.1 Zwar nahm der Zisterzienser das Mönchtum von


der unheilvollen Entwicklung aus, aber nach dem Prinzip der
Prolepsis lobte er an ihm gerade die Stetigkeit, Gleichgesinntheit und
Uniformität, die die jenseitige Vollendung vorwegnehme.2 In dem
Satz, mit dem Otto seine Betrachtung der diesseitigen Geschichte
beschließt, stellt er das Mönchtum als jene Ordnung dar, die an der
Schwelle zwischen irdischer Vergänglichkeit und jenseitiger
Unwandelbarkeit steht.3
Der Prämonstratenser Anselm von Havelberg ging die Sache
etwas grundsätzli[[@Page:245]]cher an; er war einer der ersten, der
die unerhörte Neuheit aussprach: Man muß den gesellschaftlich-
religiösen Wandel als ein positives Ereignis, als Resultat der
göttlichen Erziehung an den Menschen auffassen. Johannes Spörl faßt
seine Deutung zusammen:
[…] so verschieden die Orden untereinander sind, das Eine
haben sie gemeinsam: sie sind Träger und Künder des
Fortschritts, geleitet vom heiligen Geist. Der heilige Geist
erneuert immer wieder die Welt, weil sonst die
Menschenherzen stumpf werden. Er ist die eigentliche, die
belebende Kraft der Weltgeschichte, die aus psychologisch-
pädagogischen Gründen immer wieder zu neuen Mitteln greift,
um die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. 4
Anselm sprach, wie später Joachim, von einem besonderen Zeitalter
des Geistes und des Mönchtums, doch damit meinte er seine
Gegenwart. Immerhin hatte er der augustinischen Geschichtsdeutung
insoweit widersprochen, als die Kirchenzeit nicht mehr nur das
Greisenalter der Welt war, sondern einen gewissen Fortschritt
aufwies. Aber die Entwicklungen in die Zukunft hinein
weiterzudenken, auf ein kommendes geistliches Zeitalter hin, das dem
Christentum neue, bessere Existenzbedingungen bieten sollte, auf
diese Idee kam Anselm nicht.

*
1
Chron. I, prol., Schmidt/Lammers 16,15-18; vgl. 11,5-9; 15,31-37.
2
„Eque tamen omnes vitae et conscientiae puritate ac sanctimonia caelesti et
angelica in terris vita degunt. Commanent autem cor unum et animam unam
habentes in unum in cenobiis vel ecclesiis, somnum simul capiunt, unanimiter
ad orationem surgunt, in una domo pariter reficiuntur […].“ Chron. VII,35,
Schmidt/Lammers 560,27-31; vgl. Apg 4,32.
3
„Omnes hii ab omni misero mundi rotatu, de quo supra disputatum est, se-
clusi, post senarii laboris perfectionem in veri sabbati pace eternam quietem
pregustando positi, nostrae enormitatis benigni et idonei intercessores, huius
septimi operis terminus existant, nosque ad ea quae secuntur, quis scilicet finis
civitati Dei maneat, quae perditio reprobam mundi civitatem expectet, dicenda
precibus suis aptos efficiant.“ Chron. VII,35, Schmidt/Lammers 566,25-31.
4
Spörl 1935, S.28.
292 ABBILDUNGEN

Joachim gelang es in den Jahren nach dem Ostererlebnis endlich, sein


Kloster Corazzo an eine Zisterzienserabtei, das in Latium gelegene
Fossanova, zu affilieren.1 Spätestens im Jahr 1188 waren der Abt und
seine Mönche im Vollsinn Angehörige des Reformordens. Joachim
betrachtete damit seine Aufgabe in Corazzo offenbar als erledigt. Er
hatte seine Brüder auf eine höhere, zeitgemäße Stufe des Mönchtums
geführt, aber er wußte noch nicht, welche Rolle ihm in dem
heilsgeschichtlichen Drama zukam, in dessen Struktur er so tief
blicken durfte. Sicherlich fühlte er sich zu Höherem berufen als zur
Leitung eines Provinzklosters. Joachim zog zum Papst und ließ sich
von seinen Abtspflichten entbinden. Schon zuvor hatte er sich auf
einem Stückchen Land namens Petra Lata, das ihm ein frommer und
reicher Verehrer zur Verfügung gestellt hatte, „einen Hafen der Ruhe
und einen Winkel der Abgeschiedenheit“ (quietis portum et angelum
secessionis) geschaffen.2 Um den charismatischen Weisen, den „neuen
Salomo“, wie sich Joachims anonymer Biograph ausdrückt,3 sammelte
sich eine kleine Schar von Anhängern, darunter Rainer von Ponza, der
spätere Berater Innozenz’ III. und Freund des nachmaligen Papstes
Gregor IX.
In der Einsiedelei nahe bei Corazzo wollte sich Joachim über
seinen eigenen Weg Klarheit verschaffen. Er schrieb ein Buch, das
den Prozeß seiner Selbstfindung widerspiegelt, den Tractatus in
expositionem vitae et regulae beati Benedicti.4 Wie der Titel schon
[[@Page:246]]sagt, handelt es sich nicht primär um Bibelexegese,
sondern um die Auslegung der Benediktregel und der Benediktvita
Gregors des Großen. Joachim wollte die Entwicklungen im
zeitgenössischen Mönchtum verstehen, indem er versuchte, den
heilsgeschichtlichen Sinngehalt im Wirken jenes Mannes zu
ergründen, den er für den göttlich erwählten Gesetzgeber des
abendländischen Mönchtums hielt.
Nur wenn man von einem Verständnis der Regel ausgeht, wie es
seit Pachomius üblich war, wird einsichtig, warum Joachim von Fiore
allein der Heiligen Schrift höhere Autorität zubilligte als den
Ordensregeln. Wie schon besprochen, galten Ordensgründer seit jeher
als besonders inspirierte Menschen, in deren Gesetzgebung man
lediglich eine praktisch-normative Variante jener Offenbarung sah, die
auch in den biblischen Schriften niedergelegt war. Joachim nennt
Benedikt einen neuen Mose,5 sowie vor ihm Pachomius und später der
1
Vgl. zum folgenden: Grundmann 1977, S.258ff, 309ff.; zur Chronologie:
Selge 1990, S.108ff, v.a. Anm.51.
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 347.
3
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 348.
4
Wessley 1990, S.4.
5
In Vita Ben. 13, Baraut 33,67f., stellt Joachim die Parallele her zwischen
Benedictus legislator monachorum und Moyses legislator populi Israel.
293 ABBILDUNGEN

Ordensgründer Joachim selbst als Wiedergänger des israelischen


Gesetzgebers erkannt wurden.1 Die vier klassischen Regeln des
Pachomius, Basilius, Augustinus und Benedikt stellte Joachim in
bewußte Analogie zu den Evangelien.2 Er war überzeugt, daß man die
Benediktregel auslegen müsse wie die Bibel, und aus ihr ebenso den
göttlich verfügten Lauf der Geschichte erkennen könne. Grundsätzlich
ist dies weder eine Flause Joachims noch eine monastische
Besonderheit. Jede Gesellschaft, die ihre Existenz auf den
schöpferischen Akt einer Gründung zurückführt, gewinnt Antworten
auf existentielle Fragen sowohl im Rückblick auf die
Gründerpersönlichkeiten als auch durch die Exegese der
Gründungsdokumente, seien es überlieferte Gebote mythischer
Gesetzgeber, Ordensregeln oder moderne Staatsverfassungen.
Wie noch näher zu zeigen ist, glaubt Joachim, daß die dominante
Gesellschaftsform im dritten Status das Mönchtum sein wird, genauer:
das benediktinische Mönchtum. Das erklärt sich in erster Linie daraus,
daß sich die koinobitischen Reformbewegungen des 11. und 12.
Jahrhunderts zum Ziel gemacht hatten, die Benediktregel im Sinne
ihres Urhebers zu erneuern. Die Entstehung der Franziskaner und
Dominikaner hat Joachim nicht mehr erlebt. Er schließt also, daß
Benedikt am Anfang einer Bewegung steht, die in der Zukunft
dominant werden wird, und daß mit seinem Auftreten eine gewisse
Einleitungsphase (initiatio) des dritten Status beginnt. Die
heilsgeschichtliche Rolle Benedikts wird so zentral, daß Joachim
meint, im Leben, Handeln und Reden des Heiligen die Struktur der
gesamten Entwicklung des Mönchtums konzentriert zu sehen.
Joachim nennt Benedikt nicht nur einen Gesetzgeber, sondern
auch einen Propheten.3 Schon die alten Propheten hatten ja ihre
Mahnungen und Weissagungen nicht nur [[@Page:247]]durch Reden,
sondern auch durch symbolisches Handeln kundgetan. Daher sagt
Joachim, Benedikt prophezeie nicht nur durch Worte, sondern auch
durch Institutionen. Denn der prophetische Geist, der in der Heiligen
Schrift mit der Offenbarung des Johannes zum Ende gekommen war,
setzt sich im paradigmatischen Handeln monastischer Stifter und
1
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 342. Vgl. auch Joachims Selbststilisierung in
Vita Ben. 15, Baraut 38,86-90.
2
„[Regule sanctorum patrum] non sunt tante auctoritatis quante evangelia et
scripta apostolorum, sunt tamen magne utilitatis et gratie. est autem harum
prima regula beati Pachomii, secunda sancti Basilii, tercia sancti Augustini,
quarta beati Benedicti. nec mirandum si has regulas monachi et heremite vice
evangelii venerantur, quia ipsis datus est specialius spiritus Helye, ut sciant que
a domino sibi donata sunt.“ Conc. V,74, fol.102vb.
3
„His de vita sancti Benedicti quam breviter prelibatis libet, iam nunc de eius
doctrina aliquid spiritaliter dicere, ut quantus fuerit apud Deum, tam ipse quam
et hi omnes qui significantur per ipsum, noster iste propheta, operibus eius et
doctrina in unum consonantibus, agnoscantur, et agat de cetero fiducialius
quicumque eius monitis acquiescit.“ Vita Ben. 18, Baraut 42,26-6.
294 ABBILDUNGEN

Führer fort. Vor allem in Benedikt und seiner Klosterordnung


manifestiert sich die Lebensform, die im zukünftigen dritten Status
allgemein werden wird.1 Zwar ist das Mönchtum schon viel älter, aber
erst durch Benedikt erhält es seine eigentliche Gestalt (forma
propria).2 Daher steht seine Regel den biblischen Testamenten nur
wenig nach.3 Aber Joachim geht noch weiter: Ebenso wie die
Ereignisse im Leben Christi das Kirchenjahr prägen und Joachim den
liturgischen Zyklus zur progressiven Struktur der Kirchengeschichte
entfaltet,4 so wird jetzt die Biographie des monastischen Gründers
zum Ordnungsparadigma einer Geschichte des Mönchtums.
Ab Kapitel 7 seines Traktats befaßt sich Joachim mit der
Benediktvita aus der Feder Papst Gregors I., vornehmlich mit jenen
Stellen, die von der Entwicklung des Heiligen, von seiner Jugend bis
zur Gründung von Montecassino, erzählen. 5 Gregor berichtet, daß der
junge Benedikt zunächst das Studium der Wissenschaften betrieb,
bevor er ein erstes Wunder bewirkte und sich seiner Gnadengabe
bewußt wurde. Er faßte den Entschluß, dem Ruhm dieser Welt zu
entsagen und ein völlig gottergebenes Leben zu führen. So zog er sich
für drei Jahre in eine Höhle zurück, von der außer seinem Freund
Romanus niemand wußte.6 Joachim, der nach seiner Bestimmung
sucht, zieht die Parallelen zu seinem eigenen Leben. Er kommt wieder
auf das Ostererlebnis zu sprechen:
Drei Jahre sind nun vergangen, seit die Offenbarung an ihn
erging. Es sei ihm inzwischen klar geworden, so sagt er, daß er die
göttlichen Gaben empfangen habe, um die Seele Benedikts, also des
Mönchtums wiederzubeleben. Denn als er über das Leben des
Heiligen las, war ihm aufgefallen, daß auch Benedikt ein Ostererlebnis
hatte. Wie Gregor erzählt, hatte sich jener soweit von den Menschen
zurückgezogen, daß er die kalendarische Orientierung verloren hatte.
Am Ostertag aber wollte der Herr nicht einmal den rigorosesten
Asketen fasten sehen. Daher sandte er einen Priester mit Speisen zum
Versteck Benedikts. Erst nachdem der Priester steile Felsen, tiefe
Talgründe und Schluchten durchquert hatte, fand er die Höhle. Als der
Heilige ihn erblickte rief er freudig aus: „Gewiß! Es ist Ostern, denn
ich durfte dich sehen.“7 [[@Page:248]]

1
„Hec de spiritalis doctrina sancti Patris breviter dicta sint, ut sciamus illum, si-
cut verbis, ita quoque operibus et institutionibus prophetasse, propter eos qui in
statu tertio sub disciplina eius erudiendi erant, habituri et ipsi proprium tempus
[…].“ Vita Ben. 33, Baraut 71,1-4.
2
Conc. IIa,5, fol.8va, Daniel 68,12-15; Conc. IIa,8, fol.9rb-va, Daniel 74,8-12.
3
Vgl. Conc. IIa,9, fol.10ra, Daniel 78,23-28.
4
Vgl. Lib. Fig., tav.XIX.
5
Das sind v.a. die Kapitel 1, 3 und 8.
6
Dial. II,1,1-4.
7
Dial. II,1,6f.
295 ABBILDUNGEN

Joachim sieht sich selbst in der Rolle des Priesters. 1 Seit am


Ostertag vor drei Jahren die Offenbarung an ihn ergangen sei und er
die stärkende Speise für Benedikt bereitet habe, irre er umher,
wandere über steile Felsen, durch tiefe Talgründe und Schluchten,
habe aber jenen immer noch nicht gefunden, der sich seit drei Jahren
versteckt halte. Jetzt aber sei es an der Zeit, daß Benedikt, also das
Mönchtum, aus der Höhle hervortrete und von Joachims geistlicher
Nahrung gespeist werde. Benedikt habe seinerzeit das Mönchtum als
Stand (ordo) begründet, nun aber werde es mit dem Heiligen Geist
befruchtet, der zwar bisher verborgen gewesen, aber wie der Herr
Christus am dritten Tage aus dem Grabe hervorgetreten sei. Der
Mönchsstand werde leuchten wie nie zuvor.2 Mit anderen Worten, die
von Benedikt begründete Lebensform der Mönche wird durch das
Wissen, das Joachim am Ostertag 1185 offenbart wurde, erneuert
werden. Joachim sieht seine Osterkenntnis eingebunden in die
Bewegung der monastischen Reform.
Der amerikanische Historiker Stephen E. Wessley hat noch auf
eine weitere Dimension des Benedikttraktats verwiesen.3 Die Schrift
kann auch als ein Versuch Joachims gelesen werden, seine eigene
Handlungsweise zu rechtfertigen. Er hatte als Abt seine
Fürsorgepflicht auf das gröbste verletzt, als er seine Brüder verließ
und sich in die Einöde flüchtete. Der anonyme Biograph berichtet, daß
die Mönche von Corazzo, die sich von ihrem Abt im Stich gelassen
1
Vgl. Wessley 1990, S.9.
2
„[…] superessent de Benedicto dicenda. Necesse est enim primo latitantem
per tres annos requirere, donis nobis divinitus traditis ipsius animum refocillare,
ne forte ad rem pertineat quod et nobis, licet indignis, ad proprium commodum
preparantibus escas, in nocte diei paschalis sermo hic factus est, ita ut ex eo
usque ad presens, ‚per abrupta montium, per concava vallium, per defossa ter-
rarum‘, transiremus universa, scilicet veteris et novi Testamenti ora lustrantes,
et necdum nobis apparuit qui latebat in antro per annos tres; nisi modo quippe,
cum et Helias anno tercio apparuisse legatur. Utique et annus iste tercius est,
quo taliter ambulare cepimus, et in hac quippe sollempnitate paschali complebi-
tur et diem, quem tercium sacra Scriptura cognominat. Denique et tempus istud,
secundum quod alibi disputavimus, resurrectionis est, quia necesse est ut hoc
tempore amoveatur lapis presolito, et spiritalis veritas de monumento ascendat.
Quid ergo per Benedictum, qui tribus annis in specu latuit, nisi ordo inchoatus
ab ipso, ut iam clarere incipiat per Spiritum sanctum, qui usque ad tempora ista,
velut in sepulchro Dominus diebus tribus, absconditus mansit? […] Nunc ergo
tempus est ut lucerna supra caldelabrum veniat, ut iam ita spiritalibus epulis re -
fectus prodeat, et ut qui hunc esse, aliquam bestiam aliquando et aliquandiu pu-
taverunt, a bestiali per eum mente immutentur in hominem, et sciant ‚quam bo-
num est et quam iucundum habitare fratres in unum‘. Vita Ben. 6, Baraut 19,2-
20,1 und 20,24-29; vgl. 1 Kön 17,2.12; Ps 133,1. Vgl. Vita Ben. 10, Baraut
26,55-27,64.
3
Wessley, Stephen E.: „,Bonum est Benedicto mutare locum‘: The Role of
the ,Life of Saint Benedict‘ in Joachim of Fiore’s Monastic Reform“, in: Revue
Bénédictine 90 (1980), S.314-328.
296 ABBILDUNGEN

fühlten, Joachim in seiner Einsiedelei in Petra Lata aufsuchten und


ihm dort zusetzten.1 Nachdem der Papst Joachim von seinen Pflichten
entbunden hatte, war ihm zwar kirchenrechtlich nichts mehr
anzuhaben – aber würde das der himmlische Richter genauso sehen?
Die Benediktregel, die die Zisterzienser bekanntlich wortgetreu
einzuhalten beanspruchten, äußert sich eindeutig. Man hört die
ethischen Grundsätze des Koinobitentums, wie sie seit Pachomius
bekannt sind: [[@Page:249]]
Der Abt muß wissen: Wer es auf sich nimmt, Menschen zu
führen, muß sich bereithalten, Rechenschaft abzulegen. Er sei
sich darüber ganz im klaren: Wie groß auch die Zahl der Brüder
sein mag, für die er Verantwortung trägt, am Tag des Gerichts
muß er für sie alle dem Herrn Rechenschaft ablegen, dazu ohne
Zweifel auch für sich selbst.2
Demzufolge hätte Joachim die schlimmsten Höllenqualen zu erwarten
gehabt, und manch einer mag ihn daran erinnert haben.3 Seine
Rechtfertigungsstrategie aber verweist völlig überraschend auf das
Vorbild Benedikts. Nach der Erzählung Papst Gregors war in einem
Kloster, das nahe bei Benedikts Einsiedelei gelegenen war, der Abt
verstorben. Die Mönche, die inzwischen von dem Anachoreten gehört
hatten, suchten ihn auf und baten ihn, ihr Abt zu werden. Benedikt
wehrte sich heftig, ergab sich aber schließlich in sein Schicksal und
schulterte die Verantwortung. Doch unter seiner gestrengen Leitung
kam es zur Meuterei. Die Mönche versuchten, sich ihres ungeliebten
Abtes zu entledigen, indem sie Gift in seinen Trank mischten. Mit
Gottes Hilfe entging Benedikt dem Mordanschlag.4 Gregor fährt fort:
Dann kehrte er an die Stätte seiner geliebten Einsamkeit zurück.
Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe
herniederschaut, wohnte er in sich selbst.5
Dieses „Wohnen in sich selbst“ (habitare secum) erklärt Gregor
genauer:
Hätte der heilige Mann die Brüder, die sich einmütig gegen ihn
verschworen hatten und deren Lebensweise sich von der seinen
sehr unterschied, lange unter Zwang führen wollen, so hätte er
vielleicht seine Kräfte überfordert, die innere Ruhe verloren und
das Auge seines Geistes vom Licht der inneren Schau
abgewandt. Wenn er, Tag für Tag von ihrer Unverbesserlichkeit
ermüdet, weniger auf sich selbst geachtet hätte, dann hätte er
vielleicht sich selbst verloren, ohne die anderen zu finden. Sooft
wir nämlich durch die Unruhe der Gedanken zu sehr aus uns
1
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 347.
2
[[Reg. Ben. 2,37 >> RuleOfStBenedict:RB 2.37]]f.
3
Vgl. Wessley 1990, S.7.
4
Dial. II,3,2-4.
5
Dial. II,3,5.
297 ABBILDUNGEN

herausgeführt werden, sind wir zwar noch wir selbst, aber nicht
mehr in uns selbst; denn wir verlieren uns selbst aus dem Blick
und schweifen anderswo umher.1
Benedikt mußte also das Kloster verlassen, weil er sonst dem
Lebensziel jedes Mönches, der Gotteserkenntnis durch
Selbsterkenntnis, nicht hätte gerecht werden können. Galt nun nicht
genau das gleiche für Joachim? Er, der sein monastisches Leben als
Anachoret begonnen hatte und der nur gegen seinen Willen zum Abt
von Corazzo gemacht worden war, durfte er überhaupt weiter unter
Umständen leben, die es ihm nicht gestatteten seine besonderen
Geistesgaben zur Entfaltung zu bringen? Die Flucht nach Petra Lata
schien geradezu geboten, er mußte, wie einst Benedikt, in sich selbst
zurückkehren.2 Aber wie sollte es nun, von Petra Lata aus,
weitergehen? Gregor berich[[@Page:250]]tet, Benedikt sei in der
Einsamkeit gewachsen (succresceret), bis er schließlich auszog, um
seine eigenen Klöster zu gründen. Dort habe er die Menschen
versammelt, die tatsächlich bereit waren, Gott zu dienen.3
Joachim lenkt die Abhandlung hin zur Geschichte des
Mönchtums. Er betrachtet die Anfänge seines Zisterzienserordens und
erkennt, daß sich dort die Ereignisse wiederholt hatten. Der Gründer
Robert war aus Molesme ausgezogen, um wie einst Benedikt „in sich
selbst zu wohnen“. Aber auch aus diesem Anachoreten wurde ein
Gründer von Gemeinschaft, die Einsiedelei von Cîteaux wurde zum
Ursprungsort eines Ordens, der die Lebensform Benedikts erneuerte
und bald in der ganzen Welt erstrahlte. In den Zisterziensern mache
Benedikt Fortschritte (proficit),4 schreibt Joachim und hat damit die
historischen Gesetze erkannt, die das Mönchtum zur Vollkommenheit
hinlenken. Immer dann, wenn das Mönchtum begann, in seinem Eifer
nachzulassen, wenn es sich dem Leben der Weltmenschen annäherte,
wenn sich Gewohnheiten einschlichen, die dem Geist der Regel
1
Dial. II,3,5.
2
Vgl. Vita Ben. 7, Baraut 20,1-15.
3
Dial. II,3,13.
4
„Reliquit ergo illos sanctus Benedictus, et abiit habitare secum. Quod tunc
completum est, quando grex ille fidelis sed modicus egressus est de Molismo,
et venit habitare Cistercium. Queris quid deinceps? Construxit Benedictus duo-
decim monasteria, auctus et dilatatus in filiis, et grex ille, a principio modicus,
quam in mundo dilatatus sit, liquet omnibus latinis, grecis et barbaris, et diver-
sis nationibus terre.“ Vita Ben. 7, Baraut 20,14-21,20. „Quia vero sermo Bene-
dicti non capiebat inter eos, quid erat faciendum his quos Benedictus designat,
nisi alibi migrare cum fructu, illos autem, ut vitiosos et indomabiles, desolatos
relinquere, electuros sibi patres prurientes auribus, secundum desideria carnis et
egrotos ac putridos mores suos? Completum est anno millesimo nonagesimo
sexto Incarnationis dominice, quando novus ille ac pius grex, qui egressus est
de Molismo, mansurus secum Domino, venit Cistercium, inchoaturus Cister-
ciensem ordinem in quo vivit et proficit Benedictus.“ Vita Ben. 11, Baraut
27,35-28,33.
298 ABBILDUNGEN

zuwiderliefen, oder – wie sich Joachim ausdrückt – wenn in den


heilsamen Trank der Benediktregel das Gift der Lockerung (venenum
dispensationis) gemischt wurde,1 dann gab es einen, der auszog, um
im echten Geist Benedikts seine Nachfolge anzutreten, um die
Reinheit der Regel (integritas Regule) wiederherzustellen2 und um
sich der Bestimmung des Mönchsstandes wieder bewußt zu werden:
der kontemplativen Selbsterkenntnis, fern von den Turbulenzen der
Welt. Dieser Anachoret aber mußte wiederum zum koinobitischen
Gründer werden, um dem Mönchtum Fortschritt zu bringen, um es auf
eine höhere spirituelle Ebene zu führen. Monastischer Fortschritt, das
bedeutet für Joachim, wie schon für Robert von Molesme, das
Koinobitentum auf die Höhe der Anachorese zu ziehen. 3 Gefordert
wird also größere Abge[[@Page:251]]schiedenheit, größere Armut,
entschiedenere Askese, möglichst viel Zeit für die Kontemplation und
daher die Abwertung aller anderen Tätigkeiten.
Nun aber lag der Höhepunkt der zisterziensischen
Reformbewegung schon einige Jahrzehnte zurück und auch unter den
Reformern begann der unaufhaltsame Verfall der Sitten. Allerorten
sah Joachim die monastische Reinheit (monastica puritas) verletzt.
Was auch immer die Capitula der Zisterzienser verbieten, werde in
Wahrheit praktiziert, wie der Besitz von Landhäusern oder die
Besteuerung von Backöfen und Mühlen.4 Schlimmer erscheint ihm
noch, daß die Klöster untereinander um ihren Reichtum und die Zahl
der Mönche wetteifern und nicht mehr um die Strenge der
Lebensführung. Mit der sittlichen Annäherung an die Welt gehe die
räumliche einher, da bei der Gründung von neuen Klöstern nicht mehr
darauf geachtet werde, ob sie von der Öffentlichkeit und den
Wohnstätten der Weltmenschen getrennt sind (utrumne semota essent
a publicis et secularium hominum habitatione).5
1
„[…] illos suprascriptos monachos fratres ipsi tam iniqui designant, qui in eius
sancta Regula, que vinum est utentibus ea, venenum dispensationis sue audac-
ter miscuerunt, quod spiritum Benedicti in successione extingueret.“ Vita Ben.
7, Baraut 20,4-7.
2
Vita Ben. 10, Baraut 25,19-22.
3
Der italienische Historiker Raoul Manselli hat darauf aufmerksam gemacht,
daß die Handlungsweisen Roberts von Molesme und Joachims von Fiore, aber
auch anderer Reformer immer derselben Logik folgen. Mehrfach wiederholt
sich in jener Aufbruchszeit eine typische biographische Sequenz:
Unzufriedenheit und Auszug aus einem Kloster – Anachorese und
Selbstbesinnung – Gründung einer neuen Form von Koinobitentum. Manselli,
Raoul: „Die Zisterzienser in Krise und Umbruch des Mönchtums im 12.
Jahrhundert“, in: Elm, Kaspar (Hrsg.): Die Zisterzienser: Ordensleben
zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ergänzungsband. Köln: Rheinland/Wienand,
1982, S.29-37, S.30ff.
4
Vita Ben. 15, Baraut 36,42-46. Vgl. Capitula Cisterciensis ordinis XXIII,
Bouton/Van Damme 124.
5
Vita Ben. 15, Baraut 36,46-37,66. Vgl. Exordium parvum XV, Bouton/Van
299 ABBILDUNGEN

Letztlich ist klar, was folgen muß: Nachdem sich Joachim durch
eine eigenwillige, hier nicht näher auszuführende Exegese der
Benediktregel noch einmal seines Epochenbewußtseins versichert hat,
läßt er den Benedikttraktat unvollendet liegen und schreitet zur Tat. Er
zieht mit einer Schar treuer Anhänger hinauf in das raue Silagebirge,
wo bald ein Kloster entsteht, das dem Evangelisten Johannes geweiht
wird. Damit ist der Grundstein gelegt für den Florenserorden, für die
strengste Form des Benediktinertums, die die Welt je gesehen hat.
Joachim hat verstanden: Er ist der neue Benedikt, der neue Robert von
Molesme, der ausersehen ist, die Geschichte des Mönchtums
fortzuschreiben.1 Die drei Jahre, die sich Benedikt verborgen hielt,
können symbolisch auch drei Generationen bezeichnen. Neunzig Jahre
nach der Gründung von Cîteaux, also in der Gegenwart, muß ein
weiterer Aufbruch im Mönchtum geschehen. Doch weil die
mönchische Johanneskirche die Gesellschaft der Zukunft dominieren
wird, und weil die Zukunft im Begriff ist anzubrechen, reicht die
Bedeutung der florensischen Gründung über alle monastischen
Reformen der Vergangenheit hinaus. „Sankt Johannes in der Blüte“
(San Giovanni in Fiore) heißt bis heute der Ort, an dem Joachim
versuchte, den Grundstein einer neuen Weltordnung zu legen.2
Am Ostersonntag 1185 erlangte Joachim von Fiore das Wissen,
das ihm erlaubte, die gesellschaftliche Ordnung des dritten Status zu
erkennen, nun gründet er eine Form des menschlichen
Zusammenlebens, die zwar noch nicht die Ordnung des Geistzeitalters
verwirklicht, aber ihr so nahe wie möglich kommt. Oder anders
formuliert: Er verwirklicht in einer Elite, was bald die gesamte
Menschheit erfassen wird. Das Wissen um die Gesellschaftsform der
Zukunft, um die Bestimmung des Menschengeschlechts, verpflichtet
zur politischen Tat. [[@Page:252]]

Damme 78,13; Capitula Cisterciensis ordinis VIIII, Bouton/Van Damme 121.


1
Vgl. Wessley 1990, S.3.
2
Vgl. Reeves 1976, S.3.
300 ABBILDUNGEN

Man ahnt am Ende dieses Abschnitts die Komplexität, die


Joachims Selbstverständnis auszeichnet. Wo er die Päpste, die neuen
Könige Judas, berät, schlüpft er in die Rolle der alttestamentlichen
Propheten. Wo er die Struktur des göttlichen Geschichtsplans
erforscht und sich in ihm verortet, tut er dies im Typus des Sehers von
Patmos, dessen Offenbarungserlebnis er aktualisiert. Und schließlich
macht er sich als neuer Benedikt daran, seinen eigenen Orden zu
gründen. Ein moderner Psychologe würde wahrscheinlich von einer
multiplen Persönlichkeit sprechen und doch nicht die Logik begreifen,
mit der dieser Selbstfindungsprozeß vonstatten geht. Indem er die
prophetische, apokalyptische und monastische Ordnungserfahrung an
ihrem jeweiligen Ursprung erschließt, und indem er die verschiedenen
Modi nachvollzieht, in denen die paradigmatischen Gestalten der
Heilsgeschichte die göttliche Selbstoffenbarung wahrgenommen,
gedeutet und ins Werk gesetzt haben, gelangt Joachim von Fiore zu
seiner genuinen Ordnungskonzeption, die nach Maßgabe seines
eigenen Epochenbewußtseins die relevanten Elemente der jüdisch-
christlichen Tradition vereint und neu formuliert.
[[@Page:253]]

IV. DAS POLITISCHE DENKEN JOACHIMS:

SYSTEMATISCHE GESAMTDARSTELLUNG

1. Vorbemerkungen
Bisher wurden die Grundlagen des Ordnungsdenkens Joachims von
Fiore vorgestellt und die Entstehung seiner Lehre vor dem historisch-
biographischen Hintergrund erklärt. Dem Vorhaben einer
systematischen Gesamtdarstellung scheint nun entgegenzustehen, daß
Joachim nach weitverbreiteter Meinung kein systematischer Denker
ist.1 Auf den ersten Blick läßt die Lektüre seiner Hauptwerke dies
Urteil plausibel erscheinen, und doch ist es vorschnell ausgesprochen.
Es ist sicherlich richtig, daß die Arbeit eines Exegeten immer an den
Gegenstand der Exegese gebunden bleibt, also für die Konstruktion
1
Z.B. Buonaiuti, Ernesto: Gioacchino da Fiore. I tempi – la vita – il messagio.
Cosenza: Lionello Giordano, 1984, S.197; Bloomfield, Morton: „Joachim of
Flora: A Critical Survey of His Canon, Teachings, Sources, Biography, and In-
fluence“, in: Delno West (Hrsg.): Joachim of Fiore in Christian Thought. Es-
says on the Influence of the Calabrian Prophet. New York: Franklin, 1975, Bd.
1, S.29-91, S.40f.; Heer 1953, S.103.
301 ABBILDUNGEN

eines geordneten Lehrgebäudes nur wenig Spielraum läßt.


Andererseits glaubt Joachim ja gerade daran, die Struktur der
Geschichte aus der Struktur des biblischen Textes ableiten zu können,
etwa aus dem Schöpfungsbericht oder der Johannesapokalypse.
Doch abgesehen davon gibt es eine Reihe von Kernthemen, die in
den Hauptwerken des Abtes ständig wiederkehren und sich in der
Zusammenschau zu einer spezifischen Ordnungslogik verdichten.
Dazu gehören unter anderem die verschiedenen Einteilungen der
Heilsgeschichte nach Status, Zeitaltern (etates) und Zeiten (tempora),
deren Kompatibilität Joachim immer wieder betont, sowie die damit
korrespondierende Lehre vom gesellschaftlichen Wandel. Joachim hat
seine Hauptwerke zum Teil parallel verfaßt und mit zahlreichen
Querverweisen ausgestattet, für den Interpreten scheint daher ein
synoptisches Vorgehen geradezu geboten. Zu Joachims Hauptwerken
zählt aber auch der Liber Concordiae, in dem nicht die Exegese eines
bestimmten biblischen Textes betrieben wird, und der trotz
weitschweifiger Exkurse systematisch durchkomponiert ist.
Weiterhin hat Joachim einige einführende Texte verfaßt, vor allem
Praephatio super Apocalypsim, De septem sigillis, Enchiridion super
Apocalypsim und den Liber introductorius, die zusammenfassen, was
er für den Kern seiner Lehre hielt. Nicht zuletzt gibt es den
Verfassungsentwurf des Liber Figurarum, der in einer
wohlorganisierten Synthese vereint, was nach Joachims Ansicht Sinn
und Ziel der Geschichte ist. Diese Voraussetzungen reichen m. E. aus,
um den Versuch einer systematischen Analyse seines
Ordnungsdenkens wagen zu können. Daß sie sich auf die Grundlinien
beschränken muß, versteht sich von selbst.
Es sei zugestanden, daß damit der Charakter des joachimischen
Werkes nur eingeschränkt zum Ausdruck kommt. Denn die Bücher
des Abtes sind voll von Berechnun[[@Page:254]]gen der
Geschichtsstruktur, die nicht ohne ein gewisses Maß an Naivität
durchgeführt werden und Selbstzweifel meist vermissen lassen. Die
vielen Ausnahmeregeln, deren Joachim bedarf, um seine – wie er es
nennt – geistliche Arithmetik (arithmetica spiritualis)1 im Lot zu
halten, sowie die Korrekturen, zu denen ihn der reale Lauf der
Geschichte zwingt, belegen, daß er gegen alle Widrigkeiten immer an
der Überzeugung festhält, Gottes Heilsplan lasse sich berechnen. Für
einen Leser, der von keinem drängenden Endzeitbewußtsein
angetrieben wird, ist es nicht immer leicht, den existentiellen Ernst
nachzuvollziehen, mit dem diese Berechnungen einst angestellt
wurden. Es ist daher nicht beabsichtigt, in den „arithmetischen“
Fragen allzusehr ins Detail zu gehen.
Nicht weniger langatmig sind die seitenlangen Traktate über
exegetische Regeln, in denen Joachim bis zu fünfzehn verschiedene
1
Ench., Burger 82,2397.
302 ABBILDUNGEN

Schriftsinne herausarbeitet, um sie zum Teil niemals zur Anwendung


zu bringen. Glücklicherweise sind diese Bereiche seines Werkes
hinreichend erforscht worden und müssen hier nicht in aller Breite
dargelegt werden.1 Joachims Schriften entbehren insgesamt des
literarischen Glanzes. Verquere Satzstrukturen sowie nicht enden
wollende Wiederholungen und Variationen der immergleichen
Themen stellen den Leser bisweilen auf harte Proben. Wichtig zu
erwähnen ist dies deshalb, weil auch Joachims Stil der Logik seines
elitären Bewußtseins folgt: Denn, so meint er stolz, diesen sermo
rusticus können sich nur die geistlich Inspirierten leisten, die im
Gegensatz zu den scholastischen Dialektikern kein rhetorisches
Blendwerk nötig haben.2

2. Weltwahrnehmung, condicio humana und


Geschichtsbegriff
Joachims Wahrnehmung der Welt ist begrenzt durch den
eingeschränkten Horizont der damaligen Klosterbildung. Aber auch
innerhalb dieser Möglichkeiten konzentriert sich der Abt auf die
Fragen, die sich aus seiner Deutung des menschlichen Daseins
ergeben. Mit den großen Gelehrten des 12. Jahrhunderts, wie sie aus
den Schulen von Chartres, St. Viktor und Bologna hervorgehen, kann
und will er sich nicht messen. Heidnische Literatur hält er schlicht für
ein Gift, dessen todbringende Wirkung die Kirchenväter allerdings mit
biblischem Antidot gemildert hätten.3 Patristische Zitate finden sich
recht häufig, wobei nicht immer klar ist, inwieweit Joachim die
entsprechenden Werke tatsächlich gelesenen hat oder sein Wissen
Glossen, Florilegien und den Schriften anderer Autoren entnimmt.
Seine Augustinuslektüre bleibt selektiv, entbehrt (wie bei den meisten
seiner Zeitgenossen) des philosophischen Verständnisses und
unterliegt der gregorianischen Umdeutung der civitas Dei in die
empirische Kirche.
Neben den Standardwerken vor allem des Augustinus, des
Hieronymus und Gregors des Großen erwähnt Joachim mehrfach
Bernhards De consideratione, wobei ihm der Zugang zu dessen
introspektiver Suche verwehrt bleibt. Physik und Metaphysik
1
Einen guten Überblick über Joachims Hermeneutik gibt: McGinn, Bernard:
The Calabrian Abbot. Joachim of Fiore in the History of Western Thought.
New York: MacMillan, 1985, S.123ff.
2
Ench., Burger 10,36-54. An dieser Stelle findet sich auch der paradigmatische
Satz: „Cui cultus sermonis inest, scientia deest; cui scire conceditur, dicere op-
portune negatur.“
3
Conc. IIIa,18, fol.36va, Daniel 272,248-252.
303 ABBILDUNGEN

interes[[@Page:255]]sieren Joachim nicht im geringsten, er erachtet


solches Wissen sogar als überflüssig und hinderlich. 1 Im Anschluß an
Paulus und die Tradition der kontemplativen Klostertheologie ist das,
was ihn an dieser Welt zuallererst beeindruckt, die Eingebundenheit
des Menschen in eine Heilsgeschichte, die letztlich aus dieser Welt
herausführt. Alles Heil kommt von oben und deshalb ist auch alles
relevante Wissen von dort zu erwarten. Joachims Lektüre besteht
daher in erster Linie aus der Bibel, einer Reihe von
Kommentarwerken, vornehmlich zur Johannesapokalypse, den von
ihm als Offenbarungstexte aufgefaßten Mönchsregeln, vor allem des
Benedikt,2 sowie den Chroniken, in denen er das Wirken der Gottheit
in christlicher Zeit dokumentiert sieht.
Das Interesse am Heilsgeschehen rührt von der Erfahrung, daß der
Mensch sich selbst nicht aus der Misere seines Daseins befreien kann,
in die er sich geworfen sieht. Mit Erbschuld belastet steckt das
erlösungsbedürftige Menschengeschlecht in einem See voll Unglück
und stinkendem Kot (constitutum in lacu miserie et luto fecis),
schreibt Joachim.3 Der Mensch kann gar nicht anders, als sich der
Uneigentlichkeit seines Daseins gewahr zu werden und zu begreifen,
daß er sich von der Heimat entfremdet hat und auf „fremder Erde“ wie
ein Verbannter umherirrt.4 Damit wäre die condicio humana
hinreichend beschrieben, wollte nicht Gott in seiner unermeßlichen
Barmherzigkeit seine Kreatur zu altem Glanze zurückführen. So ist
der Mensch zwar aufgrund seiner natürlichen Bedingtheit (condicio
nature) von seinem Schöpfer getrennt, weil er der Unbeständigkeit
alles Kreatürlichen unterliegt und seit Adams Fall zusätzlich mit der
Erbsünde belastet ist; aber kraft seiner Teilhabe an der Gnade (gratie
participatio) ist er dennoch mit der Sphäre des Göttlichen verbunden.5
Wenn Joachim von der Welt (mundus/hoc seculum) spricht, meint
er die Menschheit. Gott ist für ihn vor allem der Schöpfer des
Menschengeschlechts (creator generis humani) und das
Menschengeschlecht ist der Inbegriff der Schöpfung.6 Gerade diese
Perspektive auf die Menschheit als Ganzes führt aber dazu, daß
anthropologische Fragen im Werk des Abtes weitgehend unbeachtet
bleiben, ja, daß ihm – davon wird noch die Rede sein – die
1
„Quod si hi qui iuxta Salvatoris vocem norunt iudicare faciem celi et terre
signa temporum, aut non cognoscunt aut non credunt agnoscentibus ea, non est
meum iudicare de eis.“ Exp. Intr., fol.2va; vgl. Mt 16,4.
2
Joachims Kenntnis der Basiliusregel erweist sich in Conc. V,17, fol.69ra.
3
Conc. IIIa,20, fol.37va, Daniel 279,16f.
4
Conc. I,1, fol.2ra-rb, Daniel 25,112-27,148; vgl. Ps 137,4.
5
Conc. IIb,1, fol.19rb, Daniel 145,11f.; vgl. Psalt. I, fol.238 rb. „Quis est enim
homo, natus ex muliere, qui non simul cum culpa et fletu egressus sit de utero
matris sue? qui nisi liberetur per gratiam non de carcere vite huius transeat ad
gehennam?“ Conc. V,30, fol.62ra. Zur mutabilitas nature als Voraussetzung der
Sünde: De art. fid., Bounaiuti 15,16-20.
6
Exp. Intr., fol.5vb, 18vb.
304 ABBILDUNGEN

anthropologischen Konsequenzen seiner Geschichtstheologie nicht


wirklich bewußt werden. Gewiß, der Mensch besteht aus Leib und
vernünftiger Seele, daran zweifelt auch Joachim nicht;1 aber daraus
folgt zunächst nichts, was für das Heil unmittelbar relevant wäre.
Wichtiger ist – in Anlehnung an das Menschenbild des Alten
Testaments und der Paulusbriefe – das Herz oder der innere Mensch
(cor/homo interi[[@Page:256]]or/animus) als der anthropologische
Ort, an dem sich die Epiphanie des Geistes ereignet. Der Mensch, der
sein Herz nicht der göttlichen Erleuchtung (illuminatio) öffnet, der nur
auf das Irdische blickt und nicht den Willen hat, sich aus seiner
Sündhaftigkeit zu befreien, teilt – Vernunft hin oder her – seine
Daseinsstufe mit dem unverständigen Tier.2 Viel mehr denn aus Leib
und Seele besteht der Mensch aus Fleisch und Geist, wobei seit dem
Fall das Fleisch die primäre Disposition bestimmt und der Geist von
Gott gnadenhaft verliehen wird.
Die Verachtung, die Joachim für die Nichtigkeit der Welt (vanitas
seculi)3 empfindet und die er mit vielen Denkern seiner Zeit teilt, ist
im Grunde Menschheitsverachtung. Sie rührt daher, daß alle
Menschen zum Tode verurteilte Sünder sind, sich aber dennoch dem
Heilsangebot Gottes verweigern. Es ist diese Ignoranz, die jeden mit
apokalyptischem Bewußtsein ausgestatteten Prediger schier zum
Wahnsinn treiben kann. Reue und Buße wären geboten, doch es
herrschen die fleischlichen Leidenschaften. In der Erweckungspredigt,
die das erste Buch des Liber Concordiae einleitet, malt Joachim
schaurige Szenen, in denen ein unbekümmert träumendes Volk die
belanglosen Freuden der Welt genießt, während sich am Horizont
schon die Gewitterwolken des Jüngsten Gerichtes abzeichnen. Aber
jene, die berufen wären, vor dem drohenden Verderben zu warnen,
versagen:
Siehe nämlich, wie viele tausend Menschen, wie unendlich
viele Volksscharen hinter Leiern, Zimbeln und dem Geschrei
der Gaukler herlaufen, wie sie zu unanständigen Schauspielen
zusammenströmen. Und dennoch sehen wir und dulden wir,
schauen wir hin und schweigen wir; dabei träumen wir mit den
Träumenden ihren Traum und wecken niemanden aus dem
Schlaf der Trägheit, auf daß er dem Herrn begegne. 4
Diese Welt, die ahnungslos dem Untergang entgegengeht, ist eine
Welt der Sterbenden (morientium seculum).5 Allein in den göttlich
Erwählten hat das Menschengeschlecht die Bestimmung zum Leben. 6
1
Conc. IV,1, fol.42ra, Daniel 313,2f.; Exp. Intr., fol.25vb.
2
„Non enim homines sunt, qui nolunt oculos suos levare ad celum, sed bruta et
insensata animalia respicientia semper ima […].“ Conc. V,6, fol.62vb.
3
Tract. II,12, Santi 247,1.
4
Conc. I, praef., fol.3ra-rb, Daniel 9,38-43; vgl. Exp. II, fol.117vb-118ra.
5
Vita Ben. 16, Baraut 41,67.
6
Psalt. II, fol.274vb.
305 ABBILDUNGEN

Die Öffentlichkeit, der tumultus publicus, der die Gläubigen mit den
diesseitigen Belangen und Bedürfnissen der Menschen konfrontiert,
das ist Sodom, aus dem sich die Erwählten besser schon jetzt in ein
Kloster zurückziehen, spätestens aber, wenn sich die Zeichen des
nahenden Gerichtes verdichten.1
Die Weltverachtung, die vor allem die Frühschriften dominiert,
aber auch im späteren Werk Joachims präsent bleibt, steht in einem
eigentümlichen und niemals völlig auflösbaren Widerspruch zu dem
Geschichtsoptimismus, für den der Abt heute bekannt ist. Noch in
seinen letzten Jahren konnte er einen düsteren Endzeittraktat wie De
ultimis tribulationibus verfassen. Im Grunde aber beschreibt Joachim
immer zwei Prozesse. Der eine ist der Prozeß des Weltverfalls, dessen
ständige Beschleunigung sich in der Verkürzung der Generationen
äußert. Vor der Sintflut konnte eine Generation über 180
[[@Page:257]]Jahre dauern, aber auch Abraham und andere
Patriarchen hatten erst als hochbetagte Männer Nachwuchs gezeugt;
im zweiten Status mißt eine Generation nur noch 30 Jahre und im
dritten Status wird sie vielleicht nur noch wenige Jahre, Wochen oder
gar nur Tage einnehmen.2 Das Symbol der Generationenverkürzung
findet sich nicht nur im jüdisch-christlichen Kontext, sondern z. B.
auch in indischen Kosmologien. Stets ist es Ausdruck einer
Dekadenzerfahrung: Die Menschen verdienen es immer weniger, mit
einem langen Leben gesegnet zu sein; und andererseits sind die Zeiten
so schlecht, daß ein langes Leben gar nicht mehr als wünschenswert
erscheint.3 Die Dekadenzerfahrung ist bei Joachim nicht völlig
aufgehoben, sondern äußert sich gerade dort, wo er über den Zustand
der Klerikerkirche spricht.4
Andererseits schafft der Verfall des seelsorgerisch aktiven Klerus
den Raum für die gesellschaftliche Erneuerung im Zeichen der
Kontemplation. Die Analogien zur Botanik, die sich immer finden, wo
Joachim geschichtliche Prozesse beschreibt, sind von großer
Suggestivwirkung und scheinbar immanenter Plausibilität: Wo das
Alte vergeht (deficere), kann das Neue wachsen (proficere).5 So
verläuft entgegen diesem Verfallsprozeß der Fortschritt des
Gottesvolkes. Er mündet in den dritten Status, die beste Zeit, die die

1
Conc. V,89, fol.118rb; Conc. V,36, fol.75rb; Psalt II, fol.246ra.
2
Conc. IIa,16-17, fol.12rb-vb, Daniel 98,1-102,24; Psalt. II, fol.255ra-rb; 277vb.
3
Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte. Frankfurt am Main und Leipzig:
Insel, 1994, S.140.
4
Ein langer Traktat über den Niedergang des Klerus findet sich in Conc. IV,23-
26.
5
„[…] cum defectu secundi status, idest sexte etatis mundi, transiet exercitatio
vite active et incipiet convalescere fructus vite contemplative.“ Exp. Intr.,
fol.19rb. Vgl. West, Delno C. und Sandra Zimdars-Swartz: Joachim of Fiore. A
Study in Spiritual Perception and History. Bloomington: Indiana University
Press, 1983, S.13.
306 ABBILDUNGEN

Menschheit auf Erden erlebt, in die Vollendung ihres geschichtlichen


Daseins. Doch solange die jenseitige Perspektive erhalten bleibt, ist
die geschichtliche Vollendung immer nur Prolepsis der jenseitigen
Erfüllung. Der Fortschritt der Menschheit wirkt sich positiv auf die
Verfassung der Welt aus, aber der glorreiche Endzustand, in dem
dieser Prozeß zum Stehen kommt, unterliegt der Vergänglichkeit alles
Zeitlichen. Trotz dieser Einschränkung hat Joachim einen Grundstein
für alle diesseitig orientierten Eschatologien gelegt, gerade weil er,
wie noch genauer zu zeigen ist, lehrt, daß die politische Ordnung des
dritten Status die jenseitige Ordnung schon weitgehend herstellt.
Damit geht er weit über die konventionellen Vorstellungen der
Apokalyptiker hinaus, die den Menschen der Endzeit lediglich eine
kurze Ruhepause im allgemeinen Untergangsgeschehen verprachen.1
Joachim hat versucht, das Paradox der gegenläufigen Prozesse
terminologisch in den Griff zu bekommen; er spricht davon, daß es
den Fortschritt der Welt (profectus mundi) immer in zweierlei
Hinsicht zu betrachten gelte, insofern die Welt „im Fortschreiten
niedergeht und im Niedergang fortschreitet“ (proficiendo deficit et
deficiendo proficit).2
Dieses Schwanken zwischen Untergangsstimmung und
Erlösungshoffnung, zwi[[@Page:258]]schen Gerichtsandrohung und
Heilsverkündigung ist ganz im Ordnungsdenken der Zeit verwurzelt. 3
Joachims Gott ist kein deus absconditus, sondern ein Herrscher,
dessen Handeln durchaus verständlich ist. Der Herr hat allen Grund
zum Zorn und sein Strafen manifestiert sich nicht nur im Jüngsten
Gericht, sondern in der gesamten Geschichte. Dennoch hat er im
Grunde keine Wahl. Er kann zwar seine alte Schöpfung fahren lassen
und durch eine neue ersetzen, aber die Krönung des Sechs-Tage-
Werkes, den Menschen, der nach seinem Bild erschaffen ist und den
er ausersah, die höchste Stufe der himmlischen Heerscharen zu
erklimmen, kann er nicht im Stich lassen. Ohne den zehnten Chor,
ohne die zehnte Saite des Psalters, bliebe die jenseitige Ordnung und
damit die Verherrlichung des Schöpfers unvollständig.4 Das
1
Lerner, Robert: „Refreshment of the Saints. The Time after Antichrist as a
Station for Earthly Progress in Medieval Thought“, in: Traditio 32 (1976),
S.97-144, v.a. S.117ff.
2
„Ut autem ea que dicimus apertius capi queant ex ipso profectu mundi – siqui-
dem et proficiendo deficit et deficiendo proficit, et utique diversis respectibus
considerari potest.“ Tract. I,7, Santi 166,5-7.
3
Vgl. Heer 1949, S.171ff.
4
Anselm von Canterbury referiert die traditionelle Sichtweise, die er selbst
keineswegs anzweifelt, sondern lediglich genauer begründet: „Scheint es nicht
ein genügend notwendiger Grund zu sein, warum Gott das, was wir sagen, tun
mußte (debuerit): nämlich weil das Menschengeschlecht, sein so kostbares
Werk, gänzlich zugrundegegangen war und es sich nicht ziemte, daß, was Gott
über den Menschen beschlossen hatte, vollständig zunichte werden sollte und
dieses sein Vorhaben nicht zum Erfolg geführt werden konnte, es sei denn, das
307 ABBILDUNGEN

Menschengeschlecht hat durch den Fall seines Stammvaters seine


Gottesebenbildlichkeit nicht vollständig eingebüßt, sagt Joachim. 1
Doch um sich für die curia celestis würdig zu erweisen, muß es in den
ursprünglichen Stand zurückversetzt werden. Dies aber kann aufgrund
der radikalen Verderbtheit seiner Natur nur prozeßhaft geschehen, als
Heilungs-, als Heilsgeschichte.
Die Art und Weise, in der Joachim die restauratio hominis (A. v.
Canterbury) denkt, ist wiederum sehr eigenständig. In seiner kleinen,
aber programmatischen Schrift Praephatio super Apocalypsim hat er
die Kernaussage seiner Geschichtstheologie präzise formuliert:
So geziemt es sich nämlich für das Menschengeschlecht, nach
der Schuld des ersten Menschen stufenweise zur Bekanntschaft
seines Schöpfers zurückzukehren. Sicherlich, damit es in einer
bestimmten ersten Zeit im Vater wurzelt, in der zweiten im
Sohn keimt und in der dritten im heiligen Geist die süße Frucht
erfährt.2
Hier ist also von den bekannten drei Status die Rede, aber auch von
dem größeren Zusammenhang, in den sie eingeordnet sind. Zu
beachten jedoch ist, wie Joachim an dieser Stelle den Sündenfall
begreift. Die Menschheit fällt nicht aus dem Paradies in die Welt des
mühsamen Arbeitens, sie fällt nicht aus einer Welt der Freiheit in die
Welt der Notwendigkeit, noch aus der Unbefangenheit in die Scham.
Das alles spielt an anderen Stellen seines Werkes eine Rolle, doch hier
spricht Joachim von einer speziellen Art des Falls, von einem Fall des
Intellekts, vom Fall des Menschen aus dem Wissen in die Unkenntnis.
Der Mensch befand sich ursprünglich im Zustand einer
vollständigen Kenntnis seines Schöpfers (sui conditoris notitia), das
heißt im Zustand des bewußten Wissens um [[@Page:259]]den Grund
und Sinn seiner Existenz. Wenn nun die Strafe für den Sündenfall in
Unkenntnis besteht, so kann sich Gnade nur in der Rückerstattung von
Kenntnissen erweisen.3 Und diesen Gedanken fügt Joachim nun in die
kollektive Gnadenlehre ein, die sich schon in den Frühschriften zeigt.
In unendlicher Geduld und gemäß seinem Gnadenplan (propositum
gratie sue)4 führt der Herr den Menschen allmählich und – wie sich
Joachim ausdrückt – stufenweise (gradatim) aus der Unkenntnis
zurück in den Zustand vollkommenen Wissens. Gott erzieht den
Menschen, indem er ihm Schritt für Schritt sein dreieiniges Wesen
offenbart, zuerst sein Wesen als Vater, dann sein Wesen als Sohn und
schließlich sein Wesen als Geist. So kommt die Geschichte der

Menschengeschlecht würde von seinem Schöpfer selbst befreit?“ [[Cur deus


homo, I,4 >> Anselm:Cur Deus Homo 1.4]], Schmitt, 17/19.
1
Psalt. II, fol.276ra.
2
Praeph. Apc. I, Selge 102,16-19.
3
Vgl. [[Augustinus, De civ. Dei XI,2 >> Augustine:De civ. Dei 11.2]].
4
Tract. I,7 Santi 149,7-8.
308 ABBILDUNGEN

intellektuellen Wiederherstellung mit dem dritten Zeitalter des


Geistes, dem dritten Stadium menschlicher Erkenntnis, an ihr Ende.
Das Jenseits, der neue und ewige Aion, kann anbrechen.
Geschichte, das ist für Joachim das intellektuelle Wachstum des
Gottesvolkes und der dadurch bedingte progressive Wandel seiner
sozialen Verfassung. Dieser Prozeß umfaßt die Gesamtheit der Zeiten
(universitas temporum),1 von Adam bis zum Ende der Welt; er bildet
eine Einheit wie die Gottheit selbst, einen einzigen mundi cursus, auch
wenn er verschiedene Phasen des Heilsplans durchläuft, in denen die
Personen der Trinität entsprechend ihren Eigentümlichkeiten am Werk
sind.2
Doch nicht alle Menschen können der Forderung, die die
Offenbarung an sie stellt, dauerhaft gerecht werden. Der Herr erprobt
seine Erwählten durch mannigfaltige Prüfungen, wer standhält, geht
gestärkt aus ihnen hervor. Die weltlichen Mächte, die Gott zu diesem
Zweck herbeiruft, ob Ägypter, Assyrer, Muslime oder die Truppen der
deutschen Kaiser, haben keine eigene Geschichte, sondern sind nur
hinsichtlich ihrer funktionalen Bezogenheit auf die Geschichte des
Gottesvolkes zu verstehen. So kann Joachim zusammenfassend sagen,
daß alles, was Gott auf dieser Welt bewirkt, entweder seine Erwählten
sind oder das, was zu deren Nutzen dient.3 Alle menschliche
Erfahrung, sowohl des Guten wie auch des Bösen, muß in den
Kategorien der Heilsgeschichte gedeutet werden.

3. Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel


Profectus war das Wort, das Paulus (bzw. Hieronymus) in einem
geschichtlich-quantitativen Sinne für das Wachstum der Ekklesia
verwendete; profectus war auch das Wort, das bei Origenes (bzw.
Rufinus) in einem kosmologisch-qualitativen Sinne einerseits den
Tugendfortschritt des Einzelnen und andererseits den Rückkehrprozeß
der Vernunftnatur zu Gott bezeichnete. Bei Joachim laufen diese
beiden Linien christlichen Ordnungsdenkens in einer einzigen
zusammen: Profectus hat nunmehr eine qualitativ-geschichtliche
Bedeutung. Zwar konnte auch Origenes den Offenbarungsprozeß und
die Heilsgeschichte zusammenbringen, aber seine Eschatologie
richtete sich allein auf den Aufstieg der Einzelseele in der kosmischen
Ordnung. Origenes kannte kein ge[[@Page:260]]schichtliches Ziel,
denn in der Konsequenz seiner zyklischen Konzeption ist das Ende
des Wiederherstellungsprozesses immer zugleich sein Anfang. Bei
Joachim indes führt der Fortschritt zur Vollendung des Menschen in
1
Psalt. II, fol.276vb.
2
Conc. V,36, fol.75va.
3
Conc. V,17, fol.68va-vb.
309 ABBILDUNGEN

der Geschichte, wenngleich die jenseitige Perspektive bestehen


bleibt.1
Im Liber Concordiae, am Ende einer ausführlichen Abhandlung über
die sieben apokalyptischen Siegel, wendet sich Joachim an den Leser. Er
will noch einmal herausstellen, warum er derart detaillierte Exegese
betreibt und worin eigentlich der Sinn seines Forschens liegt:
Diese Dinge über die sieben Siegel wurden aus Notwendigkeit
gesagt, um zu zeigen, durch welche Ordnung und welchen
Fortschritt der Herr seine Werke ans Ende der Zeiten lenkt (ut
ostenderemus, quo ordine et quo profectu deus perduxerit opera sua
ad fines seculorum).2
Hier tritt also die dritte, vom apokalyptischen Ordnungsdenken
herrührende Dimension des Fortschrittsgedankens hinzu: Der Lauf der
Geschichte ist nicht konfus (nec confusus), nicht nur einfach eine
zielgerichtete Bewegung, sondern unterliegt einer unverrückbaren
göttlichen Ordnung (ordo), deren Struktur zu ergründen Joachim sich
zur Aufgabe gemacht hat.3 Dieser Ordobegriff steht jenem des
Augustinus diametral entgegen. Während der Kirchenvater (nicht nur
im Frühwerk) über die Seinsordnung der Schöpfung reflektiert und die
göttliche Leitung der konkreten Geschichte weitgehend außerhalb des
menschlichen Erkenntnisvermögens vermutet,4 interessiert sich
Joachim vor allem für die Abfolge der Zeiten und Kriege (series
temporum et ordo bellorum), durch die hindurch das Gottesvolk einer
besseren Zukunft entgegengeht.5
Die göttliche Selbstoffenbarung sorgt dafür, daß sich das Wissen
durch die einzelnen Zeitalter hindurch vervielfacht (per singulas etates
mundi multiplicatur scientia).6 Erst am Endpunkt dieser Bewegung, erst
im Besitz der verheißenen Fülle der Wahrheit (plenitudo veritatis),7 aber
1
Vgl. Benz 1957, S.315f.
2
Conc. IIIb,7, fol.41vb, Daniel 306,8-10.
3
„Ita ecclesiastica prelia summatim et seriatim prosequitur, ita ut per curricula
temporum ordines et bella distinguit, ut tamen a veteribus non discordet, osten-
dens in ecclesia oportere compleri, quaecumque in Hebraeorum populo in figu-
ra praecesserant, nec confuso id ordine factum esse, ut prima ultima et ultima
prima scribantur ac per hoc lector ipsius, difficultate sibi facta, diffidat; sed ut
futura erant per tempora succedentia sibi scripta esse non dubitet, ita tamen ut
partes singulas, prout infra ostendemus, distinguat, et in singulis sex partibus
recapitulatio fiat. Quia tamen hoc ipsum quod clarum est nescienti libri mate-
riam minus claret, non parva praefatione lectorem indigere perpendo, per quam
reserata janua pateant omnia quae in domo sunt, et prius quo pergat videat,
quam ut videat per incognita pergat.“ Ench., Burger 13,131-142; vgl. Exp. Intr.,
fol.3va.
4
Vgl. Rief, Josef: Der Ordobegriff des jungen Augustinus. Paderborn:
Schöningh, 1962.
5
Exp. Intr., fol.4rb.
6
Conc. V,67, fol.96va.
7
Exp. I, fol.56ra, 86va; vgl. Joh 16,13.
310 ABBILDUNGEN

noch im Diesseits kann die Menschheit ihrer Bestimmung, der


Verherrlichung Gottes, vollständig gerecht werden. Fortschritt bedeutet für
Joachim die geschichtliche Vorwärtsbewegung der Menschheit in einer
göttlich geordneten horizontalen Hierarchie des Wissens.
Zu einem innovativen politischen Denker wird Joachim deshalb,
weil er seine Fortschrittslehre mit einer Theorie des gesellschaftlichen
Wandels verbindet. Joachim gehört neben Anselm von Havelberg zu
den ersten Autoren des lateinischen Christen[[@Page:261]]tums, die
Wandel (mutatio) als ein positives Prinzip begreifen.1 Joachim geht
sogar noch weiter als Anselm und verwirft alle diesseitigen
Gesellschaftsformen, die den Wandel verweigern. Damit aber gerät
die gesamte Weltordnung des christlichen Mittelalters aus den Fugen.
Schon seit dem Jakobusbrief wurde die Wandelbarkeit der Welt und
der menschlichen Verhältnisse in einem absoluten Gegensatz zur
Unwandelbarkeit Gottes beschrieben.2 Nirgendwo war dieser Kontrast
deutlicher gezeichnet worden als im Werk des Kirchenvaters
Augustinus, das prinzipiell noch der gesamten Theologie des 12.
Jahrhunderts zugrunde lag und tief in alle Volksschichten hinein
wirkte. Mit zwei Prinzipien rüttelt Joachim am hochmittelalterlichen
Weltverständnis, das auf der Gleichsetzung von Wandelbarkeit und
sündhafter Gottesferne fußt: 1. Gott will den geschichtlichen Wandel
der Welt. 2. Gott selbst ist der Urgrund des Wandels, in dem er durch
seine progressive Selbstoffenbarung der Menschheit ständig
veränderte Existenzgrundlagen schafft.
Es sei an die Worte Anselms von Havelberg erinnert: Die
Mehrheit der Menschen sah sich durch den Wandel in der Kirche
verunsichert. Doch ein Mann wie Anselm, der als Prämonstratenser
einer Gemeinschaft angehörte, welche sich stolz novus ordo nannte,
mußte seine Lebensweise verteidigen. Der Wandel im Mönchtum und
die Monastisierung des Klerus konnten ja nicht verschwiegen werden,
vielmehr mußte Anselm zeigen, daß sie einen Fortschritt bedeuten.
Offensichtlich gelang es auch den frühen Zisterziensern, Papst Kalixt
II. vom Wert ihrer Neuerungen zu überzeugen; denn dieser bestätigte
Stephan Hardings Carta caritatis, indem er dem jungen Orden zu
seinem Fortschritt (profectus) gratulierte.3 Aber erst Joachim ordnete
die Fortschritte im Mönchswesen in einen Gesamtfortschritt der
Kirche und letztlich der Menschheitsgeschichte ein. Gleichwohl ist
sein Fortschrittsdenken geprägt von der Gegenwartserfahrung: Die
zisterziensische Massenaskese hat die Kirche verwandelt, daran
1
Vgl.: Funkenstein, Amos: Heilsplan und natürliche Entwicklung.
Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des Mittelalters. München:
Nymphenburger, 1965, v.a. S.51-67.
2
Jak 1,13-17.
3
„Nos ergo vestro profectui in Domino gratulantes, capitula illa et constitu-
tionem auctoritate apostolica confirmamus […].“ Carta caritatis prior. Privi-
legium domini papae, Bouton/Van Damme 104,5.
311 ABBILDUNGEN

besteht kein Zweifel; aber, so fragt Joachim, ist sie nicht letztlich nur
das Vorzeichen für einen noch größeren Wandel im Geiste
(commutatio in Spiritu Sancto), einen Wandel der die gesamte
Menschheit erfassen wird, einschließlich der Juden?1 In der
Apokalypse des Johannes heißt es über die Vorzeichen der Endzeit:
Und es folgten Blitze, Stimmen und Donner, es entstand ein
gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es
Menschen auf der Erde gibt.2
In einer für ihn typischen Auslegung, die das kosmologische Wirken
Gottes in ein geschichtliches umdeutet, faßt Joachim seine beiden
Prinzipien zusammen:
Wann immer Gott durch die Folge der Zeiten hindurch den
Zustand der Kirche wandeln will (quando vult Deus per
successiones temporum mutare statum ecclesie), damit
[[@Page:262]]eins nach dem anderen die Dinge erfüllt werden,
die geschrieben stehen, gehen einige Jahre zuvor die Blitze der
Wunder, die Stimmen der Ermunterung und die Donner der
geistlichen Predigten voran, damit einerseits alle Schläfrigen
und Trägen vom Schlaf des Todes erweckt werden und
andererseits die einen wie die anderen verstehen, daß der Herr
auf der Erde etwas Neues schaffen wird (quod novum aliquid
facturus sit Dominus super terram).3
Man beginnt zu ahnen, auf welche Weise Apokalyptik und
monastischer Fortschrittsoptimismus zu einer neuen Form religiösen
Eiferertums verschmelzen können. Erweckungsprediger und
Fortschrittstheoretiker finden in einer Person zusammen; es entsteht
ein neuer Intellektuellentypus, dem noch großer Erfolg beschieden
sein sollte. Joachim selbst begreift die Neuheit dieser Existenzform
sehr gut und mag sie in Männern wie Bernhard von Clairvaux schon
verkörpert sehen. In der Offenbarung des Johannes ist von den sieben
prachtvoll gekleideten Engeln die Rede, die aus dem himmlischen
Tempel heraustreten, die Schalen des göttlichen Zorns
entgegennehmen und sie über die Menschheit ausgießen. Dies sind die
Geistmänner (viri spirituales), sagt Joachim, die durch die Praxis
absoluter Keuschheit den neuen, gottgleich erschaffenen Menschen
(homo novus, qui secundum deum creatus est) angezogen haben. Wie
die apokalyptischen Engel eignen sie sich den Eifer für den Namen
Gottes an, um ihre Mahnreden und ihren Tadel auf das sündhafte Volk
(plebs peccatrix) herabregnen zu lassen.4 Wie so oft bezieht Joachim
1
Conc. IV,36, fol.57vb-58ra; Daniel 411,76-412,83.
2
Offb 16,18.
3
Exp. VI, fol.191vb-192ra.
4
„Egrediuntur de templo tabernaculi septem angeli induti iaspide vel lapido
mundo, quod est novo homine, qui secundum deum creatus est, et precincti
circa mamillas zonis aureis, id est non tantum castitatem corporis habentes, que
312 ABBILDUNGEN

ein neutestamentliches Symbol, das Anziehen des neuen Menschen,


das eigentlich den Wandel in jedem Gläubigen bezeichnet, auf die
monastische Elite, die den künftigen Wandel des Gottesvolkes
vorwegnimmt.1
Der Abt warnt nicht mehr nur vor dem Jüngsten Gericht, wie in
seinen frühen Schriften, sondern er mahnt, sich auf den großen
Wandel vorzubereiten, der sich nach seiner Berechnung in den
kommenden beiden Generationen vollziehen muß. Dieser Wandel, in
dem das Alte zu Ende geht und das Neue erscheint, entspricht nach
dem Prinzip der concordia jener Veränderung, welche die Welt zur
Zeit Johannes’ des Täufers und Christi erfaßte.2 Sowie sich damals das
Gottesvolk des ersten Status, die Synagoge der Juden, in das
Gottesvolk des zweiten Status, die Klerikerkirche, verwandelte, so
muß an der Schwelle zum dritten Status die Kirche „von Lea in Rahel
verwandelt wer[[@Page:263]]den“ (commutandus est status ecclesie
de Lya in Rachel).3 Gemäß der mittelalterlichen Symbolik heißt das,
das tätige Leben hat dem kontemplativen zu weichen – oder wie sich
Joachim noch ausdrückt: Aus der seelsorgerisch und missionarisch
aktiven Priesterkirche des Petrus entsteht die vollendete und
universale Mönchskirche des Johannes.4

Die politische Idee, die Joachims Bedeutung ausmacht, ist der


Fortschritt im Sinne einer geschichtlichen Vollendung der
Menschheit. Es seien noch einmal die zivilisatorischen
Voraussetzungen vergegenwärtigt, unter denen diese Idee geboren
werden konnte:
1. Die Apokalyptik geht davon aus, daß sich Geschichte nicht als
Volks-, sondern als Weltgeschichte vollzieht und nach einem
präexistenten Plan Gottes strukturiert ist. Zum anderen prophezeit sie
die endzeitliche Verwandlung der Welt in eine Neuschöpfung, in der
designatur in precinctione lumborum, verum etiam mentis, que designatur in
precinctione mamillarum et pectoris. Isti sunt viri spirituales, qui zelum pro dei
nomine assumunt, qui cum magna mentis indignatione populi increpant delicta
et quasi ignem zeli super plebem peccatricem effundunt […].“ Praeph. Apc. II,
Selge 120,618-625; Offb 15,6; Eph 4,24.
1
Conc. V,21, fol.70va-vb.
2
„Sicut autem a Iohanne Baptista, consumatis ueteribus, apparuerunt noua, ita
et nunc uetera estimanda sunt que transierunt usquemodo respectu nouorum
que faciet dominus super terram. Porro due generationes ultime que excedunt
qudragesimam perfectionem, siue in ueteri testamento siue in nouo, inter
utraque tempora accipiende sunt et ueluti collimitantes ueteribus et nouis, quati-
nus in eis principium sit et finis, utpote in Iohanne Baptista et homine Christo
Ihesu.“ Conc. IIa,7, fol.22vb, Daniel 182,47-53.
3
Conc. IIIa,14, fol.31vb, Daniel 245,172-246,173.
4
Tract. II,12, Santi 248,1-16.
313 ABBILDUNGEN

die Gerechten Gottes den Lohn erhalten, der ihnen in dieser Welt
versagt bleibt.
2. Im frühen Christentum löst sich diese radikale Dualität
zwischen Diesseits und Jenseits auf, da in der Präsenz Christi die
irdische Präsenz des Gottesreiches erfahren wird. Paulus entwickelt
aus diesem Gedanken das Konzept der Ekklesia. Damit meint er eine
Gemeinschaft in Christo, die die jenseitige Bürgerschaft
vorwegnimmt. Der Mensch, der sich kraft seines Glaubens dieser
Gemeinschaft anschließt, verwandelt sich, insofern er als Glied des
Kirchenleibes in den Genuß der Geistesgaben kommt. Er nimmt also
im diesseitigen Kollektiv die Verwandlung seines fleischlichen Leibes
in einen geistlichen Leib vorweg, die im Jenseits geschehen wird.
3. Das Mönchtum durchbricht die Kollektivität der Kirchenidee,
indem es den geistlichen Fortschritt des einzelnen in den Mittelpunkt
stellt. Die Leistungsethik des Asketen hat zum Ziel, die proleptische
Verwandlung zum Geistmenschen individuell zu vollziehen. Das
Koinobitentum vereint diese individuellen Asketen wiederum in einer
diesseitigen Gemeinschaft, die auf andere Weise die himmlische
Bürgerschaft vorwegzunehmen beansprucht.
Joachim tut nichts anderes, als das paulinische Konzept der
proleptischen Gemeinschaft mit der monastischen Fortschrittsethik
zusammenzudenken. Dadurch gewinnt der Begriff der Ekklesia eine
dynamisch-progressive Dimension. Es ist nicht der Einzelmensch, der
ein vollendetes Mönchtum entwickelt, sondern die Kirche. Sie
wandelt sich von der Synagoge, der Kirche der Laien, zur
Klerikerkirche und ist im Begriff, zu einer Mönchskirche zu werden.
Mit anderen Worten, die Prolepsis, die Vorwegnahme der
himmlischen Gemeinschaft, wird immer vollkommener, bis sich
schließlich in der Geistkirche des dritten Status bzw. des siebten
Zeitalters teilweise schon die jenseitige Ordnung erblicken läßt (pars
quaedam claritatis Hierusalem manifesta erit in septima, et tota
generaliter in octava).1 [[@Page:264]]
Aus der Apokalyptik übernimmt Joachim den Grundsatz, daß die
Geschichte vom göttlichen Plan strukturiert ist. Im Gegensatz zur
Apokalyptik aber ist die Verklärung der Welt kein endzeitliches
Ereignis, sondern geschieht im Laufe des geschichtlichen Prozesses.
Es wurde ausreichend betont, wie sehr diese Synthese auf dem Boden
Joachims eigener Erfahrung steht. Die Neuschöpfung der Welt kann
nicht ein einmaliges Ereignis jenseits des Jüngsten Gerichts sein, denn
Joachim glaubt sie mit eigenen Augen beobachten zu können (in hoc
tempore videmus de novo dominum creasse celum et terram).2
Im Enchiridion spricht Joachim noch von einer teilweisen
Vollendung des himmlischen Jerusalem im Diesseits, später, am
1
Ench., Burger 49,1313f.
2
Conc V,21, fol.70vb; vgl. Exp. VIII, fol.215vb.
314 ABBILDUNGEN

Ende seines großen Apokalypsenkommentars, entfallen solche


Beschränkungen zusehends. Dort erscheint das Jenseits nur mehr als
der Endpunkt einer Entwicklung, die bereits auf Erden weitgehend
abgeschlossen ist:
Die Zeit des babylonischen Reiches, die man sechs Zeitalter
lang zurecht eine Zeit der Dunkelheit nennen kann, wird
beendet werden, damit […] im siebten Zeitalter auch das
kleinste Detail der Struktur Jerusalems vollendet wird sowie die
Berufung des gesamten Volkes, das in ihm wohnen wird
(perficiatur in septima, quicquid minus erit in structura
Hierusalem, et vocatione universi populi, qui futurus est in ea)
– insofern in der künftigen Welt, die wie ein achtes Zeitalter
sein wird, alles, was sich auf diese [Berufung] bezieht, sich als
erfüllt erweisen wird. Was [Johannes] also sagt – „Und ihre
Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine
Nacht sein. Und man wird die Pracht und den Reichtum der
Völker in sie bringen“ –, das muß […] auf das siebte Zeitalter
bezogen werden. In jener Zeit werden nämlich die Tore
offenstehen, weil eine verinnerlichte Frömmigkeit allen
öffentlich (publice) bekannt werden wird, damit jeder eintrete,
der will, und zu einem Bürger (civis) Jerusalems werde. Und
dasselbe geschieht nicht in der Dunkelheit der Unwissenheit,
wie bisher, sondern in der Fülle der Einsicht (in plenitudine
intellectus). Daher steht bei Daniel: „Und die da lehren, werden
leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur
Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“
Weder Schmach noch Schande wird der Kirche der Heiligen in
jener Zeit zueigen sein sowie einst, sondern Würde,
Erhabenheit und Majestät; denn die zu Christus bekehrten
Völker werden ihre Pracht und ihren Reichtum in jene
glänzendste Stadt bringen, damit sie ihrer Herrlichkeit teilhaftig
werden können und, nachdem sie sich den Heiligen zu Füßen
geworfen haben, wünschen, in deren Gebete eingeschlossen zu
werden.1
Diese Beschreibung der vollendeten Kirche enthält einige Aspekte, die
es im folgenden noch zu klären gilt. 1. Sie wird die einzige politische
Ordnung sein, die noch existiert, denn das Imperium und alle
weltliche Herrschaft wird es nicht mehr geben. 2. Man kann nicht
mehr Bürger eines irdischen Gemeinwesens sein, sondern, nach dem
Prinzip der Prolepsis, nur noch Bürger der jenseitigen Stadt. Die
Struktur des himmlischen Jerusalem aber konstituiert sich schon in der
Ekklesia, der diesseitigen Gottesvolksversammlung – zwar vorläufig,
aber detailgetreu. 3. Die Kirche kann nach dem Untergang
[[@Page:265]]der Fürsten dieser Welt wieder an die Öffentlichkeit
1
Exp. VIII, fol.221rb; Offb 21,25f.; Dan 12,3 (hier nach Luther wiedergegeben);
vgl. Dan 12,2 und zum Ausdruck „verinnerlichte Frömmigkeit“ (viscera
pietatis) Kol 3,12 und Lk 1,78.
315 ABBILDUNGEN

treten und sich in ihrer ganzen Herrlichkeit den Völkern bekannt


machen, ohne dabei ihre Reinheit zu gefährden. 4. Sie ist universal,
denn alle Völker strömen ihr zu und wollen an ihrem Glanz teilhaben.
5. Sie ist im Vollbesitz des Wissens. 6. Sie ist nicht egalitär, sondern
hierarchisch aufgebaut. Denn es gibt „leuchtende“ Lehrer, die mehr
wissen als andere, und Heilige, deren Fürbitten ein besonderes
Gewicht haben.
Um welche Ordnung aber handelt es sich hier? Um eine Kirche,
die innerlich aufs beste geordnet ist, in ihrer Frömmigkeit die gesamte
Menschheit durchdringt und keine konkurrierenden Ordnungsformen
mehr neben sich hat! Joachim von Fiore hat nichts anderes getan, als
die Kirchenreform bis zur letzten Konsequenz zu Ende zu denken. Er
hat der gregorianischen Bewegung ein theoretisches Fundament
verliehen, das alles bisher Dagewesene übertrifft, indem er sie in eine
universalgeschichtliche Bewegung einordnet, die buchstäblich von der
Schöpfung bis ins Jenseits reicht.
Diese Gesamtkonzeption ist tief im Gerechtigkeitsdenken des
christlichen Mittelalters verwurzelt, das den Sündenfall des ersten
Menschen als juristisches Problem behandelt. Denn, so Joachim, man
könnte fragen: Wenn Gott das Menschengeschlecht geschaffen hat,
damit es in seiner himmlischen Ordnung den Platz der gefallenen
Engel einnehme, warum konnte Gott es nicht sofort nach dem
Sündenfall reparieren? Hätte nicht er, der Adam aus Erde geformt
(formare) hat, die durch Sünde korrumpierten Leiber der
Adamskinder aus gleicher Erde wiederherstellen (reformare) können?
Warum muß sich die Menschheit durch die Geschichte quälen, die
doch nichts als Mühsal bereithält?
Die Antwort lautet: Weil Strafe sein muß. Aber die Strafe durfte
den Endzweck, die Wiederherstellung des Menschen und damit der
göttlichen Gesamtordnung nicht gefährden, sie durfte den Menschen
nicht vernichten, sondern mußte ihn von dem Hochmut heilen, der ihn
einst zu Fall gebracht hatte. Gott war keineswegs unfähig, seine
Schöpfung zu reformieren (non erat impotens ad reformandum).
Durch den Weg, den er wählt, zeigt er erst seine wahre Größe: Er
erzieht das Menschengeschlecht nicht nur, um es wiederherzustellen,
sondern damit er es in etwas Besseres verwandle, als es ursprünglich
war (ut restituens commutaret in melius).1
1
„Si enim voluit et potuit formare corpus Ade, qui fuit pater omnium, de limo
terre, cur non possit eodem modo corpora filiorum Adam reformare de terra?
Eras aliquando pulvis terre et esse cepisti quod non eras – siquidem in Adam
omnes fueramus a principio pulvis –, et non potest Deus reversum in pulverem
restituere in formam primam, ut esse incipias sicut eras? An quia tunc erat
Verbum Dei, per quem facta sunt ista, modo autem esse desiit, ne horum
similia operetur? O stulta corda hominum et tarda ad credendum in omnibus
que locuti sunt prophete! Nonne hec pati oportuit genus hominum propter
malum superbie et sic per mortem carnis pertingere ad vitam eternam? Voluit
316 ABBILDUNGEN

Es ist offensichtlich, daß der Reformbegriff in diesem


Zusammenhang eine ganz [[@Page:266]]neue Dimension erhält.
Nicht mehr nur die Wiederherstellung der urkirchlichen Frömmigkeit
ist das maßgebliche Ziel der Kirchenreform, sondern eine vollendete
Menschheit, die schon auf Erden ein Abbild ihrer himmlischen
Glückseligkeit darstellt. Man ahnt aber auch, daß damit das Ziel einer
konkreten Reform überreizt ist. Wo, wie Joachim glaubt, zur
Herstellung der perfekten christlichen Gesellschaft nur zwei
Generationen bleiben, sind die Kompromisse nicht mehr vorgesehen,
die Reformer zu allen Zeiten eingehen müssen.
Doch rationale Einwände wehrt Joachim von vornherein ab. Sein
metastatischer Glaube steht jeder Vernunftargumentation radikal
entgegen. Das Bewußtsein des Offenbarungsträgers, von dem sich
Joachim seit seinen visionären Erlebnissen leiten läßt, verlangt nach
der absoluten Superiorität des charismatischen Wissens. Die
Philosophen aber, so sagt er, glauben mit Vernunft alles erklären zu
können und werden niemals die Allmacht Gottes begreifen können,
der die Welt aus dem Nichts erschaffen hat und daher alles in einen
besseren und glücklicheren Zustand versetzen kann (in meliorem
statum et feliciorem mutare).1 Gott verbirgt das wahre Wissen vor der
Eitelkeit des philosophischen Aberglaubens (phylosophyce
superstitionis vanitas).2
Aus ähnlichen Gründen weist Joachim die Katharer zurück, die er
mit den Philosophen in einen Topf wirft. Denn die Erlösung des
Menschen kann nicht darin bestehen, daß er seine Geistsubstanz aus
dem vermeintlich teuflischen Leib befreit, wie jene sagen (disputando
de corpore et spiritu, ut diceret omne corpus esse fugiendum).3 Christi
Erlösungswerk besteht ja gerade darin, daß er das sündige Fleisch
kreuzigt, um den Menschen zu ermöglichen, sich auf mystische Weise
mit dem Auferstehungsleib Christi zu vereinigen. Wenn also Gott den
Zustand des Leibes verwandeln kann, dann muß man ihn nicht
Omnipotens exercere iudicium hoc in genere humano, non ut dissiparet opus
suum, sed ut ostenderet illi altitudinem magnitudinis sue et incuteret ei timorem
discipline, ut non saperet alta, sciens quia, qui potens fuerat ad formandum, non
erat impotens ad reformandum, non solum ut restitueret quod dissolutum erat,
verum etiam ut restituens commutaret in melius.“ Exp. I, fol.67vb, korr. n.
Selge. Vgl. Gen 2,7; Lk 24,25; Röm 12,16.
1
„Scimus enim conatos fuisse quosdam philosophos, comprehendere omnia ra-
tione, et aliqua de his que sentiebant, ad memoriam in posterum tradidisse. Qui
cum multa rationabiliter disputasse viderentur, ignorantes tamen benignitatem
et mansuetudinem, necnon et omnipotentiam creatoris qui potuit facere cuncta
de nichilo, et pro velle arbitrii sui, aliqua in meliorem statum et feliciorem mu-
tare […].“ Exp. III, fol.130va-vb. „Natura vero creata, ea possibilitate qua de
nichilo facta est, potest in alteram naturam mutari.“ De art. fid., Buonaiuti 26,5-
7. Vgl. Augustinus, [[De civ. Dei XXI,7 >> Augustine:De civ. Dei 21.7]]f.
2
Conc. IIa,1, fol.5vb, Daniel 53,41-45.
3
Exp. III, fol.130vb.
317 ABBILDUNGEN

verlassen.
Damit aber ist die Problematik der Anthropologie angeschnitten.
Was heißt das, wenn Joachim sagt, daß Gott das Menschengeschlecht
in etwas Besseres verwandelt? Bedeutet das, daß sich das Wesen des
Menschen verändert? Das heißt es in der Tat! Joachims Anthropologie
ist so tief in der paulinischen Terminologie verwurzelt, daß ihm die
Neuheit seiner Lehre gar nicht recht zu Bewußtsein kommt. Er zitiert
den Apostel nicht etwa, weil er nach Autoritätszitaten sucht, sondern
weil er glaubt ihn authentisch zu verstehen.
Joachim geht von der paulinischen Dichotomie zwischen dem
animalischen Menschen und dem geistlichen Menschen aus. Der eine
ist fleischlich gesinnt und nimmt nichts vom Geiste Gottes wahr, der
andere ergründet die Tiefen der göttlichen Weisheit.1 Im Unterschied
zu Paulus aber glaubt Joachim, daß sich der Wesenswandel vom
[[@Page:267]]animalischen zum geistlichen Menschen geschichtlich
vollzieht, wenn auch in einigen Menschen schneller als in anderen.
Und ebenfalls im Unterschied zu Paulus sieht Joachim, daß am Ende
der geschichtlichen Entwicklung bereits die Vollendung der
Menschen geschieht, nicht etwa erst im Zuge der jenseitigen
Verklärung.2 Das Gottesvolk verwandelt sich allmählich (paulatim)
vom fleischlichen Gottesvolk Israel, das der Knechtschaft des
Gesetzes untertan ist, in das freie, geistliche und universale Volk des
dritten Status.3
Paulus spricht über die Metamorphose des Christenmenschen, von
dessen Antlitz der Schleier des Gesetzes genommen ist:
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des
Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn. 4
Joachim verweist auf den Ausdruck „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“
(de claritate in caritatem), um den Wandel, den der gläubige Christ
nach Paulus vollzieht, in einen geschichtlichen Wandel der
Menschheit umzudeuten. Die Herrlichkeit des zweiten Status ist groß
gegenüber der des ersten Status, aber unvollständig gegenüber jener,
die die Offenbarung des Geistes an den Menschen des dritten Status
bewirken wird. Dort wird der geistliche Mensch in der Fülle der
Wahrheit leben, in einer Vorwegnahme der himmlischen Gottesschau.
5

1
1 Kor 2,14; Röm 8,5.
2
Vgl. Phil 3,20f.
3
Psalt. II, fol.274ra.
4
2 Kor 3,18.
5
„Sic enim oportuit electos dei ire de virtute in virtutem et transire de claritate
in claritatem donec videatur deus deorum in syon. De lege naturali ad legem
Moysi, de lege Moysi ad evangelium. de evangelio Christi ad spiritalem
intellectum, de spiritali intellectu ad veram et eternam contemplationem dei.“
318 ABBILDUNGEN

Die Klerikerkirche des zweiten Status nimmt in diesem Prozeß


eine Zwischenstellung ein, insofern ihre Glieder sowohl fleischlich als
auch geistlich (ex parte carnalis est et [[@Page:268]]ex parte
spiritalis) sind.1 Das Sakrament der Taufe, mit dem der Priester den
Gläubigen aufnimmt, muß daher in seiner Bedeutung abgeschwächt
werden. Zwar ist es conditio sine qua non für die Zugehörigkeit zum
Leib Christi,2 aber die sakramentale Wassertaufe kann nur die äußeren
Vergehen abwaschen und somit den Menschen nur partiell (ex parte)
verbessern. Größer ist die Verwandlung am inneren Menschen,
welche die Feuertaufe des Heiligen Geistes im dritten Status
vollziehen wird. Denn je näher das christliche Volk der jenseitigen
Herrlichkeit kommt, desto größer muß seine Reinheit sein.3 Die
theologische Konsequenz der Lehre ist evident: Es ist nicht nur der
Kreuzestod Christi, der von den Sünden befreit, die Erlösung ex toto
Exp. Intr., fol.5va; vgl. Ps 84,8. „Nos vero omnes revelata facit gloriam domini
speculantes in eandem imaginem transformamur, a claritate in claritatem,
tanquam a domini spiritu. Nota quod ait a claritate in claritatem, ut ostendatur
illud quod Dominus ait: Multa habeo vobis dicere, sed non potestis portare
modo, cum autem venerit ille spiritus veritatis, docebit vos omnem veritatem.
Fuit enim claritas secundi status, secundum quod ait idem apostolus: Videmus
nunc per speculum in enigmate, claritas vero tertii, erit iam prope secundum
totum, secundum plenitudinem veritatis, quod est videre facie ad faciem,
parvissima valde obsistente interpositione velaminis.“ Exp. I, fol.86 rb-va; 2 Kor
3,17f.; Joh 16,12f.; 1 Kor 13,12. „Quia sinagoga Levitarum secundum reliquias
conversa est ad Dominum et, mutata doctrina de littera in spiritum, ipsa quoque
mutata est in ecclesiam et manet in clero Domini usque in presentem diem,
oportet nos intelligere, quid sibi velint quinque menses, quibus gestat puerum in
utero anus Elisabeth, ut euntibus nobis de claritate in claritatem, illud
ostendatur nobis esse tenebrosum, respectu luminis clarioris, quod respectu
noctis Iudeorum videbatur omnem tenebrarum extersisse caliginem. Denique
etsi Iohannes lucerna, non tamen ipse lux, sed ut testimonium perhiberet de lu-
mine. Etsi predicatores evangelice lectionis secundum superficiem littere prefe-
runtur doctoribus Iudeorum predicantibus legem Moysi, longe tamen inferiores
sunt ab illis, qui et ipsum quoque evangelium spiritaliter sapiunt et qui omnino
non ambulant secundum carnem sed secundum spiritum.“ Tract. I,3, Santi,
23,12-27; vgl. Röm 11, 5; 2 Kor 3,18; Joh 17,22; Joh 1, 8; Röm. 8, 4. Vgl. Exp.
I, fol.51ra-rb; Tract. I,5, Santi 59,21-60,4; u.ö.
1
Tract. I,7, Santi, 166,20-21; vgl. Conc. IIa,8, fol.9va, Daniel 75,22f.
2
Conc. V,10, fol.66ra.
3
„Sic et illa visio quae in octavo loco secuta est, in qua promittebatur justicia
sempiterna et abolitio culpae, ex parte non ex toto in primo adventu Domini
completa est, in quo sacramentalis baptismus, qui in aqua suscipitur, exteriora
et actualia crimina sicut aqua lutum emundat, sed maior est ille qui revelatus est
in igne, quo etiam cogitationum rubiginem apertiori et efficatiori gratia
emundari oporteat. Quae quidem in secundo statu vix in paucis hominibus
occulte operata est, in tertio sollempniter et aperte revelanda est, ut quo (magis)
mundi finis urget et vicinitas regni, eo majori puritate populus Christianus
eniteat, et ad venturi susceptionem regis praeparatus occurrat.“ Ench., Burger
43,1124-1133; vgl. Dan 9,20-24. Vgl. Exp. I, fol.69 vb, 96rb-va; Conc. IIa,1,
fol.7rb, Daniel 60,196-61,212; Psalt II, fol.242ra.
319 ABBILDUNGEN

bringt erst die endzeitliche Ausgießung des Heiligen Geistes.1


Dann erst werden alle drei Stände nach ihrem Vermögen zur
Vollkommenheit gelangen und in diesem „geistlichen, weisen,
friedlichen, liebenswerten und kontemplativen Volk“ wird
grenzenlose Gerechtigkeit und überreicher Frieden herrschen, wie er
sich zeichenhaft schon im Reich des Friedenskönigs Salomo
angedeutet hat. Ein solches Menschentum wird gleich dem
salomonischen Tempel eine Ordnung errichten, die geeignet ist, den
himmlischen Hof zu schmücken. Ein besonders bevorzugter Stand
aber wird gleichsam als Tempelvorsteher alles nach der Weisung des
Herrn disponieren können, weil er vollständigen Einblick in die
göttliche Weisheit haben wird. Die politische Ordnung des dritten
Status, in der das Geschöpf dem Schöpfer völlig gerecht wird,
bedeutet die Vollendung der Menschen (perfectio hominum illius
status, in quibus fient omnia ordinate secundum preceptum domini).2
[[@Page:269]]
Es sei noch einmal daran erinnert, was schon über den
Unterschied zwischen Paulus und Origenes gesagt wurde: Die Lehre
von der Seele erlaubt es dem politischen Denker, weltliche Politik als
positive Gestaltungskraft zu begreifen, insofern sie die
Voraussetzungen für die individuelle Vervollkommnung schafft. Die

1
„[…] et sicut ibi remissio peccatorum facta est in clarificatione filii dei, ita fiet
nunc in clarificatione spiritus sancti.“ Conc. V,77, fol.105vb. Man kann daraus
im übrigen nicht folgern, daß Joachim kein christozentrischer Denker ist. Die
Neuheit besteht eher darin, daß Joachim das größte Werk Christi nicht in
Inkarnation, Passion, Kreuzigung, Auferstehung oder Himmelfahrt erblickt,
sondern in der Sendung des Geistes der Wahrheit, wie er sie in Joh 16,7.13
ankündigt.
2
„Igitur in Salomone filio David populus tercii status, qui erit spiritalis et sapi-
ens, pacificus, amabilis, contemplativus et dominator tocius terre designatus
est, et in ipso complenda sunt in spiritu omnia illa magnifica que scripta sunt
super ipso Salomone, et eciam super Christo Iesu, quia in populo ipso regnatu-
rus est magis Christus, ut compleatur illud in eo psalmographi: erit in diebus
eius iusticia et abundantia pacis. non enim poterit ponderari es pre copia sui in
diebus ipsius, et argentum non reputabitur propter abundantiam auri, quia
videlicet iustitia laicorum sine mensura erit in genere suo, et iusticia clerico-
rum, que maior et preciosior illa est, vilescet in diebus illis respectu spiritalis
iusticie, que significatur in auro, immo cuius splendor superabit obrizum et
evacuabit lapides preciosos. edificabitur quoque templum de lapidibus precio-
sis, in quo erunt vasa preciosa deputata in misterio eius, enea argentea atque au-
rea sed et ligna ipsius abiegna cedrina et cipressina, que omnia significant per-
fectionem hominum illius status, in quibus fient omnia ordinate secundum pre-
ceptum domini, cuius preceptio opus est et ordo, qui erit prepositus illius tem-
pli, habebit latitudinem cordis ad investigandum profundum sapientie dei, quasi
aque maris operientis secundum quod habuit pre ceteris regibus qui fuerunt ante
eum rex Salomon, et sicut scriptum est in Daniele: qui autem docti fuerint,
erunt quasi splendor firmamenti, et sicut stelle in perpetuas eternitates.“ Conc.
V,67, fol.96rb; vgl. Ps 72,7; 1 Kön 6-7; 1 Chr 29.
320 ABBILDUNGEN

Lehre von der kollektiven leiblichen Auferstehung dagegen befördert


die Tendenz, das Kollektiv, das sich als proleptische Gemeinschaft der
Kirche schon im Diesseits konstituiert, als einzig relevante Ordnung
menschlichen Zusammenlebens zu begreifen. Aus dieser Perspektive
ist alles politische Ordnen geringzuschätzen, das außerhalb der Kirche
stattfindet.
Ganz deutlich ist zu sehen, daß die Seele bei Joachims
Anthropologie keine entscheidende Rolle spielt. Und das hat Folgen
für sein politisches Denken. Der Mensch ist leiblich von der Geburt
bis ins ewige Leben. Entscheidend ist, daß sich der Leib wandelt, vom
sterblichen und anfälligen Leib des Fleisches zum himmlischen
Geistleib.1 Der Geist ist es, der die verdorbene Natur des Menschen
heilt und ihn damit der göttlichen Sohnschaft würdig macht. 2 Durch
ihn teilt sich die Ewigkeit der göttlichen Natur der endlichen
Menschennatur mit.3 Und dies alles vollzieht sich am Kollektiv des
Gottesvolkes. Daher macht allein das Wirken der göttlichen Gnade im
Offenbarungsprozeß eine Verbesserung der gesellschaftlichen
Verhältnisse möglich, insofern sich diese am Maßstab der
himmlischen Ordnung zu orientieren haben. Alles politische Ordnen,
das dem Menschen weiterhilft, erfolgt auf Weisung des Herrn
(secundum preceptum domini). Daher bedarf jeder, der mit der
Führung von Menschen betraut ist, der Beratung durch eine
charismatische Elite, die den Willen des Herrn erkennt – früher waren
es die Propheten, jetzt sind es die kontemplativen Mönche. In
Joachims Verfassungsentwurf hat sich dies deutlich niedergeschlagen.
Wenn Joachim sagt, daß sich das menschliche Wesen
geschichtlich vom Fleischlichen zum Geistlichen wandelt, dann ist das
natürlich nicht biologisch zu denken. Seine Lehre erinnert dennoch
stark an die Evolutionstheorie von Pierre Teilhard de Chardin, wonach
die Menschen allmählich die Biosphäre verlassen, um sich künftig im
rein geistigen „Ultramenschsein“ der Noosphäre zu vereinigen. 4 Man
kann natürlich die Frage [[@Page:270]]aufwerfen, ob Joachim nicht
zu jener geistigen Prädisposition beigetragen hat, die nötig war, daß
1
„Seculum futurum quod erit post resurrectionem ascribendum est Spiritui
sancto, quia ibi non solum anime, que natura subtiliores sunt, verum etiam cor-
pora nostra spiritalia erunt et templa Spiritus sancti, quando et, consumptis uni-
versis corruptionibus carnis, solus idem Spiritus regnabit in eis.“ Exp. Intr.,
fol.6ra; korr. n. Selge.
2
„[…] per gratiam spiritus sancti plures facti sunt filii dei, qui erant extranei
per naturam.“ Conc. IIb,7, fol.23ra, Daniel 1983,1f.
3
Exp. I, fol.73vb; vgl. Joh 1,19.
4
„In diesem Sinne könnte man – theoretisch und philosophisch – auch sagen,
daß die Menschheit dann ihr Ende erreichen wird, wenn sie endlich ans Ziel des
Erkennens gelangt, ihre Glieder durch einen letzten, allumfassenden Denkakt
zu einer gemeinsamen Idee und einer gemeinsamen Liebe bekehrt haben wird.“
Chardin, Teilhard de: Die Entstehung des Menschen. München: Beck, 1997,
S.121, Hervorh. i. Orig.
321 ABBILDUNGEN

solcherlei Spekulationen von sehr ernsthaften Wissenschaftlern aller


Fakultäten mit großer Begeisterung aufgenommen wurden. Man kann
sogar noch allgemeiner fragen, ob die Kategorien der christlichen
Anthropologie nicht eher den Boden für die Evolutionslehre bereiten
halfen, als ihr entgegenzustehen, wie zumeist behauptet. Denn der
Fortschrittsgedanke, der seit dem späteren Darwin mit der
Evolutionslehre verbunden ist, kann nicht das Ergebnis der
biologischen Forschung sein, vielmehr ist er eine Möglichkeit, die
biologischen Forschungsresultate zu deuten.1 Schon bei Joachim aber
wird das Schöpfungsgeschehen auf einen langen geschichtlichen
Fortschrittsprozeß hin ausgelegt,2 und seine Auffassung von
Heilsgeschichte ist bestimmt von der Mutation (mutatio) der
Erwählten und der Überwindung jener, die sich dem Wandel
verweigern.

4. Die Reaktion
Diese Frage aber stellt sich noch: Wie verhält es sich genau mit den
Menschen, die sich dem Gottesvolk nicht anschließen, um seinen
progressiven Wandel mitzuvollziehen? Joachim antwortet mit einer
Lehre von Reaktion und Rückschritt, die er an mehreren Beispielen
durchexerziert.
Die Juden wären eigentlich in besonderer Weise berufen gewesen,
sich zu Christus zu bekehren, aber sie wollten einfach nicht mit der
Zeit gehen und sich gemäß der fortschreitenden Offenbarung
weiterentwickeln (noluerunt ipsi Iudei mutari cum tempore).3 Sie sind
das Geschlecht, das vom rechten Weg der Heilsgeschichte abfiel
(gens appostatrix), weil sie sich einem höheren Verständnis der
Offenbarung verweigerten. Sie bestanden auf der fleischlichen
Erwartung eines messianischen Reiches auf Erden und begriffen nicht,
daß mit der Kreuzigung des Messias solche Vorstellungen veraltet
waren. Zwar sahen die Juden, daß die Christen mit Hilfe des
Evangeliums auch die alten Schriften besser verstanden, aber ihr
1
„Auch die Evolutionsgeschichte im großen und ganzen stellt nur dann einen
Fortschritt dar, der vom einzelligen Lebewesen zum Menschen führt, wenn
man die zunehmende Differenzierung der biologischen Organisation und die
Ausbildung eines zentralen Nervensystems mit Gehirn zum Maßstab des
Fortschritts nimmt und also die vermutliche Aufeinanderfolge der
Lebenserscheinungen teleologisch interpretiert, als ziele die gesamte Natur
von Anfang an auf den Menschen ab.“ Löwith, Karl: „Das Verhängnis des
Fortschritts“, in: Burck, Erich (Hrsg.): Die Idee des Fortschritts. Neun
Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens. München: Beck,
1963, S.17-40, S.18.
2
Sh. v.a. Conc. V,3-23.
3
Tract. I,6, Santi 115,9.
322 ABBILDUNGEN

Ressentiment gegen den Fortschritt der Heiden, hinderte sie, den


fleischlichen Status zu verlassen.1 Im Vertrauen auf ihre alte
Erwähltheit wehrten sie sich gegen das geistliche Verstehen der
Offenbarung und hielten mit unbeirrbarem Konservativismus an ihren
alten Gebräuchen fest (statuerunt apud se servare inconcusse
consuetudines antiquas).2 Ja sie wollten sogar die Gläubigen in die
Knechtschaft des Gesetzes zurückführen (reducere). Aber wie einst
die Ägypter, so traf [[@Page:271]]sie nun die Strafe Gottes; sie
gingen in den Fluten der römischen Besatzungsarmee unter, während
das christliche Volk durch die geteilten Fluten voranschritt, dem
gelobten Land entgegen.3 Gleichwohl ist das nicht Joachims letztes
Wort über das Judentum, doch dazu später.
Reaktionäre Bestrebungen macht Joachim aber auch in späteren
historischen Epochen aus. Zunächst einmal gab es unter den Juden
durchaus solche, die den Gekreuzigten anerkannten, doch sie machten
Rückschritte (redierunt retrorsum) und sanken wieder zum Judaismus
herab, weil sie – wie in der Apostelgeschichte berichtet – an der
fleischlichen Beschneidung, also am Gesetz festhielten. 4 Aber auch im
Heidenchristentum verläuft der Fortschritt nicht gleichförmig, denn
die Griechen verweigern sich dem geistlichen Fortschritt der
römischen Katholizität und beschließen auf ewig in ihrer
Fleischlichkeit zu verharren (nolentes cum decursu temporis transire
ad spiritalem intellectum, sed decernentes manere usque in finem in
carnalitatibus suis).5 Während in der lateinischen Kirche die
monastische Vollendung (perfectio monastica) zunimmt, stützen sich
die Griechen noch immer auf die Beispiele der Alten (exempla
veterum) und bestehen nach Art der Juden (more Iudeorum) auf der
Priesterehe.6 Den Juden sandte Gott das Römerheer, den Griechen, die
sich den Anordnungen des apostolischen Stuhls hartnäckig
verweigerten, sandte er die Sarazenenflut.7
Nachdem die lateinische Kirche analog zum Stamm Juda
allmählich als einzige rechtgläubige Kirche bestehen bleibt, kann der
Fortschritt nur in ihr stattfinden. Joachim glaubt das quantitativ durch
die große Zahl an Kirchen- und Klostergründungen nachweisen zu
können, wobei er nicht zuletzt an die Zisterzienserbewegung denken
mag.8 Doch warum trifft der islamische Sturm auch einige lateinische
1
Conc. V,73-75, fol.101va-103vb.
2
Tract. I,6, Santi 115,9-12.
3
Conc. V,53, fol.86vb.
4
Conc. V,54, fol.87va; Vita Ben. 15, Baraut 37,56-58; vgl. Apg 15.
5
Conc. V,70, fol.98rb.
6
Conc. V,70, fol.98rb-va. Ein weiteres Beispiel für die „griechische Reaktion“
ist, daß sich einige der Ostkirchen der päpstlichen Kalenderreform verweigern.
Conc. V,61, fol.92rb-va.
7
Conc. IIIb,4, fol.40va-41rb, Daniel 296,10-300,90.
8
Conc. V,17, fol.68vb-69ra.
323 ABBILDUNGEN

Kirchen, vor allem in Afrika und Spanien? Die Antwort lautet: Weil
dort die Häretiker wüteten, besonders die arianischen Erzketzer.
Wenngleich die Gefährdung der Kirche durch Ketzerei größer ist, weil
sie von innen kommt, verhält es sich mit den Häretikern ähnlich wie
mit Juden und Griechen: Sie stellen sich dem Aufstieg zum geistlichen
Verständnis entgegen.1 Natürlich müssen auch sie besiegt werden.
Wenn sich Joachims Fortschrittserfahrung auf die monastische
Reformbewegung zurückführen läßt, dann konnte er das Verhalten des
konservativen Klerus freilich nur als reaktionär erfahren. Doch zum
Heil der ganzen Kirche erblüht schon längst das Zisterziensertum in
den Massen seiner Mönche und Konversen. Einige Kleriker freilich
erweisen sich als fortschrittlich und machen den Prozeß der
Monastisierung mit, das heißt, sie schließen sich den
Regularkanonikern an. Aber die weltlichen Kleriker (seculares
clerici), die eigentlich keine richtigen Kleriker sind, weil sie das
Irdische lieben, haben nichts besseres zu tun, als zum Papst zu laufen
und sich zu beschweren: Der Zister[[@Page:272]]zienserorden würde
dem Papsttum gänzlich die Substanz entziehen (abstulit ordo Cistercii
omnino substantiam patris nostri). Und so nörgeln sie noch heute,
klagt Joachim.2 Letztlich aber sei das, was die alten Eliten zu solchen
Feindseligkeiten treibe, nichts als Ressentiment, geboren aus Neid auf
den charismatischen Reichtum der Mönche.3
Wie zu Israels alten Zeiten die durch Habgier und Fleischeslust
korrumpierten Söhne des Priesters Eli versuchten, ihre Herrschaft über
den Jahwekult in Schilo aufrechtzuerhalten und nicht ahnten, daß der
Knabe Samuel, der unter ihnen wohnte, schon das neue Priestertum
verkörpert, so verhalte es sich mit den Prälaten der Kirchen in Ost und
West: Sie halten an den alten Gebräuchen fest und werden über ihrer
Fleischeslust blind für den Wandel, den die Rechte Gottes herbeiführt
(mutatio dextere excelsi). Aber sie werden in den kommenden
Drangsalen untergehen, während der Karren der neuen Religion und
Institution (nova religio et institutio) weiterzieht, um die Lade Gottes,
d.h. die Kirche, auf die neue Kulthöhe zu bringen. Dort aber besorgt
der in Samuel bezeichnete neue geistliche Stand (ordo spiritalis et
nuper editus) die Verehrung Gottes und wird berühmt in aller Welt.4
Selbst innerhalb der fortschrittlichen Elite des Mönchtums gibt es
rückwärtsgewandte Bewegungen. Freilich bedeutete die
Ordensstiftung des Benedikt zu seiner Zeit einen gewaltigen
Fortschritt, aber in der Epoche der Zisterzienser kann Joachim im
althergebrachten Benediktinertum nur noch einen Anachronismus
erblicken. Benedikt erblindet wie der alte Vater Isaak. Die beiden
Söhne, die er gezeugt hat, Cluny und Cîteaux, gehen unterschiedliche
1
Exp. V, fol.188va-vb.
2
Conc. V,49, fol.84ra.
3
Conc. V,50, fol.84va.
4
Vita Ben. 41, Baraut 77,1-81,137; vgl. 1 Sam 2,12-7,1; Chr 13,5.
324 ABBILDUNGEN

Wege. Während die Cluniaszenser die altmodischen Sitten der


Benediktiner nachahmen und die Schenkungen des Adels ihren
Klöstern zuführen statt den Armen, schreiten die genügsamen
Zisterzienser mit dem Segen des Vaters voran zu strengerer Askese.1
Doch in ihrem pharisäischen Selbstvertrauen rühmen sich die
Zisterzienser hochmütig ihrer Verdienste und ihrer Exklusivität, die
die „Gemeinschaft mit den Zöllnern“ scheut. Daher laufen sie Gefahr
zu verkennen, daß der Geist Jesu Christi auch jetzt Neues auf Erden
schafft (faciat spiritus Iesu novum aliquid super terram).2 Ohnehin ist
der Elan der zisterziensischen Reform dahin, so daß Joachim meint,
mit dem Hebräerbrief ausrufen zu müssen: „Denn obwohl ihr der Zeit
nach schon Lehrer sein müßtet, braucht ihr von neuem einen, der euch
die Anfangsgründe der Lehren von der Offenbarung Gottes
beibringt.“3 Und hier ist wiederum der Punkt erreicht, wo der
Fortschrittstheoretiker begreift, daß er selbst zum Gründer werden
muß. Er muß das Zisterziensertum im Tal zurücklassen und neue
Höhen des Mönchtums erklimmen. Nur Joachims Florenser werden
dem gerecht, was seiner Ansicht nach die progressive Entwicklung der
Kirche jetzt verlangt.4 [[@Page:273]]
Welche Macht aber ist es, die im Laufe der Heilsgeschichte immer
wieder versucht, den Fortschritt aufzuhalten? Es ist natürlich der
Teufel! Beständig führt der alte Feind den Niedergang der Guten im
Schilde (ruinam bonorum iugiter machinatur) und sabotiert den
Fortschritt des Mönchtums.5

5. Das Böse und seine Manifestationen


Damit ist bereits eine Wirkung des Teufels angesprochen, aber
Joachims Forschen nach dem Wesen des Bösen reicht tiefer. Die
1
Vita Ben. 3, Baraut 13,1-15,49; vgl. Gen 27,1-40.
2
Conc. IIb,8, fol.23rb, Daniel 184,94-101.
3
Vita Ben. 15, 37,60-62; [[Hebr 5,12 >> Bible:Heb 5,12]].
4
„Ceteri autem, qui ad alta conscendere cupiunt nec possunt, et ideo velut ad
radicem montis cum Scholastica veniunt, ut fruantur saltem raro consortio
Benedicti qui de monte ad sororem descendit, hoc est, eorum, qui in alta, aspera
et arta vita consistunt, quod est pauperem esse et contemplationi vacare,
fiducialiter agant, quondam illorum sancta simplicitas accepta est et fertilis
apud Deum, propter quod et Scolastica Benedictum caritate superasse
describitur. Semper enim solitudinem expetunt qui volunt in iusticie culmine
contemplando manere.“ Vita Ben. 15, Baraut 38,67-75; vgl. Gregor I., Dial
II,33. Vgl. Vita Ben. 18, Baraut 42,6-18.
5
Joachim spielt auf Gregors Benediktvita an. Dort kann Benedikt einen Mönch
vom Rückfall in die Weltlichkeit aufhalten, indem er das Böse sichtbar werden
läßt, das sich seinem Fortschritt entgegenstellt. Vita Ben. 17, Baraut 41,1-10;
vgl. Gregor I., Dial. II,25.
325 ABBILDUNGEN

wahrscheinlich subtilste Erörterung findet sich in der Expositio super


Apocalypsim. Joachims Überlegung geht vom paulinischen
Gerechtigkeitsbegriff aus: Der Mensch kann nicht aus eigener Kraft
gerecht werden, sondern bedarf der göttlichen Rechtfertigung. Die
Gerechtigkeit des Geschöpfes besteht im Glauben, der in der Liebe
zum Schöpfer wirksam wird.1 Damit aber der Mensch zu Glauben und
Liebe fähig wird, muß sich ihm der Herr als gnädiger Gott zeigen, wie
es in Christo geschieht.2 Aus dem gnadenhaften Charakter der
Gerechtigkeit folgert Joachim den Begriff der Wahrheit:
Das eigentümliche Wesen der Wahrheit (proprietas veritatis)
besteht darin, anzuerkennen, daß es nichts Gutes gibt, außer von
Gott allein, bei dem die höchste Wahrheit ist und nicht die
geringste Ungerechtigkeit.3
Als sich Satan gegen Gott erhob und zu Fall kam, war dies noch nicht
der Anfang des Bösen. Denn alle vernünftige Kreatur, auch die
himmlische strebt wie aufgrund eines Naturgesetzes (veluti quadam
lege naturali) nach dem Höheren; daran ist grundsätzlich nichts
Schlechtes, im Gegenteil.4 Allerdings kann es wie im Falle Satans
geschehen, daß das Geschöpf die Superiorität des Schöpfers mißachtet
und stürzt. Doch Gott erweist seine Liebe auch dem gefallenen
Geschöpf; wie ein sorgender Vater erwartet er aber die Einsicht des
Delinquenten in seine Schuld. Und genau das ist es, was Satan
verweigerte. [[@Page:274]]Er blieb hartnäckig, beharrte auf seiner
eigenen Gerechtigkeit und weigerte sich, seine Schuld einzusehen.
Statt auf die göttliche Barmherzigkeit mit Gegenliebe zu antworten
wuchs in ihm haßvoller Neid (livor odii). Nicht durch seine
Selbsterhebung und seinen Fall, sondern erst durch die Leugnung
seiner kreatürlichen Abhängigkeit – also dadurch daß er Dinge ersann,
die der Wahrheit entgegenstehen – wurde er zum Teufel.5
1
„Sed qualis esse potest iustitia que de celo descendit? fides scilicet que per
charitatem operatur.“ Exp. IV, fol.159rb.
2
„‚Omne quippe animal rem diligit similem sibi.‘ Homo autem quia caro est fa-
cilius potest hominem Christum contemplando amplecti, quam Deum purum et
Spiritum eius: et ideo Filius Dei homo fieri ex tempore voluit, ut dum visibiliter
Deum agnoscimus per hunc invisibilium amore rapiamur.“ Vita Ben. 16, Baraut
41,71-76; Sir 13,15. „Ut ergo scirent homines voluntatem Dei et ut roborati tan-
to exemplo possent facere quod scirent‚ cum esset Dei filius in forma Patris, se-
met ipsum exinanivit, formam servi accipiens in similitudinem hominum fac-
tus, et habitu inventus ut homo. Quid ad rem? Multum per omnem modum. Pri-
mum quia, sicut diximus, ostendit nobis Deus suam caritatem.“ Tract. III,14,
Santi 271,8-14; Phil 2,6f.
3
Exp. IV, fol.160ra. Zur Verbindung von Wahrheit und Gerechtigkeit vgl. 2
Thess 2,12.
4
Exp. I, fol.96rb.
5
„[…] quia infectus livore odii, noluit agnoscere reatum suum, et imputare sibi-
ipsi, quod malus esse cepit, sed cogitando contraria veritati, factus est Dyabolus
et Sathanas. Es deo igitur est omne bonum, ex deo dilectionis gratia et iustitie
326 ABBILDUNGEN

