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' Mario Göngora, Ensayo historico sobre la nocion de Estado en Chile, Santiago de Chile
1981, S. 7 ff.
^ Alonso de Ercilla, La Araucana, Santiago de Chile 1969.
^ Pedro de Ona, Arauco domado, Madrid 1944.
^ Nestor Meza, Polltica indigena en los orfgenes de la sociedad chilena, Santiago de Chi-
le 1951 und Sergio Villalobos, Historia del pueblo chileno, Santiago de Chile 1983 und
ders., Los pehuenches en la vida fronteriza, Santiago de Chile 1989.
' Alonso de Göngora Marmolejo, Historia de Chile desde su descubrimiento hasta ei aüo
de 1575, Santiago 1970, S. 24.
^ Göngora, Ensayo histörico (wie Anm. 1), S. 8.
1891. Die schrittweise Befriedung der »Araucania«, der von Araukanern bewohn-
ten Gebiete, sollte erst gegen Ende des Jahrhunderts abgeschlossen sein^. Daher
konnte sich im 19. Jahrhundert durchaus die Vorstellung verbreiten, Chile sei sei-
nem Wesen nach ein kriegerisches Land.
Miguel de Unamuno, der bedeutende spanische Schriftsteller, bezeichnete Chi-
le als »ein Land von Karthagem, für Kriegsbeute organisiert und vom Salpeter ver-
dorben«'.
Gewiß berücksichtigt dieses abschätzige Urteil nur die negative Seite der Me-
daille. Denn was die historische Entwicklung Chiles gerade im hispano-amerika-
nischen Kontext herausragen läßt, ist der ungemein kurze Zeitraum, in dem es der
chilenischen Führungsschicht gelang, nach dem Abzug der Kolonialmacht ein sta-
biles republikanisches Regierungssystem aufzubauen. Im krassen Gegensatz zur
politischen Entwicklung der meisten anderen Länder der Region, die nach Errin-
gung ihrer Unabhängigkeit von Spanien jahrzehntelang - und in gewissen Fällen
sogar bis in die heutige Zeit - unter Anarchie zu leiden hatten, koimten in Chile dank
des Wirkens Diego Portales' (1793-1837), dessen politische Vorstellungen in der
Verfassung von 1833 Gestalt annahmen, staatliche Institutionen gefestigt werden,
die dem Land eine für rund hundert Jahre dauernde Ordnung und Stabilität be-
scheren soUten'. Nach Iiüa-afttreten dieser Verfassung wirkten ohne Unterbrechung
regelmäßig gewählte Präsidenten der Republik und Parlamente. Besaßen in den
ersten Jahrzehnten dieses portalianischen Präsidialsystems die ersten Staatspräsi-
denten noch einen stark konservativen und autoritären Charakter - damaliges po-
htisches Hauptziel war »die Errichtung und Wahrung der Ordnung«, um einer et-
waigen nach den Unabhängigkeitswirren drohenden Anarchie vorzubeugen - , so
lockerte sich das System bereits gegen Mitte des Jahrhunderts, bis sich schließlich
nach dem Bürgerkrieg von 1891 ein liberal-parlamentarisches Regierungssystem
durchsetzte, welches bis 1924 andauern sollte^". Im Schutz einer für die demokra-
tischen Institutionen Spanisch-Amerikas vorbildlichen politischen Stabilität genoß
Chile einen ununterbrochenen wirtschaftlichen Fortschritt, der seinen Höhepunkt
erreichen sollte, als Chile nach dem Salpeterkrieg gegen Peru und Bolivien von
den Salpeterminen in Atacama Besitz ergrifft Auf diese Weise bewirkten die be-
schriebenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Erfolge Chiles das Wun-
der, die allerärmste amerikanische Kolonie Sparüens gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts in den nach Ansicht vieler stabilsten und wirtschaftlich stärksten Staat La-
teinamerikas zu verwandeln.
Über die Geschichte Chiles in diesem Zeitraum: Simon Collier and William Sater, A
History of Chile, 1808-1994, Cambrigde 1996; Diego Barros Arana, Historia General de
Chile, 16 Bde, Santiago 1884-1902; Francisco Antonio Encina, Historia de Chüe desde la
prehistoria hasta 1891, 20 Bde, Santiago 1942-1952.
Zit. nach Gongora, Ensayo historico (wie Anm. 1), S. 8.
Bemardino Bravo Lira, Historia de las instituciones politicas de Chile e Hispanoameri-
ca, Santiago 1986; Simon Collier, Ideas y poUtica de la independencia chilena, Santiago
1977; Enrique Brahm Garcia, Bibliografia portaliana in: Portales. El hombre y su obra.
La consolidaciön del gobierno civil. Hrsg.: Bemardino Bravo Lira, Santiago 1989.
Enrique Brahm Garcia, Tendencias criticas en el conservantismo despues de Portales,
Santiago 1992; Gonzalo Vial Correa, Historia de Chile (1891-1973), 4 Bde, Santiago
1981-1996.
Carmen Cariola y Osvaldo Sunkel, Un siglo de historia economica de Chile 1830-1930,
Santiago 1991 und Markos Mamalakis, The Growth and Structure of the Chilean Eco-
nomy, New Häven 1976.
Chiles Militär unter deutschem Einfluß 1885-1930 137
Obgleich Chile im 19. Jahrhundert von Kriegen gezeichnet war, waren die eigenen
Streitkräfte nie das Lieblingskind der jeweiligen Regierungen'^. Zu Beginn des Un-
abhängigkeitskampfes gegen die spanische Krone sahen sich die Patrioten weit-
gehend gezwvmgen, eine total improvisierte Armee auf die Beine zu stellen. Die mei-
sten Offiziere entstammten der Oberschicht, ohne jemals eine militärische Ausbil-
dung genossen zu haben; allerdings gab es auch einige wenige, die anläßlich ei-
nes Aufenthaltes in Europa in den napoleonischen Kriegen militärische Erfahrungen
gesammelt hatten. Die einfachen Soldaten hingegen waren zumeist Landarbeiter,
einige sogar Indianer
Dank argentinischer Unterstützung der von General Jose de San Martin und
vom Chilenen Bernardo O'Higgins, einem Sohn des früheren spanischen Vizekö-
nigs, geleiteten »Befreiungsarmee« wurde das Gros der spanischen Truppen 1817
und 1818 vernichtend geschlagen, womit Chile endgültig seine Unabhängigkeit
errang. Doch zog sich im Süden des Landes noch jahrelang der bereits erwähnte
Guerillakrieg hin".
Von dem Moment der Unabhängigkeit an nahm sich die chilenische Armee
die französische zum Vorbild. Bereits 1817 kam der französische General Michel
Brayer nach Chile; wenig später folgten ihm Oberst George Beauchef, Brigadege-
neral Benjamin Viel und Oberst Guillaume de Vic Tupper Ebenfalls französischer
Herkunft waren die Uniformen, die meisten Waffen und Ausrüstungen, sovwe die
Geschütze der Küstenbatterien zur Verteidigung der Häfen und Festungen. In den
Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte wurden auch chilenische Offiziere zur mi-
litärischen Aus- und Weiterbildung nach Frankreich geschickt'^. Obwohl zur be-
ruflichen Ausbildung der Offiziere schon 1817 eine Militärakademie gegründet
worden war, war dieser nur ein kurzes Leben beschieden, ein Los, das Sie mit vie-
len anderen damaligen Einrichtungen teilen mußte, so daß die Offiziere direkt im
Dienst in den verschiedenen Regimentern ausgebildet wurden, hauptsächlich in den
Garnisonen an der Grenze zum Araukanergebiet, dem so genannten »Arauco«.
