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1.5.

Die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Phraseologie

Zu den Zielen der im Jahr 1999 gegründeten Europaischen Gesellschaft für


Phraseologie gehört unter anderem der „Informationsaustausch über die
wissenschaftlichen Aktivitäten der europäischen Forschung, über Tagungen und
Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Phraseologie“
(http://www.europhras.org/de/europhras). Dazu finden in regelmäßigen Abständen
verschiedene Veranstaltungen statt, bei denen man einen sehr guten Überblick über
den gegenwärtigen Stand nach wie vor dominanter Forschungsrichtungen in der
Phraseologie machen kann.
Die Korpuslinguistik hat in den letzten Jahren einen Einfluss auf die
Phraseologieforschung genommen, der auch zu einem Perspektivwechsel „weg
von den auffälligen Idiomen hin zu den unauffälligen Kollokationen und
musterhaften Konstruktionen“ [Handwerker 2010, S. 249] geführt hat. Eine große
Bandbreite an verschiedene Herangehensweisen und Forschungsrichtungen wendet
sich auf Wortverbindungen, ihre computerbasierte Extraktion, Analyse und
unterschiedliche Weise korpuslinguistischer Methoden an.
Im Beitrag von Kenneth Ward Church zu „Korpusmethoden in einer
digitalisierten Welt“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 3-15] wird
darauf hingewiesen, dass Daten in einem Maße zur Verfügung stehen, wie es nie
zuvor der Fall war. Es ist nun in den Bereich des Machbaren gerückt, einen
„nichttrivialen Teil“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 14] der
weltweiten Kommunikation zu digitalisieren, und mit Google Ngrams ist es
möglich, korpusbasierte Methoden auf eine halbe Billion Wörter anzuwenden und
somit auch (typische) Wortverbindungen aufzudecken.
Jean-Pierre Colson stellt in seinem „IdiomSearch-Experiment“ [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 16-28] vorläufige Ergebnisse der Extraktion
von phraseologischen Einheiten/Idiomen mit dem datengesteuerten cpr-score in
jeweils 200 Millionen Token umfassenden Web-Korpora der Sprachen Englisch,
Spanisch, Französisch und Chinesisch vor.
Die meisten gebräuchlichen Kollokationen, aber auch eine hohe Anzahl
relativ seltener fester Verbindungen konnten so ausfindig gemacht werden, auch
wenn der Algorithmus für jede Sprache ein wenig angepasst werden musste.
Das Thema von Gloria Corpas Pastor sind kollokationale Konstruktionen im
Spanischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 29-40], wozu
korpusbasiert (sowohl originale als auch übersetzte) Untertitel analysiert wurden.
Ein Ergebnis der Studie ist, dass riesige (giga-token) Korpora bei kollokationalen
Konstruktionen repräsentativere Ergebnisse mit höherer Granularität erzielen
können als kleinere, ausgewogene Korpora – die Zukunft liegt also nach Meinung
der Autorin in den big data.
Dmitrij Dobrovol’skij und Ludmila Pöppel suchen einen adäquaten
quantitativen Zugang zu „Konstruktionen in parallelen Korpora“ [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 29-40], wobei sie nach Analogien für die
verbreitete russische Konstruktion дело с mом, чmо (‚die Sache ist die, dass‘) in
den Sprachen Englisch, Deutsch und Schwedisch suchen und dabei den
Herfindahl-Index als statistische Methode der Analyse einsetzen.
Der Beitrag von Patrick Hanks [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1,
2019, S. 54-68] beschreibt die „Mechanismen von Bedeutung“. Seine Hypothese
lautet, dass Bedeutungen mit (relativ stabilen, aber doch veränderbaren)
phraseologischen Mustern assoziiert sind und diese wiederum eher mit den
Wörtern in ihrem üblichen Gebrauch als mit den Wörtern selbst.
