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PETER W.

MARX (BERN)

Die Entwicklung der Theaterwissenschaft aus der


Erfahrung der Populärkultur um 1900

Wer sich auf die Suche nach den >Wurzeln< von etwas macht, dessen Streben zielt
weniger auf eine ätiologische Kette von Ursache und Wirkung, als vielmehr auf
das Schreiben eines Gründungsmythos. Gründungsmythen aber sind in ihrer Be-
deutung bekanntlich nicht an ihrem Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsgehalt
zu messen, sondern an ihrer Fähigkeit, die eigene Gegenwart in einem Moment
symbolischer Verdichtung durch Vergangenheit zu legitimieren. In diesem Sinne
hat Egon Friedell in seiner monumentalen Kulturgeschichte der Neuzeit1, die leider
hinsichtlich ihres methodologischen Innovationspotenzials immer noch zu we-
nig Beachtung findet, darauf verwiesen, dass die Anekdote »die einzig berechtigte
Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung«2 sei.
In ähnlicherWeise argumentiert auch Jacky Bratton in ihrem ausgesprochen in-
struktiven Buch New Readings in Theatre History, wenn sie die Anekdote als soziale
Uberlieferungsform sui generis definiert:

Anecdotes, I would argue, are chiefly important as a control of social resources through
the making of myth and legend. The anecdote is not the same as >a story< because it
claims to be true, about real people; it occupies the same functional space as fiction, in

ι Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 2 Bde., 1927-1931, München: D T V ι62θθ5·


2 Vgl. hierzu Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 1, S. 18. Liest man Friedells etwas launig for-
mulierte Einleitung im Licht gegenwärtiger historiographischer Modelle, wie sie etwa von Green-
blatt/Gallagher oder jüngst mit besonderem Blick auf die Theatergeschichte von Jacky Bratton
vorgelegt wurden, so wird deutlich, dass Friedells historische Arbeiten einer gründlichen Re-Lek-
türe bedürfen, die insbesondere die methodischen Implikationen auswertet.

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that it is invented to entertain, but its instructive dimension is more overt. It purports
to reveal the truths of the society, but not necessarily directly: its inner truth, its truth
to some ineffable >essence<, rather than to proven facts, is what matters most - hence its
mythmaking dimension.3

Ganz in diesem Sinne möchte ich meine Überlegungen durch ein Eintauchen in
den breiten Strom apokrypher Uberlieferung und Legendenbildung beginnen, der
in Künstlerautobiographien und Theaterkantinen seinen natürlichen Ort findet:
Paula Busch, Tochter und >Kronprinzessin< des berühmten Zirkusdirektors Paul
Busch, berichtet in ihrer Autobiographie Das Spiel meines Lebens4 von ihrer kurzen,
eher episodenhaften Studienzeit am Germanistischen Seminar der Universität Ber-
lin. Bei einem geselligen Anlass habe sie dem legendären Lehrstuhlinhaber Erich
Schmidt (1853-1913) seinerzeit ihr Dissertationsvorhaben zur Geschichte und Gat-
tung der Zirkuspantomimen angetragen - verbunden mit dem Hinweis, sie selbst
habe bereits eine solche verfasst, die bald im Zirkus ihres Vaters zur Aufführung
komme. Schmidt sei von der Idee sehr angetan gewesen, habe sie direkt an einen
seiner Assistenten verwiesen und versprochen, die Vorstellung selbst zu besuchen.5
Diese Episode erfüllt den Theaterhistoriker mit Melancholie: Zum einen weil
die Forschung zur Zirkuspantomime tatsächlich immer noch sehr rudimentär ist,
zum anderen weil die Anekdote, wenn es mehr Informationen gäbe, eine wunder-
bare Gründungslegende der akademischen Theaterwissenschaft abgäbe. Was wenn
jener namenlose Assistent Max Herrmann gewesen wäre? Wenn sich inmitten
des akademischen Diskurses eine Spur zur bunten Lebenswelt der Manege ziehen
ließe? Wäre nicht die legendäre Busch'sche Elefantenrutsche eine lebensbejahende
und schillernde Alternative zu Goethes Jahrmarktsfest zu Plunders weilen und Hans
Sachs' Fastnachtsspielen?
An dieser Stelle muss aus Gründen der Wissenschaftlichkeit der Schwärmerei
Einhalt geboten werden! Denn Fräulein Busch hat ihre Dissertation eben nicht
geschrieben, sondern sich vielmehr ganz der Praxis der Zirkuspantomimen ver-
schrieben und so fehlt nicht nur eine Geschichte des Zirkus, sondern auch ein
Kapitel der Fachgeschichte der Theaterwissenschaft, für das aber die autobiogra-
phischen Ausführungen von Frau Busch nicht hinreichend sein können.

