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ZfDN (2023)29:2

https://doi.org/10.1007/s40573-023-00151-2

ORIGINAL PAPER

Forschendes Lernen im Lehramtsstudium Biologie. Dokumentarische


Rekonstruktionen studentischer Experimentierprozesse
Petra Olschewski1 · Petra Herzmann2 · Kirsten Schlüter1

Eingegangen: 28. März 2022 / Angenommen: 22. Januar 2023


© Der/die Autor(en) 2023

Zusammenfassung
Forschendes Lernen in den Naturwissenschaften intendiert, dass Lernende den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess selbst
durchlaufen, um ihre Problemlösefähigkeiten zu schulen und ein Verständnis von Naturwissenschaft als Disziplin zu
entwickeln. Wie sich die Gruppenarbeitsprozesse von Lernenden beim Experimentieren im Vergleich zu den programmati-
schen Erwartungen an das Forschende Lernen gestalten, ist die Fragestellung der vorliegenden Studie. Untersucht werden
Experimentierprozesse von Lehramtsstudierenden des Faches Biologie. Bereits im Studium sind curriculare Angebote
Forschenden Lernens vorgesehen, um angehenden Lehrpersonen eigene Erfahrungen und deren systematische Reflexion
im Hinblick auf die spätere Anleitung forschungsbasierter Lernformen zu ermöglichen. Mittels der Dokumentarischen
Methode streben wir an, die in-situ-Prozesse des Experimentierens – im Verhältnis zu mit der Aufgabenbearbeitung in-
tendierten fachdidaktischen Zielen – zu rekonstruieren. Untersucht werden die handlungsleitenden Orientierungen der
Studierendengruppen sowohl hinsichtlich der fachlichen Erkenntniswege als auch in Bezug auf ihre Interaktionsmodi. Im
Ergebnis zeigen die Analysen für die Gruppen unterschiedliche Zugänge zur gestellten Aufgabe, die sich kontrastiv als
hypothesen- und materialbasiert unterscheiden lassen. Hinsichtlich der Gruppeninteraktion können einvernehmliche und
aushandlungsorientierte Modi rekonstruiert werden. Diskutiert werden die vorliegenden Befunde im Hinblick auf die Ziel-
setzungen Forschenden Lernens in den Naturwissenschaftsdidaktiken sowie den institutionellen Kontext der universitären
Lehrer*innenbildung.

Schlüsselwörter Lehrkräftebildung · Forschendes Lernen · Gruppenarbeit · Experimentieren · Dokumentarische Methode

 Petra Olschewski
polschew@uni-koeln.de

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Institut für Biologiedidaktik, Universität zu Köln, Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften,
Köln, NRW, Deutschland Universität zu Köln, Köln, NRW, Deutschland

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Inquiry-Based Learning in Biology Teacher Training. Documentary Reconstructions of Students’


Experimentation Processes

Abstract
During inquiry-based learning in the natural sciences, students shall go through the inquiry process themselves to improve
both their scientific reasoning skills, which are an integral part of problem-solving processes, and their understanding of
nature of science as well. In this study, we analyse how learners’ group processes develop by comparing their activities
to standards of inquiry-based learning. Our sample refers to biology teacher students, because inquiry-based learning is
considered a necessary component of university teacher education. Thus, students can gain experience with this teaching
format from a pupil’s perspective, they can reflect on it, and by this get prepared to use this format themselves in
their classrooms at a later date. By means of the Documentary Method, we aim to reconstruct the in-situ processes of
experimentation in relation to the didactically intended mode of task processing. The key orientations that guide student
groups’ actions are examined with regard to the ways of scientific thinking and the interaction modes of the groups.
The analyses of the initial phase of experimenting show that the groups use different approaches in working on the task,
with a hypothesis-based and material-based approach to be distinguished. Concerning group interaction, consensual and
negotiating modes can be reconstructed. The results are discussed with regard to the objectives of inquiry-based learning
and the institutional context of university education.

Keywords Teacher education · Inquiry-based science education · Group work · Experimenting · Documentary Method

Einleitung kaum Beachtung findet die als zentrales Merkmal des For-
schenden Lernens ausgewiesene Bedeutung der Arbeit in
Für die Lehre an Schulen und Hochschulen wird zuneh- Gruppen, deren unterstützende Funktion für das komplexe
mend gefordert, traditionelle Formen der Wissensvermitt- Lernformat angenommen wird (Bruckermann et al. 2017;
lung um solche Angebote zu ergänzen, die es für Lernen- Mayer und Ziemek 2006; Messner 2009). Diejenigen Stu-
de erforderlich machen, sich selbsttätig Wissen anzueig- dien, die die Experimentierprozesse untersuchen, beziehen
nen (Binkley et al. 2012; Häkkinen et al. 2017). Argumen- sich dabei auf unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Arnold
tiert wird, dass Lernende erst durch den eigenen Nachvoll- et al. 2014; Klahr und Dunbar 1988; Meier und Mayer
zug wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung dazu befähigt 2012). Für den Bereich der Lehramtsausbildung sind uns
werden, Wissenschaft als Praxis und nicht nur auf Basis von lediglich drei Studien bekannt (Arndt 2016; Kambach
Faktenwissen verstehen zu können (Abd-El-Khalick et al. 2018; Sonnenschein et al. 2019). Dieses Forschungsdesi-
2004; Schwartz et al. 2004). In der Biologiedidaktik wird derat aufgreifend und dabei die Bedeutung der Lehramts-
zu diesem Zweck der Einsatz des Forschenden Lernens an studierenden als spätere Multiplikatoren berücksichtigend
Schulen und Hochschulen empfohlen (KMK 2005, 2017; zielt die vorliegende Studie darauf, Gruppenarbeitspro-
NRC 2000), bei dem der Lernprozess dem naturwissen- zesse von Lehramtsstudierenden des Unterrichtsfaches
schaftlichen Erkenntnisprozess didaktisch nachempfunden Biologie zu untersuchen. Mittels der Dokumentarischen
ist (Kremer et al. 2019). Im Lehramtsstudium ist die För- Methode (Bohnsack 2021) wird das gemeinsame Experi-
derung von wissenschaftsmethodischer Kompetenz durch mentieren der Studierenden als soziale Praxis in den Blick
Forschendes Lernen während der Lehramtsausbildung in- genommen. Rekonstruiert werden die handlungsleitenden
sofern relevant, da durch die eigene Erfahrung mit Forma- Orientierungen der Studierendengruppen sowohl hinsicht-
ten Forschenden Lernens eine reflektierte Vorbereitung auf lich der fachlichen Erkenntniswege als auch in Bezug auf
die Schulpraxis gelingen kann (Capps und Crawford 2013; die Interaktionsmodi. Es gilt zu prüfen, ob sich die Er-
Schlüter 2019). Das praktische Erleben und das Durchlau- wartungen an wissenschaftliche Problemlöseprozesse (vgl.
fen der einzelnen Phasen des (idealisierten) Erkenntnispro- Abschn. Zielperspektiven Forschenden Lernens) in der Pra-
zesses erhöhen zudem die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes xis bei den Lernenden rekonstruieren lassen und ob diese
von Forschendem Lernen im späteren, eigenen Unterricht Erwartungen durch die Aushandlungsprozesse zwischen
(Capps et al. 2012). den Gruppenmitgliedern gefördert werden. Analysiert wird
Bisher vorliegende naturwissenschaftsdidaktische Stu- eine Experimentiersituation, die einer angeleiteten Form
dien zum Forschenden Lernen untersuchen vorrangig die des Forschenden Lernens entspricht. Für den vorliegenden
Lernwirksamkeit des Formats im Hinblick auf die Kompe- Beitrag wird dabei der Beginn der Gruppenarbeitsphase
tenzentwicklung der Lernenden (u. a. Arnold et al. 2018; fokussiert.
Forbes et al. 2020; Hammann et al. 2008). Empirisch

