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VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2002/2003 von der
Philosophischen Fakultät I der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Mit Ausnahme des
Schlußkapitels habe ich sie für die Drucklegung nur geringfügig
überarbeitet.
Mein Dank gilt meinem Lehrer und Doktorvater, Prof. em. Dr.
Jürgen Gebhardt, sowie Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Tilo Schabert, die
mich in den letzten Jahren gefördert und in jeder Hinsicht gut beraten
haben. Prof. em. Dr. Kurt-Victor Selge danke ich für den anregenden
Gedankenaustausch und dafür, daß er mir vertrauensvoll seine
unveröffentlichten Editionsentwürfe für die Joachim-von-Fiore-
Gesamtausgabe zur Verfügung stellte. Dr. Julia Eva Wannenmacher
hat mit kritischem Sachverstand das Manuskript gelesen und mir mit
hilfreichen Verbesserungsvorschlägen gedient. Mit Dr. Hans-Jörg
Sigwart, Dr. Massimo Iiritano, Dr. Bettina Koch und Martin Nonhoff,
M.A. konnte ich in zahlreichen Gesprächen theoretische und sachliche
Probleme erörtern. Annegret Weinhardt und Waltraud Riedl lasen
Korrektur. Dipl.-Pol. Hans Georg Schmid leistete technische
Assistenz und erstellte das Personenregister.
Das Centro Internazionale di Studi Gioachimiti, San Giovanni in
Fiore, und die Hoover Institution on War, Revolution and Peace,
Stanford University, gewährten mir großzügige Reisestipendien. Für
Unterstützung und Unterweisung danke ich besonders Prof. Charles E.
Butterworth PhD, Prof. Dr. Maximilian Forschner, Prof. Michael A.
Gillespie PhD und Prof. Cary J. Nederman PhD. Dem Verlagshaus
Königshausen & Neumann danke ich für die Aufnahme des Bandes in
die Reihe „Epistemata Philosophie“ sowie die unkomplizierte
Zusammenarbeit.
Die Arbeit ist meinem Vater gewidmet.
1
Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen
Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u.a.: Kohlhammer,
8
1990, S.11f.
2
Ebd., S.146f.
10 ABBILDUNGEN
1
Cohn, Norman: Die Sehnsucht nach dem Millennium. Apokalyptiker,
Chiliasten und Propheten im Mittelalter. Freiburg u.a.: Herder, 1998, S.118f.
2
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie. München: Matthes & Seitz,
1991, S.81.
3
Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte. Bd.1: Gestaltung und Wirklichkeit. München:
Beck, 60-631923, S.25.
11 ABBILDUNGEN
Tractatus und die erste Hälfte des Liber Concordiae in kritischer Ausgabe
vor. Kritische Editionen des Psalterium und der Expositio sind aber im
Rahmen der Joachim-von-Fiore-Gesamtausgabe für die nahe Zukunft
angekündigt. Mit Ausnahme einiger italienischer Übersetzungen ist bislang
keine der längeren Schriften Joachims in einer modernen Sprache zugänglich.
1
Ein zweibändiges Werk des französischen Theologen Henri de Lubac gibt es
bereits, und es weist viele der Probleme auf, die mit einem derart umfassenden
Anspruch verbunden sind. Lubac, Henri de: La postérité spirituelle de Joachim
de Flore. 2 Bde. I. de Joachim à Schelling II. de Saint-Simon à nos jours. Paris:
Lethielleux 1979 und 1981.
13 ABBILDUNGEN
1
Bloomfield, Morton: „Recent Scholarship on Joachim of Fiore and His Influ-
ence“, in: Ann Williams (Hrsg.): Prophecy and Millenarianism: Essays in
Honour of Marjorie Reeves. Essex: Longman, 1980, S.21-52, S.28.
2
Heer, Friedrich: Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenhängen
zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas
im 12. Jahrhundert. Wien und Zürich: Europa-Verlag, 1949, S.10.
17 ABBILDUNGEN
I. DIE GRUNDLAGEN
1. Apokalyptik
Vorbemerkungen
Joachims frühe Schriften, Genealogia, De prophetia ignota und das
erste Buch des Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti, zeigen
eines deutlich: Sie sind tief verwurzelt in der Ordnungslogik der
Apokalyptik. Aber auch das reife Werk ist von keinem Text so
geprägt wie von der Offenbarung des Johannes. Das gilt sowohl für
die Schriften, die schon der äußeren Form nach
Apokalypsenkommentare sind, wie Expositio in Apocalypsim,
Enchiridion in Apocalypsim, Praephatio super Apocalypsim und De
septem sigillis, als auch für fast alle anderen Werke Joachims. Die
Apokalyptik muß somit Ausgangspunkt jeder Erforschung der Lehre
Joachims sein, denn die antike Apokalyptik ist bevorzugter
Gegenstand seiner Exegese, und seine Exegese steht wiederum im
Kontext der mittelalterlichen Transformation der Apokalyptik.
Die Studien des Historikers Ferdinand Seibt zeigen, daß eine
Vernachlässigung dieses Tatbestands zu einem völligen
Mißverständnis Joachims führen muß.1 Man kann Joachims
Gemeinschaftsvorstellung nicht sinnvoll mit dem genuin neuzeitlichen
Utopiebegriff erfassen, ohne sie in ein interpretatorisches Korsett zu
zwingen, das ihre eigentümlichsten Merkmale und Korrelationen
außer acht läßt. Gleiches gilt für die Vereinnahmung Joachims durch
Sozialisten und Kommunisten, für die hier nur Friedrich Engels, Karl
1
Seibt, Ferdinand: „Utopie im Mittelalter“, in: HZ 208/3 (Juni 1969), S.555-
594. Ders.: „Liber Figurarum XII and the Classical Ideal of Utopia“, in: Willi-
ams 1980, S.257-266.
19 ABBILDUNGEN
Kautsky und Ernst Bloch als prominente Vertreter genannt seien. 1 Die
beeindruckende Rezeptionsgeschichte Joachims von Fiore hat immer
wieder dazu verleitet, ihn als „Vorläufer“ des Utopismus, des
Sozialismus, der Reformation etc. zu charakterisieren. Doch damit
wird eine Analyse, die dem Selbstverständnis des Abtes gerecht zu
werden versucht, eher erschwert. Vielmehr kann man mit Alois
Dempf feststellen, daß in den Apokalypsen ein „großer Teil der
mittelalterlichen Geschichtsphilosophie versteckt liegt“, und ein
systematisches Verständnis der Apokalyptik als Vorbedingung der
einschlägigen Forschung benannt werden muß.2 [[@Page:18]]
Andererseits hat gerade die jüngere Erforschung der Gnosis und
der Apokalyptik bestätigt, daß „Ideengeschichte“ kein von den
Gesetzen einer historischen Kausalität oder einer
geistesgeschichtlichen Evolution bestimmter linearer Progreß ist,
sondern daß bestimmte Symbolkomplexe, wenn sie einmal in das
zivilisatorische Gedächtnis eingegangen sind, immer wieder zur
Artikulation existentieller Erfahrungen herangezogen werden können.3
Die meisten Symbole, die bis heute innerhalb und außerhalb der
Wissenschaft mit Apokalyptik in Verbindung gebracht werden, wie
„Armageddon“, „Millennium“, „Neues Jerusalem“, „Neue Welt“,
„Sieben Siegel“, „apokalyptische Reiter“ etc., wurden der
Offenbarung des Johannes entnommen – mögen sie ihren Ursprung
1
Friedrich Engels ist der Urheber jener bis heute populären Sukzessionslinie
der Revolutionäre, die von Joachim, der „das tausendjährige Reich, das
Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt […] verkündete
und ausmalte“, über Thomas Müntzer zu den Revolutionären der jeweils
eigenen Gegenwart reicht. Engels, Friedrich: „Der deutsche Bauernkrieg“, in:
Karl Marx und Friedrich Engels: Über Religion. Berlin: Dietz, 1958, S.87.
Kautsky nennt Joachim einen „Theoretiker des Kommunismus“, dem es in
erster Linie um die Beseitigung der „Ausbeutungswirtschaft und Korruption,
die in der Kirche herrschte“, gegangen sei. Kautsky, Karl: Vorläufer des
Neueren Sozialismus. Bd.1: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter.
Unveränd. Nachdr. der 3. Aufl. von 1913. Berlin: Dietz, 1947, S.163. Ernst
Bloch wird noch zur Sprache kommen.
2
Dempf 1954, S.87.
3
Auch wenn es gelingen mag, die Genealogie des Katharer-Glaubens über
Bogomilen, Paulikianer und Messalianer bis zu den Manichäern
zurückzuverfolgen (vgl. Borst, Arno: Die Katharer. Freiburg u.a.: Herder,
6
1998, S.59ff.), kann damit noch lange nicht der gewaltige Ausbruch des
Gnostizismus im 12. Jahrhundert erklärt werden. Ähnliches gilt z.B. für das
sprunghafte Anwachsen apokalyptischer Existenzdeutungen in Deutschland zu
Beginn des Ersten Weltkriegs. Klaus Vondung stellt dazu fest: „Erst wenn wir
die Sinndeutungen auf motivierende Erfahrungen beziehen, kommen wir der
gesellschaftlichen Rolle, die der Volksgeist im Ersten Weltkrieg tatsächlich
spielte, und der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Apokalypse
von 1914 auf die Spur.“ Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland.
München: dtv, 1988, S.192.
20 ABBILDUNGEN
steht nicht umsonst am Anfang des Textes; Apokalypsis steht für die
plötzliche Einsicht in eine bisher verborgene Wahrheit, deren letzter
Grund Gott ist,1 und die den Sehenden eher unvorbereitet und nicht
auf seine Initiative hin trifft.2 Johannes schildert sein Erlebnis
eindeutig als Ekstase; er spricht davon, daß er vom Geist ( πνεῦμα)
ergriffen wurde und in diesem Zustand hinter sich eine Stimme „wie
eine Posaune“ hörte.3 In der alttestamentlichen Apokalypse erzählt
Daniel, daß er vor Schrecken erbleichte angesichts der unerwarteten
Enthüllung.4 Einer Vorbereitung durch körperliche oder geistige
Reinigung scheint der Apokalyptiker nicht zu bedürfen.5
Das Grundsymbol der Apokalypsis genügt, um die Apokalyptik
gegenüber anderen Formen symbolischer Existenzdeutung wie der
Gnosis abzugrenzen, ohne daß es der aufwendigen Kataloge bedarf,
die Literar- und Gattungsgeschichtler heute anzufertigen pflegen.6 Der
Gnostiker erhält ebenfalls göttliches Wissen, doch keineswegs
unvorbereitet. Nur als Auserwählter, der sich in zunehmend
entbehrungsreicheren Phasen heroischer Askese gereinigt hat, kann er
zum Empfänger der Gnosis werden. Sein Wissen ist unmittelbares
Erlösungswissen, insofern der Empfang des Wissens schon eine
Wesenstransformation im Menschen hervorruft und als Teil eines
subjektiven Erlösungsprozesses empfunden wird.7 Auch Johannes
sagt, daß „selig ist, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer
sie hört“, doch dann schließt er als unabdingbare
[[@Page:20]]Voraussetzung an, daß nur zur Seligkeit gelangen kann,
„wer sich an das hält, was geschrieben ist“. 8 Johannes zeigt am
deutlichsten im Sendschreiben an die arg bedrängte Gemeinde von
Pergamon, was damit gemeint ist:
Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen. Bd.2: Apostolisches.
Apokalypsen und Verwandtes. Tübingen: Mohr, 51989. 491-547, S.493.
1
Vgl. Dan 2,23. Joachim gibt ἀποκάλυψις mit revelatio misteriorum Dei wieder
– „sic enim latine interpretatur“. Exp. I, fol.26vb.
2
Paulus verwendet das Symbol für die Erkenntnis, die ihm bei seinem
Damaskuserlebnis zuteil wurde. Gal 1,16.
3
Offb 1,10.
4
Dan 7,28.
5
Die Aufforderung zum Fasten ist immer schon Teil der Offenbarung und nicht
ihre Voraussetzung. Ebenso kann der Adressat aufgefordert werden, sein Fasten
abzubrechen, wenn damit symbolisch auf eine folgende Heilsbotschaft
hingewiesen werden soll. Vgl. [[4 Esr 9,23 >> BibleKJV:2Esd 9.23]]-24
(JSHRZ V,4, S.373f.).
6
Vgl. z.B. Collins, John J.: „Introduction: Towards the Morphology of a
Genre“, in: Ders. (Hrsg.): Apocalypse: The Morphology of a Genre (= Semeia
14). Missoula: Society of Biblical Literature, 1979, S.1-20.
7
Rudolph, Kurt: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion.
Unveränd. Nachdr. der 3., durchges. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck
und Ruprecht, 1994, S.64. Vgl. Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden
Gottes. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, 1999, S.59ff.
8
Offb 1,3.
22 ABBILDUNGEN
Esras Krise
Johannes läßt nicht so tief in sein Inneres blicken, wie der unbekannte
Verfasser der beeindruckendsten und literarisch hochwertigsten
Apokalypse, des 4. Esra-Buches. Der Autor, der etwa zur gleichen
Zeit wie Johannes schrieb,5 gibt sich als der biblische Esra aus, dessen
Weisheit legendär war, und versetzt sich in eine Situation, in der Israel
eine Katastrophe durchlebte, die mit der gegenwärtigen Lage nach der
1
Dan 2,38-43; vgl. [[7,17-25 >> Bible:Dan 7,17-25]]; vgl. [[ApcBar(syr) 39,3
>> Pseudepigrapha:2 Bar. 39.3]]ff.
2
Offb 13.
3
Johannes scheint eine sehr puristische Haltung gepflegt zu haben. Offenbar
empfahl er den Gebrauch römischer Münzen zu verweigern, da sie das
Konterfei des Kaisers oder die Insignien des Imperiums zeigten. Vgl. Offb
13,17.
4
Offb 11,8.12; vgl. [[4 Esr 14,29 >> BibleKJV:2Esd 14.29]]ff.
5
Zur neueren Datierung sh. Hahn, Ferdinand: Frühjüdische und urchristliche
Apokalyptik. Eine Einführung. Neunkirchen-Vluyn: Neunkirchener, 1998,
S.74,126.
24 ABBILDUNGEN
1
[[4 Esr 5,4-9 >> BibleKJV:2Esd 5.4-9]].
2
[[4 Esr 5,12 >> BibleKJV:2Esd 5.12]] (JSHRZ V,4, S.325).
3
[[4 Esr 5,35 >> BibleKJV:2Esd 5.35]] (JSHRZ V,4, S.328). Auch die Autoren
anderer Apokalypsen gelangen an diesen Tiefpunkt der Sinnkrise: „Besser wäre
es, wenn der Mensch nicht geboren würde, besser, nicht zu leben.“ [[ApcEsr
1,21 >> Pseudepigrapha:Gk. Apoc. Ezra 1.21]] (JSHRZ V,2, S.92). „Selig der,
der nicht geboren ist, oder der, der geboren wurde und dann starb.“
[[ApcBar(syr) 10,6 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 10.6]] (JSHRZ V,2, S.128).
4
Wenngleich die apokalyptischen Teile des Danielbuches unter dem Eindruck
der Unterdrückung des jüdischen Kultes durch Antiochos IV. Epiphanes (vgl.
Dan 11,36-39) entstanden sein mögen, so werden heute einige im äthiopischen
Henoch-Kompendium überlieferte apokalyptische Schriften bis in die
Herrschaftszeit Antiochus III. oder gar die Ptolemäerzeit datiert. Collins, John
J.: „From Prophecy to Apocalypticism: The Expectation of the End“, in: Ders.
1998, S.129-161, S.135. Die jüdische Apokalyptik wäre also in einer Zeit
entstanden, in der weder eine akute Verfolgungssituation herrschte noch eine
brutale Unterdrückung des Kultes unmittelbar zu befürchten stand. Aber ein
realistischer Blick auf die politischen Kräfte der Zeit mußte auch damals zum
Ergebnis haben, daß ein autonomes jüdisches Reich nicht zur Debatte stand.
Zur Situation der Juden unter der Diadochenherrschaft vgl. Maier, Johann:
Grundzüge der Geschichte des Judentums im Altertum. Darmstadt: Wiss.
Buchges., 1981, S.21ff.
28 ABBILDUNGEN
1
G. W. Nickelsburg schreibt über die immer wieder geäußerten Vermutungen,
die Apokalyptiker hätten unter direkter physischer Verfolgung zu leiden
gehabt: „These discussions have also uniformly stressed the setting of
apocalypticism in times of social upheaval and turmoil, and they have
underscored the sense of alienation and powerlessness that permeates the
literature of these movements. A key term here is ‚sense‘. What counts is not a
neutral observer’s view of whether things are good or bad, but the apocalytist’s
perception and experience that the times are critical.“ Nickelsburg, George W.:
„Social Aspects of Palestinian Jewish Apocalypticism“, in: Hellholm, David:
(Hrsg.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Pro-
ceedings of the International Colloquium on Apocalypticism Uppsala August
12-17, 1979. Tübingen: Mohr, 1983, S.646. Hervorh. i. Orig.
2
Voegelin, Eric: Israel and Revelation (= Order and History Bd.1). Baton
Rouge und London: Louisiana State University Press, 1956, S.124. Vgl. Voe-
gelin, Eric: The Ecumenic Age (= Order and history Bd.4). Baton Rouge und
London: Louisiana State University Press, 1974, S.97ff. Sh. auch die
zusammenfassenden Glaubensbekenntnisse in Dtn 26,5-18 und [[7,6-10 >>
Bible:Dtn 26,5-18]].
3
Buber, Martin: Der Glaube der Propheten. 2., verbesserte und um Register
29 ABBILDUNGEN
1
„O Herr, du rufst dem Kommen der Zeiten, und sie stehen vor dir. Du läßt den
Machtbereich der Welten vergehen, und sie widersetzen sich dir nicht. Du
verfügst über den Lauf der Perioden, und sie gehorchen dir.“ [[ApcBar(syr)
48,2 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 48.2]] (JSHRZ V,2, S.151); vgl. [[4 Esr 6,6 >>
BibleKJV:2Esd 6.6]].
2
„Und er antwortete mir und sprach zu mir: ‚In zwölf Abschnitte ist jene Zeit
geteilt; und jeglicher davon ist aufbewahrt für das, was für ihn vorgesehen ist.‘“
[[ApcBar(syr) 27,1 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 27.1]] (JSHRZ V,2, S.140). Sh.
v.a. auch die Zehnwochenapokalypse in [[Hen(äth) 93,3-10 >>
Pseudepigrapha:1 En. 93.3-10]] und [[91,11-17 >> Pseudepigrapha:1 En.
91.11-17]].
3
[[4 Esr 4,36 >> BibleKJV:2Esd 4.36]]-37 (JSHRZ V,4, S.321). Die
Regelmäßigkeit wird bisweilen recht deutlich in Analogie zu kosmischen
Prozessen geschildert, wie etwa dem Lauf der Gestirne. So verweist offenbar
die Zahl „Sieben“, anhand der der Verlauf der Ereignisse in der
Johannesapokalypse geordnet wird, auf hellenistische Kosmologie, wie sie
etwa in neupythagoreischen Schulen gelehrt wurde. A.Y. Collins 1998, S.388
34 ABBILDUNGEN
Guten und des Bösen thront der transzendente Gott, der ohne
ebenbürtigen Gegner ist.1
Der Dualismus der Apokalyptiker ist ein Dualismus zwischen
„jetzt“ und „dann“, die gnostische Konzeption eines immerwährenden
Widerstreits zwischen einem guten und einem bösen Prinzip ist ihnen
fremd. Beide Aionen sind von dem einen Gott geschaffen, beide
unterstehen seiner Gewalt. Das gnostische Symbol des Demiurgen
fehlt. Auch die Mächte des Bösen sind Teil des göttlichen Planes und
wenn sie nicht mehr gebraucht werden, läßt Gott sie sich gegenseitig
vernichten. „Denn Gott lenkt ihr [[@Page:32]]Herz so, daß sie seinen
Plan ausführen.“2 Das Böse mag die meisten der irdischen Schlachten
für sich entscheiden, doch in keiner Apokalypse wird ihm die Chance
eingeräumt, den kosmischen Krieg zu gewinnen. Allerdings ist es von
größter Bedeutung zu betonen, daß keine Apokalypse die göttliche
Determination auf das Individuum ausdehnt. Gott bestimmt zwar den
Verlauf der Kämpfe, doch es bleibt dem Einzelnen überlassen, auf
welcher Seite er sich positioniert.3 Auf die Entscheidung für das Gute,
die den einzig wirklich freien Willensakt des Individuums darstellt,
sowie auf das beständige Festhalten an dieser Entscheidung reduziert
sich letztlich die Ethik der Apokalyptiker.
Wenn nun aber die Mächte des Bösen Teil des göttlichen Planes
sind, warum hat es Gott überhaupt zugelassen, daß sie seine
Schöpfung verdarben? Wenn Gott tatsächlich der große und
allmächtige Herrscher über den Kosmos ist, zu dem ihn die
Apokalyptik macht, muß nicht das Böse der Schöpfung von Anfang
an innewohnen? Solche Fragen, die später bei Augustinus zum
zentralen theologischen Problem werden sollten, werden, wenn sie
überhaupt gestellt werden, kaum befriedigend beantwortet. In 4 Esra
in: Journal of Biblical Literature 95/2 (June 1977), S.241-256, S.244ff. Man
bedenke, daß selbst der Kampf zwischen Jahwe und Dagon in 1 Sam 5,1-4 als
eine Episode im Philisterkrieg geschildert wird, wogegen in der Apokalyptik
Kriege zu Episoden des kosmischen Kampfes werden.
1
Am eindrucksvollsten wird dies in einem Gebet Baruchs zum Ausdruck
gebracht. Er verherrlicht den transzendenten und allmächtigen Herrscher über
den Kosmos, „der du die Mächte, die vor dir stehn, regierst mit großer Umsicht,
die heiligen Wesen auch, die unzählbaren, die du von Ewigkeit her gemacht,
die Flamme und Feuer sind, die stehn um deinen Thron, die du regierst mit
Drohen; für dich allein gilt doch nur dies; daß du sofort tust alles, was du
willst.“ [[ApcBar(syr) 21,4-5 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 21.4-5]] (JSHRZ V,2,
S.136).
2
Offb 17,17.
3
Dementsprechend ist auch die Erbsünde nicht im Sinne einer Prädestination
zu verstehen, die sich auf das Individuum erstreckt: „Zwar sündigte einst als
erster Adam und hat damit vorzeitigen Tod gebracht für alle, doch hat von
denen, die aus ihm geboren sind, ein jeder auch sich selbst zukünftige Strafe
bereitet. Und also wählte ein jeglicher auch für sich die künftige Herrlichkeit.“
[[ApcBar(syr) 54,15 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 54.15]] (JSHRZ V,2, S.160).
37 ABBILDUNGEN
gibt Uriel die lapidare Antwort, daß das Böse eben vor dem Guten
kommen muß:
Bevor also nicht geerntet ist, was ausgesät war, und der Platz
nicht verschwunden ist, wo das Böse gesät worden war, wird
der Acker nicht erscheinen, wo das Gute gesät ist. 1
Apokalyptik ist eben nicht Philosophie, sie stützt sich auf Visionen,
nicht auf Vernunftgründe. Die ihm enthüllte Aussicht auf das Heil
jenseits alles Bösen genügt dem Apokalyptiker, um an der
Gerechtigkeit Gottes festzuhalten. Sein Blick ist auf das Ende
gerichtet, nicht auf den Anfang.2 Im Augenblick der erlösenden
Offenbarung muß ihm eine theoretische Durchdringung derselben als
völlig sekundär erscheinen.
Eine funktionale Bedeutung der bösen Mächte kann in Gottes Plan
dennoch ausgemacht werden, sie besteht in der Prüfung der Gerechten
Gottes.3 Das Heil im Jenseits kann nur erlangen, wer in seinem
Glauben bis ans Äußerste geht. Hier zeigt sich nun die zweite Qualität
in der Gott-Mensch-Beziehung, die sich gegenüber der
heilsge[[@Page:33]]schichtlichen Existenzauslegung verändert hat:
Gott prüft jeden einzelnen Menschen. Ja, der einzige Sinn diesseitiger
Existenz besteht letzthin im Bestehen dieser Prüfung, wie Uriel
erkennen läßt:
Das ist der Sinn des Kampfes, den der Mensch kämpft, der auf
Erden geboren ist, daß er, wenn er unterliegt, das leiden muß,
was du gesagt hast [die Strafe Gottes], wenn er aber siegt, das
empfängt, was ich gesagt habe [das ewige Leben]. 4
Selbst wenn die Zugehörigkeit zum Gottesvolk in manchen
Apokalypsen noch vorausgesetzt wird, so ist sie doch nur notwendige,
aber nicht hinreichende Bedingung für das Heil; „denn jeder trägt
selbst seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit“. 5 Die Schuld für das
gegenwärtige Unheil wird nicht länger Zion oder Israel angelastet,
1
[[4 Esr 4,29 >> BibleKJV:2Esd 4.29]] (JSHRZ V,4, S.320).
2
In 4 Esr wird stärker auf die Theodizeefrage eingegangen, als in den meisten
anderen Apokalypsen. Gott rechtfertigt sich folgendermaßen: Er habe den
Menschen präexistent zu seinem Vorhaben der Schöpfung befragt und dieser
habe nicht widersprochen. Damit sei alles Unheil Strafe für Ungehorsam und
allein dem Menschen anzulasten. [[4 Esr 9,18-19 >> BibleKJV:2Esd 9.18-19]].
Dieser Mythos findet sich auch im Koran wieder ([[Sure 7,172 >> Quran:Surah
7:172]].).
3
Diese Vorstellung eines guten Gebrauchs des Bösen durch Gott entspricht
durchaus älteren Traditionen jüdischen Denkens, auch wenn dort der
kosmologische Rahmen fehlt. So sagt etwa Josef über das verbrecherische
Verhalten seiner Brüder: „Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber
hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am
Leben zu erhalten.“ Gen 50,20.
4
[[4 Esr 7,127 >> BibleKJV:2Esd 7.127]] (JSHRZ V,4, S.359).
5
[[4 Esr 7,105 >> BibleKJV:2Esd 7.105]] (JSHRZ V,4, S.356).
38 ABBILDUNGEN
sondern den konkreten Sündern,1 denn das wahre Gottesvolk wird sich
erst im Jenseits versammeln. 2 Die Erfahrung einer individuellen
Verantwortung vor Gott drückt sich in den symbolischen Dramen des
Weltgerichts und der Auferstehung der Toten aus, die ein
beherrschendes Thema der Apokalypsen bilden und hier nicht weiter
ausgebreitet werden können. Doch Symbole wie das Buch des Lebens,
in das die Namen der Gerechten eingetragen werden, 3 oder der
zweiten Auferstehung, die jenen zuteil wird, die „siegen“, 4 zeugen von
dieser Erfahrung.5 Wie sie auch immer geschildert wird, die
endzeitliche Selektion betrifft stets nur Individuen.
Die Sendschreiben der Johannesapokalypse mögen dies
verdeutlichen: Johannes spricht die Gemeinden zwar jeweils als
Kollektive an, bewertet aber einerseits ihre Qualitäten und Leistungen
unterschiedlich und unterscheidet andererseits Gute und Böse
innerhalb der Gemeinden. So tadelt Johannes im Auftrag des Herrn
häretische Elemente der Gemeinde von Smyrna, nicht aber die
Gemeinde als Ganzes: [[@Page:34]]
Bei dir gibt es Leute, die an der Lehre Bileams festhalten. […]
So gibt es auch bei dir Leute, die in gleicher Weise an der Lehre
der Nikolaiten festhalten.6
Im Schreiben an die Gemeinde von Sardes, deren Mitglieder offenbar
in ihrer Mehrheit nicht mehr der rechten Lehre anhingen, macht
1
„Saht ihr denn nicht, was Zion getroffen hat? Meint ihr vielleicht, der Ort habe
gesündigt und sei darum zerstört worden, oder das Land (Israel) habe
irgendeine Missetat getan und sei deswegen preisgegeben worden? Wißt ihr es
wirklich nicht? Um euretwillen, die ihr sündigtet, ist es zerstört, obschon es
nicht gesündigt hat; um deretwillen, die gesündigt haben, ist das, was nicht
gefrevelt hat, den Feinden überliefert.“ [[ApcBar(syr) 72,8-10 >>
Pseudepigrapha:2 Bar. 72.8-10]] (JSHRZ V,2, S.173).
2
„Zwar wird das Heil der Zukunft auch das Heil des Gottesvolkes sein, aber
das Gottesvolk ist die Gemeinde der Auserwählten und Heiligen und daher
nicht eine Volksgemeinschaft oder Nation, sondern eine Gemeinde von
Einzelnen.“ Bultmann 1958, S.35. Vgl. [[4 Esr 3,36 >> BibleKJV:2Esd 3.36]]:
„Einzelne Menschen, mit Namen zu nennen, die deine Gebote gehalten haben,
wirst du zwar finden, Völker aber wirst du nicht finden.“ (JSHRZ V,4, S.316).
3
Offb 13,8; 20,12.15; vgl. Dan 7,10; 12,1.
4
Offb 21,6-7.
5
Die Vision von der Wiederbelebung der Toten bei Ezechiel ([[Ez 37,1-14 >>
Bible:Hes 37,1-14]]) ist kein Beleg für die Existenz früher „Vorformen“ der
Apokalyptik, sondern beweist um ein weiteres Mal den fundamentalen Bruch
zwischen Heilsgeschichte und Apokalyptik. Ezechiel rechnet „mit einer
irdischen Restitution des Gottesvolkes und einer Erneuerung der staatlichen
und kultischen Ordnung Israels“ (Hahn 1998, S.13), also mit einem diesseitigen
und innergeschichtlichen Ereignis, das sich ausschließlich auf das Kollektiv des
Volkes bezieht.
6
Offb 2,14-15.
39 ABBILDUNGEN
notwendig, daß alle Jahre von gleicher Dauer sind. Das Jahr geht zu
Ende, wenn alle darin vorgesehenen Ereignisse geschehen sind.
Wird nun, wie bei Johannes, vorausgesetzt, daß der neue Aion erst
anbrechen [[@Page:35]]kann, wenn eine göttliche festgelegte Zahl
von Märtyrern ihr Leben gelassen hat, um im Jenseits die
Gemeinschaft der Heiligen zu konstituieren, dann bringt jeder Tod
eines Gerechten das Reich Gottes näher.1
Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem
Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen
des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter
Stimme: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und
Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den
Bewohnern der Erde zu rächen? Da wurde jedem von ihnen ein
weißes Gewand gegeben; und ihnen wurde gesagt, sie sollten
noch kurze Zeit warten, bis die volle Zahl erreicht sei durch den
Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch sterben müßten wie
sie.2
Die Ethik des Martyriums macht mehr als alles andere deutlich, wie
überflüssig dem Apokalyptiker jede Form irdischer
Gemeinschaftsbildung erscheinen muß.3 Weder gilt es, sich im aktiven
Kampf gegen die Widersacher zu vereinigen, noch ist es auch nur im
entferntesten denkbar, am Ende der Zeiten in einer korrupten Welt
eine sinnvolle Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu errichten.
Es mag zwar leichter fallen, die Drangsale und Versuchungen
gemeinsam zu ertragen, doch der Blick bleibt dabei immer auf das
1
A.Y. Collins 1977, S.249. Vgl. [[4 Esr 4,36-37 >> BibleKJV:2Esd 4.36-37]].
Auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Weltendes antwortet Uriel: „Dann, wenn
die Zahl derer voll ist, die euch ähnlich sind. […] Er setzt nicht in Bewegung
und weckt nicht auf, bis das festgesetzte Maß erfüllt ist.“ (JSHRZ V,4, S.321).
2
Offb 6,9-11. Ernst Benz hat gezeigt, wie sehr dieses apokalyptische
Selbstverständnis in der christlichen Zivilisation verwurzelt ist: „Hier [in De
votis monasticis iudicium] erhofft Luther das Martyrium, damit sein Blut um so
lauter zu Gott schreie und auf die Beschleunigung seines Gerichts dränge.
Luther, auf das Martyrium vorbereitet, weiß also etwas um die akzelerierende
Gewalt des unter dem Altar hervor von Gott das beschleunigte Strafgericht
heischenden Blutes der Märtyrer und hofft, durch das Geschrei seines
Märtyrerblutes das Endgericht über das Papsttum um so rascher herbeizwingen
– urgere – zu können. […] ihre säkularisierte Analogie haben sie [diese
Leidenschaften] in der enthusiastischen Märtyrerpsychologie der russischen
Revolutionäre gehabt, die das Martyrium durch ihre Attentatsversuche auf
Zaren und Minister erzwangen, um die Revolution und den Untergang des von
ihnen verhaßten herrschenden Systems zu beschleunigen.“ Benz 1977, S.25.
3
„The high regard for martyrdom in Revelation might appear rather incompat-
ible with the book’s thoroughgoing denunciation of the contemporary political
order. The political critique would seem to manifest a communal religiosity,
while martyrdom emphasizes the individual. There are a number of points at
which the theology of martyrdom relates primarily to the individual.“ A.Y.
Collins 1977, S.254.
41 ABBILDUNGEN
1
Adela Yarbro Collins vermutet, daß Johannes, indem er die Schreiben nach
alter jüdischer Tradition an die „Engel der Gemeinden“ schickt bzw. die
Gemeinden als Kollektive anspricht, die Autorität der Bischöfe gezielt
unterläuft und ihr das Charisma des Apokalyptikers entgegenstellt. A.Y.
Collins 1998, S.390f.
2
Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem
Vorwort und drei Corollarien. 6. Aufl., 4. Nachdruck der Ausg. von 1963.
Berlin: Duncker und Humblot, 1996, S.32.
3
Dan 7,27.
4
Vgl. [[ApcBar(syr) 73,1 >> Pseudepigrapha:2 Bar. 73.1]]ff.
5
Offb 21,2-3.
42 ABBILDUNGEN
Diese unmittelbare Präsenz Gottes, die das Leben der Bürger des
himmlischen Jerusalem bestimmen wird, wird den Kult überflüssig
machen.
Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr
Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel,
er und das Lamm.1
Es liegt in der Konsequenz der Totalverwandlung, daß die jenseitige
Ordnung im absoluten Gegensatz zur diesseitigen Politik steht, die
sich durch Gottesferne, ja Gottesfeindschaft auszeichnet. Diesem
Desinteresse an der politischen Ordnung des Diesseits scheint jedoch
die Vision vom Tausendjährigen Reich in Offb 20,1ff. zu
widersprechen. Denn Johannes spricht davon, daß die, „die das Tier
und sein Standbild nicht angebetet“ hatten, „zur Herrschaft mit
Christus für tausend Jahre“ gelangen. Doch sieht man sich die Stelle
im Kontext an, kann von „Diesseits“ kaum mehr die Rede sein. Denn
die Mitherrscher Christi sind „die Seelen aller, die enthauptet worden
waren“. Das Tausendjährige Reich ist als „erste Auferstehung“ bereits
Teil des Jüngsten Gerichts und eingebunden in den Prozeß der
kosmischen Transformation. Es dient der Sammlung derer, die selig
werden und die auch an der zweiten jenseitigen
[[@Page:37]]Auferstehung teilhaben werden. So endet das
Tausendjährige Reich mit der Freilassung Satans, der die
schrecklichen Völker Gog und Magog von den Enden der Welt
herbeiholen wird, um die Vernichtung des Diesseits zu ihrem Ende zu
bringen. Diese Ruhepause im Weltgericht enthält bis auf das Motiv
einer Rehabilitierung der Märtyrer keinerlei positive
Ordnungskonzeption, wenngleich sie in der Geschichte des politischen
Denkens äußerst anregend auf Geister wirkte, deren politische
Zielsetzungen durchaus diesseitig orientiert waren.
Um noch einmal zusammenzufassen: Die Apokalyptik ist,
bezogen auf das Diesseits, nicht originär politisch, fast scheint sie
alles Politische der Verdorbenheit und Irrelevanz des gegenwärtigen
Aions zuzurechnen, in dem alle Formen menschlicher
Vergemeinschaftung als vom primordialen Defekt geprägt empfunden
werden. Nach Daniel ist die Bestimmung aller irdischen Reiche ihre
Vernichtung.2 Selbst die Vergemeinschaftung von Gleichgesinnten,
wie sie Johannes in den frühchristlichen Gemeinden beobachten kann,
wird eher mit Desinteresse verfolgt. Aber: Die Apokalyptik ist von
Anfang an politisch, insofern ihre Protagonisten daran festhalten, daß
sich im Jenseits eine Gemeinschaft konstituieren wird, die der Struktur
ihres Bewußtseins entspricht. So wie der Apokalyptiker schon jetzt
den Glauben über alle anderen Kräfte seines versuchten Inneren stellt,
so wird einst Gott über seine Auserwählten herrschen. Und so wie sich
1
Offb 21,22.
2
Dan 2,44.
43 ABBILDUNGEN
1
„Wenn wir z.B. sagten, daß jede Gesellschaft die Symbole hervorbringt, durch
die sie ihre Erfahrung von Ordnung ausdrückt, so ist damit nicht gemeint, daß
die Gesellschaft ein Subjekt mit einem Bewußtsein sei. Sätze dieser Art sind
vielmehr abkürzende Ausdrücke für Prozesse, in denen konkrete Menschen ein
soziales Feld schaffen, d.h. ein Feld, in dem ihre Erfahrungen von Ordnung von
anderen konkreten Menschen verstanden, als die ihren akzeptiert und zum
Motiv habituellen Handelns gemacht werden. Solche Felder nennen wir
Gesellschaften, wenn ihr Umfang und ihre relative Stabilität in der Zeit sie
identifizierbar machen.“ Voegelin, Eric: Anamnesis: Zur Theorie der
Geschichte und Politik. München: Piper 1966, S.342. Vgl. Gebhardt, Jürgen:
„Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung in der Krisenerfahrung“, in:
Klaus Vondung (Hrsg.): Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der
literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, S.52ff.
2
Der bis heute wahrscheinlich einflußreichste Aufsatz, in dem die
„soziologische Theorie“ vertreten wird, ist: Hanson, P.D.: „Apocalypticism“,
in: The Interpreter’s Dictionary of the Bible. Supplementary Volume. Nashville:
Abingdon, 1976, S.28-43.
3
Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian
Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt am Main: Fischer, 1960, S.71.
45 ABBILDUNGEN
[[@Page:40]]
Paulus, dessen Botschaft ebensowenig auf Apokalyptik reduziert
wie von ihr getrennt werden kann,1 erkannte, daß er durch
Verkündung Realitäten schafft, das heißt, Gemeinschaft begründet.2
Aber wir reden in Christus, vor dem Angesicht Gottes. Und
alles, liebe Brüder, geschieht, um eure Gemeinde aufzubauen. 3
Nur weil er diesen Zusammenhang sah, reflektierte und schließlich als
gottgewollt erfuhr, konnte er zum wichtigsten Deuter der
urchristlichen Gemeinschaft werden und ihr ein Fundament verleihen,
das die Enttäuschungen der apokalyptischen Naherwartung
überdauerte.
Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe
ich wie ein guter Baumeister den Grund ( θεμέλιον) gelegt; ein
anderer baut darauf weiter.4
„Seid ihr nicht mein Werk im Herrn?“, fragt Paulus die Gemeinde von
Korinth, die als eine Sammlung von Pneumatikern natürlich schon
vorher bestand, aber erst jetzt eine Selbstdeutung erhält, die Ordnung
konstituiert. „Ihr seid ja im Herrn das Siegel meines Apostelamtes.“ 5
Die Einsicht, daß die Wahrheit sich durch Verkündigung realisiert,
nimmt ihm die Alternative, zu schweigen, „denn ein Zwang liegt auf
mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ 6 Aufbau
von Gemeinschaft (οἰκοδομή) begreift der Apostel als seinen
erhalten, die sie ungeachtet der Intensität, mit der sie uns betroffen haben
mögen, vorher nie erreicht haben. Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir
sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser
selbst.“ Arendt 1998, S.62f. „The evocative power of language, the primitive
magic relation between a name and the object it denotes, makes it possible to
transform an amorphous field of human forces into an ordered unit by an act of
evocation of such units. The evocative act can be considerably (facilitated)
when it is accompanied by the creation of the magic unit, so that the power of
the name is corroborated by the (visible) expression of a unit more tangible
than the shapeless mass of human life and action into which the existence of a
political unit dissolves itself empirically. […] The magic power of language is
so strong that the mention of a term is always accompanied by a presumption
that in using the term we are referring to an objective reality.“ Voegelin 1997,
Bd.1, S.228.
1
Vgl. Hahn 1998, S.99ff. Paulus war zweifellos schon als Pharisäer mit der
Apokalyptik vertraut. Bornkamm, Günther: Paulus. Stuttgart u.a.:
Kohlhammer, 71993, S.34.
2
Die Einheitsübersetzung hat wohl den Sinngehalt von Phil 1,20 besser erfaßt,
wenn dort steht, der Apostel wolle Christus „in aller Öffentlichkeit“ (ἐν πάσῃ
παρρησία) verherrlichen. Luther folgt wie so oft der Vulgata, die den Ausdruck
mit in omnia fiducia wiedergibt.
3
2 Kor 12,19.
4
1 Kor 3,10.
5
1 Kor 9,1-2.
6
1 Kor 9,16.
47 ABBILDUNGEN
Existenz in Christo
An dieser Stelle wird es nötig, den Begriff der proleptischen
Gemeinschaft einzuführen. Damit soll eine besondere Form der
Selbstauslegung von Gemeinschaften terminologisch umfaßt werden,
für welche im Laufe der Geschichte zwar viele Symbole gefunden
wurden, ohne daß allerdings eines von ihnen das Phänomen in seiner
Grundsätzlichkeit zum Ausdruck gebracht hätte. Der Begriff
proleptische Gemeinschaft meint eine sich gegenüber der (Um-)Welt
abgrenzende Gemeinschaft, deren Selbstverständnis darin besteht, daß
sie die Heilsordnung, welche sie in ihrer Vollendung erst unter den
Bedingungen der Zukunft für möglich hält, in ihrer gegenwärtigen
Struktur ansatzweise schon verwirklicht sieht. Eine solche
Gemeinschaft sieht sich auf einer linearen Zeitachse mit der
vollendeten Gemeinschaft der Zukunft verbunden und steht gegenüber
der künftigen Ordnung, auf die sie sich hinzuentwickeln glaubt, im
1
2 Kor 10,8; 13,10.
2
Phil 3,20.
3
„Wenn das aber so ist, daß die Verkündigung des Heilsgeschehens nicht eine
vorgängige Belehrung ist, die der eigentlichen Glaubensforderung vorangeht,
sondern wenn sie als solche der Ruf zum Glauben, zur Preisgabe des bisherigen
Selbstverständnisses, der Ruf καταλλάγητε τῷ θεῷ ist, – wenn das so ist, so
heißt das, daß das Hei l sgeschehen ni rgends anders al s i m
verkündi genden, i m anredenden, fordernden und verhei ßend en
Wort präsent ist.“ Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testamentes. 8.,
durchges., um Vorw. u. Nachtr. erw. Aufl. Hrsg. von Otto Merk. Tübingen:
Mohr, 1980, S.301. Hervorh. i. Orig.
48 ABBILDUNGEN
Ekklesia
Das Symbol, das Paulus für die proleptische Gemeinschaft verwendet,
ist die Kirche (ἐκκλησία). Ekklesia bedeutet für den Apostel3 nicht eine
Gemeinschaft, die von Jesus begründet wurde, sondern eine
gemeinschaftliche Existenz, die in der Wahrheit des auferstandenen
Christus begründet liegt.4 Dies entspricht insofern der klassischen
Bedeutung des Wortes (Volksversammlung), als Gott die Menschen
durch seine Boten (ἀπόστολοι) in die Ekklesia ruft. „Sie entsteht als die
von Gott aus der Welt herausgerufene Gemeinschaft.“5 Man muß nicht
auf jüdische Umdeutungen in der Septuaginta verweisen, um zu
erklären, warum sich der römische Bürger Paulus der politischen
Terminologie der klassischen Antike bedient,6 denn der hellenisch-
bürgerschaftliche Gehalt des Symbols Ekklesia ist bei ihm keineswegs
ganz verloren gegangen. Versammelt werden alle, die den
Bürgerstatus besitzen bzw. in Aussicht haben, nur daß sich die
Bürgerschaft (πολίτευμα) jenseitig konstituiert. Ekklesia und Politeuma
1
Mk 4 parr. (dazu Hahn 1998, S.94). Röm 11,16-24; 1 Kor 3,6-8.
2
Phil 1,12. Zur hellenisch-römischen Fortschrittsterminologie, der sich auch
Paulus und Hieronymus bedienen, vgl. Meier, Christian: „Fortschritt in der
Antike“, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.2.
Stuttgart: Klett, 1975, S.353-363.
3
Für die Zwecke dieser Untersuchung kann die religionsgeschichtliche
Herleitung einzelner Theologumena ebenso unterbleiben, wie das Forschen
nach irgendeinem dunklen „Urkerygma“. Zum einen ließe sich aus allen
denkbaren Einflüssen niemals der ganze Paulus erklären; zum anderen bleiben
die ältesten Quellen christlicher Gemeinschaftskonzeption nun einmal die
Briefe des Paulus. Nur hier wird diese Konzeption als sinnvolle Einheit
dargeboten und von hier aus entfaltete sie ihre Wirkung bis in die Gegenwart.
4
„Die Theologie des Paulus ist nicht eine Wiederholung der Predigt Jesu vom
Kommen der Gottesherrschaft. Jesus Christus selbst und das durch seinen Tod
am Kreuz, seine Auferweckung und Erhöhung zum Kyrios begründete und
eröffnete Heil sind Inhalt der paulinischen Verkündigung.“ Bornkamm 1993,
S.121.
5
Gnilka 1999, S.269.
6
So Bornkamm 1993, S.184f.
52 ABBILDUNGEN
1
[[De civ. Dei II,21 >> Augustine:De civ. Dei 2.21]] u.ö.
2
„Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte
theologische Begriffe.“ Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur
Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot, 71996, S.43.
Θεολογία begegnet zuerst in [[Politeia 379a >> Plato:Pl., Rep. 379a]], im Sinne
einer vernünftigen Gotteslehre, die sich für die Jugenderziehung in der Polis
eignet. Vgl. Kampling, Rainer: „Theologie“, in: NHThG V, S.129-182, S.129.
3
1 Kor 1,2. Vgl. Bornkamm 1993, S.184ff.
4
Gal 2,20; vgl. Phil 3,12.
5
Gal 6,17; vgl. 2 Kor 4,10.
6
Röm 10,17; 2 Kor 3,13.
7
1 Kor 11,1.
8
Vgl. die Worte, die Paulus nach der lukanischen Überlieferung zu König
Agrippa spricht: „Ich wünschte mir von Gott, daß früher oder später nicht nur
du, sondern alle, die mich heute hören, das werden, was ich bin […].“ Apg
26,29.
9
1 Kor 12,13; 10,16f.
10
Röm 6,2-8. Gnilka 1996, S.274ff.; Bultmann 1980, S.313.
11
Phil 3,10; vgl. 2 Kor 1,5-7; 4,10f.
53 ABBILDUNGEN
Gerechtigkeit
Wer den paulinischen Gerechtigkeitsbegriff erfassen will, muß alle
klassischen Vorstellungen von der Gerechtigkeit als Tugend und aktiv
ausgebildeter Qualität der Person hinter sich lassen.1 Denn
Gerechtigkeit ist immer Gerechtigkeit Gottes, die sich dem Menschen
durch Offenbarung und Gnade mitteilt.2 Paulus folgt der stoischen
theologia naturalis, wenn er sagt, daß Gott allen Menschen seine
Wirklichkeit und seine Rechtsordnung (δικαίωμα τοῦ θεοῦ) bereits in
der Schöpfung offenbart und sie damit zu Gegenständen des
menschlichen Verstandes (νοούμενα) macht.3 Darüber hinaus erhielten
die Juden das Gesetz (νομός), während den Heiden als Vermögen zur
moralischen Selbstbeurteilung das Gewissen (συνείδησις) gegeben ist.4
Indes ist weder mit dem einen noch dem anderen die Fähigkeit zur
Moralität verbunden; sondern Juden wie Heiden wird vor Augen
geführt, wie wenig sie aus eigener Kraft dazu in der Lage sind, der
göttlichen Rechtsordnung gerecht zu werden. Gott gab das Gesetz, um
die Sünde [[@Page:48]]und damit die Erlösungsbedürftigkeit noch zu
mehren.5
Sünde (ἁμαρτία) ist sowohl die Macht, die den gegenwärtigen
Aion beherrscht, als auch jede Tat des einzelnen Menschen, in der er
der Gegenwart größere Bedeutung zumißt als der Hoffnung auf die
künftige Herrlichkeit. In der Sünde leugnet der Mensch seine
Erlösungsbedürftigkeit und damit seine Kreatürlichkeit, das heißt,
seine existentielle Abhängigkeit von Gott.6 Die Erfahrung der
Fremdbestimmung durch die Sünde,7 die „ein anderes Gesetz in
meinen Gliedern“ aufrichtet, ruft ein verzweifeltes Verlangen nach
Rettung hervor.8 Eine solche wird möglich durch den Glauben ( πίστις),
der selbst nicht Leistung, sondern Gehorsam vor der Verkündigung
ist.9 Der Glaube gründet sich auf das bereits geschehene Heilshandeln
1
Ottmann 2002, S.215; Bultmann 1980, S.277.
2
Röm 1,17; Gal 3,11.
3
Röm 1,19f.32. Bultmann 1980, S.74f.
4
Röm 2,15. Bultmann 1980, S.217ff.
5
Röm 5,20; 7,7-9; Gal 3,19.
6
Bornkamm 1993, S.135; Bultmann 1980, S.232ff., 246ff.
7
Röm 7,17.
8
Röm 7,23f.
9
Röm 1,5; 10,16.33; 11,30-32; 15,18; 16,19; 2 Kor 9,13; 10,5f. Bultmann 1980,
S.315ff. Die Gleichsetzung von Glauben und Gehorsam (ὑπακοή) ist sicherlich
der problematischste Aspekt der paulinischen Lehre, denn kein selbständiger
Akt des Denkens soll die Unterwerfung unter die Verkündigung behindern.
56 ABBILDUNGEN
Geist
Der Gläubige ist ein neuer Mensch und hat die Existenzbedingungen
des alten Menschen hinter sich gelassen. Vor Christus bestand die
menschliche Existenz im Leben nach dem Fleisch (κατὰ σάρκα), in der
„Wir nehmen alles Denken gefangen, so daß es Christus gehorcht; wir sind
entschlossen, alle Ungehorsamen zu strafen […].“ 2 Kor 10,5f.
1
Vgl. Bultmann 1980, S.323.
2
Röm 3,3.19.23; Gal 3,22.
3
Röm 3,25.
4
Röm 5,12-21.
5
Röm 3,24.
6
Röm 3,21.
7
Röm 2,1-5.
8
Röm 3,21f.; vgl. 1,16f. Vgl. Bultmann 1980, S.270ff.; Kuss 350ff.
9
Röm 5,10f.; Gal 4,5. Vgl. Bultmann 1980, S.286f., 307f.