3 Jacky Bratton, New Readings in Theatre History, Cambridge/New York: Cambridge University
Press 2003, S. 103.
4 Paula Busch, Das Spiel meines Lebens. Ein halbes Jahrhundert Zirkus, Stuttgart: Engelhornverlag
I9S7-

5 Vgl. Busch, Das Spiel meines Lebens, S.

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Und dennoch bleibt ein Moment der Irritation zurück, das durch einen Blick
auf die frühe Entwicklung des Fachs eher verstärkt als gebändigt wird: Denn
während rein von der äußeren Anschauung die Jahre zwischen 1869 und 1914
für das Theater im deutschsprachigen Raum eine Phase der Expansion und des
Wachstums waren, fallt das Schweigen des akademischen Diskurses zu diesen
Entwicklungen umso stärker ins Auge. Man kann schon fast von einer Zweitei-
lung des Sprechens über Theater reden: Hier der akademische Diskurs, der durch
den Weg in die (Un-) Tiefen der Geschichte die universitäre Ebenbürtigkeit zu
begründen sucht, dort ein wuchernder feuilletonistischer Diskurs über Theater,
dessen Tempo und Ausmaß durchaus mit der Entwicklung des Theaters selbst
korrespondiert.
Diese Teilung ist umso unverständlicher als gerade Max Herrmann als expo-
nierter Vertreter der jungen Theaterwissenschaft in verschiedenen gesellschaftli-
chen Verbindungen den Brückenschlag zwischen Theaterpraxis, Theaterkritik und
dem sich bildenden akademischen Diskurs zu suchen schien. Nicht nur seine eige-
ne Familiengeschichte, sondern auch seine Ausführungen über die Aufgaben eines
theaterwissenschaftlichen Instituts betonen ja immer wieder die Verbindung zur
konkreten Theaterpraxis.
Diese Beziehung zwischen der jungen Theaterwissenschaft und der Theaterpra-
xis war aber keine Einbahnstraße: So konnte Heike Adamski in ihrer Dissertation
zur Theaterkritik während der Weimarer Republik zeigen, dass hier eine Genera-
tion von Kritikern den Diskurs beherrschte, die ausdrücklich durch ihre akade-
mische Ausbildung geprägt waren. Und auch die Anfange der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit Theater sind durch deutliche personelle Überschneidungen mit
der Theaterpraxis geprägt.6 Wer einen Blick in die zahlreichen Zeitschriften wirft,
die sich schwerpunktmäßig dem Theater widmeten, der wird erstaunt sein, in wel-
chem Ausmaß hier auch immer wieder historische Betrachtungen zu finden sind.7
Die heute von hochschulpolitischer Seite so herbeigesehnten Theorie-Praxis-
Begegnungen hatten aber im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts auch instituti-
onelle Orte: Sowohl in der 1902 gegründeten Gesellschaft für Theatergeschichte als
auch in der 1920 gegründeten Gesellschaft der Freunde des theaterwissenschaftlichen
Instituts an der Universität Berlin finden sich neben Wissenschaftlern sowohl
Vertreter der Theaterpraxis (Oscar Blumenthal, Max Reinhardt, Leopold Jessner,

6 Vgl. Heike Adamski, Diener, Schulmeister und Visionäre. Studien zur Berliner Theaterkritik der Wei-
marer Republik, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004 [Europäische Hochschulschriften X X X , Bd. 86].
7 So griff etwa Bühne und Welt in verschiedenen Reihen immer wieder theatergeschichtliche Frage-
stellungen auf.