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Zum Forschenden Lernen in den Weiterhin kann beim Forschenden Lernen zwischen ver-
Naturwissenschaften: Theorie und schiedenen Offenheitsgraden hinsichtlich der Vorgaben der
Erkenntnisinteresse Lehrenden unterschieden werden, die sich in einem Spek-
trum von bestätigenden, strukturierten, angeleiteten und of-
Das folgende Kapitel stellt zunächst die Zielperspektiven fenen Formen Forschenden Lernens befinden (Bell et al.
Forschenden Lernens dar. Daran anschließend werden bis- 2005; Colburn 2000; Zion und Mendelovici 2012). Fradd
her vorliegende empirische Befunde zum Experimentie- et al. (2001) zeigten auf, dass es zielführend ist, wenn
ren skizziert, wobei wir ausschließlich solche Studien be- die Offenheitsgrade entsprechend dem Leistungsniveau der
rücksichtigen, die Experimentierprozesse – und nicht et- Lernenden schrittweise zunehmen. Dabei haben sich die
wa Kompetenzmessungen – untersuchen. Davon ausgehend Generierung einer Fragestellung und die eigenständige Pla-
wird das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie dar- nung eines dazu passenden Experiments als besonders an-
gelegt. spruchsvoll erwiesen (ebd.).

Zielperspektiven Forschenden Lernens Untersuchungen zu (studentischen)


Experimentierprozessen
Das Forschende Lernen wird allgemein als wissenschafts-
basierte und lernendenzentrierte Lehr-/Lernform im Kon- Bezugnehmend auf unser Forschungsinteresse am Prozess-
text des Kompetenzbereichs ,Erkenntnisgewinnung‘ emp- verlauf des Experimentierens beim Forschenden Lernen
fohlen (Kremer et al. 2019; Mayer und Ziemek 2006; Schlü- sollen hier entsprechend ausgerichtete Studien skizziert
ter 2019). Es soll den Lernenden praktische Arbeitstechni- werden. Dabei beziehen wir uns aufgrund der überschau-
ken (mit dem Labor-/Experimentiermaterial), wissenschaft- baren Befundlage auf alle uns bekannten Untersuchungen
liche Erkenntnismethoden und Charakteristika der Natur- und nicht nur spezifisch auf Studien mit Lehramtsstudie-
wissenschaften vermitteln (Mayer 2007). Intendiert ist, dass renden.
sich die Lernenden selbst in die Rolle von Wissenschaft- In der Studie von Klahr und Dunbar (1988) können mit-
ler*innen begeben und von der Erarbeitung einer Frage- tels eines Programmier-Experiments eines Roboters (disco-
stellung, dem theoriegeleiteten Generieren von Hypothesen, very task) zwei grundlegende Strategien unterschieden wer-
über die Planung und Durchführung einer Untersuchung den, anhand derer die (erwachsenen) Proband*innen ent-
hin zur Datenauswertung und -interpretation ihr eigenes weder als „Theoretiker“ bzw. als „Experimentatoren“ neue
Forschungsprojekt1 durchführen (Anderson 2002; Martius Erkenntnisse generieren. Die „Theoretiker“ beginnen den
et al. 2016; Meier und Mayer 2012; Nerdel 2017; Pedaste Experimentierprozess mit einer Hypothese, auf Grundla-
et al. 2015). Das Durchlaufen dieser Phasen ist darauf aus- ge derer das Experiment geplant und im Anschluss die
gerichtet, das wissenschaftliche Denken vor allem im Sinne Hypothese geprüft wird (vgl. deduktives Vorgehen). Die
eines Problemlöseprozesses zu fördern (Mayer 2007). „Experimentatoren“ hingegen sammeln durch ihr Experi-
Je nach zugrundeliegender Forschungsfrage können mentieren Daten und stellen anschließend eine Hypothe-
beim Durchlaufen des Forschungszyklus verschiedene Er- se zur Erklärung dieser Daten auf (vgl. induktives Vorge-
kenntnismethoden zur Anwendung kommen. In der Biolo- hen). Bei Experimentierprozessen von Schüler*innen zei-
gie wird unterschieden zwischen Beobachten, Vergleichen gen Meier und Mayer (2012) drei Typen von Handlungs-
und Experimentieren (Wellnitz und Mayer 2013). Allen verläufen auf, die als „prozessorientiert“, „explorativ“ und
drei Erkenntnismethoden liegt dabei im Idealfall ein hy- „prozessüberlappend“ beschrieben werden. Diese Typisie-
pothetisch-deduktiver Erkenntnisweg zugrunde (ebd.). Bei rung erfolgt aufgrund der Abfolge der einzelnen Experi-
diesen Experimenten wird die Hypothese theoriegelei- mentierphasen (z. B. Abgrenzung von Planung und Durch-
tet formuliert und experimentell geprüft2 (Schulz et al. führung vs. Überlappung), des Zeitpunkts der Hypothesen-
2012). Generell geht es beim Experimentieren um die generierung (zu Beginn vs. nach praktischer Durchführung)
Untersuchung eines Kausalzusammenhangs zwischen der und des Theorie-Praxis-Verhältnisses (z. B. vorrangig Pla-
unabhängigen Variable (Einflussgröße) und der abhängigen nung vs. praktische Durchführung). Arnold et al. (2014)
Variable (Messgröße) unter Kontrolle von Störvariablen stellen für Schüler*innen der Oberstufe fest, dass diese zwar
(Wellnitz und Mayer 2013). in der Lage sind, Experimente grundlegend zu planen, sich
jedoch Herausforderungen zeigen, sobald es um reflektie-
rende Anforderungen (z. B. Störvariablen und Messwieder-
1 In unserer Studie geht es nicht um die Mitwirkung in einem For-
holungen) beim Experimentieren geht, was die Autor*innen
schungsprojekt, sondern um ein didaktisiertes Angebot im Rahmen des
Forschungszyklus. auf fehlendes prozedurales Wissen zurückführen. Bonnet
2 Davon abzugrenzen sind explorative Experimente, bei denen die ge- (2004) stellt für experimentbezogene Gruppenarbeiten im
nerierten Daten der Theorieentwicklung dienen. Chemieunterricht neben den fachlichen Aushandlungspro-