Um das automatische „Identifizieren von Mehrworteinheiten (MWE) vor der
Übersetzung“ geht es bei Carlos Ramisch [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no.
1, 2019, S. 69-84], denn es hieße, den Wagen vor das Pferd zu spannen, wenn
versucht würde, MWE zu übersetzen, bevor solche korrekt als solche identifiziert
seien. Probleme für das automatische Erkennen stellen mangelnde Kontinuität,
Ambiguität und das Finden angemessener Übersetzungen dar.
Der Themenbereich „Phraseologie in Übersetzung und kontrastiven
Untersuchungen“ beginnt mit einem „Netz aus Analogien“ von Susanna Dyka, Iva
Novakova und Dirk Siepmann [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S.
87-101]. Hier wird die Problematik der Übersetzung von beschreibenden Verben
anhand eines Korpus zeitgenössischer englisch- und französischsprachiger Romane
und Erzählungen dargestellt, während es in Rozane Rodrigues Rebechis und
Márcia Moura da Silvas Beitrag um die Funktion der Phraseologie in
brasilianischen Rezepten im Portugiesischen und Englischen geht [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 102-104]. Dabei zeigt sich, dass die in
Rezepten verwendeten englischen Verben semantisch mehr aufgeladen sind,
während im Portugiesischen in dieser Textgattung ein stärkerer Gebrauch von
Verbalphrasen zu beobachten ist, in denen die Verben stärker desemantisiert sind.
Neben linguistischen Aspekten dürfen aber für eine erfolgreiche Übersetzung auch
kulturelle Faktoren nicht außer Acht gelassen werden.
Óscar Javier Salamanca Martínez und Mercedes Suárez de la Torre widmen
sich der Untersuchung von pragmatischen Aspekten bei eventiven spezialisierten
phraseologischen Einheiten in einem parallelen spanisch-englischen Korpus aus
Texten zu erneuerbaren Energien und betonen dabei die Wechselbeziehungen
zwischen der morpho-syntaktischen, semantischen und pragmatischen Ebene für
die Übersetzung.
Esther Sedano Ruiz geht in ihrem Beitrag auf Übersetzungen von
phraseologischen Einheiten bei Untertiteln in Fernsehserien ein. Die Autorin wählt
für ihre Fallstudie die US-amerikanische Serie Big Bang Theory und deren
Untertitelung ins Spanische [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S.
128-142] und definiert vier besonders Frequente Methoden beim Umgang mit
diesen Einheiten.
Im Themenbereich „Lexikographie und Terminographie“ befassen sich
Melania Cabezas-García und Pamela Faber mit einem semantischen Zugang von
komplexen Nominalgruppen in englischen Fachtexten (am Beispiel eines Korpus
aus Texten zu erneuerbaren Energien), die bisher in Wörterbüchern noch nicht
systematisch behandelt werden [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S.
145-159].
Milena Hnátková, Tomáš Jelínek, Marie Kopřivová, Vladimir Petkevič,
Alexandr Rosen, Hana Skoumalová und Pavel Vondřička schlagen eine
multidimensionale Einordnung von Mehrwortausdrücken im Tschechischen
[Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 160-175] vor, die die
syntaktische Struktur, Fixiertheit bzw. Flexibilität und Idiomatizität beachtet.
Eine Methodologie für Prädikat-Argument-Analysen am Beispiel des
EcoLexicons, einer multilingualen terminologischen Wissensbasis zur Umwelt in
den Sprachen Spanisch, Englisch, Deutsch, Griechisch, Russisch und
Niederländisch schlagen Arianne Reimerink und Pilar León-Araúz [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 176-190] vor, wofür sie automatische und
halbautomatische Vorgehensweisen kombiniert haben.
Zur Nutzung von Korpora in phraseologischen Untersuchungen legt Stephen
James Coffey eine Studie zum Gebrauch des definiten oder indefiniten Artikels vor
[Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 193-204], der in einigen
englischen Phrasen ohne Veränderung der Bedeutung austauschbar zu sein scheint,
obwohl das dem üblichen exklusiven Gebrauch von the und a/an widerspricht.