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Friedrich Kayssler) als auch namhafte Theaterkritiker (Maximilian Harden, Alfred


Kerr, Heinrich Stümcke).8
Das akademische Schweigen zum Theater der eigenen Gegenwart auf der an-
deren Seite, das diesen Dialogmomenten gegenübersteht, mag vielerlei Gründe
gehabt haben, möglicherweise der akademische Dünkel, dass als wissenschaftlich
nur das gelten kann, was in großer zeitlicher Distanz liegt, möglicherweise eine
methodische Unsicherheit. Stefan Hulfeld interpretiert in seiner grundlegenden
Studie Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis9 diese Nicht-Zurkenntnis-
nahme als eine innere Notwendigkeit, als den fälligen Preis für die Uberwindung
eines normativen Geschichtsbildes, wie es noch vor-wissenschaftliche Darstellun-
gen, wie etwa Devrients Geschichte der deutschen Schauspielkunst (1848-1874) prägt.

Aber das >Uberwinden des Normativem ist selbstverständlich von komplementären Ver-
lusten gekennzeichnet. In diesem Fall ist es die definitive Entkoppelung von Iheater-
geschichte und Theaterpraxis, die letztlich zwischen Devrient und Herrmann vollzogen
wird. Theatergeschichte etablierte sich innerhalb der Universitäten und tendierte dazu,
dort ein eigenartiger Stoff zu bleiben. Der Erkenntnisgewinn korrespondiert mit einem
Verlust an theaterpraktischer Relevanz der Erkenntisse. 10

Das Schweigen kann aber auch Ausdruck eines tief sitzenden Unbehagens am
Theater der eigenen Gegenwart gewesen sein. Dieser Verdacht ist keineswegs aus
der Luft gegriffen, sondern zieht sich vielmehr wie ein roter Faden durch den The-
aterdiskurs seit der Gewährung der Gewerbefreiheit 1869. Schon Martersteig, den
Hulfeld zu Recht als einen der Vorläufer einer nicht-normativen Theatergeschich-
te versteht, ist das Theater des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur noch ein Graus:

M i t der theatralischen Massenproduktion, die Hand in Hand ging mit der wirtschaft-
lichen Entwicklung, mit der Verzehnfachung einer zahlungsfähigen Jeunesse doree, wu-
cherten auch bei uns solche Erscheinungen [wie in Paris und London] empor. Schon

8 Vgl. hierzu etwa Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über
Theater entsteht, Zürich: Chronos 2007, S. 244 [Materialien des I T W Bern, 8], Eine eingehendere
Untersuchung der Bedeutung dieser Vereinigungen im sozialgeschichtlichen Kontext der sich ver-
bürgerlichenden Gesellschaft um 1900 steht leider noch aus. Es steht aber zu vermuten, dass eine
solche Betrachtung - über die enge Perspektive der Fachgeschichte hinaus - exemplarische Auf-
schlüsse über Verfasstheit und Funktionsweise von Öffentlichkeit im Feld von Kultur, Kunst und
Wissenschaft eröffnen könnte.
9 Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis.
10 Ebd., S. 280.

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durch die Pflege der Operette war an den Theatern der Verbrauch von wenig aber gut
angezogenen Mädchen bedeutend gewachsen; nun kam der Zirkus dazu, das Variete,
die Possentheater mit dem Genre der dramatischen Revues: so viel Gelegenheit fur jene
zweifelhafte Gattung der Weiblichkeit, die ein Rest von Stolz zwar die gröbere A r t der
Prostitution verabscheuen läßt, die aber die unterstützende Freundschaft eines Jobbers
oder besseren Commis - durch den Titel der >Künstlerin< in eine höhere Weihe gerückt
- , für durchaus wünschenswert hält."

