Die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Phraseologie
Zu den Zielen der im Jahr 1999 gegründeten Europaischen Gesellschaft für
Phraseologie gehört unter anderem der „Informationsaustausch über die wissenschaftlichen Aktivitäten der europäischen Forschung, über Tagungen und Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Phraseologie“ (http://www.europhras.org/de/europhras). Dazu finden in regelmäßigen Abständen verschiedene Veranstaltungen statt, bei denen man einen sehr guten Überblick über den gegenwärtigen Stand nach wie vor dominanter Forschungsrichtungen in der Phraseologie machen kann. Die Korpuslinguistik hat in den letzten Jahren einen Einfluss auf die Phraseologieforschung genommen, der auch zu einem Perspektivwechsel „weg von den auffälligen Idiomen hin zu den unauffälligen Kollokationen und musterhaften Konstruktionen“ [Handwerker 2010, S. 249] geführt hat. Eine große Bandbreite an verschiedene Herangehensweisen und Forschungsrichtungen wendet sich auf Wortverbindungen, ihre computerbasierte Extraktion, Analyse und unterschiedliche Weise korpuslinguistischer Methoden an. Im Beitrag von Kenneth Ward Church zu „Korpusmethoden in einer digitalisierten Welt“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 3-15] wird darauf hingewiesen, dass Daten in einem Maße zur Verfügung stehen, wie es nie zuvor der Fall war. Es ist nun in den Bereich des Machbaren gerückt, einen „nichttrivialen Teil“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 14] der weltweiten Kommunikation zu digitalisieren, und mit Google Ngrams ist es möglich, korpusbasierte Methoden auf eine halbe Billion Wörter anzuwenden und somit auch (typische) Wortverbindungen aufzudecken. Jean-Pierre Colson stellt in seinem „IdiomSearch-Experiment“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 16-28] vorläufige Ergebnisse der Extraktion von phraseologischen Einheiten/Idiomen mit dem datengesteuerten cpr-score in jeweils 200 Millionen Token umfassenden Web-Korpora der Sprachen Englisch, Spanisch, Französisch und Chinesisch vor. Die meisten gebräuchlichen Kollokationen, aber auch eine hohe Anzahl relativ seltener fester Verbindungen konnten so ausfindig gemacht werden, auch wenn der Algorithmus für jede Sprache ein wenig angepasst werden musste. Das Thema von Gloria Corpas Pastor sind kollokationale Konstruktionen im Spanischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 29-40], wozu korpusbasiert (sowohl originale als auch übersetzte) Untertitel analysiert wurden. Ein Ergebnis der Studie ist, dass riesige (giga-token) Korpora bei kollokationalen Konstruktionen repräsentativere Ergebnisse mit höherer Granularität erzielen können als kleinere, ausgewogene Korpora – die Zukunft liegt also nach Meinung der Autorin in den big data. Dmitrij Dobrovol’skij und Ludmila Pöppel suchen einen adäquaten quantitativen Zugang zu „Konstruktionen in parallelen Korpora“ [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 29-40], wobei sie nach Analogien für die verbreitete russische Konstruktion дело с mом, чmо (‚die Sache ist die, dass‘) in den Sprachen Englisch, Deutsch und Schwedisch suchen und dabei den Herfindahl-Index als statistische Methode der Analyse einsetzen. Der Beitrag von Patrick Hanks [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 54-68] beschreibt die „Mechanismen von Bedeutung“. Seine Hypothese lautet, dass Bedeutungen mit (relativ stabilen, aber doch veränderbaren) phraseologischen Mustern assoziiert sind und diese wiederum eher mit den Wörtern in ihrem üblichen Gebrauch als mit den Wörtern selbst. Um das automatische „Identifizieren von Mehrworteinheiten (MWE) vor der Übersetzung“ geht es bei Carlos Ramisch [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 69-84], denn es hieße, den Wagen vor das Pferd zu spannen, wenn versucht würde, MWE zu übersetzen, bevor solche korrekt als solche identifiziert seien. Probleme für das automatische Erkennen stellen mangelnde Kontinuität, Ambiguität