Wie entwickelten sich die chilenischen Streitkräfte nach Beendigung der Feind-
seligkeiten gegen die spanischen Kolonialherren?
Die 20er Jahre waren eine turbulente Zeit politischer Instabilität, die durch viel-
fache Aufstände und Umsturzversuche gekennzeichnet war, an denen das Heer
eine wichtige Beteiligung hatte. Daher war eine der ersten Maßnahmen der kon-
servativen Kräfte, die ab 1830 die Oberhand errungen und die Ordnung wieder
hergestellt hatten, die sofortige Entlassung aller revolutionären Offiziere. Deshalb
wurde auch in die Verfassung von 1833 die völlige Unterordnung aller Streitkräf-
te unter die zivile Gewalt geschrieben, d.h. unter den Präsidenten der Republik
und in seiner Vertretung unter den Kriegsminister Gleichzeitig wurden die soge-
12
Die vollständigste Geschichte des chilenischen Heeres ist die vom Generalstab der Ar-
mee herausgegebene Historia del Ejercito de Chile, 10 Bde, Santiago 1985. Außer den in
Anm. 7 angegebenen aUgemeinen Geschichtswerken siehe auch: Sergio Vergara, Histo-
ria Social del Ejercito de Chile, Santiago 1993.
Historia del Ejercito de Chile (wie Anm. 12), Bd 2: De la Patria Vieja a la Batalla de Maipo
1810-1818.
Ebd., Bd 4: Consolidaciön del profesionalismo militar. Ein de la guerra de Arauco
1840-1883.
138 MGZ 62 (2003) Enrique Brahm Garcia
Jaime Eyzaguirre, Historia de las instituciones poMticas y sociales de Chile, Santiago 1967,
S. 88 ff.
Collier/Sater, A History of Chile (wie Anm. 7), S. 67 ff., sowie Historia del Ejercito de
Chile (wie Anm. 13), Bd 3: El ejercito y la organizadon de la Repüblica 1817-1840, S. 189 ff.
Historia del Ejercito de Chile, Bd 4 (wie Anm. 14).
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de des Krieges befunden. Doch in letzter Minute einigten sie sich und teilten die
Wüste beim 24. Breitengrad südlicher Breite auf. Chile verzichtete somit auf einen
Teil seiner Ansprüche, während Bolivien sich verpflichtete, die von der »Salpeter-
und Eisenbahngesellschaft von Antofagasta« zu entrichtenden Steuern nicht zu
erhöhen. Diese »Compania de Salitres y Ferrocarril de Antofagasta«, die bedeu-
tendste Salpetergesellschaft in Atacama, gehörte chilenischen Kaufleuten. Doch
gegen Ende 1878 erhöhte die bolivianische Regierung mit peruanischer Unter-
stützung die von der genannten Gesellschaft zu entrichtenden Abgaben. Als Chi-
le die Rücknahme dieser einseitigen Maßnahme nicht diplomatisch durchsetzen
konnte, erklärte es Bolivien und Peru den Krieg". Wie schon 1837 ergriff auch dieses
Mal Chile die militärische Initiative. Darüc der Vernichtung der wichtigsten peru-
anischen Panzerschiffe während der ersten Konfliktwochen hatte Chile die See-
herrschaft über den Südpazifik erobert. Dieser Umstand sollte ihm erlauben, er-
folgreich ein Expeditionskorps in der damals zu Peru gehörenden Hafenstadt
Pisagua zu landen, um dann von dort aus auf dem Landweg weiter nach Norden
vorzudringen. Da die boliviarüschen Truppen sich kurz nach Ausbruch der Feind-
seligkeiten in ihre Heimat im Andenhochland zurückgezogen hatten, machte sich
die chilenische Armee an die Aufgabe, das peruanische Landheer zu verfolgen
und konnte nach einer Reihe blutiger Schlachten die peruanische Hauptstadt Li-
ma im Januar 1881 erobern. Doch dauerten die Feindseiligkeiten in Form eines
Guerillakrieges im peruanischen Hochgebirge noch zwei weitere Jahre an.
Diese militärischen Erfolge sind um so erstaunlicher, als die chilenischen Streit-
kräfte bei Ausbruch der Feindseligkeiten im April 1879 überhaupt nicht auf einen
Feldzug vorbereitet waren. Sie zählten kaum 8000 Soldaten und besaßen nur
wenige Waffen: Die Infanterie war mit dem 1873er Modell des franko-belgischen
Comblain-II-Gewehrs ausgerüstet und die Kavallerie mit 1877er Winchester Ka-
rabinern, während die Artillerie einige Feldgeschütze der Firma Krupp sowie 1873er
Gebirgsgeschütze besaß. Die Truppen wurden von größtenteils inkompetenten Of-
fizieren geführt, die ihre Stellungen häufig ihren politischen Verbindungen ver-
dankten. Befähigt waren sie eigentlich nur für den sich weiter hinschleppenden
Kleinkrieg gegen die Mapuche-Indianer im Süden des Landes". Die unter Mißach-
tung jeglicher klassischer Manövergrundsätze am häufigsten angewandte Taktik
des chilenischen Oberbefehlshabers General Manuel Baquedano war der in einem
Bajonettangriff endende Frontalangriff. Diese eher primitive Art der Kriegführung
führte zu äußerst blutigen Kämpfen mit einer unverhältnismäßig hohen Anzahl
an Toten und Vervmndeten. So betrugen beispielsweise in der Schlacht um die süd-
peruanische Stadt Tacna im Mai 1880 die chilenischen Opfer drei von zehn Solda-
ten (insgesamt etwa 500 Tote und an die 1600 Verletzte). Und in den Schlachten
von ChorriUos und Miraflores, die zur Einnahme Limas führten, betrugen die chi-
lenischen Verluste über 1300 Tote und 4000 Verwundete^". Die Tapferkeit, Uner-
Das klassische Werk über den Salpeterkrieg ist: Gonzalo Bulnes, La Guerra del Padfico,
3 Bde, Santiago 1911-1919. Siehe auch William Sater, Chile and the War of the Pacific,
Lincoln, Nebr. 1986 und Mario Harros van Buren, Historia Diplomätica de Chile 1541-1938,
Barcelona 1970.
" Historia del Ejercito de Chile (wie Anm. 12), Bd 5: El Ejercito en la Guerra del Pacffico.
Ocupaciön de Antofagasta y Campafia de Tarapacä 1879 und Bd 6: El Ejercito en la Guerra
del Pacifico. Campanas de Moquegua, Tacna y Arica, Lima, La Sierra, Arequipa y termino
de la guerra.
Colher/Sater, A History of Chile (wie Anm. 7), S. 125 ff.
140 MGZ 62 (2003) Enrique Brahm Garci'a
Ebd.
^ Historia del Ejercito de Chile (wife Anm. 12), Bd 7: Reorganizaciön del Ejercito y la
influencia alemana 1885-1914; Ferenc Fischer, El modelo militar pnisiano y las Fuerzas
Armadas de Chile 1885-1945, Pees 1999; William Sater and Holger Herwig, The grand
illusion. The Prussinization of the Chilean Army, Lincoln, Nebr. 1999; Jean-Pierre
Blancpain, L'armee chiBerme et les instmcteurs aUemands en Amerique latine (1885-1914),
in: Revue historique, 285 (1991), S. 347 ff.