57 ABBILDUNGEN
Sorge um die Gegenwart und die Bedürfnisse dieser Welt, in der die
Sünde mächtig ist.1 Im Glauben lebt der Mensch nach dem Geist ( κατὰ
πνεῦμα). Das Pneuma ist nichts, was dem Glauben vorangeht, sondern
das, was auf ihn folgt. Es ist eine göttliche Wunderkraft, die aus der
Zukunft des Jenseits in das Diesseits hereinbricht und dem Menschen
bei der Metanoia beisteht und unterstützt.2 Im Pneuma handelt Gott in
dieser Welt und begründet die Ausrichtung des gläubigen Menschen
auf die göttliche Herrlichkeit (δόξα) im Jenseits.3 An die Stelle der
knechtischen Gesetzestreue tritt die Freiheit und Erkenntnis des
Gläubigen; der „Schleier des Mose“ fällt.4 Erst in der vom Pneuma
bewirkten Metamorphose – so resümiert Paulus – wird der Mensch
zum Ebenbild Gottes, wie auch Christus ein Bild Gottes ( εἰκὼν τοῦ
θεοῦ) ist.5
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des
Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt
(μεταμορφούμεθα), von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den
Geist des Herrn.6
Insofern mit Christus eine neue Geschichte begonnen hat, die sich von
der geschichtlichen Realität des gegenwärtigen Aions abhebt und in
ihm Heil bewirkt, ist das Pneuma die Kraft, die diese Heilsgeschichte
bewegt. Es ist deshalb ein Heiliger Geist ( πνεῦμα ἅγιον). Menschen, die
in der Realität des Pneumas leben, sind Geistmenschen [[@Page:50]]
(πνευματικοί)7 und Heilige (ἅγιοι/ἡγιασμένοι),8 „die aus dieser Welt
herausgenommen und in die eschatologische Existenz versetzt sind“. 9
Die Neuschöpfung (καινὴ κτίσις) beginnt sich in ihnen schon zu
1
Bultmann 1980, S.233ff.
2
„Der Geist erweist sich […] als die Macht in der Gegenwart, indem diese
durch die Zukunft bestimmt ist.“ Bultmann 1980, S.349. „Mit dem Begriff
Pneuma […] sucht er [Paulus] zu erfassen, was durch Gottes Heilsgnade an der
Wurzel schon geschehen ist, was an sichtbaren und verborgenen Gaben jetzt
schon die eschatologische Vollendung andeutet und vorausnimmt.“ Kuss 1976,
S.367f. „Mit diesem Begriff Pneuma […] ist am nachhaltigsten das schwere
Problem bewältigt worden, das aus dem nebeneinander von Schon und Noch-
nicht gestellt war: das Heil ist schon da, und das Heil ist doch noch nicht da –
das heißt eben: das Heil ist so da, daß das Pneuma da ist.“ Ebd., S.368f.
3
„Und sofern der Glaubende mit seinem eigentlichen Sein schon jenseits der
Sphäre des Nur-Menschlichen steht und der Sphäre des πνεῦμα angehört, kann
für ihn das εἶναι ἐν (τῇ) σαρκί antezipierend in Abrede gestellt werden […].“
Bultmann 1980, S.236. Vgl. Röm 8,9.
4
2 Kor 3,12-15.
5
2 Kor 4,4.
6
2 Kor 3,18.
7
1 Kor 2,15.
8
Röm 1,7; 8,27; 12,13; 15,25-26.31; 16,2.15; 1 Kor 1,2; 6,2.11; 2 Kor 8,4; 9,1.
Vgl. Gnilka 1996, S.266f.
9
Bultmann 1980, S.339.
58 ABBILDUNGEN
1
1 Kor 12,12-14.24-28.
2
1 Kor 3,16.
3
Phil 3,20.
4
2 Kor 4,16; 5,6; vgl. Röm 7,22f.
5
Phil 3,21.
6
Röm 8,23; 2 Kor 1,22;5,5.
60 ABBILDUNGEN
1
Phil 3,1-14.
2
1 Kor 12,8. Bultmann 1980, S.326ff.
3
1 Kor 1,26f.; 2,6.
4
Röm 12,25; 1 Kor 2,7; 15,51.
5
2 Kor 5,7.
6
1 Kor 4,8. Bornkamm 1993, S.88ff.
7
1 Kor 13,9-10.12.
8
1 Kor 7,17-24.
9
1 Kor 12,13; Gal 3,28.
10
Phlm 15-17; vgl. Ottmann 2002, S.218f.
61 ABBILDUNGEN
wird.1 Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, daß es immer auf
die Schwachen Rücksicht zu nehmen gilt.2 Keineswegs kann geduldet
werden, daß ein Glied der Ekklesia in die Existenzweise der Welt, d.h.
des gegenwärtigen Aions,3 zurückfällt, wieder nach dem Fleische
wandelt und so die proleptische Gemeinschaft kontaminiert. Darauf
muß, sollte Besserung ausbleiben, mit dem Ausschluß aus der
Ekklesia geantwortet werden.4 Es versteht sich von selbst, daß in der
proleptische Gemeinschaft, die nur ihren Mitgliedern Aussicht auf das
jenseitige Heil gewährt, die Exkommunikation eine wesentlich
schlimmere Strafe bedeutet als der Tod. [[@Page:53]]
Die erneuerte Erfahrung von der Geschichtlichkeit des Heils
macht die Ablehnung der politischen Ordnung außerhalb der Ekklesia
hinfällig. Denn die weltliche Macht erfüllt eine Aufgabe innerhalb des
Heilsgeschehens. Auch hinter ihr steht der allmächtige Gott und durch
sie vollzieht er seine Urteile.5 Nur gilt es, sich aus ihren Händeln
herauszuhalten, sich zwar ihren Anordnungen, nicht aber ihren
Ordnungsmaximen zu unterwerfen; denn die Ekklesia ist „eine neue
und grundsätzlich autarke Ordnung“.6 Mitglieder der proleptischen
Gemeinschaft erwarten ihr Recht vom kommenden Gericht, nicht von
der Jurisdiktion der Gegenwart.7
Die Abgrenzung gegenüber der „Welt“ geht noch weiter: Die Ehe
soll nach Möglichkeit nicht mehr vollzogen werden, und ist nur den
Schwachen gestattet, um Unzucht zu vermeiden und die Ordnung
aufrecht zu erhalten.8 Selbstverständlich stehen alle diese Normen im
Zusammenhang mit der Naherwartung, die bei Paulus immer präsent
ist.9 Der Leib Christi, dessen Glieder die Leiber der
Gemeindemitglieder sind,10 muß rein gehalten werden, damit er am
Tag des Herrn, der jederzeit kommen kann „wie ein Dieb in der
Nacht“,11 von der proleptischen in die endgültige und ewige Existenz
versetzt werden kann.
Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen
Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?12
Das Pneuma – so läßt sich zusammenfassend sagen – konstituiert die
Existenz zwischen Diesseits und Jenseits, die diesseitige
1
Röm 16,10; 1 Kor 2,6.10; 3,1; 4,10. Vgl. Bultmann 1980, S.329.
2
1 Kor 8,11f.
3
Bornkamm 1993, S.140.
4
1 Kor 5,1-5.
5
Röm 13,1-7.
6
Kuss 1976, S.126.
7
1 Kor 6,1-11.
8
1 Kor 7,1-11.25-40.
9
1 Kor 7,29. Kuss 1976, S.129f., 288ff.
10
1 Kor 6,15.
11
1 Thess 5,2.
12
1 Kor 6,19.
62 ABBILDUNGEN
Geschichte
Paulus hat keinen Begriff von Geschichte im modernen Sinn.
Geschichte als autonomer oder gar selbstevidenter Prozeß irdischen
Geschehens ist ihm völlig fremd. Er kennt den Kosmos als den
geschaffenen Raum, in dem der Schöpfer Prozesse in Gang bringt. 5
Insofern gibt es für ihn nicht nur eine einzige Geschichte, sondern eine
Geschichte vor der Existenz in Christo und eine Geschichte, die mit
der Kreuzigung beginnt, die Geschichte der Ekklesia. Pneumatische
Existenz begründet also eine neue Geschichte, eine Heilsgeschichte
zwischen der ersten Ankunft Christi und seiner Auferstehung
einerseits sowie seiner zweiten Ankunft und der Auferstehung aller
Gerechten andererseits. Heilsgeschichte im Sinne von Paulus ist der
Prozeß der bereits begonnenen Verwandlung der Welt, die aus diesem
Aion hinausführt und ihre Vollendung im Jenseits finden wird. Die
Mächte dieser Welt interessieren nur, weil sie die Glieder der Ekklesia
auf ihre Standhaftigkeit hin überprüfen.6 Eine eigene Geschichte, die
sinnvoll genannt werden könnte, haben sie nicht.
Das heißt aber nicht, daß die mit Christus begonnene Geschichte
ganz voraussetzungslos ist, denn sie ereignet sich in demselben
geschaffenen Kosmos, in dem Gott von Anfang an am Werk ist. Es ist
der gleiche Gott, der einst die Welt schuf, und der jetzt seinen Sohn
gab, um sie zu erlösen. Das Christusgeschehen ordnet sich ein in den
Gesamtplan, den Gott für seine Schöpfung gefaßt hat. So stellt sich
1
Vgl. Kuss 1976, S.302ff.
2
Bultmann 1980, S.370.
3
Röm 8,14-17.
4
Phil 1,23f.
5
Bultmann 1980, S.255ff.
6
Röm 13,3f.
63 ABBILDUNGEN
Hier kommen nun die Heiden ins Spiel, denn erst das Versagen Israels
eröffnet ihnen den Weg zum Heil.1 Sie sind zunächst nicht mehr als
ein Ersatz für die abtrünnigen Juden, ein Zweig der gegen die Natur
(παρὰ φύσιν) anstelle der herausgebrochenen Zweige in den Stamm der
göttlichen Erwählung eingepfropft wird.2 Überheblichkeit gegenüber
den Juden ist daher völlig fehl am Platz.3 Das Bild des Ölbaumes dient
Paulus als Metapher für die Ekklesia.4 Er wächst aus einer heiligen
Wurzel, doch nicht alle Zweige gelangen zur Blüte. Sie sterben ab,
werden entfernt und ersetzt. Indes kann das Wachstum des Baumes
niemals aufgehalten werden, und es besteht kein Zweifel, daß letztlich
auch die abgestorbenen natürlichen Zweige des Ölbaums, das heißt
die Juden, die sich bisher dem Evangelium verweigern, dem Stamm
wieder eingepfropft werden.5 Denn:
Vom Evangelium her sind sie Feinde Gottes, und das um
euretwillen; von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott
geliebt, und das um der Väter willen.6
Nun sieht es so aus, als sei die Verstockung Israels allein deshalb
geschehen, damit den Heiden der Zugang zum Heil ermöglicht werde;
dies ändert aber nichts daran, daß die Verheißung an die Väter erfüllt
werden muß. Israel wird vergeben, daher wird die Ekklesia am Ende
Juden und Heiden in einer universalen Gemeinschaft vereinen; dann
kann Christus wiederkehren und die Gemeinschaft im Gericht einer
letzten Reinigung unterziehen, bevor sie in den neuen Aion überführt
wird. [[@Page:56]]
Damit ihr euch nicht auf eigene Einsicht verlaßt, Brüder, sollt
ihr dieses Geheimnis wissen: Verstockung liegt auf einem Teil
Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben;
dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift
heißt: Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle
Gottlosigkeit von Jakob entfernen. Das ist der Bund, den ich
ihnen gewähre, wenn ich ihre Sünden wegnehme.7
In gewisser Weise setzt die Ekklesia also die Existenz des alten
Gottesvolkes Israel fort, und in Gestalt des judenchristlichen Restes
gibt es – wie von Jesaja prophezeit8 – sogar eine Minderheit, die die
genealogische Kontinuität sichert. Doch diese Minderheit kann nicht
überdecken, daß ein ganz neues Verständnis des Gottesvolkes, ein
neuer Begriff von Israel nötig ist. Es kann nicht mehr die
1
Röm 11,11.
2
Röm 11,24.
3
Röm 11,18-23.
4
Röm 11,16-24
5
Röm 11,24.
6
Röm 11,28.
7
Röm 11,25-27; vgl. Jes 59,20f.; Jer 31,33f.
8
Röm 9,27; vgl. Jes 10,22f.
65 ABBILDUNGEN
3. Mönchtum
Vorbemerkungen
Das Mönchtum ist der dritte große Traditionsstrom, aus der sich
Joachims Gemeinschaftskonzeption speist. Wie die meisten
bedeutenden Denker des christlichen Mittelalters war Joachim ein
Mönch. Doch selten hat jemand so intensiv danach geforscht, was es
überhaupt heißt ein Mönch zu sein, und welche Bedeutung dem
Mönchtum als christlicher Lebensform zukommt. Wie weit diese
Vergegenwärtigung ging, läßt sich allein daraus erahnen, daß sich
Joachim mit allen zeitgenössischen Formen des Mönchtums
unzufrieden zeigte und als Ordensgründer das monastische Ideal neu
formulierte.
Auch für das Mönchtum gilt: Man kann die Ordnungserfahrungen,
die einer Existenzweise zugrunde liegen, am besten dort erforschen,
wo sie noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Am
Ursprungsort bedarf es am meisten der klärenden Worte, die den
Zeitgenossen den Sinn des neuen Lebens vermitteln. Auch Joachim
von Fiore war der Meinung, daß man den tieferen Sinn des
mönchischen Lebens nicht zuletzt in seinen initiationes suchen müsse.
Der Jesuit Heinrich Bacht schreibt:
Was sich in den ersten zwei Jahrhunderten des beginnenden
Mönchtums in Ägypten, Palästina und Kleinasien ereignet und in
den vielen Überlieferungszeugen niedergeschlagen hat, hat nicht
nur chronologischen Vorrang. Je länger man sich mit diesen
Zeugnissen beschäftigt, um so nachhaltiger wird der Eindruck, daß
darin eigentlich alles Entscheidende der nachfolgenden
Mönchsgeschichte zu finden ist. Selbst die Sprache, in der die
geistlichen Erfahrungen auszudrücken sind, ist damals schon für
alle Zeiten geprägt worden, nur mit dem Unterschied, daß in der
„Gründerzeit“ die Worte und Formeln noch mit vollem Leben
gefüllt sind, während sie im Abstand der Jahrhunderte immer mehr
zu Klischees verblassen und zu allzu gängiger Münze abgewertet
1
Vgl. Gal 4,24ff.
67 ABBILDUNGEN
werden.1 [[@Page:58]]
Im folgenden werden die beiden Lebensformen untersucht, die sich
schon in den Anfängen der monastischen Bewegung herausbildeten
und für die gesamte Geschichte des Christentums paradigmatisch
blieben, die Klostergemeinschaft und das Eremitentum. Es geht dabei
in erster Linie um eine Analyse der Symbole, die in der Selbstdeutung
beider Formen des Mönchtums jeweils die zentrale Stelle einnehmen,
Anachoresis und Koinonia.
Die erste Gestalt des christlichen Mönchtums, die historisch
faßbar wird, ist der Ägypter Antonius (ca. 251-356), genannt „der
Große“. Zwar scheint es schon vor ihm religiös motivierte Eremiten
gegeben zu haben, doch ist über sie nur wenig bekannt. Es hat sicher
seinen Grund, warum Antonius und keiner seiner Vorgänger in vielen
zeitnahen Quellen als die große Vaterfigur des Mönchtums hervortritt;
und dieser scheint darin zu liegen, daß er durch sein Charisma wie
durch seine Kompromißlosigkeit die Zeitgenossen mehr als andere
beeindruckte, vor allem aber, daß er intellektuell in der Lage war, das
Selbstverständnis der monastischen Bewegung zu formulieren.
Seit Athanasius bis in die jüngste Gegenwart wurde Antonius
meist als ein ungebildeter und von weltlicher Weisheit
„unverdorbener“ Mann des Glaubens dargestellt. Entsprechend
gewisser historiographischer Moden wollte man seinen Gang in die
Wüste gar auf die „Mentalität“ der koptischen Landbevölkerung
zurückführen.2 Doch dieses Bild hat sich als unhaltbar erwiesen. Die
einzigen überlieferten Zeugnisse aus Antonius’ eigener Hand, sieben
Briefe, deren Authentizität kaum mehr bestritten wird,3 weisen ihn als
einen Mann aus, der sich in der Weite des alexandrinischen
Bildungshorizonts sehr wohl zurechtfand.4 Apokalyptik spielt hier wie
1
Bacht, Heinrich: Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum frühen
Mönchtum I. Würzburg: Echter, 1972, S.7f.
2
Baumeister, Th.: „Die Mentalität des frühen ägyptischen Mönchtums“, in:
ZKG 88 (1977), S.145-160.
3
Vgl. Frank, Karl Suso: „Antonius von Ägypten und seine Briefe“, in: Margot
Schmidt und Fernando Domínguez Reboiras (Hrsg.): Von der Suche nach Gott.
Helmut Riedlinger zum 75. Geburtstag. Suttgart-Bad Cannstatt: Frommann-
Holzboog, 1998, S.65-82, S.67ff.
4
Frank 1998, S. 81f.; Rubenson, Samuel: The Letters of St. Antony. Origenist
Theology, Monastic Tradition and the Making of a Saint. Lund: University
Press, 1990. Wie Samuel Rubenson, dessen Forschung das neue Interesse an
den Briefen zu verdanken ist, zeigt (S.35ff.), war das Hauptargument gegen die
Authentizität, daß sie nicht in das Bild des einfachen koptischen Bauernsohns
passen. Sollten sie entgegen aller Indizien dennoch nicht aus Antonius’ eigener
Hand stammen, so wären sie doch eines der frühesten Zeugnisse koptischen
Mönchtums. Eine ausgewogene Darstellung, die im Anschluß an die
Erkenntnisse Rubensons die Briefe berücksichtigt, findet sich jetzt auch in:
Dunn, Marilyn: The Emergence of Monasticism. From the Desert Fathers to
the Early Middle Ages. Oxford: Blackwell, 2000, S.2ff
68 ABBILDUNGEN
sich die beiden Quellen wesentlich weniger, als es auf den ersten
Blick scheint.1 Während die Briefe das philosophisch-theologische
Fundament der Wüstenaskese durchscheinen lassen, formuliert die
Vita das Paradigma der monastischen Lebensführung.2 Es lohnt sich,
beide Zeugnisse nebeneinanderzustellen, um den Motiven und den
Grundgedanken des „ersten Mönches“ näherzukommen.
Zuerst aber ist es vonnöten, einen Passus über die alexandrinische
Theologie einzuschalten. Es gilt, das intellektuelle Milieu
auszuleuchten, in dem sich die geistigen Bedingungen dafür bildeten,
daß sich Menschen überhaupt zum Mönchtum berufen fühlen
konnten. Selbstverständlich kann die monastische Bewegung nicht
allein aus ihren geistigen Grundlagen erklärt werden, doch alle
anderen Motive sind in hohem Maße historisch kontingent und weder
hinreichende noch notwendige Bedingungen einer Lebensform, die
trotz aller Krisen und Wandlungen bis auf den Tag besteht.
[[@Page:60]]
Immer wieder führt die Kirchengeschichte vor Augen, daß alle
grundsätzlichen Probleme des christlichen Glaubens bereits in der
alten Kirche an die Oberfläche kamen und diskutiert wurden. Die
Konfrontation zwischen dem Evangelium und den griechischen,
römischen und syrischen Traditionen sowie die Spannungen zwischen
jüdischem und hellenischem Gedankengut, die zum Teil schon den
neutestamentlichen Text selbst bestimmen, hatten eine Bandbreite von
Klärungsversuchen zur Folge, deren Symbolreichtum schier
unerschöpflich ist. Man halte sich nur vor Augen, wie die
reformatorische Theologie die Väterliteratur neu entdeckte und aus
ihr, besonders aus Augustinus, einen Gutteil ihres
Selbstverständnisses gewann. So gab es auch im 12. Jahrhundert kaum
theoretische Auseinandersetzungen, welche nicht an Debatten erinnert
hätten, die bereits im 3., 4. oder 5. Jahrhundert stattfanden. Abhängig
vom jeweiligen Disput beschimpfte man sich als Arianer, Sabellianer,
Tritheisten etc. Bei der Frage etwa, ob die Gültigkeit des Sakraments
von der Reinheit des Spenders abhänge, wurden ganz bewußt die
Argumente des Donatismusstreits wiederaufbereitet. Und wer hätte
sich im Investiturstreit überhaupt zu Wort melden können, ohne die
1
Vgl. Frank 1998, S.69f.
2
In den Gesprächen mit heidnischen Philosophen, über die Athanasius
berichtet, zeigt sich Antonius sehr wohl als Kenner der (neu-)platonischen
Lehren. [[Vita Ant. LXXII-LXXX >> Athanasius:Vit. Ant. 72-80]]. Daß
Antonius kein Griechisch sprach, ist unwahrscheinlich. Rubenson 1990, S.41f.,
S.98f.; Dunn 2000, S.6. Wenn Athanasius mehrfach und vehement darauf
besteht, daß Antonius einen Dolmetscher brauchte, um mit Philosophen zu
sprechen, so will er damit doch eher sagen, daß der Mann, der in der Weisheit
Gottes so weit fortgeschritten war, die irdische Weisheit nicht mehr verstand.
[[Vita Ant. LXXII >> Athanasius:Vit. Ant. 72]], [[LXXIV >> Athanasius:Vit.
Ant. 74]], [[LXXVII >> Athanasius:Vit. Ant. 77]].
70 ABBILDUNGEN
1
HbKg I, S.330f.
2
Campenhausen, Hans Freiherr von: Griechische Kirchenväter. Stuttgart u.a.:
Kohlhammer, 81993, S.35f.
3
Ebd., S.40.
75 ABBILDUNGEN
Das Problem, mit dem es Origenes zu tun hat, ist die Frage nach
dem Nutzen des Leidens und Sterbens für das Zeugnis Christi. Wenn
schon die Sakramente die Zugehörigkeit zur Heilsgemeinschaft
bewirken, was kann dann die heroische Sonderleistung noch bringen?
Natürlich darf das Martyrium nicht auf ein utilitaristisches Motiv
reduziert werden, aber es ist doch ganz deutlich, daß ein solches eine
Rolle spielt. So läßt Origenes schon im ersten Abschnitt seiner Schrift
erkennen, daß der Märtyrer im Himmel mehr erwarten darf als der
gewöhnliche Gläubige und daß er mit seinem
Vollkommenheitsstreben an einem Wettkampf teilnimmt:
Wer indes „Trübsal über Trübsal“ nicht von sich weist, sondern
wie ein edler Wettkämpfer sie erwartet, der erwartet sogleich
auch „Hoffnung über Hoffnung“, deren er nach kurzer um der
Hoffnung willen erduldeter Trübsal teilhaftig werden wird. 1
Daß der Märtyrer des Heils ‚sogleich‘ teilhaftig werden kann,
geschieht, weil er sich der „Last des sterblichen Körpers“ ganz
entledigt, so daß die befreite Seele sofort zu Gott aufsteigen kann. 2
Keineswegs muß er bis zur Auferstehung der Toten warten, damit sein
Leib in der Gemeinschaft des corpus mysticum verklärt werde.
Unschwer erkennt man, wie hier die hellenistische Unterscheidung
zwischen Leib und Seele den individuellen Weg zum Heil eröffnet.
Nicht daß Origenes die leibliche Auferstehung leugnen würde, aber
für ihn besteht sie darin, daß die Seele, die individuelle und ewige
Kernsubstanz des Menschen, mit einem geistlichen Leib (spiritale
corpus) bekleidet wird und nicht – wie bei Paulus – in einer
Transformation des Menschen, dem als einer leiblichen Einheit die
Unvergänglichkeit erst verliehen werden muß.3 Selten wird die
Spannung zwischen Platonismus und biblischer Überlieferung derart
greifbar.
Allerdings ist unübersehbar, daß es Origenes primär um die
Rückkehr der Seele [[@Page:66]]geht. Welche Akzidentien dieser
Seele einmal zukommen, wenn sie bereits im Himmel weilt, ist eher
zweitrangig. Das erweist sich unter anderem in seiner Äußerung, die
pneumatischen Leiber würden sich völlig gleichen, da die
Individualität des Menschen in seiner Seele begründet liege. 4 Wichtig
aber ist: Das Ziel der Seele ist nicht länger ein zeitlich hinter dem
gegenwärtigen Aion gelegenes Jenseits, sondern der überirdische
nicht bezweifelt werden, auch wenn letzterer eine opportunistische Wende
vollzog.
1
[[Exh. ad mart. 1 >> Origen:On Mart. 1.1]], Kohlhofer 252; vgl. Jes 28,10.
2
[[Exh. ad mart. 3 >> Origen:On Mart. 3]], Kohlhofer 254.
3
[[De princ. II,10,1-3 >> Origen:De princ. 2.10.1-3]]; vgl. 1 Kor 15,42-54; vgl.
[[De princ. III,5-7 >> Origen:De princ. 3.5-7]].
4
[[De princ. III,6,4 >> Origen:De princ. 3.6.4]]. Nach [[IV,4,6-7 >> Origen:De
princ. 5.4.6-7]] sind die Leiber jeweils wechselnde Qualitäten (qualitates) der
seelischen Substanz.
77 ABBILDUNGEN
Trotz allem ist das Martyrium nicht conditio sine qua non. Denn die
Märtyrer, die schon jetzt bei Gott sind, können ein gutes Wort für ihre
Glaubensgenossen einlegen, sofern diese darum bitten.
[…] so befinden sich „die Seelen der wegen ihres Zeugnisses
für Jesus Hingerichteten“ nicht umsonst am himmlischen
Altare, sondern vermitteln denen, die darum flehen,
Nachlassung der Sünden.1
Man stößt hier auf eine der ersten theoretischen Reflexionen über die
Heiligenverehrung, die zu dieser Zeit den Märtyrern und wenig später
auch den herausragenden Asketen tatsächlich entgegengebracht
wurde. Doch die Fürbitte als gemäßigte Möglichkeit, in den Himmel
zu kommen, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der Himmel des
Origenes ist eine differenzierte hierarchische Ordnung, in der jeder
den Platz einnimmt, der ihm nach seinen Leistungen zukommt – eine
Vorstellung, die sich im Mittelalter weit verbreitet hat, wie Tausende
von Altarbildern zeigen.2 Bei Origenes ist allerdings die himmlische
Hierarchie ebenso wie die irdische Herrschaft Teil der kosmischen
Gesamtordnung, in sich die göttliche Gerechtigkeit manifestiert, und
in der jeder zu jeder Zeit nach seinen Verdiensten eingestuft wird. 3 So
erscheint das göttliche Gericht eher als ein permanenter Prozeß von
Bestrafung und Belohnung durch Höher- und Tieferstufung, denn als
ein singuläres Ereignis.4
Die Anspielung auf die Johannesapokalypse, die das zuletzt
angeführte Zitat enthält, läßt erkennen, wie das Eschaton von den
1
[[Exh. ad mart. 30 >> Origen:On Mart. 5.30]], Kohlhofer 297; vgl. Offb 6,9.
2
Die Sichtbarmachung der Heilshierarchie wurde sogar als „Hauptzweck der
hochmittelalterlichen christlichen Bilderwelt“ bezeichnet. Würtenberger,
Franzsepp: Weltbild und Bilderwelt. Von der Spätantike bis zur Moderne. Wien
und München: Schroll, 1958, S.12ff.
3
„Es bleibt also (der Schluß), daß es bei jedem Geschöpf an seiner eigenen
Tätigkeit und seinen eigenen Bewegungen lag, daß jene Mächte, die das
Fürstentum oder die Gewalt oder die Herrschaft über andere ausüben, ihren
Vorrang erhielten und über die gesetzt wurden, die sie, wie es heißt, leiten oder
beherrschen: (nämlich) wegen ihres Verhaltens und nicht durch eine
Bevorzugung der Schöpfung (ex merito, et non per conditionis
praerogativam).“ [[De princ. I,5,3 >> Origen:De princ. 1.5.3]].
Görgemanns/Karpp 203; vgl. [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]];
[[I,8,4 >> Origen:De princ. 1.8.4]]; [[II,9,7-8 >> Origen:De princ. 2.9.7-8]];
[[III,1,23 >> Origen:De princ. 3.1.23]].
4
Origenes muß dazu größere Korrekturen an der neutestamentlichen
Eschatologie vornehmen: „Es steht außer Zweifel, daß dereinst am Tage des
Gerichtes die Guten von den Bösen, die Gerechten von den Ungerechten
getrennt werden, und ein jeder durch Gottes gerechte Entscheidung an den
Platz verwiesen wird, den er verdient hat […]. Aber etwas Entsprechendes,
meine ich, ist auch früher schon geschehen. Denn man muß annehmen, daß
Gott alles und jederzeit nach gerechter Entscheidung tut und anordnet.“ [[De
princ. II,9,8 >> Origen:De princ. 2.9.8]], Görgemanns/Karpp 417.
79 ABBILDUNGEN
1.8.3]].
1
„[…] denn wir Menschen sind ja Lebewesen, die zusammengesetzt sind
aus Leib und Seele (animal sumus compositum ex corporis animaeque
concursu) – nur so konnten wir ja auf der Erde wohnen.“ [[De princ. I,1,6 >>
Origen:De princ. 1.1.6]], Görgemanns/Karpp 113. Vgl. [[De princ. II,3,2-3 >>
Origen:De princ. 2.3.2-3]]. Epiphanius von Salamis faßt die Anthropologie des
Origenes so zusammen: „Er (Or.) sagt, die menschliche Seele sei präexistent;
dies seien Engel und Mächte in der Höhe; sie hätten sich aber durch Sünden
verfehlt und seien deshalb zur Strafe in diesen Körper eingeschlossen. Gott
schicke sie zur Strafe herab, damit sie hier das erste Gericht erlitten. Deshalb,
so sagt er, heiße der Leib auch ‚demas‘ weil die Seele im Körper gefangen liege
(‚dedesthai‘).“ De princ. I,8, Anhang I, Nr.3, Görgemanns/Karpp 275; vgl.
Nr.4-6.
2
[[De princ. I,3,6 >> Origen:De princ. 1.3.6]]; [[II,6,3 >> Origen:De princ.
2.6.3]].
3
[[De princ. I,3,3 >> Origen:De princ. 1.3.3]]; [[II,1,4 >> Origen:De princ.
2.1.4]]; [[II,2,1-II,3,2 >> Origen:De princ. 2.2.1-3.2]]; [[III,6,6-9 >> Origen:De
princ. 3.6.6-9]]; [[IV,4,6-8 >> Origen:De princ. 4.4.6-8]].
4
„Denn immer ist das Ende dem Anfang ähnlich; und daher muß, so wie das
Ende von allem ei nes ist, so auch ei n Anfang (initium) von allem
angenommen werden; und so wie die vielen Dinge ei n Ende haben, so
entspringen die vielen Unterschiede und Abweichungen aus ei nem Anfang.
[…] Alle aber werden wieder durch die Güte Gottes, die Unterwerfung unter
Christus und die Einheit im heiligen Geist zu dem einen Ende gebracht, das
dem Anfang gleicht.“ [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]]. Görge-
manns/Karpp 217-219. Hervorh. i. Orig.; vgl. [[De princ. III,6,4 >> Origen:De
princ. 3.6.4]].
82 ABBILDUNGEN
Dies muß man sich aber nicht als ein plötzliches Geschehen
vorstellen, sondern als ein allmähliches, stufenweise im Laufe
von unzähligen und unendlich langen Zeiträumen sich
1
[[De princ. III,5,8 >> Origen:De princ. 3.5.8]].
2
[[De princ. III,5,7 >> Origen:De princ. 3.5.7]].
3
Ein bei Hieronymus (Ep. 124,3) überliefertes Fragment besagt: „Sicque per-
miscet omnia, ut de archangelo possit diabolus fieri et rursum diabolus in ange-
lum revertatur.“ [[De princ. I,6,2 >> Origen:De princ. 1.6.2]], Görgemanns/
Karpp 216, Anm.1.
4
[[De princ. I,3,8 >> Origen:De princ. 1.3.8]]; [[I,8,4 >> Origen:De princ.
1.8.4]]; [[II,11,6-7 >> Origen:De princ. 2.11.6-7]]; [[III,1,23 >> Origen:De
princ. 3.1.23]] u.ö.
5
[[De princ. II,1,2 >> Origen:De princ. 2.1.2]], Görgemanns/Karpp 287; vgl.
[[III,6,6 >> Origen:De princ. 3.6.6]].
83 ABBILDUNGEN
1
[[De princ. I,3,3 >> Origen:De princ. 1.3.3]]; vgl. [[IV,3,15 >> Origen:De
princ. 4.3.15]].
2
[[De princ. II,4,4 >> Origen:De princ. 2.4.4]]; [[III,5,1 >> Origen:De princ.
3.5.1]]; [[IV,2,2 >> Origen:De princ. 4.2.2]]; [[IV,2,5 >> Origen:De princ.
4.2.5]]; [[IV,3,5 >> Origen:De princ. 4.3.5]].
3
[[De princ. IV,2,1 >> Origen:De princ. 4.2.1]]; [[IV,2,4 >> Origen:De princ.
4.2.4]]; [[IV,2,7 >> Origen:De princ. 4.2.7]]. Vgl. Reventlow, Henning Graf:
Epochen der Bibelauslegung. Bd.1: Vom Alten Testament bis Origenes.
München: Beck, 1990, S.174ff.
4
[[De princ. III,6,1 >> Origen:De princ. 3.6.1]]. Auch von den Zeitgenossen
wurde das persönliche Vollkommenheitsstreben mit dem Ziel der
Gottesähnlichkeit als Mittelpunkt der origenistischen Lehre erkannt.
Glücklicherweise hat sich eine Lobrede bzw. Dankrede – schon die literarische
Form ist bezeichnend – des Origenesschülers Gregorius Thaumaturgus
erhalten, die Origenes selbst als Paradigma des Weisen (παράδειγμα σοφοῦ,
Lobrede c.11; vgl. Völker 1931, S.230) preist. Gregorius gibt als Intention
seiner Rede an: „Ich beabsichtige nämlich, über einen Mann zu sprechen, der
zwar der Erscheinung und dem Ansehen nach ein Mensch ist, aber in den
Augen Derjenigen, die das Hervorragende seines Charakters zu überblicken
vermögen, bereits mit dem höheren Schmucke der Vervollkommnung bis zum
Göttlichen ausgestattet ist.“ Lobrede c.2, Margraf 22.
85 ABBILDUNGEN
1
[[De princ. III,6,1 >> Origen:De princ. 3.6.1]], Görgemanns/Karpp 645-647;
vgl. [[De princ. IV,4,10 >> Origen:De princ. 4.4.10]].
2
De princ. I, Praef. 1; [[II,6,1 >> Origen:De princ. 2.6.1]]. Im Sinne dieser
intellektualistischen Christologie ist der Sohn als Wort und Weisheit Gottes der
Weg (via), auf dem die gefallene Seele zurück zum Vater findet. [[De princ.
I,2,4 >> Origen:De princ. 1.2.4]]; vgl. [[III,5,6 >> Origen:De princ. 3.5.6]].
3
[[De princ. I,3,8 >> Origen:De princ. 1.3.8]], Görgemanns/Karpp 183.
86 ABBILDUNGEN
1
Paulus kennt zwar den Begriff der ψυχή, meint damit aber etwas ganz anderes
als die Menschenseele im klassischen Sinn. Es handelt sich im Gegenteil um
die Summe der diesseitig orientierten Kräfte des Menschen. „Der ψυχικὸς
ἄνθρωπος ist nicht ein Mensch, der nur vitale Bedürfnisse hat, sondern der
Mensch, der in einer auf das Irdische beschränkten Lebensrichtung steht ([[1.
Kr 2,10f. >> Bible:1Kor 2,10f]]).“ Bultmann 1980, S.206.
2
Ganz im aristotelischen Sinne (vgl. [[Nik. Eth. 1095b >> Aristoteles:Aristot.,
Nic. Eth. 1095b]]) steht der βίος πολιτικός, den Origenes als Sorge um das
Gemeinwohl charakterisiert, zwischen dem βίος ἀπολαυστικός, der nur die
körperlichen Gelüste befriedigt, und dem βίος θεωρητικός. [[De princ. II,11,1
>> Origen:De princ. 2.11.1]]. Was gegenüber Aristoteles fehlt, ist der
Bezugsrahmen der Polis.
3
Nach Origenes gehört es zu den Fundamentallehren der apostolischen
Überlieferung, „daß die Seele eigene Substanz und eigenes Leben hat
(substantiam vitamque habens propriam), und daß ihr nach ihren Verdiensten
vergolten werden wird, wenn sie aus dieser Welt geschieden ist.“ De princ. I,
Praef. 5, Gögemanns/Karpp 91. Die paulinische Lehre vom corpus Christi
fehlt.
4
Vgl. Voegelin 1991, S.148ff.
88 ABBILDUNGEN
geblieben und der Vollzug des Auftrages Jesu: „Geht und lehrt
alle Völker,“ den er den Aposteln gab, schwieriger gewesen. Es
ist bekannt, daß die Geburt Jesu unter der Regierung des
Augustus erfolgte, welcher in gewisser Hinsicht die meisten
Völker zu einem einzigen Reich zusammengebracht und
vereinigt hatte.1
[[@Page:75]]Was hier noch apologetisch motiviert sein mag,
entwickelte sich unter den Händen des Origenesverehrers Eusebius
von Caesarea zu einer Reichstheologie, auf die sich das
konstantinische Herrscherhaus stützen konnte, und die noch 1000
Jahre später in Dantes Monarchia Eingang fand.2 Origenes selbst
konnte zu keiner fundierten politischen Theorie gelangen, da die
kosmopolitische Anlage seines Gemeinschaftsbegriffs keinen Bezug
auf konkrete Gesellschaften zuläßt. Wie das obige Zitat erkennen läßt,
erhält das Imperium nur insofern eine Vorrangstellung unter den
weltlichen Ordnungsformen, als es der Kosmopolis einen irdischen
Raum zu geben sucht.
Um noch einmal auf den Märtyrer zurückzukommen: Auch seinen
himmlischen Lohn darf man sich nicht materiell vorstellen. Vielmehr
wird seine Belohnung eher einem Philosophen gerecht. Sie besteht in
der totalen Erkenntnis der himmlischen Schau,3 im Empfang des
„ewigen Evangeliums“, des „immer neuen Testaments“ zu dem das
Gesetz und Christus hinführen.4 Hinsichtlich dieses Ziels, das der
ganzen Menschheit gesteckt ist, bilden die Märtyrer eine Avantgarde,
die schon jetzt verwirklicht, was in der Apokatastasis allgemein wird.
Sie haben den Leib verlassen und partizipieren als reine Geistnaturen
an der jenseitigen Glückseligkeit. So dienen sie der Erbauung der
Zurückgebliebenen und halten ihnen ihr himmlisches Ziel vor Augen.5
Hundert Jahre später gibt es kaum mehr Gelegenheit zum
Martyrium, so repräsentiert schon im Spätwerk des Eusebius ein
anderer Stand die Avantgarde der fortschreitenden Vernunftnatur, die
Mönche. Eusebius zitierend schreibt Alfred Adam:
1
[[C. Cels. II,30 >> Origen:Cont. Cels. 2.30]], Röhm I,207.
2
Monarchia II,x,4ff.
3
„Was zögern wir darum und tragen Bedenken, den uns hinderlichen
verweslichen Leib, der die Seele beschwert und den vieldenkenden Geist
niederdrückt, die irdische Hütte, zu verlassen, uns loszumachen von den
Fesseln und fortzusegeln aus den Wogen von Fleisch und Blut, um mit Christo
Jesu die der Seligkeit eigene Ruhe zu genießen, wo wir das ganz und
vollkommen lebendige Wort selber schauen, von ihm genährt werden, seine
überaus mannigfaltige Weisheit erfassen, von der Wahrheit selber gebildet und
im wahren und unvergänglichen Lichte der Erkenntnis geistig erleuchtet
werden […]?“ [[Exh. ad mart. 47 >> Origen:On Mart. 7.47]], Kohlhofer 331.
4
[[De princ. III,8 >> Origen:De princ. 3.8]]; [[IV3,13 >> Origen:De princ.
4.3.13]]; vgl. Offb 14,6; [[Hebr 9,15 >> Bible:Heb 9,15]]; [[12,24 >>
Bible:Heb 12,24]].
5
[[Exh. ad mart. 45 >> Origen:On Mart. 6.45]], Kohlhofer 323.
89 ABBILDUNGEN
Anachoresis
Nach dem Bericht des Athanasius stammte der Ägypter Antonius aus
einem vornehmen Haus und genoß eine christliche Erziehung. 2 Daß er
schon als Kind eine Aversion gegen jede Art schulischer Bildung
gezeigt haben soll, ist angesichts des Zeugnisses seiner Briefe eher
unwahrscheinlich und mag ebenso wie die Schilderung einer
angeborenen Anspruchslosigkeit dem hagiographischen Bestand der
Vita zugerechnet werden. Interessant ist dagegen die Darstellung der
Bekehrung, der jenseits allen historischen Gehalts grundsätzliche
Bedeutung zukommt: Auf dem Weg zum Gottesdienst, etwa im Jahr
270, vertieft sich Antonius in die Situation der Apostel, die „alles
verließen und dem Heiland nachfolgten“, und der frühen Christen, die
nach dem Bericht der Apostelgeschichte all ihren Besitz hingaben, um
ihre Aussicht auf Erlösung zu verbessern.3 Als er die Lesung hört,
kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, das Wort des Evangeliums
sei an ihn persönlich gerichtet.
phantastischer werdenden Spekulation mit dem Gedanken eines Endzustandes,
der Existenz von Parallelwelten und einem allen Kosmoi übergeordneten
Hyperkosmos. [[De princ. II,3,5-7 >> Origen:De princ. 2.3.5-7]]. Seine
endgültige Meinung bleibt im Dunkeln, vielmehr bietet er dem Leser
verschiedene Lösungen zur Auswahl an. Es scheint, als habe Origenes nach
einem Ausweg aus den problematischen Implikationen seiner Kosmologie
gesucht, die Augustinus später deutlich formulierte: Wenn alles, einschließlich
Himmel und Hölle, einer konsequenten Zyklik unterworfen ist, kann die Seele
keine endgültige Erlösung finden. [[De civ. Dei XII,14 >> Augustine:De civ.
Dei 12.14]]. Und namentlich Origenes wirft der Kirchenvater vor, daß seine
Konzeption ebensowenig die ewige Verdammnis der Verworfenen erlaubt.
[[De civ. Dei XXI,17 >> Augustine:De civ. Dei 21.17]].
1
[[De princ. II,1,3 >> Origen:De princ. 2.1.3]]. 291. Bevor Origenes solches
äußert, hat er (bzw. der Übersetzer Rufinus) sich freilich dadurch abgesichert,
daß er die Abhandlung als bloße disputatio ausgibt.
2
[[Vita Ant. I >> Athanasius:Vit. Ant. 1]].
3
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]], Mertel 690/14f.; vgl. Mt 4,20; Apg
4,35.
91 ABBILDUNGEN
[…] und er hörte, wie der Herr zum Reichen sprach: „Wenn du
vollkommen werden willst, wohlan, verkaufe all deine Habe,
und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“1
Noch während des Gottesdienstes verläßt Antonius die Kirche,
verschenkt den ererbten Familienbesitz und verteilt sein Geld an die
Armen. Lediglich eine kleine Restsumme behält er, um für seine
Schwester sorgen zu können, für die er seit dem frühen Tod der Eltern
verantwortlich ist.2 Man kann den symbolischen Gehalt dieser Passage
kaum hoch genug einschätzen. Der Ägypter erkennt im Evangelium
den Aufruf zur Vollkommenheit, der an den einzelnen ergeht, und
dem allein durch den gemeinsamen Gottesdienst der Ekklesia nicht
konsequent entsprochen werden kann. Damit aber nicht genug:
Wieder besuchte er die Kirche und hörte im Evangelium den
Herrn sprechen: „Sorget euch nicht um das Morgen“; da brachte
er es nicht über sich, länger zu warten, sondern er ging hinaus
und gab auch den Rest den Bedürftigen. Die Schwester
vertraute er bekannten, zuverlässigen Jungfrauen an und brachte
sie in einem Jungfrauenhaus zur Erziehung unter; er selbst
widmete sich von nun an vor seinem Hause der Askese, hatte
acht auf sich und hielt sich strenge.3
Dem eher paradigmatischen als biographischen Bericht des
Athanasius entspricht es, daß der Leser den Fortschritt eines
Menschen vom einfachen Gemeindemitglied zum heroischen
Einzelkämpfer verfolgen kann, welcher gleichzeitig Parallelen zur
historischen Entwicklung der christlichen Askese aufweist. Nachdem
er sich vom Besitz getrennt hat, muß sich Antonius von allen
Blutsbanden lösen, die die Seele in der körper[[@Page:78]]lichen
Welt festhalten. Es darf nichts mehr geben, was ihn noch zur „Sorge
um das Morgen“ veranlaßt und vom „Achten auf sich selbst“ ablenkt.
Eine besondere List des Teufels und der Dämonen, von denen in der
Vita Antonii soviel die Rede ist, besteht darin, dem Asketen nicht nur
erotische Gedanken einzugeben, sondern ihn zugleich an seine Familie
zu erinnern.4 So provozieren sie die körperliche Liebe, die keineswegs
nur die Sexualität meint, sondern die Bindung an das Körperliche
überhaupt. Die körperliche Liebe hält die Seele vom Aufstieg ab, und
der Asket muß ihr die spirituelle Liebe zu seinesgleichen, den
Verwandten im Geiste entgegensetzen.5
1
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]], Mertel 691/15; vgl. Mt 19,21.
2
[[Vita Ant. II >> Athanasius:Vit. Ant. 2]].
3
[[Vita Ant. III >> Athanasius:Vit. Ant. 3]], Mertel 690/15f.; vgl. Mt 6,34; 1
Tim 4,13.16.
4
[[Vita Ant. V >> Athanasius:Vit. Ant. 5]]; [[XXXVI >> Athanasius:Vit. Ant.
36]].
5
In fünf der sieben überlieferten Briefe (Ep. III-VII) versichert Antonius seine
asketischen Adressaten seiner spirituellen, auf die Verehrunges Gott
ausgerichteten Liebe (dilectio spiritus culturae dei), die mit leiblicher Liebe
92 ABBILDUNGEN
Bereits von Antonius werden die Techniken berichtet, die die Mönche
entwickelten, um aus der Zeitlichkeit der wandelbaren Körperwelt
Rilkes Vom mönchischen Leben („Denn nur dem Einsamen wird offenbart …“)
und Hölderlins Hyperion oder der Eremit von Griechenland sind zwei ganz
unterschiedliche Manifestationen solchen Strebens. Ebenso konnte sich das
Ganze wieder ins Politische wenden, wenn sich die befreiten Geister fanden,
und der neue Geisterbund die Sehnsucht verspürte, einen Platz auf Erden zu
erobern (Hölderlin). Hierher gehört aber auch das Abenteuer des modernen
Eremiten Henry Thoreau, der ganz praktisch daranging, die Schranken zu
durchbrechen, die die neuenglische Gesellschaft vor jeder unbedingten
Erfahrung aufgebaut hatte.
1
„My dear brethren and joint heirs with the saints, not foreign to you are all the
virtues, but they are yours, if you are not under guilt from this fleshly life, but
are manifest before God.“ Ep. IV, Chitty 12. Das entspricht einem
Antoniuswort, das Athanasius überliefert: „Denn die Tugend besteht darin, daß
die Seele das Vernünftige in sich hat, wie es ihrer Natur gemäß ist. […] wenn
wir bleiben wie wir sind, dann verharren wir in der Tugend; wenn wir aber an
das Schlechte denken, werden wir als Böse befunden „ [[Vita Ant. XX >>
Athanasius:Vit. Ant. 20]], Mertel 710/34f.
2
[[Vita Ant. XX >> Athanasius:Vit. Ant. 20]], Mertel 710/34; vgl. Gen 19,26;
Lk 9,62.
95 ABBILDUNGEN
1
[[Vita Ant. XI-XIII >> Athanasius:Vit. Ant. 11-13]].
2
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 704/28.
3
„Die Verfassung seines Innern aber war rein; denn weder war er durch den
Mißmut grämlich geworden noch in seiner Freude ausgelassen, auch hatte er
nicht zu kämpfen mit Lachen oder Schüchternheit; denn der Anblick der großen
Menge brachte ihn nicht in Verwirrung, man merkte aber auch nichts von
Freude darüber, daß er von so vielen begrüßt wurde. Er war vielmehr ganz
Ebenmaß, gleichsam geleitet von seiner Überlegung, und sicher in seiner
eigentümlichen Art.“ [[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel
705/29; vgl. XXXV; LXVII.
4
Weder Athanasius noch Antonius gehen auf die Sakramente ein. Es ist ja auch
schwer denkbar, wie der Heilige in den zwanzig Jahren, die er eingeschlossen
im Kastell zubrachte, den Ritus vollzogen haben sollte.
97 ABBILDUNGEN
the just.1
Athanasius und Antonius widersprechen sich nicht, wenngleich
letzterer das Pneuma in den Vordergrund stellt. Der Geist ist wie bei
Paulus das aus Gott hervorgehende Konstituens proleptischer
Existenz, doch ganz im Sinne der origenistischen Lehre steht er
sowohl in Verbindung mit dem einzelnen als auch mit der gesamten
Vernunftnatur (λογική φύσις). In einer „liebenden Partnerschaft“
verleiht das Pneuma dem Verstand des einzelnen die Fähigkeit der
Unterscheidung (δίακρισις) zwischen Leib und Seele, den Maßstab,
den er benötigt, um sich schrittweise selbst zu reinigen.2 So bewirkt
das Pneuma die reuige Umkehr (μετάνοια) des Menschen, welche sich
in einen Fortschrittsprozeß äußert, der je nach individueller Leistung
mehr und mehr zurück zur göttlichen Herrlichkeit führt: „And those
who made most progress, He gave more abundant glory.“3
Die Weisheit und Tugend, die der Asket zum Vorschein bringt,
sind aber keine Geistesgaben, sondern, wie bereits bemerkt, die
ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Seele.4 Ein „weiser
Mann“ – so nennt sich Antonius in seinen Briefen – ist jemand, der
sich seines wahren Wesens bewußt geworden ist. Neben seiner
eigenen Geistsubstanz kann die einzige Quelle seines Wissens (γνῶσις)
nur die Bibel sein, in der der Heilige Geist durch Mittelsmänner die
Selbstoffenbarung des Seinsgrundes zu Papier brachte.5
Selbsterkenntnis und Bibellektüre haben nach Ansicht der Mönche das
[[@Page:83]]gleiche Ziel, ein geistliches Wissen um den Ursprung zu
erlangen, aus dem alles weitere folgt. Jede Lektüre heidnischer Texte
würde den Weisen wieder in weltliches Wissen verstricken. Schon bei
Antonius findet sich deshalb die Philosophiefeindlichkeit, für die die
Geschichte des Mönchtums so viele Beispiele kennt. Und bereits
Origenes hatte damit begonnen, die heidnischen Quellen zu
verschweigen und seine Gedanken nur mehr mit Bibelzitaten zu
belegen. Erst diese Entscheidung machte es nötig, reichlichen
Gebrauch von der Allegorese zu machen sowie weitere komplizierte
1
Ep. I, Chitty 5.
2
„Then the Spirit that is his guide begins to open the eyes of his soul, to give
it also repentance, that it may be purified. The mind also starts to discriminate
between the body and the soul, as it begins to learn from the Spirit how to
purify both by repentance. […] Then the Spirit has a loving partnership with
the mind, because the mind keeps the commandments which the Spirit has de-
livered to it. […] the Spirit assigns the rules of purification […].“ Ep. I, Chitty
2-4.
3
Ep. III, Chitty 16.
4
So ist es zu verstehen, wenn Antonius gegen die Philosophen spricht: „Also
wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft.“ [[Vita Ant.
LXXIII >> Athanasius:Vit. Ant. 73]], Mertel 757/81.
5
Vgl. [[Vita Ant. III >> Athanasius:Vit. Ant. 3]]. Athanasius gibt die Ansicht
des Antonius sicher richtig wieder, wenn er sagt, dieser habe seine Askese nur
aus der Schrift gelernt. [[Vita Ant. XLVI >> Athanasius:Vit. Ant. 46]].
98 ABBILDUNGEN
1
Vgl. Rubenson 1990, S.63f.
2
„[…] their intellectual perception died, so that they were not longer able to
know themselves according to their first condition […].“ Ep. II, Chitty 6; vgl.
[[Vita Ant. XXII >> Athanasius:Vit. Ant. 22]].
3
Daß die Verfasser der koptischen Manuskripte auf die Verwendung
griechischer Begriffe angewiesen waren, läßt den hellenistisch-philosophischen
Hintergrund um so deutlicher hervortreten. Rubenson 1990, S.47.
