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Aufgabe der Schule ist das Erteilen von Unterricht, damit Schülerinnen und
Schüler Lernziele erreichen, die aus gesellschaftlicher Sicht relevant sind. Von
Lernen war in den vorausgegangenen Kapiteln sehr ausführlich die Rede. Nun-
mehr soll die Antwort auf eine andere Frage gegeben werden. Wie läßt sich
feststellen, ob gelernt wird oder genauer, ob Lernen stattgefunden hat und was
gelernt worden ist? Mit dieser Frage werden diagnostische Aspekte in den
Blickpunkt gerückt. Da es um das Lernen im Bereich der Institution Schule
geht, spricht man auch von pädagogischer Diagnostik.
Mit Fragen der Diagnostik bzw. Überprüfung von Lernleistungen muß sich
der Lehrer bereits während der Planungsphase seines Unterrichts beschäftigen,
denn das von ihm ausgewählte Prüfungsverfahren bestimmt entscheidend mit,
was gelernt wird. Was der Lehrer in seinen Prüfungen von seinen Schülern
fordert, hängt von vielen Bedingungen ab. Wie Abbildung 7.1 darstellt, be-
rücksichtigen sowohl behavioristisch als auch konstruktivistisch orientierte
Lehrer – wozu sie im übrigen auch verpflichtet sind – bei der Auswahl und
Formulierung von Lernzielen zudem die Lehrplanrichtlinien. Entscheidend ist
jedoch ihre lerntheoretische Orientierung. Weiterhin beachten sie – auch das
ist ihnen gemeinsam – jeweils die aktuellen Lernvoraussetzungen ihrer Schü-
ler; allerdings verstehen Behavioristen darunter etwas anderes als Konstrukti-
392 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Abbildung 7.1:
Einige Schritte in der Planungsphase des Unterrichts
Das Ergebnis der ,,Reflektionen über den eigenen Unterricht“ sollte nach den
Vorstellungen von Robert Reiser und Walter Dick (1996) ebenfalls die Un-
terrichtsplanungen beeinflussen, denn die Ergebnisse der Lernzielüberprüfun-
gen könnten Anlaß bieten, die Anforderungen an die Schüler zu überdenken
und eventuell zu verändern.
Weisen die von Behavioristen einerseits und Konstruktivisten andererseits ent-
wickelten Vorstellungen von Unterricht etwa doch so viele Übereinstimmun-
gen auf, daß sie zu einer neuen Synthese zusammengeführt werden können?
Die Antworten auf diese Frage sind nicht einheitlich. Es gibt Stimmen, die
letztlich von der Unvereinbarkeit ausgehen (etwa Carroll, 1990). Andere Au-
toren dagegen halten die Zeit sehr wohl für gekommen, objektivistische und
konstruktivistische Elemente miteinander zu verknüpfen (z. B. Merrill et al.,
1990). Inwieweit das gelingen wird, läßt sich gegenwärtig noch nicht abschät-
zen. Wenn man aber erreichen möchte, daß der Unterricht verstärkt konstruk-
tivistische Vorstellungen verwirklicht, dann gibt es einen sehr aussichtsreichen
Weg, an dieses Ziel ziemlich schnell heranzukommen: Man ändert das schu-
lische Bewertungssystem (Elton & Laurillard, 1979). Formen und Inhalte der
im Klassenzimmer eingesetzten diagnostischen Verfahren üben nicht nur einen
starken Einfluß darauf aus, was Schüler lernen, sondern bestimmen zugleich
die Art und Weise, wie sie lernen (Crooks, 1988). Fordert man Schüler re-
gelmäßig dazu auf, vorwiegend Faktenwissen wiederzugeben, werden sie sich
bereits in den Lernphasen auf das Wiedergeben gespeicherter Informationen
konzentrieren. Sollten regelmäßige Lernzielüberprüfungen dagegen von ihnen
fordern, ihr Wissen zur Lösung von Problemen anzuwenden, die im alltägli-
chen Leben vorkommen, werden sie sich entsprechend darauf vorbereiten, in
Prüfungssituationen ,,authentische“ Aufgaben zu bearbeiten.
7.1 Prüfung von Wissen und Können aus objektivistischer Sichtweise des Lernens 393
Die Testpsychologie ist lange Zeit von den ,,Psychometrikern“ (s. S. 249) be-
stimmt worden, die ihre Wurzeln u. a. in den Arbeiten von Sir Francis Galton
und Edward Terman haben. Über viele Jahrzehnte bestimmten sie mit ihren
Tests wesentlich die Vorstellungen von dem mit, was man Intelligenz nannte.
Diese Tests verwendeten einen sozialen Vergleichsmaßstab. Ein solcher er-
möglicht es, die Leistungen des einzelnen mit denen einer Vergleichsgruppe
(etwa Schüler gleichen Alters oder gleicher Schulstufe) in Beziehung zu set-
zen. Diese klassischen Prüfinstrumente gehen von einer Theorie interindivi-
dueller Differenzen aus, die darauf zielt, Lernende in eine relativierende Rang-
ordnung zu bringen, anstatt klare (normierende) Standards oder Erwartungen
zu bestimmen. ,,Herausragendes (excellence) ergibt sich daraus, ob ein Ge-
prüfter andere Prüflinge überragt“, stellt Catherine Taylor (1994) zutreffend
fest. Einer der ersten, der die vorherrschenden Tests mit sozialen Bezugsnor-
men kritisierte, war bereits im Jahre 1963 Robert Glaser. Er machte darauf
aufmerksam, daß solche Verfahren nur dazu genutzt werden können, Vorher-
sagen über zukünftige Leistungen abzugeben und Selektionen vorzunehmen.
Er wandte sich mit seinem heute als klassisch geltenden Aufsatz (,,Instruk-
tionale Technologie und die Messung von Lernergebnissen: Einige Fragen“)
an Pädagogen und Psychologen mit dem Appell, zur Erfassung schulischen
Lernens keine normbezogenen Tests mehr zu verwenden, denn sie könnten
keinerlei Aufschlüsse über Lernfortschritte geben. Das Testergebnis bestand
– so seine Argumentation – in der Regel aus einer Zahl, mit der die relative
Position eines Geprüften zur entsprechenden Gruppe angegeben wurde. Was
die Gruppe nun aber gelernt hatte, blieb unklar. Daher konnten weder Lehrer
noch Schüler erkennen, welche Lerndefizite eventuell bestanden und wie sich
ihnen entgegenwirken ließ. In die Schule sollten Tests Einzug halten, die Gla-
ser als ,,kriteriumsbezogen“ kennzeichnete. ,,Der Punktwert eines Schülers in
einer kriteriumsbezogenen Messung“, so erläuterte er, ,,liefert explizite Infor-
mationen darüber, was ein Schüler tun kann und was er nicht tun kann.“ Man
sollte den einzelnen Schüler also nicht mehr mit anderen vergleichen, sondern
mit extern definierten Kriterien, um an diesen dann persönliche Stärken und
Schwächen zu identifizieren, um ihn besser fördern zu können.
394 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Da die Diskussion über Lernziele und ihre Funktion für die unterrichtliche
Arbeit zunächst wesentlich von behavioristisch orientierten Pädagogen und
Psychologen bestimmt worden ist, schätzte man die Förderungsmöglichkeiten
für Kinder optimistisch ein. Ein Beispiel für einen solchen Optimismus lieferte
Jerome Bruner (1966) mit der Behauptung, daß ,,jeder Stoff jedem Kind in
jedem Stadium der Entwicklung in intellektuell redlicher Weise wirksam ver-
mittelt werden kann“.