^ Jean-Pierre Blancpain, Les allemands au Chili, 1816-1945, Köln 1974.
Chiles Militär unter deutschem Einfluß 1885-1930 141
stand^"*. Das Wettrüsten mit dem Nachbarn jenseits der Anden verschlang einen
Großteil der Staatseinnahmen. Körner selbst fuhr 1894 nach Europa, um die Be-
schaffung von Artilleriegeschützen und Gewehren persönlich zu überwachen^.
Die Lage war so angesparmt, daß Körner bereits 1898 einen Aufmarschplan für ei-
ne Invasion Argentiniens ausgearbeitet hatte, doch konnten die Diplomaten und
die chileiüsche Regierung die Situation noch einmal friedlich lösen^'. Gleichzeitig
mit seinen oben beschriebenen Funktionen und mit Hilfe von etwa dreißig weite-
ren im Jahre 1895 angestellten deutschen Offizieren konnte Kömer eine tiefgrei-
fende Heeresreform - einschließlich der Einführung des Militärdienstes nach preußi-
schem Vorbild - durchführen, deren Ergebnisse allerdings bis heute umstritten
sind^'. Durch die friedliche Lösung des akuten Grenzkonfliktes mit Argentirüen
verlor Kömer etwas an Einfluß. 1904 wurde er noch Generalinspekteur der Armee
bevor er sechs Jahre später in den Ruhestand ging.
Dennoch dauerte die Anwesenheit von deutschen Instmkteuren im chileni-
schen Heer an. Nachdem die deutschen Offiziere anläßlich des Ersten Weltkrieges
in ihre Heimat zurückgekehrt waren, kamen danach wieder einige nach Chile, um
ihre Arbeit fortzusetzen. Doch gegen Ende der 20er Jahre hatten sich die meisten
von ihnen aus dem chilenischen Heer zurückgezogen.
Dies fiel zeitlich mit dem Vertrag von 1929 zusammen, durch welchen Chile
und Fem die letzten noch aus der Zeit des Salpeterkrieges stammenden Grenz-
probleme friedlich lösten, wodurch die Wahrscheinlichkeit eines Krieges endgül-
tig gebannt schien^s. Damit ging auch der deutsche Einfluß bei der Ausbildung der
Offiziere des chilenischen Heeres zu Ende, denn nach dem Zweiten Weltkrieg ge-
rieten die südamerikanischen Armeen unter den Einfluß der Vereinigten Staaten.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die chilenische Armee zwischen 1885 imd
1930 durch den deutschen Einfluß eine radikale Umbildung erfuhr. Obwohl es in-
nerhalb der chilenischen Streitkräfte weiterhin Anhänger des französischen Mo-
dells gab, bildeten diese doch eine klare Minderheit. Nicht einmal die Niederlage
des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg koiuite unter dessen Bewunderem den
Glauben an das deutsche Heer erschüttern. Und tatsächlich haben sich im chileni-
schen Heer bis auf den heutigen Tag einige äußerliche, typisch preußische Aspek-
te erhalten, wie die Galauniformen, der Stechschritt und die deutschen Märsche
bei den großen Paraden.
Doch jenseits dieser eher formeller! Aspekte hat die Übernahme des deutschen
Modells zu einer neuen Mentalität bei den chilenischen Offizieren geführt, die sich
am besten mit dem Wort »Professionalität« beschreiben läßt. Dank dieses deut-
schen Einflusses - und trotz der von verschiedenen Seiten vorgebrachten Kritik -
verwandelte sich eine rohe und unwissende, nur für Scharmützel gegen die
Mapuches-Indianer geeignete und am Rande der Gesellschaft stehende Truppe in
einen der Hauptakteure der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklungen Chiles^'.
Dieser durch den europäischen - allen voran deutschen - EinfluiS bedingte Men-
talitätswandel im chilerüschen Offizierkorps wird besonders offenbar, wenn man
die chilenische militärische Fachliteratur untersucht, deren erste Veröffentlichun-
gen parallel mit der Ankunft der deutschen Instrukteure erscheinen. Zur damali-
gen Zeit wurde eine Reihe von Zeitschriften gegründet, in denen sich die Hoch-
achtung der chilenischen Offiziere für den von den Europäern auf militärischem
Gebiet erreichten Fortschritt widerspiegelt. Fast kritiklos wurde der Versuch un-
ternommen, die Methoden und Modelle der Alten Welt an die chilenische Wirk-
lichkeit anzupassen.
Besagte Literatur und der während dieser Jahre stattfindende Mentalitätswan-
del der chilenischen Offiziere bilden das Hauptthema der vorliegenden Untersu-
chung. Diese neue Denkweise im chilerüschen Heer kommt in der angeführten Mi-
litärliteratur offener und vollständiger zum Ausdruck als in den Beständen des
Allgemeinen Heeresarchivs oder des Nationalarchivs des Kriegsministeriums, da
letztere hauptsächlich Auskunft über Personalfragen, Reglements und die Be-
schaffung von Kriegsmaterial geben und weiuger über die Denkweise der Militärs.
Aus diesem Grund blieben letztere Quellen in der vorliegenden Untersuchung un-
berücksichtigt.
Herkömmlicherweise neigen - sich auf ihren Sieg berufend - die in einem Krieg
siegreichen Länder dazu, ihre militärische Bereitschaft zu vernachlässigen oder zu
glauben, daß die Art der Kriegführung, der sie den Sieg verdanken, deshalb auch
notwendigerweise die beste sein müßte, weshalb sie sich dagegen sträuben, Än-
derungen einzuführen und sich jedem Versuch widersetzen, ihre Streitkräfte zu
modernisieren. Erfolgreiche Waffen, Taktiken und Strategien haben die Tendenz,
sakrahsiert zu werden. Dagegen ist es meistens der Besiegte, der tiefgreifende Re-
formen und Erneuerungsprozesse durchführt. Daher ist es um so erstaunlicher,
daß unmittelbar nach Beendigung der Feindseligkeiten innerhalb der chilenischen
Armee, die im Salpeterkrieg eine aus Peru und Bolivien gebildete Koalition besiegt
hatte, heftige Kritik entbrannte, welche sowohl die Kriegführung als auch die Or-
ganisation und den Betrieb des chilerüschen Heeres während des Konfliktes offen
bemängelte'". Dieser Krieg sei zwar heldenhaft, doch nur dank des Patriotismus,
Enrique Brahm Garcia, Propiedad sin libertad: Chile 1925-1973. Aspectos relevantes en
el avance de la legislaciön socializadora, Santiago 1999; Vial, Historia de Chile (wie
Anm. 10), Bd 3: Arturo Alessandri y los golpes militares (1920-1925), Santiago 1987 und
Bd 4: La dictadura de Ibänez (1925-1931), Santiago 1996.
Schon vor Beendigung dieses Konfliktes erhoben General Emilio Sotomayor und Ad-
miral Patricio Lynch die Forderung nach einer Erneuerung der chilenischen Streitkräf-
te. In diesem Sinne richtete General Sotomayor 1882 »ein amtliches Schreiben an das
Kriegsministerium, in welchem er die Anstellung eines deutschen Ausbildungsoffiziers
nahelegte. Hier liegt der Ursprung der Fahrt nach Chile des Artilleriehauptmanns Emi-
lie Körner«. Historia MUitar de Chile, Bd 2, Santiago 1984, S. 97.