4
„God is One, that is to say, Unity of the intellectual substance. You should un-
derstand this, beloved, that in all places, where there is no harmony, men draw
wars upon themselves, and raise up lawsuits among themselves.“ Ep. III, Chitty
9.
99 ABBILDUNGEN
alles verließen, was sie besaßen, und sich einzeichneten für die
Bürgerschaft (πολιτεία) im Himmel.1
Ehe der symbolische Gehalt dieses Ereignisses ermessen werden kann,
stellt sich noch eine andere Frage: Was war der Inhalt seiner Rede?
Athanasius hält sich an dieser Stelle sehr bedeckt und gibt als Kern
der Predigt die Mahnung an, sich der Menschenfreundlichkeit Gottes
zu erinnern, der, wie Paulus sagt, „seinen eigenen Sohn nicht schonte,
[[@Page:85]]sondern ihn hingab für uns alle“. 2 Gerne würde man
etwas mehr erfahren über das Ergebnis einer Meditation, die immerhin
zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm. Und wieder helfen die Briefe des
Heiligen weiter. Sie bringen das von Athanasius angeführte Zitat aus
dem Römerbrief mit einer anderen Paulusstelle in Zusammenhang, die
schon Origenes gerne zitierte,3 den Christushymnus des
Philipperbriefes:
Er war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern entäußerte sich
und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist, als alle Namen,
damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu
und jeder Mund bekennt:
„Jesus Christus ist der Herr“ –
zur Ehre Gottes, des Vaters.4
Die Kenosis, die göttliche Selbstentäußerung, wurde in einer
spezifischen Deutung schon früh zum elementaren Bestandteil der
monastischen Existenzdeutung und begegnet nach Antonius häufig in
den Basistexten des christlichen Mönchtums.5 Im Kontext der
origenistischen Kosmologie verläuft die Interpretation der Stelle
folgendermaßen:
In der letzten Stufe seines Erziehungsplanes sendet Gott seinen
1
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 705/29. Die
Übersetzung habe ich leicht korrigiert.
2
[[Vita Ant. XIV >> Athanasius:Vit. Ant. 14]], Mertel 705/29; vgl. Röm 8,32.
3
Sh. z.B. De princ. I, Praef. 4; [[I,2,8 >> Origen:De princ. 1.2.8]]; [[II,6,1 >>
Origen:De princ. 2.6.1]].
4
Phil 2,5-11.
5
Sh. z.B. Cassian, Inst. XII,28; [[Reg. Ben. 7,34 >> RuleOfStBenedict:RB
7.34]]; [[Basilii Reg. II,50 >> Basilius:Basil., Regulae morales 2.50]].
101 ABBILDUNGEN
eigenen Sohn. Das heißt, Christus, den Antonius mit Origenes und
dem Johannesevangelium als den präexistenten Logos denkt,
verzichtet auf seine Göttlichkeit und begibt sich in einem kaum
faßbaren Akt der Selbsterniedrigung in die Situation des gefallenen
Menschen; er nimmt die körperliche Gestalt des irdischen Leibes an.
Am meisten zeigt sich Antonius davon beeindruckt, daß es heißt,
Christus sei zum Sklaven geworden. Dies scheint ihm der
entscheidende Punkt zu sein, die Forderung des Evangeliums
schlechthin: So wie Christus sein Fleisch kreuzigte, um wieder
aufzuerstehen, sollen sich alle Menschen in ihrer irdischen Existenz
erniedrigen, um bei der Auferstehung erhöht zu werden. Durch die
Kenosis ist der Heilsweg angezeigt: Christus gab den Menschen ein
Beispiel; sie alle sollen seine Selbsterniedrigung, seinen knechtischen
Gehorsam nachahmen, der ihn selbst den Kreuzestod ertragen ließ.
Von hier aus formt sich das monastische Verständnis von Demut als
zentraler Tugend. [[@Page:86]]
And He became obedient to the Father in everything unto death,
even the death of the cross ([[Phil. 2:8 >> Bible:Phil 2,8]]), that
by His death He might work the resurrection of us all […]. And
indeed we set ourselves free through this advent, we shall be
found disciples of Jesus, and receive in Him the divine inherit-
ance.1
Antonius ruft alle Menschen auf, wie Christus zu Knechten Gottes zu
werden. Denn die Nachahmung des Sohnes wird einst dazu führen,
daß der nach Vollendung Strebende vom Vater adoptiert und selbst
zum Sohn Gottes und Bruder Jesu wird. Er vollzieht gleichsam
spiegelbildlich die Kenosis Christi, entäußert sich seiner
Körperlichkeit und kehrt in die Heimat der Geistwelt zurück.2 Gott
sendet seinerseits das Pneuma, die leitende Kraft, die der
Aufwärtsbewegung des Menschen gnadenhaft entgegenkommt.
Antonius, der beinahe den gesamten paulinischen Symbolapparat
einer neuen, auf die individuelle Eschatologie zugeschnittenen
Bedeutung zuführt, spricht wie der Apostel vom Geist der Adoption.
And each of the rational natures, for which principally the Sa-
viour came, ought to examine his pattern, and know his mind,
and discern between bad and good, so that he may be set free by
His advent. For as many as are set free by His dispensations, are
called the servants of God. And this is not yet perfection, but in
its own time it is righteousness, and it leads to the adoption of
sons. And Jesus our Saviour understood that these were near to
1
Ep. VII, Chitty 26; vgl. [[Vita Ant. LXXIV >> Athanasius:Vit. Ant. 74]].
2
Dementsprechend wird in der Vita Pachomii die Kenosis auf die Mönche
bezogen: „Sie entäußerten sich aller irdischen und vergänglichen Güter, sie
eiferten im Fleische nach dem Wandel der körperlosen Wesen […].“ Vita Pach.
22, Mertel 800/22.
102 ABBILDUNGEN
receiving the Spirit of Adoption, and that they knew Him, hav-
ing been taught by the Holy Spirit; and He said to them,
„Henceforth I will not call you servants, but brothers and
friends: for all things that the Father hath taught me, I have
made known unto you and taught you.“1
Wenn die Mönche durch den Geist der Adoption zu Söhnen Gottes
werden, werden sie zugleich zu Miterben Christi und zu Brüdern –
wie ja nicht zufällig die Selbstbezeichnung der Mönche bis zum
heutigen Tag lautet. Derjenige von ihnen, der durch seine Erfahrung
und charismatische Exzellenz Gott am nächsten steht, wird geistlicher
Vater (pater spiritualis) genannt, Abba, Abt.2 So ist endlich an die
Stelle der leiblichen Familie eine neue Verwandschaftsbeziehung
getreten, eine Gemeinschaft aus Gott, die ganz von der göttlichen
Wirkkraft des Pneumas getragen wird. Anhand von Pauluszitaten faßt
Antonius das monastische Selbstverständnis zusammen:
And they received the spirit of Adoption, and cried out saying,
„We have not received the spirit of bondage again to fear; but
we have received the spirit of adoption, whereby we cry, Abba,
Father.“ ([[Rom. 8:15 >> Bible:Röm 8,15]].) Now therefore, O
God, we know what Thou hast given us – that we are children
and heirs of God, and joint heirs with Christ ([[Rom. 8:17 >>
Bible:Röm 8,17]]).3 [[@Page:87]]
Der Abt, als dessen Urbild seit jeher Antonius verehrt wird, schafft
durch seine Unterweisung Gemeinschaft. Doch handelt es sich bei
dieser Gemeinschaft nicht um die Kirche im Sinne der paulinischen
Ekklesia, und sie hat auch nichts zu tun mit dem Glauben an einen
durch Christi Kreuzestod sich plötzlich eröffnenden kollektiven
Heilsweg – wie ja der Begriff des Glaubens in den Antoniusbriefen
überhaupt keine große Rolle spielt. Die Identifikation mit Christus ist
kein kollektiver Akt, deshalb leidet der Anachoret nicht in
Gemeinschaft, sondern als Eremit in der Einsamkeit der Wüste
(ἐρημία). Es entspricht der individuellen Eschatologie, daß die Präsenz
(παρουία) Christi von den Anachoreten nicht als historisches Ereignis,
sondern als persönliche Begegnung aufgefaßt wird.4 Als einzelner
(μοναχός) ahmt der Eremit Christus nach, wie es ihn der Abt gelehrt
hat.
Offenbarung und Unterweisung enthalten aber nichts, was
außerhalb des Menschen läge und ihm bei-gebracht werden müßte. Sie
1
Ep. II, Chitty 7; vgl. Joh 15,15.
2
Vgl. Bacht 1972, S.214ff.
3
„And they received the spirit of Adoption, and cried out saying, ‚We have not
received the spirit of bondage again to fear; but we have received the spirit of
adoption, whereby we cry, Abba, Father.‘ ([[Rom. 8:15 >> Bible:Röm 8,15]].)
Now therefore, O God, we know what Thou hast given us – that we are chil-
dren and heirs of God, and joint heirs with Christ (Rom. 8:17).“ Ep. II, Chitty 7.
4
Rubenson 1990, S.76f.
103 ABBILDUNGEN
1
„Ein andermal sagte er [Antonius]: ‚Vom Nächsten her kommen uns Leben
und Tod. Gewinnen wir nämlich den Bruder, so gewinnen wir Gott […].‘“ Ap.
Patr., Antonius 9, Miller 16.
2
[[Vita Ant. XLVII >> Athanasius:Vit. Ant. 47]]; [[LXXXIV >>
Athanasius:Vit. Ant. 84]]. „Mögen sie selbst auch im verborgenen leben,
mögen sie auch wünschen, verborgen zu bleiben, der Herr zeigt sie doch allen
wie Leuchten, damit so auch die, welche es hören, erkennen, daß seine Gebote
geeignet sind zur Vollkommenheit und damit sie das eifrige Streben nach dem
Weg zur Tugend gewinnen.“ [[Vita Ant. XCIII >> Athanasius:Vit. Ant. 93]],
Mertel 776/100; vgl. [[XCIV >> Athanasius:Vit. Ant. 94]].
3
Ep. II, Chitty 8.
4
Ep. VI, Chitty 22; vgl. Ep. III, Chitty 10: „And He humbled Himself, and by
his stripes we all were healed. ([[Phil. 2:8 >> Bible:Phil 2,8]]; [[Isa. 53:5 >>
Bible:Jes 53,5]].) And by the word of His power He gathered us out of all
lands, from one end of the world to the other end of the world, and raised up
104 ABBILDUNGEN
Wie sich die Entwicklung aus der Sicht des modernen Historikers
darstellt, sei nur kurz zusammengefaßt:1 Um die charismatischen
Pioniere, die Altväter, bildeten sich bald lose Anachoretenkolonien.
Jeder Mönch übte sich als Individuum in einer abgeschlossenen
Behausung, es gab weder feste Bindungen an andere Personen, noch
verbindliche Vorschriften. Man suchte lediglich die Väter auf, um von
ihnen Worte der Weisung zu erbeten, die im Sinne dieses
anarchischen Lebens lediglich den Charakter eines Rates hatten. In
Gestalt der Apophthegmata Patrum und Cassians Collationes – um
nur die berühmtesten Sammlungen zu nennen – gingen die
Vätersprüche in den literarischen Schatz des Christentums ein.
Innerhalb kürzester Zeit nahmen die Kolonien die Dimension von
Städten an, in die es, selbst wenn man die enthusiastischen
Schätzungen der Zeitgenossen vorsichtig bewertet, Tausende von
Menschen zog. Selbstverständlich kamen mit den Gläubigen, für
deren Erlösungsbedürfnis der Gottesdienst der Gemeinde nicht mehr
ausreichte, auch die Priester in die Wüste und achteten darauf, daß sie
das große Ereignis des massenhaften Vollkommenheitsstrebens nicht
außerhalb der Ekklesia vollzog. Daß sie versuchten, die Anachoreten
durch das Sakrament in die Kirche einzubinden, wurde scheinbar
nirgendwo als Widerspruch empfunden. Im Gegenteil, wie bei
Klemens von Alexandrien, einem weiteren Lieblingsautor der
ägyptischen Anachoreten, zu sehen, wurde das Sakrament als
Voraussetzung und Grundlage der Vollkommenheit gerechnet. Doch
die Weisung zu höherer Vollendung, zur Aktualisierung des
sakramentarisch gewährten Potentials, erteilte der Abt.
Es zeichnet sich ein Konflikt ab, der beinahe die gesamte
Kirchengeschichte durchzieht: Mit dem Erfolg des Mönchtums
entstand neben den Amtscharismatikern die konkurrierende Elite der
Äbte. Im Westen, wo vor allem Gregor der Große das Mönchtum in
die Kirche eingebunden hatte, gelang es vielerorts den Konflikt zu
lösen, indem Mönch und Kleriker in symbiotischen Verhältnissen
oder gar in Personalunion die Gemeinschaft ordneten; 2 doch stellte
sich natürlich von Anfang an die allgemeine Frage nach der
Hierarchie der Lebensformen, hinsichtlich der irdischen Ordnung
ebenso wie hinsichtlich der himmlischen. Angesichts dessen, was
oben über das Problem der Auferstehung gesagt wurde, ist es
bezeichnend, daß in Ägypten, wo die Konflikte in brutale Gewalt
umschlugen, ein Argument eine besondere Rolle spielte: Die Mönche
our hearts from the earth, and taught us that we are members one of another.“
1
Zum folgenden Dunn 2000, S.13ff; Frank 1996, S.20ff.; Knowles, David:
Geschichte des christlichen Mönchtums. Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser.
München: Kindler, 1969, S.10ff.
2
Prinz, Friedrich: Askese und Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum
an der Wiege Europas. München: Beck, 1980, S.19ff.
105 ABBILDUNGEN
1
Es ist bezeichnend, daß Athanasius auf das schon erwähnte Apostelwort Phil
3,20 anspielt, die einzige Stelle, in der Paulus eine im engeren Sinne politische
Terminologie anbietet.
107 ABBILDUNGEN
Koinonia
Der Mann, der das Werk in Angriff nahm, die proleptische
Gemeinschaft der Mönche zu ordnen, war der Kopte Pachomius
(292?-346). Als er eine Generation nach Antonius, aber noch zu
dessen Lebzeiten, seine ersten Erfahrungen mit der Anachorese
machte, konnte er den Enthusiasmus nicht teilen, der aus dem Werk
des Athanasius spricht.
Wie zu Beginn der Vita Antonii den abendländischen Adressaten
mitgeteilt wird, daß sie in einen Wettstreit gegen die ägyptischen
Mönche getreten sind,1 hatte zuvor schon Origenes den kompetitiven
Charakter der Askese herausgestellt. In diesem Bewußtsein führte die
Befreiung aus der Körperlichkeit zu immer extremeren Formen, für
die die syrischen Säulenheiligen nur das bekannteste Beispiel sind.
Zahllos sind die Klagen über neue Formen der Eitelkeit und des
Stolzes über die eigene Entsagungsleistung.2 Andererseits konnten
nicht alle, die es versuchten, den hohen Zielen der Wüstenväter
gerecht werden. Rückfälle in „weltliche“ Gepflogenheiten waren
nichts Seltenes. Antonius hatte deshalb den Mönchen, denen es in der
Einsamkeit an der Maßregelung durch andere ermangelte, empfohlen,
schriftlich über den Zustand ihres Gewissens Rechenschaft
abzulegen.3 Doch auch bei dieser Art der Buchführung wird es zu
Schlampereien gekommen sein.
Das dritte und wahrscheinlich größte Problem indes bestand darin,
daß die große Masse der Menschen, die um der Erlösung willen den
Vätern in die Wüste gefolgt war, [[@Page:92]]keineswegs das
intellektuelle Niveau der großen Vorbilder teilte, ja oft noch nicht
einmal lesen und schreiben konnten. Was der ungebildete Anachoret
dachte, läßt sich schwer sagen, da es niemandem der Überlieferung
wert schien. Doch ist es bekannt, daß die einfachen Kopten zwar zur
Askese bereit waren, weniger aber dazu, ihre anthropomorphen
Gottesvorstellungen dem schwer zugänglichen Origenismus ihrer
Anführer zu opfern.4
Jedenfalls muß dem ehemaligen Legionär Pachomius der
ausufernde Individualismus und die Disziplinlosigkeit, die er bei
seinem Einzug in die Wüste zu Gesicht bekam, ein Graus gewesen
sein.5 Es ist von Bedeutung, daß es ein (wenn auch
1
Vita Ant., Prolog.
2
Davor warnt schon Antonius, Ep. VI.
3
[[Vita Ant. LV >> Athanasius:Vit. Ant. 55]].
4
Manche Kleriker, denen in der Wüste gefährlich Konkurrenten erwachsen
waren, wußten sich die Widerstandskraft des Mobs zunutze zu machen. Vgl.
Chadwick 1968, S.24ff.
5
Der Erzählung nach lernte Pachomius schon als Anachoret von seinem Lehrer
Palamon, daß die demonstrativ zur Schau gestellte Virtuosität mancher Asketen
109 ABBILDUNGEN
Pachomius das hohe Ziel des Mönchtums aus den Augen verloren
hätte: die Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis der eigenen
Geistnatur.
Im folgenden werden zentrale Gesichtspunkte der
pachomianischen Ordnungskonzeption vorgestellt. Dabei gilt es zu
bedenken, daß die Regel des Ägypters das Vorbild aller christlichen
Kloster- und Ordensverfassungen abgibt, bis hin zu neuzeitlichen
Gründungen wie den Jesuiten. Und: Die Konzeption des Pachomius
lebte nicht nur in der lateinischen Kirche weiter, sondern durch die
Vermittlung des Basilius und anderer auch in Byzanz. Joachim von
Fiore erkannte sehr gut, daß das Mönchtum die spirituelle Einheit
des Christentums besser bewahrt hatte als die Orthodoxien der
Amtskirchen und gedachte ihm die Rolle des Mittlers (mediator)
zwischen Ost und West zu. 1
1. Armut und gemeinschaftliches Eigentum: Während selbst die
strengsten Anachoreten auf ein Minimum an Eigentum (Zelle,
Gewand, Bibel etc.) nicht verzichten konnte, gelang es den
Koinobiten, die Armutsforderung des Evangeliums konsequent zu
verwirklichen. Nur wenn alles Gemeinbesitz ist (cum omnia in
comune sint),2 ist die Nachahmung der Urgemeinde möglich, wie sie
die Apostelgeschichte schildert:
Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele.
Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum,
sondern sie hatten alles gemeinsam. 3
Obwohl Kleidung, Behausung, Nahrung und Bücherbestand den
Standard der Ere[[@Page:97]]miten bei weitem überstiegen, so war
doch das Privateigentum endgültig abgeschafft. 4
2. Uniformität: Wer das Kloster betritt, wird uniformiert. Er zieht
die weltliche Kleidung aus und legt den Mönchshabit (habitus
monachorum) an.5 Damit grenzt sich die geistlich orientierte
Bruderschaft einerseits optisch gegenüber den Weltmenschen
(saeculares homines) ab und betont andererseits die Gleichheit der
Asketen, unabhängig von Rang, Bildung und Fähigkeiten. Bis ins
Detail schreibt die Regel vor, welche Kleidungsstücke bei welcher
Gelegenheit erlaubt sind und auf welche Weise sie zu tragen sind.6
Doch die Uniformierung geht noch weiter: Einzelne
1
Conc. IV,8, fol.48ra, Daniel 351,33-36
2
Lib. Ors. 21.
3
[[Apg. 4,32 >> Bible:Apg 4,32]].
4
Reg. Pach. Praec. 81f.; „Welchen Anlaß haben wir da noch, irgend etwas zu
eigen besitzen zu wollen, und handelte es sich auch nur um einen Strick oder
einen Schuhriemen.“ Lib. Ors. 21, Bacht 107; vgl. Lib. Ors. 26f.
5
Reg. Pach. Praec. 49
6
Reg. Pach. Praec. 2, 98f.
115 ABBILDUNGEN
1
„Glückselig der Mensch, der den Herrn fürchtet (Ps 11,1) und den er züchtigt,
um ihn zu bessern, und den er sein Gesetz lehrt (Ps 93,12), damit er in seinen
Satzungen wandle (vgl. Ps 118,32) alle Tage seines Lebens (vgl. Dtn 6,2).“ Lib.
Ors. 3, Bacht 63.
2
Reg. Pach. Praec. 139; Iud. 11.
3
Reg. Pach. Iud. 11.; Lib. Ors. 10f.; 14; 16, 31.
4
Vgl. Rousseau 1985, S.90f., 130ff.
5
„Wenn es Gottes Gebote sind, die er uns durch unseren Vater überliefert hat
und durch deren Befolgung wir zum Himmelreich gelangen können, dann
wollen wir sie auch aus ganzem Herzen erfüllen.“ Lib. Ors. 28, Bacht 135.
6
Z.B. Reg. Pach. Praec.40-45.
7
Reg. Pach. Iud. 4. Daß hier Anweisung gegeben wird, den Delinquenten
außerhalb der Mauern zu verprügeln, bedeutet wohl, daß Gewalt im Kloster zu
vermeiden ist.
8
Alle drei Tage wurden Süßigkeiten (tragematia) verteilt, die man sogar mit in
die Zelle nehmen durfte. Reg. Pach. Praec. 37f.
118 ABBILDUNGEN
1
Vgl. Lib. Ors. 46.
2
Lib. Ors. 34, Bacht 145; vgl. 2 Tim 2,5.
3
Lib. Ors. 47f., 53.
4
Reg. Pach. Praec. 1.
5
Lib. Ors. 2. „Laßt uns des Herrn eingedenk sein und (der Gedanke an)
Jerusalem steige in unserem Herzen auf (Jr 51,50).“ Lib. Ors. 4, Bacht 65. Die
Abgehobenheit der proleptischen Gemeinschaft zeigt sich vielleicht am
deutlichsten darin, daß die Mönche bisweilen sogar in einer spirituellen
Sprache (lingua mystica, alfabetum spirituale) kommunizieren, die weltliche
Menschen nicht mehr verstehen können. Reg. Pach. Praef. Hier. 9. Die
Sprache, in der einige überlieferte Schriftstücke verfaßt sind, ist trotz vieler
Versuche bis heute nicht entschlüsselt. Vgl. Bacht 1983, S.81, Anm.66.
6
Lib. Ors. 22, Bacht 113; vgl. Gn 28,12; Lib. Ors. 43.
7
Lib. Ors. 23.
8
Denn die Konvente der Mönche sind in Wahrheit das Haus Gottes und der
Weinberg der Heiligen (conciliabula monachorum vere Dei domus est et
sanctorum vinea). Lib. Ors. 28, Bacht 135.
121 ABBILDUNGEN
Vollendung aus, die Anachorese oder die Koinonia? Wie steht der
Mönch zur allgemeinen Kirche, zur Ekklesia (Pachomius nennt den
Begriff kein einziges Mal!)? Wie geht man mit dem wirtschaftlichen
Erfolg und dem zunehmenden Wohlstand der Klöster um? Wie kann
der Anspruch auf geistliche Gemeinschaft von Körperwesen eingelöst
werden? Was bedeutet die Ausdifferenzierung des Christentums in
verschiedene Lebensformen? In Joachims Jahrhundert wurden jene
Fragen angesichts der rasanten Entwicklung des Mönchtums so
aktuell, wie sie es seit der Spätantike nicht mehr waren.
[[@Page:104]]
POLITIKBERATUNG
[[@Page:106]]
Augustinus dachte keineswegs in jeder Beziehung „anti-
apokalyptisch“, vielmehr übernahm er in der Nachfolge des Paulus
den apokalyptischen Traditionsbestand, soweit er der Symbolik der
Ekklesia nicht entgegenstand. Dazu gehören der Erbsündenmythos,
die Lehre von einem unwandelbaren Plan Gottes, die Abwertung des
Diesseits zugunsten einer auf das Jenseits gerichteten Eschatologie,
der Universalismus, die Erwartung des Jüngsten Gerichts, die Lehre
von der leiblichen Auferstehung, insgesamt also zentrale Inhalte der
nunmehr christlichen Doktrin. Einige Symbole aber mußten neu
gedeutet werden, wenn sie das katholische Kirchenverständnis nicht
gefährden sollten. Denn diese Gefahr bestand durchaus. In den Jahren
nach der Erstürmung Roms durch die Westgoten unter Alarich (410)
war offenbar geworden, daß die Reichstheologen die
heilsgeschichtliche Verbindung zwischen Imperium und Kirche zu
eng geknüpft hatten, so daß mit dem Untergang des Reiches auch der
Untergang der Kirche zu befürchten stand. Wie Hieronymus sahen
viele Christen das Haupt des Reiches abgeschlagen (Romani imperii
truncatum caput) und das Licht der Erde erloschen (clarissimum
terrarum omnium lumen extinctum).1 Die Erfahrung des
Ausgeliefertseins an die Barbarenvölker ist in gewisser Weise mit der
Erfahrung der jüdischen Apokalyptiker unter Diadochen und Römern
vergleichbar. Denn wenn das Imperium als irdische
Durchsetzungsmacht der Kirche verstanden wurde, bedeutete sein
Untergang, daß die Politik nun von anderen, antichristlichen (oder
mindestens arianischen) Kräften gestaltet wurde. Wiederum konnte
die Welt als Schlachtfeld der widerstreitenden Mächte verstanden
werden, auf welchem dem einzelnen nichts anderes blieb, als am
Glauben festzuhalten und den Blick fort von der Welt ausschließlich
auf das Jenseits zu richten. Zwar war es keineswegs zwingend, daß der
Barbarensturm die gleiche Interpretation zur Folge hatte wie die
Diadochenherrschaft, aber der reiche Traditionsbestand an
apokalyptischer Symbolik bot diese Möglichkeit.
Das politische Hauptwerk des Augustinus, [[De civitate Dei >>
Augustine:De civ. Dei]], vermittelt einen Eindruck davon, wie
zahlreich die „Mißdeutungen“ jener Katastrophe waren, gegen die die
katholische Kirche den Anspruch behaupten mußte, weiterhin als
Ordnungsmacht zu existieren und auch fortan die Leitung der
Gläubigen in der Hand zu behalten. In [[Buch XX >> Augustine:De
civ. Dei 20]] wendet sich der Kirchenvater gegen die neu erblühte
Apokalyptik und verleiht der orthodoxen Deutung der
Geschichtsdeutung des Augustinus zu vereinbaren waren (vgl. Kamlah 1935,
S.9ff.), läßt sich für die Zwecke dieser Arbeit eine Beschränkung auf den
Kirchenvater rechtfertigen.
1
Demandt, Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches
im Urteil der Nachwelt. München: Beck, 1984, S.58.
126 ABBILDUNGEN
Das Tier, das nach Ansicht der Apokalyptiker die Macht bezeichnet,
die den endzeitlichen Angriff auf die Gläubigen unternimmt, steht für
die civitas terrena, die mit der Bürgerschaft Gottes seit jeher im Streit
liegt.1 7. Die Herabkunft des himmlischen Jerusalem beschreibt nichts
weiter als das stetige Wachstum der Glaubensgemeinschaft seit Christi
Geburt.2 Und so weiter.
Die Exegese der Johannesoffenbarung durch Augustinus läßt sich
so zusammenfassen: Die Apokalypse erlaubt keine Deutung
geschichtlicher Ereignisse. Sie beschreibt die grundsätzliche Situation
der Gläubigen in christlicher Zeit (a primo scilicet aduentu Christi
usque in saeculi finem) und weiter nichts.3
Es ist nicht nötig, an dieser Stelle die Entwicklungen in der
Apokalypsenauslegung der folgenden Jahrhunderte nachzuzeichnen.
Nicht daß es keinen Wandel gegeben hätte, aber grundsätzlich gilt: Im
Rahmen der orthodoxen Exegese, wie sie sich etwa in den Glossen
fand,4 wurde niemals versucht, die Offenbarung des Johannes auf die
Ereignisse der geschichtlichen Gegenwart hin auszulegen. Niemals
wurde die nicht-apokalyptische Interpretation der Apokalypse, welche
infolge der zunehmenden Autorität des Augustinus immer
verbindlicher wurde, wesentlich durchbrochen. Ein grundlegender
Wandel trat erst um die Wende zum 12. Jahrhundert ein, als Resultat
von Erfahrungen, die im Zusammenhang mit jener
Auseinandersetzung stehen, die die Geschichtsschreibung den
„Investiturstreit“ nennt. [[@Page:110]]
1
„Es ist ebenso ungerecht, königliche ‚Übergriffe‘ ins kirchliche Gebiet
generell als Wirkung persönlicher Herrschsucht oder gar Verworfenheit zu
bezeichnen wie die Ausdehnung kirchlicher Befugnisse auf eigentlich weltliche
Angelegenheiten, so sehr solche Motive mitgesprochen haben mögen. Denn
Staat wie Kirche – um einmal diese sachlich nicht ganz gemäßen, aber üblichen
Begriffe anzuwenden – mußten beide sich selbst als die obersten, von Gott
gegebenen sozialen Körper betrachten, die alles einschlossen und beherrschten.
Es war nur konsequente Pflichterfüllung, wenn die Häupter der beiden
Institutionen sich selbst für die Gesamtheit der menschlichen Lebenstätigkeiten
Gott gegenüber für verantwortlich hielten.“ Tellenbach 1936, S.77f.
2
Vgl. Struve, Tilman: „Regnum und Sacerdotium“, in: Iring Fetscher und
Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd.2:
Mittelalter: Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation. München:
Piper, 1993, S.189-242, S.190.
3
Sivers, Peter von: „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.): Respublica Christiana.
Politisches Denken des orthodoxen Christentums im Mittelalter. München:
List, 1969, S.12f. Struve 1993, S.190, 195f.; Ullmann, Walter: Die
Machtstellung des Papsttums im Mittelalter. Idee und Geschichte. Graz u.a.:
Styria, 1960, S.195ff.
131 ABBILDUNGEN
kirchlichen corpus kam den weltlichen Fürsten zwar nach wie vor die
Funktion zu, die Kirche zu schützen, doch deren Ausübung unterstand
der Urteilskraft der ordinierten Glieder. Von der Verteilung der
höheren Charismen sahen sich die Laien ausgeschlossen.1 Der
bedeutende Reformtheoretiker Humbert von Selva Candida etwa
kommt zu einem Ergebnis, das Walter Ullmann wie folgt
zusammenfaßt:
Priesterstand und weltlicher Arm in der Kirche verhalten sich
also zueinander wie Seele und Leib, Sonne und Mond, Haupt
und Glieder. Die Kaiser im Westen und im Osten sind die
weltlichen Arme des Papstes.2
Die Laienherrschaft wurde einer zunehmenden Profanisierung
unterzogen, die in letz[[@Page:113]]ter Konsequenz tatsächlich auf
die Konstituierung einer autonomen Sphäre der weltlicher Macht
hinauslaufen konnte – auch wenn dies keineswegs in der Absicht der
Reformer lag. Wenn die Gregorianer nach der libertas ecclesiae riefen
und damit die Freiheit der Kirche von Laienhand meinten, so war klar,
daß dieser Begriff von Kirche den Priesterstand, aber nicht mehr die
Laien umfaßte.3 Seit Gratian galten für Laien und Klerus endlich auch
getrennte Rechtsbereiche.4 Nicht nur die Konflikte zwischen Kirche
und Reich, sondern gerade die Friedensschlüsse zeigten, was sich
verändert hatte: seit dem Vertrag von Konstanz (1153) hatten sie die
Form bilateraler Abkommen.5
Nun konnte aber die Herrschaft über die Christenheit nie etwas
anderes sein als die stellvertretende Ausübung des Königspriestertums
trennt, sondern den Klerus von den Laien. Ullmann 1960, S.2.
1
Ullmann 1960, S.389ff.
2
Ullmann 1960, S.392.
3
Die katholische Kirchenhistoriker Joseph Lortz beschreibt den
ordnungspolitischen Anspruch der gregorianischen Reform wie folgt: „Die
Forderung der ‚libertas‘ wird in programmatischer Zuspitzung und Ausweitung
in den Mittelpunkt gestellt: sie ist die zentrale Idee, nach der im augustinischen
Sinn die Macht verwaltet und Gerechtigkeit und Frieden in der ganzen
Christenheit verwirklicht werden soll. Insofern diese ‚Freiheit‘ als ‚libertas
ecclesiae‘ aufgefaßt wurde, zeigt sich eine folgenreiche Einschränkung der
Kirchenvorstellung: als ‚Kirche‘ im eigentlichen Sinn erscheinen vorzugsweise,
ja beinahe nur deren amtliche Repräsentanten: die Laien waren in dieser Sicht
eher Objekt der Betreuung als mündige Glieder.“ Lortz, Joseph: Geschichte der
Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung. Bd.1: Altertum und Mittelalter.
Münster: Aschendorff, 1962, S.296. Diesen Wandel muß sogar der stets auf die
Kontinuität der Rechtsbegriffe bedachte Walter Ullmann eingestehen:
„Offensichtlich meint Gregor mit ‚ecclesia‘ nicht die universale Kirche,
sondern den geistlichen Stand in der universalen ecclesia.“ Ullmann 1960,
S.430.
4
Kempf 1960, S.113; Beinert 1973, 126f.
5
HbKg III/2, S.71f.
134 ABBILDUNGEN
*
1
Beinert 1973, S.80.
2
Ullmann 1960, S.352ff.
3
[[De cons. IV,iii,7 >> Bernard_of_clairvaux:Bernard, Cons. 4.3.7]], Winkler
I,748,11-14.
136 ABBILDUNGEN
Schon Beda Venerabilis war aufgefallen († 735), daß die Struktur der
Johannesapokalypse von der Zahl Sieben dominiert wird. Der
Gregorianer Bruno von Segni († 1123) betonte, daß in den sieben
Teilen der Apokalypse Verfolgungen prophezeit würden, die der
Antichrist zwischen Christi Geburt und dem Weltende gegen die
Kirche unternehmen werde. Nur der letzte Teil der Offenbarung weise
auf den Sabbat des Gottesvolkes hin. 1 Damit war klar, wie man die
weltlichen Gegner des Papsttums künftig verstehen wollte. Aber noch
scheute man sich, konkrete historische Figuren und Ereignisse der
Gegenwart mit bestimmten Stellen der Apokalypse zu identifizieren.
Die Autorität des Augustinus war mächtig und nicht von einem Tag
auf den anderen zu beseitigen.
Ohne eine wirkungsgeschichtliche Linie ziehen zu wollen, seien
ein paar Namen genannt:2 Rupert von Deutz († 1129) suchte nach
einer Erklärung für den Investiturstreit und meinte, sie in der Struktur
der Apokalypse zu finden.3 Die vom Heiligen Geist geschaffene
Ordnung sollte ihm einen genaueren Einblick in den Verlauf der
Geschichte erlauben, allerdings wagte er sich in der konkreten
Geschichte nicht weiter als bis zu Konstantin. Eine grundlegende
Neuerung wurde von Anselm von Havelberg († 1158) eingeführt, der
die sieben Siegel der Offenbarung mit den sieben Status der Kirche
gleichsetzte und damit die augustinische Auslegung endgültig hinter
sich ließ. Gerhoch von Reichersberg († 1169) bezog sich bei seiner
Exegese schon ganz konkret auf den Streit zwischen Barbarossa und
Papst Alexander III.4
Das Grundmuster der Gegenwartsdeutung war also gegeben: Die
Auseinandersetzungen zwischen Reich und Kirche sind als eine
Epoche im Kampf zwischen den Anhängern des gerechten Gottes und
1
„In omnibus enim Ecclesiae persecutiones narrantur, praeter quod in ultimo
coelestis Jerusalem aedificia describuntur.“ Zit. nach Kamlah 1935, S.19.
2
Üblicherweise werden die im folgenden aufgeführten Autoren dem
„deutschen Symbolismus“ zugerechnet. Der Begriff wurde von Alois Dempf
geprägt. Sh. Dempf 1954, v.a. S.229ff. Auch wenn Dempfs Charakterisierung
jener Denker nach wie vor zu den interessantesten gehört, die je geschrieben
wurden, scheint es doch problematisch, den Begriff „Symbolismus“ auf
bestimmte historische Epochen oder Denkrichtungen zu beschränken.
Sinndeutende Äußerungen des Menschen sind immer symbolisch. Zwar sind
die Symbole der monastischen Theologie stärker an die visuelle Wahrnehmung
gebunden als die Symbole der Scholastik, wie „Vernunft“ oder „Wesen“, aber
dies ist kein prinzipieller Unterschied. In jedem Fall muß ein geistiger
Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft werden. Vgl.
Cassirer, Ernst: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der
Geisteswissenschaften“, in: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs.
Darmstadt: Primus, 81997, S.169-200, S.175; Gebhardt 1980, S.41-61, S.46ff.
3
McGinn 1999, S.81f; Kamlah 1935, S.75ff.
4
McGinn 1999, S.82.
137 ABBILDUNGEN
1
Jakobs 1999, S.166.
2
Vgl. Spörl, Johannes: Grundformen hochmittelalterlicher
Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12.
Jahrhunderts. 2., unveränd. Aufl. München: Hueber, 1935, S.73ff.
3
Norman Cohns klassische Studie (Cohn 1998), die heterodoxe Formen der
Apokalyptik in den Vordergrund stellt, vermittelt daher schiefes Bild der
apokalyptischen Hauptströmungen im Hochmittelalter. Vgl. McGinn, Bernard:
„Apocalypticism and Church Reform: 1100-1500“, in: Ders. (Hrsg.): The En-
cyclopedia of Apocalypticism. Vol.2: Apocalypticism in Western History and
Culture. New York: Continuum, 1999, S.74-109, S.78.
140 ABBILDUNGEN
2. Die Anfänge
Herkunft und Jugend Joachims von Fiore liegen im Dunkel. Die
biographischen Informationen, die sich in seinen Schriften finden,
betreffen fast ausschließlich seine Zeit als Abt. Allerdings gibt es eine
fragmentarisch überlieferte Biographie, die wohl bald nach Joachims
1
Kamlah 1935, S.16.
2
Dempf 1954, S.179.
3
McGinn 1999, S.85.
141 ABBILDUNGEN
Tod von einem Gefährten1 anonym verfaßt wurde und (im Gegensatz
zur zweiten zeitgenössischen Biographie, die von Bischof Lucas von
Cosenza, dem ehemaligen Schreibgehilfen Joachims, stammt) einiges
über Joachims junge Jahre berichtet. Wenn man den groben Linien
dieses Textes folgt, ergibt sich ungefähr das folgende, durchaus
glaubhafte Bild:2
Joachim wurde um 1135 im Dorf Celico geboren, das im
kalabresischen Sila-Gebirge liegt. Damit wuchs er unter der
Herrschaft der Normannen auf, deren süditalienisches Reich nun
schon über ein Jahrhundert lang Bestand hatte und in der Mitte des 12.
Jahrhunderts eine gewisse Blüte erlebte. Es muß heute betont werden,
daß Süditalien damals im Mittelpunkt des „Weltgeschehens“ lag, vor
allem in der Regierungszeit Heinrichs VI., in die Joachims reife Jahre
fallen. Der Kalabrese entstammt einer gebildeten und wahrscheinlich
einigermaßen wohlhabenden Familie. Über eine jüdische
Abstammung wurde immer wieder spekuliert, aber wirkliche Beweise
gibt es nicht. Die Schriften des Abtes sprechen eher gegen eine solche
Annahme.3 Joachims [[@Page:120]]Vater war ein Notar, der in den
1
Wahrscheinlich handelt es sich um einen Florenser, der bei der Gründung im
Sila dabei war. Wessley 1990, S.30.
2
Ein abschließendes Urteil über diesen Text fällt recht schwer. Einerseits
verzichtet der Autor – ganz im Gegensatz zu späteren Berichterstattern – auf
Erzählungen von Joachims Wundertätigkeit (Sh. hierzu die schöne Sammlung:
Adorisio, Antonio Maria: La ‚legenda‘ del santo di Fiore. B. Ioachimi abbatis
miracula. Manziana: Vechiarelli, 1989). Allerdings begegnen auch Motive, wie
etwa der kompromißlose Bruch mit dem leiblichen und die Entscheidung für
den himmlischen Vater, die man aus mittelalterlichen Hagiographien kennt. Die
für die Biographie Joachims wichtigste Sekundärquelle ist Grundmann,
Herbert: „Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza“, in:
Ders.: Ausgewählte Aufsätze Teil 2: Joachim von Fiore. Stuttgart: Hiersemann,
1977, S.255-360. Dort finden sich Editionen der beiden zeitgenössischen
Joachim-Viten. Grundmann hat die Texte mit anderen Quellen konfrontiert und
hält sie insgesamt für glaubwürdig. Der italienische Kirchenhistoriker Gian
Luca Potestà hat für das Jahr 2004 eine Biographie Joachims von Fiore
angekündigt.
3
Auch die jüngste Untersuchung kann die These von einer jüdischen
Abstammung nicht überzeugend belegen. Lerner, Robert E: The Feast of Saint
Abraham: Medieval Millenarians and the Jews. Philadelphia: University of
Pennsylvania Press, 2000, S.5-37. Andere wichtige Beiträge zum Thema sind:
Hirsch-Reich, Beatrice: „Joachim von Fiore und das Judentum“, in: West 1975,
Bd.2, S.473-510; Grundmann 1977, S.333-341; Iiritano, Massimo: „Gioacchino
da Fiore e l’ebraismo“, in: Florensia 13/14 (1999/2000), S.139-158. Die ganze
Diskussion wurde ausgelöst durch die Entdeckung einer Polemik von Joachims
Feind Gottfried von Auxerre, in der dieser behauptet, Joachim habe sein
Judentum noch nicht ausgespien und seine Getreuen würden seine wahre
Herkunft verschweigen. Nun mußten Konvertiten in jener Zeit, die zwar
Antijudaismus, aber keinen Antisemitismus kannte, ihre jüdische Abstammung
keineswegs leugnen; es ist daher auch nicht einzusehen, warum Joachim das
getan haben sollte. Es ist richtig, daß er sich jüdischer Buchstabensymbolik
142 ABBILDUNGEN
a) Die Genealogie der heiligen alten Väter wird von Adam bis zu
Jakob gewoben und der Stamm des Baumes genannt. Von Jakob an
aber beginnt [der Baum] die Zweige der zwölf Stämme [Israels]
auszutreiben, bis zur Zeit von König Usija. Von Usija bis zu Christus
erstrecken sich zwei Äste, also die beiden Stämme Juda und
Benjamin, die [nach dem Untergang des Nordreiches] übrigblieben
sind. Dieser Baum ist dem Feigenbaum nachgebildet, den der Herr
verfluchte, weil er keine Frucht an ihm finden konnte. 1 Sowie aber
dieser Feigenbaum einen Anfang (initium) hatte, ein Wachstum
(profectus) und ein Vergehen (defectus), so hat auch der andere Baum,
der Weinstock des Neuen Testamentes freilich, also die Kirche, seinen
Anfang, sein Wachstum und sein Vergehen. Der Anfang und
gleichsam der Stamm dieses Weinstockes wurde dem Feigenbaum
aufgepfropft, weil die Kirche ihren Ausgang von der Synagoge nahm.
b) Daher begann dieser Stamm in den Zeiten Usijas, wie sie sagen, als
Jesaja weniger wie ein Prophet, sondern eher wie ein Evangelist
predigte. Dort nämlich begann das Neue Testament, als zum ersten
Mal das Evangelium gepredigt wurde; dort also befand sich eine
gewisse Mitte, wo die Synagoge verfiel (deficere) und die Kirche
ihren Anfang hatte. Von Christus an aber erbrachte dieser zweite und
aufgepfropfte Baum so viele Zweige wie Anfänge (principia), die
zwölf Kirchen freilich, deren Wachstum und Vermehrung (profectus
suus et augmentum) bis zu den Zeiten der arianischen Barbaren, die
beinahe die [[@Page:124]]gesamten Kirchen in Afrika und im Orient
zerstörten sowie in Griechenland, wo man alle, die nicht den
römischen Glauben haben, für Häretiker hält. Und so blieben kaum
zwei Zweige übrig. Um es knapper auszudrücken: am alten Baum
blieb nur der Stamm Juda übrig, aus dem Christus geboren wurde; an
diesem zweiten [Baum] bleibt nur der Zweig der römischen Kirche,
wo man ohne jegliche Ketzerei glaubt und Christus verehrt.
Kommentierung zu erleichtern.
1
Vgl. Mt 21,18-22; Mk 11,12-14; 10,15.
147 ABBILDUNGEN
[Generationen von König Usija bis Christus], die das Ende des ersten
und den Stamm des zweiten [Baumes] bilden, zum Teil fleischlich
und zum Teil geistlich. Die 42 unteren [Generationen] sind nur
fleischlich, die 42 oberen nur geistlich. Die unteren [Generationen]
bestimmt man mit den Namen der Väter, die oberen aber mit der Zahl
[von] 30 [Jahren]. Man meint nämlich, die Kirche würde so viele
geistliche Generationen lang dauern wie die Synagoge fleischliche.
f) In den Seitenlinien, [die von] jener Linie [abzweigen], die sich von
Adam bis zum Gericht Christi erstreckt, setzt man gewisse
zeitgenössische Ereignisse (contemporanea) an, so daß die früheren
Ereignisse, vergleicht man sie nach besagter Logik (ratio) mit den
1
Daniel spricht nicht ausdrücklich von 45 Tagen. In Dan 12,11f. heißt es: „Von
der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen
Greuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage. Wohl dem, der aushält und
dreizehnhundertfünfunddreißig Tage erreicht!“ Offensichtlich wird seit
Hieronymus die Differenz der beiden Zahlen als Zeit zwischen dem Ende des
Antichrist und dem Ende der Welt bestimmt. Vgl. Potestà 2000, S.93, Anm.
113; Wessley 1993, S.48f. Joachim spricht also von der Zeit nach Ablauf der
verbleibenden 60 Jahre, deren Länge gemäß dem vorhergehenden Satz im
göttlichen Wissen beschlossen liegt.
148 ABBILDUNGEN
späteren, damit drohen, daß das Ende der Welt bevorsteht. Auf beiden
Seiten bemißt man mit der Zahl [von] 30 [Jahren pro Generation] eine
Linie und erweist, daß auf ihnen die Anzahl der Päpste und auf der
anderen Seite die Anzahl der Imperatoren liegt.
2.
b) Der Stamm Juda, aus dem Christus geboren wurde, bezeichnet die
[römische] Kirche,1 der Gott das königliche Priestertum (regale
sacerdotium) verliehen hat. Die anderen vier Stämme [von den fünf
Stämmen, die nach Jos 13-17 zuerst ihren Erbbesitz im gelobten Land
erhielten,] bezeichnen die Konstantinopolitanische, die
Alexandrinische, die Antiochenische und die Jerusalemische [Kirche].
Die sieben andern Stämme [nach Jos 18-19] bezeichnen die sieben
Kirchen der Apokalypse.2 Jene fünf Kirchen werden [außerdem] durch
die fünf Städte im Land Ägypten bezeichnet, die die Sprache Kanaans
sprechen.3
3.
1
Daß hier nur die römische Kirche gemeint sein kann, ergibt sich aus Absatz 1b
und daraus, daß in der Folge alle anderen elf Kirchen ausgeschlossen werden,
die Joachim zu den zwölf ecclesiae principales zählt.
2
Vgl. Offb 2-3.
3
Vgl. Jes 19,18.
4
Lev 26,14.
149 ABBILDUNGEN
wurden.1 [[@Page:126]]
b) Der erste Kampf des Alten Testamentes war der mit den Ägyptern;
der zweite der mit den Kanaanäern; der dritte der mit den Syrern; der
vierte der mit den Assyrern, der fünfte der mit den Chaldäern; der
sechste war der Kampf der Meder gegen Babylon und erneut gegen
die Kinder Israels; der siebte der der Griechen, als Antiochus [IV. die
Juden aus] Jerusalem vertrieb. Diese sieben Drangsale waren die
sieben Siegel, das heißt die verborgenen Siegel der künftigen Dinge.
Man wußte nämlich nicht, was sie bedeuten, bis Christus sie öffnete.
4.
a) Der erste Teil der Apokalypse handelt von den sieben Kirchen; der
zweite von den sieben Siegeln; der dritte von den sieben Engeln, die
Posaune blasen; der vierte von der mit der Sonne bekleideten Frau und
ihrer Niederkunft; der fünfte von den Engeln, die mit den Schalen des
Zorns Gottes aus dem Tempel heraustreten; der sechste vom
Untergang Babylons und vom Kampf Christi als auch von Elija und
den falschen Propheten und zuletzt von der Befreiung des Teufels; der
siebte handelt vom Gericht.
b) Der erste Teil bezeichnet den Kampf der Pastoren; der zweite den
der Märtyrer; der dritte den der Kirchenlehrer (doctores); der vierte
den der Asketen (virgines); der fünfte den der geistlichen Männer
(spirituales viri); der sechste den Kampf gegen die Verbrechen der
Welt; und der siebte [den Kampf] gegen Babylon.
1
Ex 16,22.
150 ABBILDUNGEN
1
Herbert Grundmann hat bemerkt, daß Joachims zeitgenössische Biographen
die revolutionären Lehren seiner Schriften kaum erwähnen, nicht einmal Lucas
von Cosenza, der als Joachims Sekretär mit den Inhalten vertraut war. Sie
schildern lieber die Kontakte zu berühmten und mächtigen Personen, die der
Abt unterhielt. „Andere Zeitgenossen, die mit Joachim sprachen, interessierten
sich vornehmlich für seine Deutung der Apokalypse, soweit sie den Kreuzzug,
das Schicksal Saladins und des Heiligen Landes und vor allem das Kommen
des Antichrist betrafen.“ Grundmann 1977, S.323.
2
Selbst ein herausragender Philosophiehistoriker wie Kurt Flasch rechnet
Joachim zu den „Opfern von Glaubensbehörden“, deren Leben „physisch
zerstört“ worden sei. Flasch, Kurt: Geschichte der Philosophie in Text und
Darstellung. Bd.2: Mittelalter. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam, 1994,
S.355. Es gibt aber keine Hinweise darauf, daß Joachim zu Lebzeiten von
offizieller Seite behindert worden wäre. Im Gegenteil, er ist vor und nach
seinem Tod von verschiedenen Päpsten gefördert worden. Cölestin III.
bestätigte Joachims Florenserorden im Jahr 1196, und Papst Gregor IX.
ernannte den Orden 1234 gar zu einer der vier Säulen der Kirche. Wessley,
Stephen E.: Joachim of Fiore and Monastic Reform. New York u.a.: Lang,
1990, S.2 und 46.
151 ABBILDUNGEN
1
Gabelli, Anna Maria: „Gioacchimo da Fiore nella storiografia italiana del
’900“, in: Atti I (1980), S.245-268; Selge 1986.
2
Zur Joachim-Rezeption in Frankreich: Marjorie Reeves und Warwick Gould:
Joachim of Fiore and the Myth of the Eternal Evangel in the Nineteenth Cen-
tury. Oxford: Clarendon, 1987. Sh. v.a. die Kapitel III, V, VI.
3
Renan, Ernest: „Joachim de Flore et l’Evangile Éternel “, in: Ders.: Nouvelles
Études d’Histoire Religieuse. Paris: Lévy, 1884, S.217-322.
4
Sand, George:Spiridion. Bekenntnisse eines Mönchs. Stuttgart: Franckh’sche
Buchhandl., 1845, S.260ff.
5
So in einem Vorwort zu seinem Theaterstück über den joachitisch gesinnten
Papst Cölestin V. Silone, Ignazio: Das Abenteuer eines armen Christen. Köln
und Berlin: Kiepenheuer und Witsch, 21969, S.26f.
6
„Wenn immer geistig rege Menschen sich gegen das Schicksal auflehnten, so
führte die Rebellion in unserem Lande immer zur Anarchie oder zum
Franziskanertum. Unter der Asche des Skeptizismus ist bei denen, die am
meisten zu leiden haben, die uralte Hoffnung auf Das Reich, in dem die
Barmherzigkeit den Platz des Gesetzes einnimmt, der alte Traum des
Gioacchino da Fiore, der Spiritualisten, der Coelestiner nie ganz erloschen.“
Silone, Ignazio: Notausgang. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 21998, S.103.
Hervorh. i. Orig.