Martersteigs Verdikt, das das Unterhaltungstheater seiner Zeit nur noch als Spiel-
art der Animierlokale vorstellt, ist nur die Spitze eines Diskurses, der ein regelrecht
eigenes Genre erzeugt, nämlich das >11ieater-Lamento<. Von den konservativen
Ordinarien als »Modekrankheit«12 denunziert, mag auch der breit und weithin
sichtbare Klagediskurs eine Hinwendung zum Theater der eigenen Gegenwart
verhindert haben. So kann man das Schweigen auch als einen Akt strategischer
Klugheit werten, denn weder vom feuilletonistischen Diskurs noch von den uni-
versitären Kollegen wäre einem Theaterwissenschaftler Autorität zugesprochen
worden oder der fur die Entwicklung des Faches unverzichtbare Respekt vor der
fachlichen Perspektive zu erwarten gewesen.
Sucht man, diese Stille durch eine kritische Lektüre des mannigfachen Chorus
des Theater-Lamentos zu füllen, so muss man sich zunächst einmal vergegenwär-
tigen, dass Profil und Beschaffenheit des Gegenwartstheaters in diesen Texten nur
in der verzerrenden Darstellung der Karikatur lesbar werden. Hierbei sind es vor
allem drei zentrale Motive, die die Wahrnehmung des Gegenwartstheaters prägen:
a) das Fehlen eines neuen National-Dramas
b) die wachsende Bedeutung der Ausstattung
c) der Triumph des Spektakels.

DAS F E H L E N EINES NEUEN NATIONAL-DRAMAS

In der immer wiederkehrenden Sehnsucht, das Theater möge in Form eines zu


schaffenden >National-Dramas<, der >Würde des historischen Augenblicks< künst-
lerische Gestalt verleihen, artikuliert sich ein politisch-kultureller Anspruch an das

11 Max Martersteig, Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert. Eine kulturgeschichtliche Darstel-
lung, Leipzig: 1904, S. 634.
12 So Max Herrmanns Doktorvater, Edward Schröder, in einem Brief an Gustav Roethe vom März
1925; zit. nach Hulfeld, Iheatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, S. 242.

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Theater, der kaum überschätzt werden kann. So schreiben die Brüder Heinrich und
Julius Hart 1882 anlässlich der Gründung des Deutschen Theaters:

Dem Sedan der stählernen Waffen sollte das Sedan des Geistes auf den Fuß folgen und
vor allem das Theater, der Mittelpunkt aller frommen Segenswünsche, einer neuen unge-
ahnten Blüthe entgegengehen! Spiegelt doch diese volksthümliche Anstalt das Culturle-
ben eines Volkes am klarsten wieder, bildet sie doch die schönste Frucht einer nationalen
Entwicklung.

Tatsächlich aber findet sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs - die Auseinan-
dersetzung um den Naturalismus fugt sich hier mehr oder weniger bruchlos ein -
die fortgesetzte Klage um das nur epigonenhafte Drama. Symptomatisch fur diese
Auseinandersetzung ist Karl Streckers Diagnose in seiner Schrift Der Niedergang
Berlins als Theaterstadt.

Das Geistes-, Gemüts- und Phantasieleben eines so begabten Volkes, wie das unsere,
muß sich auf der Bühne frei und stark ausleben können. Auch dorthin drängt es in heller
Sehnsucht nach befreiendem Lachen, nach Licht, Liebe, Lust und Leben. Wenn das fuh-
rende Berlin, die >1heaterstadt<, dieser Sehnsucht mit nichts als Musik und Zoten jeder
Art aufwartet, mit Varietes, Operetten, Pariser Ehebruchschwänken, schließlich durch
die Vervollkommnung der farbigen Lichtspiele die dramatische Handlung zu ersetzen
sucht - ja so muß über kurz oder lang eine Krisis eintreten.14

Hier bricht jene Denkfigur durch, die Rudolf Münz in Herrmanns Arbeit zu Goe-
thes Jahrmarktsfest zu Plundersweilen als zentralen Bezugspunkt sieht, nämlich das
>agonale Verhältnis von Drama und Theater<. Wahrend sich dies bei Herrmann
- wohlgemerkt am historischen und durch den Namen Goethe legitimierten Ge-
genstand - zu einem Theaterbegriff weitet, der als Grundstein der akademischen
Beschäftigung begriffen werden kann, zeugt dieselbe Denkfigur im zeitgenössi-
schen Diskurs von der Mangelhaftigkeit des Theaters.15