Hinter solchen Äußerungen stand die in den 1960er und 1970er Jahren weit
verbreitete Überzeugung, daß der Weg zum Ziel Schritt für Schritt durch die
Umwelt, also durch den Lehrer, zu kontrollieren sei. Ebenso bestanden keine
Zweifel, daß sämtliche Schüler, die ein Lernziel erreicht haben, über das glei-
che Können oder Wissen verfügen; beides müßte aber zunächst durch geeig-
nete Lernzielkontrollen überprüft werden. Vor diesem theoretischen Hinter-
grund entstand die Forderung, ,,operationalisierte Lernziele“ zu formulieren;
es sollten bereits in der Planungsphase des Unterrichts sehr genaue Festlegun-
gen über die Ziele erfolgen. Das rief aber, wie zu erwarten, heftige Kritik
hervor. Einige Einwände gipfelten sogar in dem Vorschlag, auf die Aufstellung
explizit formulierter Lernziele ganz zu verzichten. Es ist klar, daß auch solche
Extrempositionen auf Ablehnungen stoßen mußten, denn ,,der Versuch, zu
unterrichten und zu beurteilen ohne Zieldefinition, entspricht dem Aufbruch
zu einer Reise, ohne zu wissen, wohin man will. Es mag für einige Zeit ganz
reizvoll sein, umherzuwandern; es muß jedoch bezweifelt werden, ob ohne
Richtungskenntnisse irgendwelche Fortschritte zu erzielen sind“ (Noll, 1965).
Traditionell wird die Diskussion, die Lernziele zum Inhalt hat, innerhalb der
Schulpädagogik geführt (Näheres siehe z. B. Köck, 1995). Dabei geht es u. a.
um die Klärung der Frage, wer legitimiert ist, Lernziele zu bestimmen oder
um die Auslotung von Möglichkeiten, wie diese angemessen zu formulieren
oder zu klassifizieren sind. Im folgenden sollen nur einige Aspekte dieser
Diskussion wiedergegeben werden. In knapper Form wird begründet, warum
sich an der Lernzieldiskussion auch Pädagogische Psychologen beteiligen.
7.1 Prüfung von Wissen und Können aus objektivistischer Sichtweise des Lernens 397
Abbildung 7.2:
Eine geläufige Art der Darstellung von Lernzielen unterschiedlicher Abstraktheit
und deren unterrichtspraktische Konsequenzen
398 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Allgemeines Lernziel:
Der Lernende versteht die Bedeutung des Begriffs ,,Verstärkung“.
Diese allgemeine Definition legt durch ihren Leitcharakter fest, welche Kate-
gorie von Aufgaben die Schüler nach Erreichung des Lernziels bewältigen
sollten. Wegen des hohen Allgemeinheitsgrades der wiedergegebenen Lern-
zielformulierung ist die Anzahl verschiedener Aufgaben, die sich daraus ab-
leiten lassen, notwendigerweise sehr groß. In einem weiteren Schritt hat der
Lehrer deshalb zu entscheiden, welche Komponenten des allgemeinen Ziels
,,Verstehen“ ihm wichtig erscheinen. Seine Überlegungen führen ihn mögli-
cherweise zur Festlegung folgender untergeordneter Ziele (oder Subziele, nach
Gronlund, 1978, 1991):
402 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Subziel A: Der Lernende definiert den Begriff Verstärkung mit seinen ei-
genen Worten.
Subziel B: Die Bedeutung des Begriffs wird durch seine Verwendung in
einem sinnvollen Zusammenhang erfaßt.
Subziel C: Der Lernende kann zwischen Begriffen unterscheiden, die sich
in ihrer Bedeutung ähneln (etwa positive und negative Verstär-
kung).
Mit dem ,,Definieren eines Begriffes mit eigenen Worten“ oder dessen ,,Ver-
wendung in einem sinnvollen Zusammenhang“ sind aus dem allgemeinen
Lernziel jeweils spezifische Aspekte herausgegriffen worden. Es sind Subziele
entstanden.
Gronlunds System gibt dem Lehrer Freiraum, den ihm die operationalisierten
Lernziele nicht gewähren. Dem Lehrer wird nämlich nicht die Aufgabe auf-
gebürdet, eine große Anzahl von Lernzielen zu formulieren, die letztlich wegen
ihrer Enge in der Regel nur unbedeutende Kleinigkeiten zum Inhalt haben.
Gronlund hat sich mit seinen Vorstellungen deshalb stärker in der Lehreraus-
bildung durchsetzen können als Mager.
Neben den Bemühungen, Regeln für die Definition von Lernzielen darzustellen
und zu begründen, gab es Vorschläge, Lernziele in eine Ordnung zu bringen.
Der bekannteste Versuch dieser Art geht auf Benjamin Bloom zurück. Bloom
reagierte u. a. auch auf die mehrfach belegte Feststellung, daß viele Lehrer
Lernziele bevorzugen, die lediglich Wissen zum Gegenstand haben.
7.1 Prüfung von Wissen und Können aus objektivistischer Sichtweise des Lernens 403
Der Einfluß, den die Taxonomie von Bloom auf die Unterrichtsarbeit genom-
men hat, ist beeindruckend. Die Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Be-
reich wurde in mehr als sechs Millionen Exemplaren verkauft (Kreitzer &
Madaus, 1994) und in wenigstens 18 Sprachen übersetzt (Bloom, 1994). Aus
heutiger Sicht verdienen Blooms Vorstellungen Kritik, aber man sollte seine
Taxonomie dennoch nicht einfach ignorieren, denn sie hat für Jahrzehnte die
Unterrichtspsychologie sowie die Entwicklung von Schultests beeinflußt.
dann häufig mit einer tiefen Ablehnung von Mathematik und Rechnen
einher (s. S. 130f.). Mit ihrer bereits in der Schule erworbenen Voreinstel-
lung besuchen sie später – vielleicht inzwischen als Studierende – u. a.
Kurse in Statistik. Ihre vermutete Unfähigkeit zeigt sich bisweilen in merk-
würdiger Weise. So können sie beispielsweise ohne Schwierigkeiten mit-
teilen, wieviel Geld ihnen ,,durchschnittlich“ zur Verfügung steht. Sie wer-
den dagegen ratlos, wenn sie einen Mittelwert auszurechnen haben. Hier
ist mit dem Verfehlen eines kognitiven Ziels ein ganzes Bündel affektiver
Ziele – besser Folgeschäden – erreicht worden.