Václava Kettnerová, Veronika Kolářová und Anna Vernerová beschreiben
tschechische Verbkonstruktionen, in denen ein deverbales Nomen mit einem
„leichten“ (semantisch entleerten) Verb ein komplexes Prädikat bildet, und
schlagen eine neue lexikographische Darstellung verbaler und nominaler
Strukturen von tschechischen deverbalen Nomen vor [Yearbook of Phraseology,
vol. 10, no. 1, 2019, S. 205-219].
Einen Beitrag zu einem korpusbasierten „phraseologischen Minimum“
liefert Marie Kopřivová [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 220-
231]. Dafür unternimmt sie den Versuch, unter Zuhilfenahme von Korpusdaten mit
annotierten Kollokationen eine Liste der gebräuchlichsten und typischsten
tschechischen Idiome zu erstellen. Das Korpus besteht aus Zeitungs- und
Zeitschriftentexten, Belletristik und Sachliteratur sowie gesprochener Sprache. Die
Studie bestätigt einen deutlichen Unterschied im Gebrauch von Idiomen in der
gesprochenen und der geschriebenen Sprache. Lexikalische Verfügbarkeit von
Sprichwörtern im europäischen Portugiesisch untersuchen Sónia Reis und Jorge
Baptista [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 232-244] anhand einer
großen Datenmenge von über 114 000 Sprichwörtern und ihren Varianten.
Frequenzdaten wurden von zwei Webbrowsern und einem öffentlich
zugänglichen Korpus aus journalistischen Texten ermittelt. Die Untersuchung
verifiziert die ursprüngliche Annahme, dass der Gebrauch von Sprichwörtern
durch
Stilistische Konventionen häufig auf gesprochene oder umgangssprachliche
kommunikative Kontexte beschränkt ist.
Polona Gantar, Simon Krek und Taja Kuzman beschreiben verbale
Mehrwortausdrücke im Slowenischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1,
2019, S. 247-259], wofür sie ein manuell annotiertes Trainingskorpus dieser
Ausdrücke erstellt haben, das Teil des Projektes PARSEME (PARSing and Multi-
word Expressions) ist und 30 Sprachen und 6 Dialekte aus unterschiedlichen
Sprachen repräsentiert. Mehrworteinheiten stellen noch immer einen
Schwachpunkt z. B. bei der maschinellen Übersetzung oder der
Eigennamenerkennung dar, aber auch etwa beim Taggen oder Lemmatisieren. Das
Trainingskorpus berücksichtigt internationale Standards der Kategorisierung und
Beschreibung von Mehrworteinheiten und wird in eine maschinenlesbare
Sammlung mit formalen und syntaktischen Merkmalsbeschreibungen münden.
Francisco J. Vigier und María del Mar Sánchez untersuchen in einem
parallelen englisch-spanischen Korpus, das aus Urteilen des Europäischen
Gerichtshofes besteht, die Übersetzung von Namen einzelner Namen von
Gerichten
[Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 260-273]. Die Studie ergab,
dass in über 95 % der Fälle die Namen in der Zielsprache nicht übersetzt wurden,
sondern die Bezeichnung der Ursprungssprache beibehielten.
Der Bereich Phraseologie und das Erlernen von Sprachen wird von Elena
Berthemet mit einem Vorschlag für eine bessere Darstellung von phraseologischen
Bedeutungen in Lerner-Lexika [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S.
277-289] eingeleitet. Der Fokus liegt bei dieser Untersuchung auf Französisch als
Fremdsprache, doch ist die verwendete Methode auch auf die anderen Sprachen
des Projekts Colidioms: An Online Dictionary for Phraseography and
Paremiography (Chinesisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Japanisch und
Russisch) anwendbar und soll sowohl für die theoretische als auch die angewandte
Linguistik von Wert sein.