13 Heinrich Hart/Julius Hart, »Das Deutsche Theater des Herrn L'Arronge« [1882], in: Berlin aufdem
Weg zur Theaterhauptstadt. Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1924, hrsg. v. Peter W. Marx/Ste-
fanie Watzka,Tubingen: Francke Verlag 2009, S. 19-64, hier S. 19.
14 Karl Strecker, »Der Niedergang Berlins als Theaterstadt« [1911], in: Berlin aufdem Weg zur Theater-
hauptstadt, hrsg. v. Marx/Watzka, S. 333-354, hier S. 346.
15 Vgl. hierzu die ausfuhrliche Diskussion bei Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis,
S. 271-277.

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DIE WACHSENDE BEDEUTUNG DER AUSSTATTUNG

Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlich bekräftigten Spannung zwischen


Drama und Theater ist es vor allem die Frage der >Ausstattung«, die man als Met-
onymie des Regisseurs lesen kann, an der sich der so lustvoll konstatierte Nieder-
gang« vermeintlich offenbarte:

Der Regisseur der neuesten Schule sucht ebenfalls eine bestimmte Geschichtsperiode
uns zu sinnenfälliger Anschauung zu bringen, [...] Schwerer wiegend aber ist die offen-
bare Rückwirkung der gesteigerten Schaulust auf unsere moderne Produktion. Das Auge
der Menge ist verwöhnt durch die prachtstrahlenden Bilder, ein einfacher Vorgang aus
dem Alltagsleben fesselt schon rein äußerlich nicht genügend.16

Und Karl Linsemann sekundiert diese Klage knapp neun Jahre später mit seiner
Feststellung:

Also, so gebt doch nicht eine Unsumme für Ausstattung aus, laßt den unsinnigen Büh-
nenluxus, der die grobe Schaulust auf Kosten des Interesses für das Kunstwerk züchtet,
und setzt an die Stelle ein gediegenes Ensemble - aber vor allem gebt diese Stücke [i.e.
die Klassiker], Der Luxustrieb wird die Klassiker noch zu Ausstattungsstücken herab-
würdigen.^

Will man sich nun nicht mit der Kontinuität der Spannung zwischen einem li-
terarisch dominierten Theaterbegriff und der Theaterpraxis sowie der Vorstellung
der Aufführung als Kunstwerk sui generis begnügen, so gilt es, die Argumentation
der Klagenden gegen den Strich zu lesen. Hier offenbart sich nämlich eine kul-
turelle und ästhetische Erfahrung, die sich mit den konventionellen Mustern des
Kunstdiskurses offensichtlich nicht mehr beschreiben ließ. So klagt Linsemann:
»Zerstreuung oder Sensation, aber kein ernsthaftes literarisches Interesse bindet
dich [das Publikum] mehr an diese Stätte.«18 Maximilian Harden hatte dies schon
1888 mit Blick auf das durch Modernisierung geprägte Publikum formuliert:

16 Maximilian Harden, »Berlin als Theaterhauptstadt« [1888], in: Berlin aufdem Weg zur Theaterhaupt-
stadt, hrsg. v. Marx/Watzka, S. 147-169, hier S. 169.
17 Paul Linsemann, »Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau« [1897], in: Berlin aufdem Weg
zur Theaterhauptstadt, hrsg. v. Marx/Watzka, S. 179-234, hier S. z2zf.
18 Ebd., S. 27.

