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Das ius commune in der frühen Neuzeit

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Zur letzten Stunde
• Rezeption des römischen Rechts in ganz Europa nach Wiederentdeckung des corpus
iuris civilis im 11. Jahrhundert
• Glossatoren und Kommentatoren bearbeiten das corpus iuris civilis mit dem Ziel,
Widersprüche zu harmonisieren und Übersicht zu schaffen
Worterklärungen, Definitionen, Zusammenstellung von Parallelstellen, Bildung von
Parallelfällen zu den im Text erwähnten Fällen, Auflösung von Widersprüchen in Text,
Sammlung von Argumenten für die dem Text entnommene Lösung
• Kanonisches Recht entwickelt sich ebenfalls als gelehrtes Recht

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Gerichtsbarkeit im Mittelalter
• Gerichtsrechte als Privilegien und Lehen
• Für die verschiedenen Rechtskreise verschiedene Gerichte  auch
Zunftgerichte, Marktgerichte, Universitätsgerichte etc.
• Zahlreiche Kompetenzüberschneidungen zwischen kirchlichen und weltlichen Gerichten
• Kein Instanzenzug
 Urteilsschelte
 Oberhöfe der Stadtrechtsfamilien im 15. Jahrhundert werden als Schritt in Richtung
Instanzenzug gesehen (aber: Oberhof gibt nur Rechtsmeinung bekannt, entscheidet
nicht selbst)

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Gerichte in der frühen Neuzeit
• Vielfalt bleibt bestehen
• Mit dem Ewigen Landfrieden (1495) setzt sich flächendeckend eine funktionierende
Gerichtsbarkeit durch
• Zunehmend gelehrte Juristen an den Gerichten
• Wo gelehrte Juristen fehlten, wurden Rechtsprobleme oft gelehrten Gremien vorgelegt
 Oberhöfe der Stadtrechtsfamilien
 Schöffenstühle der Juristenfakultäten

Herausbildung einer überwiegend gelehrten Gerichtspraxis

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Reichskammergericht
• Oberstes Gericht des Reiches, von den anderen Reichsgewalten
unabhängiges Organ
• Trennung von Richter und Urteilern, die zur Hälfte
gelehrte Juristen und zur anderen Hälfte dem
ritterbürtigen Adel entstammen sollten
• Zuständigkeiten:
 Ahndung von Friedensbrüchen
 Klagen gegen reichsunmittelbare Stände
 oberste Appellationsinstanz in Zivilsachen (Ausnahme bei
Privilegien “de non appellando“ und für gewisse Gebiete)
• Jedermann stand der Weg zum Reichskammergericht offen (auch
z.B. Frauen und Juden)
• Hohe Fallzahlen (ca. 100.000 Fälle in drei Jahrhunderten) Audienz am Reichskammergericht, Kupferstich, 1750 (Städtische
Sammlungen Wetzlar)

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Q 1: Reichskammergerichtsordnung (1495)
§ 3. Item die alle söllen zuvor Unser Koniglicher oder Kaiserlicher Majestät geloben und zu den
Hailigen swern: Unserm Koniglichen oder Kaiserlichen Camergericht getrewlich und mit Vleis ob sein
und nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen,
Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht, die für sy pracht werden,
(...) zu richten

§ 3. Ferner sollen der Kammerrichter und die Beisitzer vor Unserer Königlichen oder Kaiserlichen
Majestät einen Eid ablegen und zu den Heiligen schwören: Unserem Königlichen oder Kaiserlichen
Kammergericht gewissenhaft und mit Fleiß zu dienen und nach des Reiches gemeinen Rechten,
auch nach redlichen, ehrbaren und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten der
Fürstentümer, Herrschaften und Gerichte, die ihnen vorgelegt werden müssen, (...) zu urteilen

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Bedeutung des Reichskammergerichts für die Rechtsentwicklung
• Als Appellationsinstanz Rückwirkung auf
materielles Recht und Verfahrensgestaltung in den
territorialen Gerichten
Schritt Richtung Rechtseinheit
• Publikation und Kommentierung der Urteile durch
einzelne Assessoren
Keine Urteilssammlungen im modernen Sinne,
sondern Abhandlungen, in denen
kammergerichtliche Rechtsprechung mit gelehrtem Joachim Mysinger von Frundeck, Singularium Observationum
Recht konfrontiert wird Judicii Imperialis Camerae centuriae quatuor, 1563

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Was gilt – römisches Recht oder Partikularrecht?
• Ius commune oder gemeines Recht als das allgemein geltende Recht, i.d.R. römisches
Recht und kanonisches Recht
 Verhältnis zu den lokalen (= partikularen) Rechten steht zur Diskussion
• Lotharische Legende, wonach römisches Recht in vollem Umfang aufgrund kaiserlichen
Befehls im Reich gilt
durch Hermann Conring („De Origine iuris Germanici“, 1643) widerlegt: Römisches
Recht soll nur gelten, wo es tatsächlich in die Rechtspraxis als rezipiertes Recht Eingang
gefunden hat
• Statutentheorie: Primär galt einheimisches Recht, dessen Existenz vor Gericht aber
bewiesen werden musste
 römisches Recht galt nur subsidiär, faktisch aber einflussreich
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Kontext: Renaissance und Reformation