Solche Schwierigkeiten hatten David Krathwohl, Benjamin Bloom und Ber-
tram Masia (1964) sicherlich im Blick, als sie sich an die Aufgabe machten,
eine Taxonomie der Lernziele im affektiven Bereich zu erarbeiten, denn sie
stellten fest: ,,Wir erkennen ... an, daß ... von Lehrern, Curriculumspezialisten
und Forschern noch viel getan werden muß, bevor dieser Bereich ebenso gut
verstanden wird wie gegenwärtig der kognitive Bereich.“
Die von Krathwohl und Mitarbeitern erstellte Taxonomie affektiver Lernziele
läßt ebenfalls eine hierarchische Anordnung erkennen; dabei wird das Merk-
mal des Engagiertseins für eine Sache variiert, d. h., es erfolgt eine Unter-
scheidung danach, wie stark man von einer Gegebenheit angesprochen wird
und sich für die Bewältigung solcher Aufgaben einsetzt, die sich daraus er-
geben. Die fünf Hauptkategorien mit ihren jeweiligen Unterteilungen lauten
wie folgt (Krathwohl et al., 1964):
Tabelle 7.1:
Taxonomie der Lernziele: Der affektive Bereich
1. Aufnehmen 1.1 Aufmerksam werden
1.2 Aufnahmebereitschaft
1.3 Gerichtete oder selektive Aufmerksamkeit
2. Reagieren 2.1 Einwilligendes Reagieren
2.2 Bereitschaft zum Reagieren
2.3 Befriedigung beim Reagieren
3. Werten 3.1 Akzeptierung eines Wertes
3.2 Bevorzugung eines Wertes
3.3 Bindung an einen Wert
4. Wertordnung 4.1 Internalisierung eines Wertes
4.2 Aufbau einer Wertordnung
5. Bestimmtwerden 5.1 Verallgemeinertes Wertsystem durch Werte
5.2 Bildung einer Weltanschauung
Wenn ein Schüler im Rahmen des Unterrichts beispielsweise mit der Umwelt-
verschmutzung (s. hierzu Ringness, 1975) konfrontiert werden soll, dann wür-
de ihm auf der ersten Ebene der Taxonomie (,,Aufnehmen“) lediglich gewahr,
daß ein solches Problem existiert; eine Re-Aktivierung von Begleitgefühlen
erfolgt noch nicht. Auf der Ebene 1 wird die Bereitschaft geweckt, darüber
mehr zu erfahren und die Aufmerksamkeit auf die dargebotene Information
zu richten.
408 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Auf der zweiten Ebene (,,Reagieren“) beginnt der Aufbau eines eigenen Stand-
punktes. Dabei mag der Schüler zunächst noch die Meinung von relevanten
Bezugspersonen (Eltern, Lehrer) übernehmen und wiedergeben. Er kann aber
mit dem Eintreten für einen Standpunkt bereits eine gewisse Befriedigung
erfahren.
Auf der dritten Ebene (,,Werten“) lassen sich eigene Meinungen erkennen,
für die der Schüler vielleicht in Diskussionen eintritt. Die Meinungen verfe-
stigen sich zu Überzeugungen. Der Schutz der Umwelt wird als erstrebenswert
erkannt. Es besteht eine gesteigerte Bereitschaft, aktiv nach Lösungen für ein
als relevant erachtetes Problem zu suchen.
Auf Ebene vier (,,Wertordnung“) wird der Gedanke des Umweltschutzes als
eigenständiger Wert erkannt und in die eigene Wertordnung, eventuell mit
einer gewissen Priorität, übernommen.
Es ist schließlich auf der höchsten Ebene (,,Bestimmtwerden“) möglich, daß
der Umweltschutz mit anderen Gegebenheiten – etwa mit der Forderung nach
Achtung der Menschenrechte – in Beziehung gesetzt wird. Es hat sich eine
Weltanschauung herausgebildet, und ihr Träger kann bereit sein, für diese
aktiv einzutreten.
Es ist selbstverständlich sehr viel einfacher, die einzelnen Ebenen begrifflich
voneinander zu trennen. Im praktischen Alltag dürfte es dagegen erhebliche
Unsicherheiten bereiten, wenn entschieden werden soll, ob ein Lernender sich
zunächst nur einer Meinung angeschlossen hat oder ob er sich bereits einem
Wert verpflichtet fühlt. Eine klare Differenzierung zwischen den einzelnen
Ebenen gehörte jedoch noch nicht zu den Zielsetzungen der Pionierarbeit von
Krathwohl und seinen Mitarbeitern. Man wollte vor allem die Aufmerksamkeit
auf ein Gebiet lenken, das in der Schule zumeist vernachlässigt wird und
hoffte sicherlich, daß das Anliegen der Autoren weitere (Forschungs-)Aktivi-
täten in Gang setzen würde.
Bloom und seine Mitarbeiter ließen sich von der Annahme leiten, daß die
Lernziel-Klassen eine hierarchisch-kumulative Ordnung repräsentieren. ,,So
wie wir sie definiert haben, werden die Ziele in einer Klasse wahrscheinlich
auf den Zielen der vorhergehenden Klasse aufbauen.“ Damit ist gleichzeitig
die Vermutung verbunden, daß die einzelnen Kategorien nach wachsender
Komplexität geordnet sind. Auf der Grundlage einschlägiger Untersuchungen
(Kropp et al., 1966; Madaus et al., 1973, Seddon, 1978) läßt sich feststellen,
daß für die Kategorien Kenntnisse, Verstehen, Anwendung und Analyse die
genannte Hypothese – wenn auch nicht sehr überzeugend (de Corte, 1980) –
tatsächlich eher zu bestätigen als zurückzuweisen ist. ,,Die Ordnung der hö-
heren Kategorien hingegen, namentlich Synthese und Evaluation, wirft man-
cherlei Fragen auf“ (de Corte, 1980). Die Unsicherheiten, die in diesen Zitaten
zum Ausdruck kommen, sind vermutlich darauf zurückzuführen, daß Bloom
und Mitarbeiter von einer allgemeinen Fähigkeit zur Lösung von Problemen
ausgehen (siehe oben). Darauf weisen auch William Rohwer und Kathryn
Sloane (1994) mit folgender Feststellung hin: ,,Die Organisation des Lernens
hängt von der Struktur des zu lernenden Problembereichs ab.“ Die beiden
Autoren sind sich der ,,dramatischen“ Folgen dieser Feststellung sehr wohl
bewußt. Wenn sie nämlich tatsächlich zutreffen sollte – und daran ist aus
410 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
Skinner hatte sich dafür ausgesprochen, daß jeder Lernschritt nur geringe An-
forderungen an Lernende stellen durfte, denn er vertrat die Überzeugung, daß
Mißerfolge unbedingt vermieden werden müssen. In der Praxis zeigte sich
jedoch sehr bald, daß Skinner nicht allen Schülern mit seinem Programm ge-
recht wurde. Einigen Schülern gelang die Bearbeitung sehr viel schneller als
anderen. Die Unterforderten verloren aus diesem Grund sehr bald die Moti-
vation. Es wurde deshalb auf die Notwendigkeit hingewiesen, interindividu-
ellen Differenzen der Schüler besser Rechnung zu tragen.
Skinner und Crowder gehen bei ihren Überlegungen von einem passiven Ler-
nenden aus, denn letztlich bestimmt ausschließlich das nach ihren Vorgaben
entwickelte Lernprogramm, welcher Weg zu gehen ist, damit das jeweilige
Lernziel erreicht werden kann. Der Lernende hat lediglich nach jedem
,,Schritt“ mitzuteilen, ob er das an ihn herangetragene Wissenselement ,,in
sich aufgenommen“ hat. Alle Bearbeiter des Programms folgen letztlich dem
gleichen, von außen bestimmten Weg zum Ziel, wenngleich Crowder seinen
Lernenden die Möglichkeit bietet, den steilen Weg zum Ziel etwas abzufla-
chen, indem er zwischen einzelnen Stationen – um im Bild zu bleiben – Ser-
pentinen anlegt, die jeden Bearbeiter immer wieder systematisch zum kürze-
sten, steilsten Weg zurückführen. Nach jeder Lerneinheit erfolgt eine Prüfung,
ob diese einzelnen Lernziele bewältigt worden sind.