Das Wesen des Bösen ist die Lüge, die bestreitet, daß Gott die
Quelle alles Guten ist, und die zur Folge hat, daß dem Schöpfer das
ihm gebührende Lob verwehrt wird.1 Der Teufel, der Urheber
(auctor/inventor) des Bösen,2 heißt daher Vater der Lüge (pater
mendacii).3 Sein Ziel ist es, das Menschengeschlecht zu täuschen und
zu überlisten (ludificare genus hominum).4 Schon bei Adam und Eva
gelingt ihm das, indem er sie gemäß seinem lügnerischen Wesen
davon überzeugt, daß das Irdisch-Fleischliche erstrebenswerter sei, als
das Himmlische.5 Das Böse ist somit kein Bestandteil der
ursprünglichen Schöpfung. Es konnte aus zwei Gründen entstehen:
Zum einen, weil Gott die vernünftigen Geschöpfe mit dem freien
Willen ausgestattet hat, denn alle Verehrung des Schöpfers wäre nur
wenig wert, wenn die Geschöpfes sie nicht aus eigenem Antrieb
praktizieren würden. Ein freier Wille aber kann auch schlecht
gebraucht werden. Mit anderen Worten, Gott schafft nicht das Böse
selbst, sondern seine Schöpfung des Guten impliziert die mögliche
Entstehung des Bösen. Der zweite Grund ist, daß Gott die Entstehung
des Bösen duldete, weil er wußte, wie er es in seiner Schöpfung gut
gebrauchen konnte.6
Natürlich sind viele Aspekte dieser Lehre bekannt, nicht zuletzt
aus den Schriften des Augustinus.7 Aber Joachims Erkenntnisse sind
nicht ohne Tiefgang und Eigenständigkeit. Denn bei Augustinus ist
der Hochmut (superbia) der Anfang alles Bösen, die Selbsterhebung
des Geschöpfes über den Schöpfer.8 Freilich heißt Joachim den
munus, sed ne hoc accipiant reprobi, arbitrii renuunt pravitate. Quod bonum,
quia electi dei nequaquam a semetipsis, sed a bonorum omnium largitore sese
accepisse cognoscunt […].“ Exp. IV, fol. 160ra.
1
„Utrumque ergo confessio est, utrumque laus, quia non solum in quo iustum
dicimus creatorem eum laudamus, verum etiam in quo culpas nostras quibus
iuste iudicamur agnoscimus, quia nequaquam illum iustum confitemur et
credimus, si eum – quod absit a nobis – suspicamur crudelem aut non iustum
contra hominem exercere iudicium. Unde et per Iohannem dicitur: Si dixerimus
quoniam non peccavimus, mendacem facimus eum et verbum eius non est in
nobis.“ Exp. I, fol.58va-vb; 1 Joh 1,10.
2
Exp. Intr., fol.11rb; Adv. Jud., Frugoni 50,20.
3
Exp. I, fol.33ra u.ö.; vgl. Joh 8,44; 2 Thess 2,9f.
4
Exp. Intr., fol.10va.
5
„Decepta est autem a serpente Eva, deceptus est per Evam vir eius, decepti
sunt infirmiores per impios, fortiores et magnanimes per infirmos. Usurpave-
runt autem pomum vetitum, comederunt fructum carnis, in qua mors a principio
consistebat […].“ Exp. I, fol.65rb.
6
„[…] sine eius iusta permissione nec bona nec mala possunt esse in hoc mun-
do, nec sine eius iusto iudicio, qui facit ut ait Apostolus omnia secundum consi-
lium voluntatis sue.“ Conc. V,8, fol.64va; vgl. Conc. V,17, fol.68va-vb.
7
Z.B. [[De civ. Dei XI,17f. >> Augustine:De civ. Dei 11.17-18]]
8
[[De civ. Dei XII,6 >> Augustine:De civ. Dei 12.6]]; [[XIV,13 >>
Augustine:De civ. Dei 14.13]]. Die Lüge ist vielmehr ein Folge und
Verfestigung der ersten Sünde, die in der superbia besteht, gleichsam eine
327 ABBILDUNGEN

Hoch[[@Page:275]]mut nicht gut, aber sein ganz auf Fortschritt


ausgerichtetes Denken sieht im Streben nach dem Höheren eine
positive Grundeigenschaft des vernünftigen Geschöpfes. Daß der ein
oder andere dabei über das Ziel hinausschießt, scheint fast
verständlich. Hochmut und Fall sind gewissermaßen das Risiko des
Fortschritts, gerade bei den Asketen, die nach dem Höchsten trachten.1
Nein, wo geistlicher Eifer und die Unbeständigkeit der menschlichen
Natur zusammenkommen, können Menschen zu Fall kommen; das
Böse dagegen ist der Haß des Gefallenen gegen die Liebe des
Barmherzigen. Es ist das Leugnen der Schuld und der Angewiesenheit
auf Rettung sowie der Irrglaube, Herr des eigenen Schicksals zu sein.
An ihren psychologisch tiefsten Stellen erinnert Joachims Analyse des
Bösen an Dostojewskis Rodion Raskolnikoff.
„Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die
Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt“, heißt es in dem
Vers der Johannesoffenbarung, den Joachim seiner Erforschung des
Bösen zugrundelegt.2 Und damit ist im Grund schon gesagt, auf
welche Weise das Böse den Menschen betrifft. Es ist nicht Teil seiner
Natur, die nach oben strebt, sondern eine ständige Verführung, in
diesem Streben nachzulassen. Insofern hat das Böse zunächst keine
sichtbare Gestalt; erst wenn konkrete Menschen der Versuchung
nachgeben, werden sie zu Satelliten des Feindes (satellites ipsius
hostis), die gegen die Streiter in Christi kämpfen.3 Das Böse begegnet
dem Menschen als beständige Bedingung seiner Existenz, aber nicht
als ursprünglicher Bestandteil seiner Natur.4
Die größte Versuchung, die der Teufel bereit hält, ist irdische
Macht. So ist schon im Evangelium des Matthäus zu lesen. 5 Wie
Christus der Versuchung widerstand, so muß es auch der Christ tun.
Das Streben nach weltlicher Herrschaft läuft prinzipiell dem Streben
nach jenseitigem Heil zuwider, in dem sich aller Fortschritt äußert,
und ist schon nach Matthäus gleichbedeutend mit einer Verehrung des
Satans. Der Verführte ergibt sich der Lüge und leugnet, daß Gott
allein Macht (potestas) verleihen kann.6 Rechtmäßig erworbene
Habitualisierung der anfänglichen Selbstüberschätzung. [[De civ. Dei XIV,3f.
>> Augustine:De civ. Dei 14.3-4]]
1
„Etenim aperta perfectio gloriationem parit, gloriatio exaltationem, exalta-
tionem vero comitatur ruina, quia scriptum est: ante ruinam exaltatur cor.“
Conc. V,13, 66vb; Spr 16,18.
2
Offb 12,9.
3
Exp. IV, fol.158va.
4
Da sich das Böse im Naturwidrigen manifestiert, erscheint Joachim die
Homosexualität als etwas schlechthin Teuflisches. (Vgl. Röm 1,26f.).
Übermäßige Leidenschaft beim „natürlichen Gebrauch der Frau“ und Ehebruch
sind dagegen minder schwere Sünden, die nicht höllische Folter, sondern nur
das Fegefeuer nach sich ziehen. Conc. I,3, fol.3rb, Daniel 33,59-66.
5
Conc. V,81, fol.109ra-va; Mt 4,8f.
6
„Quid enim rex terrenus agit boni? totum est attribuendum regi celesti, a quo
328 ABBILDUNGEN

Herrschaft ist prinzipiell nichts Verwerfliches, sondern nach


Augustinus eine Notwendigkeit im Sündenzustand.1 Aber Herrscher
können nur gut sein, wenn sie als Verteidiger des katholischen
Glaubens (fidei catholice defensores) der Lüge widerstehen und ihre
Kräfte nicht zum Ausbau der eigenen Macht nutzen; vielmehr
[[@Page:276]]ergreifen sie das Kirchenbanner zum Schutze und zur
Beförderung der jenseitsorientierten Gemeinschaft. 2 Weltliche Politik
allein hat keinen Wert. „Denn was wäre nutzloser als für ein Reich zu
streiten, das ohnehin dem Untergang geweiht ist (quid enim inutilius
quam pugnare pro imperio perituro)?“3 Wenn sich der ursprünglich
gute Herrscher dagegen vom Bösen leiten läßt und dem teuflischen
Geist des Ehrgeizes (spiritus ambitionis)4 nachgibt, verdirbt er seine
eigene Natur – eine Erfahrung, die später ihren größten literarischen
Ausdruck in Shakespeares Macbeth gefunden hat. Freilich ergibt sich
für Joachim aus der christlichen Erbsündenlehre, daß der korrumpierte
Zustand der menschlichen Natur der geschichtliche Normalzustand ist.
In Adam sind alle Menschen gefallen.5
Aufgrund des unnatürlichen Charakters alles Bösen kämpfen die
Streiter Gottes prinzipiell nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen
die Einflüsterungen der bösen Geister6 – ein wichtiger Unterschied zu
den gnostischen Lehren jener Zeit. Und doch äußert sich dieser Kampf
in den geschichtlichen Kriegen des Gottesvolkes gegen seine
Verfolger, wie sie das Schlachtfeld dieser Welt (campus huius mundi)7
so mannigfaltig bereithält. Muslime, Häretiker und staufische Truppen
sind also nicht aus sich heraus böse, sondern Wirkungen des Bösen,
die es gleichwohl (vornehmlich mit geistlichen Waffen) zu bekämpfen
gilt. Die konkrete Schilderung dieser Kämpfe nach dem Schema der
sieben Siegel wurde schon am Beispiel der Genealogia dargestellt und
braucht hier nicht wiederholt zu werden. Es geht vielmehr um einen
grundsätzlichen Gedanken Joachims: die Symmetrie von guten und
bösen Kräften, die die Kirchengeschichte prägt.
Joachim greift den alten tyconianischen Gedanken vom corpus
diaboli auf: So wie die Gläubigen, die der Wahrheit der evangelischen
Lehre folgen, Glieder am Leib Christi werden, so schafft sich der

est omnis potestas, cui adeo resistere iniquum est, ut is qui ei resistit dei
ordinationi resistat.“ Conc. V,56, fol.88vb; vgl. Röm 13,1; vgl. Tract. I,8, Santi
173,5-175,7.
1
[[De civ. Dei XIX,15 >> Augustine:De civ. Dei 19.15]].
2
Conc. V,17, fol.68vb; Int. cal. 1, De Leo, 136,17-19.
3
Conc. V,70, fol.98va.
4
Tract. I,8, Santi 174,2.
5
„[…] omnes filii eius dicuntur cecidisse in paradiso, non quod ipsi
personaliter in paradiso fuerimus, sed quia ex carne illius propagati sumus, qui
fuit et cecidit in paradiso.“ Conc. V,31, fol.31va; vgl. Röm 5,12.
6
Exp. IV, fol.158va.
7
Ench., Burger 89,2615; Exp. Intr., fol.24ra.
329 ABBILDUNGEN

Teufel einen Leib aus Menschen, die seinen Lügen glauben. 1 So wie
sich aus der jüdischen Synagoge und der christlichen Kirche das eine
Volk Gottes zusammensetzt, so bilden seine alten und neuen
Widersacher, das alte und das neue Babylon, gemeinsam das eine
Volk des Teufels,2 die eine Synagoge des Satans.3 Und so wie Christus
als Haupt des Kirchenleibes in Petrus und den Nachfolgern seine
Stellvertreter installiert, so entsteht ein böses „Apostolat“ des Teufels,
das die Lüge verbreitet. In diesem Sinne stehen den Oberhäuptern der
Christen mehrere Antichristen gegenüber.4 Der erste ist Herodes, der
als Gegenfigur zu Petrus auftritt und [[@Page:277]]parallel zur
apostolischen Sukzession der Päpste eine böse Sukzession einleitet.5
Diese Symmetrie des Bösen und des Guten, die sich in Joachims
Werk überall bemerkbar macht, muß in zweierlei Hinsicht
eingeschränkt werden. Erstens ist es – ganz im apokalyptischen Sinne
und entgegen allen gnostischen Vorstellungen – der eine gute Gott,
dessen Willen beide Seiten unterstehen. Die klare Symmetrie ergibt
sich ja gerade daraus, daß beide Seiten in die Struktur des göttlichen
Plans eingeordnet sind, und sich in den jeweiligen, sigilla oder
tempora genannten Abschnitten der Heilsgeschichte einzelne Teile der
beiden Leiber als konkrete Kollektive gegenüberstehen – Heiden und
Märtyrer, Häretiker und Kirchenlehrer etc. Der große allgemeine
Kampf (bellum generale) zwischen Jerusalem und Babylon
manifestiert sich in einer genau festgelegten Abfolge von speziellen
Schlachten (proelia specialia).6 Die uneingeschränkte Souveränität
1
„Draco iste diabolus est. Corpus eius sunt omnes reprobi.“ Exp. Intr., fol.10ra;
vgl. Exp. VI, fol.193ra; Conc. V,115, fol.130vb; Conc. V,116, fol.131va; Tract.
I,8, Santi 174,5-10.
2
Conc. V,118, fol.134va.
3
Exp. II,120ra-rb; vgl. Offb 2,9.
4
„Etenim antichristi multi sunt, dicente Iohanne: Sicut audistis quia antichristus
venit nunc multi antichristi facti sunt.“ Exp. Intr., fol.10ra; 1 Joh 2,18. Vgl. Exp.
III, fol.134rb.
5
„Erat ergo in ecclesia Christi alius quam Michael, princeps a Domino
constitutus, Petrus, scilicet, et successor eius, quod presens adhuc seculi probat
dies. […] In synagoga nihilominus Sathane, Herodes maior tenuit principatum,
gerens in ea vicem draconis, qui tandem Herodi filio succensionem relinquens,
novissime Romanorum princeps habere promeruit successores [eine
Anspielung auf den staufischen Erbreichsplan?, M.R.]. […] Erat ergo Michael
angelorum prelatus, prelians in Petro principe Christianorum. Erat et dyabolus
princeps Demoniorum, dimicans in Herode Iudeorum prelato.“ Exp. IV,
fol.158vb; vgl. Dan 12,1. „Habet enim et impietas successionem suam.“ Conc.
I,5, fol.3vb, Daniel 35,16. Vgl. Exp. Intr., fol.10ra-rb.
6
„Ut enim breviter proferam proelia quae liber iste [Apocalypsis] complectitur,
quid esse dicimus Babylonem nisi regnum diaboli, quod est inferno; et quid
esse dicimus Hierusalem, nisi regnum Dei, quod est in coelo? Sunt ergo duo
reges, unus austri, alius aquilonis, Deus videlicet et diabolus; duae civitates, vi-
delicet Hierusalem et Babylon. Habet Hierusalem quattuor animalia, quattuor
scilicet ordines militum qui pugnant pro illa, et ipsa nihilominus quantum prae-
330 ABBILDUNGEN

Gottes bedeutet aber auch, daß die Wirkungen des Bösen auf die
geschichtliche Welt beschränkt bleiben, denn jenseits des Jüngsten
Gerichtes wird es nichts Böses mehr geben. Die zweite Einschränkung
besteht darin, daß die Gemeinschaft der Verführten, die als corpus
diaboli gegen das corpus Christi kämpft, nicht per se böse ist, da sich
der Teufelsleib aus den Leibern gut erschaffener Menschen
zusammensetzt. Selbst der gewaltigste aller Antichristen, dessen
Ankunft Joachim jeden Moment erwartet, ist nicht der Teufel,
vielmehr wohnt der Teufel in ihm.1
Wie beim Kirchenbegriff, so weicht Joachim auch hier von der
Theorie der mystischen Gemeinschaften ab, wie sie die tyconianische
Lehre und die augustinische Umformung des corpus diaboli in die
civitas terrena impliziert. Denn das Böse manifestiert sich
[[@Page:278]]auf Erden in Gestalt weltlicher Politik. Alle Herrscher,
die nicht im Dienste der Kirche stehen, sind Wirkungen des Bösen; zu
ihnen zählen die nominell christlichen Staufer, die versuchen, der
christianitas eine Ordnung zu geben, welche der kirchlichen Ordnung
zuwiderläuft. Wie immer spürt man die kompromißlose Radikalität,
mit der Joachim das Telos der gregorianischen Reform zu erfassen
sucht. Das staufische Reich ist wie alle „babylonischen“ Reiche ein
Exponent des Teufelsreiches. Doch im Grunde kann gar nicht
wahrhaft von einem Reich (regnum) gesprochen werden, denn die
babylonische Ordnung orientiert sich nicht am Paradigma aller
Reiche, dem Reich Gottes, sondern ist in seiner irdischen Ausrichtung
diesem entgegengesetzt.2 Ganz irrtümlich glaubt man, die Fürsten
dieser Welt seien kraft ihres Amtes in den Leib Christi inkorporiert
und könnten nicht exkommuniziert werden (creduntur incorporati ut
nequeant separari), obwohl Päpste wie Gregor VII. bewiesen haben,

valet, quoniam unusquisque ordinum habet, ut superius scripsimus, tempus


suum. Habet et Babylon quattuor bestias quae pugnant pro ea. Quae tamen, ju-
bente Deo, insurgent ad ultimum contra illam, quia ‚non est pax impiis, dicit
Dominus‘. Pugnant ergo singulae contra singulam, secundum quod in
contrarium oppositae esse videntur.“ Ench., Burger 88,2582-2593 (entspricht
Exp. Intr., fol.23vb-24ra); Jes 48,22; vgl. Dan 11. Die klarste Beschreibung der
einzelnen Kämpfe bietet Joachims einschlägiger Kurztraktat De septem sigillis
und Praeph. Apc. II, Selge 116,333ff.
1
„Quod ergo dictum est in hoc loco de rege Aquilonis, non ad ipsum antiquum
hostem simpliciter referendum est, sed magis ad Antichristum, in quo quasi in
domo propria ipse diabolus habitabit.“ Conc. V,116, fol.132rb; vgl. Dan 11. Sh.
dazu die Studie: Wannenmacher, Julia: „Die Macht des Bösen. Zur Rolle und
Bedeutung des Antichrist in der Eschatologie Joachims von Fiore“, in:
Florensia 13/14 (1999/2000), S.365-378, v.a. S.372ff.
2
„Similiter et civitates due sunt, una Ierusalem, que est regnum Dei, altera Ba-
bilon, que est regnum diaboli, licet abusive dicatur regnum, quicquid regno illi
vero adversarium est.“ Exp. Intr., fol.23vb.
331 ABBILDUNGEN

daß dies sehr wohl möglich ist.1 Daher wird das staufische Imperium
demnächst untergehen, damit die Herrschaft über die Welt – wie bei
Daniel angekündigt – den Heiligen des Höchsten übergeben werden
kann.2 Die vollendet geordnete Menschheit des dritten Status wird
überhaupt keine weltliche Herrschaft mehr kennen. Sie wird nur noch
Kirche, nur noch corpus Christi sein und die vollendete libertas
ecclesiae genießen.3 Die Scheidung zwischen Gut und Böse geschieht
zum Teil schon in einem ersten geschichtlichen Gericht, in dem
Babylon vernichtet wird.4
Das eindrucksvollste Symbol, das Joachim für seinen Gedanken
einer bösen Körperschaft gebraucht, ist der rote Drache (draco rufus)
aus der Offenbarung des Johannes.5 Der Liber Figurarum zeigt am
deutlichsten, wie sich Joachim das siebenköpfige Ungeheuer vorstellt
(sh. Abbildung 3 im Anhang).6 Er deutet das Symbol gemäß seiner
historischen Denkweise. Das Ungeheuer des corpus diaboli tritt durch
die gesamte Kirchengeschichte hindurch dem corpus Christi entgegen.
Seine Häupter sind historische Figuren, die über die Masse der vom
Teufel Verführten hinausragen und sich als Führer antikirchlicher
Kräfte besonders hervortun.7 Obwohl Joachim bei der Identifikation
einiger Häupter seine Ansichten bisweilen ändert, sind die Namen, die
er nennt, durch[[@Page:279]]aus aussagekräftig. So fehlen in allen
Fassungen des draco rufus Erzketzer wie Arius oder Sabellius.
Wichtiger scheinen für Joachim die irdischen Herrscher zu sein, die
den Häretikern erst zur Macht verhelfen, wie der arianische Kaiser
Konstantius.8 Denn nicht selten erkennt Joachim ein symbiotisches
Verhältnis zwischen irdischen (vornehmlich byzantinischen)
Herrschen und Häretikern, wenn es darum geht der Kirche Schaden
zuzufügen.9 Als einziger „Sektengründer“ ist Mohammed in die Reihe

1
Conc. IIIa,4, fol.41rb, Daniel 301,15-20.
2
„Nunc ergo consummatis quinque proeliis et quinque tempribus, destruetur
nova Babylon, incohato scilicet tempore sexto, regnum videlicet mundi huius
quod affligit ecclesiam. Et dabitur regnum quod est subtus omne coelum, ut ait
angelus Danieli, populo sanctorum, qui vocatur spiritualis Hierusalem.“ Ench.,
Burger 89,2626-2630.
3
Conc. IV,31, fol.56va, Daniel 403,26-31.
4
„Transibit enim tritura super messem, triturans triturabit super grana et paleas,
ut et triticum mundatum recipiatur in horreis et palee, que pro solo tritico ser-
vate sunt usque ad tempus aree, separentur a granis comburende igne inextin-
guibili. hec erit portio Babylonis et omnium, qui diligunt illam.“ Conc. V,79,
fol.107vb. Zu den beiden Gerichten am Weltende: Exp. Intr., fol.9ra; De ult. trib.,
Selge 34,372ff.
5
Offb 12,3; 17,3.
6
Lib. Fig., tav. XIV.
7
„Capita ipsius, hii qui principantur inter reprobos et ipsos quoque quibus pre-
sunt, precedunt et precellunt in malum.“ Exp. Intr., fol.10ra.
8
Über die Häupter des Drachen: Exp. Intr., fol. 10ra-va, Exp. VI, fol.196va-vb; u.ö.
9
Exp. IV, fol.167vb; Conc. V,81, fol.121va-vb.
332 ABBILDUNGEN

der Antichristen aufgenommen, aber das läßt sich auf seine


Doppelrolle als politischer und religiöser Führer zurückführen. Wie
nicht anders zu erwarten, heißen die ersten beiden Antichristen
Herodes und Nero. Heute weitgehend vergessen ist dagegen der
persische Herrscher Chosrau II., der (in der Fassung der Expositio
super Apocalypsim) nach Konstantius als viertes Drachenhaupt
firmiert; als heidnischer Eroberer Jerusalems und Dieb der wichtigsten
Reliquie, des Kreuzes Christi, stand jener damals freilich im Rufe
besonderer Bosheit.1
Es ist immer noch nicht völlig geklärt, warum Joachim als
herausragenden Vertreter „Neu-Babylons“ ausgerechnet Heinrich II. –
nach Joachims Zählung Heinrich I. – in die Reihe der Antichristen
aufnahm. Joachim muß gewußt haben, daß Heinrich II. damals schon
heiliggesprochen war. Möglicherweise liegt aber gerade darin die
Pointe, erinnert man sich daran, daß Joachim irdischen Herrschern
keinen Sonderstatus im corpus Christi zubilligen wollte, der über das
gemeine Laientum hinausreicht. Sicherlich fand die Heiligsprechung
Heinrichs II. nicht seine Zustimmung und vielleicht vermutete er
einen perfiden Hintergrund hinter den höheren Weihen für den (in
Italien ohnehin weniger populären) „Teutonen“.2
Saladin verweist als sechster Antichrist auf die Gegenwart nach
dem Fall Jerusalems im Jahr 1187. Es bleibt der siebte Antichrist. Als
Joachim vor König Richard Löwenherz seinen draco rufus erklärte,
vermutete er, der letzte Antichrist, dessen Wüten alles bisher
Dagewesene übertreffen wird, sei vielleicht schon geboren. Sein
Geburtsort sei Rom, das heißt er kommt entgegen den alten
Antichristlegenden nicht aus entfernten Weltgegenden, sondern tritt aus
der Mitte der Kirche hervor. Er wird versuchen sich als Papst zu
etablieren und eine große Menge von Gläubigen verführen. 3 Hinter
Joachims Worten über den siebten Antichrist steht zum einen die
konkrete historische Erfahrung der schismatischen Päpste, die von
irdischen Herrschern, zuvorderst den Staufern, unterstützt wurden.4
Zum anderen wurzeln seine Ausführungen in der alten, seit dem
zweiten Thessalonicherbrief bekannten Prophezeiung vom
Widersacher, „der sich über alles, was Gott [[@Page:280]]und

1
Conc. IIb,9, fol.24ra, Daniel 190,69-72.
2
Sh. dazu die einschlägige Studie: Patschovsky, Alexander: „The Holy Em-
peror Henry ‚The First‘ as one of the Dragon’s Heads of Apocalypse: On the
Image of the Roman Empire under German Rule in the Tradition of Joachim of
Fiore“, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 29 (1998), S.291-322.
3
„De isto Antichristo dicit idem Johachim, quod jam natus est in civitate Ro-
mana, et in sede apostolica sublimabitur […].“ Roger von Hoveden, Chron. III,
Stubbs 78. Vgl. Conc. V,42, fol.79va-vb.
4
„[…] iam Romanam sedem legimus aliquos usurpasse, et nuper sub Frederico
imperatore accidisse comperimus.“ Conc. V,64, fol.95vb-va. Vgl. Conc. IV,17,
fol.52vb, Daniel 380,116.120.
333 ABBILDUNGEN

Heiligtum heißt, so sehr erhebt, daß er sich sogar in den Tempel Gottes
setzt und sich als Gott ausgibt“.1 Unter diesem Thron konnte man leicht
den apostolischen Stuhl verstehen. Die Lehre vom päpstlichen
Antichrist, die in der Reformation – nicht zuletzt bei Luther – so große
Bedeutung erlangte, zeigt sich hier in ihren Anfängen.2
Freilich fallen im Laufe der Heilsgeschichte alle Köpfe des
Drachens. Wenn auch der große siebte Antichrist besiegt sein wird,
wird der dritte Status anbrechen. Die Kirche wird zur Ruhe kommen
und der Herr wird in seinen Erwählten über die ganze Welt herrschen. 3
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn der
enthauptete Drache wird mit seinem Schwanz noch einmal zuschlagen.
Die sagenhaften Randvölker Gog und Magog, bei denen der Teufel
während des dritten Status eingekerkert war, werden von den äußersten
Enden der Erde hereinbrechen und dem alten Äon ein Ende setzen. 4 In
einer zeitlichen Welt kann es keine letzte Vollkommenheit geben, denn
jede Zeit hat ihr Ende. Und indem das Böse, das in der Zeit entsteht und
mit Gott nicht gleichewig ist, das Ende der Zeit herbeiführt, vernichtet
es zugleich sich selbst. Es folgt die Auferstehung der Toten und das
Jüngste Gericht. Dann ziehen alle Erwählten Gottes, die im Laufe der
Heilsgeschichte ihr Leben ließen, gereinigt von der Endlichkeit des
Fleisches mit verklärten Leibern in die Ewigkeit des himmlischen
Jerusalem ein.5

6. Die Lehre von den drei Status und den


drei Ständen
Wie gesehen, ist das Ostererlebnis der Ausgangspunkt der Drei-
Status-Lehre. Die Existenzwahrheit, die Joachim aus seiner
1
2 Thess 2,4. „Quicunque autem sit ille magnus antichristus venturus est tamen
clam in signis et prodigiis mendacibus, sicut Christus in veris, et decipiet multi-
tudinem infinitam iudeorum et gentium, ita ut pauci sint qui evadant astutiam
nequitie et calliditatis illius. Sicut autem Christus Iesus dictus est rex et ponti-
fex et propheta, ita et ipse nunc prophetam, nunc pontificem, nunc se regem
Christum simulabit et dicet.“ Exp. Intr., fol.10vb; vgl. fol.10va.
2
McGinn, Bernard: „Angel Pope and Papal Antichrist“, in: Church History 47
(1978), S.155-173; McGinn 1994, S.143ff.
3
De sept. sig., Reeves/Hirsch-Reich 245,12-246,3.
4
„Non enim simul totus incarceratus est, sed per singulum quinque temporum
secundi status singulum draconis caput debellatum est, et in sexto tempore duo
simul, ita ut non habens de reliquo, in quo exerceat vires suos, cogatur usque ad
finem seculi, quod erit tempus caude ipsius, sine spe perpetrande malitie incar-
ceratus manere.“ Exp. Intr., fol.15rb-16va; vgl. Offb 20,7-10; Exp. Intr., fol. 11ra;
Vita Ben. 26, Baraut 60,26-32; u.ö.
5
Ench., Burger 90,2640-2648.
334 ABBILDUNGEN

pneumatischen Erfahrung gewinnt, besteht darin, daß sich die


göttliche Selbstoffenbarung über den Gegenwartspunkt hinaus
fortsetzt. In den Einsichten charismatisch begabter Männer, zu denen
sich Joachim selbst rechnet, kündigt sich schon jetzt das geistliche
Verständnis an, das in naher Zukunft auf das ganze Gottesvolk
ausgegossen werden wird, um seinen dritten und höchsten Status
herzustellen.1 Im Liber Concordiae versucht Joachim mit immer
neuen Symbolen seinem Fortschrittsbewußtsein Ausdruck zu
verleihen und zu zeigen, wie sehr das zunehmende
Offenbarungswissen den heilsgeschichtlichen Zustand der Menschheit
befördert, bis hin zur universalen Liebesgemeinschaft des dritten
Status. Er schreibt:
[[@Page:281]]Es ist kein Wunder, wenn diese heiligen
Mysterien, die uns Jüngeren in der Zeit noch unter Schleier
vorborgen sind, sich dann zu öffnen beginnen, wenn am Ende
jene Generation gegenwärtig ist, die im heiligen
zweiundvierzigsten Tag bezeichnet wird – der Tag, an dem
jener mysteriöse Schleier, der den Anblick des Altars verhüllt,
vom Gesicht des Volkes genommen wird. Dies geschieht, damit
die, die bisher durch einen Spiegel rätselhafte Umrisse
erblicken, bald beginnen, die Wahrheit von Angesicht zu
Angesicht zu schauen; indem sie, wie der Apostel sagt, von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit gehen, damit alles Stückwerk
vergeht, wenn das Vollendete kommt. Und was ist das
[Vollendete]? Die Liebe (caritas), die niemals vergeht. Und die
Zeit der Liebe ist es, die eigentümlich zum Heiligen Geist
gehört, über den es auch heißt: „Wenn aber jener kommt, der
Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen.“

Schließlich […] legen uns die Geheimnisse der Heiligen Schrift


drei Status der Welt (tres status mundi) nahe. Der erste,
während dem wir unter dem Gesetz (sub lege) lebten; der
zweite, während dem wir unter der Gnade (sub gratia) leben;
der dritte, den wir demnächst erwarten, während dem wir unter
der volleren Gnade (amplior gratia) leben werden, weil uns –
wie Johannes sagt – Gnade für Gnade gegeben wird, Glaube
freilich für Liebe und umgekehrt.

Der erste Status bestand also in der Erkenntnis (scientia), der


zweite in einem Teil der Weisheit (pars sapientie), der dritte in
der Fülle der Einsicht (plenitudo intellectus). Der erste in
sklavischer Knechtschaft (servitus servilis), der zweite in
kindlicher Knechtschaft (servitus filialis) und der dritte in
Freiheit. Der erste in Züchtigung (flagella), der zweite im
Handeln (actio) und der dritte in der Schau (contemplatio). Der
erste in Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in Liebe. Der

1
Conc. V,21, fol.70va-vb.
335 ABBILDUNGEN

erste Status ist der der Knechte, der zweite der der Kinder und
der dritte der der Freunde. Der erste der der Knaben, der zweite
der der jungen Männer, der dritte der der Greise. Der erste Status
ist wie im Licht der Gestirne, der zweite wie in der Morgenröte
und der dritte wie am hellichten Tag. Der erste wie im Winter,
der zweite wie zu Frühlingsbeginn und der dritte wie im
Sommer. Der erste bringt Brennesseln hervor, der zweite Rosen,
der dritte Lilien. Der erste Gräser, der zweite Gewürze, der dritte
Weizen. Der erste Wasser, der zweite Wein, der dritte Öl. Der
erste bezieht sich auf Septuagesima, der zweite auf
Quadragesima und der dritte auf das Pfingstfest.

Daher bezieht sich der erste Status auf den Vater, der der
Schöpfer aller ist, und beginnt deshalb mit dem ersten
Stammvater, insofern er sich auf das Mysterium von
Septuagesima bezieht – gemäß jenem Wort des Apostels: „Der
erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der zweite
Mensch stammt vom Himmel.“ Der zweite Status bezieht sich
auf den Sohn, der beschloß unsere Gestalt anzunehmen, in der
er fasten und leiden konnte, um den Zustand des ersten
Menschen wiederherzustellen (ad reformandum statum primi
hominis), der beim Verzehr [des Apfels] fiel. Der dritte Status
bezieht sich auf den Heiligen Geist, über den der Apostel sagt:
„Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“1
[[@Page:282]]Auch dieses Zitat schließt mit der Rede von der
geschichtlichen Reform der Menschheit. Besonders typisch für
Joachim ist, daß er sich der Symbolik des liturgischen Jahrs bedient
und sie auf die Geschichte hin auslegt. 2 Dadurch entreißt er die
Gnadenwirkung Gottes zumindest teilweise der sakramentarischen
Zyklik und zugleich der priesterlichen Disposition.3 Septuagesima, der
Beginn der Vorfastenzeit, bezeichnet den ersten Status des Vaters;
Quadragesima, die mit Ostern beginnende Fastenzeit, den zweiten
Status des Sohnes; und Pfingsten, das Fest des Geistes, wird in der
nahen Zukunft von der gesamten Menschheit gemeinsam begangen
werden – unter Führerschaft des Mönchsstandes. Es ist nicht mehr der
einzelne, der das Heil im Sakrament entgegennimmt, das Gottesvolk
als Kollektiv und schließlich die ganze Menschheit genießt die
fortschreitende Wirkung der Gnade. Man kann in den Jubeljahren, die
Bonifaz VIII. einführte, eine Reaktion auf die vielfältigen
joachitischen Bewegungen des 13. Jahrhunderts sehen. Nach Claude
Carozzi handelte es sich um den Versuch, die geschichtliche
Heilserwartung wieder der päpstlichen Verfügungsgewalt zu
1
Conc. V,84, fol.112rb-va; 1 Kor 13,10.12; 2 Kor 3,15f.18; Joh 16,13; 1,16; 1
Kor 15,47; Phil 3,20f.; 2 Kor 3,17.
2
Vgl. Lib. Fig., tav.XIX.
3
Vgl. die Bemerkungen über die Wassertaufe in Conc. IIa,2, fol.7va-vb, Daniel
63,28-37.
336 ABBILDUNGEN

unterstellen.1
Diesmal aber wird das eigentümliche Wirken der drei Personen,
das sich für die zeitlich existierende Menschheit in drei
geschichtlichen Phasen manifestiert, genauer ausgeführt. Obgleich
immer drei Personen an der Schöpfung teilhaben, ist es doch im
besonderen der Vater, der den Menschen schafft. Der Sohn stellt den
Schöpfungszustand des Menschen wieder her, der durch den Fall
korrumpiert worden war. Die Offenbarung des Geistes schließlich
überhöht die bloße Wiederherstellung und bewirkt am Gottesvolk eine
Herrlichkeit und Freiheit, wie man sie vor Joachim nur im Himmel für
möglich hielt.
In diesem Sinne kennt Joachim einen doppelten Begriff der
Gottesebenbildlichkeit. Imago Dei war der Mensch im Paradies, bevor
er aus eigener Schuld seine Natur verdarb. Imago Dei ist der Mensch,
der durch das Wirken des Sohnes und des Geistes wiederhergestellt
und sogar noch verbessert wird. Imago Dei ist im zweiten Sinne – und
das ist hier entscheidend – das Menschengeschlecht in seiner
geschichtlichen Existenz, die von der Selbstoffenbarung des
dreieinigen Gottes, dem ordo revelationis2 strukturiert wird. Alle drei
Personen der Gottheit wirken in der Geschichte. „Aber“, so Joachim,
„das Werk, von dem wir sprechen ist das Menschengeschlecht, das der
Natur nach eines ist, aber durch seine Stände wie in eine Trinität
unterteilt wird“ (Est autem opus istud, de quo et loquimur, genus
humanum, unum quidem in natura, sed propriis ordinibus velut in
trinitate distinctum).3
Die politische Bedeutung der Drei-Status-Lehre wird erst zur
Gänze sichtbar, wenn man bedenkt, daß sie immer zugleich eine Drei-
Stände-Lehre ist – ein Versuch, die ständische Ordnung der
hochmittelalterlichen Gesellschaft aus der Geschichte und dem
Wirken der dreieinigen Gottheit zu erklären sowie ihre Entwicklung in
die Zukunft hinein fortzudenken.4 Wie gesehen meint Joachim die
Menschheit, wenn er von [[@Page:283]]der Welt spricht. In diesem
Sinne verweist der Begriff Status auf den Zustand der Welt (status
mundi) hinsichtlich des Wandels, den Gott an seinem Volk vollzieht.
Die Drei-Status-Lehre will zeigen, wie sich der göttlich geleitete
Fortschritt der Menschheit in der sozialen Lebenswirklichkeit
1
Carozzi 1996, S.178.
2
Tract. I,6, Santi 100,27.
3
Exp. Intr., fol.18vb; vgl. Conc. IIa,8, fol.9rb-vb, Daniel 74-76.
4
Nicht zufällig hat Carl Schmitt Joachim von Fiore als Zeugen gegen Erik
Peterson und dafür gewählt, daß eine „politische Theologie“ auf der Grundlage
des orthodoxen Trinitätsdogmas möglich ist: „[…] die Geschichtstheologie
Joachims von Floris ist eine politisch-theologische Interpretation des Dogmas
von der Trinität.“ Schmitt, Carl: Politische Theologie II. Die Legende von der
Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin: Duncker & Humblot, 41996,
S.72f.
337 ABBILDUNGEN

niederschlägt. Ungeachtet der sozialistischen Implikationen ist daher


Karl Kautskys Übersetzung von status mit „Gesellschaftszustand“
nicht die schlechteste.1 Joachim schreibt:
Der erste der drei Status, von dem unsere Rede geht, war unter
der Zeit des Gesetzes, als das Volk des Herrn jener Zeit gemäß
noch ein kleiner Knecht war unter den Elementen dieser Welt,
unfähig, die Freiheit des Geistes zu erlangen; bis jener kam, der
sagte: „Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich
frei.“ Der zweite Status war unter dem Evangelium und dauert
bis jetzt; im Vergleich zur Vergangenheit besteht er zwar in
Freiheit, nicht aber im Vergleich zur Zukunft. Der Apostel sagt
nämlich: „Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk
unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt,
vergeht alles Stückwerk.“ Und andernorts: „Der Herr aber ist
der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, dort ist Freiheit.“
Der dritte Status also wird auf das Ende der Welt zugehen, nicht
mehr unter dem Schleier des Buchstabens, sondern in der vollen
Freiheit des Geistes.2
Aus diesem Zitat läßt sich erkennen, daß das Paradigma der
joachimischen Geschichtstheologie die Erziehung des Individuums ist,
die auf das Gottesvolk angewandt wird. Die Erziehung des
Menschengeschlechts ist nicht eine Idee, die erst Lessing der
joachimischen Geschichtsdeutung hinzugefügt hätte, wie Karl Löwith
meint,3 sondern ein Gemeinplatz unter Geschichtstheologen des 12.
Jahrhunderts.4 Bei Joachim findet man den Erziehungsgedanken
eingeordnet in sein Fortschrittsschema, das auf das Erziehungsziel in
der glorreichen Zukunft des dritten Status hinweist: die diesseitige
Freundschaft zwischen Gott und den vollendeten Menschen.5 Wie
Paulus vergleicht Joachim den geistlichen Fortschritt der Gläubigen
mit dem Heranwachsen eines Kindes, ebenfalls profectus genannt.6
1
Kautsky 1947, S.164.
2
Exp. Intr., fol.5rb; Joh 8,36; 1 Kor 13,9-10; 2 Kor 3,17; vgl. 2 Kor 3,14-16.
3
Löwith 1990, S.190.
4
Spörl 1935, S.19. Vgl. auch Augustinus, [[De civ. Dei X,14 >> Augustine:De
civ. Dei 10.14]].
5
„Ergo quia in patre timore cogimur sicut servi in filio erudiri et instrui quasi
discipuli veritatis, in spiritu sancto eripi a flagellis, quasi omnino liberi et fide-
les amici […].“ Psalt. II, fol.241ra. Vgl. Exp. I, fol.44va.
6
„Sic populus ille qui doctus est a Moyse agnovit omnipotentem Deum, sed
non ita perfecte quomodo populus christianus qui doctus est a Christo Iesu se-
cundum eam doctrinam que decet parvulos in ipso; sed nec iste sic perfecte
quomodo populus spiritalis inter quos sancti viri sapientiam loquuntur, quia alia
est ut iam dixi capacitas parvulorum, alia iuvenum, alia senum, et aliter profici-
unt in virtutibus parvuli, aliter iuvenes, aliter seniores.“ Psalt. II, fol.247rb, korr.
n. Selge; vgl. 1 Kor 3,1f. Das Erziehungsvokabular kommt auch in seiner für
Joachim sehr typischen Auslegung von 2 Kor 12,2-4 zur Anwendung. Die
Stufen des individuellen mystischen Aufstiegs, von dem Paulus berichtet,
werden als geschichtliche Stufen des Erziehungsprozesses gedeutet: „Primum
338 ABBILDUNGEN

Der Evangelist Lukas erzählt, daß Jesus Christus seit seinem


[[@Page:284]]Tempelbesuch als Zwölfjähriger an Weisheit, Alter und
Gnade vor Gott und den Menschen wuchs (proficiebat); dasselbe muß
sich auch an der Kirche als seinem Leib, vor allem aber am geistlichen
Stand des Mönchtums vollziehen.1
Augustinus war Joachim darin vorangegangen, anhand der
paulinischen Symbolik eine grobe Einteilung der Heilsgeschichte zu
unternehmen. Dem Kirchenvater zufolge befindet sich die Menschheit
nach dem Fall in der „tiefsten Finsternis der Unwissenheit“ (in
altissimis ignorantiae tenebris).2 Diese Zeit vor dem Gesetz (ante
legem) wird abgelöst durch die Zeit unter dem Gesetz (sub lege),
welche mit der Offenbarung an Mose beginnt. Danach folgt die Zeit
unter der Gnade (sub gratia), die von der ersten und zweiten Ankunft
Christi begrenzt wird. Daran schließt sich nur noch das Jenseits an, in
dem der vollkommene Friede herrscht (in pace plena atque perfecta).
Doch Augustinus relativiert diese Periodisierung gleich wieder, indem
er sie auf die Entwicklung der individuellen Seele hin umdeutet und
betont, daß der Geist Gottes „weht wo er will“, die Gnade also zu
allen Zeiten wirkt.3 Joachim bedient sich zwar des augustinischen
Schemas,4 geht aber stets den umgekehrten Weg, der von der sittlichen
celum est scriptura que pertinet ad primum statum. Secundum scriptura que
pertinet ad secundum. Tertium intelligentia spiritalis que pertinet ad tertium. In
primo erudiuntur parvuli, in secundo instruuntur adulescentes, in tertio
inebriantur amici.“ Exp. III, fol.139rb. Ernst Bloch hat in der Tat recht, wenn er
sagt, bei Joachim sei das Vereinigungserlebnis des Mystikers zum
geschichtlichen Ziel, zum finalen Heilsereignis für die gesamte Menschheit
geworden: „Die Stufen der Himmelsleiter traten aus der Psychologie heraus,
das Reisebuch der Seele zu Gott wurde durch den ersten Propheten der
gotischen Mystik, durch Joachim di Fiore, zu einer Bewegung der Geschichte
selbst verwandelt, zur Dynamik des letzten Evangeliums. Die gesamte
Menschheit vollzieht nun – den Reinen zum Heil, den Unreinen zum Untergang
– die Bewegung in die mystische Christusförmigkeit als ins Dritte Reich; sie
übersteigt die Reiche des Gesetzes wie der Gnade, sie erlangt die plenitudo
intellectus […]. Und der Stand dieser Geistesfülle entspricht genau der
Vergottung, worin die christliche Mystik ihre Erleuchteten umgab; er entspricht
also der Gemeinde eines universalen Pfingstfestes.“ Bloch 1998, S.1538f. Her-
vorh. i. Orig.
1
Lk 2,52; Tract. I,1, Santi 7,15-20.; Tract. I,7, Santi 119,13-21; vgl. Benz 1957,
S.315.
2
[[Ench. 31 >> Augustine:Enchir. 31]],[[118 >> Augustine:Enchir. 118]],
Simon 93, CClat XLVI,112,23.
3
„In quacumque autem quattuor istarum uelut aetatum singulum quemque
hominem gratia regenerationis inuenerit, ibi ei remittuntur praeterita uniuersa
peccata et reatus ille nascendo contractus renascendo dissoluitur. Tamque
multum ualet quod spiritus ubi uult spirat, ut quidam secundam illam
seruitutem sub lege non nouerint, sed cum mandato incipiant adiutorium habere
diuinum.“ [[Ench. 31 >> Augustine:Enchir. 31]],[[119 >> Augustine:Enchir.
119]], CClat XLVI,113,55-61; vgl. Joh 3,8.
4
Exp. Intr., fol.5va.
339 ABBILDUNGEN

Entwicklung des Individuums auf die Heilsgeschichte schließt. Im


Psalterium, an einer Stelle, wo der Begriff vielleicht zum ersten Mal
fällt, meint status den Zustand des paradigmatischen Gläubigen, der
auf dem Weg zur Vollendung die ständische Ordnung der christlichen
Gesellschaft durchschreitet, vom Laien zum Kleriker und schließlich
zum Mönch.1 [[@Page:285]]Doch dies bleibt eine Ausnahme.
Projiziert auf die Geschichte des Gottesvolkes sieht die Grundstruktur
der Drei-Status-Lehre folgendermaßen aus:
Nach dem Fall: Joachim beginnt wie Augustinus seine
Weltgeschichte mit einer Zeit tiefster Finsternis, die zwischen dem
Sündenfall und dem Beginn der aktiven Selbstoffenbarung Gottes
liegt (quod fuit ante legem in densis tenebris et caligine noctis). Er
spricht von der Zeit des Naturgesetzes (lex naturalis), was ganz
paulinisch zu verstehen ist, insofern sich Gott dort nur in den „Werken
seiner Schöpfung“ kundtut.2 Die Menschen ahnen die Existenz Gottes
aber auch deshalb, weil sie ihre Sterblichkeit als Strafe erfahren. Sie
lernen Gott zu fürchten, begreifen aber noch nicht, daß sie für die
Sünde ihres Stammvaters büßen.3 „Am Anfang war die Erde wüst und
leer“, das heißt bar aller Gerechtigkeit, Gnade und Wahrheit. Es gibt
noch kein Gottesvolk, lediglich einzelne Auserwählte wie Noach
werden erleuchtet, damit sie die Zukunft sehen und das Gute tun
können. Selbst die Sintflut ändert nicht viel an dieser Situation, denn
die überlebende Menschheit wendet sich erneut den Göttern der
Finsternis zu. Sie ahnt zwar die Existenz des Göttlichen, aber sie sucht
es in der Schöpfung, nicht im Schöpfer.4
Der erste Status: Da die völlige Ignoranz der Geschöpfe einen
unhaltbaren Zustand darstellt, beginnt Gott mit seiner
Selbstoffenbarung. Die Verdorbenheit des Menschengeschlechts
macht es zunächst nötig, daß ihm der Herr durch rohe Züchtigung
1
„Nam secundum quod rationi consentaneum esse videtur, qui vellet incipere a
minoribus et gradatim cum decursu temporis ad perfectionem venire,
vigintiquinque annis deberet esse laycus operans manibus suis bonum quod
posset, donec videret utrum posse continere nec ne, aliis vigintiquinque in
clericatus officio domino ministrare. Et rursum aliis vigintiquinque usque scili-
cet ad septuagesimum quintum vacare orationibus et psalmis expectans cotidie
paratus horam vocationis sue.“ Psalt. II, fol.244ra.
2
Exp. Intr., fol.5va; vgl. Röm 1,20.
3
Exp. Intr., fol.5vb.
4
„Terra autem erat inanis et vacua; quia exceptis illis qui pro merito sanctitatis
celum dici poterant, eciam tunc cetera multitudo inanis erat et vacua, inanis ab
opere iusticie, vacua a gratia et veritate, eciam per doctrinam iustorum in deum
verum credere videretur. et tenebre erant super faciem abyssi, quia populus, qui
surrexit post diluvium, secutus est deos tenebrarum, et coluerunt creaturam po-
tius quam creatorem, qui est deus benedictus in secula, amen.“ Conc. V,3,
fol.61va-vb; vgl. Gen 1,1-2. „Ab Adam siquidem usque ad Iacob, nullus proprius
populus fuisse legitur qui domini populus diceretur, sed tantum patrum nomina
scripta sunt in libro Geneseos […].“ Conc. IIb,2, fol.19vb, Daniel 148,31-33.
340 ABBILDUNGEN

eine angemessene Gottesfurcht einflößt. Gott zeigt sich als ein


sorgender Vater, der nicht als Rächer, sondern als Erzieher zur Rute
greift.1 Er mußte klare Regeln erlassen und tut dies in Gestalt der
Zehn Gebote. Gleichwohl beginnt der erste Status, die Zeit unter
dem Gesetz (sub lege), schon mit Abraham, dem das Gebot der
Beschneidung auferlegt wird. 2 Die Selbstoffenbarung Gottes ergeht
zu dieser Zeit nur an einen auserwählten Teil der Menschheit, an das
beschnittene Volk Israel aus dem Samen Abrahams.
Insgesamt aber ist auch diese Zeit noch von einer verwirrenden
Dunkelheit (confusa caligo) geprägt.3 Denn die Offenbarung Gottes
vollzieht sich zwar am Volk Israel und [[@Page:286]]manifestiert
sich in seiner von Mose und anderen dokumentierten Geschichte, aber
die Israeliten sind noch nicht fähig, ihre Geschichte in einer Weise zu
begreifen, die über den rein historischen Sinn (sensus historicus)
hinausführt. Selbst den Propheten blieb ein tieferes Verständnis
versagt.4 Daher sind die Heilserwartungen des kindlichen
Gottesvolkes auf ein gelobtes Land im Diesseits beschränkt. Gott kann
seine Kinder in diesem Stadium nicht durch den Lohn einer
Jenseitsverheißung disziplinieren, sondern nur indem er sich als
strafender Vater zu erkennen gibt. Denn solange Kinder noch nicht
verstehen können, was man ihnen zu lesen gibt, eignet sich als
pädagogisches Mittel am besten die Furcht (timor).5
Die Person des Vaters bildet sich in der gesellschaftlichen
Struktur des ersten Status ab. Das einfache Verständnis (simplex
intellectus), das der Vater vom Volk Israel verlangt, führt zu einer
patriarchalischen Ordnung, für die Abraham als Patriarch aller
Patriarchen das Urbild abgibt.6 Im ersten Status gibt es prinzipiell nur
einen Stand, den der Laien (ordo laicorum). Natürlich weiß Joachim,
daß die israelitische Gesellschaft von zunehmender Komplexität
geprägt war und durchaus professionelle Priester kannte. Aber darum
1
„Voluit omnipotens exercere iudicium hoc in genere humano non ut dissiparet
opus suum, sed ut ostenderet illi altitudinem magnitudinis sue et incuteret ei ti-
morem discipline, ut non saperet alta sciens quia qui potens fuerat ad forman-
dum, non erat impotens ad reformandum, non solum ut restitueret quod dissolu-
tum erat, verum etiam ut restituens commutaret in melius.“ Exp. I, fol.67vb.
„[…] iustum est pueros virge austeritate corrigere […].“ Exp. I, fol.82vb; vgl.
Spr 23,13; Weish 30,1.
2
Conc. V,84, fol.111ra; Tract. I,3, Santi 25,15-17.
3
Conc. IV,2, fol.44ra, Daniel 323,97-99.
4
„[…] non fuit datum prophetis sub primo statu ut exponerent manifestius li-
bros Moysi […].“ Conc. IIIa,9, fol.29rb, Daniel 232,296f.
5
„Et bene apud populum illum dictus est Deus timor, qui pro tempore adhuc
parvulus erat, quia timere parvulorum est, formidare et pavescere eorum qui
ignorant equitatem iudicii et non intelligunt que legunt.“ Psalt. II, fol.246 vb,
korr. n. Selge; vgl. Augustinus, [[De civ. Dei X,14 >> Augustine:De civ. Dei
10.14]].
6
Conc. IIIa,17, fol.33va-34ra, Daniel 256,117-258,165.
341 ABBILDUNGEN

geht es ihm nicht. Laien, das sind für ihn unterschiedslos alle
Menschen, die sich nicht dem Eheverbot unterwerfen, das zumal nach
gregorianischer Auffassung unabdingbare Voraussetzung für den
geistlichen Stand ist. Und in diesem Sinne ist Israel ein Laienvolk,
obgleich die Leviten und Männer wie Elija und Elischa schon
zeichenhaft auf den Priester- und Mönchsstand der Zukunft
hinweisen.1 Der Laienstand, der prinzipiell auch im Christentum
bestehen bleibt, ist noch in anderer Hinsicht Abbild der ersten
göttlichen Person: So wie der Vater den Gottessohn zeugt, so ist der
Laienstand eingerichtet, um Kinder zu zeugen und die leibliche
Fortexistenz des Menschengeschlechtes zu sichern.2
Der zweite Status: Nachdem die Kinder Gottes unter der
gestrengen Zucht des Vaters lesen gelernt haben, bringt das
Evangelium Christi das Verständnis.3 Es entspricht Joachims
intellektualistischer Deutung des Sündefalls, wenn er im Wirken
Christi vor allem die Weisheit (sapientia) erblickt. Denn wenn die
Sündenstrafe im Verlust von Wissen besteht, dann muß das
Hinwegnehmen der Sünde auch ein Hinwegnehmen der Unwissenheit
bedeuten.4 An die Stelle des Gesetzes tritt in der Zeit der Gnade (sub
gratia) die Lehre (doctrina) Christi. Die Menschen lernen, daß ihnen –
so heißt es bei Paulus – in Christus der Geist der Kindschaft verliehen
wird, daß sie also zu Brüdern [[@Page:287]]Christi und zu Miterben
am Reich Gottes werden.5 In diesem Sinne geht die Jenseitserwartung
in die göttliche Pädagogik ein und ersetzt die diesseitig ausgerichtete
Eschatologie der Juden.
Der zweite Status enthält aber noch eine weitere Dimension des
Wissens, die schon am Beispiel der Genealogia besprochen wurde:
Christus löst die sieben Siegel der israelitischen Geschichte. Das heißt
nicht, daß der ganze Sinn des Alten Testamentes sogleich offenbar
würde. Denn wenn von Christus die Rede ist, kann entweder das
Haupt oder der Leib gemeint sein. In diesem Sinn ist es die
Geschichte des Christusleibes, die Kirchengeschichte, die die Siegel
löst. Die Geschichte des fleischlichen Volkes Israel wiederholt sich
auf einer höheren heilsgeschichtlichen Ebene; auf einer höheren
Ebene insofern, als die Kirche Christi dem eschatologischen Ziel des
himmlischen Jerusalem schon näher steht als das alte Gottesvolk. So
1
„Fuit autem coniugatorum ordo a principio constitutus et perseveravit solus
aut quasi solus omni tempore primi status, hoc est ab adam usque ad christum,
quia etsi fuerunt in tempore illo duo reliqui ordines, sub umbra tamen littere
tenebantur inclusi et sub vinculo coniugii sicut et ceteri constituti.“ Exp. Intr.,
fol.18vb-19ra.
2
Exp. Intr., fol.18vb.
3
Psalt. II, fol.246vb; Vita Ben. 26, Baraut 57,7-10.
4
Vgl. Praeph. Apc. I, Selge 103,33-46.
5
Röm 8,15-17; Gal 4,4-7; Conc. IV,32, fol.56va, Daniel 404,3-7; Exp. I, fol.48rb,
91ra, 94va; u.ö.
342 ABBILDUNGEN

offenbart sich im Verlauf des zweiten Status ein tieferer Sinn der
alttestamentlichen Schriften, der den Juden noch verborgen war. Das
Volk Israel stellt durch seine Geschichte den Text her, den die
christliche Kirche wiederum durch ihre Geschichte auslegt.
Christus, der die höhere Wahrheit verkündet, wird zum
Archetypen des Priesters und Predigers und begründet nach seinem
Bild einen neuen Stand, den Klerus (ordo clericorum). Wie Christus
sind die Kleriker gezeugt, zeugen aber selbst nicht.1 Obwohl es auch
in christlicher Zeit nach wie vor Laien gibt, nicht zuletzt um den
Nachwuchs und die Subsistenz des Klerus zu sichern, und obwohl
sich der Mönchsstand schon in seinen Anfängen zeigt, ist die soziale
Ordnung im zweiten Status dennoch eigentümlich vom Klerus
geprägt. Ihm gebührt nach dem Bild des Sohnes das Prälatentum im
Gottesvolk.2
Der dritte Status: Bei der Beschreibung des dritten Status gerät
Joachim in begriffliche Verlegenheit, denn seine Neuheit einer
geschichtlichen Vollendung der Menschheit läßt sich nicht mehr mit
der überkommenen Symbolik fassen. Zwischen der mit Christus
beginnenden Gnadenzeit und der jenseitigen Erlösung war weder bei
Paulus noch bei Augustinus eine weitere Epoche höheren
Offenbarungswissens vorgesehen. Joachim muß zum Komparativ
greifen und spricht von einer Zeit reicherer Gnade (sub ampliori
gratia).3 Daß er damit weit über die Väter hinausgeht, ist ihm bewußt,
aber so wie die Väter zu ihrer Zeit das Notwendige sagten, so gebe es
nun eben neue Notwendigkeiten.4 Joachim ist der erste Denker, der
den Traditionsbruch mit den Erfordernis[[@Page:288]]sen des
geschichtlichen Fortschritts rechtfertigt. Er weiß natürlich, daß des
Apostels Verkündigung von der vollendeten Erkenntnis bisher
ausschließlich auf die jenseitige Gottesschau bezogen wurde, aber das