152 ABBILDUNGEN
Abt haben muß. Von Dante Alighieri 1 bis Umberto Eco2 sind Joachim und
die Joachiten beliebter Stoff der berühmtesten Schriftsteller des Landes. Ein
amüsantes, aber signifikantes Beispiel für die antiklerikale Legende ist ein
Ausschnitt aus dem Bühnenmonolog Mistero Buffo des Nobelpreisträgers
und selbst ernannten Volkspoeten Dario Fo:
Joachim von Fiore, der noch vor dem heiligen Franziskus lebte
und ein bißchen als Urvater aller häretischen Bewegungen
bezeichnet werden könnte, hatte sinngemäß gesagt: „Wenn wir
der Kirche Christi die Würde zurückgeben wollen, müssen wir
die Kirche zerstören: Rom, das schreckliche Ungeheuer, das
entsetzliche Untier, Rom. Und es reicht nicht aus, die Mauern
einzureißen, die Dächer und Kirchtürme, um die Kirche zu
vernichten. Diejenigen müssen wir treffen, die sie regieren, den
Papst, die Bischöfe, die Kardinäle.“ Ein bißchen radikal diese
Haltung. Tatsächlich schickte der Papst ihm sofort eine
Hundertschaft Soldaten, die ihn besuchen sollte, in den Bergen,
dort, wo er lebte. […] aber zu ihrem Unglück war er tot, als sie
ankamen. Noch warm, aber bereits tot. Zwei Minuten vor ihrer
Ankunft verstorben. Man weiß nicht, ob vor Schreck über die
Soldaten oder weil er ein Schelm war und es an dem schuldigen
Respekt ermangeln ließ. Ich glaube, so war es: Joachim von
Fiore war ein Spitzbube, ein großer Spitzbube.3 [[@Page:129]]
Für diese Darstellung gibt es keine historische Grundlage, außer der
italienisch-franziskanischen Joachimlegende. Dario Fo sei die Dichterfreiheit
selbstverständlich zugestanden, aber das Beispiel zeigt, daß der Umgang mit
Joachim seit jeher mit politischen Absichten zu tun hat, mögen sie
kirchenreformerisch, sozialreformerisch, protestantisch, marxistisch,
faschistisch oder antifaschistisch sein. Nicht zufällig begann die erste Welle
der Forschung nach dem 1. Vatikanischen Konzil, als sich viele Katholiken
enttäuscht von Rom abwandten. Nicht zufällig besorgte die ersten kritischen
Ausgaben einiger Schriften Joachims der „Modernist“ Ernesto Buonaiuti,
der sich mit dem Heiligen Stuhl ebenso angelegt hatte wie mit den
Faschisten.4 Und ebensowenig ist es ein Zufall, daß Buonaiutis
(protestantischer und vorübergehend zum Deutschchristentum neigender)
Schüler Ernst Benz dazu beitrug, hierzulande das Interesse der historischen
1
„Rabano è qui, e lucemi da lato,
il calavrese abate Giovacchino,
di spirito profetico dotato.“ Commedia, Paradiso XII, 140f.
2
Die joachitsche Bewegung bildet den bemerkenswert sorgfältig recherchierten
Hintergrund von Ecos millionenfach verkauftem Mittelalterroman. Eco,
Umberto: Der Name der Rose. München: dtv, 211997. Sh. v.a. S.70ff.
3
Fo, Dario: Obszöne Fabeln. Mistero Buffo. Szenische Monologe. Frankfurt am
Main: Verlag der Autoren, 1992, S.136f.
4
Den biographischen Hintergrund Buonaiutis beschreibt Ernst Benz in einer
ausführlichen Einleitung zu: Buonaiuti, Ernesto: Die exkommunizierte Kirche.
Zürich: Rheinverlag, 1966.
153 ABBILDUNGEN
spirituelles Erleben. Die spätere Vision des Psalters hat ähnlichen Charakter. Es
stellt sich sogar die Frage, ob nicht der Liber Figurarum insgesamt Ausdruck
solcher Erfahrungen ist.
1
„[…] rotam illam, quam vidit Ezechiel propheta, nos quoque pro dono dei
videre subtiliter studeamus, quatinus per multa concordiarum itinera ad unam
veritatis notitiam pervenire possimus.“ Conc. V,85, fol.112vb-113ra; Lib. Fig.,
tav.XV.
2
„Ponamus suprascriptas arbores ante oculos mentis […].“ Conc. IIb,1, fol.19rb,
Daniel 145,1.8.
3
Zur Authentizität der Figuren: Troncarelli, Fabio: „Il Liber figurarum tra
‚gioachimiti‘ e ‚gioachimisti‘“, in: Atti V (2001), S.267-286.
4
Lib. Fig., tav.II stammt möglicherweise aus der gleichen Zeit wie die
Genealogia, denn der letzte Papst, der erwähnt wird, ist Alexander III. (†
1181). Auch fehlt jeder Hinweis auf Joachims spätere Lehre vom dritten Status.
Das Ende der Geschichte besteht lediglich in der Wiederkehr Christi zum
Gericht, während Lib. Fig., tav.I bis zu Urban III. weitergeführt ist und deutlich
auf das kommende Zeitalter des Heiligen Geistes verweist.
160 ABBILDUNGEN
1
2 Kön 14,21f. mit 15,1-7; 2 Chr 26,1-27,2. Die extrem kurze Abhandlung im
2. Königsbuch entspricht der Intention der deuteronomistischen
Geschichtsschreibung, die die Höhepunkte der Königszeit in den Kultreformen
erblickt. Hierzu hat Usija scheinbar nichts Entscheidendes beigetragen. Kraus,
Hans-Joachim: Prophetie und Politik. München: Kaiser, 1952, S.35; Fohrer,
Georg: Geschichte der israelitischen Religion. Freiburg u.a.: Herder, 1992,
S.310f. Die Chronik ist etwas ausführlicher, aber auch dort gilt Usija nicht als
großer König, obwohl Juda unter seiner Herrschaft offenbar eine Blütezeit
erlebte. Eißfeldt, Otto: „Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum
Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. Vom Aufkommen des Königtums in Israel
bis zum Ende des jüdischen Exils“, in: Elena Cassin u.a. (Hrsg.): Die
Altorientalischen Reiche III. Die erste Hälfte des 1. Jahrtausends. (=
Weltgeschichte Bd.4). Augsburg: Weltbild, 1998, S.125-219, S.178. Aus
alttestamentlicher Sicht ist die politisch wichtigste Stelle, an der Usija erwähnt
wird, die Berufung Jesajas (Jes 6,1-13), die im Todesjahr des Königs erfolgt.
Damit wird nach Ansicht Martin Bubers das ewige Königtum Gottes dem
vergänglichen irdischen gegenübergestellt. Buber 1984, S.99.
2
Gut belegt ist dieser Befund für die Karolingerzeit. Sh. Anton, Hans Hubert:
Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit. Bonn: Röhrscheid,
1968, S.239, 312, 334, 349 und v.a. 435f. Aber auch zur Zeit Joachims finden
sich diese Urteile, z.B. bei Johannes von Salisbury: „Uzziah, whom the irrefut-
able book reports to have been just in many ways, usurped the offices of the
priesthood not so much with piety as with presumptuousness […]. Uzziah is
imitated by many in encroaching upon priestly powers, but very few are
shamed by his leprosy.“ Policraticus VIII,22, Nederman 215.
3
„Manet autem Ozias in radice noui testamenti secundum initiationem, sicut et
Adam in radice prioris.“ Psalt. II, fol.276ra.
164 ABBILDUNGEN
1
Ullmann 1960, S.220ff.
2
„[…] quia nimirum Latina ecclesia, que uelut altera tribus Iuda custodita est
a Christo, non usque a deo permissa est errare cum Grecis […].“ Conc. IIIb,3,
fol.40ra, Daniel 293,27-29; vgl. Conc. IV,5, fol.46rb, Daniel 337,12-338,17;
Conc. V,61, fol.92rb.
3
Freilich legte das Alte Testament eher nahe, die Verheißung auf die
Einsetzung des davidischen Herrscherhauses zu beziehen. Vgl. von Rad 1993,
S.22f.; Fohrer 1992, S.358.
4
Conc. IIa,22, fol.13vb, Daniel 109,42-46. Sh. Gen 49,10.
170 ABBILDUNGEN
Jahwe veranlaßt, die Königsherrschaft über Israel auf das Haus Davids
zu übertragen.1 Das bedeutet natürlich mehr als nur einen Wechsel der
Dynastien, vielmehr geht Jahwes Gunst von einem Volk (Israel) auf
das andere (Juda) über.2 Es handelt sich um eine translatio imperii.
Die Probleme, die sich daraus ergeben, werden bei der Teilung
des davidischen Reiches deutlich. Rehabeam versammelt „Israel“ (d.i.
Juda) in Sichem, um Salomos Nachfolge anzutreten. 3 Doch Israel (d.i.
die Nordstämme) kündigt den Vertrag mit David auf, um zu seinen
Zelten zurückzukehren.4 Das heißt, es entsteht die paradoxe Situation,
„that Israel had broken away from ‚Israel‘“.5 Das Dilemma löst sich
erst mit der Vernichtung des Nordreiches,6 die beweist, daß Jahwes
Gunst Juda gehört. Das judäische Volk bekennt sich nach dieser Art
der legitimatorischen Geschichtsschreibung aber zugleich bereit, die
historische Existenz Israels fortzusetzen. Die Herrschaft Davids ist
einfach eine weitere große geschichtliche Tat Jahwes, „der nächste
große Traditionspunkt jenseits des Hexateuch“.7
Einem so detailversessenen Bibelleser wie Joachim war die
Problematik allerdings nicht entgangen. Er betont, daß die Herrschaft
nicht nur an David, also an die Dynastie, sondern an Juda, also an den
Stamm, übergeben wurde. Dies zeigt einen außergewöhnlichen
Einblick in die Problematik der alttestamentlichen
Geschichtsschreibung, der zu seiner Zeit keineswegs der gängigen
Exegese entsprach. Diese Abweichung konnte kaum als Bagatelle
abgetan werden, denn damit gab es im Alten Testament nicht mehr
nur ein auserwähltes Volk, sondern zwei, die einander ablösen.8 Das
1
1 Sam 15,28; 28,17; 2 Sam 3,10; vgl. 1 Chr 10,14; 12,23. In der Vulgata, 2
Sam 3,10; 1 Chr 10,14 und 12,23, findet sich die Wendung regnum transferre.
2
Das „Haus Juda“ umfaßte einige der südpalästinensischen, ehemals
israelitischen Stämme, aber der führende „Stamm Juda“ tritt erst mit David auf.
Noth, Martin: Geschichte Israels. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986,
S.265ff.
3
1 Kön 12,1.
4
2 Sam 5,3; 1 Kön 12,16.
5
Voegelin, 1956, S.271. „So fiel Israel vom Haus Davids ab und ist abtrünnig
bis zum heutigen Tag.“ 1 Kön 12,19.
6
2 Kön 17,18.
7
Von Rad, 1992, S.320.
8
Zur Herrschaft Davids wird in Lib. Fig., tav.III vemerkt: „Hic regale
sceptrum et pax domui Juda donata sunt.“ Die Verwirrung der Zeitgenossen
wird in der Dresdner Fassung von Lib. Fig., tav.III greifbar, wo laut
Tondellis Kommentar (Anm.8) das Wort „Juda“ durch „David“ ersetzt
wurde – eine Korrektur im Namen der Orthodoxie. Werner Goez meint, die
biblische Erzählung vom Übergang der Herrschaft von Saul zu David habe
bei den mittelalterlichen Translationstheoretikern keine Rolle gespielt, weil
darin nur ein Wechsel der Dynastie gesehen worden sei. Goez, Werner:
Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und
der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.
Tübingen: Mohr, 1958, S.12. Wenn das richtig ist, so bildet Joachim die
172 ABBILDUNGEN
1
„Igitur quod in ueteri testamento designabant reges Iuda, consumatum est sub
nouo testamento in Christo et in pontificibus Romanis.“ Conc. IV,3, fol.45rb,
Daniel 330,245f.
2
[[De civ. Dei XXII,30 >> Augustine:De civ. Dei 22.30]]. Augustinus stellt
dort bereits den Bezug zu den Generationen im Stammbaum Jesu her.
3
Vgl. [[Hebr 4,9 >> Bible:Heb 4,9]].
4
Die Begründung erscheint uns heute nicht so plausibel wie jenen Menschen,
die in der heiligen Schrift ein „Meer von Zeichen“ vermuteten. Nach Ex
16,22ff. wird Israel in der Wüste aufgetragen, am sechsten Tag der Woche zwei
Gomer (atl. Maßeinheit) Manna zu sammeln, um am folgenden Tag ruhen zu
können, denn „am siebten Tag ist Sabbat; da findet ihr nichts“.
175 ABBILDUNGEN
kaum eingetroffen seien, da dort nur von dem einen Mederkönig Darius die
Rede ist. Er schließt, daß sich die Prophezeiung um so deutlicher am neuen
Babylon erfüllen muß. Conc. V,107, fol.125rb-va, Exp. Intr., fol.8rb. Auf die
Situation der Kirche bezieht Joachim die Mederkriege in Conc. V,109,
fol.126vb.
1
Dem Liber introductorius zufolge treten die Neu-Meder an, „ut statuant
blasphemiam mahumeth“. Exp. Intr., fol.8va.
2
Mit dem Begriff der Griechen (3b) meint Joachim Makedonier und
Diadochen, die allerdings in Gestalt der Seleukiden am schlimmsten gegen die
Juden wüten.
177 ABBILDUNGEN
1
Vgl. Röm 9,12.
2
[[De civ. Dei XV,2 >> Augustine:De civ. Dei 15.2]], [[XVIII,46 >> Augus-
tine:De civ. Dei 18.46]].
3
[[De civ. Dei XV,8 >> Augustine:De civ. Dei 15.8]], Thimme 227. Die
Übersetzung habe ich nach CSEL XLVIII,463,10-20 korrigiert. Vgl. [[De civ.
Dei X,32 >> Augustine:De civ. Dei 10.32]].
179 ABBILDUNGEN
1
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.187, Anm.20.
2
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.32ff. Der fränkische Majordomus
Karl Martell wurde offenbar schon seit dem 8. Jahrhundert rex Francorum
genannt. Er ist in der Regel gemeint, wenn Joachim von einem Karolus spricht.
Die in der Tat verheerende Belagerung Konstantinopels wurde natürlich nicht
von ihm beendet, sondern von den Bulgaren. Norwich, John J.: Byzanz. Bd.1:
Der Aufstieg des Oströmischen Reiches. Sonderausgabe. Düsseldorf und
München: Econ, 1998, S.423ff.
3
Vielleicht ist Joachim aufgefallen, daß die Zahl von 385 000 Sarazenen, die
Karl Martell der Überlieferung gemäß (vgl. Otto von Freising, Chron. V,16)
getötet haben soll, gewisse Ähnlichkeit mit der Zahl der 185 000 Assyrer hat,
die nach 2 Kön 19,35 der Engel Gottes erschlug, wenigstens was ihre auffällige
Höhe angeht. Vgl. Conc. IIa,25, fol.15rb, Daniel 117,45-48: „In diebus autem
Ezechie, et filii Israel cum rege suo traditi sunt in potestate regis Assyriorum, et
ipse Ezechias tradendus erat, nisi clamasset ad dominum qui et eripuit eum,
interficiens per angelum suum de castris Assyriorum centum octoginta quinque
milia.“
4
De proph. I,4, Kaup 187 mit Kommentar S.38 und 187ff, Anm.22 und 26; 2
Kön 20,1-7; Jes 38,1-6.
184 ABBILDUNGEN
1
De proph. I,4, Kaup 189; Lk 17,22. Die Übersetzung habe ich im letzten
Halbsatz leicht geändert.
185 ABBILDUNGEN
durfte. Die Reaktion folgte auf dem Fuße, Friedrich entsandte seinen
Sohn Heinrich, um das Patrimonium Petri zu besetzen. Die
„babylonische Gefangenschaft“ schien also schließlich doch
Wirklichkeit zu werden. Heinz Wolter schreibt zu den Vorgängen:
Nach der Kölner Königschronik und Albert von Stade waren es
[…] die Kardinäle, die dem Papst den Vorwand für die
Verweigerung der Kaiserkrönung Heinrichs VI. lieferten. Wenn
wir ferner noch bedenken, daß die gleichen Kardinäle rund ein
Jahr später mit Urban III. einen der schärfsten persönlichen
Gegner des Kaisers zum Papst erhoben, dann bestätigt sich der
Eindruck, daß Barbarossa in Verona auf einen alten,
nachgiebigen Papst, aber ein seit der Zeit des Schismas waches,
mißtrauisches Kardinalskollegium stieß, dessen Einfluß auf den
greisen Lucius III. seine Bemühungen zunichte machte. 1
Somit ergeben sich zwei konkrete Fragen, die in diesem Rahmen nur
gestellt, nicht aber geklärt werden können, nämlich erstens ob Joachim
zum Mißtrauen der Kardinäle gegenüber Barbarossa seinen Teil
beigetragen hat; und zweitens ob versucht wurde, mit Joachims
Auslegung der Prophetia ignota Einfluß auf den
verständigungsbereiten Papst auszuüben. Es ist aufs Ganze gesehen
zumindest denkbar, daß der Abt von Corazzo die abendländische
Politik schon zu einem Zeitpunkt mitbestimmte, als von seiner
revolutionären Drei-Status-Lehre noch keine Rede war.
Auf alle Aspekte von De prophetia ignota einzugehen, ist hier
weder möglich noch nötig. Einige Bemerkungen Joachims aber
weisen weit voraus auf seine späteren Schriften und sollen zumindest
Erwähnung finden. So ist davon die Rede, daß während der Zeit, in
der die Kleriker zur Untätigkeit verurteilt sein werden, Mönche an ihre
Stelle [[@Page:161]]treten und mit ihrem Gebet den Gläubigen einige
Erleichterung verschaffen werden – wenn es auch eine „Erleichterung
in Tränen“ sein wird.2 Hier ist zum ersten Mal eine geschichtliche
Rolle für das Mönchtum angedeutet und zugleich der Weg, der
Joachim über die Apokalyptik hinausführen wird.
Joachim äußert sich in De prophetia ignota erstmals über die
Zukunft der Juden. Im engen Anschluß an den Römerbrief verweist er
auf den Zusammenhang zwischen Hochmut und Erwählung. Die
Juden sperrten sich einst im hochmütigen Vertrauen auf die
Gesetzestreue gegen das Evangelium und mordeten den Messias. Aber
nach den vielen Qualen, die sie im Laufe der Geschichte erdulden
mußten, wird sie eine „späte und nahezu tödliche Reue“ dazu treiben,
Christus doch noch anzuerkennen.3 Die Heiden aber – gemeint sind
die Christen nicht-jüdischer Abstammung – werden zuvor den Preis
1
Wolter 1985, S.50; vgl. Wenck 1973, S.423.
2
De proph. II,3, Kaup 197; vgl. Proph. ign. 4-5, Kaup 175f.
3
De proph. II,5, Kaup 205.
192 ABBILDUNGEN
diesem Akt stellt sich noch einmal heraus, wer der wahre Stellvertreter
Christi ist, lassen sich doch beide Varianten des symbolischen Dramas
– trotz aller außerkanonischen Einflüsse – als Exposition der
folgenden Paulus-Stelle verstehen:
Es gibt eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus, dann
folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach
kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft
vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater übergibt.
Denn er muß herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße
gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod.
Sonst hätte er ihm nicht alles zu Füßen gelegt. Wenn es aber
heißt, alles sei unterworfen, ist offenbar der ausgenommen, der
ihm alles unterwirft. Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird
auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles
unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem. 1
Noch einmal: Joachim ging es nicht um papalistische Propaganda,
wenngleich es ihm notwendig erscheinen mußte, die populären
Erzählungen in seinem Sinn zu modifizieren. Denn wer sich mit
seinen Symbolen durchsetzt, der gewinnt den Kampf um die Form der
Gemeinschaft, darüber herrschte auf beiden Seiten Klarheit. Das
Reich konn[[@Page:167]]te gegen die Kurie seine Juristen ins Feld
schicken, die es jetzt in Bologna ausbilden ließ, doch vor einer
Bevölkerung, die überwiegend aus Analphabeten bestand, war der
Vorgang der renovatio imperii in einer anderen, vertrauteren Sprache
zum Ausdruck zu bringen.2 Ein Schauspiel, in dem alle
Paulus apostolus, Antichristum non antea in mundum esse venturum, nisi
venerit discessio primum, id est, nisi prius dicesserint omnia regna a Romano
imperio, que pridem subdita erant. Hoc autem tempus nondum venit, quia, licet
videamus Romanorum regnum ex maxima parte destructum, tamen, quamdiu
reges Francorum duraverint, qui Romanum imperium tenere debent, Romani
regni dignitas ex toto non peribit, quia in regibus suis stabit. Quidam vero
doctores nostri dicunt, quod unus ex regibus Francorum Romanum imperium
ex integro tenebit, qui in novissimo tempore erit. Et ipse erit maximus et
omnium regum ultimus. Qui postquam regnum feliciter gubernavit, ad ultimum
Ierosolimam veniet et in monte Oliveti sceptrum et coronam suam deponet. Hic
erit finis et consummatio Romanorum christianorumque [!] imperii.“ De ortu,
Sackur 109f. Kommentiert bei Konrad, Robert: De ortu et tempore Antichristi.
Antichristvorstellung und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der.
Kallmünz: Lassleben, 1964, v.a. S.95ff.
1
1 Kor 15,23.
2
„The religious fervour of the Gregorian age was accompanied by a revived
apocalypticism which could assign new and positive roles to kings and espe-
cially to emperors: this, more even than re-reading of Roman law, accounts for
the enthusiastic tone of much twelfth-century writing on divinely ordained
rulership.“ Nelson 1988, S.212. Inwieweit sich die staufischen Kaiser selbst als
Endkaiser und Katechon begriffen, ist umstritten. Doch daß Barbarossas
Kreuzzugsbegeisterung echt war, und daß das Ziel all seines Strebens
Jerusalem war, darin stimmen die Historiker weitgehend überein. Eine
199 ABBILDUNGEN
1
Csendes 1993, S.225, Anm.19.
2
Jakobs 1996, S.28.
3
Egger, Christoph: „Joachim von Fiore, Rainer von Ponza und die römische
Kurie“, in: Atti V (2001), S.129-162, v.a. S.140ff.
4
Vgl. HbKg III/2, S.193.
5
Exp. III, fol.143va-144ra. Eine Synopse der Texte bei Egger 2001, S.142ff.
201 ABBILDUNGEN
1
Ex 19,4. Der tatsächliche Ablauf der historischen Ereignisse ist für diese
Untersuchung ebenso unerheblich wie die Chronologie ihrer schriftlichen
Fixierung. Wichtig ist allein, wie die Überlieferung in das Bewußtsein der
Propheten eingegangen ist.
2
Ex 19,5f.
3
Ex 19,8; 24,7f
4
Ex 24,12; 20,2-17; vgl. Voegelin 1956, S.418ff.
5
Am deutlichsten wird dieses Credo von der Gemeinschaft der Stämme beim
sogenannten Landtag zu Sichem geäußert. Jos 24, v.a. V.18.21.24.
207 ABBILDUNGEN
Stämme gegen die Kanaanäer schildert. 1 Der Sieg gegen die feindliche
Übermacht wird als ein Handeln Jahwes, als ein „unmittelbarer Jahwesieg“
empfunden.2 Die eigentlich kämpfende Kraft im Heiligen Krieg, die einem
Naturereignis gleichkommt, ist Jahwe.3 Das Volk des Herrn (’am Jahwe)4
muß sich nur bereithalten5 und Jahwe unterstützen, das heißt, es muß seine
existentielle Verbundenheit mit Jahwe, die später durch die Lade
symbolisiert wird, erkennen und danach handeln. 6 Der Krieg kann nur im
bedingungslosen Glauben an Jahwe [[@Page:174]]geführt werden,7 alle
Rückschläge sind allein auf die Verzagtheit der Krieger zurückzuführen. Die
Stämme, die sich verweigern, müssen die Folgen tragen. 8
Die Endfassung des Richterbuches schildert den Heiligen Krieg als ein
immer gleich ablaufendes zyklisches Geschehen, 9 das folgende Stadien
enthält: 1. Israel tut, „was dem Herrn mißfällt“, und fällt vom reinen
Glauben an den Gott ab, der das Volk aus Ägypten geführt hat. 2. Jahwe
straft die Israeliten durch Niederlage im Krieg, Tributpflichtigkeit und
dergleichen. 3. Wenn Israel bereit zur Umkehr ist, läßt Jahwe einen Richter
(schofet) aufstehen, dem er Charisma verleiht, und der die Israeliten in den
siegreichen Kampf führt. Wenn der schofet stirbt, versündigt sich Israel
wieder gegen Jahwe, etc.10
Wichtiger ist aber zunächst ein Symbol, das im Rahmen der
Kriegsberichte mehrfach erwähnt wird: Der Führer empfängt das Charisma,
in dem der Geist (ruach) Jahwes über ihn kommt.11 Da ruach neben Geist
(Gottes) auch die Bedeutung von Wind oder Lebenshauch hat, 12 wird die
Dynamik deutlich, die mit dem Begriff verbunden ist. Im Falle Gideons wird
geschildert, wie die Kraft der ruach zunächst auf den Richter wirkt, aber von
ihm sogleich an das ganze Volk weitervermittelt wird.
1
Ri 5. Vgl. auch den späteren „historischen“ Bericht, der dem Lied hinzugefügt
wurde. Ri 4,1-16.
2
Fohrer 1992, S.77. Der Eindruck war offenbar so stark, daß sich auch andere
Stämme zum Jahweglauben bekehrten. „In diesem Ereignis haben sich die
Stämme als ‚Israel‘, d.h. als eine von Jahwe geführte und geschützte Einheit
erlebt. Genauer: Sie haben überraschend erfahren, dass die kultische Bindung
an Jahwe auch weitreichende Konsequenzen auf politischem Gebiet hatte.
Damals begann Israel ein Volk zu werden.“ Von Rad, Gerhard: Der Heilige
Krieg im alten Israel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 51969, S.20.
3
Ri 5,4f.20f.
4
Ri 5,11.13.
5
Ri 5,2.9.
6
Buber 1984, S.29
7
Von Rad 1969, S.9ff.
8
Ri 5,18.23.
9
Tatsächlich waren bei weitem nicht alle Kriege Heilige Kriege, sondern
ausschließlich die Verteidigungskämpfe. Von Rad 1969, S.19f und S.32.
10
Sh. Ri 3,7ff.; 3,12ff.; 4,1ff.; 6,1ff.; 10,5ff.; 13,1ff. Vgl. Voegelin 1956, S.212.
11
Z.B. Ri 3,10; 6,34; 11,29. Vgl. auch die Simsonerzählung, v.a. Ri 13,25; 14,6;
15,15. Dazu Koch, Robert: Der Geist Gottes im Alten Testament. Frankfurt am
Main u.a.: Lang, 1991, S.40ff.
12
Koch 1991, S.14ff.
208 ABBILDUNGEN
Da kam der Geist des Herrn über Gideon. Gideon blies ins
Widderhorn und rief und rief die Abiësiter, ihm (in den Kampf)
zu folgen. Auch schickte er Boten in ganz Manasse umher
[…].1
Die ruach symbolisiert die Erfahrung des göttlichen Handelns in der
Geschichte, die Erfahrung immanenter Wirkung des transzendenten Gottes,
und die Manifestationen der ruach „gehören gewiß zum ursprünglichsten,
was Israel überhaupt von seinem Gotte wahrnahm“. 2 Es ist bezeichnend für
Joachims tiefgehende Erforschung der alttestamentlichen Symbolik, wenn er
bisweilen sogar das hebräische Wort verwendet. 3
Samuel und Saul: Das auffallendste Kennzeichen der
Ordnungskonzeption, die dem Heiligen Krieg zugrunde liegt, ist die
weitgehende Abwesenheit von dauerhaften gemeinsamen Institutionen.
Gemeinsam handeln die Stämme nur im Verteidigungsfall, vereint im
Heerbann unter einem Führer, und nur dort begreifen sie sich ’am Jahwe.4
Versuche, Hierarchien jenseits der Sippen- und Stammesordnungen zu
errichten, werden als Anmaßung empfunden. 5 Das ändert sich schlagartig,
als die Bedrohung durch die Philister, deren Ausmaß nach dem Verlust der
Lade in [[@Page:175]]der Schlacht bei Eben-Eser offenbar wird, 6 eine
Neuorganisation des losen Verbundes der Amphiktyonie erfordert.
Der Übergang zum Königtum erfolgte keineswegs so rasch, wie es 1
Sam 8ff. nahelegt,7 dennoch ist allein die symbolische Darstellung der sich
wandelnden Ordnungserfahrung von Bedeutung, wie sie sich im biblischen
Bericht niedergeschlagen hat. Es müssen zwei verschiedene
Deutungstraditionen auseinandergehalten werden, die im Ersten Samuelbuch
nebeneinander bestehen.8 Ein Ordnungsproblem, das beiden Überlieferungen
zugrunde liegt, ist die mit dem Königtum einhergehende Umwandlung des
Stammeswesens und des Heeres.9 Das heißt, es stellt sich die Frage, wer im
zentralisierten Königreich die Nachfolge der charismatischen Führer antritt.
1. Die antiroyalistische Überlieferung steht dem Königtum Sauls äußerst
skeptisch gegenüber. Das Verlangen nach einem dauerhaften irdischen
Herrscher kommt einem Bundesbruch gleich. 10 Jahwe gibt deutlich zu
1
Ri 6,34f.
2
Von Rad 1992, S.106f.
3
Joachim übersetzt ruach wie Hieronymus mit (Dei) spiritus. „[…] Dei
spiritus, qui hebraice […] vocatur rua […]. Exp. I, fol.64rb; vgl. fol. 64ra; Adv.
Jud., Frugoni 23,22; 25,10.
4
Voegelin 1956, S.205.
5
Am deutlichsten wird dies bereits in der alten Jotamfabel (Ri 9,8-15)
formuliert, dem „antiroyalistischsten Dokument der Weltgeschichte“. Koch
1995, S.76f.
6
1 Sam 4f.
7
Sh. z.B. Ri 9,6. Vgl. Noth 1986, S.152ff; Voegelin 1956, S.212ff.
8
Koch 1995, S.76ff.; Voegelin 1956, S.226ff.
9
Vgl. Noth 1986, S.174ff.
10
„Die Staatenbildung wird demnach im Alten Testament nicht als ein
naturhaftes Ereignis, als ein organischer Wachstumsprozeß beschrieben, sie ist
209 ABBILDUNGEN
erkennen, daß die Wahl eines Königs seinem Willen zuwiderläuft, und
verweist darauf, daß sein Handeln allein die Geschichte Israels bestimmt.
So spricht der Herr, der Gott Israels: Ich habe Israel aus
Ägypten heraufgeführt, ich habe euch aus der Gewalt der
Ägypter befreit und aus der Gewalt all der Königreiche, die
euch bedrängt haben. Ihr aber habt euren Gott verworfen, der
euer Retter in allen Nöten und Bedrängnissen war, und ihr habt
gesagt: Nein, du sollst einen König bei uns einsetzen. 1
Wenn Jahwe sich dennoch nicht von seinem erwählten Volk abwendet, so
nur unter der Voraussetzung, daß die Grundsätze des Bundes gewahrt
bleiben und die Theopolitie in eine monarchische Theokratie, 2 keinesfalls
aber in ein kosmologisches Gotteskönigtum verwandelt wird.
Seht, hier ist euer König, den ihr verlangt und den ihr euch
erwählt habt. Ja, der Herr hat euch einen König gegeben. Wenn
ihr den Herrn fürchtet und ihm dient, wenn ihr auf seine
Stimme hört und euch seinem Befehl nicht widersetzt, wenn
sowohl ihr als auch der König, der über euch herrscht, dem
Herrn eurem Gott, folgt, dann geht es euch gut. Wenn ihr aber
nicht auf die Stimme des Herrn hört und euch seinem Befehl
widersetzt, dann wird die Hand des Herrn gegen euch
ausgestreckt sein wie gegen eure Väter. 3
Gleichzeitig wird von einer neuen Gruppierung innerhalb der israelitischen
Gesellschaft berichtet, den Propheten (nebiim), die als jahwistische Kritiker
auftreten. In der deuteronomistischen [[@Page:176]]Überlieferung
konzentriert sich das Phänomen zunächst auf die Person Samuels, der
zugleich Richter ist, und als Bote Jahwes vor dem König auftritt, um ihm
nach seinem Versagen sein Ende zu offenbaren. 4 Das heißt, der nabi ist der
rechtmäßige Nachfolger der Richter und er allein kennt den Willen Jahwes. 5
Es ist deshalb nur konsequent, wenn das Symbol der ruach nun auf die
Propheten angewandt wird. Allerdings kann der Geist auch über andere
Menschen kommen und sie dazu zwingen, Jahwes Willen zu befolgen. 6
Vor allem in der nordisraelitischen Überlieferung wurde der Glaube an
die Möglichkeit einer Gemeinschaft ohne irdischen Herrscher niemals
1
„Doch sollte man bedenken, daß die Vorstellung vom charismatischen
Führertum, die auf dem Boden des Nordreiches kräftig weiterlebte, als ein
Gegenmodell zum erblichen Königtum diente. Allein dadurch schon entstanden
Freiräume für die Beteiligung von Propheten an politischen Vorgängen.“
Blenkinsopp, Joseph: A history of prophecy in Israel. Louisville: Westminster
John Knox Press, 1998, S.59.
2
Voegelin 1997, Bd.1, S.110.
3
„Sie setzen Könige ein, aber gegen meinen Willen;
sie wählen Fürsten, doch ich erkenne sie nicht an.“ Hos 8,4.
4
So ließe sich der umstrittene Vers 1 Sam 9,9 („Denn wer heute Prophet
genannt wird, hieß früher Seher“) auch politisch deuten: Die Propheten können
sich nicht als Nachfolger der schofetim ausgeben, wie die antiroyalistische
Überlieferung nahelegt. Vgl. 1 Sam 9,19. Vgl. Weber-Schäfer, Peter:
Einführung in die antike politische Theorie. Erster Teil: Die Frühzeit.
Darmstadt: Wiss. Buchges., 1992, S.79ff.
5
1 Sam 9,16; vgl. 1 Sam 16,12: „[…] dieser Akt geht über die Berufung eines
charismatischen Führers, wie sie bisher je und dann erfolgt war, insofern weit
hinaus, als die Salbung die Übertragung eines Amtes bedeutete […].“ Noth
1986, S.156.
6
Voegelin 1956, S.227.
7
1 Sam 10,6f.
211 ABBILDUNGEN
Samuel nahm das Horn und salbte David mitten unter seinen
Brüdern. Und der Geist des Herrn war über David von diesem
Tag an. Samuel aber brach auf und kehrte nach Rama zurück. 1
Doch hat das Symbol seine ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Aus dem
dynamischen Geistwind, der Jahwes Diener nur vorübergehend überkam, 2 ist
die dauerhafte Inspiration und Legitimation der Dynastie geworden. 3 Die
Verwirklichung der gottgewollten Ordnung und die Wahrung der
Gerechtigkeit ist nun die Aufgabe des Gesalbten Jahwes. 4
So ist also die Nathansweissagung […] in höchstem Maße
traditionsschöpferisch geworden, denn diese Zusage Jahwes ist
nie mehr vergessen worden; sie ist in der Folgezeit immer neu
interpretiert und aktualisiert worden; hier liegt der
geschichtliche Ursprung und die Legitimation auch aller
messianischen Erwartungen.5
2. Jerusalem: Die Einnahme der alten Jebusiterstadt Jerusalem, die zwischen
Israel und Juda lag, war – gleich ob sie nun kriegerisch oder friedlich
geschah – einer von Davids geschicktesten Schachzügen zur Sicherung der
Herrschaft über beide Reiche. Damit schuf sich der König ein
gebietsneutrales Regierungszentrum für das Großreich. 6 Im Übergang von
Saul zu David verwandelt sich das Stammeskönigtum unter Zuhilfenahme
von orientalischer Herrschersymbolik in ein Stadtkönigtum nach
kanaanäischem Vorbild.7 Israel geriet damit in die Gefahr, sich allmählich
allen anderen Völkern anzugleichen und sich von seiner theokratischen
Exzeptionalität endgültig zu verabschieden. Doch gegen diesen
schleichenden Prozeß, von dem die Königsbücher allenthalben berichten,
standen die Propheten auf und brachten die gesamte Tradition des
Gottesvolkes gegen die Geistesvergessenheit seiner Könige in Anschlag.
verlassen haben statt auf den Herrn, fühlen sie sich berufen, als
charismatisch begabte Berater an die Seite der Herrscher zu treten,
sie an ihren Auftrag zu gemahnen und korrigierend in ihre Politik
einzugreifen. Auf sie geht der Geist Gottes über, wenn sich ihm die
Herrscher verweigern. 1 Ihre Mahnungen werden erst dort nicht mehr
nötig sein, wo göttlicher Geist und König eins sind, so wie es in Jes
11,2f. beschrieben ist, dem locus classicus des messianischen
Politikverständnisses. [[@Page:180]]
Der Geist des Herrn läßt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht,
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.
Er erfüllt ihn mit dem Geist der Gottesfurcht.
Er richtet nicht nach dem Augenschein,
und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er […].
Genau dieselbe Haltung findet man bei Joachim. Seine Frage lautet
analog: Wie kann die theokratische Ordnung, in der die christliche
Kirche begründet wurde, aufrechterhalten werden, trotz der Realität
eines mit weltlicher Gewalt ausgestatteten Papsttums? Alle
Mahnungen, die Joachim an die Kurie richtet, sind aus derselben
theokratischen Grundüberzeugung heraus ausgesprochen. Der
Hebräerbrief betont, daß der neue Bund ebenso theokratischer Natur ist,
wie es der alte war; das Priestertum Christi läßt die Herrschaft Gottes
sogar noch deutlicher hervortreten.2 Zwar ist sich Joachim sicher, daß
die Verleihung weltlicher Macht an das Papsttum gottgewollt war, aber
der Papst handelt nur dann rechtmäßig, wenn er sich auf die Leitung des
wahren Priesterkönigs verläßt. Wenn er meint, ohne Kenntnis des
göttlichen Ratschlusses gegen die Feinde ziehen zu können, dann muß
er scheitern, wie einst Papst Leo IX. gegen die Normannen. Den
göttlichen Ratschluß zu vermitteln, dafür gab es damals Propheten wie
es jetzt Exegeten gibt. Wie er gegenüber Adam von Perseigne bekannte,
ist Joachim überzeugt davon, daß der Geist, der den israelitischen
Kündern die prophetia verlieh, derselbe ist, der ihm das Charisma der
intelligentia verlieh, daß also Jeremia und er selbst ihr Wissen aus der
gleichen göttlichen Quelle beziehen. Dieses Bewußtsein erlaubt es
Joachim, den Päpsten gegenüberzutreten wie einst die Propheten den
Königen. Gerade diese Parallele macht deutlich: Der intelligentia
1
Joachim hat das Prinzip genau erkannt. Er geht sogar noch weiter, wenn er
anmerkt, daß Gott das Bild seiner Dreifaltigkeit den Persönlichkeiten der
Propheten zeichenhaft aufprägt, um im Falle von untauglichen Königen die
Kontinuität seiner Selbstoffenbarung zu gewährleisten: „[…] siquidem omnes
reges ultimi, qui geniti sunt in transmigratione babylonis, pessimi fuerunt in
conspectu domini, electi sunt tres viri sancti in spiritu prophetie, Hyeremias
scilicet qui fuit quasi pater, Ezechiel qui fuit heres prophetie ipsius, et Daniel
cui revelata sunt secreta celestia.“ Psalt. II, fol. 275ra.
2
[[Hebr 8,1-6 >> Bible:Heb 8,1-6]].
215 ABBILDUNGEN
der göttlichen Gnade – von Tag zu Tag in ihren Kindern, bis sie
in der elften und zwölften Generation, in den Tagen Davids und
Salomos zur Königsherrschaft erhöht wurde. Auf ähnliche
Weise betrifft das auch die Kirche, die man das neue Jerusalem
nannte. Sie wurde nämlich bis zu den Zeiten Konstantins so
verborgen und vom fleischlichen Volk so verachtet, als ob ihr
keinerlei Autorität (auctoritas) und Gnade zu eigen sei.1
Deutlicher wird die Passage erst, wenn man berücksichtigt, daß
Joachim nicht nur auf Gottfried von Auxerre antwortet, sondern
offenbar ebenso auf Otto von Freising. Ottos Chronica sive historia
de duabus civitatibus scheint überhaupt die wichtigste Quelle von
Joachims Geschichtskenntnissen gewesen zu sein, manchmal wirken
die knappen Bemerkungen und Anspielungen des Abtes sogar so, als
würde er bei seinen Lesern die Kenntnis der Chronik voraussetzen.2
1
Int. cal. I, De Leo 135,17-23; vgl. Conc. IIIb,2, fol.39rb, Daniel 289,16-18.
2
Es empfiehlt sich immer, Ottos Chronik begleitend zu Joachims Werken zu
lesen. Der Papst- und Kaiserkatalog am Ende von Buch VII., den Otto sicher
anderen Quellen entnommen hat, bietet lange Tafeln, die die Reihe der Kaiser
und parallel dazu die Reihe der Päpste wiedergeben. Sie könnten ein
entscheidender materialer Grundstock für Joachims Konkordanzen gewesen
sein, zumindest aber hatten beide ähnliche Quellen. Hier (nicht aber im Textteil
der Chronica) findet sich die auch bei Joachim begegnende „Verwechslung“
zwischen Heinrich II. und Heinrich I. Selbst dort, wo sich ein direkter Bezug zu
Joachim nicht feststellen läßt, ist die Chronica von Interesse, denn sie gibt
zuverlässig den damaligen Stand historiographischen Wissens wieder und
referiert nicht selten die unter Zeitgenossen übliche Deutung des
Geschichtsverlaufs – wobei man Ottos genuine Interpretationen natürlich nicht
unterschätzen darf. Neben der Chronica benutzte Joachim mindestens noch
Augustinus’ De civitate Dei, die von Rufinus von Aquileia übersetzte und
fortgeführte Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea sowie die
Weltgeschichte des Orosius. Augustinus kam schon oben zur Sprache, wo es um
König Usija ging. Rufinus/Eusebius läßt sich als Quelle etwa dort nachweisen,
wo Joachim den Bericht Philos von Alexandrien über die jüdischen Therapeuten
erwähnt und sie im Anschluß an Eusebius fälschlich für christliche Mönche hält.
Exp. Intr., fol.19va; vgl. [[Hist. eccl. II,16-17 >> Eusebius:Hist. eccl. 2.16-17]].
Auf Orosius verweist Joachim in Conc. I,4, fol.3va, Daniel 34,16. Immerhin
gehörte Joachim eine Zeit lang den Zisterziensern an, konnte also sicher ohne
größere Schwierigkeiten die Schriften seines Ordensbruders Otto von Freising
erreichen. Im 12. Jahrhundert gab es neben der Chronica ohnehin nicht viele
Möglichkeiten, an eine vollständige und bis fast in die Gegenwart reichende
Kirchengeschichte zu gelangen, wie sie Joachim für seine Arbeit benötigte.
Eine viel gewagtere Überlegung wäre – sie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht
überprüft werden und findet deshalb nur in einer Fußnote Erwähnung –, ob es
nicht zumindest eine Nebenabsicht Joachims war, mit dem Liber Concordiae
eine Generalrevision der Geschichtsschreibung Ottos zu unternehmen, also eine
Art Gegenchronik zu verfassen. Selbstverständlich waren die beiden nicht in
jeder Beziehung verschiedener Meinung. Aber es sieht so aus, als hätte Joachim
in den ersten vier Büchern des Liber Concordiae das gesamte Material von
Ottos Chronica gesichtet und auf der Grundlage der Konkordanzenlehre und
seiner spezifischen Geschichtsdeutung so ausgewählt und umgedeutet, daß das
218 ABBILDUNGEN
[[@Page:183]]
Nun hatte Otto im Vorwort zu Buch IV eine bedeutsame Frage
aufgeworfen, als er von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der
„konstantinischen Wende“ handelte. Es lohnt sich, die Stelle etwas
ausführlicher zu zitieren:
Da also der Herr die Kirche nach vielen Prüfungen und
Verfolgungen erhöhen wollte, hat er sich eine Person im
besonderen ausgewählt, durch die er dies am besten erreichen
konnte. Für diesen Zweck hat er den römischen Kaiser
bestimmt, auf den damals die ganze Welt ihren Blick richtete,
und hat in ihm nicht nur den Glauben erweckt, durch den er aus
der Finsternis des Irrwahns zur Erkenntnis des wahren Lichts
gelangte, sondern ihm auch die Liebe eingegeben, mit der er
Gottes Staat (civitas) durch viele Ehrungen erhöhen und mit
reichen Mitteln und Besitzungen ausstatten sollte. Und damit du
erkennst, daß dies nicht durch blinden Zufall, sondern durch
Gottes tiefen und gerechten Ratschluß geschehen ist, siehe, wie
der Staat Gottes, der vordem im Verborgenen war und sich vor
jedem beliebigen Manne niedersten Standes ducken mußte, in
kurzem solche Macht gewinnt, daß er nun über Könige gebietet
und über Könige richtet; siehe, wie er von der Welt so hoch
geehrt ist, daß die Herren der Erde kommen, sich beugen vor
ihm und niederfallen vor den Füßen des auf dem Throne
Sitzenden. Nun aber erhebt sich eine wichtige Frage und tiefe
Meinungsverschiedenheit über die Rechte des Königtums und
des Priestertums. Manche behaupten nämlich, angeblich aus
religiösen Gründen (religionis obtentu), andere im Hinblick auf
das weltliche Ansehen, durch das die Machtfülle des Reiches
offensichtlich geschmälert wird, diese irdische Herrlichkeit und
dieser weltliche Besitz stehe den Priestern Christi, denen doch
die Herrlichkeit des Himmelreiches verheißen ist, nicht zu und
sie führen dafür viele Beweise an.1
Otto kommt zu einem Urteil, das zwar die Legitimität der
konstantinischen Schenkung bestätigt, aber noch nichts darüber sagt,
ob dieser Zuwachs an weltlicher Macht der Kirche letztlich genutzt
oder geschadet habe:
[Es] ist also erwiesen, daß Konstantin mit vollem Recht der
Kirche die Regalien verliehen hat und daß es der Kirche erlaubt
war, sie anzunehmen. Denn wenn wir Könige fragen, nach
welchem Recht sie diese Befugnisse haben, pflegen sie zu
antworten: auf Grund der Anordnung Gottes und der Wahl des
Volkes. Wenn also Gott kein Unrecht damit getan hat, daß er
anordnete, den Königen diese Befugnisse zuzuerkennen, um
wie viel weniger darf man ihn dann deshalb des Unrechts
zeihen, weil er bestimmt hat, daß sie von der weltlichen auf die
geistliche Person übertragen wurden!1
Wie aus den zitierten Passagen hervorgeht, haben weder Joachim noch
Otto den ge[[@Page:184]]ringsten Zweifel daran, daß die
konstantinische Schenkung Gottes Willen entspricht.
Selbstverständlich stellt keiner von beiden die Echtheit der
Schenkungsurkunde in Frage, bedenkt man aber, daß die Fälschung
seit dem Investiturstreit eine wichtige Rolle bei der Legitimation des
päpstlichen Führungsanspruches spielte, wird deutlich, daß bereits die
heilsgeschichtliche Einordnung der Donatio von äußerster politischer
Brisanz war. Es geht um abermals um das Zentralproblem der
hochmittelalterlichen politischen Theorie, um das Verhältnis von
Königtum und Priestertum in der Ordnung der christianitas.
Wie gesehen, finden Joachim und Otto ganz ähnliche Worte für
die frühe Kirche. Sie sei noch verborgen gewesen und derart
erniedrigt, daß man ihr keinerlei auctoritas zugesprochen habe
(Joachim) und sie sich vor jedermann hätte ducken müssen (Otto). Der
Bischof von Freising schildert weiterhin, daß Konstantin die Kirche
aus diesem Zustand befreit habe, indem er ihr Güter, Besitzungen und
Ehrungen habe zuteil werden lassen und am Ende gar die Regalien
übergab. Damit aber noch nicht genug, denn anschließend sei
Konstantin selbst nach Byzanz umgezogen – mit gewaltigen
Konsequenzen:
Infolgedessen behauptet die römische Kirche, daß ihr die
Herrschaft über das Abendland als von Konstantin übertragen
zustehe […].2
Otto referiert kurz einige widersprüchliche Meinungen über diesen
Anspruch, meint aber schließlich, es sei nicht seine Aufgabe, „dies
alles zu entscheiden“.3 Was jedoch dann folgt ist eine komprimierte
Weltgeschichte, die beweisen soll, daß die Bürgerschaft Gottes von
Adam bis Konstantin fast immer in Schwierigkeiten war.4 Es habe
1
Chron. IV, prol., Schmidt/Lammers 295,9-18.
2
Chron. IV,3, Schmidt/Lammers 307,5-7. Im Text der Donatio (§18) heißt es:
„Unde congruum prospeximus, nostrum i m peri um et regni potestatem
ori ent al i bus t ransferri ac transmutari regionibus et in Byzantiae provincia
in optimo loco nomini nostro civitatem aedificari et nostrum illic constitui
imperium; quoniam, ubi principatus sacerdotum et christianae religionis caput
ab imperatore caeleste constitutum est, iustum non est, ut illic imperator
terrenus habeat potestatem.“ Mirbt 112,18-22. Hervorh. i. Orig. Dazu: Ullmann
1960, S.126ff.
3
Chron. IV,3, Schmidt/Lammers 307,22.
4
Chron. IV,4. Selbst die Bedeutung des davidischen Königtums wird zu diesem
Zweck heruntergespielt.
220 ABBILDUNGEN
verändern und sich zugleich von ihr fernhalten soll. Als unterdrückte
und verfolgte Gemeinschaft war die Kirche innerlich rein und brachte
reihenweise heilige Märtyrer hervor. Doch ihr Auftrag besteht nun
einmal darin, das Wachstum des Gottesreiches durch die
Verkündigung des Evangeliums zu befördern, daher mußte sie in die
Öffentlichkeit treten. Predigt und Seelsorge, das sind für Joachim
unausweichliche Notwendigkeiten, aber zugleich Anlaß zu
Verunreinigung, das heißt Verweltlichung. Doch es gibt keine Wahl.
Die Welt ist durch die Sünde verdorben und das Heilswerk, das
Christus begonnen hat, muß in der Kirche, seinem Leib fortgesetzt
werden. Alle Übel, die die Kirche treffen sind Mitvollzug der Passion
Christi und Sühne für den Sündenfall, dazu gehören nicht nur die
Verfolgungen, sondern auch die Notwendigkeit, in die Welt zu gehen,
Kämpfe auszufechten und Herrschaft auszuüben. Die konstantinische
Schenkung mußte angenommen werden, damit die Kirche ihren
Heilsauftrag wirkungsvoller ins Werk setzen konnte. Sie mußte
angenommen werden, zweifellos, aber in dem demütigen Bewußtsein,
daß es sich um die Bürde der Sühne handelt und nicht um ein
Verdienst. Eine theokratische Kirche, wie sie Joachim sich wünscht,
wäre nur dort möglich, wo alle Glieder des Christusleibes sich aus der
Welt zurückziehen könnten, im Jenseits – oder dort, wo alle
Gläubigen Mönche wären. Erst dann würde sich die theokratische
Spannung lösen, die Joachim ebenso verspürt wie einst die großen
Propheten Israels.
Doch davon ist die Kirche in der Zeit Konstantins weit entfernt.
Unter ihren Führern, die nunmehr mit der regalis potestas ausgestattet
sind, wird sie von den weltlichen Mächten nicht mehr nur unterdrückt
und gedemütigt, sondern knüpft mit ihnen bilaterale Beziehungen.