und das Finden angemessener Übersetzungen dar. Der Themenbereich „Phraseologie in Übersetzung und kontrastiven Untersuchungen“ beginnt mit einem „Netz aus Analogien“ von Susanna Dyka, Iva Novakova und Dirk Siepmann [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 87-101]. Hier wird die Problematik der Übersetzung von beschreibenden Verben anhand eines Korpus zeitgenössischer englisch- und französischsprachiger Romane und Erzählungen dargestellt, während es in Rozane Rodrigues Rebechis und Márcia Moura da Silvas Beitrag um die Funktion der Phraseologie in brasilianischen Rezepten im Portugiesischen und Englischen geht [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 102-104]. Dabei zeigt sich, dass die in Rezepten verwendeten englischen Verben semantisch mehr aufgeladen sind, während im Portugiesischen in dieser Textgattung ein stärkerer Gebrauch von Verbalphrasen zu beobachten ist, in denen die Verben stärker desemantisiert sind. Neben linguistischen Aspekten dürfen aber für eine erfolgreiche Übersetzung auch kulturelle Faktoren nicht außer Acht gelassen werden. Óscar Javier Salamanca Martínez und Mercedes Suárez de la Torre widmen sich der Untersuchung von pragmatischen Aspekten bei eventiven spezialisierten phraseologischen Einheiten in einem parallelen spanisch-englischen Korpus aus Texten zu erneuerbaren Energien und betonen dabei die Wechselbeziehungen zwischen der morpho-syntaktischen, semantischen und pragmatischen Ebene für die Übersetzung. Esther Sedano Ruiz geht in ihrem Beitrag auf Übersetzungen von phraseologischen Einheiten bei Untertiteln in Fernsehserien ein. Die Autorin wählt für ihre Fallstudie die US-amerikanische Serie Big Bang Theory und deren Untertitelung ins Spanische [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 128-142] und definiert vier besonders Frequente Methoden beim Umgang mit diesen Einheiten. Im Themenbereich „Lexikographie und Terminographie“ befassen sich Melania Cabezas-García und Pamela Faber mit einem semantischen Zugang von komplexen Nominalgruppen in englischen Fachtexten (am Beispiel eines Korpus aus Texten zu erneuerbaren Energien), die bisher in Wörterbüchern noch nicht systematisch behandelt werden [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 145-159]. Milena Hnátková, Tomáš Jelínek, Marie Kopřivová, Vladimir Petkevič, Alexandr Rosen, Hana Skoumalová und Pavel Vondřička schlagen eine multidimensionale Einordnung von Mehrwortausdrücken im Tschechischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 160-175] vor, die die syntaktische Struktur, Fixiertheit bzw. Flexibilität und Idiomatizität beachtet. Eine Methodologie für Prädikat-Argument-Analysen am Beispiel des EcoLexicons, einer multilingualen terminologischen Wissensbasis zur Umwelt in den Sprachen Spanisch, Englisch, Deutsch, Griechisch, Russisch und Niederländisch schlagen Arianne Reimerink und Pilar León-Araúz [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 176-190] vor, wofür sie automatische und halbautomatische Vorgehensweisen kombiniert haben. Zur Nutzung von Korpora in phraseologischen Untersuchungen legt Stephen James Coffey eine Studie zum Gebrauch des definiten oder indefiniten Artikels vor [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 193-204], der in einigen englischen Phrasen ohne Veränderung der Bedeutung austauschbar zu sein scheint, obwohl das dem üblichen exklusiven Gebrauch von the und a/an widerspricht. Václava Kettnerová, Veronika Kolářová und Anna Vernerová beschreiben tschechische Verbkonstruktionen, in denen ein deverbales Nomen mit einem „leichten“ (semantisch entleerten) Verb ein komplexes Prädikat bildet, und schlagen eine neue lexikographische Darstellung verbaler und nominaler Strukturen von tschechischen deverbalen Nomen vor [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 205-219]. Einen Beitrag zu einem korpusbasierten „phraseologischen Minimum“ liefert Marie Kopřivová [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 