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Die Schaulust ist schneller und mit sicherem Erfolge anzuregen als der Geist jener dispa-
raten Elemente, aus denen sich ein modernes Theaterpublikum zusammensetzt. 19

Conrad Alberti hatte diesen Konflikt noch durch eine klare Trennung der Gattun-
gen und Sparten lösen wollen, als er 1887 forderte:

A u f der Bühne soll in erster Linie das Wort herrschen, zum wenigsten der Ton, denn di-
ese sind lebendig und belebend: die stumme, todte Pantomime, das Ballet, gehört in den
Circus, nicht aber auf die Bühne, [...]. 2 0

Diese Forderung, die in Anbetracht der Theaterwirklichkeit des Jahres 1887 nur als
frommer Wunsch oder besser ängstliche Beschwörung verstanden werden kann,
verrät ein Moment der tief sitzenden Verunsicherung, die durch den Boom der
populären Unterhaltungsformen ausgelöst und verstärkt wurde. Hier nämlich ent-
schied sich das agonale Verhältnis von Drama und Theater eindeutig zugunsten
des Theaters, hier trat die konstitutive Differenz zwischen Auffuhrung und litera-
rischem Text ungeschminkt zutage.

DER T R I U M P H DES SPEKTAKELS

Es sind die Schlagworte von >Schaulust<, >Sensation< und »Spektakel·, die als
Kampfbegriffe parolenartig geschwungen werden, um diese Entwicklung wenigs-
tens durch begriffliche Differenzierung zu bannen. Erich Schlaikjer hat in seiner
Schrift Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne21 diese Entwicklung als
einen Wettkampf zwischen Zirkus und Theater beschrieben, wobei er die unter-
schiedlichen Produktionsweisen als gewissermaßen unterliegende Ökonomien
(und Beschleunigung) darstellt:

Hat der Direktor einmal seine geschäftliche Hoffnung in die Ausstattung gesetzt, wird
er sie immer stärker betonen, wird er zu immer neuen Reizmitteln greifen und, was an-
fangs noch geschmackvoll war, wird zu einer barbarischen Konzession an die Schau-

19 Harden, »Berlin als Theaterhauptstadt«, S. 169.


20 Conrad Alberti, »Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater« [1887], in: Berlin auf
dem Weg zur Theaterhauptstadt, hrsg. v. Marx/Watzka, S. 75-132, hier S. 107.
21 Erich Schlaikjer, »Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne«[i9i3], in: Berlin aufdem
Weg zur Theaterhauptstadt, hrsg. v. Marx/Watzka, S. 361-393.

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lust der Menge. Es kommt noch hinzu, daß die unsolide geschäftliche Basis ein Zurück
nicht mehr gestattet. Ist das erste große Defizit entstanden, zwingt die innere Logik
den Direktor zu einer immer erneuten Jagd nach einem entsprechend großen Gewinn.
Er schreitet die alte Bahn der imponierenden Ausstattung weiter, und diese Bahn muß
schÜeßlich und zuletzt ins Verderben fuhren. [...] Das Ausstattungsgeschäft ist noch
viel unsolider, noch viel ruinöser, als sich aus dieser Rechnung ergibt. Der Direktor wird
nicht nur in wagehalsige geschäftliche Spekulationen hineingetrieben, er spielt geradezu
mit den geschäftlichen Grundlagen seines Theaters ein Hazardspiel auf Leben und Tod.
Er muß die Massen ins Theater locken, um zu dem Sensationserfolg zu kommen, der
ihm einzig und allein nützen kann. Die Massen aber werden nicht durch den Klassiker
gerufen, der gespielt wird, sondern durch den bunten Rahmen, in dem er gespielt wird.
Die breiten Massen und die deutschen Klassiker stehen leider vorläufig noch in einem
Gegensatz zueinander. Die Massen aber kann der Direktor wohl rufen, nur festhalten
kann er sie nicht. Die Schaulust ist leicht befriedigt, ist schnell mit ihrem Gegenstande
fertig und will dann etwas Neues."