(Wie schon gesehen, entspricht diese Sichtweise den tatsächlichen
Entwicklungen ab der Mitte des 12. Jahrhunderts.) Den Anfang macht
Byzanz, das neue Ägypten. Salomo ging einst eine Verbindung mit
dem Pharao ein und nahm dessen Tochter zur Frau. 1 Jetzt verbündet
sich der Papst mit dem Kaiser, also dem Führer in den öffentlichen
Angelegenheiten (princeps rei publice), und erhält dafür dessen
Tochter, das mit Privilegien und Ehren ausgestattete Konstantinopel,
zum Weib.2 Dahinter verbirgt sich nichts anderes, als die
Überzeugung, der Kaiser habe das konstantinopolitanische Patriarchat
der Lehrhoheit der römischen Kirche unterstellt, eine Meinung, die
eher auf die Silvesterlegende zurückzuführen ist, als auf die
tatsächliche Religionspolitik Konstantins.3 Es wäre jedoch müßig, mit
dem heutigen historischen Wissen an Joachims stark schematischer
Geschichtsdarstellung Kritik zu üben. Viele seiner Deutungen würde
1
1 Kön 3,1.
2
Int. cal. 1, De Leo 136,4-7; vgl. Augustinus, [[De civ. Dei V,25 >>
Augustine:De civ. Dei 5.25]].
3
HbKg II/1, S.24.
225 ABBILDUNGEN
rum a Iuliano usque ad Carolum, cuius generatio vicesima quarta respicit Eze-
chiam; tempus Babilonensium et Chaldeorum ex eodem tempore usque ad pre-
sens. […] Fuit in primo cursu ecclesie christianus populus Israel, in secundo
factus est Egyptus, in tertio quod deterius factus est Babilon. Rex itaque Babi-
lonis, qui misit munera ad Ezechiam, illos devotos principes respicit, qui satis
benigne et humane Romanam tractaverunt ecclesiam. Fecerunt quippe hoc
reges Francorum, quibus datum es Romanum imperium, eo scilicet tempore,
quo verti iam ceperat in Babilonem, unde et reges Babilonis in spiritu dicti sunt.
Quod autem sub vicesima quarta generatione Israel satis se devotum et humi-
lem exhibuit rex Babilonis regi Iude, humilitatem principum Francorum perno-
tat, qua licet data sibi esset potestas in Urbe, devotos se tamen a principio exhi-
buerunt circa sanctam ecclesiam, etsi iam ut dixi, christianus populus, qui ali-
quando erat Israel, in Babilonesium confusionem deveniret, propter quod et
reges ipsi ultimi principes Babilonis dicendi erant, non mutatione loci, sed
conversionis distantia. Quod autem post regem illum Babilonis, qui misit litte-
ras et munera ad Ezechiam regem Iuda, surrexerunt tandem alii circa finem re-
gni Iuda, qui coegerunt reges Iuda transmigrare in Babilonem, illos prorsus de-
signat Romanos principes, qui vice Chaldeorum successerunt Gallis, per quos
libertas ecclesie iam pene ad nichilum redacta est […].“ Int. cal. 1, De Leo
138,24-139,12. Vgl. Exp. Intr., fol.7vb: „Ut ergo in quinto tempore reges egypti
et babilonis qui aliquando videbantur fuisse amici regum iuda deterius pre cete-
ris gentibus afflixerunt eos, ita in tempore ecclesie quinto et maxime a diebus
henrici primi, imperatoris alamannorum mundani principes qui christiani dicun-
tur et qui primo videbantur venerari clerum, deterius pre gentibus que ignorant
deum auferre quesierunt libertatem ecclesie et quantum ad eos pertinet abstu-
lisse noscuntur.“
1
2 Kön 18,21. Joachim zitiert die Stelle nicht, hat aber sicher an sie gedacht
und konnte sie bei einem bibelkundigen Publikum voraussetzen.
2
Vgl. Conc. IV,4, fol.45vb, Daniel 333,44-47; Conc. IV,16, fol.50va-vb, Daniel
368,75-369,78.
230 ABBILDUNGEN
Gespür für die Feinheiten der politischen Symbolik, in der sich das
Verhältnis von Papst und Kaiser ausdrückt, wenn er Karl zwar den
weltlichen Rang des princeps Gallie und den Beamtentitel des
patricius Romanorum zubilligt, der die Verpflichtung zum Schutz der
römischen Kirche beinhaltet, von Salbung und Kaiserkrönung aber
schweigt.1) Doch auf die Karolinger und Ottonen, die die Kirche gütig
und menschlich (benigne et humane) behandeln,2 folgen die
schlechten „chaldäischen“ Dynastien der Salier und Staufer, die die
Freiheit der Kirche fast auf ein Nichts herabgesetzt haben (pene ad
nichilum redacta). Damit ist Joachim in der Gegenwart angekommen
und seine Intention wird allmählich offenbar.
Die Freundschaft mit Neu-Babylon wendet sich in die
Katastrophe und der Höhepunkt ist nunmehr erreicht. Als Joachim den
Brief an Gottfried von Auxerre schrieb, waren die wichtigen
Entscheidungen scheinbar schon gefallen. Die schriftliche Fassung der
Intelligentia super calathis sollte ganz offensichtlich im Rückblick
klären, ob das Vorgehen der Kurie richtig war. Die Antwort ergibt
sich aus dem Prinzip der Konkordanz: Die Kirche sollte sich so
verhalten, wie Gott wollte, daß sich Israel gegenüber den Chaldäern
unter Nebukadnezzar verhält. Damals aber gab es zwei Parteien, jene,
die sich gemeinsam mit dem König Jojachin den Chaldäern
auslieferten und nach Babylon verschleppt wurden,3 sowie jene, die
unter Zidkija, dem von Nebukadnezzar eingesetzten König,
zurückblieben und später gegen die Chaldäer rebellierten.4 Gott ließ
durch seinen Propheten Jeremia erklären, welches die bessere Wahl
war:5
Der Herr ließ mich schauen: Da standen zwei Körbe mit Feigen
vor dem Tempel. […] In dem einen Korb waren sehr gute
1
Int. cal. I, De Leo 138,15f. Über den patricius Romanorum: Ullmann 1960,
S.98ff. Der Titel wurde zwar schon an Pippin verliehen, aber auch Otto von
Freising erwähnt ihn zum ersten Mal bei Karl. Chron. V,28, Schmidt/Lammers
418,18f. Pippin weigerte sich bezeichnenderweise, den Titel anzunehmen,
vielleicht weil er wußte, mit welchen Verpflichtungen er verbunden war und
wie wenig er der fränkischen Herrscheridee entsprach. Ullmann 1960, S.111,
Anm. 105.
2
Vgl. Conc. IV,16, fol.50va, Daniel 368,66-69.
3
1 Kön 24,10-16.
4
1 Kön 24,17-25,1.
5
Ob die Judäer damals tatsächlich die Wahl hatten, ist natürlich zweifelhaft. Es
sieht so aus, als hätten die Chaldäer gezielt die Führungsschicht, die
Wehrfähigen und die Metallhandwerker verschleppt. Vgl. 2 Kön 24,14; Jer
24,1. Entscheidend ist hier nur, daß Joachim mit Hinblick auf die Gegenwart
eine solche Wahlmöglichkeit gegeben sah. „Laudatur ergo, qui sic transmigrat,
qui sic pro peccatis in confusionem adduci permittit, non quidem absolute
tamquam iustus, sed tamquam qui e duobus eligit illud, quod facilius curari
possit et cui potius presto sit miseratio Domini […].“ Int. cal. 2, De Leo
144,19-23.
231 ABBILDUNGEN
*
1
„Sed que utilitas in libertate ista, in qua non est salus? Quocirca si utilitatem
intuemur, duo genera libertatis sunt et totidem genera servitutis. Est enim
bona libertas designata in mansione Ezechie et mala libertas in pertinatia
Sedechie. Es enim bona servitus designata in captione Iechonie, et mala item
servitus designata in captione Sedechie. Quando enim clerus liber est et humili-
ter optemperat regi suo, tunc bona est in omnibus libertas. Cum vero de liber-
tate sua in sublime erigitur et pro superbia traditur hosti nec rennuit, agnoscens
se pro culpa sua evacuatum iuribus nec posse resistere inimicis, tunc quidem de
libertate superba ad humilem servitutem perducitur, ut humiliatus et confusus
salutarem medicinam accipiat, sicut hii qui cum Iechonia in Babilonis provin-
ciam ducti sunt.“ Int cal. 2, De Leo 147,2-12. Vgl. Grundmann 1977, S.375ff.
Gottfried von Auxerre scheint genau diese Sicht der Dinge bezweifelt zu haben:
„Opponat aliquis et dicat: ‚Et si ita est, quare tradit Dominus servum suum in
manu hostis, ut tradatur in Babilonem?‘ Sed dicat mihi, quicunque est ille,
quare permisit hominem temptari, quem sciebat prostrandum et ducendum
revera in Babilonem? et ego illi satisfaciam super questione ista, ostendens
meliorem esse servitutem humilem libertate superba: superba, inquam
meliorem, non humili, elata, non prostrata potenti.“ Int. cal. 1, De Leo 139,27-
32. Offenbar hat er sich auch geweigert, die gegenwärtige Misere auf die
Sündhaftigkeit der Kirche zurückzuführen und plädierte wohl eher dafür, daß
die Kurie sich zu wehren habe: „Alioquin si iccirco non putatur esse culpa
transmigrari in Babilonem, quia id consulere videbatur, videat qui hoc putat
penam fuisse peccati transmigrationem illam, a qua tamen velle eripi et corrigi
nolle, contumatie esse vitium non virtutem […].“ Int. cal. 1, De Leo 140,21-24.
2
Der Kollektivismus äußert sich am deutlichsten, wo Joachim die Kirche als
„hochmütige Jungfrau“ personifiziert: „Lugeat ergo superba virgo si corrupta
ducetur in Babilonem, sed sciat se omnino stare non posse nisi humilietur et
diligat, quia iusto iudicio ducetur vel invita in Babilonem, sicut Sedechias rex
Iuda, tantumque distare inter superbam virginem ex peccato conversam et quasi
in Babilonem iam positam, quantum inter ficus malas et ficus bonas, quia illa
manet in alto ut corruat, ista manet in imo et elevari iam cepit. Illi enim dicitur
id quod audivimus de ista non sic, sed gaudium e(rit) in c(elo) s(uper) u(no)
p(eccatore) p(enitentiam) a(gente).“ Int. cal. 1, De Leo 140,2-9; Lk 15,7.
233 ABBILDUNGEN
Der zweite Teil der Intelligentia blickt auf die jüngsten Ereignisse
zurück: Als die Weihe Papst Cölestins III. endlich vollzogen war,
krönte er am Ostersonntag 1191 Heinrich VI. zum Kaiser.1 Der Preis
der Einigung war hoch: Um die Stadtrömer zufriedenzustellen, hatten
sich Papst und Kaiser darauf verständigt, ihnen die altehrwürdige
Stadt Tusculum zu überlassen, gegen die die Bürger Roms schon
lange tiefen Haß hegten. Tusculum wurde in einem Gewaltrausch
zerstört, die Einwohner niedergemacht oder vertrieben. Heinrich zog
gegen den Willen des Papstes weiter nach Süden, konnte aber Neapel,
wo sich die wichtigsten Anhänger seines normannischen Widersachers
Tankred von Lecce verschanzt hatten, nicht einnehmen. Stattdessen
richtete er all seine Kraft darauf, die Umgebung zu verwüsten. Erst als
im deutschen Heer die Malaria ausbrach und es gewaltig dezimierte,
kehrte der Kaiser um und ließ weit und breit nichts als verbrannte
Erde zurück.
Der Schrecken war groß über das Ausmaß der Katastrophen, die
unmittelbar auf die Kaiserkrönung gefolgt waren und die man mit ihr
im Zusammenhang sah. Für die Entscheidung der Kurie aber machte
man Joachim von Fiore verantwortlich – zumindest tat dies Gottfried
von Auxerre. Er selbst war wahrscheinlich wie die Minorität der
Kardinäle der Meinung, man hätte dem Staufer die Krone verweigern
und im Ernstfall [[@Page:196]]mit Waffengewalt gegen ihn vorgehen
sollen.2 An Gottfried richtet Joachim eine große Rechtfertigungsrede,
die schon bald in ein Credo seiner kirchenpolitischen Ansichten
abbiegt und in mahnenden Worten an den Gegner endet:
Es ist keineswegs absolut erlaubt, sich jeder beliebigen Gewalt
des Königs von Babylon auszuliefern, sondern nur wenn die
Sünden es verdienen und es keine angemessene Rechtfertigung
gibt; etwas anderes ist gar nicht erlaubt, wenngleich auch dies
nicht ohne Schaden möglich sein konnte – auf daß nicht noch
Schlimmeres geschehe. Man liest nämlich, daß Jeremia diesen
Rat nur in der äußersten Notlage gegeben habe, die wir nun auf
ähnliche Weise in der Kirche eingetreten sehen. Forscht
sorgfältig im Buch des Herrn und fragt die Herren Kardinäle, ob
sie etwa meinen, den Fürsten der Welt sei vom römischen Stuhl
1
Zum folgenden: Csendes 1993, S.91ff.
2
Vgl. Zerbi 1980, S.93; Grundmann 1977, S.384, 388f. Entgegen Herbert
Grundmann (ebd., S.393) möchte ich annehmen, daß die Schrift nicht während
jener Ereignisse verfaßt wurde, sondern nachher. Es sieht so aus, als ginge es
um die Rechtfertigung einer bereits gefallenen Entscheidung, die Joachim
billigte und die dem von ihm mündlich gegebenen Rat zu entsprechen schien.
Dieser in Form der Jeremiaexegese gegebene Rat war es ja offensichtlich, über
den soviel diskutiert wurde, und den Joachim meinte richtigstellen zu müssen.
Das geht aus dem im Anschluß wiedergegebenen Zitat hervor, wo er davon
spricht, daß es schlimmer hätte kommen können, wenn man sich anders
entschieden hätte und keine Zugeständnisse gemacht hätte.
234 ABBILDUNGEN
1
Wenn Joachim Gottfried empfiehlt, die „Herren Kardinäle“ zu fragen, dann
nicht – wie vermutet wurde –, weil er auf dessen gute Kontakte zur Kurie
anspielen will, sondern weil Joachim mit der Mehrheit der Kardinäle einer
Meinung ist und weil sie in seinem Sinne entschieden haben. Vgl. Potestà, Gian
Luca: „Ger 24 nell’interpretazione di Gioacchino da Fiore“, in: Giuseppe
Ruggieri: La cattura della fine. Variazioni dell’escatologia in regime di
cristianità. Genua: Marietti, 1992, S.63-88, S.83, Anm.57.
2
Gemeint sind die Niederlagen, die Papst Leo IX. und Papst Innozenz II. gegen
die Normannen erlitten. Grundmann 1977, S.380f.
3
De Leos Edition hat sanitas. Grundmann meint, es müßte eher sanctitas
heißen. Grundmann 1977, S.383, Anm.38. Der Gesamtzusammenhang wird
aber in jedem Fall verständlich.
235 ABBILDUNGEN
Krieg.“1
1
Conc. V,92, fol.122va; Jes 2,2-4; vgl. Mi 4,1-3. Vgl. Ench., Burger 39,984-
999.
2
Vita Joach. (Anon.), Grundmann 350-352. Wenn Joachim von Gottfried und
vielleicht auch von anderen Zeitgenossen für die Untaten Heinrichs
mitverantwortlich gemacht wurde, dann kann man den Passus ebensogut als
Apologie lesen – was aber noch nichts über den historischen Gehalt des Textes
sagen würde. Heinrichs jüngster Biograph hält den Bericht für glaubhaft.
Csendes 1993, S.102, 151.
3
Wenn die Vita berichtet, Joachim habe gesprochen ad hominem, quem sensum
et scientiam vidit intellegere propositionum, conversus, dann ist damit nicht
irgendein Gelehrter aus Heinrichs Gefolge gemeint, wie Herbert Grundmann
meint, sondern der Kaiser selbst. Das geht sowohl aus den Folgesätzen, in
denen Heinrich das Subjekt bleibt, als auch aus dem Gesamtkontext hervor.
Wie Grundmann richtig bemerkt, spielt der Autor auf Dan 8,23f. Vg an. Dort
ist das intellegens propositionum aber über den rex inpudens facie ausgesagt,
der Verwüstungen anrichtet, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen
(supra quam credi potest universa vastabit). In diesem Zusammenhang kann
damit nur Heinrich gemeint sein. Vgl. Grundmann 1977, S.317.
4
Auf die Authentizität der Erzählung deutet hin, daß Joachim auch im Liber
Concordiae prophezeit, „Tyrus“ werde bald in die Hände der Neu-Chaldäer
fallen. Conc. V,108, fol.126ra.
5
Zumindest konnte man [[Ez 29,18 >> Bible:Hes 29,18]] so verstehen.
239 ABBILDUNGEN
6. Zusammenfassung
Einige Punkte sollten in diesem Kapitel deutlich geworden sein:
1. Joachim von Fiore war kein zurückgezogener Mönch, der
fernab des weltlichen Ringens sein Leben in Kontemplation
verbrachte. Auch wenn das seiner Vorstellung einer geistlichen
Lebensführung entsprochen hätte, mußte er lernen, daß dieses Ideal in
seiner Zeit kaum erreichbar war. Anders als die orientalischen
Eremiten, aber in Übereinstimmung mit der monastischen Tradition
des Westens sah der Abt sein Schicksal eingebunden in die
geschichtliche Situation der Kirche. Wie sein Vorbild Bernhard von
Clairvaux versuchte er daher, der Kirche beizustehen, wenn sie darum
rang, ihrem Heilsauftrag gerecht zu werden. Joachim stand mitten in
den politischen Auseinandersetzungen seiner Gegenwart und
versuchte aktiv auf sie einzuwirken. Alle
Darstellun[[@Page:202]]gen, die das Bild eines meditativen
Mönchstheologen zeichnen, der alle seine Einsichten aus
Kontemplation und Bibelexegese gewonnen hätte, beschreiben nur
einen Teil seiner Persönlichkeit, und möglicherweise nicht einmal den
entscheidenden.2 Die Legende vom spirituellen Überwinder aller
1
Vita Joach. (Lucas), Grundmann 356.
2
Johannes Chrysostomus Huck spricht von Joachim als dem „mystisch
grübelnden ‚Seher‘ auf der Höhe des einsam-wilden Silagebirges“. Huck,
Johannes Chrysostomus: Joachim von Floris und die joachitische Literatur.
Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des hohenstaufischen Zeitalters mit
Benützung und teilweiser Veröffentlichung ungedruckter Joachimsschriften.
241 ABBILDUNGEN
Freiburg i. Br.: Herder, 1938, S.227. Bei einem anderen Autor heißt es: „Nicht
die Welt der Kathedralschulen, sondern das Kloster und das monastische Leben
ist seine geistige und geistliche Heimat. In dieser Schule geht es um die
Einübung in die befreiende Wahrheit der Liebe in Lesung, Gebet und
Meditation.“ Mehlmann, Axel: „Confessio trinitatis. Zur trinitätstheologischen
Hermeneutik Joachims von Fiore“, in: Margot Schmidt und Fernando
Domínguez Reboiras (Hrsg.): Von der Suche nach Gott. Helmut Riedlinger
zum 75. Geburtstag. Suttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1998, S.83-
108, S.86. Das ist prinzipiell nicht falsch, aber eben nur ein Teil der Wahrheit.
Es ist evident, daß von diesem Standpunkt aus keine der bisher betrachteten
Schriften erklärt werden kann. Joachims Rolle als Ordensgründer verweist
nicht weniger auf ein äußerst aktives Leben. Walter Holtzmann, der
Herausgeber einiger mit Joachims Ordensgründung verbundenen Urkunden,
schreibt: „[…] wie überhaupt die urkundliche Überlieferung Joachim viel mehr
im Lichte eines sehr tätigen Geschäftsmannes und Organisators erscheinen läßt
als die hagiographische, die darauf hinausläuft, den Beweis für seine
Prophetengabe und seine Askese zu erbringen.“ Holtzmann 1956, S.10. Auch
Joachims Bildungshintergrund läßt sich nicht auf die kontemplative Theologie
reduzieren, bedenkt man allein sein großes Interesse für die Historiographie.
242 ABBILDUNGEN
er, die Psalmen waren einzig zu dem Zwecke verfaßt, Gott zu loben.
Und nur wer sie in [[@Page:207]]diesem Sinne sang, den weihte der
Herr vielleicht in die höheren Mysterien ein.1 Doch als Joachim sein
Lobesopfer (sacrificium laudis) darbringen wollte, befielen ihn
plötzlich Glaubenszweifel:
Inzwischen, als ich ins Oratorium ging und vor dem heiligen
Altar den allmächtigen Gott anbetete, entstand in mir gleichsam
eine gewisse Unentschlossenheit (hesitatio) hinsichtlich des
Glaubens an die Trinität, als ob es für den Intellekt oder den
Glauben nur schwer faßbar wäre, daß alle Personen ein Gott
sind, und ein Gott alle Personen ist.2
Joachim erschrak sehr ob seines Zweifels an den zentralen
Glaubenswahrheiten des katholischen Bekenntnisses, denn wer jene
Überzeugungen nicht teilte, war ein vom Heil ausgeschlossener
Ungläubiger oder Ketzer. In seiner Furcht rief er den Heiligen Geist
an, jenen Geist, von dem Jesus einst sagte, daß nur er die ganze
Wahrheit lehre.3 Der Abt hoffte, daß es ihm gerade am Festtag der
dritten göttlichen Person gelingen könne, gleichsam durch Theurgie
ein persönliches Pfingsten herbeizuführen und vom Geist selbst in das
heilige Mysterium der Trinität eingeweiht zu werden.4 Er war
erfolgreich:
Dies aussprechend begann ich zu psalmodieren, um zur
vorgenommenen Zahl zu gelangen. Ohne Verzögerung
begegnete in meinem Inneren (animus) bald die Form des
zehnsaitigen Psalters und in demselben so licht und deutlich das
Mysterium der heiligen Trinität, daß ich unverzüglich
gezwungen war auszurufen: „Wo ist ein Gott, so groß wie unser
Gott? Du allein bist der Gott, der Wunder tut.“ Und: „Groß ist
unser Herr und gewaltig an Kraft, unermeßlich ist seine
Weisheit.“5
Man wird auch hier mit Recht von einem Visionserlebnis sprechen
dürfen, da es sich Joachims Worten zufolge eindeutig um ein
innerliches Sehen handelt. Es gilt lediglich die Eigenart der
Erfahrungsweise herauszustellen, die jener ersten Vision eines
Baumes nicht unähnlich ist. Joachim sieht nicht das göttliche Licht
selbst, er vollzieht weder die Vereinigung mit der Gottheit wie ein
1
Joachim bezieht sich auf Ps 50,23: „Wer Opfer des Lobes bringt, ehrt mich;
wer rechtschaffen lebt, dem zeig’ ich mein Heil.“
2
Psalt. praef., fol.227rb.
3
Joh 16,13.
4
„Quod cum accideret timui valde et conterritus vehementer conpulsus sum in-
vocare Spiritum sanctum cuius sacra sollempnitas presens erat, ut ipse michi
dignaretur ostendere sacrum misterium Trinitatis in quo nobis promissa est a
Domino omnis notitia veritatis.“ Psalt. praef., fol.227rb-va; korr. n. Selge.
5
Psalt. praef., fol.227va; Ps 77,14f.; [[147,5 >> BibleLU1912:Ps 147,5]].
247 ABBILDUNGEN
Mystiker noch wird ihm eine Thronvision zuteil wie einst Ezechiel
oder Johannes von Patmos. Er sieht vor seinem inneren Auge ein
einziges Bild, das ihm als die unmittelbare Antwort auf alle seine
Fragen erscheint.
Nun wird man sagen, daß es nicht gerade unwahrscheinlich ist,
beim Psalmodieren an den Psalter zu denken. Vielleicht rezitierte
Joachim sogar gerade einen der beiden Psalmen, die von jenem
zehnsaitigen Musikinstrument sprechen, mit dem – wie man
[[@Page:208]]glaubte – schon König David die Lobgesänge begleitet
hatte.1 Aber darauf kommt es nicht an, wichtig ist allein, daß Joachim
in dem Moment, als er das Bild des Psalters schaut, die Erfahrung
eines plötzlichen Verstehens macht, eines Verstehens, das er aufgrund
seiner Unmittelbarkeit nicht als Resultat eines Denkprozesses
begreifen kann, sondern nur als Eingebung des Heiligen Geistes.
Diese Erfahrung von Casamari ist es nicht zuletzt, auf die man
Joachims Begriff des geistlichen Verstehens (intelligentia spiritualis)
zurückführen muß. Es handelt sich um die intellektuelle Fähigkeit des
charismatisch Begabten, die sich ausschließlich der göttlichen Gnade
verdankt, wenngleich sie in Reaktion auf die suchenden Bemühungen
des Kontemplativen verliehen wird. Sie ist das Signum einer
intellektuellen Elite, deren asketischer Eifer in der gläubigen
Wahrheitssuche mit der Gabe göttlicher Erkenntnis belohnt wird. Die
eigentliche Erkenntnis aber resultiert nicht aus dem visionären
Erleben, sondern der sich mitteilende Geist verweist den Empfänger
zurück auf die biblische Offenbarung – allerdings unter der neuen
Bedingung eines höheren, geistlichen Verständnisses, das den
Buchstaben transzendiert und den geistlichen Sinngehalt (intellectus
spiritualis) zum Vorschein bringt.
So wird ersichtlich, warum Joachim dem Psalterium eine Vorrede
voranstellt, in der er die Pfingstvision beschreibt. Denn auf diese
Weise stellt er klar, daß er sich selbst der Elite der viri spirituales
zuordnet. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn Joachim sich gleich
zu Beginn des ersten Buches von der konkurrierenden Elite der
scholastischen moderni absetzt. Deren neumodische und
abergläubische Harmonielehren könnten niemals zu einer Einsicht in
die göttliche Harmonie führen, wie sie einem geistlich Begabten zuteil
werde, der über die Gestalt und den Klang des Psalters meditiert. 2
Aber es geht nicht nur um Eifersüchteleien zwischen zwei
Intellektuellenparteien, sondern um zwei grundverschiedene Wege,
die Wirklichkeit zu erschließen. Während sich die in den Klöstern
geübte Mönchstheologie allein auf die Schriftmeditation und den
Beistand des Heiligen Geistes stützt, also auf kontemplative Weise zu
Einsicht gelangt, greifen die Theologen der Kathedralschulen verstärkt
1
Ps 33,2; 92,4.
2
Psalt. I, fol.228va.
248 ABBILDUNGEN
Joh 9,6.
1
Sh. v.a. Lib. Fig., tav.XII und XV.
2
„Quid enim potest esse suavius contemplatione divina? et per ea que facta
sunt in sapientia Dei, ad eius qui fecit omnia, speculationem venire? Sic enim
scriptum est per Apostolum: Invisibilia enim ipsius per ea que facta sunt a
creatura mundi intellecta conspiciuntur, sempiterna quoque virtus eius, et
divinitas […]. Psalt I, fol.228va-vb; vgl. Ps 103,24; Röm 1,20. „Quia tamen
invisibilia eius que exsuperant omnem sensum, non potest infirmitas
captivitatis inspicere, nisi per res visibiles contemplari studeat saltem sepisum
homo, cum de illa maiestate loqui cupit, ad creaturas nobiliores contemplandes
extendere, ut est in rebus visibilibus lux et in invisibilibus propria que hoc
cogitat anima seipsum homo comprehendere potest, inveniet in seipso
similitudinem Dei.“ Psalt. I,fol.229rb; vgl. Röm 1,20; Phil 4,7; Gen 1,26; 5,1.
3
„[…] qui non potest credere, intelligere nequit, quia tenebre incredulitatis
obcecant oculos mentis eius, et palpans in circuitu ostium non sinitur invenire.
Eis autem qui spernunt gloriam suam, datur a Domino ut possint credere, datur
ut credentes intelligere queant […].“ Exp. Intr., fol.2vb, korr. n. Selge. Vgl.
Praeph. Apc. I, Selge 104,54-57.
252 ABBILDUNGEN
1
Die äußerst komplexe Materie kann hier nur sehr selektiv behandelt werden.
Die detailreichste Studie zu Joachims Trinitätstheologie bietet: Mehlmann,
Axel: De unitate Trinitatis. Forschungen zur Trinitätstheologie Joachims von
Fiore im Zusammenhang mit seinem verschollenen Traktat gegen Petrus
Lombardus. Masch. Diss. Freiburg i. Br., 1991. Die scholastische Kritik an
Joachim behandelt: Schachten, Winfried H. J.: Ordo Salutis. Das Gesetz als
Weise der Heilsvermittlung. Zur Kritik des Hl. Thomas von Aquin an Joachim
von Fiore. Münster: Aschendorff, 1980. Die vielleicht hilfreichste Studie, die
Joachims Trinitätslehre und das Urteil von 1215 vor dem Hintergrund
zeitgenössischer Auseinandersetzungen behandelt, ist: Robb, Fiona: „The
Fourth Lateran Council’s Definition of Trinitarian Orthodoxy“, in: Journal of
Ecclesiastical History 48/1 (1997), S.22-43.
2
HbDgm I, S.184.
3
Ps 150,6.
254 ABBILDUNGEN
Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der
Herr‘ – zur Ehre Gottes des Vaters.“ […]
1
Exp. II, fol.113rb-vb; Phil 2,8-11; 1 Tim, 2,4.
2
„Idcirco enim Dei Filius venit in carne, ut videat omnis caro pariter salutare
Dei.“ Ench., Burger 71,2031f.; vgl. Exp. Intr., fol.17rb; Lk 3,6.
256 ABBILDUNGEN
[[@Page:217]]
Es ging dem Konzil nicht um Joachim selbst, das sei betont. Hätte
man ihn treffen wollen, wäre in seinen Werken viel Problematischeres
zu finden gewesen. Die Geschichtstheologie wurde vom IV.
Lateranum gar nicht beachtet, obwohl Papst Innozenz selbst mit ihr
vertraut war. Interessant ist, daß das Konzil von den zahlreichen
Analogieschlüssen Joachims keinen namentlich beanstandete,1 außer
einem einzigen. Im Dekret heißt es, Joachim gestehe zwar zu, daß
Vater, Sohn und Heiliger Geist eine Substanz, ein Wesen und eine
Natur seien …
Aber er bekennt, daß die Einheit (unitas) nicht solchermaßen
wahr und eigentümlich ist, sondern wie eine kollektive und
durch gegenseitige Ähnlichkeit gekennzeichnete (quasi
ically turns the concept of the quaedam summa res into an object, picturing it in
relation to other objects.“ Robb 1997, S.27; vgl. Mehlmann 1991, S.257f; 266f.
Freilich eifert Joachim zugleich seinen Vorbild Bernhard von Clairvaux nach,
der einst Gilbert de la Porrée gleichfalls den Glauben an eine quaternitas
vorhielt, weil er die Gottheit (deitas) zu den drei Personen hinzufüge. De cons.
V,vii,15, Winkler I,798 mit Anm.151.
1
Joachim wählt als kreatürliche Analogien zur Trinität u.a. die Sonne, das
Feuer und den Baum. Psalt. I, fol.229 rb-va, 232ra, 232va. Würde man nur eines
von Joachims Bildern betrachten, müßte man immer feststellen, daß sie alle in
irgendeiner Weise dem Dogma widersprechen. Aber damit hätte man Joachim
mißverstanden. Ihm ging es darum, mit jeder seiner Analogien einen
bestimmten Aspekt des göttlichen Wesens herauszustellen oder eine Ketzerei
zurückzuweisen. Zwar betont Joachim immer wieder, daß keines seiner Bilder
geeignet sei, die unbegreifliche Einheit Gottes zum Ausdruck zu bringen, aber
sein Fehler liegt darin, daß er die Analogien als Erklärung metaphysischer
Begriffe ausgibt, die er selbst als solche nicht verstanden hat. Das analogische
Schließen von der Kreatur auf den Schöpfer, das Joachim den nicht geistlich
begabten Gläubigen empfiehlt, verlangt die Verlagerung der Wahrnehmung
vom Auge des Fleisches auf das Auge des Verstandes, von der äußeren Schau
auf die innere Schau. Joachim, der das Erkenntnisziel aus der geistlich
verliehenen Einsicht schon kennt, sieht die Aufgabe des vir spiritualis darin,
diesen Erkenntnisprozeß zu lenken (dirigere). Psalt. II, fol.256rb. Aber immer
ist die göttliche Illumination, die auf die Herzen (corda) und nicht auf die
äußeren Augen (oculi exteriores) wirkt, Voraussetzung jeglicher Erkenntnis.
Psalt. I, fol.229rb. In diesem Sinne dienen Joachims Figuren vor allem dazu,
kontemplativ gewonnene Erkenntnisse festzuhalten und zu vermitteln, und
weniger dazu, die Trinitätsdogmatik bildlich darzustellen. Es versteht sich von
selbst, daß der assoziative Übergang von der äußeren zur inneren Schau keinen
Zwischenschritt metaphysischer Reflexion zuläßt. Weil Joachim meinte, durch
ständiges Zitieren dogmatischer Formulierungen seine Orthodoxie unter
Beweis stellen zu müssen, hat er der Klarheit seiner kontemplativen
Erkenntnislehre selbst geschadet. Auch die sogenannten trinitarischen Figuren
im Liber Figurarum (Lib. fig, tav.XXVI) dienen lediglich der Klärung
häretischer Positionen. Wollte man annehmen, Joachim hätte mit diesen
primitiven Bildchen das Wesen der Gottheit darstellen wollen, müßte man ihm
eine Naivität unterstellen, die sich anhand seines Werkes nicht bestätigen läßt.
259 ABBILDUNGEN
in Studien über das Psalterium übersehen wird, daß das Werk mit
einem Visionsbericht beginnt. Denn dann kann es leicht geschehen,
daß das pädagogisches Konzept für die Masse, also der Weg von den
visiblia zu den invisibilia, und die Erkenntnislehre für die Elite, also
der Weg von den invisibilia zu den visibilia, verwechselt werden.1
Diese beiden Wege zum göttlichen Wissen, von denen der eine
gleichsam induktiv von unten nach oben und der andere deduktiv von
oben nach unten verläuft, müssen unbedingt auseinandergehalten
[[@Page:220]]werden, will man die hierarchische Konzeption der
„Wissensgesellschaft“ verstehen, die Joachim später entworfen hat.
1
Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken. 2., durchges. Aufl.
Stuttgart: Reclam, 1994, S.353ff.
2
Psalt. II, fol.258va.
3
Psalt. I, fol.230vb, 235ra, 238ra; Psalt II, fol.256rb.
264 ABBILDUNGEN
1
[[Ench. 16 >> Augustine:Enchir. 16]],[[61 >> Augustine:Enchir. 61]]f.
2
„Nota quod homo prelatus est omnibus ordinibus angelorum propter verbum
patris humanam carnem assumens, ut gradum chorde decimum qui corruit res-
tauraret.“ Psalt. I, figura I, fol.226r.
3
„Quod si pater, sicut a nullo est, ita nunquam legitur missus, filius vero et spi -
ritus sanctus, alter quidem in carnis substantia, alter in columba et igne, ab eo
qui a nullo mittitur missi sunt, et ita missi ad homines, ut eum qui se misit non
dimitterent, sed in eo et cum eo sine fine manerent.“ Psalt. I, fol.236 ra; vgl. Mt
3,16; Mk 1,10; Lk 3,22; Joh 1,32; Apg 2,3; vgl. Psalt. II,fol.257vb.
4
Psalt. II, fol.259r.
266 ABBILDUNGEN
1. Relation des Vaters zum Sohn Weil der Vater allein zeugt.
2. Relation des Sohnes zum Vater Weil der Sohn gezeugt ist.
3. Relation des Vaters und des Sohnes zum Geist Weil beide einen aussenden.
4. Relation des Sohnes und des Geistes zum Vater Weil beide von einem gesandt w
des Vaters, des Sohnes und des Weil alle drei ein Schöpfer der g
5. Relation
Geistes zur Kreatur Kreatur sind.
Auch wenn Joachim hier nicht mehr klar zwischen processio und
missio trennt, so besteht doch ein wichtiger Unterschied: Im
Gegensatz zur innergöttlichen processio ist die missio, die
Aussendung von Sohn und Geist zu den Menschen, zeitlich begrenzt
und hat einen Anfang und ein Ende.1 Insofern gehört zu den propria
des Sohnes und des Geistes, in welcher Gestalt und zu welcher Zeit
sie sich auf Erden begeben, wie es ein proprium des Vaters ist, daß er
dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Und dennoch sind die
missiones Ausdruck des einen Wirkens (una operatio) des dreifaltigen
Gottes.2
Die missio ist also das diesseitig-manifeste Pendant zur
unsichtbaren und ewigen processio.3 Und auch diese Parallelstruktur
von processiones und missiones wird in der Figur des Psalters
abgebildet. Joachim läßt keinen Zweifel daran, daß der Grund, aus
dem nicht nur der Sohn, sondern auch der Geist in die geschöpfliche
Welt entsandt werden, die Erlösung der Menschheit ist (ad
redimendum genus humanum)4 und ihre Einordnung in die himmlische
Ordnung des Lobgesangs:
Daß also jene Ecke, die die ursprüngliche ist, scheinbar von den
anderen beiden ein wenig verschieden ist, scheint in der Tat zu
lehren, daß der Vater, so wie er nämlich von keinem anderen
1
Psalt. I, fol.238ra-vb; Psalt. II, fol.261va.
2
„Quia ergo nec temporalis nativitas pertinet nisi ad filium, nec temporalis
spiritus sancti missio vel effusio nisi ad spiritum sanctum, excepto in eo, quod
una est operatio trium propter ineffabilem unitatem et ut ita dixerim vinculum
deitatis, nichilque pertinet proprie ad personam patris quod eternum non sit.
Iure principale cornu latius est duobus, quia nimirum patris eternitas communis
est filio et spiritui sancto, temporalia vero filii et spiritus sancti que prescripsi-
mus, propria sunt filii et spiritus sancti.“ Psalt. I, fol.239 ra. „Solus autem pater
sic mittit filium et spiritum sanctum, ut a nullo mittatur, et idcirco eterna patris
divinitas communis est filio et spiritui sancto. Incarnatio vero filii, propria filii
est. Assumptio columbe vel ignis propria spiritus sancti, et si una sit operatio
trium.“ Psalt. I, fol.240rb.
3
Psalt. II, fol.261vb.
4
Psalt. I, fol.239rb.
267 ABBILDUNGEN
etiam Verbo Domini firmati et solidati, ne illud in civitate illa videatur deesse,
quod Psalmista in operibus Domini admiratur dicens: Omnia in sapientia
fecisti, Domine. Psalt. I, fol.243ra-rb, korr. n. Selge; vgl. Joh 14,2; Gen 30,1; 1
Sam 1,1ff.; Ps 33,6; 104,24.
1
Sh. die vorhergehende Anmerkung. Vgl. Pseudo-Dionysius, De eccl. hier.
V,i,4-6.
2
„Illius ergo fidelis confessio aures penetrat divinitatis, qui tres quidem
agnoscit et veneratur personas, sed tamen mentis oculo unitatem cernit, quando
quidem et personas distincte cogitat non divise, et substantiam personarum non
singularem esse fingit sed unam. Talis ergo cordarum vox aures cito penetrat
maiestatis. Talis laus animalium ad celum usque tertium pergit. Qui sic orat et
psallit laudans et invocans deum suum, noverit vocem suam ad aures altissimi
pervenire, si tamen opera sua non sunt contraria voci sue. Excedit hominem,
supergreditur angelum, requiescit in deo. Ibi respicit mira misteria, ibi quod
oculus non vidit nec auris audivit, ibi archana verba que non licet homini loqui,
quia animalis, inquit, homo non percipit que sunt Spiritus Dei.“ Psalt I,
fol.243ra. 1 Kor. 2,9; 2,14; 2 Kor 1,4.
270 ABBILDUNGEN
1
Psalt. I, fol.243rb; vgl. Joh 12,24.
2
Offb 14,1-3.
3
Offb 14,4.
4
Offb 7,14.
271 ABBILDUNGEN
Vorgehen, bei dem ein Modell gesetzt und anschließend auf seine
Stimmigkeit überprüft wird. Nachdem er die Hierarchien des
Areopagiten verworfen hat, beginnt Joachim den nächsten Satz mit
einem entschlossenen statuamus nunc: [[@Page:230]]
Setzten wir also jetzt, wenn es beliebt, an die erste Stelle die
Apostel, an die zweite die Propheten und Evangelisten, an die
dritte die Kirchenlehrer (doctores), an die vierte die
Kontemplativen, an die fünfte die Kleriker und Mönche und
danach die Menge der Enthaltsamen und aller Gläubigen. 1
Auch diese Ordnung würde einer Hierarchie nach dem Bild des
Psalters entsprechen. Oben stünde eine kleine Elite, unten die Masse;
die verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte wären berücksichtigt.
Die Stufung wäre so angelegt, daß niemand Neid empfinden müßte
usw. Und dennoch würden weiterhin die Bischöfe als Nachfolger der
Apostel die erste Stelle einnehmen. Alles andere wäre ja auch ein
radikaler Zweifel an der bestehenden Kirchenverfassung. Scheinbar
gelassen meint Joachim:
Sei deshalb Bischof, wer wolle, er möge auf dem Thron mit
dem Vater von allen verehrt werden. Gott sorge mit dieser
Schar der Heiligen dafür, daß ich meinen Anteil erhalte – mit
Rücksicht auf Ausdauer und die Reinheit des Gewissens. 2
Doch dann fügt er skeptisch hinzu, er sei sich gar nicht so sicher,
welcher Platz in der himmlischen Ordnung den Vorzug verdiene. Wie
er zu erkennen meine, seien sogar jene glücklicher und von der Gnade
bevorzugt, die in der Ordnung tiefer stehen. Wählte sich Christus nicht
eine Frau aus niedrigem Stand, um von ihr geboren zu werden? Hat er
nicht selbst gesagt, daß nur der, der das Reich Gottes wie ein
Geringfügiger (parvulus) annimmt, in es hineingelangt.3
Der Autor des Psalterium gibt sich als standesbewußter Mönch zu
erkennen, der um seine Leistungen weiß und daher mit der klerikalen
Hierarchie hadert. Joachim wollte sich mit dem Platz nicht zufrieden
geben, der für ihn und seinesgleichen vorgesehen war. Er geht sogar
noch weiter: Gott habe die himmlische Hierarchie nur deshalb so
differenziert angelegt, weil es die größere Kunst sei und zu größerer
Ehre gereiche, eine vielfältige Ordnung zu schaffen, die einen
vielstimmigen Gesang erklingen lassen könne. Die Stufung sage aber
1
Psalt. I, fol.243rb.
2
Psalt. I, fol.243va, korr. n. Selge; vgl. Offb 14,3.
3
„Et de his quid dicendum? Nescio, quid de his certum scribam, ignoro quid
horum preferam aut deponam, quia plerumque illos invenio secundum preroga-
tivam gratie esse feliciores quos ordine video inferiores. Mirarer super his si
nescirem matrem alicuius, in quo mater est, esse proprio Filio materna dignitate
prelatam et nisi viderem regem celi humilem sibi feminam elegisse in matrem.
Restat ergo, ut qui regnum Dei non recipit sicut parvulus non ingrediatur in
illud.“ Psalt. I, fol.243va, korr. n. Selge; vgl. Mk 10,15.
274 ABBILDUNGEN
nichts darüber aus, daß ihm die einen mehr wert seien als die anderen.
Das könne man schon daran erkennen, daß Christus den Jünger
Johannes und seine Nachfolger, also die Mönche, mehr geliebt habe
als Petrus und dessen Nachkommenschaft, also die Kleriker. Dennoch
habe er die Mönche dem Klerus unterworfen. 1 Aber kann es sein, daß
weder die diesseitige Kirchenordnung noch die Ordnung
[[@Page:231]]der jenseitigen Gottesstadt die Präferenzen der Gottheit
widerspiegelt? Kann es sein, daß die Entsagungsleistung der Mönche
im Himmel einen geringeren Lohn einbringt als das vergleichsweise
komfortable Leben eines Klerikers?2 Warum dann überhaupt die
ganze Demut? Seit den allerersten Anfängen des Asketentums steht
die diesseitige Selbsterniedrigung und Entsagung in auflösbarer
Verbindung mit der Erwartung jenseitiger Erhöhung – man erinnere
sich an die Märtyrerschrift des Origenes. 3 Joachim hatte sich in
Aporien verstrickt und wußte nicht weiter. Abrupt bricht das Buch an
dieser Stelle ab. Dies zeigt zugleich, um was es Joachim wirklich
ging: um die Frage, wie die Stadt Gottes im Himmel gordnet ist, und
wie die Kirche, ihr auf Erden pilgernder Teil, geordnet sein soll. Als
ihm bewußt wird, daß er am Politischen scheitert, gibt er die Arbeit
am Psalterium auf. Es dauert zwei Jahre, bis er wagt, das Werk
fortzusetzen.
1
„Satis poterit de hoc iudicare vir probus qui nullam esse iudicaret artem decacordi
psalterii, si unus esset sonus in toto vase, si una et indifferens in cordis omnibus
melodia. Non enim differentias ordinum Deus esse voluit, quia alios aliis plus
dilexit cum videamus Iohannem plus dilectum Petro et successoribus suis, in suis
posteris esse subiectum sicut et ipse matri sue subijci dedignatus non est, sed ut
diversos distincte corde promentes sonos suavitate melodie sanctam illam letificent
civitatem dei in qua sicut letantium omnium habitatio est.“ Psalt. I, fol.243 va; vgl.
Joh 13,23f; 19,26; 21,20; Lk 2,51.
2
Joachims Leistungskriterium ist immer der Grad, in dem der Rückzug aus der
Welt gelingt: „Haec est enim differentia inter illos ordines qui in saeculo
militant, et eos qui a saeculo sequestrantur: Quod illi, etsi bene vivant, aliquid
sibi quo vivere in saeculo videantur reservant; hi autem cuncta deserunt, ut soli
Deo vivere possint.“ Ench., Burger 85, 2498-2501.
3
Kaum jemand hat diese Vorstellung besser dargestellt als Giotto im neunten
Bild seines an Bonaventura inspirierten Franziskus-Zyklus (Assisi, Basilica di
San Francesco): Ein Mönch hat eine Vision, in der ihm ein Engel zeigt, daß
Franziskus, der als demütigster aller Mönche auf allen irdischen Reichtum und
Einfluß verzichtet, im Jenseits den prunkvollsten aller Throne einnehmen wird,
der noch weit über dem Engel selbst steht.
275 ABBILDUNGEN
Das Erlebnis
Joachim kam nicht nur beim Psalterium ins Stocken. Schon vor der
Pfingstvision hatte er mit zwei anderen seiner Hauptwerke begonnen.
Der Liber Concordiae sollte die gesamte Geschichte des Gottesvolkes
darstellen und bis in die Einzelheiten hinein die Strukturgleichheit der
beiden Testamente nachweisen. Das erste Buch war bereits
fertiggestellt und enthielt die Geschichte Israels, geordnet nach dem
Prinzip der sieben Siegel bzw. der sieben Verfolgungen. Wie aber war
das binäre System der heilsgeschichtlichen Konkordanzen mit der
Vision des Psalters, also mit der Erkenntnis der göttlichen
Dreifaltigkeit und eines hierarchisch geordneten Himmels, vereinbar?
Die Frage war noch ungelöst. Auch seinen großen
Apokalypsenkommentar, die Expositio in Apocalypsim, hatte er schon
vor dem Psalterium begonnen. Wie eine Geburt sei das Werk aus dem
Liber Concordiae hervorgegangen.1 Was Joachim damit
wahrscheinlich meint ist, daß er zwar die Geschichte Israels aus der
Bibel kannte, aber die Parallelstrukturen der Kirchengeschichte nicht
einfach nur den Chroniken der Historiker entnehmen konnte. Denn
diese waren nicht göttlich inspiriert, also weniger authentisch (minus
authenticae) und fehlerhaft.2 Über die künftigen Entwicklungen
vermochten sie gar nichts zu sagen. Doch in der Offenbarung des
Johannes, dem letzten Buch der Bibel, das im
propheti[[@Page:232]]schen Geiste verfaßt wurde, sah Joachim den
gesamten Ablauf der Kirchengeschichte offenbart, einschließlich der
Zukunft.3 Wie er schon in der Genealogia zeigte, ergibt sich die
Struktur des göttlichen Geschichtsplans vor allem aus der
Gegenüberstellung von Apokalypse und den historischen Schriften
des Alten Testamentes. Die gleichzeitige Arbeit am Liber Concordiae
1
Psalt. praef, fol.227va-vb.
2
Ench., Burger 47,1250-1252.
3
„Apocalipsis liber ultimus est librorum omnium, qui prophetie spiritu scripti
sunt et in sacrarum cathalogo scripturarum habentur. Qui videlicet liber idcirco
revelatio dicitur, quia per ipsum nobis Christi opera, que in hac plenitudine
temporum gesta sunt aut gerenda, panduntur.“ Praeph. Apc. I, Selge 102,1-4.
„[…] gesta vero novi testamenti adhuc futura erant, quando Christus venit in
mundo, et quia historice necdum scribi poterant, in libro apocalipsis verbis sunt
propheticis coartata […].“ Praeph Apc I, Selge 103,42-44. Vgl. Ench., Burger
11,86ff.; Exp. Intr., fol.3raff.
276 ABBILDUNGEN
1
Exp. I, fol.39va; vgl. Lk 24,45.
2
Exp. I, fol.39rb-40va.
279 ABBILDUNGEN
heißt, die allgemeine Offenbarung Christi wird bis auf den Abend des
christlichen Zeitalters hinabverlegt (usque ad vesperum dilata). In
diesem Sinne bedeutet Joachims Epochenbewußtsein, daß es an der
Zeit ist, mit einem esoterischen Wissen an die Öffentlichkeit zu treten,
das der Elite der Geistmänner seit den Aposteln bekannt ist.1
[[@Page:240]]
Gemäß dem Sinn aber, der sich auf den dritten Status bezieht, ist
das Osterereignis anders zu betrachten. Vielmehr muß jetzt die
Konkordanz zwischen zweitem und drittem Status hergestellt werden:
So wie einst Christus den Aposteln das Ordnungswissen mitteilte, das
sich auf den zweiten Status bezog, so muß jetzt eine neue Elite
auftreten, der der Geist die Heiligen Schriften eröffnet, damit sie in
das kommende Zeitalter des Geistes sehen und das Ordnungswissen
der Zukunft vorwegnehmen kann.2 Es besteht kein Zweifel, daß sich
Joachim zu dieser Elite rechnet. Er sieht sich in der Nachfolge der
Geistmänner des zweiten Status an den Anfang des dritten Status
gestellt (in initio tertii status positi sumus). Dieses Wissen aber, das
den Aposteln noch nicht bekannt war, ist im Gegenwartspunkt das
wichtigere, denn es erlaubt, in die Zukunft zu sehen.3 Gleichwohl
1
„Eo itaque tempore conditum est novum testamentum, quo scripture veteris
aperiri ceperunt; sed tamen et ipsum non longe post aperiri cepit et eius interi-
ora patefieri credentibus, quia esse in eo misticum intellectum ab ipso eodem
tempore quo gestum est, et primo sancti apostoli, quibus primitie Spiritus date
sunt, et post ipsos multi alii, eodem docti Spiritu, perceperunt. Sed quid, si mox
apertum est testamentum novum? Num idcirco Christus, qui latebat in eo, mox
ut ascendit de monumento manifestus apparuit? Nonne manifesta eius apparitio
usque ad vesperum est delata? Quid est autem ‚usque ad vesperum‘ nisi usque
ad tempus sextum? […] Significat autem in intellectu primo apertionem veteris
testamenti delatam esse usque ad Christum, apertionem vero novi non sic, sed
ab ipso eodem tempore viris spiritalibus propalatam. Verumptamen et si apertio
facta, revelatio tamen resurgentis diu mansit occulta et quasi usque ad
vesperum, quo finis alicuius temporis designatur, dilata.“ Exp. I, fol.40 ra-rb, korr.
n. Selge; vgl. Röm 8,23; Joh 20,19; Lk 24,29ff.