• Reformbestrebungen an der Schwelle von Mittelalter zu früher Neuzeit


• Renaissance im 15./16. Jahrhundert will die Leistungen der Antike wiederbeleben
• Reformation im 16. Jahrhundert fordert, sich ganz auf den Text der Bibel zu
konzentrieren, unverstellt durch spätere Interpretationen
Beide Reformbewegungen sind getragen von der Idee, dass eine gute Ordnung durch
Rückbesinnung wieder hergestellt werden kann

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Juristischer Humanismus ab Beginn des 16. Jahrhunderts
• Wandel im Umgang mit den römischen Quellen im Zuge von Renaissance, Reformation
und Humanismus
Besinnung auf die Texte der Antike, gegen scholastische Methode der Glossatoren und
Kommentatoren (mos italicus)
• Kritik an Autoritätsgläubigkeit und an den ausschweifenden Kontroversen, die durch den
Zwang zur Harmonisierung entstanden, an der Verwendung von schlechten
Textüberlieferungen und an der Nichtberücksichtigung vieler Textstellen
• Reform des materiellen Rechts durch bessere Interpretation besserer Texte (mos gallicus)
• Vertreter z.B. Ulrich Zasius (1461-1535), Jacques Cujas (1522-1590), Hugo Donellus
(1527-1591), Andrea Alciato (1492-1550)

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Q 2: Methodenprogramm von Ulrich Zasius (1526)
Vor allem will ich bekennen, dass ich allein von dem Texte der Quellen und von wahren und sicheren Gründen,
die auf dem Rechte oder der Natur der Sache beruhen, abhängen, nur auf diese mich stützen, an sie mich
halten will.
Sodann: dass ich an den Wirbelwind der Meinungen, durch welche, wie Cebes bezeugt, der Weg zur
Wissenschaft nicht führt, nicht gefesselt sein will, da sie bei mir nicht das geringste Ansehen haben, wenn sie
nicht auf den Quellen des Rechts oder der klaren Vernunft beruhen.
Drittens: dass ich die Autorität des Accursius, Bartolus, Baldus, Angelus und der übrigen, bei aller Ehrfurcht,
die ich ihnen schulde und zolle, doch nicht höher anschlage als die aller übrigen Gelehrten, die sich durch
Kenntnisse bewähren; dass sie mich also durch kein Vorurteil beugen, wenn sie gleich an Geist und
Gelehrsamkeit hervorragend gewesen sein mögen. Denn die Wahrheit des Rechts wird nur aus den Quellen,
nicht aus der Autorität der Doktoren geschöpft.
Endlich lasse ich den ganzen Wald von Consilien völlig beiseite, da sie meistens mehr um Gewinns halber und
um den Richter zu überreden, als um den wahren Sinn der Quellen zu verteidigen, verfasst sind. Wer also
künftig mich widerlegen will, der kämpfe gegen mich mit den Zeugnissen der Rechtsquellen und echten
Gründen. Kommt er mit anderen Waffen, so weise ich sie durch diese Erklärung zurück, als gegen die
Kampfregeln.

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Methoden des mos gallicus
Neue Methoden:
• Textkritik und editorische Arbeit
 Aufspüren des historischen Ursprungs der auszulegenden Textstelle
 Rekonstruktion ihres historischen Kontextes
 Ermittlung der Umstände der Einfügung in den Corpus iuris
• Herausarbeiten von generellen Prinzipien und Einordnung der einzelnen Sätze in ein
System
 Neue Versuche der systematischen Konstruktion des Rechtsstoffes

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Usus modernus pandectarum
• Parallel zum juristischen Humanismus
entwickelte sich die praktische Anwendung
des ius commune
Usus modernus pandectarum als „zeitgemäße
Praxis des römischen Rechts“
• Vertreter z.B. Samuel Stryk (1640-1710),
Georg Adam Struve (1619-1692), Wolfgang
Adam Lauterbach (1618-1678)

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Methoden des usus modernus pandectarum
• Anpassung des römischen Rechts an die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der
frühen Neuzeit
• Einheimische Rechtsinstitute wurden mit dem römischen Recht verschmolzen
• Methodisch näher dem mos italicus als dem juristischen Humanismus
Dennoch kein Widerspruch, sondern gegenseitige Befruchtung: Humanisten verfassen
praktische Abhandlungen, die dem usus modernus pandectarum zuzurechnen sind, in
der praktischen Literatur werden wiederum Erkenntnisse der Humanisten reflektiert, z.B.
welche Stellung eine Passage im corpus iuris hat

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Beispiel: Eigentum
• Der auf Ausschluss Dritter beruhende Eigentumsbegriff des
römischen Rechts setzt sich durch
• Römischrechtliche Figur der Ersitzung verdrängt mittelalterliche
Regelung
• Aber: Gutgläubiger Eigentumserwerb soll schon vor Ablauf des
Ersitzungszeitraums möglich sein, was aus dem mittelalterlichen
„Hand wahre Hand“-Prinzip folgte

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Q 3: Lehrbuch von Johann Gottlieb Heineccius (1733)
§ 777. Welche Vereinbarungen gibt es?