Chiles Militär unter deutschem Einfluß 1885-1930 143
»Der Krieg, der 1879 begann, überraschte uns vollkommen unvorbereitet«, schrieb
bereits 1885 Risopatrön Canas in einem Brief an Alberto de la Cruz, Direktor der
Revista Militar^K Hierbei handelte es sich um eine in der Militärliteratur der acht-
ziger Jahre immer wieder vorgebrachte Behauptung^. Die Tapferkeit des chileni-
schen Soldaten wurde als nicht mehr hinreichend angesehen. Gegen Ende des
19. Jahrhunderts, so einige Reformer, könnten Kriege nicht weiterhin nach ro-
mantischen Kriterien geführt werden, wie es noch mit den napoleonischen Feld-
zügen, den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen oder 1837 im Krieg Chi-
les gegen die von Santa Cruz angeführte peruanisch-bolivianische Konföderation
der Fall gewesen war. Auf militärischem Gebiet sei in den zur deutschen Eiriheit
führenden Kriegen die irrationale Romantik endgültig an ihrem Ende angelangt -
so dachte man. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870, in welchem sich die Geg-
ner nur wenige Jahre vor dem Salpeterkrieg mit Waffen bekämpften, welche gemäß
dem damaligen Stand der Technik den von Chile, Peru und BoHvien verwendeten
gleichkamen, hatte den Beginn eines neuen Zeitalters in der Militärgeschichte si-
gnalisiert und die Notwendigkeit einer radikal neuen Art der Kriegführung ange-
zeigt®^. Das Zeitalter des napoleonischen Glanzes und des französischen Militärs
war damit überholt, und statt dessen schien sich das siegreiche preußische Vorbild
durchzusetzen.
William McNeill faßte dies 1984 treffend zusammen:
»So hatten die Preußen bis 1871 zweimal demonstriert, wie man einen Blitzkrieg
gegen eine Großmacht erfolgreich führte. Sie hatten nur drei Wochen gebraucht,
um die Österreicher zu schlagen, und nicht mehr als sechs bis zur Ge-
fangermahme Napoleons III. Es war imdenkbar, einem solchen Beispiel nicht den
Vorzug vor dem zähen Ringen im Amerikanischen Bürgerkrieg oder der ein
gaiizes Jahr dauernden Belagerung Sewastopols zu geben. Dementsprechend
stieg das militärische Prestige Preußens enorm. Vorher die europäische
Großmacht, die am wenigsten galt und nun Herr über Deutschland, wurde es
in militärischen Angelegenheiten tonangebend für die ganze Weif'.«
So war ein neues Paradigma entstanden, das Modell einer wissenschaftlichen Krieg-
führung, geschmiedet von Helmuth von Moltke, dem Chef des preußischen Ge-
neralstabes, imd von ihm verkörpert. Sein Sieg über Napoleon III. und die ruhm-
'' Emesto Medina, Los altos comandos mihtares, Berlin 1913, S. 85.
Revista Militär, 9.4.1885, S. 23.
33
Revista Militär, 1.9.1887. J. Boonen Rivera, Participacion del ejercito en el desarrollo y
progreso del pais, Santiago 1917, S. 36. Ders., Estudio sobre la reorganizaciön y planta del
ejercito, Santiago 1888,
Francisco Javier Diaz, La Guerra Civil de 1891, Santiago 1942, S. 15.
William McNeill, Krieg und Macht. Militär und Gesellschaft vom Altertum bis heute,
München 1984, S. 225.
144 M G Z 62 (2003) Enrique Brahm Garda
reiche französische Armee beeindruckte die Militärs auf der ganzen Welt, und die
chilenischen sollten nicht die Ausnahme bilden.
An diesem Maßstab also wurde der Salpeterkrieg gemessen, was auch erklärt,
warum das chilenische Heer kritisiert wurde. »Die deutsche Armee«, äußerte zum
Beispiel ein bekannter chilerüscher Offizier, »die vollkommenste Kriegsmaschine,
die es gibt, hat im berühmten Frankreichfeldzug der Welt bewiesen, daß Krieg-
führung auch der Präzision mathematischer Berechnungen unterworfen ist'^.«
»Laßt uns Preußen nachahmen«, war der Ruf von Leutnant A. Berguno'^, denn
trotz der errungenen Siege ruhten die Preußen nicht auf ihren Lorbeeren, sondern
fuhren damit fort, ihren Kriegsapparat mit noch größerem Enthusiasmus zu ver-
vollkommnen. »Wir müssen uns vergegenwärtigen«, fügte der Leutnant hinzu,
»daß Kriegführen nicht länger ein Beruf ist, wie er es in primitiven Zeiten war,
auch nicht eine Kunst im eigentlichen Sinn, sondern eine positive Wissenschaft,
die ihre unabänderlichen Grundprinzipien besitzt.«
Daraus wurde die Folgerung gezogen, daß in künftigen Kriegen gegen erst-
rangige und wohlvorbereitete Feinde (wovon der Ausbildungs- und Rüstungs-
grad Perus und Boliviens 1879 gewiß weit entfernt war) der Sieg nicht mehr durch
ritterliche Kavallerieangriffe noch durch Bajonettangriffe einer todesmutigen In-
fanterie - selbst wenn noch so heldenartig und tapfer - errungen werden könnte,
sondern daß die Ausbildung der Truppe, gründliche Qualifizierung der Offiziere
und eine fast wissenschaftliche Leitung der Operationen unerläßlich sein würden.
Entscheidend würde der Grad der Berufsmäßigkeit im Sirme der Professionalisie-
rung sein. Der auf den 1879er Krieg bezogene Prozeß der Selbstkritik, welcher den
Antrieb für Reformen im Sinne des preußischen Paradigmas lieferte, war bereits ab
1885 in vollem Gange. Auch auf dem Gebiet der Taktik und Strategie sah man den
Zeitpunkt gekommen, »eine absurde imd veraltete Praxis zu reformieren, sie durch
eine mit dem Zeitgeist übereinstimmende zu ersetzen, Spanien seine heutzutage
überholten Gesetze zurückzuschicken und sie durch neuere, modernere Denk-
weisen zu ersetzen«'®.
Der Wert, der nun auf die Förderung von Qualifizierung und militärischer Aus-
bildung gelegt wurde, die Sorge der Offiziere, sich den neuesten Stand der Kennt-
nisse anzueignen und ihren Beruf wissenschaftlich zu erlernen, wird schon aus
dem Umstand ersichtlich, daß in dem besagten Jahr zahlreiche Veröffentlichungen
über militärische Themen herausgegeben wurden. So erschien am 1. April 1885
die erste Ausgabe der von Alberto de la Cruz C. geleiteten und vom Circulo Mili-
tär herausgegebenen Revista Militär de Chile. 1888 kam El Ensayo Militär hinzu, ab
1893 das in Valparaiso herausgegebene Boletm Militär und ab 1899 das in Santiago
veröffentlichte Memorial del Estado Mayor General del Ejercito, welches bis auf den heu-
tigen Tag fortbesteht.