1
„Clericorum ordo non a se ipso, sed a solo ordine coniugatorum propagatus
est origine carnis, qui tamen non est institutus ad procreandos filios carnis, sed
ad evangelizandum verbum dei sicut et ipse christus, ad cuius imaginem
institutus est.“ Exp. Intr., fol.18vb.
2
Conc. IIIa,17, fol.33vb-34ra, Daniel 258,151-154; Conc. IV,33, fol.57ra, Daniel
406,32-34.
3
Ench., Burger 23,463; Conc. V,81, fol.112rb; Psalt. II, fol.247ra.
4
„Nec illi auctoritati patrum putetur esse contrarium, qua dictum est tempus
ante legem, tempus sub lege, tempus sub gratia, quia et illud in suo genere dici
necessarium fuit et istud in suo necessarium est. Nam ut teneamus utrumque,
tertia quoque assignatio temporum adiungenda est, id est tempus sub littera
evangelii, tempus sub spiritali intellectu, tempus manifeste visionis Dei. omnia
tempora simul quinque, licet quintum, quod erit in patria, abusive, non proprie
tempus dicatur. Dicimus tamen in perhenni seculorum tempore. Primum itaque
tempus ante legem, secundum sub lege, tertium sub evangelio, quartum sub
spiritali intellectu, quintum in manifesta visione Dei.“ Exp. Intr., fol.5va, korr. n.
Selge.
343 ABBILDUNGEN

stört ihn nicht länger.1 Wo der Geist weht, da gibt es kein Recht des
Älteren.2 Wissen ist abhängig vom Standpunkt in der Zeit, wer der
geschichtlichen Vollendung näher ist, kann mehr wissen.3
Doch wie sieht sie aus, die Offenbarung des Geistes, die die
Erziehung des Menschengeschlechts zum Abschluß bringen soll? Im
Gesetz des Alten Testamentes und im Evangelium des Neuen
Testamentes haben der Vater und der Sohn das Offenbarungswissen in
einer Form vermittelt, die dem jeweiligen Erziehungsstatus des
Gottesvolkes angemessen war. Aber wie der Geist in ewiger
Prozession aus Vater und Sohn hervorgeht, so geht im
Offenbarungsprozeß das geistliche Verständnis aus der Offenbarung
des Vaters und des Sohnes hervor:
Wie sich nämlich der Buchstabe des Alten Testamentes durch
eine gewisse eigentümliche Ähnlichkeit (proprietate quadam
similitudinis) auf den Vater zu beziehen scheint, der Buchstabe
des Neuen Testamentes auf den Sohn, so bezieht sich die
geistliche Einsicht (spiritalis intelligentia), die aus beiden
hervorgeht (procedit), auf den Heiligen Geist.4
Geistliches Verstehen ist ein unmittelbares Verstehen, das alles
Buchstabenwissen übersteigt und die Lektüre der Bibel wie anderer
Bücher, vielleicht am Ende gar die Sprache selbst überflüssig macht. 5
1
„Sed neque illud pretereundum existimo, quod patres in introitu heremi, Mare
Rubrum, filii vero in introitu terre, Iordanem, pari modo transire concessi sunt;
quia et ibi per sacramentum baptismatis, quod visibili elemento celebratur,
separatio quedam facta est inter infideles et fideles, et hic, per spiritale
baptisma, quo sola inundatio Spiritus invisibiliter emundat corda electorum
suorum, inter carnales et spiritales, lactis tamen participes et utentes solido
cibo, parvulos in Christo et perfectos, distinguitur, ut compleatur prophetia
Pauli qua dicitur: videmus nunc per speculum in enigmate, tunc autem, facie ad
faciem. Nam etsi in futura vita complenda esse hec omnia aliqui putant, nec nos
ab illorum intellectu, pro eo quod ista dicimus, disentimus. Erit utique ista
perfectio tota et integra in futuro, cuius comparatione adhuc semel dici oportet,
cum venerit quod perfectum est, evacuabitur quod ex parte est, sed hoc profecto
completum erit comparatione preteriti. Ut enim comparatione eorum qui in
adventu Domini crediderunt, populus Israel, qui sub littera deguit, parvulus
estimatus est, iste autem populus vir comparatione illius, ita populus ipse qui in
adventu domini fidem recepit, comparatione eius qui modo crediturus est,
parvulus et lactens reputatus est, sicut e contrario iste vir comparatione illius.“
Vita Ben. 40, Baraut 75,53-76,73.
2
Conc. V,50, fol.84vb-85ra.
3
„Licet enim multa viderint sancti per speculum in enigmate, non sunt tamen
ausi presumere aliquid contra illam Pauli sententiam dicentis: cum autem
venerit quod perfectum est, evacuabitur quod ex parte est. sed si hoc illi qui tam
magni fuerunt, quid nos infimi et abiecti? verum etsi impares meritis, quis
tamen nesciat viciniores nos esse illi tempori quod designatum est in tempore
revelationis Helye?“ Conc. V,73, fol.101rb. Vgl. Exp. Intr., fol.25vb.
4
Exp. Intr., fol.5rb.
5
„Illud autem de tertio statu pretermittendum non est, quod nullus mihi adhuc
344 ABBILDUNGEN

Alle Mysterien, die im Buchstaben verborgen waren, liegen


[[@Page:289]]nackt zutage.1 Nicht nur das, auch die Mysterien der
Sakramente werden offenbar. Alles symbolische Handeln der Priester
wird nicht mehr nötig sein, wenn der Bedeutungsgehalt der Symbole
unvermittelt verstanden wird.2 Auch die Lehre (doctrina) des
Evangeliums wird aufhören, wo alle im reinen Wissen leben. 3 Alles
figürliche Begreifen, das sich der Analogien aus der geschöpflichen
Sphäre bedienen mußte, erübrigt sich.4 Die Stimme des Geistes selbst
wird in den Gotteskindern sprechen.5 Wenn der Geist der Wahrheit
kommt, den Christus verhieß, wird er alle Zweifel beseitigen (totius
dubietatis amovebit caliginem),6 und an die Stelle des Glaubens wird
die Schau treten.7 Nicht daß die Menschen Gott anblicken könnten wie
einen anderen Menschen, nein, der Geist bewirkt in den Menschen so
große Gottähnlichkeit, daß sie die Wahrheit des Herrn vollständig
occurrit locus in Scripturis autenticis, qui in hoc tertio statu spiritaliter solvi
nequeat, et qui mistice in hoc articulo interpretari non possit.“ Vita Ben. 33,
Baraut 71,8-11. „Si ergo quadragesimo anno uel die in typo huius nostri
temporis hec commutatio facta est, uideat qui adhuc delectatur in foliis, ne iusto
omnipotentis iuditio expers efficiatur a fructu.“ Conc. IIIa,14, fol.32ra, Daniel
247,201-203. „[…] ad extremum autem quod solis spiritalibus datum est, veluti
de archanis celorum eum qui non legitur in testibus ipsorum librorum spiritalem
producere intellectum.“ Conc. V,74, fol.103va. „Sane in futuro non solum verba
historica, et que terram sapere videntur, deficient, verum etiam et verba mistica,
que per figuras et enigmata prudentibus ingeruntur, cessabunt […].“ Praeph.
Apc. I, Selge 103,47-49.
1
„Et notandum quod in tercio statu nuda erunt misteria et aperta fidelibus, quia
per singulas etates mundi multiplicatur scientia, sicut scriptum est:
pertransibunt plurimi et multiplex erit scientia.“ Conc. V,67, fol.96va. Vgl. Exp.
Intr., fol.9vb; 14rb; 25rb; u.ö.
2
Dazu: Grundmann, Herbert: „Lex und Sacramentum bei Joachim von Fiore“,
in: Grundmann 1977, S.403-420.
3
„Et non docebit ultra vir proximum suum, et vir fratrem suum dicens: cognos-
cite dominum; omnes enim congnoscent me a minimo usque ad maximum.“
Conc. V,68, fol.96vb; Jer 31,34.
4
„Tamdiu enim necessarium est amplecti figuras istas, quamdiu videmus per
speculum in enigmate, et scire non possumus sicut est illam veritatem, quam si-
gnificant ista. cum autem venerit spiritus veritatis et docebit nos omnem verita-
tem, quid nobis ulterius de figuris? sicut enim evacuata est observatio agni pa-
schalis in mactatione corporis Christi, ita in clarificatione spiritus sancti cessa-
bit observatio omnis figure, ut non sequantur ultra homines figuras, sed ipsam
simplicissimam veritatem, que significatur in igne, dicente domino: spiritus est
deus, et eos qui adorant eum in spiritu et veritate oportet adorare.“ Conc. V,74,
fol.103ra-rb; Joh 16,13.
5
„Et quidem erit vox Spiritus loquentis in filiis adoptionis […].“ Tract. I,7,
Santi 118,8-9.
6
Ench., Burger 48,1270-1272; vgl. Exp. III, fol.124ra.
7
„[…] libet et in hoc ipso [tertio statu] fructum exquirere spiritalem, ut qui iam
fide cognoscimus deum nostrum ad contemplandam quoque speciem celsitu-
dinis eius […].“ Exp. Intr., fol.12vb; vgl. 2 Kor 5,6f; [[Augustinus, De civ. Dei
XIX,14 >> Augustine:De civ. Dei 19.14]].
345 ABBILDUNGEN

begreifen (in spiritu dei nostri faciem videbimus conditoris, similes


eidem effecti)1 und diejenigen anerkennen, die sie verkünden.2
Joachims Terminologie erinnert zweifellos an die Beschreibung
mystischer Erkenntnisse. Doch aus der kontemplativen Schau des
spirituellen Heroen ist ein endgeschichtliches Gemeinschaftserlebnis
geworden. Das folgende Kapitel wird aber zeigen, daß es sich nicht
um eine mystische Demokratie handelt, wie sie Ernst Bloch bei
Joachim erkennen wollte. Denn nicht alle Teile der
[[@Page:290]]Gesellschaft erhalten dieses Wissen in gleichem Maße.
Der Stand, der der Geistoffenbarung eigentümlich nachgebildet
ist, ist das kontemplative Mönchtum, das den dritten Status
dominieren wird.3 Gleichwohl wird es noch Laien geben, denn
einerseits können nicht alle zur gleichen Vollendung gelangen, und
andererseits können Asketen nicht ihren eigenen Nachwuchs zeugen.
Und weil selbst der hingebungsvollste Mönch nicht ganz ohne
Nahrung und Kleidung leben kann, sind die Laien ebenso mit der
Subsistenzsicherung betraut.4 Da andererseits für das seelische Wohl
der Laien gesorgt werden muß, wird es im dritten Status auch noch
Kleriker geben.5 Nicht alle, die nach dem geistlichen Stand streben,
können die Vollendung der mönchischen Kontemplation (monastica
perfectio) erreichen; aber wenn Rahel nicht zu haben ist, muß man
eben mit Lea, der tätigen Seelsorge, vorlieb nehmen.6 Die politische
Ordnung des dritten Status ist also eine vom Mönchtum dominierte
Drei-Stände-Hierarchie.
An dieser Stelle sei noch einmal auf den Gedanken der
Gottesebenbildlichkeit verwiesen: Durch das sukzessive Wirken der
drei göttlichen Personen bildet sich die Gottheit in der Geschichte der
Menschheit ab – zuerst der Vater im Laientum des ersten Status, dann
der Sohn in der Klerikerkirche des zweiten Status und schließlich der
Geist im Mönchtum des dritten Status. Jeder Stand bringt die
Eigentümlichkeit (proprietas) der jeweiligen Person zum Ausdruck,
damit in der Kreatur die Ähnlichkeit mit dem Schöpfer hergestellt
wird (ut in rebus creatis creatoris similitudo et perfectum mysterium
compleretur).7 Da aber die alten Stände nicht untergehen, sondern in
einer untergeordneten Position bestehen bleiben, zeigt die Ordnung

1
Praeph. Apc. I, Selge 104,50; vgl. 1 Joh 3,2.
2
„Inclinata iam die, vadit autem [ecclesia] credendo et inquirendo et pervenit
ad illum in fine seculorum, quando et sine enigmate intuebitur eum sicuti est.
non enim sic potest homo videre deum, quomodo homo hominem, sed videre
deum est perfecte intelligere veritatem et agnoscere eos, in quibus loquitur
ipse.“ Conc. V,45, fol.81rb.
3
Vita Ben. 14, Baraut 33,1-35,56.
4
Psalt. II, fol.253ra, 254rb-va.
5
Psalt. II, fol.247va; vgl. Exp. V, fol.182vb.
6
Conc. V,43, fol.80ra.
7
Psalt. II, fol.265ra.
346 ABBILDUNGEN

des dritten Status das vollständige Abbild der Trinität, das sich im
Laufe der Geschichte aufgebaut hat. Daher sind sowohl die
Gesellschaftsordnung als auch der geschichtliche Gesamtprozeß als
jene Einheit zu betrachten, in der sich die Einheit der drei Personen
widerspiegelt. Im Liber introductorius heißt es:
[…] so wie der Stand der Eheleute (ordo coniugatorum), der in
der ersten Zeit offenbar wird, sich durch eine eigentümliche
Ähnlichkeit (proprietate similitudinis) auf den Vater zu
beziehen scheint, der Stand der Prediger (ordo predicatorum),
der in der zweiten offenbar wird, auf den Sohn, so bezieht sich
der Stand der Mönche (ordo monachorum), dem eher die
letzten Zeiten gegeben sind, auf den Heiligen Geist. Und
demgemäß wird nämlich der erste Status dem Vater
zugeschrieben, der zweite dem Sohn und der dritte dem
Heiligen Geist, wenngleich man auf andere Weise sagen muß,
daß es nur einen Status der Welt gibt und ein Volk der
Erwählten, und daß sich alles zugleich auf Vater, Sohn und
Heiligen Geist bezieht.1
Gott hat den Menschen nach seinem Bild geformt und infolge des
Sündenfalls nach seinem Bild reformiert. Die Wiederherstellung der
Gottesebenbildlichkeit ist der Sinn [[@Page:291]]der Geschichte und
sie kommt zum Ziel in der vollendeten politischen Ordnung.2 Nur wo
die Menschheit sich zur universalen Einheit verbindet und strukturell
die dreifaltige Einheit des Schöpfers abbildet, kann sie ihrem Ziel
gerecht werden, also Gott vollständig erkennen und nach Kräften
verherrlichen (una erit gens et unus populus creatus ad laudem dei
cognoscens optime deum suum a minimo usque ad maiorem).3 Und
nur wo dies geschieht herrscht vollendete Gerechtigkeit (perfecta
iustitia).4 Dementsprechend ist auch die dreistufige Hierarchie der
Stände gerecht, denn nach Joachims Leistungsethik richtet sie sich
danach, wer am meisten zum Lob des Herrn beiträgt.
Im zweiten Buch des Psalterium ordnet Joachim den Ständen
Wertzahlen zu, die ihrer Leistung im Gotteslob entsprechen und ihren
jenseitigen Rang fast mathematisch genau berechnen lassen. Auf den
Mönchsstand, der den gesamten Psalter an einem Tag zu rezitieren
vermag, entfällt der Heilswert 30, auf die mit Seelsorge und Predigt
befaßten Kleriker der Wert 20 und auf die mit Kinderaufzucht und
1
Exp. Intr., fol.5rb-va.
2
„Hac in re notandum est quod qui fecit hominem ad imaginem et
similitudinem suam et creauit Abraham, Isaac et Iacob ut gererent typum
deifice trinitatis, sicut et plures alios; ipse uoluit constitui tres ordines istos ut
essent et ipsi ad imaginem et similitudinem trinitatis, iuxta illud Apostoli:
‚Donec occurramus omnes in unitatem fidei in uirum perfectum in mensuram
etatis plenitudinis Christi.‘“ Conc. IIa,8, fol. 9va, Daniel 74,15-20; Eph 4,13.
3
Psalt. II, fol.273ra.
4
Vita Ben. 36, Baraut 72,5-8; Conc. V,67, fol.96rb.
347 ABBILDUNGEN

Daseinsvorsorge belasteten Laien der Wert 10. Dennoch hat auch das
Werk der Kleriker und Laien eine Bedeutung, weil es die Mönche von
allem entlastet, was sie von der Verherrlichung Gottes abhalten
könnte. So tun alle Stände ein gemeinsames Werk zum Lob der einen
Gottheit.1 Damit ist auch das Problem gelöst, mit dem sich Joachim
seit der Vision des Psalters plagt: Die horizontale Ordnung der
Geschichte ist mit der vertikalen Ordnung des himmlischen Jerusalem
in Übereinstimmung gebracht, insofern sich die Hierarchie der
Gottesstadt in der Geschichte aufbaut, um am Ende ein genaues
Abbild der himmlischen Ordnung darzustellen. Wie die politische
Ordnung des dritten Status genau aussieht, wird im folgenden Kapitel
anhand von Joachims Verfassungsentwurf näher beschrieben.
An dieser Stelle sei noch einmal zusammengefaßt: Joachims
Einsichten in die Entwicklung der Menschheit sind sicher geprägt von
den geschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit, aber der
Begründungsweg seiner Lehre verläuft deduktiv durch die
hierarchischen Stufen seiner Wirklichkeitserfassung, von der visionär
geschauten göttlichen zur sinnlich erfahrbaren menschlichen Sphäre.
Er geht aus von seinen kontemplativen Einsichten in die
innergöttlichen processiones und zeigt, wie diese in den zeitlichen
Sendungen (missiones) sichtbar werden. Die missiones wiederum
bringen den Fortschritt des Offenbarungswissens. Und schließlich
führt die höhere Einsicht in die göttliche Selbstoffenbarung zum
progressiven Wandel der Gesellschaft. Die Denkschritte sehen zum
Beispiel folgendermaßen aus:
1. Innergöttliche Sphäre (processiones): Aus dem Vater geht in
ewiger Zeugung der Sohn hervor. Der Geist geht ewig aus Vater und
Sohn hervor.
2. Geschichtliche Sphäre der göttlichen Sendungen (missiones):
Der Vater sendet [[@Page:292]]den Sohn in die Welt. Vater und Sohn
entsenden beide den Heiligen Geist.
3. Hermeneutische Sphäre der menschlichen Einsicht (intellectus):
Im Evangelium offenbart sich der höhere Sinn des Alten Testamentes.
Aus dem Buchstaben des Alten und Neuen Testamentes geht der
geistliche Sinn hervor.
4. Soziale Sphäre (ordines): Aus der Synagoge der Laien geht die
Klerikerkirche Christi hervor. Aus Laien und Klerikern geht der
Mönchsstand hervor.
Die Vorgänge in der sozialen Sphäre lassen sich anhand der
Aufzeichnungen in der Bibel und den Chroniken sowie an den
Ereignissen der Gegenwart empirisch überprüfen. Hier aber zeigt sich
der große Schwachpunkt in Joachims kontemplativer Wissenschaft.
Weil er der Empirie einen derart niedrigen Rang zuweist, muß er alle
geschichtliche Erfahrung seinen Einsichten in die höheren Sphären
1
Psalt. II, fol.245ra-va; vgl. 246ra; 250rb; 251vb-252ra.
348 ABBILDUNGEN

unterordnen. Sein Bewußtsein ist geprägt von der Schau der


gottgewollten Ordnung, so daß seine Wahrnehmung der
gegenwärtigen Kirche demgegenüber nur zur Erfahrung von
Unordnung führen kann. Da sich aber Gottes Willen in der Welt
durchsetzten wird, deutet Joachim alle Erfahrungen entweder als
Zeichen rückwärtsgewandter Bestrebungen oder als Zeichen für den
großen Fortschrittsprozeß, der alle gegenläufigen Tendenzen
überwinden wird. Nur so läßt sich die Spannung zwischen
kontemplativer und historischer Erfahrung lösen: Die Antizipation der
künftigen Kirche versöhnt Joachim mit der jetzigen. Dies ist der
Grund, warum er entscheidende soziale und politische Entwicklungen
seiner Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, die ihn an seiner
Zukunftsschau hätten zweifeln lassen müssen.
Andererseits ist die Abwertung der Empirie die Voraussetzung
dafür, daß die Rede von der Verbesserung und Vollendung der
Menschheit überhaupt erst möglich wird.1 Vom Fortschritt der
Menschheit kann nur gesprochen werden, wenn vom Empirischen
abgesehen wird, denn die Menschheit ist keine geschichtlich-konkrete
Gesellschaft und kein Gegenstand empirischer Wahrnehmung.
Joachim glaubt zu erkennen, daß sich in der geschichtlichen Welt
erfüllt (compleri/consumari), was sich aus seiner geistbegabten
Exegese ergibt.2 Wenn etwa der armenische Klerus neuerdings
liturgische Gemeinschaft mit der römischen Katholizität sucht, dann
muß man darin die ersten Tendenzen [[@Page:293]]der östlichen
Kirchen erkennen, demnächst der Westkirche beizutreten.3
Ein anderes Problem gilt es noch zu klären: Wie überhaupt kann
Joachim über das Wissen im dritten Status sprechen, das doch
zukünftig ist? Wenn das Mönchtum der Stand ist, der in besonderer
1
Demgegenüber schreibt Christian Meier über den antiken Fortschrittsbegriff:
„Es werden mehr die Dinge, die sich verändern, als die Veränderung
wahrgenommen. Man findet in der Zeit keine einheitliche Richtung zu
Besseren. […] ‚Fortschritt‘ bleibt eine rein deskriptive, sachgebundene
Feststellung. Alle Fortschrittswahrnehmung bleibt eng an die Empirie in einer
nur beschränkt sich wandelnden Gesellschaft gebunden und bezieht sich in der
Regel mehr auf Vergangenheit und Gegenwart als auf Zukunft.“ Meier 1975,
S.354.
2
Zwei Beispiele für solche Aussagen: „Quod autem unigenitus dei baptizatus
abiit in desertum, nec simpliciter, sed expulsus a spiritu, qui et descenderet
super eum in specie columbe: quid aliud significat quam id, quod in dei populo
compleri videmus?“ Conc. V,87, fol.106va. „At quod ‚non multis diebus’ dicitur
habitasse in Capharnaum et abisse postea in terram Iuda, ibique plures discipu-
los fecisse legitur quam Iohannes, id profecto designasse cognoscitur, quod ipsi
hodie completum videmus, videlicet quod Spiritus sanctus, qui a principio op-
eratus est in orientali ecclesia, hoc est in illis partibus que adiacentes sunt terre
Iudeorum, processu temporis, hoc est a tempore Constantini, inventus est mani-
feste operans in ecclesia latina, faciens in ea plures discipulos spiritales.“ Tract.
I,9, Santi 212,8-17; Joh 3,22; 4,1.
3
Tract. III,17, Santi 313,20-25.
349 ABBILDUNGEN

Weise von der Offenbarung des Heiligen Geistes geformt wird,


warum gibt es die Mönche schon lange vor dem dritten Status? Nun,
zunächst unterliegt Joachims Drei-Status-Lehre keinem so starren
Schema, wie dies bisher den Anschein haben mag. Gewiß, die Status
folgen aufeinander, doch sie sind nicht strikt voneinander abgegrenzt.
Der erste Status beginnt zwar mit Abraham, aber schon vor ihm tut
sich Gott einigen Auserwählten kund. Joachim spricht von einer
Initiationzeit (tempus initialium/initiatio), die jeweils der Blütezeit
(fructificatio/clarificatio) eines Status vorangeht. In der
gesellschaftlichen Sphäre wird dies daran sichtbar, daß alle drei
Stände zwar je einen Status dominieren, aber bereits vorher ihren
geschichtlichen Anfang haben. In diesem Sinn beginnt die
Initiationszeit des ersten Status mit Adam, dem ersten Laien, und die
Initiationszeit des zweiten Status mit König Usija, der – wie schon
gesehen – das Königpriestertum Christi und die Priesterherrschaft des
Klerus vorwegnimmt. Der dritte Status nimmt seinen Anfang in
Benedikt, dem wahren Begründer des abendländischen Mönchtums. 1
Nun ist es aber so, daß ausnahmslos alles, was Joachim über das
innergöttliche Leben der drei Personen zu erkennen glaubte, sich auch
in der Selbstoffenbarung der Gottheit und der von ihr geformten
Sozialordnung manifestieren muß. Da der Sohn aus dem Vater
hervorgeht, hat der nach ihm geformte Klerikerstand seine
Initiationszeit im ersten Status des Vaters. Der Geist aber geht aus
Vater und Sohn hervor, weshalb der Mönchstand zwei geschichtliche
Anfänge haben muß. Und tatsächlich, schon zu alttestamentlichen
Zeiten wird der Prophet Elija zum Urbild des Anachoreten und
Elischa begründet mit seinen Schülern das Koinobitentum. 2 Das von
der Ostkirche abgelehnte „Filioque“, also der Zusatz zum nizänischen
Glaubensbekenntnis, wonach der Geist aus Vater und Sohn (filioque)
hervorgeht, ist für Joachim keine trinitätstheologische Bagatelle, die
der ökumenischen Einheit geopfert werden könnte, sondern bedeutet
die Grundlage seiner Existenz.3 Der Geist, insofern er aus dem Vater
hervorgeht, wirkt in den Propheten; der Geist aber, insofern er aus
dem Sohn hervorgeht und einer Elite mitgeteilt wird, vermittelt das
Offenbarungswissen, das es den mönchischen Geistmännern erlaubt,
schon im zweiten Status die Erkenntnis und die Ordnungsform des
1
„Et primus quidem status qui claruit sub lege et circumcisione initiatus est ab
adam. Secundus qui claruit sub evangelio initiatus est ab Ozia. Tertius quantum
datur intelligi ex numero generationum, a tempore sancti Benedicti cuius pre-
cellens claritas expectanda est circa finem […].“ Exp. Intr., fol.5rb. Vgl. Conc.
IIa,4-5, fol.8rb, Daniel 66,16-67,28; Conc. V,10, fol.65va.
2
Conc. IIa,8, fol.9rb-va, Daniel 74, 5-12 und 75,34-39; Conc. IIa,9, fol.9vb-10ra,
Daniel 77,1-8; u.ö.
3
Vgl. Wendelborn, Gert: Gott und Geschichte: Joachim von Fiore und die
Hoffnung der Christenheit. Wien und Köln: Hermann Böhlaus Nachf., 1974,
S.28.
350 ABBILDUNGEN

Geistzeitalters vorwegzunehmen.1 [[@Page:294]]


Bei Paulus bezeichnete das Symbol der geistlichen Erstlingsgabe
(primitiae spiritus) das proleptische Wissen, das auf die jenseitige
Erlösung verweist.2 Joachims Umdeutung zufolge bilden die Apostel,
die die Erstlingsgabe zuerst erhielten, nur den Anfang einer elitären
Sukzession, die über die Kirchenlehrer bis zu den Kontemplativen der
Gegenwart reicht, und in der das proleptische Wissen ständig
zunimmt.3 In diesem Sinne sei der Mönchsstand schon von den
Aposteln begründet worden, auch wenn er in der nachapostolischen
Zeit eine vorübergehende Schwächephase durchlitten habe.4 Die
Erstlingsgabe des Geistes, die innerhalb der asketisch-kontemplativen
Lebensformen weitergegeben wird, bedeutet aber nunmehr nicht mehr
nur die Vorwegnahme der jenseitigen Vollendung, sondern auch die
Vorwegnahme der Geistausgießung im dritten Status.5 Mit anderen
Worten: Joachim ist der Begründer der avantgardistischen
Lebensform. Seine Theorie des sukzessiven Offenbarungswissens
erlaubt zum ersten Mal die Existenz einer intellektuellen Elite, die der
Menschheit voranmarschiert und schon zu verwirklichen beginnt, was
künftig allgemein anerkannt sein wird.6 Es ist nicht weiter
1
Conc. IIIa,9, fol.29rb, Daniel 232,307-309. Joachim kann die Sache aber auch
anders drehen: Im Mönchtum des zweiten Status wirkt der Geist des Vaters,
wogegen der Geist des Sohnes den novus ordo des dritten Status konstituiert.
Psalt. II, fol.253va.
2
Röm 8,23.
3
Exp. II, fol.107vb; Conc. IIIa,8, fol.29ra, Daniel 320,266-231,271.
4
Conc. V,89, fol.118ra-rb.
5
„Quid vero des Spiritu sancto? ‚Multa‘, inquit; ‚habeo vobis dicere; sed non
potestis portare modo. Cum autem vernerit ille Spiritus veritatis, docebit vos
omnem veritatem.‘ Hoc promissum perpaucis completum est, hoc est, apostolis,
licet legamus apostolum dicentem: ‚Ex parte cognoscimus, et ex parte prophe-
tamus; cum autem venerit quod perfectum est, evacuabitur quod ex parte est.‘
Restat ergo ut sacramentum istud taliter completum esse dicamus, ut tamen Pa-
schae quo datum est primo apostolis munus illud, tempus tertii status accipia-
mus in quo accepturi sumus plenius ad contemplandum, quod ad bene operan-
dum hactenus accepisse videmur, gratia bonis data per gratia.“ Ench., Burger
48,1280-1289. „Quae quidem in secundo statu vix in paucis hominibus occulte
operata est, in tertio sollemniter et aperte revelanda est […].“ Ench., Burger
43,1130f. Vgl. Tract. I,6, Santi 103,14-19; Ench., Burger 72,2054-2057; Exp.
Intr., fol.17va.
6
„[…] in exordio tertii dicenda est terra illa pars ecclesie, que sapit terrena, ce-
lum autem pars illa, que sectatur celestia, et hoc ipsum sub hoc tempore secundi
status, prius, quam populus ille spiritalis, qui futurus est in tertio statu, disting-
uatur per tempora in generationibus suis.“ Conc. V,21, fol.70 va-vb. Majorie
Reeves schreibt über die joachitischen Bewegungen: „Whether the new age
was conceived in terms of a Second Advent or an Age of the Spirit, the dy-
namic quality of the conception lay in the belief, received from Joachim, that a
new illumination had been given to the viri spirituales. They were brought up
into the high mountain and shown both the Promised Land and the crossing of
Jordan which must first be accomplished. Then they saw their own calling: on
351 ABBILDUNGEN

verwunderlich, wenn selbst Künstler wie Wassily Kandinsky ihr


Selbstverständnis in joachimischer Symbolik beschrieben.1
[[@Page:295]]Die Einblicke in den dritten Status erfordern, daß
Joachim sein exegetisches Grundkonzept neu überarbeitet. Im ersten
Buch des Psalterium blieb die Frage noch ungelöst, wie sich das
Prinzip der concordia mit den neuen trinitätstheologischen Einsichten
verbinden läßt, doch nach dem Ostererlebnis und der „Entdeckung“
des dritten Status ist die Sache klar: Das binäre Prinzip muß zu einer
dreifachen Konkordanz (trina concordia) erweitert werden.2 Damit
aber erschließen sich Joachim völlig neue prophetische
Möglichkeiten. Denn wenn die drei göttlichen Personen trotz ihrer
the one hand to embody the true spiritual life of the future and, on the other, to
lead the world towards it.“ Reeves 1976, S.58.
1
Wassily Kandinsky wollte mit seiner abstrakten Malerei das visionär
geschaute „Drittes Reich des Heiligen Geistes“ verkünden, in dem sich alle
Künste zur monumentalen Gesamtkunst vereinen sollten, um durch seelische
Eindrücke das menschliche Wesen zu verbessern und die vollendete
Gesellschaft herzustellen. Kandinskys Visionsbericht lautet folgendermaßen:
„Heute ist der große Tag einer der Offenbarungen dieses Reiches. Die
Zusammenhänge dieser einzelnen Reiche wurden wie durch einen Blitz
beleuchtet; sie traten unerwartet, erschreckend und beglückend aus der
Finsternis. Nie waren sie so stark miteinander verbunden und nie so stark
miteinander abgegrenzt. Dieser Blitz ist das Kind der Verdüsterung des
geistigen Himmels, der schwarz, erstickend und tot über uns hing. Hier fängt
die große Epoche des Geistigen an, die Offenbarung des Geistes. Vater – Sohn
– Geist.“ Kandinsky, Wassily: Rückblick. Baden-Baden: Klein 1955, S.29. Die
Gesellschaftslehre Kandinskys findet sich in: Kandinsky, Wassily: Über das
Geistige in der Kunst. Bern: Benteli, 101975, v.a. S.29ff. In einem Gespräch mit
Lothar Schreyer aktualisierte Kandinsky das Selbstverständnis Joachims von
Fiore. Er gab sich als charismatischer Prophet der Geistkirche zu erkennen,
dessen Verkündigung durch abstrakte Malerei geschehe: „[…] Christus hat uns
ausdrücklich den Heiligen Geist hinterlassen und gesandt, den Heiligen Geist
als die dritte Person der Gottheit. Bisher haben wir über die Lehre der
Nachfolge Christi die Lehre vom Heiligen Geist vernachlässigt. Das rächt sich
so deutlich, daß wir sozusagen von allen guten Geistern verlassen sind, im
Leben wie in der Kunst. Kurz gesagt: Die Kirche Christi muß und wird sich
erneuern aus der Kraft des Heiligen Geistes. […] Ich sehe das Reich des
Geistes im Lichte heraufziehen und will es, soweit ich es mit meiner Kunst
vermag, verkünden. Darum male ich keine Christusbilder, male nicht den
Menschensohn, der menschlich darstellbar ist. Der Heilige Geist ist nicht
gegenständlich zu erfassen, sondern nur ungegenständlich. Das ist mein Ziel:
Licht vom Lichte, das fließende Licht der Gottheit, den Heiligen Geist zu
verkünden.“ Zit. Schreyer, Lothar: Erinnerungen an Sturm und Bauhaus.
München: Langen & Müller, 1956, S.235. Vgl. meinen Aufsatz: „Avanguardia
e Apocalisse: la simbolica politica negli scritti di Wassily Kandinsky“, in:
Davar 2 (2004)(im Erscheinen).
2
„Invenimus (enim) tribus statibus magna quedam opera Domini distincta
proprietatibus suis, in quibus trinam concordiam assignari oporteat salvo
intellectu superiori, et prima illa assignatione quae duo velut ex aequo
Testamenta concordat […].“ Ench., Burger 32,768-771.
352 ABBILDUNGEN

Eigentümlichkeiten wesensgleich sind, dann muß das auch für die drei
Status gelten.1 Das heißt, obgleich der dritte Status aufgrund der
Generationenverkürzung eher kurz ausfallen wird, muß sich
prinzipiell die Geschichte noch einmal wiederholen. Zwar gibt sich
Joachim bescheiden und verweist darauf, daß erst die Zukunft die
volle Einsicht in die Geschichte des Geistzeitalters bringen wird, aber
gewisse Grundstrukturen glaubt er durchaus zu erkennen.
So kennt das Gottesvolk in jedem Status einen Lehrer, der größer
ist als alle anderen (summus magister). Im ersten Status ist es Mose,
im zweiten Paulus, und wer es im dritten sein wird, ist noch nicht
sichtbar (in tertio quis erit nondum manifeste cognoscitur).2 Ein
anderes Beispiel: Wie zu Beginn des ersten Status zwölf Patriarchen
stehen, die die zwölf Stämme des Laienvolkes Israel begründen, so
sendet Christus zwölf Apostel aus, um die zwölf Ursprungskirchen zu
gründen. Ebenso werden am Anfang des dritten Status zwölf
monastische Gründer zwölf Klöster gründen, die den Grundstein für
die [[@Page:296]]monastische Gesellschaft der Endzeit legen.3
Es können an dieser Stelle nicht alle Aspekte der Drei-Status-
Lehre berücksichtigt werden, aber unter politischen Gesichtspunkten
verdienen einige von ihnen gesonderte Betrachtung.

7. Notwendigkeit und Freiheit


Im Hebräerbrief ist davon die Rede, daß das alte Gottesvolk Israel die
Wege des Herrn nicht verstanden hätte und aufgrund seines
Ungehorsams nicht zur Ruhe kommen konnte.4 Dem neuen
Gottesvolk der Kirche aber wird verheißen, daß es bei guter Führung
in den Genuß einer Sabbatruhe kommen könne, wie ja auch der Herr
am siebten Tag von seinem Schöpfungswerk geruht habe.5 Joachim
bezieht diesen Sabbat des Gottesvolkes auf den dritten Status. Die
ersten beiden Status seien von labor geprägt, was man wohl am besten
mit „Mühsal“ wiedergibt, da der Begriff sowohl Arbeit als auch Leid
umfaßt. Im ersten Status unterliegt das Gottesvolk den Mühen, die
ihm von den Weisungen des Gesetzes (labor legalium perceptorum)

1
„Etenim quia alia est persona Patris, alia Filii, alia Spiritus Sancti, et tamen
similis est persona Filii persone Patris, similis persona Spiritus Sanctui personis
Patris et Filii, oportebat, esse aliqua opera, que proprietate similitudinis
pertinent ad personam patris; aliqua que pertinerent ad personam Filii; aliqua
que pertinerent ad personam Spiritus Sancti; et in eis omnibus concordie.“
Conc. IV,1, fol.42va-vb, Daniel 316,65-70.
2
Vita Ben. 11, Baraut 29,25-28.
3
Conc. IV,36f., fol.57vb-58vb, Daniel 411,70-415,154.
4
[[Hebr 3,10f.-19 >> Bible:Heb 3,10-19]].
5
[[Hebr 4,1-10 >> Bible:Heb 4,1-10]].
353 ABBILDUNGEN

aufgetragen sind und im zweiten Status muß – wie schon gesehen –


das corpus Christi den Leidensweg seines Hauptes (labor passionis)
geschichtlich nachvollziehen.1 Im dritten Status aber wird das
geistliche Verständnis die Knechtschaft unter dem Buchstaben des
Gesetzes ebenso wie die Zucht (labor discipline) des Evangeliums
endgültig überwinden.2 Mit der Feindseligkeit der weltlichen
Herrscher geht auch die Passion der Kirche zu Ende, und es bricht der
Sabbat an, in dem das Gottesvolk keiner Notwendigkeit (necessitas)
mehr unterliegt, sondern die Freiheit der Kontemplation (libertas
contemplationis) genießt. Noch mehr gilt das für den Mönchsstand,
der im dritten Status endlich den Notwendigkeiten der Seelsorge und
der Subsistenzsicherung enthoben sein wird. „Denn wo der Geist
selbst Lehrer ist, welche Notwendigkeit menschlicher Arbeit könnte
es dort noch geben“ (Ubi enim Spiritus sanctus magister erit, quae
necessitas humani laboris)?3
Hierzu gibt es eine interessante Parallele im Werk von Karl
Marx. Zwar ist es äußerst unwahrscheinlich, daß Marx viel über die
Lehren Joachims wußte – anders als Friedrich Engels erwähnt er ihn
nicht einmal; aber es läßt sich zeigen, daß sein Werk von
zivilisatorischen Sinnlinien geprägt ist, die schon im Hebräerbrief und
dann bei Joachim von Fiore sichtbar werden.4 Im Entwurf zum dritten
Buch des Kapital heißt es: [[@Page:297]]
Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das
Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt
ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der
Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde
mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen,
um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der
Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und
unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner
Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit,
weil die Bedürfnisse [sic]; aber zugleich erweitern sich die
Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem
Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete
Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren
1
„[…] et scimus quia primus ordo, qui institutus est primo, uocatus est ad la-
borem legalium preceptorum: secundus, qui institutus est in secundo, uocatus
est ad laborem passionis; tertius, qui procedit ex utroque, electus est ad liber-
tatem contemplationis, scriptura attestante que dicit: ‚Vbi spiritus domini, ibi
libertas.‘“ Conc. IIb,4, fol.20ra, Daniel 151,5-9; 2 Kor 3,17.
2
„Pater siquidem imposuit laborem legis, quia timor ist. Filius imposuit la-
borem discipline, quia sapientia est. Spiritus Sanctus exhibet libertatem, quia
amor est. Vbi enim timor, ibi seruitus. Et ubi magisterium, ibi disciplina. Et ubi
amor, ibi libertas.“ Conc. IIb,5, fol.20vb, Daniel 256,7-10.
3
Ench., Burger 32,732.
4
Vgl. Passmore, John: The Perfectibility of Man. Indianapolis: Liberty Fund,
3
2000, S.332-377.
354 ABBILDUNGEN

Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre


gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer
blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten
Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur
würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es
bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits
desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich
als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur
auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen
kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung. 1
Es zeigen sich erstaunliche Ähnlichkeiten. Marx spricht von drei
Epochen der Menschheitsentwicklung, dem Reich der Wilden, dem
Reich der Zivilisation und dem Reich der Freiheit. Die beiden ersten
Epochen werden wie bei Joachim zum Reich der Notwendigkeit
zusammengefaßt, die dritte liegt zwar „jenseits“ der Notwendigkeit,
ist aber von dieser Welt. Ähnlich wie bei Joachim tritt die Gesellschaft
erst dann in das Stadium der Freiheit ein, wenn die äußeren
Widersacher einer freien und universalen Gesellschaft beseitigt sind,
das Kapital und bekanntlich auch der Staat. Erst in diesem dritten
Stadium des Weltsabbats wird das Leben des Menschen seiner Natur
vollständig gerecht. Freilich ist es bei Marx nicht der Heilige Geist,
der den Menschen aus dem Reich der Notwendigkeit führt; die
Menschheit muß ihr Geschick selbst in die Hand nehmen, die
Widersacher beseitigen und sich sukzessive von Arbeit befreien. Und
über diesen fundamentalen Unterschied zwischen Joachim von Fiore
und neueren Fortschrittstheoretikern kann nicht hinweggesehen
werden. Aber vielleicht kann ja die aus langer Tradition herrührende
eschatologische Dimension der Arbeitszeitverkürzung, auf die Marx
in den beiden letzten Sätzen des Zitats zu sprechen kommt, einige
Verhärtungen vergangener Arbeitskämpfe erklären helfen.2

8. Die Geschichte der Völker


Wenn bisher kaum zwischen Gottesvolk und Menschheit
unterschieden wurde, so entspricht dies Joachims eigener
Sprechweise. Denn im Gottesvolk, also zuerst in der Synagoge der
Juden und dann in der Kirche Christi, vollzieht sich repräsentativ der

1
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Buch III: Der
Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (= MEW Bd.25). Berlin: Dietz,
1964, S.828 (Abschn. VII, Kap. 48). Hervorh. d. Verf.
2
Übrigens hat die Arbeitssoziologie Joachim von Fiore in diesem Sinne bereits
entdeckt. Vgl. Negt, Oskar: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und
kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt und New
York: Campus, 1984, S.198.
355 ABBILDUNGEN

[[@Page:298]]Fortschritt der gesamten Menschheit, bis schließlich im


dritten Status Gottesvolk und Menschheit identisch werden.
Gleichwohl hat Joachim einiges über diese Geschichte der Völker zu
sagen, die letztlich in die große ökumenische Vereinigung führt.
Am Anfang bildet die Menschheit eine einzige monolinguale, aber
amorphe Masse. Als solche ist sie Abbild ihrer diffusen Vorstellung
von der Gottheit, die sich noch in keiner ihrer Personen zu erkennen
gegeben hat.1 Bekanntermaßen ließ der Herr dieses verdorbene
Menschengeschlecht in der Sintflut untergehen, lediglich einige
Gerechte durften auf der Arche Noachs entkommen. Nach biblischem
Bericht gehen aus den drei Noachssöhnen die Völker der Erde hervor
– ein Mythologem, das verständlicherweise lange als Ausgangspunkt
aller christlichen Überlegungen zur Pluralität der Völker galt und noch
in Vicos Neuer Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt.2 Nach
Joachim gibt es im Grunde nur zwei große Völker auf dieser Erde, die
Juden, die aus Sem hervorgehen und die Heiden, die von Jafet
abstammen. In ihnen wirkt die Gnade Gottes den Fortschritt der
Menschheit, während Ham, der schon bald seine fleischliche
Orientierung zu erkennen gibt und vom Vater verflucht wird,3 zum
Stammvater aller Rückschrittschlichen wird.4 Das Weitere ist nichts
anderes als eine Umdeutung des Römerbriefes nach Maßgabe der
Drei-Status-Lehre: Die Juden sind das Gottesvolk, das im ersten
Status erblüht; doch sie verspielen ihren Gnadenstand, als sie
mehrheitlich das Evangelium Christi ablehnen.5 Die Gnade geht über
auf die Heiden und wirkt in ihnen während des gesamten zweiten
Status. Am Ende aber muß der Zweig der Juden dem Baum der
Erwählung wieder eingepfropft werden und beide Völker erblühen
gleichzeitig in der Verherrlichung ihres Schöpfers. In Rom wird man
die geistliche Hochzeit der beiden Völker feiern.6 Eine der Figuren des
Liber Figurarum zeigt dieses einfache Schema 7
1
Ench., Burger 23,464-468.
2
Gen 9,18ff. Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft über die
gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausg. von 1744 übers. und
eingel. von Erich Auerbach. Berlin und New York: de Gruyter, 22000, S.52, 92,
149f.
3
Gen 9,22-25.
4
„Cum igitur Noe quingentorum esset annorum, genuit Sem, Cham et Iaphet,
quia completis quinque etatibus mundi genuit Christus in fide discipulos ex
Iudeis qui steterunt in fide, alios qui post fidem abierunt retrorsum, alios qui ad
extremum crediderunt ex gentibus. nam stante ordine apostolico, designato in
Sem in fide Christi, nonnulli, quorum typum tenuit Cham, reversi sunt retro, et
prolapsi sunt, quia pensantes infirma Christi infirmati sunt fide, et quod in ipso
debuerunt fideliter ammirari, obedientes fidelibus irriserunt.“ Conc. V,31,
fol.73va; vgl. Conc. V,92, fol.121ra-rb; Psalt. II, fol.273ra.
5
Conc. V,45, fol.80vb-81ra.
6
Conc. V,88, fol.117ra.
7
Lib. Fig., tav.XXII.
356 ABBILDUNGEN

Doch in anderen Werken hat Joachim die Sache etwas deutlicher


ausgeführt und gleichsam eine heilsgeschichtliche Topographie
entworfen, die den geographischen Weg der Gnade nachzeichnet. Die
Richtung ist klar: Der Geist weht westwärts. Die Gnade des Herrn
geht von Israel zunächst auf die orientalische Kirche über. Dort sind
ihre Wirkungen in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten am
deutlichsten zu sehen, [[@Page:299]]zumal in den Anfängen des
Mönchtums.1 Während Joachim auf das griechische Mönchtum, das er
nicht nur von seiner Pilgerreise, sondern auch aus seiner
kalabresischen Heimat kennt, immer große Stücke hält, geht er mit der
griechischen Amtskirche hart ins Gericht. Sie hätte durch ihre
rückständigen Judaismen ihr Vorrecht eingebüßt, vor allem durch ihr
Festhalten an der Priesterehe.2 Daher sei ihnen die Gnade entzogen
und den Lateinern übergeben worden (gratia sublata est et data
Latinis), die fortan das Gottesvolk anführen sollten.3
Im dritten Status allerdings müsse die Wahrheit den umgekehrten
Weg von West nach Ost gehen und zu ihrem Ausgangspunkt
zurückkehren (perveniet ad Orientalem ecclesiam et ad populum unde
egressa est).4 Nachdem die Gnade noch einmal nach Gallien
abgebogen sei, um das kontemplative Mönchtum der Zisterzienser
hervorzubringen, müsse sie sich nun auf den Rückweg machen. 5 An
der Epochenwende würden die Geistmänner ausschwärmen und die
Griechen zurück unter die Fittiche Roms holen (Greci colligentur ad
unitatem ecclesie).6 Ebenso würden sie zu den Juden gehen, um die
Prophezeiung des Paulus zu erfüllen.7 Der exhortative und weniger
verurteilende Charakter von Joachims Adversus Judaeos ist genau in
diesem Sinne zu verstehen: Die allgemeine Judenbekehrung des
dritten Status muß bald sichtbar werden; und in der Tat glaubt
1
Conc. V,69, fol.98ra; Exp. Intr., fol.19va-vb.
2
Conc. V,47, fol.81ra; Conc. V,70, fol.98rb-va.
3
Exp. I, fol.63rb.
4
Tract. III,16, Santi 308,21f. „[…] dum sermo dei qui egressus est ab Hebreis,
qui erant in oriente, et transiens per Grecos venit ad occiduas partes mundi, rur-
sum per viros spiritales revertitur ad populum, unde egressus est […].“ Conc.
V,50, fol.85ra.
5
„Utique et ad Grecos redire oportet gratia, et hoc in proximo, a quibus venit ad
nos, et similiter ad Ytaliam, de qua derivata est ad Gallos […].“ Vita Ben. 8,
Baraut 24,13-15.
6
Conc. V,51, fol.85rb.
7
„Facta autem die, ibat in desertum locum et turbe requirebant eum. Et detine-
bant eum, ne discederet ab eis. ,Facta die‘, iturus Dominus ad ,desertum lo-
cum‘, quia post magnam tribulationem, que ventura est super terram, egredietur
spiritalis predicatio ab Ecclesia, et perveniet ad desertum hactenus populum Iu-
deorum; ,turbe‘ autem ,requirent eum et detinebunt, ne discedat ab eis‘, quia
converse ad Dominum reliquie in veritate ita adiungentur viris spiritalibus, ut
non se aliquo modo patiantur defraudari societate eorum, diligentes mandata
Domini sibi delegata per eos super aurum et topazion.“ Tract. II,11 Santi 237,5-
14; Lk 4,42.
357 ABBILDUNGEN

Joachim in dem bekannten Konvertiten Petrus Alphonsi schon einen


ersten Vorläufer (precursor populi sui qui cito est a Domino a cecitate
curandus) zu erkennen.1
Eine schwierige Frage ist, ob Joachim der Meinung ist, daß
tatsächlich die ganze Menschheit an den endzeitlichen
Bekehrungsprozessen teilhat. Auch hier stehen sich die apokalyptische
Ansicht, wonach nur ein Rest von Gerechten gerettet wird, und die
hellenistisch-monastische Vorstellung einer apokatastasis panton
gegenüber. Joachims Aussagen darüber sind nicht völlig konsistent,
lassen sich aber ungefähr wie folgt zusammenfassen: In den Wirren
der Gegenwart, die bereits ein erstes kleines Weltgericht bedeuten, gilt
es, sich zur Kirche zu flüchten. Das heißt nicht, daß der formale Akt
der Wassertaufe genügt, um gerettet zu werden,2 denn alles nominelle
Christentum wird [[@Page:300]]mitsamt seinen falschen Priestern in
den kommenden Drangsalen untergehen.3
Wie schon gesehen, unterteilt Joachim das sechste Weltalter
(etas), das mit dem zweiten Status identisch ist, in sechs Zeiten
(tempora). Die siebte Zeit ist kongruent mit dem siebten Zeitalter und
dem dritten Status. Wie nun Israel in der Wüste aufgefordert wurde,
am sechsten Wochentag die doppelte Menge an Manna zu sammeln,
damit es am Sabbat ruhen konnte, so muß das neue Gottesvolk in der
sechsten Zeit die doppelte Mühsal ertragen, um am Weltsabbat die
vollendete Ruhe genießen zu können.4 Das heißt, die gegenwärtige
Verfolgung der Kirche geschieht durch zwei Widersacher, die
Joachim ganz konkret identifiziert. Als erste Drangsal erwartet
Joachim eine islamische Großoffensive unter dem „sechsten
Antichrist“ Saladin, die sich in der Ausbreitung des Islam in West und
Ost sowie in der Eroberung Jerusalems schon abzeichnet. 5 Die zweite
Drangsal kommt aus dem Inneren der Kirche und besteht in der
Häretikerflut, die in der Gegenwart alles bisher Dagewesene
übertrifft.6 Joachim vergleicht Gott mit einem Schausteller auf dem
Markt, der nach Beute gierende Löwen oder Bären an seiner Kette
hält. Die Menschen gehen vorüber, schaudern ein wenig, glauben sich
aber in Sicherheit. Doch wehe, der Herr läßt die Ketten los! Die Sekte
des Mohammed wird demnächst über die Kirche herfallen, und die

1
Exp. I, fol.36vb.
2
Conc. IIa,2, fol.7vb, Daniel 63,37-45.
3
Vita Ben. 41, Baraut 78,36-38.
4
Ench., Burger 31,735-32,753; vgl. Ex 16,22-30.
5
„Quasi ergo sepe scriptus populus alas suas extendit ad uolandum, implens
latidudinem terre Christi; quia, egressus a locis suis uersus orientem et
occidentem, dilatatus est in robore sua. Cum prophetia ipsa, cuius tam sunt
clara mysteria necdum secundum totum uideatur esse completa, complebitur
autem sub sexta apertione, que sub quarta est, ut cernimus, inchoata.“ Conc.
IIIb,4, fol.40vb, Daniel 298,43-48. Vgl. Ench., Burger 62,1721-1732;
6
Exp. Intr., fol.24rb-va.
358 ABBILDUNGEN

Ketzer werden ihr folgen. Doch dies darf man sich nicht so sehr als
physischen Kampf vorstellen, denn, wie Joachim sagt, der Herr
schickt zur Strafe Babylons den Glaubensirrtum.1
Wenn also davon die Rede ist, daß die nicht innerlich Bekehrten
den Pseudopropheten zum Opfer fallen, so ist damit deren Bekehrung
zum Islam oder zum Ketzerglauben gemeint. Joachim zeigt an einer
Stelle deutlich, wie sehr die muslimische Herrschaft über Sizilien in
der Erinnerung der Süditaliener noch präsent ist und den Boden für
neue Ängste bereitet.2 Natürlich sind die „Sarazenen“ und die
Häretiker nur Werk[[@Page:301]]zeuge in der Hand des Herrn und
müssen im Übergang zum dritten Status unter dem Schwert Christi
fallen. Aber auch dies ist nicht als physischer Gewaltakt zu denken.
Die wahren Soldaten Christi kämpfen mit geistlichen Waffen, wer von
ihnen besiegt wird, bekehrt sich zu Christus.3 Ohnehin können
Muslime und Häretiker nur den lauen Christen etwas anhaben, nicht
aber denen, die sich unter der Obhut vollendeter Männer (viri perfecti)
zusammenschließen und in den Festungen der Geistkirche dem
Ansturm des Antichrist widerstehen.4 Angesichts der Unschuld und
Einfachheit dieser im Glaubenskampf gereinigten Kirche, werden die
islamischen Führer die Flucht ergreifen. Auf diese Weise wird im
Islam eine Trennung zwischen Haupt und Leib herbeigeführt, und der
Rumpf, der aus der Masse der Verführten besteht, wird sich angesichts
ihres strahlenden Sieges freiwillig der Geistkirche unterwerfen.5 Den
häretischen Bewegungen wird es nicht anders ergehen.
Joachim geht also trotz aller apokalyptischen
Vernichtungsrhetorik davon aus, daß die große Masse der Menschheit
gerettet wird. Die fremden Völker werden untergehen, weil sie die
Falschheit ihres Kultes erkennen, sich dem wahren Herrn unterwerfen
1
„Bestie et reptilia, que creavit deus sexto die, regna sunt paganorum et secte
pseudoprophetarum, que sexto tempore ecclesie, quod in ianuis est, atrocius
permittentur sevire contra ecclesiam propter peccata, dicente Apostolo: quia
caritatem veritatis non receperunt ut salvi fierent, mittet illis deus operationem
erroris ut credant mendatio et iudicentur omnes qui non crediderunt veritati, sed
consenserunt iniquitati. dominus inquit mittet illis operationem erroris, id est eo
permittente in ira sua, fiet malum istum propter peccata; quemadmodum si quis
ursum vel leonem volentem currere ad predam teneret alligatum catenis ferreis
clamaretque in circumstantibus, ut sibi caverent, qui tamen negligerent
semetipsos, et quod eo gravius est, viro tenenti bestiam contumeliam irrogarent,
aliaque multa mala incessanter committerent; ille quidem in ira sua alligatam
bestiam solveret contra malos, que tamen dimissa a viro, id faceret omnino
quod prius facere cupiebat. sic et bestie iste ex sua quidem voluntate parate sunt
nocere fidelibus, sed tamen non licet eis nisi cum iusto dei iuditio certis
temporibus permittuntur.“ Conc V,18, fol.69rb-va; 2 Thess 2,10-12.
2
Conc. IV,17, fol.53rb, Daniel 378,76-81.
3
Exp. Intr., fol.8va.
4
Conc. V,104, fol.124rb-va; Conc. IIb,10, fol.24vb, Daniel 196,17-23; Ench.,
Burger 62,1743-63,1761.
5
Vita Ben. 41, Baraut 79,57-77.
359 ABBILDUNGEN

und im Gottesvolk aufgehen.1 Gott kann ja auch gar nichts anderes


wollen, als seine Geschöpfe in möglichst großer Zahl seiner
himmlischen Ordnung zuzuführen.2 Und zudem hat er nach der
Sintflut zugesagt, daß er nicht mehr zum Mittel globaler Vernichtung
greifen werde. Nachdem Babylon und die Pseudopropheten, also
irdische Herrschaft, muslimischer und häretischer Glaube
untergegangen sind, wird der Weltsabbat für alle Menschen eintreten:
„Und die Sicherheit wird groß sein auf Erden,“ 3 bis am Ende die Welt
im Randvölkersturm versinkt. Denn wenn im dritten Status alles
Antichristliche besiegt oder zumindest an die Ränder der Erde
verdrängt ist, können alle [[@Page:302]]Übrigen nur gute Menschen
sein, denen die jenseitige Erlösung in Aussicht steht.4
Dies ist Joachims Botschaft an die Menschen: Jetzt gilt es, den
inneren Menschen zu bekehren, Kompromisse sind nicht mehr
gefragt. Jeder soll sich nach Kräften der monastischen Bewegung
anschließen, die die Geistkirche des dritten Status errichtet. Die
gereinigte Menschheit, die dort versammelt wird, darf auf die
Allerlösung hoffen.5

1
„Archa vero federis Domini, Ecclesia videlicet electorum, que erit in reliquiis
Domini, faciet iudicium in Dagon, et faciet stragem magnam populorum
multorum, nimirum quia multitudo maxima convertetur ad Dominum.“ Vita
Ben. 41, Baraut 78,51-79,54; vgl. 1 Sam 5.
2
„At quia non unius populi tantum miserertur Deus, set omnium, quantum in se
est, querit operari salutem, sequitur et dicit quia et aliis civitatibus oportet me
evangelizare, quia ideo missus sum, id est non solis his qui modo in fide sunt,
sed et Iudeis et barbaris et omnibus qui extra fidem sunt, ut convertantur ad
Dominum omnes fines terre. Conclusit enim Deus omnia in incredulitate, ut
omnium miseratur.“ Tract. II,11, Santi 237,15-21; Lk 4,43. Vgl. Conc. V,98,
fol.123va.
3
„Sexcentessimo quoque anno Noe, inundavit diluvium et perdidit omnem
carnem; inchoato septimo centenario, reddita est pax cunctis viventibus, que
archa servaverat, et pollicitus est Dominus servare de cetero pacem, nec tale
quid unquam facere cunctis diebus vite hominis super terram. Sextus
centenarius sextam etatem significat, que presens est, in cuius fine erumpet de
gentili feritate abyssi populorum ad degluciendas animas hominum, qui extra
spiritalem archam Noe reperientur; et iterum post dies illos, inchoata etate
septima, dabitur reliquiis que impleture sunt terram, sicut quondam reliquie
filiorum Noe, et usque ad adventu Gog, quem designat Nemroth qui auctor fuit,
ut dicitur, edificantium turrim et civitatem Babel, pax, et securitas magna erit in
terra.“ Vita Ben. 35, Baraut, 72,1-14; Gen 7,1; 8,21; 10,8-10; 11.
4
Conc V,53, fol.87ra.
5
Vgl. das oben schon angeführte Zitat aus Exp. VIII, fol.221rb: „[…] perficiatur
in septima [etate], quicquid minus erit in structura Hierusalem, et vocatione
universi populi, qui futurus est in ea […].“.
360 ABBILDUNGEN

9. Führer und Johanneskirche: Das


Papsttum in der Endzeit
Im vierten Buch des Liber Concordiae findet sich eine Stelle, die
vielfach Interesse hervorgerufen hat. Man glaubte in dem dort
erwähnten dux den Archetypen eines „Führers in das Dritte Reich“ zu
erblicken.1 Ein genaueres Hinsehen lohnt sich. Joachim spricht über
die Konkordanz zwischen der 42. Generation des Alten Testamentes
und der 42. Generation des Neuen Testamentes, die nach seinen
Berechnungen in naher Zukunft beginnen wird:
Serubbabel, der Sohn des Schealtiël, welcher gemäß der schon
dargelegten Logik der 42. nach Jakob ist, wurde nämlich in
Babylon geboren; aber dennoch wurde er nach Gottes Willen
zum Anführer (princeps) des Volkes. Und er zog mit vielen, die
ihm folgten, nach Jerusalem, um dem Herrn, seinem Gott, den
Tempel wiederzuerrichten, der zerstört worden war – so wie der
Prophet [Sacharja] über ihn sagte: „Serubbabels Hände haben
den Grund zu diesem Haus gelegt, und seine Hände werden es
vollenden (perficient), damit man erkennt, daß mich der Herr
der Heere zu euch gesandt hat.“ […].