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zessen die Bedeutung der dabei stattfindenden Interaktion benbearbeitung aufeinander Bezug?) rekonstruiert. Im Ge-
heraus. Zentral bei Bonnet ist, dass die sogenannte „interak- gensatz zu einer präskriptiven Perspektive fachdidaktischer
tionale Kompetenz“, welche Beziehungs-, Partizipations-, Forschung ist intendiert, die Experimentierprozesse der Stu-
Argumentations- und Organisationsaspekte der Gruppenar- dierenden (vorerst) nicht hinsichtlich ihrer erkenntnislogi-
beitsprozesse umfasst, die Performanz der Gruppen maß- schen Angemessenheit und der programmatischen Zielset-
geblich beeinflusst. zungen des (hoch-)schulischen Formats Forschenden Ler-
Bisherige Studien zu Experimentierprozessen im Kon- nens zu bewerten. Vielmehr soll ein Beitrag geleistet wer-
text der Lehramtsausbildung untersuchen die formale Ab- den, die ,black box‘ der Untersuchung von in-situ Prozessen
folge verschiedener Phasen des Erkenntnisprozesses (vgl. der universitären Lehrer*innenbildung aufzuklären (Herz-
Meier und Mayer 2012). Arndt (2016) ermittelte für Lehr- mann et al. 2019), indem für das Forschende Lernen von
amtsstudierende der Chemie verschiedene (Ablauf-)Muster, Lehramtsstudierenden der Biologie analysiert wird, wie die
die den Wechsel zwischen den einzelnen Phasen aufzeigen. Experimentierprozesse gestaltet werden und davon ausge-
Insbesondere das oszillierende Muster, bei welchem zwi- hend zu rekonstruieren, welches Experimentierverständnis
schen mindestens zwei Phasen gesprungen wird, konnte der Studierenden sich in ihren Handlungen zeigt. Fokus-
mit intensiveren Überlegungen der Studierenden in Verbin- siert wird die Anfangsphase des Experimentierprozesses,
dung gebracht werden. Kambach (2018) zeigte für Expe- da diese für den in unserer Studie vorgesehenen hypothe-
rimentierprozesse bei Lehramtsstudierenden der Biologie tisch-deduktiven Erkenntnisweg als besonders anspruchs-
ebenfalls, dass diese nicht idealtypisch verlaufen und Pha- voll gilt (Fradd et al. 2001). Die Auswertung erfolgt mit-
senwechsel stetig vorkommen. Außerdem stellte sie fest, tels der Dokumentarischen Methode, um die den Gruppen-
dass von den Studierenden eigenständig wahrgenommene arbeitsprozessen zugrundeliegenden impliziten, handlungs-
Fehler (häufig in Verbindung mit den zur Auswahl stehen- leitenden Orientierungen der Gruppen zu rekonstruieren. In
den Experimentiermaterialien) dazu führen, Änderungen unserer Studie werden demzufolge sowohl die (experimen-
im Experimentierprozess vorzunehmen. Sonnenschein et al. tellen) Handlungen untersucht als auch die Art und Weise
(2019) beschreiben naturwissenschaftliche Arbeitsprozes- analysiert, wie die Studierenden das Experimentieren aus-
se von (Lehramts-)Studierenden der Chemie und stellen gestalten, und welches Verständnis ihrem Experimentieren
anhand zweier Fallanalysen dar, dass Hypothesen so for- zugrundeliegt bzw. inwiefern sie ihr Vorgehen als naturwis-
muliert werden, dass sie am Ende bestätigt werden können. senschaftlichen Problemlöseprozess anlegen. Ergänzend zu
Außerdem zeigte sich, dass eine Kombination verschiede- den Befunden aus Beobachtungs-, Befragungs- und Test-
ner Erkenntnismethoden zu erfolgreichen Bearbeitungen studien, die (studentisches) Wissen ermitteln, erlaubt die
führen kann. Ergänzend zu diesen, bisher vorliegenden Untersuchung der sozialen Praxis des Experimentierens,
Befunden formaler Abläufe bedarf es allerdings weiter- Aneignungsmöglichkeiten und -grenzen von Lehramtsstu-
gehender Untersuchungen, wie das Experimentieren von dierenden beim Experimentieren aufzuzeigen (Asbrand und
Lehramtsstudierenden gestaltet wird und welches impli- Martens 2018). So können jene Prozesse, die zum Kompe-
zite Wissen, etwa über den Forschungsprozess oder die tenzerwerb führen (sollen), in ihren Besonderheiten nach-
Bedeutung von Hypothesen, sich (dabei) zeigt. vollzogen werden, und gehen insofern über eine Ergebnis-
Evaluation hinaus. Während bereits vorliegende prozessbe-
Erkenntnisinteresse zogene Studien insbesondere die formalen Abläufe (Abfol-
ge der Phasen im Forschungszyklus) beim Experimentieren
Das Ziel unserer Untersuchung ist es, Gruppenarbeitspro- untersuchen, so liegt in unserer Studie – wie im Rahmen-
zesse von Lehramtsstudierenden der Biologie zu Beginn des beitrag angeführt – der Fokus auf der Analyse der Tiefen-
gemeinsamen Experimentierens im Rahmen einer Aufgabe struktur der von den Gruppen gewählten Erkenntniswege.
des angeleiteten Forschenden Lernens zu analysieren. Aus- Untersucht wird nicht nur, ob z. B. Hypothesen aufgestellt
gehend von einer praxistheoretischen Perspektive (Reck- werden, sondern auch, wie eine solche Hypothesenbildung
witz 2003) nimmt die vorliegende Studie das gemeinsame und die Aushandlung darüber in der Gruppe erfolgt. Die-
Experimentieren der Studierenden als soziale Praxis in den se Analyse ermöglicht es, „aus der Praxis heraus“ zu ver-
Blick. Die Analyse dieser sozialen Praxis wird im Rah- stehen, wie Studierende die Anforderung des gemeinsamen
menbeitrag als eine zentrale Untersuchungsperspektive der Experimentierens im Kontext von Forschendem Lernen um-
Dokumentarischen Methode ausgewiesen. Die Gruppenar- setzen, um dann im zweiten Schritt diese „Praxislogik“ mit
beitsprozesse werden dabei auf fachlicher Ebene (wie set- den Erwartungen an naturwissenschaftliche Problemlöse-
zen sich die Gruppenmitglieder mit der Aufgabenstellung prozesse in Beziehung zu setzen.
auseinander und wie beginnen sie den Erarbeitungspro-
zess?) und unter Berücksichtigung der dabei stattfindenden
Interaktionen (wie nehmen die Studierenden bei der Aufga-

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Abb. 1 a Experimentiersetting
mit Sicht auf die zwei Kameras
und b Tisch mit Experimentier-
materialien