»Es ist offensichtlich, daß heutzutage das Studium die Lieblingsbeschäftigung
unserer Offiziere ist«, wurde kategorisch in einer der ersten Ausgaben der Revista
Militar^^ behauptet,
»daher ist es weniger erklärlich, daß die dank dieser Gymnastik gestärkten
Hirne rücht ihre ganze intellektuelle Kraft auf die Verbreitung der militärischen
Kenntnisse durch unsere eigenen Presseorgane richten und auf diese Weise eine
Art militär-wissenschaftlicher Wedergeburt vorantreiben, von deren Einführung
im Heer wir Zeugen sind.«
Diese fruchtbare Vermehrung der militärischen Zeitschriften imd Veröffentlichungen
ist auch dadurch zu erklären, daß damit dem Beispiel der europäischen Armeen ge-
folgt wurde,
»welche Veröffentlichungen geschaffen haben, in denen sie ihre Fortschritte
bekarmt geben und ihr Interesse am Dienst an der Wissenschaft bekunden; diese
Veröffentlichungen sollten uns als Muster dienen, damit wir uns bemühen, mit
ihnen Schritt zu halten auf dem Pfad der Vervollkommnung'"'.«
Hierbei waren die europäischen Vorbilder entscheidend. In den Zeitschriften aus
jenem Kontinent »seien die neusten Fortschritte auf militärischem Gebiet ver-
zeichnet«^'. Daher auch die Bedeutung, welche den Beziehungen zwischen dem
chilenischen Heer »und den Anstalten für militärische Studien in Amerika und so-
gar in Europa«^^ beigemessen wurde, sowie dem Erlernen von Fremdsprachen sei-
tens der Offiziere^^. In den Militärkreisen, deren Blick auf Europa gerichtet war,
verstärkte sich immer mehr »die Absicht, die veralteten Systeme abzuschütteln
und die Lehren zu nutzen, die diejerügen Länder bieten, die ihrer militärischen Be-
reitschaft andauernde Aufmerksamkeit schenken«^.
Das Wesen des neuen Geistes zusammenfassend, führte Oberstleutnant Salvo
in dem Vortrag aus, mit dem der »Circulo Militär« seine Tätigkeit aufnahm: »[...]
es ist schwer vorstellbar, besser ausgebildet zu sein als ein Offizier, für den die
Kriegswissenschaft keine Geheimnisse birgt. Infolgedessen wird in Zukunft der
Sieg demjenigen gehören, der qualifizierter ist^'.« Eines der auffallendsten Kenn-
zeichen, das sich aus der Analyse der chilenischen Militärliteratur von 1885 an er-
gibt, ist zweifellos die Öffnung des chilenischen Offizierkorps ausländischen, im
wesentlichen europäischen Modellen gegenüber. Das wichtigste imd bekannteste
Ereignis dieser Ausrichtung war die 1885 erfolgte Berufung des genannten Haupt-
manns Emil(io) Körner zum Ausbilder des chilenischen Heeres, wobei Kömer die
Vorhut eines umfangreichen Kontingents von deutschen Offizieren darstellte, wel-
che - in stetiger Rotation - bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ihren
Dienst in ChUe verrichteten^. Über einen Zeitraum von fast 50 Jahren bildeten die-
se deutschen Offiziere den Grundkern der Lehrerschaft an den verschiedenen Aus-
bildungsstätten der chilenischen Armee und vor allem an der Kriegsakademie, an
der höhere Offiziere ausgebildet wurden.
Parallel dazu begann die Entsendung eines verhältnismäßig großen Kontin-
gents von chilenischen Offizieren ins Ausland, wo sie die wichtigsten Neuerun-
gen auf mihtärischem Gebiet kennenlernen sollten, und zwar sowohl in bezug auf
Kriegsmaterial als auch auf militärische Ausbildung. Bereits 1885 befanden sich
Major Jorge Boonen Rivera und Oberfeldwebel Juan G. Matta in Europa, wo sie
vor allem das deutsche Militärwesen studieren sollten. Major Boonen veröffent-
lichte eiiie Abhandlung über die preußische Militärakademie''^ und eine weitere
über die Kriegsschulen des Deutschen Reiches^®. Oberfeldwebel Matta untersuch-
te die militärische Ausbildung in Deutschland'".
Ihnen folgte eine Reihe begabter chilenischer Offiziere, die Deutschland, Öster-
reich, Frankreich, England, die Schweiz, Spanien, Italien, Belgien und die Verei-
nigten Staaten von Amerika zum Abschluß ihrer Studien an der Kriegsakademie
besuchten'".
Eine bedeutende Entwicklung sollte auch die diplomatisch-militärische Tätig-
keit erfahren. Nach Beendigung des Salpeterkrieges übernahm Major Boonen die
Leitung einer nach England entsandten Militärkommission, der von 1886 an Ad-
miral Juan Jose Latorre vorstand. Bereits 1913 gab es chilenische Militärattaches in
Berlin, Madrid, Wien, Rom, London und Tokio. Gleichzeitig bestanden eine per-
manente chilenische Heeresmission in Berlin und eine Marinemission in London,
während sich eine Gruppe chilenischer Offiziere in Frankreich im Militärflugwe-
sen ausbilden ließ. Zudem besaß Chile Militärbeobachter sowohl in Japan, wel-
ches 1905 Rußland besiegt hatte, als auch in Italien während dessen Krieg gegen
die Türkei. Hinzu kommt, daß diese Militärmissionen ziemlich stattliche Kontin-
gente aufwiesen: So befanden sich 1917 insgesamt 12 chilenische Offiziere in Ma-
drid, und noch zu einem so späten Zeitpunkt wie 1927 war die chilenische Hee-
resmission in Berlin 22 Mann stark'^ obwohl das besiegte Deutschland nur über ein
zahlenmäßig beschränktes Berufsheer verfügte und ihm die Entwicklung von An-
griffswaffen durch den Vertrag von Versailles untersagt war.
Beachtlich war das Maß an Bewunderung für die Heere der europäischen Mäch-
te. In einem im August 1890 in Essen datierten Brief schrieb z.B. Oberst Diego Düble
Almeyda:
»Was mich richtig mit Neid erfüllt, ist die bewundernswerte deutsche Armee.
So konnte ich in Berlin der Truppenformation anläßlich der Ankunft des Zaren
von Rußland beiwohnen. Drei Tage lang ging ich halb verdummt herum von
dem Eindruck, den das Ereignis auf mich gemacht hatte. Das ist etwas, was
man gesehen haben muß.« Er fügte hinzu: »... manchmal nehme ich den Zug
nach Düsseldorf, um die großen Truppenübungen und Manöver zu sehen, die
eine Stunde entfernt von hier stattfinden; stundenlang beobachte ich sie und
bleibe ihnen auf den Fersen, damit mir nichts entgeht. Was für Übungen, was
für nützliche Dinge werden in die Praxis umgesetzt! Was für eine Disziplin!
Bewunderungswürdig, bewunderungswürdig'^!«
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges war es daher selbstverständlich, daß der
Chef der chilenischen Militärmission in Berlin, Major Arturo Ahumada, und sei-
ne Offiziere »sich ruhig an die Front begaben und an allen Operationen, von der
Bombardierung von Lieges bis zur Schlacht an der Marne, als Militärbeobachter
in deutscher Uniform teilnahmen«''. Unter dem Titel »Nach Europa« stand in ei-
nem Artikel in der Revista Militär vom 1. März 1887 zu lesen: »[...] in Anbetracht
des Umstandes, daß im Alten Kontinent in wenigen Tagen der fürchterlichste al-
ler menschlichen Kämpfe ausbricht, in welchem die Kriegskunst den einzigen, al-
len Gegnern gemeinsamen Faktor darstellt«, sollte die chilenische Regierung sich
bemühen, jede Art Hindemisse zu überwinden, um Offiziermissionen nach Euro-
pa zu entsenden, »damit tmsere Offiziere an der unerschöpflichen Quelle der Kriegs-
wissenschaft jener Nationen die theoretischen und praktischen Lehren der Kriegs-
kunst in deren vielfältigen Äußerungen in sich aufnehmen«.