2
„Ceterum si de illo agitur intellectu qui pertinet ad tertium statum, scrutari et
pensare diligenter debemus, quod sicut in prefato intellectu dies resurrectionis
dominice significat initium secundi status, ita in eo intellectu qui pertinet ad
tertium statum, initium tertii, quod erit post finem, vel potius in fine secundi.
Quod autem non mane ipsius diei, sed ad vesperum revelatus est Christus,
significat in fine secundi status revelandum esse eum intellectum, qui pertinet
ad eundem secundum statum, in fine autem tertii eum qui pertinet ad tertium.
Ergo secundum hanc rationem intellectus, qui pertinuit ad primum statum, tunc
revelatus est, cum Christus venit in mundum, intellectus qui pertinet ad
secundum circa finem secundi status, intellectus qui pertinet ad tertium, circa
finem ipsius. Porro apertio monumenti facta est doctoribus secundi status ab
ipso secundi status principio, et oportet fieri doctoribus tertii a principio tertii.“
[…] Exp. I, fol.40rb, korr. n. Selge; vgl. Joh 3,19; 1 Tim 1,15. „[…] nos, qui in-
ter secundum et tertium statum constituti sumus, multa quidem de tertio illo sta-
tu contemplari permittimur […].“ Conc. V,20, fol.70rb.
3
„Verumtamen quia sicut alibi scripsimus, duos habet liber iste typicos intellec-
286 ABBILDUNGEN
tus, unum qui pertinet ad secundum statum, alterum qui spectat ad tertium. Li-
bet hac in re diligentius intueri, quod nobis, qui in initio tertii status positi su-
mus, illa potius revelatione indigemus, que sequentia detegit, quam illa que a
tempore apostolorum, viris spiritalibus facta est, et si nunc magis illa ad lucem
veniat, cum hec pro cursu temporis incipit aperiri.“ Exp. I, fol.39rb.
1
„Ipsa sunt quatuor evangelia, que et ipsa, secundum hunc intellectum, hacte-
nus clausa fuerunt et involuta voluminibus suis, que oportuit suo tempore ape-
rire, ut ad lumen veniant […]. Quando autem aperiuntur, nisi quando incipit
consumari quod latebat in ipsis? Dico autem illa consumata esse in spiritu in
statu secundo, sed multo dignius et perfectius in statu tertio consumanda sunt.“
Vita Ben. 25, Baraut 54,13-19.
2
Ench., Burger 47,1230f.
3
Ench., Burger 64,1790-1792.
4
Conc. IIa,6, fol.9ra, Daniel 70,24-71,29; vgl. Joh 20,22; Apg 2,2-4.
287 ABBILDUNGEN
Solche Fragen führen sie an, weil sie Nichtsnutze sind und die
Herzen der einfachen Menschen verderben, in dem sie
behaupten, daß jede Religion je beweglicher, desto
verachtenswerter sei. Wenn sie nämlich – so sagen sie – so
beweglich ist, so veränderlich und so unbeständig, wie kann sie
einem Weisen als nachahmenswert erscheinen? Durch die
eigene Vielfältigkeit zeigt sie ihm, daß er sie zurückweisen
muß. Siehe, wir sehen – wie sie sagen – in der Kirche Gottes
gewisse Leute hervortreten, die sich nach ihrem Belieben mit
einem ungewohnten Habit bekleiden, sich eine neue
Lebensordnung (ordo vivendi) wählen und sich unter dem Titel
des mönchischen Bekenntnisses oder des Gelübdes der
kanonischen Disziplin das aneignen, was auch immer sie
wollen. Sie erfinden für sich eine neue Art des Psalmodierens
und der Enthaltsamkeit, sie stellen neue Speiseregeln auf. Sie
ahmen weder die Mönche nach, die unter der Benediktregel
streiten, noch die Kanoniker, die ihr Leben nach der Regel des
heiligen Augustinus führen. Aber indem sie sich – so heißt es –
alles neu schaffen, sind sie sich selbst Gesetz, sind sie sich
selbst Autorität. Und sie versammeln unter dem Vorwand einer
neuartigen Gottesverehrung (nova religio) so viele Menschen
wie möglich in ihrer Gemeinschaft. Und man glaubt, daß sie in
diesen Dingen religiöser erscheinen, [[@Page:243]]wenn man
289 ABBILDUNGEN
sieht, daß sie sich von jedem Habit und jeder Disziplin der
Mönche (religiosi) unterscheiden; und man zeigt mit dem
Finger auf sie, wie auf solche, die ehrenwerter sind als die
übrigen.
Dies und ähnliche Dinge sagen sie und beunruhigen mit vielen
Fragen die anderen. Nicht offensichtlich, sondern im
Verborgenen und aus dem Hinterhalt verunglimpfen sie die
Religion. Und als ob sie die Religion lieben und gutheißen
würden, sagen sie: „Oh, wenn wir doch irgendwo irgend etwas
Sicheres finden könnten, worauf wir in Zuversicht und
Erwartung des ewigen Heils unser Haupt betten können!“ 1
Anselm mag jene „betrügerischen Ankläger“ noch so sehr
verdammen, an anderer Stelle gibt er selbst zu, daß er auch von seinen
Ordensbrüdern mit der Frage bedrängt wurde, wie sich die
Vielgestaltigkeit der Lebensführung (multiformitas vivendi) zur
Einheit des Glaubens verhalte.2 Gerade weil Anselm auf die rein
äußerlich wahrnehmbaren Veränderungen (Kleidung, Liturgie etc.)
eingeht, enthält sein Bericht die Fragen, die sich die Menschen in
dieser Zeit mehrheitlich gestellt haben mußten. Vor allem der letzte
Absatz verrät, warum die Diversifizierung der religiösen
Lebensformen in der Erfahrungswelt auch der nicht-monastischen
Zeitgenossen eine besondere Rolle spielte. 3 Die Gläubigen suchten
zuallererst nach Sicherheit hinsichtlich ihres jenseitigen Fortlebens,
und diese Sicherheit erwarteten sie von der Kirche und ihren
Sakramenten. Wenn sich die Kirche nun ständig veränderte, wenn in
ihrer Mitte ständig neue Lebensformen entstanden, die alle für sich in
Anspruch nahmen, einen Weg von größerer Sicherheit oder gar den
einzig sicheren Weg in die himmlische Herrlichkeit zu eröffnen, dann
läßt sich die große Unruhe gut verstehen, von der Anselm erzählt.
Die ständische Dreiteilung in Arbeitende, Kämpfende und
Betende, die im 11. Jahrhundert ihre theoretische Fundierung erhalten
hatte, und die schon seit der Spätantike bekannte Teilung des
geistlichen Standes in den predigenden und seelsorgenden Klerus
sowie das betende und meditierende Mönchtum,4 all die gewachsenen
1
Dial. I,1, SC 118,34-36.
2
Dial. I, prol., SC 118,30.
3
Joachim kommt selbst mehrfach auf die vielen neuen Arten von religiosi zu
sprechen: „[…] sunt religiosi illi qui litteras nesciunt, quorum alteri conversi,
alteri familiares a modernis dicuntur, sive ut in partibus Hierosolymae quidam
religiose laici Templarii, quidam Hospitalarii dicti sunt […].“ Ench., Burger
82,2390-2392.
4
Vgl. Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, S.25ff.; Oexle, Otto Gerhard: „Tria
genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen
Wirklichkeit in Antike und Mittelalter“, in: Lutz Fenske u.a. (Hrsg.):
Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef
290 ABBILDUNGEN
*
1
Chron. I, prol., Schmidt/Lammers 16,15-18; vgl. 11,5-9; 15,31-37.
2
„Eque tamen omnes vitae et conscientiae puritate ac sanctimonia caelesti et
angelica in terris vita degunt. Commanent autem cor unum et animam unam
habentes in unum in cenobiis vel ecclesiis, somnum simul capiunt, unanimiter
ad orationem surgunt, in una domo pariter reficiuntur […].“ Chron. VII,35,
Schmidt/Lammers 560,27-31; vgl. Apg 4,32.
3
„Omnes hii ab omni misero mundi rotatu, de quo supra disputatum est, se-
clusi, post senarii laboris perfectionem in veri sabbati pace eternam quietem
pregustando positi, nostrae enormitatis benigni et idonei intercessores, huius
septimi operis terminus existant, nosque ad ea quae secuntur, quis scilicet finis
civitati Dei maneat, quae perditio reprobam mundi civitatem expectet, dicenda
precibus suis aptos efficiant.“ Chron. VII,35, Schmidt/Lammers 566,25-31.
4
Spörl 1935, S.28.
292 ABBILDUNGEN
1
„Hec de spiritalis doctrina sancti Patris breviter dicta sint, ut sciamus illum, si-
cut verbis, ita quoque operibus et institutionibus prophetasse, propter eos qui in
statu tertio sub disciplina eius erudiendi erant, habituri et ipsi proprium tempus
[…].“ Vita Ben. 33, Baraut 71,1-4.
2
Conc. IIa,5, fol.8va, Daniel 68,12-15; Conc. IIa,8, fol.9rb-va, Daniel 74,8-12.
3
Vgl. Conc. IIa,9, fol.10ra, Daniel 78,23-28.
4
Vgl. Lib. Fig., tav.XIX.
5
Das sind v.a. die Kapitel 1, 3 und 8.
6
Dial. II,1,1-4.
7
Dial. II,1,6f.
295 ABBILDUNGEN
herausgeführt werden, sind wir zwar noch wir selbst, aber nicht
mehr in uns selbst; denn wir verlieren uns selbst aus dem Blick
und schweifen anderswo umher.1
Benedikt mußte also das Kloster verlassen, weil er sonst dem
Lebensziel jedes Mönches, der Gotteserkenntnis durch
Selbsterkenntnis, nicht hätte gerecht werden können. Galt nun nicht
genau das gleiche für Joachim? Er, der sein monastisches Leben als
Anachoret begonnen hatte und der nur gegen seinen Willen zum Abt
von Corazzo gemacht worden war, durfte er überhaupt weiter unter
Umständen leben, die es ihm nicht gestatteten seine besonderen
Geistesgaben zur Entfaltung zu bringen? Die Flucht nach Petra Lata
schien geradezu geboten, er mußte, wie einst Benedikt, in sich selbst
zurückkehren.2 Aber wie sollte es nun, von Petra Lata aus,
weitergehen? Gregor berich[[@Page:250]]tet, Benedikt sei in der
Einsamkeit gewachsen (succresceret), bis er schließlich auszog, um
seine eigenen Klöster zu gründen. Dort habe er die Menschen
versammelt, die tatsächlich bereit waren, Gott zu dienen.3
Joachim lenkt die Abhandlung hin zur Geschichte des
Mönchtums. Er betrachtet die Anfänge seines Zisterzienserordens und
erkennt, daß sich dort die Ereignisse wiederholt hatten. Der Gründer
Robert war aus Molesme ausgezogen, um wie einst Benedikt „in sich
selbst zu wohnen“. Aber auch aus diesem Anachoreten wurde ein
Gründer von Gemeinschaft, die Einsiedelei von Cîteaux wurde zum
Ursprungsort eines Ordens, der die Lebensform Benedikts erneuerte
und bald in der ganzen Welt erstrahlte. In den Zisterziensern mache
Benedikt Fortschritte (proficit),4 schreibt Joachim und hat damit die
historischen Gesetze erkannt, die das Mönchtum zur Vollkommenheit
hinlenken. Immer dann, wenn das Mönchtum begann, in seinem Eifer
nachzulassen, wenn es sich dem Leben der Weltmenschen annäherte,
wenn sich Gewohnheiten einschlichen, die dem Geist der Regel
1
Dial. II,3,5.
2
Vgl. Vita Ben. 7, Baraut 20,1-15.
3
Dial. II,3,13.
4
„Reliquit ergo illos sanctus Benedictus, et abiit habitare secum. Quod tunc
completum est, quando grex ille fidelis sed modicus egressus est de Molismo,
et venit habitare Cistercium. Queris quid deinceps? Construxit Benedictus duo-
decim monasteria, auctus et dilatatus in filiis, et grex ille, a principio modicus,
quam in mundo dilatatus sit, liquet omnibus latinis, grecis et barbaris, et diver-
sis nationibus terre.“ Vita Ben. 7, Baraut 20,14-21,20. „Quia vero sermo Bene-
dicti non capiebat inter eos, quid erat faciendum his quos Benedictus designat,
nisi alibi migrare cum fructu, illos autem, ut vitiosos et indomabiles, desolatos
relinquere, electuros sibi patres prurientes auribus, secundum desideria carnis et
egrotos ac putridos mores suos? Completum est anno millesimo nonagesimo
sexto Incarnationis dominice, quando novus ille ac pius grex, qui egressus est
de Molismo, mansurus secum Domino, venit Cistercium, inchoaturus Cister-
ciensem ordinem in quo vivit et proficit Benedictus.“ Vita Ben. 11, Baraut
27,35-28,33.
298 ABBILDUNGEN
Letztlich ist klar, was folgen muß: Nachdem sich Joachim durch
eine eigenwillige, hier nicht näher auszuführende Exegese der
Benediktregel noch einmal seines Epochenbewußtseins versichert hat,
läßt er den Benedikttraktat unvollendet liegen und schreitet zur Tat. Er
zieht mit einer Schar treuer Anhänger hinauf in das raue Silagebirge,
wo bald ein Kloster entsteht, das dem Evangelisten Johannes geweiht
wird. Damit ist der Grundstein gelegt für den Florenserorden, für die
strengste Form des Benediktinertums, die die Welt je gesehen hat.
Joachim hat verstanden: Er ist der neue Benedikt, der neue Robert von
Molesme, der ausersehen ist, die Geschichte des Mönchtums
fortzuschreiben.1 Die drei Jahre, die sich Benedikt verborgen hielt,
können symbolisch auch drei Generationen bezeichnen. Neunzig Jahre
nach der Gründung von Cîteaux, also in der Gegenwart, muß ein
weiterer Aufbruch im Mönchtum geschehen. Doch weil die
mönchische Johanneskirche die Gesellschaft der Zukunft dominieren
wird, und weil die Zukunft im Begriff ist anzubrechen, reicht die
Bedeutung der florensischen Gründung über alle monastischen
Reformen der Vergangenheit hinaus. „Sankt Johannes in der Blüte“
(San Giovanni in Fiore) heißt bis heute der Ort, an dem Joachim
versuchte, den Grundstein einer neuen Weltordnung zu legen.2
Am Ostersonntag 1185 erlangte Joachim von Fiore das Wissen,
das ihm erlaubte, die gesellschaftliche Ordnung des dritten Status zu
erkennen, nun gründet er eine Form des menschlichen
Zusammenlebens, die zwar noch nicht die Ordnung des Geistzeitalters
verwirklicht, aber ihr so nahe wie möglich kommt. Oder anders
formuliert: Er verwirklicht in einer Elite, was bald die gesamte
Menschheit erfassen wird. Das Wissen um die Gesellschaftsform der
Zukunft, um die Bestimmung des Menschengeschlechts, verpflichtet
zur politischen Tat. [[@Page:252]]
SYSTEMATISCHE GESAMTDARSTELLUNG
1. Vorbemerkungen
Bisher wurden die Grundlagen des Ordnungsdenkens Joachims von
Fiore vorgestellt und die Entstehung seiner Lehre vor dem historisch-
biographischen Hintergrund erklärt. Dem Vorhaben einer
systematischen Gesamtdarstellung scheint nun entgegenzustehen, daß
Joachim nach weitverbreiteter Meinung kein systematischer Denker
ist.1 Auf den ersten Blick läßt die Lektüre seiner Hauptwerke dies
Urteil plausibel erscheinen, und doch ist es vorschnell ausgesprochen.
Es ist sicherlich richtig, daß die Arbeit eines Exegeten immer an den
Gegenstand der Exegese gebunden bleibt, also für die Konstruktion
1
Z.B. Buonaiuti, Ernesto: Gioacchino da Fiore. I tempi – la vita – il messagio.
Cosenza: Lionello Giordano, 1984, S.197; Bloomfield, Morton: „Joachim of
Flora: A Critical Survey of His Canon, Teachings, Sources, Biography, and In-
fluence“, in: Delno West (Hrsg.): Joachim of Fiore in Christian Thought. Es-
says on the Influence of the Calabrian Prophet. New York: Franklin, 1975, Bd.
1, S.29-91, S.40f.; Heer 1953, S.103.
301 ABBILDUNGEN
Die Öffentlichkeit, der tumultus publicus, der die Gläubigen mit den
diesseitigen Belangen und Bedürfnissen der Menschen konfrontiert,
das ist Sodom, aus dem sich die Erwählten besser schon jetzt in ein
Kloster zurückziehen, spätestens aber, wenn sich die Zeichen des
nahenden Gerichtes verdichten.1
Die Weltverachtung, die vor allem die Frühschriften dominiert,
aber auch im späteren Werk Joachims präsent bleibt, steht in einem
eigentümlichen und niemals völlig auflösbaren Widerspruch zu dem
Geschichtsoptimismus, für den der Abt heute bekannt ist. Noch in
seinen letzten Jahren konnte er einen düsteren Endzeittraktat wie De
ultimis tribulationibus verfassen. Im Grunde aber beschreibt Joachim
immer zwei Prozesse. Der eine ist der Prozeß des Weltverfalls, dessen
ständige Beschleunigung sich in der Verkürzung der Generationen
äußert. Vor der Sintflut konnte eine Generation über 180
[[@Page:257]]Jahre dauern, aber auch Abraham und andere
Patriarchen hatten erst als hochbetagte Männer Nachwuchs gezeugt;
im zweiten Status mißt eine Generation nur noch 30 Jahre und im
dritten Status wird sie vielleicht nur noch wenige Jahre, Wochen oder
gar nur Tage einnehmen.2 Das Symbol der Generationenverkürzung
findet sich nicht nur im jüdisch-christlichen Kontext, sondern z. B.
auch in indischen Kosmologien. Stets ist es Ausdruck einer
Dekadenzerfahrung: Die Menschen verdienen es immer weniger, mit
einem langen Leben gesegnet zu sein; und andererseits sind die Zeiten
so schlecht, daß ein langes Leben gar nicht mehr als wünschenswert
erscheint.3 Die Dekadenzerfahrung ist bei Joachim nicht völlig
aufgehoben, sondern äußert sich gerade dort, wo er über den Zustand
der Klerikerkirche spricht.4
Andererseits schafft der Verfall des seelsorgerisch aktiven Klerus
den Raum für die gesellschaftliche Erneuerung im Zeichen der
Kontemplation. Die Analogien zur Botanik, die sich immer finden, wo
Joachim geschichtliche Prozesse beschreibt, sind von großer
Suggestivwirkung und scheinbar immanenter Plausibilität: Wo das
Alte vergeht (deficere), kann das Neue wachsen (proficere).5 So
verläuft entgegen diesem Verfallsprozeß der Fortschritt des
Gottesvolkes. Er mündet in den dritten Status, die beste Zeit, die die
1
Conc. V,89, fol.118rb; Conc. V,36, fol.75rb; Psalt II, fol.246ra.
2
Conc. IIa,16-17, fol.12rb-vb, Daniel 98,1-102,24; Psalt. II, fol.255ra-rb; 277vb.
3
Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte. Frankfurt am Main und Leipzig:
Insel, 1994, S.140.
4
Ein langer Traktat über den Niedergang des Klerus findet sich in Conc. IV,23-
26.
5
„[…] cum defectu secundi status, idest sexte etatis mundi, transiet exercitatio
vite active et incipiet convalescere fructus vite contemplative.“ Exp. Intr.,
fol.19rb. Vgl. West, Delno C. und Sandra Zimdars-Swartz: Joachim of Fiore. A
Study in Spiritual Perception and History. Bloomington: Indiana University
Press, 1983, S.13.
306 ABBILDUNGEN
besteht kein Zweifel; aber, so fragt Joachim, ist sie nicht letztlich nur
das Vorzeichen für einen noch größeren Wandel im Geiste
(commutatio in Spiritu Sancto), einen Wandel der die gesamte
Menschheit erfassen wird, einschließlich der Juden?1 In der
Apokalypse des Johannes heißt es über die Vorzeichen der Endzeit:
Und es folgten Blitze, Stimmen und Donner, es entstand ein
gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es
Menschen auf der Erde gibt.2
In einer für ihn typischen Auslegung, die das kosmologische Wirken
Gottes in ein geschichtliches umdeutet, faßt Joachim seine beiden
Prinzipien zusammen:
Wann immer Gott durch die Folge der Zeiten hindurch den
Zustand der Kirche wandeln will (quando vult Deus per
successiones temporum mutare statum ecclesie), damit
[[@Page:262]]eins nach dem anderen die Dinge erfüllt werden,
die geschrieben stehen, gehen einige Jahre zuvor die Blitze der
Wunder, die Stimmen der Ermunterung und die Donner der
geistlichen Predigten voran, damit einerseits alle Schläfrigen
und Trägen vom Schlaf des Todes erweckt werden und
andererseits die einen wie die anderen verstehen, daß der Herr
auf der Erde etwas Neues schaffen wird (quod novum aliquid
facturus sit Dominus super terram).3
Man beginnt zu ahnen, auf welche Weise Apokalyptik und
monastischer Fortschrittsoptimismus zu einer neuen Form religiösen
Eiferertums verschmelzen können. Erweckungsprediger und
Fortschrittstheoretiker finden in einer Person zusammen; es entsteht
ein neuer Intellektuellentypus, dem noch großer Erfolg beschieden
sein sollte. Joachim selbst begreift die Neuheit dieser Existenzform
sehr gut und mag sie in Männern wie Bernhard von Clairvaux schon
verkörpert sehen. In der Offenbarung des Johannes ist von den sieben
prachtvoll gekleideten Engeln die Rede, die aus dem himmlischen
Tempel heraustreten, die Schalen des göttlichen Zorns
entgegennehmen und sie über die Menschheit ausgießen. Dies sind die
Geistmänner (viri spirituales), sagt Joachim, die durch die Praxis
absoluter Keuschheit den neuen, gottgleich erschaffenen Menschen
(homo novus, qui secundum deum creatus est) angezogen haben. Wie
die apokalyptischen Engel eignen sie sich den Eifer für den Namen
Gottes an, um ihre Mahnreden und ihren Tadel auf das sündhafte Volk
(plebs peccatrix) herabregnen zu lassen.4 Wie so oft bezieht Joachim
1
Conc. IV,36, fol.57vb-58ra; Daniel 411,76-412,83.
2
Offb 16,18.
3
Exp. VI, fol.191vb-192ra.
4
„Egrediuntur de templo tabernaculi septem angeli induti iaspide vel lapido
mundo, quod est novo homine, qui secundum deum creatus est, et precincti
circa mamillas zonis aureis, id est non tantum castitatem corporis habentes, que
312 ABBILDUNGEN
die Gerechten Gottes den Lohn erhalten, der ihnen in dieser Welt
versagt bleibt.
2. Im frühen Christentum löst sich diese radikale Dualität
zwischen Diesseits und Jenseits auf, da in der Präsenz Christi die
irdische Präsenz des Gottesreiches erfahren wird. Paulus entwickelt
aus diesem Gedanken das Konzept der Ekklesia. Damit meint er eine
Gemeinschaft in Christo, die die jenseitige Bürgerschaft
vorwegnimmt. Der Mensch, der sich kraft seines Glaubens dieser
Gemeinschaft anschließt, verwandelt sich, insofern er als Glied des
Kirchenleibes in den Genuß der Geistesgaben kommt. Er nimmt also
im diesseitigen Kollektiv die Verwandlung seines fleischlichen Leibes
in einen geistlichen Leib vorweg, die im Jenseits geschehen wird.
3. Das Mönchtum durchbricht die Kollektivität der Kirchenidee,
indem es den geistlichen Fortschritt des einzelnen in den Mittelpunkt
stellt. Die Leistungsethik des Asketen hat zum Ziel, die proleptische
Verwandlung zum Geistmenschen individuell zu vollziehen. Das
Koinobitentum vereint diese individuellen Asketen wiederum in einer
diesseitigen Gemeinschaft, die auf andere Weise die himmlische
Bürgerschaft vorwegzunehmen beansprucht.
Joachim tut nichts anderes, als das paulinische Konzept der
proleptischen Gemeinschaft mit der monastischen Fortschrittsethik
zusammenzudenken. Dadurch gewinnt der Begriff der Ekklesia eine
dynamisch-progressive Dimension. Es ist nicht der Einzelmensch, der
ein vollendetes Mönchtum entwickelt, sondern die Kirche. Sie
wandelt sich von der Synagoge, der Kirche der Laien, zur
Klerikerkirche und ist im Begriff, zu einer Mönchskirche zu werden.
Mit anderen Worten, die Prolepsis, die Vorwegnahme der
himmlischen Gemeinschaft, wird immer vollkommener, bis sich
schließlich in der Geistkirche des dritten Status bzw. des siebten
Zeitalters teilweise schon die jenseitige Ordnung erblicken läßt (pars
quaedam claritatis Hierusalem manifesta erit in septima, et tota
generaliter in octava).1 [[@Page:264]]
Aus der Apokalyptik übernimmt Joachim den Grundsatz, daß die
Geschichte vom göttlichen Plan strukturiert ist. Im Gegensatz zur
Apokalyptik aber ist die Verklärung der Welt kein endzeitliches
Ereignis, sondern geschieht im Laufe des geschichtlichen Prozesses.
Es wurde ausreichend betont, wie sehr diese Synthese auf dem Boden
Joachims eigener Erfahrung steht. Die Neuschöpfung der Welt kann
nicht ein einmaliges Ereignis jenseits des Jüngsten Gerichts sein, denn
Joachim glaubt sie mit eigenen Augen beobachten zu können (in hoc
tempore videmus de novo dominum creasse celum et terram).2
Im Enchiridion spricht Joachim noch von einer teilweisen
Vollendung des himmlischen Jerusalem im Diesseits, später, am
1
Ench., Burger 49,1313f.
2
Conc V,21, fol.70vb; vgl. Exp. VIII, fol.215vb.
314 ABBILDUNGEN
verlassen.
Damit aber ist die Problematik der Anthropologie angeschnitten.
Was heißt das, wenn Joachim sagt, daß Gott das Menschengeschlecht
in etwas Besseres verwandelt? Bedeutet das, daß sich das Wesen des
Menschen verändert? Das heißt es in der Tat! Joachims Anthropologie
ist so tief in der paulinischen Terminologie verwurzelt, daß ihm die
Neuheit seiner Lehre gar nicht recht zu Bewußtsein kommt. Er zitiert
den Apostel nicht etwa, weil er nach Autoritätszitaten sucht, sondern
weil er glaubt ihn authentisch zu verstehen.
Joachim geht von der paulinischen Dichotomie zwischen dem
animalischen Menschen und dem geistlichen Menschen aus. Der eine
ist fleischlich gesinnt und nimmt nichts vom Geiste Gottes wahr, der
andere ergründet die Tiefen der göttlichen Weisheit.1 Im Unterschied
zu Paulus aber glaubt Joachim, daß sich der Wesenswandel vom
[[@Page:267]]animalischen zum geistlichen Menschen geschichtlich
vollzieht, wenn auch in einigen Menschen schneller als in anderen.
Und ebenfalls im Unterschied zu Paulus sieht Joachim, daß am Ende
der geschichtlichen Entwicklung bereits die Vollendung der
Menschen geschieht, nicht etwa erst im Zuge der jenseitigen
Verklärung.2 Das Gottesvolk verwandelt sich allmählich (paulatim)
vom fleischlichen Gottesvolk Israel, das der Knechtschaft des
Gesetzes untertan ist, in das freie, geistliche und universale Volk des
dritten Status.3
Paulus spricht über die Metamorphose des Christenmenschen, von
dessen Antlitz der Schleier des Gesetzes genommen ist:
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des
Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn. 4
Joachim verweist auf den Ausdruck „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“
(de claritate in caritatem), um den Wandel, den der gläubige Christ
nach Paulus vollzieht, in einen geschichtlichen Wandel der
Menschheit umzudeuten. Die Herrlichkeit des zweiten Status ist groß
gegenüber der des ersten Status, aber unvollständig gegenüber jener,
die die Offenbarung des Geistes an den Menschen des dritten Status
bewirken wird. Dort wird der geistliche Mensch in der Fülle der
Wahrheit leben, in einer Vorwegnahme der himmlischen Gottesschau.
5
1
1 Kor 2,14; Röm 8,5.
2
Vgl. Phil 3,20f.
3
Psalt. II, fol.274ra.
4
2 Kor 3,18.
5
„Sic enim oportuit electos dei ire de virtute in virtutem et transire de claritate
in claritatem donec videatur deus deorum in syon. De lege naturali ad legem
Moysi, de lege Moysi ad evangelium. de evangelio Christi ad spiritalem
intellectum, de spiritali intellectu ad veram et eternam contemplationem dei.“
318 ABBILDUNGEN
1
„[…] et sicut ibi remissio peccatorum facta est in clarificatione filii dei, ita fiet
nunc in clarificatione spiritus sancti.“ Conc. V,77, fol.105vb. Man kann daraus
im übrigen nicht folgern, daß Joachim kein christozentrischer Denker ist. Die
Neuheit besteht eher darin, daß Joachim das größte Werk Christi nicht in
Inkarnation, Passion, Kreuzigung, Auferstehung oder Himmelfahrt erblickt,
sondern in der Sendung des Geistes der Wahrheit, wie er sie in Joh 16,7.13
ankündigt.
2
„Igitur in Salomone filio David populus tercii status, qui erit spiritalis et sapi-
ens, pacificus, amabilis, contemplativus et dominator tocius terre designatus
est, et in ipso complenda sunt in spiritu omnia illa magnifica que scripta sunt
super ipso Salomone, et eciam super Christo Iesu, quia in populo ipso regnatu-
rus est magis Christus, ut compleatur illud in eo psalmographi: erit in diebus
eius iusticia et abundantia pacis. non enim poterit ponderari es pre copia sui in
diebus ipsius, et argentum non reputabitur propter abundantiam auri, quia
videlicet iustitia laicorum sine mensura erit in genere suo, et iusticia clerico-
rum, que maior et preciosior illa est, vilescet in diebus illis respectu spiritalis
iusticie, que significatur in auro, immo cuius splendor superabit obrizum et
evacuabit lapides preciosos. edificabitur quoque templum de lapidibus precio-
sis, in quo erunt vasa preciosa deputata in misterio eius, enea argentea atque au-
rea sed et ligna ipsius abiegna cedrina et cipressina, que omnia significant per-
fectionem hominum illius status, in quibus fient omnia ordinate secundum pre-
ceptum domini, cuius preceptio opus est et ordo, qui erit prepositus illius tem-
pli, habebit latitudinem cordis ad investigandum profundum sapientie dei, quasi
aque maris operientis secundum quod habuit pre ceteris regibus qui fuerunt ante
eum rex Salomon, et sicut scriptum est in Daniele: qui autem docti fuerint,
erunt quasi splendor firmamenti, et sicut stelle in perpetuas eternitates.“ Conc.
V,67, fol.96rb; vgl. Ps 72,7; 1 Kön 6-7; 1 Chr 29.
320 ABBILDUNGEN
4. Die Reaktion
Diese Frage aber stellt sich noch: Wie verhält es sich genau mit den
Menschen, die sich dem Gottesvolk nicht anschließen, um seinen
progressiven Wandel mitzuvollziehen? Joachim antwortet mit einer
Lehre von Reaktion und Rückschritt, die er an mehreren Beispielen
durchexerziert.
Die Juden wären eigentlich in besonderer Weise berufen gewesen,
sich zu Christus zu bekehren, aber sie wollten einfach nicht mit der
Zeit gehen und sich gemäß der fortschreitenden Offenbarung
weiterentwickeln (noluerunt ipsi Iudei mutari cum tempore).3 Sie sind
das Geschlecht, das vom rechten Weg der Heilsgeschichte abfiel
(gens appostatrix), weil sie sich einem höheren Verständnis der
Offenbarung verweigerten. Sie bestanden auf der fleischlichen
Erwartung eines messianischen Reiches auf Erden und begriffen nicht,
daß mit der Kreuzigung des Messias solche Vorstellungen veraltet
waren. Zwar sahen die Juden, daß die Christen mit Hilfe des
Evangeliums auch die alten Schriften besser verstanden, aber ihr
1
„Auch die Evolutionsgeschichte im großen und ganzen stellt nur dann einen
Fortschritt dar, der vom einzelligen Lebewesen zum Menschen führt, wenn
man die zunehmende Differenzierung der biologischen Organisation und die
Ausbildung eines zentralen Nervensystems mit Gehirn zum Maßstab des
Fortschritts nimmt und also die vermutliche Aufeinanderfolge der
Lebenserscheinungen teleologisch interpretiert, als ziele die gesamte Natur
von Anfang an auf den Menschen ab.“ Löwith, Karl: „Das Verhängnis des
Fortschritts“, in: Burck, Erich (Hrsg.): Die Idee des Fortschritts. Neun
Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens. München: Beck,
1963, S.17-40, S.18.
2
Sh. v.a. Conc. V,3-23.
3
Tract. I,6, Santi 115,9.
322 ABBILDUNGEN
Kirchen, vor allem in Afrika und Spanien? Die Antwort lautet: Weil
dort die Häretiker wüteten, besonders die arianischen Erzketzer.
Wenngleich die Gefährdung der Kirche durch Ketzerei größer ist, weil
sie von innen kommt, verhält es sich mit den Häretikern ähnlich wie
mit Juden und Griechen: Sie stellen sich dem Aufstieg zum geistlichen
Verständnis entgegen.1 Natürlich müssen auch sie besiegt werden.
Wenn sich Joachims Fortschrittserfahrung auf die monastische
Reformbewegung zurückführen läßt, dann konnte er das Verhalten des
konservativen Klerus freilich nur als reaktionär erfahren. Doch zum
Heil der ganzen Kirche erblüht schon längst das Zisterziensertum in
den Massen seiner Mönche und Konversen. Einige Kleriker freilich
erweisen sich als fortschrittlich und machen den Prozeß der
Monastisierung mit, das heißt, sie schließen sich den
Regularkanonikern an. Aber die weltlichen Kleriker (seculares
clerici), die eigentlich keine richtigen Kleriker sind, weil sie das
Irdische lieben, haben nichts besseres zu tun, als zum Papst zu laufen
und sich zu beschweren: Der Zister[[@Page:272]]zienserorden würde
dem Papsttum gänzlich die Substanz entziehen (abstulit ordo Cistercii
omnino substantiam patris nostri). Und so nörgeln sie noch heute,
klagt Joachim.2 Letztlich aber sei das, was die alten Eliten zu solchen
Feindseligkeiten treibe, nichts als Ressentiment, geboren aus Neid auf
den charismatischen Reichtum der Mönche.3
Wie zu Israels alten Zeiten die durch Habgier und Fleischeslust
korrumpierten Söhne des Priesters Eli versuchten, ihre Herrschaft über
den Jahwekult in Schilo aufrechtzuerhalten und nicht ahnten, daß der
Knabe Samuel, der unter ihnen wohnte, schon das neue Priestertum
verkörpert, so verhalte es sich mit den Prälaten der Kirchen in Ost und
West: Sie halten an den alten Gebräuchen fest und werden über ihrer
Fleischeslust blind für den Wandel, den die Rechte Gottes herbeiführt
(mutatio dextere excelsi). Aber sie werden in den kommenden
Drangsalen untergehen, während der Karren der neuen Religion und
Institution (nova religio et institutio) weiterzieht, um die Lade Gottes,
d.h. die Kirche, auf die neue Kulthöhe zu bringen. Dort aber besorgt
der in Samuel bezeichnete neue geistliche Stand (ordo spiritalis et
nuper editus) die Verehrung Gottes und wird berühmt in aller Welt.4
Selbst innerhalb der fortschrittlichen Elite des Mönchtums gibt es
rückwärtsgewandte Bewegungen. Freilich bedeutete die
Ordensstiftung des Benedikt zu seiner Zeit einen gewaltigen
Fortschritt, aber in der Epoche der Zisterzienser kann Joachim im
althergebrachten Benediktinertum nur noch einen Anachronismus
erblicken. Benedikt erblindet wie der alte Vater Isaak. Die beiden
Söhne, die er gezeugt hat, Cluny und Cîteaux, gehen unterschiedliche
1
Exp. V, fol.188va-vb.
2
Conc. V,49, fol.84ra.
3
Conc. V,50, fol.84va.
4
Vita Ben. 41, Baraut 77,1-81,137; vgl. 1 Sam 2,12-7,1; Chr 13,5.
324 ABBILDUNGEN
Das Wesen des Bösen ist die Lüge, die bestreitet, daß Gott die
Quelle alles Guten ist, und die zur Folge hat, daß dem Schöpfer das
ihm gebührende Lob verwehrt wird.1 Der Teufel, der Urheber
(auctor/inventor) des Bösen,2 heißt daher Vater der Lüge (pater
mendacii).3 Sein Ziel ist es, das Menschengeschlecht zu täuschen und
zu überlisten (ludificare genus hominum).4 Schon bei Adam und Eva
gelingt ihm das, indem er sie gemäß seinem lügnerischen Wesen
davon überzeugt, daß das Irdisch-Fleischliche erstrebenswerter sei, als
das Himmlische.5 Das Böse ist somit kein Bestandteil der
ursprünglichen Schöpfung. Es konnte aus zwei Gründen entstehen:
Zum einen, weil Gott die vernünftigen Geschöpfe mit dem freien
Willen ausgestattet hat, denn alle Verehrung des Schöpfers wäre nur
wenig wert, wenn die Geschöpfes sie nicht aus eigenem Antrieb
praktizieren würden. Ein freier Wille aber kann auch schlecht
gebraucht werden. Mit anderen Worten, Gott schafft nicht das Böse
selbst, sondern seine Schöpfung des Guten impliziert die mögliche
Entstehung des Bösen. Der zweite Grund ist, daß Gott die Entstehung
des Bösen duldete, weil er wußte, wie er es in seiner Schöpfung gut
gebrauchen konnte.6
Natürlich sind viele Aspekte dieser Lehre bekannt, nicht zuletzt
aus den Schriften des Augustinus.7 Aber Joachims Erkenntnisse sind
nicht ohne Tiefgang und Eigenständigkeit. Denn bei Augustinus ist
der Hochmut (superbia) der Anfang alles Bösen, die Selbsterhebung
des Geschöpfes über den Schöpfer.8 Freilich heißt Joachim den
munus, sed ne hoc accipiant reprobi, arbitrii renuunt pravitate. Quod bonum,
quia electi dei nequaquam a semetipsis, sed a bonorum omnium largitore sese
accepisse cognoscunt […].“ Exp. IV, fol. 160ra.
1
„Utrumque ergo confessio est, utrumque laus, quia non solum in quo iustum
dicimus creatorem eum laudamus, verum etiam in quo culpas nostras quibus
iuste iudicamur agnoscimus, quia nequaquam illum iustum confitemur et
credimus, si eum – quod absit a nobis – suspicamur crudelem aut non iustum
contra hominem exercere iudicium. Unde et per Iohannem dicitur: Si dixerimus
quoniam non peccavimus, mendacem facimus eum et verbum eius non est in
nobis.“ Exp. I, fol.58va-vb; 1 Joh 1,10.
2
Exp. Intr., fol.11rb; Adv. Jud., Frugoni 50,20.
3
Exp. I, fol.33ra u.ö.; vgl. Joh 8,44; 2 Thess 2,9f.
4
Exp. Intr., fol.10va.
5
„Decepta est autem a serpente Eva, deceptus est per Evam vir eius, decepti
sunt infirmiores per impios, fortiores et magnanimes per infirmos. Usurpave-
runt autem pomum vetitum, comederunt fructum carnis, in qua mors a principio
consistebat […].“ Exp. I, fol.65rb.
6
„[…] sine eius iusta permissione nec bona nec mala possunt esse in hoc mun-
do, nec sine eius iusto iudicio, qui facit ut ait Apostolus omnia secundum consi-
lium voluntatis sue.“ Conc. V,8, fol.64va; vgl. Conc. V,17, fol.68va-vb.
7
Z.B. [[De civ. Dei XI,17f. >> Augustine:De civ. Dei 11.17-18]]
8
[[De civ. Dei XII,6 >> Augustine:De civ. Dei 12.6]]; [[XIV,13 >>
Augustine:De civ. Dei 14.13]]. Die Lüge ist vielmehr ein Folge und
Verfestigung der ersten Sünde, die in der superbia besteht, gleichsam eine
327 ABBILDUNGEN
est omnis potestas, cui adeo resistere iniquum est, ut is qui ei resistit dei
ordinationi resistat.“ Conc. V,56, fol.88vb; vgl. Röm 13,1; vgl. Tract. I,8, Santi
173,5-175,7.
1
[[De civ. Dei XIX,15 >> Augustine:De civ. Dei 19.15]].
2
Conc. V,17, fol.68vb; Int. cal. 1, De Leo, 136,17-19.
3
Conc. V,70, fol.98va.
4
Tract. I,8, Santi 174,2.
5
„[…] omnes filii eius dicuntur cecidisse in paradiso, non quod ipsi
personaliter in paradiso fuerimus, sed quia ex carne illius propagati sumus, qui
fuit et cecidit in paradiso.“ Conc. V,31, fol.31va; vgl. Röm 5,12.
6
Exp. IV, fol.158va.
7
Ench., Burger 89,2615; Exp. Intr., fol.24ra.
329 ABBILDUNGEN
Teufel einen Leib aus Menschen, die seinen Lügen glauben. 1 So wie
sich aus der jüdischen Synagoge und der christlichen Kirche das eine
Volk Gottes zusammensetzt, so bilden seine alten und neuen
Widersacher, das alte und das neue Babylon, gemeinsam das eine
Volk des Teufels,2 die eine Synagoge des Satans.3 Und so wie Christus
als Haupt des Kirchenleibes in Petrus und den Nachfolgern seine
Stellvertreter installiert, so entsteht ein böses „Apostolat“ des Teufels,
das die Lüge verbreitet. In diesem Sinne stehen den Oberhäuptern der
Christen mehrere Antichristen gegenüber.4 Der erste ist Herodes, der
als Gegenfigur zu Petrus auftritt und [[@Page:277]]parallel zur
apostolischen Sukzession der Päpste eine böse Sukzession einleitet.5
Diese Symmetrie des Bösen und des Guten, die sich in Joachims
Werk überall bemerkbar macht, muß in zweierlei Hinsicht
eingeschränkt werden. Erstens ist es – ganz im apokalyptischen Sinne
und entgegen allen gnostischen Vorstellungen – der eine gute Gott,
dessen Willen beide Seiten unterstehen. Die klare Symmetrie ergibt
sich ja gerade daraus, daß beide Seiten in die Struktur des göttlichen
Plans eingeordnet sind, und sich in den jeweiligen, sigilla oder
tempora genannten Abschnitten der Heilsgeschichte einzelne Teile der
beiden Leiber als konkrete Kollektive gegenüberstehen – Heiden und
Märtyrer, Häretiker und Kirchenlehrer etc. Der große allgemeine
Kampf (bellum generale) zwischen Jerusalem und Babylon
manifestiert sich in einer genau festgelegten Abfolge von speziellen
Schlachten (proelia specialia).6 Die uneingeschränkte Souveränität
1
„Draco iste diabolus est. Corpus eius sunt omnes reprobi.“ Exp. Intr., fol.10ra;
vgl. Exp. VI, fol.193ra; Conc. V,115, fol.130vb; Conc. V,116, fol.131va; Tract.
I,8, Santi 174,5-10.
2
Conc. V,118, fol.134va.
3
Exp. II,120ra-rb; vgl. Offb 2,9.
4
„Etenim antichristi multi sunt, dicente Iohanne: Sicut audistis quia antichristus
venit nunc multi antichristi facti sunt.“ Exp. Intr., fol.10ra; 1 Joh 2,18. Vgl. Exp.
III, fol.134rb.
5
„Erat ergo in ecclesia Christi alius quam Michael, princeps a Domino
constitutus, Petrus, scilicet, et successor eius, quod presens adhuc seculi probat
dies. […] In synagoga nihilominus Sathane, Herodes maior tenuit principatum,
gerens in ea vicem draconis, qui tandem Herodi filio succensionem relinquens,
novissime Romanorum princeps habere promeruit successores [eine
Anspielung auf den staufischen Erbreichsplan?, M.R.]. […] Erat ergo Michael
angelorum prelatus, prelians in Petro principe Christianorum. Erat et dyabolus
princeps Demoniorum, dimicans in Herode Iudeorum prelato.“ Exp. IV,
fol.158vb; vgl. Dan 12,1. „Habet enim et impietas successionem suam.“ Conc.
I,5, fol.3vb, Daniel 35,16. Vgl. Exp. Intr., fol.10ra-rb.
6
„Ut enim breviter proferam proelia quae liber iste [Apocalypsis] complectitur,
quid esse dicimus Babylonem nisi regnum diaboli, quod est inferno; et quid
esse dicimus Hierusalem, nisi regnum Dei, quod est in coelo? Sunt ergo duo
reges, unus austri, alius aquilonis, Deus videlicet et diabolus; duae civitates, vi-
delicet Hierusalem et Babylon. Habet Hierusalem quattuor animalia, quattuor
scilicet ordines militum qui pugnant pro illa, et ipsa nihilominus quantum prae-
330 ABBILDUNGEN
Gottes bedeutet aber auch, daß die Wirkungen des Bösen auf die
geschichtliche Welt beschränkt bleiben, denn jenseits des Jüngsten
Gerichtes wird es nichts Böses mehr geben. Die zweite Einschränkung
besteht darin, daß die Gemeinschaft der Verführten, die als corpus
diaboli gegen das corpus Christi kämpft, nicht per se böse ist, da sich
der Teufelsleib aus den Leibern gut erschaffener Menschen
zusammensetzt. Selbst der gewaltigste aller Antichristen, dessen
Ankunft Joachim jeden Moment erwartet, ist nicht der Teufel,
vielmehr wohnt der Teufel in ihm.1
Wie beim Kirchenbegriff, so weicht Joachim auch hier von der
Theorie der mystischen Gemeinschaften ab, wie sie die tyconianische
Lehre und die augustinische Umformung des corpus diaboli in die
civitas terrena impliziert. Denn das Böse manifestiert sich
[[@Page:278]]auf Erden in Gestalt weltlicher Politik. Alle Herrscher,
die nicht im Dienste der Kirche stehen, sind Wirkungen des Bösen; zu
ihnen zählen die nominell christlichen Staufer, die versuchen, der
christianitas eine Ordnung zu geben, welche der kirchlichen Ordnung
zuwiderläuft. Wie immer spürt man die kompromißlose Radikalität,
mit der Joachim das Telos der gregorianischen Reform zu erfassen
sucht. Das staufische Reich ist wie alle „babylonischen“ Reiche ein
Exponent des Teufelsreiches. Doch im Grunde kann gar nicht
wahrhaft von einem Reich (regnum) gesprochen werden, denn die
babylonische Ordnung orientiert sich nicht am Paradigma aller
Reiche, dem Reich Gottes, sondern ist in seiner irdischen Ausrichtung
diesem entgegengesetzt.2 Ganz irrtümlich glaubt man, die Fürsten
dieser Welt seien kraft ihres Amtes in den Leib Christi inkorporiert
und könnten nicht exkommuniziert werden (creduntur incorporati ut
nequeant separari), obwohl Päpste wie Gregor VII. bewiesen haben,
daß dies sehr wohl möglich ist.1 Daher wird das staufische Imperium
demnächst untergehen, damit die Herrschaft über die Welt – wie bei
Daniel angekündigt – den Heiligen des Höchsten übergeben werden
kann.2 Die vollendet geordnete Menschheit des dritten Status wird
überhaupt keine weltliche Herrschaft mehr kennen. Sie wird nur noch
Kirche, nur noch corpus Christi sein und die vollendete libertas
ecclesiae genießen.3 Die Scheidung zwischen Gut und Böse geschieht
zum Teil schon in einem ersten geschichtlichen Gericht, in dem
Babylon vernichtet wird.4
Das eindrucksvollste Symbol, das Joachim für seinen Gedanken
einer bösen Körperschaft gebraucht, ist der rote Drache (draco rufus)
aus der Offenbarung des Johannes.5 Der Liber Figurarum zeigt am
deutlichsten, wie sich Joachim das siebenköpfige Ungeheuer vorstellt
(sh. Abbildung 3 im Anhang).6 Er deutet das Symbol gemäß seiner
historischen Denkweise. Das Ungeheuer des corpus diaboli tritt durch
die gesamte Kirchengeschichte hindurch dem corpus Christi entgegen.
Seine Häupter sind historische Figuren, die über die Masse der vom
Teufel Verführten hinausragen und sich als Führer antikirchlicher
Kräfte besonders hervortun.7 Obwohl Joachim bei der Identifikation
einiger Häupter seine Ansichten bisweilen ändert, sind die Namen, die
er nennt, durch[[@Page:279]]aus aussagekräftig. So fehlen in allen
Fassungen des draco rufus Erzketzer wie Arius oder Sabellius.
Wichtiger scheinen für Joachim die irdischen Herrscher zu sein, die
den Häretikern erst zur Macht verhelfen, wie der arianische Kaiser
Konstantius.8 Denn nicht selten erkennt Joachim ein symbiotisches
Verhältnis zwischen irdischen (vornehmlich byzantinischen)
Herrschen und Häretikern, wenn es darum geht der Kirche Schaden
zuzufügen.9 Als einziger „Sektengründer“ ist Mohammed in die Reihe
1
Conc. IIIa,4, fol.41rb, Daniel 301,15-20.
2
„Nunc ergo consummatis quinque proeliis et quinque tempribus, destruetur
nova Babylon, incohato scilicet tempore sexto, regnum videlicet mundi huius
quod affligit ecclesiam. Et dabitur regnum quod est subtus omne coelum, ut ait
angelus Danieli, populo sanctorum, qui vocatur spiritualis Hierusalem.“ Ench.,
Burger 89,2626-2630.
3
Conc. IV,31, fol.56va, Daniel 403,26-31.
4
„Transibit enim tritura super messem, triturans triturabit super grana et paleas,
ut et triticum mundatum recipiatur in horreis et palee, que pro solo tritico ser-
vate sunt usque ad tempus aree, separentur a granis comburende igne inextin-
guibili. hec erit portio Babylonis et omnium, qui diligunt illam.“ Conc. V,79,
fol.107vb. Zu den beiden Gerichten am Weltende: Exp. Intr., fol.9ra; De ult. trib.,
Selge 34,372ff.
5
Offb 12,3; 17,3.
6
Lib. Fig., tav. XIV.
7
„Capita ipsius, hii qui principantur inter reprobos et ipsos quoque quibus pre-
sunt, precedunt et precellunt in malum.“ Exp. Intr., fol.10ra.
8
Über die Häupter des Drachen: Exp. Intr., fol. 10ra-va, Exp. VI, fol.196va-vb; u.ö.
9
Exp. IV, fol.167vb; Conc. V,81, fol.121va-vb.
332 ABBILDUNGEN
1
Conc. IIb,9, fol.24ra, Daniel 190,69-72.
2
Sh. dazu die einschlägige Studie: Patschovsky, Alexander: „The Holy Em-
peror Henry ‚The First‘ as one of the Dragon’s Heads of Apocalypse: On the
Image of the Roman Empire under German Rule in the Tradition of Joachim of
Fiore“, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 29 (1998), S.291-322.
3
„De isto Antichristo dicit idem Johachim, quod jam natus est in civitate Ro-
mana, et in sede apostolica sublimabitur […].“ Roger von Hoveden, Chron. III,
Stubbs 78. Vgl. Conc. V,42, fol.79va-vb.
4
„[…] iam Romanam sedem legimus aliquos usurpasse, et nuper sub Frederico
imperatore accidisse comperimus.“ Conc. V,64, fol.95vb-va. Vgl. Conc. IV,17,
fol.52vb, Daniel 380,116.120.