Dem Design eines „Lerner-Lexikons mit phraseologischen
Disambiguatoren“
widmen sich P. V. DiMuccio-Failla und Laura Giacomini [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 290-305] auf der durch
Korpusuntersuchungen gestützten theoretischen Grundlage, dass Cluster von
verschiedenen Bedeutungen eines Verbs durch übliche Kollokatoren identifiziert
werden können. Eine Mehrebenenstruktur im Lexikon (bestehend aus der oberen
Ebene mit ontologischen Disambiguatoren, einer mittleren Ebene mit
gebräuchlichen Kollokatoren und einer unteren Ebene mit normalen
Gebrauchsmustern) soll Lerner zu den benötigten Informationen führen.
Elma Kerz und Daniel Wiechmann untersuchen individuelle Unterschiede
beim Verarbeiten von L2-Mehrwortphrasen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no.
1, 2019, S. 306-321] bei 63 Deutschen mit fortgeschrittenen Kenntnissen des
Englischen.
Kognitive und kulturelle Aspekte von Phraseologie beleuchtet María Luisa
Carrió-Pastor in ihrer Analyse kognitiver Verben in linguistischen, technischen
und medizinischen akademischen Abhandlungen des Englischen [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 325-336]. Sie stellt dabei unterschiedliche
diskursive Muster in den verschiedenen Bereichen fest: In der Linguistik werden
kognitive Verben und verschiedene Muster zum Ausdruck reflektierender
Einstellungen und Überzeugungen deutlich häufiger verwendet als in den anderen
beiden analysierten Disziplinen.
Zvonimir Novoselec untersucht kulturelle Modelle und die Motivation von
Idiomen mit der Komponente „Herz“ im Kroatischen [Yearbook of Phraseology,
vol. 10, no. 1, 2019, S. 337-347]. Seine Ergebnisse zeigen, dass alle untersuchten
Idiome durch drei kulturelle Modelle motiviert sind, wobei das Herz als Stätte von
Gefühlen, wo Emotionen wie Liebe, Zuneigung oder Schmerz konzeptualisiert
werden, die meisten Beispielidiome auf sich vereinen kann.
Auch Jelena Parizoska und Ivana Filipović Petrović beschäftigen sich mit
dem Kroatischen, jedoch mit Vergleichen mit kao (‚wie‘) nach dem Muster
Adjektiv + kao + Substantiv [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S.
348-362]. Die Untersuchung zeigt, dass die adjektivische Leerstelle mit
Adjektiven, Adverbien oder Verben gefüllt sein kann. Daneben kann sie aber auch
leer bleiben. Der Vergleich solcher Muster mit anderen Sprachen kann Einblicke in
die universellen Mechanismen vermitteln, die der Variation von Idiomen zugrunde
liegen.
Die kognitive Verarbeitung von Mehrwortausdrücken durch Muttersprachler
und Nichtmuttersprachler des Englischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1,
2019, S. 363-379] untersuchen Victoria Yaneva, Shiva Taslimipoor, Omid
Rohanian und Le An Ha anhand von Belegen aus Blickdaten aus dem Eye-
Tracking-Korpus GECO.
Im Rahmen des Themenbereiches „Theoretische und deskriptive Zugänge
zur Phraseologie“ beschäftigen sich Admas Bodomo, So-sum Yu und Dewei Che
mit Konstruktionen im Chinesischen, die Verb-Objekt-Komposita genannt werden
[Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 383-396]. Die Beziehung
zwischen den zwei oder mehr Morphemen eines solchen Kompositums ist zum
Teil morphologisch und zum Teil syntaktisch. Diese Eigenschaft teilen sie mit
Verb-Objekt-Idiomen.