In der Kirche wird die 42. Generation in dem Jahr oder zu der
Stunde beginnen, die der Herr besser kennt. In dieser
[Generation] wird, nachdem in der Generation zuvor eine
allgemeine Drangsal geschehen und der Weizen sorgsam von
aller Spreu gereinigt wird, jemand wie ein neuer Führer aus
Babylon hinaufziehen, nämlich ein universaler Papst des neuen
Jerusalem, das heißt der heiligen Mutter Kirche (ascendet quasi
nouus dux de Babilone, uniuersalis scilicet pontifex noue
Ierusalem, hoc est sancte matris ecclesie). Über dessen Typus
steht in der Apokalypse geschrieben: „Dann sah ich vom Osten
her einen anderen Engel emporsteigen; er hatte das Siegel des
lebendigen Gottes“; und bei ihm war der Rest der Vertriebenen.
Er zieht aber nicht zu Fuß [nach Jerusalem] hinauf oder im
Sinne eines Ortswechsels, sondern weil ihm die volle Freiheit
gegeben wird, die christliche Religion zu erneuern und das
Wort Gottes zu predigen (dabitur ei plena libertas ad
innouandam christianam religionem et ad predicandum uerbum
dei), während der Herr der Heere schon anfängt über die ganze
Erde zu herrschen.2
Soviel läßt sich also schon sagen: Der endzeitliche Führer, von dem
1
Dempf 1954, S.269ff.; Löwith 1990, S.141ff.; Voegelin 1991, S.164ff.; Cohn
1998, S.119ff.
2
Conc. IV,31, fol.56ra-rb, Daniel 401,1-7 und 402,1-9; Sach 4,9; Offb 7,2; vgl.
Esra 3; Hag 1,12-15.
361 ABBILDUNGEN

Joachim spricht, ist [[@Page:303]]ein Papst. 1 Er wird wie die Päpste


vor ihm seinen Sitz in Rom haben, denn sein Zug nach Jerusalem wird
nicht in einem Ortswechsel (immutatio locorum) bestehen. Vielmehr
wird er den apostolischen Stuhl besteigen, um die Kirche von Rom
aus zu erneuern und auf die gesamte Welt auszudehnen.2 Was Joachim
sonst noch zu sagen hat, stimmt mit den vorausgegangenen
Ergebnissen überein. Babylon, das heißt die irdische Herrschaft und
insbesondere das Stauferreich, wird untergehen. Die Laien, die sich
einst Babylon zugewandt hatten, werden sich wieder dem Volk Gottes
anschließen, das dann universal sein wird. Wie Serubbabels
Bemühungen um den Wiederaufbau des Tempels von heftigen
Angriffen der Feinde behindert wurden, so wird auch diese
Erneuerung unter einer Drangsal stattfinden, die weltweit die
Erwählten von der Spreu (ab uniuersiis zizaniis) trennt. Im
Benedikttraktat sieht es sogar so aus, als ob der Führerpapst und der
noch unbekannte siebte Antichrist, der alles Ketzer- und Heidentum
der Welt hinter sich versammelt, einen Endkampf um den
apostolischen Stuhl ausfechten werden.3
Natürlich müssen in Konkordanz zu Serubbabel der Führer und
sein Volk siegreich aus dieser totalen Auseinandersetzung
hervorgehen, nach der keine Konkurrenten um die Weltherrschaft
mehr übrig bleiben werden. Insofern er das „Siegel des lebendigen
Gottes“ trägt, wird der neue Führer als Repräsentant einer universalen
Theokratie den dritten Status einleiten.4 Damit spielt Joachim auf ein
messianisches Wort des Propheten Haggai an, das jener auf Geheiß
Gottes dem ersten Führer aus Babylon, Serubbabel, verkünden sollte:
Ich lasse den Himmel und die Erde erbeben. Ich stürze die
Throne der Könige und zerschlage alle Macht der Königreiche
der Völker. Ich stoße die Kriegswagen samt ihren Fahrern um,
die Pferde sinken samt ihren Reitern zu Boden, einer vom
Schwert des andern getroffen. An jenem Tag – Spruch des
Herrn der Heere – nehme ich dich, mein Knecht Serubbabel,
Sohn Schealtiëls, – Spruch des Herrn – und mache dich zu
meinem Siegelring; denn ich habe dich erwählt – Spruch des
1
„Quod si angelus iste romanus Pontifex intelligendus est, secundum quod et
velle videtur in spiritu ascensio illa Zorobabelis de Babylone, sub quo reedifi-
catum est templum domini, nihilominus tamen Christus est qui vincit et tri-
umphat in eo, maxime cum ipse solus principaliter teneat locum eius.“ Exp. I,
fol.120vb; vgl. Conc. V,103, fol.124ra.
2
„[…] per sex generationes et dimidiam sola Latina ecclesia Romanum
pontificem sequebatur, exinde autem universe ecclesie.“ Conc. V,61, fol.92va.
3
Vita Ben. 28, Baraut 60,15-61,30.
4
Die Zeit von Serubbabel bis zu Christus entspricht nach dem Prinzip der
Konkordanz der Sabbatzeit des dritten Status. Conc. IIa,24, fol.14 va, Daniel
113,5-9. Im Alten Testament bedeutet die entsprechende Phase insofern eine
Ruhezeit, als die biblischen Schriftsteller von ihrer Arbeit ruhten und keine
weiteren kanonischen Texte vorliegen. Conc. IIa,24, fol.14vb, Daniel 114,24-26.
362 ABBILDUNGEN

Herrn der Heere.1


Heißt dies also, daß der dritte Status ein erneuertes Papsttum
hervorbringen wird? Hier und andernorts sieht es so aus.2 Joachim
prophezeit, daß dank der weltweiten Predigt [[@Page:304]]der
Geistmänner die Menschheit bald als eine Herde unter einem Hirten
(pastor) zusammenfinden wird.3 Wie aber geht die Ankündigung eines
glorreichen Papsttums mit Joachims Erwartung zusammen, daß der
dritte Status ganz vom Mönchtum dominiert sein wird? Einige
Interpreten Joachims wollten darin einen Widerspruch erkennen und
bewerteten die Aussagen des Abtes als inkonsistent. 4 Im Grunde aber
ist die Lösung ganz einfach: Im dritten Status wird der Papst ein
Mönch sein. Dies ist aber weniger visionär, als es auf den ersten Blick
zu sein scheint, blickt man auf die Biographien einiger Päpste, die zu
Joachims Lebzeiten das Pontifikat innehatten. Eugen III. und Hadrian
IV. waren Äbte, Lucius II. und Gregor VIII. Regularkanoniker und
Lucius III. ein Gebetsbruder der Zisterzienser.5 Denkt man noch etwas
weiter zurück, so bekommt man all die Verbindungen zwischen den
Cluniaszensern und den Päpsten in den Blick, die für die
gregorianische Reformbewegung so bedeutend waren. Im Falle von
Kalixt II. fand gar die Papstwahl in Cluny statt.6
Die Konzeption des mönchischen Papsttums hat aber noch eine
andere Quelle: Bernhards von Clairvaux De consideratione ad
Eugenium papam, das einzige halbwegs zeitgenössische Werk, auf das
sich Joachim mehrfach explizit bezieht. Die Schrift wird für Joachim
in zweierlei Hinsicht paradigmatisch. Erstens als Papstspiegel, der
1
Hag 2,22f.
2
„Unde quia septima visio ad litteram in septimo tempore Testamenti veteris
consummata est, videtur quod in tempore septimo in Spiritu consummanda est,
ut quomodo post inclita illa Machabaeorum proelia de genere sacerdotali in
regni solium sublimatus est, vel potius Dei Filius qui rex est et pontifex in
aeternum, ita nunc quoque consummatis septem proliis quibus ecclesia instituta
est, novum Machabaeorum genus in Christo rege designatum regale obtineat
sacerdotium, de quo in libro isto scriptum est: Sacerdotes Dei sederunt, et reg-
naverunt cum Christo.“ Ench., Burger 21,415-422; vgl. Offb 20,6. Man
beachte, daß Joachim hier den chiliastischen locus classicus anführt, aber das
Millennium herausstreicht.
3
„Sane Iacob completo itinere venit ad patrem suum, quia completo itinere
sexti temporis sexte huius etatis, in quo et sextum signaculum aperitur, coni-
ungetur gentilis populus cum Hebreo, et fiet unum ovile et unus pastor. que
videlicet coniunctio recte viris spiritalibus attribuenda est, quia per illorum
predicationem Iudeos hactenus incredulos oportet accipere verbum vite.“ Conc.
V,52, fol.85va.
4
Grundmann 1966, S.116f.; Grundmann, Herbert: Neue Forschungen über
Joachim von Fiore. Münster: Simons, 1950, S.62f.; Lerner, Robert E.:
„Joachim of Fiore“, in: TRE 17 (1988), S.84-85, S.87.
5
Kelly, J.N.D.: The Oxford Dictionary of Popes. Oxford und New York: Ox-
ford University Press, 1986, S.172-182.
6
HbKG III/1, S.457.
363 ABBILDUNGEN

maßgebliche Grundsätze des monastischen Pontifikats enthält. Und


zweitens fasziniert Joachim die Tatsache, daß dieses Buch überhaupt
geschrieben wurde. Der Abt von Clairvaux gilt ihm als Musterbeispiel
des vir religiosus, der es wagt, mit den Päpsten in der Freiheit des
Geistes zu sprechen und sie wegen ihrer allzu weltlichen
Beschäftigungen zu ermahnen.1
Bernhard, der Prototyp des neuen kontemplativen Mönches, hatte
Bernardo Pignatelli im Kloster erzogen; und als aus seinem Schüler
Papst Eugen III. geworden war, [[@Page:305]]mahnte er ihn, seine
erste Berufung (prima professio) zum Mönchtum nicht zu vergessen. 2
Genauso stellt sich Joachim den künftigen Stellvertreter Christi vor:
Der Papst übt sein Pontifikat aus, wie es ihm vom kontemplativen
Mönchtum geraten wird. Joachims Wertschätzung für das Paar
Bernhard/Eugen ist so groß, daß ihn jede Kritik persönlich trifft, die
an den beiden wegen ihres katastrophal gescheiterten
Kreuzzugsprojekts geäußert wird. Am Ende geht die Identifikation mit
seinem Vorbild soweit, daß Joachim einfach Bernhard für sich
sprechen läßt und seine Kreuzzugsapologie wortwörtlich in das vierte
Buch des Liber Concordiae übernimmt.3
Im fünften Buch bemüht sich Joachim zu zeigen, daß die Päpste
das benediktinische Mönchtum schon immer gefördert und im Grunde
gegenüber dem Klerus bevorzugt hätten.4 Das monastische Papsttum
der Endzeit wird somit zum Endpunkt einer geschichtlichen
Entwicklung, die schon mit Gregor dem Großen und der Inkorporation
des Mönchtums in die westliche Kirche begonnen hat. 5 Der weltliche
Klerus aber wird in den kommenden Wirren nicht bestehen können.

1
„Inter quos [viros religiosos] et sanctus Bernardus noster abbas Claravallis,
qui in libro suo de consideratione misso ad Eugenium papam nichil de negli-
gentiis aut gravamine subiectorum dereliquit intactum, ita ut liber ipse alter
Leviticus esse videretur. et quamvis sanctus vir mordatius argueret in Romano
pontifice occupationem, non tamen absolute occupationem, sed illam, que est
secundum seculum, per quam ea que est secundum deum occupatio perit. Conc.
V,64, fol.94vb.
2
De cons. II,v,8, Winkler 670,22f.
3
Conc. IV,38, fol.59rb-va (= De cons. II,i,1-2, Winkler 662,2-664,12).
4
Conc. V,62, fol.93ra.
5
Wenn Joachim davon spricht, daß der Eintritt des Mönchtums in die Kirche
während einer Verfolgung durch die Barbaren geschehen sei, so denkt er an den
Langobardensturm, unter dem 585 Montecassino fiel. Conc. V,62, fol.93 ra. Die
Mönche, die sich zu Gregor dem Großen flüchteten, berichteten über das Leben
ihres Gründervaters und veranlaßten den Papst zur Niederschrift seiner
Benediktvita. Riché, Pierre: Gregor der Große. Leben und Werk. München u.a.:
Neue Stadt, 1996, S.18f. Gregor gilt bereits bei Bernhard als Vorbild des
monastisch gesinnten Papstes. De cons. I,ix,12, Winkler 654,17-656,2. Auch
moderne Historiker gehen davon aus, daß Gregor der Große die entscheidenden
Schritte unternommen hat, die das Mönchtum zum integralen Bestandteil der
kirchlichen Ordnung werden ließen. Prinz 1980, S.19f.; HbKG II/2, S.273f.
364 ABBILDUNGEN

Übrig bleibt allein die monastische Geistkirche.1 Wenn die kirchliche


Hierarchie von allem Weltlichen gereinigt ist und gemäß der
Prophezeiung Daniels die Heiligen des Höchsten die Weltherrschaft
erhalten haben, wird die Sukzession des Papstes im Mönchsstand
weitergeführt werden (erit dominatio populi sanctorum designati in
Ioseph. in ipso enim erit tunc successio Romani pontificis a mari
usque ad mare et a flumine usque ad terminos orbis terrarum).2 Die
Stelle wurde von anderen Interpreten so verstanden, daß das
Mönchtum die Nachfolge des Papsttums antreten werde.3 Dies hat
Joachim aber sicher nicht gemeint und es erscheint schon von der
grammatikalischen Struktur des Satzes her als äußerst
unwahrscheinlich.
[[@Page:306]]Bei allen Aussagen Joachims über die endzeitliche
Kirche ist zu beachten, daß er zwischen der Klerikerkirche (ecclesia
Petri) und der Institution des Papsttums (successio Petri) klar
unterscheidet. Wie sich im gelobten Land nicht die Sukzessionlinie
geändert habe, sondern der Lebenswandel, so müsse es auch jetzt
geschehen (Vt enim, non mutata successione, mutata est conuersatio
in terra promissionis, ita et nunc).4 Der Stellvertreter Christi werde im
dritten Status nicht beseitigt, sondern erhöht (elevabitur in sublime).5
Es sei unkatholisch zu glauben, daß irgendein Christenmensch, möge
er von noch so herausragender Tugend sein, dem Papst nicht
unterworfen sein könne.6 Die klerikale Petruskirche werde der
monastischen Johanneskirche nur insofern weichen, als die Päpste und
der erwählte Teil des Klerus zum Mönchtum übertreten werden:
Die Geburt des Petrus ging nämlich der Geburt des Johannes
voran. Doch die Geburt des Johannes geschah nicht erst nach
dem Tod des Petrus, sondern als jener noch am Leben war. Und
wie Petrus hinsichtlich der Geburt voranging, so blieb Johannes
1
„Quod autem verno tempore periclitata est Rachel in partu et pre difficultate
occubuit et decessit, significat difficultatem quam patietur ecclesia contemplan-
tium in tribulatione Antichristi quando si fieri potest in errorem ducentur eciam
electi. et quidem procreatus filius de predicatione ipsius relinquetur vivus, ipsa
autem deficiet propter imperfectionem suam, ut statuatur perfectio illa que sig-
nificata est in Ioseph. scriptum quippe est: cum autem venerit quod perfectum
est, evacuabitur quod ex parte est. et bene pro Rachele dilecta viro relictus est
Ioseph dilectus patri, qui dominatus est in tota terra Egypti et in domo patris
sui, quia pro ecclesia contemplantium, que hactenus claruit secundum partem,
relinquetur populus ille spiritalis qui erit in fine seculi, de quo scriptum est in
Daniele propheta: regnum autem et potestas et magnitudo regni que est subter
omne celum, dabitur populo sanctorum altissimi.“ Conc, V,52, fol.85 va; Dan
7,27.
2
Conc. V,57, fol.89ra.
3
Benz 1934, S.46; Töpfer 1964, S.72ff.; anders dagegen: Huck 1938, S.236ff.
4
Conc. IV,39,fol.59vb, Daniel 420,266f.; vgl. Dtn 1,13 Vg.
5
Conc. V,92, fol.122va.
6
Praeph. Apc. II, Selge 120,431-435.
365 ABBILDUNGEN

nach Petrus allein in diesem Leben zurück. Ebenso ging der


kirchliche Stand (ecclesiasticus ordo), der in Petrus bezeichnet
wird und zum Märtyrerkampf erwählt ist, in gewisser Weise
dem Mönchsstand (ordo monachorum) voran, den Johannes
bezeichnet. Der kirchliche Stand wird offensichtlich am Ende
sein Kreuz empfangen und Christus nachfolgen. Er wird seine
Hände ausstrecken, damit er gegürtet und dorthin geführt
werde, wohin er nicht will. Es wird aber jener Teil der
Erwählten zurückbleiben, die in Johannes bezeichnet werden
und zu dem die gesamte Nachfolgerschaft Petri übergehen muß
(ad quam oportet transire totam Petri successionem), wenn der
arbeitsame Teil vergeht, der in Petrus bezeichnet wird, und
allen Liebhabern Christi die Ruhe verliehen worden ist.“ 1
Es sei ein weiteres Zitat angeführt, das das endzeitliche Verhältnis
zwischen Petruskirche und Johanneskirche genauer klärt. Dabei
handelt es sich um eine Exegese des ersten Kapitels des ersten Buches
der Könige. Dort wird erzählt, daß man dem altersschwachen König
David ein junges Mädchen gebracht habe, das ihn umsorgen und im
Bett warm halten sollte. Weil aber das Ende des Herrschers absehbar
war, begannen unter den Königssöhnen schon die Kämpfe um die
Nachfolge. Adonija, dem vierten Sohn Davids, gelang es kurzzeitig,
den Thron zu erobern. Schließlich aber raffte sich der König noch
einmal auf, um den von Gott geliebten Salomo einzusetzen. Joachim
erklärt:
Das Greisenalter Davids bezeichnet das Greisenalter des
zweiten Status und des kirchlichen Standes (ordo
ecclesiasticus), der im Buchstaben des Evangeliums kämpft.
Das Mädchen aus Schunem, das ihm beigesellt wurde, ohne von
ihm zu empfangen, wird eine gewisse neue, gänzlich freie und
geistliche Religion sein (nova quedam religio erit, que omnino
erit libera et spiritalis), bei der sich – aufgrund des Friedens in
der Kirche – die mächtigen römischen Päpste zurückhalten
werden (se continebunt). Weil aber beim Bewahren seiner alten
Ordnung (in servando ordine suo antiquo) der römische Papst
wegen seines Alters zu frieren beginnen wird,
[[@Page:307]]werden sich noch einige von denen erheben, die
entschlossen zu sein scheinen, dafür zu kämpfen, daß sie in der
Herrschaft über die Kirche an der Stelle ihres Vaters stehen.
Aber sie werden keinen Erfolg haben, weil es am Tag des
Friedens nicht mehr nötig sein wird, die Kriegsordnung zu
führen. Vielmehr steht es den Gottesverehrern (religiosi) an, zu
jenem Stand überzugehen, der in Salomo bezeichnet wird, und
sich der Kontemplation und dem Frieden zu widmen. Und
deshalb wird Adonija die Herrschaft nicht an sich reißen,
sondern Salomo, der auf Rat der Propheten vom König
eingesetzt wurde, wird herrschen. Und er wird auf Befehl seines
1
Exp. I, fol.77ra-rb; Joh 21,18; Sach 14,9.
366 ABBILDUNGEN

Vaters ihm nachfolgen und nach ihm auf dem Thron sitzen; er
wird gerecht herrschen und richten. Die Kirche Petri, die der
Thron Christi ist, wird also nicht untergehen – das sei ferne –,
sondern in größere Herrlichkeit verwandelt werden und ewig
stabil bleiben (commutata in maiorem gloriam manebit stabilis
in eternum).1
Der Passus läßt sich folgendermaßen verstehen: Der kirchliche Stand,
also die klerikale Hierarchie, ist veraltet und wird den Forderungen
der Zeit nicht mehr gerecht. Gleichwohl versucht der Papst seine
überkommene Herrschaftsordnung noch aufrecht zu erhalten. Das
Mönchtum, das sich neben der klerikalen Hierarchie herausbildet,
achtet und unterstützt die alte Ordnung, wird mit ihr aber nicht
vertraulich und bleibt von ihrer weltlichen Ausrichtung unbefleckt. Es
ist absehbar, daß die überkommene Klerikerkirche vergehen wird,
aber man soll diesem Prozeß nicht gewaltsam nachhelfen und schon
gar nicht versuchen, die Herrschaft über die Kirche an sich zu reißen.
Diese Äußerung ist bemerkenswert, weil sie belegt, daß Joachim allen
revolutionären Bestrebungen entgegenstand. Der Klerus muß nicht
bekämpft werden, weil die Mönchskirche gemäß dem göttlichen
Willen ohnehin an ihre Stelle treten wird; die Klerikerkirche muß
nicht beseitigt, sondern verwandelt werden (commutari).2 Päpste wird
es weiter geben, sie werden sogar mächtig (potiti) sein, aber in der
Friedenszeit müssen die nunmehr monastischen Stellvertreter Christi
nicht mehr nach Art irdischer Monarchen herrschen, sondern
verwalten die Geistkirche wie der Abt das Kloster.3
Es gibt Hinweise darauf, daß Joachim in seinen letzten Jahren
seine Meinung über das Papsttum geändert hat. Denn nachdem der
junge Jurist Innozenz III. den apostolischen Stuhl bestiegen hatte,
mußte man annehmen, daß es mit dem monastischen Papsttum auf
absehbare Zeit nichts werden würde. Im Alterswerk Tractatus super
IV evangelia spricht Joachim tatsächlich von einer Auflösung
(dissolutio) der petrinischen Sukzession zugunsten einer monastischen
Weltherrschaft.4
1
Conc. V,65, fol.95va-vb.
2
Vgl. Töpfer 1964, S.60ff.
3
Vgl. Bernhards Worte an Eugen III.: „Factum superiorem dissimulare nequi-
mus; sed enim ad quid omnimodis attendendum. Non enim ad dominandum
opinor.“ De cons. II,vi,9, Winkler 672,12f.; vgl. III,i,2, Winkler 702,5-15;
IV,vi,17-22, Winkler 762,14-771,20.
4
Joachim legt dort die Stelle Lk 2,25-30 aus, die vom greisen Simeon erzählt,
der noch einmal den Messias zu sehen wünschte, bevor er in Ruhe sterben
konnte. Joachim bezieht Simeon ausdrücklich auf das Papsttum, das im
Mönchtum die messianische Zukunft erblicken werde, und dann keinen großen
Schmerz mehr über die eigene Auflösung empfinden werde, sondern nur
Freude über die würdige Nachfolge. Tract. I,6, Santi 97,21-100,2. Vgl.
Grundmann 1950, S.63, und die ausführliche Diskussion in: Mottu, Henry: La
manifestation de l’Esprit selon Joachim de Flore. Herméneutique et théologie
367 ABBILDUNGEN

[[@Page:308]]Blickt man aber noch einmal auf die Figur des


Führers zurück, so ergibt sich: Es handelt sich um einen römischen
Papst, der die klerikale Hierarchie in eine monastische Ordnung
verwandeln wird. Mit anderen Worten, der Führer ist ein Reformer. Er
wird das zu Ende bringen, was oben eine „bernhardinisch revidierte
Fassung des gregorianischen Reformprogramms“ genannt wurde.
Zwar wird er die Kirche aus Babylon führen, das heißt aus Laienhand
befreien, aber seine Aufgabe besteht nicht darin, dem Papsttum mehr
Macht zu verschaffen. Vielmehr wird er zum Aufbau einer
universalen Ordnung beitragen, in der das sacerdotium regale seinem
überweltlichen Vorbild, dem Friedensherrscher Christus, gerecht wird.
[[@Page:309]]

V. JOACHIMS VERFASSUNGSENTWURF:

ÜBERSETZUNG UND KOMMENTAR


Liber Figurarum, Tavola XII (sh. Abbildung 4 im Anhang):
Die Verfassung des Neuen Ordens, der sich auf den dritten Status
bezieht,
nach dem Bild des himmlischen Jerusalem

Der Apostel Paulus: Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder
hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib
bilden, so ist es auch mit Christus. 1 Auch der Leib besteht nicht nur aus
einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine
Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und wenn
das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört es
doch zum Leib. Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das
Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? Nun aber
hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht
entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So
aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. 2
Aber jeder von uns empfing die Gnade in dem Maß, wie Christus sie
ihm geschenkt hat. Deshalb heißt es: Er stieg hinauf zur Höhe und erbeutete
Gefangene, er gab den Menschen Geschenke. 3 Und er gab den einen das
Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten,
andere als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für die Erfüllung ihres
de l’histoire, d’après le „Traité sur les Quatre Evangiles“. Neuchâtel und
Paris: Delachaux & Niestlé, 1977, S.129ff.
1
1 Kor 12,12.
2
1 Kor 12,14-20.
3
Eph 4,7-8; Ps. 68,19.
368 ABBILDUNGEN

Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi. So sollen wir alle zur
Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes gelangen, damit wir
zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten
Gestalt darstellen.1
Der Evangelist Johannes: Ich, Johannes, sah: Eine Tür war geöffnet
am Himmel. Und ich sah: Ein Thron stand im Himmel. Und in der Mitte,
rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten.
Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Kalb, das dritte
sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. 2

Das Oratorium der heiligen Gottesmutter Maria und des heiligen


Jerusalem
Geist des Rates (spiritus consilii). Taube. Der Thron Gottes. Nase.
Dieses Haus wird die Mutter aller sein. Und in ihm wird sich der geistliche
Vater (pater spiritalis)3 aufhalten, der allen vorstehen wird und dessen
Anordnung und Willen (dispositio et arbitrium) alle gehorchen werden.
Die Brüder dieses Hauses werden in jeder Beziehung ein geordnetes
Leben führen, so daß [[@Page:310]]die übrigen durch das Beispiel ihrer
Geduld und Bescheidenheit unterwiesen werden können. 4 Beim Fasten
folgen sie aber dem Muster der Zisterzienser. Nach dem Willen des
geistlichen Vaters, der in diesem Haus wohnen wird, werden die Brüder der
niedrigeren Stände (inferiores ordines) zu einem strengeren Leben
aufsteigen können.5 Doch es wird nicht gestattet werden, daß jemand dies
ohne Prüfung tut.6 Damit keiner, der, was ferne sei, ohne Gabe und Berufung
Gottes (absque dono et vocatione Dei) nach der ersten Stelle strebt, es
unternimmt, das höchste Amt mit Schande einzunehmen. 7

Oratorium des heiligen Evangelisten Johannes und aller heiligen


Asketen
Geist der Weisheit (spiritus sapientie). Adler. Auge.
In diesem Oratorium werden die bewährten und vollkommenen Männer
leben, die von geistigem Verlagen entflammt wünschen, ein ruhiges Leben
zu führen. Sie werden einzelne Zellen haben, in die sie schnell gelangen
können, wenn sie beten wollen. Aber nicht dort, wo ein jeder will, sondern
1
Eph 4,11-13.
2
Offb 4,1f.6-7. Die Einheitsübersetzung spricht eigentlich von einem Stier und
nicht von einem Kalb (vitulus) wie die Vulgata.
3
[[Reg. Ben 49,9 >> RuleOfStBenedict:RB 49.9]]; vgl. [[2,2 >> RuleOfSt-
Benedict:RB 2.2]]; [[3,5 >> RuleOfStBenedict:RB 3.5]]; [[4,61 >> RuleOfSt-
Benedict:RB 4.61]].
4
Vgl. [[Reg. Ben. 3,4 >> RuleOfStBenedict:RB 3.4]].
5
„Der Abt kann aber jede Rangänderung vornehmen, wenn er es aus Gründen
der Gerechtigkeit für gut hält.“ [[Reg. Ben. 2,19 >> RuleOfStBenedict:RB
2.19]]. Vgl. [[Reg. Ben 61,11f >> RuleOfStBenedict:RB 61.11-12]].; [[63,1 >>
RuleOfStBenedict:RB 63.1]].[[7 >> RuleOfStBenedict:RB 63.1]].
6
Vgl. [[Reg. Ben. 58,2 >> RuleOfStBenedict:RB 58.2]].
7
Vgl. [[Reg. Ben. 64,3-6 >> RuleOfStBenedict:RB 64.3-6]].
369 ABBILDUNGEN

nahe beim Kloster, nach Anordnung und Willen des geistlichen Vaters, der
allen vorstehen wird. Ihr Prior wird sie nicht schimpfen, sondern inständig
bitten wie Väter, wenn nicht sogar wie Greise, die der Barmherzigkeit
bedürfen. Sie fasten immer, außer bei Krankheit. Sie werden keinen Wein
trinken und keine mit Öl bereiteten Speisen essen, außer an Sonntagen und
besonderen Feiertagen. Wenn aber einer so krank im Magen ist, daß er das
festgelegte Fastengebot nicht aushalten kann, soll er in das Oratorium der
Alten gebracht werden und dort bleiben, bis er geheilt ist. Jene werden keine
Skapuliere haben,1 sondern nur Kutten,2 weil sie, wenn es nicht zufällig
irgendeine Notwendigkeit gibt, nicht arbeiten müssen, sondern beten und
psalmodieren.

Das Oratorium des heiligen Paulus und aller heiligen Lehrer


Geist der Einsicht (spiritus intellectus). Tier mit Menschenantlitz.
Ohr.
In diesem Oratorium leben Männer, die gebildet sind oder gebildet werden
müssen sowie die Schüler Gottes (docibiles Dei),3 die sich mehr als die
anderen der Lesung widmen und die geistige Lehre (spiritualis doctrina)
studieren wollen und können, 4 damit sie das besitzen, woraus sie Altes und
Neues hervorholen können.5 Jene werden im Winter täglich fasten, im
Sommer an drei Wochentagen und im Sommer wie im Winter am Montag
keinen Wein haben. Am Mittwoch werden sie sich des Gekochten enthalten
und am Freitag bei Wasser und Brot fasten, 6 außer bei
[[@Page:311]]Krankheit oder wenn sie der Abt des Klosters, der allen
vorstehen wird, zur rechten Zeit von etwas befreit. 7

Das Oratorium des heiligen Petrus und aller heiligen Apostel


Geist der Stärke (spiritus fortitudinis). Löwe. Hand.
In diesem Oratorium werden die alten und empfindlichen Brüder 8 wohnen,
die wegen eines stark entkräfteten Magens beim Fasten nicht die volle Härte

1
Das Skapulier ist nach [[Reg. Ben. 55,6 >> RuleOfStBenedict:RB 55.6]] die
Arbeitskleidung.
2
[[Reg. Ben. 55,4f >> RuleOfStBenedict:RB 55.4-5]].
3
Joh 6,45.
4
Das vacare lectionibus ist nach der Benediktregel eigentlich für alle Mönche
angeordnet. [[Reg. Ben. 48,13-15 >> RuleOfStBenedict:RB 48.13-15]].[[22 >>
RuleOfStBenedict:RB 48.22]]. Eine individuelle Einübung der lectio ist
darüber hinaus aber gestattet. [[Reg. Ben. 8,3 >> RuleOfStBenedict:RB 8.3]];
[[48,5 >> RuleOfStBenedict:RB 48.5]].
5
In der Benediktregel gilt diese Bestimmung nur für den Abt: „Er muß daher
das göttliche Gesetz genau kennen, damit er Bescheid weiß und (einen Schatz)
hat, aus dem er Neues und Altes hervorholen kann.“ [[Reg. Ben. 64,9 >>
RuleOfStBenedict:RB 64.9]].
6
[[Reg. Ben. 41,2 >> RuleOfStBenedict:RB 41.2]].
7
[[Reg. Ben. 36,9f >> RuleOfStBenedict:RB 36.9-10]].
8
[[Reg. Ben. 48,24 >> RuleOfStBenedict:RB 48.24]].
370 ABBILDUNGEN

der Regel aushalten können.1 Und dennoch bemühen sie sich, soweit es
ihnen möglich ist, sich entsprechend der Strenge der Regel zu verhalten und
sich durch Einfachheit und Mäßigung dem Ansehen und der Achtung würdig
zu erweisen. Sie werden in der Winterzeit nach Möglichkeit täglich fasten,
im Sommer am Freitag. Man bringe ihnen frommes Verständnis entgegen,
insofern sie, wenn es nötig sein sollte, schon vor der festgesetzten Zeit essen
dürfen.2 Wenn es sich machen läßt, sollen sie zweimal täglich gekochtes
Fleisch und Wein haben,3 gleichwohl mit Maß und Bedacht, damit ihnen das
Vorbild der Regel nicht verloren geht und das Werk der Barmherzigkeit
nicht in zügellose Freiheit ausartet.4 Dennoch soll ihnen das Haus möglichst
mit ganzer Liebe angeboten werden, und sie selbst mögen es mit
Dankbarkeit, vollständiger Demut und Gottesfurcht annehmen. Sie werden
nicht gezwungen werden, zur Handarbeit auf den Acker hinauszugehen,
doch werden sie drinnen leisten, wozu man sie verpflichtet. 5 Sie werden sich
aber besonders vor müßigen Worten hüten und zu allen Lesungen absolutes
Schweigen einhalten, vor allem an Feiertagen. 6 In den übrigen Stunden aber
mögen sie, wenn es nötig ist, in der Gegenwart des Priors des Hauses
ordentlich sprechen.7 Anderen wird es nicht erlaubt sein, dieses Oratorium
nach eigenem Willen und eigener Entscheidung zu betreten, sondern nur der,
dem es der Abt befiehlt, welcher die ehrliche Not der Mangel Leidenden und
nicht die schlechte Absicht der Neider berücksichtigt, so wie es die Regel
vorsieht.8 Wer also zeigt, daß er dies ohne Zustimmung des Abtes will, kann,
wenn er nicht ruhig an seinem Platz bleiben wird, sogar aus dem Kloster
vertrieben werden.9

Das Oratorium des heiligen Stephan und aller heiligen Märtyrer


Geist des Erkenntnis (spiritus scientie). Kalb. Mund.
In diesem Oratorium werden jene Brüder wohnen, die stark genug sind, die
äußerlichen Werke zu erledigen und die in der geistlichen Übung nicht viel
erreichen.10 Sie werden im Winter an drei [[@Page:312]]Tagen fasten, im
1
Vgl. [[Reg. Ben. 36,9 >> RuleOfStBenedict:RB 36.9]].
2
Wortlaut aus [[Reg. Ben. 37,3 >> RuleOfStBenedict:RB 37.3]].
3
Vgl. [[Reg. Ben. 39,1-3 >> RuleOfStBenedict:RB 39.1-3]]; [[40,3 >>
RuleOfStBenedict:RB 40.3]].
4
Vgl. [[Reg. Ben. 39,7-9 >> RuleOfStBenedict:RB 39.7-9]]; [[40,5-7 >>
RuleOfStBenedict:RB 40.5-7]].
5
Vgl. [[Reg. Ben. 48,11 >> RuleOfStBenedict:RB 48.11]].[[24 >>
RuleOfStBenedict:RB 48.24]].
6
Vgl. [[Reg. Ben. 4,52 >> RuleOfStBenedict:RB 4.52]]f.; [[6 >>
RuleOfStBenedict:RB 6]]; [[7,56-58 >> RuleOfStBenedict:RB 7.56-58]]; [[42
>> RuleOfStBenedict:RB 42]]; [[48,18 >> RuleOfStBenedict:RB 48.18]].
7
Vgl. [[Reg. Ben. 7,60 >> RuleOfStBenedict:RB 7.60]].
8
Wortlaut aus [[Reg. Ben. 55,21 >> RuleOfStBenedict:RB 55.21]].
9
Ausschluß aus dem Kloster erlaubt die Benediktregel nur in Extremfällen.
Vgl. [[Reg. Ben. 28,6-8 >> RuleOfStBenedict:RB 28.6-8]]. Zuvor muß sich die
gesamte Palette der Disziplinarmaßnahmen als wirkungslos erwiesen haben.
10
Vgl. [[Reg. Ben. 48,23 >> RuleOfStBenedict:RB 48.23]].
371 ABBILDUNGEN

Sommer an einem, dem Freitag. 1 Sie werden ihrem Prior gehorchen, nach
der Anordnung des geistlichen Vaters,2 der allen vorstehen wird und der für
alle Rechenschaft ablegen wird.3 Sie werden keine Kutte haben, sondern nur
Skapulier und Kappe.4 Sie werden aber für sich und für die anderen arbeiten,
die ein Eremitenleben führen, damit das, was sie weniger an Gebet und
Fasten leisten, von denen ergänzt werde, die eher geistlich leben.

Zwischen diesem Kloster und dem Ort der Kleriker


muß ein Abstand von etwa drei Meilen sein.

Das Oratorium des heiligen Täufers Johannes und aller heiligen


Propheten
Geist der Frömmigkeit (spiritus pietatis). Hund. Fuß.
Dein Fuß wird baden im Blut, die Zunge deiner Hunde ihren Anteil
bekommen an den Feinden.5
In diesem Oratorium werden die Priester und Kleriker vereinigt sein, die
enthaltsam und in Gemeinschaft leben wollen, 6 aber sich dennoch der
Fleisch- und Pelzprodukte nicht ganz enthalten können. Jene werden im
Winter am Mittwoch und Freitag fasten. 7 Sie werden ihrem Prior gehorchen,
nach den Anordnungen des geistlichen Vaters, der allen vorstehen wird. 8 Sie
werden keinen Mantel tragen, sondern nur Kapuzen, damit zwischen ihrem
Aussehen und dem der Laien ein Unterschied besteht. Bei ihnen wird die
Grammatik studiert und werden die Knaben und Heranwachsenden erzogen,
damit sie lateinisch schreiben und sprechen sowie sich die Schriften beider
Testamente so gut wie möglich merken können. Sie werden den Zehnten aus
ihrer eigenen Arbeit und aus dem Zehnten, den sie von den Verheirateten
empfangen, in die Hände des geistlichen Vaters geben, für den Unterhalt der
Armen Christi, wenn es ihnen gerade an etwas mangelt. 9
Sie werden den Zehnten und Gaben aus dem Laienstand empfangen,
1
Vgl. [[Reg. Ben. 39,6 >> RuleOfStBenedict:RB 39.6]].
2
Vgl. [[Reg. Ben. 65,16f >> RuleOfStBenedict:RB 65.16-17]].
3
Das rationem reddere des Abtes ist eine stehende Wendung der
Benediktregel. [[Reg. Ben. 2,37 >> RuleOfStBenedict:RB 2.37]].[[39 >>
RuleOfStBenedict:RB 2.39]]; [[31,9 >> RuleOfStBenedict:RB 31.9]]; [[63,3
>> RuleOfStBenedict:RB 63.3]]; [[64,7 >> RuleOfStBenedict:RB 64.7]];
[[65,22 >> RuleOfStBenedict:RB 65.22]].
4
[[Reg. Ben. 55,6 >> RuleOfStBenedict:RB 55.6]].
5
Ps 68,24.
6
„Wenn Kleriker das gleiche Verlangen haben und sich dem Kloster
anschließen möchten, weist man ihnen einen mittleren Platz zu, aber nur dann,
wenn sie die Beobachtung der Regel und Beständigkeit versprechen.“ [[Reg.
Ben. 60,9 >> RuleOfStBenedict:RB 60.9]].
7
Vgl. [[Reg. Ben. 41,2 >> RuleOfStBenedict:RB 41.2]].
8
[[Reg. Ben. 62,2 >> RuleOfStBenedict:RB 62.2]]; [[65,16f >>
RuleOfStBenedict:RB 65.16-17]].
9
Vgl. das zisterziensische Exordium parvum XV, Bouton/Van Damme 77,7.
372 ABBILDUNGEN

sowohl zum eigenen Gebrauch und für die Schüler, die bei ihnen sein
werden, als auch für den Unterhalt der Armen und Pilger. Doch werden sie
ihre Schwestern nicht in ihr Oratorium lassen. Aber sie gehen an Festtagen
in das Oratorium der Laien und halten bei ihnen die Gottesdienste. Dennoch
hüten sie sich davor, es zu wagen, innerhalb des Bereiches ihres Hofes zu
übernachten. Weder die Priester noch die Kleriker betreten das Haus
irgendeiner Schwester, auch nicht – sei sie gesund oder krank – eines
Besuches wegen, wenn nicht erprobte und geeignete Zeugen anwesend sind;
aber auch das geschieht nur auf Befehl des Priors und nach Anweisung des
geistlichen Vaters,1 der in [[@Page:313]]der Mutterkirche (matrix ecclesia)
sein wird.
Bei ihnen wird sich außerhalb der Hofmauern ein Gästehaus befinden,
in dem es Betten, Matratzen und alles Übrige geben wird, was zur Aufnahme
gesunder oder kranker Gäste nötig ist. 2 Es [das Oratorium3] wird eigene
Einkünfte aus Viehzucht oder Ackerbau haben, je nach Lage und
Beschaffenheit der Heimat. Ihre Bediensteten werden Gott fürchten und in
allen wird Gott gelobt werden. Wenn aber jemand von ihnen für das Heil
seiner Seele die Oratorien der Mönche besuchen will, wird er, nachdem er
die Pferde dort gelassen hat, einfach zu ihnen gehen und bestärkt durch das
Gebet zu den Seinen zurückkehren.

Zwischen diesen beiden Oratorien


muß ein Abstand von etwa drei Stadien sein.

Das Oratorium des heiligen Patriarchen Abraham und aller


heiligen Patriarchen
Geist der Gottesfurcht (spiritus timoris). Schaf. Leib.
Wir sind sein Volk und die Herde seiner Weide. Ach, würdet ihr doch heute
auf seine Stimme hören!
„Verhärtet euer Herz nicht!“4
Im Namen dieses Oratoriums werden die Verheirateten (coniugati) mit
ihren Söhnen und Töchtern in einem gemeinsamen Leben (vita communis)
vereint sein. Sie werden mit ihren Frauen mehr der Zeugung als der
Wollust wegen Umgang haben. Und nach Vereinbarung werden sie sich zu
gewissen Zeiten oder Tagen ganz von ihnen fern halten, um sich dem

1
[[Reg. Ben. 65,16f >> RuleOfStBenedict:RB 65.16-17]].
2
Vgl. [[Reg. Ben. 36,7 >> RuleOfStBenedict:RB 36.7]]; [[58,4 >>
RuleOfStBenedict:RB 58.4]].
3
Rein grammatikalisch betrachtet, könnte sich der Satz auch auf das Gästehaus
beziehen, was bedeuten würde, daß die Kleriker selbst keine Landwirtschaft
betreiben. Dies ist aber unwahrscheinlich, weil es oben heißt, daß die Kleriker
aus den Einkünften ihrer eigenen Arbeit den Zehent zu leisten haben.
4
Ps 95,7f.; vgl. Ps 100,3; [[Hebr 3,7f >> Bible:Heb 3,7f]].[[15 >> Bible:Heb
3,15]]; [[4,7 >> Bible:Heb 4,7]].
373 ABBILDUNGEN

Gebet frei zu widmen, wobei aber bei den Jungen Körperkonstitution und
Alter berücksichtigt werden müssen, damit sie nicht vom Satan verführt
werden. Sie werden eigene Häuser haben 1 und sich aller Vergehen
enthalten. Nahrung und Kleidung werden sie von der Gemeinschaft
erhalten.2 Und sie [die Verheirateten] werden ihrem Meister (magister)
gehorchen, nach der Weisung und dem Willen des geistlichen Vaters, dem
alle jene Stände untertan sein werden, damit gleichsam auf die Elle genau
eine neue Arche Noachs vollendet wird.3 Sie werden im Winter jeden
Freitag fasten, außer bei Krankheit. Sie werden nur mit einfachen Mänteln
bekleidet sein. Bei diesen Christen wird nicht ein Müßiggänger gefunden
werden, der nicht für sein Brot arbeitet, damit er etwas für die Bedürftigen
übrig hat. Ein jeder wird also in seinem Handwerk arbeiten; einzelne
Künste oder Handwerke werden eigene Vorsteher (prepositi) haben. Wer
also nicht nach seinem besten Vermögen arbeiten wird, soll vom Meister
gezwungen und von allen angeklagt werden. Ihre Nahrung und Kleidung
wird in der Tat einfach sein, wie es sich für Christen [[@Page:314]]ziemt. 4
Fremdländische Kleider wird man bei ihnen nicht finden. Bunte Farbe wird
ihnen fernliegen.5 Auch die Frauen sollen ehrlich und rechtschaffen Wolle
herstellen, als Werk für die Armen Christi. Und sie werden wie die Mütter
der anderen Mädchen und heranwachsenden Frauen sein, die in
Gottesfurcht unterrichtet werden müssen. Jene werden den Zehnten von
allem, was sie besitzen, den Klerikern geben zum Unterhalt der Armen und
Pilger, aber auch der Knaben, die die Lehre studieren; freilich aus der
Logik heraus, daß, wenn sie im Überfluß haben und einige der anderen
weniger haben werden, von denen, die mehr haben nach dem Ermessen des
geistlichen Vaters genommen werden soll und denen, die weniger haben,
gegeben, damit keiner unter ihnen Not leide. Und dies wird für alle gelten.

Die große Frage, die sich bei einer Interpretation der Dispositio novi
ordinis von Beginn an stellt, lautet: Handelt es sich um die Verfassung
eines bestimmten Klosters, eines speziellen Ordens oder der
Gesamtgesellschaft. Zunächst kann man ausschließen, daß es sich um
1
„Et cum alicubi curtes ad agriculturas exercendas instituissent decreverunt ut
praedicti conversi domos illas regerent, non monachi, quia habitatio monacho-
rum secundum regulam debet esse in claustro eorum.“ Exordium parvum XV,
Bouton/Van Damme 78,12.
2
Vgl. [[Reg. Ben. 58,26 >> RuleOfStBenedict:RB 58.26]].
3
Die aus Gen 6,16 Vg entnommene Wendung in cubito consummare ist im
Deutschen schwer wiederzugeben.
4
Vgl. [[Reg. Ben. 39,8 >> RuleOfStBenedict:RB 39.8]].
5
„Über Farbe oder groben Stoff dieser Kleidungsstücke sollen sich die Mönche
nicht beschweren; man nehme alles so, wie es sich in der Gegend, wo sie
wohnen, findet, oder was man billiger kaufen kann.“ [[Reg. Ben. 55,7 >> Ru-
leOfStBenedict:RB 55.7]]. Vgl. Capitula Cisterciensis ordinis XI, Bouton/Van
Damme 122.
374 ABBILDUNGEN

die Konstitutionen von Joachims eigener Gründung handelt. Denn


weder betrachtete Joachim den Florenserorden bereits als den Orden
des dritten Status, noch gliederte er ihn in drei Stände, wie es der
Entwurf von Tavola XII vorsieht. Daß Joachim andererseits durchaus
an konkrete Klostergründungen nach dem Vorbild der Dispositio
dachte, zeigt etwa die Anweisung, Ackerbau und Viehzucht der
Priester sollten den jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepaßt
werden. Die pragmatische Leitungsstruktur, die Kleider- und
Fastenordnung sowie die durchdachte Wirtschaftsverfassung machen
deutlich, daß der gesamte Entwurf nicht etwa nur in einem
übertragenen Sinne verstanden werden darf.
Doch schließt dies keineswegs aus, daß Joachims Figur ebenso
auf die gesellschaftliche Gesamtordnung abzielt, vielmehr liegt in der
kunstvollen Verbindung des Allgemein-Gesellschaftlichen mit dem
Lokal-Konkreten die Besonderheit des Entwurfes.1 Das wichtigste
Argument dafür ist der paulinische Kirchenbegriff: Was Joachims
Dispositio zeigt, ist das corpus Christi in seiner endzeitlichen Gestalt,
die ecclesia spiritualis des dritten Status.2 Und seit Paulus meint der
Begriff Ekklesia die universale Kirche [[@Page:315]]ebenso wie die
lokalen Gemeinden, in denen sie sich manifestiert. Wenn die
1
In dieser Beziehung weist Joachims Konzeption voraus auf die utopischen
Entwürfe des 19. Jahrhunderts, die mit paradigmatischen und gleichfalls an
Benediktinerklöstern orientierten Stadtarchitekturen die „universale Harmonie“
der Menschheit darzustellen suchten; man denke z.B. an die Phalanstères
Charles Fouriers und seines Schülers Victor Considérant. Der wichtige
Unterschied zu Joachim ist, daß sich in diesen Plänen nicht mehr die Gestalt
der himmlischen Gottheit abbildet, sondern der dieu de la terre, der Mensch als
Schöpfer seiner eigenen Weltordnung. Schabert, Tilo: Stadtarchitektur –
Spiegel der Welt. Zürich: Benzinger, 1990, S.49ff. Doch Joachims Entwurf ist
gerade keine Utopie, sondern Prophezeiung einer Ordnung, die ihre konkrete
Zeit und ihre konkreten Orte haben wird.
2
Herbert Grundmann meinte, die Dispositio zeige gar nicht die Kirche des
dritten Status, sondern die Ordnung der Übergangszeit. Grundmann 1950,
S.103ff. Eine ähnliche Meinung findet sich auch bei: Thompson, Aug.: „A
reinterpretation of Joachim of Fiore’s Dispositio novi ordinis from the Liber
Figurarum“, in: Cîteaux. Comentarii Cistercienses 22 (1982), S.195-205,
S.202ff. Aber dagegen spricht schon die Überschrift (pertinens ad tercium
statum). Zumindest bei Grundmann wird deutlich, daß er sich daran störte, daß
Joachim die endzeitliche Verfassung als ständische Ordnung konzipiert. Aber
dies entspricht der Ansicht des Abtes, daß auch der Himmel hierarchisch
geordnet ist. Ein egalitäres Gemeinschaftskonzept würde seinem monastischen
Leistungsdenken widersprechen. Im dritten Status wird es seiner Auffassung
nach zwar keine Klerikerkirche mehr geben, aber ein reguliertes Priestertum
wird gemäß seiner jenseitigen Stellung in die Mönchskirche eingeordnet
werden. Bernhard Töpfer zeigt sich in der Frage unschlüssig, bringt aber noch
ein wichtiges Argument für die hier vertretene Position: Sie „hat den Vorteil,
daß sie für den 3. Status Verhältnisse voraussetzt, die den Realitäten des
Lebens und unseren Grundsätzen der Vernunft besser entsprechen.“ Töpfer
1964, S.71.
375 ABBILDUNGEN

Gesamtkirche im dritten Status monastisch geordnet sein soll, dann


muß sich das institutionell in den konkreten Gemeinden
niederschlagen. Das Spezifische am gregorianischen Reformdenken,
in dessen Tradition Joachim steht, ist ja gerade, daß die Kirche als
sichtbar-konkrete Kirche gedacht wird und nach Vorbild der Urkirche
sichtbar-konkret reformiert werden soll. Die Institution Kirche soll
sich ihrer jenseitigen Bestimmung würdig erweisen.1 Der große
Unterschied zu den Vorstellungen des Reformpapsttums besteht
hingegen darin, daß bei Joachim die Laien als eigener Stand in die
Ekklesia zurückkehren. Insofern umfaßt seine Konzeption die
christliche Gesellschaft, die dann eine Weltgesellschaft sein wird, in
ihrer Totalität.2 Seit den Anfängen in der ägyptischen Wüste war das
koinobitische Projekt von einem universalen Anspruch geprägt. Nicht
einige wenige Begabte, sondern die gesamte Menschheit sollte hinter
die Klostermauern gerufen werden, damit sie sich nach dem Prinzip
der Prolepsis schon im Diesseits von der Welt entferne.3
In der Dispositio erreicht Joachims Ordnungsdenken eine Dichte,
wie sie kein anderes seiner Werke auszeichnet. Dies gelingt ihm durch
eine fast geniale Überlagerung von mehreren symbolischen Schichten:
Das Kreuz: Das am deutlichsten sichtbare Symbol ist das Kreuz,
das einem griechischen Altarkreuz nachgebildet ist, wie es damals zu
liturgischen Zwecken diente. Obgleich das Kreuz natürlich das
wichtigste Symbol christlicher Architektonik ist, ist es wenig
wahrscheinlich, daß Joachim sich vorstellte, die Bauten des novus
ordo sollten sich im Grundriß exakt an seiner Figur orientieren. Dies
hätte zum Beispiel einen drei Mei[[@Page:316]]len langen,
kerzengeraden Verbindungsweg zwischen Kloster und Oratorium der
Kleriker erfordert, was schon aus geomorphologischen Gründen nur
an wenigen Orten möglich scheint. Nein, das Kreuz ist natürlich zuerst
ein Symbol für die Erlösungstat Christi. Und nach einem Wort des
Apostels wird jeder Christ in der Taufe mitgekreuzigt. Aber das
Mitleiden mit Christus wird der hierarchischen Gesellschaftslehre
Joachims unterworfen. Das eigentliche Kreuz entspricht den
Wohnstätten der Mönche, die ihr Fleisch am vollständigsten
1
„E come nel cristianesimo primitivo, così nel messaggio di Gioacchino la
bruciante esperienza escatologica si confonde con un’ecclesiologia concreta e
realisitica, a norma della quale la communità visibile è un sopranaturale
organismo carismatico, anziché un tessuto burocratico.“ Buonaiuti 1984, S.201.
2
„In the Dispositio novi ordinis Joachim apparently draws a ground-plan of a
settlement, even with some actual measurements, and peoples it with various
types of religious men in their habits, yet the whole is much more than this: it is
the ideal structure of the age in which history reaches its apotheosis.“
Reeves/Hirsch-Reich 1972, S.248.
3
In Anlehnung an die bernhardinische Symbolik schreibt Joachim im
Psalterium, daß anachoretische und koinobitische Geistmänner, wie einst Mose
und Aaron, gemeinsam das Volk Gottes aus dem weltlichen Ägypten in die
Einsamkeit der Klöster führen. Psalt. II, fol.279va.
376 ABBILDUNGEN

gekreuzigt haben; der Sockel steht für das Oratorium der Laien, die
sich weiterhin fleischlich fortpflanzen. Die Predella, in der
gewöhnlich die Hostie aufbewahrt wurde, entspricht dem Oratorium
der Kleriker. Die Symbolik ist eindeutig: So wie das Sakrament
zwischen göttlicher und irdischer Sphäre vermittelt, so vermitteln die
Kleriker zwischen Geistmenschen und Weltmenschen.
Das Kreuz hat noch eine weitere Bedeutung. So wie es als
Grundriß von Kirchenbauten diente, liegt es nun der Dispositio
zugrunde. Andererseits vermißt man in Joachims Plan den Hinweis
auf einen Kirchenbau, wo doch selbst das Gästehaus eigens erwähnt
wird. Man denke aber an die Worte des Sehers Johannes, der über die
himmlische Stadt sagt:
Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr
Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung ist ihr Tempel, er
und das Lamm.1
Auch im Epheserbrief steht über das Ziel des Gemeindebaus
geschrieben:
Ihr seid auf das Fundament der Propheten und Apostel gebaut;
der Schlußstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der
ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen
Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr im Geist zu einer
Wohnung Gottes erbaut.2
Das wird sich im dritten Status verwirklichen, will Joachim sagen.
Das gesamte corpus Christi wird ein einziger Tempel Gottes sein,
Kirchen sind dann nicht länger nötig. Allerdings wird sich das
Priesteramt noch nicht völlig erledigt haben, wie es Joachim für das
Jenseits erwartet.3
1
Offb 21,22.
2
Eph 2,21f; vgl. 1 Kor 3,16; 2 Kor 6,16. In diesem Sinne sagt Joachim zum
Beispiel im Liber introductorius, die Johanneskirche werde auf das Fundament
der apostolischen Kirche gebaut, das im zweiten Status gelegt wurde. Exp.
Intr., fol.21rb-va; vgl. Exp. I, fol.59rb und die ausführliche Abhandlung in Exp.
VIII, fol.219vb-220ra. Die Stadt als Tempel sieht Joachim schon im davidischen
Jerusalem vorweggenommen: „Sicut unum fuit templum Dei, quod edificavit
Salomon, ita una fuit Sancta Civitas, quam edificavit David, vel potius, quam
superedificavit, imposito illi nomine Hierusalem, que tamen qualiter fuerit
sancta, non invenitur, cum in ipsa effusus sit sanguis Iesu Christi et sanctorum
prophetarum, nisi forte propter sanguinem ipsum sanctum, qui effusus est in ea,
et quia Deus elegit illam in sanctam, ut poneret ibi nomen suum.“ Exp. III,
fol.142va.
3
In civitate autem illa que sursum est, neque Templum manufactum necessar-
ium est, neque conventum Sacerdotum ad docendum iterum populum viam Dei,
quia Dominus omnipotens cum filio suo, omnia est in omnibus, docens electos
suos omnem veritatem, non iam per elementa muta, sicut in hac vita presenti,
sed per spiritum suum quem dedit nobis, et daturus est abundantius in die illo.“
Exp. VIII, fol.220vb-221ra.
377 ABBILDUNGEN