220- 231]. Dafür unternimmt sie den Versuch, unter Zuhilfenahme von Korpusdaten mit annotierten Kollokationen eine Liste der gebräuchlichsten und typischsten tschechischen Idiome zu erstellen. Das Korpus besteht aus Zeitungs- und Zeitschriftentexten, Belletristik und Sachliteratur sowie gesprochener Sprache. Die Studie bestätigt einen deutlichen Unterschied im Gebrauch von Idiomen in der gesprochenen und der geschriebenen Sprache. Lexikalische Verfügbarkeit von Sprichwörtern im europäischen Portugiesisch untersuchen Sónia Reis und Jorge Baptista [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 232-244] anhand einer großen Datenmenge von über 114 000 Sprichwörtern und ihren Varianten. Frequenzdaten wurden von zwei Webbrowsern und einem öffentlich zugänglichen Korpus aus journalistischen Texten ermittelt. Die Untersuchung verifiziert die ursprüngliche Annahme, dass der Gebrauch von Sprichwörtern durch Stilistische Konventionen häufig auf gesprochene oder umgangssprachliche kommunikative Kontexte beschränkt ist. Polona Gantar, Simon Krek und Taja Kuzman beschreiben verbale Mehrwortausdrücke im Slowenischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 247-259], wofür sie ein manuell annotiertes Trainingskorpus dieser Ausdrücke erstellt haben, das Teil des Projektes PARSEME (PARSing and Multi- word Expressions) ist und 30 Sprachen und 6 Dialekte aus unterschiedlichen Sprachen repräsentiert. Mehrworteinheiten stellen noch immer einen Schwachpunkt z. B. bei der maschinellen Übersetzung oder der Eigennamenerkennung dar, aber auch etwa beim Taggen oder Lemmatisieren. Das Trainingskorpus berücksichtigt internationale Standards der Kategorisierung und Beschreibung von Mehrworteinheiten und wird in eine maschinenlesbare Sammlung mit formalen und syntaktischen Merkmalsbeschreibungen münden. Francisco J. Vigier und María del Mar Sánchez untersuchen in einem parallelen englisch-spanischen Korpus, das aus Urteilen des Europäischen Gerichtshofes besteht, die Übersetzung von Namen einzelner Namen von Gerichten [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 260-273]. Die Studie ergab, dass in über 95 % der Fälle die Namen in der Zielsprache nicht übersetzt wurden, sondern die Bezeichnung der Ursprungssprache beibehielten. Der Bereich Phraseologie und das Erlernen von Sprachen wird von Elena Berthemet mit einem Vorschlag für eine bessere Darstellung von phraseologischen Bedeutungen in Lerner-Lexika [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 277-289] eingeleitet. Der Fokus liegt bei dieser Untersuchung auf Französisch als Fremdsprache, doch ist die verwendete Methode auch auf die anderen Sprachen des Projekts Colidioms: An Online Dictionary for Phraseography and Paremiography (Chinesisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Japanisch und Russisch) anwendbar und soll sowohl für die theoretische als auch die angewandte Linguistik von Wert sein. Dem Design eines „Lerner-Lexikons mit phraseologischen Disambiguatoren“ widmen sich P. V. DiMuccio-Failla und Laura Giacomini [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 290-305] auf der durch Korpusuntersuchungen gestützten theoretischen Grundlage, dass Cluster von verschiedenen Bedeutungen eines Verbs durch übliche Kollokatoren identifiziert werden können. Eine Mehrebenenstruktur im Lexikon (bestehend aus der oberen Ebene mit ontologischen Disambiguatoren, einer mittleren Ebene mit gebräuchlichen Kollokatoren und einer unteren Ebene mit normalen Gebrauchsmustern) soll Lerner zu den benötigten Informationen führen. Elma Kerz und Daniel Wiechmann untersuchen individuelle Unterschiede beim Verarbeiten von L2-Mehrwortphrasen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 306-321] bei 63 Deutschen mit fortgeschrittenen Kenntnissen des Englischen. Kognitive und kulturelle Aspekte von Phraseologie beleuchtet María Luisa Carrió-Pastor in ihrer Analyse kognitiver Verben in linguistischen, technischen und medizinischen akademischen