Das Theater wird - so Schlaikjers Schlussfolgerung - unter dem Eindruck des


übermächtigen Spektakels Opfer der Vermassung. Der Theaterdirektor versucht
(vergeblich), mit dem Zirkusdirektor zu wetteifern und verliert somit auch noch
das Letzte, das er diesem voraus hatte: die Klassiker.
Nun ist diese Denkfigur nicht neu - vielmehr lässt sie sich in abgewandelter
Form durchaus auch für das 18. Jahrhundert und die bürgerlichen Theaterrefor-
men beschreiben, die ja bekanntlich auch das Primat der Literatur durchzusetzen
versuchten. Warum aber - so muss man sich fragen - kann nur am historischen
Beispiel gesehen werden, was doch im zeitgenössischen Theater wiederkehrt?
Einer der Gründe mag der Besonderheit der Spektakelkultur des 19. Jahrhun-
derts geschuldet sein, denn längst waren es nicht mehr die artistischen Künste
eines Harlekins, die hier im Widerstreit mit dem Theater des Dramas standen.
Vielmehr rückte, wie gezeigt, vor allem die Frage der Ausstattung in das Zentrum
der Betrachtung. Bühnenbild und szenische Effekte standen im Zentrum der bis-
weilen verbissen geführten Auseinandersetzung.

22 Schlaikjer, »Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne«, S. 374.

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HERRMANNS ANTWORT

Wie sehr dies das akademische Nachdenken über Theater in die Krise führte, kann
man an Max Herrmanns kleiner Schrift Das theatralische Raumerlebni& erkennen.
Herrmann benennt vier unterschiedliche Faktoren des Raum (-erlebnisses): den
Dichter, den Schauspieler, der für ihn die wichtigste Instanz ist, das Publikum
und schließlich den Regisseur »mit seinen Gehilfen«24. Wahrend Herrmann die
Arbeit des »Hilfskünstler[s] der Malerei«25 kritisch betrachtet und tendenziell
als »theaterfremd«26 ablehnt, erkennt er - interessanterweise mit Bezug auf Max
Reinhardt - die originelle Schöpfungsleistung des Regisseurs an, zu der er auch die
Integration der »Dekorationsmaler« rechnet.27
Dennoch bleibt für ihn der Schauspieler das Zentrum des künstlerischen Erleb-
nisses: Dieser fast schon starre Bezugspunkt steht in einem eigentümlichen W i -
derspruch dazu, dass Herrmann selbst durch die Zentralsetzung des Raums, den
begrifflichen Fokus erweitert hat. Herrmann selbst hatte durch seine Definition,
Theater sei vornehmlich »Raumkunst«, sowohl das Drama verabschiedet, als auch
eigentlich alle am Theater beteiligten Künste (oder Zeichensysteme) aufgewertet.
Dass sich Herrmann in seinem vergleichsweise späten Aufsatz nun auch auf
Erfahrungen des Gegenwartstheaters bezieht, lässt erkennen, wie sehr er hier um
eine begriffliche Bewältigung ringt, die die Eigenständigkeit von Theater auch aus
der Erfahrung des eigenen zeitgenössischen Theaters denkt. Dass er sich hierbei
auf Max Reinhardt bezieht, ist nachgerade verräterisch im Hinblick auf die Frage
nach dem Einfluss der Populärkultur.

Bei Bemühungen des Regisseurs, die Fülle der Widersprüche [im Raumerleben] zu ver-
wischen, alles Raumerleben unter einen Hut zu bringen, erscheint als extreme Möglich-
keit auf der einen Seite das Spiel der Stilbühne, die trotz ihrer Kargheit dort, wo große
Schauspieler auf ihr stehen, die beste Lösung darstellen kann; auf der anderen Seite die
Ausstattungsbühne, die mit tausend an sich interessanten Raumfullungsmitteln unsere
Aufmerksamkeit zu betäuben sucht; es ist kein Wunder, daß ein Meisterregisseur wie
Max Reinhardt mit beiden Lösungsarten gearbeitet hat. 28

23 Max Herrmann, »Das theatralische Raumerlebnis«, in: Zeitschriftfür Ästhetik und allgemeine Kunst-
wissenschaft, 25/1931, S. 152-163.
24 Ebd., S. 153.
25 Ebd., S. 160.
26 Ebd., S. 160.
27 Vgl. ebd., S. i6if.
28 Ebd., S. 161.