a b

Methoden Variablenfestlegung (uV, aV), die systematische Verände-


rung der uV, die Konstanthaltung anderer Variablen), (ii) in
Im Folgenden legen wir unser Untersuchungsdesign, un- seiner Durchführung auch Elemente des Beobachtens und
terschieden nach Erhebungsverfahren und Auswertungsver- Vergleichens umfasst, und (iii) an bisherige Vorerfahrun-
fahren, dar. gen der Lernenden aus dem Studium (Modul „Grundla-
gen der Biologie“) anknüpft. Die zu bearbeitende Aufga-
Erhebungsmethode, Stichprobe und benstellung („Was passiert mit Kartoffeln in Salzlösungen?
Aufgabenstellung Untersuchen Sie diese Fragestellung durch ein Experiment.
Schreiben Sie die wichtigen Aspekte während des Experi-
Um einen detaillierten Einblick in die Gruppenarbeitspro- mentierens auf, sodass Sie als Gruppe ein aussagekräftiges
zesse zu erhalten, wurde als Erhebungsmethode die Video- Protokoll haben.“) wurde gewählt, da zum einen der Fach-
graphie gewählt. Die Videographie von Gruppenarbeiten er- inhalt „Osmose“ in den vorangehenden Semestern Bestand-
möglicht den Zugriff auf die auditive und die visuelle Ebene teil der Lehre war und die Aufgabe somit (potenziell) an das
der Interaktion (Dinkelaker 2010). Dies ist für die Analyse Vorwissen der Lernenden anschloss. Die eher alltagssprach-
des Experimentierens von Gruppen bedeutsam, da dadurch liche Formulierung der Aufgabenstellung und der bewusste
einerseits die Verwendung des bereitgestellten Experimen- Verzicht auf den Fachbegriff „Osmose“ machte es erfor-
tiermaterials (Abb. 1b) in die Analyse integriert, anderer- derlich, dass die Studierenden Theoriebezüge selbst her-
seits die sprachliche und körpergebundene Interaktion der stellen mussten. Eine Art fachlicher Übersetzung ist somit
Gruppe untersucht werden kann. In der vorliegenden Un- Teil der gewählten Aufgabenstellung. Neben dem Verzicht
tersuchung wurden zwei verschiedene Kameraperspektiven auf eine fachinhaltliche Vorgabe wurde die Aufgabenstel-
eingefangen (Abb. 1a). lung außerdem so formuliert, dass der zu untersuchende
Insgesamt wurden vier Gruppenarbeiten von Lehramts- kausale Zusammenhang von Salzkonzentration zu Gewicht
studierenden der Biologie aufgenommen. Die Gruppen be- bzw. Größe der Kartoffelstücke nicht explizit benannt wur-
standen aus jeweils drei Studierenden, wobei die Grup- de. Auch die Herstellung dieser Kausalitätsannahme war
penzusammensetzung zufällig erfolgte. Bei den Teilneh- als Eigenleistung der Studierenden konzipiert. Die Aufgabe
mer*innen handelte sich um Bachelor-Studierende am Ende kann als angeleitete Form Forschenden Lernens eingeordnet
des zweiten Semesters, die bereits das Modul „Grundlagen werden (Zion und Mendelovici 2012), bei welcher die fach-
der Biologie“ besucht hatten, welches über eine Vorlesung lichen Handlungsanweisungen weitgehend offen gehalten
sowohl biologische Fachkenntnisse sowie über einen la- werden. So wurden zwar das Experimentieren und Proto-
borpraktischen Teil Arbeitsmethoden und das Forschende kollieren vorgegeben, allerdings konnte die Ausgestaltung
Lernen vermittelte. Die Teilnahme an der Studie erfolgte von den Studierenden u. a. im Hinblick auf Versuchsauf-
freiwillig und wurde außerhalb der regulären Universitäts- bau, Messzeiten, Anzahl der Versuchsansätze sowie Inhalt
seminare angeboten. Die Studierenden befanden sich also und Struktur des Protokolls (Ausgabe von Blankobögen für
nicht in einer für das Studium relevanten Bewertungssi- das Protokollieren) bestimmt werden. Praktikable Gründe
tuation, d. h. die Gruppenarbeit wurde nicht benotet. Die wie die kurze Bearbeitungsdauer und die Ermöglichung ei-
Teilnehmer*innen hatten für die Bearbeitung der ihnen ge- ner gefahrlosen Durchführung wurden bei der Auswahl der
stellten Aufgabe eine Stunde Zeit. Die Aufgabe (im Sin- Experimentieraufgabe ebenfalls berücksichtigt.
ne des Forschenden Lernens) bezog sich auf die Erkennt-
nismethode des Experimentierens, da dieses (i) als beson-
ders anspruchsvoll angesehen werden kann (u. a. durch die

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Datengrundlage und Auswertungsmethode Die Analysen der Aufgabenstellung sowie der Eingangs-
sequenzen aller Gruppen wurden in verschiedenen Interpre-
Die Auswertung der Videoaufnahmen der Gruppenar- tationsgruppen vorgestellt und kommunikativ validiert. Da-
beitsprozesse erfolgte mit der Dokumentarischen Methode bei wurde sowohl gemeinsam in das Rohmaterial (Videoda-
wie im Rahmenbeitrag dargelegt. Auf die dort erläuterten ten) geschaut als auch die angefertigten formulierenden und
Verfahrensschritte werden wir im Folgenden nicht ausführ- reflektierenden Interpretationen geprüft sowie hinsichtlich
lich eingehen, sondern diese lediglich durch entsprechende der rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen va-
Verweise kennzeichnen und nur spezifische Überlegun- lidiert. Dies war im vorliegenden Fall insofern von Bedeu-
gen betreffend unsere Vorgehensweise anführen. Für den tung, als dass Teile des Projektteams für die fachdidaktische
vorliegenden Beitrag wurden zunächst die Eingangsse- Lehre am untersuchten Standort zuständig waren, wodurch
quenzen der Gruppenarbeiten transkribiert sowie die für es zu Einschränkungen der intersubjektiven Gültigkeit der
diese Sequenzen repräsentativen Fotogramme ausgewählt. Interpretationen hätte kommen können.
Die Interpretation der Eingangssequenzen ist insofern re-
levant, als dass sich dort bereits erste handlungsleitende
Orientierungen der Gruppe zeigen (Asbrand und Martens Ergebnisse
2018). Mittels der formulierenden und der reflektierenden
Interpretation – wie im Rahmenbeitrag erläutert – wurden Die Ergebnisdarstellung umfasst zunächst eine Übersicht
dann die Eingangssequenzen im Hinblick auf handlungs- über die handlungsleitenden Orientierungen beim Experi-
leitende Orientierungen und Interaktionsmodi der Gruppe mentieren sowie die Interaktionsmodi, die dann anhand der
zu Beginn des gemeinsamen Experimentierens rekonstru- Unterscheidung in hypothesenbasiertes Vorgehen und ma-
iert (Asbrand und Martens 2018). Dabei beziehen sich terialbasiertes Vorgehen ausführlich vorgestellt werden.
die handlungsleitenden Orientierungen im Sinne Nohls auf
die spezifische Praxis des Experimentierens und werden Handlungsleitende Orientierungen und
von uns nicht in einem weitergehenden Sinne als Orien- Interaktionsmodi zu Beginn des Experimentierens
tierungsrahmen bzw. Habitus interpretiert (Nohl 2017).
Die Analyse der Interaktionsmodi findet parallel zur Re- Allen vier Gruppenarbeiten ist gemein, dass zu Beginn des
konstruktion der handlungsleitenden Orientierungen statt Gruppenarbeitsprozesses die Aufgabe entweder still oder
und gibt ergänzend Aufschluss darüber, ob in der Gruppe laut (vor-)gelesen wird. Die Einstiege in die Gruppenarbeit
geteilte oder nicht geteilte handlungsleitende Orientierun- können insofern als Planungsphase bezeichnet werden, als
gen vorliegen (Asbrand und Martens 2018). Dies drückt dass ausgehend von der Aufgabenstellung erste Überlegun-
sich – wie ebenfalls im Rahmenbeitrag ausgeführt – durch gen zum Vorgehen diskutiert werden.
entweder inkludierende, also einvernehmliche, und ex- Insgesamt unterscheiden sich die Gruppen grundlegend
kludierende, also stärker aushandelnde, Interaktionsmodi dahingehend, ob sie hypothesenbasiert vorgehen oder sich
aus (Przyborski 2004). Mit Hilfe kontrastiver Vergleiche über das Experimentiermaterial der Aufgabenbearbeitung
zwischen den Gruppen wurden schließlich Homologien annähern. Dies verläuft in zwei unterschiedlichen Interak-
und Besonderheiten der Erkenntniswege herausgearbeitet. tionsmodi (Abb. 2). Die Interaktionen erfolgen bei einer
Die Bedeutung von Kontrastfällen – auch das macht der Gruppe im parallelen Modus, bei den drei anderen Grup-
Rahmenbeitrag deutlich – liegt darin, dass seitens der For- pen im antithetischen Modus. Es handelt sich in allen Fällen
schenden keine eigenen Bewertungsmaßstäbe an die Daten um inkludierende Interaktionsmodi, d. h. in den Gruppen
herangetragen werden. wird einvernehmlich entweder hypothesen- oder material-

Handlungsleitende Orientierungen beim Experimentieren

Hypothesenbasiert Materialbasiert

Interaktionsmodi

Paralleler Modus Antithetischer Modus

Abb. 2 Schemata handlungsleitender Orientierungen und Interaktionsmodi (Die separate Darstellung der beiden Analysedimensionen (handlungs-
leitende Orientierungen und Interaktionsmodi) in der Abbildung dient der Übersichtlichkeit und entspricht nicht dem Vorgehen im Analyseverfah-
ren. Beide Dimensionen wurden im Rahmen der reflektierenden Interpretation parallel bzw. in Relation zueinander untersucht.)