Die europäischen und sogar einige außereuropäische Armeen wurden eingehend
aus der Perspektive ihrer möglichen Nachahmung durch das chilenische Heer un-
tersucht. Artikel über die schweizerische^, französische'® imd sogar russische®* Ar-
mee erschienen laufend in den militärwissenschaftlichen Veröffentlichungen Chi-
les. Besonders häufig und herausragend war die Bezugnahme auf Japan, nachdem
die japanische Kriegsmaschine das russische Kaiserreich im Krieg von 1905 ge-
demütigt hatte. Laut Major Enrique Monreal ist der von Japan zurückgelegte Weg
»tiefgründig und lehrreich und bildet das beredteste Vorbild für die jungen
Völker, die ebenfalls darum ringen, sich in dem ihnen entsprechenden Raum eine
achtenswerte Stellung zu sichern. Das japanische Beispiel war um so
anziehender, als Japan ein Musterschüler des großen Deutschen Reiches war®^.«
Das Musterbeispiel bleib aber die deutsche Armee. Nicht einmal die Niederlage
von 1918 diente dazu, die chilenische Bewunderung für alles Deutsche zu
schmälern. Ausdrücklich stand dies im »Memorial« (Mitteilungsblatt) des chile-
nischen Heeres in einem kurz nach Beendigung des Weltkrieges veröffentlichten
Leitartikel zu lesen:
»Niemand, nicht einmal die vom Kriegsglück gesegneten Sieger, kann bestreiten,
daß die deutsche Armee ihre schwierige Mission auf glänzende Art und Weise
erfüllt hat. In Deutschland ist es die iiuiere Front, die versagt hat, um die die
alliierten Führer so sehr bedacht waren, anscheinend wegen der durch die
Feindblockade hervorgerufenen ungeheuren Rohstoffknappheit®'.«
Einer der stärksten Indikatoren für den neuen Geist, der von den achtziger Jahren
des 19. Jahrhunderts an in der chilenischen Armee vorherrschte, ist die beträchtli-
che Anzahl ausländischer Militärfachzeitschriften, die in Umlauf waren: insgesamt
86 Zeitschriften aus 24 Ländern". Es ist natürlich schwer festzustellen, in welchem
Maße diese Veröffentlichungen wirklich gelesen wurden. Aber der Umstand al-
lein, daß eine so beträchtliche Anzahl von Zeitschriften verfügbar war, daß ihre
Inhaltsverzeichnisse sowie Rezensionen der wichtigsten Beiträge in den chilerü-
schen militärischen Veröffentlichungen erschienen und daß Letztere auch viele
Übersetzungen von bedeutenden Artikeln brachten, läßt auf eine beachtenswerte
Perzeption schließen. Im damaligen Offizierkorps bestanden Wissensdrang, der
Nach den Siegen des preußischen Heeres, welches in drei schnellen Feldzügen Dä-
nemark und die zwei Großmächte Österreich und Frankreich venüchtet hatte, setz-
te sich unter den Militärtheoretikem ein wissenschaftsgläubiger pseudo-clause-
witzscher Dogmatismus durch, der sich rasch in den verschiedensten Militärkrei-
sen weltweit ausbreitete®'. Das fast perfekte Funktiorueren der preußischen Kriegs-
maschinerie, die durch die massive Verwendung der letzten Errungenschaften der
Wissenschaft unterstützt worden war, blendete die Berufskrieger zu einem Zeit-
punkt, als alles Wissenschaftliche hoch im Kurs stand. Die abfällig als clausewitz-
sche bezeichnete Philosophie sollte durch eine exakte Kriegswissenschaft ersetzt
werden. Diese militärischen Gedankengänge hinterüeßen einen tiefen Eindruck in
der Mentaütät der chilenischen Militärs und wurden zum Grundelement des neu-
en Geistes, der das chilenische Heer nach Abschluß des Salpeterkrieges durch-
drang. Für einen chilenischen Offizier um die Jahrhundertwende bestand kein
Zweifel daran, daß Kriegführung eine exakte Wissenschaft war, weswegen die mit
der Kriegführung Beauftragten den höchsten Grad an wissenschaftlicher Qualifi-
zierung besitzen mußten. Nicht nur wurden diese Gedanken in Büchern und Zeit-
schriften offen ausgesprochen, sie gingen auch aus der in denselben Quellen ver-
wendeten Ausdrucksweise hervor.
62
Alberto Munoz, El problema de nuestra educaciön militar, Santiago 1914, S. 47.
63
G. Arroyo, Estrategia. Nociones sobre su teoria y sus leyes, Santiago 1898, S. 8.
Ernesto Medina, EI problema militar de Chile, Leipzig 1912, S. 7.
Julio Banados Espinoza behauptete in der Revista l^litar vom 15.2.1886, Krieg sei »nicht
länger eine Kunst, die auf ein paar willkürlichen und im Übrigen rein theoretischen Re-
geln beruht, Krieg sei eine Wissenschaft, die so kompliziert und voller Probleme ist wie
Mathematik und die anderen [Wissenschaften], welche Gegenstand von Studium und
Beobachtung sind«.
Revista Militar, 1.3.1887, S. 14. Hier wird die tiefe Durchdringung unseres Offizierkorps
durch den Positivismus ä la Comte augenscheinlich (so wird z.B. das »Gesetz des un-
endlichen Fortschritts« fortwährend erwähnt. Revista Militar, 1.7.1890, S. 614; Memorial,
1909, S. 103). Oberstleutnant Jose de la Cruz Salvo, Direktor der Revista Militar, äußer-
te: »Die Wissenschaft beweist, daß wir an den allgemeinen und unendlichen Fortschritt
der Menschheit zu glauben haben«, in: Revista Militar, 1.8.1888, S. 14.
Ensayo Militar, 1889, S. 125.
Ebd.
Boonen Rivera in der Einführung zum Buch von: Ferdinand Foch, Los prindpios de la
guerra, Santiago 1919, S. 5.
Benjamin Gutierrez, Necesidad de nuestra organizacion militar, Santiago 1895, S. 8.
Ansprache von General Indalecio Tellez, in: Memorial, 1926, S. 728. Ensayo Militar,
1888, S. 2. Demnach ist für einen Offizier die beste Laufbahn »der seßhafte und edle
Weg des Studierens, denn der Pfad des Ruhmes und der Heldentaten ist heutzutage
nur noch eine Erinnerung, die bald ausgelöscht sein wird«.