Mi Hyun Kim und Alain Polguere untersuchen koreanische morphologische
Kollokationen und beschreiben theoretische und deskriptive Implikationen
[Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 397-411]. Im Koreanischen
können manche Komposita als Phraseme angesehen und analysiert werden
(sogenannte morphologische Kollokationen), obwohl Komposita üblicherweise
nicht im Blickfeld phraseologischer Untersuchungen sind. Die Studie soll helfen,
verschiedene Arten von koreanischen Komposita zu verstehen und zu beschreiben
und dazu anregen, morphologische Kollokationen zusammen mit phrasalen
Kollokationen zu lehren und zu lernen.
Noch eine Gruppe von Beiträgen widmet sich Computerbasierten Zugängen
zur Phraseologie und beginnt mit Ayman Alghmandis und Eric Atwells Versuch
einer umfassenden Darstellung von arabischen Mehrwortausdrücken [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 415-431], die die sprachliche Ambiguität
dieses linguistischen Phänomens berücksichtigt.
Dies findet im Rahmen des JOMAL-Projektes statt, das zum Ziel hat, ein
digitales Lexikon für arabische Mehrwortausdrücke und Sprachpädagogik zu
entwickeln, und wofür mehrere neue Annotationsfeatures entwickelt wurden. Ein
praktisches Verfahren zur Frequenz-Konsolidierung zwischen verschieden langen
Wort-N-Grams, das eine korpusbasierte Untersuchung von Mehrwortausdrücken
erleichtert, wird von Andreas Buerki vorgestellt [Yearbook of Phraseology, vol.
10, no. 1, 2019, S. 432-446].
Alexsandro Fonesca, Fatiha Sadat und François Lareau präsentieren eine
Methode zur Identifizierung von Kollokationen in einem Korpus [Yearbook of
Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 447-461], wobei ein Dependenzparser, der
Kollokationskandidaten extrahiert, mit einem lexikalischen Netzwerk, das auf den
lexikalischen Funktionen basiert, kombiniert wird.
Innerhalb der IVITRA-Reihe (John Benjamins) legt die gegenwärtige
Linguistik einen besonderen Wert auf intensive Forschungen in dem Bereich der
Computerphraseologie. Die Fülle an Ansätzen, Forschungsthemen und Sprachen
veranschaulicht in der Tat die Fülle von Errungenschaften im Rahmen dieser
Disziplin im Laufe von zwanzig Jahren nach der produktiven Veröffentlichung von
Sag und Baldwin (z. B. Sag et al. 2002).
Forscher bemühen sich immer noch intensiv darum, Wortverbindungen zu
erstellen für Systeme zur Verarbeitung natürlicher Sprache. Syntaktische
Anomalie, Nichtkompositionalität, Mehrdeutigkeit, Diskontinuität, Variabilität,
Überlappung, Verschachtelung… viele sind die Herausforderungen, die für die
optimale Verarbeitung ubiquitärer MWEs noch angegangen werden müssen
(Constant et al. 2017; Ramisch u Villavicencio 2018; Ramischet al. 2018).
Zusätzliche Untersuchungen sind der neuartigen Maßnahmen und
Werkzeugen für die automatische und halbautomatische Verarbeitung von
Phrasemen gewidmet. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Techniken
vorgeschlagen und weiter ausgearbeitet wie die neue Metrik für die automatische
Extraktion von Phraseologien: die Corpus Proximity Ratio oder CPR (Colson
2016), das MERGE (Multi-word Expressions aus der rekursiven Gruppierung von
Elementen) Algorithmus basierend auf dem progressiven Erweiterung
benachbarter Bigramme nach lexikalischen Assoziationsstärken (Wahl und Gries
2018) sowie praktische Werkzeuge kombiniert mit Korpora für die Automatik
Extraktion von Phrasemen durch statistische Ergebnisse: das mwetoolkit (Ramish
2015), die innovative Forschungswege auf dem Gebiet der MWE-Verarbeitung
eröffnet.