Abhandlungen des Englischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 325-336]. Sie stellt dabei unterschiedliche diskursive Muster in den verschiedenen Bereichen fest: In der Linguistik werden kognitive Verben und verschiedene Muster zum Ausdruck reflektierender Einstellungen und Überzeugungen deutlich häufiger verwendet als in den anderen beiden analysierten Disziplinen. Zvonimir Novoselec untersucht kulturelle Modelle und die Motivation von Idiomen mit der Komponente „Herz“ im Kroatischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 337-347]. Seine Ergebnisse zeigen, dass alle untersuchten Idiome durch drei kulturelle Modelle motiviert sind, wobei das Herz als Stätte von Gefühlen, wo Emotionen wie Liebe, Zuneigung oder Schmerz konzeptualisiert werden, die meisten Beispielidiome auf sich vereinen kann. Auch Jelena Parizoska und Ivana Filipović Petrović beschäftigen sich mit dem Kroatischen, jedoch mit Vergleichen mit kao (‚wie‘) nach dem Muster Adjektiv + kao + Substantiv [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 348-362]. Die Untersuchung zeigt, dass die adjektivische Leerstelle mit Adjektiven, Adverbien oder Verben gefüllt sein kann. Daneben kann sie aber auch leer bleiben. Der Vergleich solcher Muster mit anderen Sprachen kann Einblicke in die universellen Mechanismen vermitteln, die der Variation von Idiomen zugrunde liegen. Die kognitive Verarbeitung von Mehrwortausdrücken durch Muttersprachler und Nichtmuttersprachler des Englischen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 363-379] untersuchen Victoria Yaneva, Shiva Taslimipoor, Omid Rohanian und Le An Ha anhand von Belegen aus Blickdaten aus dem Eye- Tracking-Korpus GECO. Im Rahmen des Themenbereiches „Theoretische und deskriptive Zugänge zur Phraseologie“ beschäftigen sich Admas Bodomo, So-sum Yu und Dewei Che mit Konstruktionen im Chinesischen, die Verb-Objekt-Komposita genannt werden [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 383-396]. Die Beziehung zwischen den zwei oder mehr Morphemen eines solchen Kompositums ist zum Teil morphologisch und zum Teil syntaktisch. Diese Eigenschaft teilen sie mit Verb-Objekt-Idiomen. Mi Hyun Kim und Alain Polguere untersuchen koreanische morphologische Kollokationen und beschreiben theoretische und deskriptive Implikationen [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 397-411]. Im Koreanischen können manche Komposita als Phraseme angesehen und analysiert werden (sogenannte morphologische Kollokationen), obwohl Komposita üblicherweise nicht im Blickfeld phraseologischer Untersuchungen sind. Die Studie soll helfen, verschiedene Arten von koreanischen Komposita zu verstehen und zu beschreiben und dazu anregen, morphologische Kollokationen zusammen mit phrasalen Kollokationen zu lehren und zu lernen. Noch eine Gruppe von Beiträgen widmet sich Computerbasierten Zugängen zur Phraseologie und beginnt mit Ayman Alghmandis und Eric Atwells Versuch einer umfassenden Darstellung von arabischen Mehrwortausdrücken [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 415-431], die die sprachliche Ambiguität dieses linguistischen Phänomens berücksichtigt. Dies findet im Rahmen des JOMAL-Projektes statt, das zum Ziel hat, ein digitales Lexikon für arabische Mehrwortausdrücke und Sprachpädagogik zu entwickeln, und wofür mehrere neue Annotationsfeatures entwickelt wurden. Ein praktisches Verfahren zur Frequenz-Konsolidierung zwischen verschieden langen Wort-N-Grams, das eine korpusbasierte Untersuchung von Mehrwortausdrücken erleichtert, wird von Andreas Buerki vorgestellt [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 432-446]. Alexsandro Fonesca, Fatiha Sadat und François Lareau präsentieren eine Methode zur Identifizierung von Kollokationen in einem Korpus [Yearbook of Phraseology, vol. 10, no. 1, 2019, S. 447-461], wobei ein Dependenzparser, der Kollokationskandidaten extrahiert, mit einem lexikalischen Netzwerk, das auf den lexikalischen Funktionen