Die Stadt: Wie schon der Titel der Figur sagt, ist die Dispositio
nach dem Bild des himmlischen Jerusalem gestaltet. Maßgeblich dafür
sind in erster Linie die Jenseitsschil[[@Page:317]]derungen der
Johannesoffenbarung. Deutlich sind die zwölf Tore zu erkennen, von
denen jeweils drei in eine Himmelsrichtung zeigen. Auch dies ist nicht
als architektonische Anweisung zu werten, denn Joachim hat die
Mauer und Tore an anderen Stellen seines Werkes allegorischen
Deutungen zugeführt. Wenn er, wie zu sehen war, sagt, in der ecclesia
spiritualis des dritten Status werde die Struktur des himmlischen
Jerusalem schon bis ins Detail hergestellt, dann ist dies
selbstverständlich auf die gesellschaftliche Struktur bezogen. Joachim
hat sich von der Kreuzzugslogik abgewandt: Die Christenheit bewegt
sich nicht geographisch, sondern moralisch auf Jerusalem zu; im
dritten Status wird Jerusalem überall sein.1 Im Hintergrund dieser
Jerusalem-Interpretation steht der monastische, vornehmlich
zisterziensische Gebrauch des Symbols. Robert Konrad schreibt:
Als Gemeinschaft Gleichgesinnter fern von der Welt der Sünder
fühlten sich die Mönche bereits als Bürger des künftigen Sion
und empfanden ihr Kloster als Vorstufe des himmlischen
Jerusalem, als eine Stätte der Erwartung und der Vorbereitung
auf die Jenseitsstadt.2
Was Joachim also getan hat, ist das monastische Konzept der
proleptischen Gemeinschaft mit dem paulinischen zu verschmelzen,
insofern die Vorwegnahme des himmlischen Jerusalem in der
allgemeinen, aber vollständig monastisierten Kirche geschieht.
Joachim nutzt das Symbol Jerusalem zugleich dafür, das
ständische Prinzip seines Verfassungsentwurfes zu verdeutlichen.
Zwar billigt er den Gläubigen aus allen drei Ständen eine Wohnung
1
Vgl. Daniel, E. Randolph: „Apocalyptic Conversion: The Joachite Alternative
to the Crusades“, in: West 1975, Bd.2, S.310-328. Genaugenommen spricht
Joachim von drei Jerusalem, gemäß den drei Status der Menschheit. Das erste
Jerusalem ist das historische Jerusalem der Juden, unter dem zweiten versteht
er – wie damals üblich – die römische Kirche. Das dritte Jerusalem ist eine
Fortentwicklung dieser Kirche zur Geistkirche; es beginnt also im zweiten
Status und erfährt im dritten seine Vollendung. Im zweiten Status hätten die
Feinde der Kirche diese Vollendung noch behindert, im dritten Status sei ihnen
diese Macht genommen. „Prima Ierusalem edificata est in primo statu, secunda
in secundo, tertia in tertio. Verumtamen harum tertia, que in tertio statu seculi
edificanda est, ab exordio secundi status cepit edificari pariter cum secunda,
siquidem due ipse simul una sunt, et ut inferam illud libri Esdre: Iactata sunt
fundamenta eius a principio ipsius status secundi, sed inpedientibus inimicis
dilatum est opus eius quousque compleantur quadraginta anni, hoc est
generationes totidem que significantur per eos.“ Exp. Intr., fol.18va-vb; vgl. Esr 4.
2
Konrad, Robert: „Das himmlische und das irdische Jerusalem im
mittelalterlichen Denken“, in: Clemens Bauer u.a. (Hrsg.): Speculum
Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und
Geschichtsdeutung. Freiburg und München: Alber, 1965, S.523-540, S.533.
378 ABBILDUNGEN

(mansio) in der himmlischen Stadt (urbs) zu, aber wiederum sind es


nur die Mönche, die im vollen Sinn die Bürgerschaft (civitas) bilden.
Im Psalterium erklärt Joachim, daß die Ordnung des himmlischen
Jerusalem ganz am Prinzip des Verdienstes ausgerichtet sein wird:
Alle also, die in einer [himmlischen] Wohnung wohnen werden,
wie viele es auch seien, zeichnen sich durch gleichen Willen
und Vorsatz aus. Dennoch wird ein jeder, wie ich schon sagte,
gemäß seiner Arbeit einen besonderen Lohn (propria merces)
empfangen, ob er zuerst dorthin gelangt oder nicht. […]. Denn
wenn man [[@Page:318]]mich fragt, welcher Unterschied
bestehe zwischen solchen Verheirateten und jenen [Klerikern],
die keusch leben, aber nach ihrem eigenen Willen tun und
eigenen Besitz haben, und wiederum zwischen ihnen und
denen, die alles, sogar sich selbst verlassen um Christus
nachzufolgen, dann bekenne ich: Soviel ein Unterschied besteht
zwischen Landleuten (rustici), Stadtbewohnern (burgenses) und
Stadtbürgern (cives), genau soviel besteht ein Unterschied
zwischen denen, die der Knechtschaft unterworfen sind, denen,
die frei sind, aber keine Sklaven haben, und denen, die wegen
ihres adligen Geschlechtes über Knechte und Familie herrschen.
Und es ist nämlich etwas Großes, Bürger Jerusalems und Herr
über die Kinder des Reiches zu sein und mit Christus zu
herrschen. Was aber jene angeht, die sich außerhalb [der
Bürgerschaft] befinden, so bedeutet es für sie schon ein Glück,
sich dort oder in den zugehörigen Dörfern (vici) aufzuhalten. Es
steht ja über [Jerusalem] geschrieben, daß man in all seinen
Gassen (vici) Halleluja rufen wird. Jene [himmlische] Stadt
wird nämlich über Vorstädte (suburbana) und Dörfer verfügen,
nicht in Bezug auf deren örtliche Lage außerhalb der Stadt,
sondern in Bezug auf den Unterschied in der Würde (differentia
dignitatum).1
Deutlich ist sichtbar, daß sich die himmlische Hierarchie der Stände
aus der Leistungsethik des Mönchtums ableitet. Das geht soweit, daß
Joachim den Enthaltsamen und Demütigen im Jenseits eine Stellung
zubilligt, die mit dem irdischen Feudaladel verglichen wird. Wie an
anderer Stelle gezeigt, gingen Märtyrer, Asketen und Mönche seit
jeher davon aus, daß ihr himmlischer Rang um so höher sein wird, je
mehr sie hienieden der Welt entsagen. Doch bei Joachim nimmt der
dritte Status die himmlische Erhöhung des Mönchtums vorweg. Zum
ersten Mal wird das Gerechtigkeitsbewußtsein der Enthaltsamen und
Demütigen zu einer politischen Konzeption ausgebaut.
Bei den Mönchsoratorien, die die sedes Dei umringen und sich
von den anderen Ständen buchstäblich meilenweit absetzen, fühlt man
sich an die Zionspsalmen erinnert, die einst mit der egalitären
Tradition Israels brachen und versuchten, die politischen Realität des

1
Psalt II, fol.250vb-251ra; vgl. Tob 13,18; 1 Kor 3,8; Mt 19,21; Offb 24,4.6.
379 ABBILDUNGEN

Königstums mit der Jahwe-Tradition zu vereinbaren: Der Zion ist der


Thron, von dem aus Gott die Welt regiert, und Jerusalem ist die Stadt,
die ihn umgibt. Das heißt, Gottes unmittelbare Dienerschaft, die sich
im Hexateuch noch auf das ganze Volk bezog, meint jetzt nur noch die
Bürger der Königsstadt. Nur innerhalb der Stadtmauern ist Jahwe in
seiner ganzen Herrlichkeit gegenwärtig:
Denn ein einziger Tag in den Vorhöfen deines Heiligtums
ist besser als tausend andere.
Lieber an der Schwelle stehen im Hause meines Gottes
als wohnen in den Zelten der Frevler.1
Übertragen auf das neue Gottesvolk heißt das: Die Pilgerschaft der
Kirche geht im dritten Status zu Ende. Auch wenn die Heimat im
Himmel ist, so hat doch der Herr seine endzeitliche Theokratie schon
im Jerusalem der Geistkirche errichtet. Der Thron Gottes und der
Zion, der ihn umgibt, müssen nur noch in den kommenden Aion
transferiert werden, damit aus der vorläufigen Ordnung eine
endgültige werde.
Das corpus Christi: Wie schon erwähnt, hatte Joachim bereits im
Liber Concordiae die [[@Page:319]]Frage gestellt, wie eine vollendet
geordnete und ausdifferenzierte Christenheit aussehen müßte (si
religio Christiana perfecte esset ordinata et distincta).2 Die Frage geht
von einer negativen Gegenwartsdiagnose aus. Wie weit alle modernen
religiones von der Urkirche entfernt seinen, könne man daran sehen,
daß in der Urkirche Apostel und Evangelisten, Gelehrte und
Jungfrauen zusammenlebten und ihre Gemeinschaft selbst mit den
Verheirateten teilten. „Damals war der Leib vereint, heute lebt jedes
Glied für sich.“3 Dieser Satz bringt gut zum Ausdruck, daß Joachim
seiner Ordnung zwar das Paradigma der Urkirche zugrunde legt, aber
dabei nicht so sehr – wie unter Mönchen sonst üblich – an das
egalitäre Bild der Apostelgeschichte denkt,4 sondern an das
differenzierte Gemeinschaftskonzept des Paulus.
Nicht zufällig stellt Joachim seiner Dispositio den corpus-Traktat
des 1. Korintherbriefes und eine korrespondierende Stelle des
Epheserbriefes voran. Das wichtigste Formprinzip des novus ordo, so
sagt er an anderer Stelle, ist Christus, der Menschensohn (secundum

1
Ps 84,11; vgl. Exp. Intr., fol.11va. Vgl. Fohrer 1992, S.133ff.
2
Conc. V,22, fol.71rb.
3
„Quam vero longe sit omnis moderna religio a forma ecclesie primitive, eo
ipso intelligi potest, quo illa apostolos et evangelistas, doctores et virgines et
zelantes vitam communem, continentes quoque et coniugatos veluti unus cortex
mali punici, divisis tantum cellulis mansionum coniugebant in unum, et co-
niunctis membrorum speciebus efficiebant ex omnibus unum corpus; nunc au-
tem alibi corpus, membra alibi, et singula pro se ipsis, non pro aliis sunt sollici-
ta.“ Conc. V,22, fol.71va.
4
Apg 2,44ff.; [[4,32ff. >> Bible:Apg 4,32ff]]
380 ABBILDUNGEN

ipsum formatus erit).1 In dem Epheserbriefzitat, das sich sowohl in


Tavola XII als auch im Paralleltext des Liber Concordiae findet, heißt
es, daß Christus durch verschiedene Charismata die einen zu Aposteln,
die anderen zu Propheten und Evangelisten und wieder andere zu
Hirten und Lehrern gemacht habe. Alle sollten zum Aufbau des
Christusleibes beitragen, „damit wir zum vollkommenen Menschen
werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen“. 2 Dies
sei geschichtlich zu verstehen, gibt Joachim zu erkennen, zuerst teile
Christus die Glieder, dann führe er ihre Einheit herbei (primo divisit
membra, et postea intulit unitatem).3 Die Zeit aber, in der die Norm
einer religio jeweils auf einen bestimmten Menschentyp zugeschnitten
war, sei nunmehr vorbei.4
Der Neue Orden des dritten Status wird sich dadurch auszeichnen,
daß er alle religiones in sich vereint, seien es die Mönchsorden, das
regulierte Klerikertum oder die monastische Laienbewegung, die im
Konversenwesen, in Ritter- und Hospitalorden sichtbar wird.5 Alle
Bewegungen streben zum Himmel und vereinen sich in der nova
religio der Geistkirche, die alle bisher dagewesenen Formen der
Gottesverehrung an Vollendung übertrifft (perfectio religionis illius
ecclesie vincet aliorum omnium et temporum et
[[@Page:320]]ordinum religionem)6 und die himmlische Einheit
vorwegnimmt. Um die verschiedenen Wege der gegenwärtigen
Bewegungen müsse man sich nicht kümmern, sagt Joachim in der
Logik Anselms von Havelberg, solange sie nur alle nach Jerusalem
führen.7 Die Pluralität der diesseitigen Lebensweisen hebt sich auf im
gemeinsamen Willen der Gläubigen, die Welt zu verlassen, in einer
Vorwegnahme der jenseitigen Einmütigkeit.8
1
Conc. V,18, fol.69vb.
2
Eph 4,7-8.11-13; vgl. Ps 68,19.
3
Conc. V,22, fol.71rb-va.
4
Conc. V,22, fol.71rb.
5
„Creavit in hoc tempore sexto in ordine laicorum novas species religionis, sicut
sunt fratres templi et hospitalarii et quidem alii in partibus Hyspanie, et conversi
ordinis Cisterciensis, et eorum similes, qui omnes in adiutorium clericorum aut
monachorum creati sunt a domino secundum species suas, ut impleantur multe
ille mansiones que propter diversas species electorum in domo domini parate
sunt.“ Conc. V,18, fol.69va-vb; vgl. Ench., Burger 82,2388-2393; Exp. Intr.,
fol.19vb
6
Conc. V,67, fol.96va; vgl. Conc. V,65, fol.95va-vb.
7
„[…] nec curandum est de diversitate viarum, dummodo diverse vie ad unam
perveniant civitatem.“ Exp. Intr., fol.26va.
8
„Cum autem in tribus istis temporibus sacramentum Trinitatis accipitur, tunc
summae et individuae unitatis mysterium in futuri saeculi statu assignatur, ubi
revera unum erit et simplex electorum collegium, unum cor, una anima, sed et
una voluntas.“ Ench., Burger 56,1533-1536. Vgl. dazu das Wort Hugos von St.
Viktor: „Quanto magis mundum fugiendo Deo approquinquare incipimus, tanto
magis in unum congregamur.“ Zit. n. Bacht, Heinrich: „Antonius und
Pachomius. Von der Anachorese zum Cönobitentum“, in: Karl Suso Frank:
381 ABBILDUNGEN

Die Charismata: Das vielleicht interessanteste Symbol der


Dispositio ist die Charismenordnung. Jedem der Oratorien wird eine
von sieben Geistesgaben zugeordnet. Allerdings stützt sich Joachim
nicht auf die Charismentafel des 1. Korintherbriefes, 1 wie es analog
zur corpus-Symbolik zu erwarten wäre, sondern auf eine Jesaja-Stelle,
die er mit der Ämterordnung des Epheserbriefes in Verbindung bringt.
Dies ist erstaunlich, weil bei Jesaja natürlich nicht von der Gemeinde
die Rede ist, sondern vom Messias aus dem Hause Isais und Davids:
Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor,
ein junger Trieb, aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Der Geist des Herrn läßt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht (spiritus sapientiae et
intellectus),
der Geist des Rates und der Stärke (spiritus consilii et
fortitudinis),
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht (spiritus scientiae
et pietatis).
Er erfüllt ihn mit dem Geist der Gottesfurcht (spiritus timoris).2
Im hebräischen Text wie auch in der zitierten Übersetzung wird der
Geist der Gottesfurcht zweimal erwähnt. Hieronymus aber übersetzte
– wohl der Abwechslung halber – einmal mit spiritus pietatis und
einmal mit spiritus timoris. Dies hatte weitreichende Folgen, denn das
gesamte lateinische Mittelalter ging nunmehr von sieben, nicht von
sechs Geistesgaben aus – man findet sie in Gestalt von sieben Tauben
in den Deckengewölben unzähliger Kirchen dargestellt.
Bedeutsam ist, in welcher Weise Joachim die messianische
Prophezeiung Jesajas auf das Kollektiv des novus ordo anwendet: Die
Parusie Christi bleibt im Werk des Abtes recht dunkel und er erwartet
keine Messiasfigur im Sinne eines alter Christus. Man kann daher
annehmen, daß die Wiederkehr Christi im messianischen Kollektiv
der Geistkirche stattfinden sollte.3 Im Enchiridion heißt es, es sei
wegen der großen Ausgießung an Geistesgaben keineswegs abwegig,
das geistliche Volk des dritten Status den Gesalbten [[@Page:321]]
(christus) des Herrn zu nennen.4 Völlig neu ist das nicht, insofern
schon Augustinus schrieb, daß mit der Parusie nichts weiter als die
Präsenz Christi in seinem Leib gemeint sei.5 Was aber vor Joachim
kaum gesagt wurde, ist, daß sich in der Endzeit der Heilige Geist in
Askese und Mönchtum in der Alten Kirche. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1975,
S.183-229, S.222f.
1
1 Kor 12,4-11.
2
Jes 11,1-3.
3
Vgl. Benz 1934, S.43.
4
„Non (enim) absurde populus ipse christus Domini vocandus est ob majorem
effusionem gratiae et donorum Spiritus sancti […].“ Ench., Burger 44,1165-
45,1166; vgl. Exp. I, fol.91ra.
5
[[De civ. Dei XX,5 >> Augustine:De civ. Dei 20.5]].
382 ABBILDUNGEN

der Vielfalt seiner Gaben auf einen kollektiven Messias ergießt, der
solchermaßen begabt eine gerechte Weltordnung errichtet. Denn bei
Jesaja heißt es weiter:
Er richtet nicht nach dem Augenschein,
und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er,
sondern er richtet die Hilflosen gerecht
und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. 1
Wie es schon in den Evangelien geschieht,2 verbindet auch Joachim
das Symbol des Messias mit dem Symbol des Menschensohns. So sagt
er im Liber Concordiae, unter dem Menschensohn der
Johannesapokalypse sei nicht nur das Haupt Christus, sondern auch
das Gottesvolk als sein Leib zu verstehen. Ebenso dürfe die
messianische Weissagung Natans nicht nur auf Salomo oder Jesus
angewandt werden, sondern gemäß ihrem geistlichen Sinn (spiritalis
intellectus) auch auf die endzeitliche Ordnung des Gottesvolkes (ordo
quisdam circa finem futuro). Christus werde in der Endzeit seinen
Leib an seine Majestät anpassen (configurare), auf daß er in ihm und
mit ihm über die Welt richten könne. So wie es wiederum bei Daniel
heißt, daß bei der Herabkunft des Menschensohns den Heiligen des
Höchsten alle Herrschaft gegeben werde.3
1
Jes 11,3f.
2
Mk 8,29-31; Lk 9,20-22.
3
„Post obitum David regnavit Salomon filius eius pro eo, filius de quo dixerat
dominus in spiritu eidem David: cum dormieris cum patribus tuis, suscitabo se-
men tuum post te, quod egredietur de lumbis tuis, et firmabo regnum eius. ipse
edificabit domum nomini meo. et stabiliam thronum regni eius usque in sempi-
ternum. et ero illi in patrem et ipse erit mihi in filium. […] non ergo dictum est
verbum istud de illo Salomone, sed sive secundum litteram de Christo, sive se-
cundum spiritalem intellectum de ordine quodam circa finem futuro, ad cuius
predicationem et instantiam omnis pene mundus convertetur ad deum. nam et
rectius intelligitur de aliquo iustorum ordine hoc quod dicit dominus deus: ego
ero illi in patrem, et ipse erit mihi in filium, quam de ipso Christo Iesu, nimi -
rum quia verbum istud adoptionem magis indicat quam proprietatem. neque
enim deus unigenito suo in patrem est, sed magis pater, aut patri suo Christus
Iesus in filium, sed magis filius. videtur ergo verbum istud tangere quidem
Christum propter assumpte naturam mortalitatis nostre, sed magis transfunditur
in membra eius que egent gloria dei, sicut et de Abraham Paulus dicit: non au-
tem propter ipsum dictum est tantum, quod reputatum sit ei ad iusticiam, sed et
propter nos, quibus reputabitur credentibus in eum. ut autem elucescat in brevi,
qua ratione verba ista, que videntur tangere Christum in typo Salomonis, in po-
pulum tercii status refundenda sint, non oportet esse alienum ab intelligentia
nostra, quod sicut Saul significat proprie populum primi status, David populum
secundi et Salomon populum tercii, ita quoque Zacharias sacerdos designat pari
modo populum primi status, Iohannes baptista populum secundi, homo Christus
Iesus populum tercii, populum scilicet de quo scriptum est in Daniele: regnum
et potestas et magnitudo regni, quod est subter omne celum dabitur populo
sanctorum altissimi. superius enim dixerat Daniel vidisse se in nubibus celi
quasi filium hominis venientem, et datum illi esse regnum omnisque populus
383 ABBILDUNGEN

[[@Page:322]]Seit Antonius steht die Kenosis Christi im Zentrum


der monastischen Eschatologie. Weil der Gottessohn sich seiner
Göttlichkeit entäußerte und Mensch wurde, können sich die Menschen
ihrer korrumpierten Natur entäußern und zu Gottessöhnen werden.
Nur bei Joachim ist dies ein innerweltlicher Prozeß, der in der
Epiphanie der Geistkirche endet. Im Apokalypsenkommentar erklärt
er, durch Christi Fleischwerdung sei seine messianische Kraft auf die
Menschheit übergegangen und manifestiere sich in den Gliedern
seines Leibes. Im Anschluß erörtert er die gesamte Leib-Geist-
Symbolik, wie sie in der Dispositio vorliegt:
O welchen Handel tat der Herr Jesus mit uns! Er nahm unsere
Krankheit auf sich und gab uns seine Kraft (virtus). Er
erniedrigte sich bis zu uns herab, damit er uns über uns selbst
erhebe und uns zu seinen Miterben mache. O wie groß ist das,
was er uns erwies im Vergleich zu dem Geringen und
Unbedeutenden, was er von uns empfing! Damit wir schließlich
die einzelnen [Gaben] durch einzelne zurückgeben, empfing er
von unserer Natur die Sicht der Augen und gab uns den Geist
der Weisheit, durch den unsere inneren Augen erleuchtet
werden. Er empfing das Gehör und gab uns den Geist der
Einsicht, der unsere inneren Ohren öffnet. Er empfing unseren
Geruchssinn und gab uns den Geist des Rates, in dem die
geistliche Urteilsfähigkeit (discretio spiritalis) ist. Er empfing
unsere Art zu sprechen und gab uns den Geist der Erkenntnis,
zweifellos, weil man durch die Sprache die Erkenntnis der
weltlichen Menschen erwirbt. Er empfing von uns die Hand und
gab uns den Geist der Stärke. Am Arm nämlich erkennt man die
menschliche Stärke. Er empfing Füße und gab uns den Geist der
Frömmigkeit. Der Geist der Frömmigkeit wird aber deshalb
dem Gang der Füße gleichgesetzt, weil es für den, der das Werk
der Frömmigkeit im Dienst am Nächsten auf sich nehmen will,
notwendig ist, daß er mit Martha hierhin und dahin eilt. Er
empfing von uns den sterblichen Leib, dem wegen der

tribus et lingue servient ipsi, et ad extremum se dicit audisse angelum exponen-


tem visionem ac dicentem: regnum autem et potestas et magnitudo regni que
est subter omne celum dabitur populo sanctorum altissimi. quare autem istud,
nisi quia quando Christus Iesus iudicatus est in mundo? voluit electos suos iudi-
cari secum, et dentibus illius bestie quam vidit Daniel multipliciter laniari, et
quando appropinquat tempus, ut veniat ipse in nubibus celi, eciam electos suos,
qui sunt in mundo, vult configurare adventu maiestatis sue. nam quid est secun-
dum spiritum manere in terris, nisi esse in actione et labore, sicut constitutum
fuit antiquo nostro parenti, cui dictum est: in sudore vultus tui vesceris pane
tuo? et quid est secundum spiritum venire in nubibus celi nisi conversari iugiter
in celestibus et inhabitare in spiritu mansiones celestes? sic et in libro Apoca-
lipsis similem filio hominis introducit Iohannes, ut non ipse filius hominis intel-
ligatur solus, sed et populus, cuius caput est ipse, et pro quo ut esset filius ho-
minis carnem accipere dignatus est.“ Conc. V,66, fol.95 vb-96ra; vgl. Dan 7,13-
27; Mt 25,31; Offb 14,14; 20,6.
384 ABBILDUNGEN

Verwandtschaft mit der Sünde Krankheit und Leid auferlegt


sind, und gab uns den Geist der Gottesfurcht, über den
geschrieben steht: „Durchbohre mein Fleisch mit deiner
Furcht.“1
Joachims Gemeinschaftskonzept folgt dem anthropologischen Prinzip.
In der Geschichte der Kirche formieren sich die Glieder des
Christusleibes. Die Zahl Zwölf, die Zahl der Vollendung, habe allen
Gemeinschaftsgründungen im Gottesvolk zugrunde gelegen, schreibt
er im Enchiridion, bei den zwölf Stämmen Israels und bei den zwölf
apostolischen Kirchen. Zwölf sei aber auch die Zahl, die den
vollendeten Menschen bezeichne, in dem sich die fünf Sinne des
Leibes mit den sieben Gaben des Geistes [[@Page:323]]verbinden, …
[…] so daß der etwas weniger vollendet ist, dem etwas davon
fehlt, entweder das Sehen, das Hören, das Schmecken, das
Riechen oder das Tasten; und wiederum entweder die Weisheit
(sapientia), die Einsicht (intellectus), der Rat (consilium), die
Tapferkeit (fortitudo), die Erkenntnis (scientia), die
Frömmigkeit (pietas) oder die Gottesfurcht (timor). Demgemäß
also will der allmächtige Gott die verschiedenen Stände
(ordines) in seine Kirche stellen, einige nämlich, die sich im
Fleisch zu üben scheinen, derentwegen vor allem die
körperlichen Sakramente (corporalia sacramenta) eingerichtet
wurden, als auch andere, die sich eher im Geist als im Fleisch
üben. Der Herr gab nämlich der Kirche die Presbyter wie
Ohren, um die Schüler in der Lehre des Herrn zu bilden und zu
lehren; er gab die Diakone wie einen Mund, damit sie
verkünden, was sie von den Presbytern gehört haben; die
Bischöfe wie Hände, die sie [die Kirche] vor den Bissen der
Wölfe verteidigen […]; die Asketen wie Augen, die ruhen,
während sie kontemplieren und Ausschau halten nach der
glücklichen Hoffnung und nach der Ankunft der Herrlichkeit
des großen Gottes sowie des Heilands, unseres Jesus Christus.
Den allgemeinen Klerus gab er wie eine Nase, damit sie
psalmodieren und vor dem Herrn bekennen; ihm [dem Klerus]
sind auch die enthaltsamen Laien verbunden und die, die der
Fortpflanzung wegen Weiber nehmen oder auch weil sie sich
nicht zu enthalten vermögen.2
Die symbolische Ordnung der Dispositio besagt demnach, daß in der
Geistkirche des dritten Status alle diese „Körpersinne“ in einem
Menschen zusammengekommen sind, wie im Epheserbrief
angekündigt, und daß auf diesen kollektiven Messias der Geist des
Herrn herabgekommen ist, wie von Jesaja prophezeit. So addieren
sich die fünf Funktionen des Leibes mit den sieben göttlich
1
Exp. I, fol.32rb-va; Ps 118,20 Vg iuxta LXX; vgl. Mt 8,17; 2 Kor 13,4; Röm
8,17; Phil 2,8.
2
Ench., Burger 70,1983-2000; vgl. Exp. Intr., fol.16vb-17ra.
385 ABBILDUNGEN

verliehenen Charismata zur Zahl Zwölf, dem Symbol des vollendeten


Menschen – oder besser: der vollendeten menschlichen Gesellschaft.
Das Kloster: Analog zu den Verfassungsdokumenten der
Zisterzienser setzt Joachims Entwurf die Regel des Benedikt voraus
und beansprucht, sie gestreng einzuhalten. Insofern steht er in der
Tradition der monastischen Reformbewegung seiner Zeit. Wann
immer also im Text von der Regel die Rede ist, ist die Benediktregel
gemeint; und die Dispositio ist nichts anderes als eine
Konkretisierung, die den antizipierten gesellschaftlichen Verhältnissen
des dritten Status angepaßt ist. Die obige Übersetzung von Tavola XII
wurde absichtlich um eine Reihe von Anmerkungen ergänzt, um auf
die zahlreichen Bezüge zur Regel zu verweisen und so den Charakter
des Textes deutlicher hervortreten zu lassen. Man erinnere sich an
Joachims Bemerkung, Benedikt habe durch Institutionen prophezeit.
Joachim kann diese Prophezeiung deshalb konkretisieren, weil er
schon die Prozesse beobachtet, in denen sie sich demnächst erfüllen
wird. Er glaubt, die institutionelle Prophetie konsequent fortzuführen
und hat daher seine Dispositio durchgängig im Futur verfaßt.
Der Begriff novus ordo vereint die Bedeutungen „Neuordnung“
und „Neuer Orden“, da die ganze Kirche ein einziger Orden geworden
ist. Joachim aber kann die Gestalt dieses Ordens nur konkret werden
lassen, wenn er den Plan eines Musterklos[[@Page:324]]ters zeichnet.
Damit steht er in einer langen Tradition, die schon im 9. Jahrhundert
ihren Ausgang nimmt. Allerdings zeigen sich auch große
Unterschiede. Während im archetypischen Klosterplan von St. Gallen
selbst die Maße von Latrinen und die genauen Positionen von Möbeln
verzeichnet sind,1 finden sich bei Joachim kaum architektonische
Anweisungen. Die einzige Ausnahme sind die Vorschriften für eine
große räumliche Distanz zwischen dem Kloster und dem Oratorium
der Kleriker (3 Meilen) und eine geringere zwischen den Oratorien der
Kleriker und der Verheirateten (3 Stadien). Die Maße können im
Sinne von Richtlinien durchaus wörtlich genommen werden, denn
nach zisterziensischen und florensischen Vorstellungen sollten Klöster
in unwirtlichen Bergeshöhen oder menschenleeren Einöden erbaut
werden, fernab von den Siedlungen der Laien. Wenn die Kleriker den
Verheirateten räumlich näherstehen als den Mönchen, so ist dies ein
Teil der institutionellen Symbolik, die sich auf das politisch
Essentielle beschränkt. In einem Punkt jedoch deckt sich das Konzept
der Dispositio mit dem Ziel der Klosterpläne: in der Herstellung von
sozialer Uniformität über große räumliche Distanzen hinweg. Dem
Chronisten Fra Salimbene zufolge, wurde die Dispositio im 13.
Jahrhundert von neuen monastischen Gruppierungen als Maßstab
benutzt, nicht zuletzt weil sie beanspruchten, die Prophezeiung

1
Hecht, Konrad: Der St. Galler Klosterplan. Wiesbaden: VMA, 1997, S.102ff.
386 ABBILDUNGEN

Joachims zu erfüllen.1
Wenn Joachim darauf besteht, daß zum eigentlichen Kloster
(monasterium) nur Mönche zugelassen werden und vor allem die
Laien deutlich abgegrenzt in eigenen Häusern wohnen, entspricht dies
den Vorstellungen der zisterziensischen Gründer.2 Das Oratorium der
Verheirateten ist aber nicht einfach nur Laiensiedlung, sondern fest an
das Kloster angeschlossen. Joachim hat sich dabei wahrscheinlich an
den zisterziensischen Grangien orientiert, die den Klöstern vorgelagert
waren und in denen die Konversen die verschiedenen Gewerbe des
Ordens betrieben.3 Seine wichtigste Weiterentwicklung dieses
Systems besteht darin, daß er die zwitterhafte Existenzform des
regulierten Klerikertums zwischen Mönche und Laien einschaltet, um
zu verhindern, daß der höchste und der niedrigste Stand miteinander
in Kontakt treten müssen.
Die Namen der Oratorien und die Tiersymbole: Die Namen der
Oratorien verdeutlichen, daß die Ordnung des dritten Status das
Ergebnis der gesamten trinitarisch strukturierten Heilsgeschichte ist.
Der Urvater des Laienpatriarchats ist Abraham, mit dem der erste
Status des Vaters beginnt. Daher versammeln sich die Laien noch in
der Endzeit unter seinem Namen. Johannes der Täufer ist das Urbild
des priesterlichen Sakramentsspenders, der den zweiten Status des
Sohnes einleitet. Unter seinem Namen versammeln sich alle Kleriker,
die den Buchstaben lehren und mit Wasser taufen. Etwas komplexer
ist die Sache bei den Mönchen, die in fünf Oratorien aufgeteilt sind.
Aber auch [[@Page:325]]dort verweisen die Namen der Häuser auf
das gleiche Grundprinzip: Die endzeitliche Kirche ist das Resultat der
Gesamtgeschichte, und alle religiones, die im Laufe der Zeit im
Gottesvolk entstanden sind, werden im novus ordo vereint. In den
einzelnen Zeiten (tempora) des zweiten Status jedoch tritt die Kirche
den Truppen des Satans in Gestalt besonderer Stände (ordines
speciales) gegenüber: Apostel gegen Juden, Märtyrer gegen die
heidnische Idolatrie, Kirchenlehrer gegen Häretiker, Asketen gegen
Sarazenen und den Luxus dieser Welt. Schließlich kämpft die
allgemeine römische Kirche gegen das Imperium, ja sogar die gesamte
Menge der Gläubigen gegen die gesamte Menge der Verworfenen.4
1
Wessley 1990, S.62.
2
„Et cum alicubi curtes ad agriculturas exercendas instituissent, decreverunt ut
praedicti conversi domos illas regerent, non monachi, quia habitatio monacho-
rum secundum regulam debet esse in claustro eorum.“ Exordium parvum XV,
Bouton/Van Damme 78,12. Auch Papst Kalixt II. meinte bei der Bestätigung
der Carta caritatis noch einmal betonen zu müssen: „Interdicimus autem ne
quis conversos, laicos vel professos vestros ad habitandum suscipiat.“ Carta
caritatis prior. Privilegium domini papae, Bouton/Van Damme 104,7. Vgl. Ca-
pitula Cisterciensis ordinis XVIIII, Bouton/Van Damme 123.
3
Vgl. Capitula Cisterciensis ordinis XV, Bouton/Van Damme 123.
4
Die Kämpfe werden in Joachims Werk immer wieder zitiert. Eine knappe
Zusammenfassung findet sich in Ench. 88,2581-89,2625 und in überarbeiteter
387 ABBILDUNGEN

Die Sondereinheiten der „Soldaten Jerusalems“ (milites


Hierusalem) sind identisch mit den Eliten, deren Nachfolge die
Gemeinschaften der Geistmänner antreten.1 Sie treten zwar zu
bestimmten Zeiten besonders in Erscheinung, die Joachim in den
Kapiteln der Apokalypse beschrieben sieht, bilden aber gemeinsam
die Bürgerschaft des himmlischen Jerusalem (Isti sunt quinque
precipui ordines, qui quinque libri partibus ascribuntur; ex quibus
quinque partes celestis civitatis perficiuntur).2 Daher müssen sie im
novus ordo, der die himmlische Ordnung vorwegnimmt, ihren Ort
haben. So findet die apostolische Sukzession im Oratorium des Petrus
statt, zeigt sich aber reichlich altersschwach. Die Märtyrer, die ihren
Leib opfern, finden ihre Nachfolger in den Arbeitermönchen des
Stephansoratoriums, die der Gemeinschaft ebenfalls mit leiblichen
Ressourcen dienen. Auf die Kirchenlehrer des zweiten Status folgen
die Lehrer der Klosterschule. Und die Asketen haben in den
Kontemplativen des novus ordo strenge Nacheiferer.
Die Tiersymbole der Dispositio sind den Himmelsvisionen des
Propheten Ezechiel und des Sehers Johannes nachempfunden. 3 Löwe,
Kalb, Mensch und Adler fanden sich im Mittelalter oft an den
Seitenplatten griechischer Kreuze wieder und symbolisierten die vier
Evangelisten. Joachim wiederum sieht in den vier Evangelisten
Zeichen für die vier besonderen Stände, die alle auf ihre Weise das
Evangelium verkünden.4 [[@Page:326]]Aus politischer Sicht ist

Fassung in Exp. Intr., fol.23vb-24rb.


1
Ench., Burger 88,2572-2581.
2
Praeph. Apc. II, Selge 121,461-463. Dort ist weiterhin von den Konversen und
Verheirateten die Rede, die der eigentlichen Stadt als Vorstädte (suburbana)
und Dörfer (vici) angeschlossen werden. Die Konversen hat Joachim in Tavola
XII durch regulierte Priester ersetzt.
3
[[Ez 1,4-28 >> Bible:Hes 1,4-28]]; Offb 4,2-11. Es können an dieser Stelle
nicht alle Bedeutungen dieser Symbolik besprochen werden, zu der sich
zahllose Parallelstellen in Joachims Kommentarwerken finden. Vgl. dazu
Reeves/Hirsch-Reich 1972, S.232ff. und den Kommentar zu Tavola XV, die die
Himmelsvision des Ezechiel veranschaulicht, ebd., S.224ff.
4
„Quatuor vero evangeliste quatuor predicantium genera in hac parte designant,
qui ad instruendos quatuor ordines istos primitias spiritus acceperunt gerentes
in hac parte mysterii vicem filii Dei, ut predicantes predicatoribus qualiter eis
vivendum sit intimarent, et quod ipsi in semetipsis acciperent in plebium multi-
tudinem propagarent. Verbi gratia evangelista Marcus apostolos primos testes
scilicet dominice resurrectionis designat, qui fidei fundamenta prima post
Dominum posuerunt. Lucas primos diacones quorum unum, hoc est, philippum,
ipsemet nominat evangelista, qui exemplum suum posteris tam verbis quam
operibus reliquerunt. Matheus significat doctores primos paulum scilicet et so-
cios eius qui manente adhuc in iudea duodeno apostolorum numero predicare
gentibus missi sunt. De quorum etiam fonte biberunt et adhuc bibunt omnes,
qui post ipsos apostolos doctorum officium acceperunt. Designat ioannes vir-
gines utriusque sexus qui in ecclesia primitiva fuerunt, a quibus virginitatis
exemplum in posteros derivatum est.“ Exp. II, fol.107vb.
388 ABBILDUNGEN

interessant, daß er eine Hierarchie der Evangelien einführt, welche die


vier Oratorien betrifft, die symbolisch mit ihnen verbunden sind.
Johannes sah die Tiere rings um den Thron Gottes sitzen, und
Ezechiel vermerkte genau ihre Blickrichtung. Daraus glaubt Joachim
ableiten zu können, welcher Wissensgehalt den einzelnen Evangelien
zukommt. Von Matthäus, der noch ganz im alttestamentlichen Denken
verhaftet ist, reicht demnach der Erkenntnisfortschritt über Lukas und
Markus bis zu Johannes, dessen Evangelium die höchsten
Geheimnisse enthält.1 So zeigt die Dispositio eine Hierarchie der
Oratorien, die bei den vergreisten Klerikern des Petrusoratoriums
beginnt und gegen den Uhrzeigersinn bis zu den Kontemplativen im
Oratorium des Evangelisten Johannes führt.2 Joachims Symbolik
verweist auf das immergleiche Prinzip seines politischen Denkens: Je
später eine Gesellschaftsform in der Geschichte des Gottesvolkes
auftritt, desto größer ist ihre Einsicht in die himmlischen Dinge; je
größer aber ihr Wissen, desto größer ist ihre Fähigkeit zur
Verherrlichung Gottes; und je größer ihr Anteil am Gotteslob, desto
höher ist der Rang, den sie in der vollendeten Ordnung des dritten
Status einnimmt.
Joachim ordnet auch den anderen drei Oratorien Tiersymbole zu,
die keiner längeren Erklärung bedürfen: Die Taube steht sowohl für
die allgemeine Kirche als auch für den Heiligen Geist, der sie zur
theokratischen Vollendung führt. Der bellende Hund ist ein
konventionelles Symbol für das Predigertum.3 Und schließlich werden
die Laien als Schafe bezeichnet, denn wenn das Babylon der
weltlichen Herrscher untergegangen ist, werden sie ihren wahren
Hirten untertan sein.

1
Tract. I,1, Santi 4,1-16. Joachim weicht von der traditionellen Reihenfolge
Matthäus – Markus – Lukas – Johannes ab.
2
„Sed melius elucescet quod dicitur, si singulorum animalium perscrutamur
naturas non quidem istorum in quibus veritas est, sed eorum que infra sunt, et
in typo deserviunt. Leo fortissimus bestiarum ad nullius pavet occursum. Bos
patientissimus ad portandum laborem solus inter quatuor offerri in sacrificium
consuevit. Homo rationis capax et sapientie particeps solus novit discernere in-
ter bonum et malum. Aquila superni aeris permeatrix et incola irreverberatis so-
lem oculis speculari dicitur omneque pennigerum genus infra se dimitterre exti-
matur. Hec quam breviter dicta sunt de singulorum naturis, ut per ea gratiarum
dona singulis ordinibus propria vestigare possimus, sine quibus palmam iustitie
nullus apprehendere potest. Primum est fortitudo fidei quam designat fortitudo
leonis. Secundum patientia designata in tolerantia vituli. Tertium doctrine
puritas in humilitate fundata, quam ratio simul et infirmitas in uno simul
homine convenientes designant. Quartum est contemplatio Dei quam designat
aquile volatus […].“ Exp. II, fol.106va-vb, korr. n. Selge.
3
Vgl. Conc. V,88, fol.117rb; Reeves/Hirsch-Reich 1972, S.237.
389 ABBILDUNGEN

Die pragmatische Dimension der Dispositio wird im folgenden zwar


gesondert untersucht, ist aber als integraler Bestandteil der
symbolischen Struktur zu sehen. Joachims Fortschrittsbewußtsein
äußert sich beinahe in jedem Detail seines Entwurfes. Zwar ist
[[@Page:327]]er in keinem anderen Werk so konkret auf die
Verwaltungsstrukturen des novus ordo eingegangen, aber das heißt
nicht, daß man Tavola XII als eine Gedankenspielerei auffassen darf.
Natürlich mag der Abt nicht unbedingt mit einer weltweiten Eins-zu-
eins-Umsetzung seines Planes gerechnet haben, aber im Großen und
Ganzen hat er sich die gesellschaftliche Zukunft so ausgemalt.
Allerdings ist nicht jeder Bestandteil der Dispositio prophetischer
Natur. Sieht man genauer hin, so stellt man fest, daß verschiedene
zeitgenössische Entwicklungen in die Dispositio eingeflossen sind,
etwa die Laienbewegungen und die Monastisierung des Klerus. Der
Fehler, insoweit man ihn einem Mönch aus dem 12. Jahrhundert zum
Vorwurf machen kann, liegt natürlich darin, daß die
Gesellschaftsentwicklung des Abendlandes zum Maßstab der
künftigen Weltordnung gemacht wird. Joachim war aber keineswegs
der letzte politische Denker, der diesen Fehler beging.
Armut und gemeinschaftliches Eigentum: Da Joachim die
Benediktregel voraussetzt, muß er nicht eigens betonen, daß jegliches
Privateigentum verboten ist.1 Dies gilt selbstverständlich auch für die
Kleriker, die sich der vita communis unterwerfen. Lediglich bei den
Laien wird gesondert darauf hingewiesen, daß sie Nahrung und
Kleidung aus dem gemeinschaftlichen Besitz erhalten. Was den
Gemeinbesitz bzw. den jeweiligen Grad der Armut angeht, so zeigen
sich allerdings Unterschiede, denn bei den Klerikern sind Fleisch- und
Pelzprodukte nicht verpönt. Da sie Ackerbau und Viehzucht betreiben,
setzt dies überdies den Besitz von Land und Tieren voraus. Den Laien
muß freilich, auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, der
Besitz an den Produktionsmitteln gewährt werden, die für die
Handarbeit erforderlich sind. Denkt man aber an das Vorbild der
zisterziensischen Grangien, ist anzunehmen, daß der Besitz aller drei
Stände aus dem Eigentum des Klosters hervorgeht.
Uniformität: Im Benedikttraktat preist Joachim die Uniformität,
die die zisterziensensischen „Tauben“ erreicht hätten, und klagt über
das unkoordinierte Mönchtum der altbenediktinischen „Raben“, die
sich gegen die fortschrittliche Neuerung des Generalkapitels wehren
würden.2 Da Joachim seinen Verfassungsentwurf nicht für ein einziges
Kloster verfaßt hat, sondern im Anschluß an zisterziensische
Vorstellungen für alle Gründungen des novus ordo,3 hat er das
1
Vgl. [[Reg. Ben. 33 >> RuleOfStBenedict:RB 33]]; [[58,24 >> RuleOfSt-
Benedict:RB 58.24]]; [[59,16 >> RuleOfStBenedict:RB 59.16]].
2
Vita Ben. 4, Baraut 17,42-18,58.
3
Vgl. Eberl, Immo: Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens.
Stuttgart: Thorbecke, 2002, S.122ff.
390 ABBILDUNGEN

pachomianische Prinzip der Uniformität auf seine Weise aktualisiert


und auf die Gesamtkirche ausgedehnt.
In diesem Sinne kritisiert er das griechische Mönchtum, dem
Basilius so strikte Fastenregeln gegeben habe, daß es nur
undifferenziert (indifferenter) mit verschiedenen Begabungen der
Menschen umgehen könne. Die Benediktregel erlaube dem Mönchtum
ein viel größeres Wachstum,1 das heißt, es kann sich breitere
Bevölkerungsschichten erschließen. Allerdings bedarf Joachim dazu
einer kollektivistischen Auslegung der Benediktregel. Denn wo diese
in individuellen Fällen Milderungen der Regel oder über die Regel
hinausgehende Sonderleistungen erlaubt, bezieht dies Joachim auf
einen ganzen Mönchstypus, der sich jeweils in einem der Oratorien
des Klosters findet. Wo [[@Page:328]]Benedikt körperliche Arbeit
und Gebet für alle vorsah, findet sich in Joachims Entwurf eine
diffizile Arbeitsteilung, die den Anlagen der verschiedenen Typen
gerecht wird.2 Fastenvorschriften und Kleiderregeln sind der
jeweiligen Mönchsspezies angepaßt. So befolgen zum Beispiel die
kontemplativen Mönche die strengste Fastenregel und tragen niemals
Arbeitskleidung. Die Arbeitermönche des Stephansoratoriums
bekommen dagegen etwas reichlichere Kost und tragen statt der
Kutten stets das praktische Skapulier. Die Laien schließlich brauchen
nur freitags zu fasten und selbst das nur im Winter. Dies ist in der Tat
nichts, was nicht jedermann bewältigen könnte. Joachims Konzeption
ist massentauglich, weil sie niemanden überfordert. So bringt sie die
koinobitische Gemeinschaftsidee mit dem paulinischen corpus-
Konzept in Übereinstimmung. Das heißt, Uniformität gilt jeweils für
alle Menschen, die gemäß ihren Begabungen gemeinsam ein Glied am
Leib Christi formen.
Das Regierungssystem: Die Dispositio sieht eine differenzierte
Befehlshierarchie vor, die der ständischen Ordnung gerecht wird. Im
Zentrum steht der Abt, der geistliche Vater, dessen Anordnungen alle
gehorchen, wie mehrfach hervorgehoben wird. Auch in der
Benediktregel wird der Abt pater spiritualis genannt und tritt als
solcher an die Stelle des paterfamilias. Die Mönche, die sich von
ihren leiblichen Verwandtschaftsbeziehungen losgesagt haben,
gründen eine geistliche Brüderschaft, die in einem Adoptivverhältnis
zum himmlischen Vater steht. Gott aber läßt sich im Kloster durch den
Abt vertreten.3 In Elischa, der ausgestattet mit dem Geist Gottes über
1
Conc. V,17, fol.69ra.
2
Eine solche Arbeitsteilung sieht die Benediktregel nicht vor, vielmehr könne
erst dann wahrhaft von einem Mönch gesprochen werden, wenn dieser von der
Arbeit seiner eigenen Hände lebe. [[Reg. Ben. 48,8 >> RuleOfStBenedict:RB
48.8]].
3
Benedikt verweist darauf, daß der Abtstitel seit jeher eine Vaterschaft im
Geiste bedeutet, gegenüber der Gehorsam geboten ist: „Der Glaube sagt ja: Er
vertritt im Kloster die Stelle Christi; wird er doch mit dessen Namen angeredet
391 ABBILDUNGEN

seine Prophetenjünger gebot, erblickt Joachim den Archetypen des


pater spiritualis.1
Am Anfang des dritten Status wird eine ganze Reihe dieser
herausragenden Männer durch Ermahnungen und beispielhaftes
Verhalten die Gläubigen von der vanitas seculi bekehren und zum
Eintritt ins Kloster veranlassen.2 An manchen Stellen in Joachims
Werk sieht es so aus, als seien die patres spirituales mit jenen zwölf
künftigen Gründern identisch, die nach der trina concordia den zwölf
Stammesgründern des ersten Status und den zwölf Kirchengründern
des zweiten Status entsprechen.3 Eine Stelle in der Expositio besagt,
daß Christus, der wahre oberste Pontifex, zwölf Männer als seine
Stellvertreter bestellen wird.4 Das spricht noch nicht für das Ende des
Papsttums, aber sehr wohl dagegen, daß es in der Geistkirche noch
eine dominante Rolle spielen wird. [[@Page:329]]Der Thron Gottes
(sedes Dei), den Johannes im himmlischen Jerusalem erblicken
konnte, wird nach Joachims proleptischer Konzeption in den Abteien
des dritten Status aufgestellt; die geistlichen Väter sind die obersten
Prälaten einer theokratischen Ordnung, in der alles nach der Weisung
Gottes eingerichtet wird.5 Der vergreiste Episkopat des zweiten Status,
den Papst vielleicht eingeschlossen, findet sich im Haus der Alten und
Kranken wieder, das nicht umsonst Oratorium des Petrus heißt und
mit dem klerikalen Signum der Hand (manus) gekennzeichnet ist.
Lange Zeit haben die Bischöfe die Kirche tapfer vor ihren Feinden
beschützt, aber wozu bedarf es ihrer starken Arme in der Zeit des
Friedens?
Unter den Gründungen der zwölf Äbte versteht Joachim nicht
einfache Klöster, sondern gemäß der zisterziensischen Konzeption die
Mutterabteien, welche ihrerseits zahlreiche Klöster hervorbringen.6 In
nach dem Wort des Apostels: ‚Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu
Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!‘“ [[Reg. Ben. 2,2 >>
RuleOfStBenedict:RB 2.2]]f. „[…] denn was ohne Erlaubnis des geistlichen
Vaters (pater spiritalis) geschieht, wird einmal als Anmaßung und eitle
Ehrsucht gelten.“ [[Reg. Ben 49,9 >> RuleOfStBenedict:RB 49.9]]; vgl. [[2,2
>> RuleOfStBenedict:RB 2.2]]; [[3,5 >> RuleOfStBenedict:RB 3.5]]; [[4,61 >>
RuleOfStBenedict:RB 4.61]].
1
„In corona stellarum duodecim, patres spiritales, quibus fratrum obtemperat
multitudo, quorum typum tenuit Helyseus, qui quondam fratrum multitudini
prefuit in Jerico.“ Exp. IV, fol.156ra; vgl. Conc. IIIa,17, fol.34rb, Daniel
259,183; vgl. 2 Kön 2.
2
Psalt. II, fol.270vb-271ra.
3
Z.B. Exp. IV, fol.156ra.
4
Exp. III, fol.126va.
5
Conc. V,67, fol.96rb-va.
6
Vgl. Pásztor, Edith: „Architettura monastica, sistemazione urbanistica e lavoro
nel Novus Ordo auspicato da Gioacchino da Fiore“, in: Istituto Nazionale
d’Archeologia e Storia dell’Arte, Roma (Hrsg.): I Cisterciensi e il Lazio. Atti
delle giornate di studio dell'Istituto di Storia dell'Arte dell'Università di Roma,
17-21 maggio 1977. Rom 1978, S.149-156, S.150a.
392 ABBILDUNGEN

diesem Sinne nennt die Dispositio den Sitz des geistlichen Vaters
mater omnium. Es sind die „Mutterkirchen“ (so ausdrücklich im Text
zum Oratorium des Täufers) der ecclesia spiritualis, von denen eine
neue Bekehrung ausgehen wird, wie zu Zeiten der apostolischen
Gründungen. Um die geographischen Dimensionen zu erfassen, an die
hier gedacht ist, muß man sich wiederum an Joachims Vorbild
Bernhard erinnern, unter dessen Leitung allein die Mutterabtei
Clairvaux über sechzig Klöster gründete, von Norwegen bis Spanien. 1
Bisweilen fragt sich Joachim, ob in den zisterziensischen
Primarabteien (Cîteaux, La Ferté, Pontigny, Clairvaux, Morimond)
schon die ersten fünf Hauptsitze der kommenden Kirche zu sehen
sind.2 Wiederum also versucht Joachim lediglich einen
zeitgenössischen Prozeß konsequent zu Ende zu denken. Das Prinzip
aber, das hinter seinen Ausführungen steht, ist das geschichtsmächtige
Movens allen Koinobitentums, nämlich der alte pachomianische Plan,
die körperliche Welt durch Klostergründungen sukzessive in eine
spirituelle zu verwandeln.
Gemäß der internen Leitungsstruktur der Dispositio kontrolliert
der geistliche Vater den Fortschritt der Mönche. Ihm allein obliegt es,
den Leistungsbereiten einen Aufstieg in der ständischen Ordnung zu
gestatten. Er allein hat auch das Recht, Mönche von Bestimmungen
der Regel oder der Dispositio auszunehmen. Wie schon bei Pachomius
gebührt dem Abt der größte Gehorsam, aber er wird dadurch auch
rechenschaftspflichtig. Jedes der Oratorien bzw. Häuser untersteht
einem Prior, der die Anordnungen des Abtes exekutiert. Selbst die
vergeistigten Mönche des Johannesoratoriums sind nicht vom
Gehorsam gegenüber Abt und Prior ausgenommen, aber sie sind
schonend zu behandeln. Denn ihre Meditation zu stören, hieße den
spirituellen Quellfluß zu trüben und damit der gesamten Gemeinschaft
zum Schaden zu gereichen. Prinzipiell weicht [[@Page:330]]die
Leitungsstruktur nur bei den Laien ab, wo anstatt des Priors die
Meister (magistri) die Anweisungen des geistlichen Vaters ausführen.
Insgesamt aber hat die Regierung des Abtes wenig mit Herrschaft
im weltlichen Sinne zu tun. Seine Aufgabe besteht in erster Linie im
Verwalten von Personen und Gütern. Das Wort dispositio bedeutet in
der mittelalterlichen Urkundenlehre die Beschreibung eines Recht
setzenden Aktes. Aber zugleich ist dispositio die Übersetzung des
griechischen Wortes οἰκονομία,3 und damit ist schon viel gesagt. Am
Anfang des dritten Status wird die Geistkirche zwar in aller Welt
1
Eberl 2002, S.69ff.
2
Conc. IV,36, fol.57vb-58ra, Daniel 411,71-413,107; Conc. IV,39, fol.59 va,
Daniel 419,242-247. Joachim stellt die Mönche, die sich um den geistlichen
Vater versammeln, ausdrücklich auf eine Stufe mit den Zisterziensern, insofern
er ihnen die zisterziensische Fastenregel vorschreibt.
3
Dinzelbacher, Peter (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart:
Kröner, 1992, S.180.
393 ABBILDUNGEN

öffentlich auftreten, aber ihr Beispiel wird die Menschheit zum


Rückzug in die Klöster oder zumindest deren Umgebung veranlassen.1
Der dritte Status bedeutet daher nicht nur das Ende der weltlichen
Herrscher, sondern das Ende von Öffentlichkeit überhaupt. Nach
Joachims Vorstellungen unterliegt in der Endzeit alles Ordnen
menschlicher Gemeinschaft der Haushaltsführung geistlicher Väter.
Daher gelten klare ökonomische Regeln.
Wirtschaft: Im Liber Concordiae sagt Joachim, die
zisterziensischen Konversen und alle monastisch orientierten Laien
seien vom Herrn zur Unterstützung der Kleriker und Mönche
erschaffen worden (in adiutorium clericorum aut monachorum creati
sunt a domino) und in Erfüllung ihrer Funktion hätten sie Anspruch
auf jenseitige Erlösung.2 Dieser Gedanke ist der Ausgangspunkt von
Joachims ökonomischem Konzept. Der Laienstand besorgt alle
Notwendigkeiten, die die Menschen plagen, solange sie noch an den
sterblichen Leib gebunden sind (operatur cibum corporis perituri).3
Zu diesem Zweck teilt Joachim die coniugati in Berufsgruppen, denen
jeweils ein Meister vorsteht. Er wird dabei ebenso an das aufblühende
Zunftwesen in den Städten gedacht haben, wie an die zisterziensischen
Grangien, in denen sich neben der Landwirtschaft zunehmend
handwerkliche Großbetriebe herausbildeten.4 Zisterzienserklöster
konnten schon im 12. Jahrhundert neben Mühlen, Bäckereien,
Tischlereien auch Hochöfen, Hammerwerke, Glas- und Ziegelhütten
besitzen. Es gab kaum einen Wirtschaftsbereich, in dem der Orden
nicht tätig gewesen wäre. Die Produktion sicherte nicht nur die
Autarkie der Niederlassungen, sondern reichte aus, um die Märkte der
Umgebung zu bedienen.5 Bei Joachim, der die Annäherung der
Zisterzienser an die weltliche Wirtschaft scharf kritisiert, spielt der
Handel freilich keine Rolle mehr. Es ist ohnehin fraglich, ob nach
Joachims Ansicht außerhalb der novus ordo überhaupt noch Menschen
existieren werden.6 [[@Page:331]]Denn daß der novus ordo die
1
Exp. VIII, fol.221rb.
2
Conc. V,18, fol.69va-vb.
3
Conc. V,71, fol.100rb.
4
Beide Entwicklungen verliefen natürlich nicht unabhängig voneinander. Die
Tatsache, daß Joachim einen Meister für jedes Handwerk vorsieht, verweist
eher auf die städtischen Zünfte als auf die Grangien, wo es jeweils nur einen
magister grangiae gab. Dem Zunftwesen entspricht auch, daß Joachim jeweils
die gesamten Familien den Handwerksvereinigungen unterstellt. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß er dabei an eine Monastisierung der Städte gedacht hat,
also an die Eingliederung der Stadtbevölkerung in den Laienstand des Neuen
Ordens. Dafür gab es zu seinen Zeiten insofern empirische Anhaltspunkte, als
die Grangien zunehmend in Städte verlagert wurden. Eberl 2002, S.250ff.
5
Eberl 2002, S.239ff.
6
Im Gegensatz zu zisterziensischen Statuten finden sich bei Joachim keine
Vorschriften, die Schenkungen an das Kloster regeln. Das Gästehaus wird wohl
eher der Aufnahme von Pilgern und reisenden Ordensmitgliedern aus anderen
394 ABBILDUNGEN