Jede Prüfung setzt zweierlei voraus: eine Messung und eine Bewertung.
7.2 Merkmale traditioneller Methoden der Leistungsbewertung: Zensuren und Tests 413
Aus behavioristischer Sicht des Lernens hat der Lehrer dafür Sorge zu tragen,
daß seine Schüler über einen Lernweg Ziele erreichen. Beim Lernweg handelt
es sich um eine vom Lehrer vorgegebene und kontrollierte Schrittfolge. Wenn
man Lernende diesen Weg gehen läßt, wird man die Erfahrung machen, daß
einige auf ihrem Weg zum Ziel schneller vorankommen als andere. Mögli-
cherweise wird das Ziel auch nicht von allen erreicht. Wie lassen sich solche
Unterschiede zwischen den Schülern bewerten? Ein Vergleich mit Beobach-
tungen beim Wettlauf mag für die Klärung dieser Frage hilfreich sein. Auch
dabei versuchen sämtliche Schüler, sich auf derselben Strecke dem Ziel zu
nähern. Da aber Laufen an sich nicht als hinreichend motivierend angesehen
wird, stellt man als Anreiz eine Bewertung in Aussicht. Diese ist an eine
Leistungsmessung gebunden. Durch eine Messung erfolgt zumeist die nume-
rische, aber auch die sprachliche Beschreibung eines Ereignisses oder eines
Merkmals, wobei meistens höhere numerische Werte (Zahlenangaben, etwa
beim Weitsprung, z. B. 1.m < 2.m < 3.m) höhere Merkmalsausprägungen an-
zeigen (beim Wettlauf würden demgegenüber geringere Werte, etwa 10.sec <
9.sec < 8.sec usw. höhere Merkmalsausprägungen anzeigen). Die Messung
soll eine Antwort auf die Fragen ,,wieviel?“, ,,wie sehr?“ oder ,,wie oft?“
geben (Gronlund, 1993). Wieviel Zeit benötigen Schüler, um 100.m zu laufen?
Sollte als Ergebnis der Meßwert ,,13 Sekunden“ vorliegen, ist zwar eine Zahl
ermittelt worden. Sie hat aber für sich genommen wenig Aussagekraft. Man
möchte die Laufleistung des Schülers nämlich in der Regel bewerten: Hat er
eine ,,gute“ Leistung erbracht? Die Antwort setzt die Auswahl eines Maßsta-
bes voraus. Anhand des bereits genannten, auf die ,,Normalität“ (sozial-)be-
zogenen Maßstabes, läßt sich beispielsweise die von einem Schüler auf einer
Strecke von 100 Metern gezeigte Laufleistung mit denen seiner Mitschüler
oder auch mit denen seiner Altersgruppe vergleichen. Die daraufhin getroffene
Feststellung, der Schüler habe im Vergleich zu seinen Mitschülern ,,die beste“
Leistung oder eine ,,durchschnittliche“ Leistung erbracht, stellt eine Bewer-
tung dar. Bei Rückgriff auf einen individuellen Bezugsmaßstab ist noch eine
zweite Art der Bewertung möglich: Der Schüler habe sich selbst gegenüber seinen
eigenen früheren Leistungen verbessert; so könnte er die 100 Meter in der Ver-
gangenheit in der Zeit von 13,8 und 13,2 Sekunden zurückgelegt haben, die er
nunmehr (s. o.) unterbietet. Schließlich ist auf dem Sportplatz auch eine kriteri-
umsbezogene Bewertung möglich, etwa im Falle eines Auswahlwettkampfes. Da-
nach dürften beispielsweise nur solche Schüler an einem weiteren Lauf teilneh-
men, die höchstens 13 Sekunden für die Strecke von 100 Metern benötigt haben.
Auch im Klassenzimmer fällt dem Lehrer die Aufgabe der Messung und Beur-
teilung (in Form einer Notengebung) zu. Allerdings werden in der schulischen
Praxis, wie Eiko Jürgens (1997) feststellt, ,,Leistungsmessung und -bewertung so
gut wie gar nicht getrennt“. Der Kritik an der Meßgenauigkeit der herkömmlichen
Zensurengebung schloß sich die Forderung an, das Lehrerurteil durch die Ergeb-
414 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
etwas einfließt, was gar nicht diagnostiziert werden sollte; das jedoch ist ein
Problem, das die Gültigkeit betrifft.
Testpsychologen stehen also vor einem echten Dilemma: Üblicherweise sind Pro-
blemsituationen im natürlichen Kontext nicht nur komplex, sondern zudem auch
unklar definiert (s. S.274). Hohe Anforderungen an die Zuverlässigkeit von Prü-
fungen lassen sich aber nur erfüllen, wenn Fragen gestellt werden, auf die mit
vorhersagbaren Antworten zu reagieren ist. Dieses Ziel läßt sich leicht mit Hilfe
von Problemsituationen prüfen, die in der Realität kaum vorkommen. Im Vor-
dergrund der Kritik stehen zwar die Tests, aber ebenso Prüfungen, die formales
Wissen abfragen. Ihren Ergebnissen läßt sich nicht entnehmen, ob Schüler in der
Lage sind, ihr Wissen auch sinnvoll anzuwenden. Um das herauszufinden, müssen
in Prüfungen Aufgabensituationen geschaffen werden, die weitestgehend denen
der Wirklichkeit entsprechen (Wiggins, 1993). Es bedarf einer entsprechenden
Formulierung von Prüfungsaufgaben. Zusätzlich wird vielfach gefordert, daß Ler-
nende kooperativ an Projekten arbeiten, anstatt unabhängig voneinander in Wett-
streit zueinander zu treten (Archbald & Newman, 1992).
Grant Wiggins (1993) zeigt an einer Aufgabe aus dem Begleitheft eines
Schultests, wie sie nicht formuliert werden sollte: Dem Schüler wird in
diesem Beispiel keine Textaufgabe gestellt, sondern unter anderem die Auf-
gabe, eine genaue Messung der Wassertemperatur vorzunehmen. Von ihm
wird somit gefordert, den Meßwert durch Tun zu ermitteln. Aber, so fragt
Wiggins kritisch, zu welchem Zweck? Niemand führt im Alltagsleben Mes-
sungen im allgemeinen durch. Man interessiert sich statt dessen für die
Höhe der Körpertemperatur oder bestimmt, welche Temperatur der Braten
im Backofen hat. Zweck und Kontext sind wesentliche Bestandteile all-
täglicher Messungen. Bei der Überprüfung der Schülerantworten wird der
7.3 Prüfen von Wissen und Können aus konstruktivistischer Sichtweise des Lernens 425
ste Zeit erwarten ließen. Am Ende des Schuljahres wurde die Testprüfung
wiederholt. Dabei zeigte sich, daß die ursprünglich per Zufall ausgewählten
Schüler im Vergleich zu den übrigen Schülern tatsächlich verhältnismäßig
große Leistungsfortschritte erzielt hatten.
Rosenthal und Jacobson weckten zunächst den Eindruck, man brauche ei-
nem Lehrer angeblich durch Tests abgesicherte (aber tatsächlich gefälsch-
te) Leistungsprognosen über Schüler nur mitzuteilen, und dieser wäre so-
fort bereit, sie sich zu eigen zu machen, auch wenn sie seinen eigenen
Erfahrungen widersprechen sollten. Diese Auffassung wird inzwischen
nicht mehr geteilt. Vielmehr hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß
Lehrer aufgrund ihrer alltäglichen Kontakte mit ihren Schülern sehr wohl
in der Lage sind, sich zutreffende Eindrücke von ihren Schülern zu ver-
schaffen (Brophy, 1983). Schüler erfüllen nach dieser empirisch abgesi-
cherten Überzeugung zwar im Verlauf des Schuljahres die Erwartungen
ihrer Lehrer, aber vor allem deshalb, weil deren Erwartungen in hohem
Maße den Leistungsfähigkeiten der Schüler gerecht werden (Jussim, 1991;
Jussim & Eccles, 1992).