basiert, kombiniert wird. Innerhalb der IVITRA-Reihe (John Benjamins) legt die gegenwärtige Linguistik einen besonderen Wert auf intensive Forschungen in dem Bereich der Computerphraseologie. Die Fülle an Ansätzen, Forschungsthemen und Sprachen veranschaulicht in der Tat die Fülle von Errungenschaften im Rahmen dieser Disziplin im Laufe von zwanzig Jahren nach der produktiven Veröffentlichung von Sag und Baldwin (z. B. Sag et al. 2002). Forscher bemühen sich immer noch intensiv darum, Wortverbindungen zu erstellen für Systeme zur Verarbeitung natürlicher Sprache. Syntaktische Anomalie, Nichtkompositionalität, Mehrdeutigkeit, Diskontinuität, Variabilität, Überlappung, Verschachtelung… viele sind die Herausforderungen, die für die optimale Verarbeitung ubiquitärer MWEs noch angegangen werden müssen (Constant et al. 2017; Ramisch u Villavicencio 2018; Ramischet al. 2018). Zusätzliche Untersuchungen sind der neuartigen Maßnahmen und Werkzeugen für die automatische und halbautomatische Verarbeitung von Phrasemen gewidmet. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Techniken vorgeschlagen und weiter ausgearbeitet wie die neue Metrik für die automatische Extraktion von Phraseologien: die Corpus Proximity Ratio oder CPR (Colson 2016), das MERGE (Multi-word Expressions aus der rekursiven Gruppierung von Elementen) Algorithmus basierend auf dem progressiven Erweiterung benachbarter Bigramme nach lexikalischen Assoziationsstärken (Wahl und Gries 2018) sowie praktische Werkzeuge kombiniert mit Korpora für die Automatik Extraktion von Phrasemen durch statistische Ergebnisse: das mwetoolkit (Ramish 2015), die innovative Forschungswege auf dem Gebiet der MWE-Verarbeitung eröffnet. Neuere Untersuchungen zu unterschiedlichen Sprachen ergeben in der Tat, dass eine Platzierung von Idiomen ins Zentrum sprachlicher Musterhaftigkeit aus gebrauchsorientierter Perspektive keineswegs gerechtfertigt ist. So weisen Siepmann und Bürgel (2019) auf der Grundlage ihres sehr umfangreichen Corpus de Référence du Français Contemporain (CRFC) nach, dass Idiome im Französischen im engeren Sinne quantitativ betrachtet keinerlei Rolle spielen. Sie arbeiten vielmehr als hochfrequent semantisch völlig unauffällige Bigramme wie un peu, parce que, par exemple, en plus usw. heraus. Erst eine von den Autoren ausdrücklich in den Vordergrund gestellte korpuslinguistische Vorgehens weise auf der Grundlage großer Korpora mündlicher und schriftlicher Äußerungen, wobei Introspek tion aufgrund von Intuitionen ausgeschlossen wird [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 33], wohingegen „korpuslinguistische Analyseverfahren und -instrumentarien sehr hilfreich [sind], teilweise […] unverzichtbar [erscheinen]“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 41], könnte empirische Erkenntnisse bezüglich der sprachlich- textuelldiskursiven Frequenz unterschiedlicher Typen von „Musterhaftigkeit“ erbringen. Schließlich versuchen Stein und Stumpf auch die Form-Bedeutungskontinua der viel diskutierten Konstruktionsgrammatik einzubeziehen, die zwar auf viele vorgeformte Erscheinungen zutreffen, allerdings nicht „auf alle Erscheinungsformen sprachlicher Musterhaftigkeit zufriedenstellend“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 32] angewendet werden können. Insbesondere wird infrage gestellt, dass sprachliches Wissen „durchgehend und ausschließlich auf Konstruktionen aufgebaut und mit konstruktionsgrammatischen Methoden zu beschreiben“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 32] ist. Ausgehend von den skizzierten theoretischen Modellen werden im Folgenden fünf unterschiedliche Ebenen der Musterhaftigkeit sowie drei ebenenübergreifende Phänomene sprachlicher Musterhaftigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Auf der untersten Stufe der Musterhaftigkeit steht die Wortebene (Wortbildungsmuster), auf der höchsten die Diskursebene (Argumentationsmuster, Metaphern und Denkstereotype). Dazwischen