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basiert vorgegangen. Im parallelen Modus wird die Proposi- noch“), im weiteren Verlauf jedoch von Jens elaboriert
tion (eingebrachtes neues Thema) gemeinsam und konsen- werden. Neben der Hypothese benennt er Gegenhypothese,
sual bearbeitet. Beim antithetischen Modus wird die Pro- abhängige und unabhängige Variable als für die Aufgaben-
position ebenfalls gemeinsam elaboriert, allerdings werden bearbeitung zwingend erforderlich („brauchen“). Bezogen
verschiedene Orientierungskomponenten von den Gruppen- auf das in der Aufgabenstellung benannte „Protokollie-
mitgliedern eingebracht (vgl. Asbrand und Martens 2018). ren“ zeigt sich in beiden Gruppen, dass dieses bereits
Die nachfolgend zitierten Transkriptausschnitte dienen zu Anfang initiiert und somit als notwendiger Teil des
der Plausibilisierung der rekonstruierten handlungsleiten- Arbeitsprozesses gerahmt wird. Bei Gruppe B wird über
den Orientierungen. das Protokollieren eine Vorstrukturierung des nachfolgen-
den Prozesses angelegt, indem Jens eine Verschriftlichung
Handlungsleitende Orientierung I: dessen initiiert, was von ihnen im Rahmen der Aufgabe
Hypothesenbasiertes Vorgehen erwartet wird. In Gruppe A deutet die Frage „möchte wer
schreiben?“ auf eine Klärung der Zuständigkeiten hin. Ent-
Ein hypothesenbasiertes Vorgehen kann bei den Gruppen A sprechend des hypothesenbasierten Vorgehens notiert diese
und B rekonstruiert werden, was im Folgenden illustriert Gruppe zunächst „H:“, allerdings findet die schriftliche
wird. Formulierung der Hypothesen erst später statt.
Die Notwendigkeit der Formulierung von Hypothesen ist
Gruppe A: Sequenz 1 bei beiden Gruppen für den weiteren Arbeitsprozess einver-
nehmlich, allerdings treten bei der Umsetzung Unsicher-
Ida: Okay; wir ham ja forschendes Lernn, stelln wir heiten auf. Diese sollen beispielhaft an Gruppe A gezeigt
mal unsere Hypothesen (ordnet Blätter) auf. werden:
(2) möchte wer schreibn, #00:01:27-5#
Gruppe A: Sequenz 2
Durch Idas3 Proposition wird das Aufstellen von Hy-
pothesen explizit in den Kontext des Forschenden Lernens Jan: je höher die Salzkonzentration desto (holt Luft)
gestellt und damit als ein bestimmter Aufgabentyp gerahmt, (.) kleiner wird die Kartoffel, ich weiß nich;
der einem formalisierten Ablauf folgt. Die Verwendung des (knackendes Geräusch) ich kann mir dann vor-
Plurals „Hypothesen“ verweist darauf, dass mehrere Hypo- stelln dass dann die Kartoffl irgendwie Wasser
thesen aufgestellt werden können und damit die Notwen- abgibt, #00:01:57-9# (...)
digkeit der Einigung auf eine Hypothese nicht als zwingend Jan: und die Zelln dann irgendwie dann kleiner werden
angesehen wird. und die Kartoffel schrumpft; #00:02:01-7# (...)
Bei der ersten Sequenz von Gruppe B wird das Aufstel- Jan: wäre so=ne grobe Überlegung. #00:02:03-7#
len von Hypothesen ebenfalls als erster, notwendiger Schritt Ida: vielleicht geht=s auch um Stärke? #00:02:05-5#
formuliert und im Weiteren in der Gruppe in Form schein- Laura: ja wollt grad sagn #00:02:06-0#
bar zustimmender Äußerungen, bei denen die inhaltliche Ida: Oder? #00:02:06-3#
Zustimmung jedoch unklar bleibt, ratifiziert. Laura: dass (°es Stärke abgibt°) #00:02:07-8#
Ida: ich weiß nicht aber was passiert mit Stärke in Salz-
Gruppe B: Sequenz 1 lösungen wir hattn das nur immer-, #00:02:12-3#
Jan: passiert da was? #00:02:13-5#
Jens: so, zuerst mal Hypothese und all so was noch ne? Ida: ich weiß es nich, (2) #00:02:16-0#
(2) können wir schon mal aufschreibn (3) (Nora Laura: nur wenn man (2) das testet; oder? ham wir da
reicht ihm den Stift an). so, ( ) irgendwas für? (2) so ( ) #00:02:21-7#
(schreibt) (4) #00:00:53-3# (...) Ida: Hm:m @(.)@ #00:02:22-6#
Jens so; die vier Sachn brauchn wir auf jedn Fall; Jan: dafür braucht man glaub ich die Lugolsche Lö-
(...) so. wir brauchn Hypothese Gegenhypothe- sung. #00:02:23-2# (...)
se abhängige unabhängige Variable. (schreibt) Ida: Ja aber wir ham die Lugolsche Lösung nich
(2) #00:01:42-3# #00:02:25-9# (...)
Ida: Wir- also wir solltn gar keinn Stärkenachweis
Im Gegensatz zu Gruppe A werden bei Gruppe B weite- machn, #00:02:29-9#
re erforderliche Verfahrensschritte angedeutet, die zunächst Laura: okay; ja dann geht=s da wohl nicht drum
umgangssprachlich formuliert werden („und all sowas #00:02:30-9#