Die alternative pädagogische Diagnostik ist nicht nur auf das vom Schüler
vorgelegte Produkt gerichtet, sondern bewertet ebenso das Denken, das hinter
seiner Arbeit steht, also den Prozeß (Wiggins, 1989; Wolf, 1989). Diese Dia-
gnostik setzt bereits an, wenn Schüler herausgefordert werden, ihr Vorwissen
darzustellen, um sich ein ihnen dargestelltes Ereignis zu erklären (s. S. 305f.).
An diesem Prozeß ist der Lernende ebenso aktiv beteiligt wie sein Lehrer.
Aber diese Diagnostik erschöpft sich nicht darin, dem Schüler etwas zu zeigen,
damit dieser Gelegenheit erhält, sich mit dem Beobachteten sprachlich aus-
einanderzusetzen. Der Lernende kann ebenso gebeten werden, einen Aufsatz
zu schreiben, eine Unterhaltung in einer Fremdsprache zu führen, ein wissen-
schaftliches Experiment durchzuführen, ein Projekt zu Ende zu bringen, mit-
geteilte Äußerungen zu verteidigen oder vor anderen zu erklären, wie er eine
Mathematikaufgabe gelöst hat. Dazu gehört weiterhin das Zusammenstellen
eines sogenannten Portfolios. Gemeinsam ist all diesen Aktivitäten, die wich-
tige diagnostische Aufschlüsse geben,
– daß Schüler motiviert werden, etwas zu tun oder herzustellen;
– daß sie Aufgaben gestellt bekommen, die anspruchsvollere Denk- und Pro-
blemlösungsprozesse als Aufgaben herkömmlicher Prüfungsinstrumente
herausfordern, die
– eine Anwendung des Gelernten auf das Alltagsleben fordern (Herman et
al., 1992).
den und folglich unter seiner Kontrolle (s. S. 23f.). Der Konstruktivist geht
demgegenüber davon aus, daß jeder Lernende vor dem Hintergrund seiner
besonderen Erfahrung einen eigenen Weg geht. Nur der Lernende selbst kann
helfen, sein Vorwissen darzustellen und das heißt, anderen auf sprachlichem
Wege mitzuteilen, welche Schemata er in Anspruch nimmt, um einen vorlie-
genden Sachverhalt zu erklären.
Die Notwendigkeit, ein Kind zur Darstellung seines Vorwissen zu veran-
lassen, hat bereits Jean Piaget erkannt. Er nutzte dazu die ,,klinische Me-
thode“, die von Experimentalpsychologen wegen ihrer mangelnden Objek-
tivität als unzureichende Grundlage für die Analyse des Wissens und Den-
kens der Versuchspersonen angesehen worden ist. Diese Kritiker haben
allerdings übersehen, daß es niemals gelingen kann, das ausschließlich dem
jeweiligen Lernenden zugängliche Wissen durch objektive Methoden zu
erfragen. Piaget war seinen Kritikern bezüglich dieser Grundeinsicht weit
voraus.
Piaget setzte die klinische Methode ein, um Hinweise auf die kognitive
Struktur seiner jungen Versuchspersonen zu erhalten. Er baute zunächst
eine Problemsituation auf, um seinen jungen Beobachtern dazu anschlie-
ßend Fragen stellen zu können. Sobald das Kind geantwortet hatte, folgte
eine weitere Frage. Zusätzlich veränderte er die ursprüngliche Problemsi-
tuation in systematischer Weise, um sich ein möglichst umfassendes Bild
von dem kindlichen Verständnis verschaffen zu können. Eine Schwierig-
keit, über die sich Piaget sehr wohl im klaren war, bestand darin, daß seine
Fragen keinen Suggestivcharakter haben durften, d. h., sie sollten das Ant-
wortverhalten des Kindes so wenig wie möglich beeinflussen. Besonders
jüngere Kinder besitzen nämlich eine ausgeprägte Neigung, das in ihren
Antworten wiederzugeben, was der Fragende nach ihrer Einschätzung ger-
ne hören möchte. Weiterhin bemühte sich Piaget der Versuchung zu ent-
gehen, mehr zu sagen, als seine diagnostischen Befunde es rechtfertigten.
Diese Zurückhaltung ist nach Piagets Überzeugung erst durch ein spezielles
Training zu erreichen; er selbst rechnete ,,mindestens mit einem Zeitraum
von einem Jahr täglicher Praxis, bevor der Anfänger über das unvermeid-
liche Stadium eines ungeschickten Herumtastens hinauskommt“ (nach Fla-
vell, 1963).
Ein Beispiel für Piagets klinische Methode ist bereits gegeben worden (s.
S. 84). Hier folgt ein weiteres mit einem sieben Jahre alten Kind namens Pie,
mit dem sich der Experimentator (E) unterhält, um herauszufinden, welches
Verständnis es von der Masse besitzt.
E: Hier siehst du zwei kleine Bälle. Ist in diesem genausoviel Teig
wie in diesem hier?
Pie: Ja.
E: Nun sieh genau her. (Der Experimentator formt aus einem der Bälle
eine Wurst.)
Pie: Die Wurst hat mehr Teig.
7.3 Prüfen von Wissen und Können aus konstruktivistischer Sichtweise des Lernens 429
ben, mehr lernen als andere, die sich meist erst nach längeren Intervallen
solchen Prüfungen unterziehen müssen (Bangert-Drowns et al., 1991, Kika et
al., 1992). Kennzeichnend für einen traditionellen Unterricht ist, daß sich in
der Regel klar unterscheiden läßt, ob sich ein Schüler zu einem aktuellen
Zeitpunkt in einem Lehrabschnitt (in dem günstigstenfalls Lernprozesse statt-
finden) oder in einem Überprüfungsabschnitt befindet. Die Unterscheidung
bleibt in einem Unterricht konstruktivistischer Orientierung nicht mehr durch-
gängig erhalten.
Die enge Verknüpfung von Lernen, Überprüfen und Bewerten kommt beson-
ders deutlich zum Ausdruck, wenn herausragende Künstler eines Faches ihren
talentierten Schülern bei der Arbeit zuschauen und ggf. zusätzlich zuhören,
um ihnen immer wieder Anregungen zu geben, wie sie ihre Darstellung noch
verbessern können. Sie berücksichtigen dabei, daß es nicht einen einzigen, für
jeden Künstler zu übernehmenden Weg zum Erfolg gibt. Stets werden die
individuellen Besonderheiten des einzelnen berücksichtigt. Von der Möglich-
keit zur Durchführung einer derartig intensiven Betreuung eines ,,Lernprozes-
ses“ muß man sich in einer Schule der Gegenwart um so mehr entfernen, je
größer die aufgrund finanzieller Einschnitte verordneten Klassen werden. Eine
Gesellschaft, die solchen Verordnungen nicht entschieden entgegentritt, läßt
sich offenbar von der äußerst fragwürdigen Annahme leiten, daß nur die ,,Mei-
sterschüler“ einer derartig intensiven Zuwendung bedürfen.