150 MGZ 62 (2003) Enrique Brahm Garcia
Weiterhin dachte man, daß nicht nur der Krieg an sich einen wissenschaftHchen
Charakter angenommen habe, sondern daß diese WissenschaftUchkeit noch weiter
verstärkt werden würde durch die Aneignung praktisch aller wissenschaftlichen
Zweige seitens des »Militärischen«, das sie alle in seinen eigenen Dienst stellen
würde^^. »Krieg ist heutzutage nicht länger eine einzelne Wissenschaft, Krieg ist
die Gesamtheit, die Verschmelzung, die Vereinigung vieler Zweige der Wissen-
schaft«, wurde im Memorial behauptet, »die darauf abzielen, diejenigen Elemente
zu erfinden und zu erzeugen, deren Anwendung es erlaubt, den Gegner auf die
wirksamste Art und Weise und mit dem geringsten Risiko zu verletzen^^.«
Noch 1934, als der Höhepunkt der vom 19. Jahrhundert geerbten Wissen-
schaftlichkeit vielleicht bereits überschritten war, konnte das Verteidigungsmini-
sterium im Rahmen des »Kursus höherer militärischen Studien« an der chileni-
schen Kriegsakademie einen von Oberst Jorge Montt Tagle verfaßten Artikel mit
dem Titel »Die Wissenschaft im Dienste der Armeen« veröffentlichen, in welchem
aufgezeichnet wurde, wie sich Philosophie, Geschichte, Geographie sowie die so-
zialen, die reinen und die angewandten Wissenschaften in den Dienst der Krieg-
führung stellten''^. Das Vorhergesagte bestätigend forderte General Säez, in der mi-
litärischen Ausbildung »grossen Wert« zu legen »auf Studien wissenschaftlichen
Charakters, die eine Affinität zu unserem Beruf aufweisen«'''.
Die angeblich enge Verbindung zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und
Militärwesen im allgemeinen äußerte sich in dem fortwährenden Versuch, das Vor-
handensein der Armeen zu rechtfertigen, indem sie als treibende Kraft des Fort-
schritts der Menschheit ausgegeben wurden^®. Es handelte sich um nichts werüger
als um den Versuch, eine ihrem Wesen nach auf Zerstörung gerichtete Einrichtung
in Gedankenverbindung zu bringen mit dem positiven und konstruktiven, im
19. Jahrhundert über alle Maßen idealisierten Fortschrittsbegriff.
»Die moderne militärische Wissenschaft«, stand 1892 in der Revista Militär zu
lesen, »bemächtigt sich aller Vervollkommnungen der Industrie, treibt das
menschliche Wissen voran und kräftigt es, vervollkommnet die Künstd, stärkt
den Fortschritt und preßt, um es so zu sagen, den Saft aus allen Wissenschaften,
um diese gemeinsam streben zu lassen nach dem allerhöchsten Ziel: der
Verteidigung des Lebens und der Rechte der Nationen'^.«
Folglich sei die Armee »die >fortschrittgierigste< Institution«, da »die Kriegsele-
mente diejenigen sind, die dank ihrer staunenswerten Vervollkommnung an der
Spitze stehen«^®. Die militärischen Bedürfnisse eines Landes seien ein äußerst wich-
tiger Antrieb für die verschiedenen Wissenschaften und sogar für den Fortschritt
auf zivilem Gebiet. Hierfür sollte Deutschland wieder als Beispiel dienen. Das atem-
beraubende Wachstum dieses Landes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
»im industriellem Bereich, in der reibungslosen Verwaltung seiner öffentlichen
Dienste, usw.« sei »zu einem Großteil durch den von der Armee auf das ganze Volk
ausgeübten Einfluß errungen worden«^'. Demnach würden nicht nur die Wissen-
schaften durch die militärischen Bedürfnisse stimuliert, sondern - worauf vielfach
bestanden wurde - auch durch die Wehrpflicht, und zwar dadurch, daß sie Erzie-
hung und Ausbildung bis in die untersten Volksschichten trägt, leistet sie einen
entscheidenden Beitrag zum nationalen Fortschritt®', indem sie den Massen Sitten
beibringt'^ Auch indirekt sei das Heer ein Fortschrittsfaktor, sichert es doch den un-
gestörten Genuß der Güter des Friedens®^. Die »militärischen Elemente« seien die
»Sicherung und das Vertrauen, auf dem jeglicher zivile Fortschritt« begründet sei®'.
Durch seine zerstörerische Essenz habe Krieg selbst seine positive Rechtfertigung;
er sei seinem Wesen nach zivilisatorisch, wie General Vial 1911 in einem Vortrag zu
beweisen versuchte®^.
Ein typisches Element der Militärliteratur während des in der vorliegenden Ab-
handlung untersuchten Zeitraumes ist die Hartnäckigkeit, mit der versucht wur-
de, sowohl Krieg als auch die Existenz der Armeen zu rechtfertigen. Gegen die pa-
zifistischen Tendenzen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg besonders lautstark zu
Worte meldeten, erhoben die Militärs einstimmig ihre Opposition. Das Plädoyer zu-
gunsten des Krieges wird von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus vorge-
bracht. Einerseits wird der Beweis unternommen, »Krieg sei ein unvermeidbares
Übel«®^ von dem sich die Menschheit nie werde befreien können, andererseits wird
- in einem aggressiveren und positiveren Sinne - , wie schon im vorigen Kapitel
dargelegt, behauptet, Krieg sei trotz seines destruktiven Anscheins auf lange Sicht
für die Zivilisation immer vorteilhaft gewesen. Diese vorherrschende Meinung
war auf einen berühmten und oft zitierten Ausspruch General von Moltkes zurück-
zuführen. Beispielsweise stand 1916 in einem im Memorial del Ejercito de Chile
unter dem Titel »Der Krieg, eine unvermeidbare Tatsache trotz der pazifistischen
Sehnsüchte zu allen Zeiten« erschienenen Artikel mit einer in der MilitärUteratur
für dieses Thema typischen Ausdrucksweise zu lesen: »Werm jede Etappe auf dem
Weg zur Zivilisation von einem großen historischen Krieg gekeruizeichnet ist, werm
Fortschritt durch Schlachten gebilligt wurde, wenn Freiheit und Unabhängigkeit
mit Blut errungen wurden, werm Kriege die Kontakte zwischen den Völkern ver-
mehrt haben [...]«, um daraus zu folgern: »Das absolute Ausbleiben von Kriegen
würde zu einem Stillstand der Zivilisation führen®^.« Dem Krieg vmrde ein beina-
he erlösender Charakter zugeschrieben, er sei der läuternde Akt schlechthin®^.
Wie bereits weiter oben angedeutet, wurde die Rechtfertigung des Krieges nicht
immer so weit getrieben, doch bildete die Unterstreichung seiner Unvermeidbar-
keit eine Konstante. »Krieg ist ein der Natur inhärentes Übel«®®; er ist eine »not-
wendige Bedingung«®', ein »natürlicher Akt der Menschen« und »dient als Si-
Pedro Charpin, El Servicio Militär Obligatorio ante el interes del Estado, Santiago 1915,
S. 23.
Ebd.^ S. 25 ff.
Munoz, El problema (wie Anm. 62), S. 34.
Francisco Javier Diaz, Temas militares sueltos, Santiago 1929, S. 157 ff.
^ Revista Militär, 1.11.1887, S. 207; Ensayo Militär, 15.10.1889, S. 227.
^ Memorial, 1911, S. 423 ff. Jose Miguel Garrido, La guerra es un mal inevitable [Krieg ist
ein unvermeidbares Übel], Santiago 1900, S. 11.
Titel des in der vorigen Fußnote zitierten Werkes von Garrido.
Memorial, 1916, S. 502.
Arturo Puga, La guerra y la idea de paz universal, in: Memorial, 1931, S. 375 ff.
^ Garrido, La guerra (wie Anm. 84), S. 24.
" Munoz, El Problema (wie Anm. 62), S. 45.