situieren die Autoren in steigender Ausdehnung und Komplexität die Mehrwortebene (Phraseme und usuelle Wortverbindungen), die Satzebene (Valenz- und Satzmuster), die Textebene (Textsorten, Text- und Formulierungsmuster, formelhafte Texte) und die Gesprächsebene (von Routineausdrücken bis zu kommunikativen Gattungen). Ihrem Anspruch entsprechend, eine Einführung in Phänomene sprachlicher Vorgeformtheit anzubieten, geben die Autoren einen kompetenten Überblick zu allen genannten Bereichen, skizzieren die gängigen Ansätze, indem sie sich auf die jeweils einschlägigen Arbeiten beziehen, bieten im Anschluss an praktische Zusammenfassungen Tipps für weiterführende Lektüren und zu jedem Gebiet zwei exemplarische Vertiefungen, z.B. im Bereich Phraseologie zur Phraseodidaktik oder der Kinder- und Jugendliteratur. Verdienstvoll ist zweifellos in einer Einführung das systematische Bemühen der Autoren, Verbindungen aller Bereiche zur Konstruktionsgrammatik herzustellen, selbst wenn die Anregungen nicht empirisch umgesetzt werden können. Auch die Berücksichtigung multimodaler Äußerungseigenschaften zur Gesprächsebene ist zu begrüßen. Der sehr weit gehende Anspruch, von der Wort- bis zur Diskursebene sämtliche Phänomene sprachlicher Präformiertheit zu behandeln, bringt es nun aber notgedrungen mit sich, dass im Grunde nur der Forschungsstand der „herrschenden Lehre“ der einzelnen Fachgebiete dargestellt wird bzw. werden kann. Dies gilt beispielsweise Phraseme und usuelle Wortverbindungen auf der Mehrwortebene, die als „Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung von Musterhaftigkeit“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 67] dargestellt werden, „da sich in den idioma tischen bzw. phraseologischen Ausdrücken die vermutlich am besten erfassbare Form von Musterhaf tigkeit findet“ [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 67]. Was Definitionskriterien von Phrasemen und Phrasemklassen angeht, stützen sich die Autoren auf die im deutschen und osteuropäischen Sprachraum weit verbreitete Klassifikation Burgers (2015), die auf den zentralen Merkmalen Polylexikalität, (relative) Stabilität und Idiomatizität beruht. Schmales (2018) zuvor noch erwähntes Konzept der Polyfaktorialität, das an die Stelle der Mehrworteinheit treten würde und es erlaubte, auch monolexikale Routineformeln in die Klasse der Phraseme einzubeziehen, wird allerdings nicht berücksichtigt. Auch was die „systematische Vertie fung“ zur Phraseodidaktik angeht, beziehen sich Stein und Stumpf auf die Tenöre dieses Paradigmas: „Der Aufbau einer tragfähigen phraseologischen Kompetenz ist für eine angemessene Sprachverwendung unerlässlich. Es steht deshalb außer Frage, dass die Vermittlung phraseologischen Wissens in der Mutter- wie in der Fremdsprachendidaktik eine zentrale Aufgabe darstellt“ [Schmale 2018, S. 87]. Nicht erwähnt wird, dass diese Forderung relativ undifferenziert erfolgt. Wenn nämlich kommunikative Kompetenz ohne Kollokationen oder Routineformeln nicht vorstellbar ist, so gehören Sprichwörter, Gemeinplätze oder Idiome für FSLerner*innen, was die aktive Sprachkompetenz betrifft, sicherlich nicht dazu. Man thematisiert die einzelnen zuvor beschriebenen Ebenen hinausgehende Phänomene, die des Spracherwerbs, sprachlicher Varietäten und der Sprachkritik. Es geht darum, wenn nicht exhaustiv, so doch gezielt bestimmte sprachliche Aspekte von Musterhaftigkeit in den genannten Themenbereichen aufzuzeigen. Zum Spracherwerb werden theoretisch der gesteuerte und didaktisch der ungesteuerte Spracherwerb in wesentlichen Zügen dargestellt. Gegenpole sind hier der Chomsky’sche Nativismus und der Konstruktivismus Tomasellos. Im Gegensatz zum Nativismus, der von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus, dem „language acquisition device“, ausgeht, beruht der Konstruktivismus auf der Annahme, dass sich beim Kind die Sprachfähigkeit über das Abspeichern rekurrenter Gebrauchsmuster, „constructions“, Muster, Modelle