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Muttermilch ist furchtbar out

17. Februar 2016


Wäre Muttermilch ein Medikament, sie wäre die Wunderdroge schlechthin. Denn sie wirkt
nachweislich präventiv gegen eine Vielzahl von Erkrankungen bei Mutter und Kind – und das
absolut risikofrei. Dennoch ist das Stillen unpopulär geworden, und das ist leider ein mehr oder
minder globaler Trend. Denn nicht nur in reichen Nationen wird nur noch ein kleiner Teil der
Kinder bis zum sechsten Monat gestillt, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt.
Auch in Ländern mit mittlerem oder niedrigem Bruttosozialprodukt erhält im ersten Halbjahr nur
gut jedes dritte Kind ausschließlich Muttermilch als Nahrung, nur jedes fünfte Kind wird noch über
das erste Lebensjahr hinaus gestillt, während es bereits andere Nahrung zu sich nimmt. Diese
besondere Ernährungsweise wird in reichen Ländern seltener, extrem niedrig sind die Raten in
einigen europäischen Ländern.
In England, Irland und Dänemark werden nur noch ein, zwei beziehungsweise drei Prozent der
Babys im Alter von einem Jahr gestillt, während sie schon Beikost erhalten. Wenngleich die
Angaben je nach Studie schwanken, so sind die Zahlen für Deutschland nur geringfügig höher.
Nach Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung werden hierzulande rund zehn Prozent der
Kinder nur im ersten Lebenshalbjahr noch ausschließlich gestillt. Und Muttermilch zusätzlich zu
anderer Nahrung erhalten bis zum ersten Geburtstag lediglich acht Prozent der Babys.
In einem der renommiertesten Medizinerjournale werden nun in einer Artikelserie die weltweit
niedrigen Stillraten angeprangert. So schätzen Cesar G. Victoria vom Zentrum für gesundheitliche
Chancengleichheit an der Universität in Pelotas in Brasilien und seine Kollegen, dass rund 823 000
Kindern unter fünf Jahren durch die Ernährung mit Muttermilch und 20 000 Müttern durch das
Stillen jährlich das Leben gerettet werden könnte („Lancet“, Bd. 387, S. 475). Die Voraussetzung
dafür wäre für die Epidemiologen allerdings, dass in 75 Ländern 90 Prozent der Kinder im Alter
von sechs Monaten ausschließlich und 90 Prozent der sechs bis 23 Monate alten noch wenigstens
teilweise gestillt würden.
Während Stillen die Mütter insbesondere vor Brustkrebs schützt, verringert es bei Kindern in
ärmeren Ländern das Risiko, an lebensbedrohlichen Durchfällen zu erkranken um die Hälfe, bei
Atemwegsinfekten wie einer Bronchitis um ein Drittel. Auch Mittelohrentzündungen und andere
Infektionen seien bei Säuglingen, die Muttermilch erhielten, deutlich seltener zu beobachten. Es sei
allerdings ein weitverbreitetes Missverständnis, so Victoria, dass vom Stillen nur die Kinder aus
ärmeren Ländern profitierten.
In den Industrienationen verhindere die Ernährung mit Muttermilch außerdem das Risiko, am
plötzlichen Kindstod zu sterben, um ein Drittel. Die Vorteile der Muttermilch halten zudem lange
vor und verringern auch im späteren Leben das Risiko chronischer Erkrankungen wie Allergien,
Hautekzeme, Asthma, Fettleibigkeit und Diabetes. Gesundheitsrisiken, die in wohlhabenden
Ländern stetig zunehmen. Studien, die dem Stillen eine Steigerung der Intelligenz attestieren, sind
inzwischen so zahlreich und verlässlich, dass sie niemand mehr wirklich anzweifelt. Nigel Rollins
von der Weltgesundheitsorganisation hat untersucht, wie hoch die volkswirtschaftlichen Verluste der
ungenutzten Intelligenz-Ressourcen einer Bevölkerung sind, wenn die Jüngsten nicht
flächendeckend in ausreichender Zahl und lange genug gestillt werden. („Lancet“, Bd. 387, S. 491).
Als eine Hauptursache für den weltweit versiegenden Muttermilchfluss machen Alison McFadden
von der Mutter-Kind-Forschungsabteilung der Universität in Dundee und ihre Kollegen in einem
Kommentar die „aggressive“ Werbung für und Verbreitung von Ersatzmilch in allen Teilen der Welt
verantwortlich (Bd. 387, S. 413). Der Einfluss der Hersteller wachse rapide. Global stiegen die
Erlöse aus dem Verkauf von Milchpulver für Säuglinge und Kleinkinder von zwei Milliarden Dollar
im Jahr 1987 auf 40 Milliarden im Jahr 2013. In China allein brachte im Jahr 2012 der Verkauf von
Muttermilchersatz zwölf Milliarden Dollar ein, die jährlichen Wachstumsraten werden mit 14
Prozent angegeben. Der internationale „Kodex Alimentarius“ gegen die unredliche Vermarktung
von Muttermilchersatz ist ein zahnloser Tiger. Die Hersteller bewerben ihre Kunstmilch direkt bei
den Schwangeren und umgehen die dafür erlassenen internationalen Regeln. Nachweislich haben
sie in einigen Ländern, darunter Bangladesch, Brasilien und die Vereinigten Staaten, versucht,
Experten gegen Bezahlung zur Werbung für ihre Produkte zu
bewegen. Sie suchen den Kontakt zu einschlägigen Fachgesellschaften und sponsern deren
Kongresse. Auch hierzulande haben Kinder- und Jugendärzte die falschen Versprechen der
Ersatzmilch-Industrie bereits hinlänglich kritisiert – gemessen an den Stillraten allerdings ohne
großen Erfolg.   

FAZ, 17.2.2016

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