152 MGZ 62 (2003) Enrique Brahm Garda
cherheitsventil«'". Weltweit ließe sich weder die wirtschaftliche noch die politische
Konfrontation anders als durch Waffengewalt definitiv entscheiden. Wie General
Säez betonte: »Die wirtschaftliche Auseinandersetzung ist eine Realität und wird
es auch weiterhin bleiben: Krieg ist ihre natürliche Fortsetzung''.« In der Korvfe-
renz, mit welcher der Circulo Militär seine Tätigkeit aufnahm, entwickelte Oberst-
leutnant Jose de la Cruz Salvo, Direktor und Gründer der Revista Militär die The-
se, »Krieg sei eine gesellschaftliche Notwendigkeit, auf welche die Nationen in ih-
rer heutigen Verfassung nicht verzichten könnten, ohne ihre eigene Existenz zu ge-
fährden«, woraus er folgerte, »die Förderung und Stärkung der militärischen
Institutionen sowie die Qualifizierung der Männer, die sich ihnen widmen, ver-
bürge die eigene Existeitz ebenso wie die teuren mit ihr verbundenen Interessen«'^.
Ob zum Besseren oder zum Schlechteren sei es unmöglich, gegen einen Krieg
gefeit zu sein, daher sei es am logischsten, auf den Krieg vorbereitet zu sein, in An-
wendung des so oft zitierten Sprichwortes: »Willst du den Frieden, so bereite dich
auf den Krieg vor''.«
In den wichtigsten Ländern der Welt wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts die
Wehrpflicht eingeführt. Aus Deutschland stammten die Instrukteure, die ab den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vom chilenischen Heer angestellt wurden.
Nicht zuletzt deshalb setzte sich General Körner stark für die Einführung des all-
gemeinen Militärdienstes in Chile ein'"*. Seiner Ansicht nach sollte so bald wie mög-
lich mit dem bestehenden Berufsheer aufgeräumt werden, welches - wie zu allen
Zeiten und in aller Herren Ländern - zu einer »besonderen Kaste der Nation ge-
worden war«". Der Wehrpflichtige sollte den Söldner ersetzen. Die militärische
Ausbildung sollte genauso verpflichtend sein wie der Besuch der Grundschule".
Dank der durch ihn herbeigeführten Gleichstellung aller Chilenen würde der Wehr-
dienst das chilenische Nationalgefühl stärken und die Wehrpflichtigen lehren, das
Interesse ihres Landes ihren eigenen persönlichen voranzustellen, womit auch die
republikanischen Ideen gefestigt würden'^. Einzig die zum Wehrdienst körperlich
und moralisch Untauglichen sollten ausgeschlossen werden. Um sich die ganze
Tragweite dieser Maßnahme zu vergegenwärtigen, sei daran erinnert, daß in Chi-
le noch ein paar Jahrzehnte vorher der Dienst im Heer als das eines Verbrechers
würdige Los angesehen wurde. Die Argumente wurden von den neuen chileni-
schen Militärzeitschriften aufgegriffen, welche die Einführung der Wehrpflicht ein-
stimmig befürworteten. Bereits im Jahre 1888 forderte El Ensayo Militär die Ein-
führung des obligatorischen Militärdienstes mit dem Argument, es handle sich um
eine Institution, die in Übereinstimmimg mit dem vom Lande erreichten Fortschritt
und seinem demokratischen Regierungssystem sei; außerdem sei der Wehrdienst
Arroyo, Estrategia (wie Anm. 63), S. 17; R. Silva Renard, Revista Militär 1892, S. 520 ff.;
Ensayo MUitar, 1890, S. 221 ff. und Memorial, 1909, S. 103 ff.
'' Säez, Estudios Militares (wie Anm. 75), S. 272; Navarrete, Estudio de la primera campana
de la guerra ruso-japonesa, Santiago 1905, S. 3 ff. und Francisco Javier Diaz, A propösito
de nuestra politica militar, Santiago 1938, S. 34.
Revista Militar, 1.8.1888, S. 7.
Memorial, 1934, S. 428.
Emilie Kömer, El servicio militar modemo, Santiago 1899, und ders., Proyecto de recluta-
miento para el ejercito'presentado por el Estado Mayor General del Ejercito, in: Revista
Militar, 1892, S. 365 ff.
Kömer, El servicio militar (wie Anm. 94), S. 7.
Ebd., S. 10.
Ebd., S. 13.
Chiles Militär unter deutschem Einfluß 1885-1930 153
gen, ja nicht einmal, um Soldat zu werden«, konnte man in einem Artikel in der Re-
vista Militär aus dem Jahr 1894 lesen. »Kriege brechen plötzlich aus und verlaufen
ebenso schnell, denn schnell sind die heutigen Beförderungs- und Zerstörungs-
mittel, auf die man zu ihrer Ausführung zurückgreift"^.« Im selben Sinne wurden
die Vorteile hervorgehoben, die das Ergreifen der Irütiative"' bringen könnte, und
zwar auf eine Weise, die beinahe mit der Idee des Präventivkrieges liebäugelte"''.
»Si vis pacem para bellum« war einer der in der Literatur dieses Zeitraumes
am häufigsten wiederkehrenden Aphorismen"'. In Übereinstimmung mit der in
Chile und in der übrigen Welt imter den Militärs vorherrschenden Denkweise soll-
te damit zum Ausdruck gebracht werden, die einzige Art den Frieden zu sichern
sei, gut auf einen Krieg vorbereitet zu sein"'. Dies wiederum bringt es mit sich,
daß die gesamte Organisation der Armee zu Friedenszeiten die gleiche zu sein ha-
be wie die im Falle eines Kriegs einzusetzende, um auf diese Weise mit allerhöch-
ster Schnelligkeit und Wirksamkeit von der einen Situation in die andere hin-
überwechseln zu können'^". Daher auch die Insistenz, »Große Manöver« im Stil
der wichtigsten europäischen Armeen abzuhalten.
Das voraussehbare Korollarium dieser Denkweise war der Nachdruck, mit dem
die Militärschriftsteller die Notwendigkeit betonten, das Mobilmachungssystem
so reibungslos, schnell und effizient wie möglich zu gestalten'^'. Für den Erfolg ei-
ner jeglichen militärischen Operation sei von allerhöchster Bedeutung, »die Zeit
auf ein Mirümum zu verringern, die erforderlich ist, um vom >Friedensfuß zum
Kriegsfuß< überzugehen«'^. Der Geist des hinter diesen Erfordernissen stehenden
nervösen Militarismus kommt mit aller Schroffheit in einem Artikel der Revista
Militär von 1888™ zum Vorschein:
»Um der gegenwärtigen Krise so schnell wie möglich eine Ende zu bereiten,
müssen wir in der Lage sein, von Anfang an an der Grenze Truppen zu
konzentrieren, die durch und durch organisiert und ausgerüstet sind, und zwar
nicht ein oder zwei Heere, sondern die gesamten lebendigen Kräfte des Landes.
Kurz, es handelt sich also darum, dem Feind Massen entgegenzustellen, die
beträchtlicher sind als seine und die den feindlichen Truppenbewegungen durch
eine kräftige, blitzschnelle Offensive zuvorkommen'^"*.«
Die gespannte Atmosphäre Vorkriegseuropas wurde somit trotz der Verschieden-
heit der historischen Umstände bis ins letzte Detail in Chile aufgegriffen.
5. Zusammenfassung