333 ABBILDUNGEN
Heiligtum heißt, so sehr erhebt, daß er sich sogar in den Tempel Gottes
setzt und sich als Gott ausgibt“.1 Unter diesem Thron konnte man leicht
den apostolischen Stuhl verstehen. Die Lehre vom päpstlichen
Antichrist, die in der Reformation – nicht zuletzt bei Luther – so große
Bedeutung erlangte, zeigt sich hier in ihren Anfängen.2
Freilich fallen im Laufe der Heilsgeschichte alle Köpfe des
Drachens. Wenn auch der große siebte Antichrist besiegt sein wird,
wird der dritte Status anbrechen. Die Kirche wird zur Ruhe kommen
und der Herr wird in seinen Erwählten über die ganze Welt herrschen. 3
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn der
enthauptete Drache wird mit seinem Schwanz noch einmal zuschlagen.
Die sagenhaften Randvölker Gog und Magog, bei denen der Teufel
während des dritten Status eingekerkert war, werden von den äußersten
Enden der Erde hereinbrechen und dem alten Äon ein Ende setzen. 4 In
einer zeitlichen Welt kann es keine letzte Vollkommenheit geben, denn
jede Zeit hat ihr Ende. Und indem das Böse, das in der Zeit entsteht und
mit Gott nicht gleichewig ist, das Ende der Zeit herbeiführt, vernichtet
es zugleich sich selbst. Es folgt die Auferstehung der Toten und das
Jüngste Gericht. Dann ziehen alle Erwählten Gottes, die im Laufe der
Heilsgeschichte ihr Leben ließen, gereinigt von der Endlichkeit des
Fleisches mit verklärten Leibern in die Ewigkeit des himmlischen
Jerusalem ein.5
1
Conc. V,21, fol.70va-vb.
335 ABBILDUNGEN
erste Status ist der der Knechte, der zweite der der Kinder und
der dritte der der Freunde. Der erste der der Knaben, der zweite
der der jungen Männer, der dritte der der Greise. Der erste Status
ist wie im Licht der Gestirne, der zweite wie in der Morgenröte
und der dritte wie am hellichten Tag. Der erste wie im Winter,
der zweite wie zu Frühlingsbeginn und der dritte wie im
Sommer. Der erste bringt Brennesseln hervor, der zweite Rosen,
der dritte Lilien. Der erste Gräser, der zweite Gewürze, der dritte
Weizen. Der erste Wasser, der zweite Wein, der dritte Öl. Der
erste bezieht sich auf Septuagesima, der zweite auf
Quadragesima und der dritte auf das Pfingstfest.
Daher bezieht sich der erste Status auf den Vater, der der
Schöpfer aller ist, und beginnt deshalb mit dem ersten
Stammvater, insofern er sich auf das Mysterium von
Septuagesima bezieht – gemäß jenem Wort des Apostels: „Der
erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der zweite
Mensch stammt vom Himmel.“ Der zweite Status bezieht sich
auf den Sohn, der beschloß unsere Gestalt anzunehmen, in der
er fasten und leiden konnte, um den Zustand des ersten
Menschen wiederherzustellen (ad reformandum statum primi
hominis), der beim Verzehr [des Apfels] fiel. Der dritte Status
bezieht sich auf den Heiligen Geist, über den der Apostel sagt:
„Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“1
[[@Page:282]]Auch dieses Zitat schließt mit der Rede von der
geschichtlichen Reform der Menschheit. Besonders typisch für
Joachim ist, daß er sich der Symbolik des liturgischen Jahrs bedient
und sie auf die Geschichte hin auslegt. 2 Dadurch entreißt er die
Gnadenwirkung Gottes zumindest teilweise der sakramentarischen
Zyklik und zugleich der priesterlichen Disposition.3 Septuagesima, der
Beginn der Vorfastenzeit, bezeichnet den ersten Status des Vaters;
Quadragesima, die mit Ostern beginnende Fastenzeit, den zweiten
Status des Sohnes; und Pfingsten, das Fest des Geistes, wird in der
nahen Zukunft von der gesamten Menschheit gemeinsam begangen
werden – unter Führerschaft des Mönchsstandes. Es ist nicht mehr der
einzelne, der das Heil im Sakrament entgegennimmt, das Gottesvolk
als Kollektiv und schließlich die ganze Menschheit genießt die
fortschreitende Wirkung der Gnade. Man kann in den Jubeljahren, die
Bonifaz VIII. einführte, eine Reaktion auf die vielfältigen
joachitischen Bewegungen des 13. Jahrhunderts sehen. Nach Claude
Carozzi handelte es sich um den Versuch, die geschichtliche
Heilserwartung wieder der päpstlichen Verfügungsgewalt zu
1
Conc. V,84, fol.112rb-va; 1 Kor 13,10.12; 2 Kor 3,15f.18; Joh 16,13; 1,16; 1
Kor 15,47; Phil 3,20f.; 2 Kor 3,17.
2
Vgl. Lib. Fig., tav.XIX.
3
Vgl. die Bemerkungen über die Wassertaufe in Conc. IIa,2, fol.7va-vb, Daniel
63,28-37.
336 ABBILDUNGEN
unterstellen.1
Diesmal aber wird das eigentümliche Wirken der drei Personen,
das sich für die zeitlich existierende Menschheit in drei
geschichtlichen Phasen manifestiert, genauer ausgeführt. Obgleich
immer drei Personen an der Schöpfung teilhaben, ist es doch im
besonderen der Vater, der den Menschen schafft. Der Sohn stellt den
Schöpfungszustand des Menschen wieder her, der durch den Fall
korrumpiert worden war. Die Offenbarung des Geistes schließlich
überhöht die bloße Wiederherstellung und bewirkt am Gottesvolk eine
Herrlichkeit und Freiheit, wie man sie vor Joachim nur im Himmel für
möglich hielt.
In diesem Sinne kennt Joachim einen doppelten Begriff der
Gottesebenbildlichkeit. Imago Dei war der Mensch im Paradies, bevor
er aus eigener Schuld seine Natur verdarb. Imago Dei ist der Mensch,
der durch das Wirken des Sohnes und des Geistes wiederhergestellt
und sogar noch verbessert wird. Imago Dei ist im zweiten Sinne – und
das ist hier entscheidend – das Menschengeschlecht in seiner
geschichtlichen Existenz, die von der Selbstoffenbarung des
dreieinigen Gottes, dem ordo revelationis2 strukturiert wird. Alle drei
Personen der Gottheit wirken in der Geschichte. „Aber“, so Joachim,
„das Werk, von dem wir sprechen ist das Menschengeschlecht, das der
Natur nach eines ist, aber durch seine Stände wie in eine Trinität
unterteilt wird“ (Est autem opus istud, de quo et loquimur, genus
humanum, unum quidem in natura, sed propriis ordinibus velut in
trinitate distinctum).3
Die politische Bedeutung der Drei-Status-Lehre wird erst zur
Gänze sichtbar, wenn man bedenkt, daß sie immer zugleich eine Drei-
Stände-Lehre ist – ein Versuch, die ständische Ordnung der
hochmittelalterlichen Gesellschaft aus der Geschichte und dem
Wirken der dreieinigen Gottheit zu erklären sowie ihre Entwicklung in
die Zukunft hinein fortzudenken.4 Wie gesehen meint Joachim die
Menschheit, wenn er von [[@Page:283]]der Welt spricht. In diesem
Sinne verweist der Begriff Status auf den Zustand der Welt (status
mundi) hinsichtlich des Wandels, den Gott an seinem Volk vollzieht.
Die Drei-Status-Lehre will zeigen, wie sich der göttlich geleitete
Fortschritt der Menschheit in der sozialen Lebenswirklichkeit
1
Carozzi 1996, S.178.
2
Tract. I,6, Santi 100,27.
3
Exp. Intr., fol.18vb; vgl. Conc. IIa,8, fol.9rb-vb, Daniel 74-76.
4
Nicht zufällig hat Carl Schmitt Joachim von Fiore als Zeugen gegen Erik
Peterson und dafür gewählt, daß eine „politische Theologie“ auf der Grundlage
des orthodoxen Trinitätsdogmas möglich ist: „[…] die Geschichtstheologie
Joachims von Floris ist eine politisch-theologische Interpretation des Dogmas
von der Trinität.“ Schmitt, Carl: Politische Theologie II. Die Legende von der
Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin: Duncker & Humblot, 41996,
S.72f.
337 ABBILDUNGEN
geht es ihm nicht. Laien, das sind für ihn unterschiedslos alle
Menschen, die sich nicht dem Eheverbot unterwerfen, das zumal nach
gregorianischer Auffassung unabdingbare Voraussetzung für den
geistlichen Stand ist. Und in diesem Sinne ist Israel ein Laienvolk,
obgleich die Leviten und Männer wie Elija und Elischa schon
zeichenhaft auf den Priester- und Mönchsstand der Zukunft
hinweisen.1 Der Laienstand, der prinzipiell auch im Christentum
bestehen bleibt, ist noch in anderer Hinsicht Abbild der ersten
göttlichen Person: So wie der Vater den Gottessohn zeugt, so ist der
Laienstand eingerichtet, um Kinder zu zeugen und die leibliche
Fortexistenz des Menschengeschlechtes zu sichern.2
Der zweite Status: Nachdem die Kinder Gottes unter der
gestrengen Zucht des Vaters lesen gelernt haben, bringt das
Evangelium Christi das Verständnis.3 Es entspricht Joachims
intellektualistischer Deutung des Sündefalls, wenn er im Wirken
Christi vor allem die Weisheit (sapientia) erblickt. Denn wenn die
Sündenstrafe im Verlust von Wissen besteht, dann muß das
Hinwegnehmen der Sünde auch ein Hinwegnehmen der Unwissenheit
bedeuten.4 An die Stelle des Gesetzes tritt in der Zeit der Gnade (sub
gratia) die Lehre (doctrina) Christi. Die Menschen lernen, daß ihnen –
so heißt es bei Paulus – in Christus der Geist der Kindschaft verliehen
wird, daß sie also zu Brüdern [[@Page:287]]Christi und zu Miterben
am Reich Gottes werden.5 In diesem Sinne geht die Jenseitserwartung
in die göttliche Pädagogik ein und ersetzt die diesseitig ausgerichtete
Eschatologie der Juden.
Der zweite Status enthält aber noch eine weitere Dimension des
Wissens, die schon am Beispiel der Genealogia besprochen wurde:
Christus löst die sieben Siegel der israelitischen Geschichte. Das heißt
nicht, daß der ganze Sinn des Alten Testamentes sogleich offenbar
würde. Denn wenn von Christus die Rede ist, kann entweder das
Haupt oder der Leib gemeint sein. In diesem Sinn ist es die
Geschichte des Christusleibes, die Kirchengeschichte, die die Siegel
löst. Die Geschichte des fleischlichen Volkes Israel wiederholt sich
auf einer höheren heilsgeschichtlichen Ebene; auf einer höheren
Ebene insofern, als die Kirche Christi dem eschatologischen Ziel des
himmlischen Jerusalem schon näher steht als das alte Gottesvolk. So
1
„Fuit autem coniugatorum ordo a principio constitutus et perseveravit solus
aut quasi solus omni tempore primi status, hoc est ab adam usque ad christum,
quia etsi fuerunt in tempore illo duo reliqui ordines, sub umbra tamen littere
tenebantur inclusi et sub vinculo coniugii sicut et ceteri constituti.“ Exp. Intr.,
fol.18vb-19ra.
2
Exp. Intr., fol.18vb.
3
Psalt. II, fol.246vb; Vita Ben. 26, Baraut 57,7-10.
4
Vgl. Praeph. Apc. I, Selge 103,33-46.
5
Röm 8,15-17; Gal 4,4-7; Conc. IV,32, fol.56va, Daniel 404,3-7; Exp. I, fol.48rb,
91ra, 94va; u.ö.
342 ABBILDUNGEN
offenbart sich im Verlauf des zweiten Status ein tieferer Sinn der
alttestamentlichen Schriften, der den Juden noch verborgen war. Das
Volk Israel stellt durch seine Geschichte den Text her, den die
christliche Kirche wiederum durch ihre Geschichte auslegt.
Christus, der die höhere Wahrheit verkündet, wird zum
Archetypen des Priesters und Predigers und begründet nach seinem
Bild einen neuen Stand, den Klerus (ordo clericorum). Wie Christus
sind die Kleriker gezeugt, zeugen aber selbst nicht.1 Obwohl es auch
in christlicher Zeit nach wie vor Laien gibt, nicht zuletzt um den
Nachwuchs und die Subsistenz des Klerus zu sichern, und obwohl
sich der Mönchsstand schon in seinen Anfängen zeigt, ist die soziale
Ordnung im zweiten Status dennoch eigentümlich vom Klerus
geprägt. Ihm gebührt nach dem Bild des Sohnes das Prälatentum im
Gottesvolk.2
Der dritte Status: Bei der Beschreibung des dritten Status gerät
Joachim in begriffliche Verlegenheit, denn seine Neuheit einer
geschichtlichen Vollendung der Menschheit läßt sich nicht mehr mit
der überkommenen Symbolik fassen. Zwischen der mit Christus
beginnenden Gnadenzeit und der jenseitigen Erlösung war weder bei
Paulus noch bei Augustinus eine weitere Epoche höheren
Offenbarungswissens vorgesehen. Joachim muß zum Komparativ
greifen und spricht von einer Zeit reicherer Gnade (sub ampliori
gratia).3 Daß er damit weit über die Väter hinausgeht, ist ihm bewußt,
aber so wie die Väter zu ihrer Zeit das Notwendige sagten, so gebe es
nun eben neue Notwendigkeiten.4 Joachim ist der erste Denker, der
den Traditionsbruch mit den Erfordernis[[@Page:288]]sen des
geschichtlichen Fortschritts rechtfertigt. Er weiß natürlich, daß des
Apostels Verkündigung von der vollendeten Erkenntnis bisher
ausschließlich auf die jenseitige Gottesschau bezogen wurde, aber das
1
„Clericorum ordo non a se ipso, sed a solo ordine coniugatorum propagatus
est origine carnis, qui tamen non est institutus ad procreandos filios carnis, sed
ad evangelizandum verbum dei sicut et ipse christus, ad cuius imaginem
institutus est.“ Exp. Intr., fol.18vb.
2
Conc. IIIa,17, fol.33vb-34ra, Daniel 258,151-154; Conc. IV,33, fol.57ra, Daniel
406,32-34.
3
Ench., Burger 23,463; Conc. V,81, fol.112rb; Psalt. II, fol.247ra.
4
„Nec illi auctoritati patrum putetur esse contrarium, qua dictum est tempus
ante legem, tempus sub lege, tempus sub gratia, quia et illud in suo genere dici
necessarium fuit et istud in suo necessarium est. Nam ut teneamus utrumque,
tertia quoque assignatio temporum adiungenda est, id est tempus sub littera
evangelii, tempus sub spiritali intellectu, tempus manifeste visionis Dei. omnia
tempora simul quinque, licet quintum, quod erit in patria, abusive, non proprie
tempus dicatur. Dicimus tamen in perhenni seculorum tempore. Primum itaque
tempus ante legem, secundum sub lege, tertium sub evangelio, quartum sub
spiritali intellectu, quintum in manifesta visione Dei.“ Exp. Intr., fol.5va, korr. n.
Selge.
343 ABBILDUNGEN
stört ihn nicht länger.1 Wo der Geist weht, da gibt es kein Recht des
Älteren.2 Wissen ist abhängig vom Standpunkt in der Zeit, wer der
geschichtlichen Vollendung näher ist, kann mehr wissen.3
Doch wie sieht sie aus, die Offenbarung des Geistes, die die
Erziehung des Menschengeschlechts zum Abschluß bringen soll? Im
Gesetz des Alten Testamentes und im Evangelium des Neuen
Testamentes haben der Vater und der Sohn das Offenbarungswissen in
einer Form vermittelt, die dem jeweiligen Erziehungsstatus des
Gottesvolkes angemessen war. Aber wie der Geist in ewiger
Prozession aus Vater und Sohn hervorgeht, so geht im
Offenbarungsprozeß das geistliche Verständnis aus der Offenbarung
des Vaters und des Sohnes hervor:
Wie sich nämlich der Buchstabe des Alten Testamentes durch
eine gewisse eigentümliche Ähnlichkeit (proprietate quadam
similitudinis) auf den Vater zu beziehen scheint, der Buchstabe
des Neuen Testamentes auf den Sohn, so bezieht sich die
geistliche Einsicht (spiritalis intelligentia), die aus beiden
hervorgeht (procedit), auf den Heiligen Geist.4
Geistliches Verstehen ist ein unmittelbares Verstehen, das alles
Buchstabenwissen übersteigt und die Lektüre der Bibel wie anderer
Bücher, vielleicht am Ende gar die Sprache selbst überflüssig macht. 5
1
„Sed neque illud pretereundum existimo, quod patres in introitu heremi, Mare
Rubrum, filii vero in introitu terre, Iordanem, pari modo transire concessi sunt;
quia et ibi per sacramentum baptismatis, quod visibili elemento celebratur,
separatio quedam facta est inter infideles et fideles, et hic, per spiritale
baptisma, quo sola inundatio Spiritus invisibiliter emundat corda electorum
suorum, inter carnales et spiritales, lactis tamen participes et utentes solido
cibo, parvulos in Christo et perfectos, distinguitur, ut compleatur prophetia
Pauli qua dicitur: videmus nunc per speculum in enigmate, tunc autem, facie ad
faciem. Nam etsi in futura vita complenda esse hec omnia aliqui putant, nec nos
ab illorum intellectu, pro eo quod ista dicimus, disentimus. Erit utique ista
perfectio tota et integra in futuro, cuius comparatione adhuc semel dici oportet,
cum venerit quod perfectum est, evacuabitur quod ex parte est, sed hoc profecto
completum erit comparatione preteriti. Ut enim comparatione eorum qui in
adventu Domini crediderunt, populus Israel, qui sub littera deguit, parvulus
estimatus est, iste autem populus vir comparatione illius, ita populus ipse qui in
adventu domini fidem recepit, comparatione eius qui modo crediturus est,
parvulus et lactens reputatus est, sicut e contrario iste vir comparatione illius.“
Vita Ben. 40, Baraut 75,53-76,73.
2
Conc. V,50, fol.84vb-85ra.
3
„Licet enim multa viderint sancti per speculum in enigmate, non sunt tamen
ausi presumere aliquid contra illam Pauli sententiam dicentis: cum autem
venerit quod perfectum est, evacuabitur quod ex parte est. sed si hoc illi qui tam
magni fuerunt, quid nos infimi et abiecti? verum etsi impares meritis, quis
tamen nesciat viciniores nos esse illi tempori quod designatum est in tempore
revelationis Helye?“ Conc. V,73, fol.101rb. Vgl. Exp. Intr., fol.25vb.
4
Exp. Intr., fol.5rb.
5
„Illud autem de tertio statu pretermittendum non est, quod nullus mihi adhuc
344 ABBILDUNGEN
1
Praeph. Apc. I, Selge 104,50; vgl. 1 Joh 3,2.
2
„Inclinata iam die, vadit autem [ecclesia] credendo et inquirendo et pervenit
ad illum in fine seculorum, quando et sine enigmate intuebitur eum sicuti est.
non enim sic potest homo videre deum, quomodo homo hominem, sed videre
deum est perfecte intelligere veritatem et agnoscere eos, in quibus loquitur
ipse.“ Conc. V,45, fol.81rb.
3
Vita Ben. 14, Baraut 33,1-35,56.
4
Psalt. II, fol.253ra, 254rb-va.
5
Psalt. II, fol.247va; vgl. Exp. V, fol.182vb.
6
Conc. V,43, fol.80ra.
7
Psalt. II, fol.265ra.
346 ABBILDUNGEN
des dritten Status das vollständige Abbild der Trinität, das sich im
Laufe der Geschichte aufgebaut hat. Daher sind sowohl die
Gesellschaftsordnung als auch der geschichtliche Gesamtprozeß als
jene Einheit zu betrachten, in der sich die Einheit der drei Personen
widerspiegelt. Im Liber introductorius heißt es:
[…] so wie der Stand der Eheleute (ordo coniugatorum), der in
der ersten Zeit offenbar wird, sich durch eine eigentümliche
Ähnlichkeit (proprietate similitudinis) auf den Vater zu
beziehen scheint, der Stand der Prediger (ordo predicatorum),
der in der zweiten offenbar wird, auf den Sohn, so bezieht sich
der Stand der Mönche (ordo monachorum), dem eher die
letzten Zeiten gegeben sind, auf den Heiligen Geist. Und
demgemäß wird nämlich der erste Status dem Vater
zugeschrieben, der zweite dem Sohn und der dritte dem
Heiligen Geist, wenngleich man auf andere Weise sagen muß,
daß es nur einen Status der Welt gibt und ein Volk der
Erwählten, und daß sich alles zugleich auf Vater, Sohn und
Heiligen Geist bezieht.1
Gott hat den Menschen nach seinem Bild geformt und infolge des
Sündenfalls nach seinem Bild reformiert. Die Wiederherstellung der
Gottesebenbildlichkeit ist der Sinn [[@Page:291]]der Geschichte und
sie kommt zum Ziel in der vollendeten politischen Ordnung.2 Nur wo
die Menschheit sich zur universalen Einheit verbindet und strukturell
die dreifaltige Einheit des Schöpfers abbildet, kann sie ihrem Ziel
gerecht werden, also Gott vollständig erkennen und nach Kräften
verherrlichen (una erit gens et unus populus creatus ad laudem dei
cognoscens optime deum suum a minimo usque ad maiorem).3 Und
nur wo dies geschieht herrscht vollendete Gerechtigkeit (perfecta
iustitia).4 Dementsprechend ist auch die dreistufige Hierarchie der
Stände gerecht, denn nach Joachims Leistungsethik richtet sie sich
danach, wer am meisten zum Lob des Herrn beiträgt.
Im zweiten Buch des Psalterium ordnet Joachim den Ständen
Wertzahlen zu, die ihrer Leistung im Gotteslob entsprechen und ihren
jenseitigen Rang fast mathematisch genau berechnen lassen. Auf den
Mönchsstand, der den gesamten Psalter an einem Tag zu rezitieren
vermag, entfällt der Heilswert 30, auf die mit Seelsorge und Predigt
befaßten Kleriker der Wert 20 und auf die mit Kinderaufzucht und
1
Exp. Intr., fol.5rb-va.
2
„Hac in re notandum est quod qui fecit hominem ad imaginem et
similitudinem suam et creauit Abraham, Isaac et Iacob ut gererent typum
deifice trinitatis, sicut et plures alios; ipse uoluit constitui tres ordines istos ut
essent et ipsi ad imaginem et similitudinem trinitatis, iuxta illud Apostoli:
‚Donec occurramus omnes in unitatem fidei in uirum perfectum in mensuram
etatis plenitudinis Christi.‘“ Conc. IIa,8, fol. 9va, Daniel 74,15-20; Eph 4,13.
3
Psalt. II, fol.273ra.
4
Vita Ben. 36, Baraut 72,5-8; Conc. V,67, fol.96rb.
347 ABBILDUNGEN
Daseinsvorsorge belasteten Laien der Wert 10. Dennoch hat auch das
Werk der Kleriker und Laien eine Bedeutung, weil es die Mönche von
allem entlastet, was sie von der Verherrlichung Gottes abhalten
könnte. So tun alle Stände ein gemeinsames Werk zum Lob der einen
Gottheit.1 Damit ist auch das Problem gelöst, mit dem sich Joachim
seit der Vision des Psalters plagt: Die horizontale Ordnung der
Geschichte ist mit der vertikalen Ordnung des himmlischen Jerusalem
in Übereinstimmung gebracht, insofern sich die Hierarchie der
Gottesstadt in der Geschichte aufbaut, um am Ende ein genaues
Abbild der himmlischen Ordnung darzustellen. Wie die politische
Ordnung des dritten Status genau aussieht, wird im folgenden Kapitel
anhand von Joachims Verfassungsentwurf näher beschrieben.
An dieser Stelle sei noch einmal zusammengefaßt: Joachims
Einsichten in die Entwicklung der Menschheit sind sicher geprägt von
den geschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit, aber der
Begründungsweg seiner Lehre verläuft deduktiv durch die
hierarchischen Stufen seiner Wirklichkeitserfassung, von der visionär
geschauten göttlichen zur sinnlich erfahrbaren menschlichen Sphäre.
Er geht aus von seinen kontemplativen Einsichten in die
innergöttlichen processiones und zeigt, wie diese in den zeitlichen
Sendungen (missiones) sichtbar werden. Die missiones wiederum
bringen den Fortschritt des Offenbarungswissens. Und schließlich
führt die höhere Einsicht in die göttliche Selbstoffenbarung zum
progressiven Wandel der Gesellschaft. Die Denkschritte sehen zum
Beispiel folgendermaßen aus:
1. Innergöttliche Sphäre (processiones): Aus dem Vater geht in
ewiger Zeugung der Sohn hervor. Der Geist geht ewig aus Vater und
Sohn hervor.
2. Geschichtliche Sphäre der göttlichen Sendungen (missiones):
Der Vater sendet [[@Page:292]]den Sohn in die Welt. Vater und Sohn
entsenden beide den Heiligen Geist.
3. Hermeneutische Sphäre der menschlichen Einsicht (intellectus):
Im Evangelium offenbart sich der höhere Sinn des Alten Testamentes.
Aus dem Buchstaben des Alten und Neuen Testamentes geht der
geistliche Sinn hervor.
4. Soziale Sphäre (ordines): Aus der Synagoge der Laien geht die
Klerikerkirche Christi hervor. Aus Laien und Klerikern geht der
Mönchsstand hervor.
Die Vorgänge in der sozialen Sphäre lassen sich anhand der
Aufzeichnungen in der Bibel und den Chroniken sowie an den
Ereignissen der Gegenwart empirisch überprüfen. Hier aber zeigt sich
der große Schwachpunkt in Joachims kontemplativer Wissenschaft.
Weil er der Empirie einen derart niedrigen Rang zuweist, muß er alle
geschichtliche Erfahrung seinen Einsichten in die höheren Sphären
1
Psalt. II, fol.245ra-va; vgl. 246ra; 250rb; 251vb-252ra.
348 ABBILDUNGEN
Eigentümlichkeiten wesensgleich sind, dann muß das auch für die drei
Status gelten.1 Das heißt, obgleich der dritte Status aufgrund der
Generationenverkürzung eher kurz ausfallen wird, muß sich
prinzipiell die Geschichte noch einmal wiederholen. Zwar gibt sich
Joachim bescheiden und verweist darauf, daß erst die Zukunft die
volle Einsicht in die Geschichte des Geistzeitalters bringen wird, aber
gewisse Grundstrukturen glaubt er durchaus zu erkennen.
So kennt das Gottesvolk in jedem Status einen Lehrer, der größer
ist als alle anderen (summus magister). Im ersten Status ist es Mose,
im zweiten Paulus, und wer es im dritten sein wird, ist noch nicht
sichtbar (in tertio quis erit nondum manifeste cognoscitur).2 Ein
anderes Beispiel: Wie zu Beginn des ersten Status zwölf Patriarchen
stehen, die die zwölf Stämme des Laienvolkes Israel begründen, so
sendet Christus zwölf Apostel aus, um die zwölf Ursprungskirchen zu
gründen. Ebenso werden am Anfang des dritten Status zwölf
monastische Gründer zwölf Klöster gründen, die den Grundstein für
die [[@Page:296]]monastische Gesellschaft der Endzeit legen.3
Es können an dieser Stelle nicht alle Aspekte der Drei-Status-
Lehre berücksichtigt werden, aber unter politischen Gesichtspunkten
verdienen einige von ihnen gesonderte Betrachtung.
1
„Etenim quia alia est persona Patris, alia Filii, alia Spiritus Sancti, et tamen
similis est persona Filii persone Patris, similis persona Spiritus Sanctui personis
Patris et Filii, oportebat, esse aliqua opera, que proprietate similitudinis
pertinent ad personam patris; aliqua que pertinerent ad personam Filii; aliqua
que pertinerent ad personam Spiritus Sancti; et in eis omnibus concordie.“
Conc. IV,1, fol.42va-vb, Daniel 316,65-70.
2
Vita Ben. 11, Baraut 29,25-28.
3
Conc. IV,36f., fol.57vb-58vb, Daniel 411,70-415,154.
4
[[Hebr 3,10f.-19 >> Bible:Heb 3,10-19]].
5
[[Hebr 4,1-10 >> Bible:Heb 4,1-10]].
353 ABBILDUNGEN
1
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Buch III: Der
Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (= MEW Bd.25). Berlin: Dietz,
1964, S.828 (Abschn. VII, Kap. 48). Hervorh. d. Verf.
2
Übrigens hat die Arbeitssoziologie Joachim von Fiore in diesem Sinne bereits
entdeckt. Vgl. Negt, Oskar: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und
kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt und New
York: Campus, 1984, S.198.
355 ABBILDUNGEN
1
Exp. I, fol.36vb.
2
Conc. IIa,2, fol.7vb, Daniel 63,37-45.
3
Vita Ben. 41, Baraut 78,36-38.
4
Ench., Burger 31,735-32,753; vgl. Ex 16,22-30.
5
„Quasi ergo sepe scriptus populus alas suas extendit ad uolandum, implens
latidudinem terre Christi; quia, egressus a locis suis uersus orientem et
occidentem, dilatatus est in robore sua. Cum prophetia ipsa, cuius tam sunt
clara mysteria necdum secundum totum uideatur esse completa, complebitur
autem sub sexta apertione, que sub quarta est, ut cernimus, inchoata.“ Conc.
IIIb,4, fol.40vb, Daniel 298,43-48. Vgl. Ench., Burger 62,1721-1732;
6
Exp. Intr., fol.24rb-va.
358 ABBILDUNGEN
Ketzer werden ihr folgen. Doch dies darf man sich nicht so sehr als
physischen Kampf vorstellen, denn, wie Joachim sagt, der Herr
schickt zur Strafe Babylons den Glaubensirrtum.1
Wenn also davon die Rede ist, daß die nicht innerlich Bekehrten
den Pseudopropheten zum Opfer fallen, so ist damit deren Bekehrung
zum Islam oder zum Ketzerglauben gemeint. Joachim zeigt an einer
Stelle deutlich, wie sehr die muslimische Herrschaft über Sizilien in
der Erinnerung der Süditaliener noch präsent ist und den Boden für
neue Ängste bereitet.2 Natürlich sind die „Sarazenen“ und die
Häretiker nur Werk[[@Page:301]]zeuge in der Hand des Herrn und
müssen im Übergang zum dritten Status unter dem Schwert Christi
fallen. Aber auch dies ist nicht als physischer Gewaltakt zu denken.
Die wahren Soldaten Christi kämpfen mit geistlichen Waffen, wer von
ihnen besiegt wird, bekehrt sich zu Christus.3 Ohnehin können
Muslime und Häretiker nur den lauen Christen etwas anhaben, nicht
aber denen, die sich unter der Obhut vollendeter Männer (viri perfecti)
zusammenschließen und in den Festungen der Geistkirche dem
Ansturm des Antichrist widerstehen.4 Angesichts der Unschuld und
Einfachheit dieser im Glaubenskampf gereinigten Kirche, werden die
islamischen Führer die Flucht ergreifen. Auf diese Weise wird im
Islam eine Trennung zwischen Haupt und Leib herbeigeführt, und der
Rumpf, der aus der Masse der Verführten besteht, wird sich angesichts
ihres strahlenden Sieges freiwillig der Geistkirche unterwerfen.5 Den
häretischen Bewegungen wird es nicht anders ergehen.
Joachim geht also trotz aller apokalyptischen
Vernichtungsrhetorik davon aus, daß die große Masse der Menschheit
gerettet wird. Die fremden Völker werden untergehen, weil sie die
Falschheit ihres Kultes erkennen, sich dem wahren Herrn unterwerfen
1
„Bestie et reptilia, que creavit deus sexto die, regna sunt paganorum et secte
pseudoprophetarum, que sexto tempore ecclesie, quod in ianuis est, atrocius
permittentur sevire contra ecclesiam propter peccata, dicente Apostolo: quia
caritatem veritatis non receperunt ut salvi fierent, mittet illis deus operationem
erroris ut credant mendatio et iudicentur omnes qui non crediderunt veritati, sed
consenserunt iniquitati. dominus inquit mittet illis operationem erroris, id est eo
permittente in ira sua, fiet malum istum propter peccata; quemadmodum si quis
ursum vel leonem volentem currere ad predam teneret alligatum catenis ferreis
clamaretque in circumstantibus, ut sibi caverent, qui tamen negligerent
semetipsos, et quod eo gravius est, viro tenenti bestiam contumeliam irrogarent,
aliaque multa mala incessanter committerent; ille quidem in ira sua alligatam
bestiam solveret contra malos, que tamen dimissa a viro, id faceret omnino
quod prius facere cupiebat. sic et bestie iste ex sua quidem voluntate parate sunt
nocere fidelibus, sed tamen non licet eis nisi cum iusto dei iuditio certis
temporibus permittuntur.“ Conc V,18, fol.69rb-va; 2 Thess 2,10-12.
2
Conc. IV,17, fol.53rb, Daniel 378,76-81.
3
Exp. Intr., fol.8va.
4
Conc. V,104, fol.124rb-va; Conc. IIb,10, fol.24vb, Daniel 196,17-23; Ench.,
Burger 62,1743-63,1761.
5
Vita Ben. 41, Baraut 79,57-77.
359 ABBILDUNGEN
1
„Archa vero federis Domini, Ecclesia videlicet electorum, que erit in reliquiis
Domini, faciet iudicium in Dagon, et faciet stragem magnam populorum
multorum, nimirum quia multitudo maxima convertetur ad Dominum.“ Vita
Ben. 41, Baraut 78,51-79,54; vgl. 1 Sam 5.
2
„At quia non unius populi tantum miserertur Deus, set omnium, quantum in se
est, querit operari salutem, sequitur et dicit quia et aliis civitatibus oportet me
evangelizare, quia ideo missus sum, id est non solis his qui modo in fide sunt,
sed et Iudeis et barbaris et omnibus qui extra fidem sunt, ut convertantur ad
Dominum omnes fines terre. Conclusit enim Deus omnia in incredulitate, ut
omnium miseratur.“ Tract. II,11, Santi 237,15-21; Lk 4,43. Vgl. Conc. V,98,
fol.123va.
3
„Sexcentessimo quoque anno Noe, inundavit diluvium et perdidit omnem
carnem; inchoato septimo centenario, reddita est pax cunctis viventibus, que
archa servaverat, et pollicitus est Dominus servare de cetero pacem, nec tale
quid unquam facere cunctis diebus vite hominis super terram. Sextus
centenarius sextam etatem significat, que presens est, in cuius fine erumpet de
gentili feritate abyssi populorum ad degluciendas animas hominum, qui extra
spiritalem archam Noe reperientur; et iterum post dies illos, inchoata etate
septima, dabitur reliquiis que impleture sunt terram, sicut quondam reliquie
filiorum Noe, et usque ad adventu Gog, quem designat Nemroth qui auctor fuit,
ut dicitur, edificantium turrim et civitatem Babel, pax, et securitas magna erit in
terra.“ Vita Ben. 35, Baraut, 72,1-14; Gen 7,1; 8,21; 10,8-10; 11.
4
Conc V,53, fol.87ra.
5
Vgl. das oben schon angeführte Zitat aus Exp. VIII, fol.221rb: „[…] perficiatur
in septima [etate], quicquid minus erit in structura Hierusalem, et vocatione
universi populi, qui futurus est in ea […].“.
360 ABBILDUNGEN
In der Kirche wird die 42. Generation in dem Jahr oder zu der
Stunde beginnen, die der Herr besser kennt. In dieser
[Generation] wird, nachdem in der Generation zuvor eine
allgemeine Drangsal geschehen und der Weizen sorgsam von
aller Spreu gereinigt wird, jemand wie ein neuer Führer aus
Babylon hinaufziehen, nämlich ein universaler Papst des neuen
Jerusalem, das heißt der heiligen Mutter Kirche (ascendet quasi
nouus dux de Babilone, uniuersalis scilicet pontifex noue
Ierusalem, hoc est sancte matris ecclesie). Über dessen Typus
steht in der Apokalypse geschrieben: „Dann sah ich vom Osten
her einen anderen Engel emporsteigen; er hatte das Siegel des
lebendigen Gottes“; und bei ihm war der Rest der Vertriebenen.
Er zieht aber nicht zu Fuß [nach Jerusalem] hinauf oder im
Sinne eines Ortswechsels, sondern weil ihm die volle Freiheit
gegeben wird, die christliche Religion zu erneuern und das
Wort Gottes zu predigen (dabitur ei plena libertas ad
innouandam christianam religionem et ad predicandum uerbum
dei), während der Herr der Heere schon anfängt über die ganze
Erde zu herrschen.2
Soviel läßt sich also schon sagen: Der endzeitliche Führer, von dem
1
Dempf 1954, S.269ff.; Löwith 1990, S.141ff.; Voegelin 1991, S.164ff.; Cohn
1998, S.119ff.
2
Conc. IV,31, fol.56ra-rb, Daniel 401,1-7 und 402,1-9; Sach 4,9; Offb 7,2; vgl.
Esra 3; Hag 1,12-15.
361 ABBILDUNGEN
1
„Inter quos [viros religiosos] et sanctus Bernardus noster abbas Claravallis,
qui in libro suo de consideratione misso ad Eugenium papam nichil de negli-
gentiis aut gravamine subiectorum dereliquit intactum, ita ut liber ipse alter
Leviticus esse videretur. et quamvis sanctus vir mordatius argueret in Romano
pontifice occupationem, non tamen absolute occupationem, sed illam, que est
secundum seculum, per quam ea que est secundum deum occupatio perit. Conc.
V,64, fol.94vb.
2
De cons. II,v,8, Winkler 670,22f.
3
Conc. IV,38, fol.59rb-va (= De cons. II,i,1-2, Winkler 662,2-664,12).
4
Conc. V,62, fol.93ra.
5
Wenn Joachim davon spricht, daß der Eintritt des Mönchtums in die Kirche
während einer Verfolgung durch die Barbaren geschehen sei, so denkt er an den
Langobardensturm, unter dem 585 Montecassino fiel. Conc. V,62, fol.93 ra. Die
Mönche, die sich zu Gregor dem Großen flüchteten, berichteten über das Leben
ihres Gründervaters und veranlaßten den Papst zur Niederschrift seiner
Benediktvita. Riché, Pierre: Gregor der Große. Leben und Werk. München u.a.:
Neue Stadt, 1996, S.18f. Gregor gilt bereits bei Bernhard als Vorbild des
monastisch gesinnten Papstes. De cons. I,ix,12, Winkler 654,17-656,2. Auch
moderne Historiker gehen davon aus, daß Gregor der Große die entscheidenden
Schritte unternommen hat, die das Mönchtum zum integralen Bestandteil der
kirchlichen Ordnung werden ließen. Prinz 1980, S.19f.; HbKG II/2, S.273f.
364 ABBILDUNGEN
Vaters ihm nachfolgen und nach ihm auf dem Thron sitzen; er
wird gerecht herrschen und richten. Die Kirche Petri, die der
Thron Christi ist, wird also nicht untergehen – das sei ferne –,
sondern in größere Herrlichkeit verwandelt werden und ewig
stabil bleiben (commutata in maiorem gloriam manebit stabilis
in eternum).1
Der Passus läßt sich folgendermaßen verstehen: Der kirchliche Stand,
also die klerikale Hierarchie, ist veraltet und wird den Forderungen
der Zeit nicht mehr gerecht. Gleichwohl versucht der Papst seine
überkommene Herrschaftsordnung noch aufrecht zu erhalten. Das
Mönchtum, das sich neben der klerikalen Hierarchie herausbildet,
achtet und unterstützt die alte Ordnung, wird mit ihr aber nicht
vertraulich und bleibt von ihrer weltlichen Ausrichtung unbefleckt. Es
ist absehbar, daß die überkommene Klerikerkirche vergehen wird,
aber man soll diesem Prozeß nicht gewaltsam nachhelfen und schon
gar nicht versuchen, die Herrschaft über die Kirche an sich zu reißen.
Diese Äußerung ist bemerkenswert, weil sie belegt, daß Joachim allen
revolutionären Bestrebungen entgegenstand. Der Klerus muß nicht
bekämpft werden, weil die Mönchskirche gemäß dem göttlichen
Willen ohnehin an ihre Stelle treten wird; die Klerikerkirche muß
nicht beseitigt, sondern verwandelt werden (commutari).2 Päpste wird
es weiter geben, sie werden sogar mächtig (potiti) sein, aber in der
Friedenszeit müssen die nunmehr monastischen Stellvertreter Christi
nicht mehr nach Art irdischer Monarchen herrschen, sondern
verwalten die Geistkirche wie der Abt das Kloster.3
Es gibt Hinweise darauf, daß Joachim in seinen letzten Jahren
seine Meinung über das Papsttum geändert hat. Denn nachdem der
junge Jurist Innozenz III. den apostolischen Stuhl bestiegen hatte,
mußte man annehmen, daß es mit dem monastischen Papsttum auf
absehbare Zeit nichts werden würde. Im Alterswerk Tractatus super
IV evangelia spricht Joachim tatsächlich von einer Auflösung
(dissolutio) der petrinischen Sukzession zugunsten einer monastischen
Weltherrschaft.4
1
Conc. V,65, fol.95va-vb.
2
Vgl. Töpfer 1964, S.60ff.
3
Vgl. Bernhards Worte an Eugen III.: „Factum superiorem dissimulare nequi-
mus; sed enim ad quid omnimodis attendendum. Non enim ad dominandum
opinor.“ De cons. II,vi,9, Winkler 672,12f.; vgl. III,i,2, Winkler 702,5-15;
IV,vi,17-22, Winkler 762,14-771,20.
4
Joachim legt dort die Stelle Lk 2,25-30 aus, die vom greisen Simeon erzählt,
der noch einmal den Messias zu sehen wünschte, bevor er in Ruhe sterben
konnte. Joachim bezieht Simeon ausdrücklich auf das Papsttum, das im
Mönchtum die messianische Zukunft erblicken werde, und dann keinen großen
Schmerz mehr über die eigene Auflösung empfinden werde, sondern nur
Freude über die würdige Nachfolge. Tract. I,6, Santi 97,21-100,2. Vgl.
Grundmann 1950, S.63, und die ausführliche Diskussion in: Mottu, Henry: La
manifestation de l’Esprit selon Joachim de Flore. Herméneutique et théologie
367 ABBILDUNGEN
V. JOACHIMS VERFASSUNGSENTWURF:
Der Apostel Paulus: Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder
hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib
bilden, so ist es auch mit Christus. 1 Auch der Leib besteht nicht nur aus
einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine
Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und wenn
das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört es
doch zum Leib. Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das
Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? Nun aber
hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht
entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So
aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. 2
Aber jeder von uns empfing die Gnade in dem Maß, wie Christus sie
ihm geschenkt hat. Deshalb heißt es: Er stieg hinauf zur Höhe und erbeutete
Gefangene, er gab den Menschen Geschenke. 3 Und er gab den einen das
Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten,
andere als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für die Erfüllung ihres
de l’histoire, d’après le „Traité sur les Quatre Evangiles“. Neuchâtel und
Paris: Delachaux & Niestlé, 1977, S.129ff.
1
1 Kor 12,12.
2
1 Kor 12,14-20.
3
Eph 4,7-8; Ps. 68,19.
368 ABBILDUNGEN
Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi. So sollen wir alle zur
Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes gelangen, damit wir
zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten
Gestalt darstellen.1
Der Evangelist Johannes: Ich, Johannes, sah: Eine Tür war geöffnet
am Himmel. Und ich sah: Ein Thron stand im Himmel. Und in der Mitte,
rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten.
Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Kalb, das dritte
sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. 2
nahe beim Kloster, nach Anordnung und Willen des geistlichen Vaters, der
allen vorstehen wird. Ihr Prior wird sie nicht schimpfen, sondern inständig
bitten wie Väter, wenn nicht sogar wie Greise, die der Barmherzigkeit
bedürfen. Sie fasten immer, außer bei Krankheit. Sie werden keinen Wein
trinken und keine mit Öl bereiteten Speisen essen, außer an Sonntagen und
besonderen Feiertagen. Wenn aber einer so krank im Magen ist, daß er das
festgelegte Fastengebot nicht aushalten kann, soll er in das Oratorium der
Alten gebracht werden und dort bleiben, bis er geheilt ist. Jene werden keine
Skapuliere haben,1 sondern nur Kutten,2 weil sie, wenn es nicht zufällig
irgendeine Notwendigkeit gibt, nicht arbeiten müssen, sondern beten und
psalmodieren.
1
Das Skapulier ist nach [[Reg. Ben. 55,6 >> RuleOfStBenedict:RB 55.6]] die
Arbeitskleidung.
2
[[Reg. Ben. 55,4f >> RuleOfStBenedict:RB 55.4-5]].
3
Joh 6,45.
4
Das vacare lectionibus ist nach der Benediktregel eigentlich für alle Mönche
angeordnet. [[Reg. Ben. 48,13-15 >> RuleOfStBenedict:RB 48.13-15]].[[22 >>
RuleOfStBenedict:RB 48.22]]. Eine individuelle Einübung der lectio ist
darüber hinaus aber gestattet. [[Reg. Ben. 8,3 >> RuleOfStBenedict:RB 8.3]];
[[48,5 >> RuleOfStBenedict:RB 48.5]].
5
In der Benediktregel gilt diese Bestimmung nur für den Abt: „Er muß daher
das göttliche Gesetz genau kennen, damit er Bescheid weiß und (einen Schatz)
hat, aus dem er Neues und Altes hervorholen kann.“ [[Reg. Ben. 64,9 >>
RuleOfStBenedict:RB 64.9]].
6
[[Reg. Ben. 41,2 >> RuleOfStBenedict:RB 41.2]].
7
[[Reg. Ben. 36,9f >> RuleOfStBenedict:RB 36.9-10]].
8
[[Reg. Ben. 48,24 >> RuleOfStBenedict:RB 48.24]].
370 ABBILDUNGEN
der Regel aushalten können.1 Und dennoch bemühen sie sich, soweit es
ihnen möglich ist, sich entsprechend der Strenge der Regel zu verhalten und
sich durch Einfachheit und Mäßigung dem Ansehen und der Achtung würdig
zu erweisen. Sie werden in der Winterzeit nach Möglichkeit täglich fasten,
im Sommer am Freitag. Man bringe ihnen frommes Verständnis entgegen,
insofern sie, wenn es nötig sein sollte, schon vor der festgesetzten Zeit essen
dürfen.2 Wenn es sich machen läßt, sollen sie zweimal täglich gekochtes
Fleisch und Wein haben,3 gleichwohl mit Maß und Bedacht, damit ihnen das
Vorbild der Regel nicht verloren geht und das Werk der Barmherzigkeit
nicht in zügellose Freiheit ausartet.4 Dennoch soll ihnen das Haus möglichst
mit ganzer Liebe angeboten werden, und sie selbst mögen es mit
Dankbarkeit, vollständiger Demut und Gottesfurcht annehmen. Sie werden
nicht gezwungen werden, zur Handarbeit auf den Acker hinauszugehen,
doch werden sie drinnen leisten, wozu man sie verpflichtet. 5 Sie werden sich
aber besonders vor müßigen Worten hüten und zu allen Lesungen absolutes
Schweigen einhalten, vor allem an Feiertagen. 6 In den übrigen Stunden aber
mögen sie, wenn es nötig ist, in der Gegenwart des Priors des Hauses
ordentlich sprechen.7 Anderen wird es nicht erlaubt sein, dieses Oratorium
nach eigenem Willen und eigener Entscheidung zu betreten, sondern nur der,
dem es der Abt befiehlt, welcher die ehrliche Not der Mangel Leidenden und
nicht die schlechte Absicht der Neider berücksichtigt, so wie es die Regel
vorsieht.8 Wer also zeigt, daß er dies ohne Zustimmung des Abtes will, kann,
wenn er nicht ruhig an seinem Platz bleiben wird, sogar aus dem Kloster
vertrieben werden.9
Sommer an einem, dem Freitag. 1 Sie werden ihrem Prior gehorchen, nach
der Anordnung des geistlichen Vaters,2 der allen vorstehen wird und der für
alle Rechenschaft ablegen wird.3 Sie werden keine Kutte haben, sondern nur
Skapulier und Kappe.4 Sie werden aber für sich und für die anderen arbeiten,
die ein Eremitenleben führen, damit das, was sie weniger an Gebet und
Fasten leisten, von denen ergänzt werde, die eher geistlich leben.
sowohl zum eigenen Gebrauch und für die Schüler, die bei ihnen sein
werden, als auch für den Unterhalt der Armen und Pilger. Doch werden sie
ihre Schwestern nicht in ihr Oratorium lassen. Aber sie gehen an Festtagen
in das Oratorium der Laien und halten bei ihnen die Gottesdienste. Dennoch
hüten sie sich davor, es zu wagen, innerhalb des Bereiches ihres Hofes zu
übernachten. Weder die Priester noch die Kleriker betreten das Haus
irgendeiner Schwester, auch nicht – sei sie gesund oder krank – eines
Besuches wegen, wenn nicht erprobte und geeignete Zeugen anwesend sind;
aber auch das geschieht nur auf Befehl des Priors und nach Anweisung des
geistlichen Vaters,1 der in [[@Page:313]]der Mutterkirche (matrix ecclesia)
sein wird.
Bei ihnen wird sich außerhalb der Hofmauern ein Gästehaus befinden,
in dem es Betten, Matratzen und alles Übrige geben wird, was zur Aufnahme
gesunder oder kranker Gäste nötig ist. 2 Es [das Oratorium3] wird eigene
Einkünfte aus Viehzucht oder Ackerbau haben, je nach Lage und
Beschaffenheit der Heimat. Ihre Bediensteten werden Gott fürchten und in
allen wird Gott gelobt werden. Wenn aber jemand von ihnen für das Heil
seiner Seele die Oratorien der Mönche besuchen will, wird er, nachdem er
die Pferde dort gelassen hat, einfach zu ihnen gehen und bestärkt durch das
Gebet zu den Seinen zurückkehren.
1
[[Reg. Ben. 65,16f >> RuleOfStBenedict:RB 65.16-17]].
2
Vgl. [[Reg. Ben. 36,7 >> RuleOfStBenedict:RB 36.7]]; [[58,4 >>
RuleOfStBenedict:RB 58.4]].
3
Rein grammatikalisch betrachtet, könnte sich der Satz auch auf das Gästehaus
beziehen, was bedeuten würde, daß die Kleriker selbst keine Landwirtschaft
betreiben. Dies ist aber unwahrscheinlich, weil es oben heißt, daß die Kleriker
aus den Einkünften ihrer eigenen Arbeit den Zehent zu leisten haben.
4
Ps 95,7f.; vgl. Ps 100,3; [[Hebr 3,7f >> Bible:Heb 3,7f]].[[15 >> Bible:Heb
3,15]]; [[4,7 >> Bible:Heb 4,7]].
373 ABBILDUNGEN
Gebet frei zu widmen, wobei aber bei den Jungen Körperkonstitution und
Alter berücksichtigt werden müssen, damit sie nicht vom Satan verführt
werden. Sie werden eigene Häuser haben 1 und sich aller Vergehen
enthalten. Nahrung und Kleidung werden sie von der Gemeinschaft
erhalten.2 Und sie [die Verheirateten] werden ihrem Meister (magister)
gehorchen, nach der Weisung und dem Willen des geistlichen Vaters, dem
alle jene Stände untertan sein werden, damit gleichsam auf die Elle genau
eine neue Arche Noachs vollendet wird.3 Sie werden im Winter jeden
Freitag fasten, außer bei Krankheit. Sie werden nur mit einfachen Mänteln
bekleidet sein. Bei diesen Christen wird nicht ein Müßiggänger gefunden
werden, der nicht für sein Brot arbeitet, damit er etwas für die Bedürftigen
übrig hat. Ein jeder wird also in seinem Handwerk arbeiten; einzelne
Künste oder Handwerke werden eigene Vorsteher (prepositi) haben. Wer
also nicht nach seinem besten Vermögen arbeiten wird, soll vom Meister
gezwungen und von allen angeklagt werden. Ihre Nahrung und Kleidung
wird in der Tat einfach sein, wie es sich für Christen [[@Page:314]]ziemt. 4
Fremdländische Kleider wird man bei ihnen nicht finden. Bunte Farbe wird
ihnen fernliegen.5 Auch die Frauen sollen ehrlich und rechtschaffen Wolle
herstellen, als Werk für die Armen Christi. Und sie werden wie die Mütter
der anderen Mädchen und heranwachsenden Frauen sein, die in
Gottesfurcht unterrichtet werden müssen. Jene werden den Zehnten von
allem, was sie besitzen, den Klerikern geben zum Unterhalt der Armen und
Pilger, aber auch der Knaben, die die Lehre studieren; freilich aus der
Logik heraus, daß, wenn sie im Überfluß haben und einige der anderen
weniger haben werden, von denen, die mehr haben nach dem Ermessen des
geistlichen Vaters genommen werden soll und denen, die weniger haben,
gegeben, damit keiner unter ihnen Not leide. Und dies wird für alle gelten.