Neuere Untersuchungen zu unterschiedlichen Sprachen ergeben in der Tat,
dass eine Platzierung von Idiomen ins Zentrum sprachlicher Musterhaftigkeit aus
gebrauchsorientierter Perspektive keineswegs gerechtfertigt ist. So weisen
Siepmann und Bürgel (2019) auf der Grundlage ihres sehr umfangreichen Corpus
de Référence du Français Contemporain (CRFC) nach, dass Idiome im
Französischen im engeren Sinne quantitativ betrachtet keinerlei Rolle spielen. Sie
arbeiten vielmehr als hochfrequent semantisch völlig unauffällige Bigramme wie
un peu, parce que, par exemple, en plus usw. heraus.
Erst eine von den Autoren ausdrücklich in den Vordergrund gestellte
korpuslinguistische Vorgehens weise auf der Grundlage großer Korpora
mündlicher
und schriftlicher Äußerungen, wobei Introspek tion aufgrund von Intuitionen
ausgeschlossen wird [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 33], wohingegen
„korpuslinguistische Analyseverfahren und -instrumentarien sehr hilfreich [sind],
teilweise […] unverzichtbar [erscheinen]“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11,
2020, S. 41], könnte empirische Erkenntnisse bezüglich der sprachlich-
textuelldiskursiven Frequenz unterschiedlicher Typen von „Musterhaftigkeit“
erbringen.
Schließlich versuchen Stein und Stumpf auch die Form-Bedeutungskontinua
der viel diskutierten Konstruktionsgrammatik einzubeziehen, die zwar auf viele
vorgeformte Erscheinungen zutreffen, allerdings nicht „auf alle
Erscheinungsformen sprachlicher Musterhaftigkeit zufriedenstellend“ [Yearbook
of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 32] angewendet werden können. Insbesondere
wird infrage gestellt, dass sprachliches Wissen „durchgehend und ausschließlich
auf Konstruktionen aufgebaut und mit konstruktionsgrammatischen Methoden zu
beschreiben“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 32] ist. Ausgehend von
den skizzierten theoretischen Modellen werden im Folgenden fünf unterschiedliche
Ebenen der Musterhaftigkeit sowie drei ebenenübergreifende Phänomene
sprachlicher Musterhaftigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Auf
der untersten Stufe der Musterhaftigkeit steht die Wortebene
(Wortbildungsmuster), auf der höchsten die Diskursebene (Argumentationsmuster,
Metaphern und Denkstereotype). Dazwischen situieren die Autoren in steigender
Ausdehnung und Komplexität die Mehrwortebene (Phraseme und usuelle
Wortverbindungen), die Satzebene (Valenz- und Satzmuster), die Textebene
(Textsorten, Text- und Formulierungsmuster, formelhafte Texte) und die
Gesprächsebene (von Routineausdrücken bis zu kommunikativen Gattungen).
Ihrem Anspruch entsprechend, eine Einführung in Phänomene sprachlicher
Vorgeformtheit anzubieten, geben die Autoren einen kompetenten Überblick zu
allen genannten Bereichen, skizzieren die gängigen Ansätze, indem sie sich auf die
jeweils einschlägigen Arbeiten beziehen, bieten im Anschluss an praktische
Zusammenfassungen Tipps für weiterführende Lektüren und zu jedem Gebiet zwei
exemplarische Vertiefungen, z.B. im Bereich Phraseologie zur Phraseodidaktik
oder der Kinder- und Jugendliteratur. Verdienstvoll ist zweifellos in einer
Einführung das systematische Bemühen der Autoren, Verbindungen aller Bereiche
zur Konstruktionsgrammatik herzustellen, selbst wenn die Anregungen nicht
empirisch umgesetzt werden können. Auch die Berücksichtigung multimodaler
Äußerungseigenschaften zur Gesprächsebene ist zu begrüßen.