Etwas ähnliches findet sich in einem Unterricht konstruktivistischer Orientie-
rung. Der Schüler wird herausgefordert, sein aktuelles Verständnis eines Zu-
sammenhanges in Worte zu fassen und dieses anderen mitzuteilen. Dieses
,,Nach-außen-hin-Darstellen“ ist aber stets zweierlei: eine Förderung des ei-
genen Verständnisses aber ebenso eine Voraussetzung dafür, daß andere (wei-
tere anwesende Lernende und der Lehrer) sich damit kritisch auseinanderset-
zen können, um damit dem Lernenden Anregungen zu geben, sein Verständnis
weiter zu vertiefen. Wie eng Lernen und (Selbst-) Überprüfung miteinander
verknüpft sind, läßt sich auch studieren, nachdem man Schüler angeregt an,
sich eine Sammlung von Portfolios anzulegen.
Der Begriff Portfolio entstammt dem Finanzbereich. Dort versteht man dar-
unter laut Brockhaus (1996) ,,eine Kapitalanlage in langfristigen Wertpapieren
..., die von der erwarteten Rendite und/oder der Aussicht auf Kursgewinne
bestimmt wird“. Könnte man nicht aber ebenso davon ausgehen, daß auch die
Ausbildung von Kindern eine Kapitalanlage darstellt, die sich langfristig vor
allem für den Geförderten selbst, letztlich aber auch für die Gesellschaft, deren
Mitglied er ist, ,,auszahlen“ sollte? Wenn man sich einer solchen Sichtweise
anschließen kann, stellt sich die Frage, wie sich der ,,Kursgewinn“ dieser
,,Anlage“ erfassen läßt. Die Antwort lautet, daß man dazu nur die vom Schüler
erbrachten Leistungen im Längsschnitt vergleichen muß. Es ist vor allem die-
ser erwünschte Vergleich, der sich erreichen läßt, wenn man den Lernenden
zur Anlage eines Portfolios anregt, denn dabei handelt es sich um eine ,,plan-
mäßig angelegte Sammlung von Schülerarbeiten, die Bemühungen, Fortschrit-
te und Leistungen eines Schülers in einem oder mehreren Fächern dokumen-
tiert“ (Paulson et al., 1991). Portfolios sind hervorragend geeignet, das Vor-
ankommen eines Schülers im Rahmen des Unterrichts zu dokumentieren, und
zwar unabhängig von seinen Mitschülern (Wolf, 1989). Die Zusammenstellung
der im Portfolio enthaltenen Beiträge hat stets unter Mitwirkung des Schülers
zu erfolgen, d. h., dieser muß für deren Berücksichtigung Kriterien angeben
können und gleichzeitig Hinweise geben, daß er sich bei seiner Auswahl Ge-
danken macht und Selbstbewertungen vorgenommen hat.
Eine Chance, Bestandteil dieser individuellen Dokumentation von Stationen
im Lernfortschritt zu werden, haben alle darstellbaren Ergebnisse solcher Lern-
prozesse, die durch den Unterricht angeregt worden sind, und die der Messung
und Bewertung zugänglich sind (Airasian, 1996). Dazu gehören vor allem
schriftliche Arbeiten und künstlerische Werke, ebenso aber auch Graphiken,
Diagramme, Hör- und Videokassetten, erstellte Computerprogramme, Ausar-
beitungen für Referate. Eine wesentliche Funktion des Portfolios besteht darin,
Veränderungen im Verlauf der Zeit zu dokumentieren. Deshalb müssen die
ausgewählten Stücke in regelmäßigen Zeitabständen über das gesamte Schul-
jahr hinweg ausgewählt werden.
Eine Grundschullehrerin nimmt beispielsweise mit Hilfe eines Kassettenrecor-
ders in einem Abstand von ein oder zwei Monaten Beispiele für die sich
verändernden Lesefertigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler auf. Auf gleiche
Weise lassen sich Veränderungen in den Schreibleistungen darstellen. Später
im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts können freie Sprachäußerungen auf-
gezeichnet werden.
Es wird deutlich, daß das Portfolio eines Lernenden keineswegs sämtliche
darstellbaren Lernergebnisse enthalten kann. Folglich muß eine Auswahl vor-
genommen werden, an der der Schüler maßgeblich zu beteiligen ist. Er kann
sich dabei durchaus für eine Unterstützung durch Mitschüler entscheiden. Eine
Auswahl kann nur erfolgen, wenn Selektionskriterien vorliegen. Wenn ein Ler-
nender mehrere Aufsätze geschrieben hat, steht er vor der Frage, welche davon
zu einem Bestandteil seines Portfolio werden sollte. Sicher wird er bemüht
432 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
sein, nach dem jeweils besten zu suchen. Aber welcher Aufsatz ist das? Sollte
er den auswählen, der die wenigsten Rechtschreibfehler enthält, der stilistisch
besonders gut gelungen ist und/oder seinen besonderen Einfallsreichtum be-
legt? Ähnliche Kriterien müssen auch bei seinen freien Äußerungen in einer
Fremdsprache erarbeitet werden. Ist es die Aussprache, die Flüssigkeit im
Sprechen, die Breite des Wortschatzes, die bei der Auswahl berücksichtigt
werden sollte, oder sogar eine Kombination mehrerer Kriterien? Wesentlich
ist bei diesen Überlegungen vor allem, daß sich der Lernende, der sich mit
Wertmaßstäben auseinanderzusetzen hat und bestimmte Merkmale favorisiert,
bezüglich der getroffenen Auswahl auch vor anderen rechtfertigen kann.
Eine herausragende Funktion von Portfolios liegt darin, die Fähigkeiten von
Lernenden zur Selbstbewertung zu fördern (Frazier & Paulson, 1992). Der
Lehrer selbst sollte sich während der Suche seiner Schüler nach Bewertungs-
kriterien weitgehend zurückhalten, obwohl er womöglich noch aufzeigen muß,
wie solche Kriterien zu finden sind (Hart, 1994). Insgesamt wird allerdings
die Bereitschaft des Lehrers vorausgesetzt, seine traditionelle Rolle zu verän-
dern. Im herkömmlichen Unterricht muß der Lernende warten, bis seine Arbeit
bewertet wird, während Schüler unter reformierten Bedingungen angeregt wer-
den, Beurteiler ihrer eigenen Arbeit zu werden. Es sei daran erinnert, daß
damit günstige Voraussetzungen zur Anregung und Aufrechterhaltung intrin-
sischer Motivation geschaffen werden (s. S. 344f.).
Portfolios eignen sich sehr gut, Lern- und Leistungsfortschritte zu dokumen-
tieren. Immerhin handelt es sich bei ihnen nicht, wie bei vielen Prüfungen,
um Momentaufnahmen einer Schülerleistung zu einem bestimmten Zeitpunkt
an einem bestimmten Ort. Das hebt auch Peter Airasian (1996) hervor, denn
er stellt fest: ,,Der vielleicht größte Beitrag von Portfolios besteht darin, daß
sie Schülern die Gelegenheit geben, sich ihre Produkte und Leistungen wie-
derholt anzusehen und darüber nachzudenken. Für die meisten Schüler ist Le-
ben in der Schule eine unaufhörliche Abfolge von Papieren, Leistungen, Ar-
beitsaufträgen und Produktionen. Jeden Tag wird ein weitere Menge davon
hergestellt und die Produkte des vorausgegangenen Tages sind dann abge-
schüttelt, sowohl im geistigen als auch physikalischen Sinne.“ Durch das Sam-
meln von Dokumenten über einen längeren zeitlichen Abschnitt ergibt sich
demgegenüber für den Schüler die hervorragende Gelegenheit, sich seine ei-
gene Veränderung vor Augen zu führen. Diese Veränderungen lassen sich
ebenso dem Lehrer oder den Eltern darstellen (Hart, 1994).