Die große Frage, die sich bei einer Interpretation der Dispositio novi
ordinis von Beginn an stellt, lautet: Handelt es sich um die Verfassung
eines bestimmten Klosters, eines speziellen Ordens oder der
Gesamtgesellschaft. Zunächst kann man ausschließen, daß es sich um
1
„Et cum alicubi curtes ad agriculturas exercendas instituissent decreverunt ut
praedicti conversi domos illas regerent, non monachi, quia habitatio monacho-
rum secundum regulam debet esse in claustro eorum.“ Exordium parvum XV,
Bouton/Van Damme 78,12.
2
Vgl. [[Reg. Ben. 58,26 >> RuleOfStBenedict:RB 58.26]].
3
Die aus Gen 6,16 Vg entnommene Wendung in cubito consummare ist im
Deutschen schwer wiederzugeben.
4
Vgl. [[Reg. Ben. 39,8 >> RuleOfStBenedict:RB 39.8]].
5
„Über Farbe oder groben Stoff dieser Kleidungsstücke sollen sich die Mönche
nicht beschweren; man nehme alles so, wie es sich in der Gegend, wo sie
wohnen, findet, oder was man billiger kaufen kann.“ [[Reg. Ben. 55,7 >> Ru-
leOfStBenedict:RB 55.7]]. Vgl. Capitula Cisterciensis ordinis XI, Bouton/Van
Damme 122.
374 ABBILDUNGEN
gekreuzigt haben; der Sockel steht für das Oratorium der Laien, die
sich weiterhin fleischlich fortpflanzen. Die Predella, in der
gewöhnlich die Hostie aufbewahrt wurde, entspricht dem Oratorium
der Kleriker. Die Symbolik ist eindeutig: So wie das Sakrament
zwischen göttlicher und irdischer Sphäre vermittelt, so vermitteln die
Kleriker zwischen Geistmenschen und Weltmenschen.
Das Kreuz hat noch eine weitere Bedeutung. So wie es als
Grundriß von Kirchenbauten diente, liegt es nun der Dispositio
zugrunde. Andererseits vermißt man in Joachims Plan den Hinweis
auf einen Kirchenbau, wo doch selbst das Gästehaus eigens erwähnt
wird. Man denke aber an die Worte des Sehers Johannes, der über die
himmlische Stadt sagt:
Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr
Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung ist ihr Tempel, er
und das Lamm.1
Auch im Epheserbrief steht über das Ziel des Gemeindebaus
geschrieben:
Ihr seid auf das Fundament der Propheten und Apostel gebaut;
der Schlußstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der
ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen
Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr im Geist zu einer
Wohnung Gottes erbaut.2
Das wird sich im dritten Status verwirklichen, will Joachim sagen.
Das gesamte corpus Christi wird ein einziger Tempel Gottes sein,
Kirchen sind dann nicht länger nötig. Allerdings wird sich das
Priesteramt noch nicht völlig erledigt haben, wie es Joachim für das
Jenseits erwartet.3
1
Offb 21,22.
2
Eph 2,21f; vgl. 1 Kor 3,16; 2 Kor 6,16. In diesem Sinne sagt Joachim zum
Beispiel im Liber introductorius, die Johanneskirche werde auf das Fundament
der apostolischen Kirche gebaut, das im zweiten Status gelegt wurde. Exp.
Intr., fol.21rb-va; vgl. Exp. I, fol.59rb und die ausführliche Abhandlung in Exp.
VIII, fol.219vb-220ra. Die Stadt als Tempel sieht Joachim schon im davidischen
Jerusalem vorweggenommen: „Sicut unum fuit templum Dei, quod edificavit
Salomon, ita una fuit Sancta Civitas, quam edificavit David, vel potius, quam
superedificavit, imposito illi nomine Hierusalem, que tamen qualiter fuerit
sancta, non invenitur, cum in ipsa effusus sit sanguis Iesu Christi et sanctorum
prophetarum, nisi forte propter sanguinem ipsum sanctum, qui effusus est in ea,
et quia Deus elegit illam in sanctam, ut poneret ibi nomen suum.“ Exp. III,
fol.142va.
3
In civitate autem illa que sursum est, neque Templum manufactum necessar-
ium est, neque conventum Sacerdotum ad docendum iterum populum viam Dei,
quia Dominus omnipotens cum filio suo, omnia est in omnibus, docens electos
suos omnem veritatem, non iam per elementa muta, sicut in hac vita presenti,
sed per spiritum suum quem dedit nobis, et daturus est abundantius in die illo.“
Exp. VIII, fol.220vb-221ra.
377 ABBILDUNGEN
Die Stadt: Wie schon der Titel der Figur sagt, ist die Dispositio
nach dem Bild des himmlischen Jerusalem gestaltet. Maßgeblich dafür
sind in erster Linie die Jenseitsschil[[@Page:317]]derungen der
Johannesoffenbarung. Deutlich sind die zwölf Tore zu erkennen, von
denen jeweils drei in eine Himmelsrichtung zeigen. Auch dies ist nicht
als architektonische Anweisung zu werten, denn Joachim hat die
Mauer und Tore an anderen Stellen seines Werkes allegorischen
Deutungen zugeführt. Wenn er, wie zu sehen war, sagt, in der ecclesia
spiritualis des dritten Status werde die Struktur des himmlischen
Jerusalem schon bis ins Detail hergestellt, dann ist dies
selbstverständlich auf die gesellschaftliche Struktur bezogen. Joachim
hat sich von der Kreuzzugslogik abgewandt: Die Christenheit bewegt
sich nicht geographisch, sondern moralisch auf Jerusalem zu; im
dritten Status wird Jerusalem überall sein.1 Im Hintergrund dieser
Jerusalem-Interpretation steht der monastische, vornehmlich
zisterziensische Gebrauch des Symbols. Robert Konrad schreibt:
Als Gemeinschaft Gleichgesinnter fern von der Welt der Sünder
fühlten sich die Mönche bereits als Bürger des künftigen Sion
und empfanden ihr Kloster als Vorstufe des himmlischen
Jerusalem, als eine Stätte der Erwartung und der Vorbereitung
auf die Jenseitsstadt.2
Was Joachim also getan hat, ist das monastische Konzept der
proleptischen Gemeinschaft mit dem paulinischen zu verschmelzen,
insofern die Vorwegnahme des himmlischen Jerusalem in der
allgemeinen, aber vollständig monastisierten Kirche geschieht.
Joachim nutzt das Symbol Jerusalem zugleich dafür, das
ständische Prinzip seines Verfassungsentwurfes zu verdeutlichen.
Zwar billigt er den Gläubigen aus allen drei Ständen eine Wohnung
1
Vgl. Daniel, E. Randolph: „Apocalyptic Conversion: The Joachite Alternative
to the Crusades“, in: West 1975, Bd.2, S.310-328. Genaugenommen spricht
Joachim von drei Jerusalem, gemäß den drei Status der Menschheit. Das erste
Jerusalem ist das historische Jerusalem der Juden, unter dem zweiten versteht
er – wie damals üblich – die römische Kirche. Das dritte Jerusalem ist eine
Fortentwicklung dieser Kirche zur Geistkirche; es beginnt also im zweiten
Status und erfährt im dritten seine Vollendung. Im zweiten Status hätten die
Feinde der Kirche diese Vollendung noch behindert, im dritten Status sei ihnen
diese Macht genommen. „Prima Ierusalem edificata est in primo statu, secunda
in secundo, tertia in tertio. Verumtamen harum tertia, que in tertio statu seculi
edificanda est, ab exordio secundi status cepit edificari pariter cum secunda,
siquidem due ipse simul una sunt, et ut inferam illud libri Esdre: Iactata sunt
fundamenta eius a principio ipsius status secundi, sed inpedientibus inimicis
dilatum est opus eius quousque compleantur quadraginta anni, hoc est
generationes totidem que significantur per eos.“ Exp. Intr., fol.18va-vb; vgl. Esr 4.
2
Konrad, Robert: „Das himmlische und das irdische Jerusalem im
mittelalterlichen Denken“, in: Clemens Bauer u.a. (Hrsg.): Speculum
Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und
Geschichtsdeutung. Freiburg und München: Alber, 1965, S.523-540, S.533.
378 ABBILDUNGEN
1
Psalt II, fol.250vb-251ra; vgl. Tob 13,18; 1 Kor 3,8; Mt 19,21; Offb 24,4.6.
379 ABBILDUNGEN
1
Ps 84,11; vgl. Exp. Intr., fol.11va. Vgl. Fohrer 1992, S.133ff.
2
Conc. V,22, fol.71rb.
3
„Quam vero longe sit omnis moderna religio a forma ecclesie primitive, eo
ipso intelligi potest, quo illa apostolos et evangelistas, doctores et virgines et
zelantes vitam communem, continentes quoque et coniugatos veluti unus cortex
mali punici, divisis tantum cellulis mansionum coniugebant in unum, et co-
niunctis membrorum speciebus efficiebant ex omnibus unum corpus; nunc au-
tem alibi corpus, membra alibi, et singula pro se ipsis, non pro aliis sunt sollici-
ta.“ Conc. V,22, fol.71va.
4
Apg 2,44ff.; [[4,32ff. >> Bible:Apg 4,32ff]]
380 ABBILDUNGEN
der Vielfalt seiner Gaben auf einen kollektiven Messias ergießt, der
solchermaßen begabt eine gerechte Weltordnung errichtet. Denn bei
Jesaja heißt es weiter:
Er richtet nicht nach dem Augenschein,
und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er,
sondern er richtet die Hilflosen gerecht
und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. 1
Wie es schon in den Evangelien geschieht,2 verbindet auch Joachim
das Symbol des Messias mit dem Symbol des Menschensohns. So sagt
er im Liber Concordiae, unter dem Menschensohn der
Johannesapokalypse sei nicht nur das Haupt Christus, sondern auch
das Gottesvolk als sein Leib zu verstehen. Ebenso dürfe die
messianische Weissagung Natans nicht nur auf Salomo oder Jesus
angewandt werden, sondern gemäß ihrem geistlichen Sinn (spiritalis
intellectus) auch auf die endzeitliche Ordnung des Gottesvolkes (ordo
quisdam circa finem futuro). Christus werde in der Endzeit seinen
Leib an seine Majestät anpassen (configurare), auf daß er in ihm und
mit ihm über die Welt richten könne. So wie es wiederum bei Daniel
heißt, daß bei der Herabkunft des Menschensohns den Heiligen des
Höchsten alle Herrschaft gegeben werde.3
1
Jes 11,3f.
2
Mk 8,29-31; Lk 9,20-22.
3
„Post obitum David regnavit Salomon filius eius pro eo, filius de quo dixerat
dominus in spiritu eidem David: cum dormieris cum patribus tuis, suscitabo se-
men tuum post te, quod egredietur de lumbis tuis, et firmabo regnum eius. ipse
edificabit domum nomini meo. et stabiliam thronum regni eius usque in sempi-
ternum. et ero illi in patrem et ipse erit mihi in filium. […] non ergo dictum est
verbum istud de illo Salomone, sed sive secundum litteram de Christo, sive se-
cundum spiritalem intellectum de ordine quodam circa finem futuro, ad cuius
predicationem et instantiam omnis pene mundus convertetur ad deum. nam et
rectius intelligitur de aliquo iustorum ordine hoc quod dicit dominus deus: ego
ero illi in patrem, et ipse erit mihi in filium, quam de ipso Christo Iesu, nimi -
rum quia verbum istud adoptionem magis indicat quam proprietatem. neque
enim deus unigenito suo in patrem est, sed magis pater, aut patri suo Christus
Iesus in filium, sed magis filius. videtur ergo verbum istud tangere quidem
Christum propter assumpte naturam mortalitatis nostre, sed magis transfunditur
in membra eius que egent gloria dei, sicut et de Abraham Paulus dicit: non au-
tem propter ipsum dictum est tantum, quod reputatum sit ei ad iusticiam, sed et
propter nos, quibus reputabitur credentibus in eum. ut autem elucescat in brevi,
qua ratione verba ista, que videntur tangere Christum in typo Salomonis, in po-
pulum tercii status refundenda sint, non oportet esse alienum ab intelligentia
nostra, quod sicut Saul significat proprie populum primi status, David populum
secundi et Salomon populum tercii, ita quoque Zacharias sacerdos designat pari
modo populum primi status, Iohannes baptista populum secundi, homo Christus
Iesus populum tercii, populum scilicet de quo scriptum est in Daniele: regnum
et potestas et magnitudo regni, quod est subter omne celum dabitur populo
sanctorum altissimi. superius enim dixerat Daniel vidisse se in nubibus celi
quasi filium hominis venientem, et datum illi esse regnum omnisque populus
383 ABBILDUNGEN
1
Hecht, Konrad: Der St. Galler Klosterplan. Wiesbaden: VMA, 1997, S.102ff.
386 ABBILDUNGEN
Joachims zu erfüllen.1
Wenn Joachim darauf besteht, daß zum eigentlichen Kloster
(monasterium) nur Mönche zugelassen werden und vor allem die
Laien deutlich abgegrenzt in eigenen Häusern wohnen, entspricht dies
den Vorstellungen der zisterziensischen Gründer.2 Das Oratorium der
Verheirateten ist aber nicht einfach nur Laiensiedlung, sondern fest an
das Kloster angeschlossen. Joachim hat sich dabei wahrscheinlich an
den zisterziensischen Grangien orientiert, die den Klöstern vorgelagert
waren und in denen die Konversen die verschiedenen Gewerbe des
Ordens betrieben.3 Seine wichtigste Weiterentwicklung dieses
Systems besteht darin, daß er die zwitterhafte Existenzform des
regulierten Klerikertums zwischen Mönche und Laien einschaltet, um
zu verhindern, daß der höchste und der niedrigste Stand miteinander
in Kontakt treten müssen.
Die Namen der Oratorien und die Tiersymbole: Die Namen der
Oratorien verdeutlichen, daß die Ordnung des dritten Status das
Ergebnis der gesamten trinitarisch strukturierten Heilsgeschichte ist.
Der Urvater des Laienpatriarchats ist Abraham, mit dem der erste
Status des Vaters beginnt. Daher versammeln sich die Laien noch in
der Endzeit unter seinem Namen. Johannes der Täufer ist das Urbild
des priesterlichen Sakramentsspenders, der den zweiten Status des
Sohnes einleitet. Unter seinem Namen versammeln sich alle Kleriker,
die den Buchstaben lehren und mit Wasser taufen. Etwas komplexer
ist die Sache bei den Mönchen, die in fünf Oratorien aufgeteilt sind.
Aber auch [[@Page:325]]dort verweisen die Namen der Häuser auf
das gleiche Grundprinzip: Die endzeitliche Kirche ist das Resultat der
Gesamtgeschichte, und alle religiones, die im Laufe der Zeit im
Gottesvolk entstanden sind, werden im novus ordo vereint. In den
einzelnen Zeiten (tempora) des zweiten Status jedoch tritt die Kirche
den Truppen des Satans in Gestalt besonderer Stände (ordines
speciales) gegenüber: Apostel gegen Juden, Märtyrer gegen die
heidnische Idolatrie, Kirchenlehrer gegen Häretiker, Asketen gegen
Sarazenen und den Luxus dieser Welt. Schließlich kämpft die
allgemeine römische Kirche gegen das Imperium, ja sogar die gesamte
Menge der Gläubigen gegen die gesamte Menge der Verworfenen.4
1
Wessley 1990, S.62.
2
„Et cum alicubi curtes ad agriculturas exercendas instituissent, decreverunt ut
praedicti conversi domos illas regerent, non monachi, quia habitatio monacho-
rum secundum regulam debet esse in claustro eorum.“ Exordium parvum XV,
Bouton/Van Damme 78,12. Auch Papst Kalixt II. meinte bei der Bestätigung
der Carta caritatis noch einmal betonen zu müssen: „Interdicimus autem ne
quis conversos, laicos vel professos vestros ad habitandum suscipiat.“ Carta
caritatis prior. Privilegium domini papae, Bouton/Van Damme 104,7. Vgl. Ca-
pitula Cisterciensis ordinis XVIIII, Bouton/Van Damme 123.
3
Vgl. Capitula Cisterciensis ordinis XV, Bouton/Van Damme 123.
4
Die Kämpfe werden in Joachims Werk immer wieder zitiert. Eine knappe
Zusammenfassung findet sich in Ench. 88,2581-89,2625 und in überarbeiteter
387 ABBILDUNGEN
1
Tract. I,1, Santi 4,1-16. Joachim weicht von der traditionellen Reihenfolge
Matthäus – Markus – Lukas – Johannes ab.
2
„Sed melius elucescet quod dicitur, si singulorum animalium perscrutamur
naturas non quidem istorum in quibus veritas est, sed eorum que infra sunt, et
in typo deserviunt. Leo fortissimus bestiarum ad nullius pavet occursum. Bos
patientissimus ad portandum laborem solus inter quatuor offerri in sacrificium
consuevit. Homo rationis capax et sapientie particeps solus novit discernere in-
ter bonum et malum. Aquila superni aeris permeatrix et incola irreverberatis so-
lem oculis speculari dicitur omneque pennigerum genus infra se dimitterre exti-
matur. Hec quam breviter dicta sunt de singulorum naturis, ut per ea gratiarum
dona singulis ordinibus propria vestigare possimus, sine quibus palmam iustitie
nullus apprehendere potest. Primum est fortitudo fidei quam designat fortitudo
leonis. Secundum patientia designata in tolerantia vituli. Tertium doctrine
puritas in humilitate fundata, quam ratio simul et infirmitas in uno simul
homine convenientes designant. Quartum est contemplatio Dei quam designat
aquile volatus […].“ Exp. II, fol.106va-vb, korr. n. Selge.
3
Vgl. Conc. V,88, fol.117rb; Reeves/Hirsch-Reich 1972, S.237.
389 ABBILDUNGEN
diesem Sinne nennt die Dispositio den Sitz des geistlichen Vaters
mater omnium. Es sind die „Mutterkirchen“ (so ausdrücklich im Text
zum Oratorium des Täufers) der ecclesia spiritualis, von denen eine
neue Bekehrung ausgehen wird, wie zu Zeiten der apostolischen
Gründungen. Um die geographischen Dimensionen zu erfassen, an die
hier gedacht ist, muß man sich wiederum an Joachims Vorbild
Bernhard erinnern, unter dessen Leitung allein die Mutterabtei
Clairvaux über sechzig Klöster gründete, von Norwegen bis Spanien. 1
Bisweilen fragt sich Joachim, ob in den zisterziensischen
Primarabteien (Cîteaux, La Ferté, Pontigny, Clairvaux, Morimond)
schon die ersten fünf Hauptsitze der kommenden Kirche zu sehen
sind.2 Wiederum also versucht Joachim lediglich einen
zeitgenössischen Prozeß konsequent zu Ende zu denken. Das Prinzip
aber, das hinter seinen Ausführungen steht, ist das geschichtsmächtige
Movens allen Koinobitentums, nämlich der alte pachomianische Plan,
die körperliche Welt durch Klostergründungen sukzessive in eine
spirituelle zu verwandeln.
Gemäß der internen Leitungsstruktur der Dispositio kontrolliert
der geistliche Vater den Fortschritt der Mönche. Ihm allein obliegt es,
den Leistungsbereiten einen Aufstieg in der ständischen Ordnung zu
gestatten. Er allein hat auch das Recht, Mönche von Bestimmungen
der Regel oder der Dispositio auszunehmen. Wie schon bei Pachomius
gebührt dem Abt der größte Gehorsam, aber er wird dadurch auch
rechenschaftspflichtig. Jedes der Oratorien bzw. Häuser untersteht
einem Prior, der die Anordnungen des Abtes exekutiert. Selbst die
vergeistigten Mönche des Johannesoratoriums sind nicht vom
Gehorsam gegenüber Abt und Prior ausgenommen, aber sie sind
schonend zu behandeln. Denn ihre Meditation zu stören, hieße den
spirituellen Quellfluß zu trüben und damit der gesamten Gemeinschaft
zum Schaden zu gereichen. Prinzipiell weicht [[@Page:330]]die
Leitungsstruktur nur bei den Laien ab, wo anstatt des Priors die
Meister (magistri) die Anweisungen des geistlichen Vaters ausführen.
Insgesamt aber hat die Regierung des Abtes wenig mit Herrschaft
im weltlichen Sinne zu tun. Seine Aufgabe besteht in erster Linie im
Verwalten von Personen und Gütern. Das Wort dispositio bedeutet in
der mittelalterlichen Urkundenlehre die Beschreibung eines Recht
setzenden Aktes. Aber zugleich ist dispositio die Übersetzung des
griechischen Wortes οἰκονομία,3 und damit ist schon viel gesagt. Am
Anfang des dritten Status wird die Geistkirche zwar in aller Welt
1
Eberl 2002, S.69ff.
2
Conc. IV,36, fol.57vb-58ra, Daniel 411,71-413,107; Conc. IV,39, fol.59 va,
Daniel 419,242-247. Joachim stellt die Mönche, die sich um den geistlichen
Vater versammeln, ausdrücklich auf eine Stufe mit den Zisterziensern, insofern
er ihnen die zisterziensische Fastenregel vorschreibt.
3
Dinzelbacher, Peter (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart:
Kröner, 1992, S.180.
393 ABBILDUNGEN
1
Eberl 2002, S.239.
2
Joachim wird nicht zuletzt an die Urgemeinde gedacht haben, der im zweiten
Thessalonicher geboten wird, in all ihren Gliedern für den eigenen Unterhalt zu
arbeiten. 2 Thess 3,10f.
3
Vgl. Exp. II, fol.112vb.
4
Vgl. [[Reg. Ben. 2,2 >> RuleOfStBenedict:RB 2.2]]; [[63,13 >> RuleOfSt-
Benedict:RB 63.13]].
5
Die Bezeichnung pauperes Christi für Mönche geht auf ein Wort des
Matthäusevangeliums zurück, wonach die Armen des Herrn alles zurücklassen,
um Christus nachzufolgen. Mt 19,17; vgl. Exp. I, fol.69rb.
6
Capitula Cisterciensis ordinis XXIII, Bouton/Van Damme 124.
396 ABBILDUNGEN
Aufgaben nicht beherrschen.1 Alles, was sie zu ihrem Heil sonst noch
wissen müssen, erfahren sie in den Gottesdiensten, die die Kleriker bei
ihnen abhalten.
Die Knaben, die zu höherer Bildung befähigt sind, gehen in die
Pfarrschule. Gemäß dem Erziehungswerk des Sohnes im zweiten
Status kommen sie in den Genuß der Lehre (doctrina). Aber diese
Lehre besteht noch im Buchstaben, das heißt, sie müssen in
Grammatik unterrichtet werden und Latein, die Sprache der Vulgata,
sprechen lernen. Von anderer Literatur ist nicht die Rede. Je nach
Begabung sollen die Knaben die Bibel auswendig lernen, um sich für
die geistliche Lehre (spiritualis doctrina) würdig zu erweisen, die nur
innerhalb des Mönchsstandes weitergegeben wird. Im Oratorium des
Paulus ist dort eine Schule eingerichtet, die die Ausbildung des
kontemplativen Mönches abschließt. Insgesamt entspricht dies
zisterziensischen Ansichten. Denn die Zisterzen sollten nicht zu
Bildungsanstalten für die adelige Jugend verkommen und daher
ausschließlich Erwachsene aufnehmen. Bernhard von Clairvaux und
andere sahen das Kloster als eine Schule der Frömmigkeit, als
Auditorium des Heiligen Geistes, in dem ein Wissen gelehrt wird, das
die profanen Wissenschaften der klerikalen Schulen weit übersteigt.2
Allerdings läßt sich in der Dispositio der Weg des Wissens auch
von oben nach unten verfolgen. Die höchste Einsicht in die göttliche
Realität wird den viri perfecti im Oratorium des Evangelisten
Johannes gewährt, daher sind sie zur vollendeten
Verherrli[[@Page:334]]chung Gottes in der Lage. Sie leben eigentlich
nach Art von Eremiten in Einzelzellen und würden gerne ohne alle
Belästigung in beständiger Meditation verharren. Doch sie müssen ihr
Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellen und deshalb in der
unmittelbaren Nähe des Klosters bleiben. Ihre Einsichten und
Fürbitten dienen nicht nur der Regierung des Abtes und den Mönchen
der anderen Oratorien. Die Kleriker, die von Zeit zu Zeit zur
geistlichen Erbauung ins Kloster gehen, nehmen etwas von der
kontemplativen Erkenntnis mit nach Hause und geben es in den
Gottesdiensten in angemessener Form an die Laien weiter. In der
Wissensgesellschaft des novus ordo finden sich beide Erkenntniswege
wieder, die im Psalterium erörtert werden. Die (männlichen)
Menschen können sich durch das Bildungssystem von den figürlichen
Darstellungen über den Buchstaben der Bibel bis zur unmittelbaren
geistlichen Einsicht hocharbeiten. Die geistliche Einsicht wiederum
fließt durch die Wissenshierarchie herab und dient in abgestuftem
Maße der Erkenntnis aller drei Stände. Das Maß an Einsicht, das
einem Menschen gegeben ist, bestimmt seinen Standort in der
1
Vgl. Conc. V,71, fol.100rb.
2
Dinzelbacher, Peter und Hermann Josef Roth: „Zisterzienser“, in:
Dinzelbacher/Hogg 1997, S.348-379, S.375.
398 ABBILDUNGEN
FIORE
Nun läßt sich angesichts des reichen Materials, das von Henri de
Lubac, Marjorie Reeves und Warwick Gould vorgelegt wurde, 1 kaum
bestreiten, daß Joachims Symbolik bewußt oder unbewußt von einer
Vielzahl moderner Autoren herangezogen wurde. Dennoch bleibt die
Frage, inwieweit die gesellschaftlichen Konzeptionen der
neuzeitlichen Geschichtsphilosophen und Fortschrittstheoretiker oder
gar der totalitären Ideologen tatsächlich substantielle Gehalte des
politischen Denkens Joachims von Fiore enthalten.2 Was heißt das,
wenn Gottfried Ephraim Lessing oder jüngst Gianni Vattimo
[[@Page:336]]sagen, Joachim und seine Nachfolger hätten mit ihrer
Ankündigung eines Dritten Reiches grundsätzlich recht gehabt?3
Finden sich Residuen der gesellschaftlichen Vorstellungen Joachims
in den Programmen der kommunistischen, sozialistischen und
sozialdemokratischen Parteien oder gar der deutschen Grünen wieder,
angesichts der Tatsache, daß sich prägende Gründergestalten wie
Ignazio Silone, Friedrich Engels, Karl Kautsky und Rudolf Bahro 4 auf
den Abt beziehen? Auf solche Fragen sollte sich jetzt, aufgrund der
vorangegangenen Kapiteln bereits ausreichend dargelegt.
1
Lubac 1979/1981; Reeves/Gould 1989.
2
Die Untersuchung schließt damit an die Kontroverse an, die in einem weiteren
Rahmen zwischen Karl Löwith und Hans Blumenberg geführt wurde. Vgl.
Blumenberg 1996, S.35ff.; Löwith, Karl: „Besprechung des Buches Die
Legitimität der Neuzeit von Hans Blumenberg“, in: Ders.: Gesammelte Werke
Bd. 2. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1983, S.452-459.
3
„Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen
hatten; und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe
verkündigten.“ „Vielleicht war ihr drei faches Al t er der Wel t keine so
leere Grille; und gewiß hatten sie keine schlimmeren Absichten, wenn sie
lehrten, daß der Neue Bund eben so wohl ant i qui eret werden müsse, als es
der Alte geworden. Es blieb auch bei ihnen immer die nämliche Ökonomie des
nämlichen Gottes. Immer – sie meine Sprache sprechen zu lassen – der
nämliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts.“ Lessing,
Gotthold Ephraim: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, in: Gesammelte
Werke. Hrsg. von Paul Rilla, Bd. 8. Berlin: Aufbau, 1956, S.590-615, hier:
S.612f, §§87f., Hervorh. i. Orig. Gianni Vattimo sieht sich selbst in einer
joachimitischen Tradition. Vattimo, Gianni: Oltre l’interpretazione. Il
significato dell’ermeneutica per la filosofia. Roma-Bari: Laterza, 21995, S.61.
Joachims Liebesgemeinschaft des dritten Status kehrt bei ihm wieder als
endzeitliches Reich der Differenz, in dem wechselseitig die Andersartigkeit der
Mitmenschen anerkannt wird, sei es hinsichtlich der Hautfarbe, des Geschlechts
oder der sexuellen Orientierung. Sh. dazu meinen Aufsatz: „Säkularisierung als
Heilsgeschehen: Gianni Vattimos postmoderne Eschatologie“, in: Mathias
Hildebrandt u.a. (Hrsg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen
Gesellschaften. Ideengeschichtliche Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher
Verlag, 2001, S.171-184.
4
Bahro, Rudolf: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein
Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik. Berlin: Union, 1990,
S.451ff.
400 ABBILDUNGEN
Bedeutung Joachims von Fiore ist dabei, daß er dieses, von ihm
erstmals tief gespürte Epochenbewußtsein in Bezug zum göttlichen
Geschichtsplan setzte und mit innovativer Exegese aus dem
Offenbarungstext ableitete. Damit war die augustinische
Geschichtsdeutung endgültig durchbrochen; der Weg zu progressiven
und zukunftsorientierten Gesellschaftstheorien stand offen. Der Name
Joachims bleibt bis in die Gegenwart mit der Erinnerung an diesen
Durchbruch verknüpft und behielt selbst noch für jene Theoretiker
eine symbolische Bedeutung, die den Transzendenzbezug aus ihrer
Geschichtsdeutung verbannt hatten.
2. Eric Voegelin hat also ganz recht, wenn er dem Symbol des
Propheten eine zentrale Rolle zubilligt und bemerkt, daß Joachim
selbst das „erste Exemplar der Gattung“ gewesen sei.1 Freilich hat sich
Joachim selbst nicht als Propheten bezeichnet. Aber wie gezeigt
wurde, geschah dies nur, um die Überlegenheit seiner Zukunftsschau
zu betonen. Denn im Gegensatz zu den biblischen Propheten lag ihm
der abgeschlossene Offenbarungstext vor, den er glaubte, mit dem
Charisma der intelligentia spiritualis auf seine höhere Bedeutung hin
befragen zu können. Dieses Selbstverständnis konnte er so glaubhaft
an seine Nachwelt vermitteln, daß sein Werk weithin als Grundlage
jeder prophetischen Bibelauslegung rezipiert wurde und, wie gleich
noch zu zeigen ist, von einigen gar als neues Evangelium
angenommen wurde.
Dank der umfangreichen Studien von Marjorie Reeves und
Roberto Rusconi kann man sich heute ein Bild davon machen, welch
gewaltige Bedeutung der Name Joachim von Fiore schon im späten
Mittelalter in ganz Europa einnahm.2 Daran änderte sich auch im
sogenannten Übergang zur Neuzeit nichts. Die Augustinereremiten
besorgten schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Venedig
den Druck des Psalterium decem chordarum, des Liber Concordiae
und der Expositio in Apocalypsim, aber auch der pseudo-
joachimischen Kommentare Super Hieremiam und Super Esaiam. Der
Verbreitung waren damit kaum mehr Grenzen gesetzt. Exzerpte aus
den Werken Joachims, Kurzfassungen, die seine Hauptschriften
synthetisierten, und prophetische Anthologien, in die seine Lehren
eingingen, erfreuten sich in der Gelehrtenwelt größter Beliebtheit. 3
Selbst die italienischen Humanisten vermochten oft nur wenig
Widerspruch zu sehen zwischen ihren Erneuerungserfahrungen bei der
beriefen: „The characteristic which suggests some kind of connection with
Joachimism seems to me to be a doctrine of history which points to a final apo -
theosis, begun or about to begin, in which a new manifestation of the Holy
Spirit will mark out a new leader and followers.“ Reeves 1976, S.49.
1
Voegelin 1991, S.165.
2
Reeves 1969; Rusconi, Roberto: Profezia alla fine del Medioevo. Rom: Viella,
1999.
3
Sh. die Appendizes in Reeves 1969, S.511ff.
403 ABBILDUNGEN
1996, S.81ff.; Reeves 1969, S.59ff.; Rusconi 1999, S.63ff., Bett, Henry:
Joachim of Flora. Merrick, NY: Richwood 1976 (Neudr. d. Ausg. London:
Methuen 1931), S.67ff., 102ff.
1
Das Protokoll der Kommission markiert zugleich den Beginn der historisch-
kritischen Joachimstudien. Denn die Autoren versuchten, genau zwischen den
Lehren des Liber introductorius und denen Joachims zu unterscheiden. Sie
zogen sogar Originalmanuskripte aus Joachims Kloster in San Giovanni
heran. Der Text eignet sich bis heute als Einführung in das Denken Joachims
von Fiore. Durch die Arbeit der Kommission wurde aber der Amtskirche
(anders als bei der Verurteilung von 1215) zunehmend bewußt, worin der
eigentliche Zündstoff der Lehren Joachims bestand. Verurteilungen des
joachimischen Werkes folgten aber nur auf provinzieller Ebene. Der Heilige
Stuhl hielt sich zurück. Denifle, Heinrich: „Protocoll der Commission zu
Anagni“, in: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte 1 (1885), S.99-142.
2
Dies geschah allerdings dadurch, daß Bonaventura die Geschichtslehre
Joachims umformte und in ihrer eschatologischen Dringlichkeit entschärfte.
Ratzinger 1992, S.106ff.,
405 ABBILDUNGEN
sondern auch bei jenen, die sich von den Fortschrittshoffnungen schon
enttäuscht sahen und nach geistig-religiöser Erfüllung jenseits von
Szientismus, Positivismus und Sozialismus suchten.1 In diesem
Ewigen Evangelium suchten der Historiker Michelet ebenso wie die
schwärmerische Romanautorin George Sand den religiösen Sinn der
Französischen Revolution. In demselben Ewigen Evangelium sah
Joris-Karl Huysmans eine Quelle der okkultistischen Phantastereien
des fin de siècle, die ihn faszinierten, und die er zugleich
verabscheute.2 Ihren phantastischsten Ausdruck aber hat die Legende
in einer vielschichtigen Kurzgeschichte von William Butler Yeats
gefunden, die sich mit der „Offenbarung“ Joachims befaßt. Zwei
unbeschriebene Gesetzestafeln aus Elfenbein symbolisieren dort das
„Ewige Testament“ des Geistes, das den Buchstaben der Schrift nicht
übersteigt, sondern ersetzt.
It has swept the commandments of the Father away, […] and
displaced the commandments of the Son by the commandments
of the Holy Spirit.3
[[@Page:341]]Und dennoch: Das Ewige Evangelium mag ein
Mißverständnis gewesen sein, aber die intellektuelle Substanz aller
pseudo-joachimischen Schriften hat ihre Quelle in den authentischen
Werken Joachims. Seine Schau auf ein Geistzeitalter und eine
endzeitliche Gesellschaftsform, die der Bestimmung der Menschheit
gerecht wird, waren der Ausgangspunkt alles epigonalen Schrifttums.
Joachim beanspruchte zwar nicht, ein neues Evangelium verfaßt zu
haben, aber seine Werke prophezeien ein höheres
Offenbarungsverständnis in der Zukunft und schildern teilweise sehr
konkret, wie eine Gesellschaft aussehen wird, die sich auf der
Grundlage dieses Verständnisses neu ordnet. Für den spirituellen
Gehalt der Offenbarung, der im tertius status hervortreten werde,
nahm er durchaus das aus der Johannesapokalypse stammende
Symbol des Ewigen Evangeliums in Anspruch. 4 Er hat das
Mißverständnis Gerardos di Borgo San Donnino also bis zu einem
gewissen Grad provoziert.
Leitprophet der meisten Bewegungen blieb zurecht Joachim von
Fiore, und wenn seine Prophezeiungen nicht ausreichten und zu wenig
Konkretes boten, so verfaßte man unter seinem Namen eben neue.
Auch dies gehört zu den Langzeitwirkungen Joachims, daß er zum
Archetypen des nachbiblischen Propheten wurde und sein Name allein
Autorität zu entfalten begann. Ganz gleich, ob man sich auf
joachimische oder pseudo-joachimische Prophetien stützte, es blieb
1
Dazu die ausführliche Studie Reeves/Gould 1987.
2
Huysmans, Joris-Karl: Tief unten. Stuttgart: Reclam, 1994, S.296ff.
3
Yeats, William Butler: „The Tables of Law“, in: Ders.: Short Fiction. Har-
mondsworth: Penguin, 1995, S.201-211, S.205.
4
Offb 14,6; Exp. I, fol.95vb; IV, fol.173rb; Vgl. Huck 1938, S.228ff.
406 ABBILDUNGEN
Joseph Goebbels, der neben Dietrich Eckart das Symbol des Dritten
Reiches in die nationalsozialistische Ideologie
ein[[@Page:344]]führte.1 Es ist also immer wieder der Gedanke einer
innergeschichtlichen Vollendung, der mit dem Symbol des Dritten
Reiches verbunden bleibt. Dies gilt ebenso für die anderen von
Voegelin genannten Beispiele.
Obwohl in der nationalsozialistischen Ideologie scheinbar
mehrere von Joachims Symbolen vorkommen, das Dritte Reich, der
Führer und die SS als „Neuer Orden“ (H. Himmler), hat Voegelin zu
Recht darauf hingewiesen, daß es sich um einen Spezialfall der
Rezeptionsgeschichte handelt. Es bedarf daher einiger gesonderter
Bemerkungen, denn in der Vergangenheit wurde die Verbindung
zwischen Joachims Lehre und der nationalsozialistischen Ideologie oft
zu schnell hergestellt und die Komplexität des ideengeschichtlichen
Sachverhalts vernachlässigt.2
Nun läßt sich die diffuse Verwendung des Symbols vom Ausgang
des 19. Jahrhunderts bis zur späten Weimarer Zeit, vor allem durch
zahlreiche Vertreter der „Konservativen Revolution“, in ihrer ganzen
Breite kaum darstellen.3 Mehrere ideengeschichtliche Studien haben
zwar gezeigt, daß Joachim bei der Herausbildung der NS-
Geschichtsideologie eine Rolle spielte,4 aber die Kombination von
Verlagsanstalt, 1931, S.320.
1
Sh. Goebbels Tagebucheinträge vom 6. Januar und vom 6. Juli 1926, zit. bei:
Schmitz-Berning, Cornelia: Das Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin
und New York: de Gruyter, 1998, S.156. Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehart: „Die
Geschichtsprophetie des Joseph Goebbels“, in: Joachim H. Knoll und Julius H.
Schoeps (Hrsg.): Von kommenden Zeiten. Geschichtsprophetien im 19. und 20.
Jahrhundert. Stuttgart und Bonn: Burg, 1984, S.169-179; Zu Dietrich Eckart:
Bärsch 1998, S.52ff.
2
Z.B. Wippermann, Wolfgang: „Drittes Reich“, in: Wolfgang Benz u.a.
(Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. dtv, 21998, S.435.
3
Dazu: Neurohr, Jean F.: Der Mythos vom Dritten Reich. Zur
Geistesgeschichte des Nationalsozialismus. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandl.,
1957. Aber auch diese Monographie ist kaum erschöpfend.
4
Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die
religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart,
Joseph Goebbels, Adolf Rosenberg und Adolf Hitler. München: Fink, 1998,
S.45ff. Die nach wie vor besten begriffsgeschichtlichen Studien, die (sich
einander ergänzend) den Weg von Joachims tertius status zum „Dritten Reich“
nachvollziehen, sind: Kestenberg-Gladstein, Ruth: „The ,Third Reich‘. A fif-
teenth-century polemic against Joachim of Fiore and its background“, in:
Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 18 (1955), S.145-195; dies.:
„Das Dritte Reich. Prolegomena zur Geschichte eines Begriffes“, in: Bulletin
des Leo Baeck Instituts 5/17-20 (1962), S.267-285. Wichtige Ergänzungen, vor
allem mit Blick auf die deutsche Romantik, bietet: Heer, Friedrich: Europa,
Mutter der Revolutionen. Stuttgart: Kohlhammer, 1964, S.121f., 178 u.ö. Von
Bedeutung sind auch der schon angeführte Aufsatz von Rolf-Peter Sieferle
(Sieferle 1992) und der Anhang I zu den „Verwandlungen der Lehre Joachims“
in Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Löwith 1990, S.190ff.).
410 ABBILDUNGEN
1
Mereschkowski, Dimitri: Leonardo da Vinci. München: Piper, 1911, S.689f.
Mereschkowski war sich des inneren Widerspruchs zwischen der Erwartung
einer Geistkirche und der Hoffnung auf ein Weltreich sehr wohl bewußt. Er
entwickelte aus diesem Widerspruch eine Art Dialektik der Geschichte, die er
in der Romantrilogie Christ und Antichrist (Teil 1: Julian Apostata; Teil 2:
Leonardo da Vinci; Teil 3: Petr und Alexej) historisch exemplifizierte. Sh.
hierzu die leider unveröffentlicht gebliebene Dissertationsschrift: Gras, Marion:
Die Religionsphilosophie von Dimitri S. Merežkovskij mit besonderer
Berücksichtigung der Lehre der drei Testamente. Masch. Diss. München, 1955,
S.39ff.
2
Vgl. Löwith 1990, S.193; Bärsch 1998, S.49, Anm.4.
3
Mohler, Armin: Die Konservative Revolution. 2., völlig neu bearb. und erw.
Fassung. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1972, S.24.
4
Kestenberg-Gladstein 1962, S.278ff.
5
Er schreibt in diesem Sinne: „Es ist ein geistiges Ziel und schließt gleichwohl
eine politische Aufgabe ein.“ Moeller van den Bruck 1931, S.319.
6
Ebd., S.v.
413 ABBILDUNGEN
Metzler, 1991, S.42-66, S.42. Es genügt, auf die paradigmatische Figur des
neuzeitlichen Naturwissenschaftlers zu verweisen, Isaac Newton, dem
mathematische und physikalische Erkenntnisse nicht zuletzt dazu dienten, seine
auf den Apokalypsen des Daniel und des Johannes basierenden
Endzeitberechnungen exakter zu machen. Manuel, Frank E.: A Portrait of
Isaac Newton. Cambridge: Harvard University Press, 1968, S.361ff.
1
Mundy, John H.: Europe in the High Middle Ages 1150-1300. Harlow u.a.:
Longman, 32000, S.303ff.
2
Fried, Johannes: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und
die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München:
Beck, 2001, S.117.
419 ABBILDUNGEN
[[@Page:353]]
ABBILDUNGEN
[[@Page:354]]
1
Dies würde im übrigen einige der interessantesten Fälle der neueren
Joachimrezeption außer acht lassen, die eindeutig christlich motiviert, also
nicht „säkular“ sind. Wie das Beispiel Vattimos zeigt, erlaubt die Antidogmatik
der postmodernen Philosophie sogar, den Bezug zwischen Fortschrittsprozeß
und göttlichem Erziehungsplan wiederherzustellen. Er schreibt: „Überhaupt ist
die biblische Offenbarung, das Alte und das Neue Testament, ein langer
Erziehungsprozeß Gottes an der Menschheit, die in seinem Verlauf zu einer
immer klareren Distanzierung von Naturreligion und Opfer fortschreitet.“
Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren. Stuttgart: Reclam, 1997, S.32.
„[…] nur in der Heilsgeschichte – die, von der Vorsehung gelenkt,
unterschiedliche Epochen und Momente durchläuft (und sich damit in einem
Rhythmus vollzieht, der die Bedeutung eines Fortschritts hin zur Reife und zum
Ende der Zeiten hat) – wird die christliche Botschaft deutlich […].“ Ebd., S.62.
420 ABBILDUNGEN
[[@Page:355]]
Abbildung 2: Der zehnsaitige Psalter
[[@Page:356]]
422 ABBILDUNGEN
[[@Page:357]]
Abbildung 4: Der Verfassungsentwurf
[[@Page:359]]
ABKÜRZUNGEN
Atti I Storia e messagio in Gioacchino da Fiore. Atti del I
Congresso internazionale di studi gioachimiti. San
Giovanni in Fiore: Centro di Studi Gioachimiti, 1980.
Atti II L’eta dello spirito e la fine dei tempi in Gioacchino da
Fiore e nel Gioachimismo medievale. Atti del II
Congresso internazionale di studi gioachimiti. S.
Giovanni in Fiore: Centro di Studi Gioachimiti, 1986.
Atti III Potestà, Gian Luca (Hrsg.): Il profetismo gioachimita
tra Quattrocentro e Cinquecento. Atti del III Congresso
internazionale di studi gioachimiti. Genova: Marietti,
1991.
Atti IV Rusconi, Roberto (Hrsg.): Storia e figure
dell’Apocalisse fra ’500 e ’600. Atti del 4° Congresso
internazionale di Studi Gioachimiti. Roma: Viella,
1996.
Atti V Rusconi, Roberto (Hrsg.): Gioacchino da Fiore tra
Bernardo di Clairvaux e Innocenzo III. Atti del 5°
Congresso internazionale di studi gioachimiti. Roma:
Viella, 2001.
BKV Bibliothek der Kirchenväter
CClat Corpus Christianorum, Series Latina
CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum
DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters
Florensia Florensia. Bolletino del Centro Internazionale di Studi
Gioachimiti
HJ Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft
HbDgm Handbuch der Dogmatik. Hrsg. von Theodor
Schneider. 2 Bde. Düsseldorf: Patmos, 2000.
HbKg Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. von Hubert
Jedin. 7 Bde. Unveränd. Nachdruck d. Sonderausg. von
1985. Freiburg im Breisgau u.a.: Herder, 1999.
HZ Historische Zeitschrift
JSHRZ Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit.
Gütersloh: Mohn, 1973ff.
LXX Septuaginta
MGH Monumenta Germaniae Historica
NHThG Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. 5 Bde.
Hrsg. von Peter Eicher. Erw. Neuausg. München:
Kösel, 1991.
QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven
und Bibliotheken
SC Sources Chrêtiennes
TRE Theologische Realenzyklopädie. Berlin u.a.: de Gruyter,
1976ff.
Vg Vulgata
ZKG Zeitschrift für Kirchengeschichte
[[@Page:361]]
QUELLEN
Bibel
Wo nicht anders angegeben, wurde die Bibel nach der
Einheitsübersetzung wiedergegeben. Die Abkürzungen der biblischen
Bücher und die Schreibung der Eigennamen richten sich gleichfalls
nach der Einheitsübersetzung.
Autoren
Antonius
Ep. Epistulae. Zit.: The Letters of Saint Antony the
Great. Translated by Derwas J. Chitty. Fair-
acres, Oxford: SLG Press, 1980.
Aristoteles
429 QUELLEN
Athanasius
Vita Ant. Vita Antonii. Zit.: „Des heiligen Athanasius
Leben des heiligen Antonius“, in: Des heiligen
Athanasius ausgewählte Schriften. Bd.2. Aus
dem Griechischen übersetzt von Hans Mertel.
BKV. Kempten und München: Kösel, 1917,
S.687-777.
Augustinus
Conf. Confessiones. Zit.: Bekenntnisse. Lateinisch und
Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von
Joseph Bernhardt. Frankfurt am Main: Insel,
1987.
De civ. Dei De civitate Dei. Zit.: a) CClat XLVII und
XLVIII; b) Vom Gottesstaat. Aus dem
Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme.
Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen.
2 Bde. München: dtv, 31991.
De trin. De trinitate. Zit.: CClat L und LA.
Ench. Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et ca-
ritate. Zit.: a) CClat XLVI; b) Das Handbü-
chlein De Fide, Spe et Charitate. Übertragen
von Paul Simon. Paderborn: Schöningh, 21962.
Cassian
Inst. De institutis coenobiorum et de octo principa-
lium vitiorum remediis. Zit.: SC 109.
Dante Alighieri
Monarchia Monarchia Zit.: Studienausgabe.
Lateinisch/Deutsch. Einleitung, Übersetzung
und Kommentar von Ruedi Imbach und
Christoph Flüeler. Stuttgart: Reclam, 1989.
Commedia La Divina Commedia. Zit.: Testo critico della
Società Dantesca Italiana. Riveduto col
commento scartazziniano rifatto da Giuseppe
Vandelli. Mailand: Hoepli, 211987.
Gregorius Thaumaturgos
Lobrede Lobrede auf Origenes. Zit.: Ausgewählte
Schriften des heiligen Gregorius Thaumaturgus.
Nach dem Urtexte übersetzt von Joseph
Margraf. BKV. Kempten: Kösel, 1875.
[[@Page:364]]
432 QUELLEN
Horsiesius
Lib. Ors. Liber Orsiesii. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe in:
Bacht 1973, S.58-189.
Origenes
C. Cels. Contra Celsum. Zit.: Ausgewählte Schriften des
Origenes, Kirchenschriftstellers aus
Alexandrien Bd.2 und 3. Nach dem Urtexte
übersetzt von Johann Röhm. BKV. Kempten:
Kösel, 1876 und 1877.
De princ. De principiis. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe: Vier
Bücher von den Prinzipien. Herausgegeben,
übersetzt und mit kritischen und erläuternden
Anmerkungen versehen von Herwig Görgemanns
und Heinrich Karpp. Darmstadt: Wiss. Buchges.,
1976.
Exh. ad mart. Exhortatio ad martyrium. Zit.: Ausgewählte
Schriften des Origenes, Kirchenschriftstellers
aus Alexandrien Bd.1. Nach dem Urtexte
übersetzt von Josef Kohlhofer. BKV. Kempten:
Kösel, 1874, S.251-339.
Pachomius
Reg. Pach. Regula Pachomii. Zit. n. der lat.-dt. Ausgabe in:
Bacht 1983, S.65-285.
Praef. Hier.Praefatio Hieronymi.
Praec. Praecepta.
Inst. Praecepta atque instituta.
Iud. Praecepta atque iudicia.
Leg. Praecepta ac leges.
Platon
437 QUELLEN
Pseudo-Dionysius Areopagita
De coel. hier. De coelesti hierarchia. Zit.: Des Heiligen
Dionysius Areopagita angebliche Schriften über
die beiden Hierarchien. Aus dem Griechischen
übersetzt von Josef Stiglmayr. BKV. Kempten
und München: Kösel, 1911, S.1-87.
De eccl. hier. De ecclesiastica hierarchia. Zit.: Des Heiligen
Dionysius Areopagita angebliche Schriften über
die beiden Hierarchien. Aus dem Griechischen
übersetzt. von Josef Stiglmayr. BKV. Kempten
und München: Kösel, 1911, S.91-208.
[[@Page:367]]
Quellensammlungen
Mirbt Quellen zur Geschichte des Papsttums und des
römischen Katholizismus. Hrsg. von Carl Mirbt.
Tübingen: Mohr, 51934.
438 QUELLEN
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Buber, Martin: Der Glaube der Propheten. Heidelberg: Schneider,
2
1984.
Bultmann, Rudolf: Geschichte und Eschatologie. Tübingen: Mohr,
1958.
Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testamentes. 8., durchges.,
um Vorw. u. Nachtr. erw. Aufl. Hrsg. von Otto Merk. Tübingen:
Mohr, 1980.
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messagio. Cosenza: Lionello Giordano, 1984.
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Vorwort und drei Corollarien. 6. Aufl., 4. Nachdr. der Ausg. von
458 LITERATUR