3 Sämtliche Namen der Studierenden sind pseudonymisiert.

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Ida: (räuspert sich) Solln wir also eine ganze Kar- nicht wieder aufgegriffen, sondern es findet eine durch Ida
toffel verwendn? #00:02:33-2# initiierte Themenverschiebung statt, indem sich dem prakti-
schen Vorgehen zugewendet wird. Es kommt also vorerst zu
Jan bringt die Hypothese ein, dass mit steigender Salz- keiner Konklusion, da sich die Gruppe nicht auf eine Hypo-
konzentration die Kartoffel kleiner wird. Dabei macht er these einigt. Das Muster, dass Jans Beiträge nicht von den
Gebrauch von einem Vergleichssatz (je ... desto), der (hy- anderen elaboriert werden, wiederholt sich im Weiteren ge-
pothesenkonform) den Zusammenhang von zwei Variablen nauso wie die Bestätigungen zwischen Ida und Laura. Die
beschreibt. Er elaboriert weiter, dass eine Wasserabgabe Konklusion in Bezug auf die Hypothesenaufstellung erfolgt
durch die Kartoffel erfolgt, die Zellen kleiner werden und im späteren Verlauf des Gruppenarbeitsprozesses:
die Kartoffel „schrumpft“. Die anderen Gruppenmitglie-
der gehen nicht weiter auf Jans Vorschlag ein, sondern Gruppe A: Sequenz 3
Ida bringt ein, dass es um Stärke gehen könnte. Hier wird
ein weiteres mögliches Themenfeld eröffnet, ohne anfangs Jan: also unsere Hypothese kann ja lautn, je höher die
einen (begründeten) Zusammenhang mit den Salzlösungen Salzkonzentration? (.) desto (.) kleiner wird die
herzustellen. Bei allen Gruppenmitgliedern zeigt sich ei- Kartoffel dann? (2) wär jetzt meine Vermutung;
ne Unsicherheit („Vielleicht“, „würde“, „ich weiß nicht“, dass die dann deutlicher schrumpft (2) #00:34:58-
„irgendwie“). Ob und was mit Stärke in Salzlösungen pas- 5#
siert, lässt sich nach Meinung von Laura nur durch einen Laura: kann man ja. (klopft mit Stift auf Tisch)
Stärke-Test klären, was Jan mit der Lugolschen Lösung in #00:34:59-0#
Verbindung bringt. Die Aufmerksamkeit richtet sich ab die- Ida: ja #00:34:59-5#
ser Stelle auf das verfügbare Material, und das Fehlen der Laura: man kann ja alles eigentlich schreibn (.) und
Lugolschen Lösung im Material-Pool führt zur Einschät- das dann widerlegn. (weißt du wie jetzt) genau.
zung, dass es nicht um Stärke gehen kann. Auch wenn die #00:35:01-7#
Gruppe hypothesenbasiert begonnen hat, wird die hypothe- Ida: Wir könnn auch mehrere Hypothesn hinstelln
senbasierte Vorgehensweise mit Blick auf das verfügbare und dann=ne Gegenhypothese, (rührt) (2) desto
Experimentiermaterial abgesichert. höher die Salzkonzentration desto (2) egal oder
In anderen Transkriptstellen zeigt sich, dass anhand des egal welche Salzkonzentration du- Kartoffel bleibt
Materials auch Ideen für neue Ansätze der Hypothesenbil- gleich. #00:35:13-6#
dung generiert werden. Dies wird beispielsweise deutlich, Laura: //mhm// #00:35:14-1#
wenn Kathi in Gruppe B infrage stellt, dass die Kartoffeln Ida: also ich glaube sie zerfällt. (2) ich glaub wir könnn
gekocht werden müssen, Nora aber auf das Vorhandensein ja jeder eine Hypothese aufstelln. #00:35:19-2#
der Heizplatte verweist. Die materialbasierte Vergewisse- Laura: das was jeder denkt oder? (Ida rührt) (2)
rung findet in beiden Gruppen, die einen hypothesenba- #00:35:21-9#
sierten Einstieg zeigen, statt. Der Bezug auf das Material Ida: weil wir könnn ja H eins H zwei H drei habn;
deutet darauf hin, dass die Gruppen die Einschätzung der #00:35:24-8#
Angemessenheit der Aufgabenerledigung an den verfügba- Laura: ich glaube einfach die Stärke wird in das Was-
ren Experimentiermaterialien ausrichten. ser abgegebn; (2) sodass es dann milchig wird (7)
Neben der materialbasierten Vergewisserung kann an- #00:35:36-4#
hand der Sequenz 2 in Gruppe A ein antithetischer Interak-
tionsmodus rekonstruiert werden, da verschiedene Orien- Hier wird deutlich, dass Jan an seiner Hypothese festhält
tierungskomponenten hinsichtlich der Hypothesenbildung und diese erneut einbringt. Lauras Elaboration, dass „man“
eingebracht werden: So wird der Einfluss der Salzkonzen- das machen kann, drückt insofern Distanz aus, als dass sie
tration auf den Wassergehalt (Jan), aber auch auf die Stärke relativierend hinzufügt, man könne „alles“ schreiben und
in den Kartoffeln (Ida, Laura) benannt. Bei Jans Ausfüh- das dann „widerlegen“. Damit rahmt sie Jans Vorschlag als
rungen fällt auf, dass er seine Hypothese eher vage for- einen möglichen, aber nicht zwingenden. Jans Hypothese
muliert („Ich weiß nicht“, „ich kann mir dann vorstellen“, wird weder aufgegriffen, noch wird eine gemeinsame Hy-
„irgendwie“). Jan beschließt seinen Beitrag, indem er sei- pothese aufgestellt, sondern es wird vorgeschlagen, dass
nen Vorschlag als „grobe Überlegung“ bezeichnet, was den jeder eine eigene Hypothese formulieren kann. Durch die-
anderen Raum zum Weiterdenken ermöglicht. Nach sei- se Synthese (Konklusion beim antithetischen Modus) wer-
nen Ausführungen geht keine der anderen auf seine Idee den die verschiedenen Elaborationen nebeneinander stehen
ein, sondern es wird ein Gegenvorschlag (Stärke) von Ida gelassen. Gleichzeitig dokumentiert sich hinsichtlich der
eingebracht, der von Laura zwar validiert, aber dann mate- Bedeutung von Hypothesen beim Experimentieren ein Ver-
rialgestützt verworfen wird. Jans Hypothese wird dennoch ständnis, welches das Aufstellen der Hypothesen als unge-

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richteten Beginn des Experimentierens rahmt und es nicht gesamte Eingangsphase von allen Gruppenmitgliedern sich
darum geht, die eine „richtige“ Hypothese zu benennen. gegenseitig bestätigend elaboriert wird. Dies wird exempla-
Das vorsichtige Vorgehen beim Aufstellen der Hypothesen risch an der nachfolgenden Sequenz deutlich:
zeigt sich auch durch die sprachliche Einbringung als „Ver-
mutung“ oder durch die Formulierung „ich glaube“. Gruppe C: Sequenz 2
Auch in Gruppe B wird im antithetischen Modus in-
teragiert, indem die Gruppenmitglieder sich bei der Hypo- Katja: Dann brauch=ma einn Spa-, nee quatsch. (Vera
thesengenerierung auf verschiedene Suchräume beziehen. greift zu Spatel) doch. ja:a? (Vera legt Spatel hin)
Während Nora durch den alltagsweltlichen Bezug des Ko- einn Spatl vielleicht noch? #00:02:04-2#
chens Überlegungen zur Hypothesenbildung anstellt („Na- Vera: (.) ja, #00:02:04-9#
ja, aber wenn du jetzt mal überlegst, was passiert denn mit Katja: und=n Glasrührstab? #00:02:06-4#
Kartoffeln, wenn man die kocht?“), finden bei Jens Überle- Anke: mhm, zum- #00:02:06-7#
gungen zu im Studium gesammelten Erfahrungen statt („Ich Katja: Zum Rührn, #00:02:07-3#
hatte nämlich in der Prüfung die Frage, was denn passiert, Anke: genau. (Vera legt Glasrührstab hin) (2) zum Ver-
wenn Pflanzenzellen Wasser entzogen wird.“). Letztlich ist mengn, #00:02:10-1#
Jens derjenige, der den Raum zur Elaboration seines Er-
fahrungswissens von den anderen zugestanden bekommt, Die Sequenz beginnt mit Katjas Aussage, in der sie ein-
sodass sich die Gruppe davon ausgehend auf seine Hypo- bringt, dass sie als nächstes einen Spatel brauchen. Diese
these einigen kann. Aussage formuliert sie zunächst bestimmt, unterbricht den
Satz und formuliert dann vorsichtiger. Es folgt eine Validie-
Handlungsleitende Orientierung II: rung (Zustimmung) von Vera auf verbaler Ebene und eine
Materialbasiertes Vorgehen Enaktierung (Elaboration auf nonverbaler Ebene), indem sie
einen Spatel in die Mitte des Tisches legt. In gleicher Weise
Für die beiden anderen Gruppen ist das Material durch die wird von Katja als nächstes der Glasrührstab als weiteres
gesamte Eingangssequenz hindurch handlungsleitend. Material, das sie benötigen, eingebracht, was von Anke rati-
fiziert wird. Katja und Anke bringen außerdem im Weiteren
Gruppe C: Sequenz 1 die Funktion des Glasrührstabs ein. Vera enaktiert den Vor-
schlag wieder durch das Bereitlegen des Glasrührstabs. Die-
Vera: Okay, (4) gut, (.) solln wir dann erst mal kuckn ses gemeinsame Vorgehen bei der Auswahl der Materialien,
was wir benutzn? (.) #00:00:31-9# welches durch gegenseitige Bezugnahmen und Elaboratio-
Katja: ja, würd ich sagn, (2) #00:00:32-8# nen gekennzeichnet ist, zieht sich über die gesamte Ein-
Anke: ja. #00:00:33-7# gangssequenz hinweg. Darin zeigt sich außerdem, dass die
Gruppenmitglieder die Materialauswahl durchgängig ver-
bal explizieren und auf die Validierung der anderen warten
Gruppe D: Sequenz 1 bzw. sich rückversichern, bevor eine handlungspraktische
Umsetzung (Bereitlegen des Materials) erfolgt.
Nico: aber dafür müssn wir ja erst mal wissn was für ein Bei Gruppe D erfolgt die Bezugnahme auf die Materia-
Experiment wir machn; #00:02:00-7# lien zielgerichtet hinsichtlich der Experimentplanung, wie
Melanie: Genau; #00:02:01-3# der folgende Ausschnitt zeigt:
Nico: wir brauchn erst mal die Stoffe. (2) wir ham die-
#00:02:03-9# Gruppe D: Sequenz 2