Eine Vereinbarung ist entweder nackt oder nicht nackt, D.2.14.7.1., 2., 4., C.2.3.10. Nackt ist sie, wenn sie bei
bloßen Zwecken einer Abrede und einer Übereinkunft verharrt, und nicht eine Klage hervorbringt, sondern nur
eine Einrede, D.2.14.7.4., C.6.36.10., 21., 28. Nicht nackt ist sie, wenn sie eine Klage hervorbringt*, entweder
weil ihr speziell das Gesetz oder der Prätor beisteht, D.2.14.6., oder weil sie unmittelbar an einen Vertrag nach
Treu und Glauben angehängt ist, D.2.14.7.5., C.2.3.13. (...)
So die Römer. Aber diese Feinheit haben andere Völker nicht übernommen, und so erzeugen ebenso
Übereinkunft wie Vertrag, nackte wie nicht nackte Übereinkünfte eine Verbindlichkeit und Klage. Dieses Lob galt
einst den Germanen, die zu Recht gerühmt wurden, daß kein Sterblicher sie an Waffenstärke oder Treue
übertreffe, Tacitus Annales, Buch 13, Kap. 54. Weshalb bei ihnen immer das Rechtssprichwort galt: Ein Wort, ein
Wort – ein Mann, ein Mann. Das heißt, ein guter Mann wird allein aus seinem Wort verpflichtet. Weshalb sich
jene völlig irren, die die verpflichtende Kraft der Vereinbarungen aus dem kanonischen Recht herleiten (...)

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Bernhard Walther zu Walthersweil (1516-1584)

• Studium in Leipzig und Norditalien, ab 1540 Professor in Wien


• Hauptwerk „Aurei Tractatus iuris Austriaci“ (1552-1558)
 Darstellungen des geltenden Rechts, vorwiegend von Österreich
• Dem juristischen Humanismus verbunden, aber sehr praktisch orientiert
Trägt bei zur Herausbildung eines österreichischen ius romano germanicum, in dem er
römisches Recht und einheimisches Recht verbindet
versucht der Rechtsharmonisierung, wobei er zunächst auf einheimisches Recht abstellt
und die Lücken mit gemeinem Recht füllt

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Wirkungen des usus modernus pandectarum
• Setzt Maßstäbe für die Methode bis ins 19. Jahrhundert: hohe Bedeutung für die
Rechtspraxis bis zur Kodifikation
• Weniger dogmatische Neuerungen, denn dogmatische Verarbeitung der bestehenden
Praxis zu einer Privatrechtsordnung
• Geltung des römischen Rechts wird konsolidiert, zugleich gewinnt aber auch
einheimisches Recht durch Verschmelzung mit dem römischen Recht an Bedeutung
 wird zum Bestandteil des ius commune (ius romano germanicum)
 Wegbereiter für die Herausbildung nationaler Rechtsordnungen

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Zusammenfassung
• Gesetzesgleiche Geltung des römischen Rechts wird in der frühen Neuzeit in Frage
gestellt
Lösung von den Glossatoren und Kommentatoren als Autoritäten
Verhältnis von römischen Recht und einheimischen Rechten wird neu bestimmt
• Rechtspraxis: Bedeutungsgewinn des römischen Rechts durch gelehrte Assessoren und
durch Beweispflicht für einheimische Rechte
• Wissenschaft: kritische und genaue Arbeit mit den antiken Texten (juristischer
Humanismus), Aussortieren von Fragmenten des corpus iuris, die nicht von der Praxis
rezipiert wurden oder nicht in die Zeit passen, Verschmelzung des römischen Rechts mit
einheimischen Recht (usus modernus pandectarum)

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Lektüre zur Nacharbeit
• Manual Rn. 1227-1249
• P. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015, S. 160-166.
• S. Hofer, Leitfaden der Rechtsgeschichte, S. 113-115 (Verhältnis römisches Recht und
Partikularrecht)
• K. Luig, Art. mos gallicus, mos italicus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Auf.
1984, Sp. 691-698.

Verständnis- und Vertiefungsfragen:


• Welche Methoden wandte der mos italicus an? Welche Kritik formulierte der juristische
Humanismus hieran?
• Welche Rolle spielte das römische Recht in der Rechtspraxis? In welchem Verhältnis stand es zum
einheimischen Recht?
• Inwiefern wies der usus modernus pandectarum in die Zukunft?
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Aufgabe zum Nachdenken und Beobachten:

• Was ist juristische Dogmatik?


• Welche Ähnlichkeiten zum usus modernus pandectarum fallen
Ihnen an der heutigen Dogmatik auf? Welche Unterschiede sehen
Sie?
• Welche Rolle spielt die Rechtswissenschaft für die Rechtspraxis –
heute und damals?

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

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