Gesamtgesellschaft umfaßt, läßt sich am besten an den Verheirateten


(coniugati) im Abrahamsoratorium zeigen. Sie unterscheiden sich in
mehrerlei Hinsicht von den Konversen der Zisterzienser:
1. Sie legen kein Keuschheitsgelübde ab. Wahrscheinlich
erwartete Joachim keinen Nachwuchs von außerhalb des novus ordo,
denn die Dispositio regelt zwar den Aufstieg innerhalb der
Ständehierarchie, nicht aber die Aufnahme neuer Mitglieder. Weil er
das zisterziensische Ideal absoluter Autarkie selbst in diesem Punkt
erfüllt sehen will, muß Joachim den coniugati den Umgang mit
Frauen gestatten, um den Nachwuchs zu sichern; freilich soll dies in
monastischer Gesinnung und nicht der Wollust wegen geschehen.
Joachim hat hier offensichtlich neue Frömmigkeitsbewegungen wie
die Humiliaten berücksichtigt, die zunehmend das Laientum erfaßten.
(Im Gegensatz zu diesen verhält er sich freilich zur sozialen Stellung
der Frau völlig konservativ.) Wie er einmal sagt, deuten die
gewaltigen Engelsscharen, die Johannes von Patmos im Himmel
erblickte, auf eine unendlich große Menge von Laien (infinita
laicorum multitudo) hin, die sich dazu entschließt, zum Lobe Gottes
den Mönchen nachzueifern.1 Bei den Verheirateten des novus ordo ist
also an eine Massenbewegung gedacht. Da sie aber dem Orden
angehören, sich der vita communis und der Weisung des Abtes
unterwerfen, sind sie keine bloßen Laien mehr. Der Status der
coniugati zeigt, daß Joachim zumindest in diesem Bereich eine
halbwegs realistische Einschätzung der zeitgenössischen Strömungen
gelungen ist. Denn im 13. Jahrhundert hat sich seine Prophezeiung in
den Dritten Orden der Mendikanten erfüllt – natürlich in
bescheidenerem Maßstab.
2. Einerseits ist die Arbeit der coniugati ein integraler Bestandteil
der Klosterwirtschaft, weil sie der Verwaltung des Abtes unterliegt.
Andererseits erwirtschaften sie zunächst ihren Eigenbedarf. Nach dem
Prinzip der vita communis gehen die Produkte in den Gemeinbesitz
der Laien ein und werden von dort aus umverteilt – ausdrücklich
erwähnt wird dies im Fall von Kleidung und Nahrung. Von der
Gesamtproduktion muß lediglich der Zehent an den Klerus abgeführt
werden. Dies deutet auf eine relativ große Unabhängigkeit der Laien
hin. Die Konversen der Zisterzienser produzierten dagegen direkt für
den Klosterbesitz. Allerdings behält die Dispositio dem Ermessen
(arbitrium) des Abtes vor, Überproduktion abzuschöpfen und
umzuverteilen. Die Zunftmeister sind dem pater spiritualis zwar
Niederlassungen gedacht sein. Da es sich dabei auch um Angehörige aus dem
Laienstand handeln kann, ist es sinnvollerweise außerhalb des
Klerikeroratoriums gelegen. Der einzige Hinweis auf ordensfremde Menschen
könnte die Vorschrift sein, daß sich Kleriker um Arme kümmern sollen. Aber
auch das kann sich auf Arbeitsunfähige, Witwen und Waisen im
Abrahamsoratorium beziehen.
1
Exp. I, fol.113ra; vgl. Offb 5,11 i.V.m. [[Hebr 12,22 >> Bible:Heb 12,22]].
395 ABBILDUNGEN

rechenschaftspflichtig, tragen aber Verantwortung dafür, daß die


Produktion reibungslos verläuft. Dies entspricht dem großen
Handlungsspielraum, der einem zisterziensischen Grangienmeister
bemessen war.1 Joachim sieht schließlich sogar ein kollektives
Anklageverfahren gegen Müßiggänger vor, das die Laien offenbar in
Eigenverantwortung betreiben sollen und das die Meister
[[@Page:332]]berechtigt, Zwangsmittel anzuwenden.2
3. Die Laien tragen zwar bescheidene und unauffällige Kleidung,
aber im Gegensatz zu den Konversen keinerlei Mönchstracht. Dies
belegt noch einmal, daß die ständische Ordnung in Joachims novus
ordo nicht aufgehoben wird. Laien werden weiter Laien genannt und
Kleriker weiter Kleriker. Die Trennung zwischen den Ständen ist
strikt, lediglich die Priester vermitteln zwischen Mönchen und Laien.
Konversengassen nach zisterziensischem Vorbild sind nicht
vorgesehen, den Laien bleibt es untersagt, das Kloster zu betreten.3
Gleichwohl sind Kleriker- und Laienstand in die theokratische
Ordnung der Geistkirche eingeordnet. An Stelle Gottes regiert der
Abt,4 dem vor allem in ökonomischer Hinsicht alle drei Stände
untertan sein werden (cui omnes ordines isti obidientes erunt).
Eine besondere Betrachtung verdienen die Regelungen, die den
Zehent angehen. Wenn Joachim vorsieht, daß die Kleriker den Zehent
direkt von den Laien entgegennehmen, entspricht dies dem
gregorianischen Ideal, denn Eigenkirchenherren wird es im dritten
Status selbstverständlich nicht mehr geben. Natürlich sollen die
Kleriker mit den Einnahmen Arme und Pilger versorgen. Aber dann
beginnt die Sache interessant zu werden, denn aus diesem Zehent muß
der zehnte Teil an die „Armen Christi“, also die Mönche, 5 abgeführt
werden. Mit dieser Vorschrift weicht Joachim von den Zisterziensern
ab, die den Zehent als unerlaubten Weltkontakt und Verstoß gegen die
monastische Reinheit (monastica puritas) betrachteten.6 Allerdings
richtete sich die Vorschrift gegen den Zehent aus fremder Arbeit
(alienus labor) und Joachim konnte sagen, der Zehent werde nur
innerhalb des Ordens weitergegeben, dem alle Stände angehören. Ihm
blieb ja gar nichts anderes übrig, als eine solche Regelung vorzusehen.
Denn seine Mönche sollten sich vor allem der Kontemplation und der

1
Eberl 2002, S.239.
2
Joachim wird nicht zuletzt an die Urgemeinde gedacht haben, der im zweiten
Thessalonicher geboten wird, in all ihren Gliedern für den eigenen Unterhalt zu
arbeiten. 2 Thess 3,10f.
3
Vgl. Exp. II, fol.112vb.
4
Vgl. [[Reg. Ben. 2,2 >> RuleOfStBenedict:RB 2.2]]; [[63,13 >> RuleOfSt-
Benedict:RB 63.13]].
5
Die Bezeichnung pauperes Christi für Mönche geht auf ein Wort des
Matthäusevangeliums zurück, wonach die Armen des Herrn alles zurücklassen,
um Christus nachzufolgen. Mt 19,17; vgl. Exp. I, fol.69rb.
6
Capitula Cisterciensis ordinis XXIII, Bouton/Van Damme 124.
396 ABBILDUNGEN

geistlichen Lehre widmen, lediglich die Mönche des


Stephansoratoriums sollten im größeren Maße zu körperlicher Arbeit
herangezogen werden. Freilich wurde im Mittelalter das Gebet der
Mönche als mindestens gleichwertiger Dienst an der Gemeinschaft
anerkannt.
Interessant ist weiterhin, daß die Kleriker selbst Ackerbau und
Viehzucht betreiben. Das zeigt, daß Joachim nicht an den höheren
Klerus dachte, der wie alles Prälatentum zum Mönchsstand übergehen
wird, sondern an die Priester der Niederkirchen. Denn diese waren
üblicherweise auf Landwirtschaft angewiesen, da sie von ihrem
kirchlichen Amt allein nicht leben konnten. Dem Niederklerus weist
Joachim die seelsorgerische Betreuung der Laien zu. Doch ganz im
Gegensatz zur damaligen Realität (wo im Bereich das Niederkirchen
das Zölibat kaum durchzuhalten war, da ein einfacher Priester ohne
Frau und Kinder sein Pfarrgut nur schwer bewirtschaften konnte 1),
[[@Page:333]]sieht die Dispositio strikte Regeln für den Umgang mit
Frauen vor.
Trotz ihrer Komplexität ist die Wirtschaftsordnung der Dispositio
insgesamt dem Bereich der Notwendigkeit zuzuordnen. Seine wahre
Bestimmung findet der Mensch nur in der Freiheit von der Sorge um
sein leibliches Wohlergehen. Die höchste Form menschlicher
Vervollkommnung erreichen nur die Mönche im Oratorium des
Evangelisten Johannes, die außer in zufälligen Notsituationen niemals
arbeiten, sondern unablässig ihre Psalmen darbringen. Joachims
Wirtschaftsordnung versucht auf dem Wege der Arbeitsteilung das
scheinbar Unmögliche zu konzipieren: die Inkorporation der
Anachoreten in die Gesellschaft.2
Bildung: Das Bildungswesen der Dispositio ist gemäß der
ständischen Ordnung dreistufig gegliedert und spiegelt auf
eigentümliche Weise die geschichtliche Erziehung der Menschheit
wider. Im Oratorium der Laien ist explizit nur von der Erziehung der
Mädchen die Rede. Da alle weiblichen Mitglieder des Ordens immer
im Laienstand bleiben, müssen sie wie das Gottesvolk des ersten
Status nur in der Gottesfurcht erzogen werden. Weiterhin kann man
annehmen, daß die Zünfte die Ausbildung im Handwerk übernehmen.
Lesen und Schreiben müssen die Laien für die Erfüllung ihrer
1
Tellenbach, Gerd: Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12.
Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, S.82.
2
Joachim spricht nicht ausdrücklich davon, aber es ist gut denkbar, daß er auch
für diese Entwicklung gewisse Tendenzen zu sehen glaubte. Bruno von Köln
hatte einst in Kalabrien die zweite große Niederlassung der Kartäuser
gegründet. Im Jahr 1193 aber, also etwa in der Zeit, in der die Dispositio
wahrscheinlich angefertigt wurde, wurde die Kartause in den
Zisterzienserorden eingegliedert. Hogg, James Lester: „Kartäuser“, in:
Dinzelbacher, Peter und James Lester Hogg (Hrsg.): Kulturgeschichte der
Orden in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner, 1997, S.275-296, S.276.
397 ABBILDUNGEN

Aufgaben nicht beherrschen.1 Alles, was sie zu ihrem Heil sonst noch
wissen müssen, erfahren sie in den Gottesdiensten, die die Kleriker bei
ihnen abhalten.
Die Knaben, die zu höherer Bildung befähigt sind, gehen in die
Pfarrschule. Gemäß dem Erziehungswerk des Sohnes im zweiten
Status kommen sie in den Genuß der Lehre (doctrina). Aber diese
Lehre besteht noch im Buchstaben, das heißt, sie müssen in
Grammatik unterrichtet werden und Latein, die Sprache der Vulgata,
sprechen lernen. Von anderer Literatur ist nicht die Rede. Je nach
Begabung sollen die Knaben die Bibel auswendig lernen, um sich für
die geistliche Lehre (spiritualis doctrina) würdig zu erweisen, die nur
innerhalb des Mönchsstandes weitergegeben wird. Im Oratorium des
Paulus ist dort eine Schule eingerichtet, die die Ausbildung des
kontemplativen Mönches abschließt. Insgesamt entspricht dies
zisterziensischen Ansichten. Denn die Zisterzen sollten nicht zu
Bildungsanstalten für die adelige Jugend verkommen und daher
ausschließlich Erwachsene aufnehmen. Bernhard von Clairvaux und
andere sahen das Kloster als eine Schule der Frömmigkeit, als
Auditorium des Heiligen Geistes, in dem ein Wissen gelehrt wird, das
die profanen Wissenschaften der klerikalen Schulen weit übersteigt.2
Allerdings läßt sich in der Dispositio der Weg des Wissens auch
von oben nach unten verfolgen. Die höchste Einsicht in die göttliche
Realität wird den viri perfecti im Oratorium des Evangelisten
Johannes gewährt, daher sind sie zur vollendeten
Verherrli[[@Page:334]]chung Gottes in der Lage. Sie leben eigentlich
nach Art von Eremiten in Einzelzellen und würden gerne ohne alle
Belästigung in beständiger Meditation verharren. Doch sie müssen ihr
Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellen und deshalb in der
unmittelbaren Nähe des Klosters bleiben. Ihre Einsichten und
Fürbitten dienen nicht nur der Regierung des Abtes und den Mönchen
der anderen Oratorien. Die Kleriker, die von Zeit zu Zeit zur
geistlichen Erbauung ins Kloster gehen, nehmen etwas von der
kontemplativen Erkenntnis mit nach Hause und geben es in den
Gottesdiensten in angemessener Form an die Laien weiter. In der
Wissensgesellschaft des novus ordo finden sich beide Erkenntniswege
wieder, die im Psalterium erörtert werden. Die (männlichen)
Menschen können sich durch das Bildungssystem von den figürlichen
Darstellungen über den Buchstaben der Bibel bis zur unmittelbaren
geistlichen Einsicht hocharbeiten. Die geistliche Einsicht wiederum
fließt durch die Wissenshierarchie herab und dient in abgestuftem
Maße der Erkenntnis aller drei Stände. Das Maß an Einsicht, das
einem Menschen gegeben ist, bestimmt seinen Standort in der
1
Vgl. Conc. V,71, fol.100rb.
2
Dinzelbacher, Peter und Hermann Josef Roth: „Zisterzienser“, in:
Dinzelbacher/Hogg 1997, S.348-379, S.375.
398 ABBILDUNGEN

Wissensgesellschaft des dritten Status.


[[@Page:335]]

SCHLUSS: ZUR BEDEUTUNG JOACHIMS VON

FIORE

Am Ende dieser Arbeit soll der Frage der langfristigen Bedeutung


Joachims von Fiore nachgegangen werden. Es bietet sich an, dies in
kritischer Auseinandersetzung mit der schon eingangs angeführten
These Eric Voegelins zu tun, die das letzte Wort war, das die
Politische Wissenschaft zu Joachim zu sagen hatte. Sie lautet:
In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das
Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die
Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft
beherrschen.1
1
Voegelin 1991, S.164. Von Historikern ist die These mehrfach bezweifelt
worden, meist aber ganz unberücksichtigt geblieben. Im besonderen ist an
dieser Stelle Bernard McGinn zu erwähnen, der sich als einziger Joachim-
Forscher die Mühe gemacht hat, die These im Kontext von Voegelins Werk zu
prüfen – wenn auch mit negativem Ergebnis. McGinn, Bernard: „Influence and
Importance in Evaluating Joachim of Fiore“, in: Atti III (1991), S.15-36, S.15ff.
Es sei angemerkt, daß die These in dem erstmals 1952 erschienenen Buch The
New Science of Politics steht, und der Modernitätsbegriff noch von der
Erfahrung mit dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus (der Voegelin zur
Emigration aus Österreich zwang) geprägt war. Schon 1938 versuchte Voegelin
die modernen Totalitarismen aus ihren religiösen Wurzeln zu erklären und
beschäftigte sich dabei erstmals mit Joachim von Fiore. (Voegelin, Eric: Die
politischen Religionen. München: Fink, 1996, S.38ff.; 1. Aufl.: Wien:
Bermann-Fischer, 1938). Bei Voegelins Modernitätskritik handelt es sich also
nicht um eine kulturpessimistische Verachtung der liberalen Demokratien; die
„angelsächsischen Zivilregime“ etwa sind ausdrücklich von der Kritik
ausgenommen. (Sh. das Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe, S.18). Die
Neue Wissenschaft sieht insgesamt eher optimistisch in die Zukunft, insofern
einerseits mit den Totalitarismen eine „Endform der progressiven Zivilisation“
erreicht sei (S.191), und andererseits die Humanwissenschaften im Begriff
seien, den Positivismus zu überwinden und sich theoretisch zu erneuern
(S.20ff.). Auf Voegelins unglückliche These, es handle sich bei den modernen
Ideologien um neue Formen des Gnostizismus, kann hier nicht angemessen
eingegangen werden. Sie wurde von ihm selbst später als zu pauschal erkannt
und entsprechend revidiert. Voegelin, Eric: Autobiographical Reflections. Ed-
ited with an introduction by Ellis Sandoz. Baton Rouge and London: Louisiana
State University Press, 1989, S.66f. Daß Joachim von Fiore nicht der
gnostischen Tradition zugerechnet werden kann, wurde in den
399 ABBILDUNGEN

Nun läßt sich angesichts des reichen Materials, das von Henri de
Lubac, Marjorie Reeves und Warwick Gould vorgelegt wurde, 1 kaum
bestreiten, daß Joachims Symbolik bewußt oder unbewußt von einer
Vielzahl moderner Autoren herangezogen wurde. Dennoch bleibt die
Frage, inwieweit die gesellschaftlichen Konzeptionen der
neuzeitlichen Geschichtsphilosophen und Fortschrittstheoretiker oder
gar der totalitären Ideologen tatsächlich substantielle Gehalte des
politischen Denkens Joachims von Fiore enthalten.2 Was heißt das,
wenn Gottfried Ephraim Lessing oder jüngst Gianni Vattimo
[[@Page:336]]sagen, Joachim und seine Nachfolger hätten mit ihrer
Ankündigung eines Dritten Reiches grundsätzlich recht gehabt?3
Finden sich Residuen der gesellschaftlichen Vorstellungen Joachims
in den Programmen der kommunistischen, sozialistischen und
sozialdemokratischen Parteien oder gar der deutschen Grünen wieder,
angesichts der Tatsache, daß sich prägende Gründergestalten wie
Ignazio Silone, Friedrich Engels, Karl Kautsky und Rudolf Bahro 4 auf
den Abt beziehen? Auf solche Fragen sollte sich jetzt, aufgrund der
vorangegangenen Kapiteln bereits ausreichend dargelegt.
1
Lubac 1979/1981; Reeves/Gould 1989.
2
Die Untersuchung schließt damit an die Kontroverse an, die in einem weiteren
Rahmen zwischen Karl Löwith und Hans Blumenberg geführt wurde. Vgl.
Blumenberg 1996, S.35ff.; Löwith, Karl: „Besprechung des Buches Die
Legitimität der Neuzeit von Hans Blumenberg“, in: Ders.: Gesammelte Werke
Bd. 2. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1983, S.452-459.
3
„Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen
hatten; und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe
verkündigten.“ „Vielleicht war ihr drei faches Al t er der Wel t keine so
leere Grille; und gewiß hatten sie keine schlimmeren Absichten, wenn sie
lehrten, daß der Neue Bund eben so wohl ant i qui eret werden müsse, als es
der Alte geworden. Es blieb auch bei ihnen immer die nämliche Ökonomie des
nämlichen Gottes. Immer – sie meine Sprache sprechen zu lassen – der
nämliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts.“ Lessing,
Gotthold Ephraim: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, in: Gesammelte
Werke. Hrsg. von Paul Rilla, Bd. 8. Berlin: Aufbau, 1956, S.590-615, hier:
S.612f, §§87f., Hervorh. i. Orig. Gianni Vattimo sieht sich selbst in einer
joachimitischen Tradition. Vattimo, Gianni: Oltre l’interpretazione. Il
significato dell’ermeneutica per la filosofia. Roma-Bari: Laterza, 21995, S.61.
Joachims Liebesgemeinschaft des dritten Status kehrt bei ihm wieder als
endzeitliches Reich der Differenz, in dem wechselseitig die Andersartigkeit der
Mitmenschen anerkannt wird, sei es hinsichtlich der Hautfarbe, des Geschlechts
oder der sexuellen Orientierung. Sh. dazu meinen Aufsatz: „Säkularisierung als
Heilsgeschehen: Gianni Vattimos postmoderne Eschatologie“, in: Mathias
Hildebrandt u.a. (Hrsg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen
Gesellschaften. Ideengeschichtliche Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher
Verlag, 2001, S.171-184.
4
Bahro, Rudolf: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein
Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik. Berlin: Union, 1990,
S.451ff.
400 ABBILDUNGEN

vorgelegten Forschungsergebnisse, eine Antwort finden lassen.


Voegelin hat das Symbolaggregat, von dem er spricht, genauer
spezifiziert. Er benennt vier Symbole: das „Dritte Reich“, den
„Führer“, den „Propheten des neuen Zeitalters“ und die „Bruderschaft
autonomer Personen“. Diese Bestandteile der Voegelinschen These
sollen nun in umgekehrter Reihenfolge einer kritischen Überprüfung
unterzogen werden.
1. Voegelin schreibt über die „Bruderschaft autonomer Personen“:
Das dritte Zeitalter des Joachim werde, kraft der erneuten
Herabkunft des Geistes, die Menschen ohne sakramentale
Gnadenvermittlung zu Gliedern des neuen Reiches umgestalten.
Im dritten Zeitalter werde die Kirche zu bestehen aufhören, weil
die charismatischen Gaben, die zum vollkommenen Leben
notwendig sind, den Menschen ohne Spendung der Sakramente
erreichen. Zwar hat Joachim selbst das neue Zeitalter konkret als
eine mönchische Ordnung aufgefaßt, aber die Idee einer
Gemeinschaft der im Geiste Vollendeten, die ohne institutionelle
Autorität zusammenleben können, war nunmehr prinzipiell
formuliert. Die Idee ließ unzählige Varianten zu. Sie ist in
verschiedenen Graden von Reinheit in den Sekten des Mittelalters
und der Renaissance zu verfolgen wie auch den puritanischen
Kirchen der Heiligen. In ihrer säkularisierten Form ist sie zu einer
machtvollen Komponente des zeitgenössischen demokratischen
Bekenntnisses geworden. Und sie ist das dynamische Zentrum des
Marxschen Mystizismus vom Reich der Freiheit und vom
Absterben des Staates.1
[[@Page:337]]Hierzu läßt sich nun sagen: In der Tat erwartete
Joachim für den dritten Status eine Gemeinschaft der im Geiste
Vollendeten. Ebenso hat er mehrfach zu erkennen gegeben, daß er in
der Geistkirche des dritten Status dem Sakrament bestenfalls eine
untergeordnete Rolle einräumt. Aber die Verfassungsordnung der
Tavola XII zeigt eindeutig, das diese Erwartungen auf die
monastische Elite der Gesellschaft beschränkt bleiben. Nach
Joachims Dispositio halten die Kleriker für die Laien nach wie vor
Gottesdienste, und es ist anzunehmen, daß sie dabei auch die
Sakramente spenden. Keinesfalls kann davon gesprochen werden,
daß Joachim von einer endzeitlichen Gemeinschaft ausgeht, die ohne
jede institutionelle Ordnung ist. Das eigentlich Neue an Joachims
Verfassungsentwurf besteht vielmehr darin, daß er sich eine Kirche
denkt, in der die klerikalen durch benediktinisch-zisterziensische
Institutionen überhöht werden.
Joachims Dispositio zeigt trotz aller Neuerungen die
mittelalterliche Drei-Stände-Ordnung, und als solche konnte sie in
der Moderne freilich nicht zum Vorbild werden. Es ist vielmehr
hervorzuheben, daß die Dispositio in einem größeren Rahmen
1
Voegelin 1991, S.165f.
401 ABBILDUNGEN

niemals paradigmatische Wirkung entfalten konnte, da sie schon im


13. Jahrhundert nicht mehr der Erfahrungswirklichkeit entsprach.
Der benediktinischen Reform, die in der Dispositio konsequent zu
Ende gedacht ist, gehörte nicht die Zukunft. Die zisterziensische
Bewegung hatte ihren Höhepunkt schon überschritten, als Joachim
begann, seine ersten Schriften zu verfassen. Und Joachims Versuch,
mit seiner eigenen Ordensgründung die Reform des klassischen
Koinobitentums noch einmal in Gang zu bringen, scheiterte. 1 Die
monastische Erneuerung brachten vielmehr die Bettelorden, deren
Gemeinschaftsprinzip des Personalverbandes Joachim noch völlig
unbekannt war. Das egalitäre Ideal der Mendikanten, das gerade von
den Franziskanern so stark betont wurde, hat sicher mehr zu den
Gesellschaftsvorstellungen späterer Zeiten beigetragen als Joachims
Ständemodell.
Ebensowenig ahnte Joachim etwas von dem spezifischen
Bewegungscharakter, der die neuen Orden sowie verschiedene
häretische Gruppierungen des späteren Mittelalters auszeichnete. Im
Gegensatz zu Franziskus zweifelte Joachim niemals an der stabilitas
loci. Wie die Dispositio zeigt, konnte er sich die gesellschaftliche
Zukunft nur in Form von Klostergründungen vorstellen. Auch wenn
Joachim annimmt, daß sich die Geistmänner im dritten Status über
die ganze Welt ausbreiten, so schildert er sie doch nicht als eine
Bewegung, die predigend und missionierend über das Land zieht.
Vielmehr gründen sie Klöster und ziehen sich hinter die Mauern
zurück, so wie Benedikt es gewollt hatte.
Aus diesen Einschränkungen kann man aber keineswegs
schließen, daß Joachims politisches Denken völlig wirkungslos
geblieben wäre. Denn das Entscheidende ist, daß er erstmals eine
Gemeinschaft konzipierte, die als das Ergebnis eines in die Zukunft
hineinreichenden Fortschrittsprozesses dargestellt wird. Die
Spiritualenfraktion des [[@Page:338]]Franziskanerordens entsprach
zwar nicht Joachims Vorstellungen, verstand sich aber als
Verwirklichung seiner Prophezeiungen. Selbst manche Dominikaner
und Jesuiten legitimierten die Existenz ihrer innovativen
Gemeinschaftskonzepte mit den Ankündigungen des Abtes.2 Aus
ihrem Selbstbewußtsein, Höhepunkt einer progressiven sozialen
Entwicklung zu sein und zugleich am Anfang eines Zeitalters der
Erneuerung zu stehen, leitet sich ein Großteil der Attraktivität ab, die
die neuen Orden auf die Jugend ihrer Zeit ausstrahlten. 3 Die bleibende
1
Der Florenserorden versank nach anfänglichen Erfolgen, die er nicht zuletzt
der aktiven Förderung durch Papst Gregor IX. zu verdanken hatte, bald in der
Bedeutungslosigkeit. Ab 1570 wurde er wieder in den Zisterzienserorden
integriert und verschwand bald ganz. Grundmann 1950, S.85f.; Wessley 1990,
S.2.
2
Reeves 1976, S.31, 116ff.
3
Marjorie Reeves schreibt über die Vielzahl der Gruppen, die sich auf Joachim
402 ABBILDUNGEN

Bedeutung Joachims von Fiore ist dabei, daß er dieses, von ihm
erstmals tief gespürte Epochenbewußtsein in Bezug zum göttlichen
Geschichtsplan setzte und mit innovativer Exegese aus dem
Offenbarungstext ableitete. Damit war die augustinische
Geschichtsdeutung endgültig durchbrochen; der Weg zu progressiven
und zukunftsorientierten Gesellschaftstheorien stand offen. Der Name
Joachims bleibt bis in die Gegenwart mit der Erinnerung an diesen
Durchbruch verknüpft und behielt selbst noch für jene Theoretiker
eine symbolische Bedeutung, die den Transzendenzbezug aus ihrer
Geschichtsdeutung verbannt hatten.
2. Eric Voegelin hat also ganz recht, wenn er dem Symbol des
Propheten eine zentrale Rolle zubilligt und bemerkt, daß Joachim
selbst das „erste Exemplar der Gattung“ gewesen sei.1 Freilich hat sich
Joachim selbst nicht als Propheten bezeichnet. Aber wie gezeigt
wurde, geschah dies nur, um die Überlegenheit seiner Zukunftsschau
zu betonen. Denn im Gegensatz zu den biblischen Propheten lag ihm
der abgeschlossene Offenbarungstext vor, den er glaubte, mit dem
Charisma der intelligentia spiritualis auf seine höhere Bedeutung hin
befragen zu können. Dieses Selbstverständnis konnte er so glaubhaft
an seine Nachwelt vermitteln, daß sein Werk weithin als Grundlage
jeder prophetischen Bibelauslegung rezipiert wurde und, wie gleich
noch zu zeigen ist, von einigen gar als neues Evangelium
angenommen wurde.
Dank der umfangreichen Studien von Marjorie Reeves und
Roberto Rusconi kann man sich heute ein Bild davon machen, welch
gewaltige Bedeutung der Name Joachim von Fiore schon im späten
Mittelalter in ganz Europa einnahm.2 Daran änderte sich auch im
sogenannten Übergang zur Neuzeit nichts. Die Augustinereremiten
besorgten schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Venedig
den Druck des Psalterium decem chordarum, des Liber Concordiae
und der Expositio in Apocalypsim, aber auch der pseudo-
joachimischen Kommentare Super Hieremiam und Super Esaiam. Der
Verbreitung waren damit kaum mehr Grenzen gesetzt. Exzerpte aus
den Werken Joachims, Kurzfassungen, die seine Hauptschriften
synthetisierten, und prophetische Anthologien, in die seine Lehren
eingingen, erfreuten sich in der Gelehrtenwelt größter Beliebtheit. 3
Selbst die italienischen Humanisten vermochten oft nur wenig
Widerspruch zu sehen zwischen ihren Erneuerungserfahrungen bei der
beriefen: „The characteristic which suggests some kind of connection with
Joachimism seems to me to be a doctrine of history which points to a final apo -
theosis, begun or about to begin, in which a new manifestation of the Holy
Spirit will mark out a new leader and followers.“ Reeves 1976, S.49.
1
Voegelin 1991, S.165.
2
Reeves 1969; Rusconi, Roberto: Profezia alla fine del Medioevo. Rom: Viella,
1999.
3
Sh. die Appendizes in Reeves 1969, S.511ff.
403 ABBILDUNGEN

Wiederentdeckung der heidnischen [[@Page:339]]Antike und der


christlichen Geschichtstheologie Joachims.1 Die Bezüge zu Joachim in
den verschiedensten reformatorischen Strömungen sind
unüberschaubar.2 Kolumbus interpretierte sich selbst und seine
Entdeckungen nach den Prophezeiungen Joachims, und die
Geschwindigkeit, mit der sich der Name des Abtes auf dem
amerikanischen Kontinent ausbreitete, ist beeindruckend.3
Doch bei näherem Hinsehen scheint die Wirkung von Joachims
Werk gewaltigen Beschränkungen zu unterliegen, denn von den
zahlreichen Schriften, die unter seinem Namen kursierten, hatte er die
wenigsten selbst verfaßt. Thomas Müntzer, der sich, wie schon
gesehen, auf den prophetischen Geist Joachims berief, hatte
ebensowenig eine authentische Schrift des Abtes gelesen wie
Montaigne, der eben diesen Geist einer skeptischen Kritik unterzog. 4
Aber nicht nur das. Einen beträchtlichen Teil seines Ruhmes als
Prophet hat Joachim scheinbar einem Mißverständnis zu verdanken,
nämlich daß ihm die Autorschaft des Ewigen Evangeliums
zugeschrieben wurde.
Das Mißverständnis geht zurück auf die Mendikantenkontroverse
an der Pariser Universität, die sich ab etwa 1252 ständig zuspitzte. Der
Streit war eine Reaktion auf die zunehmende Bedeutung von
Ordensgeistlichen, vor allem von Franziskanern und Dominikanern,
an der theologischen Fakultät. Die Weltgeistlichen, die die Universität
als ihre Schöpfung und als ureigenen Wirkungsort betrachteten,
fürchteten allmählich marginalisiert zu werden. Manche konnten wohl
auch wissenschaftlich nur schwer mit den Ordensgeistlichen Schritt
halten, die maßgeblich an der Blüte der Hochscholastik beteiligt
waren. Der Streit ging um persönliche Eifersüchte bei der
Lehrstuhlvergabe, kirchenpolitische Debatten um den Einfluß des
Heiligen Stuhls auf die Universität, und selbst erste französisch-
nationalkirchliche Bestrebungen scheinen eine Rolle gespielt zu
haben.5 Die Angelegenheit eskalierte, als der Franziskaner Gerardo di
1
Reeves 1969, S.429ff. „[…] the Joachimist marriage of woe and exaltation ex-
actly fitted the mood of late fifteenth-century Italy, where the concept of hu-
manist Age of Gold had to be brought into relation with the ingrained expecta-
tion of Antichrist.“ Ebd., S.431.
2
Sh. Reeves 1976, S.136 und die entsprechenden Beiträge in Atti IV (1996).
3
Phelan, John Leddy: The Millenial Kingdom of the Franciscans in the New
World. A Study of the Writings of Gerónimo de Mendieta (1525-1604). Berke-
ley und Los Angeles: University of California Press, 1956 (Neudr.: Millwood,
N.Y.: Kraus, 1980), S.14ff. Offenbar konnte sich Joachims Geschichts-theolo-
gie sogar mit präkolumbianischen Eschatologien der Inkas verbinden. Lara,
Jaime: „Il vulcano e le ali: the iconography of Joachim of Fiore in Latin Amer-
ica“, in: Florensia 13/14 (1999/2000), S.159-190, S.164ff.
4
Montaigne, Michel: Essais. Frankfurt am Main: Eichborn, 1998, I,11, S.27.
5
Gute Darstellungen der Debatte finden sich bei: Weisheipl, James: Thomas
von Aquin. Sein Leben und seine Theologie. Sonderausgabe. Graz u.a.: Styria,
404 ABBILDUNGEN

Borgo San Donnino in Paris seinen Liber introductorius in


Evangelium aeternum anonym veröffentlichte. Darin behauptete er,
Joachims Hauptschriften seien das Ewige Evangelium eines dritten
Zeitalters des Heiligen Geistes, welches nun anbreche und von den
Franziskanern unter ihrem Führer Franziskus vorbereitet worden sei.
Der Skandal war da, und der Anführer der Weltgeistlichen,
Wilhelm von Saint Amour, nutzte die offensichtliche Ketzerei, um die
Bettelorden insgesamt in Mißkredit [[@Page:340]]zu bringen. In
seinen Streitschriften stellte er nicht mehr nur die Lehrstühle der
Ordensgeistlichen, sondern das Existenzrecht der Bettelorden
insgesamt in Frage. Papst Alexander IV. setzte zu Anagni eine
päpstliche Kommission ein, die Gerardos Werk untersuchte und für
häretisch befand.1 Die führenden Geister der Bettelorden sahen sich
gezwungen, publizistisch in die Debatte einzugreifen, die bisweilen in
rohe physische Gewalt ausartete. Thomas von Aquin, der auf dem
Höhepunkt der Auseinandersetzung in Paris promovierte, richtete
gegen Wilhelm seine Verteidigungsschrift Contra impugnantes Dei
cultum et religionem. Bonaventura ersetzte 1257 den Ordensgeneral
Johannes von Parma, der wegen seiner offenen Sympathie für Joachim
und die Joachiten unhaltbar geworden war, und versuchte in mehreren
Schriften zwischen Joachimismus und Franziskanertum abzugrenzen.2
Schon zuvor war Joachims Name bekannt, vor allem in monastischen
Kreisen. Aber der Skandal inmitten des geistigen Zentrums Paris
machte Joachim im lateinischen Westen berühmt. Seitdem hielt sich
die Legende, er sei der Verfasser eines geheimnisvollen Ewigen
Evangeliums, Mittler einer Offenbarung des Heiligen Geistes, die über
die biblischen Testamente hinausgehe.
Seine größte Bedeutung aber erlangte die Legende vom Ewigen
Evangelium erst im 19. Jahrhundert, wo sie sich nicht nur auf dem
fruchtbaren Boden der Fortschrittstheorien entwickeln konnte,

1996, S.81ff.; Reeves 1969, S.59ff.; Rusconi 1999, S.63ff., Bett, Henry:
Joachim of Flora. Merrick, NY: Richwood 1976 (Neudr. d. Ausg. London:
Methuen 1931), S.67ff., 102ff.
1
Das Protokoll der Kommission markiert zugleich den Beginn der historisch-
kritischen Joachimstudien. Denn die Autoren versuchten, genau zwischen den
Lehren des Liber introductorius und denen Joachims zu unterscheiden. Sie
zogen sogar Originalmanuskripte aus Joachims Kloster in San Giovanni
heran. Der Text eignet sich bis heute als Einführung in das Denken Joachims
von Fiore. Durch die Arbeit der Kommission wurde aber der Amtskirche
(anders als bei der Verurteilung von 1215) zunehmend bewußt, worin der
eigentliche Zündstoff der Lehren Joachims bestand. Verurteilungen des
joachimischen Werkes folgten aber nur auf provinzieller Ebene. Der Heilige
Stuhl hielt sich zurück. Denifle, Heinrich: „Protocoll der Commission zu
Anagni“, in: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte 1 (1885), S.99-142.
2
Dies geschah allerdings dadurch, daß Bonaventura die Geschichtslehre
Joachims umformte und in ihrer eschatologischen Dringlichkeit entschärfte.
Ratzinger 1992, S.106ff.,
405 ABBILDUNGEN

sondern auch bei jenen, die sich von den Fortschrittshoffnungen schon
enttäuscht sahen und nach geistig-religiöser Erfüllung jenseits von
Szientismus, Positivismus und Sozialismus suchten.1 In diesem
Ewigen Evangelium suchten der Historiker Michelet ebenso wie die
schwärmerische Romanautorin George Sand den religiösen Sinn der
Französischen Revolution. In demselben Ewigen Evangelium sah
Joris-Karl Huysmans eine Quelle der okkultistischen Phantastereien
des fin de siècle, die ihn faszinierten, und die er zugleich
verabscheute.2 Ihren phantastischsten Ausdruck aber hat die Legende
in einer vielschichtigen Kurzgeschichte von William Butler Yeats
gefunden, die sich mit der „Offenbarung“ Joachims befaßt. Zwei
unbeschriebene Gesetzestafeln aus Elfenbein symbolisieren dort das
„Ewige Testament“ des Geistes, das den Buchstaben der Schrift nicht
übersteigt, sondern ersetzt.
It has swept the commandments of the Father away, […] and
displaced the commandments of the Son by the commandments
of the Holy Spirit.3
[[@Page:341]]Und dennoch: Das Ewige Evangelium mag ein
Mißverständnis gewesen sein, aber die intellektuelle Substanz aller
pseudo-joachimischen Schriften hat ihre Quelle in den authentischen
Werken Joachims. Seine Schau auf ein Geistzeitalter und eine
endzeitliche Gesellschaftsform, die der Bestimmung der Menschheit
gerecht wird, waren der Ausgangspunkt alles epigonalen Schrifttums.
Joachim beanspruchte zwar nicht, ein neues Evangelium verfaßt zu
haben, aber seine Werke prophezeien ein höheres
Offenbarungsverständnis in der Zukunft und schildern teilweise sehr
konkret, wie eine Gesellschaft aussehen wird, die sich auf der
Grundlage dieses Verständnisses neu ordnet. Für den spirituellen
Gehalt der Offenbarung, der im tertius status hervortreten werde,
nahm er durchaus das aus der Johannesapokalypse stammende
Symbol des Ewigen Evangeliums in Anspruch. 4 Er hat das
Mißverständnis Gerardos di Borgo San Donnino also bis zu einem
gewissen Grad provoziert.
Leitprophet der meisten Bewegungen blieb zurecht Joachim von
Fiore, und wenn seine Prophezeiungen nicht ausreichten und zu wenig
Konkretes boten, so verfaßte man unter seinem Namen eben neue.
Auch dies gehört zu den Langzeitwirkungen Joachims, daß er zum
Archetypen des nachbiblischen Propheten wurde und sein Name allein
Autorität zu entfalten begann. Ganz gleich, ob man sich auf
joachimische oder pseudo-joachimische Prophetien stützte, es blieb
1
Dazu die ausführliche Studie Reeves/Gould 1987.
2
Huysmans, Joris-Karl: Tief unten. Stuttgart: Reclam, 1994, S.296ff.
3
Yeats, William Butler: „The Tables of Law“, in: Ders.: Short Fiction. Har-
mondsworth: Penguin, 1995, S.201-211, S.205.
4
Offb 14,6; Exp. I, fol.95vb; IV, fol.173rb; Vgl. Huck 1938, S.228ff.
406 ABBILDUNGEN

immer die Erinnerung an einen Mann, der die gesellschaftliche


Zukunft in einer Weise gesehen hatte wie keiner vor ihm.
3. Auch das Symbol des Führers konnte seine langfristige
Wirkung nur entfalten, weil es von den konkreten Inhalten, wie sie
sich in Joachims Liber Concordiae finden, zunehmend abgekoppelt
wurde. Joachims dux novus war ein Reformpapst, einer der
ausdrücklich auf seinem apostolischen Stuhl sitzen bleibt und nicht
einer Bewegung vorangeht. Nach dem Vorbild Serubbabels und der
Wiedererrichtung des Tempels zu Jerusalem erneuert der dux die
kirchlichen Institutionen, aber strebt nicht nach deren Beseitigung. Die
Hoffnung auf einen solchen „Engelspapst“ hielt sich noch eine Weile,
fand ihren Ausdruck in verschiedenen pseudo-joachimischen
Schriften1 und mag in abgeschwächter Form vor allem im Laienvolk
bis heute existieren und Phänomene wie den Kult um den „Papa
buono“ Johannes XXIII. erklären helfen. 2 Auch Dante muß in
[[@Page:342]]jungen Jahren diese Hoffnung geteilt haben, betrachtet
man die Bitterkeit, mit der er Cölestin V. in die Hölle verstößt, weil er
sich der großen Verweigerung (il gran rifiuto) schuldig gemacht
habe.3 Denn auf diesen sanften Papst hatten viele Joachiten gesetzt
und wurden bitter enttäuscht, als er als bisher einziger Papst der
Kirchengeschichte von seinem Amt zurücktrat – zugunsten des ganz
anders gearteten Bonifaz VIII. Angesichts dieser Erfahrung entschied
sich schon Dante dafür, statt auf einen Papst auf einen weltlichen
Führer zu hoffen, den er in der Göttlichen Komödie mit dem
1
Reeves 1969, S.401ff.
2
„Denn bereits seit den ältesten Zeiten der Kirche hatte man unter den Engeln
der sieben Gemeinden, an die in der Johannesapokalypse die Sendschreiben
Christi gerichtet sind, die kirchlichen Vorsteher verstanden [...]. Von da aus
war die irdische Priesterschaft vielfach in eine Beziehung zu der himmlischen
Hierarchie der Engel gesetzt worden, die sich in mannigfachen Bezeichnungen
und Vergleichen äußerte; angelicus, engelgleich, war in Italien zeitweise,
jedenfalls bis in das 11. Jahrhundert hinein, ein stehendes Beiwort von Äbten
und Bischöfen, vor allem aber des Papstes gewesen. Jetzt, bei Joachim, erhielt
diese alte mystische Beziehung einen neuen und spezifischen, aus dem
ursprünglichen Quellgrunde gespeisten Sinn. Was bis dahin nur eine
allgemeine Qualität des priesterlichen Standes und seiner höchsten Vertreter
hatte bezeichnen sollen, individualisierte sich nun zum besonderen Merkmal
einer über alle irdische Maße hinausgehobenen, einzigartigen Figur. Und indem
die alte Vorstellung vom engelhaften Wesen des Priestertums sich dann weiter
vermählte mit der zukunftsträchtigen Idee eines zur Erneuerung der Kirche und
des Glaubens berufenen großen Führers, hatten die gedanklichen Elemente sich
gefunden, aus deren Vereinigung dann das neue prophetische Bild des
Engelspapstes hervorwachsen konnte.“ Baethgen, Friedrich: Der Engelspapst.
Idee und Erscheinung. Leipzig: Koehler & Amelang, 1943, S.25. Das Thema
ist jüngst zum Gegenstand eines Vatikan-Krimis gemacht worden. Der Hinweis
auf Joachim von Fiore fehlt freilich nicht. Kastner, Jörg: Der Engelspapst.
München: Knaur, 2002, S.257.
3
Commedia, Inferno III,60.
407 ABBILDUNGEN

Kryptogramm DVX (un cinquecento diece e cinque)1 ankündigte –


denselben Lettern, die später die Redepulte Mussolinis zierten.
Doch erst im Kontext der joachitischen Bewegungen wurde das
Symbol des Führers mit den messianischen Gehalten aufgeladen, die
es für Dante und spätere Autoren so attraktiv machten. Als Joachim
seine Gedanken niederschrieb, war Bernhard von Clairvaux, der große
Charismatiker des 12. Jahrhunderts, schon seit Jahrzehnten tot. Es gab
also keinen unmittelbaren Anlaß, die neue Ordnung in der Epiphanie
eines alter Christus schon manifestiert zu sehen, wie es wenig später
geschah, angesichts des neuen Charismatikers Franziskus von Assisi.
Wie schon erwähnt, stehen die im 13. Jahrhundert beginnenden
Versuche, hinter dem jeweiligen Führer egalitäre Mönchs- und
Laienbewegungen zu versammeln,2 Joachims differenziertem
Ständemodell grundsätzlich entgegen.3
4. Das zentrale Symbol, mit dem Joachim seine
Fortschrittserfahrung zum Ausdruck bringt, bleibt der dritte Status,
das Zeitalter der innerweltlichen Vollendung. Voegelin spricht von
einer „Folge dreier sich ablösender Zeitalter, deren letztes das
abschließende Dritte Reich ist“. Mit Bezug auf Karl Löwith 4 fährt er
fort:
Als Varianten dieses Symbols sind die humanistische und die
enzyklopädische Periodisierung der Geschichte in Altertum,
Mittelalter und Neuzeit erkennbar; ferner Turgots und Comtes
Theorie von der Aufeinanderfolge einer theologischen, einer
metaphysischen und einer wissenschaftlichen Phase; Hegels
Dialektik der drei Stadien der Freiheit und der selbstbewußten
geistigen Vollendung; die Marxsche Dialektik von den drei
Stufen des primitiven Kommunismus, der Klassengesellschaft
und des endzeitlichen Kommunismus; und schließlich das
nationalsozialistische Symbol des Dritten Reiches – obwohl
dies ein besonderer Fall ist, der weiterer Untersuchung bedarf. 5
[[@Page:343]]Voegelins Ausführungen müssen zunächst darin
korrigiert werden, daß es bei Joachim keine sich ablösenden Zeitalter
gibt, sondern daß sich die drei aufeinanderfolgenden Status
gegenseitig überlagern. Wie oben ausführlich erläutert wurde, ist dies
für das politische Denken Joachims von größter Bedeutung. Denn die
Menschheitsgeschichte hat ja kein anderes Ziel, als die dem
1
Commedia, Purgatorio XXXIII,43.
2
Die Sekundärliteratur über die joachitischen Bewegungen ist kaum mehr
überschaubar. Für einen guten Überblick eignet sich immer noch: Cohn 1998.
3
Die Waldenser, die die Trennung zwischen Klerikern und Laien aufhoben,
lehnt Joachim ab. Ihnen, die sich priesterliche Rechte anmaßten, sei die
Fähigkeit abhanden gekommen, zwischen heilig und profan zu unterscheiden.
Tract. I,9, Santi 196,10-25.
4
Vgl. Löwith 1990, S.190ff.
5
Voegelin 1991, S.164.
408 ABBILDUNGEN

dreieinigen Gott nachgebildete Ständegesellschaft der Geistkirche


aufzubauen, die zum Lobe Gottes ins Jenseits überführt werden kann.
Insofern bleibt der erste Status bis in die Endzeit sozial wirksam, da
die in ihm ausgebildete Gesellschaftsform des Patriarchats auch im
dritten Status den Stand der Laien prägt. Gleiches gilt für das
Klerikertum, die Gesellschaftsform des zweiten Status.
Problematisch ist weiterhin die Übersetzung von Joachims tertius
status mit „Drittes Reich“, die Voegelin freilich von früheren Autoren
übernommen hat. Die Übersetzung ist zwar insofern nicht völlig
verfehlt, als Joachim den tertius status als eine partielle und
vorwegnehmende Verwirklichung des jenseitigen Gottesreiches im
Diesseits schildert. Aber zumindest im deutschsprachigen Bereich ist
der Begriff des Dritten Reiches spätestens seit dem
Nationalsozialismus mit der Vorstellung einer imperialen Herrschaft
verbunden. Nach Joachim aber wird es im dritten Status kein
Imperium mehr geben und alle gesellschaftliche Ordnung von der
universalen Geistkirche bestimmt werden. Rolf-Peter Sieferle gibt die
scheinbar ganz profane Theorie der Reichsfolge, wie sie sich in der
nationalsozialistischen Ideologie findet, folgendermaßen wieder:
1. Das alte sacrum imperium, das 1906 untergegangene Heilige
Römische Reich Deutscher Nation.
2. Das 1871 gegründete preußisch-deutsche Reich, das 1918 zur
Republik degeneriert ist.
3. Das angestrebt neue Reich, das aus der Demütigung von
Versailles und der plutokratischen Komödie von Weimar
herausführen soll.1
Sieferle betont aber auch, daß der „echte politische Mythos“ des
Dritten Reiches „eine Reihe von Bedeutungsschichten, die
unauflöslich miteinander verbunden sind“, besitze.
In dieser triadischen Abfolge schwingt aber auf einer eher
esoterischen Ebene der Gedanke eines
geschichtsphilosophischen Prozesses mit. Es handelt sich nicht
um eine beliebige Reihung von Reichen, so daß etwa auf das
dritte ein viertes oder ein fünftes Reich folgen könnte. Das
Dritte Reich wird vielmehr als ein utopisches Reich der
Versöhnung und Vollendung gesehen, als das „letzte Reich“
oder „Endreich“, das „Vollkommene, das nur im
Unvollkommenen erreicht wird“.2
Der letzte Halbsatz des Zitats ist Arthur Moellers van den Bruck Buch
Das Dritte Reich entnommen.3 Ein begeisterter Leser des Buches war
1
Sieferle, Rolf Peter: „Die Konservative Revolution und das ‚Dritte Reich‘“,
in: Dietrich Harth und Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos. Frankfurt
am Main: Fischer, 1992, S.178-205, S.184.
2
Sieferle 1992, S.184.
3
Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich. Hamburg u.a.: Hanseatische
409 ABBILDUNGEN

Joseph Goebbels, der neben Dietrich Eckart das Symbol des Dritten
Reiches in die nationalsozialistische Ideologie
ein[[@Page:344]]führte.1 Es ist also immer wieder der Gedanke einer
innergeschichtlichen Vollendung, der mit dem Symbol des Dritten
Reiches verbunden bleibt. Dies gilt ebenso für die anderen von
Voegelin genannten Beispiele.
Obwohl in der nationalsozialistischen Ideologie scheinbar
mehrere von Joachims Symbolen vorkommen, das Dritte Reich, der
Führer und die SS als „Neuer Orden“ (H. Himmler), hat Voegelin zu
Recht darauf hingewiesen, daß es sich um einen Spezialfall der
Rezeptionsgeschichte handelt. Es bedarf daher einiger gesonderter
Bemerkungen, denn in der Vergangenheit wurde die Verbindung
zwischen Joachims Lehre und der nationalsozialistischen Ideologie oft
zu schnell hergestellt und die Komplexität des ideengeschichtlichen
Sachverhalts vernachlässigt.2
Nun läßt sich die diffuse Verwendung des Symbols vom Ausgang
des 19. Jahrhunderts bis zur späten Weimarer Zeit, vor allem durch
zahlreiche Vertreter der „Konservativen Revolution“, in ihrer ganzen
Breite kaum darstellen.3 Mehrere ideengeschichtliche Studien haben
zwar gezeigt, daß Joachim bei der Herausbildung der NS-
Geschichtsideologie eine Rolle spielte,4 aber die Kombination von
Verlagsanstalt, 1931, S.320.
1
Sh. Goebbels Tagebucheinträge vom 6. Januar und vom 6. Juli 1926, zit. bei:
Schmitz-Berning, Cornelia: Das Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin
und New York: de Gruyter, 1998, S.156. Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehart: „Die
Geschichtsprophetie des Joseph Goebbels“, in: Joachim H. Knoll und Julius H.
Schoeps (Hrsg.): Von kommenden Zeiten. Geschichtsprophetien im 19. und 20.
Jahrhundert. Stuttgart und Bonn: Burg, 1984, S.169-179; Zu Dietrich Eckart:
Bärsch 1998, S.52ff.
2
Z.B. Wippermann, Wolfgang: „Drittes Reich“, in: Wolfgang Benz u.a.
(Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. dtv, 21998, S.435.
3
Dazu: Neurohr, Jean F.: Der Mythos vom Dritten Reich. Zur
Geistesgeschichte des Nationalsozialismus. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandl.,
1957. Aber auch diese Monographie ist kaum erschöpfend.
4
Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die
religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart,
Joseph Goebbels, Adolf Rosenberg und Adolf Hitler. München: Fink, 1998,
S.45ff. Die nach wie vor besten begriffsgeschichtlichen Studien, die (sich
einander ergänzend) den Weg von Joachims tertius status zum „Dritten Reich“
nachvollziehen, sind: Kestenberg-Gladstein, Ruth: „The ,Third Reich‘. A fif-
teenth-century polemic against Joachim of Fiore and its background“, in:
Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 18 (1955), S.145-195; dies.:
„Das Dritte Reich. Prolegomena zur Geschichte eines Begriffes“, in: Bulletin
des Leo Baeck Instituts 5/17-20 (1962), S.267-285. Wichtige Ergänzungen, vor
allem mit Blick auf die deutsche Romantik, bietet: Heer, Friedrich: Europa,
Mutter der Revolutionen. Stuttgart: Kohlhammer, 1964, S.121f., 178 u.ö. Von
Bedeutung sind auch der schon angeführte Aufsatz von Rolf-Peter Sieferle
(Sieferle 1992) und der Anhang I zu den „Verwandlungen der Lehre Joachims“
in Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Löwith 1990, S.190ff.).
410 ABBILDUNGEN

triadischer Geschichtstheologie und imperialen Vorstellungen scheint


wesentlich unter russischem Einfluß zustande gekommen zu sein.
Voegelin und andere haben auf den Schriftsteller Dimitri
Mereschkowski verwiesen,1 dessen großer Einfluß auf die deutsche
Intellektuellenwelt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer noch
wenig bekannt ist.2 Mereschkowski war, wie nicht wenige
[[@Page:345]]russische Intellektuelle, von den deutschen Idealisten,
vor allem Schelling, beeinflußt3 und wurde so auf die joachimische
Idee eines dritten Reiches des Geistes sowie einer zukünftigen
Johanneskirche aufmerksam.4 Diese Symbolik ließ sich leicht mit dem
alten russischen Reichsmythos verbinden, wonach Moskau nach Rom
und Konstantinopel das „dritte und letzte Rom“ ist. Dieser Mythos,
der für das Selbstverständnis der Zaren bedeutsam wurde, findet sich
erstmals in einem Brief des Mönches Philotheos (Filofej) von Pskov
aus dem Jahre 1511.5 Es ist keineswegs gesichert, daß die triadische
Struktur des russischen Reichsmythos überhaupt mit Joachim zu tun
hat. Offenbar hat das östliche Mönchtum während des
Hesychastenstreites im 14. Jahrhundert ganz eigenständig die Lehre
von einem dritten Zeitalter des Heiligen Geistes hervorgebracht. 6
1
Weiterhin wäre Ernst Niekisch zu erwähnen, der in der späten Weimarer Zeit
ebenfalls zum Theoretiker des Dritten Reiches wurde und wie Mereschkowski
von der prophetischen Religiosität Dostojewskis beeindruckt war. Er erwartete
das Reich zuerst in Deutschland, dann, als die Nationalsozialisten seiner Vision
einer technokratischen Arbeitergesellschaft nicht gerecht wurden, in Rußland
und fand es schließlich in der DDR. Sieferle 1992, S.198ff.
2
Zu jenen, die sich von Mereschkowski beeindruckt zeigten, gehörten Wassily
Kandinsky und Thomas Mann. Mann hielt ihn zeitweise gar für den genialsten
Philosophen nach Nietzsche. Scherrer, Jutta: „Pour une théologie de la révolu-
tion. Merejkovski et le symbolisme russe“, in: Archives de Sciences sociales
des Religions 45/1 (1978), S.27-50, S.31. Bei beiden findet sich das Symbol des
Dritten Reiches, bei Kandinsky im Sinne einer tief religiösen Hoffnung auf die
Geistkirche, beim frühen Thomas Mann im Sinne einer deutschnationalen
Erwartung der „Synthese von Geist und Macht“. Im Fall von Kandinsky scheint
Mereschkowski eine größere Rolle gespielt zu haben als bei Mann, der sich
eher auf Ibsen beruft. Vgl. Riedl 2004 und Sieferle 1992, S.183.
3
Vgl. Billington, James H.: The Icon and the Axe. An Interpretative History of
Russian Culture. New York: Vintage, 1970, v.a. S.309ff.
4
„Es gab eine alte Kirche, die Kirche Petri, des unerschütterlichen Felsens, und
es wird eine neue Kirche geben, die Kirche Johannis, des fliegenden Donners.
Der Donner wird den Felsen zerschmettern und das Wasser des Lebens aus ihm
hervorquellen. Das erste, das Alte Testament, ist das Reich des Vaters, das
zweite, das Neue Testament, ist das Reich des Sohnes, und das dritte und letzte
Vermächtnis ist das Reich des Geistes.“ Mereschkowski, Dimitri: Peter und
Alexej. Bd. 2. Leipzig: Hesse & Becker, o.J., S.331f. Vgl. Löwith 1990, S.193.
5
Voegelin 1991, S.168; Billington 1970, S.58f.
6
Clucas, M. Lowell: „Eschatological Theory in Byzantine Hesychasm: A Parallel
to Joachim da Fiore?“, in: Byzantinische Zeitschrift 70/2 (1977), S.324-346, v.a.
S.331ff. Schon länger gibt es die These, Joachim habe seine Lehren unter dem
Einfluß des griechischen Mönchtums, das damals in Kalabrien noch präsent war,
411 ABBILDUNGEN

Doch diese Zusammenhänge sind noch weitgehend unerforscht, und


Spekulationen sollen hier unterbleiben. Sicher aber ist, daß Joachim,
vermittelt durch Idealisten und Saint-Simonisten, bei den politisch-
religiösen Heilserwartungen der Slawophilen eine Rolle spielte, sowie
in anderen Sektoren jener breiten Palette von Geschichtsideen, die
sich später zum Bolschewismus verengten.1
[[@Page:346]]Eine Legende, die Mereschkowski in seinem
historischen Roman Leonardo da Vinci wiedergibt, zeigt, wie
Joachims Erwartung einer Mönchskirche mit dem russischen
Reichsmythos verschmilzt.
Die rechtgläubigen Päpste verehrten lange [statt der
kaiserlichen Mitra, M.R.] die weiße Mönchskappe, bis Kaiser
Carolus und der Papst Formosus in die römische Ketzerei
verfielen und nicht nur die himmlische, sondern auch die
irdische Macht der Kirche anerkannten. Da erschien einem der
Päpste ein Engel und befahl ihm, die Kappe nach Byzanz an
den Patriarchen Philotheos zu schicken. Dieser empfing das
Heiligtum mit großen Ehren und wollte es für sich behalten;
doch Kaiser Konstantin und Papst Sylvester, die ihm im
Traume erschienen, befahlen ihm, die Kappe noch weiter, in das
russische Land zu schicken. „Denn das alte Rom“, sagte Papst
Sylvester zum Patriarchen, „ist in seinem Stolz mutwillig von
dem Ruhm und Glauben Christi abgefallen und der lateinischen
Versuchung unterlegen; auch in Konstantinopel, dem neuen
Rom, wird der Glaube vernichtet werden: die gottlosen Söhne
der Hagar werden ihn ausrotten. Im dritten Rom, im russischen
Reich, wird aber die Gnade des Heiligen Geistes erstrahlen.
Wisse, Philotheos, daß alle christlichen Reiche ihr Ende finden
entwickelt. Sh. Anitchkof, Eugène: Joachim de Flore et les milieux courtois. Rom:
Collezione Meridionale, 1931, S.33ff. und S.123ff. Doch Joachims Schriften
zeigen zwar eine Hochachtung des byzantinischen Mönchtums, aber kaum
Kenntnisse der östlichen Theologie. Der Neuplatonismus, der in der östlichen
Pneumatologie eine zentrale Rolle spielt, war ihm völlig unzugänglich. Der
Hesychastenstreit, der die Parallele zu Joachim hervorgebracht haben soll, fand
außerdem erst im 14. Jh. statt, die Frage nach dem Einfluß stellt sich also eher
umgekehrt. Es spricht aber vieles dafür, daß die Idee eines dritten Zeitalters des
Heiligen Geistes einfach naheliegt, wenn die herkömmliche christliche
Geschichtsanschauung die innerweltlichen Erneuerungserfahrungen nicht mehr
auszudrücken vermag. Im Grunde geschieht dies schon im frühchristlichen
Montanismus. Vgl. Trevett, Christine: Montanism. Gender, Authority and the New
Prophecy. Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S.92ff. Die spezifische
Leistung Joachims bleibt es, die drei Zeitalter in die Lehre von einem organischen
Fortschritt eingebettet und mit einer Gesellschaftstheorie verbunden zu haben.
1
Offenbar spielte der polnische Aristokrat Graf August Cieszkowski eine
herausragende Vermittlerrolle, sowohl für die slawophile als auch für die
sozialistische Richtung. Sh. Kohn, Hans: Die Slawen und der Westen.
Geschichte des Panslawismus. Wien und München: Herold, 1956, S.41;
Kolakowski, Leszek: Die Hauptströmungen des Marxismus. München: Piper,
3
1988, Bd. 1, S.101ff. Beide Autoren betonen den Einfluß Joachims.
412 ABBILDUNGEN

und sich um des rechten Glaubens willen zu einem einzigen


russischen Reich vereinigen werden.“1
Mereschkowski besorgte gemeinsam mit Arthur Moeller van den
Bruck die deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs. Im
Rahmen dieser Zusammenarbeit muß die spezifische Verbindung von
joachimischer Geschichtstheologie und imperialer Reichsmythologie
nach Deutschland gelangt sein, die später im Nationalsozialismus
wirksam wurde.2 Von Moeller und seinen Gesinnungsgenossen wurde
das Symbol des Dritten Reiches zunehmend mit völkischen Inhalten
aufgeladen und zum „Schlüsselwort der ‚Deutschen Bewegung‘“
gemacht.3 Freilich war der Boden in Deutschland schon bereitet, wo
die konservativen Revolutionäre das Symbol der Dritten Reiches,
allerdings noch ohne nationale Heilserwartungen, schon bei Heinrich
Heine, Henrik Ibsen und Johannes Schlaf gefunden hatten.4
Das zweifelhafte Verdienst Moellers war es, daß er unter dem
Eindruck des russischen Mythos die in verschiedenen Kreisen
zirkulierenden und teilweise noch echt christ[[@Page:347]]lichen
Hoffnungen auf ein Drittes Reich des Geistes mit den diffusen
politischen Erwartungen der konservativen Revolution verband, die
einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus,
zwischen westlichem Liberalismus und „slavischem Kollektivismus“
suchten.5 Der dritte Weg sollte das deutsche Volk aus dem „Elend
deutscher Politik“6, das heißt dem Parteienstreit des Weimarer
Parlamentarismus und „der Schande von Versailles“ herausführen, doch
wohin blieb meist recht unklar. Moeller schwebte eher eine
„nationalbolschewistische“ Lösung vor, bei der sich im Innern die
radikalen Kräfte von rechts und links wie im Äußeren die „jungen
Völker“ der Deutschen und Russen vereinigen sollten, um gemeinsam
den Liberalismus und seine vermeintliche Institutionalisierung im