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Das Kompliment für Reinhardt ist durchaus ambivalent und deckt sich mit
der Rezeption seiner Arbeiten durch seine Zeitgenossen: Neben der Leistung der
Schauspielerführung und Stilisierung steht die Ausstattungsbühne mit all ihren
Konsequenzen.
Folgt man dieser Fährte für einen Moment, so wird erkennbar, dass die Theater-
historiographie (mit fast zwanzigjähriger Verspätung) jenen Moment wiederholt,
der sich im frühen Diskurs der Kritik finden ließ. Gerade jene Arbeiten, die aus
heutiger Perspektive für die Modernität Reinhardts sprechen, wie etwa seine Pan-
tomimen, die der deutlichste Ausdruck dafür sind, dass hier ein Regisseur dem
Theater gegen die Literatur das künstlerische Primat zusprechen wollte, waren bei
den Zeitgenossen höchst umstritten, gerade weil sie eben die als bedenklich erach-
tete Nähe zu populären Unterhaltungsformen aufwiesen. Man warf Reinhardt vor,
mit >Warenhaus-Kitsch< und >Ausstattungs-Witzen< das Theater leichtfertig in den
Zirkus zu überführen. Symptomatisch ist hier Alfred Kerrs Klage, die Reinhardt
(wort-) spielerisch in den Kontext der Avantgarde stellt:

Was Reinhardt gibt, seit er im Sattel sitzt [...], macht mich misstrauisch. Schlimm ist
sein Hang, Shakespeare in hundert Aufführungen als Zugstücks-Feerie zu bringen, das
Theater Berlins zu londonisieren. Ich erwartete damals eine Versüdlichung der Kunst
[...] und furchte jetzt eine Veräußerlichung. Noch einen Schritt weiter, so ist der Maler
Hauptperson und dem Dichter wird der Craig erklärt.29

Maximilian Harden fallt aus der Reihe heraus, wenn er angesichts von Reinhardts
Pantomimen-Versuchen feststellt:

Die Vereinigung der Pantomime mit dem Ballet könnte uns retten; die Bühne aus dem
Diskutierplatz in eine Feierstatt wandeln. [...] Jede Konvention ist erlaubt; die derbste
dem Klugen die liebste. Das Schaugerüst nicht mehr auf die Vernunft gestellt. Sputet
Euch! Sonst fängt der Kinematograph die Kunden.30

Hardens Erwähnung des Kinematographen verweist auf die historische Medi-


enkonkurrenz, in der sich das Theater befand, aber auch auf eine Blindstelle der
akademischen Auseinandersetzung: Das wissenschaftliche Schweigen über das
Theater der eigenen Gegenwart ist ein beredtes Schweigen, es >zittert< vor einer

29 Alfred Kerr, o. Titel, in: Der Tag, 28.09.1906.


30 Maximilian Harden, »Pantomimus«, in: Die Zukunft, 71/1910, S. 273-284, hier S. 284.

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historischen Erfahrung, die nicht allein den Gegensatz von Aufführung und Dra-
ma verdeutlichte, sondern auch der Offenheit des Theaters, gerade in seinen kom-
merziellen und populären Spielarten,31 für Innovationen aller Art. Das Schweigen
gründet in einer gut beschreibbaren und auch nachvollziehbaren geistesgeschicht-
lichen Konstellation, die - verstärkt durch die Flieh- und Zentripetalkräfte der
deutschsprachigen Akademia - notwendigerweise diese Phänomene ausklammern
musste.
So bleibt als Moment der Melancholie, vielleicht aber auch als Anreiz für die ei-
gene Perspektive auf unser Fach nur die anekdoten- und zweifelhafte Erinnerung
an das Gespräch zwischen Erich Schmidt und Paula Busch und an eine nicht-
geschriebene Dissertation, die eine Möglichkeit geboten hätte, das Nachdenken
über Theater radikal zu verändern.

31 So waren gerade die Zirkuspantomimen nachgerade berühmt fur ihren exzessiven Einsatz neuer
Technologien, vgl. hierzu Peter W. Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierun-
gen um 1900, Tübingen: Francke 2008, S. 346t.

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