Auch wenn Schüler durch Einrichtung von Portfolios lernen sollen, zu Beur-
teilern ihrer Arbeit zu werden, sollte keineswegs der Eindruck geweckt werden,
Lehrer hätten bei der Bewertung ihrer Schülerleistungen keinerlei Aufgaben
mehr zu erfüllen. Diese Aufgabe wird keine Reform dem Lehrer abnehmen
können. Veränderte Sichtweisen des Lernens und Lehrens können jedoch auch
sehr wohl neue Anforderungen an die Bewertungsfunktion des Lehrers stellen.
Wie diese Bewertungsfunktion aus konstruktivistischer Sicht auszusehen hat,
soll im nächsten Abschnitt in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.
7.3 Prüfen von Wissen und Können aus konstruktivistischer Sichtweise des Lernens 433
Tabelle 7.2:
Beispiel für die Messung und Bewertung einer komplexen Verhaltensweise:
Vortragen vor einem Publikum (nach Pate et al., 1993)
Niedrige Mittlere Hohe Qualität Gewicht
Qualität Qualität Qualität Total
Merkmal 1 selten nicht häufig häufig ____ 6 = ___ Punkte
Augenkontakt
mit Zuhörern
Merkmal 2 Vielfach lässige Manchmal Aufrechte ____ 6 = ___ Punkte
Körper- Haltung, bewegt lässige Haltung;
haltung sich häufig Haltung, sieht Zuhörer
hin- und her. gelegentliches an; Gestik
Kehrt Zuhörern Hin- und unterstützt das
oft den Rücken Herschwanken; Dargestellte.
zu; gesteigerte gewisse
Unruhe. Unruhe; kehrt
Zuschauern
hin und wieder
den Rücken
zu.
Merkmal 3 Wörter werden Wörter werden Klar ____ 6 = ___ Punkte
Stimmliche nicht klar ausge- nicht klar gesprochene
Charak- sprochen und ausgesprochen Sprache, gut
teristika Stimmvolumen oder zu leises verständlich.
zu leise. Stimmvolumen.
Merkmal 4 Informationen Darstellung Informationen ____ 7 = ___ Punkte
Organisation sind weder interessant, logisch gut
logisch gut aber kein und interes-
aufgebaut, noch guter logischer sant aufge-
interessant Aufbau. baut, so daß
dargestellt. Zuhörer gut
Zuhörer können folgen können.
nicht folgen.
Merkmal 5 Einsatz von zwei Einsatz von Einsatz von ____ 5 = ___ Punkte
Visuelle verschiedenen zwei verschie- mehr als zwei
Hilfsmittel Medien. Darge- denen Medien. Medien; Infor-
stellte Informa- Dargestellte In- mationen ste-
tionen stehen formationen hen mit Folge-
nicht klar mit Fol- stehen mit Fol- rungen/Inhalt
gerungen/Inhalt gerungen/In- in Beziehung;
in Beziehung. halt in ausgezeichne-
Ungeordnet; Beziehung. te Darstellungs-
geringe Darstel- Akzeptable kunst.
lungskunst. Darstel-
lungskunst.
Merkmal 6 weniger als 10 10 bis 14 15 Minuten ____ 3 = ___ Punkte
Zeitdauer Minuten Minuten oder noch
etwas länger
Insgesamt ___ Punkte
7.3 Prüfen von Wissen und Können aus konstruktivistischer Sichtweise des Lernens 435
Wenn man die Leistung von Schülern in der Weise mißt und bewertet, wie es
Tabelle 7.2 darstellt, muß – im Vergleich zu traditionellen Tests – mit einem
erhöhten Einfluß von Meßfehlern gerechnet werden. Tatsächlich ist wiederholt
gezeigt worden, daß es ein noch nicht durchgängig gelöstes Problem ist, für
Verfahren der alternativen pädagogischen Diagnostik Mindestanforderungen
der Zuverlässigkeit zu erfüllen (Madaus & Tan, 1993). Dennoch ist festzuhal-
ten, daß die Aufgabe bei sorgfältiger Definition der jeweils verwendeten Kri-
terien durchaus lösbar ist. Diese ständige Kommunikation im Klassenzimmer
sollte es dem Lehrer zudem erleichtern, seinen kritischen Blick auch auf sich
selbst zu richten. Diese Form der qualifizierten Messung und Rückmeldung
von Arbeitsergebnissen wird übrigens zunehmend in der Arbeitspsychologie
zur Erfassung von Arbeitsverläufen verwendet (Musahl, 1998).
Entscheidend ist bei der alternativen pädagogischen Diagnostik, daß Schüler
wissen, nach welchen Kriterien sie beurteilt werden. Diese Kriterien werden
den Lernenden nicht einfach ,,benannt“ oder auch ,,ausführlich erläutert“, wie
unter behavioristischer Sichtweise, denn dabei wird der Schüler stets in die
Rolle eines passiven Empfängers gedrängt. Statt dessen wird vorgeschlagen,
daß Lehrer und Schüler gemeinsam die Kriterien diskutieren und definieren,
nach denen das Verhalten abschließend bewertet werden soll (Herbert, 1992).
Dieses Diskutieren hilft dem Lernenden, ein besseres Verständnis für die
Merkmale zu entwickeln, bezüglich derer er vor allem gefördert wird. Mög-
licherweise wird er sogar herausgefordert, an der Definition dieser Merkmale
mitzuwirken. Mit dieser ständigen Kommunikation zwischen Lehrer und Schü-
lern über die Merkmale und Kriterien wird auch ein Beitrag zur Erhöhung
der Gültigkeit von Lehrerurteilen geschaffen, denn ,,Gültigkeit hat damit zu
tun, ob aus einer Prüfung stammende Informationen es dem Lehrer gestatten,
richtige Entscheidungen über das Lernen eines Schülers zu treffen“, sagt Peter
Airasian (1996). Bei diesen diagnostischen Bemühungen des Lehrers kann es
zu irrtümlichen Urteilen kommen, etwa dann, wenn die Schüler niemals genau
erfahren haben, was von ihnen erwartet wird. Zielvorstellungen, wie sie bei-
spielsweise Tabelle 7.2 wiedergibt, können, vor allem wenn Schüler an ihrem
Zustandegekommen mitgewirkt haben, einen erheblichen Beitrag leisten, um
die Gültigkeit der Beurteilungen des Lehrers zu erhöhen.
definieren, zumal ihnen dafür wohl kaum geeignete Vorbilder zur Verfügung
stehen. Zudem muß damit gerechnet werden, daß bestimmte aus der Sozial-
psychologie bekannte allgemeine Wahrnehmungstendenzen ihm die Aufgabe
erschweren, den Schüler als Partner zu sehen. Sozialpsychologen haben schon
vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß Menschen allgemein zu
Voreingenommenheiten in ihren Ursachenzuschreibungen neigen. Ein sehr be-
kanntes Beispiel stellt der von Lee Ross (1977) beschriebene ,,fundamentale
Attribuierungsfehler“ dar. Bei diesem handelt es sich um die Tendenz, Ver-
haltensweisen anderer mit inneren Ursachen zu erklären und gleichzeitig die
Bedeutung äußerer, situativer Faktoren zu unterschätzen. Wenn eine Schülerin
wiederholt ihre Hausaufgaben nicht erledigt hat, könnte der Lehrer allein auf-
grund dieses Attribuierungsfehlers die Ursache für dieses Versäumnis aus-
schließlich der Schülerin zuschreiben; er hält sie für ,,vergeßlich“ oder sogar
für ,,faul“. Es stünde im Einklang mit dem fundamentalen Attribuierungsfeh-
ler, wenn der Lehrer nach möglichen Ursachen, die in der Situation der Schü-
lerin liegen könnten, gar nicht erst sucht. In einem solchen Fall wird die Ur-
sache für das von der Schülerin gezeigte Verhalten ausschließlich in ihr selbst
gefunden.