1
Mereschkowski, Dimitri: Leonardo da Vinci. München: Piper, 1911, S.689f.
Mereschkowski war sich des inneren Widerspruchs zwischen der Erwartung
einer Geistkirche und der Hoffnung auf ein Weltreich sehr wohl bewußt. Er
entwickelte aus diesem Widerspruch eine Art Dialektik der Geschichte, die er
in der Romantrilogie Christ und Antichrist (Teil 1: Julian Apostata; Teil 2:
Leonardo da Vinci; Teil 3: Petr und Alexej) historisch exemplifizierte. Sh.
hierzu die leider unveröffentlicht gebliebene Dissertationsschrift: Gras, Marion:
Die Religionsphilosophie von Dimitri S. Merežkovskij mit besonderer
Berücksichtigung der Lehre der drei Testamente. Masch. Diss. München, 1955,
S.39ff.
2
Vgl. Löwith 1990, S.193; Bärsch 1998, S.49, Anm.4.
3
Mohler, Armin: Die Konservative Revolution. 2., völlig neu bearb. und erw.
Fassung. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1972, S.24.
4
Kestenberg-Gladstein 1962, S.278ff.
5
Er schreibt in diesem Sinne: „Es ist ein geistiges Ziel und schließt gleichwohl
eine politische Aufgabe ein.“ Moeller van den Bruck 1931, S.319.
6
Ebd., S.v.
413 ABBILDUNGEN

Weimarer Parlamentarismus hinwegzufegen.1 Wenn Moeller für sein


Buch den Titel Das Dritte Reich wählte (statt des zuerst geplanten
Titels Die Dritte Partei), so war dies wohl mehr als ein „happy
afterthought“ (F. Stern), sondern Folge der Einsicht, daß es für die
Vereinigung der nationalistischen und sozialistischen Gruppierungen
einer gemeinsamen eschatologischen Perspektive bedurfte.2 Er schreibt:
Wir setzen an die Stelle der Parteibevormundung den Gedanken
des dritten Reiches. Er ist ein alter und großer deutscher
Gedanke. Er kam auf mit dem Verfalle unseres ersten Reiches.
Er wurde früh mit der Erwartung eines tausendjährigen Reiches
verquickt. Aber immer lebt in ihm noch ein politischer
Gedanke, der sich wohl auf die Zukunft, doch nicht so sehr auf
das Ende der Zeiten, als auf den Anbruch eines deutschen
Zeitalters bezog, in dem das deutsche Volk erst seine
Bestimmung auf der Erde erfüllen werde.3
[[@Page:348]]Auch Moeller ließ die konkrete politische Gestaltung
des Dritten Reiches im Dunkeln und betonte, daß „nicht die geringste
Gewißheit darüber besteht, die mit ihm verbunden wäre [sic]“4. Aber er
läßt keinen Zweifel daran, daß es sich um ein Reich der geschichtlichen
Erfüllung handelt, ein Endstadium der „deutschen
1
Sh. die Kapitel „Sozialistisch“ und „Liberal“ in Das Dritte Reich. Vgl. Stern,
Fritz: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of Germanic Ideo-
logy. Berkeley u.a.: University of California Press, 1974, S.245ff. Auch Stern
schreibt: „The dream of the Third Reich went back to medieval mysticism, to
Joachim of Floris, and recalled as well the memory of medieval imperial
glory.“ (S.253). Allerdings weist er nicht auf den Widerspruch hin, der
zwischen diesen beiden Traditionslinien besteht.
2
„Was bisher fehlte – ein Mangel, der die Fehlschläge der unmittelbaren
Vergangenheit erklärte – war ein chiliastisches Ideal (die Heilserwartung). Das
‚neue‘ Deutschland mußte nach Moeller van den Bruck von der Idee der
germanischen Vergangenheit und der möglichen zukünftigen Größe
Deutschlands beflügelt in einem neuen Zeitalter die Traditionen eines
mittelalterlichen Sendungsbewußtseins wiederbeleben und ins Werk setzen.“
Mosse, George L.: Die völkische Revolution. Sonderausgabe. Frankfurt am
Main: Hain, 1991, S.296; Hervorh. i. Orig. Moeller van den Bruck erwähnt
Joachim nicht, muß aber von ihm gewußt haben. Zumindest in Spenglers Werk
Der Untergang des Abendlandes, das in Moellers Denken einen nachhaltigen
Eindruck hinterlassen hat, war ihm der Name des Abtes begegnet. Schon dort
heißt es: „Das dri tt e R ei ch i st das germ ani sche Ideal , ein ewiges
Morgen, an das alle großen Menschen von Joachim von Floris bis Nietzsche
und Ibsen – Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer, wie es im Zarathustra
heißt – ihr Leben knüpften.“ Spengler 1923, Bd.1., S.461; Hervorh. i. Orig.
Aber Moeller war wohl im Gegensatz zu Spengler bewußt geworden, daß man
den Kalabresen Joachim schwerlich in eine Reihe mit den „germanischen
Propheten“ Nietzsche und Ibsen stellen konnte. Moeller spricht deshalb etwas
undeutlich von den „Mystikern des Ersten Reiches“.
3
Moeller van den Bruck 1931, S.vii.
4
Ebd., S.vii.
414 ABBILDUNGEN

Menschengeschichte“1, das zugleich die Widersprüche der real-


geschichtlichen Existenz des Volkes transzendiert. 2 Trotz seines
Selbstverständnisses als Konservativer und seiner Kritik am liberalen
und revolutionären Fortschrittsbegriff, versteht Moeller die Geschichte
als einen Fortschrittsprozeß. Denn das Reich, das dem deutschen Volk
verheißen sei,3 werde sich gegen alle Widrigkeiten immer vollendeter
manifestieren und seine inneren Widersprüche würden sich in diesen
Manifestationen sukzessive auflösen.4 Mit dem Niedergang des ersten
Reiches hätten sich die ewigen Werte des deutschen Geistes, auf die
sich Moellers Konservatismus beruft, vom Politischen abgelöst,5 und
müßten sich nun, nach dem Bismarckschen „Zwischenreich“, endgültig
im Politischen, das heißt in einem „materiellen“ Reich, manifestieren.6
Das Dritte Reich ist demnach also eine Synthese aus Geistzeitalter und
irdischem Imperium, analog zu dem von Mereschkowski
wiedergegebenen russischen Mythos. Freilich finden sich ähnliche
Vorstellungen schon bei Fichte und einigen Romantikern. Aber erst
Moeller ordnete alle nationalen Heilserwartungen um das zentrale
Symbol des Dritten Reiches herum an. Von den NS-Ideologen, die sich
auf ihn beriefen, unterscheidet sich Moeller van den Bruck jedoch in
1
Ebd., S.319.
2
„[…] in keinem Land drängen diese Werte [des nationalistischen Menschen,
M.R.] so zu einer Einheit hin, zu der wir seit unserem ersten Reiche nicht mehr
gelangten und die wir in unserem zweiten Reiche verfehlten – und die uns nun
für ein drittes Reich aufgegeben ist, dem die Widersprüche unserer Geschichte
verblieben, aber die Werte zu ihrer Erfüllung vorbehalten sind.“ Ebd., S.308.
Moellers Werk, das ganz vom Pathos einer nationalen Erweckungspredigt lebt,
ist völlig inkonsistent. So heißt es zum Beispiel an einer Stelle, daß sich die
Verheißung an das deutsche Volk, wenn auch erst nach Jahrhunderten,
„endgültig“ erfüllen werde und daß man darauf vertrauen müsse, daß sich „die
verworfene Welt“ von Deutschland aus „wieder einrichten lassen wird“
(S.298f.). An anderer Stelle wiederum schreibt Moeller, daß das Dritte Reich
immer unvollkommen bleiben und sich niemals erfüllen werde. Selbst ein
völliges Versagen der deutschen Nation sei möglich (S.320f.). Der Begriff der
geschichtlichen Entwicklung wird einmal verworfen, an anderer Stelle wieder
wie selbstverständlich in Anspruch genommen.
3
Ebd., S.320f.
4
Moeller wettert gegen jene, die dem Fortschritt „die Kulte der Vorzeit und
Urzeit vorziehen“. Ebd., S.311. „Wir glauben, daß dieses zweite Reich nur erst
der Übergang zu einem dritten Reiche war, zu einem neuen und letzten Reiche,
das uns verheißen ist, und für das wir leben müssen, wenn wir leben wollen.“
Ebd., S.319.
5
„Das Bewußtsein der Nation erwachte im Gedicht und Gedanken, aber das
Reich löste sich auf. Der deutsche Idealismus hob den Geist auf eine höchste
Ebene des Menschentums, aber das Volk seiner Bekenner verfiel in
Fremdherrschaft.“ Ebd., S.309.
6
„Der Gedanke des dritten Reiches, von dem wir, als unserem höchsten und
letzten Weltanschauungsgedanken, nicht lassen können, kann fruchtbar nur als
ein Wirklichkeitsgedanke werden: wenn es gelingt, ihn dem Illusionistischen zu
entrücken und ganz in das Politische einzubeziehen.“ Ebd., S.viii; vgl. S.320ff.
415 ABBILDUNGEN

einem wichtigen Punkt: Er bezweifelt den Fortschritt in jenem Sinne,


daß der Mensch in seinem Wesen verbessert werden könne und spricht
mit Bezug auf sozialdarwinistische Vorstellungen von einem
„biologischen [[@Page:349]]Wahn“.1 Rassistische Positionen finden
sich bei ihm nicht.
Das von Moeller van den Bruck geprägte Verständnis des „Dritten
Reiches“, das trotz dieses Unterschieds im Nationalsozialismus
fortwirkte,2 ist, vor allem aufgrund der russischen Komponente in
seiner Genese, ein besonderer Fall. Und dennoch ist es beispielhaft für
die neuzeitliche Rezeption der joachimischen Symbole: Von den
konkreten politischen Inhalten, mit denen Joachim die Erwartung des
tertius status ausgefüllt hatte, von der differenzierten
Gesellschaftsordnung seines Verfassungsentwurfes ist kaum etwas
geblieben. Aber es ist nicht einfach eine „curiosity of history“, 3 daß
der Name Joachim von Fiore zu allen Zeiten von Denkern und
Schwärmern unterschiedlichster Couleur immer wieder neu entdeckt
wurde. Denn überall, wo seine Symbole zur Anwendung kommen,
findet sich als kleinster gemeinsamer Nenner die Hoffnung auf eine
kollektive Erfüllung in der Geschichte, sei es als Kirche, Klasse, Volk,
Rasse oder gar als universales Menschheitskollektiv. Dies ist der
substantielle Kern des ideengeschichtlichen Fortwirkens Joachims, der
Grundgedanke, der seit acht Jahrhunderten zu Recht immer wieder mit
seinem Namen verbunden wurde. Somit bestätigt sich grundsätzlich
die These Voegelins: Joachims langfristige Bedeutung besteht
weniger in seinem spezifischen gesellschaftspolitischen Entwurf,
sondern im Fortwirken der Symbole, die er als Ausdruck seiner
neuartigen innergeschichtlichen Vollendungserwartung geschaffen
hat.
*
1
Ebd., S.244f.
2
Ulrich Herbert schildert in seiner Best-Biographie beispielhaft, wie das
Gedankengut der älteren völkisch gesinnten Theoretiker an die
Nachwuchseliten und späteren NS-Funktionäre weitergegeben wurde, indem
zum Beispiel die Mitglieder des Juniklubs, darunter Moeller van den Bruck, als
weltanschauliche Ausbilder bei Seminaren des völkischen Deutschen
Hochschulrings tätig wurden. Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien
über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989. Bonn: Dietz,
3
1996, S.55ff. Werner Best selbst betonte im Rückblick die Rolle Moellers:
„Arthur Moeller van den Bruck schuf den Begriff des ‚Dritten Reiches‘ der
Deutschen als eines verpflichtenden höheren Wertes.“ Zit. ebd., S.104.
3
Reeves/Gould 1987, S.60. Die Studie über die Wirkungsgeschichte Joachims
von Fiore im 19. Jahrhundert von Marjorie Reeves und Warwick Gould ist
wegen ihres Materialreichtums von unschätzbarem Wert. Doch die etwas naiv-
positivistische Haltung der Autorinnen, daß eine Wirkung nur festgestellt
werden kann, wo eine „clear reference to Joachim“ vorliegt (S.10), verhindert
tiefere Einblicke in das eigenständige Fortleben der joachimischen Symbole.
416 ABBILDUNGEN

Woher aber kommt dieser auf die Sozialgeschichte projizierte Wunsch


nach einer Vollendung, die über das Tatsächliche hinausgeht, der
Wunsch mehr zu sein als man ist?1 Er hat seinen Urgrund in einer
menschlichen Grunderfahrung: der Erfahrung der Unvollkommenheit.
Unvollkommenheit wird in allen Dimensionen menschlichen
Seins erfahren, in der leiblichen Dimension als Verlust von Jugend
oder als Mangel an Schönheit und [[@Page:350]]Gesundheit, in der
sozialen als Unterlegenheit oder als gesellschaftliches Versagen, in der
sittlich-geistigen als Unwissenheit oder als Diskrepanz zwischen
moralischem Anspruch und tatsächlichem Handeln. Das Negativum
„Unvollkommenheit“ ist ein Symbol für die unbestimmte Ahnung,
daß der bezeichnete Zustand ein Zustand des Mangels ist, der weder
ursprünglich noch endgültig sein kann.2 Die hellenische und die
jüdische Zivilisation haben je ihre eigenen Symbolismen
hervorgebracht, in denen sich sowohl die Defizienzerfahrung
menschlicher Unvollkommenheit artikuliert als auch die Hoffnung auf
Wiedergewinnung von Fülle und Vollkommenheit – sei es der Mythos
vom Fall und Wiederaufstieg der Seele oder der Mythos vom
Sündenfall und der Erlösung des Menschen im Jenseits.
Joachims Lehre ist eine Variante des christlichen Mythos. Die
Erfahrung der menschlichen Unvollkommenheit wird auch von
Joachim mit dem Symbol der Sünde zum Ausdruck gebracht, 3 und die
Hoffnung auf Vollendung äußert sich im symbolischen Drama von
Offenbarung, Gnade und Erlösung. Die Neuheit besteht darin, daß
Joachim den Offenbarungs- und Erlösungsprozeß als eine progressive
Entwicklung schildert, deren Vollendung in der innergeschichtlichen
Zukunft liegt, in der allumfassenden perfectio des dritten Status.4
Einmal ausgesprochen, verschwand dieser Gedanke nie wieder aus
dem Gedächtnis der christlich geprägten Gesellschaften.
Ein Theologe oder Historiker mag auf andere Aspekte verweisen,
1
Moeller zieht die Parallele zwischen der Vollendung des Einzelmenschen und
der des Volkes: „Größe eines Menschen ist: noch etwas mehr zu sein, als er nur
von sich aus ist. Größe eines Volkes ist: noch etwas über sich hinaus sein und
von sich mitteilen, noch etwas besitzen, das es mitteilen kann.“ Moeller van
den Bruck 1931, S.315.
2
William James spricht von einer Erfahrung der Unstimmigkeit, einem „Gefühl,
daß mit unserem Zustand irgend etwas nicht stimmt “, das gemeinsam mit dem
Streben nach Befreiung von dieser Unstimmigkeit aller Religiosität
zugrundeliege. James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie
über die menschliche Natur. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, 1997, S.487;
Hervorh. i. Orig.
3
Vgl.: Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des
Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck, 1997, S.69ff.
4
„Non enim venerat adhuc tempus, quo gratia ista perveniret ad multos, quia in
tertio statu seculi in virtute et operatione Spiritus sancti revelanda erat, ut in
ipso omnis perfectio consummationem accipiat.“ Exp. Intr., fol.21rb.
417 ABBILDUNGEN

aber hier ist die politologische Bedeutung des kalabresischen Abtes zu


suchen. Joachim von Fiore hat einen Weg gefunden, dem
menschlichen Verlangen nach Vollendung einen neuen symbolischen
Ausdruck zu verleihen; einen Weg, der, trotz aller Probleme, die er in
sich birgt, einigen der größten und einflußreichsten Geister der
vergangenen achthundert Jahre als plausibel erschien (von den
weniger großen Geistern ganz zu schweigen). Es gibt guten Grund zu
der Annahme, daß kaum eine andere Idee die neuzeitliche Geschichte
so sehr geprägt hat wie diese. Und daher lohnt es noch heute, sich mit
dem Werk Joachims zu befassen. Nicht einfach nur, weil dort die
„Fortschrittsidee“ zum erstenmal ausgesprochen wurde, sondern weil
Joachims Werk den Erfahrungszusammenhang vermittelt, in dem das
Symbol „Fortschritt“ (profectus) zum Ausdruck einer allumfassenden
Wirklichkeitswahrnehmung hat werden können.
Die politische Idee des geschichtlich-sozialen Fortschritts hat
ihren anthropologischen Grund in der Erfahrung der
Unvollkommenheit und dem Streben nach Vollendung, in der
Eingespanntheit der menschlichen Existenz zwischen Erfahrungen
von Mangel und Fülle. Als spezifischer Ausdruck dieser Erfahrungen
aber hat sie einen konkreten historischen Ort. Das Ergebnis dieser
Arbeit ist, daß die Idee des innergeschichtlichen Fortschritts
keineswegs als Antwort auf den Erfolg der
Naturwissenschaf[[@Page:351]]ten zu sehen ist, sondern Erfahrungen
zum Ausdruck bringt, die im Zusammenhang mit der Kirchen- und
Ordensreform stehen. Die Spiritualisierungsprozesse, die Joachim in
der zeitgenössischen Kirche beobachten konnte, veranlaßten ihn, die
Vollendung der Menschheit in der erneuerten Kirche eines künftigen
Geistzeitalters zu erwarten.
Der Siegeszug der Naturwissenschaften mag der Fortschrittsidee
neue Plausibilität und neue Inhalte verliehen haben, aber seine
Deutung konnte anhand der joachimischen Symbolik erfolgen, wie es
am deutlichsten das positivistische Dreistadiengesetz Auguste Comtes
belegt.1 Es ist schlicht nicht wahr, daß aufgrund eines neuen
Naturverständnisses am Ende des 17. Jahrhunderts die
„Weltanschauungen“ gewechselt hätten wie das Wetter und die
neuzeitliche „Vorstellung des Fortschritts“ das apokalyptische
Zeitverständnis des Mittelalters einfach abgelöst habe.2
1
Karl Löwith zufolge erfuhr Comte durch Lessing und die Saint-Simonisten
von Joachims Lehre. Löwith,1990, S.190. Vgl. de Lubac 1981, Bd.2, S.16ff.
Zur Adaption christlicher Symbolik bei Comte: Aron, Raymond:
Hauptströmungen des soziologischen Denkens. Köln: Kiepenheuer und Witsch,
1971, Bd.1, S.72ff.
2
So z.B. Krolznik, Udo: „Zeitverständnis im Spiegel der Natur. Wandlungen
des Zeitverständnisses und der Naturwahrnehmung um 1700“, in: Günther
Figal und Rolf-Peter Sieferle (Hrsg.): Selbstverständnisse der Moderne.
Formationen der Philosophie, Politik, Theologie und Ökonomie. Stuttgart:
418 ABBILDUNGEN

Bekanntermaßen ist die Apokalyptik niemals verschwunden; und die


Linearität des apokalyptischen Zeitverständnisses ist geradezu die
Voraussetzung aller Rede vom geschichtlichen Fortschritt. Die
pessimistische Diesseitsbetrachtung der Apokalyptiker wurde nicht
durch die Naturwissenschaft überwunden, sondern durch die
Kirchenidee – zuerst in den Briefen des Paulus, dann bei Augustinus
und wieder auf andere Weise bei Joachim von Fiore.
Wenn nach Paulus die proleptische Gemeinschaft der Ekklesia
jene Menschen versammelt, die in die jenseitige Bürgerschaft berufen
sind, dann bleibt natürlich immer die Frage, ob sich die jenseitige
Heilsordnung schon in der geschichtlichen Kirche manifestieren muß.
In dieser Hinsicht bilden die weitgehende Verneinung bei Augustinus
und die absolute Bejahung bei Joachim die Extrempositionen. Als
Joachim die konkrete christianitas der progressiven Dynamik des
Offenbarungswissens unterwarf, prägte er das Paradigma des
Fortschritts, in das Roger Bacon schon wenige Jahrzehnte später die
Naturwissenschaften einzuordnen begann – selbstverständlich unter
Berufung auf den kalabresischen Abt.1 Erst jüngst hat Johannes Fried
darauf aufmerksam gemacht, daß Joachim an der Begeisterung für die
Naturwissenschaften, welche schon seit dem 13. Jahrhundert
kontinuierlich wuchs, großen Anteil hatte. Es ist nur zu verständlich,
daß man versuchte, Joachims Exegese, die genaue Daten vermeidet,
um astronomische Berechnungen zu ergänzen, die den Zeitpunkt
endzeitlicher Ereignisse exakter bestimmen sollten. „Von Joachim
mochten dieselben wegführen; aber sie wirkten als Ferment und ließen
um so besser gedeihen, was der Abt von Fiore auf anderem
[[@Page:352]]Feld gesät hat.“2
Die Behauptung, der Anfang des Fortschrittsdenkens müsse um
einige Jahrhunderte früher angesetzt werden als gemeinhin üblich,
erscheint nur dann als gewagt, wenn man den Geschichtsmythos der
Renaissance voraussetzt und einen radikalen historischen Bruch
annimmt, der sich zwischen Mittelalter und Neuzeit, Glaube und
Wissen, Apokalyptik und Geschichtsphilosophie, mythischer
Kosmologie und Naturwissenschaft ereignet habe. Alle mit der
Thematik befaßten Disziplinen haben gezeigt, daß es viele Brüche

Metzler, 1991, S.42-66, S.42. Es genügt, auf die paradigmatische Figur des
neuzeitlichen Naturwissenschaftlers zu verweisen, Isaac Newton, dem
mathematische und physikalische Erkenntnisse nicht zuletzt dazu dienten, seine
auf den Apokalypsen des Daniel und des Johannes basierenden
Endzeitberechnungen exakter zu machen. Manuel, Frank E.: A Portrait of
Isaac Newton. Cambridge: Harvard University Press, 1968, S.361ff.
1
Mundy, John H.: Europe in the High Middle Ages 1150-1300. Harlow u.a.:
Longman, 32000, S.303ff.
2
Fried, Johannes: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und
die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München:
Beck, 2001, S.117.
419 ABBILDUNGEN

gibt, aber nicht den „Bruch an sich“, ja daß Epochengrenzen um so


unhaltbarer werden, je mehr man sich bemüht, sie inhaltlich zu
bestimmen.
Um Mißverständnisse auszuschließen: Hier wird nicht behauptet,
neuere Geschichtsphilosophien und Fortschrittstheorien seien nichts
weiter als säkularisierte Fassungen der joachimischen
Geschichtstheologie.1 Was hier behauptet wird, ist: Joachim hat mit
seiner Idee von der geschichtlichen Vollendung der Menschheit eine
neue Antwort auf die Erfahrung der Unvollkommenheit gefunden.
Und: Die spezifische Symbolik, in der dieser Gedanke seinen
Ausdruck findet, vor allem die Rede von einem auf Vergangenheit
und Gegenwart folgenden dritten Zeitalter der vollendeten
Menschheit, konnte immer wieder herangezogen werden, um
aktuellen Fortschrittserfahrungen und Vollendungshoffnungen
Ausdruck zu verleihen.

[[@Page:353]]
ABBILDUNGEN
[[@Page:354]]

1
Dies würde im übrigen einige der interessantesten Fälle der neueren
Joachimrezeption außer acht lassen, die eindeutig christlich motiviert, also
nicht „säkular“ sind. Wie das Beispiel Vattimos zeigt, erlaubt die Antidogmatik
der postmodernen Philosophie sogar, den Bezug zwischen Fortschrittsprozeß
und göttlichem Erziehungsplan wiederherzustellen. Er schreibt: „Überhaupt ist
die biblische Offenbarung, das Alte und das Neue Testament, ein langer
Erziehungsprozeß Gottes an der Menschheit, die in seinem Verlauf zu einer
immer klareren Distanzierung von Naturreligion und Opfer fortschreitet.“
Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren. Stuttgart: Reclam, 1997, S.32.
„[…] nur in der Heilsgeschichte – die, von der Vorsehung gelenkt,
unterschiedliche Epochen und Momente durchläuft (und sich damit in einem
Rhythmus vollzieht, der die Bedeutung eines Fortschritts hin zur Reife und zum
Ende der Zeiten hat) – wird die christliche Botschaft deutlich […].“ Ebd., S.62.
420 ABBILDUNGEN

Abbildung 1: Der Baum der Heilsgeschichte


421 ABBILDUNGEN

[[@Page:355]]
Abbildung 2: Der zehnsaitige Psalter

[[@Page:356]]
422 ABBILDUNGEN

Abbildung 3: Der siebenköpfige Drache


423 ABBILDUNGEN

[[@Page:357]]
Abbildung 4: Der Verfassungsentwurf
[[@Page:359]]

ABKÜRZUNGEN
Atti I Storia e messagio in Gioacchino da Fiore. Atti del I
Congresso internazionale di studi gioachimiti. San
Giovanni in Fiore: Centro di Studi Gioachimiti, 1980.
Atti II L’eta dello spirito e la fine dei tempi in Gioacchino da
Fiore e nel Gioachimismo medievale. Atti del II
Congresso internazionale di studi gioachimiti. S.
Giovanni in Fiore: Centro di Studi Gioachimiti, 1986.
Atti III Potestà, Gian Luca (Hrsg.): Il profetismo gioachimita
tra Quattrocentro e Cinquecento. Atti del III Congresso
internazionale di studi gioachimiti. Genova: Marietti,
1991.
Atti IV Rusconi, Roberto (Hrsg.): Storia e figure
dell’Apocalisse fra ’500 e ’600. Atti del 4° Congresso
internazionale di Studi Gioachimiti. Roma: Viella,
1996.
Atti V Rusconi, Roberto (Hrsg.): Gioacchino da Fiore tra
Bernardo di Clairvaux e Innocenzo III. Atti del 5°
Congresso internazionale di studi gioachimiti. Roma:
Viella, 2001.
BKV Bibliothek der Kirchenväter
CClat Corpus Christianorum, Series Latina
CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum
DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters
Florensia Florensia. Bolletino del Centro Internazionale di Studi
Gioachimiti
HJ Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft
HbDgm Handbuch der Dogmatik. Hrsg. von Theodor
Schneider. 2 Bde. Düsseldorf: Patmos, 2000.
HbKg Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. von Hubert
Jedin. 7 Bde. Unveränd. Nachdruck d. Sonderausg. von
1985. Freiburg im Breisgau u.a.: Herder, 1999.
HZ Historische Zeitschrift
JSHRZ Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit.
Gütersloh: Mohn, 1973ff.
LXX Septuaginta
MGH Monumenta Germaniae Historica
NHThG Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. 5 Bde.
Hrsg. von Peter Eicher. Erw. Neuausg. München:
Kösel, 1991.
QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven
und Bibliotheken
SC Sources Chrêtiennes
TRE Theologische Realenzyklopädie. Berlin u.a.: de Gruyter,
1976ff.
Vg Vulgata
ZKG Zeitschrift für Kirchengeschichte
[[@Page:361]]
QUELLEN

Bibel
Wo nicht anders angegeben, wurde die Bibel nach der
Einheitsübersetzung wiedergegeben. Die Abkürzungen der biblischen
Bücher und die Schreibung der Eigennamen richten sich gleichfalls
nach der Einheitsübersetzung.

Anonyma und Pseudepigraphen


4 Esr Das vierte Buch Esra. Zit.: JSHRZ V,4.
Ap. Patr. Apophthegmata Patrum. Zit.: Weisung der
Väter. Apophthegmata Patrum, auch
Gerontikon genannt. Eingeleitet und übersetzt
von Bonifaz Miller. Freiburg im Breisgau:
Lambertus, 1965.
ApcBar(syr) Die Syrische Baruch-Apokalypse. Zit.: JSHRZ
V,2.
ApcEsr Die griechische Esra-Apokalypse. Zit.: JSHRZ
V,2.
Did Didache. Zit. n. der griech.-dt. Ausgabe in:
Didache, Apostelbrief, Barnabasbrief, Zweiter
Klemensbrief, Schrift an Diogenet. Eingeleitet,
herausgegeben, übertragen und erläutert von
Klaus Wengst. Darmstadt: Wiss. Buchges.,
1984.
Hen(äth) Das äthiopische Henochbuch. Zit.: JSHRZ V,6.
Hist. mon. Historia monachorum in Aegypto. Zit.: Mönche
im frühchristlichen Ägypten (Historia
monachorum in Aegypto). Aus dem
Griechischen übersetzt, eingeleitet und erklärt
von Suso Frank. Düsseldorf: Patmos, 1967.
Ludus Ludus de Antichristo. Zit.: Ludus de Antichristo.
Das Spiel vom Antichrist. Lateinisch und
Deutsch. Übers. von Rolf Engelsing. Stuttgart:
Reclam, 1968.
Proph. ign. Prophetia ignota. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe in:
Kaup 1998, S.174-179.
Vita Joach. (Anon.) Vita b. Joachimi abbatis. Zit.: Grundmann
1977, S.342-352.
Vita Pach. Vita Pachomii. Zit.: „Lebens des heiligen
Pachomius. Anhang zu: Des heiligen Athanasius
Leben des heiligen Antonius“, in: Des heiligen
Athanasius ausgewählte Schriften Bd.2. Aus
dem Griechischen übersetzt von Hans Mertel.
BKV. Kempten und München: Kösel, 1917,
S.798-900.

Autoren

Adso von Montier-en-Der


De ortu Epistola Adsonis ad Gerbergam reginam de
ortu et tempore Antichristi. Zit.: Sackur, Ernst:
Sybillinische Texte und Forschungen.
Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische
Sibylle. Halle: Niemeyer, 1898, S.104-113.
[[@Page:362]]

Anselm von Canterbury


Cur deus homo Cur deus homo. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe,
besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius
Schmitt. München: Kösel, 1956.

Anselm von Havelberg


Dial. Dialogi. Zit.: SC 118.

Antonius
Ep. Epistulae. Zit.: The Letters of Saint Antony the
Great. Translated by Derwas J. Chitty. Fair-
acres, Oxford: SLG Press, 1980.

Aristoteles
429 QUELLEN

Nik. Eth. Nikomachische Ethik. Zit.: Nicomachean Ethics.


With an English Translation by H. Rackham. (=
Loeb Classical Library Vol. 73). Cambridge und
London: Harvard University Press, revised edi-
tion 1934, reprinted 1999.

Athanasius
Vita Ant. Vita Antonii. Zit.: „Des heiligen Athanasius
Leben des heiligen Antonius“, in: Des heiligen
Athanasius ausgewählte Schriften. Bd.2. Aus
dem Griechischen übersetzt von Hans Mertel.
BKV. Kempten und München: Kösel, 1917,
S.687-777.

Augustinus
Conf. Confessiones. Zit.: Bekenntnisse. Lateinisch und
Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von
Joseph Bernhardt. Frankfurt am Main: Insel,
1987.
De civ. Dei De civitate Dei. Zit.: a) CClat XLVII und
XLVIII; b) Vom Gottesstaat. Aus dem
Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme.
Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen.
2 Bde. München: dtv, 31991.
De trin. De trinitate. Zit.: CClat L und LA.
Ench. Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et ca-
ritate. Zit.: a) CClat XLVI; b) Das Handbü-
chlein De Fide, Spe et Charitate. Übertragen
von Paul Simon. Paderborn: Schöningh, 21962.

Basilius von Caesarea


Basilii Reg. Basili Regula a Rufino Latine versa. Zit.: CSEL
LXXXVI. [[@Page:363]]
430 QUELLEN

Benedikt von Nursia


Reg. Ben. Regula Benedicti. Zit.: Die Benedictusregel
lateinisch/deutsch. Herausgegeben im Auftrag
der Salzbuger Äbtekonferenz. Beuron: Beuroner
Kunstverlag, 1992.

Bernhard von Clairvaux


De cons. De consideratione ad Eugenium papam. Zit.:
Sämtliche Werke lateinisch/deutsch. Hrsg. von
Gerhard B. Winkler. Innsbruck: Tyrolia, 1990,
Bd.1, S.612-827.

Cassian
Inst. De institutis coenobiorum et de octo principa-
lium vitiorum remediis. Zit.: SC 109.

Dante Alighieri
Monarchia Monarchia Zit.: Studienausgabe.
Lateinisch/Deutsch. Einleitung, Übersetzung
und Kommentar von Ruedi Imbach und
Christoph Flüeler. Stuttgart: Reclam, 1989.
Commedia La Divina Commedia. Zit.: Testo critico della
Società Dantesca Italiana. Riveduto col
commento scartazziniano rifatto da Giuseppe
Vandelli. Mailand: Hoepli, 211987.

Eusebius von Caesarea


Hist. eccl. Historia ecclesiastica. Zit.: Kirchengeschichte.
Hrsg. und eingeleitet von Heinrich Kraft.
Übers. von Philipp Haeuser. Studienausg.,
unveränd. Nachdr. der 3. Aufl. Darmstadt:
Wiss. Buchges., 1977.

Gregor der Große


431 QUELLEN

Dial. Dialogorum Gregorii Papae libri quattuor de


miraculis patrum Italicorum. Zit. n. der lat.-dt.
Ausgabe: Der hl. Benedikt. Buch II der Dialoge.
Herausgegeben im Auftrag der Salzburger
Äbtekonferenz. St. Ottilien: Eos, 1995.

Gregorius Thaumaturgos
Lobrede Lobrede auf Origenes. Zit.: Ausgewählte
Schriften des heiligen Gregorius Thaumaturgus.
Nach dem Urtexte übersetzt von Joseph
Margraf. BKV. Kempten: Kösel, 1875.
[[@Page:364]]
432 QUELLEN

Gottfried von Auxerre


Predigt Fragment einer Predigt. Zit.: Grundmann 1977,
S.358-360.

Horsiesius
Lib. Ors. Liber Orsiesii. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe in:
Bacht 1973, S.58-189.

Irenäus von Lyon


Adv. haer. Adversus haereses. Zit.: Des heiligen Irenäus
fünf Bücher gegen die Häresien. Übersetzt von
Ernst Klebba. 2 Bde. BKV. Kempten und
München: Kösel, 1912.

Joachim von Fiore


Die Schreibweise der Titel richtet sich nach dem Werkverzeichnis:
Selge, Kurt-Victor: „Elenco delle opere di Gioacchino da Fiore“, in:
Florensia III-IV (1989-1990), S.25-35. Zitate aus Joachims Werken
wurden in der Schreibweise nicht angeglichen, sondern bis auf wenige
Korrekturen so wiedergegeben, wie sie in der jeweiligen Edition
vorgefunden wurden.

Adv. Jud. Adversus Judaeos. Hrsg. von Arsenio Frugoni.


(= Fonti per la storia d’Italia 95). Roma: Istituto
storico italiano per il medio evo, 1957.
Conc. Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti.
Zit.: a) Venedig, 1519. Unveränd. Nachdruck:
Frankfurt am Main: Minerva, 1964. b) Daniel,
E. Randolph: „Abbot Joachim of Fiore: Liber de
Concordia Noui ac Veteris Testamenti“, in:
Transactions of the American Philosophical So-
ciety 73/8. Philadelphia 1983. Text: S.3-435.
Die Ausgabe enthält nur die ersten 4 Bücher
(etwa die Hälfte des Werkes). Hinsichtlich der
Zählung der Abschnitte, Kapitel und Folioseiten
433 QUELLEN

habe ich mich bei allen 5 Büchern an die


venezianische Ausgabe gehalten. Bei Zitaten
aus den ersten 4 Büchern wurden die Seiten-
und Zeilennummern der Daniel-Ausgabe
beigefügt. c) Mir lag außerdem eine
unveröffentlichte und noch nicht kritisch
bearbeitete Transkription des Gesamttextes von
Herbert Grundmann vor. Im Falle des 5. Buches
habe ich von ihm vorgeschlagene Lesarten und
Verbesserungen des Textes in der Regel
übernommen, ohne im einzelnen darauf
hinzuweisen.
De art. fid. De articulis fidei. Zit. n. Buonaiuti 1936, S.3-
108.
De proph. De prophetia ignota. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe
in: Kaup 1998, S.180-225.
De sept. sig. De septem sigillis. Zit.: Reeves/Hirsch-Reich
1954, S.239-247. [[@Page:365]]
De ult. trib. De ultimis tribulationibus. Zit.: Selge 1993,
S.21-35.
Dial. Dialogi de praescientia dei et praedestinatione
electorum. Hrsg. von Gian Luca Potestà. (=
Fonti per la storia dell’Italia medievale,
Antiquitates 4). Roma: Istituto storico italiano
per il medio evo, 1995.
Ench. Enchiridion super Apocalypsim. Edited with
Notes and Introduction by Edward Kilian Bur-
ger. Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval
Studies, 1986, S.9-90.
Exp. Expositio in Apocalypsim. Zit.: a) Venedig,
1527. Unveränd. Nachdruck: Frankfurt am
Main: Minerva, 1964. b) Mir lag eine
unveröffentlichte Arbeitsfassung der kritischen
Edition vor, die Kurt-Victor Selge für die
Gesamtausgabe besorgt. Die Zitation erfolgt
nach der venezianischen Ausgabe. Korrekturen
nach Selge sind ausgewiesen.
Exp. Intr. Liber Introductorius. (= Expositio in Apocalyp-
sim, fol.1vb-26va).
434 QUELLEN

Geneal. Genealogia. Zit.: Potestà 2000, S.91-96.


Int. cal. Intelligentia super calathis ad abbatem
Gafridum. Zit.: De Leo 1988, S.135-148.
Lib. Fig. Liber Figurarum. Zit.: Il libro delle Figure
dell’abate Gioacchino da Fiore. Hrsg. von
Leone Tondelli, Majorie Reeves und Beatrice
Hirsch-Reich. Turin: Società editrice
internazionale, 1953.
2

Praeph. Apc. Praephatio super Apocalypsim. Zit.: Selge


1990, S.102-131.
Psalt. Psalterium decem chordarum. Zit.: a) Venedig,
1527. Unveränd. Nachdruck: Frankfurt am
Main: Minerva, 1965. b) Mit lag ein schon weit
fortgeschrittener Editionsentwurf von Kurt-
Victor Selge vor. Die Zitation erfolgt nach der
venezianischen Ausgabe. Korrekturen nach
Selge sind ausgewiesen.
Tract. Tractatus super IV evangelia. Hrsg. von
Francesco Santi.
(= Fonti per la storia dell’Italia medievale.
Antiquitates 17). Roma: Istituto storico italiano
per il medio evo, 2002.
Vita. Ben. Tractatus in expositionem vitae et regulae beati
Benedicti. Hrsg. von Cipriano Baraut. Analecta
Sacra Tarraconensia 24 (1951), S.42/10-
118/86.

Johannes von Salisbury


Policraticus Policraticus, sive De nugis curialium et vesti-
giis pilosophorum. Zit.: Policraticus. Of the
frivolities of Courtiers and the Footprints of
Philosophers. Edited and translated by Cary J.
Nederman. Cambridge: University Press, 1990.

Lucas von Cosenza


Vita Joach. (Lucas) Erzbischof Lucas von Cosenza über Joachim
von Fiore über Joachim von Fiore. Zit.:
435 QUELLEN

Grundmann 1977, S.352-358. [[@Page:366]]


436 QUELLEN

Origenes
C. Cels. Contra Celsum. Zit.: Ausgewählte Schriften des
Origenes, Kirchenschriftstellers aus
Alexandrien Bd.2 und 3. Nach dem Urtexte
übersetzt von Johann Röhm. BKV. Kempten:
Kösel, 1876 und 1877.
De princ. De principiis. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe: Vier
Bücher von den Prinzipien. Herausgegeben,
übersetzt und mit kritischen und erläuternden
Anmerkungen versehen von Herwig Görgemanns
und Heinrich Karpp. Darmstadt: Wiss. Buchges.,
1976.
Exh. ad mart. Exhortatio ad martyrium. Zit.: Ausgewählte
Schriften des Origenes, Kirchenschriftstellers
aus Alexandrien Bd.1. Nach dem Urtexte
übersetzt von Josef Kohlhofer. BKV. Kempten:
Kösel, 1874, S.251-339.

Otto von Freising


Chron. Chronica sive historia de duabus civitatibus.
Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe: Chronik oder die
Geschichte der zwei Staaten. Übersetzt von
Adolf Schmidt. Herausgegeben von Walther
Lammers. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1960.

Pachomius
Reg. Pach. Regula Pachomii. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe in:
Bacht 1983, S.65-285.
Praef. Hier.Praefatio Hieronymi.
Praec. Praecepta.
Inst. Praecepta atque instituta.
Iud. Praecepta atque iudicia.
Leg. Praecepta ac leges.

Platon
437 QUELLEN

Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und deutsch. Nach der


Übersetzung Friedrich Schleiermachers. Frankfurt am Main und
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Pseudo-Dionysius Areopagita
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Adam  [[22 >> Page:22]], [[24 Page:134]], [[149 >>
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Adam von Perseigne  [[167 >> Amos  [[139 >> Page:139]]
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Anselm von Havelberg  [[115 Page:32]], [[44 >> Page:44]],
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467 LITERATUR

Baaken, Gerhard  [[158 >> Bernhard von Clairvaux  [[68


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Bacht, Heinrich  [[57 >> Page:145]], [[169 >>
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Bacon, Roger  [[351 >> Page:197]], [[201 >>
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Bahro, Rudolf  [[336 >> Page:217]], [[262 >>
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Baladan  [[155 >> Page:155]] Page:304]]f., [[307 >>
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Balthasar,  Hans Urs von [[95
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Basilius von Caesarea  [[96 >> Page:333]], [[342 >>
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Best, Werner  [[349 >>
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Bauer, Bruno [[42 >>
Bileam (Häretiker)  [[34 >>
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Beda Venerabilis [[115 >>
Bismarck, Graf Otto von  [[348
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Benedikt von Aniane  [[93 >>
Bloch, Ernst  [[17 >>
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Benedikt von Nursia  [[121 >> Page:129]]f., [[203 >>
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Blumenberg, Hans  [[11 >>
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Benz, Ernst  [[31 >> Page:31]],
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468 LITERATUR

Bonifatius (Missionar)  [[155 Chosrau II.  [[279 >>


>> Page:155]] Page:279]]
Bonifaz VIII.  [[282 >> Christian von Buch  [[151 >>
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Page:342]] Cicero, Marcus Tullius  [[220
Bonizo von Sutri  [[111 >> >> Page:220]]f., [[226 >>
Page:111]] Page:226]]
[[@Page:390]]Bruno von Köln Cieszkowski, Graf August
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Bruno von Segni  [[115 >> Clemens III.  [[112 >>
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Buber, Martin  [[25 >> Cohn, Norman  [[10 >>
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Bultmann, Rudolf  [[26 >> [[118 >> Page:118]], [[121
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Buonaiuti, Ernesto  [[120 >> Page:127]], [[169 >>
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Page:315]] Cölestin V.  [[128 >>
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Campenhausen, Hans Freiherr
von  [[64 >> Page:64]], [[73 Comte, Auguste  [[10 >>
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Carmignac, Jean  [[233 >> >> Page:237]], [[342 >>
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Carozzi, Claude  [[163 >> Page:351]]
Page:163]], [[282 >> Considérant, Victor  [[314 >>
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Cassian, Johannes  [[58 >> Crivelli, Humbert, sh. Urban
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469 LITERATUR

Csendes, Peter  [[167 >> >> Page:140]], [[142 >>


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Dagon (Gott)  [[31 >> Page:179]], [[181 >>
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Damiani, Petrus  [[114 >> Page:190]], [[202 >>
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Daniel  [[19 >> Page:19]]f., Page:208]], [[222 >>
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Page:124]], [[136 >> Debora  [[34 >> Page:34]],
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Page:159]], [[163 >> Dempf, Alois  [[9 >> Page:9]],
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Page:305]], [[321 >> Diderot, Denis  [[237 >>
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Page:351]] Dionysius Areopagita  [[68 >>
Dante Alighieri  [[11 >> Page:68]], [[225 >>
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Darius (Mederkönig)  [[148 >> Page:275]], [[344 >>
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Darwin, Charles  [[270 >>
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David  [[20 >> Page:20]], [[22 Eckart, Dietrich  [[343 >>
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470 LITERATUR

Eco, Umberto  [[128 >> Eusebius von Caesarea  [[68


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Egger, Christoph  [[168 >> Page:75]], [[78 >> Page:78]],
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Eli (Priester)  [[272 >>
Page:272]] Eusebius von Nikomedien
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Elija  [[79 >> Page:79]], [[126
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Elischa  [[179 >> Page:179]], Page:200]], [[207 >>
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Engels, Friedrich  [[17 >>
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Feil, Ernst  [[220 >>
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Fichte, Johann Gottlieb  [[10
Epiphanius von Salamis  [[69
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Eriugena, Johannes Scotus
Flasch, Kurt  [[127 >>
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Esau  [[56 >> Page:56]] Page:221]]
Esra  [[18 >> Page:18]], [[21 Fo, Dario  [[128 >>
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Folmar (Erzbischof von
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Trier)  [[157 >>
Ester  [[148 >> Page:148]] Page:157]]f.
Eugen III.  [[187 >> Formosus (Papst)  [[346 >>
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Fourier, Charles  [[314 >>
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471 LITERATUR

Fraling, Bernhard  [[95 >> Gerardo di Borgo San Donnino


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[[@Page:391]]Franziskus von >> Page:341]]
Assisi  [[128 >> Page:128]], Gerhoch von Reichersberg
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Gilbert de la Porrée [[217 >>
Fried, Johannes  [[351 >> Page:217]]
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Giotto, Ambrogio Bondone
Friedrich I. Barbarossa  [[115 [[231 >> Page:231]]
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Gorgias (Rhetor)  [[19 >>
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Gabelli, Anna Maria  [[130 >> Page:193]]-[[195 >>
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Geberga (Schwester Ottos I.) Gould, Warwick  [[127 >>
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Gelasius I.  [[60 >> Page:60]], Page:349]]
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Gerald von Casamari  [[205 >> [[113 >> Page:113]]
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Harding, Stephan  [[120 >>
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Heine, Heinrich  [[346 >>
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Gregorius Thaumaturgus  [[72
Heinrich der Löwe  [[158 >>
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Gregorovius, Ferdinand  [[151
Heinrich II.  [[182 >>
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Grundmann, Herbert  [[119 >> Page:279]]
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Heinrich III.  [[112 >>
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473 LITERATUR

Heinrichs VI.  [[119 >> Himmler, Heinrich  [[344 >>


Page:119]], [[150 >> Page:344]]
Page:150]]f., [[156 >> Hinkmar von Reims  [[111 >>
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Page:160]], [[167 >> Hirsch-Reich, Beatrix  [[130
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Page:191]], [[194 >> Hiskija  [[154 >> Page:154]]f.,
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Henoch  [[165 >> Page:165]] Page:10]]
Heraclius (Kaiser)  [[141 >> Hölderlin, Fiedrich  [[79 >>
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Herbert, Ulrich  [[349 >> Holtzmann, Walter  [[202 >>
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Herodes (der Große)  [[37 >> Honorius’ II.  [[112 >>
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Page:276]], [[279 >> Horsiesius  [[92 >> Page:92]]-
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Hieronymus  [[44 >> Page:98]], [[102 >>
Page:44]], [[59 >> Page:59]], Page:102]]f.
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Huck, Johannes Chrysostomus
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Page:120]], [[124 >>
Page:124]], [[174 >> Hugo von St. Viktor  [[320 >>
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Page:254]], [[259 >> Humbert von Selva Candida 
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Hilarius von Poitiers  [[68 >> Page:158]]
Page:68]] Huysmans, Joris-Karl  [[340
Hildegard von Bingen  [[116 >> Page:340]]
>> Page:116]]
474 LITERATUR

Hyacinth von S. Maria in Page:199]], [[302 >>


Cosmedin, sh. Cölestin III. Page:302]]
Jakobs, Hermann  [[168 >>
Ibsen, Henrik  [[345 >> Page:168]]
Page:345]]-[[347 >> Jeremia  [[116 >> Page:116]],
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Irenäus von Lyon  [[43 >> Jesaja  [[20 >> Page:20]], [[23
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Irene (byz. Kaiserin)  [[191 >> >> Page:137]]ff., [[143 >>
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Isaak  [[272 >> Page:272]] Page:153]], [[155 >>
Isai  [[320 >> Page:320]] Page:155]]f., [[158 >>
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Isidor von Sevilla  [[190 >>
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Jafet  [[298 >> Page:298]] Page:320]]f., [[323 >>
Jakob  [[24 >> Page:24]], [[56 Page:323]]
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475 LITERATUR

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Johannes von Salisbury  [[117 Karl Martell  [[154 >>


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Johannes XXIII.  [[341 >> Page:193]]
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Josua  [[34 >> Page:34]] Page:336]]
Jotam  [[138 >> Page:138]] Klemens von Alexandrien  [[63
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Julian II. (Apostata)  [[164 >> Page:65]], [[88 >> Page:88]]
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Jung, Carl Gustav  [[68 >> Kolumbus, Christoph  [[339 >>
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Konrad, Robert  [[317 >>
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Kalixt II.  [[261 >> Page:261]],
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Kantorowicz, Ernst H.  [[113 Page:189]], [[279 >>
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Lea  [[263 >> Page:263]], Page:152]], [[172 >>
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Lerner, Robert E.  [[238 >> Page:27]]
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Lessing, Gotthold Ephraim  Ludwig VI.  [[163 >>
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Lortz, Joseph  [[113 >>
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Löwith, Karl  [[9 >> Page:9]]- Page:280]]
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Lubac, Henri de  [[12 >> Mann, Thomas  [[38 >>
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Lucas von Cosenza  [[119 >> Manselli, Raoul  [[250 >>
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Maria  [[309 >> Page:309]] Micha  [[139 >> Page:139]],


Maria Magdalena  [[201 >> [[153 >> Page:153]]
Page:201]] Michelet, Jules  [[127 >>
Markus (Evangelist)  [[326 >> Page:127]], [[340 >>
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Martha  [[322 >> Page:322]] Moeller van den Bruck, Arthur
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Martin von Tours  [[121 >> Page:343]], [[346 >>
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Marx, Karl  [[10 >> Page:10]], Mohammed  [[279 >>
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Matthaeus von Angers [[152
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Matthäus (Evangelist)  [[140
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Mereschkowski, Dimitri  [[164
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Merodach-Baladan  [[155 >> Mussolini, Benito  [[342 >>
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Nero  [[279 >> Page:279]] [[225 >> Page:225]], [[228
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Newton, Isaac  [[34 >>
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Nickelsburg, G.W.  [[25 >>
Orosius, Paulus  [[182 >>
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Niekisch, Ernst  [[344 >>
Otto I. (der Große)  [[163 >>
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Nietzsche, Friedrich [[344 >> Page:169]]
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Norbert von Xanten  [[122 >> Page:244]]
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Novalis  [[79 >> Page:79]]
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Olivi, Petrus Johannis  [[13 >>
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Orff, Carl  [[68 >> Page:68]] Page:103]], [[246 >>
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Palamon  [[92 >> Page:92]] Page:266]]f., [[269 >>
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Paulus von Tarsus  [[13 >> Page:294]]f., [[299 >>
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Petrus Alphonsi  [[120 >> Page:30]], [[177 >>
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Page:299]] Radulfus Niger  [[135 >>
Petrus Lombardus  [[212 >> Page:135]]
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Philo von Alexandrien  [[182 Rahel  [[263 >> Page:263]],
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Philotheos (Patriarch)  [[346 Rainer von Ponza  [[168 >>
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Philotheos von Pskov (Filofej) Page:245]]
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Pignatelli, Bernardo, sh. Eugen Page:141]]
III. Reeves, Marjorie  [[219 >>
Pippin III. (der Jüngere)  [[110 Page:219]], [[294 >>
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Platon  [[19 >> Page:19]], [[45 Page:144]]
>> Page:45]], [[47 >> Renan, Ernest  [[127 >>
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Page:221]] Richard I. Löwenherz  [[167
Plotin  [[67 >> Page:67]], >> Page:167]], [[279 >>
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Potestà, Gian  Luca [[119 >> Rilke, Rainer Maria  [[39 >>
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Page:172]] Robert von Molesme  [[250 >>
Pseudo-Dionysius, sh. Page:250]]f.
Dionysius Areopagita Roger von Hoveden  [[164 >>
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Romulus  [[140 >> Page:140]] >> Page:180]], [[182 >>
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Rosenstock-Huessy, Eugen  [[9 Page:188]]f., [[192 >>
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Rousseau, Jean-Jacques  [[237 Page:245]], [[268 >>
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Rubenson, Samuel  [[58 >> Page:306]]f., [[321 >>
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Rudolf zu Wied  [[157 >> Samuel  [[174 >> Page:174]],
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Rufinus von Aquileia  [[59 >>
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Page:182]], [[259 >> Sand, George  [[127 >>
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Rupert von Deutz  [[60 >> Sanherib  [[192 >> Page:192]]
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Rusconi, Roberto  [[338 >> Page:186]], [[223 >>
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Sabellius  [[279 >> Page:279]] Page:275]]f., [[313 >>
Sacharja  [[302 >> Page:302]] Page:313]], [[325 >>
Saladin (der Große)  [[127 >> Page:325]]
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Salimbene (Fra)  [[13 >> Page:178]], [[181 >>
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Page:324]] Schealtiël  [[302 >>
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F.W.J.  [[10 >> Page:10]], Page:187]], [[189 >>
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Schischak  [[189 >> Simeon  [[307 >> Page:307]]
Page:189]] Smaragdus von St. Mihiel
Schlaf, Johannes  [[346 >> [[113 >> Page:113]]
Page:346]] Sokrates  [[19 >> Page:19]]
Schmitt, Carl  [[36 >> Solowjew, Wladimir  [[164 >>
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Schreyer, Lothar  [[295 >>
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Seibt, Ferdinand  [[17 >>
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Selge, Kurt-Victor  [[215 >> Stephan II.  [[185 >>
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Sem  [[298 >> Page:298]] Page:347]]
Serubbabel  [[198 >>
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Shakespeare, William  [[276 Page:10]], [[42 >> Page:42]]
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Sieferle, Rolf-Peter  [[343 >> [[269 >> Page:269]]
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Silone, Ignazio  [[128 >> [[116 >> Page:116]]
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Silvester I.  [[146 >> Terach  [[140 >> Page:140]]
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484 LITERATUR

Theodosius I.  [[105 >> Uriel  [[23 >> Page:23]]f., [[32


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Page:189]] Usija (auch Asarja)  [[123 >>
Theophilus von Alexandrien Page:123]]f., [[137 >>
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Thomas von Aquin  [[212 >> Page:146]], [[182 >>
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Tiglatpileser  [[139 >> Page:335]]f., [[352 >>
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Töpfer, Bernhard  [[130 >> Vergil  [[140 >> Page:140]]
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Tritojesaja  [[26 >> Page:26]] Victorinus von Pettau  [[105
Turgot, Anne Robert Jacques >> Page:105]]f.
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Voegelin, Eric  [[11 >>
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Ullmann, Walter  [[112 >> Page:178]], [[335 >>
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Urban III.  [[134 >> Page:338]], [[342 >>
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Page:168]] Vondung, Klaus  [[18 >>
Urban VIII.  [[216 >> Page:18]]
Page:216]]
485 LITERATUR

Wolter, Heinz  [[151 >>


Wannenmacher, Julia Eva Page:151]], [[158 >>
[[147 >> Page:147]] Page:158]], [[160 >>
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Weber, Max  [[160 >>
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Wessley, Stephen E.  [[248 >> Yeats, William Butler  [[340
Page:248]] >> Page:340]]
Wilhelm II.  [[168 >>
Page:168]] Zacharias (Papst)  [[154 >>
Wilhelm von Saint Amour Page:154]]-[[156 >>
[[339 >> Page:339]]f. Page:156]]
Wilke, Fritz  [[178 >> Zidkija  [[193 >> Page:193]]f,
Page:178]] [[203 >> Page:203]]  

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