Bei beiden Gruppen steht zunächst die (praktische) Aus- Nico: wir untersuchn das nicht auf verschiedene äh Tem-
wahl der zu verwendenden Materialien im Fokus. In Grup- peraturn? das(=s schon mal) unnötich? (2) das
pe C erfolgt das Zusammentragen der Materialen sehr de- heißt wir könnn theoretisch- #00:02:17-8#
tailliert. Die Durchführung des Experiments wird hinge- Melanie: M (.) kann man machn; kann man trotzdem
gen nur punktuell angesprochen (z. B. das Schneiden der doch machn. #00:02:21-1#
Kartoffel), sodass implizit ein geteiltes Verständnis darü- Ralf: Wi- wir könnn die Kartoffeln kochn. #00:02:22-
ber vorzuliegen scheint, wie die gemeinsam ausgewählten 1# (...)
Materialien benutzt werden sollen. Dabei ist die Interakti- Nico: Ja. dann kann man ja- äh man kann da wirklich
on durch einen parallelen Modus gekennzeichnet, der sich alles draus machn. was ich jetzt machn würde wäre
darin zeigt, dass die Proposition („Sollen wir dann erst- zum Beispiel (holt kurz Luft) einmal die Kartoffel
mal gucken, was wir benutzen?“) von Anfang an über die in Salzlösung? #00:02:38-4# (...)

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Melanie: Ah okay. dass wir einmal mal kuckn; wie die Suchraum zur Hypothesenbildung dar. Das materialbasier-
Kartoffel in der Salzlösung reag- also was da pas- te Vorgehen könnte u. a. auch durch die Vorgabe bedingt
siert, und einmal im Wasser. #00:02:47-8# sein, ein Experiment durchführen zu müssen, was aus stu-
Nico: genau. #00:02:48-2# (...) dentischer Sicht möglicherweise mit einer Priorisierung
Melanie: Das kann man auch;- ja okay. dann machn wir des praktischen Handelns gegenüber einer theoriegeleiteten
das; (so is gut) #00:02:52-2# Vorbereitung des Experimentierens verbunden ist. Ob es
sich beim materialbasierten Vorgehen um eine handlungs-
Im Transkriptausschnitt wird über die Notwendigkeit des leitende Orientierung der Gruppen handelt oder ob dieses
Erhitzens der Kartoffeln diskutiert. Die Gruppe interagiert Vorgehen durch die Aufgabenstellung hervorgerufen wird,
dabei in einem antithetischen Modus, da unterschiedliche muss hier zunächst offen bleiben. Insgesamt wird aber deut-
Positionen in den Elaborationen vorliegen. Während Nico lich, dass die Experimentierverständnisse in den Gruppen
den Gebrauch der Heizplatte als nicht notwendig erachtet, zwar nicht expliziert, aber während der Gruppenarbeiten
elaborieren Melanie und Ralf, dass man es „trotzdem doch“ stets mitverhandelt werden. Beim hypothesenbasierten Vor-
erhitzen könne. Nico erklärt im Weiteren, wie er vorgehen gehen liegt dahingehend ein geteiltes Verständnis darüber
würde, wobei er seinen Vorschlag im Konjunktiv formu- vor, dass es sich beim Experimentieren um einen formali-
liert und als „Beispiel“ rahmt. Dies wird durch die anderen sierten Prozess handelt, der mit der Hypothesenbildung zu
Gruppenmitglieder anerkannt, sodass sich auf ein Vorgehen beginnen habe. Dabei wird das dafür notwendige Vorwissen
verständigt wird. jedoch nur sporadisch hinzugezogen und dessen Bedeutung
Auch in den materialbasierten Gruppen wird die Not- für das Aufstellen von Hypothesen scheint den Studieren-
wendigkeit des Protokollierens jeweils thematisiert. In den nur bedingt klar zu sein. Dies zeigt sich dadurch, dass
Gruppe C erfolgt die Verschriftlichung analog zu ihrem fachliche Aspekte (Stärke, Wasserverlust) eher assoziativ
Vorgehen, indem das ausgewählte Material akribisch no- eingebracht werden. Das Experimentierverständnis beim
tiert wird („Materialien jetzt einmal hier aufschreiben“). materialbasierten Vorgehen bezieht sich hingegen auf ein
In Gruppe D liegt der Fokus beim Protokollieren hinge- praktisches Problemlösen. Bei beiden Vorgehensweisen
gen auf der Verschriftlichung der ermittelten Gewichte der – hypothesenbasiert und materialbasiert – wird sichtbar,
geschnittenen Kartoffelstücke. dass eine möglichst korrekte Art der Aufgabenerledigung
zentral ist, was sich in wiederholten (materialbasierten)
Vergewisserungen zeigt.
Diskussion Unsicherheiten während der Aufgabenbearbeitung konn-
ten für alle Gruppen auch durch den Gebrauch von um-
Unsere Untersuchung studentischer Experimentierprozesse gangssprachlichen Formulierungen rekonstruiert werden.
intendierte, das gruppenbezogene Forschen als soziale Pra- Dies kann zum einen allgemein auf die Konstitutionsphase
xis von Lehramtsstudierenden der Biologie zu analysieren. in studentischen (Arbeits-)Gruppen verweisen (Sacher et al.
Vergleichbar mit bereits vorliegenden, die Phasen von Ex- 2021). Zum anderen kann mit Blick auf die Aufgabenstel-
perimentierprozessen untersuchenden Studien (Arndt 2016; lung festgestellt werden, dass der fachliche Gegenstand des
Kambach 2018; Meier und Mayer 2012) deuten sich auch Experiments dort nicht weiter spezifiziert war. Den Stu-
bei den von uns rekonstruierten hypothesen- bzw. materi- dierenden wurde nicht vorgegeben, dass es um das Thema
albasierten Vorgehensweisen nicht-lineare, prozessüberlap- ,Osmose‘ ging, wodurch die Überlegungen zur Hypothe-
pende Verläufe an, da beim hypothesenbasierten Vorgehen sengenerierung in verschiedene Richtungen gehen konnten
die Hypothesenbildung zwar an den Beginn des Arbeitspro- (Stärke, Erhitzen, Wasserabgabe), was von uns im Sinne
zesses gestellt wird, allerdings mit Phasen der Material- einer offenen Aufgabenstellung bewusst gewählt worden
sichtung überlappt. Mit Ausblick auf den weiteren Verlauf war.
der Gruppenarbeiten kann beim materialbasierten Vorgehen Dabei fällt jedoch auf, dass entgegen der fachdidakti-
ebenfalls ein prozessüberlappender Verlauf aufgezeigt wer- schen Erwartung einer theoriegeleiteten Hypothesenbildung
den, da auch diese Gruppen später eine Hypothesenbildung (Nerdel 2017) zumindest in einem Fall eine unfokussier-
vornehmen. te und diffuse Praxis der Hypothesengenerierung sichtbar
Darüber hinaus zeigen sich Unsicherheiten in der Auf- wurde, bei welcher jegliche Hypothese ihre Berechtigung
gabenbearbeitung und beim experimentellen Problemlösen zu haben schien, um dann im Zweifelsfall widerlegt zu
insofern, dass die ,Richtigkeit‘ der Aufgabenerledigung werden. Diese Praxis zeigte sich, obwohl die Studierenden
– selbst beim hypothesenbasierten Vorgehen – über das be- (potenziell) an das im Studium erworbene Vorwissen an-
reitgestellte Material abgesichert wird. Das Material stellt knüpfen konnten. Dies steht den Ergebnissen von Sonnen-
somit zusätzlich zu dem in der Studie von Dunbar und Klahr schein et al. (2019) entgegen, die auch bei Studierenden das
(1988) genannten Vorwissen („memory“) einen weiteren Phänomen der „fear of rejection“ – also die Befürchtung,