Der sehr weit gehende Anspruch, von der Wort- bis zur Diskursebene
sämtliche Phänomene sprachlicher Präformiertheit zu behandeln, bringt es nun
aber notgedrungen mit sich, dass im Grunde nur der Forschungsstand der
„herrschenden Lehre“ der einzelnen Fachgebiete dargestellt wird bzw. werden
kann. Dies gilt beispielsweise Phraseme und usuelle Wortverbindungen auf der
Mehrwortebene, die als „Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung von
Musterhaftigkeit“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 67] dargestellt
werden, „da sich in den idioma tischen bzw. phraseologischen Ausdrücken die
vermutlich am besten erfassbare Form von Musterhaf tigkeit findet“ [Yearbook of
Phraseology, vol. 11, 2020, S. 67].
Was Definitionskriterien von Phrasemen und Phrasemklassen angeht,
stützen sich die Autoren auf die im deutschen und osteuropäischen Sprachraum
weit verbreitete Klassifikation Burgers (2015), die auf den zentralen Merkmalen
Polylexikalität, (relative) Stabilität und Idiomatizität beruht. Schmales (2018)
zuvor noch erwähntes Konzept der Polyfaktorialität, das an die Stelle der
Mehrworteinheit treten würde und es erlaubte, auch monolexikale Routineformeln
in die Klasse der Phraseme einzubeziehen, wird allerdings nicht berücksichtigt.
Auch was die „systematische Vertie fung“ zur Phraseodidaktik angeht, beziehen
sich Stein und Stumpf auf die Tenöre dieses Paradigmas: „Der Aufbau einer
tragfähigen phraseologischen Kompetenz ist für eine angemessene
Sprachverwendung unerlässlich. Es steht deshalb außer Frage, dass die
Vermittlung phraseologischen Wissens in der Mutter- wie in der
Fremdsprachendidaktik eine zentrale Aufgabe darstellt“ [Schmale 2018, S. 87].
Nicht erwähnt wird, dass diese Forderung relativ undifferenziert erfolgt.
Wenn nämlich kommunikative Kompetenz ohne Kollokationen oder
Routineformeln nicht vorstellbar ist, so gehören Sprichwörter, Gemeinplätze oder
Idiome für FSLerner*innen, was die aktive Sprachkompetenz betrifft, sicherlich
nicht dazu.
Man thematisiert die einzelnen zuvor beschriebenen Ebenen hinausgehende
Phänomene, die des Spracherwerbs, sprachlicher Varietäten und der Sprachkritik.
Es geht darum, wenn nicht exhaustiv, so doch gezielt bestimmte sprachliche
Aspekte von Musterhaftigkeit in den genannten Themenbereichen aufzuzeigen.
Zum Spracherwerb werden theoretisch der gesteuerte und didaktisch der
ungesteuerte Spracherwerb in wesentlichen Zügen dargestellt. Gegenpole sind hier
der Chomsky’sche Nativismus und der Konstruktivismus Tomasellos. Im
Gegensatz zum Nativismus, der von einem angeborenen
Spracherwerbsmechanismus, dem „language acquisition device“, ausgeht, beruht
der Konstruktivismus auf der Annahme, dass sich beim Kind die Sprachfähigkeit
über das Abspeichern rekurrenter Gebrauchsmuster, „constructions“, Muster,
Modelle oder „chunks“ entwickelt und Spracherwerb damit folglich kein
atomistischer, sondern vielmehr ein holistischer Prozess ist. Selbst wenn
offensichtlich ungesteuerter L1-Erwerb und gesteuerter L2-Erwerb nicht
vergleichbar sind, da letzterer in nicht-natürlichen Kontexten stattfindet, muss die
Erkenntnis, dass Sprache mehrheitlich in vorgeformten Konstruktionen
unterschiedlicher Größe stattfindet, unbedingt für die FS-Didaktik nutzbar gemacht
werden, um bei den Lerner*innen Kommunikations- oder Textroutinen
herauszubilden. Auch auf die Wichtigkeit des Eingangs sprachlicher Muster in
Lernerwörterbücher oder Kinderbücher wird hingewiesen.