Es ist vermutlich dem Einfluß egotistischer Tendenzen (s. S. 337f.) zuzuschrei-
ben, daß der ,,fundamentale Attribuierungsfehler“ gewöhnlich nicht auftritt,
wenn Menschen ihr eigenes Verhalten erklären. Die Schülerin, die ohne Haus-
aufgaben in den Unterricht gekommen ist, erklärt sich ihr Versäumnis weder
mit ,,Vergeßlichkeit“ noch mit ,,Faulheit“. Statt dessen verweist sie auf situa-
tive Bedingungen, also etwa darauf, daß die Arbeiten an der Schülerzeitung
ihr nicht genügend Zeit gelassen haben (Gordon, 1974). Die Tendenz, das
Verhalten anderer auf innere Ursachen zurückzuführen, und das eigene Ver-
halten mit externalen Ursachen zu erklären, beschreibt Voreingenommenheiten
in den Erklärungen von Handelnden und Beobachtern (Jones & Nisbett, 1971,
1987). Diese Voreingenommenheit zeigt sich häufig auch bei der Erklärung
von Prüfungsergebnissen. Wenn Kandidaten dabei gute Ergebnisse erzielt ha-
ben, neigen sie dazu, die ihnen vorgelegten Fragen als fair zu beschreiben,
ihr gutes Abschneiden führen sie auf ihre überdurchschnittliche Fähigkeit zu-
rück. Bei einem ungünstigen Ergebnis neigen sie zu der Feststellung, daß sie
unfaire Fragen zu bearbeiten hatten. Die Ursache für schlechte Bewertung
sehen sie letztlich beim Lehrer (Smith & Ellsworth, 1987).
Die menschliche Tendenz, Ursachen für unerwünschtes Verhalten bei anderen,
aber nicht bei sich selbst zu suchen, ist auch im Klassenzimmer nachweisbar.
Bei Lehrern könnte es dem ,,fundamentalen Attribuierungsfehler“ zuzuschrei-
ben sein, wenn sie dazu neigen, die Ursache von ,,Störungen“ des Unterrichts
oder von ungünstigen Leistungsergebnissen beim Schüler zu lokalisieren. Die-
ser Tendenz versuchten behavioristisch orientierte Unterrichtsforscher entge-
genzuwirken. Wie bereits wiederholt herausgestellt (s. S. 427f.), ließen sie sich
von der Überzeugung leiten, daß das Lernen unter der Kontrolle des Lehrers
steht. Dieser nimmt zunächst eine Aufgabenanalyse vor, um dann eine Abfolge
von Lernschritten zu bestimmen, die planmäßig allmählich vom Einfacheren
7.3 Prüfen von Wissen und Können aus konstruktivistischer Sichtweise des Lernens 437
zum Komplexeren verläuft. Die Verantwortung für das Lernen des Schülers
wird dem Lehrer zugeschrieben. Sollte der Schüler Schwierigkeiten haben,
das Lernziel zu erreichen, hat der Lehrer aus behavioristischer Sicht zu über-
prüfen, ob er einen Lernschritt auf dem Weg zum Ziel vergessen hat, dem
Schüler vorzulegen, oder ob dieser ihn nicht ausreichend geübt hat, bevor er
weiter voranschritt.
Aus konstruktivistischer Sicht rücken nun Lehrer und Schüler gleichzeitig in
den Blick, um bei der Konstruktion von Wissen und Verständnis zusammen-
zuarbeiten. Dabei gibt der Lehrer dem Schüler sicherlich wichtige Rückmel-
dungen, aber dieser kann ihm allenfalls auf verschlüsseltem Weg mitteilen,
daß sein Unterricht der Überprüfung, eventuell der Korrektur bedarf. Es
kommt darauf an, daß der Lehrer auf Diskrepanzen zwischen seinem unter-
richtstheoretischen Wissen und seinem tatsächlichen Verhalten aufmerksam
wird, denn beides – das zeigen Beobachtungen (Schön, 1983) – stimmt niemals
überein. Nur wenn der Lehrer als ,,reflektierender Praktiker“ (Schön, 1983;
Cruickshank, 1987; Wellington, 1991) sein Tun im Unterricht immer wieder
beobachtet und darüber nachdenkt, bestehen verbesserte Voraussetzungen, die
Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln zu vermindern.
Paul Eggen und Don Kauchak (1994) empfehlen Lehrern, sich vor, während
und nach dem Unterricht eine Reihe von Fragen zu stellen, die sie sich ehrlich
beantworten sollten. Aus einer großen Anzahl möglicher Fragen haben Eggen
und Kauchak folgende exemplarisch ausgewählt:
– Hatte ich für die Stunde ein klares Ziel? Welches besondere Ziel wollte
ich erreichen?
– Durch welche Beispiele oder Veranschaulichungen wäre es möglich ge-
wesen, den Schülern bei der Verarbeitung der Informationen zu noch mehr
Klarheit zu verhelfen?
– Was hätte ich tun können, damit die Stunde noch interessanter für die
Schüler geworden wäre?
– Woher weiß ich, ob die Schüler das, was ich ihnen zu vermitteln versuchte,
überhaupt verstanden haben? Was hätte ich tun können, um mir diese Frage
noch besser zu beantworten?
– Was sollte ich – insgesamt gesehen – anders machen, wenn ich diese Stun-
de ein weiteres Mal unterrichte?
Auf solche Fragen kann ein Lehrer selbstverständlich nur dann angemessene
Antworten geben, wenn er über ein fundiertes pädagogisch-psychologisches
Wissen verfügt, das sich auf eigene Erfahrungen, zusätzlich aber auch auf
Erkenntnisse stützt, über die im vorliegenden, ebenso wie in den vorausge-
gangenen Kapiteln berichtet worden ist. Dabei ging es vor allem um Bedin-
gungen zur Förderung des Lernens und zur Motivierung des Schülers im Un-
terricht.
Leider ist es das Kennzeichen des Mediums Buch, Antworten auf Fragen zu
geben, die der Leser nicht unbedingt gestellt hat. Es bleibt aber die Hoffnung,
daß der Autor auf Fragen aus und für die Praxis auch Informationen mitgeteilt
438 7. Kapitel: Diagnostik und Bewertung schulischen Lernens
hat, die zur Lösung von Problemen im Rahmen der Unterrichtsgestaltung bei-
tragen können, denn es kommt schließlich darauf an, Schüler und zukünftige
Lehrer auf die Herausforderungen vorzubereiten, die das alltägliche Leben
heute und in der Zukunft stellt bzw. noch stellen wird.