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die aufgestellte Hypothese widerlegen zu müssen – fest- sichtlich der Förderung einer wissenschaftlichen Problem-
stellen konnten. Damit können Unfokussiertheit (Berechti- lösefähigkeit (Häkkinen et al. 2017; Mayer und Ziemek
gung jeglicher Hypothese) als auch „fear of rejection“ als 2006) gestellt werden, zeigt sich also für die Anfangsphase
zwei unabhängige Probleme bei der Generierung sowie der der von uns untersuchten Gruppen zunächst eine Orientie-
Weiterarbeit mit Hypothesen angesehen werden. Außerdem rung an der Erledigung der an sie gerichteten Aufgabe (vgl.
wurde in unserer Studie offenbar, dass kaum Gründe zur Asbrand und Martens 2018). Dies überrascht für eine didak-
Stützung der fachlichen Angemessenheit der Hypothesen tisierte Lernsituation insofern nicht, als dass die Gruppen
benannt wurden. Diese kaum stattfindenden Aushandlungen sich in der verfügbaren Zeit um eine finale Problembear-
der verschiedenen Orientierungskomponenten im antitheti- beitung bemühen (müssen). Dass dies auch für den Auf-
schen Modus könnten einerseits als Folge von unzureichen- gabentyp Forschendes Lernen gilt, verweist auf die Wirk-
den Fachkenntnissen verschiedener Gruppenmitglieder, an- mächtigkeit des die Situation präfigurierenden, hochschu-
dererseits aber auch als Strategie der Gruppeninstandhal- lischen Kontextes (vgl. Herzmann und Liegmann 2020).
tung gedeutet werden. In jedem Fall stehen die fehlenden, Dies ist auch deshalb interessant, da das Erhebungssetting
vertieften Aushandlungen der Hypothesen sowohl den Er- außerhalb eines regulären Seminars stattfand, die Studie-
wartungen an einen naturwissenschaftlichen Erkenntnispro- renden sich also zum einen freiwillig dafür gemeldet hat-
zess als auch der angenommenen unterstützenden Funktion ten, zum anderen keine Leistungsbewertung erfolgte. Dies
der Gruppenarbeit entgegen. Die Studierenden elaborieren kann auf eine besondere Motivation der Teilnehmer*innen
kaum die Vorschläge der anderen Gruppenmitglieder, son- hinweisen. Zugleich wird deutlich, dass trotz des bewer-
dern die verschiedenen Orientierungskomponenten bleiben tungsfreien Settings die Anbahnung einer möglichst origi-
entweder nebeneinander stehen oder es kommt zu Konklu- nären Forschungssituation auch im von uns untersuchten
sionen, ohne dass die einzelnen Beiträge untereinander ver- Fall Forschenden Lernens kaum gelingt. Dass die Experi-
handelt werden. Dabei stellt die Gruppe, die im parallelen mentiersituation von den Beteiligten unterschiedlich ausge-
Modus interagiert, die Ausnahme dar, allerdings verblei- staltet werden kann, zeigen die Rekonstruktionen der Grup-
ben die Aushandlungen dort auf Ebene der Materialaus- penarbeiten. Dass diese Lernsituation für die Studierenden
wahl, was als weniger kognitiv anspruchsvoll gelten kann aber nicht beliebig interpretierbar ist, deutet sich in unseren
und das gegenseitige Elaborieren erleichtern könnte. Be- Analysen ebenfalls an: Für die Studierenden sind mit der
züglich der unzureichenden Aushandlungen ist die von uns Gruppenarbeit im Kontext angeleiteten Forschenden Ler-
gewählte Aufgabenstellung (d. h. keine Vorgabe des zu un- nens sowohl die Anforderungen verbunden, sich als Bio-
tersuchenden Fachinhalts Osmose) insofern kritisch zu re- logiestudent*in kenntnisreich im Hinblick auf das gefor-
flektieren, da die Studierenden über eine vorgegebene fach- derte Experimentieren als auch sich als Kommiliton*in in
wissenschaftliche Einordung besser hätten an ihr Vorwissen einer Arbeitsgruppe als kompromissfähig zu zeigen. Ohne
anknüpfen und die Hypothesen mit mehr Orientierung in- diese ,Grundspannung‘ auflösen zu können, wäre wie be-
tensiver diskutieren können. Allerdings hätte eine solche reits angedeutet, weitergehend zu untersuchen, welche Art
Vorgabe den inhaltlichen „Spielraum“ in der Diskussion der Aufgabenstellung im Kontext angeleiteten Forschen-
stark eingeschränkt und vermutlich einen parallelen Inter- den Lernens das Potenzial hat, die intendierte naturwissen-
aktionsmodus befördert. Hinsichtlich der von uns gewähl- schaftliche Erkenntnisgewinnung hervorzubringen.
ten Aufgabenstellung muss weiterhin berücksichtigt wer-
Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt
den, dass diese von den Studierenden nicht explizit verlang- DEAL.
te, einen kausalen Zusammenhang (in unserem Fall: Salz-
konzentration zu Gewicht bzw. Größe der Kartoffelstücke) Interessenkonflikt P. Olschewski, P. Herzmann und K. Schlüter geben
an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
aufzustellen, sodass evtl. auch dadurch zu wenig Anleitung
für intensive Aushandlungen gegeben war. Weitergehend zu Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na-
untersuchen wäre deshalb, ob sich (a) bei anderen Aufga- mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nut-
zung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in
benformaten, bei denen z. B. fachinhaltliche und/oder aus- jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprüng-
handlungsbezogene Vorgaben gemacht werden, oder (b) bei lichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link
Experimentierprozessen in einem fortgeschritteneren Stadi- zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen
um der Lehramtsausbildung oder (c) beim Einsatz anderer vorgenommen wurden.
Erkenntnismethoden wie dem Vergleichen und Beobachten, Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial
bei denen kein kausaler Zusammenhang zu untersuchen ist unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern
sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be-
(vgl. Wellnitz und Mayer 2013), andere handlungsleitende
treffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz
Orientierungen der Gruppen zeigen. steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschrif-
Im Hinblick auf die weitreichenden Erwartungen, die an ten erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des
Forschendes Lernen und das eigene Experimentieren hin- Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

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Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Häkkinen, P., Järvelä, S., Mäkitalo-Siegl, K., Ahonen, A., Näykki,
auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. P., & Valtonen, T. (2017). Preparing teacher-students for twen-
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