oder „chunks“ entwickelt und Spracherwerb damit folglich kein atomistischer, sondern vielmehr ein holistischer Prozess ist. Selbst wenn offensichtlich ungesteuerter L1-Erwerb und gesteuerter L2-Erwerb nicht vergleichbar sind, da letzterer in nicht-natürlichen Kontexten stattfindet, muss die Erkenntnis, dass Sprache mehrheitlich in vorgeformten Konstruktionen unterschiedlicher Größe stattfindet, unbedingt für die FS-Didaktik nutzbar gemacht werden, um bei den Lerner*innen Kommunikations- oder Textroutinen herauszubilden. Auch auf die Wichtigkeit des Eingangs sprachlicher Muster in Lernerwörterbücher oder Kinderbücher wird hingewiesen. Weiter wird das Konzept der Musterhaftigkeit auf sprachliche Varietäten angewendet angesichts der Tatsache, dass Muster sprachlicher Varietäten von der Standardsprache abweichen können. Varietäten sind in der Tat abhängig von regionaler Herkunft, Kommunikationssituation, sozialer Schicht, Geschlecht oder Alter [Yearbook of Phraseology, vol. 11, 2020, S. 239-240] und können auf der Grundlage diatopischer (insbes. Dialekte), diastratischer (z.B. Soziolekte, Jugendsprache, Ethnolekte) und diaphasischer (Register, Fachsprachen) Dimensionen unterschieden werden. Die exemplarische Vertiefung erfolgt am Beispiel der medizinischen Fachsprache. Schließlich beschäftigen sich die Phraseologieforscher mit der Verbindung von Musterhaftigkeit und Sprachkritik. Repetitiver Gebrauch bestimmter – insbesondere phraseologischer – Muster kann den Vorwurf mit sich bringen, abgenutzte Floskeln, Klischees, Phrasen, Plattitüden, Schablonen, Worthülsen zu produzieren, anstatt sich kreativ und originell auszudrücken. Nicht alle sprachlichen Muster, vor allem bestimmte als veraltet geltende Phrasemtypen (hier sind vorrangig Sprichwörter oder Gemeinplätze zu nennen) werden aus meist laienlinguistischer Sicht oder aufgrund persönlicher Präferenzen als akzeptabel erachtet, was auch für neologistische, von den erwarteten und als korrekt angesehenen Regeln abweichende Konstruktionen gilt. Kritik an rassistischen, sexistischen oder homophoben Phrasemen ist dagegen absolut unerlässlich. Stein und Stumpfs Schlussbemerkungen zu ihrem sehr instruktiven Band, der dem Anspruch einer Einführung in das weite Feld der Musterhaftigkeit absolut gerecht wird, da er über alle behandelten Themenbereiche einen ausreichenden und gut verständlichen Überblick bietet, sind deshalb gerechtfertigt: „Das hier vertretene, sehr weite Verständnis von Musterhaftigkeit, das nicht nur lexikalische, sondern auch grammatische, textuelle und textübergreifende Erscheinungen umfasst, mag vielleicht auf den ersten Blick irritieren und den Bogen als überspannt erscheinen lassen; wir gehen aber davon aus, dass die Überlegungen auf den zweiten Blick plausibel machen, dass Musterhaftigkeit in grundverschiedener Gestalt ausgeprägt sein kann“ [Stein S. & Stumpf 2019, S. 293]. Neben Ergebnissen aus der Phraseologie haben auch Erfahrungen etwa aus der Konstruktionsgrammatik, der Übersetzungswissenschaft und der Fremdsprachendidaktik schon seit geraumer Zeit zu der Erkenntnis geführt, dass „[m]ehr oder weniger feste Wortverbindungen […] keine Sonder-, sondern Normalfälle sprachlicher Zeichenbildung dar[stellen]“ [Ágel 2004, S. 65]. Und so wird bereits im Vorwort darauf hingewiesen, dass Sprache in der Tat phraseologisch ist. Dass in der Phraseologie „etwas im Fluss“ ist, zeigt sich auch bei der Benennung phraseologischer Phänomene. Denn diese ist (nicht nur in den einzelnen Disziplinen) nicht einheitlich, sondern wird (mehr oder weniger synonym) mit folgenden Termini bezeichnet: Mehrworteinheiten, Mehrwortausdrucke, feststehende Ausdrucke, phraseologische Einheiten, formelhafte Sprache, Phraseme, idiomatische Ausdrücke, Idiome, Kollokationen und/oder polylexikalische Ausdrücke.
(Linguistische Arbeiten 494) Gabriele Knauer, Valeriano Bellosta Von Colbe (Eds.) - Variación Sintáctica en Español - Un Reto para Las Teorías de La Sintaxis-De Gruyter (2011)