Weiter wird das Konzept der Musterhaftigkeit auf sprachliche Varietäten
angewendet angesichts der Tatsache, dass Muster sprachlicher Varietäten von der
Standardsprache abweichen können. Varietäten sind in der Tat abhängig von
regionaler Herkunft, Kommunikationssituation, sozialer Schicht, Geschlecht oder
Alter [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 239-240] und können auf der
Grundlage diatopischer (insbes. Dialekte), diastratischer (z.B. Soziolekte,
Jugendsprache, Ethnolekte) und diaphasischer (Register, Fachsprachen)
Dimensionen unterschieden werden. Die exemplarische Vertiefung erfolgt am
Beispiel der medizinischen Fachsprache.
Schließlich beschäftigen sich die Phraseologieforscher mit der Verbindung
von Musterhaftigkeit und Sprachkritik. Repetitiver Gebrauch bestimmter –
insbesondere phraseologischer – Muster kann den Vorwurf mit sich bringen,
abgenutzte Floskeln, Klischees, Phrasen, Plattitüden, Schablonen, Worthülsen zu
produzieren, anstatt sich kreativ und originell auszudrücken.
Nicht alle sprachlichen Muster, vor allem bestimmte als veraltet geltende
Phrasemtypen (hier sind vorrangig Sprichwörter oder Gemeinplätze zu nennen)
werden aus meist laienlinguistischer Sicht oder aufgrund persönlicher Präferenzen
als akzeptabel erachtet, was auch für neologistische, von den erwarteten und als
korrekt angesehenen Regeln abweichende Konstruktionen gilt. Kritik an
rassistischen, sexistischen oder homophoben Phrasemen ist dagegen absolut
unerlässlich.
Stein und Stumpfs Schlussbemerkungen zu ihrem sehr instruktiven Band,
der dem Anspruch einer Einführung in das weite Feld der Musterhaftigkeit absolut
gerecht wird, da er über alle behandelten Themenbereiche einen ausreichenden und
gut verständlichen Überblick bietet, sind deshalb gerechtfertigt: „Das hier
vertretene, sehr weite Verständnis von Musterhaftigkeit, das nicht nur lexikalische,
sondern auch grammatische, textuelle und textübergreifende Erscheinungen
umfasst, mag vielleicht auf den ersten Blick irritieren und den Bogen als
überspannt erscheinen lassen; wir gehen aber davon aus, dass die Überlegungen
auf den zweiten Blick plausibel machen, dass Musterhaftigkeit in
grundverschiedener Gestalt ausgeprägt sein kann“ [Stein S. & Stumpf 2019, S.
293].
Neben Ergebnissen aus der Phraseologie haben auch Erfahrungen etwa aus
der Konstruktionsgrammatik, der Übersetzungswissenschaft und der
Fremdsprachendidaktik schon seit geraumer Zeit zu der Erkenntnis geführt, dass
„[m]ehr oder weniger feste Wortverbindungen […] keine Sonder-, sondern
Normalfälle sprachlicher Zeichenbildung dar[stellen]“ [Ágel 2004, S. 65]. Und so
wird bereits im Vorwort darauf hingewiesen, dass Sprache in der Tat
phraseologisch ist.
Dass in der Phraseologie „etwas im Fluss“ ist, zeigt sich auch bei der
Benennung phraseologischer Phänomene. Denn diese ist (nicht nur in den
einzelnen Disziplinen) nicht einheitlich, sondern wird (mehr oder weniger
synonym) mit folgenden Termini bezeichnet: Mehrworteinheiten,
Mehrwortausdrucke, feststehende Ausdrucke, phraseologische Einheiten,
formelhafte Sprache, Phraseme, idiomatische Ausdrücke, Idiome, Kollokationen
und/oder polylexikalische Ausdrücke.

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